C.H.Guenter
Drei
am toten Punkt
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
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Zwei Lagerarbeiter saßen auf der Ramp...
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C.H.Guenter
Drei
am toten Punkt
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT
1.
Zwei Lagerarbeiter saßen auf der Rampe der Luftfrachthalle von Kennedy Airport. Der eine trank Coca-Cola, der andere rauchte in den dunstigen New Yorker Morgenhimmel. „Noch eine Stunde bis Schichtwechsel“, sagte der Schwarze. „Was machst du mit dem angebrochenen Tag, Jack?“ „Pennen. Und du?“ „Fischen.“ „Das ist wie pennen“, bemerkte der mit der Cola und deute te hinaus zu der PanAm-Boeing, wo der Gabelstapler einen Container übernahm, „Joe bringt noch Ladung.“ „Inhalt zerbrechlich“, las der Schwarze, denn er hatte schar fe Augen. Tatsächlich trug der Container die roten Aufkleber für bruchempfindliche Fracht. Wie sich jedoch beim Öffnen er gab, enthielt er vorwi egend Holzgeschnitztes und nur eine Kiste voll Glaswaren. Der Zollbeamte verglich die Absender mit den Frachtpapie ren. „Staatliche Porzellanmanufaktur der DDR Meißen“, entzif ferte er mühsam. „Kommt aus Dresden. Da war ich mal im Krieg. Aber viertausend Meter drüber. In einer BSiebenundzwanzig. Als Bombenschütze.“ Der Schwarze grinste. „Muß ja allerhand Porzellan kaputtgegangen sein, damals. „In dieser Nacht ging noch mehr kaputt“, antwortete der Zollbeamte und stempelte die Papiere ab. „Die großen Kisten mit den Holzfiguren gehen zum Macys-Kaufhaus. Die veran stalten ‘ne Woche für europäische Schnitzkunst, glaube ich. Die kleine Kiste ist für das Modern Art Museum.“ Es dauerte nicht lange, dann kam ein Lieferwagen und holte die kleine Kiste ab. 3
Die Lagerarbeiter wunderten sich, daß es einer jener gepan zerten Wagen war, die normalerweise Papierdollars von einer Bank zur anderen fuhren. „Muß ‘ne wertvolle Kiste sein“, meinte Joe, der Staplerfahrer. „Ich gehe jetzt nach Hause ‘ne Runde schlafen“, rief sein Kollege Jack. „Und ich ‘ne Runde fischen“, sagte der Schwarze. „Sieh zu, daß du dabei nicht einpennst und dich ‘ne Sardine in den Hudson River reißt.“ Kichernd tänzelte der Schwarze davon, bestieg auf dem Parkplatz seinen 74er Chevrolet, eine ziemliche Rostlaube, und rollte Richtung Manhattan. Dabei folgte er dem Geld transporter ein Stück auf dem Highway. Im Museum für Modern Art wunderte sich der Depotverwal ter, daß eine Kiste mit ganz gewöhnlichen Ausstellungsstük ken per Panzerwagen angeliefert wurde. „Wozu der Aufwand?“ fragte er erstaunt. „Sie enthält doch nur ein Speiseservice und eine Vase.“ „Anordnung der Direktion“, antwortete der bewaffnete Transportbegleiter. „Ihre Unterschrift, Mac.“ Die Kiste kam in den Keller wo sie mehrere Stunden he rumstand, ohne daß jemand Notiz von ihr nahm. Im Halbdunkel fiel ein Museumsarbeiter darüber und fluchte nicht schlecht. Die Situation änderte sich aber bald schlagartig. Gegen Mittag schwirrte von Downtown her ein Hubschrau ber und setzte hinter dem Museum auf. Der Bell-Helikopter gehörte weder der Polizei, noch trug er die bunte Lackierung der privaten Zubringerdienste. Zweifel los war er von irgendeiner Behörde. Wie Staatsbeamte sahen auch die zwei Gentlemen aus, die ihn verließen und zum Direktionsbüro eilten. Sie trugen 4
schwarzes Schuhwerk, graue Flanellanzüge, weiße Hemden und gedeckte Krawatten. FBI-Agenten, tippte die Chefsekretärin, als sie hinter den Besuchern die Polstertür schloß. Dann drang kein Laut mehr aus dem Büro des obersten Mu seumsmanagers. Wenig später wurde telefoniert. Zwei Museumsarbeiter brachten eine Kiste herauf. Die Kiste verschwand ebenfalls hinter der Polstertür, und die zwei Arbeiter wurden hinausge schickt. „Ob sich der Boß aus Old Germany ‘ne Ladung Kokain sen den ließ?“ feixte der im Overall die Vorzimmerdame an. „Wir sind hier nicht in Harlem, oder?“ „Dachte nur, weil wir die Kiste nicht öffnen durften. Noch nie nahm der Boß selbst den Hammer in die Hand. Das könnte seinen künstlerischen Tastsinn beeinträchtigen.“ „Ich wünsche hier keine abfälligen Bemerkungen über den Präsidenten“, äußerte die Sekretärin. „Macht, daß ihr ve r schwindet!“ Der im Overall nahm eine Zigarette hinter dem Ohr hervor. „Hast da mal Feuer, Mam?“ „Hier wird die Luft nicht verpestet.“ „Aber was die da drin treiben, würdest du gerne wissen, he?“ Die Sekretärin tat, als wisse sie es längst. „Die Gentlemen sind Sachverständige. In der Kiste befinden sich wertvolle Ausstellungsstücke. Sie müssen taxiert werden für die Versicherung.“ Der andere Arbeiter, er hatte einen grauen Arbeitsmantel an, erwiderte kopfschüttelnd: „Seit wann tragen Kunstsachver ständige Schulterhalfter mit Smith & Wesson-Kanonen?“ „Immer dann, wenn es um wertvolle Stücke geht“, wurde er belehrt.“ „Wer’s glaubt, wird selig.“ Der im Overall ließ sich 5
einen Becher Kaffee aus dem Automaten. In der Chefetage war er besser. Allein im Büro, betätigte die Sekretärin die Taste der Sprechanlage. Aber sie konnte nichts hören. Drinnen war der rote Knopf gedrückt worden. Gemeinsam mit dem Museumschef durchwühlten die Gentle men, die sich als Angehörige des amerikanischen Geheim dienstes CIA ausgewiesen hatten, die Holzwolle. Bald stand ein komplettes Speiseservice für zwölf Personen, Serie „Au gust von Sachsen“ in Königsblau mit Golddekor, auf dem Boden. „Keine Vase“, erklärte der Museumschef, „keine Vase. Die Kiste ist leer.“ „Unmöglich! Völlig ausgeschlossen!“ rief der CIAAgent mit den langen Koteletten. „Allein dieser Vase wegen“, betonte sein Kollege, „wurde die Ausstellung für europäisches Porzellan arrangiert.“ „Das Service ist nur ein Füllsel.“ Jeder überzeugte sich noch einmal persönlich davon, daß die Holzwolle und das Styropor in der Kiste nichts mehr verbar gen. Dann standen sie da und starrten sich an. Der Museumschef, er war vom Geheimdienst eingeweiht, meinte: „Nun, die Vase ist ja nicht unersetzlich.“ „Für uns schon.“ „Sie ist nicht das Original, nur eine Reproduktion, wenn auch eine, wie man mir versprach, ganz hervorragende. Die echte Blau-Rot steht meines Wissens im wiederaufgebauten Dresdner Zwingermuseum.“ „Die echte ist für uns so uninteressant wie die Gebeine von Mister Dschingis-Khan, Sir.“ 6
„Aber Gentlemen, sie hat einen ungeheuren kunsthistori schen…“ Der CIA-Agent mit den langen Koteletten steckte sich ratlos eine Chesterfield an. „Für uns geht es um andere Werte, Sir. Um geheimdienst lich relevante.“ „Das muß beim Versand verwechselt worden sein.“ „Oder man hat den Versand im letzten Moment unterbun den.“ Der Direktor kannte sich nicht mehr aus. „Aber wer sollte auf diese dumme Idee kommen?“ fragte er. „Daß man uns die Edelkopie der Vase überläßt, ist schriftlich bestätigt. Sie stammt aus einer extra aufgelegten Kleinserie, und wir haben sie bezahlt.“ „Wissen wir“, erklärte der CIA-Agent, „denn nicht Sie ha ben die Blau-Rot bezahlt, sondern wir. Sie haben den Betrag nur überwiesen, Sir.“ „Sie ist versichert. Sie werden also keinen Schaden er leiden.“ Die beiden CIA-Männer blieben ungewöhnlich ernst. „Unser Schaden ist mit Geld nicht zu ersetzen, Sir.“ „Ja, aber wer könnte die Sendung vertauscht oder gestohlen haben?“ „Der KGB“, sagte einer der Leute aus Washington. „Pardon, Gentlemen“, erwiderte der etwas weltfremde Di rektor. „Ich bin ein Mann der Kunst und kenne mich bei Ab kürzungen nicht sonderlich gut aus. Was bedeutet KGB bitte?“ Der mit den langen Koteletten erläuterte es ihm. „Das ist russisch und bedeutet…“, er buchstabierte es lang sam aber ohne rechten Genuß „… es bedeutet Komitet Gos sudarstvennoje Bezapostni, Komitee für Staatssicherheit oder auch Geheimdienst der UdSSR in Moskau.“ 7
„Und was erwarteten sie sich von… mit… in… oder an… der Vase?“ Die CIA-Leute sahen keine Veranlassung, den Direktor noch tiefer einzuweihen. „Sie ist derzeit die wichtigste Vase der Welt“, erklärten sie und empfahlen sich. Wenig später hob ihr Helikopter wieder ab. Sie waren in Eile. Sie hatten viel zu tun jetzt. 2. Bei der Frühbesprechung gab es wie immer verschlafene Ge sichter und starken Kaffee. Wer zu den Nüssen in der BND-Schokolade gehörte, saß im abhörsicheren Konferenzraum des Hauptquartiers MünchenPullach. Der Vizepräsident schaute kurz herein, als einer quälend, monoton den 24-Stunden-Report verlas. Von den wichtigsten Ereignissen in der Welt seit gestern war das meiste noch ge heim, aber nächste Woche schon würde es in allen Zeitungen stehen. „Der sowjetische Staatschef soll Krebs haben.“ „Falsch, er ißt gerne Krebse, wie man hört“, kommentierte jemand. „Meines Wissens ist er Krebs gemäß seinem Tierkreiszei chen.“ „Japan baut angeblich die Atombombe“, wurde verlesen. „Wenn sogar Afghanistan sie baut.“ „Bild schreibt, Margret Thatcher läßt sich liften... Seite zwei dann… auf die Spitze des Eiffelturms. Bei ihrem Besuch in Paris.“ Das war nicht ernst zu nehmen, sondern nur als Auflocke rung gedacht. 8
„Im Iran wurden Goldvorkommen entdeckt. Auf dreitausend Meter Höllentiefe. Khomeini segnete sie und fuhr in den Schacht.“ „Näher zum Chef,“ bemerkte jemand respektlos. Dann wurden echte Knüller verlesen, unter anderem, daß die Russen eine MiG-30 bauen, die mit Vierfachschall alles in den Schatten stellt, daß Israel einen Wüstenpanzer entwickelt, der ohne Räder auf einem Luftkissen fährt, daß die Mafia bereit ist, die Regierung in Italien zu übernehmen. Das war der Moment, wo ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, 183 cm groß, schlank aber athletisch mit braunem Haar und grauen Augen, bekleidet mit dunkelblauer Gabardi nehose und Glenchecksakko, die Nase voll hatte. Er hielt seine Anwesenheit für Zeitverschwendung, drückte die Goldmund stückzigarette aus und sagte: „Präsident Reagan hat sich, wie man hört, einen Oldtimer zugelegt. Einen Duesenberg aus den Dreißiger Jahren. Er fährt jetzt alte Autos, damit er jünger wirkt.“ Der Agent Nummer 18 nahm Zigaretten und Feuerzeug und ging. Doch dann war es eine Nachricht, die ihn zögern ließ, den Raum zu verlassen. „Eine Serie rätselhafter Selbstmorde in der DDR.“ Agent Nr. 18, Robert Urban, nahm noch einmal Platz. Der Referent las weiter: „Meißen in Sachsen, Regierungsbezirk Dresden-Bautzen. Bei der dortigen staatlichen Porzellanmanufaktur sollen sich mehrere leitende Genossen der Verhaftung von seiten des Staatssicherheitsdienstes durch Selbstmord entzogen haben.“ „Leitende Angestellte“, faßte der Vizepräsident nach. „Ein Direktor in der Produktion, der Versandchef und ein Porzellanmaler. Ein Mann wurde auf der Flucht abgefangen und erschossen.“ „Wer meldet das?“ 9
„Kurfürst“ „Eine zuverlässige Quelle?“ „Er sagte die SS-20-Aufstellung in Thüringen präzise vo r aus.“ Der Vizepräsident musterte seine Experten der Reihe nach, als seien sie Computerbildschirme, auf denen umgehend eine erklärende Zeile zu erscheinen habe. Doch die Gesichter blie ben ausdruckslos. „Kommentar?“ Der Vizepräsident wartete. „Kein Kommentar also“, stellte er fest und blickte Urban an. „Würden Sie bitte mit mir kommen, Nummer achtzehn.“ Urban löste sich von der Seite des Operationschefs und ging mit dem BND-Vize in dessen Büro. Der zweite Mann im BND hatte ein Faible für ihn, das wußte Urban. Aber daß es nur darum ging, sein Urteil über eine Sen dung Frankenwein, Lage Kitzinger Ratsherr, Silvaner Spätlese, abzugeben, das bezweifelte er. „Nun mal ohne Maske vierzehn!“ forderte ihn der Vize auf. Maske vierzehn – undurchdringlich, war der beliebte Aus druck, den sieh alle immer dann aufsetzten, wenn sie nichts zu sagen hatten, oder sich nicht durch vorschnelle Meinungsäu ßerung lächerlich machen wollten. „Und welche“, fragte Urban, „darf es sein?“ „Maske neun, Demosthenes, die der freien Rede.“ Das war so aufzufassen, daß von jetzt ab jeder sprach, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Der Vizepräsident des BND wollte sich ein Bild machen, vertraute dem analytischen Verstand seines Spitzen mannes. „Es geht um die Meißener Selbstmorde“, vermutete Urban. „Sie haben mich verstanden, Bob“, antwortete der Vizeprä sident, „und bestätigen meine Ansicht, daß Theorie allein 10
sowenig taugt wie die Nur-Praxis. Auf das Mixing von beiden kommt es an. Was also läuft da in Meißen Ihrer Meinung nach?“ „Durch unser eigenes Netz wurde die Aktion nicht ausge löst.“ „Vielleicht durch ein anderes.“ „Logischerweise durch ein dem Ostblock feindliches Spio nagenetz.“ „Wer unterhält denn Netze von Bedeutung da drüben? Das sind doch alles mehr oder weniger kümmerliche Versuche.“ Urban beugte sich vor, aber nicht, um besser verstanden zu werden. „Nach dem Zusammenbruch unserer eigenen Organisation durch die Verratwelle in Bonn fürchteten die Verbündeten, wir würden uns nie wieder zur alten Gehlen-Form hochrappeln und zogen eigene Spionageapparate auf.“ Der Vize reduzierte das Wort „Verbündete“ auf einen Verbündeten. „Die Amerikaner.“ Bei Urban verstärkte sich das ihm angeborene Grinsen. „Ich setzte dies immer dem Versuch gleich, als würden wir Kundschafter in die amerikanischen Irokesen-Reservate ent senden.“ „Die Engländer betreiben auch Ostspionage“, ergänzte der Vize. „Sie haben vielleicht den einen oder anderen Funktionär umgepolt und angezapft“, schränkte Urban ein, „aber von Netz ist nicht die Rede. Bei den Vorgängen in Meißen hinge gen muß es sich wohl um einen Netzriß handeln.“ Nachdem sie soweit gekommen waren und so gut wie fest stand, daß es sich um eine Panne der CIA handelte, zogen sie den Kreis enger. „Warum ausgerechnet in Meißen?“ 11
„Warum in der Porzellanindustrie?“ entgegnete Urban. „Lohnt sich da Werkspionage?“ „Wohl kaum“, antwortete Urban. „Die Techniken sind be kannt. Was man auskundschaften könnte, wären neue Designs, neue Formen und Farben. Aber die Amerikaner haben keine Hersteller, die das interessieren könnte. Und als Waffenbe standteil scheidet Meißener Porzellan mit Sicherheit aus.“ Der Vize zog die Beine an, erhob sich und ging auf und ab. Nicht gerade unruhig, aber er bewegte sich gern, wenn es um die Lösung von Problemen ging und er das Gefühl hatte, der Lösung nahe zu sein. Diesmal sah die Lösung nicht gut für Urban aus. „Kümmern Sie sich mal darum“, entschied der Vizepräsi dent. Urban wartete geduldig, um zu erfahren, wie sich die BNDSpitze dies vorstellte. „Nicht, daß Sie sich in die DDR begeben und in Meißen herumrecherchieren sollen. Es gibt noch andere Möglichkei ten.“ „Die Sache ist wichtig und darf nicht links an uns vorbeischwimmen“, bekräftigte Urban. „Genau das ist meine Sorge. Eines Tages passiert was und man fragt uns, warum habt ihr nichts bemerkt. Habt ihr wi eder geschlafen wie damals bei…“ Der Vize ersparte sich aufzuzählen, wobei der BND angeb lich immer geschlafen hatte. Geschlafen hatten stets die Leute in Bonn, auf deren Schreibtische man die Informationen ge bracht hatte. Aber was nicht dick oder rot angestrichen war, wanderte dort sowieso in die Ablage. „Nicht, daß uns da ein zweites Prag“, der Vize senkte deut lich die Stimme, „oder Polen oder in der Richtung… nun, Sie wissen was ich meine.“ „Man muß“, präzisierte Urban, „alle Möglichkeiten von 12
Verbindungen zwischen den Porzellanmachern und den USA abchecken. Gibt es Export, wie umfangreich ist er? Was wird exportiert, und wohin gehen die Erzeugnisse? Man muß weiter prüfen, auf welche Weise Porzellan eventuell nachrichten dienstlich einzusetzen wäre. Als Tarnmaterial für Informatio nen oder Gegenstände et cetera. Unsere Ostabteilung muß untersuchen, was im Gebiet Bautzen für die NATO von Bedeu tung sein kann.“ „Zum Beispiel?“ „Raketenstellungen, Rüstungsindustrie. Denkbar wäre, daß sich Keramikhersteller dort niederlassen, Produzenten von Mikrochips. Keramik wird mannigfach bei Motoren und Brennkammern eingesetzt.“ Urban schwieg eine Weile und fügte dann noch hinzu: „Auch gewisse Persönlichkeiten aus dem Raum Bautzen sind interessant. Wissenschaftler, Politi ker.“ Sie legten das Raster fest, mit dem gefahndet werden sollte. Urban versprach, die Sache im Auge zu behalten. Der Agent Nr. 18 fuhr mit dem Lift ins feuer-, bomben- und erdbebensichere Archiv. „Ich brauche“, sagte er, „einen Katalog über die derzeit bei der staatlichen Porzellanmanufaktur der DDR in Meißen her gestellten Produkte.“ „Einen Verkaufskatalog also.“ „Gib mir alles, was du hast.“ Der Archivar fragte den Computer ab. Was auf dem Bild schirm flimmerte, löste wenig Begeisterung aus. Er verschwand und kam nach einer Weile wieder. In der Hand hatte er einen lächerlich dünnen Schnellhefter und eine Mikrofilmkapsel. „Ziemlich dürftiges Material“, klagte er. „Das ist so gut wie gar nichts.“ 13
„Wen interessiert schon Meißener Porzellan.“ Urban fürchtete, daß er auf diesem Weg nicht weiterkam. Er betrachtete den Mikrofilm. Der Film zeigte verschiedene sächsische Porzellanmuseen, Ausschnitte aus Katalogen und Bilder besonders wertvoller Stücke. Für Urban, der sich kaum jemals mit Erzeugnissen aus Kao lin, Quarz und Feldspat befaßt hatte, war dies, als grabe er in Minos auf Kreta alte Labyrinthe aus. „Handelt es sich um das derzeitige Angebot?“ fragte der Ar chivar. „Ich kenne mich da ein bißchen aus. Ich sammle Nym phenburg, meine Frau Rosenthal.“ „Keine Ahnung. Leider.“ „Also, wenn es um die derzeitige Produktion geht, dann um faßt sie gewiß Tausende von Mustern und Designs. Jedes Land, in das sie exportieren, bevorzugt andere Formen und Farbgebungen.“ „Danke.“ Urban fuhr nach oben. Im Casino trank er einen Mokka mit Kognak. Nachdem er die Tasse geleert hatte, drehte er sie um. Sie trug kein Herstellerzeichen. „Anonyme Fabrikware“, sagte der Mann hinterm Tresen. „Porzellan?“ „Steingut, schätze ich.“ „Natürlich, Steingut gibt es ja auch noch.“ Aber Steingut war wohl mehr ein keramisches Erzeugnis aus Ton mit durchsichtiger Glasur und porösen Scherben, wenn es mal brach. Steingut, das Porzellan für Haushaltartikel. Er fuhr nach München hinein, hielt sich in mehreren Biblio theken bis zum Abend auf, telefonierte mit Experten in Nym phenburg, Selb und Weiden und träumte in der Nacht von ei nem Bagger, der durch ein Geschirrlager walzte. 14
Irgendwoher bekam er den Tip, daß ein DDR-Verlag ein neues Werk über Porzellan herausgegeben habe. In einem Buchladen am Marienplatz bestätigte man ihm dies. „Titel: ,Meißener Porzellan seit 1710‘.“ „Ich nehme ein Exemplar.“ „Kostet hundertzwanzig Mark. Hat aber viele Bilder.“ „Je mehr Bilder, desto besser.“ Nach einer Weile kam die Verkäuferin wieder. „Tut mir leid, die Bände sind verkauft.“ „Wie viele hatten Sie denn?“ „Drei. Vorgestern waren noch alle im Regal.“ Urban bat sie, bei den Filialen herumzutelefonieren, dann beim Großisten. Wie sich ergab, war das Buch in der Bundes republik vergriffen. Irgend jemand hatte die ganze Auflage zusammengekauft. Zweifellos existierte irgendwo noch ein Exemplar. Aber wie sollte man es bekommen. – Etwa durch Polizeieinsatz? Auf Grund der Faktenlage würde jeder Staatsanwalt einen solchen Antrag abschmettern. Aber irgend etwas war heiß an diesem Buch. Nachdem er sich drei Tage lang so intensiv mit Porzellan befaßt hatte, daß er eine Menge darüber wußte, – mit Sicher heit mehr als 98 Prozent aller Bundesbürger –, wurden ihm auf diese Weise die letzten Erkenntnisse verweigert. Gewöhnlich reizte ihn das zum Weitermachen. Aber er hatte das Gefühl, einem Phantom nachzujagen. Deshalb beschloß Urban am vierten Tag, alles zu vergessen und Plastikgeschirr zu kaufen.
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3.
Die Septembersonne unterschied sich kaum von der August sonne. Schon in den Vormittagsstunden brannte sie erbar mungslos auf Venedig nieder. Erträglicher war es draußen am Lido. Dort sorgte der Adriawind, kaum von engen Häuserzeilen behindert, für Fri sche. Am Lido aber war es der Menschenauftrieb der Filmfest spiele, der jede Erholung unmöglich machte. Dazu gab es eine Reihe von Ausstellungen, in denen Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker aus zwölf europäischen Län dern ihre Schöpfungen zeigten. Die Handelsmissionen des Ostblocks hatten die Villa Ange lina gemietet. Das Comecon stellte dort kostbare Exportgüter zur Schau. Holzgeschnitztes aus Finnland, Goldschmuck aus Usbeki stan, Edelsteine aus Sibirien, Glaswaren aus dem Erzgebirge und Porzellan aus Meißen. In einer Ecke, das Licht war gut, der Platz hingegen weniger, denn die Massen zogen achtlos daran vorbei, stand auf einem hochbeinigen Messinggestell unter Glas eine Vase. Das Stück führte die Nummer 157. Unter Nummer 157 stand im viersprachigen Katalog: „Vase Blau-Rot aus dem Service August von Sachsen. Re produktion. Kleinserie Meißen. Original im Zwingermuseum Dresden DDR.“ Von zehn Besuchern bemerkte kaum einer die Vase. Mitun ter warf einer einen Blick darauf und ging weiter. Nur ein schlankes, blondes Mädchen mit auffallend getönter Sonnenbrille blieb lange Zeit nachdenklich vor der Vase ste hen. Einmal schob das Mädchen die Sonnenbrille zur Stirn, um 16
die Vase mit bloßem Auge zu betrachten. Endlich löste sich die Blonde mit einem Ruck von dem Exponat und betrachtete ein, zwei andere Ausstellungsstücke. Doch immer wieder kehrte sie zu der Vase Blau-Rot zurück, als würde sie auf unerklärliche Weise von ihr angezogen. Schließlich fiel es dem Wachpersonal auf, das sich nun dis kret um die Touristin kümmerte. Sie konnten oder wollten aber nicht verhindern, daß die blonde Touristin Skizzen der Vase anfertigte. Dabei schien sie Probleme mit der Brille zu bekommen. Mehrmals schob sie diese zur Stirn, wo sie aber nicht hielt und immer wieder vor die Augen rutschte. Am Ende holte die Touristin eine Pocket-Kamera aus der Umhängetasche und knipste die Vase. Einmal fotografierte sie auch, indem sie das Glas der Sonnenbrille vor das Objektiv hielt, als lege sie besonderen Wert auf Weichzeichnung der Konturen. Plötzlich stand ein Wachmann vor ihr und herrschte sie an. „Ich beobachte Sie jetzt schon eine ganze Weile“, schnarrte er auf Deutsch mit sächsischem Tonfall. Die Besucherin lä chelte ihn an. „Woher wissen Sie, daß ich Deutsche bin?“ „Das sieht man doch.“ „Ist das ein Mangel hier?“ „Bitte gehen Sie weiter!“ „Fotografieren ist nicht untersagt, oder?“ „Alle Stücke finden Sie im Verzeichnis. Sie besitzen ja ei nen Katalog.“ „Darin ist sie nur von einer Seite zu sehen“, antwortete sie forsch. Der Aufpasser fragte: „Sind Sie Journalistin?“ „Nein, Lehrerin.“ 17
„Aber nicht an einer Fußballschule.“ Wie zur Tarnung schob die Blondine die Brille vor die Au gen. Der Wachmann hatte eine Brille mit solchen Gläsern noch nie gesehen. „Die Vase ist käuflich“, sagte er. „Ja, für sechstausend Mark.“ „Was fasziniert Sie dann an der Vase?“ „Vielleicht das Gesicht des Königs.“ „Sie zeigt nicht das Gesicht von August dem Starken.“ Wieder lächelte das Mädchen. „Sie sehen es nur nicht.“ Damit wandte sich die Touristin und ging. Ohne einen Blick auf die anderen Stücke zu werfen, verließ sie die Ausstellung in der Villa Angelina am Fondamento di San Giacomo. Der Wachmann eilte zum Telefon. Auf dem Weg zur Schiffsanlegestelle Santa Croce verfolgten zwei Männer die blonde Touristin. Ein Mann war zu Fuß, der andere benutzte eine Vespa. Auf der Brücke über den breiten Kanal, den sie Rio del Pon te Lungo nannten, setzte einer der Männer zum Sprint an und entriß der Touristin die Umhängetasche. Nach der Schrecksekunde, aber noch bevor sie reagierte, bremste neben ihr ein Motorroller. „Sitzen Sie auf, Signorina!“ rief der Italiener. „Den Kerl kriegen wir, quel bandito!“ Sie zögerte nicht und hielt sich an dem jungen Mann fest, der nun mit Vollgas dem Handtaschenräuber hinterherfuhr. „Richtung Redentore!“ schrie sie. Der Italiener kurvte herum. Leider verloren sie den Handtaschenräuber aus den Augen. 18
Der Vespafahrer suchte alle Gassen und Plätze in der Nähe ab und sagte dann in gebrochenem Deutsch: „Den Lido kann er nicht verlassen.“ „Mit dem Schiff schon.“ „Der Kerl hatte eine Narbe. Bin sicher, es handelt sich um einen stadtbekannten Ganoven.“ „Dann bringen Sie mich bitte zur Polizei.“ „Zur Polizia, si Signorina.“ Der junge Mann wendete den Motorroller, bog nach Süden ab und fuhr zum Strand hinüber. „Geht es da zur Polizei?“ „Eine Abkürzung, Signorina.“ In einer ziemlich schmalen Gasse hupte der Vespafahrer zweimal. Auf das Signal hin öffnete sich zwanzig Meter weiter unten ein Hoftor. Er kurvte hinein. Das Tor schlug zu, ehe das Mäd chen die Falle erkannte, abspringen und fliehen konnte. Außerdem stand der Mann mit der Narbe im Weg. Er hatte ihre weiße Handtasche und in der Rechten ein spitz zuge schliffenes Messer. Der andere stellte den Vespamotor ab. „Mach’s kurz“, sagte er und verschwand in dem herunterge kommenen, alten Haus. Der mit der Narbe sprach akzentfreies Deutsch mit Leipzi ger Einschlag. „Warum“, fragte er, „bist du so neugierig?“ Er zeigte ihr die Skizzen, die sie von der Vase angefertigt hatte. „Rein berufliches Interesse“, antwortete das Mädchen. Darüber lachte er zynisch. „Spion ist dein Beruf.“ „Es läßt sich leicht überprüfen wer ich bin und womit ich meinen Unterhalt verdiene.“ 19
„Die CIA verpaßt ihren Mitarbeitern perfekte Legenden.“ „Sie leiden offenbar unter Verfolgungswahn“, erwiderte das Mädchen kühn. „Was sollte an dieser Vase schon dran sein.“ „Das fragten wir uns auch. Also raus mit der Sprache. Was hast du entdeckt?“ „Nun, sie ist…“, die Blondine zögerte, „einfach nur schön.“ „Und das soll alles sein? Was für profunde Erkenntnisse.“ Der mit der Narbe ging weiter auf sie zu, drängte sie unter die Pergola, von der Weinranken herunterhingen, und dort an die Hauswand. Die Faust mit dem Messer rückte gefährlich nahe an ihren Hals. Sie glaubte, den Stich der Spitze zu fühlen. Für wenige Sekunden war es sehr still. In der Ferne tutete ein Dampfer. Von irgendeinem Campani le schlug es die halbe Stunde. Ein Radio spielte „Lascia mi“. Wind schlug einen Fensterladen auf und zu. Panik ergriff die blonde Touristin. Sie schrie, so laut sie konnte. Da stach der Mann mit der Narbe zu. Am darauffolgenden Tag fischte die Feuerwehr eine Wasser leiche aus dem Canale Grande. Die Tote war weiblichen Geschlechts. „Alter etwa achtundzwanzig Jahre“, diktierte der Polizeiarzt seinem Assistenten, „Größe einhundertsechsundsiebzig, schlank, naturblond. Sexueller Mißbrauch vor der Tat kann ausgeschlossen werden. Messerstich in Herzhöhe. Eintritt des Todes noch vor Verbringung des Opfers ins Wasser.“ Ein Kripobeamter hatte etwas entdeckt, das ihnen weiterhalf, ein aufgeweichtes Stück Karton. „Aus ihrer Rocktasche“, sagte er. „Die Hotelkarte.“ „Name Luisa Lauenstein.“ 20
„Holländerin?“ „Klingt eher deutsch.“ „Hotel Mirandola.“ „Gibt’s hier nicht. Nicht in Venedig und nicht in Mestre.“ „Ja aber wo dann?“ „Der Ort ist kaum zu entziffern.“ Der Kommissar dachte scharf nach. „Irgendwann wird man sie in diesem Hotel vermissen. Wei ter entfernt als zweihundert Kilometer im Umkreis dürfte es wohl nicht liegen.“ „Sie muß mit Bus, Boot oder Bahn nach Venedig gekommen sein, Commissario.“ „Überprüft die Gästeliste sämtlicher Hotels und Pensionen in Norditalien. Informiert Touristik- und Verkehrsbüros. Be schreibung per Telex an alle Dienststellen bis runter nach Rimini.“ „Bildfunkfoto?“ „Noch nicht. Aber Telex an das deutsche Bundeskriminal amt.“ „Sonst noch was, Commissario?“ „Ja, bringt die Leiche weg. So was schadet dem Fremden verkehr.“ Der Kommissar sprang in sein Motorboot und fuhr in die Comandantura. In ihrer Donnerstagausgabe brachte die in Mestre erscheinen de Tageszeitung Gazettina di Venezia eine Meldung vom Lido. Sie wurde kaum beachtet. Angeblich sei, so schrieb der Reporter, in der Villa Angelina ein kostbares Ausstellungsstück durch Bubenhand zerstört worden. Es handle sich um die Porzellanvase Blau-Rot aus dem Service August von Sachsen. Zum Glück sei es nur eine 21
Reproduktion der Meißener Porzellanmanufaktur gewesen. Das Original, von unersetzlichem Wert, stehe in einem Muse um in einer Stadt jenseits des Eisernen Vorhangs. Ungeklärt sei, wie es zu der Zerstörung kam. Die Polizei schließe Hammerschläge, aber auch einen Schuß nicht aus. Vielleicht stürzte die Vase auch infolge einer Erschütterung vom Sockel, äußerte der Reporter als private Meinung. Die Meldung riß keinen der an Sensationen gewöhnten ita lienischen Leser vom Hocker. Sie war auch ziemlich weit hinten placiert. Ein Foto der Vase abzudrucken hatte man nicht für nötig gehalten. Schon am Freitag sprach kein Mensch mehr darüber. 4. Mit der Dunkelheit kam der Regen. Der Mann in der Wartburg-Limousine fuhr langsamer. Seine Reifen hatten kaum noch Profil. Außerdem war der Zustand der alten Reichsstraße von Bischofswerda nach Pulsnitz jäm merlich und ließ bestenfalls Tempo sechzig zu. Zwar schlängelte sie sich durch reizvolle sächsische Lande, über Hügel durch ein Flußtal vorbei an Wäldern, aber der Fahrer hatte keinen Blick dafür. Er war damit beschäftigt, die Schlaglöcher zu umkurven. In der kleinen Kreisstadt, die ihm benannt worden war, rollte er durch bis zum Marktplatz und parkte dort. Weil es wieder regnete, zog er beim Aussteigen seinen Wettermantel Marke Plasti-2000 über und ging zu dem Würstchenstand hinüber. Im gelben Licht von zwei Glühbirnen fischte der Budenbe sitzer eine Bockwurst aus dem Sud und legte sie zu Kartoffel salat auf einen Teller. Der Kunde dankte und bat um Mostrich. 22
In diesem Moment trat der Mann aus dem Wartburg ins Licht. „Auch eine“, sagte er. „Bitte“, ergänzte der Wurstbrater. „Gesotten oder gegrillt?“ „Mit Tomatentunke.“ „Auf den Salat?“ „Nein, auf die Pommes.“ „Pommes gibt’s heute nicht.“ „Dann ohne.“ „Ohne was?“ „Ohne alles“, sagte der im Lederolmantel. Der erste Kunde kaute und grinste dabei. „Einmal Würstchen ohne Sahne“, alberte der Brater. „Kommt sofort.“ Indem er sich um den Propangaskocher kümmerte, muster ten sich die zwei Kunden. „Pappteller?“ fragte der aus dem Wartburg. „Meißener Porzellan“, antwortete der andere, „was dachten Sie denn, Genosse.“ Ein Lastwagen donnerte dieselstinkend vorbei. Es ging auf 20 Uhr. Hinter den Fenstern schimmerte es hie und da bläulich. Die Bürger hatten ihre Bildröhren angeheizt. Die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ begann pünktlich. Der erste Kunde schielte zu dem Wurstverkäufer hin. Der warf gerade die Bockwurst in den Topf und drehte die Flamme hoch. „Was gibt’s?“ fragte er den anderen Kunden. „Im Kombinat P & K ist die ganze Clique geplatzt.“ „In Porzellan und Keramik?“ „Ja, dort.“ „Stimmt also. Und warum?“ 23
„Angeblich wegen Unregelmäßigkeiten und Bereicherungen im Export zum Schaden der Republik.“ „So heißt es offiziell.“ „Ja, offiziell.“ „Und inoffiziell?“ Sie sprachen leise. Der Würstchenbrater kam herüber. „Dauert ein paar Minuten, Genosse.“ „Ich nehme solange eine Schrippe.“ Der Mann aus dem Wartburg kaute auf der zähen Semmel. Bei Regen wurden sie wie Gummi. Der erste Kunde war inzwischen beim letzten Wurstdrittel angelangt. „Und inoffiziell?“ „Da war was mit einer Vase. Blau-Rot. Ein Porzellanmaler hat gequatscht. Der Produktionsleiter hat gemogelt, der Ve r sandleiter hing mit drin. Alles recht undurchsichtig. Aber ei nes ist sicher.“ „Sicher ist was?“ „Das zeigt Wirkung bis nach Berlin.“ „Berlin?“ „Der zweite Direktor, der sich erschoß, hatte Freunde im Politbüro der SED.“ „Scheiße!“ kommentierte der erste Kunde. Das hörte der Brater und fuhr herum. „Die Wurst nicht in Ordnung, Genosse? Kommt von der VEB-Fleischverwertung in Radebeul. Mußt dich dort beschwe ren.“ „Nein, mein Zahn.“ „Dann beschwer dich beim Zahnarzt.“ „Oder beim Minister für Volksgesundheit“, fügte der Mann aus dem Wartburg hinzu. Endlich bekam auch er seine Wurst. Der Brater hatte sie mit dünner Tomatentunke, die in der DDR aus propagandistischen 24
Gründen nicht als Catchup bezeichnet wurde, obwohl es im Prinzip dasselbe fürchterliche Zeug war, begossen. Heute schmeckte sie stark nach Curry, denn die Inder hatten eine Traktorenlieferung mit Gewürzen bezahlt. Der Brater sagte: „Komm gleich wieder, Genossen. Der Mensch darf ja mal müssen, oder?“ „Und die Klugscheißer besonders oft“, murmelte der erste Kunde, den Rest seiner Wurst hinunterwürgend. „Berlin also, Politbüro. Und wer steckt dahinter?“ „Frag was anderes.“ „Stichwort Vase. Blau-Rot.“ „Eine Vase“, erklärte der andere, „eine Vase, eine Vase, ei ne verdammte Vase. Porzellan, ungefähr so hoch, vierzig Zen timeter. Vorne und hinten bemalt, blau und rot. Mit dem Ge sicht eines Fürsten und blauen Ornamenten. Aber was ve rstehe ich von Kunst.“ „Kunst ist Kunst“, meinte der andere und trank sein Bier aus. Der mit dem Wartburg machte eine verstohlene Bewegung, indem er den Daumen über dem Zeigefinger rieb. „Wie wär’s mit einem Zuschuß?“ „Ich zahle deine Wurst“, scherzte der andere. „Bißchen ärmlich.“ „Neben der Tür des Wartburg wird ein Umschlag am Boden liegen. Zweitausend D-Mark. Vorsicht beim Ausgeben.“ „Ich habe eine Tante in Düsseldorf.“ „Und wer funkt es rüber?“ „Fürchte, sie horchen meinen Bezirk pausenlos ab.“ Der andere legte zwei Mark auf die Glasplatte. „Dann mache ich das.“ Der Wurstbrater kam zurück, als der Mann aus dem Wart burg mit essen fertig war. 25
„Hat’s geschmeckt?“ „Wie im Ratskeller in Dresden.“ „Meine sind die besten.“ „Dachte, sie kommen alle von VEB Radeburg.“ „Radebeul“, verbesserte der Budenbesitzer. „Am Sieden liegt es. Du mußt was ins Wasser geben.“ ,,’ne Prise Zement.“ „Und gute Gesinnung.“ „Klar, und das“, bemerkte der Kunde. Zahlte, schlug den Kragen hoch, ging zu seinem Wartburg hinüber und hob, bevor er weiterfuhr, den Umschlag auf. Links bei der Kirche, in Richtung Autobahn Berlin, sah er die Rückstrahler eines wegfahrenden Volvo. Eines großen 740. Diese Agentenführer hatten immer die dicksten Schlitten. Bei seinem alten Wartburg brannte nur ein Scheinwerfer und der Wischergummi schmierte. Nach vier Kilometern stieß ihm die Bockwurst samt Tomatencurry auf. 5. Verona, die Stadt an der Etsch, lag im Schlaf. Das tat sie nur zwei Stunden am Tag, morgens zwischen drei und fünf Uhr. So kam der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, von der Au tobahn her ohne Ampelstop rasch durch. Er hatte seinen BMW gedroschen. Drei Stunden zwanzig von München bis Verona. Keine schlechte Zeit. Aber nachts waren die Straßen ziemlich tot und 250 PS waren ein Wort. Er hatte sich den Weg zur Pension Mirandola anhand der Karte eingeprägt und fand sie am Adige-Ufer, ohne sich öfter als zweimal zu verfahren. Am Ende hatte er kurzerhand eine Einbahnstraße gegen den Strich genommen. Nun war er da. 26
Der Hausdiener öffnete nach mehrmaligem Klingeln. „Um diese Zeit“, maulte er. „Bin angemeldet.“ „Name?“ „Urbano!“ Er fügte ein O an. „Hielt Sie für einen Deutschen.“ „So kann man sich irren“, sagte Urban in perfektem Italie nisch und bekam einen Schlüssel. Als Folge der rasanten Fahrt war er kein bißchen müde. Er schob dem Hausdiener einen Fünfzigtausender hin. „Noch was zu trinken, per favore.“ „Espresso?“ „Wo denken Sie hin. Ein Glas Wein.“ „Bianco?“ „Und eine Auskunft.“ Der Hausdiener winkte ab. Er wußte Bescheid. In den letzten achtundvierzig Stunden waren immer wieder Polizisten aufge kreuzt. „Wegen der Blonden?“ „Ich bin der letzte, der dir auf den Wecker fällt.“ „Machen Sie es kurz, Signore.“ „Welches Zimmer hatte sie?“ „Ventuno im zweiten.“ „Kann ich hinein?“ Der Hausdiener hatte schon den Schlüssel in der Hand. „Aber da finden Sie nichts, Signore.“ „Mal gucken.“ „Was für ein Jammer, so eine hübsche Bionda.“ „Ja, welch ein Jammer.“ Urban stieg die Treppen hinauf und sperrte im Zweiten die Tür gleich links im Gang auf. Nachdem es der Polizei gelungen war, die Pension, in der die Tote aus dem Canale Grande gewohnt hatte, zu ermitteln, 27
war das Zimmer versiegelt worden. Mittlerweile hatten sie es freigegeben, aber weitervermietet war es noch nicht. Die Pensionsinhaberin erlitt dadurch keinen Verlust. Das Zimmer war bis zum Wochenende bezahlt. Urban machte Licht. Das Zimmer sah möglicherweise so aus, wie Luisa Lauen stein es verlassen hatte. Mit Sicherheit sah es aber so aus, wie es der letzte Kriminalbeamte vorgefunden hatte. Es wirkte aufgeräumt. Der Staub war gewischt, der Marmor boden gefeutelt. Das Bettlaken zeigte an den Kanten, wo die Fahnder unter die Matratze gegriffen hatten, kleine Falten. Im Bad fand Urban Toilettenartikel mittlerer Qualität. Auf dem Bock lag ein Koffer. Rindsleder. Schon ein wenig abge schunden vom Alter und vom vielen Reisen, aber ohne Hotel aufkleber. – Die gab es ohnehin nicht mehr. Im Koffer selbst herrschte peinliche Ordnung. Ein Plastikbeutel enthielt Schmutzwäsche. Blusen, Jeans, Pullover, alles mustergültig gefaltet. Urban setzte sich auf den Hocker an der Balkontür und öff nete sie einen Spalt, um die Zigarettenasche loszuwerden. Vor knapp zwei Tagen hatte den BND der Anruf des Bundes kriminalamtes erreicht. Eine deutsche Touristin, vermutlich ermordet und im Canale Grande treibend, wäre noch kein Grund gewesen, sich nach Italien in Marsch zu setzen. Aber dann hatte der BKA-Kollege eine Kleinigkeit erwähnt, die bei Urban Voralarm ausgelöst hatte. „Beruf Porzellanmalerin. Inzwischen ist sie Lehrerin an einer Schule für Porzellanmalerei in Weiden, Oberpfalz.“ „Porzellan“, hatte Urban geantwortet. „Da oben gibt es jede Menge Kaolin und Fabriken.“ „Weiß ich“, äußerte Urban. „die Oberpfalz grenzt an Ober franken, und Franken ist meine Heimat.“ „Sie wohnte in einer Pension in Verona.“ 28
„Und wie kommt sie nach Venedig?“ „Mit dem Bus. Ein örtliches Reisebüro karrt zweimal in der Woche Touristen nach Venedig. Am Lido laufen zur Zeit mehrere Ausstellungen.“ Davon hatte Urban gehört und gelesen. „Ausstellungen verteilt auf Länderpavillons“, sagte er. „Da bin ich ehrlich überfordert.“ „Leitet mir die Unterlagen zu.“ „Wir tickern das Wichtigste durch“, versprach der Kollege, „plus Telefax-Foto.“ In München hatte sich Urban Zeitungen besorgt. Natürlich hingen die Nummern, auf die es ankam, längst nicht mehr am Kiosk. Er telefonierte mit dem Mann des BND in Bologna. Der wollte sich darum kümmern. Am Morgen war sein Rückruf gekommen. „Der Ostblock hat in der Villa Angelina eine Sammelaus stellung eingerichtet. Hauptsächlich Kunsthandwerk für den Export.“ „Auch Porzellane?“ „Komische Frage“, bemerkte der Kollege. „Da ist mir doch erst was untergekommen. Moment bitte.“ Wenig später las er Urban eine Meldung im Gazzetino di Venezia vor, derzufolge in der Villa Angelina eine Vase BlauRot aus Meißen DDR zerstört worden sei. „War das an dem Tag, als Luisa Lauenstein umkam?“ „Es könnte der Tag gewesen sein.“ „Danke.“ Urban hatte aufgelegt und auf seinem Schreibtisch die Mel dung aus dem Ost-Netz vorgefunden. Auch hier wurde eine Vase erwähnt, Blau-Rot, aus der Serie August von Sachsen. So war das System allmählich unter Strom geraten. Er hatte noch diese und jene Information gesammelt und war dann losgefahren. 29
Jetzt saß er in Verona in Luisa Lauensteins Zimmer. Die Zigarette war aufgeraucht. Er warf die Kippe ins WC, spülte nach und wollte schon gehen, als er seitlich am Schrank das schmale Stück Tesafilm sah. Es war schräg aufgeklebt. Darunter haftete noch ein Fetzen Papier, vermutlich die Ecke eines abgerissenen Bogens. Urban löste den Klebestreifen vom Holz. Der Hausdiener hatte das Tablett mit dem Halbliterfiasko Weißwein auf einem Marmortisch abgestellt. Urban goß ein. Der trockene Soave erfrischte. Zumindest das erste Glas. Er glaubte, den Hausdiener schnarchen zu hören, doch als er sich umdrehte, stand der Alte hinter ihm. „Wenn mich einer um vier Uhr aus dem Schlummer reißt, ist es mit dem Schlaf vorbei“, bedauerte er. „Dann haben Sie den falschen Beruf.“ „Früher war das anders.“ Urban bot ihm eine Goldmundstückzigarette an. Der Alte rauchte auf Lunge. Immer wenn er anzog, falteten sich die Lippen über seinem zahnlosen Mund nach innen. Das Gebiß trug er wohl erst nach Sonnenaufgang. Urban zeigte ihm den Klebestreifen mit dem Papierfetzen. „Was ist das, Signore?“ „Hing am Schrank in Ventuno.“ Der Alte brauchte einige Zeit, bis ihm die Erleuchtung kam. „Ich war ein paarmal oben in ihrem Zimmer. Am Schrank sagen Sie, auf der Seite zum Bad hin. Ja, dort hatte sie wohl ein Plakat befestigt. Wir sehen so was nicht gerne. War aber eine nette Signorina, die Bionda. Sprach gut Italienisch. Hat, glaube ich, in Faenza studiert.“ „Was für ein Plakat“, fragte Urban, „hing dort?“ „Plakat von einer Ausstellung, wie sie als Reklame gedruckt und aufgehängt werden.“ 30
„Von Venedig?“ „Si, Venezia stand wohl drauf.“ „Was noch?“ Der Alte kniff die Lider schmal, man wußte nicht, blinzelte er, oder hatte er sie geschlossen. „Eine Gondel“, meinte er. „Klar, München mit Bierkrug, Frankfurt mit Würstchen, Pa ris mit Eiffelturm.“ „Nein, es war ein anderes Plakat“, verbesserte sich der Alte. „Eine Blumenvase war darauf. Jetzt erinnere ich mich.“ Er ging hinter die Reception, war nicht mehr zu sehen, weil er sich bückte und kam mit einer weißen Papierrolle unter dem Arm wieder. Vor Urban zog er die Rolle auseinander. Urban traute seinen Augen nicht. – Das war sie, die Blau-Rot aus dem Service August von Sachsen. Eine recht ungewöhnlich geformte Vase. Sie trug den Bauch so tief wie eine Schwangere in den letzten Tagen vor der Nie derkunft und war rund und eckig zugleich, mit langem Hals und blauroter Malerei. Urban fand keine Ecke des Plakates beschädigt. „Das ist nicht das Plakat aus dem Zimmer.“ „Ich hatte zwei und schenkte ihr eines, weil sie mich darum bat. No, Signore, ich verkaufte es ihr. Sie hängte es auf. Woll te wohl hin, um die Vase zu sehen.“ „Und wer nahm das Plakat aus dem Zimmer mit?“ „Die Polizei. Irgend jemand wird es wohl entfernt haben.“ Urban mußte daran denken, wie in München plötzlich be stimmte Fotobücher über Meißener Porzellan verschwunden und aufgekauft worden waren. „Kann ich das Plakat haben?“ „Gratis“, sagte der Alte. Urban betrachtete es in aller Ruhe. An der Bemalung in Blau 31
und Rot konnte er nichts Besonderes finden, war sich aber klar darüber, daß jede Vase zwei Seiten hatte. Und warum hatte Luisa Lauenstein sterben müssen. – Wegen einer der beiden Seiten der Vase vielleicht? Er ging auf sein Zimmer und schlief vier Stunden. Kaum war Urban erwacht, quälte ihn derselbe Gedanke wie vor dem Einschlafen. Warum hatte man die Fachschullehrerin für Porzellanmale rei, Luisa Lauenstein aus Weiden, ermordet? Er bestellte Kaffee, Saft, Ei und das Übliche. Beim Frühstücken stellte er das Foto der Luisa Lauenstein neben die Kanne. Das Besondere an dem Mädchen war die Brille. Sie hatte wohl ein Faible für Brillen gehabt. Nach seinen Recherchen war sie weder kurz- noch weitsichtig. Sie litt jedoch an einer seltenen Netzhautüberempfindlichkeit, die sich aber nicht bei starker Helligkeit auswirkte, sondern bei bestimmten Farben des Spektrums. Eine weitgehend unerforschte Krankheit, wie es hieß. Hatte diese Brille sie befähigt, etwas Besonderes auf der Vase zu erkennen? In der kurzen Zeit war es leider nicht möglich gewesen, sich eine von Luisa Lauensteins Brillen zu beschaffen. Nach dem Frühstück hatte Urban einen Einfall. Er klingelte nach dem Zimmermädchen. „Kannten Sie die blonde Deutsche?“ fragte er. „Mit der es die Schwierigkeiten gab? Si, Signore. Sie war vier Tage hier bevor… es geschah.“ Urban zeigte ihr das Foto. „Ist sie das?“ Das dunkelhäutige, dralle Mädchen, vermutlich Sizilianerin, nickte. „Ist auf diesem Foto irgend etwas anders als in Ihrer Erinne rung?“ 32
Sie nahm das Foto und betrachtete es längere Zeit. Es handelte sich um einen Farbabzug, den die Kripo Weiden aus der Wohnung der Lauenstein beschafft hatte. „Sie trug keine Ohrringe“, stellte die Italienerin fest. Urban fand das nicht weiter tragisch! Auf dem Foto hatte Luisa Lauenstein kleine Brillanten im Ohr, vielleicht Erbstücke, vielleicht auch Imitationen. Nein, Imitationen wohl nicht, sonst hätte sie kaum befürchtet, den Schmuck in Italien zu verlieren und ihn zu Hause gelassen. Das half ihm nicht weiter. „Und die Brille“, ergänzte das Zimmermädchen. Urban hatte nicht erwartet, daß noch etwas käme. Aber so berauschend war das auch wieder nicht. Natürlich besaß eine Frau, die Probleme mit den Augen hatte, mehrere Brillen. „Die Gläser“, äußerte das Zimmermädchen und deutete auf das Foto. „Sie sind farblos, oder nur schwach getönt.“ „Die anderen nicht.“ „Sie meinen die Gläser jener Brille, die Signorina Lauen stein in Italien trug.“ „Preciso, Signore. Ganz genauso ist es!“ „Und wie waren die Gläser?“ „Solche Gläser habe ich noch nie an einer Brille gesehen.“ Vorsicht jetzt! dachte er. Erschreck sie nicht, sonst vergißt sie es. „Inwiefern?“ „Rosa Gläser“, erklärte sie, „beinahe rot.“ „Nicht grün, nicht blau, nicht braun, nicht gelb“, präzisierte Urban. „Rot“, beharrte sie. Urban überlegte. Wenn sie an Rotempfindlichkeit litt, warum trug sie dann rote Gläser. – Dafür gab es nur eine Erklärung: Weil rote 33
Gläser wie ein Rotfilter wirkten und alles andere Rot prak tisch unsichtbar machten. Das war es! Um die Vase Blau-Rot so zu sehen, wie Luisa Lauenstein sie gesehen hatte, betrachtete Urban das Plakat zunächst durch eine Campariflasche. Dies in Ermangelung einer roten Glas scherbe. Wegen der Rundung und der Flüssigkeit war wenig zu er kennen. Beim nächsten Fotohändler erstand er einen Rotfilter. Im BMW sitzend, klemmte er sich den Filter monokelartig vor das Auge und betrachtete das Plakat unter verschiedenen Lichteinfallwinkeln. Das rote Glas filterte sämtliche roten Punkte und Linien na hezu vollkommen weg. Was übrigblieb, war nur das Blaue. Leider ergab der Rest keinen erkennbaren Sinn. Es handelte sich um Teile von Blumen, Ranken, Ornamenten und eines Männerprofils, eben alle in Blau ausgeführten Teile der Vase. Eine Vase ist wie eine Münze, sagte sich Urban und hat zwei Seiten. Vielleicht hat sie sogar vier. Damit fing die Suchtour an. Er mußte eine Aufnahme finden, die die Rückseite der Vase zeigte, und zwar genau der Vase, die am Lido zerstört worden war. Er rief bei Zeitungsredaktionen an, suchte Werbestudios und Fotoagenturen auf. Er setzte sich mit Fotoreportern in Verbin dung, sprach mit beinah allen Leuten im Städtedreieck Vero na-Mestre-Bologna, die auf irgendeine Weise mit ProfiFotografie und Venedig zu tun gehabt hatten. Es war wie Hexerei. Keiner wollte die Vase fotografiert ha ben. Und wer sie fotografiert hatte, dem waren Negative oder Abzüge abhanden gekommen. Am Abend meldete sich der Inhaber der Werbeagentur, die Urban als erste befragt hatte, bei ihm im Hotel. 34
„Mein Name ist Marachi“, sagte der Italiener, „wir haben die Lido-Plakate entworfen.“ „Und leider kein Fotomaterial mehr“, ergänzte Urban. „Ja, es ist verschwunden. Auch im graphischen Labor, wo die Druckplatten hergestellt wurden, liegt nichts.“ „Das habe ich befürchtet.“ „Alles troppo misterioso“, meinte der Italiener. „Da habe ich mir die Frage gestellt, was wohl dahinter steckt.“ „Ein Mord“, erklärte Urban. „Mehr als ein Mord“, erwiderte der Anrufer. „Und da fiel mir etwas ein.“ „Ich höre, Signor Marachi.“ „Die Vase wurde, damals bei der Eröffnung, im Fernsehen gezeigt. Einmal rundherum im Totalschwenk.“ „Dann wird auch der Film vernichtet worden sein“, befürchtete Urban. „Nicht bei der RAI, unserer staatlichen Fernsehanstalt, Si gnore.“ Die Radiotelevisione Italiana hatte das Material möglicher weise noch. Urban bedankte sich für den Tip. Der Italiner freute sich, ihm geholfen zu haben und wünschte viel Glück e tanti auguri. Urban dachte daran, den Mann des BND in Rom anzusetzen, nahm dann aber selbst Kontakt mit Freunden beim italieni schen Geheimdienst auf. Achtzehn Stunden später hatte er eine Kopie der magneti schen Aufzeichnung. Mit dem Ampexband in der Tasche fuhr er zurück nach München. Im BND-Labor wurde das Videoband durch die Ampexmaschi ne gejagt, vorwärts und rückwärts gefahren, bis die Lidorepor tage die Vase zeigte. Der Kameramann war einmal um die Vase herumgegangen. Zwar spiegelte der Glaskasten, unter 35
dem die Blau-Rot stand, ein wenig, trotzdem war die Auf zeichnung gestochen scharf. „Standbild!“ bat Urban. „Vorderseite?“ „Rückseite.“ „Wo ist bei einer Vase vorn und hinten?“ „Für mich ist hinten die Seite, die ich noch nicht kenne.“ In der Zeitlupe wurde das Band weitergefahren. Die Bilder zuckten über den Projektionsschirm. „Stopp jetzt!“ Die Rückseite zeigte abermals einen Männerkopf. Im Zwe i felsfall den von August dem Starken, dazu Blumen, Ornamente und Ranken. Im Begriffe, die Projektion über seinen Rotfilter zu be trachten, wurde Urban von der Technik aufgeklärt, daß es nur eines Knopfdrucks bedurfte, und die Rotkanone des Projek tors sei abgeschaltet. „Und wie erscheint dann Rot?“ fragte er. „Schwarz.“ „Ich will es aber völlig weg haben.“ „Machen wir.“ Aber Urban reagierte schneller. Bevor sie lange an der Elek tronik herumfummelten, zog er den Sakko aus und hängte ihn vor jenes Objektiv des Videoprojektors, das die rote Farbe beisteuerte. Der Effekt war derselbe, als würde man die Rückseite der Vase durch eine rosa Brille betrachten. Die Vase erschien hier zehnmal größer als im Original. Nur das Blau war noch zu sehen. Wenn man lange genug hinschaute und Phantasie entwi ckel te, ergab sich auch Sinn, nämlich Zahlen, Buchstaben und eine Skizze, alles verschlüsselt, sowie den Kopf eines Menschen. 36
August der Starke, König von Sachsen, war es diesmal nicht. Urban alarmierte die Dechiffrierabteilung. 6. Die gepanzerte Volvo -Limousine rollte vom Flugplatz herein durch Ost-Berlin. Hinter zugezogenen Vorhängen saß ein hoher Funktionär. Er kam direkt aus Moskau. Und er war einer aus dem Rat der Götter, wie man in der DDR das Politbüro nannte. Sein Begleiter, General der Volksarmee, Bruno Kramm, schaute immer wieder verstohlen auf die Armbanduhr. „Ihre Maschine hatte Verspätung, Genosse Professor.“ „Wir kamen zu spät in Moskau weg“, erzählte Wolfhardt, „Sie kennen doch Stepinew.“ „Hatte leider noch nicht die Ehre, dem Generalsekretär der KPdSU vorgestellt zu werden.“ „Nun, Stepinew findet immer kein Ende. Wir frühstückten im Kreml, dann brachte er mich zum Hubschrauber und dann noch im Hubschrauber zum Flugplatz, obwohl das gar nicht vorgesehen war. Am liebsten wäre er wohl mit nach Berlin geflogen. Aber diese Sache… diese böse Sache, muß ich wohl allein in Ordnung bringen.“ Schon die Andeutung, daß Moskau wieder seine harte Hand spüren lassen wolle, erzeugte bei General Kramm Unbehagen. Fortan schaute er nicht mehr auf die Uhr. „Ich weiß“, sagte Wolfhardt, „die Genossen warten bereits. Aber wenn Warten heute das einzig Peinliche ist, das ihnen widerfährt, dann können sie von Glück reden.“ Von jetzt an äußerte der Genosse Innenminister und Chef des Geheimdienstes kein Wort mehr. Er legte seine Hand auf die schwarze Aktentasche, die zwischen ihm und dem General 37
lag, als wolle er deutlich die Distanz vergrößern. An allen Ampeln bekam der schwarze Volvo 740 wie durch Geisterhand Grün. Gegen 13 Uhr 35 bog er zum Marx-Engels-Platz ab. Beherrscht wurde dieser Platz von einem wuchtigen grauen Steinklotz, fünfstöckig, Kantenlänge nahezu hundert Meter. Auf dem Dach wehte die DDR-Fahne, rot mit Hammer und Zirkel. Vorn über dem säulengestützten Haupteingang hing ein Spruchband: Vierzig Jahre Kampf für Frieden, Demokratie und Sozialismus. Sie waren vor dem Zentrum der Macht angelangt. Serge Wolfhardt eilte durch die Marmorhalle, die trotz ihrer Höhe düster und militärisch wirkte, wie einer, der diesen Weg schon tausendmal gegangen war. Rechts klapperte der Paternoster. Er wurde vom Fußvolk benutzt. Den Regierungsmitgliedern stand der Lift zur Verfü gung. Wolfhardts persönlicher Referent faßte nach der Aktenta sche des Ministers. Doch Wolfhardt verweigerte sie ihm mür risch. „Diese Bombe trage ich selbst ins Allerheiligste“, zischte er. Die Lifttüren glitten zu, die Kabine zog an und hielt nach kurzer Fahrt im zweiten Stock. Dort ging Wolfhardt nicht erst in sein Büro, sondern gleich in den Sitzungssaal. Der NVA-Major vor der gepolsterten Nußbaumtür grüßte zackig. Der persönliche Referent riß den Flügel auf. „Brauchen Sie mich, Genosse Minister?“ Wolfhardt warf einen kurzen Blick ins Allerheiligste. Die 38
Mitglieder des Politbüros saßen wie immer im Halbkreis. Meist waren es ältere Herren, müde und krank geworden auf dem langen und gefährlichen Weg bis zur Spitze. Die größte Macht und den größten Einfluß bekamen diese Männer stets dann, wenn sie das Greisenalter erreicht hatten. In ihrer Mitte thronte der Staatsratsvorsitzende. Der Mann, dessen Bild in jedem Büro, in jedem Schulzimmer, ja fast in jeder Wohnstube des Landes hing. Rechts von ihm war noch ein Platz, der Stuhl, den Wolfhardt stets einnahm, frei. Wolfhardt legte den Mantel ab. „Brauchen Sie mich?“ wiederholte sein Referent. „Seien Sie froh“, schnarrte der Professor. „Wenn Ihnen dies erspart bleibt.“ Dann ging er hinein. Hinter ihm schloß sich die Tür. Der Raum war ähnlich ausgestattet wie der Sitzungssaal des Politbüros im Kreml. Russische Spezialisten hatten ihn abhörsicher gemacht. Die Wände waren mehrschichtig. In den Böden und Decken befanden sich Hohlräume, durch die Musik und Störgeräusche geleitet wurden. Die Fenster bestanden aus dreifachem Plexi glas. Der Vorsitzende erhob sich und begrüßte den Neuankömm ling mit stummer Verbeugung. Nun erhoben sich die anderen Politbüromitglieder ebenfalls und klatschten in die Hände. Etwa sechsmal. Der Vorsitzende deutete auf den Stuhl an seiner Seite, den angestammten Platz des Genossen Wolfhardt. Dieser aber beliebte, vor dem Halbrund stehenzubleiben. „Genosse Wolfhardt“, sagte der Staatsratsvorsitzende, „würdest du uns das Anliegen unserer Moskauer Freunde übermitteln.“ 39
Wolfhardts Augen musterten jeden der auf Lebenszeit ge wählten Politbüromitglieder. Er kannte sie alle persönlich. Mit einigen war er sogar be freundet. Aber in dieser Minute war es, als errichte er eine Eisbarriere zwischen sich und ihnen. Alles Private wurde beiseitegeschoben. Es ging nur noch um die große Sache. – Um den Erhalt des Staates. „Ich gebe jetzt eine Erläuterung“, sagte Wolfhardt mit einer Stimme, die so metallisch scharf klang, daß man zu fühlen glaubte, wie sie in die Haut schnitt. „Einer von euch“, begann der Mann, der aus Moskau kam, mit seinem Vortrag, „ist ein Verräter.“ Empörtes Murmeln war die Antwort. Aber Serge Wolfhardt, in Moskau ebenso angesehen wie in der DDR, wurde noch deutlicher. „Einer von euch bereitet etwas gegen diesen Staat vor. Viel leicht sogar gegen die Sicherheit und die Interessen unserer sowjetischen Freunde.“ Die Gesichter der meisten Anwesenden verfärbten sich. Ei nige wurden blaß, anderen schoß das Blut in den Kopf. Das waren diejenigen, die auf Vorwürfe stets mit Wut oder mit gutgespielter Empörung zu reagieren pflegten. „Einer von euch“, fuhr der Vertraute Moskaus mit lauter Stimme fort, „setzt alle unter Druck. Er kann euch beeinflus sen. Dabei schließe ich mich nicht aus, wie sich auch der Ge nosse Generalsekretär in Moskau nicht ausschließt.“ „Ist ja ungeheuerlich“, murmelte der Vorsitzende. „Einer von euch“, sprach Wolfhardt weiter, „hat seit vierzig Jahren Dossiers angelegt. Ein Geheimarchiv über jeden von uns.“ Die Männer des Politbüros wagten nicht, sich anzublicken. Wolfhardt war sicher, daß sie jetzt ihr Leben, alle ihre Taten, 40
in rasender Eile durchdachten, und daß dabei jeder von ihnen auf gewisse Dinge stieß, die er lieber verschwieg. Die Leichen im Keller, nannte man das. „O mein Gott!“ stöhnte einer, der die Existenz Gottes seit einem halben Jahrhundert abgeleugnet hatte und faßte sich ans Herz. „Einen Arzt!“ rief der zweite Vorsitzende. „Keinen Arzt“, entschied der Mann, der aus Moskau ge kommen war, „erst wenn ich hier fertig bin. Er soll seine Pil len schlucken. Frisches Wasser steht vor ihm.“ Der Anfall des alten Herren war wohl nicht so schlimm. Er kam wieder zu sich und steckte sich zitternd eine Zigarette an. „Einer von euch“, trommelte Wolfhardt härter, „hat gegen jeden von uns etwas in der Hand. Damit kann er uns manipulie ren. Und wer uns manipuliert, beeinträchtigt unseren freien Willen. Er beeinflußt die Politik, er könnte sogar…“ „Was?“ drang eine Frage in die peinliche Stille. „Katastrophale Entscheidungen herbeiführen. Entscheidun gen wie etwa Neutralitätsbestrebungen, Austritt aus dem Co mecon, Verlassen des Warschauer Paktes, Zerstörung des Bündnissystems von innen heraus…“ Entrüstet sprang der sonst kühl beherrschte Staatsratsvorsit zende auf und schrie: „Ich entziehe dir hiermit das Wort, Genosse Wolfhardt. Deine Ausführungen sind bösartig und beleidigend. Die Ge heimsitzung ist hiermit beendet.“ Das Machtwort des Vorsitzenden besaß sonst die entschei dende Wucht eines Fallbeils. Heute aber wurde es von Serge Wolfhardt lächelnd ignoriert. „Die Karte Moskau“, sagte er, „sticht die Karte Berlin. Oder soll ich den Genossen im Kreml mitteilen, daß man nicht geneigt war, mich anzuhören?“ 41
Nach angemessenem Zögern nahm der Vorsitzende wieder Platz, hob die Hand und erteilte die Erlaubnis, weiterzuspre chen. Wolfhardt räusperte sich. „Der Verräter ist einer von euch aber wir kriegen ihn.“ Diese Drohung war für die meisten eine Erleichterung und ein Hoffnungsschimmer. Moskau hatte offenbar Maßnahmen ergriffen, der drohenden Gefahr zu begegnen. Nun öffnete der Innenminister seine Aktentasche und ent nahm ihr einen roten Geheimordner, den er bedächtig auf schlug. Nur ein Blatt befand sich darin. Es war angeheftet und mit Maschine beschrieben. „Punkt eins!“ las er vor. – Mit seiner durchdringenden Stimme machte er die Anwesenden mit Maßnahmen vertraut, die man im Kreml für notwendig hielt. Es lief darauf hinaus, daß von dieser Stunde ab jedes Polit büromitglied überwacht wurde. „Keiner kann auch nur einen Schritt tun, ohne daß Leute ei ner Mannschaft, die das Vertrauen des KGB-Chefs genießt, ihn überwachen. Bei Tag und bei Nacht.“ Schwacher Protest erhob sich, ging aber bald in allgemeiner Zustimmung unter. Selbst die abgebrühtesten Politbüromit glieder bekamen es mit der Angst zu tun. Der eine oder andere mochte wohl an die Stalinzeit zurückdenken, wo es schon genügte, der Freund eines Freundes eines Regimegegners zu sein, um in Sibirien zu vermodern. „Von dieser Stunde an“, erklärte Wolfhardt mit Zynismus, „führt jeder von euch gewissermaßen ein Fahrtenbuch. Jeder Kilometer, jede Kurve, jede Beschleunigung sowie jeder Halt wird vermerkt.“ „Gibt es einen Verdacht?“ wagte jemand zu fragen. 42
„Es gibt zu viele Verdächtige, sonst wäre dies nicht notwe n dig.“ „Ist denn jeder verdächtig?“ rief einer von links. Es war der Minister für Kultur und Propaganda. „Jeder“, antwortete Wolfhardt. „Auch ich werde mich der geforderten Personalkontrolle selbstverständlich unterzie hen.“ „Du, der Polizeiminister?“, bemerkte jemand. „Für dich ist das wohl eher eine Farce.“ „Ich werde von Stepinew persönlich überprüft.“ Allein die Erwähnung dieses Namens brachte diejenigen, die noch etwas zu sagen gehabt hätten, zum Schweigen. Wolfhardt verlas alle Punkte auf dem Geheimpapier und erläuterte sie. Das dauerte gut eine halbe Stunde. Anschließend beantragte er Abstimmung darüber. Es wurde abgestimmt. Keine Stimme dagegen. Keine Ent haltung. Dann nickte Wolfhardt dem Vorsitzenden zu. „Jetzt kannst du die Sitzung für beendet erklären, Genosse“, sagte er. „Mich bitte ich zu entschuldigen. Ich habe in Pankow zu tun.“ Noch während der Genosse Minister im gepanzerten Volvo zum Hauptquartier des Staatssicherheitsdienstes in die Nor mannenstraße fuhr, begann der Apparat anzulaufen. Die gesamte Maschinerie, die seit Kriegsende aufgebaut worden war und jetzt zur Verfügung stand, um praktisch jeden Staatsbürger unter Kontrolle zu halten, setzte sich in Bewe gung. Allerdings richteten sich die unsichtbaren Augen diesmal auf eine genau begrenzte Personengruppe. In den nächsten achtundvierzig Stunden wurde der von Mos kau befohlene Beschluß des Politbüros mit beängstigender 43
Perfektion in die Tat umgesetzt. Unter Einsatz aller erforder lichen organisatorischen, finanziellen und geheimpolizeili chen Mittel begann man, den Staatsfeind Nummer eins zu jagen. Nicht nur Minister Professor Serge Wolfhardt war sicher, daß der Gesuchte irgendwann in das Netz gehen würde, auch die Experten seines Amtes und seines Dienstes waren bereit, dies zu garantieren. Aus diesem Grund hätte Serge Wolfhardt den Dingen mit Gelassenheit entgegensehen können. Doch seine äußere Kühle war nur Beherrschung. Moskau drängte. Mehrmals täglich ließ sich der Generalse kretär über die Ergebnisse berichten. Vom KGB kam Druck. Von der roten Armee, von allen Seiten. Jeder zitterte und wollte den unbekannten Alleswisser so rasch wie möglich entlarvt und tot sehen. Dies, und nicht nur dies, war es, was Serge Wolfhardt schwere Sorgen bereitete. 7. Der BND-Agent Robert Urban hatte 1600 Kilometer nördlich von München Position bezogen. Seit vierunddreißig Stunden saß er in einem Chevrolet Station am Internationalen Flugha fen von Oslo und wartete. Der Wagen gehörte zum Fuhrpark des norwegischen Geheimdienstes. – Als NATO-Mitglieder unterhielten die Norweger mit Pullach einen guten, Draht, und man arbeitete reibungslos zusammen. Der Chevi verfügte über Sprechfunk. Ab und zu meldete sich der Verbindungsmann zur norwegischen Spionageabwehr. „Sollen wir dich ablösen, Bob?“ „Danke. So viel habe ich gelernt, daß man den eigenen Mist auch selbst schaufeln muß.“ „Wie wär’s mit Proviant?“ 44
„Kaffee und Sandwiches“, bat Urban. „Aber nichts mit Fisch.“ Im Zweifelsfall waren in Skandinavien alle Smörgasbröde mit Meeresfrüchten belegt. „Roastbeef?“ „Gern, wenn das Beef nicht mit Fischmehl erzeugt wurde.“ „Und Majonnaise?“ „Und einen Kasten Bier“, erbat sich Urban. „Wann“, fragte sein norwegischer Kollege, „gehst du ei gentlich pinkeln, Mann?“ Urban schaute auf der Liste nach und gab ihm die Uhrzeiten durch. „Selten wenn ich muß, sondern meist dann, wenn mal keine Maschine aus Schweden, Finnland oder dem Ostblock landet.“ „Bei dem Verkehr.“ „Mitunter wird es knapp.“ Zum Glück waren die Büsche nicht allzuweit. Urban hockte wieder da, beobachtete, wartete, hörte Radio, versuchte, mit seinem bißchen Norwegisch Magazine zu lesen. Als gegen Abend der Norweger vorbeikam, bat Urban, er möge ihm gelegentlich ein Wörterbuch mitbringen. „Beim nächsten Mal.“ „Eilt ja nicht, Sven.“ „Falls du noch da bist.“ „Sieht nach einem Dauerjob aus.“ „Einmal muß er ja kommen.“ „Falls wir den Code richtig entschlüsselten.“ „Und man ihn nicht abgefangen hat.“ „Dann knalle ich mir selbst eins vor die Birne. Schließlich bin ich freiwillig hier. Keiner hält etwas von der Sache.“ Der Norweger Sven, ein hagerer Skiläufertyp, rotblond mit wasserhellen Augen, bemerkte: „Wann hast du dich schon mal geirrt!“ 45
„Geheimsache“, sagte Urban. „Was stand in der Nachricht?“ „Airport einer skandinavischen Hauptstadt.“ „Hast du in Stockholm auch einen Mann sitzen?“ „Die Skizze deutete auf Oslo hin.“ „Und wie willst du ihn erkennen?“ Urban zuckte mit den Schultern. „Er erkennt mich.“ „Und es soll noch in diesem Jahr stattfinden?“ „Sogar in dieser Woche.“ „Woran erkennt er dich?“ „An meinem zerknirschten Gesicht“, alberte Urban. Zog dann aber eine Ausgabe der London Times aus der Türinnenta sche und faltete sie auf. „Die muß ich unter den rechten Scheibenwischer klem men.“ „Woher hast du die?“ „Aus München mitgebracht.“ „Wenn es regnet, weicht sie zusammen.“ „Regnet ja nicht“, antwortete Urban. „Ein Tief kommt aus Island herüber.“ „Wann?“ „Bis übermorgen.“ „Dann bin ich hier festgewurzelt.“ „Und Zeitungspapier ist wasserempfindlich.“ Grinsend faßte Urban nach hinten. „Ich hab noch drei Times-Nummern.“ „Du bist der Größte.“ „Mag sein, aber der größte was?“ Der Kollege fuhr nach Hause in sein gemütliches Haus am Fjord, zum Feuer im Kamin, zu seiner netten, blonden, rotbackigen, norwegischen Frau. Und Urban richtete sich auf die dritte Nacht ein. 46
Das Tief kam früher. Um 22 Uhr war der Nieselregen im Licht der Parklampen deutlich erkennbar. Die letzte Maschine kam herein. Ein SAS-Flug aus Göte borg. Die Passagiere trotteten heraus, nahmen Taxis und fuh ren weg. Ein Mann schlenderte zum Parkplatz, schlich mehrmals um Urbans Chevi herum, setzte sich dann in einen Saab und starte te. Fehlanzeige. Die nordische Nacht wurde recht kühl. Erst zog Urban sei nen Trenchcoat an, dann hüllte er sich in die Decke. Ab und zu ließ er den Motor an. Der schwere gußeiserne V8 brauchte lange, bis er warm wurde, lieferte dann aber ange nehm temperierte Luft ins Autoinnere. Um 02 Uhr landete schon die erste Maschine aus Helsinki. Sie brachte Post, mitunter aber auch einige Passagiere. Wenig später kam wieder ein Flugzeug. Für Urban lohnte es einfach nicht, ins Hotel zu fahren. Kurz vor Beginn der Dämmerung war die Aeroflot MoskauLeningrad-Oslo fällig. Abermals ohne ein besonderes Ergeb nis für Urban. Er hatte schon alle ihm bekannten Flüche zitiert, als er die Gestalt näherkommen sah. Es war dunstig und die Chevroletscheiben hatten Beschlag. Er wischte ein Beobachtungsloch frei. Der Mann mochte einsfünfundsiebzig groß sein und wirkte in dem eleganten, gelben Ledermantel sehr schlank. Er trug Hut und Brille und eine umhängbare Reisetasche, die besten falls Gepäck für zwei Tage enthielt. Plötzlich konnte Urban den Mann nicht mehr sehen. Doch dann riß eine Hand unter dem Scheibenwischer die Times weg. 47
Urban entriegelte die rechte Tür. Der Fremde kam herum, bückte sich und schob sich neben Urban. Er brachte kühle Frische in den Zigarettenmief herein, ve r mengt mit einem Hauch Rasierwasser. Zumindest hielt es Urban für so etwas. Aber gewiß stammte der Duft nicht aus sowjetischer Produktion, sondern von Pierre Cardin. Der Fremde hielt die durchweichten Times-Blätter zwischen den Handschuhfingern. Das Handschuhleder lag auffallend eng um die schmalen Finger. Wäre der Bart nicht gewesen, hätte man die Züge des Frem den aus dem Osten für außerordentlich weich gehalten. In diesem Moment heulte ein Automotor auf. Der Wagen mochte etwa achtzig bis hundert Meter entfernt sein. Der Fahrer gab im kleinen Gang so stark Gas, daß die Räder wi n selnd durchdrehten. Der Wagen driftete durch die Kurve, wur de abgefangen und schoß nun auf den Chevrolet zu. – Gleich zeitig gingen seine Scheinwerfer an. Der Unbekannte neben Urban hob zum Schutz gegen die plötzliche Helligkeit den rechten Unterarm vor die Augen. Urban konnte den Wagen nicht genau erkennen, aber er ahn te, wer es war. „Der Saab!“ rief er. Stieß seine Tür auf und sprang hinaus. „Deckung!“ Eine Sekunde später war der schwarze Saab da. Er wurde brutal gebremst. Durch die abgekurbelte Seiten scheibe feuerte ein Mann. Er hatte den Schal vor dem Mund und die Schirmmütze bis zu den Augen herabgezogen. Urban sah die Waffe, ihren verlängerten Lauf, hörte aber den Schußknall nicht. Die Waffe besaß einen Schalldämpfer. Nur der Kugeleinschlag im Cheviblech war deutlich zu ve r nehmen. 48
Der Mann im Saab streckte den Arm weiter heraus, und ziel te erneut. In diesem Moment flankte Urban über die Motorhaube und packte den Arm des Schützen. Er hämmerte ihn mit Wucht und gegen den Beugewinkel des Ellbogengelenkes auf die Türkan te. Der nächste Schuß ging in den Asphalt. Obwohl der Schmerz ihn aufschreien ließ, bot der Maskierte ein perfektes Pedalspiel. Er ließ die Kupplung kommen und gab Gas. Der Gang war noch eingelegt. Der Saab zog ab wie eine Rakete. – Urban wurde zu Boden gerissen. Als er wieder auf den Beinen stand, hörte er hinter der Kur ve, die der Saab noch bekommen hatte, einen harten Aufprall, als würden zwei Autos mit hoher Fahrt eine Menge Blech verbeulen. Langsam folgte Urban mit dem Chevrolet der Fluchtspur des Saab. „Um Mitternacht hat er hier schon herumgelungert“, sagte Urban auf Englisch. „Er war hinter Ihnen her.“ „Hinter uns“, verbesserte ihn der Mann aus dem Osten. Ebenfalls in Englisch. „Weit ist er nicht gekommen.“ Nach der Linkskurve und nach weiteren Merzig Metern sa hen sie ihn an der Betonmauer, die den Parkplatz begrenzte, kleben. Der Saab war ziemlich demoliert. Man konnte sagen, sein Vorderteil hatte sich zieharmonikaartig zusammengeschoben und um ein Drittel verkürzt. „Als einarmiger Fahrer war er nicht mehr so gut“, kommen tierte Urban den Vorfall und stieg aus. Der Saab war leer. Sitzbezug, Bodenbelag und Einstieg zeig ten Blutspuren. Aber von dem Maskierten war nichts zu sehen. 49
Urban steckte sich eine MC an und fuhr los. „Er hat Sie erwartet“, wiederholte er. Der Unbekannte neben ihm zuckte nur mit der Schulter. „Also wurde Ihre Mission verraten, mein Freund.“ „Leider.“ „Und dies schon lange.“ „Was zu befürchten ist.“ „Wer sind Sie?“ fragte Urban. Der Fremde bückte stur geradeaus und murmelte: „Erst mal anders herum bitte. Wer sind Sie?“ „Unter Anwendung von Logik gibt es wohl nur eine einzige Möglichkeit. Ich muß einer Organisation angehören, die eine gewisse Nachricht erwartet und sie zu entziffern verstand.“ „Welche Nachricht?“ „Blau-Rot“, gab Urban preis. „Also CIA.“ Urban lächelte dezent. Nun sah der Fremde die Gelegenheit für gekommen, seine Identität zu lüften. Erst streifte er die Handschuhe ab. Er hatte ungewöhnlich schmale Hände und rotlackierte Nägel. Mit raschem Griff zog er den Kinnbart weg, nahm den Hut vom Kopf und die Herrenperücke. Darunter quoll, nur mühsam von einem grünen Band gehalten, leuchtend rotes Haar hervo r. „Eine Lady“, Urban staunte. „Dachte ich mir beinah.“ Sie kurbelte die Scheibe ab. „Wohin mag er gelaufen sein?“ „Sie hätten ihn wohl gern.“ „Mich interessiert, ob er vom KGB Moskau oder vom Stasi in Ostberlin ist.“ „Und wer sind Sie, Gnädigste?“ „Auf keinen Fall der, den Sie erwarteten.“ „Nur sein Vorreiter also.“ 50
„Wie Sie wollen.“ „Und Deutsche“, ergänzte Urban. „Ist mein Akzent immer noch zu hören?“ „Schwach.“ „Irgendwann werde ich ihn endgültig ausmerzen müssen.“ Sie spähte hinaus, als suche sie immer noch den Mann aus dem Saab, der auf sie geschossen hatte. „Es läßt Ihnen keine Ruhe“, stellte Urban fest. „Voller Andacht würde ich zusehen“, gestand sie, „wie die Wespe, die mich gestochen hat, auf dem Fliegenleim langsam krepiert. Ist das gemein?“ „Dann bin ich ebenfalls gemein, Gnädigste“, antwo rtete Ur ban, bog auf den Zubringer und rollte stadteinwärts. Die Dunkelheit wich nur langsam dem Tageslicht. Hier oben begann bald die lange, skandinavische Winternacht. „Wohin bringen Sie mich?“ „In Sicherheit“, erklärte Urban. 8. Der uralte Raddampfer legte um 13 Uhr in Lindau ab. Sekun den bevor die Gangway eingezogen worden war, hatte sie ein Passagier überquert und im Salon Platz genommen. Der Mann war etwa fünfzig Jahre alt, trug einen dunkelblau en Maßanzug und einen hellen Raglan-Sommermantel über dem Arm. Trotz der eleganten Sonnenbrille mit Goldrand wirkte er wie ein deutscher Beamter. Allerdings wie einer der oberen Hier archie mindestens vom Staatssekretär aufwärts. Während der Fahrt über den Bodensee zum Schweizer Ufer las der Passagier in einem Taschenbuch. Es handelte sich um die englische Ausgabe des französischen Bestsellers „Alterna 51
tive de guerre“. Er klappte das Buch zu, als die Schaufel des Dampfers vor Romanshorn rückwärts drehten, um die Fahrt aus dem Schiff zu nehmen. Vorher hatte er jedoch das Lese zeichen umgesteckt. Mit schlecht überspielter Nervosität stand er auf, trat an Deck, schloß sich jedoch den Fahrgästen, die das Schiff ve r ließen, nicht an. Schließlich hatte er bis Konstanz bezahlt. Nachdem er sich ein schattiges Plätzchen auf einer Achter deckbank gesucht hatte, musterte er die Gegend. Die Berge im Osten über Bregenz, den Himmel, die Segel- und Motorboote. Da er kein Komödiant war, verriet seine Gelassenheit innere Unruhe. Sie war jedoch wie weggeblasen, als er einen Mann an Bord gehen sah, der ebenfalls dunkelblauen Maßanzug und einen hellen Trenchcoat trug. Der in der Schweiz zugestiegene Passagier war um einiges älter. Seine rosa Glatze war von Silberhaar umkränzt. Er mochte um we nige Zentimeter größer, aber auch um fünfzehn Kilo schwerer sein. Er hatte wenigstens Schuhgröße 46 und zu kurze Hosen, die ihn als Amerikaner auswiesen. Der Mann aus Lindau legte das Taschenbuch neben sich auf die Bank. Der andere schlenderte vorbei, sah das Taschenbuch liegen, nahm es; schlug es auf, entdeckte das Lesezeichen und setzte sich. „Hallo, Präsident“, sagte er. „Hallo, Direktor“, antwortete der Mann aus Lindau. Erst als der Dampfer seine Fahrt nach Westen fortsetzte, spra chen sie weiter. „Ob man uns beobachtet?“ „Meine Leute waren im Lindauer Hafen verteilt. Auch hier an Bord sind einige. Mir wurde nichts signalisiert.“ 52
„Mir ebenfalls nichts“, bestätigte der CIA-Direktor. „Nur an meinem Urlaubsort in Grindelwald treiben sich unkoschere Typen herum. Wir haben sie getäuscht und abgehängt. Ein Freund von mir, Henry Borese, britischer Schauspieler, Sie kennen ihn sicher aus der Melville-Serie, besteigt heute in meiner Maske den Eiger. Vielmehr, er benutzt die Bergbahn und macht oben eine Klettertour.“ „Ich bin nicht so weltweit bekannt wie Sie“, erwiderte der BND-Präsident, womit er zweifellos untertrieb. Aber das gehörte zu den wesentlichen Zügen seines Charakters. Bloß nicht auffallen. Am besten, die Öffentlichkeit erfuhr gar nicht, wie man aussah und wie man hieß. Das war alte Geh len-Tradition. Im allgemeinen gab er sich freundlich im Ton und hart in der Sache. „Können wir ja ungestört reden“, schlug der Amerikaner vor. Sie bedienten sich bei ihrer Unterhaltung des Französi schen, das sie beide besser beherrschten als die jeweilige Muttersprache des anderen. „Von mir aus.“ Der Amerikaner schien sich regelrecht wohl zu fühlen, „Kann man in der Bar einen Whisky bekommen?“ „Nur Skotch fürchte ich.“ „Der bringt uns auch nicht um“, scherzte der Amerikaner, „bestenfalls der Bube dort mit seiner Kamera. Ich hasse es, fotografiert zu werden.“ „Einer meiner Leute“, beruhigte ihn der deutsche Kollege. „Die Kamera hat ein eingebautes Fernglas. Damit kontrolliert er die Boote, die sich dem Schiff nähern.“ Der Amerikaner grinste breit. „Diese Germans, immer perfekt.“ „Möglicherweise“, erwiderte der Präsident und schränkte sofort ein: „halbwegs.“ Schlagartig, als blende man eine Lampe auf, kam der Amerikaner, der wie ein beleibter Züricher Geschäftsmann 53
kaner, der wie ein beleibter Züricher Geschäftsmann wirkte, zur Sache. „Sie haben die Vase“, behauptete er freiweg. „Was für eine Vase?“ „Aber Doktor“, tat der Amerikaner enttäuscht, „soll ich et wa bei Adam und Eva beginnen? Die Vase Blau-Rot, Serie August von Sachsen, ausgestellt in Venedig.“ „Sie liegt wohl in Scherben.“ „Dann hatten Sie sie zuvor.“ „Wie denn? Vorher stand sie unter Glas und wurde be wacht.“ „Sie sind mir wirklich einer! Als ob das für Ihre Spitzen agenten ein Kunststück wäre.“ „Die CIA behauptet immer, die besten Leute zu haben. War um also sollte es für Ihren Dienst ein Kunststück gewesen sein, die Vase auszuwerten und dann zu zerstören.“ Die Sonne stand ihnen jetzt ins Gesicht. Der Amerikaner setzte eine Brille auf. „Wir kamen zu spät.“ „Nicht unsere Schuld.“ „Im Gegensatz zu Ihnen wußten wir nicht, wo die echte Vase stand.“ „Wir erfuhren es auf Umwegen durch Zufall, und erst, als sie zertrümmert war.“ Entweder gab sich der Amerikaner damit zufrieden, oder er sah einen anderen Weg, ans Ziel zu gelangen. „Was war der Inhalt?“ „Wovon?“ „Inhalt der Botschaft.“ „Welcher Botschaft?“ fragte der BND-Präsident erstaunt. „Der Vase.“ 54
In seiner knappen Ausdrucksweise knüpfte der Deutsche ei ne, wie er hoffte, logische Kette: „Keine Vase, kein Inhalt, keine Botschaft.“ „Und was tut Ihr bester Mann in Oslo?“ Der BND-Chef lachte gequält. „Sie haben Ihre Augen wirklich überall.“ „Und die Ohren.“ „Dann wissen Sie mehr als ich. Wer sagt mir denn schon et was. Die Details meine ich, die schmutzigen, laufen doch gar nicht über meinen Schreibtisch.“ „Na, na, Doktor!“ protestierte der Amerikaner und vollführ te abermals einen Schwenk. Immer, wenn sich eine Mauer auftat, schlug er einen Haken, um zu sehen, wo es weiterging. „Guter Rat, Mister BND.“ „Ich höre.“ „Ihr Germans laßt besser die Finger davon.“ „Von was?“ Ein Steward kam vorbei. Der Amerikaner bestellte Skotch. Zwei Doppelte. Der Drink stimmte ihn milde. Der Deutsche hingegen hielt das Glas in der Hand, ohne zu kosten. „Finger von was?“ wiederholte er seine Frage an den CIADirektor. Der Amerikaner holte erneut Luft, sammelte sich und schoß dann die Antwort ab. „Diese Sache übersteigt die Souveränität der beiden deut schen Staaten. Die Bundesrepublik lebt genaugenommen ohne Friedensvertrag in einem fortgeschriebenen Besatzungsstatut, und die DDR ist ein von Moskau abhängiger Satellit.“ 55
Das mißfiel dem Deutschen. „Warum nicht umgekehrt?“ „Was meinen Sie mit umgekehrt, bitte?“ „Die Bundesrepublik ist ein von den USA abhängiger Satel lit.“ „Das haben Sie gesagt, Doktor.“ Dem Amerikaner kam der „Doktor“ immer ein wenig neid voll von den Lippen, vielleicht, weil er ihn nie erworben hatte. „Nun gut, wir sind unsouverän.“ Wenn es um die einge schränkte Souveränität ging, reagierte jeder Deutsche in Füh rungsposition empfindlich, mitunter auch gereizt. Der BNDChef aber blieb kalt wie ein Fisch. „Und was bitte verstößt gegen die Verträge?“ „Der Ausstieg aus dem NATO-Bündnis etwa.“ „Und das soll diese Vase bewirken?“ Der Amerikaner sah aus, als habe er auf weißen Pfeffer ge bissen, als er ergänzend fortfuhr: „Neutralität. Vielleicht sogar Wiedervereinigung.“ „Beides erachten die USA zur Zeit als nicht wünschens wert.“ „Nicht in dieser Form.“ – „In Vasenform“, höhnte der BND-Chef, was den Amerikaner jedoch überforderte. „Es gibt drüben im Osten eine Person, die die Macht besitzt, dies, wenn schon nicht zu bewirken, so doch einzuleiten oder zu versuchen. Der Mann kann die derzeitige Politik verdammt in Unordnung bringen. Nicht nur in Berlin-Ost, auch in Mos kau. Ein klugscheißender Alleswisser. Leute, die wir im Grun de gar nicht mögen, auf die wir aber angewiesen sind.“ „Ein Däumling?“ fragte der BND-Präsident, um dieser Be hauptung das Gewicht zu nehmen. „Sie meinen, er saß in der Vase?“ „Nur bildlich.“ 56
„Ganz so“, antwortete der CIA-Direktor, „ganz so abwegig ist der Gedanke gar nicht. Die Vase sollte eine Botschaft übermitteln, zwecks Kontaktaufnahme seine Rettung betref fend.“ „Sie wollen ihn herüberholen?“ „Man wollte es organisieren, damit am Tag X alles bereit ist.“ „Der Tag X wäre der Tag des Vollzuges.“ „Der Tag seiner Entdeckung.“ „Oder“, fragte der BND-Chef, „geht es der CIA nur um sei ne Dossiers, um die Aufzeichnungen, über die er verfügt?“ „Auch um diese“, gestand der Amerikaner. „Er weiß über jeden etwas, von der Kremlspitze bis zur Staatsratsspitze in Ost-Berlin. Über alle. Und zwar äußerst schmerzhafte Dinge, die beitragen könnten, sie zu manipulieren.“ „Oder zum Rücktritt zu zwingen.“ „Dies weniger, sonst verlören wir ja unsere Marionetten.“ Sie redeten, bis der Dampfer Kreuzungen passiert hatte und Konstanz in Sicht kam. Mit verminderter Schaufeldrehzahl glitt der Dampfer am Ufer entlang. Weiße Villen lugten hinter Bäumen hervor. Bald holte das Schiff seewärts aus, um die Hafenmole leichter passieren zu können. „Nun?“ fragte der Amerikaner. Der Präsident hatte inzwischen seinen Skotch geleert. Ge wöhnlich nahm er vor dem Abend kaum Alkohol zu sich, und wenn, dann höchstens ein Glas Mosel. Aber der Skotch war gut zu dieser Stunde. Er gab seiner Stimmung die nötige Unterla ge. „Nun was?“ „Soll unsere Unterredung umsonst gewesen sein?“ 57
„Keineswegs, sie hat mich informiert“, gestand der Mann aus München. „Zum Teufel, das lag nicht in meiner Absicht. Aber okay. Sie wissen jetzt, um was es geht, Doktor, nämlich um einen Mann mit gefährlichem Einfluß, den wir nicht kennen, der aber die Welt verändern könnte. Werden Sie uns helfen ihn zu schüt zen, damit wir ihn für unsere Zwecke einspannen könnten?“ „Dazu fühle ich mich nicht souverän genug“, gestand der BND-Chef. „Sie kennen ihn?“ „Leider nein.“ „Keine Kooperation also?“ „Es ist Ihr Fall, Mister Direktor. Die USA bestimmen unser Geschick.“ „Sie helfen uns mithin nicht.“ „Helfen Sie etwa uns?“ fragte der Deutsche verärgert. „Die NATO, unsere Divisionen, die Pershings, ist das etwa nichts?“ Daraufhin äußerte der Deutsche etwas, das sehr deutsch und tiefsinnig klang, aber nur so hingesagt wurde, weil es ihm unmöglich war, eine Entscheidung jetzt und hier auf diesem Schiff zu treffen. Er wollte auch keine Zusage machen, die er am Ende nicht einhalten konnte. „Jeder hilft sich selbst, so gut er kann.“ „Okay“, antwortete der Amerikaner enttäuscht. Er nahm seinen Mantel und ging. Immerhin drohte er nicht. Was aber nicht bedeutete, daß er es nicht noch tun würde. Das beeindruckte den BND-Chef jedoch wenig. Er kannte das Geheimdienstgeschäft. Es war wie ein Tanz auf dem Hochseil, nur ohne Seil.
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9.
Das komfortable Holzhaus lag in den Bergen nördlich von Oslo Richtung Holmenkollen. Das Kaminfeuer prasselte. Sie saßen davor und tranken Whisky. Urban sagte: „Für zwei Dinge habe ich hervorragende Witterung. Für Speisen mit Knoblauch und für Fallen. Dem einen verdanke ich meinen ungetrübten Geschmackssinn, dem anderen mein Leben.“ Ihr Parfüm war exzellent. Vermutlich ein exotischer Guer lain-Duft. Aber sie selbst wirkte auf ihn wie ein doppeltbelich tetes Foto. Um nicht selbst in die Falle zu tappen, provozierte er sie. „Noch einen Schluck, Gnädigste?“ Sie kreuzte die schlanken Beine hoch übereinander. Der Rocksaum rutschte weit über die Knie. Sie trug ein goldenes Kettchen mit Perle um die linke Fessel unter dem Strumpf und Schuhe aus Krokodilleder. „Oder ein Glas Champagner vielleicht?“ „Ich bin an harte Sachen gewöhnt“, antwortete sie. „Ich komme aus dem Land, wo Wodka dasselbe gilt wie Bourbon. Allerdings ist Wodka hochprozentiger.“ Urban hoffte, daß der zweite Doppelte sie gesprächiger machte und der dritte vielleicht dafür sorgte, daß sie unvo r sichtig wurde und sich in seiner Fußangel verfing. „Wie ist dein Name?“ wollte er wissen. „Dein?“ tat sie erstaunt. „Sind wir per du?“ „Die vertrauliche Anrede ist heutzutage unter jungen Leuten üblich.“ „Ganz so jung sind wir beide nicht mehr.“ „Sechsundzwanzig“, schätzte er sie. „Okay, wenn wir schon 59
nicht mehr zu den Jüngsten zählen, dann verbinden uns doch berufliche Gemeinsamkeiten.“ „Welche?“ „Auch unter Handwerkern ist das Du üblich.“ „Sind Agenten“, warf sie ein, „nicht eher Künstler?“ Er hakte sofort nach. „Gibst du damit zu, ebenfalls Agentin zu sein?“ Sie lehnte sich zurück und preßte den Nacken gegen die Sesselkante, als wolle sie eine Verspannung beseitigen. „Wird man gleich zur Agentin, nur weil man zufälligerwe ise eine agentenähnliche Tätigkeit ausübt?“ „Zufällig“, wiederholte er, als unterstreiche er das Wort. Das Thema war ihr wohl zu heiß. Sie wechselte es, indem sie seine erste Frage beantwortete. „Ich heiße Lara.“ „Larowitschew“, ergänzte er. „Lara Larowitschew.“ „Nein, Lara Sommer“, sagte sie. „Ich komme nicht aus Moskau, sondern aus Ost-Berlin.“ „Dann könnten wir beinah deutsch miteinander reden.“ schlug er vor. „Du beherrschst es?“ „Von meiner, Mutter.“ Das war nicht einmal gelogen. Ihre Brauenbögen hoben sich. „Ein ehemaliger Deutscher beim amerikanischen Geheim dienst?“ „Das kommt vor.“ „Dann mußt du…“ sie rechnete, „… wenn du jetzt Mitte Dreißig bist oder ein paar Jahre darüber, kurz nach dem Krieg eingewandert oder sogar in den USA geboren sein.“ »Ich beiße Robert. Sag Bob zu mir. Es ist kürzer und spricht sich leichter aus.“ Sie stand auf und ging, die Beine durchgedrückt, wie es sehr schlanke, große Frauen an sich haben, im Zimmer auf und ab. 60
Mit den Schritten schien sie das Muster des Teppichs auszu messen. Am Kamin blieb sie stehen, wärmte den Rücken, trank und hielt das Glas gegen das Feuer. Der Bourbon schimmerte wie dunkler Honig. „Bob und Lara“, murmelte sie. „Lara und Bob, Gibt es keine Musik in diesem Luxusschuppen hier?“ „Was ist gefällig, Gnädigste, Mazurka, Balalaika, Csárdásklänge?“ „Wie wär’s mit Glenn Miller?“ Er suchte unter den Platten und fand nur Benny Goodman. Den legte er auf. Als der Saphir in die Rille faßte und „When the Angels sing“ voll aus den Boxen donnerte, kannte er Lara genau drei Stun den. Aber noch wußte er so gut wie nichts über sie und ihre Mission. Beim Mittagessen, das er fertig der Kühltruhe entnommen und im Grill erhitzt hatte, sagte er: „Denke, jetzt haben wir uns gegenseitig abgecheckt, oder?“ „Bei uns drüben würde ein Mann niemals kochen.“ „Ich hasse es ebenfalls“, gestand er, „aber aus Gründen dei ner Sicherheit verzichten wir auf Personal.“ „Verfügt die CIA nicht über vereidigte Hausangestellte?“ „In Washington schon“, antwortete er, „oder in Städten mit großen Residenturen. Leider habt ihr euch Oslo ausgesucht. Hier sind wir weniger stark vertreten.“ Das Fertigmenü, bestehend aus Fischsalat, dann einem Nu delgericht, einem Stück panierter Leber, Salat und Schokola deschaum, war genießbar. Vielleicht nicht für einen DreiSterne-Koch, aber für Agenten im Dienst durchaus. „Was bringst du mit?“ fragte Urban irgendwann einmal. „Wie kommst du darauf, daß ich etwas mitbringen könnte?“ 61
„Die Geheimnistuerei um dein Eintreffen, die Vase, der Co de, das ganze Zeremonium. Mamma mia!“ „Natürlich“, räumte sie ein, „hat das alles seinen Sinn.“ „Und welchen bitte?“ Sie blickte ihn an und äußerte dann, daß sie Zweifel darüber hege, ob er der befugte Mann sei, mit ihr über diese Dinge zu sprechen. „Du kannst mir vertrauen, Lara.“ „Nicht ohne Dokumente“, erklärte sie. Er stocherte im Dessert herum. „Welcher Art?“ „Daß du bevollmächtigt bist und wer dich beauftragt.“ „Möchtest du meinen Ausweis sehen?“ Sie lachte gekünstelt. „Papiere kann man fälschen, wenn man sogar Banknoten und Tizians nachmachen kann.“ Er schaute zum Fenster hinaus. Der Himmel war trüb und die Wolken hingen tief. Der Weg durch den Wald herauf zum Haus war auf einen halben Kilometer zu überblicken. Nichts Verdächtiges zu sehen. „Morgen früh“, sagte er, „steht das Flugzeug bereit. Wir bringen dich erst einmal aus der Gefahrenzone.“ „Warum steht es nicht jetzt schon bereit?“ wollte sie wi s sen. „Es wartete drei Tage hier in Oslo, aber du kamst nicht. Dem Vasencode war nur die Woche zu entnehmen, daß es in der zweiundvierzigsten sein würde. Ich wollte die Maschine nicht solange blockieren und schickte sie nach London zurück.“ „Nach London geht es also.“ „Darüber kann ich mit dir erst sprechen, wenn du dich eben falls identifiziert hast.“ Sie schwieg in den nächsten Minuten. Erst, als die Nach speise vom Teller war und sie den Löffel weglegte, hob sie 62
den Kopf. „Ich bin da. Oslo, zweiundvierzigste Woche, Lon don Times, der Verfolger im Saab. Ist das nicht genug?“ „Nicht ganz ausreichend, Lara.“ „Okay, dann eben erst in London.“ „Morgen abend.“ „Washington wäre mir lieber.“ „Überlaß das bitte uns.“ Er stellte das Geschirr auf das Tablett und trug alles in die Küche. Auf dem Weg dahin dachte er, dieses verfluchte Frauen zimmer läßt dich glatt den Hausmann spielen. Aber er würde sie kriegen. Mit Lara war etwas faul. Mögli cherweise hatte sie überhaupt keine Ahnung und man hatte ihnen eine Stasi-Doppelagentin ins Nest geschmuggelt, die genau das ausspionieren sollte, was sie selbst gerne gewußt hätten. Wenn sie mit ihm ins Bett ging, dann war es mit Sicherheit so. Als die Spülmaschine lief, ging er wieder in die Wohnhalle. Lara saß vor dem Kamin und hatte Birkenkloben nachgelegt. „Hab Verständnis für unsere Vorsicht“, bat sie. „Wer garan tiert mir, daß du nicht der Komplize des Burschen aus dem Saab bist?“ „Für nichts gibt es Garantien“, erwiderte Urban. „Des einen Held ist des anderen Schuft, sagte schon Aischylos.“ „Alkibiades“, verbesserte sie ihn. „Alkibiades legte es Aischylos in den Mund. Aber pardon, ich habe nur Gymnasialschulbildung, keine humanistische.“ Ihre Augen musterten ihn schräg aus den Winkeln heraus. „Vielleicht sogar in Deutschland?“ „Wie kommst du auf so was?“ 63
Sie widmete sich wieder dem Feuer, indem sie die Asche unter dem Bock lockerte und so den Zug verbesserte. „Wir fürchten Verrat“, antwortete sie. „Was könnte verraten worden sein?“ „Daß wir Hilfe brauchen.“ „Hilfe? Wofür?“ Ohne ihn anzusehen, fuhr sie fort: „Für einen wichtigen Mann drüben. Für den wichtigsten überhaupt.“ „Ist er in Not?“ „Nicht unmittelbar, aber die Gefahr wächst von Stunde zu Stunde.“ Ruckartig fuhr sie herum. Ihre Züge verrieten Ärger, fast Wut. „Und hier tut man so, als habe man keine Ahnung. Als wisse man nicht, warum ich hier bin und um wen es geht. Ihr kennt ihn, ihr steht seit langem mit uns in Verbindung. Wozu das Theater also, dieses falsche Spiel. Helft uns endlich, zum Teufel noch mal.“ Urban entnahm einer Sandelholzkiste eine Zigarre, führte sie ans Ohr und drückte das Deckblatt ein wenig. Es knisterte. Sie war zu trocken. Also tauchte er den Finger ins Whiskyglas und tupfte etwas Feuchtigkeit auf die Havanna. Dann erst steckte er sie an. „Wir sind bereit“, deutete er an, „sobald alles klar ist.“ „Verdammt, was gibt es denn noch klarzustellen?“ Lächelnd versetzte er ihr den Blattschuß. „Ob du nicht eine Stasi-Frau bist, um diesen Mann ans Mes ser zu liefern.“ Sie verlor einen Augenblick die Kontrolle, faßte sich aber rasch. „Dazu habt ihr Möglichkeiten der Überprüfung.“ „Die laufen bereits auf vollen Touren, Lara.“ Wenn sie Agentin war, die herausfinden sollte, um welchen Mann im Osten es ging, mußte sie langsam in Panik geraten. 64
Dann würde sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu erfahren versuchen, was er wußte. Und das war seine Falle. Er ging ans Telefon, wählte eine Nummer, aber eine Ziffer zu wenig. Deshalb kam kein Anschluß zustande. „Hier Bob. Wie sieht es aus?“ Er legte mehrere Sekunden Pause ein. „Schnee, jetzt schon? Aber was macht einem modernen Jet ein bißchen Schneefall aus.“ Nächste Pause. „Ich halte es unbedingt für notwendig, das Gespräch in der Zentrale fortzusetzen. Am besten in Langley. Die Zeit drängt. Sofortmaßnahmen könnten erforderlich werden.“ Wieder gab er sich den Anschein, als lausche er einer Ant wort. „Okay, morgen um acht Uhr. Flughafen Oslo. Danke. Ende.“ Er hängte auf, rauchte weiter und sagte kein Wort. Er wendete die Goodman-LP. Als er ans Feuer kam, stand sie da und legte ihre Arme um ihn. „Ich möchte tanzen.“ „Ach nein.“ „Ach ja!“ Sie flüsterte. „In den USA haben wir wohl wenig Zeit dazu, oder?“ „Mit Sicherheit gar keine Zeit.“ „Dann laß es uns genießen, die Windstille zwischen zwei Stürmen.“ Er warf die Zigarre ins Feuer und wußte, daß er sie hatte. – Weil sie glaubte, daß sie ihn hätte. Lara ließ es zu, daß er sie eng an sich zog, und daß seine Hand an ihrem Rücken abwärts bis zu der zweigeteilten apfelfesten Rundung tastete. Er knöpfte ihre Bluse auf, entblößte ihre linke Schulter und 65
die Brust. Er küßte ihre Schulter und streichelte ihren Busen. Sie hatte dagegen nichts einzuwenden. – Im Gegenteil. Sie drängte sich an ihn. Beim Slowfox schob sie ihren Ober schenkel zwischen seine Beine. Doch dann löste sie sich von ihm. „Wo ist das Badezimmer?“ „Neben dem Schlafzimmer.“ „Wie praktisch.“ Sie ging nach oben. Er wartete, bis sie die Tür geschlossen hatte und die Dusche ging, wählte rasch die richtige Telefonnummer und gab die Beschreibung durch. „Name: Lara Sommer.“ Dann folgte er ihr. Als sie kam, lag er schon auf dem Bett. Sie war nackt bis auf ein zartgrünes Hemdhöschen, das sie aber auch fallen ließ. „Verhalte ich mich deiner Erwartung entsprechend?“ „Absolut profihaft“, sagte er. Zumindest an ihrem Körper war alles echt. Sie hatte die hel le Haut der Rothaarigen und hie und da einige Sommerspros sen. Urban versuchte eine Spur von Hemmung an ihr zu entdek ken. Früher waren Agentinnen darauf trainiert worden, sich wie Huren mit jedem Mann, bei dem es sich geheimdienstmä ßig lohnte, ins Bett zu legen. Mittlerweile erzog man ihnen wieder eine gewisse Scheu an, eine vorgespielte Keuschheit. Wenn sich eine Frau rasch auszog, dann wußte man sofort, sie war Nutte oder studierte Spionin. Lara Sommer stammte wohl noch aus der alten Schule. Sie zierte sich überhaupt nicht. Vielleicht war es auch auf ihr leidenschaftliches Temperament zurückzuführen. Überrascht stellte Urban fest, daß er selten einer Frau mit solch heißer Flamme begegnet war. 66
Von Tscherkessinnen behauptete man, sie seien nicht zu übertreffen. Lara Sommer hätte jeden Wettbewerb im Tscher kessenland mühelos für sich entschieden. Vorsicht, dachte er, das hat alles seinen Grund. Den feurigen Hengst jagt man erst im Galopp über zwanzig Meilen, dann wird er lammfromm. Er gab sich weniger leistungsfähig als er war und schützte eine angenehme Müdigkeit vor. „Wie wär’s mit Champagner jetzt?“ „Warum nicht“, sagte Lara, mit geöffneten Schenkeln und ausgebreiteten Armen auf dem Bett liegend, noch vor Erre gung vibrierend. Urban ging hinunter, machte sich am Kühlschrank zu schaf fen, ließ Gläser klirren und telefonierte wieder. „Lara Sommer“, gaben sie ihm durch, „Computer sucht noch. Aber Vorsicht!“ Sie leerten den Pommery im Bett. Bald ging es auf 16 Uhr. Mitte Oktober wurde es im Norden um diese Zeit schon Nacht. Völlig ungeniert stellte Lara ihre Forderung: „Jetzt brauche ich dich, wie ihr unseren Mann brauchen we r det.“ „Das eine ist Politik.“ „Ist das andere etwa Liebe?“ fragte sie. „Was wir hier treiben, ist reine Taktik. Jeder will den ande ren auf die Matte kriegen.“ „Trotzdem ist es ein hübsches Spiel.“ „Die schönste Form eines lebensgefährlichen Jobs, die ich mir vorstellen kann.“ Sie leerten den Champagner und taten es wieder und wieder. Am Ende fühlte er sich wie ein Marathonläufer, während sie in Stimmung kam, als hätte man ihr Frischzellen übertragen. „Laß uns ein wenig ruhen“, schlug sie vor. 67
„Ich lege nur Holz in den Kamin.“ „Ich mache das“, sagte sie, „muß ohnehin aufs Bidet. Oder willst du mich schwängern?“ „Schon mal von der Pille gehört?“ fragte er gähnend. „Gehört ja, aber ich vertrage sie nicht.“ Madonna, dachte er, sie treibt es bis zum Äußersten. Als Urban erwachte wußte er, daß sie sich gegenseitig herein gelegt hatten. Das Haus war durchsucht. Lara war gegangen. Die Tür stand offen. Kälte drang herein. Draußen fiel Schnee. Im Schnee entdeckte Urban die Spuren von Autoreifen. Sie führten den Berg, hinauf, beschrieben einen Kreis und entfern ten sich wieder Richtung Süden. An einer Stelle war die dünne Schneedecke angetaut. Der Sand schimmerte dunkel durch. Hier mußte der Wagen kurze Zeit angehalten haben. Die Motorwärme hatte den Schnee verflüssigt. Gerne hätte Urban gewußt, ob es sich wieder um ein Fahr zeug der Marke Saab handelte. Daß eine Entführung von Lara Sommer vorlag, glaubte er nicht. Offensichtlich war sie freiwillig mitgegangen. Bevor er sich ankleidete, duschte er. Am Einhandhebel der Brause hing die Seife. In die Seife war etwas eingeritzt. Unter der Spiegellampe entzifferte er es. Es las sich wie seine eigene Visitenkarte. – Robert Urban – BND-Agent Nr. 18 – genannt Mister Dy namit. – Leb wohl, Darling –. Spät abends rief Pullach an. Urbans unmittelbarer Vorgesetzter, der Operationschef, Oberst im Generalstab außer Diensten Sebastian, war am Draht. Zunächst weihte er Urban in die Großwetterlage, die sich 68
nach dem Gespräch der Chefs von BND und CIA am Bodensee ergeben hatte, ein. „Über den Löffel halbieren lassen wir uns nicht gern“, be endete er seine Ausführungen. „Welche Rolle spielt Lara Sommer?“ Der Alte schien in Akten zu blättern. „Sommer Lara, auch Laura Summer, Lore Herbst und Lotte Krakowsky, Major im Staatssicherheitsdienst der DDR.“ „Deshalb die Warnung zur Vorsicht.“ „Um siebzehn Uhr war es erst ein Verdacht.“ „Deshalb wußte sie auch, wer ich bin.“ „Klar, daß man Sie drüben kennt. Und nicht nur beim KGB. Aber wie zum Teufel wollen Sie dieses Weib jetzt loswe r den?“ „Das Problem ist schon gelöst“, erklärte Urban. „Wahr scheinlich hat sie der Bursche, der am Flughafen pro forma auf sie schoß, um ihr einen glaubwürdigen Einstand im We sten zu verschaffen, abgeholt.“ „Wohin wird er sie bringen? „Vielleicht zur CIA.“ „Ob man die Kollegen warnen sollte?“ „Das mag der Präsident entscheiden.“ Der Alte war offenbar vom BND-Chef ausführlich unter richtet. „Dazu ist er nicht souverän genug, fürchte ich.“ „Die Amis dirigieren mal wieder über unsere Köpfe hin weg.“ „Ja, sie bestimmen, was unser Wohl ist.“ „Mit fühlsamer Hand.“ „Friß es, Vogel, oder stirb.“ Urban hatte verstanden. „Die Spur Laras wäre möglicherweise noch zu verfolgen. Morgen früh kann es zu spät sein.“ 69
„Lassen wir es morgen früh zu spät sein“, bestimmte der Alte. Urban war es recht. Das Rätsel um den Mann im Osten war auf diese Weise oh nehin nicht zu lösen. Nicht über Lara Sommer. Die kannte ihn selbst nicht. Sonst hätte man sie nicht auf dem Weg Blau-Rot nach Oslo geschickt. Nach diesem Remis, das ein wenig vom bitteren Geschmack einer Niederlage an sich hatte, ging Urban zu Bourbon über. 10. Bei seiner Reise ins befreundete Syrien besuchte das Politbü romitglied Peter Osten selbstverständlich auch die Front. Jeder bezeichnete die Stellungen der Armee im Libanon als Front. „Geschossen wird von unserer Seite wenig“, erklärte der sy rische Begleiter des DDR-Politikers. „Wir halten nur gewisse Stellungen und stärken unseren Freunden den Rücken.“ „Und die Israelis?“ erkundigte sich Osten. „Auch ihnen kommt es nur auf die moralische Wirkung an.“ Es war frisch. In den Höhen des Libanon, wo das Stabsquar tier aufgeschlagen war, lag Frost über Sand und Steinen. Die Männer, alle in gefleckten Kampfanzügen, gingen zu dem Hubschrauber hinüber. „Und wie steht es mit der moralischen Wirkung?“ fragte der DDR-Außenminister. „Wollen wir mal sagen“, antwortete der perfekt deutsch sprechende Syrer, „wenn wir nicht hier stünden, und die Israe lis an der Küste, wäre die Hölle los.“ „Auf diese Weise ist nur der Teufel los.“ „Aber den haben wir im Griff, Genosse Minister.“ 70
Etwa dreißig Meter vor dem Hubschrauber versperrte ihnen ein Offizier den Weg. „A moment please, Gentlemen!“ rief er auf englisch. „Der Hubschrauber wird noch munitioniert.“ Drüben an dem schweren Helikopter schraubten Soldaten längliche Gegenstände in Hülsen beiderseits der Kufen an. „Raketen“, erklärte Ostens Begleiter. „Fliegen wir etwa einen Einsatz?“ „Nur zur Abwehr eines eventuellen Angriffs. Sogar die Schiiten in den Bergen beschaffen sich jetzt Sportflugzeuge und bestücken sie mit Panzerfäusten. Ein verrückter Krieg. Jeder kämpft gegen jeden.“ Ein Mann mit Arztbinde und Medikamentenkoffer gesellte sich zu ihnen. Auf dem Koffer klebte ein rotes Kreuz im we i ßen Feld. Der Mann stellte sich als Dr. Rhezah Jussef vor. „Nur für den Notfall“, beruhigte der Syrer den Staatsgast. „Sie haben wirklich an alles gedacht.“ „Wir wollen Sie heil zurückbringen.“ Die Lastwagen entfernten sich vom Helikopter. Die Moto ren wurden angelassen und nach kurzem Warmlauf wieder abgestellt. „Das ist ein amerikanischer Bell“, stellte Osten fest, „ein Bell-Zwohundertfünf.“ „Ein sicheres Gerät, Herr Minister.“ „Warum verwenden Sie nicht Sowjetisches? Einen Kamow oder einen Mil.“ Jetzt flüchtete sich der Syrer in Ausreden. „Wir können nicht genug davon kriegen. Dies hier ist eine Beutemaschine.“ Er verschwieg, daß sie zwar genug sowjetische Helikopter hatten, daß diese aber anfällig waren, und daß es nicht genug Ersatzteile gab. 71
Dann bestiegen sie den Bell. Der Syrer erläuterte noch, daß man den Helikopter speziell für Frontbesichtigungen durch Staatsgäste umgerüstet habe. „Die Kabineninnenverkleidung wurde herausgerissen und durch Ticlan ersetzt. Sie kennen Ticlan?“ „Nein“, gestand der Besucher. „Ein sowjetisches Produkt. Daraus werden Panzerwesten hergestellt. Es fühlt sich wie Schaumstoffmatten an, besteht aber aus Kohlefasermaterial mit Titanblättchen durchsetzt. Sehr-leicht und sehr kugelfest. Es hält sogar MG-Projektile und Granatsplitter von Bordkanonen ab. Für Ihre Sicherheit ist aufs beste gesorgt, wie Sie sehen, Sir.“ „Dann kann es ja losgehen“, äußerte der Mann aus Ostberlin mit gemischten Gefühlen. Sie flogen 22 Kilometer an der Straße Damaskus-Beirut ent lang. Dabei schraubte sich der Helikopter bis auf 2000 Meter Höhe, um den Paß zu überwinden. Im Westen schimmerte der Dunst tiefblau wie mit Samt unterlegt. „Was ist das?“ „Das Meer“, erklärte der Syrer aus Ostens Begleitung. „Entfernung sechzig Kilometer.“ Der Minister deutete nach Süden. „Dann ist dieser unwirtliche Höhenzug da drüben der Go lan.“ „Von dem wir die Israelis bald vertreiben werden.“ Osten lächelte. „Aber vorher muß wohl der Libanon in Ordnung gebracht werden.“ „Und am Golf muß eine Entscheidung fallen.“ „Wann“, fragte Osten, „fiel hier je eine Entscheidung, die anders aussah als die Ausgangslage?“ 72
„Das ist arabisches Beharrungsvermögen, Sir. Ähnlich wie im Ostblock. Dort wird auch alles für Zeit und Ewigkeit fest geschrieben.“ Der Mann aus Berlin wagte zu lächeln. „Achthundert Jahre lang hielten Mauren Spanien besetzt.“ „Wenn wir Zeit und Ewigkeit sagen, reduziert sich das im mer auf unser eigenes Dasein. Aber daß große Änderungen eintreten, werden wir nicht erleben. Sie nicht, Exzellenz, und ich auch nicht.“ Der Helikopter ließ sich nun, den zedernbewachsenen Hän gen des Libanon folgend, talwärts fallen. Er überquerte den Litani-Fluß und schien mit einem Mal in der Luft stehenzu bleiben. „Was ist kaputt?“ fragte Osten spöttisch. Wenn bei Heliko ptern ein Defekt auftrat, fielen sie meist herunter. „Von hier ab geraten wir in Drusisches Abwehrfeuer. Sie schießen auf alles.“ Der Pilot wechselte den Kurs auf Süd, Richtung Machgara. Der Begleiter erläuterte dem Staatsgast die israelische Posi tion, und als sie sich Beirut näherten, den Frontverlauf zwi schen Christen und Moslems in der stark zerstörten Stadt. „Im Moment herrscht ja Waffenstillstand.“ „Fragt sich nur, wie lange.“ „Sie verhandeln.“ „Bis einer den anderen über den Tisch hinweg falsch fi xiert.“ „Was für eine fabelhafte Charakteristik der arabischen See le“, der Syrer staunte. Doch es klang einigermaßen verächt lich. Welche Vorstellung hatte dieser kommunistische Funktio när bloß von Arabern. Der Krieg war für sie etwas Heiliges. Daß man Minister von sowjetischen Zwergsatelliten hier her umkutschierte, hatte nur einen Grund, nämlich, daß sie drin 73
gend benötigte Fachleute herschickten. Ingenieure, Mechani ker und Waffenexperten. Hilfsgüter waren von ihnen ohnehin nicht zu erwarten. Deshalb lautete der Befehl von oben klar und deutlich, daß der Minister zu behandeln sei wie der sowjetische Staatspräsi dent. Jeder Wunsch solle ihm erfüllt werden. „Kann man nicht mal landen?“ fragte Osten. „Das gibt Probleme.“ „Welche?“ „Artillerie und Werferfeuer.“ „Der Hügel dort scheint mir äußerst friedlich in der Früh sonne zu liegen.“ „Nehmen wir einen anderen“, schlug der Syrer vor, dem man genau gesagt hatte, wo er notfalls heruntergehen durfte. Er sprach mit dem Piloten. Der Mann im weißen Helm nick te und flog an den Ufern eines Stausees entlang, ehe er auf setzte. Laut Vorschrift durfte der Helikopter in der Todeszone, wie sie das von der syrischen Armee unbesetzte Gebiet nannten, die Motoren nicht abstellen. Der Pilot hielt sich daran. Die Turbine sang im Leerlauf. Der Rotor schwang mit knapp fünfzig Umdrehungen. Der Staatsgast, der Dolmetscher und der Arzt stiegen aus, zogen die Köpfe ein und blieben dort, wo der Hügel abfiel, stehen. „Genaugenommen sind wir hier im Niemandsland“, erklärte der Syrer. Er deutete ins Tal, wo sich eine Militärkolonne durch die Hügel bewegte. Zu sehen war der erste Wagen, ein Dreiach ser. Alle anderen verschwanden in dessen Staubwolke. Hoch über ihnen zog ein Abfangjäger seinen Kondensstrei fen in den wolkenlosen Himmel, und irgendwo wurde ge schossen. 74
„Ein Gewitter ist das nicht“, bemerkte Osten. „Feldhaubitzen.“ Wind kam auf. Es duftete nach feuchtem Gras und bitterem Staub. In diesem Augenblick fiel ein einziger Schuß. Sehr nahe, hell und scharf wie ein Peitschenknall. Der DDR-Minister wandte sich dem Syrer zu, als wolle er fragen: „Was war das?“ Aber da trug er schon das Todesmal auf der Stirn. – Ein wenig außermittig lag es zwischen Haaran satz und Augenbrauen. Der Syrer sah es überdeutlich, ein Loch, leicht nach innen gewölbt mit vom Geschoß ve r schmutzten Rändern. Peter Osten wankte, stand aber noch auf den Beinen. Er faßte noch an die Stirn, wie um ein Insekt zu verjagen, dann sackte er in die Knie. Der Arzt fing ihn auf. „Bei Allah!“ rief der Syrer. „Die Baalbeck-Leute.“ „Nein, die haben keine Scharfschützen.“ „Wer war es dann?“ Der Syrer hatte einen bösen Verdacht. – Warum hatte man ihnen diesen einzigen Punkt als Landemöglichkeit genannt? – Hatte hier vielleicht der Todesschütze gewartet? Aber die Anordnung war vom Stab gekommen, vom Stab des Armeecorps. Dort hatte man ihm befohlen: Safety First! Si cherheit über alles. Das verlangten die Russen. Der sowjetische KGB hatte ein hundert Mann starkes Büro in Damaskus und überwachte diese Maßnahmen. In der Richtung, aus der die Kugel herkam, war nichts zu se hen. „Wir müssen ihn ins Flugzeug bringen“, entschied der Sy rer. „Zu spät.“ 75
Der Arzt kniete neben dem Minister. Der Sterbende bewegte die Lippen. „Idioten“, murmelte er, „warum haben Sie die Maschine nicht abgeschossen… jetzt weiß jeder, um was es ging… um mich ging es ihnen… aber das war ein Irrtum, Genossen.“ „Was hat er gesagt?“ fragte der Syrer den Arzt. „Ich spreche sehr wenig Deutsch.“ „Dachte, Sie hätten in Heidelberg studiert, Doktor.“ „Das ist zehn Jahre her.“ Der Sterbende öffnete noch einmal den Mund, aber was er sagte, war kaum verständlich. „Idioten…“, so hörte es sich an, „… Irrtum, Genossen…“ Der Arzt legte sein Ohr an Ostens Mund. Wenig später fiel der Kopf des Ministers aus Berlin zur Sei te. Der Arzt machte die Lid- und die Pulsprobe. „Aus!“ stellte er fest. „Was sagte er noch?“ „Er fluchte wohl. Und etwas Englisches. Dasy Number one oder so.“ „Dasy Number one“, wiederholte der Syrer. „Das ergibt kei nen Sinn. Sie verschweigen mir auch nichts, Doktor?“ „Ich bin Arzt“, beteuerte Jussef. „Für mich zählen nur Fak ten. Er ist tot und das letzte war ein Finch über Dasy.“ „Ich nehme das zu Protokoll“, sagte der Syrer. Sie schleiften den Toten zum Helikopter, zogen ihn in die Kabine und flogen zurück nach Damaskus. Die internationalen Presseagenturen tickerten um die Welt, daß das Politbüromitglied, der DDR-Minister Peter Osten, bei einem Flug über Kampfgebiet im Libanon, den er anläßlich eines Staatsbesuches in Damaskus unternommen habe, Terro ristengeschossen zum Opfer gefallen sei. 76
Er wurde nach Berlin überführt, wo ein Staatsbegräbnis stattfand. Zur Beerdigung von Peter Osten, lange Jahre PolitbüroMitglied, Mitglied des Zentralkomitees und Außenminister, hatte sich alles versammelt. Das komplette Politbüro, zahlrei che Mitglieder des ZK und prominente Gäste. Nach der Gedenkrede im Saal des großen Hauses begab man sich zum Friedhof Friedrichfelde. Dort erwies ihm ein enger Freundeskreis die letzte Ehre. Der Staatsratsvorsitzende war dabei und auch Serge Wolf hardt, der Jäger des Verräters. Unter vorgehaltener Hand raunte man sich zu, was nicht of fiziell werden durfte: „Sie haben ihn umgebracht“, lautete eines der Gerüchte. „Warum?“ „Er war in letzter Zeit oft unbequem.“ „Ulbricht nahm ihn damals nur ins Politbüro, weil er immer auf der Parteilinie war, immer Opportunist.“ „Aber er sammelte immer mehr Macht um sich.“ „Und Macht korrumpiert.“ „Mehr Macht korrumpiert noch mehr.“ Einer der Männer flüsterte seinem Kollegen zu: „Ob er derjenige war?“ „Welcher?“ „Der Verräter, den Wolfhardt im Fadenkreuz hatte.“ Der andere gab einen Seufzer der Erleichterung von sich. „Schön wär’s“, antwortete er zynisch. „Dann könnte ich si cher sein, daß ich selbst es nicht bin.“ Später kam noch die Witwe und warf Blumen ins Grab. Aber am Friedhofsausgang nahmen sie zwei Beamte des Staatssi cherheitsdienstes in Empfang.
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11.
Das deutsche Generalkonsulat in Beirut war ein Trümmerhau fen inmitten von größeren Trümmerbergen. Von dem ehemals vierstöckigen Gebäude waren noch zwei in Betrieb. Dies trotz Beschuß von allen Seiten und mit allem, was sich Waffenhersteller an konventionellen Vernichtungs mitteln ausgedacht hatten. Die Seitenwände waren von MG- und Bazookageschossen zernarbt. Die Decke hatte bis zum zweiten Stock eine Mörser granate durchschlagen, ein Blindgänger allerdings. Den Rest hatten Brandbomben und Granatwerfer besorgt. Auch Straßen kämpfe hatten in dem Viertel stattgefunden. Aber jetzt war der Konsul zurückgekehrt und versuchte, den Läden in Schwung zu bringen. An diesem Vormittag fuhr er mit dem eigenen Fahrzeug zum Flughafen, der vor wenigen Tagen wieder geöffnet wo rden war, um einen Besucher abzuholen. Der Mann war etwas über einsachtzig, schlank und trug eine Kombination von internationalem Schnitt. Mehr als eine Rei setasche hatte er nicht dabei. – Und er lächelte, obwohl es weiß Gott nichts zu lachen gab. Der Generalkonsul hatte auf ihn gewartet wie eine Dürrezo ne auf Regen. Dieser Besucher, er reiste unter dem Namen Urban und war vermutlich Geheimagent, sollte ihm aus einer bösen Klemme helfen. „Schaffen Sie das?“ fragte der Konsul. „Erst mal Einzelheiten, bitte.“ „Die liefen doch über Funk nach Bonn.“ „Das war zu wenig.“ „Aber deutlich, wie ich hoffe.“ „Wäre ich sonst hier?“ sagte Urban und machte es sich in den zerschlissenen Polstern des Mercedes so gut es ging be 78
quem. Leider stank es darin, als hätte jemand versucht, mit Zigarettenglut einen Heuhaufen in Brand zu setzen. „Wird ein heißes Stück Arbeit“, befürchtete der Konsul. „Wo ist der Mann?“ „Im Keller.“ „Ein Syrer?“ „Arzt.“ „Warum floh er?“ erkundigte sich Urban. Der Konsul zuckte mit den Schultern. „Damit rückt er nicht heraus. Er behauptet nur, sie seien hinter ihm her. Er wisse etwas sehr Wichtiges. Deshalb versu che man, ihn zu ermorden.“ „Wer?“ „Ja wer wohl? Es gibt zu viele Mord-Kommandos an der Le vante. Hier legen sich allein sechs bis acht Geheimdienste gegenseitig herein. Syrer, Irakis, Israelis, Christen, Moslems, Perser, Russen und Amerikaner.“ Urban versuchte, den Pudding zu fassen zu kriegen. „Der Bursche packt nur aus, als Preis für seine Sicherheit.“ „Ja, sobald er von hier weg ist.“ „Hat Angst um sein Leben, den Mann.“ „Er weiß viel. Würde man sonst hinter ihm herjagen?“ „Ist er Militärarzt?“ Der Konsul nickte. „Es gibt Gerüchte. Er soll beim Absturz des Helikopters, als dieser Berliner Funktionär umkam, dabeigewesen sein.“ „Peter Osten.“ „Vor fünf Tagen.“ „Er flüchtet in das westdeutsche Konsulat“, kombinierte Urban. „Dann hat er etwas zu sagen, das für uns wichtig sein könnte.“ „In einer Stunde wissen wir mehr.“ Urban fürchtete, daß sie in einer Stunde noch gar nichts 79
wußten. Alles, was dieser Mann besaß, war eine Information. Die verkaufte er so teuer wie möglich und gewiß erst, wenn er draußen war. Für diesen Zweck hatte Urban schon einen Fluchtweg vorbe reitet. In seinem verschlissenen Militärkhaki sah er nicht gerade wie ein Doktor aus. Er versicherte Urban jedoch glaubwürdig, daß er in Heidelberg studiert und promoviert habe. Er sprach auch ein wenig Deutsch, Bevor er noch das geringste preisgab, forderte er Vorlei stungen. „Ich kam Ihretwegen hierher“, erklärte Urban. „Ist das nichts?“ „Zu wenig, Sir.“ „Wenn ich Sie herausbringe“, gab Urban zu bedenken, „dann begebe ich mich in Lebensgefahr. Ihr Verhalten begeistert mich nicht gerade für dieses Risiko.“ „Sie haben keine Wahl“, erwiderte der Syrer mit der Arro ganz des Verzweifelten. „O doch“, entgegnete Urban. „Ich kann ohne Sie zurückflie gen, und der Konsul wird Sie auf die Straße setzen.“ „Das wäre inhuman. Ich bin politischer Flüchtling.“ „Ein Konsulat ist keine Botschaft.“ „Ich bestehe auf dem Asylrecht.“ „Das gilt nur auf exterritorialem Gebiet. Das Konsulat be sitzt keinerlei Immunität.“ Dem Doktor schien das einzuleuchten. „Unsere Vorleistungen gegen die Ihre“, riet ihm Urban und gab sich den Anschein, gehen zu wollen. „Sorry, Sir.“ „Schön, in einer Stunde fliegt die Lufthansa wieder zurück nach München. Wenn ich mich beeile, kriege ich die Maschi 80
ne noch. Leben Sie wohl!“ Urban war schon an der Tür, als seine Sturheit zu wirken be gann. Der Syrer eilte ihm nach und packte seinen Arm. „Bleiben Sie!“ keuchte er. „Zehntausend Dollar und die Flucht.“ „Wofür?“ Der Arzt bat um eine Zigarette und gab dann einige Fakten preis. „Ich flog mit, als Minister Osten erschossen wurde.“ Dies wich schon erheblich von den offiziellen Verlautbarun gen ab. „Weiter!“ drängte Urban. „Er starb als einziger. Durch eine Kugel.“ „Guerillas?“ „Scharfschützen, Sir.“ „Warum sollten all die verfeindeten Stämme nicht über Scharfschützen verfügen?“ „Die Landung war vorgeplant.“ „Sie meinen“, Urban überlegte. „Sie meinen, auch der An schlag sei geplant gewesen?“ Der Syrer bestätigte dies. „Haben Sie Beweise?“ Abermaliges Kopfnicken. „Welcher Art?“ „Durch Ostens letzte Worte.“ „Was sagte er?“ Ein Lächeln flackerte nun über das verdreckte, unrasierte Gesicht des Syrers. „Das erzähle ich Ihnen im Flugzeug nach München, Paris oder London.“ Urban verlegte sich nicht aufs Handeln. Er glaubte, daß dies ein unerbittlicher Entschluß dieses Mannes sei. Er würde sein 81
Wissen erst in Freiheit aus der Hand geben und wenn er die zehntausend Dollar hatte. „Wird erledigt, Doktor.“ „Wann?“ „Spätestens in vierundzwanzig Stunden“, versprach Urban. Die Stäche war so gut vorbereitet, wie es sich in einer zerstör ten Stadt, wo trotz Waffenstillstand immer noch geschossen wurde, machen ließ. Bei Dunkelheit wartete ein Jeep im Hof des Konsulats. Urban überzeugte sich davon, daß er fahrtüchtig und aufge tankt war. Dann nahm er ein Bündel Kleider unter den Arm und stieg hinab in den Keller zu Dr. Jussef. „Ziehen Sie das an.“ „Zivilklamotten.“ „Für die nächsten Stunden sind Sie ein amerikanischer Re porter.“ „Mit dem Bart und dieser Hautfarbe?“ „Ein Mischling eben“, sagte Urban. „Vater Mexikaner, Mut ter Indianerin, okay?“ „Wenn Sie es wünschen.“ Der Arzt bekam Rasierzeug. „Darf man fragen“, setzte er an. „Wir fahren“, erläuterte Urban, „zu den israelischen Linien, rund dreißig Meilen.“ „Nach Israel? Bei Allah!“ „Der Flughafen wird zu stark überwacht. Dort spioniert alles herum. Mossad, Deuxieme Bureau, CIA und KGB.“. „Die Juden hängen mich auf.“ „Sie haben einen amerikanischen Paß, Doktor.“ „Kommen wir überhaupt bis zur Demarkationslinie durch?“ „Mit Glück und einem Voucher.“ „Wautscher, was ist das?“ 82
„Ein Passierschein. Los, beeilen Sie sich.“ Der Syrer war rasch fertig. „Und wie geht es weiter?“ „Der Flug Tel Aviv/Frankfurt ist gebucht.“ „Und das Geld?“ Urban legte seine Hand auf die Sakkobrust. „Ich möchte es sehen.“ Urban zog den Umschlag und ließ den Doktor einen Blick hineinwerfen. „Keine Dollar.“ „Deutsche Mark ist ebensogut. Dollar waren in der Eile nicht aufzutreiben.“ „Dreißigtausend?“ „Das entspricht ungefähr dem Kurs.“ Endlich bequemte sich Dr. Jussef, den Keller zu verlassen. Sie bestiegen den Jeep. Der Konsul lotste sie mit seinem Mercedes durch die immer noch verdunkelte Stadt bis zur Straße nach Saida. Mit kurzen Blinks verabschiedete er sie und wünschte gute Fahrt. Auf den 50 Kilometern bis zu jenem Gebiet, das Israel noch besetzt hielt, wurden sie immer wieder kontrolliert. Sowohl von regulären Militäreinheiten als auch von wild aussehenden und abenteuerlich bewaffneten Gestalten. Sie kamen erst bei Dunkelheit aus den Löchern und spielten in der Nacht die großen Guerilleros. Aber einen amerikanischen Paß konnte jeder lesen. Man machte ihnen keine allzugroßen Schwierigkeiten. Wenn es kritisch wurde, half das erstaunlich gute Arabisch des amerikanischen Reporters über die Probleme hinweg. „Sie sind in Form“, stellte Urban fest, als sie nur noch we nige Meilen bis zur Demarkationslinie hatten. „Der süßte Duft der Freiheit“, sagte Dr. Jussef. 83
„Was lutschen Sie da andauernd?“ fragte Urban. „Valium, Egalizer, wie wir es nennen. Möchten Sie auch ei ne Tablette?“ Urban bedankte sich. Er wollte klar bleiben. Nur noch weni ge Minuten. Die Straße führte über einen Hügel, ehe sie sich wieder dem Meer näherte. Draußen ankerten ein paar Schiffe. Bald ging es in weiten Kurven talwärts. In der Ferne sah Urban schon die Schranke, die Panzersper ren und die Bunker, mit denen die Israelis die Straße abriegel ten. Bei Nacht beleuchteten sie alles, auch das weite Umfeld, mit Scheinwerfern. Auf jeden Hasen ohne Permit wurde ge schossen. Als sie zwei Meilen von der Sperre entfernt waren, begann es über ihnen zu dröhnen. Ein Lichtstrahl erfaßte sie. „Der Kontrollhubschrauber.“ „Wir könnten ja mit Sprengstoff vollgepackt sein“, kombi nierte Dr. Jussef. Urban gab ein Zeichen nach oben. Der Helikopterpilot muß te es erkannt haben. Er schwebte kaum zwanzig Meter über ihnen. Sein Scheinwerfer verlosch. Der Kontrollhubschrauber zog seitlich weg. Plötzlich der Knall, wie eine Motorfehlzündung, hinter dem nächsten Hügel. – Aber der Knall war trocken, kurz und ohne das typische Nachpatschen. Etwas jaulte heran. Eine Werfergranate schlug auf der Straße ein. Urban riß den Jeep nach rechts über die Böschung zum Strand hinab. „Diese Banditen!“ schrie Jussef. „Die Herrscher der Nacht, Doktor.“ 84
Urban gab Gas, würgte den zweiten Gang hinein und fuhr Schlangenlinien. Vorne sah er, wie die Israelis schon den Schlagbaum öffne ten, um sie durchzulassen. Die nächste Granate pfiff heran. Einschlag weit hinter ihnen. Der Jeep fetzte über Kameldorn und wühlte sich durch den Sand. Noch hundert Meter bis zu den Israelis. Da hörte Urban die dritte Granate heranzischen. Sein In stinkt warnte ihn. Das Ding kam verdammt scharf auf sie zu. Wieder riß er den Jeep herum. „Abspringen!“ schrie er und hechtete hinaus. Aber Dr. Jussef saß wie festgeschnallt auf dem Beifahrer sitz. Der Jeep rollte mit ihm aufs Meer zu, und die Granate traf die Motorhaube. Die Druckwelle preßte Urban in den Dreck. Steine und Sand prasselten herunter. Als er aufblickte, sah er den Jeep explo dieren. Der Arzt wurde herausgeschleudert. Sein Körper wi r belte wie eine Puppe durch die Luft. Idiot, dachte Urban, warum bist du nicht abgesprungen, Mann. In der Dünung kam der Jeep zum Stehen und brannte dort aus. Urban wartete das Ende der Schießerei ab. Nachdem der Jeep hochgegangen war, hörten sie damit auf. Urban kroch zu Dr. Jussef hin und untersuchte ihn. „Sollte wohl nicht sein.“ Der Schmerz übermannte den Arzt. „Nicht Ihre Schuld“, sagte der Syrer stöhnend. „Das wollte keiner.“ „Sie waren fair.“ „Tut mir leid“, beteuerte Urban. „Und dieser Minister“, flüsterte Jussef sehr leise und kaum 85
zu verstehen, „dieser Minister, es ging ihm, wie es mir jetzt geht. Alles Idioten, sagte er… Irrtum Genossen… Dasy Num ber one… Dasy ist die Eins…“ Urban beugte sich tief über den Sterbenden. „Was noch, Doktor?“ „Dasy ist die Number one.“ Der Syrer lebte noch, bis der israelische Sankawagen herü berkam. Als sie ihn auf die Tragbahre hoben, bäumte er sich noch einmal auf und fiel dann leblos zurück. „Was bedeutet Dasy Nummer eins?“ fragte Oberst Sebastian, als Urban in Pullach seinen Bericht beendet hatte. „Peter Osten nannte sie alle Idioten.“ „Weil sie offenbar den Falschen erschossen.“ „Sie erschossen ihn möglicherweise, um den Mann, um den es wirklich geht, zu decken“, mutmaßte Urban. „Man behauptet, er besäße viel Macht und Einfluß.“ „Auch im KGB.“ „Was hat der KGB damit zu tun?“ wollte Sebastian wissen. „Angeblich sollen es KGB-Scharfschützen gewesen sein, die den Finger um den Abzug krümmten.“ „Gerüchte.“ „Vielleicht kann uns Dasy Number one die Aufklärung lie fern.“ „Wer oder was ist Dasy Nummer eins?“ „Dasy ist ein Frauenname.“ Urban mußte an Lara Sommer denken. Inzwischen wußten sie eine Menge über sie, aber den Namen Dasy hatte sie nie geführt. „Wenn die Entschlüsselung von Dasy soviel Probleme macht wie die Vase Blau-Rot…“, setzte Urban an. „Was dann?“ „Dann gebe ich um meine Frührente ein.“ 86
„Antrag in dreifacher Ausfertigung“, tat es der Alte scherz haft ab. „Bis morgen dann.“ „Gefrühstückt, rasiert und gekämmt.“ „Mit Dasy.“ „Ausgeschlafen und zu allem bereit.“ „Mit Dasy.“ Urban fluchte. „Verdammt, und wenn Dasy nur Peter Ostens Hund ist?“ „Eine Hündin bestenfalls.“ Der Alte konnte einem den Nerv kneten. Urban ging in sein Büro, legte sich auf die Ledercouch und versuchte, nicht an Dasy zu denken. Vergebens. Vor dem Einschlafen brachte er nicht mehr zustande als: Dasy, britisch-amerikanischer Vorname, weiblich, fünf Buchstaben. – Dann gab es noch ein sogenanntes Dasymeter. Aber das war eine Vorrichtung zum Nachweis des Auftriebs von Körpern in Gasen. Das kam wohl auch nicht in näheren Betracht. 12. „Ihr kommt spät“, sagte Lara Sommer. „Wir sind ja da“, antwortete der Mann neben ihr im Fond. Er sprach Oxfordenglisch, doch das durchdrang sie verstan desmäßig nicht. Amerikaner und Engländer unterscheiden sich schon im Sprachklang, wie Bayern und Preußen. Hinzu kam, daß Lara den Autotyp nicht zu identifizieren vermochte. Auf der Spionageakademie am Müritzsee hatte man ihr bei gebracht, wie man Fahrzeuge nach Herkunft und Baujahr einordnete. Dieser Wagen hatte eher rundliche Formen, was zwar wieder in Mode kam, andererseits war zuviel Blech und zu wenig Kunststoff verarbeitet. 87
Die Armaturen, die Schalter, die Sitze und das Radio wirkten wie vor zwanzig Jahren gestylt. Lara suchte nach einem Markenzeichen, einem winzigen nur, nach einer Buchstabenkombination in den Instrumenten, die auf den Hersteller schließen ließe. Der Fahrer, ein knochiger Bursche, schien ihre Unruhe zu bemerken. „Das ist ein südbengalischer Krischnan, einskommaneun Li ter, Madame.“ „Diese Marke gibt es nicht“, erwiderte sie. Der Fahrer machte eine Kopfbewegung, die der Mann hinten sofort verstand. Er holte etwas aus dem Fußraum und schraub te daran. Es war eine Flasche in der typischen Bourbonflaschenform mit braunem Inhalt. Lara war danach. Sie nahm einen Schluck, setzte jedoch rasch wieder ab. „Das ist kein Whisky.“ „Schnaps ist Schnaps. Nach so einer Nacht…“, bemerkte der Fahrer anzüglich. Lara blickte stur geradeaus. „Was wissen Sie denn schon.“ „Eine Menge, Gnädigste.“ „Warum kommt ihr so spät?“ „Hat er dich ins Bett gekriegt, der große Vernascher?“ „Er ist auch nur ein Abziehbild, wie alle Männer“, entgegne te sie. „Warum kommt ihr so spät?“ „Die Verbindung war abgerissen“, erklärte der am Lenkrad. „Wie kam es dazu?“ „Weil das Porzellan erst nicht ankam und dann in Scherben ging.“ „Und wie habt ihr es. wieder zusammengekittet?“ „Mit tausend Augen“, sagte der neben ihr. „Überall hatten 88
wir unsere Leute. An allen Häfen und Flugplätzen zwischen Stockhohn und Lissabon.“ „Das konnte leicht schiefgehen.“ „Es ist schief gegangen“, antwortete man ihr. Sie musterte die Männer, als seien es Gegner und nicht Freunde. „Inwiefern?“ „Sag es ihr!“ drängte der Fahrer. Ehe der Mann neben Lara Sommer eine Erklärung abgab, reichte er ihr noch einmal die Flasche. „Schade für dich, nicht für uns.“ Sie trank. Der Whisky war stark. Ein Spezialbrand. Sie schätzte ihn auf über fünfzig Volumenprozente. Erst belebte er und ließ alles weniger eng aussehen. Doch bald folgte der Klarheit eine ungewöhnliche Schwere, die sich zunächst in den Gliedern auswirkte. „Wohin fahren wir?“ Ihre Zunge wurde pelzig. „Flugplatz.“ „Und wohin fliegen wir?“ „Weit weg.“ Die letzten Worte dröhnten in ihren Ohren, als würde sie aus Großlautsprechern, die rundherum aufgestellt waren, be schallt. Sie glaubte auf einem leeren Marktplatz zu stehen, der so riesig war, daß man die Häuser kaum sah. Die Lautsprecher hämmerten jetzt Marschmusik, durchsetzt von Maschinenge wehrgeräuschen. Für Sekunden durchbrach sie noch einmal die zähen Schich ten des Alptraums. Dann wußte sie, daß man sie narkotisiert hatte.
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Man verband ihr die Augen. Handfesseln sollten verhindern, daß sie die Augenbinde abnahm, und die Augenbinde war dazu da, damit sie nicht sah, wohin es ging. Eine ausgebildete Agentin vermochte aus Landschaft und Sonnenstand mühelos ihre Schlüsse zu ziehen. Lara wußte nur soviel, daß das Flugzeug zwei Motoren hatte und Propeller. Diese Feststellung machte sie, als sie erwachte. Drei Stunden etwa hatte sie wohl geschlafen, denn sie mußte dringend aufs WC. „Gibt es hier eine Toilette?“ „Wir sind gleich da.“ Kurz darauf wurden die Motoren gedrosselt. Aus dem ve r änderten Windgeräusch schloß sie, daß der Pilot Fahrwerk und Spoiler ausgefahren hatte. Die Maschine kippte nach links und beschrieb die Anflugkurve. Es ging steil abwärts. Der Pilot fing die Zweimotorige noch einmal ab, wie meist vor dem Aufsetzen, und gab den Motoren Drehzahl. Der harten Bodenberührung folgte ein holperiges Rollen. Ein Grasplatz, schätzte sie. Sie stiegen aus. Die Luft war mehr als frisch. Nach wenigen Metern dirigierte man sie in einen Wagen mit brettharten Polstern. Der Wagen war ungeheizt. – Als er los fuhr, wußte sie warum. Er hatte ein Planenverdeck ohne Schei ben und bockte wie ein starrachsiges Geländeautomobil. Nach wenigen Kilometern zog ihr jemand die Binde von den Augen. Lara glaubte, auf dem falschen Planeten gelandet zu sein. Die Welt war weiß. Schnee lag auf den Hügeln und auf den Ästen der Laubbäume. Der Wald war dünn. Es gab viele Bir ken. Das Land hatte Tundra-Charakter. Sie schätzte, daß es auf 19 Uhr ging. Die Uhr hatte man ihr abgenommen. Es dunkelte stark. Sterne kamen schon heraus. 90
Aber die Position zum Nordstern hatte sich im Vergleich zu Oslo kaum geändert. Die geographische Breite war demnach dieselbe. Der Jeep hatte eine gewölbte Motorhaube. Das gab Lara zu denken. Nach wenigen Meilen verließ er den Weg und arbeitete sich durch den dünnen Schnee hügelan zu einer Blockhütte, die zwischen Tannen stand. Aus dem Kamin kräuselte heller Rauch. Sie nahmen sie in die Mitte. Die Blockhütte hatte eine Ve randa. Die Art, wie die geschälten Stämme zusammengezim mert waren, hatte Lara schon in Sibirien gesehen. Auf der Veranda stand ein Militärfeldbett, Modell Rote Ar mee. Und auf dem Petroleumfaß in der Ecke entdeckte sie russische Aufschriften. Sie zählte zusammen. Der imitierte Whisky, das übertriebene Oxfordenglisch, der Flug entlang dem Breitengrad, der Molotow-Jeep, die sibiri sche Jägerhütte, das Armeebett, das Petroleumfaß mit kyrilli scher Schrift. Vom amerikanischen Geheimdienst CIA war sie hier wohl weiter entfernt als je zuvor. In ihrer Anwesenheit wurde kaum ein Wort gesprochen. Man behandelte sie wie einen Gegenstand. Aber man ging nicht grob mit ihr um, eher wie mit einem Apparat, bei dem es darauf ankam, daß er einwandfrei funktio nierte, sobald der kleine Defekt behoben war. Die Hütte hatte zwei Räume. Man brachte sie in den hinte ren. Beheizt wurde er durch das Rohr des Ölofens. Es lief unter der Decke entlang und durch ein Loch in der Wand ins Freie. Das Loch war an den Rändern mit Moos und Zeitungspapier dichtgestopft. 91
Tisch, Hocker und Pritsche waren die ganze Einrichtung. Ein Mann im geschlossenen, schwarzen Ledermantel kam herein. Unter dem Mantelsaum sah man nur seine Reitstiefel. Er setzte sich auf den Tisch. „Ich möchte endlich zur Toilette“, sagte Lara Sommer. Er öffnete eine Packung schwarzer Zigaretten, kniff den Pappfilter mehrmals ein, rauchte sie an und musterte sie. Dann fragte er auf Russisch: „Du sprichst unsere Sprache?“ „Ein wenig.“ „Sehr gut sogar, denn du bist Major Lotte Krakowsky von der Abteilung vier, Staatssicherheitsdienst Ostberlin.“ „Ich heiße Lara Sommer.“ „Ja, unter anderem.“ Der Mann zog seinen Mantel aus. Darunter trug er die Offi ziersuniform der Roten Armee mit den Rangabzeichen eines Obersten des KGB. Endlich hatte sie kapiert. „Der Waschraum ist nebenan, Major“ erklärte der Oberst. Man brachte ihr ein typisch sibirisches Abendessen. Kraut suppe, eine Schüssel mit Sauermilch, gebratenen Fisch, pappi ges grobes Schwarzbrot. Dazu Tee. Alles war stark übersalzen und der Kanneninhalt ergab nur eine Tasse. Sie merkte es zu spät und war wütend, daß sie darauf hereingefallen war. Zweifellos würde es zu einem Nachtverhör kommen. Das Verhör würde solange dauern, bis sie auspackte. Die scharfen Speisen würden zu quälendem Durst führen und sie irgendwann gefügig machen, wenn sie es ohne Wasser nicht mehr aushielt. Sie beschloß, den Tee in winzigen Schlucken zu nehmen. 92
Doch bevor sie die Tasse halb geleert hatte, kam einer her ein und räumte ab. Man hatte sie zweifellos beobachtet. Dann dauerte es nicht lange, und der gebildetes Russisch sprechende KGB-Oberst gesellte sich wieder zu ihr. Anfangs verhielt er sich freundlich und zuvorkommend. Das war immer ihre Masche. Sie zogen die Schlinge ganz allmäh lich enger. Ein Hieb wirkte dann besonders brutal, wenn er auf eine Streicheleinheit folgte. „Sie sind uns als äußerst erfolgreich bekannt, Genossin“, begann der Oberst. „Ich tue meine Pflicht.“ „In diesem Fall möglicherweise etwas mehr als das.“ „Warum nicht etwas weniger, Genosse Oberst?“ Der Oberst rauchte wieder seine schwarze Machorka und fi xierte sie dabei. „Mit dem Wort Verrat gehe ich sehr vorsichtig um“, gestand er. „Ich bin zu lange im Dienst, um nicht schon alles Mögliche erlebt zu haben. Helden entpuppten sich als Feiglinge, Verrä ter als Diener des Vaterlandes. Wir sind eine Schauspieler truppe auf einem schlechten Theater, Major.“ Er rauchte tief ein, und schon kam die erste Drehung der Garrotte. „Was ist Ihr Auftrag, Lara?“ Sie wußte nicht, was der KGB wußte. Deshalb erzählte sie, was sie sich zurechtgelegt hatte und das wie die Wahrheit klang. Aber sie begann zögernd. „Ein Sonderauftrag, Oberst.“ „Ohne unsere Zustimmung?“ „Diese einzuholen ist nicht meine Aufgabe.“ „Jedenfalls wußten wir davon nichts, bis…“, der Oberst sag te nicht, wann und wodurch sie von der eigenmächtigen Opera tion des DDR-Geheimdienstes erfahren hatten. „Erzählen Sie weiter, Major.“ 93
Dir Mund war trocken. Sie schluckte. „Ich hatte den Auftrag, in Oslo Kontakt aufzunehmen.“ „Mit wem?“ „Vermutlich mit einem NATO-Geheimdienst.“ „Warum vermutlich? Stattete man Sie nicht mit Einzelheiten aus?“ „Man war offenbar im Zweifel, wer die Kontaktgruppe sein würde.“ „Wem es gelungen sein könnte, gewisse Nachrichten an sich zu bringen und zu entziffern. Richtig?“ „So tief bin ich nicht eingeweiht, Genosse Oberst.“ Der KGB-Offizier stand auf. Seine Stiefel knarrten, sie mußten nagelneu sein. „Ich rate Ihnen, sich an alles zu erinnern, Major. Wir haben Möglichkeiten, Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen.“ „Die sind mir bekannt.“ Der Oberst wippte in seinen spiegelblanken Stiefeln von den Zehen auf die Absätze. Manchmal drückte er auch die Knie durch, um sie dann wieder zu lockern. Jedenfalls beobachtete Lara dieses Spiel. Als ihr Blick wieder die Stiefelspitzen streifte, sah sie in der Fußbodenritze, dort wo zwei Bretter eine Fuge bildeten, etwas glitzern. Es war nahe dem Fenster. Das Holz hatte sich durch die Kälte dort etwas zusammengezogen. Jedenfalls blitzte etwas in der Spalte. Der Oberst sah es nicht, er konnte es gar nicht bemerken. Lara hatte das Gefühl, daß ihr das metallisch schimmernde Ding Aufschlüsse geben könnte. Aber wie war heranzukom men? Sie versuchte, ihn hinzuhalten. „Die Amerikaner planen irgend etwas“, deutete sie an. „Quasseln Sie nicht, Major.“ 94
„Es läuft an uns vorbei. Was es ist, das versuche ich heraus zufinden.“ „Hat es möglicherweise mit dem Gerücht zu tun, daß es hier im Osten einen Mann gibt, der in der Lage ist, sowohl Moskau als auch Berlin unter Druck zu setzen? Dies mit Hilfe seines ungeheuren Wissens, das er seiner Geheimkartei verdankt?“ Sie versuchte, seinem Blick zu widerstehen. Sie kontrollier te ihren Lidschlag und auch die Farbe ihrer Haut. Lässig lehnte sie sich zurück. „Genosse Oberst“, sagte sie, „die Abteilungen eines Ge heimdienstes sind abgeschüttet wie ein unsinkbares Schiff. Ich bin nur ausführendes Organ. Wenn ich gewisse Kenntnisse besitze, dann sind sie geringer als die meines Kommandeurs. Mein Auftrag lautete, Informationen beizuschaffen.“ „Mit Hilfe jenes Burschen, den sie Mister Dynamit nen nen.“ „Jedes Mittel war mir recht.“ „Sie erkannten ihn, hoffe ich.“ „Die drei, vier Gesichter der Spitzenagenten dieser Welt sind uns geläufig, Oberst.“ „Und es gelang Ihnen nicht, ans Ziel zu kommen?“ „Noch nicht.“ „Wollen Sie damit andeuten, daß dies unsere Schuld ist?“ „Sie schritten möglicherweise zu früh ein. Wie sich jetzt herausstellt.“ Der Oberst grinste. „Aber die Schießerei auf dem Flugplatz in Oslo war doch äußerst vorteilhaft für Sie, als Eintrittsgeld in die Geheim dienst-Clubs des Westens.“ „Warum machten Sie dann alles zunichte?“ „Es gibt höherwertige Interessen“, wich der Oberst aus. „Jetzt zur Sache, Genossin. Nun lassen wir mal schön das Höschen runter. Bis jetzt war alles nur Lüge.“ 95
„Sie sind ja pervers, wahnsinnig und pervers“, zischte sie. Zorn verzerrte plötzlich die Züge des KGB-Obersten. Seine auffallend blasse Haut bekam Röte. Er holte aus und schlug Lara mit dem Handrücken ins Gesicht. Er zog ihn auf eine Weise durch, daß sie der erste Schlag zu Boden warf. Sie blieb liegen, reglos, wie in tiefer Ohnmacht. Der Oberst verließ den Raum. Aber nicht, ohne den Schlüs sel mehrmals von außen umzudrehen. Der Treffer war halb so schlimm gewesen. Lara ging es dar um, am Boden zu bleiben und allein zu sein. Und sei es nur für wenige Minuten. Sie beobachten dich, überlegte sie. Deshalb bewegte sie die Rechte millimeterweise auf die Ritze mit dem schimmernden Ding zu. Als sie es erreicht hatte, bohrte sie die Nägel hinein und puhlte es heraus. Im anderen Raum des Blockhauses spielte ein Radio. Moskau auf Kurzwelle, vermutete Lara. Es mochte Mitternacht sein, als der geschniegelte KGBOberst wiederkam. Er weckte sie, indem er mit dem Fuß gegen die Pritsche trat. Dann packte er sie, riß sie hoch und wuchtete sie auf den Hok ker. „Sind Sie wach, Genossin, oder ist ein Kübel Eiswasser nö tig?“ „Wasser“, sagte sie, „bitte.“ „Erst wenn Sie aufhören, uns solche Lügenmärchen zu ser vieren.“ Lara blickte ihm fest in die Augen. „Sie wissen, daß ich nicht lüge, Oberst.“ Da faßte der KGB-Offizier in die Tasche seiner Litewka und holte etwas heraus. Es war weiß, Kantenlänge etwa zwei Zen timeter, grobkörniges Material. 96
„Was ist das?“ „Würfelzucker“, vermutete Lara. „Damit“, erklärte der Oberst, „kann man Verletzungen herbeiführen, die kein Spiegel verleugnet.“ Sie hatte davon gehört. „Das würden Sie nicht tun.“ „Natürlich“, antwortete er ruhig. „Wir zerstören Ihnen da mit die Haut Ihres hübschen Gesichts. Die Wunden heilen nie. Zucker wirkt schlimmer als Korundpapier. Kein Arzt der Welt kann das jemals in Ordnung bringen. Sie sind für den Rest Ihres Lebens gezeichnet, Genossin.“ Jetzt lächelte sie mühsam. „Ob ich häßlich sterbe oder in Schönheit“, erwiderte sie, „es wird in jedem Fall bald sein.“ „Aber qualvoll.“ Sie legte die Hand auf den Tisch. Die Hand war zur Faust ge ballt. Um den Oberst abzulenken, schaute sie im Zimmer umher. „Das Haus ist neu.“ „Ein paar Jahre steht es schon.“ „Ein paar Wochen höchstens“, entgegnete sie. „Unsinn.“ „Wozu, Oberst“, fuhr sie fort, „machten Sie sich diese fürchterliche Arbeit?“ „Wieso Arbeit? Eine Jagdhütte in der Tundra, das kostet kei ne Mühe.“ „Es war insofern mühsam“, entgegnete sie, „als es keine si birischen Birken sind, aus denen man das Blockhaus erbaute. Es ist weiterhin äußerst mühevoll, einen einsamen Landstrich Schottlands als sibirische Tundra darzustellen. Mit allem, was dazu nötig ist, wie Russenjeep, russischem Petroleumfaß, russischen Uniformen, russischem Essen, dem Erlernen der russischen Sprache, russischen Zigaretten…“ 97
Kopfschüttelnd hörte sich der Oberst das alles an. „Ich fürchte, bevor wir mit der Vernehmung weitermachen, fliegen wir Sie nach Workuta in die Nervenklinik.“ In diesem Moment bewegte Lara Sommer ihre Faust im Handgelenk um hundertachtzig Grad. Die geschlossenen Fin ger zeigten jetzt nach oben. Langsam öffnete sie die Faust. In der Handfläche lag ein Kronkorken, am gezackten Rand war er silbrig, oben rot, mit der Aufschrift: Coca-Cola. „Das hat einer Ihrer Bauarbeiter vergessen“, behauptete sie, „und der Putzkolonne fiel es auch nicht auf.“ Der Oberst knöpfte den Kragen der Litewka auf. „Sie sind verrückt, Major.“ „Nein, ich bin nur clever.“ „Cola gibt es auch in der Sowjetunion.“ „Aber nicht mit einem schottischen Abfüllcode.“ „Sie kennen sich aber aus.“ „Sind wir hier etwa auf einem Agentenübungsplatz?“ Der KGB-Oberst zerknüllte die Schachtel mit den russi schen Zigaretten, warf sie weg und entnahm seiner Hosenta sche eine Camel-Packung. „Nicht zu fassen! So eine Bestie!“ „Ganz meinerseits.“ „Wir mußten auf diese Weise vorgehen“, drehte er es hin. „Aus Mißtrauen.“ „Normaler Sicherheitscheck.“ „Ein völlig abnormaler“, entgegnete sie. „Und unnötig oben drein.“ „Wir wollen nicht schon wieder streiten“, schlug der fal sche KGB-Oberst vor. „Mein Name ist Pickford, Steven Pick ford.“ „CIA?“ fragte sie. „Specialsquad Blau-Rot.“ Lara nahm eine Camel und erwiderte: 98
„Bitte, Steven, ersparen Sie sich jetzt dieses fürchterlich al berne, amerikanische Willkommen an Bord.“ „Willkommen an Bord“, sagte er zum Trotz. „Dann gehe ich.“ „Wohin?“, fragte er. „Wer am Fallschirm hängt, ist längst ausgestiegen.“ Sie bekam, was sie wünschte. Tee, Mineralwasser, Scotch. Dann äußerte Lara, sie sei müde. Der Mann, der den Jeep gefahren hatte, brachte eine Matrat ze, legte sie auf die Pritsche, darauf Decken, Laken und Kopf kissen. „Dann bis morgen“, rief Pickford. „Was möchten Sie zum Frühstück?“ „Einen Spaziergang“, schlug Lara Sommer vor. „Hier wird doch jedes Wort auf Tonband festgehalten. Ich möchte Sie allein sprechen, Steve.“ „Okay, dann bis Sonnenaufgang“, sagte der Amerikaner, „das wird gegen sieben Uhr sein.“ Er ging hinaus und schloß die Tür. Diesmal sperrte er nicht ab. Achtzehn Stunden später stellten die Mitglieder der CIASpecialsquad Blau-Rot fest, daß Major Steven Pickford und Major Lara Sommer verschwunden waren. Um 07 Uhr 15 hatten die beiden die Blockhütte verlassen, um einen längeren Spaziergang zu unternehmen. Zum Früh stück wollten sie zurück sein. Sie waren zum Lunch noch nicht da. Das Team suchte mit dem Russenjeep und mit dem AllradBronco sämtliche Wege des zweitausend Hektar großen Pri vatgeländes ab. Sie verließen dabei auch die befahrbaren Wege und hofften, 99
in den Wäldern und auf dem hochgelegenen Weideland Spuren zu finden. Es war insofern schwierig, als sie mit der Aktion zwei Stun den zu spät begonnen hatten. Seit 10 Uhr 30 schneite es wi e der. Der Neuschnee deckte alle Fußabdrücke zu. Gegen Mittag trafen sich die drei Männer aus dem PickfordTeam in der Hütte. „Einfach abhauen ohne eine Nachricht zu hinterlassen“, sag te einer der CIA-Männer. „Das ist nicht Stevens Art.“ „Du kennst dieses Weib nicht.“ „Kennst du sie etwa?’ „Und Pickford kannte sie auch nicht.“ Sie fanden keine andere Erklärung, als daß es der OstAgentin gelungen sein müsse, irgend etwas mit dem Major anzustellen, ihn auf bestimmte Weise zu manipulieren. „Aber womit?“ „Er trägt immer seine Waffe.“ „Unter der Jacke.“ „Wie soll sie da herangekommen sein. Er ist ein erstklassi ger Jiu-Jitsu-Kämpfer.“ „Mit den Waffen einer Frau.“ „Bei der Kälte“, tat es der Captain ab. „Es gibt auch Mittel der Intelligenz, der Raffinesse, psycho logische Tricks. Eine Frau hat nicht nur ihren Körper.“ Sie beugten sich über die Karte. Das Gelände gehörte einem schottischen Tuchweber in Iver ness, der es aber nur als Strohmann der CIA erworben hatte. Es reichte bis zur Küste. Ganz genau bis zu der Straße, die um den Kyle of Tongue, eine Art Felsenbucht, herumführte. „Sie kommen nur an der Straße weiter oder in Altnaharra.“ „Dazu müßten sie über die Berge, über den Ben Hope oder den Ben Loyale. Beide sind nahezu tausend Meter hoch.“ 100
„Zwanzig Meilen Luftlinie.“ „Dort kriegen wir sie noch.“ „Aber nicht an der Küste.“ Sie begannen zu rechnen. „Mit dem Hubschrauber haben wir noch eine Chance.“ Über Funk riefen sie die amerikanische Atom-U-Boot-Basis in Dunnet Bay. „Sie schicken einen S-sechsundsiebzig Spirit“, sagte der Captain. „Bis wann kann er hier sein?“ „In fünfzig Minuten.“ Mit dem Mehrzweckhubschrauber suchten sie bis zum Ein tritt der Dunkelheit Hochweiden, Wälder, Seeufer und Täler ab. Sie suchten bis zum Lake Loyal und bis zur Spitze der Ber ge. Sie flogen die Straße nach Altnaharra entlang und die Kü stenstraße zwischen Eriboll und Bettyhill. Dann mußte der Hubschrauber wegen Kerosinmangels zur Basis zurück. Die Männer von Pickfords Team gaben nicht auf. „Steve kann längst in Edinburgh, Glasgow oder sogar Lon don sein“, meinte der Captain. „Ebenso kann er sich auch noch in der Gegend aufhalten.“ Sie baten über ihren Kommandostrang um Unterstützung durch den britischen MI-5, die Spionageabwehr Inland. Die Maßnahmen der Briten griffen bereits am späten Abend. Die Engländer überwachten diskret alle in Frage kommenden Flugplätze, Häfen und Bahnstationen. „Jetzt kommen sie nicht mehr durch“, meinte einer aus Pickfords Team optimistisch. Der Captain war weniger zuversichtlich. „Es gibt Segelboote, Fischkutter und Sportflugzeuge. Beide sind sie ausgebildete Topagenten. Sie können ein Schiff manö 101
vrieren, ein Flugzeug steuern, notfalls sogar eine Straßenbahn fahren oder einen Heißluftballon.“ Die Suche nach den Verschwundenen wurde vierundzwanzig Stunden lang mit Energie betrieben. In Belfast, jenseits des North Channal also, hatte man angeb lich ein Paar gesichtet, auf das die Beschreibung paßte. Aber es gab wohl jede Menge rothaariger Frauen und hage rer, blonder Burschen in Irland. Zwei Männer des Pickford-Teams begaben sich nach Lon don, einer blieb als Stallwache in der Blockhütte zurück. Für den Fall, daß der Major wieder auftauchte. Womit aber ernst haft niemand rechnete. 13. „Dasy Number one!“ Urban sagte sich immer wieder vor, was laut Dr. Jussef der DDR-Außenminister als letztes von sich gegeben haben sollte. Auf dem Schreibtisch hatte er ein Blatt und darauf mit schwarzem Filzstift, rot und gelb eingerahmt, die vier Buch staben. D-A-S-Y! Etwas schreckte ihn hoch. Es war die rauhe Stimme Sebastians, die immer so klang, als wäre er ein unausgeschlafener Trunkenbold. Dabei nahm er höchstens beim Essen ein Glas Rotwein zu sich. „Was macht Dasy?“ Urban blickte auf. „Gibt kaum eine Buchstabengruppe, die genauer abgeklopft wurde. Vorwärts, rückwärts, in allen nur möglichen Kombina tionen. Dasy, Asyd, Sady und so weiter, in wirklich allen denkbaren Varianten.“ „Aber?“ 102
„Pausenzeichen“, bedauerte Urban. „Auch die mannigfachen Bedeutungen der gefundenen Kombinationen führen uns nicht weiter. Wir hatten bis jetzt fünfzig Computerstunden.“ Der Alte hielt ein Fernschreiben in der Hand. Es bestätigte, was sie schon über andere Kanäle erfahren hatten und forderte den BND zur Mitarbeit auf. „Unverschämtheit“, kommentierte Urban. „Erst verlangen sie, daß wir nichts tun. Jetzt wollen sie, daß wir uns an der Suche nach Pickford und diesem Flintenweib beteiligen. Ich habe Lara Sommer kennengelernt. Und Pickford kenne ich auch. Pickford ist ein guter Mann aus dem Mittelfeld. Doch das ist nicht genug gegen Lara. Sie dürfte eine von den Besten sein, die sie drüben haben. Er ist ihr nicht gewachsen.“ „Wir haben selbstverständlich zurückgetickert, daß wir nichts anderes mehr tun, als die zwei zu suchen.“ „Selbstverständlich“, höhnte Urban. „Aber nicht auf dem Gebiet der Bundesrepublik, denn hier sind wir nicht zuständig.“ „Das ist Salbe auf die Wunden des Chefs, schätze ich.“ „Es tut ihm wohl, wie ich annehme.“ Urban wußte, was jetzt kam. Es war immer dieselbe Walze. „Desto mehr müssen wir Griff in die Sache kriegen“, äußer te Sebastian. „Das ist doch wie Teig kneten.“ „Dann kneten Sie mal schön.“ „Übt mal schön, sagte Professor Heuss damals.“ „Um Sie üben zu lassen, sind Sie zu teuer. Außerdem fehlt uns die Zeit.“ Urban lehnte sich im Sessel zurück, denn es war sein eige ner Sessel, und der Alte stand am Fenster. „Was würde ich an Laras Stelle mit Pickford machen…“ „Wenn Sie Lara wären, o Gott, das weiß ich genau.“ „Sie denken auch immer nur an das eine“, lästerte Urban, 103
„während ich überlege, womit sie Pickford aus der Bahn he belte.“ „Aus seinem Konzept, meinen Sie, aus seinem Fahrplan.“ „Es muß eine Menge mehr gewesen sein, als nur ein doppel ter Nelson.“ „Die Frage lautet also, womit und wofür.“ „Es muß um den Mann gehen, der hinter der Aktion BlauRot steckt. Damit köderte sie Pickford und er marschierte mit.“ „Wohin?“ „Ostberlin natürlich“, folgerte Urban. „Nur dort kann es weitergehen.“ „Oder zu Ende.“ Urban stand auf, um zu telefonieren. Er sprach mit dem Kollegen in der Ostabteilung, der über Verbindungen zum Sicherheitsdienst der DDR verfügte. „Von woher kam der Tip, Lara Sommer könnte Geheim dienstmajor sein?“ „Sie ist Major in Pankow.“ „Dann ist euer Mann gewiß auch in der Lage, festzustellen, ob sie zur Zentrale zurückgekehrt ist, ob sie Dienst tut, oder sich in ihrer Wohnung erholt.“ „Unser Mann kann noch mehr.“ „Dann laßt ihn zumindest dies eine ermitteln, ob sich Lara Sommer derzeit in Ostberlin aufhält.“ Der Kollege versicherte, daß dies erledigt würde. Man brau che aber Zeit dazu. „Auf einen Tag kommt es jetzt auch nicht mehr an.“ „Es kann Wochen dauern.“ Urban fluchte leise. „Zum Skifahren bin ich wie immer an Weihnachten in Kitz bühel.“ 104
Als er auflegte, saß der Alte in seinem drehbaren, schwarzen Ledersessel und hatte das Monokel im Auge. „Ihr Sessel ist bequemer als meiner.“ „Nur nicht ganz so abgewetzt wie Ihrer.“ „Nein, irgendwie straffer. Muß an der Qualität liegen.“ „Beide sind vom selben Hersteller.“ „Dann stammt meiner aus der Montagsproduktion.“ „Ich bin meist auf den Füßen“, erwiderte Urban. „Wollen wir tauschen?“ „Stellen Sie Antrag in dreifacher Ausfertigung an die Ve r waltung. Immer schön den Amtsweg entlang, Großmeister.“ Der Alte wechselte das Thema. „Also, was ist mit Dasy?“ fragte er erneut. Zu einem Zeitpunkt, an dem Urban geneigt war, „Dasy“ bei den ungelösten Problemen abzulegen, landete auf seinem Schreibtisch ein Protokoll. Es sah aus wie das Rollenbuch eines Theaterstücks, in dem drei Personen mitwirkten. Zu dem Protokoll gehörte eine Tonbandkassette. Der Auf schrift der Kassette, entnahm Urban das Wichtigste. Auf der Kassette stand: Siehe Niederschrift. Und auf der Niederschrift stand oben: Siehe Kassette. Die Registriernummern für Tonband und Protokoll waren identisch. Bei dem, Protokoll handelte es sich also um die Abschrift des Tonbandgespräches, nach Personen aufgeschlüsselt. Das nannte man erstklassige Materialvorbereitung. Urban las: Tonbandmitschnitt von Agent „Taube“, Ministerium für Staatssicherheit Ostberlin vom 29. des Monats, 15 Uhr mit teleuropäischer Zeit. Frequenzrauschen bedingt durch über starkes Richtmikrofon, Straßengeräusche und Störgenerator. 105
Gesprächsteilnehmer: Prof. Dr. Serge Wolfhardt (Chef d. Staatssicherheitsdienstes) Major Lara Sommer (Agentin im Staatssicherheitsdienst) General Bruno Kramm (Stellvertr. Chef d. Staatssicherheitsdienstes) Wolfhardt: Freue mich, Sie zu sehen, Lara. Schön, daß Sie heil zurückgekommen sind. Nehmen Sie Platz, meine Liebe. Kaffee, Tee, Mineralwasser? Lara: Ein Glas Apfelsaft, bitte. ..... General: Sie wissen, Lara, was dem Minister Osten im Li banon zugestoßen ist? Lara: Zugestoßen? Wolfhardt: Bitte keine Spekulationen. General: Wir sind unter uns. Der Raum ist abhörsicher. Wie immer der Genosse Minister auch ums Leben kam, eines ist gewiß… Er dürfte uns dadurch eine schwere Entscheidung abgenommen haben. Lara: Ihn anzuschuldigen etwa? General: Mehr als dies. Mittlerweile gibt es Beweise. Wolfhardt: Kurz vor seinem Tode soll er noch ein Geständ nis abgelegt haben. Mit seinen letzten Worten. Lara: Und wie lauteten diese? General: Der syrische Begleitarzt hörte sie als einziger. Bei seiner Einvernahme stellte man sich aber so ungeschickt an, daß er in Panik geriet und die Flucht ergriff. Wolfhardt: Der KGB handelte hier wohl ein wenig übereif rig. General: Wenn man bedenkt, daß Osten auch die Genossen 106
im Kreml und im NKWD in der Hand hatte, dann ist das ve r ständlich. Lara: Und wie lauteten Ostens letzte Worte? Wolfhardt: Das wissen wir noch nicht. Der syrische Arzt floh in das deutsche Generalkonsulat in Beirut und wurde von einem BND-Agenten außer Landes gebracht. Vielmehr, er sollte außer Landes gebracht werden. General: Gegen Preisgabe von Ostens letzten Worten, ve r steht sich. Wolfhardt: Es mißlang. Bei Nacht, kurz vor der Demarkati onslinie, wurde der Jeep beschossen. Der Syrer überlebte es nicht. Lara: Wer schoß? ..... General: Terroristen, Aufständische, unkontrollierte Gue rilla-Einheiten, marodierende Bergstämme. Lara: Dieselben, die Osten erschossen. Wolfhardt: Keine Spekulationen, bitte. Lara: Und wer war der BND-Agent, der den Arzt heraus bringen sollte? General: Sie nennen ihn Mister Dynamit. Ich denke, er ist uns hinlänglich bekannt. Ein Bursche, gefährlich wie… wie… Lara: Wie Dynamit eben. ..... General: Wie geht es Ihrem Begleiter, Lara? Lara: Major Steven Pickford ist mein persönlicher Gefan gener. General: Nicht mehr lange, denke ich. Lara: Man garantierte ihm das. General: War das eine Bedingung? Lara: Ja, für den freiwilligen Übertritt in unser Lager, für seine Mitarbeit und für seine Zukunft. 107
Wolfhardt: Über seine Zukunft entscheiden wir. So leid es mir tut, Lara. – Und warum kam er mit? Lara: Er hatte die Wahl zu sterben oder mit mir zu gehen. Genaugenommen hatte er wohl den Laden im Westen satt. Er brauchte nur einen Anstoß. Er wird um Asyl bitten. General: Außerdem ist er mächtig scharf auf Sie. Lara: Ich kann nicht leugnen, daß ich Sex durchaus mit in die Waagschale geworfen hätte. Wolfhardt: Und was entrichtet er als Aufnahmegebühr für unseren exklusiven Verein? General: Das dürfte nicht wenig sein. Lara: Den Namen. Mit dem Namen bezahlt er. General: Den kennen wir inzwischen. Wolfhardt: Aber noch fehlen uns die Beweise. Vor allem das Geheimarchiv. So gesehen hilft uns die Bestätigung der CIA schon eine ganze Menge. Und wen nannte Major Pick ford? Lara: Das Politbüromitglied Peter Osten. General: Wortwörtlich? Lara: Er beschrieb Osten, charakterisierte ihn, erwähnte Decknamen, die Osten bei den Nazis und in seiner Moskauer Zeit benutzte. Am Ende nannte er auch den Namen, den er seit Ende des Krieges führte. Wolfhardt: Peter Osten also. Lara: So ist es. General: Gute Arbeit, Major. Das wird Ihre Beförderung beschleunigen. Lara: Danke. Wolfhardt: Tut mir leid, wenn ich meiner vollen Zufrieden heit nicht Ausdruck geben kann. Ich sehe noch eine Menge Ungereimtheiten. Vor allem möchte ich vermeiden, allein durch Ostens Tod die Sache als erledigt anzusehen und jede 108
Wachsamkeit aufzugeben. Nein, dazu bin ich nicht bereit. Ich muß noch eine Forderung an Sie stellen, Lara. Lara: Und die lautet, Genosse Minister? Wolfhardt: Ein persönliches Gespräch mit diesem Ameri kaner. Letztendlich bin ich dem Politbüro und auch Moskau gegenüber verantwortlich. Lara: Das steht Ihnen selbstverständlich zu. Wolfhardt: Wo hält sich Pickford derzeit auf? Lara: In meinem Haus in Nieder-Neuendorf. Wolfhardt: Ist das Anwesen sicher? Lara: Wie ein Tresor. Betonwände, Drahtglas mit Gittern, Stahltüren, Posten vor der Tür, Posten im Garten und am See ufer. General: Ich glaube, in diesem Punkt können wir uns auf Lara verlassen. Lara: Wann möchten Sie Pickford sprechen, Genosse Mi nister? Wolfhardt: In diesen Tagen noch. Morgen oder übermor gen, wie mein Terminkalender es zuläßt. ..... (Die Punkte bedeuten Gesprächspausen oder Nebensächli ches. Während des Gespräches wurde öfter telefoniert. Auch kamen mehrmals die Sekretärin des Ministers sowie der Adju tant des Generals herein, um Meldungen zu erstatten, die nicht abgehört werden konnten). Gez. Taube. Robert Urban las das Protokoll noch dreimal. Im Casino bestellte Urban einen Mokka. Dabei handelte es sich um normalen Kaffee, der mit einem Löffel Pulverkaffee aufgewertet wurde. „E-Ka-E!“ rief der Casinowirt in die Küche. „Was bedeutet das?“ 109
„Einen Kaffee extra.“ „Da-di“, sagte Urban. „Und was heißt das?“ „Danke dir.“ „Nicht, daß ich maulfaul wäre, du kennst mich, Bob. Sie nennen mich ja oft einen Schwätzer, aber wenn du den ganzen Tag hier rumackerst, dann erleichtern Abkürzungen einfach den Betrieb.“ „Logisch“, sagte Urban. „Doch klaro, oder?“ „Abgekürzt Ka-O.“ „Okay.“ Urban bekam seinen aufgepeppten Ka-E. Er trank ihn mit Zucker, Sahne und einem Schuß Kognak an der Bartheke des Casinos. „Hu-Re!“ rief die Küche. „Das bedeutet einmal Huhn mit Reis“, übersetzte der Casi nowirt. Urban leerte die Tasse, zahlte und steckte sich eine MC an. „Bi-Mod.“ „Heißt das nicht Zweimotorige?“ „Bis morgen dann.“ „Scheiß-Abkürzungen.’’ Urban verließ das Casino. Am Lift durchfuhr ihn eine Erkenntnis so heftig, daß er ruckartig stehenblieb. „Dasy“, murmelte er, „heißt gar nicht Dasy. Der Syrer hat es nur falsch verstanden.“ Rasch fuhr er in die Operationsabteilung. Der Alte wollte gerade in den Mantel schlüpfen. „Was halten Sie von dem Staatssicherheitsdienstprotokoll?“ schnarrte er. 110
„Abgekürzt STASI“, antwortete Urban. „Das weiß wohl jeder.“ „Aber nicht jeder kam auf die Idee, daß „Dasy“ eigentlich „Stasy“ heißen sollte und von Dr. Jussef nur falsch wiederge geben wurde.“ Sebastian fingerte nach dem Monokel. Schärferes Sehen bewirkte bei ihm schärferes Denken. „Dasy… Stasy… Stasi… Staatssicherheitsdienst.“ „Number one… ist Nummer eins…“ Der Alte winkte ab. „Und das Protokoll?“ „Vergessen wir es.“ „Taube ist ein zuverlässiger Agent.“ „Auch im STASI werden Potemkinsche Dörfer errichtet.“ „Sie glauben, daß man drüben wußte, daß man sie abhörte, und daß sie den Dialog getürkt hätten?“ „Vielleicht steckt noch viel mehr dahinter. Nämlich kein ge türkter Dialog, ich meine, nicht für uns vorgetäuscht.“ „Für wen dann?“ „Für den Lauscher innerhalb des STASI.“ Der Alte ließ das Monokel fallen. „Das ist mir zu hoch. Erst recht vor dem Abendessen. Erklä ren Sie mir das morgen früh noch einmal, langsam, zum Mit denken.“ „Das geht nicht, Chef.“ „Morgen bei der Frühkonferenz.“ „Morgen“, antwortete Urban, „wandle ich möglicherweise schon unter den Linden.“ „In Ostberlin?“ Der Alte fixierte seinen Agenten. Aber aus Erfahrung wußte er, daß er jetzt nicht weiter in ihn dringen durfte. Es gab Momente, da war Urban wie Beton. 111
Dann mußte man ihn gewähren lassen und zu allem ja und amen sagen. „Na dann!“ Der Alte wünschte: „Viel Glück, was immer Sie vorhaben.“ Urban hatte noch eine Menge Vorbereitungen zu treffen. Trotzdem hielt ihn Sebastian am Ärmel zurück. „Weiß nicht, von wem der Ausspruch stammt, aber er be hauptete, daß ein einziger Superagent zur rechten Zeit am rechten Ort einen Krieg verhindern, eine Schlacht oder einen Feldzug entscheiden könne. War das nicht Friedrich der Gro ße?“ „Napoleon“, antwortete Urban. „Leider ist es Napoleon ge wesen.“
14. Kurz nach seiner Landung in Berlin wählte Urban eine Tele fonnummer jenseits der Mauer. Die Verbindung nach drüben funktionierte recht gut. Eine Vorzimmerdame im Ministerium für Staatssicherheit meldete sich. Im dort üblichen barschen Ton verlangte Urban Major Sommer. „Oberstleutnant Sommer“, wurde er verbessert. „Seit ge stern.“ „Es ist dringend.“ „Oberstleutnant Sommer ist nicht im Hause. Kann ich etwas aufnehmen?“ „Ist sie in ihrer Wohnung?“ „Vielleicht.“ „Dann rufe ich dort an.“ „Die Nummer haben Sie?“ 112
„Danke.“ Urban legte auf und blickte den Kollegen, aus des sen Wohnung am Tiergarten er telefonierte, an. „Nächster Versuch. – Ob sie Laras Privatleitung abhören?“ „Angezapft ist jeder Draht. Aber sie können nicht alle gleichzeitig kontrollieren.“ Urban wählte Laras Privatnummer, die ihm die Amerikaner beschafft hatten. Sofort erkannte er sie an der Stimme. Nur, daß sie hier eine Spur dienstlicher klang. „Muß dich sprechen, mein skandinavischer Darling“, sagte er. Jetzt kam es darauf an, wie rasch sie schaltete, und ob seine Kombinationen zutrafen. „Wer sind Sie?“ „Bob Oslo“, nannte er sich. Kurze Pause. Dir Atem ging deutlich rascher. „Wo bist du?“ „Nenne mir Treffpunkt, Treffzeit und Kennzeichen.“ Sie beschrieb eine Straßenecke nahe dem Alexanderplatz, die Uhrzeit und als Kennzeichen ihr Fahrzeug. „BMW Typ 327, Sportcabrio grünschwarz.“ Der Edeloldtimer galt drüben mehr denn je als eines der be gehrtesten Fahrzeuge überhaupt. An so was kamen nur ve rdien te Genossen heran. „Fünfzehn Uhr“, bestätigte er. „Ich bin da.“ Es war einer jener goldenen Herbsttage, die vor Grenzen keinen Halt machten. Um 14 Uhr 25 an diesem Mittwoch überschritt der BNDAgent Robert Urban die Sektorengrenze zur DDR. Versehen mit dem Paß eines französischen Fernsehrepor ters rollte er, in einem weißen Citroen-CX, am Übergang Heinrich-Heine-Straße in den Osten. Da seine Papiere zwar gefälscht, aber sehr gut nachgemacht 113
und vor allem komplett waren, hatte er nicht die geringsten Probleme. Die würden wohl erst im Laufe der nächsten Stunde auftre ten. Vor allem dann, wenn er sich geirrt hatte und in eine Falle fuhr. Der Treffpunkt besaß Qualität. Um fünfzehn Uhr war die Ecke Landwehrstraße und Leninal lee voller Leben. Der Verkehr floß vorbei, denn es gab dort keine Ampeln. Unter Bäumen parkten einige Automobile. An einem Straßencafé mit Tischen draußen, hasteten Menschen vorüber. Urban saß vor dem Café und wartete. Er kannte den BMW-327 der letzten Vorkriegsjahre, dieses hochelegante Cabrio mit den fließenden Linien, von dem er als Student geträumt hatte. Schon fünf Minuten über die Zeit, und kein 327er war zu sehen. Er goß den Rest aus der Kanne in die Tasse, Zucker, Sahne, umrühren. – Ein Blick ins Neue Deutschland. Ein Bus kam vorbei. Baulaster, Lieferwagen, Trabants und Motorräder. Dann dauerte es einige Zeit, bis oben am Prenzlauer Berg die Ampel wieder schaltete. 15 Uhr 07. Wieder ein Pulk Fahrzeuge, der sich in Richtung Alexanderplatz und Karl-Marx-Straße aufteilte. Und dann kam ein Nachzügler. Er rollte mit kaum dreißig Stundenkilometern um die Ecke. – Der BMW, schwarzgrün, ein Cabrio. Urban hatte bezahlt und trat an den Bordstein. Der Wagen hielt, die Tür schwang auf. Er stieg zu. Lara gab Gas. Es war wirklich Lara, wie er erleichtert feststellte. 114
Er schaute durch das schmale Fenster im Cabrioverdeck nach hinten. Niemand folgte ihnen. „Die Beschatter habe ich abgeschüttelt“, waren ihre ersten Worte. „Werden Geheimagenten auch schon observiert?“ „Hin und wieder. – Machen wir es kurz, Bob. Du hast ange rufen. War ein gutes Stück Arbeit, meine Nummer zu krie gen.“ „Und es war ein noch besseres Stück Geheimdienstarbeit“, erwiderte er, „herauszukriegen, daß du mich brauchst. Schließlich lege ich hier den Hals in die Schlinge.“ „Du warst in Beirut?“ fragte sie. „Doktor Jussef verriet mir Ostens letzte Worte.“ „Wie lauteten sie?“ „Stasi number one.“ „Stasi Nummer eins“, wiederholte sie, schaltete hoch, blieb aber im dritten Gang. Sie rollten jetzt die Greifswalder Straße hinaus. „Du hast meine Nachricht erhalten?“ „Welche Nachricht?“ erkundigte er sich überrascht. „Das Tonbandprotokoll.“ „Die Aufzeichnung der Sitzung mit Wolfhardt und General Kramm meinst du.“ „Richtig.“ „Es war also getürkt. Dachte ich mir fast.“ „Es war echt“, erklärte Lara. „Das Gespräch hat wirklich stattgefunden. Nur wäre es eurem Agenten Taube niemals möglich gewesen, es mitzuschneiden. Ich spielte es ihm zu.“ „Du kennst Taube?“ „Sie kennen euer gesamtes Netz und haben es unter Kon trolle.“ „Mein Gott!“ stöhnte Urban. „Laß uns nicht jammern, Bob. Wir haben nur noch wenige 115
Minuten Zeit. Es gilt Entschlüsse zu fassen. Du bist in großer Gefahr, ich aber bin in höchster Gefahr.“ „Was hat man entdeckt?“ Sie überholte eine Vopo-Limousine. „Alles, fürchte ich.“ „Daß Pickford nur mitkam, um im richtigen Augenblick ak tiv werden zu können?“ „Man hat ihm die Flügel gebrochen, und uns wird man sie auch stutzen.“ Urban schaute sich um. Noch keine erkennbaren Verfolger. „Mein Wagen parkt an der alten Börse. Laß uns handeln, La ra. Der Citroen hat ein Versteck. Ich habe aber auch Papiere für einen weiblichen Begleiter. Das schaffen wir. In einer Stunde bist du im Westen.“ „Und Pickford?“ Urban überlegte. „Pickford behauptet eben, man hätte ihn entführt. Man wird ihn eines Tages zurückschicken.“ „Und Blau-Rot?“ fragte sie weiter. Das überraschte ihn. „Du weißt, wer er ist?“ „Als einzige, wie ich hoffe. Andernfalls wäre er ein toter Mann.“ „Wie soll das funktionieren, wenn sie dich jetzt schon ja gen?“ „Ich gehe nicht ohne ihn“, entschied Lara. „Ein Top-Funktionär“, bemerkte er und hoffte, daß sie end lich damit herausrückte, um welchen prominenten Genossen es sich bei dem Spitzenobjekt handelte. Sie tat es auch, aber anders, als er erwartete. „Er ist mein Vater.“ 116
Der Schock traf ihn so, daß er ihn beinahe zum Lachen reiz te. „Und das weißt nur du allein?“ „Und meine Mutter. Sie ist tot. Ich wurde im Jahre vierund fünfzig in Kiew geboren. Mein Vater lebte damals, in Moskau. Niemand wußte etwas von seiner Verbindung zu meiner Mut ter. Sie arbeitete an der Universität. Er war im Kreml der zu ständige Verbindungsmann zwischen der Regierung in Moskau und der in Ostberlin.“ „Der Befehlsübermittler.“ Lara war rechts herangefahren, hatte den Gang herausge nommen und sank erschöpft über das Lenkrad. Ihre Stimme klang heiser. „Irgendwie muß man herausgefunden haben, daß Peter Osten nicht Blau-Rot ist. Was uns bleibt, ist ein halber Tag und viel leicht die Nacht.“ Auf diese Weise mit den Realitäten konfrontiert, wurde Ur ban wieder kühl und sachlich. „Hast du einen Plan?“ „Nicht für diesen Notfall.“ „Du wohnst“, erwähnte er, „in Nieder-Neuendorf am See.“ „Vergiß die Mauer nicht. Zwischen Garten und Ufer verläuft die Mauer. Beton und Stacheldraht.“ „Die Zonengrenze ist aber in Havelmitte.“ „Sie wird Tag und Nacht überwacht. Außerdem haben sie jetzt Unterwasserhindernisse einzementiert.“ „Ein Hubschrauber“, schlug er vor. „Heiligensee liegt auf der anderen Havelseite, keine elfhundert Meter entfernt. Ein Sprung nur.“ „Sie werden den Helikopter mit dem Scheinwerfer erfassen und rigoros abschießen.“ „Es gibt gepanzerte mit Raketen.“ „Willst du einen Krieg provozieren? Außerdem kann wegen 117
der Bäume drüben kein Hubschrauber landen. Die nächste Möglichkeit ist zweihundert Meter entfernt. Aber wie sollen wir bis dahin kommen?“ „Wie wär’s mit einem Boot?“ „Unsere eigenen sind schon im Winterlager. Und vergiß die Unterwasserzäune nicht.“ Urban entwickelte die nächste Idee. „Mit einem Dienstwagen, ganz offiziell.“ „Gestern“, meinte sie, „wäre es vielleicht noch möglich gewesen. Mein Vater hat zulange gewartet. Er wollte wohl das eine oder andere noch durchsetzen. Zu spät dafür.“ Urban dachte konzentriert nach. „Wie weit reichen die Sperren herauf?“ „Bis dreißig oder fünfzig Zentimeter unter die Wasserli nie.“ „Mit einem Schlauchboot muß es gehen.“ „Das würde aufgeschlitzt werden.“ „Es gibt welche mit Aluschildern unten.“ „Den Motor hört man von weitem.“ „Elektroantriebe sind lautlos“, entgegnete er. „Aber viel zu langsam. Die Vopos an der Grenze verfügen über Schnellboote.“ „Mit einem Schleichmotor muß man hinein und mit einem starken Heckborder wieder heraus. Den können sie ruhig hö ren. Irgendwie wird man ja immer entdeckt.“ „Vier Personen“, zählte Lara auf. „Der Major, mein Vater, du, ich und die Archivkoffer.“ „Ich werde sehen, was sich machen läßt“, versprach Urban. „Es muß heute nacht sein.“ „Wie kommt ihr über die Mauer?“ „Gar nicht“, sagte sie. „Aber vor dem Bau der Ringkanalisa tion liefen die Abwässer vom Haus in den See. Der alte Ab flußkanal existiert noch. Er mündet außerhalb der Mauer, etwa 118
zwanzig Meter nördlich der Bucht mit den überhängenden Büschen, in den See.“ „Dort warte ich. Ab Mitternacht“, schlug er vor. „Besser ab 01 Uhr. – Du wartest eine Stunde.“ „Und wenn ihr nicht kommt?“ „Dann“, antwortete Lara, „sind wir enttarnt oder schon tot.“ Als er ausstieg, sah er, daß sie Tränen in den Augen hatte. Er berührte wie zum Trost ihre Schulter. Rasch entfernte er sich von dem BMW. Um 16 Uhr 30 war er wieder im amerikanischen Sektor. Nun lief ein Programm an, versehen mit einer Dringlichkeitsstufe, die alles andere in Europa zweitrangig werden ließ. 15. Auf einem Grundstück an der Hennigsdorf er Straße in Berlin Heiligensee, das dem Haus der DDR-Agentin schräg gegen über lag, wurden bis zum Eintritt der Dunkelheit die Vorberei tungen abgeschlossen. Das amerikanische Pionierschlauch boot lag aufgeblasen im Gras. Der Wildwasserschutzschild war montiert. Ein Captain erläuterte Urban die Einzelheiten. „Den Elektroaußenborder besorgten wir von einem Boots verleiher am Wannsee. Er dreht lautlos und wird von zwei Vierundzwanzig-Volt-Lkw-Batterien gespeist. Wir haben die Akkus nachgeladen und hintereinandergeschaltet. Erreichbare Geschwindigkeit etwa vier Knoten.“ „Zum Anschleichen genügt es.“ „Es ist nicht sehr schnell, das bedauern wir.“ „Kritisch werden die letzten siebenhundert Meter.“ Urban rechnete: „Die schafft er in neun bis elf Minuten.“ „Nun zum Hauptantrieb. – Ein Mercury Heckborder. Kurz schaft. Hundertzehn PS. Was Stärkeres war nicht zu kriegen und hätte das Boot wohl auch überlastet.“ 119
„Was bringt er?“ „Viel Lärm und locker dreißig Knoten.“ „Wie schnell sind die Vopos in ihren Turbobooten?“ „Bis zu vierzig Knoten. Mit Anlauf.“ Urban schaute sich das Vehikel an. Die Wülste waren schwarz, innen hatte man es mit Alumini umrippen versteift. Hinter die konnte man sich ducken. MPiKugeln hielten sie ab. Mehr nicht. Ein Amerikaner stand pausenlos am Fernrohr. „Sie beobachten das Ufer“, meldete er. „Seit Stunden schon. Laßt das Boot hinter dem Haus, bis es völlig dunkel ist.“ Erst um 23 Uhr 45 zogen sie das Boot ins Wasser. Urban machte mit beiden Motoren kurze Probeläufe. Dann saßen sie herum, tranken Kaffee, und rauchten. „Am besten“, riet ihm der amerikanische Experte, „du wirfst Batterien und Elektroantrieb über Bord, sobald du drüben bist. Alles nur Ballast.“ „Falls es zu einer Schießerei kommt“, ergänzte Urban, „und sie die Batterien treffen, kommt es leicht zu Kurzschlüssen.“ „Oder zu einer Riesensauerei mit der Säure. Ihr liegt ja alle flach am Boden.“ Zur Sicherheit packten sie die Batterien noch in Plastikfoli en. Dann hofften sie, daß die Wolken den Mond verhüllen würden. Um 0 Uhr 35 rauchte Urban die letzte MC. Die Fahrt ins Ungewisse begann. Die Nacht war von mittlerer Schwärze. Der Wind blies konstant aus Nordwest. Er machte das Was ser streifig. Die Wellen mochten etwa einen halben Meter hoch gehen. Günstige Bedingungen für Schlauchboote. Geduckt hinter dem Wulst, näherte sich Urban der mit Bo jen markierten Zonengrenze. Er hatte das Wachboot abgewar 120
tet und schlich hinter ihm hinüber. Das Schlauchboot gab so gut wie keine Kontur ab. Hin und wieder tasteten Scheinwerfer die Seegrenze ab und wischten mit weißen Fingern auch über die Betonmauer und den Stacheldraht. Sechs Minuten vor der vereinbarten Zeit sah Urban den schmalen Schilfgürtel. Er fuhr daran entlang, entdeckte die kleine Bucht, die Büsche und oben auf dem Hügel das Haus mit den beleuchteten Fenstern. Er stellte den Motor ab. Das Schlauchboot trieb noch ein Stück. Hand über Hand zog er sich an den Weiden entlang ans Ufer heran. Die Mauer war etwa drei Meter hoch, trug oben Sta cheldraht, und vor der Mauer gab es Stacheldrahtrollen. Alles auf den Geruchssinn konzentriert, versuchte Urban, den alten Kanal zu finden. Solche Abflußröhren stanken noch nach Jahren. Selbst wenn sie nicht mehr benutzt wurden. Er passierte die Stelle zweimal, ehe er das massive Gitter ertastete. Es wurde von schweren Haken gehalten, lag aber lose auf. Er hob es ab und machte das Schlauchboot am Gitter fest. Immer wieder legte er Lauschpausen ein. Zu hören war wenig. Ab und zu die Schritte eines Postens und das Hecheln eines Hundes hinter der Mauer. – Und in unregelmäßigen Abständen immer wieder Scheinwerferlicht. Einmal von den Wachtürmen in Nieder-Neuendorf, dann wie der vom See her. Es ging auf 01 Uhr 15. Urban war noch nicht beunruhigt. Sie hatten noch sechs Stunden bis zur Dämmerung.
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Vierzig Minuten später war Urban stark beunruhigt. 02 Uhr. Wenn wir es in einer Stunde nicht schaffen, hatte Lara gesagt, dann sieht es schlecht aus. Das ovale Betonrohr war nur hundertzwanzig Zentimeter hoch, aber trocken. Es gab wohl nicht einmal Ratten. Urbans Lampe erfaßte innen, nach vierzehn Metern etwa, ein zweites Gitter. Zum Glück war es weder verschlossen noch angekettet. Es ließ sich drehen wie eine Tür. Nach einer sanften Rechtskurve nach Norden sah er schon den Kontrollschacht, die Steigeisen darin und oben den gußei sernen Deckel. Er stieg hinauf. Jetzt mußte er sich unterhalb der alten Villa befinden. Urban legte das Ohr an. – Nichts zu hören. Er zog den Kopf ein und stemmte sich mit dem Rücken ge gen die geriffelte Eisenplatte. Erst rührte sie sich nicht, dann gab sie knirschend nach. Dreck rieselte in seinen Nacken. Aber er sah Licht schim mern, hörte Stimmen und bekam Zugluft in die Nase. Es dufte te nach Kaffee und Zigaretten. Ohne Hast wartete er, vergrößerte dann die Deckelfuge, hob den Deckel senkrecht und stand im Keller der alten Feudalvi l la. Nur große Häuser hatten eine eigene Kanalisation von solchen Abmessungen. Nebenan lag die Koksheizung. Sie war noch nicht in Betrieb. Aber sie hatten Berge von Kohle eingekellert. Auch Kartoffeln. Wie damals bei uns vor Christus, dachte er. Mit den Schultern an der Wand, im Sidestep, schob er sich näher an die Geräuschquelle heran. Vorsichtig spähte er um die Ecke. In einem weißgekalkten Raum, der wohl zum Wäschetrock nen diente, hockten auf alten Autosesseln um einen noch älte 122
ren Bürotisch herum, vier Männer. Zwei Vopos, die Maschi nenpistolen griffbereit, und zwei Zivilisten. Junge arrogante Gesichter. Vermutlich Stasi- oder NVA-Leute. Sie spielten Karten und tranken aus einer Weißglasflasche klare Flüssigkeit. Wodka, schätzte Urban, oder einen Obstbrandy. Was ihn erschreckte war das, was er in der Ecke sah. Dort stand ein ordinärer Stuhl mit Lehne, und darauf saß ein Mann. Nicht, daß er Major Steven Pickford besonders schätzte, aber es war zweifellos der Amerikaner. Sie hatten ihn wie einen Tobsüchtigen an Händen und Füßen und dann noch mit dem ganzen Körper an den Stuhl gefesselt. Urban befürchtete, daß Laras Zeitplan ziemlich durcheinan der gekommen war. Die Frage, ob er sich zurückziehen sollte, um seine Haut zu retten, tat sich auf. Er allein konnte hier nichts mehr ausrichten. Im Begriff zu gehen, hörte er eine Tür schlagen und Schritte auf der Kellertreppe. Er ging in Deckung. Es war Lara. Immerhin durfte sie sich noch frei bewegen. Sie mußte an ihm vorbei. Als sie in Griffweite war, packte er sie und preßte Ihr, um einen Schrei zu verhindern, den Mund zu. „Ruhig, ich bin’s, Schätzchen.“ Langsam gab er ihre Lippen frei. In ihren Augen stand Resi gnation. „Alles aus!“ flüsterte sie. Urban zog sie nach hinten in den Heizungskeller. „Was ist passiert?“ „Pickford hatte hier Bewegungsfreiheit. Sie nahmen sie ihm und setzten ihn fest. Und ich habe ab neunzehn Uhr Hausarrest. Das besagt doch alles.“ 123
„Und dein Vater?“ „Ist noch nicht hier.“ „Wann wollte er kommen?“ „Bis Mitternacht. Spätestens.“ „Gibt es Waffen im Haus?“ „Eine siebenfünfundsechziger Makarow.“ „Gar nichts wäre fast besser.“ „Wir sind am Ende, Bob. Begreife das!“ Da zog er sie an sich und flüsterte: „Ich kann dich wegbringen. Immer noch.“ „Aber ich gehe nicht ohne meinen Vater und ohne Pick ford.“ „Warum, zum Teufel, ließ sich Pickford nur auf dieses Spiel ein?“ „Ich brauchte einen Erfolg und den Beweis dafür“, erklärte sie. „Man muß immer etwas vorzeigen können.“ Er war selbst Profi genug, um das zu begreifen. „Ja leider. Aber jetzt sitzen wir tief drin. Warum kam diese verfluchte Vase nicht in New York an?“ „Alte Gefährten meines Vaters in Meißen, wo er herstammt, bemerkten, daß sie beobachtet wurden. Also schickten sie die Vase nach Venedig. In der Hoffnung, das würde die Verfolger ablenken und die Aktion bestenfalls ein wenig verzögern.“ „Damit kam ich mit der Sache in Verbindung.“ Urban schüt telte den Kopf. „Der schwärzeste Tag meines Lebens.“ Dann faßte er einen Entschluß. „Ein Unbewaffneter gegen vier Bewaffnete“, rechnete er, „keine Chance. Entweder du kommst mit, oder ich haue ab.“ „Wenn sie dich kriegen“, sagte Lara, „dann schneiden sie dich in Scheiben wie Vollkornbrot.“ „Es gab schon extra ausgebildete Einheiten, die nichts ande res zu tun hatten, als mich zu killen.“ 124
„Dann geh!“ entschied sie. Urban ging. Und prallte mit einem Uniformierten zusam men. Der Mann stand genau dort, wo Urban hinmußte. Er hatte eine schußbereite Maschinenpistole in den Fäusten. Blitzschnell holte Urban aus und säbelte ihn mit der Hand kante um. Aber hinter dem Vopo stand ein anderer und zwei auf beiden Seiten von ihm. Grelles Licht blendete ihn. „Nimm die Hände hoch, Oberst!“ rief einer. Sie hatten ihn wohl erwartet. Das Telefon schrillte. Ein Stasi-Agent nahm den Anruf ab. Danach gab er den anderen einen Wink. „Bringt sie rauf in die Halle. Er kommt.“ Sie schnitten Pickford los. Oben in der weiträumigen Wohnhalle mit Holztäfelung und riesigem Kamin stieß man sie in die ledernen Polstermöbel. Den Amerikaner in den Sessel, Urban und Lara auf das Club sofa. Der Raum wirkte wie ein GPU-Hauptquartier. Das Bild Stalins über dem Kamin hatte man wohl vergessen auszuwechseln. Die Stasi-Leute standen stumm und erwartungsvoll da. Die Uhr schlug dreimal. 02 Uhr 45. „Wie die Zeit vergeht“, sagte Urban. „Du hältst die Schnauze, verstanden!“ zischte einer. Urban zeigte mit einer Handbewegung „klar“. Hauptsache, sie wußten nicht, was er dachte. Er dachte an Flucht, auch wenn es aussichtslos schien. Er überlegte, ob es möglich sei, einem der Vopos die MPi zu entreißen, herumzuballern, daß es spritzte und dann… 125
Motorgeräusche kamen näher. Draußen fuhren Wagen vor. Sie wurden scharf gebremst. Die Hunde bellten. Türen gingen auf und knallten zu. Schritte auf den Solnhofner Platten im Foyer, Stimmen, Befehle. Einer riß die Türflügel zur Kaminhalle auf. Erst war niemand in der offenen Tür. Dann stand ein Mann da, wie aus einer Schwefelwolke geboren. Der Satan in Per son. Der Satan trug einen dunkelblauen Maßanzug. Das gepflegte graue Leninbärtchen und die Goldrandbrille täuschten nicht darüber hinweg, daß er der gefährlichste Mann der DDR war. Genosse Minister Professor Dr. Serge Wolfhardt. Stellvertre tender Staatsratsvorsitzender. Politbüromitglied. Der Großin quisitor Moskaus und Generalankläger. „Meine Herrschaften“, begann er jovial wie ein guter Land pfarrer. „Hier ist ja ein wirklich feiner Haufen versammelt.“ Ausgiebig musterte er die in der Halle Anwesenden. Als wolle er sie zählen und sich ihre Gesichter einprägen. Offenbar waren es zu viele und er vermißte eine gewisse In timität. Er hob die Rechte und schnippte mit den Fingern. Ein Offizier im Hauptmannsrang, sein Sekretär oder sein Adjutant, erschien. „Alles raus!“ befahl Wolfhardt. „Alles raus!“ wiederholte der Hauptmann. „Ich führe das Verhör.“ „Der Minister führt das Verhör persönlich.“ „Keine Störungen, Hauptmann.“ „Keine Störungen“, gab der Adjutant weiter. „Wer schreibt Protokoll?“ „Sie, Hauptmann!“ entschied Wolfhardt. Der NVA-Offizier besorgte sich Notizblock und Bleistift. Die Stasi-Agenten und die NVA-Soldaten verließen die Halle. „Tür zu!“ bellte Wolfhardt in gewohnter Schärfe. 126
„Tür ist zu“, bestätigte der Hauptmann. Wolfhardt überzeugte sich davon und sperrte sie eigenhän dig ab. Wie Ankläger, Richter und Henker in einer Person ging er nun auf Lara und Urban zu. „Was für ein Pärchen von miesen Individuen“, rief er. „Hauptmann, kommen Sie doch mal her.“ Der Hauptmann trat heran. „Wer ist dieser Bursche, Hauptmann.“ „Ein Feindagent, Genosse Minister.“ „Schätze, der Name ist in seine Rolex eingraviert. Nehmen Sie ihm die Uhr ab, Hauptmann!“ Der Offizier bückte sich, um Urbans Handgelenk zu packen. In diesem Moment sprang Urban auf und schlug die Hand kante in das Genick des Offiziers. Mit leisem Gurgeln ging er zu Boden. Urban blickte Wolfhardt an. „In Ordnung so, Genosse Minister?“ „In Ordnung“, sagte Wolfhardt. Lara sprang ebenfalls auf und umarmte Wolfhardt. „Vater, wo warst du so lange?“ Trotz seiner Vorahnungen fiel Urban schlichtweg aus allen Wolken. Er ordnete die neuesten Erkenntnisse noch mühsam ein, als Wolfhardt erklärte: „Es dauerte einige Zeit, um die Genossen im Politbüro und Zentralkomitee auf eine falsche Fährte zu setzen.“ Das sagte der Mann, der als einziger Blau-Rot sein konnte. Nun wandte er sich an Urban und den Amerikaner: „Worauf warten wir, Gentlemen?“ Aber Urban war schon an der hinteren Tür, riß sie auf und überwältigte mit Pickfords Hilfe den Posten dort. 127
„Kommen Sie, Professor!“ „Wir haben wirklich nur wenige Minuten Zeit.“ „Und dein Archiv?“ fragte Lara bestürzt. Der Minister legte die Rechte auf sein Jackett, dorthin, wo man gewöhnlich die Brieftasche hatte. „Alles auf Mikrofilm. Daß ich das selbst machte, könnte möglicherweise den Verdacht auf mich gelenkt haben. Aber das ist jetzt zweitrangig, schätze ich.“ Sie verließen die Halle in Richtung Keller und stiegen in die Kanalisation ein. Der Fluchtweg, zwar nur siebenhundert Meter lang, war ein Spießrutenlauf im Licht tagheller Scheinwerfer. Die Ruten schläge bestanden aus Maschinengewehrsalven. Der 110-PS-Mercury ließ das Boot springen, daß die Gischt spritzte. Urban bewegte das Schlauchboot in waghalsigen Kurven nach Osten, um kein festes Ziel zu bieten. Lara und der Amerikaner feuerten mit den im Boot liegen den Waffen, der FN und dem automatischen Karabiner. Lara zerschoß einen der Scheinwerfer. Pickford zwang ein zweites Wachboot durch gezielte Handgranatenwürfe zum Abdrehen. So rasten sie auf die Zonengrenze zu. Geduckt hinter die Wülste, die im wesentlichen aber nur aus Gummi und Luft bestanden. Urban drehte den Gasgriff des Mercury bis zum Anschlag, behielt Kurs nach Heiligensee, aber drei Minuten waren eine Ewigkeit. Neben ihm am Boden kauerte der Professor. Immer wieder hob er den Kopf. „Wir schaffen es“, schrie er. Obwohl die Kugeln gefährlich nahe vorbeipfiffen. „Wir schaffen es!“ 128
Was ist damit erreicht, dachte Urban. Einer kommt raus und bringt ein paar Klatschgeschichten der Nomenklatura von Moskau und Berlin mit herüber. – Da sie alle betroffen sind, erteilen sie sich gegenseitig Absolution. Und alles bleibt wie bisher, nämlich am toten Punkt auf der toten Linie. Gar nichts bewegt sich. Im Grunde war das Ganze nichts als das private Spiel Wolf hardts. Im Osten konnte er kaum etwas Wesentliches korrigie ren, denn Deutschlands Teilung war Bedingung für die Te ilung Europas, ja der Zweiteilung der Macht in der Welt. – Und im Westen würde man Wolfhardt nur als exotisches Tier betrachten. Ein drittes Boot kam mit hoher Fahrt auf sie zu. Am Bug stand ein Mann und feuerte das Magazin seiner MPi leer. Lara zielte und traf mit dem zweiten Karabinerschuß. Der Mann kippte über die Reling. Das Boot drehte bei, um ihn aufzufischen. Was Urban auch unternahm, sie blieben im Schnittpunkt von zwei Scheinwerfern. Die Wachboote schossen jetzt Gasgrana ten. „Noch hundert Meter“, schrie Pickford, ehe ihn eine MPiKugel in die Schulter traf. Er blutete, feuerte aber weiter. Als er die FN nicht mehr hal ten konnte, nahm Urban die Waffe und betätigte den Abzug. Ein Schnellbootbug visierte sie an und versuchte, sie in letz ter Minute zu überlaufen. Urban riß den Motor nach steuerbord, auch auf die Gefahr hin, daß er ein Stück in die Zone hineingeriet. Doch wenig später preschte er mit Füll Speed über die Demarkationslinie. Mit schrillem Kreischen kratzte ein stählerner Zahn der Un terwassersperre am Bodenschild. Aber sie waren drüben, ehe Havelwasser durch die Schlitze hereinströmte. 129
Die Vopos schossen noch eine Weile hinter ihnen her. End lich blendeten die schweren US-Scheinwerfer auf und trieben sie zurück in ihre Dunkelheit. Sie waren im Westen. – Doch Urban befürchtete, daß wenig gewonnen sein dürfte. Aber die Zeiten änderten sich. Wenn man vorwärtskam, dann eben nur millimeterweise. Sie verban den Pickford. Dann hockten sie da und warteten, und Urban ließ die Reiseflasche kreisen. Jeder nahm einen Schluck. Auch der Professor. „Auf meine verlorene Ministerpension und auf euer Wohl“, prostete er. „Möge sich das Wort bewahrheiten, daß ein einziger Superagent zur rechten Zeit am rechten Ort einen Krieg verhindern, eine Schlacht oder einen Feldzug entscheiden kann.“ „Napoleon“, nannte Urban als Quelle. „Falsch. Es stammt von Marschall Woroschilow“, behaupte te Lara. „Irrtum! Es war General Grant im Sezessionskrieg“, äußerte Captain Pickford. „Außerdem“, erklärte Urban, „war es noch Odysseus, Han nibal, Cäsar, Alexander der Große, Dschingis-Khan und Mark Aurel.“ „Der mit dem Hammer“, spottete Lara. „Ferner war es Gu stav Adolf, Wallenstein, Blücher und Hindenburg.“ „Custer“, ergänzte der Amerikaner, „Steuben, Patton und Eisenhower.“ „Rommel nicht zu vergessen, bitte.“ „Und Sir Montgomery.“ Urban leerte die Flasche, schraubte sie zu und schob sie in die Jackettasche zurück. „Einer allein war es“, sagte er, „aber wenn etwas gut ist, dann will es am Ende jeder gewesen sein.“ ENDE 130