Natalja Baranskaja
Ein Kleid für Frau Puschkin
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SV
Band 756 der Bibliothek Suhrkamp
Natalja Ba...
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Natalja Baranskaja
Ein Kleid für Frau Puschkin
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 756 der Bibliothek Suhrkamp
Natalja Baranskaja Ein Kleid für Frau Puschkin Novelle Aus dem Russischen übersetzt von Wolfgang Kasack
Suhrkamp Verlag
Titel des in der Zeitschrift ›Sibir’‹ 1977, 3 erschienenen Originals: Cvet temnogo medu.
Erste Auflage 1982 © der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1982 Alle Rechte vorbehalten Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Ein Kleid für Frau Puschkin
Meine Frau ist hinreißend, und je länger ich mit ihr zusammen lebe, um so mehr liebe ich dieses liebe, reine und gute Geschöpf … Was hast du, Frauenzimmerchen? Langweilst du dich? Ohne dich ergreift mich die Sehnsucht. … »doch deine Seele liebe ich noch mehr als dein Gesicht« …
Auszüge aus einem Briefentwurf Idalija Poletika
…ge Bitte zu erfüllen ist noch schwerer. Fast waren die Gespräche darüber, was sich mit Puschkin ereignet hatte, verstummt, ein neues, beachtenswertes Ereignis aber gab es noch nicht. Seine Witwe hatte sich mit den Kindern und ihrer Schwester aufs Land begeben, womit sie, wie es hieß, den Willen des Verstorbenen erfüllte. Manche verurteilen sie und erklären, sie sei an dem Duell schuld, andere haben Mitleid mit ihr. Ich gehöre zu den letzteren. Du weißt, wie ich Monsieur geliebt habe, aber auch mit Madame hatte ich ein äußerst gutes Einvernehmen, bis dies in Haß umschlug, übrigens einen wechselseitigen. Sie war doch allzu eingenommen von ihrer Schönheit und begriff nicht, daß die Achtung, die schönen Frauen entgegengebracht wird, nicht so 7
wertvoll ist wie jene Seelenfreude, die weniger schöne, doch im Geistigen reiche Frauen auslösen. Da hatte ich angefangen, mir Gedanken darüber zu machen, ob die Frau Puschkin, die Frau dieses Dichters, in der Tat eine Schönheit ist. Ein hoher Wuchs, ein hübsches gerades Näschen und eine Wespentaille machen noch keine wahre Vollkommenheit aus. Mir ist zu Ohren gekommen, daß jene Ereignisse sie recht häßlich gemacht haben. Sie soll sich in ihrem Schmerz so schrecklich gewunden haben, daß ihr Hinterkopf fast die Füße berührte. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber derartige Exzesse der Gefühlsäußerung lösen bei mir Widerwillen aus, wie überhaupt jede Unbeherrschtheit. Wahrscheinlich hat sich darin auch der Mangel an angeborenem Aristokratismus erwiesen. … Ähnlichkeit der Schwester Thema mancher Gespräche und sogar Streitigkeiten gewesen. Einige waren der Auffassung, daß Alexandrina der Natalja nur im Profil ähnelt und sich en face erheblich unterscheidet, andere fanden, daß sie ihr so ähnlich ist wie eine Karikatur dem Original. Ich habe einmal gesagt: »Die Ähnlichkeit ist so groß, daß man sich nur wundern kann, wie Monsieur Puschkin die beiden nicht verwechselt.« Meine Formulierung galt als Bonmot, viele wie8
derholten sie, und sie durchströmte alle Salons von St. Petersburg. … als wir noch auf gutem Fuße standen, hat sie mir einmal vertraulich eröffnet, sie hätte vor ihrem Mann keinerlei Geheimnisse und würde nichts vor ihm verbergen. »Auch keinen Ehebruch?« hatte ich sie gefragt. Da war sie zutiefst erschrocken, und ich begriff, was für ein einfältiges Wesen sie ist, einfach ein Mädchen aus der Provinz, das zufällig in die höchsten Petersburger Kreise geraten ist. … verneigen sich untertänigst vor jeglicher Schönheit und werden geradezu willenlos, und zwar auch die Frauen, nicht nur die Männer. Eine geheimnisvolle Macht gibt den Schönen erhebliche Vorteile im Leben. Hier ein Beispiel dafür. Zu Beginn des Winters begegnete ich Frau Puschkin einmal bei Madame Sichler. Wir beide hatten dieselbe Absicht: aus Frankreich importierte Stoffe anzuschauen und für unsere Toilette auszuwählen, in der wir uns an den bevorstehenden Festtagen sehenlassen wollten. Die Directrice, Madame Sognier, ließ uns in den Sesseln Platz nehmen und legte uns zunächst Seidenstoffe vor, Stickereien und Spitzen, auf die die Mode anscheinend nie verzichten mag. Doch weil eine Directrice mit zwei Kunden nicht fertig werden kann, 9
rief sie Mademoiselle Paulette zuhilfe, und unversehens befand ich mich in den Händen dieser Angestellten, während sie selbst Frau Puschkin bediente. Auch Madame Sognier hatte der Wespentaille nicht widerstehen können! Vielleicht war es auch der hohe Wuchs, der sie an Frau Puschkin gefesselt hatte, schließlich ist der Stoffverbrauch dabei größer. Und da ereignete sich zwischen uns ein Zwischenfall: Siegerin wurde nicht die Klügere, sondern die Schönere. Ich hatte meine Mademoiselle auf einen Ballen Seide hingewiesen, der die Farbe dunklen Honigs hatte, doch im selben Augenblick wollte auch N. den Atlas miel foncé sehen. Die beiden Modistinnen packten den Ballen gleichzeitig an. Meine, die jünger war, war bereit, der älteren nachzugeben, doch da äußerte ich meine Unzufriedenheit, denn meine Bitte war ja etwas vorher geäußert worden. Die Directrice begann sich zu entschuldigen, ließ indessen die Seide nicht aus der Hand und machte auch keine Anstalten in dieser Richtung. Die meine war zwar etwas ängstlich, hielt aber den Ballen auch weiterhin fest. Madame Pouchkine wurde ein wenig rot, und sie bestätigte recht unwillig, daß ich als erste Interesse an dem Stoff bekundet hatte. Ich erkannte, welches Entzücken dieser Atlas bei ihr auslöste, doch warum sollte ich nachgeben? Wahrscheinlich stellten wir vier ein recht komisches lebendes 10
Bild dar, denn die Französinnen hielten den Stoffballen weiterhin zu zweit fest, etwa wie Karyatiden, wir aber verharrten in ärgerlichem Schweigen und hatten unsere Blicke auf sie geheftet. Offensichtlich können Frauen um ein Kleid genauso heftig kämpfen wie um einen Mann! Ich weiß nicht, wie lange diese Komödie andauerte, aber da kam hinter einer Portiere Madame Sichler persönlich hervorgerauscht und teilte mit vielen Entschuldigungen und Beteuerungen dem erstaunten Publikum – den beiden Modistinnen und beiden Damen – mit, daß dieser Atlas seit langem Madame Pouchkine versprochen sei, denn miel foncé sei ihre höchstpersönliche Farbe, während meinen blauen Augen – l’azur du ciel! – mehr die Farbe der Morgenröte oder Perlmuttrosa entspräche. Si charmant! Si magnifique! Dieser unverschämte, in eine Schmeichelei gehüllte Betrug empörte mich, doch durchschaute ich glücklicherweise die Komik der ganzen Szene, bei der N. angesichts des unerwarteten Wandels der Ereignisse höchst unsicher geworden war und überaus töricht aussah. So verzichtete ich auf die »dunkelhonigfarbene« Seide und überließ sie meiner Nebenbuhlerin. Indessen, ihre Farbe hat ihr kein Glück gebracht. Ich habe sie in diesem Kleid am Sylvesterabend vor jenem Schicksalsjahr gesehen, es dürfte wohl das letzte Mal gewesen sein, daß sie es getragen 11
hat. Ich muß zugeben, das Kleid stand ihr hervorragend, aber ihr Gesicht wirkte etwas blasser als sonst und ihre Taille noch schmaler. Ich begreife nicht, daß eine Frau, die wie ein Weib aus dem einfachen Volke jedes Jahr ein Kind in die Welt setzt, eine so schmale Taille haben kann. …en Monat, wir aber haben die Menschen fast vergessen, die vor kurzem noch in jeder Gesellschaft im Zentrum des hitzigsten Interesses gewesen waren. Die bevorstehende Butterwoche – Rodeln, Troikaschlitten, Maskenfeste, Plinsenessen – fesseln unser Denken gegenwärtig erheblich mehr. Liegt darin nicht der Reiz des Lebens, sich jedem Tag hinzugeben, ohne sich mit Erinnerungen zu belasten? Sollte ich mir nicht für die Butterwoche ein miel foncé Kleid nähen lassen, oder hat das jetzt seinen Reiz verloren?
Das Morgengebet Natalja Nikolajewna
Sie betete, kniete dabei mitten im Zimmer und blickte durch das Fenster auf die Kreuze der nahegelegenen Kirche. »Himmelskönigin, du meine Hoffnung, Gottesmutter, Zuflucht der Waisen, der Schwachen und Leidenden! Lenke deinen Blick auf mein Unglück, meinen Schmerz, erhöre mich. Tröste meine Trauer, stille meinen Schmerz …« Als sie das Gebet beendet hatte, fügte sie ihre eigenen, besonderen Worte hinzu: »Und erbarme dich meiner kleinen Kinder, der Waisen, schütze sie …« Natalja Nikolajewnas Lippen zitterten, sie bedeckte das Gesicht mit ihren Händen, und durch die schmalen Finger flossen, tropften sofort die Tränen. Ihr zarter Körper beugte sich nieder wie ein welker Stengel. Jeden Augenblick konnte sie umfallen. Das war ja schon vorgekommen. Oder sie konnte laut aufschluchzen und nach ihrem Mann rufen: »Puschkin, Puschkin!«, konnte bitten, er möge kommen, sie zu trösten, oder konnte ihm Vorwürfe machen, warum er so gehandelt habe, warum er keine Rücksicht auf seine Kinder genommen habe. Aber da klapperte die Tür, Alexandrina trat ein, 13
richtete die schluchzende Schwester auf, setzte sie in einen Sessel und hielt ihr ein Riechfläschchen unter die Nase. »Du betest zuviel, Tascha. Und jedesmal die Tränen … Du richtest dich mit deinem Jammer zugrunde, wie dünn du geworden bist. Du ißt ja auch gar nichts, das geht doch nicht. Versuche dich abzulenken. Warst du noch nicht bei den Kindern? Die Amme hat ausrichten lassen, daß Taschenka heute nacht unruhig geschlafen hat. Geh gleich zu ihnen, und nachher machen wir im Park einen Spaziergang. Wenn du willst, lasse ich den Wagen anspannen, dann nehmen wir Mascha und Sascha und zeigen ihnen den Park. Es ist warm, richtiger Frühling.« Natalja Nikolajewna wußte, daß Frühling war. Der alte Park, den sie seit ihrer Kindheit kannte, wurde von Tag zu Tag lebendiger. Durch die herabgefallenen trockenen Zweige drangen die jungen Grasspitzen, die Weiden am Teich blühten in ihrem gelblichen Flaum, die Birken warfen ihre braunen Ringe ab, die Zweige der Bäume schimmerten zart in ihrem ersten hellen Grün. Nur die Linden und Eichen hatten ihre prallen Knospen noch nicht entfaltet. Der Park, der vor kurzem noch wie eine Kaltnadelradierung ausgesehen hatte, verwandelte sich vor ihren Augen in ein zartes Aquarellbild. In den Büschen und auf den Bäumen zwitscher14
ten, sangen und jubilierten die Vögel. Alles freute sich – strömte, drängte, klang und lärmte – wollte nichts als leben. Aber gerade das ließ die Seele jammern und schmerzen. Zwei Monate waren es nun, daß sie auf dem Gontscharowschen Gut, der »Tuchfabrik«, lebte. Als sie am neunten Tage nach Puschkins Tod die Panichide – die Seelenmesse – gehalten hatte, hatten sie angefangen zu packen und waren nach zehn Tagen aufgebrochen. Das Haus in St. Petersburg war schnell auf den Kopf gestellt, so wie ein Biwak im Felde. Sie waren aus der Hauptstadt geflohen, die ihr vor kurzem noch zu Füßen gelegen hatte, jetzt aber so feindlich gesonnen war. Die Witwe, die vier kleinen Kinder im Jahresabstand, die Schwester Alexandrina, bei den Kindern die Ammen und Kindermädchen, das Dienstpersonal, ohne das weder Aufbruch noch Reise denkbar war – ein Schlittenzug mit schnellen Pferden und hinterher noch das langsame Gepäck mit den weniger wertvollen Dingen, die man nicht sofort brauchte – Möbeln, Büchern und Geschirr. Puschkin hatte ihr vor seinem Tode gesagt, sie solle aufs Gut fahren und dort zwei Jahre leben. In der Erfüllung des Willens ihres Mannes gehörte Natalja Nikolajewna gleichsam noch ihm, irgendwie war es so, als lenke er noch aus dem 15
Jenseits ihr Leben. Sie hatte sich immer an ihn geschmiegt, wenn sie ein Schrecken überkommen hatte. Jetzt mußte sie alles Schreckliche allein durchstehen. Wie – das wußte sie nicht. Natalja Nikolajewna wischte sich die Tränen ab, legte einen Schal über den schwarzen Mantel und ging hinüber zu den Kinderzimmern, Alexandrina in ihre Gemächer. Im Nachbarzimmer stoppte Alexandra Nikolajewna ein hindurchlaufendes kleines Mädchen mit einem kümmerlichen blonden Zopf, der auf seinem Rücken baumelte, und lobte es. Es hatte gut darauf aufgepaßt, was Natalja Nikolajewna tat, und war rechtzeitig zu Alexandra Nikolajewna gelaufen, um sie zu rufen.
Ein Gespräch in der Ecke Fiska und Fomka
Dieses Mädchen, Fiska, hatte man ins Haus geholt, damit sie der jungen Frau, die aus Petersburg gekommen war, der Natalja Nikolajewna, zu Diensten stände. Der Chef der Tuchfabrik hatte der alten Amme Pachomowna die Weisung gegeben, ein flinkes Mädchen zu finden, ein reinliches, nicht verwöhntes. Die Pachomowna hatte ihre Urenkelin, die zehnjährige Fiska, ausgesucht. Sie hatte sie zurechtgemacht und gekämmt, mit Seife und Lauge gewaschen, hatte ihr ein Leinenhemd und einen neu mit Indigo eingefärbten Sarafan angezogen. Die Pachomowna hatte Fiska gesagt, sie müsse beim Laufen aufpassen, daß sie niemanden umrennt, nicht zu laut mit den Füßen stapfen, leise sprechen, keinerlei Schimpfworte verwenden, im Hause nicht ausspucken und stets die Herrschaften höflich grüßen. Was sie im einzelnen zu tun habe, das hatte Alexandra Nikolajewna ihr eingeschärft, dann hatte es die Pachomowna noch einmal wiederholt. Als erstes war sie der Herrin zugeordnet, um aufzupassen: Wenn sie anfinge laut zu weinen oder, bewahre Gott, zu Boden stürze oder – der heilige Nikolaus möge es verhindern – anfinge, um sich zu schlagen – dann solle sie sofort zu Alexandra 17
Nikolajewna laufen, und zwar auch nachts, da solle sie sie in jedem Falle wecken und holen. Zweitens solle sie sich zur Verfügung halten, etwas herbeizubringen oder jemanden zu rufen oder etwas zu erfragen. Außerdem solle sie dem Zimmermädchen helfen, wenn dieses es wünsche. Von den Gemächern der Herrin dürfe sie sich nicht weit entfernen, und schlafen müsse sie neben dem Schlafzimmer auf einer Filzmatte. Fiska tat die Herrin in ihrem Kummer leid. Sie war von einer nie gesehenen Schönheit, wie ein Engel, es wurde dem Mädchen ganz warm ums Herz, wenn es diese Frau ansah. Der Fomka lebte bei der Herrschaft schon im vierten Jahr als Bursche: Bote, Kellner, Lakai. Er hatte den Herrn, den Alexander Sergejewitsch, kennengelernt. Vor drei Jahren war die Herrschaft im Sommer auf das Gontscharowsche Gut gekommen. Der Herr und die Herrin hatten mit zwei Kindern für sich gelebt, im roten Haus. Fomka hatte der Herr sehr gefallen – er war so natürlich, hatte verständlich geredet und fröhlich gelacht. Fomka hatte erfahren: Der Herr macht Verse und schreibt auf Papier. Fomka konnte sich diese Verse nur fröhlich vorstellen – wie einen Tanz. Einmal war Fomka gekommen, um den Herrn zum Essen zu rufen. Da hatte er gesehen, wie Alexander Sergejewitsch auf dem Billardtisch lag, auf dem grünen Tuch, wie er dort auf dem Bauch 18
lag und auf Papierblätter schrieb. Er schrieb nicht mit einer Feder, sondern mit dem Fingernagel. Dafür hatte er den Nagel ganz lang wachsen lassen! Die Beine hatte er in die Luft gehoben, zappelte mit ihnen herum und sang dazu ein Lied. Das war ein fröhliches Lied gewesen, obwohl die Worte nicht zu verstehen waren, aber – ein Lied zum Tanzen, das spürte Fomka. Fiska fragte Fomka mit seiner großen Erfahrung nach diesem und jenem – nach der Herrin, nach dem verstorbenen Herrn, nach der hiesigen Herrschaft. Einmal, in einer dunklen Ecke, da fragte sie ihn auch danach, wovon zu reden die Pachomowna ihr ganz streng untersagt hatte: »Stimmt es, daß unsern Herrn, den Alexander Sergejewitsch, die Franzosen umgebracht haben?« »Doch, ja, das stimmt.« »Im Krieg?« »In was für einem Krieg? Der Krieg ist doch schon lange zu Ende, du Dummerchen. In Petersburg haben sie ihn umgebracht. Ein Franzose hat ihn getötet.« »Einfach so am Tage, vor allen Leuten, mit der Flinte geschossen?« »Warum am Tage? Im Dunkeln. Nachts hat er sich mit dem Franzosen insgeheim getroffen, und dann haben sie losgeknallt, wer wen als erster trifft …« 19
Fiskas Augen wurden rund und groß, der Mund öffnete sich und sie schrie: »Warum denn das??!«
Vor dem Spiegel Alexandrina
Alexandra Nikolajewna tat ihre Schwester leid, aber sie selbst tat sich noch mehr leid. Nun war sie wieder auf dem Lande, auf diesem dreimal verfluchten Gut, ohne jede Hoffnung auf eine Heirat, auf eine passende Partie. Bald würde sie sechsundzwanzig. Mahlzeit, Mademoiselle, Sie sind eine alte Jungfer! Wie es im Volke heißt: Sitzengeblieben. Über ihre Altjüngferlichkeit äußerte sie sich gerne grob und spöttisch. Sie verglich sich mit Lastotschka, ihrem Reitpferd, an das auf ihre Weisung hin kein Hengst herangelassen werden durfte. »Keine Hochzeiten!« hatte sie streng gesagt, als sie nach Petersburg abgereist war. Übrigens hatte sie erfahren, daß man ihr Verbot im Laufe der zwei Jahre vergessen hatte und daß Lastotschka ein Fohlen geworfen hatte. »Na, wenn schon, jetzt ist es schon recht«, hatte Alexandrina lachend geäußert. Jetzt, nachdem sie von ihrer unerträglichen Jungfräulichkeit Abschied genommen hatte. Nur – was hatte sie schon davon gehabt? Im Unterschied zu Lastotschka hatte sie nichts erworben. Sie ließ Anstand Anstand sein, benahm sich aufdringlich und laut, hatte die Hoffnung, so dem Fleisch Ruhe zu geben. Aber das war ein irriger Gedanke des jungen Mädchens – 21
die ersehnte Ruhe kam nicht, nur eine kurzfristige Erstarrung angesichts ihrer Schamlosigkeit. Dieses Abenteuer sollte sie vergessen, den Mann auch. Es war ja auch so schnell vorübergegangen. Wie gewonnen so zerronnen. Alexandrina war ohnehin das Fräulein Gontscharowa geblieben, jetzt das einzige »Fräulein Gontscharowa«. Die unglücklichste der drei Schwestern. Vielleicht war es eine Sünde, jetzt gegen das Schicksal von Natalja aufzurechnen, aber Tascha war verheiratet gewesen, war geliebt worden, hatte Kinder. Ihr Kummer würde vergehen, ihr stand noch Freude bevor. Catherine aber? Die hatte, weiß Gott, das große Los gezogen! Den Liebling der Petersburger Salons hatte sie geheiratet, den Frauenheld, es war sogar eine Liebesheirat – ihrerseits, nicht seinerseits, aber immerhin eine Ehe aus Liebe –, war eine Baronesse geworden und lebte nun in Frankreich. Wer hatte das denken, wer das erwarten können? Am wenigsten von allen die achtundzwanzigjährige Coco selbst. Nur sie allein, die Mademoiselle Alexandrine Gontscharoff, war in den Augen aller eine alte Jungfer. Wieso eigentlich »in den Augen«? Sie war es ja wirklich – eine alte Jungfer. Schuld daran aber hatten die Mama, Natalja Iwanowna, und die jüngste Schwester Natalie. Am meisten die Mama. 22
Als Alexandrina, dem Alter nach die mittlere, siebzehn Jahre alt wurde, war ihre Zeit gekommen, als eine der potentiellen Partien auf gesellschaftlichen Veranstaltungen in Moskau eingeführt zu werden. Die ältere, Catherine, hatte die auf sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt – zwei Jahre kreiste sie von Ball zu Ball, und niemand lag ihr zu Füßen! Alexandra aber hatte die Mutter nicht einmal eine Gelegenheit gegeben, ihre Kräfte zu erproben – sie führte sogleich ihre Jüngste aus. Ach, das war so ungerecht, so töricht. Tascha war noch ein richtiges kleines Mädchen, man hätte auch warten können. Zuerst hätte das Schicksal der älteren Schwestern geregelt werden müssen. Ist das denn nicht die erste Pflicht einer Mutter? Aber Maman war unbesonnen, faul und hartherzig. Sie ging nicht gern von zu Hause weg. Ausflüge und Gesellschaften, die Frauen und vor allem junge Mädchen so bewegen, konnte Natalja Iwanowna nicht ausstehen. »Ich bete gern«, verteidigte sie ihre Bindung an das Haus. Als ob sie nicht wüßten, was sie für Favoriten hatte und wieviel da getrunken wurde! So also gab Maman Alexandrina nicht einmal die Möglichkeit, auch nur einen Tropfen weiblichen Erfolgs zu naschen, und beschloß, auf Bälle gleichzeitig die jüngste Tochter mitzunehmen. Natascha war scheu und schüchtern. Ihre Augen schielten verschreckt wie bei einem Füllen, den 23
Kopf hatte sie leicht geneigt, den Fächer hielt sie bedeutungslos, ein Wort über die Lippen zu bringen, war für sie eine Qual. Sie aber, Alexandra, schritt vom ersten Augenblick an kühn und selbstbewußt über das blankpolierte Parkett. Sie senkte den Blick nicht, beantwortete Fragen ohne zu zögern, verlor den Faden im Gespräch nicht. Ihr war die geheime Sprache der Fächer bekannt, ihr Fächer sprach: »Mein Herz ist frei.« Beim Tanzen waren beide gut, doch Alexandra war in ihren Bewegungen freier, sicherer, ein Kavalier mußte ihren verborgenen Willen erst überwinden. Natalja aber schien immer ein bißchen matt, war beim Tanzen weich und anpassungsbereit. Als Alexandra Nikolajewna in ihren Gedanken noch einmal diese zurückliegenden Vorstellungen durchgegangen war, wunderte sie sich erneut, warum man Natalie permanent aufgefordert hatte, sie aber immer häufiger neben Maman sitzen- oder stehengeblieben war und ihrem vor Wut glühenden Gesicht mit dem Fächer frische Luft zuwedelte. Hinzu kam noch die Knauserigkeit der Mutter, ihr ewiges Rechnen und Zählen, ihre Angst, etwas für Schuhe, Handschuhe oder ein neues Kleid auszugeben. Da gab es noch eine Ungerechtigkeit: Sobald ihr klargeworden war, daß Natalie größeren Erfolg hat, war Maman mit 24
größerem Einsatz um deren Kleidung bemüht. Alexandra erlebte das beschämende Gefühl der Erniedrigung, wenn man einen Saal betritt und glaubt, daß alle in deinem Kleid das geänderte Kleid Catherines mit einer neuen Bordüre erkennen. Alle diese kleinen Änderungen gelangen der Schneiderin Lisa recht gut: »Das Kleid ist wie neu«, pflegte Maman die Arbeit der hausbackenen Näherin zu loben. Doch Alexandrina spürte immer den scharfen Blick der prüfungslüsternen Moskauer Mamaschas. Hatte sie sich damit abfinden können und den Erfolg ihrer Schwester überlassen? Nein. Neid war in ihr aufgekommen. Seitdem war sie immer neidisch. Sie liebte Natascha und beneidete sie. Beneidete sie, obwohl sie sie liebte. Und sie begriff, daß dieses üble Gefühl eine Sünde war, aber sie konnte nichts dagegen tun. Natalie, die zarte Winde, die ohne etwas Stützendes nicht wachsen kann, löste, kaum waren sie in der großen Welt aufgetaucht, grenzenlose Liebe aus. Und bei wem? Bei dem vielgepriesenen Dichter, dem ganz Moskau Hymnen sang. Als Puschkin seinen Heiratsantrag machte, war Natascha völlig durcheinander. Sie war nicht bereit zur Ehe, nicht zur Liebe. Die Gefühle schlummerten noch in ihr. Sie hatte Angst. Alle drei Schwestern empfanden eine Scheu vor Puschkin, 25
vor seinem Ruhm, vor dem Getratsche über sein Leben – den leidenschaftlichen Liebschaften, den Eigenheiten, den Narreteien. Puschkins Gedichte kannten sie nicht, nur jene, die vertont waren und bei Hauskonzerten gesungen wurden – »Des Tages Licht ist nun erloschen«, »Der schwarze Schal«. Sie verschafften sich seine Bücher, seine Verserzählungen und Gedichte. Während sie die Gedichte laut lasen, waren sie zu dritt in ihn verliebt, doch wenn sie ein Buch schlossen, dann erloschen die Gefühle. Unverständlich blieb ihnen, was Natalie von dieser Ehe haben solle, was – zusammen mit ihr – sie beide. Die jungen Mädchen wiederholten, was sie von anderen gehört hatten: »Rußlands Stolz«, »Der Ruhm der russischen Sprache«. Sie überredeten die Schwester einzuwilligen – »Stolz« und »Ruhm« verfehlten bei ihnen nicht ihre Wirkung. Mehr aber noch wollten sie einen Wandel in ihrem Leben – einen Ausweg. Das Haus war unerträglich, bisweilen schrecklich. Die Mutter herrschte despotisch, gab sich insgeheim dem Alkohol und anderen Männern hin, das Personal sprach fast laut davon. Der Vater brüllte gelegentlich wie ein Tier, tobte in seinem Mezzanin, ein schreckliches Donnern und Stampfen deutete den Anfang der »Beruhigung« des armen Kranken an, das Stöhnen und jämmerliche Schreien ließ einen ahnen, wie grob die ihm beigeordneten Diener waren. 26
Herrgott, rette uns, erbarme dich! Müßte man es doch nur nicht hören, nichts davon wissen. Mama hatte ihr Einverständnis zu Puschkins Heiratsantrag nicht gegeben, obwohl es der erste bei den drei Töchtern war. Vielleicht auch gerade darum: Sie fühlte sich von der ganzen Gesellschaft beleidigt und spürte, daß sie sich hier kapriziös zeigen konnte, um sich auf diese Weise gleichsam für die Beleidigung zu rächen. Sie hatte ihre Erwägungen zu Felde geführt. Puschkin sei nicht anerkannt, nicht reich. Ungewiß sei, ob er sich in Gnade oder Ungnade befände. Der Zar habe ihn aus der Verbannung zurückgeholt, doch verstummten die Gerüchte nicht, daß er beschattet werde. Man solle besser auf eine andere Partie warten. Natascha sei eine Schönheit, vielleicht fände sich jemand Interessanteres. Schließlich sei nicht zu vergessen: man habe kein Geld für eine Mitgift, Großvater Afanassi Nikolajewitsch habe das Vermögen durchgebracht, er steuere zum Unterhalt der ganzen Familie lediglich vierzigtausend im Jahr bei, und auch dies nur in Raten, kleckerweise, kein Mensch könne das aushalten. Natascha hatte sich zwischen den Schwestern und der Mutter hin- und hergerissen gefühlt. Sie fügte sich der Mutter – also abwarten. Doch es geschah nichts. Es gab keinen »Interessanteren«. Niemanden gab es. Man tanzte, stöhnte, flirtete, bewun27
derte ihre Schönheit. Aber einen Heiratsantrag machte keiner. Zugegeben, auch ihr gefiel niemand. Insgeheim dachte sie immer häufiger an Puschkin. Der aber war in den Kaukasus abgereist. Dort war es gefährlich, dort war Krieg. Weshalb war er abgereist? Die Schwestern sagten, er suche den Tod. Sie überkam die Angst um ihn. Als er nach einem halben Jahr zurückkehrte, ärgerte sie sich, daß sie ihm auf Bällen nicht begegnete, von ihm über dritte etwas hörte, und als sie einmal erfuhr, er wolle ins Ausland reisen, da weinte sie lange, für immer von ihm Abschied nehmend. Als Puschkin nach einem Jahr seinen Heiratsantrag wiederholte, stimmte Natalie froh zu. Aber als er der Familie Gontscharow seine Besuche als Bräutigam abstattete, überkamen sie Zweifel, ihr schien, sie werde ihn nicht lieben können. Doch Maman war, nachdem sie eine der Töchter unter die Haube gebracht hatte, beruhigt, als seien es alle drei. Alexandra war doch aber auch schön! War? Nein, sie ist auch jetzt schön. Sie gleicht der jüngsten Schwester. Sie ist ihr sehr ähnlich, insbesondere im Profil. Natalie hat eine gerade Nase, sie hat auch keine kleine Nase. Natalie hat einen leichten Silberblick, was ihr einen besonderen Charme gibt. Auch Alexandrines Augen haben einen solchen Anflug des nicht ganz geraden Blicks. Hals, 28
Schultern und Brust sind ähnlich. Der Hals mag ein bißchen kürzer sein. Natalie ist etwas dünner, besonders jetzt, Alexandrina etwas fülliger, sie hält sich fester, sicherer. Alexandra Nikolajewna trat an den Frisiertisch heran, um ihr Äußeres zu überprüfen. Mein Gott, aus dem ovalen Rahmen des Spiegels blickte sie Mamans Gesicht an. Dasselbe Herrische, dieselbe Unnachgiebigkeit, hohe Selbsteinschätzung, derselbe Andere durchdringende Blick und diese verächtliche Unzufriedenheit auf den Lippen. Eine späte Erkenntnis: Mademoiselle, Sie gleichen Madame Gontscharoff! Da streckte Alexandra Nikolajewna plötzlich jener im Spiegel die Zunge heraus: MamanNichtmaman. Genug indessen des Grübelns! Gleich würde sie die Schwester, Maschka und Saschka holen gehen, und alle zusammen würden sich zum Spaziergang im Park aufmachen. Plötzlich überfiel sie Mitleid mit den Kindern, mit der Schwester, der gutmütigen, die ihr unverändert liebend zugetan war. Man mußte ihre traurigen Gedanken, ihren Kummer so gut wie möglich zerstreuen. Als Alexandra Nikolajewna aufgehört hatte, über ihr mißlungenes Leben nachzudenken, wurde ihr Gesicht weicher, zärtlicher, und die Ähnlichkeit mit der Schwester trat deutlicher hervor. 29
In den Kinderzimmern Mascha, Sascha, Grischa und Taschenka
Alexandra Nikolajewna betrat das Zimmer der älteren Kinder, Mascha und Sascha. Natalja war nicht dort. Die Kinder saßen mit dem deutschen Kindermädchen am Tisch und bauten ein Haus aus Bauklötzchen. »Wo ist denn eure Mama?« fragte Alexandrina und berührte gleichzeitig ihre Köpfchen. Das Mädchen richtete sein Gesicht mit den dicken Lippen auf, blickte die Tante an und antwortete mit einer Frage: »Tante Asja, und wo ist unser Papa?« Alexandrina setzte ein strenges Gesicht auf. Mascha, der Ältesten – der fünfte Geburtstag stand unmittelbar bevor – hatte man die Wahrheit gesagt: Gott hatte Papa zu sich in den Himmel geholt, und er sei jetzt dort, wo die Engel leben, wo immer die Sonne scheint und die Blumen blühen. Man hatte dem Mädchen verboten, Fragen nach dem Vater zu stellen, besonders bei der Mutter. Doch jedes Mal, wenn Mascha mit ihrer Tante allein war, stellte sie ein und dieselbe Frage: »Wo ist denn der Papa?« Der Kinderverstand konnte das Geschehene nicht begreifen und nicht akzeptieren, was die Erwachsenen sagten. Wenn Gott Papa in den Himmel 30
geholt hat, warum bleibt er dann dort so lange? Warum kommt er dann nicht zu ihnen herunter und holt sie zu sich nach dort, wo es so schön ist? Mascha überlegte, vielleicht ist er schon auf dem Wege zu ihnen, und Tante Asja wird jetzt sagen, »bald kommt er«. Doch Asja schwieg. Das Kindermädchen machte dem Kind Vorhaltungen und wollte auf diese Weise Mademoiselle Alexandrine zeigen, daß sie das bockige Kind schon mehrfach an das Verbot erinnert hatte. Maschas Augen wurden groß und rund, die Lippen wölbten sich – gleich mußte sie anfangen zu heulen. So wurde sie ihrem Vater noch ähnlicher. »Wir gehen jetzt spazieren«, sagte Alexandra Nikolajewna rasch, »zusammen mit Mama.« »Ich auch, ich auch!« rief Sascha, stieß gegen den Tisch, und das Gebaute fiel zusammen. »Ich auch, ich auch, ja?« Mascha fürchtete, sie würde nun plötzlich bestraft. »Ich habe es doch gesagt: du und Sascha, Mama und ich. Laßt euch eure Mäntelchen und Mützen geben, auch die Lederschuhe.« »Ich will keine Mütze!« fing Mascha an, Theater zu machen. »Es ist so heiß!« Sie schüttelte ihre Locken. Sascha machte dieselbe Kopfbewegung, er ahmte in allem seine Schwester nach. »Mütze – heiß …« 31
Plötzlich zwinkerte er mit den Augen und warf einen listigen Blick auf die Tante: »Asja, ich frage nicht, aber sag mal, wo ist Papa?« Alexandrina schüttelte mit dem Kopf, legte den Finger vor die Lippen und öffnete die Tür zum zweiten Kinderzimmer. Natalja Nikolajewna hielt Taschenka auf dem Arm. Man hatte ihr ein langes weißes Kleid angezogen, während Grischa, das Köpfchen im Nacken, die Mutter am Kleid hielt und, den Fuß im gestreckten Schühchen etwas hochhebend, versuchte, auch zu ihr auf den Arm zu kommen. Die Amme, eine gesunde junge Frau in einem Kopftuch und im Ausgehkleid, richtete ihre schweren Brüste in der noch offenen Bauernbluse. Sie hatte gerade der Herrin gezeigt, daß sie viel Milch hatte und daß das Kind nicht hungrig sein konnte. »Vielleicht hast du gestern abend Sauerkraut gegessen?« fragte Natalja Nikolajewna. »Oder hast sonst etwas getrunken? Saschenkas Amme trank Bier … erinnerst du dich?« »Es ist an der Zeit, Taschenka abzustillen, Matuschka, sie möchte jetzt selbst ihr Süppchen löffeln!« Die Amme spielte mit einem bemalten Holzlöffel vor dem Kind herum. »Suppi – happi?« Das Mädchen langte nach dem Löffel und zwitscherte, als ob sie tatsächlich eine Antwort gäbe, »ja-a-a …« 32
Alle, außer der verstörten Amme, fingen an zu lachen. Grischa lief, als er die Tante erblickte, auf sie zu und hob die Händchen. Alexandrina nahm ihn hoch. »Grischenka, Grischuk. Grischanjuschka«, redete sie den Jungen liebend an und umarmte ihn. »Wann fängst du denn einmal an zu reden?« »Im Mai, da werde ich zwei Jahre alt, da fange ich auch an zu sprechen«, antwortete für ihn die Kinderfrau. »Sie haben ihn so lange an der Brust gelassen, daher fängt er auch später an zu sprechen.« »Wirklich, Natalie, Tascha wird im Mai ein Jahr alt, es ist an der Zeit, sie abzustillen.« »Wie Sie wünschen«, sagte die Amme, »nur, ein Jahr soll man ein Kind schon lassen. Tut ihm sonst weh, fängt an zu weinen …« »Ein Jahr ist wohl richtig, lassen wir es bis dahin?« Natalja Nikolajewna blickte fragend auf Alexandrina und übergab das Mädchen der Amme. Der kleine Junge stupste diese fröhlich mit seinem Köpfchen. »Wie du willst, meine Liebe, du bist die Mutter, du hast das letzte Wort.« Grischa wandte sich plötzlich so ruckartig zu seiner Mutter, daß seine Tante ihn fast fallengelassen hätte. Natalja Nikolajewna ergriff den Jungen. »Ich habe die Älteren anziehen lassen, Natascha, 33
wir wollten sie doch mit nach draußen nehmen. Es ist Zeit zum Aufbruch.« Natalja Nikolajewna streichelte den Jungen, der sich an sie schmiegte, über den Rücken. »Ja, gleich, geh doch schon, geh, ich komme schon nach, bis gleich.« Zärtlich blies sie über die weichen zarten Härchen. Dieser Junge stammte aus dem Sommer, aus jenem Sommer, als sie hier auf dem Gut gelebt hatten. Und wieder erwartete sie ein Kind, schon den vierten Monat bekam sie nicht ihre Tage. Auch wurde ihr vom Essen übel, wie seinerzeit. Offenbar war sie in den letzten Januartagen schwanger geworden. Aber vielleicht bildete sie sich die Schwangerschaft nur ein? Nein, sie spürte, wie ihr Bauch schwerer wurde, nur größer war er noch nicht geworden, wuchs noch nicht. Ich habe viel abgenommen, überlegte Natalja Nikolajewna, darum rundet sich da noch nichts. Der Gedanke, daß sie von ihrem Mann, dem jetzt Toten, noch ein Kind gebären würde, tröstete ihr Herz, beunruhigte aber ihren Verstand. Sie wollte einen Sohn haben und wollte, daß er ihm ähnlich sei wie Mascha. Noch hatte sie niemandem etwas von ihren Umständen gesagt: wenn es zu sehen ist, dann werde ich darüber sprechen. Natalja Nikolajewna horchte in sich hinein – vorsichtig, unruhig – und war bisweilen ganz sicher, schwan34
ger zu sein, bisweilen redete sie sich ein, sich zu täuschen, da wurde ihr vor Angst ganz kalt, es sei nur ein Selbstbetrug, bisweilen war sie ganz nüchtern und machte sich ihr Witwenschicksal bewußt. Natalja Nikolajewna gab Grischa der Kinderfrau in den Arm und ging, sich zum Spaziergang umzuziehen. Die Kinder übten eine beruhigende Wirkung auf sie aus, durch die Wärme, durch die Liebe, durch die notwendige Sorge um sie. Doch jedes Mal, wenn sie ins Kinderzimmer kam, wurde ihr die Verwaisung spürbarer – die ihrer Kinder und die ihrer selbst.
Nächtliche Gedanken Natalja Nikolajewna
Als er starb, hatte er gesagt, sie sei nicht schuld und sei vor ihm rein. Doch seine Worte brachten ihr weder Frieden noch Ruhe. Jede Nacht fragte sie sich, ob sie nun schuld sei oder nicht. Während der nächtlichen Stunden stritten in ihr zwei Stimmen, und ein Ende dieses Streits war nicht abzusehen. Die eine Stimme versuchte zu beruhigen: Das Versprechen, das sie vor Gottes Altar gegeben hatte, hatte sie nicht übertreten, sie hatte die eheliche Treue nicht gebrochen und hatte vor ihrem Mann nichts verheimlicht. So hatte er selbst es sie gelehrt. Die andere Stimme aber machte ihr Vorwürfe: Und die geheime Erregung und Verlegenheit bei den Begegnungen mit dem Baron? (Jetzt nannte sie Monsieur d’Anthès nur noch so.) Den Wunsch nach den unverhofften Begegnungen hatte es doch gegeben, die Träume davon waren doch Realität. Und geheime Fäden wurden gesponnen, zogen sich von ihm zu ihr, hatten sie gefesselt. Sie hatte es nicht vermocht, diese zu zerreißen. Nicht vermocht? Sie hatte sie nicht zerreißen wollen. Nicht einmal als sie die Bitterkeit und die 36
Nervenzerrüttung an ihrem Mann sah. Sogar als sie die neugierigen Blicke, die ihr, dem Baron und Puschkin folgten, bemerkte. Beim Zerreißen der Netze war der eklige alte Mann, der Vater Heckern, père de cet enfant trouvé, behilflich gewesen, der die Grenzen des Anstandes überschritt und sich erlaubt hatte, ihr etwas von den Leiden und dem Erbarmen einzuflüstern, auf die Möglichkeit einer Flucht anzuspielen … Der Ausbruch – Ausbruch der Gefühle, das Überfließen der Galle, das Toben der Nerven in Puschkin, nachdem sie ihm von den niederträchtigen Anspielungen des alten Barons, des Vaters, berichtet hatte. Dessen Sohn hingegen heiratete, als ob nichts gewesen wäre, ihre Schwester Katharina … Gott, wieder erinnerte sie sich an ihn, obgleich sie sich geschworen hatte, ihn zu vergessen und seinen Namen nicht mehr auszusprechen. Zerquält verließ Natalja Nikolajewna ihr in der Schlaflosigkeit aufgewühltes Bett und kniete nieder, um zu beten, zu bereuen, zu flehen. Dann erinnerte sie sich: Alexander hatte ihr nicht erlaubt, kniend zu beten, wenn sie schwanger war, wie er ihr nicht erlaubt hatte zu laufen und zu springen, er wollte sie und das werdende Kind schützen. Wer würde sie jetzt schützen, wenn sie sich nicht täuschte und wirklich schwanger war? Sie berührte ihren Bauch, wunderte sich über die 37
Schlankheit ihres Körpers, versuchte sich zu erinnern, wie das früher mit ihr gewesen war und – seltsam – konnte es nicht. Etwas anderes stieg in ihr auf: wie sie früher eine Schwangerschaft gefürchtet hatte und in was für einem Seelenzustand sie die neue Empfängnis aufnahm. Sie nahm sie demütig auf, wie eine unausweichliche Folge der Ehe und zugleich standhaft als Willen Gottes, der bereit war, noch einem Menschen Leben zu schenken. Nie hätte sie es gewagt, die Frucht abzutreiben, wie manche das taten und sich deshalb an kundige Ärzte in der Hauptstadt oder an Hebammen wandten, die den Frauen Mutterkorn und andere Kräuter verabreichten. Natalja Nikolajewna wußte, daß die Unterbrechung eines Lebens, das im Körper empfangen war, nichts als Mord ist und damit wie jeder Mord eine schreckliche Sünde. Die jetzige Schwangerschaft schien ihr die gewünschteste zu sein. Wenn sie einen Sohn bekommen würde, der Puschkin ähnelte, dann würde sie darin ein Zeichen sehen, daß ihr ihre Schuld ganz vergeben ist. Doch bald brach ihre Hoffnung zusammen. Ihr Bruder Dmitri und seine Frau Jelisaweta Jegorowna hatten – beunruhigt durch Nataschas schlechten Gesundheitszustand – einen alten Arzt aus Kaluga zu ihr gerufen. Er hatte schon vielen 38
Menschen geholfen. Dieser Arzt stellte einige Fragen und untersuchte sie so wie sie war, im Kleid. Sie sagte, welche Gründe sie habe, eine Schwangerschaft im fünften Monat zu vermuten. Er berührte behutsam ihren Bauch und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Die Regel ist infolge Ihres Schicksalsschlages ausgeblieben. Das kommt vor.« Natalja Nikolajewna versank in Tränen. Jelisaweta Jegorowna, die dabei gewesen war, wunderte sich über den Kummer ihrer Schwägerin. Sie selbst hatte sich von dem Schrecken noch nicht erholt, den diese Vermutung bei ihr ausgelöst hatte. Für sich dachte sie: Mein Gott, hat sie denn mit vier Waisen nicht genug? Dann hatte sich der Arzt mit den Verwandten insgeheim unterhalten. Natalja Nikolajewna versuchte nicht herauszubekommen, was er gesagt hatte, und man erzählte es ihr nicht. Am meisten traf sie, daß der Arzt die Schwangerschaft nicht bestätigt hatte. Was ihre krankhaften Anfälle anbetraf, so ahnte sie, daß sich hier etwas früher Verborgenes zeigte, daß die Nervenerschütterung es zutage brachte. Der Arzt verordnete Aderlaß, Bäder mit rostigem Eisen und Fichtennadeln, Honigmaische mit einem Aufguß aus Fichtenschößlingen. Aber sie ließen das alles bleiben. Natalja Nikolajewna lehnte es ab. Sie hoffte weiter und tröstete 39
sich gegen allen Verstand damit, daß ein Arzt sich irren kann. Eines Nachts kam in Natalja Nikolajewna während ihrer Gespräche mit ihrem Gewissen das früher einmal gehörte Wort Magnetismus auf. Es bedeutete die Anziehungskraft eines Menschen auf einen anderen mit Hilfe von Blicken und die Unterordnung des Schwachen unter den Willen des Stärkeren. Sie vermutete, daß der Grund ihrer Schwäche gegenüber dem Baron im Magnetismus seines Blickes lag, in seinem bösen Willen, sie sich unterzuordnen. Bei dem Gedanken an diese Entdeckung mußte Natalja Nikolajewna zugeben, daß ihre Natur überhaupt dem Magnetismus unterlag. Sie erinnerte sich, welche Sehnsucht die langen Blicke Puschkins während des ersten Winters ihrer Bekanntschaft bei ihr ausgelöst hatten, sobald er sie nur bemerkt hatte. Mit dem Rücken hatte sie seinen Blick erspürt und gewußt: Er ist in den Saal getreten, er sucht sie jetzt in der Masse. Dann, als er sie als Bräutigam zu besuchen pflegte, hatten seine Blicke sie gleichsam ihres Willens beraubt. Auch andere Augen stiegen in ihrer Erinnerung auf – helle, etwas hervorstehende, in die beim Blick auf sie ein gläserner Glanz trat. Auch dort war Magnetismus: nicht nur monarchische, sondern auch männliche Macht. 40
Die Entdeckung des Magnetismus schläferte ihre beunruhigenden nächtlichen Gedanken ein. Es vergingen ein paar Tage und mehr in Ruhe. Doch plötzlich flammte alles wieder auf, explodierte das Schuldgefühl in ihr wieder und übertrumpfte alle verstandesmäßigen Überlegungen. Ja, ja, ja – sie war schuld, schuld. Sie war es, die die Schuld hatte. Hatte sie etwa die eheliche Pflicht nicht verletzt, als sie sich zu einem heimlichen Treffen bereit erklärte? Hatte sie etwa dessen Unerlaubtheit nach den göttlichen, menschlichen und gesellschaftlichen Gesetzen nicht erkannt?! Weshalb hatte sie denn dem Flehen des Barons nachgegeben, hatte sie seinen verlogenen Klagen geglaubt, seinem heuchlerischen Seelenschmerz? Er hatte ihr gesagt, er müsse ihr seine Ehe mit Katharina erklären – die erzwungene, lieblose, lastende – wahre Fesseln oder Ketten. Idalija Poletika hatte Natalja Nikolajewna seine Worte übermittelt: »Wenn Natalie nicht kommt, werde ich mich öffentlich vor ihren Füßen erschießen.« Darin lag eine Drohung, doch sie hatte sie damals nicht begriffen. Sie hatte etwas anderes gefürchtet – seinen Tod. In der Tat war eine Falle gebaut worden. Die treulose Idalija, die sich als Freundin ausgab, selbst aber insgeheim Puschkin nachgelaufen war, und der ehrlose Baron hatten ihr einen Hinterhalt 41
gelegt. Es ging nicht darum, die seltsame Ehe mit Catherine zu erklären, sondern sie, Natalie, in einen Betrug zu verwickeln – das war das wahre Ziel. Der Baron hatte gedroht, sich zu erschießen, und sie hatte in ihrer Verwirrung der Angst nachgegeben und war zu ihm gegangen. Angst hatte sie bekommen, um ein niedriges, gemeines Leben. Das Leben eines heimlichen Feiglings. Jetzt war ihr klargeworden, wie schrecklich sie sich in ihm getäuscht hatte, indem sie an seine reine hohe Liebe geglaubt hatte. Dort, bei der Poletika, in der leeren Wohnung, wohin Idalija sie beide gebracht hatte, um dann sofort zu verschwinden, hatte der Baron Natalja Nikolajewna gedroht. Er hatte sich als Selbstmörder gebärdet, hatte die Pistole an die Schläfe gesetzt. Das war eine Farce, nicht mehr, aber damals war sie erschrocken, hatte aufgeschrien, und dieser Schrei hatte sie gerettet. Das Dienstmädchen, das sich in entfernter liegenden Zimmern aufgehalten hatte, war daraufhin herbeigelaufen. Natalja Nikolajewna war sofort weggegangen. Sie hatte sich kaum auf den Beinen halten können, war kaum bis zum Wagen, der sie in einiger Entfernung erwartete, gelangt. Schüttelfrost hatte sie überkommen, es pochte in den Schläfen. Zu Hause hatte das Zittern nicht aufgehört, sie war blaß, völlig durcheinander, und als Puschkin sie fragte, was 42
mit ihr sei, ob sie etwa krank sei, da hatte sie laut aufgeschluchzt und ihm alles erzählt. Sie hätte es ihm nicht erzählen sollen. Doch verbergen? Wie hätte sie vor ihm etwas verbergen können, ihn betrügen können, im Betrug verharren und weiterleben? Sie hätte Krankheit vortäuschen können. Doch dann? ‥ Wie schrecklich weiß war er damals geworden und dann aufgebraust, seine Augen hatten sich mit Blut gefüllt, in die starken Lippen war ein sekundenlanges Zittern gekommen. Mit den Zähnen hatte er geknirscht, war durchs Zimmer hin und her gerannt, irgendein Sturm hatte ihn hinausgetragen, und die Tür hatte geknallt, dumpf, wie ein Schuß. Sie aber, die diesen schrecklichen Sturm ausgelöst hatte, war plötzlich schwach geworden, fast so kraftlos wie bei einer Ohnmacht. Still war sie geworden und sofort eingeschlafen, ohne darüber nachzudenken, daß sie die ganze Last ihres Herzens ihm aufgebürdet hatte. Wie schuldig war sie vor ihrem Mann, wie schuldig! War ihr etwa jener Fremde, hinter dessen Handeln sich Feigheit, Verlogenheit, Betrug der Gefühle verbargen, wertvoller? Nein, nein! Sie verachtet, nein – haßt … Sie haßt und verachtet ihn. »Barmherziger Gott, schenke mir Vergessen«, flüsterte Natalja Nikolajewna. Doch während sie um Vergessen betete, begriff sie voller Schrecken: 43
Man darf nicht das eine vergessen und das andere behalten. Ein schrecklicher Knoten verbindet den Mörder mit dem Ermordeten. Und sie ist in diesen Knoten verschlungen. Er zieht und würgt sie. »Warum ist er gestorben?« fragte Natalja Nikolajewna laut und setzte sich auf ihr Bett. Hat er etwa sterben müssen? Der Leibarzt Arendt konnte ihn heilen, retten. Er hätte nicht fortgehen dürfen, hätte bei dem Verwundeten bleiben müssen, wie der andere Arzt, Dahl, der einige Tage bei ihnen gelebt hatte. Wenn der berühmte Arendt geblieben wäre, dann hätte er ein Mittel gefunden, er hätte es vermocht … Und sie hatte nicht auf Puschkin hören dürfen, auch nicht auf seine Freunde, sondern hätte pausenlos bei ihm bleiben müssen. Es war ihm doch besser geworden, als sie ihn mit Brombeeren gefüttert hatte. Warum hatte er sie fortgeschickt? Warum hat man sie geschont, überredet, ins Schlafzimmer gebracht? Warum hatte sie auf die Leute gehört? Ach, genug, ist er denn wirklich tot? Warum sollte er nicht jetzt hier sein, neben ihr? Sie würde die Hand ausstrecken und er daneben sein – so wie immer. Aber die Hand stieß ins leere Kopfkissen, gegen die zur Wand geschobene Atlasdecke. Er war nicht da. Die Seele ist unsterblich, dachte Natalja Nikolajewna, aber wo ist sie? 44
Hier, in der Nähe, oder auf fernen Sternen? Wenn man wüßte, daß sie in der Nähe ist … Da würde sie ihr Gesicht berühren wie ein warmer Atem, würde also Mitleid mit ihr haben, würde sie trösten wollen. Auf fernen Sternen sollte sie nicht sein, besser hier in der Nähe der Ihrigen, derer, die sie hinterlassen hat. Doch wie steht es dann um die versprochenen Begegnungen? Auf den Sternen warten andere Verstorbene – Verwandte, Freunde, Geliebte. Wie schade, daß der Arzt ihr die Hoffnung genommen hatte. Lieber hatte sie noch einige Zeit im Selbstbetrug gelebt. Immerhin war damit der Eindruck verbunden, daß sie nicht allein war, daß sie noch nicht ganz Abschied genommen hatte. Und mögen es die Seelen nicht allzu eilig zu den Sternen haben, mögen sie bei dem verlassenen Toten ein wenig verweilen. Ach, sie weiß, ahnt, von solchem Leiden wird sie nie frei werden. Es wird später stiller werden, in die Tiefe versinken, aber insgeheim am Faden ihres Lebens nagen.
Im Entresol Pachomowna und Potapytsch
Die Amme Pachomowna kannte das ganze Gontscharowsche Leben. Der alte Gutsherr, Afanassi Nikolajewitsch, hatte sie von ihrem ersten Sohn genommen und von ihrem jungen Mann getrennt. Er hatte sie zum Stillen seines soeben geborenen Kindes gewählt, seines einzigen Sohnes Nikolaj Afanasjewitsch. Von da an, von ihrem achtzehnten Lebensjahr an, hatte sie bei der Herrschaft gedient. Die ganze Familie der Pachomows, ihre ganze Sippe – Vater und Mutter, Brüder und Schwestern, Kinder und Enkel – hatten nicht in der Tuchfabrik gearbeitet, nicht gesponnen, nicht gewebt, sondern Erde gepflügt und Getreide gesät. Gott, dem Zaren und der Herrschaft waren sie ergeben, arbeiteten von früh bis spät, im Frühling säten sie, im Sommer ernteten und droschen sie, bei Trockenheit weinten und beteten sie, im Kriege aber zogen sie ins Feld, die russische Erde zu verteidigen. Wenn sie dann an den ständigen Mühen, an schweren Krankheiten oder blutigen Wunden starben und in die Erde zurückkehrten, dann hinterließen sie ihr ihre Kinder, eben solche russischen Bauern, tüchtigen Pflüger, Ernährer der Allgemeinheit. 46
Als die Pachomowna aus ihrer Familie herausgerissen war, überwand sie ihren unermeßlichen Schmerz und schenkte ihre ganze Liebe den Kindern der Herrschaft. Von allen, die sie großgezogen hatte, war ihr der junge Dmitri Nikolajewitsch, der jetzige Leiter der Tuchfabrik, also der Enkel des verstorbenen alten Herrn, am nächsten. Dieser Mitjenka war ein Erstlingskind, schwächlich herangewachsen, oft krank, hatte häufig mit den Ohren zu tun und wurde infolgedessen später ziemlich taub. Dann hatte er noch seit seiner Kindheit aufgrund eines Schreckens einen Sprachfehler. Sein Vater, Nikolaj Afanasjewitsch, der mit Pachomownas Milch großgezogen und im Erwachsenenalter geisteskrank geworden war, hatte in einem Wahnsinnsanfall seinen Jungen ergriffen und versucht, ihn zu beißen. Glücklicherweise hatte man ihm das Kind rechtzeitig entwinden können, sonst hätte er es totgebissen. Der Gottesmutter sei Dank. Jetzt, nach dem Tode des alten Besitzers des unteilbaren Gutes, waren auf Mitja, den Erben, alle Arbeiten, alle Sorgen, alle Gontscharows übergegangen. Er mußte das Geld beschaffen, um Geld baten alle, und wenn keines da war, wurden sie böse, befahlen, drohten. Es war kein gutes Einvernehmen unter ihnen, sie lagen im Zank. Innerhalb der ganzen Familie waren nur er, Mitjenka, 47
und die junge Frau Natalja Nikolajewna friedfertig. Natalja, die kleine Natascha, war von ihrer Mutter während des Krieges geboren worden, als sie vor den Franzosen geflüchtet waren. Ein schüchternes Mädchen war zur Welt gekommen, ein verschrecktes gleichsam. Die Pachomowna unterhielt sich mit Potapytsch gern über die Herren und die herrschaftlichen Angelegenheiten. Vom ganzen großen Gontscharowschen Gesinde waren sie und Potapytsch die ältesten. Von klein auf gesund, waren sie auch mit siebzig noch keine alten Leute, krochen nicht auf den Ofen, sondern arbeiteten. Pachomowna war für die Wäsche der Herrschaft zuständig, ihr waren die Wäscherinnen und Näherinnen unterstellt. Potapytschs Bereich waren die Kerzen. Seine Aufgabe war es, auf die Beleuchtung im Hause zu achten, die Lüster, Kandelaber, alles bis zum letzten Leuchter mußte sauber und mit Kerzen versehen sein, die Kerzenscheren, die Dochtreste mußten rechtzeitig entfernt, die Kerzenstummel eingesammelt und zum Neugießen gebracht werden. Potapytsch hinkte. Sein rechtes Bein war versehrt. Er erzählte, er sei hier bei Kaluga verwundet worden, und der alte Herr, der Großvater des jetzigen, habe ihn in der Nähe des Weges liegen sehen, als er vorbeigefahren sei, ihn aufgehoben und ins Lazarett gebracht, dem Doktor aber etwa 48
gesagt: »Schneidet ihm das Bein nicht ab, sondern bringt ihn so in Ordnung, daß er tanzen kann.« Und das sei in jener Zeit gewesen, »als Väterchen Kutusow selbst in der Tuchfabrik mit seinen Generalen und den übrigen berühmten Kriegern Quartier machte«. Manchmal glaubte die Pachomowna an diese Geschichte, manchmal auch nicht. Vielleicht waren es die Franzosen gewesen, vielleicht auch die eigenen Leute, die aus dem Dorf, die ihm das Bein bei einer Prügelei am Feiertag im Fuselrausch mit einem großen Knüppel zerschlagen hatten. Potapytsch war doch nicht auf den Kopf gefallen, war ein erfahrener Mann, dachte sich vieles aus, kannte die Buchstaben und konnte sogar Bücher lesen. Ein interessanter alter Mann. Die Pachomowna hörte ihm gerne zu und lud ihn gelegentlich in das Entresol zu sich auf .ein Täßchen Tee. Dann setzten sie sich zum Samowar und gingen die Geschichten durch, die ihnen ins Gedächtnis kamen oder die ihnen das Herz schwer machten. Mit Tee hatte die Pachomowna gern zu tun, sie wußte gut, wie man ihn zubereitet, hatte da ihr eigenes Rezept: ein paar getrocknete Erdbeerblätter, dann etwas Pfefferminze, dazu Preiselbeerblätter und, wenn es ging, nachgetrockneten schwarzen Tee, von dem die Herrschaft schon getrunken hatte, solchen aus Indien oder aus 49
China. Ein bißchen Zucker hatte sie eigentlich auch immer, keinen Streuzucker, aber Stückchen, durch die man den Tee hindurchschlürfen konnte. Wenn sie in aller Gemütlichkeit jeder zwei Tassen getrunken hatten, kam das Gespräch wie von selbst auf die alten Geschichten, näherte sich allmählich dem geliebten Thema, über das im Hause laut nicht gesprochen, aber insgeheim geflüstert wurde. Potapytsch wußte ganz genau zu berichten, wie der junge Herr, der Mann der Natalja, erschossen worden war, von dem Mörder, dem Franzosen, und von der schandbefleckten Braut, der Katharina, die von diesem Franzosen zu widergesetzlicher Unzucht verleitet worden war, und wie der Franzose deswegen vom jungen Herrn, Alexander Sergejewitsch, zur Ehe gezwungen worden war, wie er diesen Lüstling auf einem Ball vor aller Augen geschlagen hatte und wie der Zar ihn endlich gelobt hatte, daß er sich so für die geschändete Jungfrau eingesetzt hatte und befohlen hatte, er müsse sich mit dem Franzosen mit Pistolen schießen. Die Pachomowna erschauderte. Kein Mitleid hatte der Fremdling mit der Jungfrau Katharina gehabt, hatte den Herrn, der für sie eintrat, erschossen, hatte auch kein Erbarmen mit der lieben Herrin und ihren kleinen Spätzchen, hatte keine Gnade gekannt, sondern Schmerz und Krankheit 50
über sie kommen lassen. Ewig verflucht möge dieser Mörder, dieser blutrünstige Kerl sein, möge ihn die Strafe des Herrn treffen, möge er in der Hölle im ewigen Feuer brennen … Potapytsch ergänzte: »Mit dem Hintern auf einer glühenden Bratpfanne.« So war also Natalja Nikolajewna als Witwe mit ihren vier Kindern zurückgekehrt, in die Hände ihres Bruders. Der Bruder aber hatte auch die Schwester Alexandra am Hals, die unverheiratete, die auf den Bruder und alle Welt böse war, die Mutter hatte sie ihm zugeschoben. Natürlich konnte man mit dem jungen Mädchen auch Mitleid haben, mit ihren fünfundzwanzig Jahren würde sie jetzt auf ewig und alle Zeiten bei der Schwester und deren Kindern als Tantchen hängenbleiben. Warum machte sich auch die Mutter keine Mühe, ihre Tochter zu verheiraten? Eine andere wäre nicht ruhig, bis sie alle der Reihe nach, dem Alter nach, untergebracht hätte. Jetzt waren alle ihre Töchter unglücklich: die eine Witwe, die andere mit einem Bösewicht verheiratet, die dritte eine alte Jungfer. Und die Gontscharow selbst? Sie hatte ihren Mann im Moskauer Haus zurückgelassen, hatte ihn dem Personal, den Trunkenbolden überlassen: dem Pronka, dem Senka und dem Räuber Romka, dem mit dem einen Ohr. Sie hatte den kranken Mann diesen Halunken vorgeworfen 51
und war selbst in ihr Jaropoletz abgezogen. Da erholte sie sich nun vom Familienleben. Kaum war sie angekommen, brachte man ihre Tochter, die Witwe, mit den Enkelchen. Sie fing an zu trösten: »Du«, so sagte sie, »Tascha, bete und bete – darin liegt deine Rettung. Ich«, sagte sie, »weiß das aus eigener Erfahrung.« Aber selbst stinkt sie einen Werst gegen den Wind nach Alkohol. Keinen Schritt tut sie aus dem Haus ohne eine Flasche, um sich jederzeit etwas in die Kehle zu schütten. So kassiert sie ihr Geld, läßt es sich gut gehen, will keinen Menschen kennen, hat niemanden, um den sie sich von Herzen kümmert. Böse ist ihr Herz geworden. Eigentlich kann sie einem ja auch leid tun. Sie war einmal eine schöne Frau gewesen, hatte aus Liebe geheiratet, und dann war dieses Unglück mit Nikolaj Afanasjewitsch eingetreten. Der hatte den Verstand verloren. Wieviele Jahre war er nun schon krank, Gott aber gab ihm nicht den Tod. Offenbar hatte einer aus der Gontscharow-Sippe den Herrgott erzürnt, und deshalb hatte er ihnen solche Strafen geschickt. Vielleicht der alte Herr, Afanassi Nikolajewitsch? Der selige Herr sei schon ein großer Sünder gewesen, ständig diese Trinkerei und Hurerei. Da trat Potapytsch für seinen Herrn ein. Schließlich war er ein Mann in den besten Jahren, als ihn seine Frau verließ. 52
Und wenn man es richtig bedachte, so mußte einem auch der alte Herr leidtun. Seine Gattin, die Nadjeshda Platonowna, die war ja auch im Kopf nicht ganz richtig. Bevor sie der Verstand ganz verlassen hatte, da hat sie sich viel über ihren Mann lustig gemacht, hatte ihn nicht anders als Afonja den Trottel genannt. Er hatte mehrere Kinder haben wollen, sie aber hatte ihm nur einen Sohn geboren. An seinem Umgang mit den Enkeln war es zu sehen, wie sehr er sich nach Kindern gesehnt hatte – er liebte die Enkel. Doch Natalja Iwanowna, die Schwiegertochter, die jetzige Gontscharow, hatte die Kinder nicht zum Großvater gelassen, redete vor den Kindern über den Großvater nur Schlechtes. Die Kinder ließ sie nicht zu ihm, Geld aber nahm sie von ihm. Ihn machte sie schlecht – was er für einer sei, ein Hurenbock und Saufbold –, selbst aber trank sie auch und trieb es mit den Lakaien. Der Jaschka, was der für eine Macht über sie hatte. Am meisten aber bedauerten die beiden Mitjenka. Wie viel Sorge und Mühe war auf ihn gefallen. Potapytsch hatte in den herrschaftlichen Gemächern gehört, der Franzose fordere von Mitjenka eine Mitgift für Katharina: schreckliche Tausende. »Herrje, mein Lieber, was redest du da, herrje, der böse Mörder, erst bringt er unseren Herrn um und dann verlangt er noch Geld, verfluchter Dieb …« 53
»Unsere Herrin, die Natalja Nikolajewna, wird schon wieder gesund werden, wird sich trösten und noch einmal heiraten. Soviel Schönheit gefällt doch jedermann, aber das Fräulein, die wird kaum unterkommen, die ist allzu eigensinnig, die mit ihren Kapricen.« »Ja-a, Potapytsch, es heißt ja, ›Schönheit die ist nichtig, Glück allein ist wichtig.‹ Glück aber haben sie nicht …« »Unsere Herrin, die Jelisaweta Jegorowna, sollte einen Sohn gebären. Dann bekäme der Herr einen Helfer, einen Erben für das Gut.« So hatten sie alles besprochen, zu allem ihre Meinung gesagt, der Samowar war leer – es war an der Zeit, Abschied zu nehmen. »Haben Sie Dank für den Tee, für den Zucker, für das gute Wort. Gott behüte Sie und gebe Ihnen eine ruhige Nacht, fröhliche Träume.« »Was du da redest, fröhliche Träume! Wenn’s nur ins Bein nicht pickt, in die Seite nicht zwickt!«
Der Rückweg Sergej Lwowitsch
Zwanzig Werst war Sergej Lwowitsch gefahren und hatte ärgerlich, ohne nach rechts oder links zu schauen, den Blick auf einen Punkt geheftet. Der alte klapprige Wagen wurde hin und her geworfen, die Gontscharowschen Pferde waren für ihn zu feurig. Schon zweimal hatte er mit seinem Stock den Burschen in den Rücken gestoßen, der ihm zugleich Kutscher und Diener war, und mit krächzender Stimme geschrien: »La-a-ang-sa-amer!« Sergej Lwowitsch war verärgert und mit sich unzufrieden. Deshalb war er aufs Gontscharowsche Gut gefahren. Es war sein Herz gewesen, das ihm befohlen hatte, sich dorthin zu begeben, das war eine Regung seiner Seele gewesen, die litt, einsam war und sich nach einer anderen solchen Seele sehnte. Ja, er war von der Begegnung mit der Witwe seines Sohnes enttäuscht. Er war aufgebrochen, ohne an die Beleidigung zu denken: bei ihrer Durchfahrt durch Moskau im Februar hatte sie keinen Halt gemacht, um den Vater ihres toten Mannes zu sehen, hatte ihm lediglich einen Brief geschrieben, in dem sie sich entschuldigte und rechtfertigte mit Hinweisen auf ihren schlechten Gesundheitszustand. Er aber, der alte 55
Mann, der unter der Last von zwei Verlusten gebeugt war – vor kurzem war er selbst Witwer geworden –, hatte sich zu der weiten Reise aufgemacht, war ungeachtet der Beleidigung bereit, die väterlichen Arme der chère pauvrette entgegenzustrecken, nun war er um so mehr betroffen. Natalja Nikolajewna hatte ihn kalt empfangen, war beherrscht höflich, allzu ruhig und schweigsam. Kein Wort über die Tragödie, als ob es die Tragödie überhaupt nicht gegeben hätte. Sie hatte ihre Arme dem Schwiegervater nicht entgegengestreckt, war ihm nicht an die Brust gefallen, hatte nicht ausgerufen: »Bedauern Sie mich, verzeihen Sie mir!« Diese Szene hatte Sergej Lwowitsch sich so oft in seinen Gedanken ausgemalt, daß er sich an sie schon ganz gewöhnt hatte. Er war bereit, auf Nataljas Bitte hin mit großmütigem Verzeihen zu antworten. Nun war Sergej Lwowitsch verwundert – keine Tränen, keine Reue … unfaßbar! Wie jede anziehende Frau war Natalie nicht daran schuld, daß d’Anthès sich in sie verliebt hatte. Alexander hatte versichert, wenn es sich nur nicht um einen seiner typischen Witze gehandelt hatte, daß der Zar selbst est aussi amoureux. Natürlich lag ihre Schuld nicht darin, wie anziehend und bezaubernd sie war, sondern darin, daß sie sich allzu gern in der Gesellschaft zeigte. Sie hätte mit der Situation ihres Mannes rechnen müssen, mit 56
den Einkünften der ganzen Familie, jedoch die Bälle, Schlittenpartien, Maskeraden und Kavalkaden kosteten viel Garderobe, Coiffure und Brillanten – viel Schick. Jeder Ball bei Anitschkows bedeutete ein neues Kleid. Übrigens war sie daran nicht schuld – es war die Laune des Kaiserpaares, Ernennung Alexanders zum Kammerjunker … Ein neues Kleid bei Madame Sichler erforderte mehr als einen Hunderter. Die selige Nadeshda Ossipowna hatte recht, als sie ihrem Sohn Vorwürfe machte, er verwöhne seine Frau zu sehr. Sie, die Eltern des berühmten Dichters, hatten gelegentlich auf manche Flasche Wein verzichtet, auf manches Pfund Kaffee … Sergej Lwowitsch runzelte die Stirn, als er sich daran erinnerte, wie dünn der Kaffee bei den Gontscharows serviert wurde, er war starken Kaffee gewohnt. Ja, Nadjeshda Ossipowna hatte als liebende Mutter immer wieder ihrer Besorgnis und Befürchtung Ausdruck gegeben, aber Alexander schätzte solche Themen nicht und unterbrach jegliches Gespräch, er lebe über seine Verhältnisse. So ist es immer – erst hört man nicht auf die Eltern, dann aber … Übrigens, was sollte er sich jetzt an all das erinnern? Was sollte er jetzt seine Seele quälen? Er hatte sich überzeugt, daß Natalie erheblich härter, gefühlloser war, als Alexander sie beschrieben hatte. Die Natur ihrer Schwester war wohl wei57
cher, empfindsamer. Sergej Lwowitsch fand, daß Alexandrine mehr betroffen war und unglücklicher aussah als ihre Schwester. Was hatte sie doch gesagt, als sie sich zu zweit im Salon befunden hatten? »Wenn ich irgendwann einmal ins Kloster gehen möchte, dann wäre dies jetzt.« – »Sie ins Kloster, bei Ihrer Jugend?!« Sergej Lwowitsch hatte sagen wollen, »bei Ihrer Schönheit«, hatte dann aber gefunden, daß das eine exagération gewesen wäre. Obwohl Alexandrina nicht häßlich aussah, durchaus nicht häßlich: die Locken, wie sie an den Wangen herabfielen, die Schultern, die Taille, der Busen … Wie seine Gedanken bei diesem Punkte verweilten, überkam Sergej Lwowitsch ein Lächeln. Begegnungen mit jungen Frauen lösten jetzt in ihm leidenschaftliche Gefühle aus. Er geriet leicht in ein Entzücken, das jedesmal in das Gefühl eines beleidigten Jammers über sein Alter und seine Hinfälligkeit überging. Ja, Alexandra war mit ihm sanft, sehr sanft umgegangen, und er hatte den Eindruck gewonnen, sie sei ihm aufgrund einer plötzlich entfachten Sympathie entgegengekommen. Aus solchen angenehmen Gedanken wurde Sergej Lwowitsch durch ein kräftiges Rumpeln des Wagens herausgerissen. Er stieß seinen Stock dem Kutscher in den Rücken und dämmerte, sobald die Pferde in einen gleichmäßigen Trab über58
gegangen waren, ein, wobei seine Habichtnase auf und nieder schwankte. Nach ein paar Minuten wachte er auf. Der Wagen rollte über weichen Boden, fast geräuschlos, und sie fuhren in einen Wald hinein, der noch ganz nach Frühling roch, obwohl es Ende Juni war. Von den Bäumen her zog es kühl heran, aus dem Unterholz ließ sich das vielstimmige Singen der Vögel hören, und Sergej Lwowitsch versenkte sich in stille freundliche Gedanken an seine Enkelkinder. Während der drei Tage seines Aufenthaltes im Gontscharowschen Gut hatte er die Kinder nur dreimal gesehen, aber in dieser kurzen Zeit hatte er eine besondere Zuneigung zu Maschenka gefaßt, die dem toten Sohn so erstaunlich ähnlich war. Die gleichen gelockten Haare, die gleichen fülligen Lippen. So wie Alexander es gesagt hatte: »Meine kleine Lithographie.« Ein lebendiges, unternehmungslustiges Mädchen, und genau wie den Vater konnte Mascha plötzlich ein Grübeln überkommen und wie bei ihm in das Gesichtchen trauriges Nachdenken treten. Als Sergej Lwowitsch in Gedanken die Züge seiner Enkelkinder durchging und daran ihre Ähnlichkeit mit seinem Sohn oder mit Natalie prüfte, ergriff ihn die stille Trauer des alten Mannes in Anbetracht des dahinschwindenden Lebens. Seine Frist lief ab, da war nichts zu machen, das 59
war das Alter. Auch erwartete ihn ja Nadeshda Ossipowna dort. Da versetzte es ihm einen schmerzlichen Stich, als ihm wieder bewußt wurde, daß dort nicht nur seine Frau war, sondern auch sein Sohn, der in der Blüte seiner Jahre ums Leben gekommen war. Sergej Lwowitsch fühlte sich schlecht, sein Herz krampfte sich zusammen, er ließ den Kutscher die Pferde anhalten, wollte aussteigen, ein wenig auf der Erde stehen und zu Fuß gehen. War es noch weit bis zur Poststation? Dort würde er sich erholen, zu Mittag essen und dann mit den Postpferden weiterfahren. Er reiste mit leichtem Gepäck, mit einer einzigen Truhe, ohne Diener. Da war auch schon die Poststation. Der Bursche half dem alten Mann aus dem Wagen und zum Eingang. Der Postmeister war aus dem Haus gekommen, ihm folgte neugierig die Wirtsfrau, und hinter ihr standen zwei Durchreisende, ein Mann und eine Frau, die ziemlich ärmlich angezogen waren. Als Sergej Lwowitsch die Tür öffnete, hörte er, wie man den Burschen, der sich gerade mit seiner Truhe zu schaffen machte, fragte: »Wer ist denn der alte Herr?« und wie der Bursche antwortete: »Ein Gast von den Gontscharows, der Schwiegervater der jungen gnädigen Frau.« Sergej Lwowitsch wandte sich auf der Schwelle um und wollte laut widersprechen, doch er 60
brachte verlegen kaum hörbar hervor: »Der Vater des Dichters Puschkin, heißt das richtig …« Später bei Tisch, als Sergej Lwowitsch kaltes Kalbfleisch mit Gurken aus den Gontscharowschen Gewächshäusern aß, erkundigte er sich bei der Frau, die ihm den Samowar hinstellte: »Wer gilt denn als der bessere Chef der Tuchfabrik, der alte Gontscharow, der verstorbene Afanassi Nikolajewitsch, oder der jetzige, sein Enkel Dmitri?« Woraufhin diese höflich, doch verschwommen antwortete: »Afanassi Nikolajewitsch war ein lauter Herr, Dmitri Nikolajewitsch ist stiller als alle übrigen.« Der Postmeister kam herein, um zu fragen, ob er die Pferdekutsche vorfahren lassen solle. Sergej Lwowitsch hatte es eilig, es drängte ihn sehr nach Hause, nach Moskau. Wie hieß es noch bei Alexander? Ach, Brüder! Wie war ich zufrieden, Als unverhofft mir war beschieden, Zu sehn der Glockentürme Kranz, Die Parks und der … da dam da Glanz! Sergej Lwowitsch war sich nicht ganz sicher in den Versen und begab sich eilig zur Tür. Da fiel es ihm ein: Zu sehn der Glockentürme Kranz, Die Parks und der Paläste Glanz! Wie hab in bittrer Trennung häufig … Weiter konnte er nicht. Ihm kamen die Tränen. 61
Wie von ungefähr wischte er sich über die Augen und lief schnell auf den Wagen zu. »Ein unsterbliches Werk wie so viele andere«, dachte Sergej Lwowitsch, aber ein Trost war ihm das nicht. Er war der Vater, er hätte vor seinem Sohn sterben müssen.
Die verschlossenen Truhen Die Schneiderin Lisa und Jelisaweta Jegorowna
Ein Schlüsselbund klapperte in Lisas Hand, als sie sich hinab in die Repräsentationsräume begab. Dort befanden sich die Truhen, die aus St. Petersburg mitgekommen waren. Die Säle und Gastzimmer – die großen und kleinen – standen leer. Lang war es her, daß sie der Lärm der vielen Gäste bei den Festlichkeiten des alten Herrn erfüllt hatte. Jetzt, im Trauerjahr, gab es nicht einmal kleinere Einladungen. In den Zimmern war es dämmrig wegen der geschlossenen Fensterläden, es roch nach Staub, uralten Tapeten und Mäusen. Lisa trat ein und schloß die zweiflügelige Tür hinter sich. Sie öffnete den nächsten Fensterladen. Ein mattes Licht drang durch die ungeputzten Scheiben in das Zimmer. Die Sessel mit dem blauen Bezug wurden erkennbar, ein Tisch auf Löwenfüßen und Lisas Gesicht – mürrisch, mit unguten Augen. Lisa trat an eine große Truhe heran, machte sich an dem an kupfernen Schlaufen hängenden Schloß zu schaffen, schob sich einen Stuhl heran, setzte sich hin und sagte halblaut: »Zirkus.« Ihr Hals streckte sich, ihr Kinn hob sich, ihr gekrümmter Rücken wurde gerade. Lisa machte 63
irgend jemanden nach, als sie mit spöttischem Gesicht durch ihre zusammengepreßten Zähne zischte: »Ach ihr Motten, ach ihr Milben. Meine Mäntel mögen Milben, meine Kleider klauen Motten …« Mit freudiger Bosheit fügte sie hinzu: »Na wenn schon! Was macht das mir aus? Meine Arbeit ist nicht, Kleider zu pflegen, sondern Kleider zu nähen.« Warum hatte das gnädige Fräulein, die Alexandra, sie hierher geschickt? Es gab keinen wichtigen Grund, nur einen kleinen – ihre geliebte kleine offene Jacke ließ sich nicht finden. Man suchte seit der Ankunft danach, es war ein Geschenk der Petersburger Tante Katharina Iwanowna. Gestohlen war sie bestimmt nicht, nur verlegt. Einer von uns konnte sie nicht tragen, dieses samtene lasurblaue Kleidungsstück. Lisa bewegte sich und suchte die Schlüssel zur ersten Truhe heraus, klappte mühsam den heiser knarrenden Deckel zurück. Das Eisen hatte lange gestanden, war angerostet. Aus der Truhe roch es abgestanden nach getragener Kleidung und nach angebranntem Haar. Offenbar hatte man in der Eile auch das Frisierhaar hier hineingeworfen. Ach, diese Garderobe, all das Hab und Gut … was ist es uns teuer, was ist es uns lieb … viel Geld kostet es. Doch wenn ein Unglück ge64
schieht, dann wird das Gut zu Staub, ist ja auch nichts anderes als Staub, all diese Seide und all der Samt. Jetzt liegt es drei Monate hier, wird noch drei Jahre so liegen, von niemandem gebraucht, wird vergilben, und es wird kein lumpiger Fetzen von all den Reichtümern bleiben. Lisa haßte aus tiefster Seele all diesen modischen Kram – Rüschen, Seidenspitzen und Stickereien, all diesen törichten Zierat. Wegen der Toiletten der Herrschaften war sie eine alte Jungfer geblieben, war als taube Blüte verblüht. Die gnädige Frau, Natalja Iwanowna, die Mutter der drei jungen Damen, hatte Lisa von der Tuchfabrik mit nach Moskau genommen. Lisa war eine gute Schneiderin gewesen, ein pfiffiges Mädchen, das geschickt Neues lernte, das es verstand, manche Schnitte in französischer Art selbst zu machen. In Moskau mußte Lisa Kleider ändern, auf neu machen. Um die drei jungen Damen von den Ateliers am Kusnetzki-Most einkleiden zu lassen, reichte das Geld nicht. Allein die Seidenspitzen: jedes Jahr waren sie anders in Mode. An Kleidern, Mänteln, Hüten – überall Seidenspitzen. Das konnte man gar nicht alles kaufen. Lisa kam darauf, wie sie diese Bänder weiß färben, wie sie sie auf Klöppeln dehnen und ihnen das Aussehen neu gekaufter geben konnte. So entwickelte Lisa als Schneiderin eine große Kunstfertigkeit in allen modischen Erscheinungen, und das war ihr Unglück. 65
Als sie ein junges Mädchen in voller Blüte war, da verliebte sich in sie ein Mann von der nachbarlichen Herrschaft. Hätte etwa die gnädige Frau eine Bitte erhört, zumal von anderen Herrschaften? Sie hätte es nie getan, auch wenn man sie auf Knien angefleht hätte. So machte Lisa nicht einmal erst einen Versuch … Dann wollte sie einer der eigenen Leute aus der Tuchfabrik nehmen. Sie baten Natalja Iwanowna gemeinsam, doch die Gontscharow wünschte nicht, daß Lisa heiratete: dann kämen Kinder, Sorgen, Krankheiten – da würden die Hände das Geschick verlieren. Die gnädige Frau lehnte es rundweg ab, und damit ihr die Gedanken gründlich vergingen, verheiratete sie ihren Bräutigam mit einer anderen. Lisa hatte die alte gnädige Frau gehaßt, sie haßte ihre drei Töchter. Schnell welkte sie dahin, bekam eine häßliche Hautfarbe und wurde krumm. Böse wurde sie – fremdes Unglück und Leid bereiteten ihr heimliche Freude, Streit und Zank machten ihr Spaß. Als Fräulein Katharina und Fräulein Alexandra nach Petersburg reisten, um bei der Schwester zu leben, gab man ihnen Lisa zur Bedienung mit. Wieder wurde die Näherei ihre Aufgabe, doch jetzt nähte sie häusliche Kleidung, und unter anderem die Kleidung für die Kinder, die kleinen Puschkins. 66
Da fing Lisa, die nie für jemanden etwas empfunden hatte, die in ihrer Nichtliebe ganz verhärtet war, plötzlich an zu lieben. Und wen? Saschenka, den kleinen Puschkin-Sohn. Wenn sie dem kleinen Buben ein neues Kleidungsstück anprobierte, dann zog Lisa das möglichst lang hinaus, um länger in seiner Nähe zu sein. Er saß auf ihren Knien und patschte mit seinen warmen Händchen in ihr Gesicht. Sie lauschte seinem Geplappere, lächelte, steckte ihm heimlich Leckerbissen zu – einen Honigkringel, ein Marzipanäpfelchen. Meist spuckte der Bub die Süßigkeit wieder aus, aber das störte sie nicht. Sie brachte ihm bei, »Lisa« zu sagen, und er wiederholte es mit vielen spaßigen Veränderungen, bis er lernte, »Lischa« zu sagen. Lisa ging nun ins Kinderzimmer auch ohne sachlichen Grund, allein um den Jungen zu sehen. Sie hatte den Eindruck, daß Sascha weniger als die anderen Kinder geliebt werde, daß man ihn beim Essen benachteilige, daß die Mutter ihn nicht so wie die anderen liebkose und die Tanten und Ammen sich über ihn lustig machten. Allein der Herr, Alexander Sergejewitsch, verhielt sich zu dem Jungen so, wie es Lisa richtig schien. Daher verehrte sie den Herrn mehr als die anderen. Saschenka war in ihrer Seele wie ein einsamer 67
grüner Halm auf einem abgemähten Feld. Das Feld aber blieb trocken und hart. Der Tod des Herrn Alexander Sergejewitsch löste dann ihren Kummer aus – Saschenka war Waise geworden. Lisa räumte fast die ganze Truhe aus und legte die Kleidung auf Sofas und Sessel, warf das Haar verächtlich auf den Boden – die Locken, Zöpfe, alles zu einem Knäuel vermengt. Man hatte das Hab und Gut ungeordnet gepackt, überstürzt. Lisa schimpfte vor sich hin, als sie, über den Rand der Truhe gebückt, versuchte, das Samtjäckchen zu ertasten. Sie bemerkte nicht, wie von hinten das gnädige Fräulein, Alexandra, herangetreten war. Diese fragte ungeduldig: »Nun, gefunden?« Lisa richtete sich auf, zog die Lippen etwas auseinander, so daß es wie ein Lächeln aussah, und antwortete in singendem Tonfall: »Nein, Fräulein Alexandra Nikolajewna, bisher noch nicht, aber gleich werden wir sie finden, gleich. Wie das alles verpackt ist, alles aufeinander geworfen.« Das gnädige Fräulein blickte mit leicht zusammengekniffenen Augen um sich. »Ist das die erste Truhe, die du auspackst?« »Ich muß doch erst herausbekommen, wo Kleidung ist und wo anderes. Wo ich auch aufmache, überall sind Bücher …«, log Lisa in der Hoffnung, daß das gnädige Fräulein in der Schwüle 68
und dem Halbdunkel sich nicht lange aufhalten werde. »Und wie steht es mit Motten?« »Nein, nein, keine Motten, gnädiges Fräulein, Gottseidank, es sind keine zu sehen.« »Mach mehr auf, dort drüben, den ledernen.« »Den Koffer?« Lisa faßte den mit Leder überzogenen und mit schmalen Holzleisten verstärkten Deckel an. An allem war zu erkennen, daß Alexandra an nichts anderes als ihr Jäckchen dachte. Wenn sie doch bloß bald den Raum verließe, dann müßte man die Mädchen rufen, die Kleidung in die Sonne bringen und trocknen. Es war an der Zeit. »Soll das Haarzeug verbrannt werden?« Lisa stieß mit der Schuhspitze gegen die auf dem Boden liegenden Haare. »Mach, wie dir befohlen ist«, wich Alexandra Nikolajewna aus. Sie wußte nicht, was mit all den Dingen zu tun war. Es wurde unmodern, dürfte wohl zerfallen … Was sollten diese Sachen überhaupt, jetzt, nachdem das Leben zusammengebrochen war! Da rief Lisa glücklich aus: »Da ist es ja – Ihr Jäckchen!« Sie zog unter einem Berg von Kleidern das blaue Samtjäckchen hervor, breitete es aus und schrie auf. Auch Alexandra Nikolajewna stieß einen Schrei aus. 69
»Motten, Motten! Ich habe es ja gewußt – alles verkommt. Ich habe es ja gesagt …« Sie riß Lisa das Jäckchen aus der Hand, auf dem Rücken schimmerten hell viele kleine Löchelchen. »Oh! Tantes Geschenk, Lyoner Samt, mein geliebtes Jäckchen. Das ist alles deine Schuld, deine, seit langem frage ich, wo es ist. Schon lange hättest du es suchen können.« Lisa machte für alle Fälle zwei Schritt rückwärts. Das gnädige Fräulein konnte ausholen. Man war jähzornig. In diesem Augenblick öffnete sich leise die Tür, und Jelisaweta Jegorowna kam hinkend herein. Sie war durch die »Petersburger« etwas verschüchtert, obwohl sie auf dem Gut die Hausfrau war. Alexandrina gegenüber war sie zurückhaltend. »Kann ich einen Augenblick zu euch kommen, Schwägerin, störe ich nicht?« Alexandrina ließ die gehobene Hand herabsinken und ihr Jäckchen fallen. »Ich möchte mir gern eure Ballkleider ansehen«, gestand Jelisaweta Jegorowna einfältig. »Ich bin doch aus der Provinz, habe Arbeiten der berühmten Madame Sichler nie gesehen. Es heißt, sie überträfe in ihrer Kunst die Moskauer Französinnen …« Jelisaweta Jegorowna redete nicht ganz aufrich70
tig. Sie interessierte sich nicht für alle Kleider, sondern für die, in denen Natalie auf den Hofbällen getanzt hatte. »Bitte schön, ma chère, wenn Sie das interessiert. Doch hier ist eine solche Schwüle, daß ich gleich Kopfschmerzen bekomme, mir ist schon ganz heiß geworden.« Das gnädige Fräulein ließ sich in einen Sessel fallen, Jelisaweta Jegorowna befahl Lisa, noch einen Fensterladen zu öffnen und begann die ringsum liegenden Kleider zu betrachten. Auf einem der Sessel lag weit ausgebreitet das Atlaskleid – dunkelhonigfarben, verziert mit Palmetten im Ton alter Bronze. Jelisaweta Jegorowna streckte ihre Fingerspitzen vorsichtig zum Saum des Rockes hin und betrachtete die Stickereien. Das Kleid roch ganz zart nach Jasmin. »Wie wunderschön!« sagte sie mit einem Seufzer. »Natalie hat darin zum letztenmal im Anitschkow-Palais getanzt. Eine Arbeit von Madame Sichler. Genau erinnere ich mich nicht, aber es hat wohl eintausend Rubel gekostet.« Alexandrina sagte nicht, daß es sich um ein Geschenk von Tante Katharina Iwanowna handelte, dem Fräulein Sagrjashski. Geschenke bezeugten die beschränkten finanziellen Mittel, den eingeschränkten Stil ihres Lebens in Petersburg. »Mein Gott, eintausend Rubel?!« Jelisaweta Jegorowna blickte noch immer das 71
Kleid an, aber die Begeisterung, die es ausgelöst hatte, war verloschen. Dmitri kostete es so viel Anstrengung und Mühe, das Gut und die Fabrik wieder in Schwung zu bringen, die Schulden des Großvaters abzuzahlen, Brüder und Schwestern zu unterhalten. Und dann waren da noch die Ansprüche des Baron von Heckern hinsichtlich einer Aussteuer. Jetzt der Unterhalt der Familie des verstorbenen Schwagers. Jelisaweta Jegorowna hatte während der zwei Jahre ihrer Ehe mit Mitja nur mit Mühe die Versorgung im Hause normal aufrecht erhalten können. Sonst hätte zum Essen weder die eigene Sahne noch die Butter gereicht. Mit Bargeld aber stand es schlecht, sehr schlecht. Ihr wäre es schwer gefallen, auch nur fünfzig Rubel für ein Kleid auszugeben. Es tat ihr einfach weh zu hören, daß man für ein Kleid eine derartige Riesensumme ausgegeben hatte. Tat ihr weh für Mitja. Die Schwestern sahen in ihm so etwas wie einen Gutsverwalter. Jelisaweta Jegorowna kamen plötzlich die Briefe aus St. Petersburg an ihren Mann ins Gedächtnis, diese ewigen Geldforderungen, die spitzen und spöttischen Bemerkungen, auf die sich Alexandrina so gut verstand, wenn sie über eine Verzögerung bei der Überweisung erbost war. Die Petersburger Kleider interessierten sie bereits 72
nicht mehr, sie täuschte Interesse nur vor, als sie zwischen den Sesseln und Sofas hin und her ging, sich hierhin und dorthin beugte und die Seidenstoffe und Rüschen betastete. »Entschuldigen Sie, Lise, ich gehe.« Alexandrina preßte ihre Fingerspitzen an die Schläfen. »Ich fürchte, ich bekomme eine Migräne.« »Sie haben recht, Schwägerin, hier ist es schwül, ich werde auch gehen, muß noch nach den Möbeln im Eckzimmer schauen, ob sie etwa Schimmel angesetzt haben.« Jelisaweta Jegorowna ließ Alexandrina den Vortritt und stieg hinkend in die unteren Gemächer hinab. Sie ging durch das Halbdunkel und dachte an das riesige leerstehende Haus, an das schwierige großväterliche Erbe. Wieviel Geld da gebraucht wird, allein um das Haus zu unterhalten und die Möbel zu pflegen. Eintausend für ein Kleid, mein Gott, aber wer kennt denn diese Petersburger, ihre Sitten, und was weiß sie von Hofbällen? Sie verurteilte Natalie wegen ihrer Erfolge in der großen Welt nicht, über die Gerüchte auch bis zu den Damen von Kaluga gedrungen waren. Ihre jüngste Schwägerin war schon eine Schönheit. Die Arme, vielleicht war sie wirklich an dem unglücklichen Duell schuld, aber wie konnte man sie nicht bedauern, die nun mit den vier Kindern 73
zurückgeblieben war? Jelisaweta Jegorowna hütete sich, sie zu verurteilen: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.« Um zu richten, mußte man alles wissen, wem aber lag alles offen da? Was wußte sie denn, die Frau vom Lande? Bis jetzt begriff sie nicht einmal, was das bedeutet: »ein Dichter«. Sie wußte, viele junge Leute schreiben Gedichte, wie viele junge Damen singen. Aber im reifen Alter Gedichte schreiben wie Puschkin, war denn das eine Arbeit für einen Mann? Das ging ihr einfach nicht in den Kopf. Obwohl sie wußte, daß Natalie bei Dmitri Papier bestellt hatte, um von Puschkin geschriebene Bücher drucken zu lassen, konnte sie dennoch nicht glauben, daß dies eine ernsthafte Angelegenheit war. Papier, Papierfabriken, das war zweifellos etwas Ernsthaftes, aber Gedichte, Gedichte waren ein Vergnügen, eine Verzierung des Lebens wie Blumen, Musik und Gesang. Puschkins Gedichte gefielen ihr. Einmal hatte sie eines in ihr Album abgeschrieben und dabei vor unterdrückten Tränen gezittert. Herbst war’s, der Abend naß und trübe, Und jung die Frau, unwirsch das Land – Sie hielt die Frucht glückloser Liebe Versteckt und zitternd in der Hand. Die Verse waren rührend, lösten durch das Ungesagte Angst aus – vor allem das von der versteck74
ten Frucht glückloser Liebe. Später kannte sie auch andere Gedichte von Puschkin. Sie waren vielleicht auch schöner, aber keines rief in ihr eine stärkere Erregung hervor. Was hieß es, Frau eines Dichters zu sein? Einst hatte sie gedacht, daß das ein leichtes, schönes Leben ist, ähnlich wie lebende Bilder. Jetzt hatte sie eine andere Vorstellung. Natalie hatte jedes Jahr ein Kind geboren, einmal hatte sie eine Fehlgeburt und war danach lange krank. Immer waren ihre Schwangerschaften mühsam. Ihr fiel ein, wie böse Alexandra ihrem Bruder über die Schwangerschaften der verheirateten Schwester geschrieben hatte (Jelisaweta Jegorowna las die Briefe der Schwestern, die Dmitri liebend verwahrte, wie scharf sie auch sein mochten). »Sie watschelt wie eine Ente«, »kriecht kaum«, »kaum ist das Kind da, geht es schon wieder wie früher los« – einen seltsamen Ton hatte Alexandrina. Gott sei Dank, daß sich Natalie diesmal geirrt hatte. Was die Petersburger Vergnügen anbetraf, die Alexandra so ausführlich und lebendig beschrieben hatte, so hatten daran wohl mehr die älteren Schwestern teil. Ach, und außerdem, was ging sie deren Leben an! Sie verfiel ja schon in die Sünde des Richtens … Lisa, die Schneiderin, stopfte die herausgenommenen Kleider in die Truhen zurück. Sie würde 75
noch Zeit dafür finden. Mit dem Fuß stieß sie die Haarbüschel und Zöpfe auf einen am Boden liegenden Mantel, band alles zu einem Bündel zusammen, warf den Deckel der großen Truhe mit Getöse zu – das donnerte wie ein Kanonenschlag – und hängte die Vorhängeschlösser vor. Dann zog sie sich leise kichernd das lasurblaue Jäckchen an, hob eine auf dem Boden liegende prächtige Straußenfeder, himbeerfarben getönt, auf, trat an den Spiegel heran und steckte sie in ihren Zopf. Der von der Feuchtigkeit verdorbene Spiegel gab wegen der trüben Flecken kaum ihr Abbild wieder. Lisa schielte grimmiglich, stülpte die Lippen vor und wackelte mit dem Kopf, daß die Feder, die ihr am Hinterkopf steil hochstand, schaukelte, und sprach mit fein näselnd singender Stimme nach rechts und links ein paar Worte, als ob sie sich unterhalte. »Ach, madam, silvuplä, trä joli, manifuk komprene. Ach, müsjö, kuafür, merssibjen kel sürpris.« Wen sie darstellte, wußte sie nicht. Es machte ihr Spaß, sich über jeden und alles lustig zu machen. Als sie die Feder aus dem Zopf zog, sagte sie ihrem Spiegelbild zum Abschied: »Wie awangsang Sie sind, mongschär, da wird einem ja vom Hinschauen übel.«
Im herbstlichen Park Natalja Nikolajewna
Der Frühherbst verstrich, nachts wurde es kälter, aber tags war noch warmes sonniges Wetter, und die weichen Fäden der Spinnweben flogen durch die Luft, hefteten sich an die Zweige, senkten sich auf die Blumen – das Kennzeichen des späten, des Altweibersommers. Alexandrina ritt lange auf Lastotschka und kehrte angeregt, gerötet zurück. Natalja Nikolajewna wirkte neben ihr noch blasser. Einmal hatte Alexandrina ihre Schwester zum Reiten aufgefordert, doch Natalie war, ohne ein Wort zu erwidern, zusammengezuckt, als ob man sie gestoßen habe, und Alexandrina begriff, wie unangebracht ihre Aufforderung gewesen war. Natalja Nikolajewna ging oft mit den Kindern im Park spazieren. Sie ließ die Kleinen in der Obhut der Ammen, nahm der Bonne Sascha und Mascha ab und ging mit ihnen möglichst weit weg vom Haus. Der Park strahlte im feierlichen Festschmuck wie ein Märchenpalais. Das Laub an den Bäumen wandelte jeden Tag seine Farbe. Gelb leuchteten die Birken und erinnerten an das Farbenspiel der Kerzen in den Lüstern, bald flammten sie auf, bald nahmen sie den dunkelbronzenen Ton von 77
Ahornblättern an. Am Teich leuchteten goldgrünlich die Weiden. Wie rote Samtteppiche zogen sich die Spaliere der kurzgeschnittenen Weißdornbüsche hin, und die stolzen Thujas standen wie Kandelaber mit ihren steif nach oben gereckten dunklen Zweigen da. Anstelle der Rosen und Heliotropen blühten nun leuchtend die Georginen und zarten Chrysanthemen. Die Beete sahen aus wie riesige Blumenkörbe, die man entlang den Zimmerfluchten aufgestellt hatte. Die Kinder suchten unter den Bäumen nach Pilzen und Eicheln, sammelten im Gras farbschöne Blätter. Natalja Nikolajewna ging in der Nähe den Weg auf und ab, bald entfernte sie sich, bald kam sie wieder dichter heran, und die Fäden ihrer Gedanken zogen hinter ihr her wie Enten in einer Kette und rekonstruierten den Faden ihres Lebens – vorwärts und rückwärts, vorwärts und rückwärts. Bisweilen erstarb sie und hob das Gesicht zu der schwachen Sonne, die Kinder liefen herbei, um zu zeigen, was sie gefunden hatten, um etwas zu fragen. Sie antwortete ihnen und verfiel wieder in ihre Gedanken. In der letzten Zeit nahmen sie selbst und ihr eigenes Schicksal in ihren Gedanken immer mehr Platz ein und verdrängten allmählich ihn. Still flossen die traurigen Gedanken über die vergangene Jugend, die schwindende Schönheit und das mißlungene Leben dahin. 78
Warum sollte sie sich betrügen. Wahre Liebe hatte sie nicht gekannt. Vor den Altar war sie getreten ohne zu wissen, was Liebe ist, dann kam die Verschreckung, die Angst vor der Leidenschaft des Mannes und später, wie ein höheres Geschenk, die herzliche Zuneigung zu ihm. Weit entfernt von jungfräulichen Träumen und Hoffnungen, doch in der gleichen Weise wie viele, die heiraten, hielt sie sich für zufrieden und fand stilles Glück in der Ehe. So aber erfuhr sie nicht, was jede Frau in der Liebe erleben möchte: Hingerissensein, Ersterben bis man nicht mehr atmen kann, völliges Selbstvergessen. Hatte sie danach von einer solchen Liebe geträumt? Nein. Sündigen Anwandlungen hatte sie sich nicht hingegeben, hatte eine Liebe außerhalb der Ehe weder erhofft noch gesucht. Jedoch geheimes Entzücken, das hatte sie empfunden, die Bestätigung ihrer weiblichen Macht, die Freude an jedem neuen Erfolg als Frau. Ihr Herz triumphierte, wenn sie inmitten vieler Menschen Blicken begegnete, die in unterdrückter Liebe schmachteten. Manchmal konnte sie nicht an sich halten, dann brüstete sie sich vor ihrem Mann. Dieser ärgerte sich und warf ihr Koketterie vor. Vielleicht tat er auch nur so, als ob er sich ärgerte: Bald lachte er über die Verehrer und gleichzeitig über seine Frau, stellte dabei Vergleiche an wie 79
das einfache Volk. Trotzalledem hatte sie den Eindruck, daß ihre Erfolge Puschkin eher amüsierten als ärgerten. Sie wußte: das Flüstern des Entzückens, das sich mit dem Rascheln der Seide vermengte – die Puschkina, die Natalja Puschkina, die Gattin des Dichters Puschkin –, schmeichelte auch seinen Ohren. Bereute sie nun ihr früheres gesellschaftliches Treiben? Natalja Nikolajewna blieb stehen und seufzte: tiefe Reue empfand sie nicht. Es hat aber auch andere Freuden gegeben, ja – durchaus! Vor drei Jahren war der glückliche Sommer, als sie mit Mascha und Sascha hier zu Gast gewesen war und Puschkin nach dreimonatiger Trennung zu ihnen kam. In jenem Sommer war sie in ihn verliebt. Auf jeden reimte er damals irgendeinen fröhlichen Vers – sie liefen und tobten wie die Kinder. Sie spielten zusammen mit den Mädchen Fangen, und er war schneller und geschickter als alle anderen. Sie kreischten, wenn sie sich aus seinen Händen wanden und fortliefen, lachten bis zum Geht-nicht-mehr, und er war heiß wie Feuer, impulsiv, schön. Sie erinnerte sich auch, wie sie von Heuschobern herunter ihm in die Arme sprangen und wie sie, wenn er ihre Schwestern auffing, eifersüchtig wurde. Oder wie alle gemeinsam Galopp ritten, sie sich an die Spitze der 80
Schwestern setzen und dadurch ihm gefallen wollte, er sie dann vor allen wegen ihrer Kühnheit und der Schnelligkeit des Pferdes lobte, unter vier Augen ihr aber Vorhaltungen machte: er hatte Angst, sie könne stürzen, so sicher war sie nicht im Sattel. Vieles aus jenem Sommer kam in ihrer Erinnerung hoch, vielleicht dem freudigsten, dem stürmischsten in ihrem Leben. Auch die innere Nähe zwischen ihnen hatte zugenommen. Puschkin hatte ihr seinen Traum von einem Leben auf dem Lande anvertraut, von Stille, Ruhe, Unabhängigkeit, die ihm für seine Arbeit so wichtig waren, für Familienglück, hatte ihr auch von seinem Kummer berichtet – der Zar hatte sein Mißvergnügen über Puschkins Antrag auf Entlassung aus dem Staatsdienst zum Ausdruck gebracht. Eines Abends, als sie allein waren, hatte ihr Puschkin den Anfang eines Gedichts vorgelesen: Zeit ist’s, mein Freund, ist Zeit. Das Herz verlangt nach Ruhe Es jagt ein Tag dem andern nach, und jede Stunde trägt Hinfort ein Teil des Seins. Diese Verse standen im krassen Widerspruch zu ihrem fröhlichen Leben auf dem Gut, schreckten sie durch ihre Sehnsucht, durch den Gedanken an den Tod, als sei er ganz nah. Sie hatte angefangen 81
zu weinen und gesagt, daß ihr die Gedichte nicht gefielen, daß sie schlecht seien. Er aber hatte plötzlich angefangen zu lachen, hatte sie zärtlich an den Ohren gepackt, wie er das gerne tat, und auf Augen und Stirn geküßt und mit zärtlichem Spott gesagt: »Ach, du Dummerle, die Verse sind gut, wenn ich sie fertig habe, wirst du es sehen.« Und gleich hatte er wieder albernes Zeug getrieben, hatte einen Mann gespielt, der zum Heiratsantrag aufs Gut gereist war. Dieser Heiratskandidat bat bei Maman um die Hand einer der Schwestern, egal welcher, wenn Maman bloß ihre Zustimmung gab, verliebte sich aber an Ort und Stelle plötzlich in Natalie und wollte kein Wort davon hören, daß sie schon verheiratet sei, bestand flehentlich darauf, unverzüglich den beiden ihren Segen zu geben. Nie hatte sie Puschkin mehr geliebt als in diesem Sommer. Vorher hatte sie nie an ein Leben auf dem Lande denken können, hatte es nicht gewünscht, jetzt gab sie ihr Einverständnis zur Übersiedlung. Sollte es so werden, wie ihr Mann es wollte, wie es für ihn besser wäre … Indessen, sie übersiedelten nicht aufs Land. Und warum nicht? Der Zar genehmigte Puschkins Entlassung nicht. Dennoch erwogen sie auch danach noch ein Leben auf dem Lande, und wie sie sich das einrichten sollten, machten sich Sorgen über das verlassene 82
Haus in Boldino, über die dort notwendigen Reparaturen, Umbauten, über die Übersiedlung, was an Sachen und wen vom Personal man mitnehmen solle … Doch je mehr sie darüber sprachen, desto deutlicher wurden die Schwierigkeiten einer solchen Veränderung. Puschkin überkamen Unruhe und Zorn: … diese Rechtlosigkeit eines Dichters in Rußland … Die Güter verpfändet, kein Geld … Dieser ewige Schnüffler Benckendorff … Schulden ringsum … Diese fürsorgliche Hand des Monarchen … Dann schulde ich noch dem … Auch die Schulden fesselten ihn an Petersburg. Nirgendwohin reisten sie. Jetzt kam ihr der Gedanke: vielleicht war das damals auch wahre Liebe? Sie aber hatte sie nicht erkannt, vermochte sie nicht zu halten, zu wahren … … Na, und das andere – war denn das Liebe? Nein. Dafür lehnte sie eine so hohe Bezeichnung ab. Kopfverdrehen, vetfige, Magnetismus – das war das andere. Das war in der Flamme ihres Kummers restlos verbrannt. Jetzt wußte sie es: Die große Liebe würde es in ihrem Leben nie geben, die große Liebe war unmöglich geworden. Gelbes Laub fiel von den Bäumen und raschelte, die Zweige wurden nackt, und Natalja Nikola83
jewna dachte: gerade so schnell und so spürbar vergeht meine Jugend. Was stand ihr bevor? Dunkle Stämme, nackte Zweige, verdorrtes braunes Gras, Kälte, Leere. Alter.
Im Hause der Gontscharows Kinder, Hauspersonal, Herrschaft
Als die feuchten kalten Herbsttage begannen, fingen sie an, in den Wohnräumen die Öfen zu heizen, und das große Haus mit den rauchenden Schornsteinen schwamm wie ein Dampfer im Meer eines pausenlosen feinen Regens. Der Park war düster geworden, war durch und durch feucht, an den nassen Zweigen klebte der Nebel, verdeckte die Wege und die umliegenden Flächen. Mit den Spaziergängen war es zuende. Natalja Nikolajewna litt darunter, tagelang eingesperrt in ihren Zimmern zu sitzen. Sie schlenderte durch das Haus und wußte nicht, womit sie sich beschäftigen sollte, wußte nicht, wohin sie gehörte. Ihre Schwermut nahm wieder zu. Das Gontscharowsche Haus, wo sie einst als kleines Mädchen beim Großvater gelebt hatte, war ihr wohlvertraut, aber sie war dort nicht zu Hause. Die hiesigen Wände hielten sie nicht, gaben ihr keinen Halt. Eines Tages, als sie das leere Eßzimmer durchschritt, blieb Natalja Nikolajewna am Fenster stehen und starrte auf den grauen tiefhängenden Himmel, die feuchten Bäume, die Pfützen mit den Regenbläschen. Plötzlich sah sie in der Allee, die zum Hause führte, hinter einer der Linden – 85
Puschkin. Ihr Herz zitterte, pochte stark. Er verbarg sich hinter dem Stamm des alten Baumes, im Halblicht des Regens waren nur die Krempe des Zylinders, die Schulter, die Schoße des Rocks und seine Hand mit dem Stock zu sehen. Natalja Nikolajewna preßte ihre Stirn an das Glas, blickte unverwandt an dieselbe Stelle und suchte sich zu beweisen, daß es kein Irrtum sei. Sie bewies es sich nicht dadurch, daß sie die Zylinderkrempe und die Jacke sah, sondern dadurch, daß er sich versteckte. Wer sollte sich sonst dort verstecken und warum? Vor wem verstecken, wenn nicht vor ihr, die zum Fenster hinausschaut? Verstecken konnte sich nur der, der es nicht wagte, zu denen zu stoßen, die sich im Hause befanden, dem es nicht gestattet war, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. In dem Versuch, den hinter dem Baum Stehenden besser zu erkennen, beugte sie sich nach vorn, schlug schmerzhaft an das Glas und schrie auf. »Matuschka, Natalja Nikolajewna, haben Sie sich wehgetan?« Hinter ihrem Rücken war Potapytsch mit Kerzen und einem Lappen in der Hand aufgetaucht. Natalja Nikolajewna drehte sich um. »Schau, da drüben … Siehst du, da versteckt sich jemand hinter der Linde? Im Zylinder und mit einem Stock. Wer ist das?« »Gnädige Frau, wer sollte denn da sein, wer sich 86
verstecken? Da ist der Verwalter vorübergegangen in Schirmmütze und mit einem Stock. Der Verwalter von der Tuchfabrik ist zum Herrn gegangen. Vielleicht mußte er einmal und ist deshalb hinter die Linde getreten. Der Herr behüte Sie, gnädige Frau, wer sollte sich dort verstecken?« Natalja Nikolajewna seufzte und trat vom Fenster fort. Sie überlegte, werde ich etwa wahnsinnig? Am Abend fragte sie Alexandra, ohne ihr etwas zu erzählen: »Ob ich etwa geisteskrank werde wie Vater?« Worauf Alexandra, ihren Schreck verbergend, scharf antwortete: »Bilde dir nichts ein, meine Liebe, du bist zu einfachen Gemüts, um verrückt zu werden.« Für sich selbst aber stellte sie fest: Natalie zeigt eine Neigung zum Phantasieren. Sie wußte von Jelisaweta Jegorowna, daß Natalie sich fast fünf Monate lang eine Schwangerschaft eingebildet hatte, ungeachtet dessen, daß ihr Bauch eingefallen war wie bei einem Windhund. Es ging der Umwelt auf die Nerven, wie Natalja Nikolajewna stundenlang durch das Haus zog, bald hier, bald dort auftauchte; so versuchte man, sie in die Aufgaben des Alltags einzuspannen. Jelisaweta Jegorowna bat sie, ihr bei der Beaufsichtigung des Haushalts zu helfen. Indessen, dafür mußte man nicht nur Weisungen geben kön87
nen, sondern auch selbst wissen, was sich in Kästen und Kammern befand, was in der Küche gebraucht wurde, man mußte sogar eine Vorstellung von den Ställen haben. Natalja Nikolajewna hatte von dem Gontscharowschen Großhaushalt keine Ahnung, und die Frau ihres Bruders brauchte so offensichtlich ihre Hilfe nicht, daß sie nicht einmal den Erleichterungsseufzer unterdrücken konnte, als Natalie von dieser Arbeit Abstand nahm. Dmitri Nikolajewitsch wollte seine Schwester in die Angelegenheiten der Tuchfabrik einweihen. Er versuchte, vor ihr ein Bild der Finanzquellen zu entwerfen, der Methoden, die Schulden zu löschen, auch der Beträge, die zum Unterhalt der jüngeren Mitglieder der Gontscharow-Familie bestimmt waren. Natalja Nikolajewna bekam von den Berichten ihres Bruders Kopfschmerzen – er erklärte alles so langsam, so genau und dabei so wirr, daß er selbst den Faden verlor und das Wesen der Sache nicht klarmachen konnte. Natalja Nikolajewna versuchte zu sticken, was sie einst gern getan hatte, aber diese Beschäftigung rief in ihrem Gedächtnis die friedlichen Bilder des Familienlebens wach, und so hatte der Stickrahmen nur eine noch größere Verstärkung des Kummers zur Folge. Das Hab und Gut, das aus St. Petersburg herbeigeschafft worden war, mußte aufgeräumt werden. 88
Doch sie hatte Angst davor, die Dinge von dort anzurühren oder auch nur anzuschauen, weil sie voll des früheren Lebens waren und dieses frühere Leben wie etwas Materielles greifbar machten, wie einen Gegenstand, der nicht nur Schmerz, sondern auch Krankheit hervorrufen konnte. Einmal nahm sich Natalja Nikolajewna ein Kästchen mit den Briefen ihres Mannes, die er ihr in verschiedenen Jahren geschrieben hatte, in den Wochen und Monaten, die sie getrennt gewesen waren. Sie ergriff eines der Päckchen, das mit einer Schnur zusammengebunden war, holte ein zusammengefaltetes Blatt heraus, hielt es in der Hand, ohne es aufzuschlagen, und fing plötzlich an zu zittern, allein infolge des Gedankens, daß dieses selbe Blatt er in der Hand gehalten hatte und diese Worte er geschrieben hatte. Dabei waren die Worte die allereinfachsten: »Ihrer Hoheit Frau Natalja Nikolajewna Puschkin / bei Bataschow St. Petersburg Dworzowaja Nabereshnaja bei der Pratschetschni Brücke« Schon diese Worte allein ließen sie erschaudern. Natalja Nikolajewna schloß das Kästchen und schlang überkreuz ein schwarzes Band darum. Sie hatte nicht die Kraft, seine Briefe zu lesen. Auch die Bücher, seine Bücher konnte sie nicht anrühren. Sie hatte versucht, sie aufzuschlagen, nicht die, die sie mitgebracht hatte, sondern andere, die auf ihre Bitte hin Pletnjow geschickt hatte. Sie 89
hatte angefangen zu lesen, aber das ging nicht: In den Versen erklang seine Stimme – singend, klingend, lebendig. Und wieder überkam sie ein Schaudern. Für alles, was von dort stammte, aus ihrem früheren Leben, reichte ihre Kraft nicht – nicht nur die seelische, einfach die rein physische Kraft. Alexandrina setzte ungeachtet des schlechten Wetters ihre Ausritte fort und machte der Schwester wegen ihrer unzureichend strengen Hand in den Kinderzimmern Vorwürfe. Die Amme sollte ins Dorf zurückgeschickt werden, nachdem Taschenka abgestillt war, auf eines der Kindermädchen konnte man jetzt verzichten, nachdem Fiska den Kindern zugeteilt worden war. Viel Personal erleichtert nicht die Ordnung. Zudem verbrachte die Schneiderin Lisa aus unklaren Gründen ziemlich viel Zeit bei den Kindern, doch mit der Lisa würde Alexandra schon selbst fertig werden. Natalja Nikolajewna schaute mehrfach am Tage in die Kinderzimmer hinein, und wenn etwa eines der Kinder krank wurde, dann verbrachte sie mit dem Kranken nicht wenig Zeit. Gegenwärtig waren, Gott sei Dank, die Kinder gesund. Alexandrina hatte recht. In den Kinderzimmern waren zu viele Leute und zu viel Lärm. Fiska fielen immer wieder fröhliche Spiele mit den Älteren ein. Fröhlichkeit ist etwas Gutes, und Mascha verfiel seltener in traurige Gedanken. Die 90
Amme wollte sie nicht beleidigen, sie war so sehr an Taschenka gebunden, die Kleine würde ohne sie traurig werden, liebte sie ja mehr als das Kindermädchen. Doch Lisa, die Schneiderin … Natalja Nikolajewna hatte ihre Gefühle seit langem durchschaut. Lisa mußte sich einfach mit Saschenka sehen. Im Kinderzimmer wurde Lisa eine ganz andere. Wie konnte man sie von dort fernhalten? Natalja Nikolajewna fiel es immer schwer, dem Personal Weisungen zu geben. Puschkin hatte sie deshalb ausgelacht und gesagt, sie verwöhne ihr Personal, sollte sich den Charakter einer ihrer Schwestern leihen. Aber als er es übernahm, die Lage in Ordnung zu bringen, änderte sie sich nur für kurze Zeit. Er war jähzornig, geriet leicht aus der Fassung, hielt nicht durch, und so mußte sie wieder selbst sehen, wie sie mit den häuslichen Schwierigkeiten fertig wurde. Gegenwärtig fühlte sie, daß es ihr in den Kinderzimmern am besten ging. Das lag nicht nur an den Kindern, sondern auch an den vielen lauten fröhlichen Menschen. Daran wollte sie nichts ändern. Sie hatte Angst, daß sich Alexandrina einmischen würde, wollte das nicht und versprach daher der Schwester, sie werde sich mit der Regelung in den Kinderzimmern in den nächsten Tagen befassen. Aber dann regelte sich alles von selbst und ohne ihr Zutun. 91
Der Dauerregen hörte schlagartig auf, Wind fegte in einer Nacht die Wolken weg, Sterne übersäten den Himmel, und zum Morgen fiel Reif, so üppig, daß es aussah wie Schnee. Der Winter stand vor der Tür. Natalja Nikolajewna rief gleich am Morgen die Schneiderin Lisa ins Kinderzimmer und sah mit ihr und dem ältesten Kindermädchen alle Winterkleidung durch. Lisa brachte einen Berg Pelze, Umhänge, warme Hosen, Wollmützen, Pelzkappen und Muffe herbei. Sie probierten die Sachen an und stellten fest, daß die großen Kinder aus allem herausgewachsen waren, die kleinen Neues brauchten, sobald sie aus dem Babyalter heraus waren. Sie holten aus den Truhen Pelze, Samt und andere Stoffe, breiteten alles aus, prüften es und beschlossen, wem woraus was genäht werden solle. Die Arbeit erwies sich als äußerst dringend. Sie mußte bis zum Winterbeginn fertig sein. So nahmen sie neben den Kinderzimmern noch ein Zimmer in Beschlag. Dort richteten sich Lisa und unter ihrer Leitung vier Mädchen ein. Lisa nahm Maß, paßte an und schnitt zu, die Mädchen nähten achthändig. Die Kinder, die während des feuchten Herbstwetters ständig hatten zu Hause sitzen müssen, warteten voller Ungeduld auf den Winter. Onkel Mitja hatte ihnen versprochen, in der Nähe des 92
Hauses eine große Rodelbahn zu bauen. Der Bursche Fomka und der alte Potapytsch brachten die Schlitten in Ordnung, Fiska sang mit fröhlicher Stimme den herrschaftlichen Kindern Lieder von den Winterfreuden vor. Als Lisa Saschenka einen Stoffmantel anpaßte, erzählte sie ihm von den tüchtigen Buben, die auf dem See neben dem Ufer schon auf hölzernen Schlittschuhen laufen. Sascha konnte nicht mehr stehen bleiben, er wand sich hin und her und jammerte: »Heiß.« Natalja Nikolajewna sagte streng: »Wenn du bei der Anprobe nicht stillstehst, wird Lisa mit dem Nähen nicht fertig, und wir gehen ohne dich in den Schnee.« Sascha antwortete ärgerlich: »Könnt ihr ja machen, ich komme dann mit Lisa nach.« Lisa lachte, öffnete schnell die Sicherheitsnadel und zog ihm den kleinen Kosakenrock aus. Sascha blickte zur Mutter hin und fuhr fort: »Wir gehen zusammen in den Schnee, mit Lisa und mit Mama.« Dabei faßte er sie beide an den Händen. Saschas Güte löste bei den Frauen ein gleichzeitiges freundliches Lächeln aus. Lisa sagte gerührt: »Der Mama nähen wir auch einen warmen Waterproof.« Natalja Nikolajewna überlegte sich, was sie denn 93
selbst an Winterkleidung habe. Offenbar gar nichts, alles war ihr jetzt zu weit. Lisa sagte fröhlich: »Das nähen wir schon, das ändern wir schon, das schaffen wir schon – und es wird wie neu.«
Das dunkelhonigfarbene Kleid Natalja Nikolajewna
Abends betete Natalja Nikolajewna in der Ecke vor den Ikonen. Die kleinen Öllampen strahlten ihre Wärme aus und zitterten. Die Lichter spiegelten sich in den Ikonenschreinen, in den goldenen und silbernen Beschlägen, und alles – das echte Heiße und das gespiegelte Kalte – wiederholte sich in den dunklen Fensterscheiben, flimmerte tausendfach. Natalja Nikolajewna kam es so vor, als sei sie in der Kirche – so viele Lichter waren ringsum. Sie betete lange, rief sich dabei verschiedene Gebete ins Gedächtnis und endete mit den Worten: »Und schenk mir einen ruhigen und friedlichen Schlaf.« Dann hob sie den Kopf und erstarb. In dem nahen Fenster erschien ihr plötzlich durch die flimmernden Lichter hindurch das Antlitz der leidenden Gottesmutter selbst – ein Antlitz von großer Schönheit und großer Trauer. Das leidende Antlitz war von außen an die Scheibe gelehnt und ihr hörend und schauend zugewandt. Natalja Nikolajewna blickte auf das Fenster, war wie erstarrt, hielt die Augen krampfhaft auf und wagte nicht zu atmen, um die Erscheinung nicht auszulöschen. Aber sie hielt das nicht durch, bewegte sich, und da verschob sich 95
auch das Antlitz, neigte sich, drehte sich um, und sie begriff, daß sie nur ihr eigenes Gesicht sah. In der Angst vor diesem Trugbild, vor dieser Täuschung kam ihr der Gedanke, ob ihre Schönheit etwa gar kein Geschenk, sondern eine Strafe Gottes sei. Da hatte sie den Drang, noch einmal hinzuschauen, aber sie gestattete es sich nicht, senkte die Augen und ging zurück in die Tiefe des Zimmers. Nachts träumte sie sich in dem dunkelhonigfarbenen Kleid mit dem goldenen gestickten Besatz unten, das ihr für den Sylvesterball vor dem Unglücksjahr genäht worden war. Dieses Kleid paßte wie kein anderes zu ihren dunklen Haaren, ihren grünbraunen Augen, der seidigen Haut mit dem kaum bemerkbaren, zarten rötlichen Anflug. In genau dieser Garderobe – schön, ganz wie damals – sah Natalja Nikolajewna sich im Traum. Sie ging wohl durch einen großen Saal mit vielen Säulen, einen leeren und fast dunklen Saal. Nur ein paar Wachskerzen brannten in einem für einen solchen Raum ungewöhnlichen Kirchenkronleuchter. Bei seinem schwachen und flackernden Licht erblickte sie ihn, ihren Mann. Puschkin durchquerte den Saal an seinem anderen Ende, bald verschwand er hinter Säulen, bald kam er wieder ins Licht. Sie wollte ihn anhalten, rufen, doch konnte 96
sie das nicht, es fehlte ihr an Atem. Sie beeilte sich, den Saal zu durchschreiten, um ihn zu erreichen, doch plötzlich wurden ihre Füße schwer, sie konnte sie nicht mehr bewegen. Er aber verschwand immer häufiger im Schatten und tauchte immer seltener auf. Als sie ihn aus den Augen verlor, überwand sie ihre Schwäche und eilte verzweifelt in seiner Richtung, da flammten plötzlich die Kerzen in den Lüstern auf, von oben her donnerte Musik, und sie befand sich in einer tanzenden Menge. Man stieß sie, umringte sie, ohne sie zu sehen, ohne sie zu bemerken. Gesichter, Garderoben tauchten auf, wertvoller Schmuck glitzerte und zerfloß zu glänzenden Streifen und Flecken. Mühsam drängte sie sich durch das Gewure, schob sich durch den Saal, wußte aber schon, daß alles zu Ende war. Er war nicht mehr zu erreichen, nicht mehr zu finden. Natalja Nikolajewna erwachte von einem Angstgefühl, von einem Druck im Herzen und lag lange mit offenen Augen da, fürchtete sich einzuschlafen und spürte, daß der Traum sich wiederholen konnte. Beim Mittagessen fragte Natalja Nikolajewna ihre Schwester: »Alexandrina, weißt du nicht, wo mein dunkelhonigfarbenes Kleid ist?« »Das Atlaskleid in miel foncé?« fragte die Schwester zurück. »Es ist in der großen Truhe, ma 97
chère, Lisa hat es auf das übrige gelegt. Willst du es haben? Wenn ja, lasse ich es holen.« »Nein, nein«, Natalaja Nikolajewna schien sich über ihre eigene Frage zu erschrecken. »Ich habe nur so gefragt, es kam mir ins Gedächtnis …« Alexandra Nikolajewna wechselte mit Jelisaweta Jegorowna einen Blick und unterdrückte ein Lächeln. Beide dachten dasselbe: Natascha fängt an aufzuleben. Natalja Nikolajewna hatte Angst vor dem furchtbaren Traum, und zu gleicher Zeit wartete sie auf ihn wie auf eine Begegnung nach dem Tode. Der Traum wiederholte sich während des Winters ein paarmal, änderte sich dabei ein wenig, blieb aber genauso aufregend und quälend. Jedesmal sah sie ihren verstorbenen Mann in einiger Entfernung, konnte sich ihm aber nicht nähern. Unverändert schritt er in einigem Abstand von ihr durch den Raum ohne aufzublicken und entschwand ihren Augen, ehe sie ihn erreichen konnte. Das Christfest nahte. Im Gontscharowschen Haus feierte man es im kleinsten Kreise. Die Familie ging in die Kirche, zu Hause wurde eine Andacht abgehalten, sie empfingen nur den Geistlichen mit seinem kirchlichen Personal, die Leute aus dem Dorf mit dem traditionellen Bittlied ließen sie nicht herein. Lisa und Fiska führten unter Aufsicht von Alexandra Nikolajewna die älteren Kinder ins Dorf, 99
damit sie beim Rodeln aufpaßten. Alle staunten sehr über die Tante Asja: sie raffte ihren Rock, setzte sich auf den Schlitten und rodelte von dem hohen vereisten Berg mit Mascha auf den Knien und dem Burschen Fomka hinter sich auf den Kufen hinab. Das Gerede darüber drang zu Jelisaweta Jegorowna, und sie äußerte ihrem Mann gegenüber ihre Besorgnis: das Verhalten ihrer Schwägerin war indignierend – nicht nur im Urteil des Personals, sondern auch dem der Nachbarn, die von diesem seltsamen Vergnügen sicher Kenntnis bekommen würden. Übrigens waren Alexandrinas Schlittenausflüge mit dem Goldfuchs ohne Kutscher ebenso ungehörig. Dmitri Nikolajewitsch wußte, daß Alexandrina, seitdem eine dicke Schneeschicht lag, anstelle ihrer Ausritte Spazierfahrten im leichten Schlitten unternahm und dabei den Goldfuchs-Hengst selbst lenkte, der, weil er lange im Stall gestanden hatte, gefährlich war. Aber die Angst um die Schwester war bei Dmitri Nikolajewitsch nicht so groß wie seine Angst um sich selbst angesichts dieser Amazone Asja, und so entschloß er sich nicht, mit ihr zu reden, sondern bat darum Natalie. Die Folgen des Gesprächs der Schwestern waren unerwartet. Alexandrina hüllte Tascha, ihre Schwester, in die übliche Winterkleidung und 100
noch ein weiches Orenburger Tuch, setzte sie in den gedeckten Schlitten und nahm sie mit. Natalie kehrte von der Ausfahrt gerötet zurück und aß mit großem Appetit. Alexandrina lachte und erzählte beim Essen, wie Tascha in den Kurven gekreischt hätte, als der Schlitten rutschte. Ihr Bruder Dmitri und Jelisaweta Jegorowna hörten diesen Bericht mißbilligend an. Natalja Nikolajewna begleitete ihre Schwester bei keinem Ausflug mehr. Das neue Jahr stand vor der Tür, und sie begingen den Jahreswechsel ohne eine Feier. Dann kamen die traurigen Tage – der Jahrestag von Puschkins Tod. Seelenmessen wurden abgehalten – in der Kirche für alle, zu Hause für die Herrschaft, die einsässige und die zugereiste. Es fanden sich hierzu auch einige wenige Nachbarn ein, auch die Mutter, Natalja Iwanowna aus Jaropoletz. Natalja Nikolajewna wollte zum Grab ihres Mannes nach Swjatyje Gory fahren. Doch da der Frost in diesem Jahr zu Lichtmeß besonders heftig und der Weg lang war, ihre Gesundheit aber noch immer schwach, redete die Verwandtschaft ihr die Fahrt aus. Zum Jahrestag, in der Nacht auf den Dreißigsten, hatte sie wieder den Traum, der sie durch seine ständige Wiederkehr erschreckte, durch die Unausschöpf lichkeit seines Kummers. Vom 100
Schmerz übermannt, stand Natalja Nikolajewna auf und zog wie ein dunkler Schatten durch das Haus. Dabei geriet sie auch zur Pachomowna im Entresol. Natalja Nikolajewna kannte und liebte die Amme ihres älteren Bruders seit ihrer Kindheit. »Ach, liebe Pachomowna, ich habe es so schwer«, antwortete sie auf deren Frage, wie es ihr gehe. »Mich beunruhigen Träume.« Sie erzählte der alten Frau den sich ständig wiederholenden Traum. »Hat er dich gerufen? Hat er dich locken wollen?« fragte die alte Frau ganz ruhig, als handele es sich um die natürlichste Angelegenheit. »Nun, dann ist es schon recht, wenn er dich nicht gerufen hat. Du wirst ein langes Leben haben. Deinen Schmerz aber, den nehme ich dir, wenn du es willst. Du hast schon genug gelitten, schau dich doch an, wie elend du aussiehst. Denk mal an deine Kinder. Komm, leg dein Köpfchen auf die Arme, mach die Äuglein zu, dann will ich dich besprechen.« Natalja Nikolajewna ließ gehorsam ihren Kopf auf die überkreuz gelegten Arme sinken und schloß die Augen. Die Pachomowna legte ihr ihre warme Hand in den Nacken und begann leise in singendem Ton zu sprechen. »Sehnsucht habe ich, ich graue Ente, nach mei101
nem Herrn, nach meinem Enterich … Die Äuglein habe ich mir ganz ausgeweint, habe die Erde, habe das Gras mit meinen Tränen ausgewaschen. Geh fort, geh fort, mein Schmerz, mach mir mein Köpfchen nicht trübe, mach mir mein Herzchen nicht schwer. Trocknen will ich mich in der hellen Sonne, will die grauen Federchen ausschlagen, will zu den kleinen Entchen fliegen. Trinken wollen sie, essen wollen sie, rufen tun sie mich, ihr Mütterchen, jetzt aber muß ich allein sie nähren, muß ich allein sie schützen …« Immer leiser und leiser sprach die Pachomowna. Schon konnte man die Worte nicht mehr genau verstehen. Schließlich verstummte sie. Natalja Nikolajewna atmete gleichmäßig, ruhig. Sie schlief.
Ein nichtgeschriebener Brief Pawel Woinowitsch Naschtschokin
Mein lieber, herzenslieber Freund, als Du heiratetest, da glaubte ich, ich hätte Dich für immer verloren. Beim Abschied hatte ich eine seltsame Vorstellung: als seiest Du gestorben und als würden wir uns nie mehr wiedersehen. Als ich Dich mit Natalja Nikolajewna nach Petersburg begleitete, weinte ich im Wagen, als sei ich ein höchst sentimentales junges Fräulein. Vielleicht war das ein Vorgefühl meines dummen Herzens, daß es mir bestimmt wäre, Dich so früh zu verlieren? Jetzt deucht mich, ich werde ohne Dich noch lange leere Jahre leben. Als die schreckliche Nachricht von Deinem Ende eintraf, warf mich ein Fieber nieder. Auch jetzt habe ich den Eindruck, nicht ganz normal zu sein. Ich schreibe Dir einen Brief – ist das etwa normal? Doch warum sollte ich keinen Brief schreiben, auch wenn ich ihn jetzt nicht mehr absende, warum sollte ich nicht mehr mit Dir sprechen? Du bist doch die ganze Zeit vor meinen Augen und vor meinen Ohren: Ich sehe Dich und ich höre Dich. Da gehst Du flink durch das Zimmer, und ich Faulpelz liege auf der Bank. Du redest und ich höre zu. Deine Augen glänzen, sind wohl feucht, doch nicht von Tränen, sondern aus Interesse an 103
dem Thema unseres Gesprächs. Oder Du hältst unvermittelt neben dem Fenster inne, irgend etwas hat Deinen Blick oder Deine Gedanken plötzlich gefesselt, als sei Deine Seele entschwunden. Ich aber habe meine Freude an Dir, wie Du da so stehst und wie Du Dich so leicht bewegst. Ganz niedergedrückt bin ich vor Schmerz – an Seele und Körper. Ich habe mir ja auch ein seltsames Vergnügen ausgedacht, mich mit einem Toten zu unterhalten. Doch da ich mich an Dich als Lebendigen gut erinnere, Dich als Toten aber nicht gesehen habe, stehst Du mir stets als Lebendiger vor Augen. Da sitzt Du auf der Bank, hast ein Bein übergeschlagen, hörst mir zu, gerade wie bei Deinem letzten Besuch. Müde warst Du damals, sehr häuslich, hast mit der Pfeife im Mund dagesessen. Ich rede, Du hörst mir zu, blickst nachdenklich durch mich hindurch, und ich weiß nicht, ob Du mich hörst oder nicht. Dabei habe ich Angst, mit dem Erzählen innezuhalten, um Dich durch mein Verstummen nicht zu verschrecken. Höre, wie weit ich mit meinem Kummer geraten bin: Ich spüre, ich muß Dir auch erzählen, wie ich auf das Gontscharowsche Gut gefahren bin, um Deine Familie zu besuchen. Beim erstenmal, als sie sich auf der Durchreise in Moskau befanden, habe ich Natalja Nikolajewna nicht gesehen, obwohl ich sofort zu ihnen in die 104
Nikitzkaja gefahren bin. Sie hatte damals häufige Anfälle, und ihre Schwester ließ mich nicht zu ihr. Sie hatte Angst, eine solche Begegnung könnte ihre Nerven völlig durcheinander bringen, eine tiefe Ohnmacht oder sogar einen Gedächtnisschwund auslösen. Das hatte es bei ihr schon gegeben. Wenn es sich wiederholen würde, so müßten sie für längere Zeit ihre Reise unterbrechen. Dann sind sie aufs Gut abgereist, und ich habe es dorthin bis zur Schlammperiode nicht geschafft. Dann habe ich Ostern abgewartet und konnte mich nicht entschließen, bis es richtig warm war. Jetzt bin ich dort gewesen, und kaum bin ich wieder hier, so hat mich der schreckliche Kummer wieder überfallen. Mir scheint, von all dem Kummer bin ich schon nicht mehr ganz richtig. Bei den Gontscharows habe ich alles aufs Beste angetroffen. Als ich zum Gutshof vorfuhr, überlegte ich, wie schwer es gewesen sein mußte, den ersten Frühling ohne Dich zu überstehen. Ich traf alle gesund an, nur Natalja Nikolajewna hat stark abgenommen. Als sie ins Wohnzimmer kam, wo ich sie erwartete, sank sie mir an die Brust, sie weinte nicht, sie stöhnte nur. Geweint habe ich, und meine Tränen flossen ihr auf die Schulter. Ihre Schönheit ist noch überirdischer geworden: nicht so wie Du von ihr sprachst – eine Madonna, 105
sondern eher wie unsere Kirche das nennt – die Leidensmutter. Ich weiß, wie auch Du es weißt, daß die Zeit sie heilen wird, daß das vergeht, daß sie wieder zu sich kommt. Ja, es muß auch so sein, muß sein, daß es so ist. Vielleicht wird ihr Herz ausheilen, meins, das weiß ich, wird es nie. Nun, soll es ausheilen, soll es leben, auch wenn meine Seele von diesem Gedanken eifersüchtig wird. Man kann sie ja nicht wie die Frauen der Pharaonen lebendig beerdigen. Indessen, wie wird ihr Leben sein? Ich ahne, daß es schlimm wird. Man wird ihr keine Ruhe lassen. Wie sind denn die Menschen? Sie kennen fremdes Leben besser als das eigene, sie sind in einer fremden Seele und in fremden Truhen bessere Herren als in den eigenen. So werden sie ihr alle ihre Sünden vorhalten und ankreiden. Denke doch bloß an das Geld: Du hast vielleicht fünftausend verspielt – Dir wird das zugestanden, ihr aber werden fünfhundert für die Garderobe angekreidet. Ich fürchte, man wird ihr allein alle Schuld geben. Ist es doch immer leichter, einen einzigen Schuldigen zu finden, als zwei oder drei. Man greift den, der am nächsten ist; die, die weiter weg sind, verstecken sich. Alles wird man Deiner armen Frau vorhalten: warum sie zu den Bällen gefahren sei, warum sie 106
sich so schön angezogen habe, warum sie den Männern gefallen habe. Und was da noch für Vorwürfe kommen werden: warum sie keine Gedichte geschrieben habe, wie Deine Kleine mit dem deutschen Namen aus Kasan, oder warum sie nicht pfiffig war, wie die Schwestern aus Moskau-Presnja, denen Du den Hof gemacht hast, oder warum sie kein so weltmännisches Wesen war, wie Dein Petersburger Gscheitle, bei der Du nachts ins Haus zu einem Rendezvous eingedrungen bist, morgens aber kaum wieder wegkamst. Verzeih, mein Freund, daß ich mich mit Dir in einer so miesen Stimmung unterhalte, daß ich so schwarz sehe und krächze wie ein tiefschwarzer weissagender Rabe. Mein Herz ist in höchst ungewöhnlicher Erregung und mein Denken so ahnungsvoll – ich fühle alles im voraus und, wenn ich es auch nicht klar sagen kann, spüren kann ich es schon. Eines aber ist klar: Natalja Nikolajewna erlebte als Deine Frau durch Deinen Ruhm ihren Aufstieg, nun wird sie durch diesen auch zugrunde gerichtet. Von mir aber weißt Du, wie ich Euch beide liebe und wie sie mir unter allen Deinen Freunden eine besondere Rolle zugemessen hat – und Du weißt auch, wie ich um sie leiden werde. Nun weiß ich schon gar nicht mehr, was ich da fasele – alles geht durcheinander, Vergangenheit 107
und Zukunft, wie bei einem ganz schlechten Schreiberling. Doch vor meinen Augen steht immer dasselbe Bild, das ich ständig in den Jahren unserer Trennung gesehen habe, fern von Dir, und für das ich Dich gebeten hatte, den Maler zu finden: Ich stehe mit Dir im Arbeitszimmer und schweige. Ich warte und weiß selbst nicht, worauf. Du liest in irgendwelchen Blättern, Natalja Nikolajewna sitzt und stickt. Vielleicht wird sich das so erfüllen, wenn wir uns alle dort, fern von hier, wiedersehen? Ich tröste mich mit dieser Hoffnung. Darum aber sage ich nun nicht, »leb wohl«, sondern ich sage Dir, mein Freund: auf Wiedersehen.
Die wichtigsten Figuren
Natálja Nikolájewna Púschkin Ehefrau des im Duell 1837 tödlich verwundeten Dichters Alexánder Sergéjewitsch Púschkin ihre Kinder: Máscha, Sáscha, Táscha, Gríscha Alexándra Nikolájewna Gontscharów deren unverheiratete Schwester Katherina (Catherine) Nikolájewna d’Anthès deren Schwester Dmítri Nikolájewitsch Gontscharów deren Bruder. Besitzer des Erbgutes der Gontscharóws Jelisawéta Jegórowna Gontscharów dessen Frau Sérgej Lwówitsch Púschkin Vater des Dichters Alexander Púschkin Nikoláj Afanásjewitsch Gontscharów Natálja Iwánowna Gontscharów Eltern von Natálja, Alexándra, Katherina und Dmítri Gontscharów
756 Warum sollte Natascha sich betrügen. Wahre Liebe hatte sie nicht gekannt. Vor den Altar war sie getreten, ohne zu wissen, was Liebe ist, dann kam die Verschreckung, die Angst vor der Leidenschaft des Mannes und später, wie ein höheres Geschenk, die herzliche Zuneigung zu ihm.