Nuruddin Farah
TOCHTER FRAU Roman
Aus dem Englischen von Klaus Pemsel
MARINO BEI FREDERKING & THALER
© der englisc...
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Nuruddin Farah
TOCHTER FRAU Roman
Aus dem Englischen von Klaus Pemsel
MARINO BEI FREDERKING & THALER
© der englischen Originalausgabe 1981, 1982, 1992 Nuruddin Farah Graywolf Press, Minnesota Englischer Originaltitel »Sardines« Erstveröffentlichung 1981 bei Allison and Busby Ltd und in African Writers Series 1982 bei Heinemann Educational Books Limited
© 2001 für die deutschsprachige Ausgabe Marino bei Frederking & Thaler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH www.frederking-und-thaler.de Alle Rechte vorbehalten MARINO bei Frederking & Thaler herausgegeben von Ilija Trojanow Übersetzung aus dem Englischen: Klaus Pemsel, München Lektorat: Karl Heinz Bittel, München Herstellung und Satz: Büro Caroline Sieveking, München Umschlaggestaltung: Petra Dorkenwald, München Umschlagfoto: Stangl & Dorkenwald, München Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-89405-807-2 Der ganze oder teilweise Abdruck und die elektronische oder mechanische Vervielfältigung, gleich welcher Art, sind nicht erlaubt. Abdruckgenehmigungen in Verbindung mit der deutschsprachigen Buchausgabe erteilt der Frederking & Thaler Verlag.
Mit der Situation der Frauen in seinem Heimatland beschäftigte sich der somalische Autor bereits in dem Roman „Aus einer Rippe gebaut“ (BA 2/87). Im vorliegenden, schon 1981 in Englisch veröffentlichten Werk stehen die Themen Vergewaltigung und Beschneidung im Mittelpunkt. Eine junge Journalistin verlässt mit ihrer Tochter ihren Ehemann, einen opportunistischen Minister des diktatorischen Regimes, weil sie die Beschneidung des kleinen Mädchens verhindern will. Außerdem hat sie gerade wegen regierungskritischer Artikel ihren Job bei einer Zeitung verloren. Im Hause ihres Bruders, der wegen seiner Beziehung zu einer in Ungnade gefallenen Sängerin von der Polizei observiert wird, versucht sie ihr Leben und ihre Ehe neu zu ordnen. Der manchmal etwas programmatisch anmutende, anschaulich erzählte Roman schildert die spannungsreiche Situation von gut ausgebildeten, emanzipierten Frauen innerhalb einer autoritären, von überkommenen Wertvorstellungen geprägten Gesellschaft.
Für meine Brüder, für Martine und Patricia und für meinen Sohn Koschin in herzlichster Liebe
Besondere Danksagung und Hochachtung geht an alle meine Freunde, die während dieser mageren Jahre eine große Hilfe waren – insbesondere an Monique, Rosalynde, Jenni & Angus und Josef & Janine; liebevoller Dank geht auch an meine Lektorin Margaret.
Alle somalischen Begriffe sind in der Schreibweise der englischen Fassung belassen worden (wobei darauf hinzuweisen ist, dass x als ch ausgesprochen wird). Nur arabische Bezeichnungen wie kaura und hadschija sind eingedeutscht worden.
TEIL EINS In Ketten zu sein ist ein Luxus. Die Angeketteten haben einen Ort zum Schlafen, die ohne Ketten nicht. Ho Chi Minh
Alles stirbt! Nicht nur Die aufstrebenden Bäume, Männer, Gräser Des Dichters Schönheitsformen vergehen Und edelste Taten werden zunichte, Sogar die Wahrheit verfällt und siehe, Aus der Wahrheit trüber Asche wachsen Pein und Verlogenheit Alles stirbt! Der Arbeiter stirbt und nach ihm die Arbeit Herman Melville
In einer hungernden Stadt ebenso wie in einem billigen Restaurant liegt immer der Duft von Essen in der Luft Malcolm Muggeridge
1
Sie rekonstruierte die Geschichte von Anfang an, schichtete sie zu einer Reihe sich gegenseitig stützender Pyramiden auf. Daraus errichtete sie ein ungeheuer gefestigtes und tragfähiges Gebilde. Dann baute sie darauf Villen, Villen so groß wie ihre Vorstellungskraft, mit sehr vielen Zimmern, die von Fluren abgingen, in denen sie sich verirrte, die sie aber schließlich doch, als sie sich ihnen zu folgen entschied, zu einer geheimen Hintertür in einem Flügel des Gebäudes führten. Sie blieb davor stehen, holte tief Luft und ließ sich Zeit. Das Ergebnis fand ihre Bewunderung. Die Stille erweiterte sich und sie ging durch die Tür, die sich auftat. Sie schweifte durch die Architektur ihrer Gedanken. Dabei schien ihr, sie müsse alles neu streichen, alles neu dekorieren, die Wände neu tapezieren und jede Säule noch einmal verkleiden. Nun versah sie jeden Winkel mit einem neuen Anstrich, um den Raum farbiger wirken zu lassen, so aussagekräftig wie die von ihr gesehene Vision, Farbe so frisch wie ein süßer Traum, wunderschön blau hier, sonnenhell weiß da. Um einen Effekt zu erzielen, markierte sie die Stelle, wo die Wände sich trafen, mit einer in Rot geschriebenen Warnung: Halt ein und pass auf: Er ist nicht wir alle! Sie streifte ziellos umher, stolperte über eine Vase voller Wasser und zerbrach sie. Sie erstarrte. Ihr Geist schied die Toten von den Lebenden; sie betrachtete die Lilie, die mit derselben gemächlichen Gleichgültigkeit vergangen war wie das Wasser, das – ebenso wie das Leben – davonfloss, um sich mit einer anderen Lebensform zu vermischen. Sie entschied, aus ihren
Gedanken alles zu verbannen, was nicht unmittelbar von Belang war. Und über das von ihr Rekonstruierte legte sie einen Teppich von Mustern, die sie selbst entworfen hatte und von denen keines, soweit sie wusste, bekannte Vorläufer hatte. Das, so glaubte sie, würde es ihr ermöglichen, frische Biegungen und Wendungen in die Rekonstruktion dieses großen Bauwerks, in das Erneuern der Muster, der Blumen und auch des Schlosses einzuführen: ihr Leben! Sie würde jedem Namen, der ihr eingefallen war, ein Zimmer zuweisen. Sie würde das erledigen, bevor ihr idee-construct wie ein Kartenhaus über ihr zusammenstürzte. Aber hatte sie genügend Zimmer, hatte sie den Platz dafür? Würde sie es zulassen, dass jemand die Möbel herumschob, etwa die Position eines Stuhls oder eines Tisches veränderte? Würde sie eine andere Person Änderungen an ihren Plänen vornehmen oder etwa vorschlagen lassen, sie solle den Speiseplan für den Tag oder die Woche ändern? Würde sie jemanden um Rat bitten, während sie etwas bestellte? Und wer würde Zugang zu all dem haben? Wer würden die Gäste sein? Ein Zimmer für sich allein. Ein Land für sich allein. Ein Jahrhundert, in dem jemand nicht Gast war. Ein Zimmer, in dem jemand nicht Gast war… Sie hatte ein Zimmer für sich allein. Sie war jung und schön. Nach allen irgendwo auf der Welt verbindlichen Maßstäben hatte sie als sehr belesen zu gelten, es ließe sich sogar behaupten, sie sei überaus gebildet. Von Beruf war sie Journalistin. Sie hatte ihren Abschluss in Literaturwissenschaft gemacht, dann ihr Talent dem Schreiben für die Presse gewidmet; zunächst als freie Mitarbeiterin während ihrer Studienzeit in Italien, doch als sie nach Somalia zurückkehrte, hatte sie eine Anstellung bei einer Zeitung gefunden. Zweieinhalb Jahre später wurde sie bei der einzigen
Tageszeitung des Landes Schlussredakteurin. Sie hatte einen Frontalzusammenstoß mit den Behörden wegen der politischen Linie des Blattes und wurde gefeuert. Ein Präsidentenerlass verbot ihr die Veröffentlichung ihrer Schriften in der demokratischen Republik Somalia. Deshalb richtete sie ihre Begabung auf etwas anderes: Sie beschloss, zwanzig Klassiker aus sechs Sprachen ins Somalische zu übersetzen. Vier europäische Sprachen beherrschte sie fließend, im Arabischen war sie gut bewandert und ihr Verständnis des Spanischen war leidlich. Aber da ihre diesbezüglichen Leistungen nicht in Umlauf gebracht werden durften, weil sie unter das Veröffentlichungsverbot fielen, entschied sie, sie ihrer Tochter Ubax vorzulesen. Sie bot sie ihr heiß wie Maisfladen aus dem Ofen an. Ubax liebte es, vom arabischen Prinzen aus Tausendundeine Nacht zu hören, der die Treppen zur Kammer der wartenden Prinzessin hinaufstieg, der Prinzessin mit dem besorgten Blick. Ubax liebte es auch, einem einfachen isländischen Bürger zuzuhören, der sich mit einem Geschenk die Gunst des Prinzen erkaufte (Medina machte bei dem Geschenk aus dem Bären ein Pferd und aus dem Schnee Sand – »Ein Land«, sagte sie, »das wie Seiten aus Sandpapier ausgebreitet war«), saß glücklich ihrer Mutter zu Füßen und wartete, dass diese Geschichten in der Pfanne von Medinas Einfallsreichtum braun wie Zwiebeln wurden, unersättlich wie es nur die ganz Jungen sein können, erwartungsvoll wie der Hunger, ihre freudige Miene so entzückend wie die Augen einer jungen Hirschkuh. (Ihre Lieblingsgeschichte war eine Volkssage gewesen, die Medina aus Chinua Achebes Okonkwo oder Das Alte fällt adaptiert und ihr den interpretierenden Titel ›Er‹ gegeben hatte.) Zwei, drei Monate lang waren die beiden tagaus, tagein zusammen, da Medina nun nicht mehr zur Arbeit ging und weniger Termine wahrzunehmen hatte. Und sie warteten dann auf Samater und
feierten sein Heimkommen mit dem Aufzählen dessen, was sie getan hatten, welche Geschichten sie einander erzählt hatten, wer sie besucht hatte. Dann kam Samater eines Abends nicht rechtzeitig heim. Er kam nicht nach Hause, um zu hören, wie seine Frau und seine Tochter ihre Zeit verbracht hatten, während er weg war. Ubax spürte am nächsten Morgen, dass sich die Atmosphäre verändert hatte: Ihre Mutter hörte nicht nur damit auf, ihr neue Geschichten zu backen, sie wurde auch noch unnahbar und hielt lange Unterredungen mit einer Schar älterer Männer ab, die sie besuchen kamen. Medina war unerträglich schwierig und antwortete auf Fragen nur mit »ja« oder »nein« und sagte sonst nichts dazu. Eines frühen Morgens kamen zwei Männer zu Samater und holten ihn ab. Ubax stand mit der Sonne auf und traf ihre Mutter an, wie sie die Tageszeitung las, auf deren erster Seite ein großes Foto von Samater zu sehen war. Später erfuhr sie, dass ihr Vater zum Bauminister ernannt worden war. Als er an jenem Tag zum Mittagessen heimkam, war Ubax überrascht, die Stimmen ihrer Eltern lauter als sonst zu hören; sie war traurig darüber, dass sie nicht bereit waren, sie in ihre Auseinandersetzung einzuweihen, da sie in eine fremde Sprache verfielen und sie somit ausschlossen. Ubax fragte: »Was ist los, Medina?« Keine Antwort. Und da kam ein Auto mit Chauffeur an, so dass Samater den Familienwagen eigentlich nicht mehr brauchte. Danach war das Leben nicht mehr wie früher. Etwas anderes trat ein. Eine Aushilfe, ein Mann, kam zum Haushalt hinzu – eine Ordonnanz, die sich als Gärtner, als Holzhacker nützlich machte und dem Dienstmädchen beim Bügeln oder Waschen behilflich war. Medina warnte ihre Tochter davor, mit diesem Mann offen zu sprechen. Aber warum? Ihre Mutter zog daraufhin über »Spitzel und
Päderasten und Stiefellecker« her. Dann, etwa sechs Monate später, packte Medina zwei Koffer, einen für sich und einen für Ubax, und zog aus. Sie verließ ein Haus, das rechtmäßig ihr gehörte, und zog in ein anderes, das auf ihren Bruder eingetragen war. Wollte sie das Befristete dieses Umzugs unterstreichen? Viele Leute spekulierten darüber, was vorgefallen war, andere reimten sich ihre eigene Version der Geschehnisse zusammen. Ein Zimmer für sich allein!
Medina war so willensstark, wie sie in ihren Entscheidungen unbeugsam war. Ihre Geheimnisse hütete sie eifersüchtig. Sie glich in gewisser Weise ihrem Vater Barkhadle, denn sie war sich der Rechtmäßigkeit aller ihrer Entscheidungen so sicher wie ein Patriarch. Samater hingegen war so schwach im Kopf wie in den Knien. Seine Mutter Idil meinte, das rühre daher, dass er nicht mit einem starken Vater zum Nacheifern oder Nachahmen aufgewachsen war. Sie allerdings war so mächtig wie die Vorsehung selbst. Idil beeinflusste unweigerlich alle Entscheidungen ihres Sohnes. Sie setzte ihm zu, sie verhätschelte ihn, sie ermutigte oder entmutigte ihn, sie übte soziale Erpressung aus und half ab und zu, besonders wenn sie fürchten musste, ihn verloren zu haben, seinem Gedächtnis auf die Sprünge, indem sie ihn daran gemahnte, wie er als Kind gewesen war; sie erinnerte ihn daran, dass sie die Einzige gewesen sei, die er, noch klein und bedürftig, gehabt habe, und dass sie wie besessen geschuftet habe, um ihn zur Schule schicken oder ihm Kleidung kaufen zu können, damit er etwas am Leib hatte. Doch wie war er als kleiner Junge? Er erinnerte sich daran, dass er von allen Leibesübungen ausgeschlossen war, nur auf die Kleidung der anderen Jungen aufpassen
durfte, die Fußball spielten, oder im besten Fall als Torhüter oder Schiedsrichter zugelassen wurde. Und wie war er, als er Medina kennen lernte? Er war so schwach wie seine Stimme und ging, wohin er mitgenommen wurde, er war der Schatten, der folgte, wenn sie der Sonne den Rücken zukehrten. Er strahlte übers ganze Gesicht wie der Vollmond, wenn andere glücklich waren, und wurde mürrisch, wenn Medina unglücklich war. Als Medina und er heirateten und nach Mogadischu zurückkehrten, machten sich alle ihre Freunde darüber lustig, was wohl passieren würde, wenn sie auf Idil träfe. Medina erwies sich als die Stärkere, die Selbstsicherere von den beiden. Damals wohnte Idil bei ihrer Tochter Xaddia und so entfachten ihre explosiven Vorschläge, was mit Ubax, der Tochter ihres Sohnes, geschehen sollte, keine Feuer großer Feindseligkeit. Sie machte kein Geheimnis aus der Tatsache, dass es sie betrübte, von Xaddia kein Enkelkind beschert zu bekommen. Idil konsultierte deswegen sogar einen Kräuterkundigen und Scheich. Noch betrübter war sie darüber, dass Xaddia sich nicht nur weigerte, ihrem Wunsch zu entsprechen, sondern auch noch sagte, sie nehme Pillen, damit sie keine Kinder bekomme. Idil verfiel in irrsinnige Wut. Wochen-, ja monatelang sprach sie von nichts anderem mehr. Schließlich griff der Vater von Xaddias Mann ein: Er befahl seinem Sohn, die Ehe aufzulösen, sonst würde er ihn enterben. Der Sohn gehorchte. Xaddia reagierte voller Zorn und warf ihre Mutter hinaus. Medina und Samater nahmen sie auf und trafen mit ihr eine Vereinbarung: Idil sollte sich nicht in ihr Leben einmischen. Nicht lange nach Idils Einzug wurde offensichtlich, dass sie ihr Versprechen nicht einhalten würde. Sie begann, Samater mit ihrer Tyrannei zu erpressen, obgleich sie, wenn Medina mit anwesend war und sie auf die Unzugänglichkeit ihrer Schwiegertochter stieß, eher auf der Hut war; da bewegte sie
sich still wie ein Gast. Wenn Medina aber nicht da war, sprach sie laut wie ein Kapo, ihre Zunge geißelte ihn und wofür er stand, ließ sich durch Logik oder Vernunft einfach nicht abschrecken. Ihr Krieg machte alle sozialen Konflikte lächerlich. Doch würde Medinas Verteidigungswall brechen und doch einmal nachgeben? »Nein. Nicht, solange ich ein Zimmer für mich allein habe, solange ich Ubax habe und Prinzipien, für die es sich zu kämpfen lohnt.« Ein Zimmer für sich allein. Ein Leben abgesteckt wie die Grenzen eines Grundstücks. Obwohl eines gesagt werden muss: Es setzte Medina zu, dass eine Überreaktion auf Idils tyrannisches Verhalten sie nachteilig beeinflussen, sie härter gegen sich selbst, unfair gegen Samater, besitzergreifend gegenüber Ubax machen könnte. Sie redete sich zu, Ruhe zu bewahren. Dann zitierte sie literarische Vorläufer aus indischen und arabischen Legenden, in denen Schwiegermütter die Ehefrauen ihrer Söhne terrorisierten und sie in den besinnungslosen Wahnsinn trieben. Nein, das würde mit ihr nicht passieren. Keine Bange darum. Idil hatte sich letztlich selbst ausgeschlossen; sie hasste es, mit Messer und Gabel am Tisch zu essen, sie zog es vor, ihre Gebetsperlen in der Privatsphäre ihres Zimmers durch die Finger gleiten zu lassen. Und wenn sie anwesend war, sprachen Medina und Samater, wann immer es notwendig wurde, in einer fremden Sprache, um sie auszuschließen. Nur wenn sie Schnaps tranken, sich oder ihren Gästen einen Schlummertrunk einschenkten, dann wandte sich Idil »grabwärts« und sprach vom Tod, von Gott, von Paradies und Hölle. Niemand achtete auf diese langatmigen Predigten. Eines Tages schließlich drohte sie, »all diese schlimmen Bücher, in denen ihr anscheinend völlig aufgeht«, zu vernichten, sie drohte, »diese Kartons voller schlimmer Getränke« auszuschütten. Samater wollte schon an ihre Vernunft appellieren und sie an ihr Versprechen erinnern, sich
nicht in ihr Leben zu mischen. Doch bevor er etwas sagte, blickte er zu Medina und sah sie Idil auf derartige Weise anstarren, dass völlig klar war, dass es darum ging, sie anzufeinden und herauszufordern. Er ging zu einem Gesprächsthema von allgemeinem Interesse über: Zu ihrer aller Überraschung rückte er mit der Neuigkeit heraus, dass er für Idil und Medinas Mutter, Fatima bint Thabit, Flugtickets gekauft habe, damit sie das Grabmal des Propheten aufsuchen konnten. Die Schwiegermütter! Die zwei waren einander so unähnlich wie der Rücken und die Innenfläche einer Hand. Fatima bint Thabit, Medinas Mutter und Samaters Schwiegermutter, lebte wie im Innern eines Wals, der so gut wie nie an Land kam. Sie stammte aus dem Jemen, eine Frau, die von den Widersprüchen der Tradition niedergedrückt war. Sie war mit Händen und Füßen an die Beständigkeit ihres Heims gekettet. Selten verließ sie ihr Haus, eigentlich nur, wenn es absolut notwendig war, wenn sie auf irgendeinen dringlichen Ruf reagieren musste. Sie wartete auf die Besuche ihrer Tochter (ihr Sohn Nasser lebte in Arabien und mochte sie sowieso nicht gern besuchen) mit der Geduld einer Verliebten, die auf einen Kuss oder ein nettes Wort wartet. Idils Herkunft war nomadisch und insgesamt weniger rigide als die arabische Tradition institutionalisierter Gespreiztheiten. Sie hatte nie erfahren, was es heißt, von den die Frauengemächer von der Welt abkapselnden Schnüren des Vorhangs, der Purdah, erdrosselt zu werden, genauso wenig hatte sie allein das Innere eines eigenen Heims kennen gelernt. Sie hatte einen Beruf, denn sie unterstützte ihren Samater und ihre Xaddia, indem sie im Auftrag eines Restaurants Maisfladen buk. Aufgrund des nomadischen Wesens ihres Lebens und weil weder ihr Sohn noch ihre Tochter Besitz hatten, bewegte sich Idil mit der Leichtigkeit eines Baums ohne Wurzeln. Fatima bint Thabit
hingegen schritt mit der Gebeugtheit einer Person in reifem Alter, auf der die Last der Geschichte ganzer Generationen lastete. Sie war in einem Haus geboren, das ihre Familie beinahe ein Jahrhundert lang besessen hatte. Seltsam nur, dass gerade Idil von Kontinuität und Diskontinuität der Kulturen sprach, dass gerade Idil glaubte, die jüngere Generation, egal, wie sehr sie sich bemühte, sei nicht in der Lage, an irgendeinen Kulturersatz zu denken, »so tadellos und ganzheitlich wie die Kultur, welche die somalische Gesellschaft in den vergangenen wenigen Jahrhunderten entwickelt hatte, einen Ersatz, der an die Stelle der traditionellen Kultur treten könnte, die sie anscheinend verworfen hatten und der sie keinen philosophischen Wert zubilligten«. Und bis jemand so weit war, ihr eine Frage zu stellen, musste er einsehen, dass sie schon weitergegangen war, Zuflucht in unwissenschaftlichen Verallgemeinerungen gesucht hatte; musste feststellen, dass sie den Wohnort gewechselt hatte und weitergezogen war, so unbeständig, wie Fatima bint Thabit in ihrem festen Wohnsitz beständig war. Eine nomadische Familie ohne eine feste Bleibe heiratete in ein Haus familiärer Widersprüche und genealogischer Verbindungen so multinational wie eine Sternenkonstellation; eine Familie, deren Haus Überschwemmungen, Feuer, interne Intrigen, Bankrotte durchgestanden hatte; eine Familie, deren Geschichte auf ein bekanntes Patriarchat zurückverfolgt werden konnte, deren vier Generationen unter demselben Dach lebten.
Stunden später. In ihrer Vorstellungswelt. Medina sah das Gebäude wachsen, das sie errichtet hatte, dann bemerkte sie, dass die Zahl der zu vergebenden Zimmer in dem Maße abnahm, wie die Zahl der in Frage kommenden Personen zunahm. Sie las die Namen
nochmal. Ubax. Sagal. Sandra. Nasser (wenn er kam). Samater (wenn er aus Algier zurückkehrte). Id.il. Amina. Atta. Dulman. Sie wusste, sie müsste diese Namen in irgendeine Ordnung bringen. Folgende Namen strich sie durch: Soyaan (tot), Loyaan (ins Exil gezwungen), Koschin (im Gefängnis), Siciliano (im Gefängnis), Dr. Ahmed Wellie (Verräter), Xaddia (Verbindung aufnehmen, wenn wieder in der Stadt). Sie war sicher, sie hatte die Namen weiterer Freunde vergessen; sie entschied auch, die Namen einiger anderer Leute auszustreichen, die unangenehm wissbegierig gewesen waren und mit denen sie nichts mehr zu tun haben wollte. Mursal? Wie Freunde sich zerstreuen, wenn etwas geschieht, ganz wie ein Taubenschwarm, wenn ein Schuss losgeht! Die meisten hielten sicheren Abstand zu ihr. Eine Woche lang erschien niemand. Sie warteten alle erst ab, ob es Masern oder Pocken waren, bevor sie ihren Rat verschrieben. Während dieser Zeit blieben die Anrufe, die Kontakte kurz. Niemand drängte sie, niemand, bloß ein oder zwei, die sie nie als Freunde betrachtet hatte, wollten mehr wissen, als sie ihnen zu erzählen bereit war. Sobald klar war, dass es ihr ernst damit war, nicht zu Samater zurückzukehren, klingelte das Telefon öfter: Die Anrufer wollten wissen, ob sie an dem und dem Abend für dies oder das frei war; ob sie zu einer nächtlichen Party wolle – eigentlich einer Art Orgie… Einige dieser Männer waren merkwürdig beharrlich. Eine Frau rief sie an, um ihr mitzuteilen, dass sie Samater in Begleitung einer Frau gesehen habe. Medina wusste, dass dies nicht stimmte; Samater war seit einer Woche verreist und noch nicht zurück. Sie fragte die Informantin nach dem Namen von Samaters Begleiterin und erhielt als Antwort: Atta! Medina sagte der Frau am anderen Ende der Leitung nicht, dass Atta in genau diesem Augenblick ein paar Zentimeter von ihr entfernt saß.
Doch warum verließ sie Samater? Warum packte sie eines Tages ihre zwei Koffer und ging? Spekulation. Vermutungen. Es war allgemein bekannt, dass Medina lange vor Samaters Ernennung zum Minister beschlossen hatte, Ubax nicht auf eine der staatlichen Schulen zu schicken, da, wie sie sagte, den Kindern nichts als die neunundneunzig Namen des Generals beigebracht wurde. Konnte es sein, dass der Generalissimo Samater zugesetzt hatte, er solle Medina deutlich machen, wie politisch bedeutsam es für sie sei, ihre Meinung zu ändern – und dass Medina daraufhin gepackt und wutentbrannt das Weite gesucht hatte? Einem anderen Gerücht zufolge hatte sie sich eine Auszeit genommen, um ein Buch über die Revolution zu schreiben. Oder war all dies nur von zweitrangiger Bedeutung? Mit anderen Worten, gab es da ein Geheimnis, das Medina eifersüchtig hütete? Konnte Samater sie zwingen, Farbe zu bekennen? Hätte die Reise Samater überhaupt gut getan? Er hatte zermürbt und melancholisch ausgesehen, war häufig in längeres Schweigen versunken und hatte kaum etwas gesagt, damit er nicht etwas von sich gab, was er nicht sollte, damit er sich nicht auf die eine oder andere Art festlegte. Um mit ihr gleichzuziehen, müsste er eine weitere Strecke zurücklegen als bisher. Er hatte seine Mutter zurechtweisen müssen, denn sie hatte immer mehr auf ihm herumgehackt; sie trieb es allmählich zu arg, hielt ihm ständig vor, er wohne in ihrem Haus, er fahre ihr Auto, er hänge wirtschaftlich von ihr ab und – was am schlimmsten sei – er habe kein eigenes Bankkonto und keine eigenen Ideen. Um das Leben eines Mannes führen zu können, schlug sie vor, sollte er exorziert werden; ihm solle geholfen werden, unabhängig zu werden, und er solle eine Frau ihrer (Idils) Wahl heiraten. Oder war das alles der Ausfluss unhaltbaren Geschwätzes? Und wie stand Medina zur Trennung? Ließ sie Anzeichen von Verzweiflung erkennen?
Sie war ein wenig erschüttert, da gab es keinen Zweifel. Das war an der Art zu erkennen, wie sie Fragen beantwortete. Doch ihre Verzweiflung war nur halb so erschütternd wie die von Samater. Es war eher wie eine leichte Unannehmlichkeit, eine kleine Unpässlichkeit – nicht schlimmer, als wenn sich ihr Gesicht beim Einsetzen der Monatsblutung verzerrte. Ein Zimmer für sich allein! Ein eigenes Leben! Medina blickte nun ausdruckslos in die blendende Helligkeit des Mittags. Ihr fiel ein, dass sie zugesehen hatte, wie genau diese Sonne direkt vor ihren Augen Gestalt angenommen hatte und gewachsen war wie Butter auf dem Feuer. Ihr fiel ein, dass sie beinahe die ganze Nacht Wache gehalten hatte. Ubax hatte nur noch geweint und geweint. Ubax hatte nach Hilfe geschrien. Der Morgendämmerung gleich stahl sich Medina zu ihrer Tochter und lauschte ihr, wie sie einen Rosenkranz von Namen herunterbetete. Der von Idil ließ die schläfrigen Lippen des kleinen Engels allerdings in einem Anflug von Alptraum erzittern. Dem kleinen Mädchen kam häufig auch der Name von Samater, ihrem Vater, über die Lippen, mit dem sie sich unterhielt und einen Liebesdialog führte. Sagal. Amina. Sandra – die sie nicht leiden konnte. Atta – die sie faszinierte. Fatima bint Thabit – die sie nicht so sehr mochte, weil sie Ubax bei jeder Begegnung die Hand zum Kuss hinstreckte. Und Dulman – die sie gern hatte und darum bat, ein Lied zu singen. Dulman sang. Auch Medinas Namen erwähnte Ubax, in deren mütterlichen Silben sie eine beständige Zuflucht suchte. »Ubax«, rief sie nun nach ihrer Tochter. Warm, aber doch kalt bei Berührung – war dies die Ausdünstung der Kindheit? »Meine süße Blume!« Ubax rollte sich im Schlaf zusammen. Sie steckte das Köpfchen zwischen die Knie. Und sie sprach. Sie bat darum, Sandra und Idil fortzuschicken. Warum sie? Weil Sandra das Verhängnis gewesen war, das die Familie heimsuchte, und
weil Idil ein Messer hatte, mit dem sie die ufla des Mädchens rein machen wollte! Medinas heißer Atem hinterließ, als würde er auf eine Fensterscheibe treffen, einen Feuchtigkeitsfilm auf den Wangen der schlafenden Blume. »Sie sind nicht hier«, sagte sie. »Ich habe sie fortgeschickt.« Doch Ubax wollte die Augen nicht aufmachen, denn sie versuchte, soviel sie konnte, von ihrem Traum zu erinnern, und hörte Sandra sagen, sie sei eine Blume in voller Blüte: »Und wenn ich ein Kind hätte, dann stünde es im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller, auch meiner. Und aus diesem Grund möchte ich keines bekommen.« War Sandra aufgetaucht und hatte Ubax in ihrem Traum das erzählt? »Wach auf, meine Süße!« Ein Steinbrech, der sich seinerzeit, wie von der Natur bestimmt, energisch durch den inzwischen verheilten Kaiserschnitt geschoben hatte. Wie es das Leben erforderte, hatte das kleine Ding bei seiner Geburt einen ungeheuer durchdringenden Schrei ausgestoßen; wie ein Unwetter ließ es das Krankenhaus bis in seine felsigen Fundamente erbeben. Der Arzt, den Medina in Rom konsultierte, hatte sie vorgewarnt, hatte gesagt, ihre Entbindung würde eine fachgerechte Behandlung erfordern. Alle Wunden bis auf die eines Kaiserschnitts heilen, dachte sie nun und verfluchte die Erinnerung daran, deren Larven die schlummernden Keime einer überwundenen Entzündung weckten. »Meine Ubax. Wach bitte auf!« Stille. Und Medina ließ den Namen ihrer Liebe davonsegeln, ließ den Namen Ubax die Windmühlen ihrer Fantasien antreiben. Eine Blume der Ebenen. »Ubax, wach auf«, sagte Medina leicht ungeduldig. Sie küsste sie. Sie wartete darauf, dass Ubax die Augen, die Arme öffnete, dann gähnte und schließlich den Kuss erwiderte.
Als das nicht geschah, tat Medina so, als wolle sie weggehen, und sagte: »Du hast mich gebeten, dich aufzuwecken.« Ubax setzte sich plötzlich auf und sagte: »Das hab ich nicht.« Der scharfe Ton dieser Herausforderung erschütterte Medina nicht so tief, wie ihre Tochter erwartet haben mochte. Aber sie war verblüfft; es war eine Abweichung, die nach Betrug aussah, einem verzerrten Spiegelbild ähnlich. Sie bat Ubax zu wiederholen, was sie gesagt hatte. »Ich hätte dich gar nicht bitten können, mich aufzuwecken.« »Hast du aber.« »Hab ich gesagt, was ich machen würde, wenn du mich aufweckst?« »Du hast nicht klar geäußert, was du machen würdest, wenn du aufwachst.« »Bitte nicht streiten.« Ubax wandte ihrer Mutter den Rücken zu und schlief wieder ein. Nach etwa zwei Minuten rührte sie sich und brachte sich in eine bequeme Lage. Medina sah zu, wie Ubax sich schlafend stellte; sie hörte ihr falsches feines Röcheln. Frisch wie eine Blume, bezaubernd wie eine vertraute Erzählung; eine so entzückende Blume, die lieblich duftete, sich angenehm anfasste und einen erfreulichen Anblick bot. Meine eigene Tochter. Der Glanz der Morgenröte. Das Licht der Sonne. Der Spross meines Glücks, mein Entzücken, mein Ein und Alles. Meine Labsal. Mein Leid. Mein Leben. Mein Tod. »Du wirst also nicht aufstehen?« »Was werde ich machen, wenn ich aufstehe?« »Ich werde dir die Übersetzung einer Geschichte vorlesen. Oder wir können zusammen rausgehen, du und ich.« War das ein Vorschlag, der Ubax gefiel? Sie schlug die Augen auf und lächelte ein bisschen. »Wohin werden wir gehen?«
Eine Pause. Ubax gab zu verstehen, dass sie völlig wach war. Dann sagte sie: »Ich will meine Spielsachen hier haben.« Beide verstummten. Die Wörter hingen in der Luft wie eine Schwebfliege, die sich nicht entscheiden konnte, ob sie wo landen sollte oder nicht. »Ich dachte, du wolltest, dass ich dir eine Geschichte vorlese, diejenige, an der ich gearbeitet habe. Weißt du noch? Du hast gesagt, du wolltest, dass ich sie dir vorlese, sobald ich mit der Übersetzung fertig bin.« »Keine Geschichten heute. Ich will meine Spielsachen.« Es schien, als hätte an diesem Morgen nichts sonst eine Bedeutung, als wäre alles Übrige unwesentlich, unwichtig, unnötig. Heute hatten die Spielsachen absoluten Vorrang. Gestern hieß es noch: »Ich will raus und mit Abucar, Omar und Sofia spielen«, drei Kinder in ihrem Alter, die berüchtigt waren für ihren ausgiebigen Gebrauch von schmutzigen Wörtern und ihr abwertende anatomische Spitznamen für den General beibrachten. Gestern hatte Medina ihr nicht erlaubt, mit ihnen zu spielen. Und heute? Medina hatte nicht die geringste Lust auf eine hässliche Konfrontation mit Idil, Samaters Mutter, die sich in dem Haus, wo die Spielsachen waren, breit gemacht hatte und so einen Besuch erwartete. Idil, die Gerüchten zufolge das Dienstmädchen gefeuert, die Ordonnanz entlassen und ein neues Mädchen eingestellt hatte, von dem sie hoffte, es würde Medina als Samaters Frau ersetzen. Nein, Medina würde nicht in dieses Haus gehen, auch wenn es ihr eigenes war. Sie wollte Idil nicht in die Quere kommen. Ubax würde wohl einen halben Tag lang toben und schreien: »Ich will meine Spielsachen, ich will meine Spielsachen«, doch vor Ende des Tages würden die beiden einen Ausweg finden. Es war zuträglicher auf die Art. Ubax würde auch besser lernen; sie würde weniger weinen, sich weniger auf Medina verlassen. Es würde ihnen auch eine
Gelegenheit geben, sich auszusprechen. Medina hatte noch nicht genau offenbart, was zwischen ihr und Samater vorgefallen war, aber sie hatte versprochen, das nachzuholen. Ubax hielt sich an dieses Versprechen wie an eine Schaukel, mit schwankendem Interesse, und inzwischen war Samater im Ausland. »Vater ist in Algier«, hatte Medina erklärt, und das war auch schon alles. Da Ubax ihren Vater sowieso nicht mehr so oft sah wie vor seinem Amtsantritt, war seine Abwesenheit für sie kein allzu großes Rätsel. »Du magst nicht, dass ich dir die neue Übersetzung vorlese?« »Welche neue Übersetzung?« Medina sagte ihr, aus welchem Buch sie die Volkssage ausgesucht hatte, und erinnerte sie an Samaters Vorbehalte bezüglich ihrer interpretierenden Wiedergabe des Titels als ›Er‹, wo es doch ›Ich bin Jedermann‹ heißen sollte. Doch Ubax konnte sich immer noch nicht erinnern. »In deinem Alter solltest du ein besseres Gedächtnis haben«, kommentierte Medina. »Du willst, dass ich genau wie du bin, die Titel von allen Büchern behalte, die ich sehe, mich an jede Geschichte erinnere, die mir irgendwer erzählt, und noch weiß, wer was zu wem gesagt hat. Lass mich in Ruhe! Ich bin doch erst acht Jahre alt.« Um sie wie in Wasser getauchtes Brot zu erweichen, ihre verkniffene Miene zu entspannen, kitzelte Medina sie. Ubax strampelte mit den Beinen in der Luft und war dann wieder still wie ein Kind, das noch an den Resten des süßen morgendlichen Schlummers knabbert. Ihre Mutter sagte gerade: »Natürlich will ich, dass du wie ich wirst. Aber ich möchte, dass du gesund und unabhängig aufwächst. Ich möchte, dass du tust, was dir gefällt.« »Warum lässt du mich dann nicht raus und mit Abucar, Omar und Sofia spielen?«
»Wenn du heimkommst, leidet deine Sprache unter einem Mangel an Originalität. Du wiederholst dich ständig, sagst immer das Gleiche. Ich möchte, dass du wie ein aufgeklärtes Kind sprichst.« »Warum lässt du mich dann nicht in die Schule gehen wie die anderen Kinder?« »Weil Schulen dir nichts als Lieder der Speichelleckerei und Lobhudeleien auf den General beibringen. Und weil ich dich besser unterrichten kann als sie. Ich kann dir Sachen beibringen, die dir später im Leben nützlich sein werden.« Sie küsste Ubax. Die erwiderte mechanisch den Kuss. Medina stützte sich nur mit den Ellbogen aufs Bett, damit es nicht zusammenkrachte. Ihr Körper dünstete die Freude aus, die sie nun in ihren Brüsten empfand. Sie umarmten sich. »Du bist ein ungezogenes kleines Mädchen«, sagte Medina. »Du bist die schlimmste Mutter überhaupt.« Sie lösten sich voneinander. Halb im Scherz sagte Medina: »Meinst du das wirklich?« »Nein, nein, das tu ich nicht. Glaubst du, ich bin ein ungezogenes kleines Mädchen?« »Nein. Das war nur Spaß.« »Ich hab auch Spaß gemacht. Du bist die liebste Mutter, die es gibt.« Schweigen. Blitzartig fiel Medina wieder der Schmerz ein, der die Freude bei der Geburt von Ubax begleitet hatte. Das Krankenhaus in Rom. Nasser und ihr Vater Barkhadle an ihrer Seite. Samater traf nicht rechtzeitig ein, weil die Luftfahrtgesellschaften streikten. Der Schmerz und der Kaiserschnitt – und die Komplikationen, die sich ergeben hatten, weil sie beschnitten war. Doch die Freude war umfassender. Ubax war eine Lilie im seichten Ausläufer eines Sumpfes, dessen Wasser reglos blieb, auch wenn hin und wieder ein Wind die Oberfläche kräuselte und das Gefühl
vermittelte, jemand müsste die Gänsehaut des Wassers mit liebevollen Händen glätten, jemand müsste die Räude des erkrankten Wassers kratzen. Etwas, das aus sich heraus Freude vermittelte – wie der genüssliche Schmerz beim Ausdrücken des Eiters aus einer reifen Beule oder wie ein zartes Befühlen des dunklen Randes einer Wunde, die schon am Heilen ist. »Medina?« »Ja, meine Liebe.« »Was bin ich für dich, wenn du keinen Spaß machst?« »Du bist die Sonnenblume meines Lebens.« »Die Sonnenblume deines Lebens?« »Du nickst mit deinem beschopften Kopf in Richtung des bahnbrechenden Windes«, sagte sie, während sie Ubax übers Haupt strich und mit ihrem Haar spielte. »Wie wär’s damit: Du bist das Vögelchen, das sich gegen die Luft stemmt, deren Halt es sucht; wie das Vögelchen bist du diejenige, die genau die Luft aufwirbelt und durchbricht, deren Halt du suchst.« Ubax machte spielerisch die Augen weiter auf. Dann breitete sie die Arme aus. In der Umarmung ihrer Mutter kuschelte sie, kitzelte sie, summte sie und fühlte sich behaglich, so nah bei den mütterlichen Brüsten zu sein, die weich wie Entenflaum waren. Medina war in ihrem Hauskleid, ihr Körper noch warm vom tropischen Hauch des Morgens. Doch sie roch nach Zigaretten, was Ubax erboste, die sie mit den Worten von sich schob: »Du hast wieder geraucht.« »Bloß eine.« »Du hast versprochen, es nicht mehr zu machen. Du hast versprochen, nicht mehr zu rauchen.« »Es tut mir Leid.« »Bleib weg von mir!« Ubaxs Stimmungskonzert, ihre Sinfonie aus Nöten und Begierden, die Variationen, welche die erst Achtjährige spielen
konnte, waren eines Maestros würdig. Ihr eigener Vater hatte einmal gesagt: »Eine Blume erstickt an zu viel Wasser, das sie umgibt. Zu viel von etwas erdrückt schließlich, zu viel von etwas tötet. Weißt du nicht, wann Liebe aufhört, Liebe zu sein? Du musst in der Architektur deiner Liebe Platz zum Atmen lassen; du musst der kleinen Ubax genügend Raum lassen, damit sie ihren wachsenden Verstand üben kann. Du darfst nicht indoktrinieren, darfst ihr keine Gehirnwäsche verpassen. Sonst wirst du ein weiterer Diktator, der versucht, das Kind nach seinem eigenen Bild zu formen. Und das willst du doch nicht sein, oder?« Für Medina waren Ubaxs ›Bleib weg von mir‹, ihr ›Ich will meine Spielsachen‹ der reine Ausdruck eines Mitteilungsbedürfnisses; nicht weniger ernst zu nehmen als die Bitte eines Erwachsenen um etwas, obwohl im Hinblick auf ihr Alter und ihren Überschwang, der wie ein Parfüm verflog, der Schluss zulässig wäre, dass sie im Falle einer Weigerung oder Ablehnung in Übereinstimmung mit den Spielregeln reagieren würde, die sie gelernt hatte. Den meisten Eltern waren die notwendigen Verirrungen ihrer Kinder keine ernste Überlegung wert. Dabei gibt es tausendundein Gebote, an die Kinder täglich erinnert werden und auf deren Grundlage sie handeln müssen. Bei einem Kind, das sich diesen ungeschriebenen Regeln nicht fügt, die im Grund autoritär, matriarchal und patriarchal sind, kann jede Abweichung mit dem Rohrstock, groben Worten oder Essensentzug bestraft werden. Als Kind hatte Medina gewaltig gelitten. Da sie ein Mädchen war, durfte sie nicht einmal mit ihrem eigenen Bruder Nasser spielen, und ihr Großvater sagte, sie würde nicht zur Schule geschickt werden. Doch dank ihres Vaters wurde sie davor und vor Schlimmerem bewahrt, nachdem ihr schrecklicher Großvater gestorben war. Samaters Kindheit war ein langer durchwachter Albtraum gewesen. Seine Mutter prügelte und puffte ihn jedesmal, wenn er Widerworte gab; er
hatte noch in Erinnerung, wie sie sich erhob, um ihn zu verdreschen, als er einundzwanzig war, bevor er zum Studium nach Italien ging. Ubax sollte es besser haben; Ubax verdiente ihre Liebe. Medina wollte nicht, dass sie mit Komplexen aufwuchs und befürchten musste, dass die erhobene Hand eines Elternteils bedeutete, geschlagen zu werden. Deshalb bereitete es ihr ein perverses Vergnügen, die Weigerungen ihrer Tochter zu hören, ihre klar artikulierten Herausforderungen, die in offenster Sprache und ohne Furcht vorgebracht wurden, ihren Trotz, der so schlicht wie die Wahrheit geäußert wurde, und ihr zorniges »Nein«. »Was schlägst du vor, soll ich tun?« fragte sie Ubax nach einer Pause. »Ich möchte, dass du versprichst, nie mehr zu rauchen.« »Ich verspreche es, obwohl ich sicher bin, dass ich das nicht halten kann. Für diesen Fall musst du mir einen Vorschlag unterbreiten.« »Komm nicht in meine Nähe, wenn du geraucht hast.« »Aber das ist nicht fair.« »Dann versprich mir, nicht mehr so oft zu rauchen.« »Das verspreche ich.« Im anschließenden Schweigen wuchsen Medinas Vorstellungskraft Flügel und sie flog davon. Sie sah Samaters Mutter Idil mit dem Finger anklagend auf sie deuten und ihrem Sohn sagen, er solle sich selbst einmal gehörig anschauen, um ein für allemal zu wissen, ob er wirklich ein Mann sei, und wenn ja, was er aus seiner Männlichkeit gemacht habe. Wisse er denn, dass sie eine Frau und Gemahlin war? Wie könne sie Sachen für ihn erledigen? Wie komme es, dass die Einkünfte der Familie auf ein Konto unter ihrem und nicht seinem Namen gingen? Wer sei das Oberhaupt der Familie? Wie könne er ihr gestatten, so viel Geld für das Spielzeug des Mädchens auszugeben? Warum lasse er seine Tochter nicht
mit den anderen spielen, Dreck schlucken wie andere Kinder? Nach dem fast einstündigen Monolog seiner Mutter Idil hatte sich Samater an Medina gewandt und gefragt, ob ihr denn nicht klar sei, dass sie das Mädchen mit Liebe und Verständnis überschwemme, mit ihrer Zuneigung den Damm des kleinen Mädchens einreiße? Gib dem Kind eine Chance, ein kindgerechtes Leben zu führen, schloss er. Darauf (Samater war gerade zum Bauminister ernannt worden) erwiderte Medina, dass ein Grund, warum sie sich gegen die derzeitige Diktatur stelle, der sei, dass sie dadurch an ihre unglückliche Kindheit erinnert werde, dass der General sie an ihren Großvater erinnere, der eine Ungeheuerlichkeit und ein unanfechtbarer Patriarch gewesen sei, der bestimmte, was zu tun sei, wann und von wem. »Ich möchte, dass Ubax von all dem unbelastet ist«, hatte sie gesagt. »Ich möchte, dass sie ihr Leben wie einen Traum erlebt. Ich möchte, dass sie entscheidet, wann sie aufwacht, wie sie ihre Träume deuten soll…« Doch nun sagte Ubax: »Willst du mir also meine Spielsachen holen?« »Nein, werde ich nicht.« »Dann werde ich sie mir selber holen.« Medina ließ ihren Arm los. »Geh. Ich warte hier auf dich.« »Du weißt ganz genau, dass ich nicht allein gehen kann. Deshalb sagst du das. Aber eines Tages werd ich es.« »Auf diesen Tag freue ich mich.« »Und ich erst.« Medina entfernte sich schwerfällig wie eine geschlagene Armee auf dem Rückzug und ihr Gesichtsausdruck war so hart wie Wasser, das zu einer krümeligen Rostschicht erstarrt ist. »Eines Tages werde ich dir entwachsen sein, unabhängig werden. Dann werde ich dich verlassen.« »Darauf freue ich mich.«
Sie hatte gehofft, dass auch Samater dies eines Tages sagen würde; sie hatte darauf gewartet, dass er ihr und vor allem seiner Mutter entwachsen und mit eigener Lungenkraft atmen würde, eine Affäre mit einer anderen Frau haben, etwas Unerwartetes tun würde. Ubax war insgesamt viel versprechender. Sie schien den Mut zu haben, einen Tisch umzuwerfen, zu mogeln und Lügen aufzutischen. Medina sagte sich, dass sie reich gesegnet war. Wirklich kein Grund zur Klage; sie hatte Glück, Ubax als Tochter zu haben. Wenn sie da an andere dachte. »Denk an Nasser und seine Frau, denen ein stummes Kind geboren wurde; denk an Dulman, die alles Menschenmögliche probierte, um ein Kind auszutragen und zu gebären; denk an Amina, die vergewaltigt wurde und mit Kindern der Schande schwanger wurde; denk an die Afroamerikanerin Atta, die sagt, sie benutze nie Verhütungsmittel, aber immer abtreibt, wenn sie ein Kind empfangen hat; denk an Sagal, die halsstarrig wie die Unvernunft ist und verkündet, sie wolle nie ein Kind haben; denk an Xaddia, die kein Kind wollte, und ihre Mutter Idil, die eines wollte; denk an die Millionen, deren Kinder vor ihrem ersten Geburtstag aufgrund von Unterernährung sterben; denk nur, wie reich gesegnet ich bin, hier bei Ubax zu sein, einer intelligenten Achtjährigen, die wie eine Erwachsene handelt und spricht, die sich an bittere Streitigkeiten erinnert und wie eine Erwachsene ihr Urteil verkündet und verdammt.« Stumm, sprachlos, zog Medina sich zurück mit dem Versprechen, ihrer Tochter beim Anziehen zu helfen, wenn sie es wollte. »Gib mir eine Minute«, sagte Ubax, die aus dem Bett stieg. »Ich gebe dir zwei. Bin ich nicht großzügig?« »Du bist lieb.«
Ubax hatte sich gebadet und angezogen. »Was soll ich malen?« fragte sie. Sie musste alle notwendigen Farbkreiden und das Papier auf dem Boden ausbreiten, wo sie sich hingesetzt hatte. »Irgendwas«, sagte Medina, die den Zeigefinger als Lesezeichen benutzte und durch diese Frage abgelenkt dreinblickte. »Mal, was immer du willst, alles, was du willst.« Sie befanden sich im Wohnzimmer, das vom mittäglichen Sonnenschein erhellt war. Medina saß weiter vom offenen Fenster weg, wohingegen Ubax direkt darunter war, was hieß, dass sie sich den Kopf anstoßen würde, wenn sie unbedacht aufstand. Der Raum war leer bis auf zwei Sessel und eine Couch. Medina konnte es nicht leiden, wenn ein Raum mit Möbeln voll gestopft war. Sie vertrat die Ansicht, dass ein Mensch in einer solchen Umgebung nicht klar denken konnte, der Verstand stieß sich an Sachen, wurde von den materiellen Dingen absorbiert. Sie hatte gern das absolute Minimum, damit sie ihrem Geist Auslauf geben und ihn im Zimmer ausführen konnte, eine Idee an der Leine wie ein geliebtes Haustier, vielleicht noch mit einem offenen Buch oder einem bebilderten Lesezeichen auf der Seite, wo sie es zugeklappt hatte. Das geistige Durcheinander halb gelesenen Bücher, die herumlagen, machte ihr nichts aus, ein Buch auf dem Kaminsims, eine Zeitschrift neben dem Bidet, ein Kochbuch bei der Waage und eine Dose, die von Stiften überquoll, all das machte ihr nichts aus. Es war schwierig gewesen, diese Wohnung in ein erträgliches Umfeld für ihr Gehirn zu verwandeln, da der Inder von der UNDP, der vorher hier gewohnt hatte, sie voller Stühle, Diwane, Sofas gemocht hatte. Nach ihrem Einzug hatte sie jede Ritze und Ecke putzen müssen; sie hatte dem Raum Luft verschaffen müssen, indem sie alle unnötigen Gegenstände in ein anderes Zimmer verfrachtete. Die Wände mussten wegen der Tandoori-
fleckigen Fingerabdrücke der Familie des Inders überall neu gestrichen werden. Gott sei Dank war Samater kein solcher arriviste wie dieser UN-Experte, der das Haus ihres Bruders gemietet hatte. Gott sei Dank teilte Samater ihre Ansichten über den Raumbedarf innerhalb der eigenen vier Wände. Die Welt war ein Zimmer. Und es war der Zustand des Zimmers, egal, welche Form es hatte, in dem ein Mensch Luft holte und die privatesten oder kreativsten Gedanken hatte; der Zustand des Zimmers bestimmte den geistigen Zustand der Person darin. Sie blickte zur Decke, betrachtete das offene Fenster und den blauen Himmel und gemahnte sich daran, dass dies eigentlich nicht ihre Wohnung war, dass sie hier vorübergehend war. Aber warum mochte sie es nicht? Hatte sie nicht das Allernotwendigste? Ein paar Bücher, für deren Lektüre sie noch keine Zeit gehabt hatte, ein paar hier und da hingeworfene Spielsachen. Nein, es war sehr ordentlich; dieses Haus war eher zu leer. Es würde niemandem Gelegenheit geben, etwas darin zu verlieren, so dass er, wenn er das Verlegte suchte, zufällig etwas sehr Wertvolles entdeckte, das er gar nicht suchte. Gedanken ließen sich nicht anordnen, wie ein Satz Tarotkarten mischen und dann genau in der im Sinn gehabten Reihenfolge auslegen. Doch wenn sie sich hier vorübergehend niedergelassen hatte, würde sie wieder zu Samater zurückkehren? Was hatte sie nur davongejagt? Warum war sie ausgezogen? Ubax hatte sie als Antwort auf die Frage, warum sie Samater verlassen hatte, einmal gesagt, sie sei wie der Mann aus dem Sprichwort, der nach dem Verlust eines Kamels die Hand in den Milchbehälter steckte, um herauszufinden, ob das Kamel dort hineingekommen war. »Schau!« Ubax hielt Medina ihre Zeichnung hin. »Was ist das?« fragte die Mutter. »Worum geht es da?« »Kannst du’s nicht sehen?« »Sag mir, was ich sehen soll.«
»Ein Mann, der einen anderen Mann jagt.« »Ein Mann, der einen anderen jagt?« »Schau dir sein Gesicht an, das von dem, der wegrennt. Schau, wie verängstigt er ist. Er weiß, dass er keine Hoffnung hat. Schau sein Gesicht an!« Medina sah hin. Sie konnte keinen Mann erkennen, der einen anderen jagte. Sie sah lediglich etwas, das wie das Werk eines Verrückten aussah, der die Wege zurückverfolgte, die zu seinem Irrsinn geführt hatten. Sie sah eine nicht figürliche Zeichnung, so wie die islamische Kunst symbolisch und ungegenständlich war: Eine Anzahl kurzer und langer arabischer Vokale schien sich mit auf dem Kopf stehenden Konsonanten die Hände zu schütteln. »Was hältst du davon?« »Interessant«, sagte Medina, »sehr interessant.« »Ich hab gewusst, dass du es nicht mögen wirst.« »Nein, nein, ich mag es schon.« Nach ein oder zwei Sekunden fragte sie: »Warum jagt er den Mann?« Ubax zuckte die Achseln. »Du sprichst doch dauernd von Leuten, die einander jagen. Der General, die Staatssicherheit… Und jetzt, was soll ich jetzt malen?« »Male die Welt.« »Wie kann ich das machen?« »Male die Widersprüche der Welt und ihre Falschheiten«, überlegte Medina, obwohl sie wusste, dass Ubax nichts begreifen würde. »Male die Schande auf unseren Gesichtern, den Schmerz in der Miene der Erniedrigten; male den langen Schatten deiner Großmutter Fatima bint Thabit; male den Tunnel, den das Alter in die Knochen deiner Großmutter Idil gegraben hat; male die Gleichgültigkeit im Gesicht deines Vaters…« »Wovon redest du? Wie kann ich all das malen? Das kann niemand«, sagte Ubax. »Was soll ich wirklich machen?«
»Ich möchte wieder an mein Buch. Magst du mich nicht eine Weile in Frieden lesen lassen? Warum gehst du nicht wieder in dein Zimmer und malst, was immer du magst?« »Du sagst mir, was ich malen soll, dann kannst du wieder an dein Buch gehen.« Wie sie gegenseitig um ihre Aufmerksamkeit buhlten, ganz wie zwei Clowns, die ihr aufgemaltes Lächeln in ein unsichtbares Publikum grinsten, der eine in Harlekinstrumpfhosen, der andere mit einem Zauberstab in der Hand. Medina dachte ein paar Sekunden nach. »Male Sandra. Male Sandra in einem unbeobachteten Augenblick. Na los!« »Das ist nicht fair.« Da war sie wieder: Das ist nicht fair, das ist nicht fair. »Warum denn?« Ubax überlegte und sagte dann: »Du hast entweder Angst vor Sandra oder du hasst sie – es ist mir noch nicht ganz klar.« Damit erwischte sie Medina unvorbereitet, die hastig versuchte, Ubaxs Auffassung zu widerlegen. »Weder hasse ich Sandra, noch fürchte ich sie«, sagte sie, ihre Worte sorgfältig dehnend. »Dann bist du eifersüchtig auf sie, das ist noch schlimmer.« »Das bin ich nicht.« »Ich hab dich mal mit Samater reden hören. Er hat so was zu dir gesagt und du hast behauptet, das stimme nicht. Aber du bist eifersüchtig auf sie, oder nicht?« »Wie kommst du auf den Gedanken?« »Du hast gesagt, dass ihr euch hasst und liebt, du und Sandra. Das hast du Samater gesagt, als ich euch damals am Morgen belauscht habe.« »Du bist ein ganz ungezogenes Mädchen«, sagte Medina.
Ubax hatte ihr Netz ausgeworfen und ihre Mutter darin gefangen, nicht Sandra. Medina war zweifellos nicht wohl in ihrer Haut, als sie mit der Wahrheit darüber konfrontiert wurde, was sie privatim über Sandra gesagt haben mochte, die italienische Journalistin, mit der zusammen sie, Samater und Nasser in Mailand studiert hatten. »Weder hasse noch fürchte ich sie«, wiederholte Medina. »Ehrlich. Ich schwör’s.« »Du hast mir auch gesagt, dass Sagal es weder hasst noch fürchtet, gegen Cadar und Hindiya zu verlieren. Sie sind auch Freundinnen. Aber ich hab Sagals Gesicht gesehen, als sie von ihnen sprach. Ihre beide schaut gleich aus, wenn ihr von Leuten redet, auf die ihr eifersüchtig seid. Ich kann so was sehen. Soll ich malen, wie du dann ausschaust? Oder wenn du mit Xaddia zusammen bist?« »Nein. Das ist nicht das Gleiche. Das verstehst du nicht. Du bist noch ein Kind, wenn es darum geht, solche Sachen zu verstehen.« »Das sagst du immer, um eine Runde zu gewinnen. Das ist nicht fair.« Medina ergriff Ubaxs Hand, um ihr zu versichern, dass alles in Ordnung sei und dass sie nicht beleidigt oder verletzt sein solle. Sie bot ihr an, sich auf ihren Schoß zu setzen, aber Ubax rührte sich nicht und Medina fuhr fort: »Die Tatsache, dass Sandra zu einer Gruppe gehört, die ich persönlich als schädlich für sie einschätze, die Tatsache, dass sie bewusst die Welt über die Geschehnisse in Somalia falsch informiert – das sind die Gründe, warum ich sie nicht mag. Aber ich hasse sie ganz gewiss nicht und habe auch keine Angst vor ihr. Warum sollte ich das überhaupt?« »Ich begreife gar nichts mehr«, sagte Ubax und ging zu ihrem Malblatt zurück. »Schließlich bin ich erst acht.«
Medinas Blick verlor sich in der Ferne wie ein Zugvogel. Sie saß mit einem offenen Buch in der Hand da, einem Buch, das sie wie ihren Handteller über ihre Tage vor und nach Samater und eine Gegenwart ohne ihn, aber mit Ubax, befragen konnte. Ihr Blick trieb in einem vagen Vakuum, das aber mit Sternchen versehen war wie ein mit Anmerkungen ausgestattetes Horoskop, bei dem sich Gegenwarts-, Vergangenheits- und Zukunftslinien kreuzten, berührten und in tintenfleckigen Konzentrationspunkten schließlich mit einem Hauch von Endgültigkeit ausliefen. Ubax kauerte nicht weit weg, ihr junges Engelsgesicht vor Anstrengung beim Malen verkniffen, eine Malkreide zwischen den Zähnen, eine, die halb abgebrochen war. Sie warf ihre Blicke wie ein Netz nach ihrer Mutter aus in der Hoffnung, einen flüchtigen Funken in den weit abgeschweiften Augen einzufangen, so dass Medina ihr helfen würde: Wie könnte sie das Aufglimmen von Schuldgefühl in den Augen eines Subjekts, das sie mit einem Bleistift skizzierte, hinmalen, festhalten und darstellen? Medina jedoch hing ihren Sorgen nach. Ihre Aufmerksamkeit war auf die Lebenslinie in der vor ihrem prüfenden Blick ausgebreiteten Handfläche gerichtet. Die führte sie zu ihren Vor-Samater-Tagen. Hier stach Sandra hervor wie die beiden arabischen Zahlen, die gleich einem Einschnitt ihrem rechten Handteller eingraviert waren, wohingegen ihre Schicksalslinie die Einundachtzig (\^) abbildete, welche die Achtzehn (^\) kreuzte. »O Allah, der Du bist im Himmel, wie viele sind Deine Namen? Nur neunundneunzig – Amen!« Dann wurde ihr Nomadenblick gefangen und augenblicklich durch Ubaxs Starren eingerahmt: ob Medina so nett sein und ihr raten könne, in welcher Farbe sie das Flugzeug machen solle? »Mal es sozialistisch rot, mein Liebling«, sagte sie ihrer aufmerksamen Tochter. »Was?«
Medina suchte nach Spuren von Irritation in den Augen ihrer Tochter und war enttäuscht, keine zu finden. Nicht einmal ein zweifelnder Blick war da, den sich Medina erhofft hatte. »Mal es sozialistisch rot, den roten Stern des Sieges (und der Bürokratie) hervorstechend genau in der Mitte platziert. Und im Hintergrund deutest du zart einen Halbmond an, wie eine halbe Teeschale. Und vergiss nicht das Schwert, dessen stumpfe Schneide gut ist für die weibliche Infibulation.« Ubax war jetzt eindeutig zornig. Ubax war so wütend, dass sie die Malkreiden wegwarf und das Zeichenblatt in Fetzen so klein wie Tränen zerriss. Dann trat sie nach einer ihrer Spielzeugeisenbahnen, die in der Ecke und außerhalb ihres Blickfeldes gewesen war. Als sich der Lärm gelegt hatte, ging sie zu ihrer Mutter, keck wie ihr Zorn, und bat um eine Erklärung. »Wovon redest du, Medina? Sag mir bitte, wovon du redest!« »Von Politik, wie üblich.« »Politik in Afrika und der Dritten Welt«, schrieb Nasser in dem Brief, den Medina gerade las, »ist bloß ein fades Gulasch aus westlichen und östlichen Ideologien. Die Sowjets spielen sich genauso wie andere fremde Mächte vor ihnen als die geistigen Lenker der Akkulturation der Afrikaner und Asiaten auf. Doch ich würde nicht sagen, dass sie ›Imperialisten‹ sind (obwohl das noch strittig ist). Der Unterschied besteht darin, dass den Russen die ausbeuterischen sozioökonomischen Faktoren fehlen, die andere imperialistische Mächte in die Lage versetzten, das zu werden, was sie sind. Ob nun jemand nach ihrer Ideologie ein ›Gast‹ ist oder nicht, nun ja, lass mich so viel sagen: Du kannst die Zutaten deiner Gerichte ändern und, wenn du willst, mehr oder weniger Salz hinzutun – wen kümmert’s! Sandra wird dich oder die Sowjets kritisieren, ebenso wie deine Freunde, die Linksintellektuellen. Sag ihnen, du bist Afrikanerin; sag ihnen, der General ist ein Faschist, und
beweise es ihnen; sag ihnen, dass die Sowjets, die italienische kommunistische Partei und die internationale Linke sich von den Deklarationen des Generals haben einnebeln lassen. Der lacht sie doch aus, wenn sie ihm den Rücken zuwenden, und sagt seinem inzestuösen Zirkel: ›Come li ho fottuti tutti quanti‹. Stelle sie mal zur Rede: Warum gewähren Europäer den schmückenden Titel ›marxistisch-leninistisch‹ oder ›fortschrittlich‹ jedem Afrikaner, der sich dazu bekennt, wenn sie noch gar keine Gelegenheit hatten, seinen Leumund zu prüfen? Das stinkt nach Herablassung. Die Sowjets jedoch haben bekommen, was sie verdient haben. Sie nahmen ihren kleinen Jungen an die Hand und stellten ihn ihren Freunden vor. Sie haben ihn ausgenutzt; sie haben seine Küste leer gefischt; sie hatten ihren Stützpunkt etc. etc. Er hat sie auch benutzt. Er hat sie seine Clansleute ausbilden lassen, er hat sie benutzt, um sich ein Bespitzelungssystem aufzubauen, so wasserdicht wie der KGB. Jeder bildete sich ein, der andere habe nicht die geringste Ahnung von seinen Absichten. Die Verlierer sind letztendlich die Sowjets. Stell dir vor, ausgelacht zu werden, wenn du ihnen den Rücken zuwendest. Stell dir die Witze vor, die er vor seinem inzestuösen Zirkel reißt. Es überrascht mich nicht, dass Sandra den inzestuösen Zirkel komplettiert. Warum bist du so verbissen? Was hat Sandra getan, dass du so wütend bist? Hat sie dich aus deinem Beruf hinausgeboxt? Erinnerst du dich noch an die Volkssage, in der ein Araber zustimmte, sein Zelt mit seinem Kamel zu teilen – und weißt du, was schließlich aus dem Araber wurde? Sei guten Mutes! Ich werde dich besuchen. Zunächst aber tue mir einen großen Gefallen und rufe Dulman an, um sie von meinem Kommen zu verständigen. Bitte sie, sich für mich bereit zu halten; sag ihr, ich komme, um die Kommunikationsstränge zu reaktivieren. Sie soll die letzte Lieferung noch zurückzuhalten, sie nicht abschicken, aber sag
ihr, sie soll in der Zwischenzeit alle Bänder vorbereiten und so deutlich und mit so wenig Störungen wie möglich kopieren; richte ihr aus, dass die zuletzt hier eingetroffenen Bänder Hintergrundgeräusche aufwiesen und ich Schwierigkeiten hatte, sie zu verkaufen. Wann ich kommen werde? Ich nehme den ersten möglichen Flug. Also, nur Mut! Soyaan ist also tot? Und niemand weiß, was aus Loyaan geworden ist? Jemand sah ihn flüchtig in Rom auf dem Rücksitz einer Botschaftslimousine. Er sah krank aus, sagte dieser Gewährsmann, und seine Wangen waren aufgedunsen. Die anderen sind im Gefängnis; ebenso Siciliano; Koschin ist zermürbt und hat Schaum vor dem Mund, sagst du, kann seinen Speichel nicht bei sich behalten. Und Samater ist Bauminister. Ich vermute, du bist so voreilig wie die anderen. Er ist der Sohn, den der Clan für sich zu fordern gekommen ist, was? Entschuldige, aber meiner Meinung nach war er schon immer ein Blindgänger. Es überrascht nicht, dass der General ihn zum Minister ernannt hat, denn der ist schlau genug, das Szepter der Macht denjenigen zu leihen, von denen er es am leichtesten zurückholen kann. Und wo ist er? In Algerien, oder zurück in Mogadischu? Seine Mutter, sagst du, hat sich in deinem Haus breit gemacht, dein Hausmädchen gefeuert und die Schrankbar mit einem rostigen Vorhängeschloss verriegelt? Leben heißt Lernen. Du sagst, sie hat einen Überraschungsempfang für ihn vor? Zugegeben, diese Frau ist im Stande, genug Staub aufzuwirbeln, dass Samater Gesicht, Job und Ehre verliert. Keiner von euch scheint zu erkennen, dass es eines gibt, was ihm die Gesellschaft nie verzeihen wird: der Autorität einer betagten Mutter nicht zu gehorchen. Idil stellt die traditionelle Autorität dar und die Gesellschaft stattet die Alten und nicht die Jungen mit Macht aus. Wenn er auch nur seine Stimme oder den Finger erhebt, ist der Mann
vernichtet wie eine geschlachtete Kuh. Aber warum hast du ihn verlassen? Wie geht es Ubax? Meinem Sohn geht es gut, obwohl er stumm ist wie ein verschlossenes Grab. Seine Mutter und ich sehen uns hin und wieder; wir begegnen uns, wenn wir unseren Sohn besuchen. Vater ist wohlauf; ich habe ihn noch nie so gesund gesehen. Er ist bester Dinge, hat seine Freunde, seine Bücher, all die Freuden, die ihn sein Exildasein vergessen lassen. Er arbeitet an irgendeinem FAO-Projekt. Mehr bei unserem nächsten Treffen. Ich umarme dich und sende dir und Ubax meine wärmsten und herzlichsten Grüße.«
Es war kurz nach Mittag und die Sonne wütete wie ein alter Mann, dem seine Rechte verweigert werden, ein alter Mann, der nichts mehr zu verlieren oder zu retten hat. Ubax war auf Medinas Schoß, erschöpft nach einigen Minuten wilden Fußballspielens im Zimmer. Und ihre Mutter hatte für sie eine Geschichte von einer Million und einer Nacht gesponnen und deren Gewebe ausgebreitet, eine Geschichte von seidiger Originalität. Medina hatte für ihre Tochter eine Geschichte so zart wie Batist gesponnen, gewoben aus den Fäden ihrer schillernden Erfahrung und Bildung. Aber warum erzählte sie Ubax immer dann Geschichten, wenn sie allein waren und die Kleine dabei war, schwierige Fragen wie ›Warum hast du dich von Vater getrennt?‹ zu stellen? Warum sponn Scheherazade die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht? War es einfach, um sich vor einem monströsen autoritären Mörder wie diesem König zu retten, der sie zu ihrem Schöpfer ins Jenseits befördert hätte? Wurde sie beim nächtlichen Erzählen der Geschichte auf irgendeine Weise reicher an ausdrucksvoller artikulierbarer Menschlichkeit? Nicht nur das, sie rettete auch
andere Leben, nämlich das vieler armer Frauen, die er sicherlich umgebracht hätte. Scheherazade war zweifellos von allen Frauen die erfindungsreichste gewesen. Für Ubax nähte Medina aus ihren Flicken von Wortfäden einen Baldachin, unter dem die beiden zelten konnten, um sich vor den bösen Blicken der Verruchten, den üblen Zungen der Gemeinen und Geschwätzigen, vor dem neidischen Gesindel zu schützen. »Erzähl mir noch eine!« »Welche?« »Die mit dem Titel ›Er‹.« »Die von Chinua Achebe?« »Ja. Bitte!« Medinas Augen wurden schmaler, als sie sich auf die Einzelheiten konzentrierte, die Vorfälle, die der IgboGeschichte Leben einhauchten. Ubax verstummte und betrachtete versonnen den Himmel; sie sah einen Adler immer weiter in den Himmel fliegen, so zielgerichtet wie das Leben. Würde sie das malen können? forderte sie sich selbst heraus. Würde sie das festhalten können? Ein Adler, der seine Beute jagt? Konnte sie das? Wohingegen sich in Medinas Gedanken die Welt auf ein Zimmer beschränkte.
2
Sagal war agil wie ein Fisch in wirbelndem Wasser, geschmeidig wie ein Stück Metall unter andauernder Hitze. Sie war eine, die vor Begeisterung für irgendwen oder irgendwas überströmte, doch dann legte sich das Feuer in ihr wie bei einer Lampe, deren Docht eingetrocknet war, und erstarb völlig. Sagal brachte selten etwas zu Ende, das sie anfing. Zweifellos war sie ein außergewöhnlich begabtes Mädchen. Wenn ihre Mutter oder ihre Freundinnen Anforderungen an sie stellten, konnte sie ihren Wert beweisen. Sie bestand Prüfungen mühelos, schloss leicht Freundschaften, vergaß aber Sachen so schnell, wie sie sie gelernt hatte. Vor knapp einem Jahr wettete sie mit einer Freundin, dass sie bei den ostafrikanischen Schwimmmeisterschaften etwas gewinnen würde: Ein Staatsoberhaupt, dessen Besuch in dem Land mit dem Wettkampf zusammenfiel, hängte ihr eine Medaille um den Hals. Ein andermal gewann sie für sich und Somalia eine Bronzebüste von Lenin. Nun, in knapp einem Monat würde sie Gelegenheit haben, ihr Mutterland bei dem Afrika-ComeconTreffen, das in Budapest stattfinden sollte, zu vertreten. Doch würde sie bis zur Abreise besonnen bleiben und sich ohne aufzufallen aus der Politik heraushalten können? Würde sie den Rat der heimlichen Opposition befolgen, das Banner einer verbannten Bewegung tragen und sich zur Sprecherin einer Untergrundorganisation machen? Und vor allem: Würde ihre Geduld die Prüfung bestehen, würde sie ihren Träumen treu bleiben? Oder würde sie ihre Drohung wahr machen und die Leinwand der Morgendämmerung mit Parolen gegen das
Regime des Generals grundieren und im Gefängnis landen, falls sie erwischt wurde? »Meine Tochter hat nicht die politische Überzeugung, Courage und Reife, um den Morgen mit Anti-RegierungsParolen zu bemalen«, sagte Ebla. »Ihre politischen Äußerungen sind nicht klar formuliert und ihr mangelt es an Geschick; alle Knoten, die sie bindet, lösen sich früher oder später. Meinem Gefühl nach hat sie keinen so ausgewogenen Verstand, um ein lebendiges Porträt aus dem Lehm ihres Flussbetts zu formen, könnte es aber sicherlich, wenn sie ihre geistigen Kräfte bündelt.« Eblas Lächeln war leicht wie das Wasser der Kindsgeburt, ihre Zähne waren weiß wie verdünnte Milch. Sie war indigniert erschienen und verstummt. Dann kam eine Fliege so groß wie der Sommer und sie verjagte sie. »Meine Tochter ist gesichtslos wie eine Windmühle auf Hochtouren. Ihr Gedächtnis ist ebenfalls schlecht. Ja, sie hat mit mir von ihrem Vorhaben gesprochen, mit einem Regierungsticket nach Budapest abzureisen, und von ihrem Wunsch, sich nach Rom, London oder sonstwo in Westeuropa abzusetzen. Doch bevor sie nominiert ist, bevor sie am Wettbewerb teilnehmen darf, wird sie ihren Mund versiegeln, härter für den Wettkampf trainieren und an den Aktivitäten des revolutionären Bezirkszentrums teilnehmen müssen, wo sie die zahlreichen Lobhudeleien auf den General singen und so verlogen sind wie ihre revolutionäre Losung. Möglicherweise wird sie im Zentrum auftreten, vielleicht für einen Tag oder zwei; dann wird sie verschwinden, reizbar wie immer, böse auf sich selbst. Sie wird ihre Zunge lösen und die ungenießbarsten Wahrheiten von sich geben. Aber sie wird nicht, ich wiederhole, sie wird nicht den Morgen mit regierungsfeindlichen Parolen bemalen.« Medina, Sagals Freundin und geistige Mentorin, vertrat eine ähnliche Ansicht: Sagal habe nicht die Geduld, etwas bis zum
Ende zu verfolgen. »Sagal legt an der Bank der Bequemlichkeit an und bleibt dort, solange das Wasser seicht ist, solange sie auf Anhieb wegschwimmen kann. Wenn sie so behaglich angedockt ist, taucht sie unter und erst dann wieder auf, wenn es am wenigsten erwartet wird. Wenn ich sie nicht tatsächlich gedrängt und gezwungen hätte, sich selbst ernst zu nehmen«, fuhr Medina fort, »wenn ich sie nicht abgeholt und zu den Schwimmstunden hin und zurück gefahren hätte, wenn ich ihr nicht beim Training geholfen hätte, würde Sagal keine ostafrikanische Schwimmmeisterschaft und keine Leninbüste gewonnen haben. Wasser bildet Rost, Wasser lässt Sachen verrotten, lautete immer ihre Beschwerde. Wasser macht den Verstand träge. Wohin will sie – Budapest, dann Rom? Soweit ich weiß, hat sie nie etwas bis zum Ende verfolgt. Wenn sie Hilfe braucht, weiß sie, dass ich für sie da bin.« Sagals engste Freundin Amina zeigte keine Spur von Überraschung, als dieser Klatsch so drängend wurde wie Geburtswehen. Es war gewiss nicht das erste Mal, dass sie zusehen musste, wie ihre Freundin den Traum stibitzte, dem sie mit beseelten Fantasien Fleisch verliehen hatte. Wie immer suchte und fand Amina Fehler an Sagals Plänen. »Sagal ist ein Fluss, der den Lauf, das Land, das Bett, den Herrn und den Liebhaber wechselt. Sie ist der Fluss, der die Höfe überschwemmt, die er bewässert hat. Wohin will sie? Nach Budapest, dann nach London? Es ist nicht das erste Mal, dass sie davon redet. Nein, da wird sicher nichts draus: Sie wird die Sonnenaufgangswände nicht mit Parolen gegen den General bemalen, aber vielleicht werden ihre Rivalinnen es tun, die knapp hinter ihr liegen. Entweder das… oder…« Sagal, gänsehäutig neben dem Sprungbrett stehend, bestand darauf, dass sie bereit sei, ins Wasser des Lebens zu tauchen. Ihr Körper war frisch wie Wasser am Morgen, welches das Plantschen von Kindern anlockt, damit seine kristallene
Unschuld geraubt wird. Sagal: eine Wasseramsel! Sie behauptete, dass sie sich diesmal an das Floß klammern würde, auf dem all ihre im Lauf der Jahre angesammelten Hoffnungen und Träume trieben. Sie würde die Wasserbarriere überwinden und das andere Ufer erreichen, das ihrer Ansicht nach einer jungen Frau ihrer Altersklasse und Herkunft mehr Möglichkeiten bot. »Wie ich mich darauf freue, die See zwischen mich und das Horn von Afrika zu bringen.« Sie würde in Europa vor Anker gehen und die Flachsmatratze ihrer Talente in jenem klareren Gewässer ausbreiten. Dann würde sie dort behaglich in der Dünung schaukeln… »Es gleicht dem Versuch, kindliches Gekritzel auf einem Spiegel zu lesen«, sagte ihre Mutter eines Tages. »Ich finde deine Pläne unbeholfen und schwerfällig.« »Wart’s nur ab!« »Deine Pläne sind so konfus, wie sie unreif sind. Heute dies, morgen das. Du bist so leicht zu beeinflussen wie ein Stagsegel. Beispielsweise hat Barbara ihre Hilfe angeboten, wenn du sie brauchst, so ist es doch? Irgendwer schlägt etwas vor und du sagst: ›Genau, das werde ich machen.‹ Als Teilnehmerin am Afrika-Comecon-Treffen nach Budapest zu gehen war Medinas Idee; dich nach Rom abzusetzen und nicht zurückzukehren stammt von Barbara, das weiß ich. Doch von wem kommt die Idee, Parolen gegen die Regierung zu pinseln? Von Amina? Oder ihren Rivalinnen, wie sie auch heißen?« Sagal hielt die Luft an und sprach nicht; ihre Miene wurde starr, als stünde sie unter einer kalten Dusche. Sie wehrte sich nicht gegen die provokante Äußerung ihrer Mutter. Stattdessen zog sie ab in ihr Zimmer und las den Brief von Barbara noch einmal. Die Formulierungen flossen ihr wie geschmolzenes Gold in den Mund, ein Satz führte zum anderen. Barbara, ein Juwel von einer Freundin, die im Brief versprach, über die
ganze Distanz von Europa nach Afrika eine Brücke zu bauen. »Du bist der Pfeiler, der aus den Trümmern meines Lebens in die Höhe schießt«, schrieb sie, »ein wackliger, aber zuverlässiger Pfeiler.« Der Brief enthielt den Vorschlag, Sagal solle sich melden, sobald sie in Rom sei. Wenn es Visaprobleme oder ähnliches gäbe, würde Barbara persönlich nach Budapest kommen und sie abholen. »Komm raus aus diesem Gefängnis, dessen Wärter der Generalissimo ist! Komm, meine Liebste, kommt dorthin, wo du nach Herzenslust schalten und walten kannst! Komm nach Europa. Komm und werde, was du sein willst!« Sagal schloss nun die Augen und hoffte, damit alles aus ihrem Sinn zu verbannen, woran sie nicht denken wollte. Sie brauchte Ruhe, sagte sie sich, um in einer Nacht mit Sturmwarnung gut auf ihr treibendes Licht aufzupassen. In dem Augenblick, in dem sie allein zu rudern begann, ging jedoch das Licht aus und sie befand sich in völliger Dunkelheit. Sie hörte das Geräusch von Rudern, welche die Wellen durchkämmten. Und sie rief: »Wer ist da?« »Ich bin’s«, sagte eine Frauenstimme. »Hast du selber das Licht ausgemacht, Ebla?« »Nein, hab ich nicht. Es ist das Übliche: Stromausfall.« »Stromausfall? Jeden Abend in den letzten sechs Monaten?« Es war ganz finster. Das gab Sagal Zeit, alle Spuren zu verwischen, dass sie gerade eine Zigarette geraucht hatte. Das erste Streichholz, das Ebla anstrich, lieferte nicht genügend Licht, um die starke Finsternis zu vermindern; sie hielt das brennende Hölzchen so lange in die Luft, wie es der Brise standhielt. Dann zündete sie ein zweites an. Nun wurden die Gegenstände in Sagals Zimmer erkennbar. »Ah, da!« Ebla entdeckte, wonach sie suchte. »Was?« »Die Lampe.«
Sie strich ein weiteres Streichholz an, dessen Flamme das aus dem Öl ragende Ende des Dochts erwischte. Sie stellte die Lampe auf Sagals Toilettentisch. »Ist mit dir alles in Ordnung, Sagal?« sagte sie. »Ja. Warum fragst du?« »Warum bist du so früh im Bett?« Sagal versteckte ihren Schreibblock. »Nachdenken. Ja, das tu ich. Ich denke nach.« »Hoffentlich nicht darüber, was du an die Sonnenaufgangswände schreiben sollst. Und auch nicht über dein Abtauchen nach London. Du musst auf der Hut sein! In diesem Land sind schlechte Gedanken über den General schon ein Verbrechen. Einer deiner Onkel hat schwer dafür bezahlen müssen. Kennst du die ganze Geschichte? Weißt du, warum er so streng bestraft wurde? Dein Onkel hat gesagt, der General sei nicht Gott. Das brachte ihm lebenslänglich ein.« Ein Netzwerk von Schatten überzog Eblas Gesicht; einige waren ein Teil von ihr, während andere von ihrem Kopfputz oder ihrem Profil geworfen wurden. Die tieferen Schatten rührten von einer fürchterlichen Sorge her, die in den letzten paar Jahren immer da gewesen war: Würde Sagal im Gefängnis enden? Das Licht der Paraffinlampe verscheuchte die schwächeren Schatten der Purdah und für einen Sekundenbruchteil konnte Sagal das nun echte Lächeln ihrer Mutter als verschieden von dem sehen, das sie gerade beim Aussprechen der Warnung aufgesetzt hatte. Dann ließ ein Windstoß das Licht flackern. Kurz darauf streckte sich der Docht wieder und stand aufrecht wie ein Malstift. »Und du? Warum bist du so früh daheim?« »Ich gehe aus.« »Wohin? Wohin gehst du?« »Du sagst mir doch auch nie, wohin du gehst oder mit wem, oder was du machst – weshalb sollte ich es dann?«
»Schon gut.« Ebla schloss die Tür. Als sie sich umdrehte, zuckte sie zusammen. Ihr gegenüber befand sich das Porträt von Che Guevara, das momentan den Platz an der Wand einnahm, der für Sagals neuestes Lieblingsidol reserviert war. Einmal las sie ihrer Mutter ein Gedicht von Che vor. Ebla meinte, sie verstünde seine Aussage nicht. Wie konnte sie auch? Das Gedicht war ursprünglich in Ches Muttersprache abgefasst worden; jahrelang hatte es in den geborgten Kleidern einer englischen Übersetzung gesteckt, die dann wiederum ins Somalische übertragen worden war. Ebla konnte Muster und Machart der Ideen und Metaphern des Mannes nicht einschätzen. Sie behauptete, wenn jemand ihr ein Gedicht von Sayyid oder Qammaan oder von einem Araber aus dem Mittelalter vorlesen würde, wäre sie dem Ringen mit den Absichten des Dichters oder ihrem Erfassen näher gekommen. »Wie ging das Geschäft heute?« fragte Sagal, das Thema wechselnd. »Schlecht wie üblich.« (Ebla dachte dabei: Ist Sagal in einer ihrer verstockten Stimmungen?) »Und du, meine Sagal, was hast du heute gemacht?« »Nichts.« »Wie meinst du das? Hast du nicht trainiert? Hast du nicht jemand wegen der Reise getroffen, die du zu unternehmen gedenkst? Geht es dir nicht gut?« Sagal schwieg. Sie schaute mit starrem Blick auf etwas vor ihr. Wo Sagals Starren endete, fand Ebla, als sie ihm folgte, eine Wand, an die ein paar Standfotos gepinnt waren, die sie sorgfältig ausgewählt hatte. Sie zeigten Marion Brando in verschiedenen Szenen aus dem Film Queimada. Mit grenzenloser Begeisterung hatte Sagal ihrer Mutter von dem Film erzählt, deren Interesse und Neugier sie wachgerufen hatte, indem sie zum Teil eine unerzählbare Geschichte
dargeboten hatte. Ebla hatte viele Fragen: Zunächst, wer war der Held? Was für eine Revolte hatte er angeführt? Welche anderen Revolutionen fanden zur gleichen Zeit an anderen Orten statt – insbesondere in Afrika? Sagal meinte, die Fragen ihrer Mutter seien naiv und aufdringlich. Dann sagte Ebla, sie hätte eine dringlichere Frage: Warum bekunde ihre Tochter ein perverses Interesse an weit entfernten Revolutionen in Lateinamerika, Südostasien, Südafrika etc.? Das brachte Sagal so sehr auf, dass sie wegging. Doch Ebla bestand darauf, dass ihre Tochter zuhörte, deswegen packte sie ihren Arm und sagte: »Oueimada hat nicht einmal hier die strenge Kontrolle des Zensors überstanden; es wurde an lediglich einem Abend eine stark geschnittene Version gezeigt und dann auf Anraten der Staatssicherheit aus dem Verkehr gezogen und am folgenden Tag verboten. Und du hast nicht einmal die verstümmelte Fassung gesehen. Also warum musst du das Banner der Revolutionärin hochhalten, wenn du nicht einmal richtig eingeweiht bist, warum stehst du auf der Liste der studentischen Agitatoren ganz oben? Halte nicht die Banner verbannter Untergrundbewegungen hoch, ermüde deine Arme nicht, sondern beuge deinen Kopf und sei auf der Hut.« Schweigen. Ebla fürchtete, die angestammte Heftigkeit ihrer Tochter würde in ihr schlafende Geister wecken, die im Keller ihres Bewusstseins weggesperrt und vergessen gewesen waren. Auch sie hatte als junge Frau einmal gegen ihre Fesseln rebelliert; auch sie hatte NEIN gesagt. Schatten des Zweifels trafen auf den Staub, den ihre Füße damals aufgewirbelt hatte, als sie den Wohnort ihres Volkes hinter sich gelassen hatte. Doch die Luft war reiner gewesen und niemand war bereit, sie wegen ihrer Prinzipien, die alle persönlich waren, zu erschießen. Wohingegen Sagal mit dem Feuer der Politik spielte. Um einen Rat zu geben, sagte sie nun:
»Das Land ist vermint und der General ist auf das Morden aus. Duck dich beim Schwirren der anfliegenden Kugel; duck dich, meine Liebste, bevor dich eine verirrte erreicht, duck dich in Deckung. Du behauptest, dass die Stadt voller wandelnder Leichen ist? Das wissen wir alle. Wer nicht? Und bitte sprich mir nicht von Gewissen. Ich habe auch eins. Doch ich trage meines innen und nicht auf der Stirn. Ich kenne viele Männer und Frauen in Somalia, die ihr Gewissen innen tragen, an ihre Unterwäsche geheftet. So intim wie der Intimbereich.« Erneutes Schweigen. Verlorener Gleichmut würde, wie sie hoffte, augenblicklich wiedergewonnen werden. Mit diesem Gedanken schritt Ebla auf und ab und erläuterte ihre Position als Mutter, als eine, die sich Sorgen machte, eine ältere Person, erfahrener und daher kenntnisreicher. Sagal hatte so verstockt wie ihre Stimmung begonnen, die Marlon-Brando-Fotos durch einige von Malcolm X und Martin Luther King zu ersetzen. »Wer sind diese Leute?« fragte Ebla. Sagal erklärte ausführlich, wer sie waren. »Vergeben und vergessen.« Dann fielen sie sich in die Arme und küssten sich. Sie gelobten sich gegenseitig das notwendige Verständnis. Woraufhin Mutter in Untertreibungen redete und Tochter das Gedicht eines Italieners zitierte. Danach gönnten sie sich ein Schweigen. Dann: »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.« »Welche Frage, Ebla?« »Bist du so früh im Bett, damit du zeitig genug aufstehen kannst, um das Morgenlaub mit regierungsfeindlichen Parolen bemalen zu können? Oder hast du entschieden, einmal auf den Rat deiner Mutter zu hören? Wirst du wieder an die Universität gehen? Wirst du härter für die Schwimmwettbewerbe trainieren? Wirst du dich aus der Politik heraushalten?« Sagal stieg aus dem Bett. Auf ihrem Weg zum Plattenspieler begegneten und berührten sich Ebla und sie eine Sekunde, so
wie durch die Hand gleitende Seide. Beide waren groß, die Mutter fleischiger, die Tochter mit hohlen Wangen und größeren Brüsten. In letzter Zeit hatte Sagal abgenommen und Ebla hatte zugenommen. »Die Männer in den meisten afrikanischen und arabischen Staaten mögen ihre Frauen dick. Sie bevorzugen deine Statur, Mutter, mit den reichhaltigen Speckringen an dir. Ich? Ich würde mich wie eine schlachtreife Mastkuh fühlen, wenn ich noch ein paar Gramm zunähme.« »Du hast nicht gegessen, stimmt’s?« »Das hab ich nicht.« Sagal schaltete das batteriebetriebene Gerät an und lauschte auf die Umdrehungen, behielt aber die Platte noch in der Hand, während sie die Umdrehungszahl überprüfte. Die Platte war die neueste von Stevie Wonder, die sie sich von Medina geborgt hatte. »Meinst du, irgendwer würde mir glauben, wenn ich sagte, dass Sagal nicht einmal ein Omelett zu machen versteht? Ein Mädchen in deinem Alter heute, das kein Omelett zu machen versteht! Aber macht nichts. Das ist deine Sache. Soll ich dir etwas kochen, bevor ich weggehe?« »Nein, danke.« »Machst du eine Diät?« »Nein, mir ist bloß nicht nach Essen. Das ist alles.« Durch den hauchdünnen Pyjama konnte Ebla das Schamhaar ihrer Tochter sehen, verwegen wie eine Safarilandschaft, natürlich gekräuselt, nicht rasiert und schockierend (sie, Ebla, hatte wie die meisten Frauen hierzulande kein Haar an irgendeinem Bereich ihres Körpers außer auf dem Kopf). Sie konnte auch die Wölbung der stramm sitzenden Brüste ihrer Tochter sehen sowie deren Spitzen, die sich beharrlich durch den Stoff drängen wollten. Über dem Plattenspieler war ein Bücherregal, das trotz seiner Schmalheit beeindruckend war:
Ebla hatte noch nie so viele Bücher in einem Zimmer gesehen. Barbara hatte ihr die Bücher und den Plattenspieler als Abschiedsgeschenk hinterlassen. Hinter dem durchsichtigen… »Bist du verliebt, Sagal? Gibt es einen Mann, den du liebst?« »Welcher Mann ist es wert, sich in ihn zu verlieben, bitte?« »Bist du oder bist du nicht?« »Mach dich nicht lächerlich! Mutter. Alle Männer, die es zu lieben lohnt, leben entweder im Exil oder sind im Gefängnis. Beide Kategorien sind außerhalb meiner Reichweite. Deshalb will ich ins Ausland gehen: um mich denen anzuschließen, die bereits im Exil sind.« »Und wenn das nicht geht?« »Dann werde ich das Morgenlaub mit Parolen bemalen und ins Gefängnis gehen. Möglicherweise werde ich einige von ihnen dort kennen lernen.« »Du bist übergeschnappt.« Das geflügelte Eindringen des Windes erschütterte das Zimmer. Das fiel mit dem Augenblick zusammen, als Ebla sich höchst sicher war, dass sie es nicht schaffen würde, ihre Tochter davon zu überzeugen, dass sie ihre dumme Entscheidung aufgab, eine unorganisierte individuelle Rebellion gegen die gegenwärtige Diktatur auf die Beine zu stellen. Sie ging dorthin, wo Sagal gestanden hatte, und lehnte sich an einen der Lautsprecher. Sie starrte auf die nackten Füße ihrer Tochter, deren platte Zehen obszön zuckten. Aber was war schon obszön? Barfuß zu gehen, gab Sagal ein Gefühl der Leichtigkeit und Natürlichkeit, so wie das nackt Schlafen in der Privatsphäre ihres Zimmers. Wohingegen Ebla glaubte, dass der Leib einer Frau ihre pudore sei: Sie muss ihn züchtig tragen. Eine Frau soll nicht eitel damit prahlen und auch kein Vergnügen an dem extrovertierten Exhibitionismus dieser Europäerinnen empfinden, die, nachdem sie der Sonne zu ihrem Sommerquartier nachgejagt sind, sich daran delektieren,
sie einzufangen, und nackt in ihrem triumphierenden Schweiß baden. Sagal war anderer Ansicht. »Der islamische Begriff der kaura ist mein Hauptanliegen«, fing sie gewöhnlich an. »Ja, ich beziehe mich auf die kanonischen Gesetze, die bestimmen, dass eine Frau vor niemandem außer ihrem eigenen Ehemann, ihrem Bruder oder anderen Frauen einen Teil ihres Körpers außer den Füßen, dem Gesicht und den Händen entblößen sollte. Verstehst du? Ein Mann trägt seinen Körper nicht als Last, nicht jede Zelle in einem Mann ist eine Anstiftung zur Sünde bei einem anderen Wesen. Der Körper einer Frau ist die lockende Sünde und Satan haust darin. Die Körper einer Frau schickt böse Botschaften an die Augen, die ihn erblicken. Der Körper einer Frau soll einer entstellten arabischen Parabel zufolge besser verborgen bleiben wie die Kehrseite des Mondes.« Doch nun unterbrach Ebla. »Wenn ich die Reisekosten nach Rom, London oder irgendeine andere Stadt zahle, wo es dich hinzieht, wirst du versprechen, mit der Beteiligung an diesen regierungsfeindlichen Aktivitäten bis zu deiner Abreise Schluss zu machen?« »Du brauchst nicht zahlen, Mutter. Ich lasse die bezahlen.« »Doch ich bin bereit zu zahlen unter der Bedingung, dass…« »Keine Bedingungen. Du brauchst nicht zahlen. Du brauchst keinen Penny für meine teuren Vorlieben und Launen ausgeben. Ich hoffe, beim Wettbewerb den ersten Platz zu machen und sie für meine Reise nach Budapest zahlen zu lassen. Also brauchst du dir keine Sorgen um das Ticket oder irgendeine andere unsinnige Ausgabe machen.« »Was ist, wenn sie dich in flagranti erwischen, wie du malst, die Linien seines Mundes zeichnest, seines…« »Eine langjährige Gefängnisstrafe. Keine Skandale, keine Anklage, hab keine Angst. In diesem Fall werde ich bei dir in diesem Land sein, für immer in Haft, bis diese Diktatur durch
eine andere Militärdiktatur gestürzt wird und so weiter und so weiter.« Sagal hatte inzwischen Stevie Wonders Love Keys aufgelegt und war wieder unter das Laken geschlüpft. Dann: »Viel Spaß noch, wenn du ausgehst, Mutter.« Sie hatten getrennte Zimmer und jede schuf sich eine ihr gemäße Umgebung. Ebla hatte Koranverse an den Wänden. Sie hatte auch einen Gebetsteppich aufgehängt, der zwar in China hergestellt war, aber in zarten Umrissen das Grab des Propheten unter arabischen Inschriften zeigte. Eblas Zimmer war schlichter als das von Sagal; sie milderte die schroffe Nacktheit der Wände mit lächelnden Fotos von Sagal als Kind, Sagal als Teenager, Sagal, die Ehrenmedaillen für ihr Schwimmen und andere Talente erhielt, die heutige Sagal, die einstige Sagal mimend – Sagal so fotogen, wie sie hübsch war. Eblas Zimmer war größer und einfach möbliert. Was nicht sonderlich gut hinein passte, zumindest nach Meinung von Sagals Freundin Amina, war das Doppelbett, das vulgär mit Kissen in blumig gemusterten Bezügen ausstaffiert war. Ansonsten war das Zimmer so geräumig, wie es lichtdurchflutet war. Die Geschmäcker der beiden unterschieden sich ebenfalls. Ebla war verschwenderisch in ihrer Liebe. »Ich bin ein Elternteil, was Sagal nicht ist. Eltern zeigen ihre Zuneigung offenherziger.« Als Sagal noch klein war… Als Sagal noch ganz klein war, hatte Ebla das Bett des Kindes auf sicheren Boden gestellt; die Bettstatt stand auf Füßen, die in genau der Erde wurzelten, in der die Kleine ihre Milchzähne begraben hatte. Nach Eblas Plänen sollte ihre Tochter die glückliche Kindheit haben, die sie selbst nicht gehabt hatte. Sie hoffte, dass Sagal eines Tages fähig wäre, ihr eigenes Leben in Großbuchstaben der Freude zu erzählen. Vielleicht gäbe es hin und wieder eine geringfügige Änderung
der Regieanweisungen. Einige Szenen müssten geändert werden, insbesondere diejenigen, die akkurat von den auf der Hinterbühne einberufenen Stammesgerichten berichteten, vor denen Ebla um das volle Sorgerecht für Sagal stritt. Sagals Vater Awil verlor in der Verhandlung gegen Ebla. »Wenn ein Adler triumphierend mit seinem Fang davonfliegt, entdeckt er, dass der Himmel keinen Platz bietet, wo er sich in Ruhe niederlassen kann, um das Fleisch von den Knochen zu picken.« Um Sagal eine festere Bettstatt und eine sicherere Heimstatt zu bieten, ging Ebla wieder eine Ehe ein. Leider dauerte diese nur zwei Jahre und vor Ende des zweiten Jahres blutete Ebla einen noch knochenlosen Fötus aus. Doch der neue Ehemann war ein wundervoller Vater für Sagal. Eine großzügige Seele noch dazu. Ein bedächtiger Mann mit kalten Füßen und kalten Händen, aber einem Herzen so warm wie die Liebe. Bevor seine Seele dem seit fünfzig Jahren als Heim dienenden Körper Lebewohl sagte, diktierte er in sein Testament eine Klausel, die Sagal, der er seinen Namen gegeben hatte (es stellte sich heraus, dass er gesetzlich kein Recht hatte, sie mit seinem Namen auszustatten), ein Haus mit fünf Zimmern vermachte, eben das, in dem sie nun wohnten – die drei übrigen Zimmer waren an eine große siebenköpfige Familie vermietet. Ebla wurde auch der Laden überlassen. Eines Tages vor nicht allzu langer Zeit dann das: »Es ist Allahs unerforschlicher Ratschluss, wer mit Intelligenz, Geduld oder Kindern gesegnet wird. Du kannst nicht behaupten, ich hätte es nicht versucht. Mein ganzes Leben lang habe ich alles getan, was ich konnte, um dein Leben zum glücklichsten zu ‘ machen, mein ganzes Leben lang, Sagal.« »Wie überaus ordinär von dir, Ebla, wie überaus banal! Ich habe dich immer für etwas Besonderes gehalten, eine aus anderem Holz geschnitzte Mutter, eine ältere Medina! Hör mal
auf dein Gebrabbel, dein bekümmertes Geplapper! Du bist so wehleidig wie Idil. Schande über dich!« »Schande über wen? Du schwimmst, als wärst du in Wasser gehüllt, atmest, als wärst du die Luft. Ich möchte dich nur daran erinnern, dass einige von uns sterblich sind und es auch erkennen. Hast du dich schon mal in die Lage einer besorgten Mutter versetzt, die sich an ihre Tochter klammert, als wäre sie das Leben? Hast du schon mal über den Fall von Dulman nachgedacht, die alles Mögliche getan hat, um ein Kind zu bekommen, das ihr aber versagt blieb? Oder über die Lage einer Amina mit ›Kindern der Schande‹? Oder sogar über Nasser mit einer sprachlosen Anfechtung, einem Kind, das seine Zunge nicht gebrauchen konnte? Einige von uns sind sterblich und wissen das, daher glauben sie an Wunder, an Traditionen und an den Fortbestand logischer Argumente. Und außerdem…« »Außerdem was?« »Medina hat auch ein Kind bekommen und ist verheiratet.« »Das habe ich als Beispiel angeführt.« »Ich mache das Gleiche, nicht weniger und nicht mehr. Die Somalis haben ein Sprichwort: Intuu toggaaga ku kiri lahaa tolkii ha badiyo! Und genau das hat sie getan.« »Du reißt das Sprichwort aus dem Zusammenhang.« »Tu ich nicht.« »Doch, das tust du!« Es folgte eine bittere Auseinandersetzung. Ebla gab schließlich klein bei, gab sich geschlagen, gestand ein, sie habe das Sprichwort aus dem Zusammenhang gerissen, sagte aber dann: »Ach komm, lass uns nicht streiten!« Doch in den besten Zeiten, wenn Sagals Stimmung wie eine bunte Fahne im Aufwind des Glücks flatterte und Eblas Geschäft florierte, hakten sich die beiden nach einer solchen Auseinandersetzung unter und schritten weiter in die Nacht,
die sich ihnen wie die glühenden Lippen einer Vagina auftat. Die verschleierte Düsternis der Stunde öffnete sich ihnen dann wie ein weicher Tunnel, um ihre eigene Nachkommenschaft zu begrüßen. Ebla: Mutterschaft von beispielhaftem Rang gegenüber einer Tochter, mit der sie im Alter von neunzehn gesegnet wurde. Sie traten gemeinsam durchs Portal der nächtlichen Sternentore wie zwei Tauben, stolz in ihrem Federschmuck – zwei Kelche der Reinheit. Wie Silberreiher, wie Rinder! Sie hielten miteinander Schritt und bewegten sich gemeinsam auf den innersten Kern des Kreises zu, den ihre Gegenwart erschuf: ein so faszinierendes Bild wie der durch einen Herdenführer ausgelöste Staubwirbel. Der schwache Wind des lockeren Nachtgefühls, Eblas seidige Haut, Sagals Stimme eine Art Flüstern in Wortwellen, aus denen sich ein Schloss von Bedeutungen errichten ließ. Ebla, einmal darauf angesprochen, antwortete meist: »Ein Mythos ist fragil wie ein Schmetterling. Wische den seidigen Staub weg und du tötest ihn. So ist Mutterschaft. Gewiss, sie und ich sind in einhundertundein Dingen verschiedener Meinung. Das ist normal. Jede von uns spricht für eine Generation, jede von uns ist wie eine Uhr, die ihre eigene Zeit anzeigt. Was die eine gewinnt, verliert die andere. Was meine Tochter nicht hat, habe ich. Aber wir sind zwei Personen unterschiedlicher Herkunft mit zwei verschiedenen Gemütern. Auch wenn die Uhrzeiger nicht die gleiche Sekunde anzeigen mögen, so ist der Unterschied zweifellos geringfügig, insbesondere, wenn beide gut funktionieren.« Eblas Gesicht verzog sich daraufhin in der Regel wie bei jemandem, der jeden Moment losniesen muss. »Wie Silberreiher, wie Rinder!« »Wie Fische, wie Wasser!« Eblas Finger waren zauberleicht, sehr erfinderisch, dachten immer an Verbindungen, hauchten Dingen Leben ein. (Genau
wie Nasser, kommentierte Medina.) »Mutters Finger sind zauberleicht wie die eines Magiers«, sagte Sagal des öfteren. »Schau dir meine an; sie sind so ungeschickt. Sie sind so dick, wie es nur die Gehirnwindungen von Idioten sein können, schwer, als wären sie mit Eiter gefüllt. Was meine Finger zusammenknoten, löst sich leicht wieder. Zudem bin ich verträumt, während Mutter praktisch ist. Und ein Hauptunterschied: Kinder.« »Wenn du noch ein Kind hättest«, pflegte Sagal zu sagen, »wie würdest du es nennen?« »Allah hat es nicht gewollt.« Eblas Kiefer ging auf und wieder zu. »Wenn du einen Sohn hättest, sagen wir mal – spiel doch mit, Ebla, was ist los mit dir?« »Keine Gotteslästerung!« »Wie würdest du ihn nennen, wenn du einen Sohn hättest? Ach komm! Was ist los mit dir, Ebla?« Darauf gab sie nach und sagte: »Dulmer würde ich ihn nennen, wenn ich einen Sohn hätte.« Sagal hatte inzwischen das Vermächtnis der Natur akzeptiert; ihr Körper schoss wie ein Stachelschwein einen Dorn der Weiblichkeit nach dem andern ab. Ihr Leib ergab sich schließlich der Invasion der Frauwerdung, bevor sie es richtig mitbekam. »Und du, welchen Namen würdest du deinem Kind geben, wenn du eines hättest? Sag es mir, Sagal!« »Ich werde kein Kind bekommen«, antwortete sie. »Das hab ich früher auch gesagt. Bevor ich dich bekam, hab ich genau das Gleiche behauptet. Also wie würdest du dein Kind nennen? Halte dich an die Spielregeln.« »Aber ich bin nicht du. Und da ich mich ja nicht an Allah versündigen soll, werde ich auch nichts mehr dazu sagen. Denn ich bin nicht du, genauso wenig wie du ich bist.«
»Allah gibt, nimmt und entscheidet für uns. Er vollbringt die Wunder. Er hat aus der krummen Rippe eines Mannes eine Frau erschaffen. Er hat Maria mit dem Wunder eines Kindes namens Cisse gesegnet, ohne dass sie mit einem Mann in Berührung gekommen wäre. Es würde mich gewiss freuen, wenn du mir nicht nur ein Kind schenken würdest, sondern ganze zehn.« »Und Wasser in Sieben transportieren würde?« »Das begreife ich nicht. Erkläre es bitte!« »Ich bin kein Flugzeug, aus dem jedesmal, wenn jemand auf den Knopf drückt, ein Fallschirmspringer fällt.« Ebla ließ stumm Sagals Arm los und ging weiter. Sagal rannte ihr nach. Und ohne eine Erklärung hakten sich die beiden wieder unter und schritten dahin, als wäre nichts geschehen. Sie waren einander zugetan wie Tauben und nur ihre Wangen (aber nicht ihre Herzen) spürten die Kühle der Feuchtigkeit Mogadischus, die klebrig wie getrockneter Schweiß war, als sie der entweichenden Nacht auf den Saum traten. Die Mutter zögerte hin und wieder und verlangsamte den Schritt, doch die Tochter war ihrem Alter gemäß forsch, unbeirrbar wie die Jahre, die vor ihren Augen verflossen waren (in ein paar Tagen würde sie zwanzig werden und ihr Geburtstag würde mit den Freudenfeuern zu Neujahr zusammenfallen); die Tochter nicht nur forsch, sondern auch ebenso liebenswürdig und freundlich. Der Rock der Nacht, gereinigt von der nationalen Staatssicherheit, lag aufgespannt da wie eine Leinwand, um mit Sagals Graffiti gegen den General grundiert zu werden. Augenblicklich würde Ebla (während sie schrie: »Sagal, Liebling, keine Gotteslästerung!«) die dünnmaschige Jute aufreißen, damit Sagals hastige Schmierereien unlesbar, aussagelos und unbedeutend wurden. Basta! Mir reicht’s, dachte sie gerade. Ich werde dir eine Reise irgendwohin finanzieren und alles sonst tun, worum du mich
bittest. Nur, damit du nicht hier im Gefängnis schmachten musst. Mein mütterliches Herz würde bluten und mein Klimakterium würde mich vorzeitig überfallen. Doch Sagal sagte: »Unsere Köpfe und Herzen, die werden uns schließlich noch trennen.« Ebla verlangsamte den Schritt. »Köpfe und Herzen, hast du gesagt?« »Je nachdem, ob der Sitz der Vernunft das Herz oder der Kopf ist«, sagte Sagal. »Du folgst dem Ruf deines Herzens, ich dem meines Kopfes.« In der entstandenen Leere versuchten Eblas Beine wie die eines Schlafwandlers vergeblich, den schlendernden Rhythmus wieder aufzunehmen, der verloren gegangen war. Sagal hatte alles umschlagen lassen, indem sie ihren Arm erschlaffen ließ, was sie zu schockierend rasch, zu plötzlich tat. »Wie spät ist es?« fragte sie. »Wie spät möchtest du es haben?« Ausblende: quälend langsam. Die zwei trennten sich, jede ging ihren Weg.
Es war eine halbe Stunde nach Mitternacht. Sagal war allein in ihrem Zimmer und las in Oblomow, einem Roman, den sie von Medina ausgeborgt hatte. Sie blätterte um, dann aber schweiften ihre Gedanken von der Seite ab und blickten auf den Titel eines Buches, das sie Medina versprochen hatte, zum Vergleich nach Oblomow zu lesen: Flann O’Briens In Schwimmen-Zwei-Vögel. Doch warum strampelte das starke Verlangen nach Eblas Rückkehr so heftig in ihr wie eine siebenmonatige Schwangerschaft gegen die Rippen der Mutter, um sich bemerkbar zu machen? Stimmt, sie hatte noch nicht bis ins Einzelne geplant, wie sie das Land verlassen wollte,
doch warum dieses plötzliche starke Verlangen? Keinesfalls wollte sie die ganze Nacht aufbleiben und darauf warten, dass sie ihrer Mutter von dieser Affäre berichten konnte, die gerade dabei war, in die Brüche zu gehen. Wenn überhaupt, dann erfuhr Ebla von ihren Affären immer über andere Leute. Vielleicht lauerte im gedüngten Boden ihrer Vorstellungskraft der Keim eines Gefühls, das, wenngleich schon bizarr, noch keine Gestalt angenommen hatte… ein Gefühl, das etwas mit einer Vorahnung zu tun hatte, sagen wir, einer Entscheidung… Würde sie schließlich doch auf dem gereinigten Rock der Morgenröte herumtrampeln? Oder ein Kind aus dem rippenlosen Abenteuer einer einzigen Nacht schnitzen, aus der schon beim Start abgestorbenen Liebschaft? Sagal fuhr zusammen, denn plötzlich drang helles Licht ins Zimmer. Sie schaltete das Deckenlicht an. Die Leuchtstoffröhre surrte gleichmäßig, hartnäckig wie das Summen eines Mistkäfers. Sie legte das Buch weg, glitt aus dem Bett und stellte sich in den Türrahmen. Die Nacht schloss die Augen, während die Bewohner der Stadt ihre Träume wegschnarchten. Irgendwo in der Nachbarschaft konnte Sagal Dulman ihr bekanntestes Lied singen hören: »Selbst Kain tötete Abel«. Ja, Sagal würde auf Eblas Rückkehr warten. Es war unfair, ihr nicht von ihrer jüngsten wichtigen Entscheidung zu berichten. Sie schaute auf die Uhr. Es war spät. Die siebenköpfige Familie, die Mieter der übrigen drei Zimmer, hatte sich wahrscheinlich schon vor Stunden schlafen gelegt. Dann ließ sich das, was von der Nacht noch übrig war, schließlich zwischen den Bäumen nieder und floss in den Innenhof; es hatte sich so leicht ausgebreitet wie ein Lichtfleck. Dann ertönte das Geräusch eines bremsenden Autos. Der Motor wurde abgestellt. Und Sagal hörte eine Frauenstimme. Der Motor wurde wieder angelassen. Zum Glück, dachte
Sagal, hat Ebla ein Taxi genommen, was bedeutete, dass Bile sie nicht in seinem Auto nach Hause gefahren hatte. Sagal hatte oft Schwierigkeiten, mit Bile zu sprechen. Mit Ebla allein und ohne Begleiter würde sie sprechen können. Sie sagte ihrem schwer pochenden Herzen, dass es sich leichter fühlen würde, nachdem sie ausgesprochen hätte, was ihre Gedanken bedrückte. Doch was war das? Die Tür zur Straße ging auf. Ebla kam herein, leise wie ein Igel. Sie sah, dass bei Sagal noch Licht war, die Tür einen Spalt offen stand und ihre Tochter selbst flüsternd und zur Begrüßung winkend im Türrahmen stand. »Hast du dich amüsiert?« Ebla, die dringend aufs Klo musste, entschuldigte sich, zögerte aber, als Sagal sagte: »Geh schon, ich schließ die Haustür ab.« »Er stellt das Auto noch richtig ab.« »Wer?« »Wer schon? Bile.« Sagal hielt es für das Beste, nichts zu sagen. Sie ging wieder in ihr Zimmer zu ihrem Oblomow. Kurz vor Tagesanbruch hatte sie ihn ausgelesen. Sie hatte beschlossen, O’Brien für den nächsten Tag aufzuheben, als sie die Haustür zuschlagen hörte. Zehn Minuten später kam Ebla zu ihr. Sagal erzählte ihrer Mutter von der Zukunft, die sie für sich erfunden hatte. Eine Zukunft ohne Hindernisse, eine Zukunft jenseits der Zukunft einer Zukunft. – was sie in ihren Träumen vorhatte und was geschehen würde, um allem, was ihr sehr am Herzen lag, Bedeutung zu verleihen. In schlichter, simpler Sprache hieß das, sie würde sich davonmachen, sobald das Flugzeug in Rom aufsetzte, Barbara würde kommen, sie abholen und sie würden beide nach London gehen, wo Sagal sich zu einem polytechnischen Lehrgang einschreiben und Modell stehen wollte, um sich etwas Geld zu verdienen. Was
war Eblas Rolle dabei? Was wäre ihr Beitrag? Nichts. Bloß moralische Unterstützung und ihr mütterlicher Segen. »Medina gibt dir, was sie als ›die Klassiker‹ der europäischen Überlieferung betrachtet, rät dir, was du lesen sollst. Barbara bietet dir Flugtickets an. Amina die Unterstützung, die ich nicht geben kann.« »Das sind meine Freundinnen.« »Du möchtest sie nicht enttäuschen, nicht wahr?« »Natürlich nicht. Noch würde ich dich absichtlich hintergehen, Mutter.« »Du hast mehr Vertrauen in Menschlichkeit und Freundschaft als ich. Freundschaft, meine liebe Sagal, ist bloß einen Faden dünner und nicht so haltbar wie die Nabelschnur, sie reißt, wenn sie unnötigerweise über die Belastbarkeitsgrenze hinaus gedehnt wird. Du musst sie pflegen, behutsam deine Schritte setzen, als hättest du gerade einen schwierigen operativen Eingriff überlebt. So, wie die Zeiten heute sind, musst du auch umsichtig sein. Verstehst du, wovon ich spreche?« Eblas Fragen öffneten unausfüllbare Löcher in Sagals Fluchtplan. Wie würde sie überhaupt nach Rom kommen? Sollte sie nicht warten, bis sie den Schwimmwettbewerb gewann? Was war mit ihren Rivalinnen? »Bitte versteh mich nicht falsch: Ich möchte in die Geschichte eingehen, weil ich mich einer Sache verschrieben habe. Ich tue alles, was ich kann, um das Wirklichkeit werden zu lassen. Wenn ich den Wettkampf nicht gewinne, werde ich mir neu überlegen, ob ich mich der klammheimlichen Bewegung anschließe. Ja, ich knüpfe das Fadenende meiner Zukunft an das des Landes.« »Eine klammheimliche Bewegung?« »Warum nicht?« Eblas Sorge um die Beweggründe ihrer Tochter, sich einer klammheimlichen Bewegung gegen das Regime des Generals
anzuschließen, wurde akuter, nahm gewaltige Ausmaße an, was Sagal gewissermaßen des mütterlichen Stolzes erst würdig machte. Was stand ihrer Tochter offen? An der Meisterschaft teilzunehmen und sie zu gewinnen, dann abzuhauen; oder sich einer klammheimlichen Bewegung anzuschließen. In jedem Fall hoffte Sagal, etwas zu einer nationalen Sache beizutragen. Also warum sollte Ebla selbstsüchtig sein? Das war eindeutig der Situation vorzuziehen, die in den Geschichten geschildert wurde, die Reisende aus Ostafrika und Italien mitbrachten, an menschlichem Zusammenhalt schwache Geschichten, Anekdoten von Schrecken der Erniedrigung und Prostitution; junge somalische Frauen aus anständigen Familien, die in den Straßen Nairobis, Kampalas und Daressalams auf den Strich gingen wie Wachleute ohne Uniform, die auf ungewöhnliche Bewegungen lauschten, wie sie spätnächtliche Einzelgänger hervorbringen. Zumindest würde Sagals hohe Moral es nicht zulassen, dass sie sich mit der entwürdigten Schar frustrierter Exilanten gemein machte. Eine Saboteurin ehrgeizigen Schlags zu sein war dem vorzuziehen. Ihr Ehrgeiz kannte keine Grenzen, ihre Tagträume fanden kein Ende, ihre Ziele waren unerreichbar. Sie war nie realistisch, hatte nie sicheren Bodenkontakt, erwachte nie zur Realität, wenn sie geträumt hatte. »Wie heißen die beiden Mädchen, vor denen du Angst hast, sie könnten dich schlagen, diejenigen, die du als deine einzigen Rivalinnen betrachtest?« »Die sind nicht von Belang.« Ebla fiel ein, dass sie Sagal eines Tages – natürlich im Scherz – einmal gesagt hatte, sie könnten eine Hexe anheuern, um ihre Rivalinnen kampfunfähig zu machen, dann bräuchte sie keine Angst mehr zu haben und könnte zu ihrem Budapest oder sonstwohin reisen. Sagal hatte erwidert, das wäre gemein, und
hinzugefügt: »Du solltest an solche Sachen nicht denken. Ich werde gewinnen.« »Sag mir, wie heißen sie?« beharrte Ebla nun. »Eine heißt Cadar, die andere Hindiya.« »Mal angenommen, eine gewinnt und die andere wird Zweite, was wirst du dann machen? Wie willst du deine Träume verwirklichen, dein Rom, dein Budapest und alles?« »Ich werde immer wieder träumen. Medina hat mir gesagt, dass Beydan vor ihrem Tod einen Traum hatte, in dem sie nicht im Mittelpunkt stand, und deshalb starb sie. Der Brennpunkt des Traums bin immer ich. Ich bin nicht Beydan. Und ich träume weder meinen eigenen Tod, noch verhexe ich meine Rivalinnen. Die Dialektik meines Traums ist dergestalt, dass ich den Widerspruch zwischen meiner erfundenen Zukunft und dem, was die Lebensrealität für mich bereit hält, sehe. Außerdem gibt es eine weitere Tür, die ich noch nicht aufgemacht…« Sagal schien sich dessen, was sie wollte, ziemlich gewiss zu sein. Sie hatte noch nie so sicher gewirkt wie heute Nacht, und das erfreute Ebla umso mehr. Was aber, wenn sich das Konditionelle als das Kategorische herausstellte, der Traum als ein hartes Faktum, und Sagal wachte entthront auf, nicht mehr die Meisterin, nicht mehr auf den Leuchtturm zurudernd, der ihrer Zukunft Licht gegeben hatte, sondern auf einen Geier, der auf der Spitze des Obelisks lauerte? Was, wenn… »Du hast mir«, meinte Ebla, »am Abend von Soyaans Tod mal gesagt, dass dieses Regime nicht tötet, sondern den Tod bedeutungslos macht.« »Hab ich das gesagt?« »Ja, am Abend von Soyaans Tod.« Sagal zuckte die Achseln, als wollte sie sagen: »Na und?« »Andererseits«, fuhr Ebla fort, die sich um eine schlüssige Argumentation bemühte (denn sie wusste nicht genau, warum
sie das zitiert hatte), »zimmert sich dieses Regime maßgerecht ein Leben zusammen, das einen Helden oder eine Heldin ergibt, würdig der Achtung und Liebe der Nation. Soyaan jedenfalls wird als Held in die Geschichte eingehen.« Sagal hielt sich zurück und wartete; sie stand sozusagen auf den Zehenspitzen, eine Marathonläuferin, die für den Startschuss bereit war. »Das Mosaik, die Collage, die Teile, woraus ein Held oder eine Heldin wie eine Maschine zusammengesetzt werden kann, wurden aus einem fremden Land importiert, das spezialisiert ist auf Lieferaufträge des verlangten Produkts nach penibler Erforschung der örtlichen Bedingungen. In gleicher Weise ist es möglich, jemanden zu demontieren. So wie Medina der Stift angeboten wurde, mit dem sie sich selbst ins Abseits schrieb; so wie Samater, eine Woche oder zwei nachdem Medina der Bannstrahl getroffen hatte, zum Bauminister ernannt wurde.« »Warte, warte«, sagte Sagal. »Was?« »Hätte Samater die Ernennung nicht angenommen, wären fünfzehn oder zwanzig seiner Clanangehörigen ins Gefängnis gewandert. So oder ähnlich wird es erzählt. Der General hat ihm ein Ultimatum gestellt; Samaters Clanangehörigen wurde gesagt: ›Überzeugt ihn, den Ministerposten anzunehmen, sonst werde ich euch allesamt vernichten.‹« »›Schließ einen Kompromiss und akzeptiere meine Ernennung oder ich werde alle deine Clanangehörigen einsperren.‹ So läuft heutzutage die Politik.« »Warum reden wir über all das, Ebla?« »Weil ich möchte, dass du weiser bist als die Geschichte, die in Büchern zu lesen steht. Weil ich will, dass du an einem schlecht erleuchteten Ort gut siehst. Weil ich möchte, dass du aufsteigst, wenn Meteore fallen. Weil ich möchte, dass du deine Demütigungen wie bittere Medizin einnimmst. Ich stehe
nun zu dir. Ich werde dich unterstützen, so viel ich kann. Wenn du mir sagst, ich soll den Laden versteigern, werde ich es tun. Dein Leben allerdings ist in deiner Verantwortung. Also mach damit, was dir gefällt. Sag mir bloß, was deine Wünsche sind, damit ich sie weiß. Belehre mich. Bereite mich vor. Bitte. Aber quäle mich nicht.« Ebla erhob sich, die Wangen feucht von Tränen der Zärtlichkeit. Die Szene war äußerst rührend. Sagal stand auch auf: die Säule töchterlicher Stärke, auf der Eblas Welt ruhte. Ebla ging zur Tür. Nachdem sie eine gute Minute überlegt hatte, fragte sie: »Gehst du zu Medina, um über deine Träume zu reden, wenn es Tag ist? Oder wirst du im Schwimmbad trainieren? Ich meine, möchte du, dass ich dich wecke, bevor ich in den Laden gehe?« Ihre Tränen breiteten sich aus und befleckten Sagals Gewissen. Sagal war betrübt, dass sie nicht den Mut hatte, ihrer Mutter das Geheimnis ihrer schon beim Start abgestorbenen Liebschaft anzuvertrauen. Doch sie entschied, es sei die Sorge ihrer Mutter wie auch ihrer selbst nicht wert, deshalb verwarf sie den Gedanken augenblicklich. Sie würde sich von einer Null wie Wentworth George keinen Strich durch ihr Leben machen lassen. Ihre Mutter wäre von der Fremdartigkeit des Namens verblüfft und würde womöglich sagen: »George wer?« »Dann träum schön, meine Herzallerliebste«, sagte Ebla schließlich. »Schlaf gut.«
3
In der gähnenden Leere einer gerade geöffneten Tür zeichnete sich Sagals Figur ab wie eine von einem Spiegel zurückgeworfene Spiegelung. Der helle Mittagsdunst umgab sie wie eine Aura. Medina blickte von ihrem Schreibblock auf. Das strahlende Tageslicht raubte ihr die Sicht, die allgemeine Wahrnehmungsfähigkeit. Doch sie sah zu Sagal hoch: Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sagal dachte, Medina sehe erschöpft aus, zu müde, um sich auf etwas einzulassen, womit sie die Freundin gerne behelligt hätte; sie fragte sich, ob diese als ihre Mentorin in der Lage war, den nüchternen Rat zu geben, weswegen sie hergekommen war. Sagal konnte nicht wissen, dass Medina mit halbem Ohr auf einen möglichen Anruf lauschte: Nasser hatte gesagt, er würde anrufen, wenn er nicht käme, falls er morgen keinen Platz im Flugzeug nach Mogadischu erhielt. Das Hausmädchen war gekommen und gegangen und würde wahrscheinlich eine Weile ausbleiben, da sie sich für Zucker, Salz, Brot und Fleisch anstellen musste. Medina hoffte, Nasser würde daran denken, ihr eine Tasche mit Käse und einige Flaschen Wein mitzubringen. Auf dem freien Markt wurden dafür unerschwingliche Preise verlangt, wenn jemand überhaupt das Glück hatte, diese Sachen zu finden. Und Ubax? Es hatten sich Spannungsmomente zwischen ihnen ergeben, als sie darüber diskutierten, ob Medina nun die Spielsachen aus dem Haus holte oder nicht, aus dem sie ausgezogen waren und in dem Idil sich breit gemacht und die volle Kontrolle übernommen hatte. Ubax ging voller Wut in ihr Zimmer und führte Selbstgespräche.
»Ciao, Sagal«, sagte Medina höflich, aber bestimmt. »Nimm Platz.« »Ciao!« Doch Sagal blieb stehen, größer und dünner, gerade wie ein Telegrafenmast und genauso unbeweglich. »Magst du dich nicht hinsetzen?« »Wo ist Ubax?« »Die ist aufmüpfig gewesen. Ich hab sie gebeten, in ihr Zimmer zu gehen.« »Armes Ding!« »Und was ist mit mir?« »Was mit dir ist? Du und Ebla, ihr seid gleich: Märtyrerinnen!« »Mutter als Märtyrerin, das ist eine traditionelle Auffassung. Wir bilden da keine Ausnahme von der Regel. Aber du wirst nicht leugnen können, dass wir gegenüber Idil, Fatima bint Thabit und sehr vielen anderen eine gewaltige Verbesserung darstellen.« »Ich will das nicht abstreiten. Eigentlich habe ich das Gefühl, es sei falsch, von dir, Ebla und Idil in einem Atemzug zu reden.« »Und wie geht es Ebla?« fragte Medina. »Ihr geht es gut und sie hat ein Verhältnis mit diesem schrecklichen Typen Bile. Das macht sie wehleidig und griesgrämig. Sie weiß, wie ich dazu stehe. Daraus ergab sich ein kleinerer Streit.« »Warum?« »Ich gehe ins Ausland, hab ich gesagt. Wenn nicht, werde ich die Morgendämmerung mit meinen Träumen bemalen.« Nach diesen Worten kam Sagal näher und setzte sich in einen Sessel gegenüber von Medina. Sie sah zu, wie Medina sich eine Zigarette anzündete. »Du gehst ins Ausland?«
»Mein Reiseplan im Telegrammstil: Budapest, Rom, London.« »Wie willst du das machen? Hast du das Geld, die Tickets?« wollte Medina wissen. »Ich habe vor, die Schwimmmeisterschaft zu gewinnen, mit der Gruppe zu verreisen und mich dann abzusetzen.« »Und wenn Cadar oder Hindiya gewinnt?« »In dem Fall werde ich meine Warnungen an die Sonnenaufgangswände von Mogadischu schreiben.« Sagal ist noch halb Kind, halb Erwachsene, dachte Medina. Für mich ist sie die Brücke, die ich gestern überquerte, der schlammige und heftig wallende Fluss, den ich durchschwamm. »Und wie willst du das machen?« »Das hab ich dir doch gesagt. Diesmal ist es mir ernst.« »Da ich mich nicht erinnern kann, fürchte ich, dass du es mir nochmals sagen musst.« Medina fiel etwas ein, das Sagal einmal zu ihr gesagt hatte: Dass die Welt ein Schwimmbecken sei; du ertrinkst entweder in seiner überwältigenden Flut oder du schwimmst durch und wirst eine Siegerin mit wässrigem Lächeln, die leicht blinzelt, aber dennoch triumphiert. »Das Leben spielt sich in der Klammer zwischen Abtauchen und Auftauchen ab.« »Es ist schwer für uns Sterbliche, deine Gedankengänge nachzuvollziehen«, fügte Medina hinzu, womit sie etwas anklingen ließ, das Ebla vergangene Nacht gesagt hatte. »Was ist schwer nachvollziehbar?« »Erst musst du den Wettkampf gewinnen, dann nach Budapest, nach Rom und nach London gehen. Wenn es nicht nach Plan läuft, was geschieht dann? Du hast bereits die höchste Sprosse der Leiter erreicht, weißt aber noch gar nicht, wo die Leiter steht.«
»Ich bin voll auf eine Auslandsreise eingestellt. Wenn ich das nicht mache, dann…« »Reden wir wieder darüber, wenn du den Wettkampf gewonnen hast. Es bringt nichts, in einem trockenen Becken zu schwimmen oder nicht gefangene Fische zu zählen.« Medina klang nicht nur abschlägig, sie hatte auch vor, das Thema zu wechseln und darüber zu reden, was sie selbst im Sinn hatte. Sie wollte Sagal mitteilen, dass Nasser wahrscheinlich vor Ablauf der Woche auftauchen würde; sie wollte ihre junge Freundin fragen, ob sie Lust hatte, an einem Tag zum Essen herzukommen, um ihn zu treffen; sie wollte vorschlagen, dass Sagal mit Amina reden und ihr bedeuten sollte, die Gegenwart möge die Erinnerungen an die Vergangenheit schlucken und sie, Amina und Medina, sollten sich treffen, um über alles zu reden und etliche Angelegenheiten ins Lot zu bringen. Sagal schickte einen verstohlenen Blick zu Medina, die sich in diesem Augenblick wie eine Person fühlte, die ein verheerendes Trauma überlebt hat, Medina, die sich die Namen der Zehn vorsagte, die mit ihr diese anstrengende Reise angetreten hatten, von der sie alle in verschiedener Weise hofften, sie würde es ihnen ermöglichen, ihrem Leben, ihrer Bildung, ihren Träumen politischen Ausdruck zu verleihen. Einige hatten diese schreckliche Reise der Selbstentdeckung durch schieres Manövrieren und Takt überlebt; einige hatten die Prüfung nicht bestanden und waren in Unglück und Kompromissen gestrandet; andere machten Bekanntschaft mit der nackten Gewalt der Macht und starben – Soyaan, Friede seiner Seele! Und Medina selbst: »Die Macht des Generals und ich sind wie zwei Echsen in einem Waranentanz des Todes; wir sind zwei Duellanten, die eine Tarantella tanzen, in der sie ihr eigenes Schicksal herausfordern. Er ist mir gegenüber so aggressiv wie ich ihm gegenüber. Er verwendet heftige Worte
genau wie ich. Er nennt mich ›eine dilettantische Bourgeoise‹, ›eine Reaktionärin‹; ich nenne ihn ›Faschist‹ und ›Diktator‹. Warum hat er mich nie ins Gefängnis gesteckt? Der General ist insofern primitiv (um einen weiteren aggressiven, heftigen Begriff zu gebrauchen), als er denkt, dass Frauen nicht ernst genommen zu werden brauchen, was umso mehr beweist, dass er hinterwäldlerisch und faschistisch und – schlimmer noch – ein ungebildeter Kretin ist.« Doch ermahnte sie sich, sehr vorsichtig zu sein, da sie zu denen gehörte, die das verheerende Trauma überlebt hatten, vorsichtig mit dem, was sie sagte, vorsichtig, mit wem sie redete. Sagal? Sagal ist die Brücke zu einer noch nicht gebauten Zukunft. Nun ist sie der Fluss. Morgen – wer weiß? »Ich hab immer gewonnen, also besteht kein Anlass, warum ich diesmal nicht auch gewinnen sollte, oder?« sagte Sagal. »Da ist Cadar und da ist Hindiya.« »Sicher, da sind Cadar und Hindiya. Was ist mit ihnen?« »Und da bist du.« »Ich?« »Ein Mensch ist gelegentlich auch sein eigener Feind, der die eigenen Knoten wieder löst. Sagal, das wirst du nicht abstreiten, ist so launisch wie das Wetter. Sagal ist wechselhaft wie die Jahreszeiten.« »Ich bin voll zu der Reise entschlossen.« »Du hast letztes Mal nur ganz knapp gewonnen. Und die beiden wirken disziplinierter und entschiedener. Natürlich haben sie nicht deinen Erfindungsreichtum oder deinen raschen Bewegungsablauf. Aber du machst dich kleiner, als du bist.« »Ich werde diesmal gewinnen, das verspreche ich dir.« »Ich freue mich darauf und werde dir als Erste gratulieren. Doch ich bezweifle, dass du diese Auslandsreise beständig im
Blickfeld behalten wirst wie ein verirrtes Schiff den fernen Leuchtturm.« »Ebla ist wehleidig; du zweifelst an meinen Fähigkeiten, und Amina ist nicht sehr hilfreich, nicht entgegenkommend. Meine einzige Hoffnung auf ein anständiges Überleben der Besten und Tüchtigsten sind Cadar und Hindiya.« »Cadar und Hindiya, die du so sehr hasst, wie du sie liebst.« »Red keinen Unsinn«, sagte Sagal. »Wie geht es Amina und ihrem Kind?« »Die wachsen halbwegs gesund und glücklich zusammen auf.« »Sag ihr, sie soll mit dir zu einem anständigen Essen kommen, wenn Nasser auftaucht, willst du das? Ich glaube, ich bin ihr gegenüber unfair gewesen. Schließlich hat sie am meisten gelitten und ihre Entscheidung, ob sie sich mit ihren Eltern ins Benehmen setzen soll oder nicht, hätten wir respektieren oder zumindest ernsthaft in Erwägung ziehen sollen. Sag ihr, ich möchte mit ihr reden, mich bei ihr entschuldigen.« »Weißt du, wann Nasser hier sein wird?« »Ich hoffe, seine Ankunft wird mit deinem Gewinn der Meisterschaft zusammenfallen.« »Wie ich mich auf ihn freue!« »Du warst noch ganz klein, als er vor Jahren herkam.« Sagal wandte sich ab und das Zimmer erstreckte sich vor ihr wie eine Straße, bedrohlich leer und unausfüllbar, mit unabgestaubten Ecken und ungetünchten Wänden; ein Zimmer so dumpf wie der UN-Mann, der darin gewohnt und es in entsprechendem Zustand hinterlassen hatte. Sagal war schockiert gewesen, als sie Medina dabei half, es auszuwischen, zu säubern, bewohnbar zu machen. Medina hatte noch nicht den Handwerker angerufen, der gesagt hatte, er würde kommen und sich um die Decke, das Dach und die
lecken Leitungen kümmern; der Geruch war Gott sei Dank nicht mehr da; Medina war den Mief von Currypulver und den unhygienischen Gestank losgeworden, der an angebrannte Tandoori, Chapatis oder im öligen Sud der orientalischen Küche getränkte Puris erinnerte. Rost gab es auch, Rost, der die Türangeln überzog und sie quietschen ließ. Inzwischen gestattete Medina sich in gelassener Selbstvergessenheit, an gar nichts zu denken, sondern ihre Gedanken ruhen zu lassen wie die brüchigen Knochen einer betagten Person, die sich unter der Last des Alters beugen. »Neulich habe ich Sandra gesehen«, sagte Sagal, »in einem Wagen mit Chauffeur und Bodyguard am Vordersitz. Direkt hinter ihrem Wagen war der des Ideologen. Meister und Mätresse… wenn ich an die eine denke, denke ich automatisch an den anderen.« »Wann war das?« »Vorgestern, glaube ich.« »Der Inzestklüngel«, sagte Medina und meinte damit, das Thema abgehakt zu haben. Sie verstummten. Ihre Gedanken flossen dahin wie ein flüssig geschriebener Familienroman und beide verloren das Spiel an eine Kupplerin – die Herzdame der Erinnerung. Medina sah sich an einem Feuer sitzen, das Kohleasche verzehrte, wohingegen Sagal sich von ihrer »Kupplerin« an die Hand nehmen und ein paar selbstgezogene Geheimnisse erzählen ließ. Etwas flüsterte ihr ein, sie hätte an diesem Punkt Sandras Namen nicht ins Spiel bringen sollen. Das hätte sie nicht tun sollen. Cadar und Hindiya; Sandra und Samater, und nun das Hausmädchen, das Idil als die künftige Braut ihres Sohnes erkoren hatte… Zwei ist eine Zahl möglicher Gegenteile, dachte Sagal. Du spannst ein unpassendes Paar zusammen und bist dann schockiert, wenn du erfährst, dass die Eheanbahnung nicht geklappt hat. Diejenigen, die dich persönlich kennen und
über alle Unzulänglichkeiten Bescheid wissen, können mehr Schaden anrichten als sonst wer. Sandra kam als willkommener Gast von Medina, doch sie strapazierte die Gastfreundschaft und missbrauchte sie – so wie ihr kolonialistischer Großvater es seinerseits mit Medinas Großvater gemacht hatte; beide wurden für ihre Gastgeber eine Belastung. Atta machte gewissermaßen das Gleiche. Zwei ist die Zahl möglicher Gegensätze, die sich paaren lassen. Zwei ist eine üble Zahl. Eins, göttlich. Drei, eine Menge? Eine heilige Zahl? Eine gotteslästerliche Zahl? »Ich nehme an, du hast auch Atta gesehen?« erkundigte sich Medina. »Ja.« »Mit Wentworth George?« Schweigen trat ein. Der Ball war in Sagals Hälfte, doch statt ihn zu spielen, ging sie schwankend weg wie ein Betrunkener, der sich der auf seinen Rücken gerichteten feindseligen Blicke bewusst ist. Auf dem Bildschirm ihrer Erinnerung blitzte die Szene ihrer einzigen Begegnung mit Wentworth George auf, an jenem Abend, der seit kurzem so viele Sorgen in ihr ausgebrütet hatte, in jener Nacht, die ihm, wie er dachte, Ansprüche auf sie gestattete. Doch Sagal würde Medina nicht berichten, wie sehr es sie beschäftigte, ob sie möglicherweise schwanger war, denn in jener Nacht hatte sie keine Verhütungsmittel benutzt, keinerlei Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Nun ragte Medina über ihr auf, groß, stark und machtvoll, und Sagal fühlte sich schwach, klein und geknickt. Sie schickte ihre Gedanken auf gut Glück los und hoffte, dass ihre Bemühungen etwas ergaben. Was zurückkam, verschlimmerte die Lage: Myriaden von Gedanken, die ein Heim, einen Unterschlupf brauchten. Und als sie sich richtig hinsetzte, um sie durchzusehen, entdeckte Sagal, dass ihr Kopf so leer war wie eine Blechtrommel, die noch dazu in einem
detonierenden Rhythmus donnergleich dröhnte, der bekannte geballte Rhythmus einer Migräneperkussion. »Du hast Wentworth George gesehen, nicht wahr?« fragte sie nach kurzer Zeit. »Er hat mich nicht gesehen, aber ich ihn. Und ich habe ihn belauscht.« »Wie war er?« »Er wirkte erfüllt.« »Wie meinst du das?« »Er war entzückt darüber, dass ein Fotoporträt, das er vom General gemacht hatte, dieser Tage in die Zeitungen kommen wird. Er war hellauf begeistert.« »Und du sagst, er hat ›erfüllt‹ ausgesehen?« »Beruflich, meine ich. Er sah nicht so niedergeschlagen oder heruntergekommen aus, wie du ihn beschrieben hast, und er hatte auch keine Probleme mit der Staatssicherheit. Ja, er war sogar mit einem Mann zusammen, der mit dem inzestuösen Zirkel in gewissem Zusammenhang stehen könnte.« Im Aufblicken sah Sagal, dass Medinas Blick weicher geworden war. Was konnte sie nun sagen, um ihr Schweigen und ihre Verlegenheit bei der Erwähnung von Wentworth Georges Namen hinwegzuerklären? Sollte sie Medina von ihrer seltsamen Empfindung berichten, von diesem Mann ein Kind empfangen zu haben, dessen verwundete Seele sie in jener Nacht zu verarzten versuchte, ein Mann, für dessen Niedergeschlagenheit sie Mitleid empfand und mit dem sie schlief, um ihn zu beschwichtigen? Was nun, wenn sie schwanger war mit dem Kind eines Mannes, der sich mit dem Regime des Generals auf einen Kompromiss eingelassen hatte? Was das Schicksal einem für Katastrophen in den Weg stellt! »Hast du Tampons?« fragte Sagal auf einmal gedankenlos. »Tampons?« »Ja. Den Apothekern der Stadt sind sie ausgegangen.«
»Ich glaube, ich habe einige in Reserve. Den Apothekern sind sie ausgegangen? Wie symbolisch! Brauchst du sie sofort?« »Nicht gleich. Aber wenn du mir welche überlassen könntest, bevor ich gehe.« Sagal hatte ihr seelisches Gleichgewicht in bemerkenswert kurzer Zeit wiedergewonnen; sie sah überhaupt nicht erschüttert oder besorgt aus, wie sie befürchtet hatte. Sie kam zu dem Schluss, dass alles davon abhing, ob sie schwanger war oder nicht, und das würde sie frühestens in den nächsten Tagen wissen. Zwei ist nicht nur eine Zahl von Möglichkeiten und wahrscheinlichen Gegensätzen, sie ist auch eine Zahl mit einer privaten wie auch öffentlichen Verwendbarkeit und Geläufigkeit: ein Ehepaar, ein Liebespaar, ein zweiteiliger Anzug, für einen Antrag oder eine Ernennung verwendbar. Drei gehört einem völlig anderen Bereich an: die Dreifaltigkeit, die drei Eide des Islam – wallaahi, billaahi tallaahi, die drei nur den Männern vorbehaltenen Scheidungsverfügungen, ein Beziehungsdreieck, Inzest mit dem eigenen Nachwuchs; drei heißt auch zwei gegen einen und erzeugt damit eine ungerechte Situation. Sagal fiel das somalische Sprichwort ein, dass das, was von mehr als vier Augen gesehen wird, als öffentliches Wissen betrachtet wird, und was von mehr als zwei Ohren gehört wird, kein Geheimnis mehr ist. Und die Macht des Generals teilte nicht nur, um zu herrschen, sondern vereinte auch Kräfte voneinander abweichender politischer Ausrichtungen unter einem übergeordneten Interesse. Seine Macht spielte den einen gegen den anderen aus. Weil dieses faschistische Regime Wentworth George schlecht behandelt hatte, war sie ihren eigenen Vorsätzen untreu geworden und hatte mit ihm geschlafen. Wenn er nun akzeptiert, gefeiert und von ihnen mit einer Aufgabe betreut war, hieß das dann, dass sie ihn nicht mehr
sehen, nichts mehr mit ihm zu tun haben und seinen Namen nicht mehr erwähnen oder sein Kind nicht haben wollte? Medina zündete sich eine Zigarette an, ließ schweigend das Streichholz aufflammen. Sagal schaute auf und ihre Blicke begegneten sich; sie lächelten einander an, schwiegen aber, da keine wusste, was sie sagen sollte. Vielleicht würde sich eine Tür auftun, die Tür zu einer Möglichkeit, an die anzuklopfen keiner in den Sinn gekommen war; möglicherweise würde eine einen Witz reißen und der Spannung, die beide empfanden, ein Klistier verpassen… Und siehe da: Ubax stand im Türrahmen und lutschte an ihrem Trostdaumen.
»Ciao, Ubax!« »Ciao, Sagal!« Doch Ubax trat nicht vor, kam nicht näher, obwohl Sagal ihre Bereitschaft zu einer Umarmung kundtat. Rundherum nur Lächeln. Drei Gesichter ähnlich den Mondphasen: eine junge Sichel, ein halber und ein voller Mond. »Was hast du denn in der Hand, die du hinter deinem Rücken versteckst, Ubax?« »Nichts.« »Komm und zeig her!« . »Da ist nichts!« Medina wollte keine Konfrontation, wollte nicht auf dem Herzeigen beharren. Die Welt, repräsentiert durch die vier Zimmerwände, verschob sich, die Welt kreiste um die Sonne, die Sonne rotierte um das Universum und die beiden zusammen gebaren das Bild der bösartigen Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Sollte Medina das ninnananna, das huuwaaya-huuwaa eines Schlafliedchens singen oder sollte sie einlenken und die Konfrontation sein lassen? Das Gefühl kehrte zurück, ihr Eindruck, der damit zu tun hatte, dass sie die
eine Person war, die ein verheerendes Trauma überlebt hatte, eine beschwerliche Reise, ein schreckliches Duell. Sie hatte das Gefühl, als spielte sie mit Leuten, die nicht mit der Zeit gereift waren, deren Erfahrungen begrenzt, wenn nicht kurzlebig waren. Sie kochte innerlich bei der Vorstellung, eine von den wenigen Sehenden in einem blinden Land zu sein. Sie gab Sagal Ratschläge, Bücher, sagte ihr, was sie gegen ihre Beschwerden tun sollte. Sie tröstete sie bei ihren vormenstruellen Komplikationen und ihren schmerzhaften Monatsblutungen genauso, wie sie eine wissenschaftliche Antwort auf Dulmans Geschwulste und Hitzewallungen zu finden hatte, darauf, was mit einem Kind zu machen sei, dessen Augen nicht fokussierten, oder mit einer Mutter, die unter einem Ekzem litt. Warum sollte sie auf das alles Antworten haben, wenn sie mit ihrem eigenen Kind, das Daumen lutschte, nicht zurechtkam? Dann sah sie aus dem Augenwinkel, dass Sagal aufgestanden und zu Ubax gegangen war, mit der sie Wangenküsse tauschte. Sagal bückte sich, um mit Ubax zu reden, doch die Kleine wollte erst nicht damit herausrücken, was sie hinter ihrem Rücken versteckt hielt. Sie ließ sich unnötig lang über das Fehlen ihrer Spielsachen aus, sprach darüber, dass Medina sie nicht gehen und mit den Nachbarskindern spielen ließ, obwohl sie ihr immer erlaubt hatte, wenigstens hin und wieder mit den anderen Kindern bei dem Haus zu spielen, aus dem sie ausgezogen waren. »Schön, aber was versteckst du?« Ubax zog den Daumen aus dem Mund und holte die andere Hand hinter dem Rücken hervor. Die umklammerte einen Tampon. Himmel! Und während Sagal einen verstohlenen Blick in Medinas Richtung warf, sah sie, dass diese alles weggeräumt hatte, was davon zeugte, dass sie eine Zigarette geraucht hatte.
»Was willst du damit?« fragte Sagal Ubax. »Ich hab bloß damit gespielt. Ich wollte es wie eine Puppe anziehen.« Aufblitzendes Sonnenlicht fiel wie der Richtstrahl eines Leuchtturms auf Medinas Stirn, erleuchtete sie und verschwand gleich wieder. Medina schob den Aschenbecher wortlos unter den Sessel. »Hast du das gehört, Medina?« sagte Sagal und hielt den Tampon hoch. »Hast du gehört, was deine Tochter gesagt hat?« »Nein«, sagte diese, als kümmere es sie nicht. »Sie hat mit diesem Tampon gespielt, da du sie nicht mit den Nachbarskindern spielen lassen willst und sie nicht wie die anderen Kinder zur Schule schicken magst. Sie sagt, du lässt sie nicht wie ein Kind ihres Alters auftreten. Du hast sie geprägt und sie dazu gebracht, wie eine Erwachsene zu sprechen, sagt sie. Keine Spielsachen, keine Puppen, aber Tampons.« »Hast du das gesagt, Ubax?« »Nein, das hab ich nicht gesagt.« Sagal lächelte so reizend, dass sie sogar einen Fisch aus dem Meer gelockt hätte. »Lass andere nichts Falsches über dich sagen«, meinte Medina. »Sprich für dich. Was hast du gesagt?« Erst einmal langes Schweigen. Ubax stand stramm wie ein Wachposten in Habachtstellung und blickte ihrer Mutter ins Gesicht. »Ich will meine Spielsachen, hab ich gesagt.« Ihre Stimme hatte eine Ernsthaftigkeit, die ihr niemand zugetraut hätte. »Darüber haben wir doch schon gesprochen. Außerdem hat dein Onkel Nasser versprochen, dir neue mitzubringen. Also geh bitte wieder zu deinen Bildern und zeig uns, was du gemacht hast.«
Sagal blickte von der einen zur anderen. Medina verfiel in eine fremde Sprache, um Sagal die unangenehmen Begleiterscheinungen zu erklären, wenn sie in das andere Haus ginge: Sie würde allen gerne die Peinlichkeit einer Konfrontation mit Idil und der neuen Haushaltshilfe/Gattin in spe ersparen. Jedenfalls hoffte sie, Nasser würde vor morgen Abend mit einer Schachtel voll Spielzeug eintreffen; und bis dahin wäre auch Samater wieder aus Algier zurück. Sie hoffte, dass Ubax sich in der Zwischenzeit beruhigen würde. Aber das war nicht der Fall. Ubax führte sich auf, hüpfte lauthals schreiend herum. »Ich will meine Spielsachen«, skandierte sie immer wieder. Sie brach in Tränen aus und schluchzte in einem fort. Dann fühlte sie sich lächerlich, da sie sah, dass sie ihre Mutter nicht umstimmen konnte. Medina blieb so gelassen wie immer. Ubax rannte aus dem Zimmer. »Warum holst du ihr denn nicht die Spielsachen?« fragte Sagal. »Sie wird lernen müssen, hin und wieder mal ohne gewisse Dinge zu leben.« »Es tut mir Leid, dass ich sie falsch wiedergegeben habe. Ich wollte das nicht.« »Schon in Ordnung.« »Sag mal: Ist es, weil du Idil, die Königinmutter, nicht entthronen und dir den Zorn ihres verworrenen Verstandes zuziehen willst? Wenn das so ist, habe ich Verständnis. Eines muss allerdings gesagt werden.« »Was?« »Mutter als Märtyrerin oder Mutter als Allwissende. Was ist dann letztlich der Unterschied zwischen dir, Idil und Ebla?« »Das würde ich jetzt lieber nicht näher erörtern.« »Zwei als gerade Zahl ist eine schlimme Zahl.« »Bitte. Vertiefen wir das nicht weiter.«
Sagals Theorie der Antinomie schloss weitere Möglichkeiten ein. Warum wollte sie dem Ungeheuer lieber nicht in dem Bau entgegentreten, den sie sich für sich selbst angelegt hatte? Die Wohnung war ihre, das Haus lief auf ihren Namen, also konnte sie von Gesetzes wegen die Polizei rufen und Idil hinauswerfen lassen, wenn sie es wollte. Hatte sie Angst vor dem Skandal? Es war ja nicht ihre Mutter und sie hatte sich ja schon von dem Sohn dieser Frau, ihrem Ehemann, getrennt. »Die Macht des Generals und ich sind wie zwei Echsen in einem Waranentanz des Todes« – die Betonung auf Macht und nicht auf General. Macht als System, Macht als Funktion. War Idil fester Bestandteil dieser Macht? Der Himmel würde jeder Person auf den Kopf fallen, die eine Säule der Gesellschaft umstürzte – in diesem Falle Idil. Deshalb würde Medina behutsam vorgehen; sie waren wie Echsen im Kampf, jede tanzte den Tango ihrer Strategie, Brust an Brust, von Angesicht zu Angesicht… Sie wollte es eher dem Matador gleichtun, der herumschwenkt, wenn der Stier rot vor Wut blindlings auf ihn zustürmt. »Theorie der Antinomie? Zwei als schlimme Zahl? Hast du Flann O’Brien gelesen?« »Ja«, sagte Sagal, die aufgestanden war, eine Zigarette zwischen den Zähnen. »Ich hab Oblomow gespielt, als ich diesen irischen Klassiker las. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll. Ebla denkt schlecht von dir und Barbara, wenn sie mich so in Bücher vertieft sieht.« »Wessen Idee ist es, dass du die Gruppe in Rom verlässt und dich in ein anderes Land absetzt und schließlich nach London gehst? Barbaras? Ist deine Mutter deshalb so bekümmert? Gibt sie mir oder Barbara die Schuld?« Sagal hörte nicht aufmerksam zu, denn sie hatte einen kurzen Tanz aufgeführt. Es trat ein kurzes Schweigen ein, bis sie aufhörte. Medina war sehr beeindruckt, und das tolle Finale
kleiner Gesten und anmutiger Körperdrehungen war fortgeführt worden. Sagal fiel die Zigarette aus dem Mund, doch anstatt sich zu bücken, um sie aufzuheben, drückte sie die Kippe mit dem Absatz aus. »Wessen Idee soll was sein?« fragte Sagal. »Entweder mit dem eigenen Namen Geschichte zu schreiben oder ihn plump auszuradieren.« »Es ist meine. Sicherlich nicht Barbaras. Kann ich nicht selbst denken? Kann ich nicht eine Idee in die Welt setzen?« Sagal hob die platt getretene Zigarette auf und ließ sie in den Aschenbecher fallen. Medina wartete, wollte nicht beschuldigt werden, aggressiv oder eifersüchtig zu sein. »Hast du nicht mit Barbara korrespondiert?« sagte sie dann. »Was hat Barbara mit all dem zu tun?« »Ich hab nur gedacht…« »Was denn?« Ein schwacher Wind wehte herein, feucht wie der Monsun, und Medina drehte und wendete die Worte auf ihrer Zunge hin und her, wie eine erfahrene Köchin eine feurige Kohle von einer Hand in die andere wirft. Sie war ein Hirtenmädchen, das keinesfalls die ihm anvertrauten Ziegen aus den Augen lassen durfte, da es sich in einem Wolfsrevier befand. Schließlich entschied sie, gar nichts zu sagen. Sagal: »Zwei ist eine Zahl möglicher Gegensätze: du und Idil einerseits, du und Barbara/Sandra andererseits. Zwei Echsen in einem Waranentanz des Todes. Zwei ist eine schlimme Zahl.« »Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen.« »Meine Theorie der Antinomie hat mit dem Grundwiderspruch zu tun, der in der Ausschaltung eines direkten Rivalen liegt. Du bist mit Idil in einem Ring, insofern als ihr beide das gleiche Ziel habt: Samater zu besitzen. Andererseits sind da auch noch Sandra und du: berufliche Unvereinbarkeit. Um alles noch mehr zu verwirren, sprichst du
von politischen Widersprüchen ihrerseits, davon, dass sie als Europäerin und Italienerin nie die stammesinternen, claninternen Bindungen verstehen kann, nach deren Geboten das Land regiert wird. Gehen wir noch einen Schritt weiter: Da ist noch die Afro-Amerikanerin Atta in einem nicht weit entfernten weiteren Ring, und Sandra ist die Verteidigerin eines Titels, den sie als Königin des inzestuösen Zirkels errungen hat.« »Und du, wo bist du in all dem?« »Ich bin in einem anderen Ring und meine Herausforderer heißen Cadar und Hindiya.« »Verstehe.« Hier nun ging Medina in einem mäandernden Erinnerungsstrom unter, sie wurde überschwemmt von einer Flut von Reminiszenzen, die sie an den Biegungen und Buchten eines Wassergrabens anspülte. Würde ihr jemand einen Rettungsring zuwerfen? Würde ihr jemand den kleinen Finger reichen, damit sie sich festhalten konnte? Und ihre Mutter Fatima bint Thabit war da, von Kopf bis Fuß in die dunklen traditionellen Stoffbahnen der Purdah gehüllt. Damals waren die Mittage erfüllt von Hitze und Kapsikumduft; damals rochen Mittage nach Knoblauch, Zwiebeln und quengelnden Kindern. Und da war noch ein bettlägeriges Ungeheuer, Medinas Großvater, der große Augen hatte und einen Mund so gefräßig wie der einer Wanderheuschrecke. Mit seinen Backentaschen sah er wie ein Pavian aus, er kaute mit tabakfleckigen Zähnen und verbreitete einen Gifthauch. Er benahm sich abscheulich gegenüber Medina und den Frauen des Haushalts; er war der grausamste Mann, den diese Frauen je kennen gelernt hatten. Er war der Inbegriff des autoritären Patriarchen. »Eine Frau braucht einen Mann, der für sie bei Allah vorspricht; der Gott einer Frau ist ihr Ehemann«, verstieg er sich zu einem falschen Koranzitat. Sie hasste ihn.
Sie war vier oder fünf und Nasser acht oder neun gewesen, als sie sich verschworen, ihn umzubringen, es aber nicht schafften, weil sie kein giftigeres Gebräu finden konnten als sein eigener Pesthauch. Er wurde einhundertundzehn, überbrückte zwei Jahrhunderte, in denen er seine Autorität ausspielte. Er war der große Gegenspieler von Sandras Großvater, als es um die Befreiung seiner Sklaven ging. »Du befreist meine Sklaven und zum Zeichen der Dankbarkeit dir und deiner Kirche gegenüber nehmen sie deinen Glauben an. Bald werden meine ausgemergelten Sklaven und ich deine Leibeigenen sein. So wird es nicht ablaufen. Gib mir Zeit, darüber nachzudenken.« Inzwischen heckte er einen Plan aus. Er bat seine Sklaven – Männer, Frauen und Kinder – sich im Hof zu versammeln, denn er wollte zu ihnen sprechen. Er beschloss, sie alle frei zu machen, und organisierte eine Reise nach Mekka, Hin- und Rückfahrt bezahlt. Er wusste, dass sie auch nach ihrer Befreiung noch seine Sklaven bleiben würden. Sie brachen auf, bevor Felice, Sandras Großvater, zurückkam, um sich zu erkundigen, ob er sie nun freilassen würde oder nicht; dann kehrte er um vieles reicher und als Hadschi zurück. Seine Freunde und die Familie schnitten das Thema größtenteils zurückhaltend an, obwohl sie Grund zu der Annahme hatten, er habe die Sklaven verkauft, als sie nach Mekka gelangten. Felice schrieb einen wohlwollenden Bericht, den er nach Rom schickte. Gad Thabit und er gingen eine Art Freundschaft ein; nach ihren Denkprinzipien gab es zwischen ihnen keinen Interessenkonflikt. Angreifer und Verteidiger wurden eins; so würde es Sagals Theorie der Antinomie erklären. »Du und Samater zum Beispiel…« »Ja?« sagte Medina. »Was ist mit Samater und mir?« »Ich kann mir dich und Samater nicht als zwei Echsen in einem Waranentanz des Todes vorstellen. Es sei denn, eure
Interessen konvergieren und richten sich auf Ubax. In dem Fall…« »Ich höre zu.« Eine Pause. Der Geruch von Regen lag im Wind. Und Medina dachte an Nassers Worte, sie solle ihre kostbare Zeit nicht mit dem Fixieren des Nadelöhrs vergeuden, sondern ein Auge auf das Kamel selbst werfen. »Kannst du mir folgen?« fragte Sagal gerade. »Ja klar«, log Medina, die nicht genau zuhörte, sondern dachte: Ich frage mich, warum sie Xaddias Namen nicht erwähnt? Xaddia, die eindeutig die Stärkste in Samaters Verwandtschaft ist Stell dir vor: Medina und Xaddia in einem Todestanz verklammert! Sagal sprach weiter: »Meine Mutter und ich sind wie zwei Uhren, deren Zeiger anders gehen. Was ihre verliert, gewinnt meine. Wir sind keine zwei Echsen in einem erbitterten Todeskampf. Wenn wir zur entscheidenden Stunde kommen, gibt entweder sie nach oder ich. Grund: Weil wir nicht danach streben, die gleiche Position voll in Beschlag zu nehmen, und genauso wenig verdrängen wir einander vom Platz wie du und Idil – oder wie Sandra und Atta. Du könntest Idil umbringen und sie dich, wenn sie die Chance hätte.« »Und warum haben wir, Nasser und ich, versucht, unseren Großvater zu vergiften?« Sie hatte emotionsgeladen darüber gesprochen, wie sehr sie Gad Thabit hassten und wie sie sich verschworen hatten, sein Essen zu vergiften, was aber fehlschlug. »Weil er eure jungen Seelen gänzlich in seinen Besitz gebracht hat, so wie der General sich der des Volkes bemächtigt hat – und ihr habt seine Ermordung geplant, um das wiederzuerhalten, wofür er euch vernichten wollte.« Medina gefiel, was Sagal gesagt hatte. Sie war stolz wie eine Lehrerin, deren Schülerin es endlich geschafft hat, obwohl sie es für das Beste hielt, zu schweigen, damit ihre Stimme nicht
eine Spur Eifersucht und Anspannung verriet. Ihr fiel wieder ein, dass jemand Feuer in dem Hausflügel gelegt hatte, in dem sie geboren war. Steckte Großvater Thabit hinter der Verschwörung? Er sagte immer, seine Tochter Fatima bint Thabit (die Mutter von Medina und Nasser) habe »die von der katholischen Kirche weggeworfene Frucht aufgelesen. Ihr Leben wird verfaulen wie der Baum, von dessen Frucht sie gegessen hat.« Und wieso musste er auf diese gewaltsame Art und Weise vorgehen? »Die von der katholischen Kirche weggeworfene Frucht!« Dies bezog sich auf Medinas Vater Barkhadle, der Gerüchten zufolge an der Türschwelle der Kirche aufgefunden wurde, ein in Lumpen gehülltes ausgesetztes Kind, das die Kirche dann aufzog und in einem ausschließlich muslimischen Land nach christlicher Lehre unterrichtete. Er war wegen des angenommenen Glaubens ein Fremder im eigenen Land. Vaterlos wie Christus, pflegte er zu scherzen. Ein Juwel von einem Vater für sie und auch für Nasser, obwohl dieser nicht von seinem Blut war; Nassers Vater hatte den Freitod gewählt, weil dieses bettlägerige Ungeheuer glaubte, sein seniles Geschwafel sollte als Gesetz angenommen werden und niemand – nicht einmal seine Schwiegersöhne – sollte seine Autorität in Frage stellen. »Da ist noch etwas.« »Was?« »Du verweigerst Idil das Recht, der Leitstern zu werden; du verweigerst ihr die Autorität, welche die Gesellschaft ihr zubilligt. Und noch dazu möchtest du nicht, dass sie Ubaxs rosigen Schlaf heimsucht, dass sie die Unversehrtheit des Mädchens ansticht und es bis in die Tiefe seiner verschleierten Seele verletzt. Was meiner Meinung nach der Grund ist, warum du Samater verlassen hast.« »Wovon sprichst du, Sagal?«
»Ich bin alles noch einmal durchgegangen und finde, es ist stichhaltig.« »Was bist du durchgegangen?« fragte Medina. »Weißt du noch den Vorfall, der dich so aufgebracht hat, dass du in Zornestränen ausgebrochen ist, tatsächlich das einzige Mal, dass ich dich zusammenbrechen gesehen habe? Weißt du das noch?« »Das von dem Somali-Amerikaner mittleren Alters, der seine Frau und seine sechzehnjährige Tochter hergebracht hat, um ihnen sein Geburtsland vorzustellen, der arme Mann, der so naiven Glaubens war und so schwer dafür bezahlen musste?« »Der arme Mann, dessen sechzehnjährige Tochter ohne seine Zustimmung beschnitten wurde, der sein Leben daher als völlig gescheitert ansah und anstatt es sich oder seiner Frau zu erklären, sich einfach umgebracht hat?« »Das war tragisch«, sagte Medina. »Ich habe dir die traurige Nachricht überbracht, weißt du noch?« »Ja. Aber ich kannte den Mann. Ich bin mit seiner Schwester auf die Uni gegangen. Er war ein sehr lieber Mensch. Es war absolut niederschmetternd; ich hatte seit Jahren nichts so Schreckliches gehört. Aber ich erinnere mich nicht mehr, in Zornestränen ausgebrochen zu sein. Warum?« »Und einen Tag später, was hast du einen Tag später gemacht?« »Was meinst du damit, was ich einen Tag später gemacht hab?« In Medinas Gemüt rückte nun lebhaft die Szene in den Vordergrund, in der sie die tragische Nachricht erhielt. Sie hatte sich mit Idil darüber gestritten, ob sie und Samater Ubax so viel Aufmerksamkeit widmen sollten oder nicht, ob sie so viel Geld für das Mädchen, für dessen Spielsachen ausgeben sollten. Idil sagte irgendwann, sie würde die Dinge in die Hand
nehmen und ihnen zeigen, wozu sie fähig war. Aber Medina konnte sich nun nicht erinnern, ob Idil dabei gewesen war, als Sagal die tragische Nachricht übermittelte. Doch was geschah am nächsten Tag? »Der UN-Mann zog einen Tag später hier aus und du bist hergekommen, um die Schlüssel von ihm zu holen. Dann hast du beschlossen, umzuziehen, denn als ich dich am nächsten Tag traf, hast du eine diesbezügliche Anspielung gemacht. Und am vierten Tag hast du deine und Ubaxs Sachen gepackt und bist hier eingezogen.« »Das ist überaus schlau«, sagte Medina. »Der neue Inspektor Poirot.« »Ich würde mehr an Maigret denken.« »Wie das?« »Maigrets Vorgehen ist zerebraler als Poirots Puzzletechnik. Poirot ist zur rechten Zeit am rechten Ort und so kommen ihm auch die Lösungen seiner Fälle.« Medina war beeindruckt. Sollte sie nicht ihre Auffassung von Sagal als halbem Kind, halber Erwachsenen revidieren und ihr sagen, dass sie die Einzige war, die halbwegs erriet, warum sie Samater verließ? Sagal als die Brücke, die sie mit ihrem eigenen Gestern verband, oder Sagal als Zukunft, ein möglicher Ersatz… Die beiden standen sich gegenüber, jede dachte ein wenig über die andere nach. Beide blickten auf. Ubax war wieder gekommen. Sie war hungrig und wollte wissen, ob es ihnen genauso ging. »Auf in die Küche«, sagte Medina. Sagal trug ihre Jugend wie die Jahreszeit das Wetter. Medinas und ihre Lebensgeschichte gingen sozusagen eine kurze Strecke gemeinsam, liefen parallel, ohne sich je zu treffen, wie zwei Flüsse, die sich in den gleichen Ozean ergießen. Jede betrachtete sich als Kind nur eines Elternteils. In Medinas Tonaufzeichnung ihrer Vergangenheit war die
mütterliche Stimme kaum da, und wenn doch, war sie kaum hörbar, ein leises Murmeln der Hypochondrie, die Erinnerungen daran so schmerzhaft wie ein Kaiserschnitt. Bei Sagal war die Stimme des Vaters kaum da. Medina war schwer wie ein weises Wort, Sagal dagegen leicht wie eine barzelletta, ein Scherzwort. Sagals Leben war voll verpasster Chancen und versäumter Verabredungen, aber Ebla, Barbara, Amina, Medina oder sonst eine ihrer Freundinnen konnten ihr da in jeder Sackgasse begegnen, so wie ein einsamer Radchampion auf einen begeisterten Fan trifft, der ihn anfeuert; in den meisten Fällen verbarg sich Ebla in der Silberbeschichtung des Spiegels, und Sagal, blind wie ein Höhlenfisch, schwamm in den Teichen einer ungeplanten Zukunft. Ihre Stimmungen, Gedanken, ihre Vorlieben und Abneigungen führten zu unvorhersehbaren Zornesausbrüchen, Wutanfällen und Richtungswechseln. »Sagal gibt einer Spinne nicht die nötige Zeit, um ihr einen Generalplan der Zweckmäßigkeit zu weben. Sie hat auch weder die gelassene Sicht einer Ameise noch den inneren Frieden einer Ente«, pflegte Medina zu sagen. »In Medinas gezimmerten Bau«, lautete Sagals Kommentar, »sind Termiten eingedrungen und deshalb ist das Tragwerk ihres Traums geschwächt, der Unterbau hat nachgegeben, Sockel und Boden sind schadhaft geworden. Wenn du weiter nachschaust, wirst du feststellen, dass es am Treppenabsatz durch Lücken so groß wie ein zwölf Tage alter Mond pfeift; die Spindel, das Geländer und die Stäbe sind eingefallen. Ein Leben in Trümmern. Doch sie selbst steht fest und aufrecht da – das ist ein Wunder –, fest und stark wie ihre Absichten.« Sagal, in einem ausgehöhlten Kanu, nackt und nass von tropischem Schweiß, streifte in ihrer Fantasie die Ketten ab, die sie mit Händen und Füßen an eine Tradition banden, in der Frauen gekaufte und verkaufte Gebrauchsgegenstände waren und sexuell misshandelt wurden. »Ich bin ein Fluss, der
gleichbedeutend mit seinem Wasser ist. Ich bin eine Frau, die gleichlautend mit Unterwerfung und Unterdrückung ist.« Und Sagals Augen verdrehten sich in einer unbestimmten Bewegung – wie eine geschälte, glitschige Zwiebel. Hier würden die Flügel von Medinas Geist sich wie die eines flügge gewordenen Vogels regen. Ihre prächtige Regatta würde vorbeisegeln: ein liebevoller Vater, ein schrecklicher Großvater, eine Entourage ferner und naher Cousins, Nasser, Samater, Freundinnen, ihre Mutter und vor allem ein Leben, dessen prägende Jahre in Europa verbracht wurden. Medina würde schließlich wie ein Trophäen sammelnder Laubenvogel mit lauter bunten Federn auftauchen. Sie beherrschte vier europäische Sprachen ziemlich gut und schrieb in zwei; ihr Arabisch war so gut wie ihr gesprochenes Somali; deren Reichtum, Literatur und Künste hatte sie sich angeeignet; sie liebte jene fremden Städte, in denen sie gewohnt hatte, so sehr wie Mogadischu. Medina war daran gewohnt, das Beste zu erhalten. In Europa, sei es nun in Stockholm, London, Rom oder Paris, war sie die wunderschöne schwarze Göttin, in Afrika, sei es in Mogadischu, Ouagadougou oder Dakar, wurde sie um ihre kosmopolitische Unbefangenheit, um ihren afrikanischen Stolz und ihre geistige Offenheit beneidet. Mit dreiundzwanzig hatte sie einen akademischen Titel in Literaturwissenschaft und die entsprechenden Arbeiten veröffentlicht. Der Wind würde ihr Haar durchkämmen, eine Handbewegung würde ihr die Falten unnötiger Sorgen glätten; Nasser oder ihr Vater würden das Geld, das sie benötigte, telegrafisch anweisen; Samater würde eine Nummer wählen und sie würde überall bedient werden. Fehlte irgendetwas? Gab es irgendetwas, das sie vermissen würde? Sie würde sich ihrem Vater, ihrem Bruder oder einer engen Freundin wie Sagal anvertrauen können. »Ich fürchte die sich herabsenkenden Messer, welche die vernarbte Wunde wieder
öffnen, und es tut jedesmal weh, wenn ich daran denke.« Sie erlebte im Alter von vierundzwanzig die peinvolle Mischung aus Freude und Schmerz, als sie eine Blume der Schönheit – Ubax – hervorbrachte. Was für ein Schmerz! Was für eine Freude! Es gab Komplikationen wegen der Infibulation, sie blutete sehr stark, sie hatte zweite, dritte und vierte Nachwehen… »Wenn du mit acht oder neun verstümmelt wirst, öffnen sie dich in der Hochzeitsnacht mit einem rostigen Messer; dann wirst du aufgeschnitten und wieder zugenäht. Das Leben einer beschnittenen Frau ist eine Abfolge von Entjungferungsschmerzen, Wehenschmerzen und Zunähschmerzen. Diese und viele andere Schmerzen will ich meiner Tochter ersparen. Sie wird nicht beschnitten werden. Nur über meine Leiche. Ubax ist meine Tochter, nicht Idils.« Die Sonne war nun über ihren Köpfen. Medina blickte auf die Uhr, dann zu Sagal und erinnerte sich daran, dass das Hausmädchen noch nicht vom Markt zurück war. Vielleicht gab es kein Fleisch, kein Mehl, keinen Zucker oder Reis. Das Telefon klingelte. Sichtlich erwartungsvoll ging Medina an den Apparat. Es war nicht ihr Bruder Nasser, sondern ein anderer Mann, ein Kollege von Samater. Er wollte wissen, was vorgefallen war, warum sie Samater verlassen hatte, ob es wahrscheinlich sei, dass sie wieder zusammenfänden. Doch dann fragte er, ob er sie zum Abendessen ausführen dürfte. Medina knallte den Hörer auf. Es war das x-te Mal, dass ein Kollege von Samater oder ein gemeinsamer Bekannter anrief. Anscheinend hatten sie alle nur auf ihre Chance gewartet. Für wen hielten sie sich? Gerade als sie neben Sagal Platz nahm, klingelte das Telefon wieder. Sie bat Sagal, hinzugehen. Nein, nein. Nicht Nasser. Ein weiterer Kollege von Samater. Was wolle er? Ob Medina mit auf eine Party wolle? Wurden sie es nie müde? »Sag ihm, ich bin nicht da.« Sagal ging, um dem
Mann die falsche Auskunft zu geben. Die Hoftür ging auf. Das Hausmädchen kehrte zurück.
»Ich weiß nicht, ob du es hören willst, aber es heißt, ein Mann habe sich zwischen dich und Samater geschoben. Liebe auf den ersten Blick, die eingeschlagen hat wie ein colpo difulmine, ein Blitz.« »Wer sagt das?« »Die Klatschmäuler.« »Geben sie dem Mann einen Namen, eine Identität?« »Bis jetzt noch nicht.« »Dämliche Idioten.« Da kam das Hausmädchen herein. Medina und Sagal verstummten und blickten auf. Der Gesichtsausdruck des Mädchens war so flach wie das von ihr gebrachte Tablett. Das arme Ding war zweieinhalb Stunden in einer langen Schlange unter der traurig tröpfelnden Staubdusche angestanden und nur mit einem Kilo Zucker und einem Kilo Mehl heimgekommen. Ob Medina ihr nicht die rote Lebensmittelkarte für privilegierte Haushalte beschaffen könne, eine Karte, die nur an Frauen von Ministern und anderen Würdenträgern ausgegeben wurde, damit sie nicht um Grundnahrungsmittel wie Zucker, Öl, Mehl und ausländische Zigaretten Schlange stehen mussten? Das Hausmädchen stellte das Tablett ab und ging ungeduldig hin und her. Wollte sie ihre Anfrage wiederholen, Medina daran erinnern, den Minister Soundso anzurufen? Medina dankte ihr auf eine Weise, die der Haushaltshilfe zu verstehen gab, dass sie nicht mehr gebraucht wurde. Sie ging hinaus. Medina beugte sich leicht vor, gab drei Löffel Zucker in Sagals und einen in ihre Teetasse. Sie schwiegen einige Zeit. Dann hörten sie die Küchentür zuknallen.
»Sie sagen…« »Was sagen sie?« »Sie sagen, der Mann sei ein Haar in Samaters Suppe gewesen, ein Haar, das ruhig auf der schaumigen Oberfläche von Samaters fettäugiger Suppe schwamm. Dann eines Tages vor nicht langer Zeit, sagen sie, entschied sich Samater, die Schlafruhe dieses Haars zu stören. Der Mann schlug vor, du solltest ausziehen. Du hast gepackt und bist hierher gekommen. Und das war’s dann.« »Schwachköpfe!« Medinas Zähne knirschten vor Wut wie auf Sandkörnern; warum um Himmels willen dachten sie immer, wenn eine Frau ihren Mann verlässt, dann müsse ein anderer in den schummrigen nächtlichen Ecken der Liebe verborgen sein? Klatschkörner, ein ganzer Sandsturm davon. Medinas Mutter, Fatima bint Thabit, war auch dieser Meinung. »Verbirg nichts vor mir, Medina. Sag mir einfach, wer der Mann ist. Ich bin ziemlich sicher, es gibt wenige Männer auf dieser Welt, die so verständnisvoll und voller Liebe sind wie Samater«, sagte sie. Klatschkörner… »Sie sagen…« »Was denn noch?« wollte Medina wissen. »Dass die Tyrannei einer Schwiegermutter dir Angst eingejagt hat und du wie eine Henne deinen Legekäfig verlassen hast. Du konntest dich nur im Nest deines Vaters sicher fühlen. Also hast du gepackt und bist ausgezogen. Sie haben dort, wo es keine Bedeutung gibt, nach einer gesucht und sie geliefert.« »Das ist nicht meines Vaters Haus, es ist Nassers. Und das, aus dem ich ausgezogen bin, gehört mir.« »Ich weiß das, aber die nicht.« »Schwachköpfe!«
Winzige Irritationen wie ein gereiztes Auge oder ein hartnäckig zuckender Nerv, dachte Medina für sich. Ein Fremdkörper dringt ins Auge und arbeitet sich nach oben, bis er der Pupille zusetzt, die nach dem besten Weg sucht, ihn auszustoßen: Wie bei einem Schlaflosen dreht sich das Auge endlos auf begrenztem Raum, brennt wie eine Wunde, läuft wie eine verschnupfte Nase. Das Auge rötet sich vor Schmerz. Die Sehkraft lässt nach. Sandkörner… »Sie sagen…« Schweigen. Würde irgendeines der Klatschmäuler es begreifen, wenn sie ihnen erzählte, warum sie Samater verlassen hatte? Eine Frage der Prinzipien; Loyalität zu einer Sache, zu Ideen, Ideologien und Bewegungen… Nein, das wäre ihnen zu hoch. Dann: »Na, was sagen sie?« Der Wind öffnete wie eine menschliche Hand ein Fenster in den Wolken. Medina benutzte diesen Durchlass und verfiel in einen stillen Schwebezustand. Als sie daraus erwachte, stand sie mit beiden Füßen fest auf dem Boden und dachte: Was die anfassen, wird zu Staub und stirbt; deren Zungen sind boshaft und gemein. Sie war nicht geneigt, einige dieser Leute als ihre Freunde zu betrachten, insbesondere diejenigen männlichen Geschlechts, die sich ausmalten, sie könnten die Lage ausnützen. Sie hatten sich die ganzen Jahre in den zuckersüßen Nettigkeiten freundlicher Worte verborgen, kamen aber nun heraus und boten an, mit ihr auszugehen. Was war mit ihren Freundinnen, deren Zungen schärfer als das Böse waren? »Wohingegen ich sage…« »Du? Sagal, auch du? Was?« »Ich glaube, es gibt nur eine Hypothese, die unter Umständen erklären kann, warum du Samater verlassen hast.« »Sag’s mir!« »Ja. Ich habe mir eine Erklärung überlegt.«
»Nur zu, sag’s mir!« »Wirst du es zugeben, wenn ich Recht habe?« »Ich kann gar nichts zugeben, bis ich höre, was du zu sagen hast. Also schieß los und gib mir deine Erklärung.« Medina kämpfte gegen die Versuchung an, eine Zigarette von Sagal zu schnorren, die sich gerade eine angezündet hatte. Wenn Ubax nun aus der Küche käme und sie beim Rauchen erwischte? Medina schüttelte den Kopf und schob die Zigarettenschachtel weg, nachdem sie mit sich gerungen hatte, ob sie Sagal wie versprochen die noch unangebrochenen Stangen schenken sollte, die in ihrem Schlafzimmer waren. Nun sagte Sagal: »Du bist gegangen, weil Samaters Mutter Idil darauf bestand, Ubax beschneiden zu lassen. Du weißt, dass Samater nicht durchsetzungsfähig genug ist, um sich den Provokationen seiner Mutter entgegenzustellen.« Medinas Augen erhellten sich durch das schmale Lächeln, zu dem sich ihre Lippen öffneten. Doch was nützte es? Sie wollte nicht zugeben, ob das richtig oder falsch war. Warum kümmerten sich die Leute so sehr um Dinge, die sie eigentlich nichts angingen? Warum verbrachten Leute Stunden um Stunden damit, das Leben anderer Leute zu analysieren? Warum tratschten sie so viel? Samater, das muss gesagt werden, hatte sich dem allem entzogen, indem er nach Algerien aufbrach. Würde sich der Nebel gelichtet haben, wenn er einen Zwischenaufenthalt in Rom einlegte, um ein Flugzeug in die Heimat zu nehmen? Welche Erklärung würde er Barkhadle für Medinas geheimnisvolles Verschwinden anbieten? Medinas Miene wurde streng. Sie war böse auf sich selbst, dass sie sich so weit hatte ziehen lassen. Doch sie empfing Trost aus der Tatsache, dass gerade sie Sagal half, solche Aussagen zu formulieren, dass gerade sie ihr Bücher zum
Lesen lieh, dass gerade sie das junge Gehirn mit neuen Keimen, neuen Ideen auffrischte. Betroffen machte sie, wie zuversichtlich Sagal klang, wie sicher sie sich ihrer Überzeugungen war. Sie sprach wie eine Philosophin, die gerade auf eine neue Theorie gestoßen war – die Theorie der Antinomie! Es sollte noch mehr kommen: »Ich prophezeie, dass ihr euch versöhnen werdet.« Medina wusste nicht, ob sie lachen oder seufzen sollte, ihr fiel jedenfalls nichts zu sagen ein. Mit offenem Mund starrte sie Sagal ein, deren Stimme sicher klang. »Die Frage ist nur, ob du dorthin zurückgehen willst (und dem müsste vorausgehen, dass er seine Mutter hinauswirft, was wiederum bedeuten wird, dass er seinen Ministerposten verliert) oder ob er hierher kommen wird, um unter deinem Schutz und Schirm zu leben.« »Und warum sollte er seine Mutter hinauswerfen?« »Weil er erkennen wird, dass er der Gegenstand deiner Streitigkeiten mit Idil ist, wenn er zurückkehrt und sie ihm mitteilt, dass sie eine Ersatzfrau beschafft hat. Er wird rebellieren, er wird kämpfen. Sie wird ihn emotional erpressen. Und er wird sie rauswerfen. Dann wird er hierher kommen. Das prophezeie ich.« »Muss er aber seinen Posten verlieren?« »Der Skandal wird ihn den Posten kosten. Das brauche ich dir nicht zu sagen, das ist dir selbst sonnenklar: In einem autoritären Staat spielt das Familienoberhaupt (ob Matriarch oder Patriarch) eine notwendige und starke Rolle; er oder sie repräsentiert die Autorität des Staates.« »Das ist sehr, sehr schlau. Ich bin stolz auf dich, Sagal.« Das Lächeln auf Sagals Gesicht zeigte, dass sie sich selbst beglückwünschte. Und Medina, da sie niemandem den wirklichen Grund sagen würde, warum sie Samater verlassen hatte, beließ Sagal in dem
Glauben, dass sie richtig vermutet hatte. Warum nicht Sagals Version sich aneignen und sie wirken lassen? Alle würden sie glauben. Auch auf Medinas Gesicht breitete sich nun ein Glückwunschlächeln aus.
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Samater hielt sich die Hände vors Gesicht und studierte sie wie eine Wahrsagerin. Dann tauchte er sie in das Waschbecken und spülte die schaumigen Seifenreste unter dem laufenden Wasser ab. Sein Blick fiel auf eine Ameise, die in die reißende Flut geraten war. Samater drehte den Hahn ab. In der darauf folgenden Stille gab er der Ameise Hinweise und die begriff schlauerweise die subtile Bedeutung seiner fuchtelnden Hände; sie folgte seinen Anregungen eine Wand aus wallendem Wasser hinauf, dann eine schmale Senke mit wenig oder gar keinem Druck hinab. Wie das Papierschiffchen eines Kindes trieb die Ameise zum Beckenrand. Dann geschah etwas ganz Unerwartetes, vergleichbar mit einem plötzlichen Schluckauf: Samater drehte den Hahn gedankenlos wieder auf. Aber nicht nur das – sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, er wirkte wie ein Mensch, den ein Albtraum heimgesucht hat; das vermittelten seine Augen, sein abwesender Blick und der Schweiß, der sein Gesicht herablief. Dann sah er, was er getan hatte, und drehte den Hahn wieder zu. Eine Sekunde später entschied er, der Ameise mit seiner Hand eine Brücke zu schlagen. Mit zitternden Beinchen und einem Trippeln so unruhig wie eben noch das Wasser kletterte sie zum Handgelenk. Er nahm die Hände völlig aus dem Wasser und brachte sie in Sicherheit. Die Ameise fühlte sich gleich freier, wie ein Sträfling im Gefängnishof, wo die Luft frischer als in der Zelle ist. Die Ameise stieß einige Male mit dem Kopf an das metallene Uhrarmband, und als sie dieses Hindernis nicht überwinden konnte, ging sie daran entlang, rauf und runter, dann immer weiter rundherum, bis ihr plötzlich so schwindelig
wurde, dass sie zu Boden fiel. Samater sah zu, wie die schwarze Ameise wegrannte, so schnell sie konnte. Er zog die Hände aus dem Wasser. Er grinste sein Ebenbild im Wandspiegel an. Er beobachtete die Bewegungen seiner Lippen, lauschte den unausgesprochenen Geheimnissen seiner Gedanken, studierte Antworten auf die Fragen ein, die einige Leute vermutlich beantwortet haben wollten, da er nun wieder hier war. Gleich würde das Telefon klingeln. Vielleicht würde jemand seine Version der Geschichte hören wollen. Er fragte sich, was für Antworten Medina gegeben, was sie gesagt hatte. Mit ausgesuchter Höflichkeit hatte er es geschafft, die VIPLounge des Flughafens zu verlassen, noch bevor jemand Gelegenheit hatte, ihn in die Enge zu treiben und zu befragen. Doch er hatte für alle Fälle eine vorbereitete Erwiderung: »Medina ist ausgezogen, weil sie ein Buch schreibt.« Ein Buch? Worüber? Auch darauf hatte er eine saubere Erwiderung: »Ich fürchte, das Beste ist, Sie fragen sie selbst.« Er seifte das Gesicht ein. Doch war er unschlüssig, ob er sich erst rasieren oder waschen sollte. Sein Gedächtnis überflog eilig alles, was seit der Landung des Flugzeugs geschehen war. Er erinnerte sich, dass er beim Hinabsteigen der Gangway von zwei Ministern abgefangen worden war, die ihn hastig in die VIP-Lounge bugsierten, wo bereits alle Vizepräsidenten der Republik, etwa ein Dutzend Minister und eine Reihe von Journalisten waren. Auf seine Nachfrage: »Aber für wen ist der rote Teppich ausgelegt?«, antwortete einer der beiden Minister, die ihn hergebracht hatten, frotzelnd: »Für dich, Samater. Alle warten schon auf dich.« Daraufhin erfuhr er, der Teppich war ausgerollt worden für die napoleonische Flotte des zentralafrikanischen Kaiserreichs, deren Flieger eine halbe Stunde Verspätung hatte. Inzwischen hatte Samater mit scharfem Adlerblick neue Gesichter zwischen den Sicherheitsleuten und den Adabeis herausgepickt. Jemand
informierte ihn, dass dies die Nachfolger der Minister seien, die bei der allerneuesten Kabinettsumbildung ihre wackligen Stühle hatten räumen müssen. Der Mann fuhr fort: »Meinen Glückwunsch, Samater. Du bist als Bauminister bestätigt worden.« Dann traten andere Kollegen hinzu, um ihm die Hand zu schütteln und Gutes zu wünschen. Jemand schlug vor, er solle zu den Vizepräsidenten gehen, die in seine Richtung blickten, und seine Aufwartung machen. Einer von ihnen fragte ihn rundweg, was für Geschenke er für ihn in Rom gekauft habe. (In der Regel brachte jeder Minister Geschenke mit für die Frauen und die Minister aller drei Vizepräsidenten sowie auch besondere Mitbringsel für den Generalissimo, seine beiden Frauen und seine Mätressen.) Samater wagte nicht, mit der Wahrheit herauszurücken, und hielt deshalb den Mund. Dann brachen alle drei Vizepräsidenten in ein Lachen aus, das mit Bitterkeit gewürzt war. Ein unbeschreiblicher Schmerz zupfte an Samaters innerstem Wesen, doch er schluckte den sauren Geschmack im Mund hinunter und entschuldigte sich mit den Worten, er sollte jetzt lieber sein Gepäck abholen und heimfahren, um sich zu waschen und zu rasieren. Als er im Wagen das Flughafengelände verließ, begegnete ihm die Entourage des Generals. Das Flugzeug des Kaisers kam groß wie ein Geier in Sicht, die Räder schon zur Landung ausgefahren. Daheim angekommen, fand er die Wohnung in Grabesstille vor. Jemand hatte alles aufgeräumt und war gegangen. Kein Hausmädchen, keine Idil und keine Ordonnanz waren da. Wo waren sie alle hin? Er entschied, nicht ans Telefon zu gehen, falls es klingelte. Er seifte sein Gesicht ein zweites Mal ein, setzte aber nicht den Rasierer ans Kinn. Er wechselte die Klinge. Dann sagte er sich, dass seine Mutter schrecklich gedankenlos war, wenn sie sagte, dass Medinas und Samaters Ehe so gegen die Tradition war,
wie sie gegen den Islam und unvollkommen war. War sie verrückt? Im Gegensatz zu Medinas Eltern missbilligte Idil diese Ehe, obwohl es Idil war und nicht sie, deren Mund monatlich mit der Butter der gemeinsamen Einnahmen des Ehepaars geschmiert wurde. Medina regelte den Haushalt. In ihrem Namen wurden Rechnungen bezahlt oder ausgestellt. Sie stellte die Bediensteten an, die gelegentlichen Aushilfen, den Gärtner; sie verhandelte mit ihnen, beschäftigte sich mit ihnen. Samater war nicht im Geringsten an all dem interessiert. Er war auch unordentlich und nicht gut in Buchführung. Er war sich nie im Klaren darüber, wem er was schuldete, und erinnerte sich nicht, ob die Milchfrau nach der Zahl der angelieferten Flaschen bezahlt wurde. Hinzu kam noch die (demütigende?) Tatsache, dass das Haus, in dem sie wohnten, Medina gehörte. Idil ließ, wenn sie darüber sprach, eine feindselige Haltung erkennen. »Mit was für einem Sohn bin ich geschlagen? Ein Mann, der von einer Frau abhängig ist? Und wozu bist du Minister? Wie viele Monate wirst du noch diesen wichtigen Posten behalten, auf dem Thron der Macht sitzen? Warum nützt du das nicht aus? Warum bereicherst du dich nicht, solange es noch geht, häufst den Reichtum an, der dir rechtmäßig zusteht? Oder hast du dir zu Herzen genommen, was der General vom Sozialismus sagt? Schau dir doch deine Kollegen an! Sie haben Haus, Ehefrau und Geliebte gewechselt.« Doch hörte er auf sie? Schweigen. Ohne seine Ruhe zu verlieren, sprach Samater dann hinter dem Buch, das er gerade las, hervor und gemahnte sie daran, dass sie versprochen hatte, nichts Aufrührerisches über Medina zu sagen. Stets machte er sie darauf aufmerksam, dass er dies nicht dulden würde. »Kennst du einen Mann in diesem Land, der seine Frau mit einer so delikaten Angelegenheit wie der Verwaltung seiner Finanzen betraut? Was ist, wenn du heute
stirbst? Du hast kein eigenes Bankkonto, es gibt nichts, was dir gesetzlich gehört, dein Name wird mich um keinen Cent reicher machen. Lass dir das durch den Kopf gehen und denke an mich, deine Schwester und deinen Clan.« Schweigen. Samater würgte an seiner Unfähigkeit, seine Meinung zu sagen. Er war nie fähig, so zu antworten, wie er sollte; seine gute Erziehung gebot ihm Zurückhaltung. Würde er es sich verzeihen, wenn er die Frau verärgerte, die ihn begann, die Frau, die ihn gebar und ihm das Leben schenkte? Er würde Medina bitten, sie mit mehr Geld zum Schweigen zu bringen. Wohin wolle sie reisen? Den heiligen Stein besuchen? »Hier ist ein Flugticket nach Mekka und zurück, möge Allah dich segnen, während du an Seinem irdischen Wohnort bist, möge Er über deinen Besuch Seine schützende Hand halten. Was möchtest du noch? Ein eigenes Heim?« Und er kaufte ihr ein Haus, halb aus Stein, halb aus Lehm. Eine Woche oder zwei hielt sie dann ihre Zunge mit den Ketten des Kompromisses verschlossen. Dann wieder änderte sie Strategie und Thema. Nun war ihr Lieblingsthema: »Ubax und ihre Spielsachen.« Sie bemerkte, dass das, was Medina und Samater für Ubaxs Spielzeug ausgaben, eine dreiköpfige Familie in Mogadischu ernähren könnte. Warum sollten sie das Mädchen den anderen Kindern der Nachbarschaft entfremden und es mit diesen teuren Gerätschaften verwöhnen? Sie würde gesünder heranwachsen, wenn sie im Dreck spielte wie die anderen in ihrem Alter. »Spielzeug. Malkreiden, jede so dick wie der Finger eines Erwachsenen. Da hat sich für ihr armes Gemüt ein teurer Geschmack herausgebildet. Meiner Ansicht nach habt ihr sie dazu gebracht, sich für einen Jungen zu halten. Schaut doch nur, wie ihr sie anzieht, in Hemden und Jeans; schaut nur an, wie sie geht, ganz wie ein Junge. Hört nur, wie sie Widerworte gibt; sie hört nie auf das, was ich ihr sage, es kümmert sie gar nicht, was ich ihr sagen möchte. Das ist
unverantwortlich, gegen den Islam und gegen die Tradition. Ihr werdet noch sagen, dass sie nicht wie die anderen Mädchen beschnitten werden soll. Wer hat schon von etwas so Gräulichem gehört?« Dabei waren Samaters Augen grau geworden, die Farbe erloschener Asche, leb- und lichtlos. »Raus, raus, auf der Stelle, raus, sonst…«, intervenierte Medina. Medina, die immer am Schauplatz auftauchte, wenn eine Situation ihre Anwesenheit verlangte, Medina, die immer schlichtete, von Mutter zu Sohn und von Sohn zu Mutter ging. Eine Woche später lautete das Thema: »Samater, Medina und ihre Bücher.« Sie kosteten so viel, diese Bücher. Eines Tages, drohte sie, würden sie aufwachen und alle wären verschwunden. Sie würde sie verbrennen. Das Leben war ein Drahtseil, das direkt über einem angebracht war und sich genau über das Schwert der Djehenna spannte. Vor nicht langer Zeit, vielleicht vierzehn Tage bevor Medina auszog, sagte Idil, als sie schlechter Laune war, eines Tages würde sie Ubax an die Hand nehmen und sie beschneiden lassen. »Das Leben ist ein Ofen, in dem die Erfahrungen zusammengebacken werden; manche kommen halbgar heraus, einige noch nicht gar und andere überhaupt nicht gar«, pflegte Idil zu sagen. »Ich kann euch eines sagen: Samater und Xaddia sind halbgar.« Samater streifte jetzt ruhelos wie ein Gast durchs Haus. Seine planlosen Streifzüge brachten ihn schließlich in die Küche, wo er den Eindruck hatte, erst kürzlich seien die Tassen gebraucht, der Topf benutzt und der Ofen entzündet worden. Tatsächlich hatte er das Gefühl, der ganze Raum sei missbraucht worden. Er fragte sich, wer den Tisch von seinem ursprünglichen Platz verrückt, wer hart daran gearbeitet hatte, das Erscheinungsbild des Raums zu verändern. Gewiss nicht Medina. Wahrscheinlich auch Idil nicht. Wer aber dann?
Die Küchenwände waren halbnackt; jemand hatte den Kalender und die Zeitungsausschnitte durch Poster mit dem Konterfei des Generals und Abdrucke seiner Zitate ersetzt. Medinas beschriftete Flaschen waren auch weg. Genauso die Schnappschüsse von Ubax und Medinas Kochbücher. Glaubte Idil, dass sie mit der Entfernung dieses oder jenes Objekts, durch Umordnen des Betts und der Kissen alle Spuren, die auf Medinas Anwesenheit in diesem Haus hinwiesen, beseitigen zu können? Und noch etwas fiel ihm auf: Das Zimmer des Hausmädchens roch anders, es roch weniger nach dem Dienstmädchen, war zu trocken für seine Nase, und die im Schrank hängenden Kleider ließen auf eine größere Person schließen, eine mit bescheidenem Geschmack. Verschwunden waren auch der Spiegelsaal des Hausmädchens, ihr Kosmetikkabinett, der Nagellack, der kuxl, die xinna, die Abschminktücher. Die jetzt das Zimmer bewohnte, hatte einen schlichteren Geschmack, eher wie eine Nonne. Hatte seine Mutter das Hausmädchen gefeuert? Und die Ordonnanz, warum war sie nicht hier? Seine Mutter mochte auch sie nicht. Das Hausmädchen und Medina standen sich sehr nahe, und manchmal lieh Medina ihr Kleider, Schmuck, ermutigte sie, Abendkurse zu besuchen, die sie bezahlte. Samater war nie klar geworden, warum Idil die Ordonnanz nicht leiden konnte. Die Frage war, ob Idil seine und Medinas Abwesenheit ausgenutzt hatte, um das Hausmädchen zu entlassen und die Ordonnanz anzuweisen, sich wieder in der Armeekaserne zu melden. Etwas sagte ihm, dass seine Mutter genau das getan hatte. Alles schien tatsächlich ihre Unterschrift zu tragen. »Ihre Gedanken gehen nur in eine Richtung«, sagte Medina über sie. »Wie der Regen ziehen sie nur nach Osten.« Das würde er ihr auf keinen Fall durchgehen lassen, schärfte er sich ein. Vielleicht sollte er bei Somali Airlines anrufen, um herauszufinden, ob seine Schwester Xaddia in der Stadt war.
Denk an den Engel und der Teufel taucht in seinem wahren fleischlichen Gewand auf! Da, unter einem Behälter mit selbst gemahlenem Kaffee, war ein Zettel, den Xaddia unterschrieben hatte, ein Zettel, der von strapazierten Nerven, fast handgreiflichen Auseinandersetzungen mit Idil und »Muttermigränen«, wie sie es nannte, handelte. Doch da war noch ein nota bene, dessen Inhalt Samater ziemlich fesselnd fand, denn darin wurde ein Wentworth George erwähnt, der mindestens dreimal am selben Tag angerufen habe, um Medina und Sagal zu einer Party einzuladen. Xaddia hatte geschrieben: »Vielleicht steigt aus diesen Bruchstücken das geisterhafte Zeugnis einer interessanten Geschichte. Ist da ein Mann im Spiel?« Samater hatte diesen Wentworth George nie kennen gelernt, war aber felsenfest überzeugt, dass in den duftenden Gärten von Medinas Geheimnissen kein Mann verborgen war. Möglicherweise, glaubte Samater, hatte Wentworth George die Nummer von Sagal oder einer gemeinsamen Bekannten von Medina erhalten. Oder aber er war ein Amerikaner oder Engländer auf Durchreise, den Barbara gebeten hatte, Sagal und Medina anzurufen. Er faltete Xaddias Zettel ordentlich zusammen und riss ihn in Fetzen, die er in den Mülleimer warf. Er war im Frieden mit sich selbst. Während er sich abwandte, ermahnte er sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. Sein innerer Monolog hinderte ihn am Sprechen. In Algier, fiel ihm jetzt wieder ein, hatte ihn eine Frau gefragt, ob er verheiratet sei. Er hatte die Frage reiflich bedacht und dann geantwortet: »Getrennt. Meine Frau und ich leben getrennt. Lassen Sie mich es erklären. Wenn die Dinge sich unschön zuspitzen, verlässt die Frau traditionellerweise den Haushalt des Mannes und kehrt zu ihrem Vater oder ihrem Bruder zurück, oder wenn keiner von ihnen mehr da ist, zu einem männlichen Verwandten. Positionen und Bedingungen werden zwischen den Clans des Mannes und der Frau
ausgehandelt und dann wird die Frau wieder ins Haus gebracht.« Die Französin zeigte sich beeindruckt und wollte wissen, ob er glaube, dass seine Frau ihm von den Unterhändlern des Clans wieder zugesprochen werde. »Nein nein«, hatte er gesagt. »Meine Frau ist selbst eine gute Verhandlungsführerin.« Einen Tag später nahm er die Frau beiseite und sagte ihr die ganze Wahrheit. Doch warum habe ihn seine Frau verlassen? »Sie hat vor, ein kritisches Buch über die Revolutionsregierung zu schreiben, in der ich Minister bin. Wissen Sie, sie und ich sind da unterschiedlicher Auffassung. Ich glaube, dass meine Kabinettszugehörigkeit diesen Widersprüchen eine menschliche Note verleiht. Sie muss sich von mir und meiner Kompromissposition distanzieren. Verstehen Sie?« hatte er gefragt. Natürlich. Wer würde das nicht? Er ließ Wasser in die Schnauze des Teekessels laufen. Er zündete den Gasherd an. Dank Medina wusste er, wie er einen Teekessel zum Singen bringen konnte, und war Fachmann in der Kunst des Geschirrspülens. Er stellte den Kessel auf die Flamme und öffnete den Kühlschrank: Fleisch, Gemüse und Milchflaschen. Kein Bier. Vorher war ihm schon aufgefallen, dass jemand alle alkoholischen Getränke entfernt und irgendwo versteckt hatte. Seine Mutter und ihre Einflüsterer hatten vergessen, dass in seiner Tüte aus dem Duty-Free-Shop eine Flasche mit Whisky, eine mit Cognac, eine mit algerischem Maskera-Wein und eine mit Wodka sein würden. Er machte den Kühlschrank zu. Würde es einem Heiden das Herz brechen, wenn er eingestand, dass er vor seinem Auslandsaufenthalt seinen Fuß noch nie in eine Küche gesetzt hatte? Er hatte weder etwas gekocht, noch hatte er sich je eine Tasse Tee gemacht, bevor er in Europa war. Sein erster Versuch hätte beinahe zu einem tödlichen Unfall geführt, weil er vergaß, das Gas abzustellen. Seine Mutter sagte immer, die
Küche sei das Reich der Frauen, wo Männer nichts zu schaffen hatten. Kein Wunder, dass sie schockiert war, als sie erfuhr, dass er nicht nur Mahlzeiten für Medina und Ubax zubereitete, sondern auch der offizielle Geschirrspüler im Haushalt war, wenn das Hausmädchen nicht da war. »Ich gehe wegen dieser beschämenden Gegebenheiten anderen Frauen schon aus dem Weg«, beschwerte sie sich. Er machte sich eine Tasse Tee. Zucker. Zitrone. Dann lebhafte Erinnerungen an seine Kindheit, der Geruch verbrannter Maisfladen (seine Mutter verdiente ihren Lebensunterhalt mit Backen) und der Holzkohlengeschmack der unverkauften canjeera, mit der seine Mutter ihn und seine Schwester fütterte. Doch seine Gedanken wirbelten nicht nur den Staub der Vergangenheit auf, sondern auch den der Gegenwart. Er ging mit seiner Tasse Zitronentee aus der Küche und war halb benommen vor Gedanken. Er schritt den sonnendurchfluteten Flur entlang und betrat das Badezimmer. Das Telefon klingelte.
In weniger als fünf Minuten klingelte das Telefon fünfmal. Doch nichts brachte Samater von seiner Entschlossenheit ab, das Telefon nicht abzuheben und sich zu melden. Er hatte nicht den Wunsch, mit irgendjemand zu sprechen, bevor er seine Sinne wie ein Gewand komplett wieder angelegt hatte und gewaschen und rasiert war; jedenfalls nicht, bevor er das Geheimnis der Abwesenheit des Hausmädchens, der Ordonnanz und seiner Mutter gelöst hatte. Was aber, wenn ihm jemand eine Mitteilung zukommen lassen wollte? In diesem Fall könnte er auch seine Sekretärin anrufen und die Mitteilung dort hinterlassen. Es sei denn, die Anruferin war seine Sekretärin selbst oder Medina, die wissen wollte, ob er noch Geld hatte oder ob sie ihm einen Scheck schicken sollte. Und
wenn es das Präsidentenamt war? Zum Teufel, die konnten einen Wagen mit Chauffeur schicken wie damals, als der General nach ihm verlangt hatte, weil Samater der einzige vertrauenswürdige Somali war, der flüssig Französisch sprach. Bedauern ist kein typischer Zug der Somalis; doch genau das stellte sich ein, als entdeckt wurde, dass der Minister, der die koreanische Delegation anführte, perfekt italienisch sprach und der General mit ihm allein reden konnte. Samater wurde überflüssig. Nun füllte er seine Lungen mit Luft: ausatmen, einatmen! Seit kurzem setzte Samater die ersten Schübe seiner frühmorgendlichen Energie sinnvoll ein: Er stemmte Gewichte und baute seine Muskeln auf. Er badete sein Gehirn in Schweiß, um es für einen langweiligen Tag aufzuwärmen, dessen Sekunden, Minuten und Stunden mit falschem Grinsen, stummem Kopfnicken, Glückwunschgeflüster, Bassstimmen der Warnung (die Wände der Staatssicherheit haben Ohren, also pass auf, was du sagst) und der Fälschung tickten. Dies – würde jemand ihm glauben? (Medina zumindest) – fiel zusammen mit dem Rundschreiben des Generals »An alle Minister«, in dem nahe gelegt wurde, dass alle Leute des Generals körperlich fit und geistig rege sein sollten. Es sollten Männer sein, die jeden noch so riesigen Feind sicher in Schach halten konnten. Die Männer des Generals (und Samater gehörte zu ihnen) sollten als Kissen für den Kopf der Nation dienen, sie sollten die Hebammen der noch ungeborenen Schmerzen der Nation sowie auch die Zäpfchen für die unter Verstopfung leidende Wirtschaft des Landes sein. Wach und agil würden die Männer des Generals sich dem gemeinsamen Feind vereint entgegenstellen. Nur wenn sie in den frühen Dämmerungsstunden noch schliefen, würden sie durch ihre Träume getrennt sein. Genauso wie das Hirn alles ablegen muss, was für sein Wachstum schädlich ist, muss auch der
Körper die Morgennebel loswerden. Das Füllhorn der Morgendämmerung würde denen zukommen, in deren Augen sich der Morgennebel gelichtet hat. Kurzum, die Männer des Generals sollten die Nation in Schlaf lullen, indem sie für ihn Lobhudeleien anstimmten. Sie sollten auch als Erste aufstehen – gemäß einer weisen Redewendung des Generals (dieses Juwel tauchte nicht in den Gesammelten Werken auf): Mens sana in corpore sano. (Hier erstickte Samater fast vor Lachen.) Sei’s drum! Gute fünf Wochen lang gab es an jeder Hauptstraße Mogadischus, jeder Asphaltstraße in der Innenstadt ein Plakat, auf dem diese Weisheit von den Schildermalern der Revolution reproduziert worden war. Doch niemand traute sich, dem General zu sagen, dass das Zitat nicht in den Großbuchstaben des Plagiats hätte wiedergegeben werden sollen. Einen Monat später erwähnte einer der Gesandten des Papstes dies neckend zu einem Cousin des Diktators, der selbst ein Minister in der Regierung war. Am nächsten Tag erfuhr die Nation, was aus Schildermalern werden würde, die dem weisen Präsidenten Worte in den Mund legten, die er nie gesagt hat. Der Schildermaler wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. »Eins. Zwei. Drei.« Die Schweißdrüsen öffneten ihre Schleusen. Bald würde er unter der kalten Dusche stehen. Die Poren würden sich wieder schließen. Er würde sich mit dem großen Handtuch abtrocknen, das einmal Medinas Vater Barkhadle gehört hatte. Dann würde er sich weich klopfen wie ein Ei: Er würde sich die gallertartig wabernde Masse ansehen, die auf seinem flachen Handteller lag wie transparentes Eiweiß… »Da: der Keim meiner Vergeudung«, sagte er sich immer, wenn er sich all dieser Energie entledigte. Doch musste er auf solch infantile Methoden zurückgreifen? Hatte er in Algier nicht versucht, die Französin ins Bett zu bekommen? In Algier waren die
einheimischen Frauen gewöhnlich verschleiert, in den Schatten des Puritanismus gehüllt; sie waren nach der Tradition der Kasbah gekleidet, sahen ihn hinter einem Vorhang von Augen an. Und sie sprachen von einer Revolution! Wir verstümmeln unsere Frauen, wenn wir sie in Somalia beschneiden. Im Mittleren Osten werden sie von der Teilnahme am Trubel des Lebens ausgeschlossen. »Zwei. Drei. Eins.« Er war mit Medina einer Meinung, dass es in der somalischen Machtpolitik keinen Platz für Frauen gab und dass bei der geistigen Ausrichtung des Generals keine Hoffnung für sie bestand. Frauen mussten wie in anderen Gesellschaften für ihre Rechte kämpfen; Frauen mussten die falsch unterrichtete Öffentlichkeit über wichtige Themen wie die weibliche Infibulation informieren. Was aber tat er im Kabinett eines Diktators? »Wenn ich gehe, was wird deiner Meinung nach geschehen? Und durch wen wird er mich ersetzen? Zumindest hin und wieder bringe ich ihn zu einem Sinneswandel über das eine oder andere, hin und wieder. Ich vermute, der von mir gegebene Rat schleift die rauen Absichten des Militärregimes etwas ab. Ich glaube, dass unsere Anwesenheit als Kontrollorgan, als Zügel fungiert. Ist das eine Revolution? Nein. Das Regime des Generals ist ein Faksimile der faschistischen Linken überall. Um das Bild zu vervollständigen, muss über das Gewebe afrikanischer Politik noch das Stammesmotiv gelegt werden.« »Drei. Eins. Zwei.« Er legte eine kurze Verschnaufpause ein. Sein Gewicht stützte er auf den vor Erschöpfung zitternden Armen ab, doch er war müde und schwach in den Lenden. Er stand auf. Dann ging er eine Weile umher, damit das Blut freier zirkulieren konnte. Nun kämpfte er hart gegen einen Gedanken, der sich in ihm abmühte wie eine in einer Tasse gefangene Biene. Um der
Wahrheit die Ehre zu geben, sagte er sich schließlich, sind wir, die Intellektuellen, die Verräter; wir, die so genannten Intellektuellen, sind der Zugang, den ausländische Mächte benutzen, um zu dominieren, zu designieren, zu benennen und zu beschriften; wir, die Intellektuellen, sind diejenigen, die unserem Volk Lügen auftischen; wir erzählen den Menschen, dass wir unsere Backsteine nicht in selbstgebauten Brennöfen fabrizieren können, weil das Feuer erloschen ist Und wenn sich das Feuer der Begeisterung gelegt hat, was tun wir dann? Wir ersetzen nicht den Brennofen, sondern diejenigen, die daran arbeiten. Zur Erklärung tischen wir noch mehr Lügen auf. Wir sind diejenigen, die Diktatoren an der Macht halten. Er ging duschen. Als er sich mit Barkhadles Handtuch abgetrocknet hatte, klingelte es an der Tür. »Wer ist da?« rief er. Eine Frauenstimme: »Ich bin’s.«
Die Frau, die hereinkam, schaute Samater an, ging aber wortlos an ihm vorbei, die Augen scheu niedergeschlagen. Als er sie anbrüllte wie ein Feldwebel einen auszubildenden Rekruten und fragte, wo sie hin wolle, drehte sie sich in aller Gemütsruhe um, der geheimen Abwehrwaffe bewusst, die sie besaß. Ihr Blick erregte das hitzige Blut in seiner Leistengegend. Die Arme über der Brust gekreuzt, baute er sich vor ihr auf, in ein Handtuch gewickelt, das so groß war wie die Decke eines Ehebetts. Er wartete ab, sie ebenfalls. Er musterte sie von oben bis unten; ihre Haut, fiel ihm auf, bedurfte dringend einer dieser Salben, um die Spuren einer kürzlich erst aufgegebenen nomadischen Lebensweise zu glätten. Ihre Füße waren in formlose chinesische Gummisandalen eingesperrt wie Zootiere im Käfig. Die Blasen
an ihren Füßen, die Dornenkratzer auf ihrer Stirn und die Ellbogen rundeten ihr allgemeines Erscheinungsbild ab. »Wer bist du und was tust du hier?« fragte er. Die Frau lächelte, als sie Samater mit seinem Handtuch beschäftigt sah, dessen Knoten sich gelöst hatte. Ihr Blick machte an seinen Lenden Halt. Er vermied es, ihr in die Augen zu schauen, und bemerkte daher, dass sie einen Schlüsselbund in der Hand hielt. Es verwunderte ihn, warum sie keinen Gebrauch davon gemacht hatte. Er wollte sie gerade fragen. Doch als sich ihre Blicke wieder trafen, lockerte sich ihr hartes Starren. Da wurde ihm alles klar: Die Kleider, die er im Zimmer des Hausmädchens gesehen hatte, gehörten sicher ihr, und aller Wahrscheinlichkeit nach war sie die Person, die kurz vor seiner Rückkehr in der Küche gewerkelt hatte. Doch wohin waren seine Drinks verschwunden? Oder sollte er dies und andere Themen mit seiner Mutter klären, wenn sie zurückkam? »Bist du das neue Hausmädchen?« Die Frage schien sie zu kränken, doch Samater verstand nicht, warum. Sie stellte ihre Einkaufstasche am Boden ab. Dabei fiel die rote Lebensmittelkarte heraus. Sie bückte sich, um sie aufzuheben. »Bist du der Ersatz für das Hausmädchen?« beharrte er. »Wer?« »Jiijo, das andere Hausmädchen, unseres.« Sie starrte ihn mit geweiteten Augen an, die sich wie in Kugellagern drehten. »Willst du mir endlich eine Antwort geben?« Nicht die Fassung verlieren, sagte er sich. Zumindest nicht ihr gegenüber. »Ja, natürlich.« »Wer bist du?« »Ich bin deine Cousine«, ihre Stimme zitterte. »Ich bin kein Ersatz für das Hausmädchen. Ich bin deine Cousine.«
Plötzlich war ihm kalt. Nervös verschränkte und entschränkte er die Arme wieder. Schließlich bedeckte er seine Brust wie eine in ihrer Nacktheit überraschte Frau mit den Händen. Nachdem sie die Einkaufstasche vom Boden aufgehoben hatte, sagte sie: »Wir haben dich heute noch nicht zurückerwartet, sonst hätten wir uns entsprechend darauf vorbereitet. Wir dachten, du würdest noch mindestens eine Woche lang weg sein.« »Wer wir?« »Meine Tante und ich.« »Deine Tante?« »Deine Mutter ist meine Tante. Denke daran: Ich bin deine Cousine.« »Ja, natürlich!« Ihn durchfuhr ein Schauder des Zorns. Er hielt sich aufrecht wie eine Tür, der eine Angel fehlte. Ich muss dieses Haus frei von Stammesumtrieben machen, dachte er und erinnerte sich an etwas Ähnliches, das nicht hier stattgefunden hatte, sondern vor einem Jahr bei seiner Schwester Xaddia. Seine Mutter hatte Xaddias Wohnung mit ihren Stammesangehörigen angefüllt. Es war während der schlimmsten Phase der Hungerzeit und alle unterernährten Clansmänner und -frauen, die es schafften, von den eigens für sie errichteten Lagern wegzulaufen, erhielten dort ein Obdach, als ob Xaddia ein Rehabilitationszentrum eingerichtet hätte. »Wo ist sie?« »Wer?« »Meine Mutter – ähm, deine Tante.« »Sie müsste jeden Augenblick hier sein.« Sie kam eine Stunde später. Die Sonne suchte die Länge und Breite des Himmels nach einer Wolke ab, hinter der sie sich verstecken könnte. Idil hatte es sich wie eine Königin in ihrer Residenz bequem gemacht.
»Wer ist diese Frau?« fragte Samater. »Sie ist deine Cousine. Die Tochter deines Onkels.« »Und wo ist Jiijo, Medinas und mein Hausmädchen?« »Erwähne nicht den Namen dieser Frau.« »Hast du das Hausmädchen entlassen, Mutter?« »Ja.« »Mit welchem Recht? Für wen hältst du dich?« »Ich bin deine Mutter.« Er war gereizt. Er war wütend. Er war so erbost, dass er fürchtete, etwas für einen Sohn Ungehöriges zu tun. Er schritt wie ein verwundeter Tiger auf und ab. Seine Augen waren rot: Er kochte innerlich. »Ich will diese Frau hier raus haben. Sofort«, sagte er. »Nein. Sie wird nicht gehen. Sie hat jedes Recht, hier zu sein, wo ich bin. Sie ist deine Cousine, von deinem Blut.« »Ich will sie hier raus haben, habe ich gesagt.« »Du wirst mich körperlich dazu zwingen müssen, und ich bin sicher, das wirst du nicht. Schließlich bin ich deine Mutter und will sie da haben, wo ich bin.« »Ich gebe dir eine halbe Stunde. Erst werde ich mich rasieren. Wenn ich dann herauskomme, will ich, dass sie weg ist. Wenn nicht, werde ich sie eigenhändig rauswerfen. Wenn du auch nur ein Wort dagegen sagst, werde ich dich ebenfalls rauswerfen.« Ein behutsames Schweigen, dann: »Keine Achtung vor deiner Mutter?« Sie langte schnell in ihre Tasche und holte ihr Strickzeug heraus, wählte das Garn, änderte dann aber ihre Meinung über die Farbe und wählte eine andere. Idil murmelte ein kurzes Gebet der Faatixa, bevor sie Nadel an das Baumwollgarn legte. »Und bevor du gehst«, fuhr Samater fort, »denn gehen wirst du, möchte ich, dass dir noch einfällt, was du mit meinem Bier,
meinem Whisky, meinem Cognac und meinem Gin gemacht hast. Ich verlange von dir auch Aufschluss darüber, was du zur Ordonnanz gesagt und ob du das Hausmädchen ausbezahlt hast. Außerdem möchte ich eine Erklärung von dir, was mit dem Bidet passiert ist.« »Welche Reihenfolge soll ich einhalten?« »Die Reihenfolge ist egal.« Idil richtete ihr Strickzeug zwischen den Fingern aus und schloss das linke Auge, als wäre sie ein Schütze kurz vor dem Abdrücken. »Niemand wird in diesem Haus Alkohol trinken, solange ich hier bin. Es ist meine Pflicht als deine Mutter und als Muslimin, dich an deine religiösen Verpflichtungen zu erinnern. Du kannst in Gesellschaft deiner sündhaften Freunde oder in Bars trinken. Aber nicht hier.« »Ich werde trinken, wo es mir gefällt!« schrie er so laut er konnte. »Nicht in diesem Haus.« Das neue Hausmädchen war lautlos an die Tür gekommen und blieb dort stehen. Samaters Stimme hob sich wie ein Vorhang und enthüllte eine Anzahl verborgener innerer Erschütterungen, als er, erfreut darüber, dass sie alles mithörte, weiter sprach. »Doch. Ich werde trinken, wo und wann es mir gefällt. Ich kaufe diese Sachen mit meinem Geld und trinke gern hier, und das ist mein Haus. Lass mich mein Leben so führen, wie es mir passt. Lass mich selber für meine Sünden bezahlen, meinem Gott selber gegenübertreten.« »Nein, nicht in diesem Haus.« »Das ist mein Haus.« »Nein, ist es nicht.« »Was? Was hast du da gesagt?«
»Ich habe gesagt, das ist es nicht. Es ist Medinas Haus. Es ist nicht deins.« Idil benutzte ihre Nadel als Zahnstocher. Mit einem schrägen Blick zu ihm fuhr sie fort: »Schaff dir erst mal ein Haus an, aus dem du jemand hinauswerfen kannst. ›Ich kaufe diese Sachen mit meinem Geld.‹ Warum sparst du das nicht für die Anzahlung auf ein Haus, solange es geht? Das ist Medinas Haus. Vergiss das nicht. Du kannst mich nicht hinauswerfen.« Samater schoss aus dem Zimmer, noch wütender auf sich selbst. Er hatte nicht nur ihre Autorität herausgefordert, er hatte sie auch noch beleidigt und ihren Stolz verletzt. Doch es war nicht das erste Mal, dass er nahe daran gewesen war, sie zu schlagen. Wie leicht Kinder vergessen! Wie leicht Kinder vergessen, was sie seit jeher wissen, dachte Idil. »Schau sie dir jetzt an, erwachsen, trocken hinter den Ohren, in sauberer Kleidung, gewaschen und dank Allah gesund wie die Sonne am klaren Himmel. Klein und hilflos wecken sie dich auf, ermüden dich, lassen dich schneller altern, zwingen dich, deine Schlaf- und Essgewohnheiten zu ändern und setzen dich allen möglichen Demütigungen aus. Wenn Kinder zu den ungelegensten Stunden weinen, wenn sie die Morgendämmerung mit ihrem schrillen Schreien zerreißen, fragen sie nach dir, der Mutter, von der sie leben und an der sie emporwachsen wie grüne Ranken an deinem Grab. Doch sobald sie den Muskel der Selbständigkeit in ihren Armen zucken spüren, sobald sie erwachsen, trocken hinter den Ohren sind, die Kleidung sauber wie gewaschenes Geld, und sie nicht mehr ins Bett machen… was verwenden sie da für Worte, um einen festzunageln, was für Worte – Worte der Undankbarkeit! Nichts gleicht der Undankbarkeit der Jungen. Wie sie den Schmerz der Liebe, den Schmerz der Entbindung, den Schmerz
beim Geöffnetwerden vergessen, damit sie herauskommen, erst der Kopf und dann der übrige Körper; wie sie den Schmerz vergessen, eine Mutter zu sein, ein Elternteil! Bedenke bei der Person, der du ein Elternteil bist, sagen die Somalis, dass sie nicht dein Elternteil ist. Und bei Samater, meinem Sohn, zwischen dreiunddreißig und vierunddreißig Jahre alt, bei meinem Sohn Samater, einem Minister – nicht die geringste Achtung für seine Mutter. Er war doch so ein zartes, auch kränkelndes Kind, dem rund um die Uhr der Rotz in Bächen aus der Nase lief.« Sie hatte ihn auf ihren Rücken gebunden überallhin getragen wie eine Frucht, die ein Baum an seinem Zweig hängen hat. Damals gab es keine Hausmädchen, um seine Kleidung zu waschen; genau genommen gab es nicht einmal Kleider zum Waschen, denn sie konnten es sich nicht leisten, ihm etwas zu kaufen. Sie waren so arm, dass er einen Zipfel ihres Gewandes mit ihr teilte, wenn sie ihn trug, und nackt war, wenn er am Boden saß und sich Dreck in den Mund stopfte. Dann erhielt sie den Auftrag, canjeera und Maisfladen für ein Restaurant zu backen, das einem Mann gehörte, der – um der Wahrheit die Ehre zu geben – leichten Zugang zu ihr hatte. Mit dem durch diese Tätigkeit verdienten Geld kaufte sie ihrem Sohn Kleidung und konnte ihn später auf die Schule schicken, damit er ein Beamter in einer Amtsstube werden könnte und monatlich ein Haushaltsgeld heimbrachte. Wie Kinder vergessen, was sie tatsächlich immer gewusst haben! »Ja, ja. Das habe ich schon eine Million mal gehört«, würde Samater einwenden. »Verschiedene Versionen derselben Geschichte, mit dem Blut der Aufopferung gefärbt, Mutter als Märtyrerin. Aber du musst wissen, dass eine der Möglichkeiten, wenn du in etwas investierst, die ist, dass nichts daraus wird. Die Eltern hier investieren in ihre Kinder. Sie glauben, sie kämen ihrem Schöpfer durch die Fürsprache ihrer Nachkommen näher: Drei männliche Kinder verschaffen
einem Elternteil einen Platz im Paradies. Ist Geld im Spiel, umso besser. Wenn du nur erkennen würdest, dass du mich nicht an etwas erinnern kannst, was ich nie gewusst habe. Aber wenn du mich als Investition ansiehst, hast du schon mal Bilanz gezogen, habe ich nicht meine Schulden gezahlt, und meine Schwester Xaddia auch? Als ich noch klein war und du meine einzige Hilfe warst… Ich kenne die Geschichte, ich habe sie schon eine Million mal gehört.« »Du wirst sie immer wieder hören. Es ist die einzige Geschichte, die ich kenne und die ich mir oft vorsage. Es ist das mir auferlegte Leben. Wenn ich gewusst hätte, dass ich es mit dir zu tun bekomme, hätte ich es mir hundertmal überlegt, hätte ich eventuell daran gedacht, dich tot auszubluten. Dein Vater war gerade im Dienst für die Italiener gefallen.« »Jemand kann nicht vergessen, was er nie gewusst hat.« Natürlich! Er hatte vergessen, je jene Haustauben gesehen zu haben, die hässliche Geräusche von sich gaben, wenn sie einander nach den gefiederten Steißen hackten und sich um Brotkrumen stritten, die Idil ihnen zugeworfen hatte. Das waren Tage so dünn wie ein Strohhalm. Sie lebten in einer strohgedeckten Hütte, die nicht ihnen gehörte. Wie die Armen überall hatten sie keine Verwandten – und dreimal darf geraten werden, wie viel Onkel und Tanten sie jetzt hatten. Sie war zwanzig, arm, hatte ein Kind, das an Kwaschiorkor und Durchfall litt. Sie saßen am Totenfeuer, das sie aufgeschichtet hatte. Als es ihnen allmählich besser ging, als sie mit ihren Backaufträgen genug Geld verdient hatte, verlangte der Bruder des toten Ehemannes das Recht der dumaal. Xaddia, der einzige Spross dieser Verbindung, wurde geboren. Jahre später ließ Idil sich von ihm scheiden. »Ja, das habe ich auch schon gehört.« »Es gibt viel, was du nicht gehört hast, viel, was ich noch niemandem mitgeteilt habe. Aber es ist höchste Zeit, dass dir
jemand sagt, dass dein Leben aus Banalitäten besteht: ›Mein Bier, mein Whisky, meine Bücher, mein Hausmädchen, meine Ordonnanz.‹ Bei deiner Weltgewandtheit, noch dazu als Minister, solltest du doch in der Lage sein, dir etwas zu schaffen, was deinem Status entspricht. Du solltest in der Lage sein, ›mein Haus, mein Auto, mein Konto, mein Hof, mein Land‹ zu sagen. Alles Übrige sind Banalitäten. Jawohl, absolute Banalitäten.« Samater erklärte sich an dieser Stelle meist in herablassenden Zweisilbern, womit er ausdrückte, dass die Lebensbedürfnisse von ihm und Idil nicht zur Deckung kommen würden… es gebe keine kulturelle Kontinuität, die Verbindung sei unterbrochen! Sie fuhr dann fort: »Niemand sollte nach meiner Vergangenheit in den vielfältigen kulturellen Widersprüchen deiner Gegenwart und deiner Zukunft suchen. Ich habe die Frucht des Baums, den meine Eltern pflanzten, geerntet und gegessen. Ich bin, wie ich bin. Ich bin das Produkt einer Tradition mit einer gegebenen Verbundenheit und Festigkeit; du bestehst nur aus Verwirrung und Unentschlossenheit. Ich habe Allah, seine Propheten und die islamischen Heiligen als meine ruhmreichen Führer. Dir ist nichts heilig, nichts ist tabu. Du bist so unbeständig, wie deine Überzeugungen und Grundsätze zusammenhanglos sind. Noch dazu hat deine Generation bisher nicht das Genie hervorgebracht, das eine alternative Kulturphilosophie ausgearbeitet und entwickelt hätte, die allen Angehörigen deines Rangs annehmbar wäre; kein Genie, das etwas vorschlagen würde, womit ihr ersetzen könntet, was ihr verworfen habt. Ihr seid die Kinder unserer Befürchtungen; ihr seid die Protagonisten eurer Unentschiedenheit. Letztlich seid ihr mit Kains Blutsbruder verwandt.« Der dicke Faden ihrer Vergangenheit wollte nicht durch das Öhr ihrer Nadel passen. Samaters Mutter befeuchtete mit der
Zunge den Faden und rollte ihn dann zwischen den Fingern, um ihn dünn zu machen. Inzwischen borgte sich Samater eine weitere fremde Vorstellung und Vision und zeichnete einen buckligen Strauß. Maanshaa Allah! »Keine Freude ist der Erinnerung vergangenen Schmerzes vergleichbar«, sagte Idil, »und nichts gleicht der Scham über deine Vergangenheit. Wie viel Schmerz mir dein Vater verursachte, kannst du dir gar nicht vorstellen. Nein, nein, keine körperlichen Schmerzen. Er hat mich nie geprügelt, nie seine Hand gegen mich erhoben. Nein. Er hatte einfach nicht den Mumm, irgendjemanden anzuschreien, weshalb ich innerlich aufstöhnte und mir wünschte, er würde mich eines Tage so verprügeln, wie es die anderen Männer mit ihren Frauen machten, er würde eines Tages die anderen Männer oder sogar mich, seine Frau, niederbrüllen. Er war ein sicommandante. Du? Du bist wie dein Vater. Medina hat größere Hoden als du. Genauso wie ich größere hatte als dein Vater.« Idil rollte das Garnknäuel davon. Und sie blickte auf, als sie Schritte näher kommen hörte. Da begann sie im Geiste aus den Fäden eine Vergangenheit zu spinnen, die ein anderes Muster hatte als diejenige, die sie noch zu erzählen beabsichtigte.
Das Hausmädchen reichte Idil das Garnknäuel und fragte: »Glaubst du, ich sollte gehen? Samater ist nicht glücklich über meine Anwesenheit. Was meinst du? Glaubst du, ich sollte gehen?« »Nein, das wirst du nicht.« Idil zählte die Maschen durch, die sie überspringen musste, um ein Muster zu bilden. »Wie war denn Jiijo?« fragte Asli, das neue Hausmädchen. »Hat sie gut ausgesehen, war sie gut in der Küche, war sie Medinas und Samaters Lieblingsangestellte, und warum?«
»Sie hatte ihren eigenen Kopf.« »Was? Ein Hausmädchen von niederem Rang mit eigenem Kopf?« »Ich mag keine Hausmädchen, die dir ihre Ansichten auf dem Präsentierteller servieren. Genauso wenig mag ich es, wenn sie sich besser kleiden als ihre Herrin. Jiijo etwa war besser angezogen als Medina und hat sich manchmal Medinas Kleider oder Schmuck ausgeliehen, ohne um Erlaubnis zu bitten.« »Alle Hausmädchen, die aus dieser Stadt kommen…« »Sie war vom Flussvolk.« »Mein Gott! Was soll aus der Welt noch werden?« »Das frage ich mich auch.« »Sie hat sie womöglich bezaubert, verhext.« »Es war skandalös. Du wärst schockiert, wenn du sie sehen würdest. Sie sprach mit Medina und Samater, als wäre sie ihnen gleichgestellt.« »Eine Frau vom Flussvolk!« »Natürlich bist du kein Hausmädchen. Du bist die Tochter meines Cousins. Du darfst dich nicht als Hausmädchen betrachten, sondern als die zukünftige Frau von Samater, und deshalb musst du dich wie eine Person benehmen, die dieses Titels würdig ist. Ja, Samaters zukünftige Frau. Aber wenn eine Hausmädchen ist, sage ich immer, dann muss sie sich auch wie eines benehmen.« Unbehagen beschlich Asli. Sie wiederholte bei sich: Du bist die zukünftige Frau von Samater und musst dich deshalb wie eine Person benehmen, die dieses Titels würdig ist Sie wünschte, sie könnte sich erheben, aber die Last dieses Geheimnisses drückte sie zu Boden. »Ich sage auch immer«, fuhr Idil fort, »wir können der Welt erzählen, was den Ohren der Welt schmeichelt. Aber Tatsachen sind Tatsachen und Gott ist Gott. Es steht alles im
Buch. Allah sagt es deutlich in Seinem Buch, dem heiligen Koran. Klar und deutlich wie das heilige Wort.« »Das stimmt, Hadschija Idil.« Schweigen. Asli wirkte getroffen von den Sturmböen dessen, was Idil gesagt hatte, und war zutiefst nachdenklich. Idil war rätselhaft heiter. Sie sagte gerade: »Er ist jetzt Minister, sauber und stets erlesen gekleidet, weil er es sich leisten kann. Er ist einer der gebildetsten Männer in diesem Land und gehört zu den intelligentesten überhaupt. Er ist einer der besten Architekten, die je von seiner Universität in Italien abgegangen sind. Doch ich habe ihm immer gesagt, als er noch viel kleiner war, da hab ich ihm gesagt…« Die Tür des großen Schlafzimmers ging auf und wieder zu. Idil und Asli hatten Zeit, einen Blick miteinander zu tauschen, und: »Ja, Tante. Als er noch klein war…« »Als er noch klein war…« »Als ich noch klein war…« Wie ein von Panik erfasster Vogelschwarm zerstreuten sich ihre Gedanken bei Samaters Erscheinen auf der Bildfläche; sie zerstoben in ihrem Kopf. Während ihre Nadel in die Luft stach, so wie ein Apostroph die Bedeutung eines Wortes aufspießt, blickte Idil zu ihm hoch. Er hatte eine Hose an, die zu hastig gebügelt aussah (Asli müsste noch beigebracht werden, das besser zu erledigen, dachte Idil), und ein Mwalimu-Hemd. Das Hausmädchen spürte die Last ihrer Anwesenheit und ging weg. »Ja?«
»Ja?« Er schwieg. Wie konnte er die Frau hinauswerfen, die ihn hervorgebracht hatte, wie konnte er sie auf die Straße werfen wie das schmierige Spülwasser, das Frauen in die
ausgehobenen Abwässergräben dieser Stadt entleerten? Wie konnte er? Ein Buckliger gewöhnt sich schließlich an die Behinderung, die er wie einen Rucksack trägt. Er bewegte sich auf und ab wie ein gezügeltes Pferd. Die Frau, die ihn überhaupt begann, die Frau, die ihn gebar, die Frau, für die er – einem Kind in den Kleidern vom letzten Jahr vergleichbar – zu groß geworden war, schaute mehrmals zu ihm hoch und wartete darauf, dass er sie um Verzeihung bat. Aber da schien heute nichts draus zu werden. Die Nabelschnurliebe war gerissen, er war über sie hinausgewachsen, so wie ein abgestilltes Kind den Brüsten der Mutter entwöhnt ist. Nun sagte sie: »Ich werde mit deinem Schatten eins werden, um keinen Schmerz zu fühlen, wenn deine rebellische Jugend auf mir herumtrampelt. Ich werde meine inneren Geheimnisse meiner Gebetskette zuflüstern und so reglos bleiben wie ein Gebetsteppich.« Wie ein Loch, dachte er, als er auf und ab tigerte, das größer wird, je mehr du daraus entnimmst… ein Leben voller Kompromisse. Er würde sie hübsch auszahlen, er würde Idil bitten, wieder zu Xaddia zu gehen und ihn in Ruhe zu lassen. Und das neue Hausmädchen? Er würde es ein paar Tage behalten und dann entlassen, wenn er entschieden hatte, was mit dem Haus und ihm selbst geschehen sollte. Aber er würde nicht die Beherrschung verlieren oder grob sein. Er räusperte sich einen großen Klumpen aus der Kehle. Ein Lächeln heftete sich auf seine Lippen. »Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Ja«, sagte sie. »Ich habe auch alles noch einmal bedacht.« Ein schon ausgesäter Verdacht? »Du weißt, dass ich deine Ehe mit Medina schon immer missbilligt habe.« Grashalme, die einschnitten und wehtaten?
»Whisky, Cognac und Bier, das sind alles Nebensachen.« »Komm auf den Punkt, Mutter.« »Ich werde dich segnen, und auch Allah wird dich segnen. Da bin ich mir sicher.« »Was soll das alles, Mutter? Wofür soll dieser Segen sein?« »Nimm sie zur Frau. Ich habe ihren Vater bereits um ihre Hand gebeten und er hat sie mir gegeben. Asli ist ein sehr gutes Mädchen und ich sowie auch Allah werden dich segnen.« »Asli?« »Das neue Mädchen.« Ganz sicher ein hoher Wasserstand. Er hätte nicht gedacht, dass die Überschwemmung einen so hohen Punkt erreichen würde. Er konnte keinen Gedanken vom Stapel lassen. »Was meinst du dazu?« sagte sie. Seine Zunge war quallenkalt und rührte sich nicht in einem Mund, der sich schon geöffnet hatte, aber nicht mehr zugehen wollte. Nach langer Zeit taute seine Zunge in der Wärme der Gewissheit auf, dass Schweigen als Einverständnis angesehen werden könnte. »Ich will sie hier nicht mehr sehen«, sagte er. »Ich werde ihr ein Monatsgehalt und die Busfahrkarte dorthin bezahlen, wo immer du sie auch hergeholt hast. Das will ich, Mutter. Keinen Segen.« »Und was soll ich ihrem Vater sagen?« »Bitte ihn um Verzeihung. Gib ihm ihre Hand zurück.« Er ging auf die Tür zu. Er war nicht im Geringsten aufgeregt. Tatsächlich überraschte es ihn, dass er seine Gelassenheit nicht verloren hatte. Dann drehte er sich um. »Und dich, Mutter, dich möchte ich auch nicht mehr hier sehen. Ich möchte dich nicht mehr im Haus antreffen, wenn ich zurückkomme.«
Auf dem Weg nach draußen begegnete er Asli, die einen Arm voll Feuerholz für das morgige Neujahrsfeuer hereinbrachte. Sie machte ihm Platz, die Augen scheu niedergeschlagen. Er sagte nichts zu ihr. Das sollte Neujahr sein?
5
Er knetete ihren Körper an den weichsten Stellen wie Teig. Er ölte seine Hände ein und massierte, presste und drückte die Verspannungsknoten mit außerordentlicher Sorgfalt und Einfühlsamkeit. Seine kundigen Finger stürzten manchmal wie ein im Flug jagender Falke herab und krabbelten dann wieder wie ein vielbeiniges Insekt über eine unebene Hochfläche. Er streichelte, drückte und kitzelte. Er half ihr dabei, ihre Körperwärme zu vollem Klang zu stimmen. Mit gleichem Dirigentengeschick glitten seine Hände über eine Reihe von Annotationen: hier eine Narbe, da ein zu flacher oder zu tiefer Einschnitt, eine Verbrennung, die sein Gedächtnis nicht datieren konnte, noch eine weitere da, wo Schulterblatt und Schulter zusammentrafen, dann eine medizinisch verätzte Stelle nah am Rückgrat. Nasser hatte seine Noten gut im Kopf, er brauchte kaum eine Bewegung zu improvisieren. »Glaubst du, dass Samater so weit gehen wird?« »Und Idil aus dem Haus jagen wird, meinst du?« »Ich meine, ob er sich das traut?« »Ich glaube, er wird es, wenn sie darauf besteht, dass er die Frau ihrer Wahl heiratet.« »Ich möchte nicht dabei sein, wenn das passiert.« »Seine Schwester Xaddia hat sie rausgeworfen, weil sie einen Keim der Zwietracht und Feindseligkeit zwischen ihr und ihrem Mann gesät und schließlich die Trennung herbeigeführt hat. Doch Xaddia ist entschieden stärker als Samater und fürchtet keinen Skandal, sie hat kein offizielles Amt inne wie er. Xaddia ist mit Somali Airlines unterwegs; sie ist kaum in der Stadt, bleibt Mogadischu lieber fern.«
»Was ist, wenn er das Hausmädchen auf Idils Wunsch heiratet?« »Ja, was soll dann sein?« »Du meinst, du fühlst dich von dieser Heirat, die Idil eingefädelt hat, nicht im Mindestens bedroht?« fragte Nasser ungläubig. »Nein, ich fühle mich nicht im Mindesten bedroht durch Idil oder durch die für ihren Sohn eingefädelte Heirat.« »Warum hast du ihn dann verlassen?« »Alles zu seiner Zeit, Nasser.« Später erst wollte Medina ihm von Sagals Interpretation berichten, die sie für sich übernommen hatte. Sie schaute zu ihm hoch. Er war muskulös und behaart, eine Spur heller als sie und fünf Zentimeter größer. Die Vorhänge am offenen Fenster flatterten wie die Vereinsfahnen einer beliebten Fußballmannschaft, wedelten den eindringenden Staub hinweg, wie sie gleichfalls die ausströmende Luft mit großer Geste durchwalkten. Nasser stand auf, um das Fenster zu schließen, doch Medina beharrte darauf, es geöffnet zu lassen. Dann nahm sie das Kissen, das er ihr reichte. Zuerst knöpfte sie ihr halb hochgestreiftes Leibchen zu, dann machte sie es sich gemütlicher, indem sie sich gerade auf den Rücken legte. Ihr Blick nach oben erfasste die Decke, das weiße Licht der Glühbirne und schließlich Nasser. Sie fragte sich, was die Leute sagen würden, wenn sie ihn sähen, wie er ihr den Rücken massierte, während sie halb nackt war. Sie überließ sich ihren Gedanken und fand sich in einem Dickicht von Hemmungen wieder. Die Tradition gibt vor, wie jemand sich zu benehmen hat, was er tun und lassen soll. Dass sie überhaupt in Erwägung zog, was andere Leute sagen würden, bedrückte und verwunderte sie zugleich. Wann hatte sie sich je darüber Gedanken gemacht, was andere sagten? Was war bloß aus ihrer Persönlichkeit geworden, der Stärke ihrer Schwäche,
der unleugbaren Tatsache, dass sie fast immer eine Frau unter Männern gewesen war, die vieles mit ihnen teilte, mit Ihnen trank, die gleichen Bücher las wie sie, Ideen vermittelte oder übernahm? War sie nicht das einzige weibliche Mitglied der Untergrundorganisation, die bislang Soyaan und Koschin geopfert hatte? Sie drehte sich etwas, um Nasser in die Augen schauen zu können. Über sein Gesicht breitete sich ein wohlwollendes Grinsen. Und das brachte sie wieder in offenes Gelände; der dichte Wald aus furchtsamen Hemmungen und bürgerlichen Vorurteilen lichtete sich. Sie zahlte ihm den Rückstand etlicher Jahre an schwesterlicher Zuneigung zurück. Doch nun war er wieder weit weg und sie konnte ihn nicht erreichen. Stellte er sich die irrationale Frage, ob er überhaupt hätte hierher kommen sollen? Er war gekommen, weil er den Eindruck hatte, dass Medinas überhitzte Nerven eine kühlende, heilende Berührung nötig hatten und sein Besuch sie wieder auf die Beine stellen könnte. Er glaubte (irrtümlich?), dass er ihre bröseligen Teile aufsammeln konnte, so wie jemand Brotkrümel von einem Tischtusch in seine Handfläche häuft. Sie gab zu, in einer schwierigen Phase zu sein, hin und wieder das Gefühl zu haben, sie wäre die einzige Überlebende eines traumatischen Ereignisses. Nicht mehr und nicht weniger… Gerade hatte er die Frage gestellt: »Wie hat Ubax es aufgenommen?« »Ubaxs Bedürfnisse halten mich ständig auf Trab. Ich merke, dass ich sie mehr brauche als sie mich. Wir machen im Augenblick eine Phase durch und gelegentlich ist sie schwierig. Aber das sind alle intelligenten Kinder.« Schweigen. Sie hätte es besser wissen müssen und »schwierige«, »intelligente« Kinder nicht erwähnen sollen. Nassers wohlwollendes Lächeln wurde steifer und er verlagerte etwas das Gewicht, obwohl er wusste, dass sie es nicht so meinte. Doch er wechselte das Thema.
»Was ist mit Fatima bint Thabit? Wie hat sie es aufgenommen?« »Sie sagt, ich sei so schwarz und sündhaft wie meine unislamischen Gedanken. Sie beschuldigt mich immer rundweg und gibt im gleichen Atemzug zu, dass sie nicht weiß, was sie sagen soll. Dann behauptet sie, ich teile ihr nicht genügend mit, sie erfahre alle Nachrichten von mir und dir aus zweiter Hand. Und was Samater angeht: Sie hat schon immer die Ansicht vertreten, dass ich seiner Liebe und Treue nicht wert bin.« »Wohingegen Idil glaubt, du bist das Übel, das ihren Sohn weggelockt hat.« Kein Kommentar. Ihr Blick versenkte sich in seinen und ließ nicht locker, bis er blinzelte. Sie wünschte, sie könnte ihm in einem einzigen Satz den Hinweis geben, der eine Tür öffnen, ihm Zugang zu ihren intimsten Geheimnissen geben würde. Er war geduldig und würde warten. Sie war taktvoll und würde, wie er hoffte, nicht geistlos spielen. Schon wieder der Waranentanz des Todes? Er wusste zum Beispiel warum sie ihre Stelle verloren hatte. Er sah die von ihr vorgenommenen redaktionellen Veränderungen und wunderte sich, wie sie damit durchgekommen war. Unglaublich, welches Draufgängertum sie mit dem Redigieren der Rede des Generals offenbart hatte. Nur eine Verrückte würde in die Spalte, die für den täglichen weisen Spruch des Generals an die Nation reserviert war, nach Redaktionsschluss eingegangene Meldungen setzen lassen, sagten alle ihre Freunde. Er wusste das, weil sie korrespondiert hatten; sie benutzen Xaddia als Nachrichtenübermittlerin. Wie viel aber verrieten Briefe? Diese Schreiben katalogisierten ihre Geheimnisse, wobei sie sicher war, sie würden im Speicher interpretierender Erinnerungen abgelegt werden. Warum bedienten sich beide nicht der Post? Briefe wurden in vielen Fällen zu
nachrichtendienstlichen Zwecken geöffnet. Jene intimen Geheimnisse, die sie Briefen nicht anvertrauen konnte, außer die Überbringerin war jemand, in die sie Vertrauen setze, hielt sie lieber fest unter Verschluss. »Wie geht es deinem Sohn?« fragte sie schließlich. »Yusuf sprudelt seine Wörter nicht mehr so heraus und besudelt sich nicht mehr so oft wie vor drei oder vier Jahren, als du ihn das letzte Mal gesehen hast, glaube ich. Er scheint sich mit diesem Zustand der Sprachlosigkeit abgefunden zu haben. Er blickt stumm in die Augen der Leere.« Medina wurde befangen und wünschte sich, die Frage nicht gestellt zu haben. Sie probierte im Stillen etwas aus, das sie als Trost sagen konnte, doch ihre Zunge klebte am Gaumen und machte sie selbst sprachlos. Nasser ging zum Fenster und lehnte es an. »Wenn er mich anschaut, sage ich mir, dass er uns alle vielleicht noch eines Tages überraschen, nach all den stummen Jahren schließlich etwas Verständliches aussprechen wird«, sagte Nasser. »Sein konzentrierter Blick steckt voller Leben wie die Wüste in der Abenddämmerung und durch sein mitteilsames Lächeln werden seine Augen klar wie Kamillentee. Verzeih mir, aber bei solchen Gelegenheiten sehe ich Gott in ihm.« Hatte das, was er gesagt hatte, sie beunruhigt? Warum schaute sie weg, als wollte sie seinem Blick ausweichen? Sie sagte sich, dass Yusufs Zustand vielleicht mit dem übereinstimmte, was Fatima bint Thabit glaubte, mit genau der Auffassung, die sie zutreffend beschrieben hatte als »die unausweichliche Logik der Wahrheit, die Allah ist«! Verständlicherweise würde jemand wie Fatima bint Thabit oder Idil, deren Erziehung von Grund auf traditionell war, auf wissenschaftliche Fragen nach religiösen Antworten suchen
und sie auch finden. Medina war so verlegen, dass ihr nicht einfiel, wie alt Yusuf war. Und zu fragen traute sie sich nicht. Er war knapp ein Jahr älter als Ubax, aber wie viele Monate genau, hatte sie nicht mehr im Kopf. Weil Yusuf sich nicht verbal äußerte, konnte sie nicht sagen, wie stark er geistig entwickelt war; er glich einem Baum, dessen Ringe nie vollständige Kreise bildeten, so dass niemand sein Alter abschätzen konnte. Zu Samater sagte sie einmal, dass Menschen, denen ein Organ fehlte, oder solche, deren Gesicht von Hunger oder von durch Unterernährung hervorgerufenen Tropenkrankheiten gezeichnet war, ihr Unbehagen bereiteten: Sie wisse nicht, was sie zu ihnen sagen sollte, ob sie ihr Gespräch mit einer Entschuldigung für Gott-weiß-was, einer Rechtfertigung im Namen der Menschlichkeit, des gesunden Menschenverstandes etc. einleiten sollte. Doch wenn sie Ubax anblickte, die einer Göttin glich, plapperte sie vor Begeisterung und ihre Zunge löste sich. Sie gestand ein, dass ihr Verstand nicht den metaphysischen Sprung machen und ihr wissenschaftliches Argumentieren ihr auch nicht den Mut geben konnte, sich der nackten Wirklichkeit der Unzulänglichkeiten des Lebens zu stellen. Sie beneidete ihre Mutter Fatima bint Thabit, sie beneidete Idil, die in blindem Glauben an Leitsätzen festhielt wie: »Alle Geheimnisse führen zu einem größeren Geheimnis: Allah!« Wiederum wechselte der Schauplatz und sie sah auf der Bühne ihrer Erinnerung Anna, Nassers Frau, den Kopf im Bittgebet gebeugt, wie sie Yusuf betrachtet, dem die Zunge vor lauter Konzentration wie einem Hund heraushing. Ubax war auch dort, Ubax, die als Säugling schon ein paar wirre, bedeutungslose Worte heraussprudeln konnte, und gerade ga-ga-ga, ma-ba-ma, bama-ba sagte, in das Herbstlaub der Jahreszeit gehüllt. Yusuf dagegen zahn- und sprachlos und unvollkommen wie ein Mann in seiner zweiten Kindheit, der ständig mit den Kiefern mahlte.
Anna warf Ubax, dann ihrem Sohn einen ungeheuerlichen Blick zu, schwieg aber, wo andere gesprochen hätten: Wissenschaft-als-Zweifel, ein noch nicht enträtseltes Geheimnis. »Wie geht es Anna?« »Sie widmet sich Yusuf tagein, tagaus.« Es entstand eine Pause. Anna beneidete Medina nicht nur um Ubax, sondern um alles; für sie war Medina ein »ausgewachsenes Wunder und Ubax ein Traumkind«. Denk an den Engel und er kommt herein: Ubax, sehr aufgeregt und begeistert von den Spielsachen, die Nasser ihr mitgebracht hatte. Alles andere war kaum von Bedeutung; sie war in die mechanischen Bewegungen eines Spielzeugs vertieft, dessen Kopf folgsam wie ein Uhrwerk vor und zurück ruckelte. Sie zog es auf und wartete, bis sich der Kopf nicht mehr bewegte. Dann ging sie ohne Umschweife wieder weg. Nassers und Medinas Gedanken liefen in entgegengesetzte Richtungen (Sollte ich Ubax auftragen, sich nach ihrem Cousin Yusuf zu erkundigen? dachte sie. Und er: Sandra, wo ist sie, wie geht es ihr?), vereinigten sich jedoch nach kurzer Zeit wieder, reisten eine bestimmte Strecke gemeinsam und trennten sich dann erneut. »Wie weit hat sich Sandra in den Staub geworfen, um ihren Fang zu machen?« fragte er. »Ich würde sagen, überraschenderweise sehr weit.« »‘68 hätte das wohl keiner von uns gedacht, oder?« Medina bedachte ihren Bruder mit einem sanften Blick. »Sandra ist eine schon über hundertmal aufgetischte Lüge. Du willst sie längst nicht mehr hören und magst sie schließlich gar nicht mehr richtig stellen. Doch in letzter Zeit hat sie sich rar gemacht. Ihre Besuche sind selten wie eine Mondfinsternis.«
»Doch als sie ins Land kam, warst du die Sonne, deren Licht sie sich borgte und in deren Schein sie alles sah«, sagte Nasser. »Sie war doch eine Weile dein Gast, oder? Warum sind ihre Besuche so dünn gesät?« »Ihre dünn gesäten Besuche sind Vorzeichen. Samater hat immer (im Scherz?) den Schutz der Geister angerufen, wenn ich ihm sagte, dass sie kommen würde. Er sah eine offensichtliche Verbindung zwischen ihren Besuchen und dem, was uns unmittelbar nach ihrem Weggang widerfuhr. Sie hat mir die Neuigkeit überbracht, dass ich bei der Zeitung zur Schlussredakteurin bestellt worden bin. Dann wieder ist sie am Morgen des Tages aufgetaucht, als mir die Staatssicherheit den Schrieb zustellte, der mir untersagte, noch irgendetwas in diesem Land zu veröffentlichen. Sie war zum Essen bei uns, als eine unbekannte Stimme uns geheimniskrämerisch anrief und sagte, Samater solle zum Bauminister ernannt werden.« Nasser öffnete das Fenster ganz und ließ die Brise herein. »Das erklärt also die Spannung zwischen euch beiden. Du hast sowieso nie viel vom Ideologen gehalten.« »Ich kann die Gruppe, in deren Gesellschaft sie ist, nicht ausstehen.« »Du sprichst, als wärst du ihre Anstandsdame.« »Sie ist mit einem inzestuösen Zirkel zusammen, der seine Mitglieder aus dem Clan des Generals und den durch Heirat mit seiner Stammesoligarchie verwandten Leuten rekrutiert. Sie ist eine naive Europäerin, die alles glaubt, was Somalis ihr erzählen. Es gibt keine Spannung zwischen uns. Es gibt Widersprüche, die Reibungen nach sich zogen, und Reibungen, die sie unvereinbare Sachen haben aussprechen lassen, und unvereinbare Sachen, die Missverständnisse in die Welt gesetzt haben. Doch was ich gar nicht ausstehen kann, ist ihre Mitgliedschaft im inzestuösen Zirkel.«
Nasser überließ sich seiner ungebärdigen Erinnerung, die sich über Kontinente und Jahre erstreckte, und dachte an die Jahre, als er, Medina, Samater und Sandra neidvoll als »die inzestuöse Viererbande« bezeichnet wurden. »Atta ist doch die Afroamerikanerin, die sich kürzlich Sandras Zirkel angeschlossen hat?« fragte er. Medina war verdutzt, da sie sich nicht erinnern konnte, ihm überhaupt von Atta erzählt zu haben. Mit langen Schritten durchmaß er das Zimmer. Er schloss das Fenster, öffnete es aber dann wieder. Er war stolz, die Situation noch im Griff zu haben. Medina sagte nun: »Das Ganze wird vor allem dadurch absurd, dass das Regime sehr sicherheitsbewusst und paranoid ist und es nicht duldet, dass Somalis in unerlaubten Kontakt mit Ausländern treten, insbesondere denen aus Westeuropa oder den USA. Doch die Mitglieder der Stammesoligarchie haben das absolute Vertrauen des Generals und können es sich leisten, jede Person ins Land zu lassen, die ihnen gefällt. Tatsächlich erhält jeder Ausländer, für den sie bürgen, ein Visum oder einen Job. Einige kamen als Mätressen, andere als Geschäftspartner oder akkreditierte Journalisten. Atta ist eine Ausländerin, die von so einem Stammesaufsteiger als Mätresse hergebracht wurde. Sandra schließt den Kreis, den Atta anfing. Ergebnis: Sie hassen einander.« Eine Pause. Dann rief wie auf Stichwort Ubax nach Medina, sie solle in ihr Zimmer kommen und sich die Burg anschauen, die sie aus den vom Onkel mitgebrachten Plastikbausteinen gebaut hatte. Nasser dachte daran, etwas über dieses ständige Bedürfnis Ubaxs zu sagen, sich der Anwesenheit ihrer Mutter zu vergewissern, entschied aber, es wäre überflüssig. Inzwischen setzte Medina zu einer Rede an: »Weißt du noch, wie Sandra sich mächtig aufgeregt hat, wenn du, ich oder Samater ungebührliche Bemerkungen über
die italienische Politik machten? Erinnerst du dich noch an die hitzige Auseinandersetzung, die ich auf der piazza von Vigevano mit ihr hatte? ›Du hast kein Recht‹, sagte sie mir, ›die italienische Innenpolitik zu diskutieren, da du sie nicht begreifst.‹ In Vigevano hast du mich unterm Tisch getreten, mich gezwickt, alles versucht, damit ich aufhörte, ihr wehzutun, denn sie hatte gerade das Kind abgetrieben, das du ihr verpasst hattest, und du hast auf Somalisch gesagt, ich solle tolerant, nachsichtig und verständnisvoll sein. Ich habe auf dich gehört. Ich hab den Mund gehalten. Rat mal, was Jahre später ablief? Die gleiche Situation, nur umgekehrt: Sandra, Samater und ich in Somalia. Sandra, diesmal hysterisch vor Macht, spricht langatmig und unsinnig über die somalische Politik, also stelle ich sie zur Rede. Ich frage sie, wie es kommt, dass sie über die somalische Innenpolitik diskutiert? Ich sage ihr, dass sie die Logik der somalischen Politik nicht begreift. Ich erinnere sie an Vigevano. Sie wird lauter, ich auch. Sie verliert die Fassung, ich auch. Dann tritt mich Samater, einfallsreich, wie nur er es sein kann, unterm Tisch und sagt mir auf Somalisch, ich solle tolerant, nachsichtig und verständnisvoll sein. Und folge ich ihm? Halte ich den Mund?« »Ich wette, nein.« »Richtig gewettet. Atta war ja noch da. Sie und ich haben Sandra in die Enge getrieben. Ich hab mir gesagt, ich würde nicht mein ganzes Leben lang tolerant, nachsichtig oder verständnisvoll sein. Kein toleranter Nasser und kein intoleranter Samater würden sie diesmal vom Haken lassen. Ich bestand darauf, dass sie mir antwortete.« »Und wie lautete ihre Antwort?« »Sie hat gesagt, mein Fehler sei, dass ich nach ihr in der gespiegelten Historie der kolonialistischen und paternalistischen Haltung ihres Großvaters gegenüber den Afrikanern suchte. Und fuhr dann fort: ›Ich bin Marxistin und
habe als solche das Recht, meine erworbene Erfahrung einer Regierung zukommen zu lassen, die sich marxistischleninistisch nennt. Ich mische mich nicht in interne Stammespolitik ein. Wie sollte ich? Ich verstehe sie nicht einmal. Ich arbeite lediglich mit meinen somalischen Genossen auf den Tag hin, an dem diese Stammeszugehörigkeiten keine Bedeutung mehr haben werden. Mit der Regierung als Marxisten zusammenarbeiten, ja. Als Marxisten«, sagte sie, »ungeachtet der Hautfarbe, des Glaubens oder des Landes, versuchen wir die Widersprüche zum Wohl der Massen auszunutzen.‹ Ich glaube, ich habe sie faccia tosta genannt! Aber da war nichts zu machen. Atta hatte sich bereits zwischen uns geschoben und die schlafenden Rassenspannungen geweckt. Ich schrie: ›Friede, Friede, Friede zwischen den Rassen!‹« »Aber du weißt doch sicher noch, dass du Sayyids Gedicht über die Italiener zitiert hast, als wir auf der piazza von Vigevano standen, das Gedicht, das folgendermaßen lautet: ›Ihr (die Briten) seid es, die jene schwächeren Tiere auf die Weide führen! Kann ich zwischen euch und eurem Vieh unterscheiden?‹ Wie sie dich immer gehasst hat, wenn du dieses oder ein ähnliches Gedicht zitiert hast. Obwohl ich insgesamt sagen würde, dass ‘68 viel Spaß gemacht hat.« Das berühmte Jahr ‘68, für Medina, Samater, Nasser und Sandra so kostbar wie ein Schluck Spätlese! Er erinnerte sich an das lange, ununterbrochene Ginsbergsche Geheul, die Kolumnen in der bandiera rossa, die commizzi, die langen Nächte auf den piazzas, das dunkle Brot und den billigen Wein, die Hoffnung auf eine geordnete Zukunft, eine linke, sozialistische Zukunft für die Menschheit; Sandra, die aus vollem Halse gegen den sozialen imperialismo und egemonismo schrie, dann der Prager Herbst; und Medina, die sich als ›Gast‹ in dieser Ideologie betrachtete, ein Gast in
Italien und nun auch Gast in Somalia; und Samater, der einen wie ein schlechtes Gewissen daran erinnerte, wo Fehler gemacht wurden; sein Schweigen, sein Ja-das-stimmt und sein Hochhalten der Fahne, wenn allen schon die Arme erlahmten. Das Telefon im anderen Zimmer klingelte. Medina ignorierte es. Nasser verkündete, er würde sich ans Auspacken machen. Medina sagte, sie würde in Ubaxs Zimmer gehen. Sie verabredeten, sich später in der Küche zu treffen, um etwas zu essen zu machen.
Er packte aus. Ein Karton Schnaps; einen weiteren mit einer bunten Mischung von italienischen Weinen aus der Toskana, Umbrien und der Lombardei; ein dritter voller Kleinigkeiten aus der Apotheke, Pillen, Tampons, Malariatabletten und andere Mittel, um die Medina ihn gebeten hatte; Kleider und noch mehr Spielsachen für Ubax, Geschenke und ein Päckchen für Dulman. Auf die Frage, wie er es geschafft habe, mit all dem durch den Zoll zu kommen, zuckte er die Schultern. Sie bestand auf einer Antwort. Er rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander – womit er Geld, Bestechung meinte. Medina beließ es dabei. Sie wusste, dass er in Dollar gezahlt haben musste. »Mein teurer Geschmack beschämt mich«, sagte sie. »Unsinn«, meinte er. Die Zugluft im Zimmer, dessen Fenster weit offen waren, regte sich und bepflanzte das Feld, das ihr Geist beschritt, mit Reihen von dornigen Hürden, gekrümmt wie Fragezeichen ohne Punkt, und sie hörte Idils anklagende Stimme und keifende Drohung, Idil, die von ihrem teuren Geschmack redete. Medinas Gesicht war von einem Schweißfilm überzogen wie ein Spiegel, den jemand angehaucht hat. Sie wischte sich über die Stirn. Sie legte vor sich auf den Tisch all
die Dinge, die sie bewundert hatte, und setzte sich. Nasser spürte das Nahen eines bedeutungsgeladenen Augenblicks; er hielt in seinem Tun inne, nahm Platz und lauschte. »Vor etwa vier Monaten«, setzte Medina an, »kam ein mit mir befreundetes Ehepaar (du hast sie kennen gelernt, wirst dich aber wahrscheinlich nicht mehr an sie erinnern) zu Besuch nach Somalia, nachdem es zwanzig Jahre weggeblieben war und inzwischen die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Sie brachten ihre sechzehnjährige Tochter mit, ein Glücksjuwel, so amerikanisch, wie sie es nur auf diesem riesigen Kontinent hervorbringen, so amerikanisch wie Ketchup und Coca-Cola. Die ursprüngliche Idee ihrer Pilgerreise bestand darin, der Tochter das Land zu zeigen, in dem sie beide geboren waren. Zum Zweiten wollte der Mann etwas für ein Buch recherchieren, das er über das Leben von Sayyid schrieb; und die Mutter, eine Modeschöpferin, dachte, sie könnte die Möglichkeiten erkunden, für den amerikanischen Markt somalische Güter wie die guntiino, die dirac etc. mitzunehmen.« Ihr Schweigen kroch sein Rückgrat hoch wie ein Insekt, das einen Weg in sein Bett gefunden hatte, gerade als seine Reaktionsfähigkeit durch Schlaf und die Dunkelheit der Stunde halb betäubt war. Ihr Schweigen gab der Geschichte, die sie erzählte, einen Hauch von Hitchcock: Die Vorhänge bauschten sich im Wind; irgendwo in seinem vielkammrigen Hirn ging eine Tür auf und knallte wieder zu; es herrschte ein undurchdringliches Schweigen so tief wie die Nacht; wieder ging eine Tür auf (er erinnerte sich an die Geschichte, die sie ihm einmal mitteilte, wie Amina von drei Männern vergewaltigt worden war, wie das politisch ausgenutzt wurde und welches Schweigegeld die Regierung zahlte), die Tür
knarrte und ging in strikter Befolgung der Naturgesetze wieder zu. »Bei der Ankunft wurden sie höflich gebeten, ihre amerikanischen Pässe herzugeben und sie in ein paar Tagen bei der Einwanderungsbehörde wieder abzuholen. Ihnen wurde gesagt, dies sei die normale Routine. Ich wette, das haben sie dir auch gesagt, als sie dich anwiesen, deinen Pass auszuhändigen.« »›Gehen Sie in drei Tagen auf die Einwanderungsbehörde, dann können Sie ihn wieder zurückhaben‹, hat der Beamte gesagt«, war dazu von Nasser zu hören. »Drei Tage.« »Als sie drei Tage später bei der Einwanderungsbehörde waren, sagte der Beamte ihnen, dass alle Somalis stolz darauf sein müssten, Somalis zu sein, und dass die Revolutionsregierung es für notwendig erachte, diese Idee allen einzuschärfen. Der Tatbestand, dass ein Somali im Besitz eines amerikanischen Passes in sein Land zurückkehrte, sei absurd und so etwas wie neokolonialistisches Verhalten, das die Revolution nicht dulden würde. Unsere Freunde konnten das, was der Beamte sagte, nicht begreifen. Er erklärte ihnen in armseliger Amtssprache, dass ihre Pässe konfisziert worden seien und dass ihnen neue somalische Dokumente ausgestellt werden würden, vorausgesetzt, sie würden sie in Übereinstimmung mit den Gesetzen der demokratischen Regierung beantragen. Der Beamte fuhr fort, dass sie auf ihre eigene Nationalität stolz sein sollten und dankbar sein müssten, wenn ihrem Antrag stattgegeben würde. Verwirrt zogen sie ab. Sie holten sich rundum Rat ein. Das sei alles absurd, wurde ihnen gesagt. Dann begannen sie, an alle möglichen Türen zu klopfen. Sie gingen kafkaesk von einem Amt zum anderen. Schließlich wandten sie sich an die amerikanische Botschaft und erhielten die Auskunft, sie sollten in ein paar Tagen wiederkommen. Doch beim Verlassen der Botschaft wurden
sie aufgehalten, durchsucht und zur weiteren Vernehmung ins Hauptquartier der Staatssicherheit gebracht. Sie wurden um eine Erklärung gebeten, was sie in einer ausländischen Botschaft zu tun hätten. Der Beamte ließ sich nach einer Weile dazu herab, sie daran zu erinnern, dass ihre amerikanischen Pässe konfisziert seien, und da sollten sie doch wissen, dass ihre ausländische Staatsbürgerschaft nicht mehr existierte? Nun (du hast es inzwischen, wenn du nicht zu langsam bist, hoffentlich begriffen) wurden sie der Spionage für die Amerikaner bezichtigt. Einen Monat lang wurden sie ohne Anklage festgehalten; sie wurden täglich gefoltert: ›Welche geheimen nationalen Informationen habt ihr den amerikanischen Imperialisten gegeben?‹ Dann wurden sie unerklärlicherweise freigelassen. Sie wurden in ein Auto gestoßen und dann in einen Saal geschleppt, in dem ein Stammeshäuptling präsidierte. Dieser Häuptling sagte ihnen, er hätte ihre Freilassung ausgehandelt. Sie stammten schließlich von dem Clan ab, der sie hervorgebracht habe. Ihnen wurde ein Haus überlassen und alle materiellen Bedürfnisse, die Amerikaner haben mochten, wurden befriedigt. Während dieser Zeit rief mich der Mann eines Tages an und fragte mich, ob wir die Angelegenheit besprechen könnten und er seine Tochter Samater, Ubax und mir vorstellen könne. Wir vereinbarten Tag und Stunde, in der wir sie zum Essen erwarten würden. An jenem Tag warteten und warteten wir. Als bei Anbruch der Nacht immer noch keine Spur von ihnen zu sehen war, bat ich Samater, seinen geringen Einfluss als Minister geltend zu machen und bei der Staatssicherheit herauszufinden, was geschehen war. Wir waren sicher, dass sie auf dem Weg hierher aufgehalten und wieder verschleppt worden waren. Doch wir wünschten, wir hätten uns nie erkundigt.« »Was ist passiert?«
Ihre Augen waren in Nachdenklichkeit gehüllt und blieben starr wie auf einem Gemälde. Er wartete und gab keinen Kommentar. Er wollte nicht unvernünftig sein. Eine lange Pause. Dann wechselte sie Rhythmus und Stil und spulte den Rest der Geschichte ab. »Das Gerücht hatte sich verbreitet, dass der Mann antirevolutionär war; er hatte ein oder zwei Artikel in den Staaten veröffentlicht, offensichtlich unter einem Schriftstellernamen. Jemand, dem er vertraut hatte, verriet ihn, glaube ich… Dann die tragische Nachricht.« »Was für eine denn, Mina?« »Die tragische Nachricht von der Familie.« »Was ist passiert? Wurden sie exekutiert, an die Wand gestellt und erschossen?« fragte er. Ihre Stimme war nüchtern, flach und tonlos. »Die Mächtigen haben andere Wege, ein Opfer zu demütigen. Mich hat es gebrochen, die Nachricht hat mich geknickt.« »Was? Magst du es mir bitte sagen?« »Sie war sechzehn, gesund und fröhlich. Sie war in vieler Hinsicht anders als somalische Mädchen. Sie war Amerikanerin. Und ihre Zunge rollte die R’s wie Kaugummi, ihre Zähne waren vom Zahnarzt gerichtet und Gaumen und Magen waren auf die Schärfe der somalischen Küche nicht eingestellt.« »Sag schon, was passiert ist«, meinte Nasser. Theatralisches Schweigen. Ein leichter Seufzer. Eine Spannung so dramatisch wie das Leben. »Die Frauen, die der neuerdings als Gönner auftretende Häuptling angeheuert hatte, verschworen sich. In einer Nacht, als die Eltern in ihrem Zimmer schliefen, zerrten sie das Mädchen aus dem Bett, fesselten es an den Bettpfosten,
knebelten es mit einem Lumpen und beschnitten es. Das arme Ding.« »Mit sechzehn?« »Macht es was aus, ob das Mädchen sechs oder sechzehn ist?« »Entschuldige, so habe ich es nicht gemeint.« »Genau das haben Samater und jeder andere Mann, dem ich das erzählt habe, auch ausgerufen. ›Mit sechzehn!‹ Was, wenn sie sechs, sieben oder acht wäre, würde das einen Unterschied machen? Wärst du nicht genauso entsetzt? Natürlich nicht.« Nasser war verlegen. Das Schweigen dauerte unerträglich lang. Sicherlich war das eine Horrorgeschichte, wie er sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Die Gewalt eines faschistischen Staates, der den armen Mann von einem Ort zum anderen jagt, bis er fest an die aggressive Tradition der Gesellschaft gekettet ist. Wie weit ist Widerstand in der Lage, einen aus einer gegebenen Schwierigkeit zu befreien? »Sie spielten eine tragische Rolle, wussten nicht, wie sie das ihnen Widerfahrene bewältigen sollten. Der Sprung in der gläsernen Hülle, die ihren himmlischen Traum darstellte, zu dem ihre Tochter erwachen sollte, wurde größer, ein Riss, dessen Leck sie nur mit ihrem kollektiven Selbstmord stopfen konnten…« »Sie begingen Selbstmord?« »Alle beide. Sie begingen Selbstmord, als der Stammeschef, der für sie eingetreten war, sagte, warum das Mädchen beschnitten worden war: um es an einen Mann aus dem Clan zu verheiraten.« »Und das Mädchen? Was wurde aus der Tochter?« »Als sie wieder zu Bewusstsein kam, wurde ihr gesagt, ihre Eltern seien zurück nach Amerika. Der Häuptling, der im Sold des Generals stand und ihr Onkel war, stellte ihr dann einen Mann vor, den er für sie ausgesucht hatte. Das arme Ding! Sie
war nicht nur nicht bereit, wie eine Speise verzehrt zu werden, sie beherrschte nicht einmal die Sprache. Sie zwangen ihr den islamischen Glauben auf und sie wird irgendwo in Mudugh gefangen gehalten. Das alles, berichtete mir jemand später, sei in Absprache mit dem Generalissimo geschehen. Der Stammeshäuptling wusste davon. Aber keine Beweise.« Nasser war in den Turbulenzen des Schreckens verloren, den diese Geschichte in ihm erzeugt hatte. Er fühlte sich klein wie eine Ameise, hatte aber kein Loch, in dem er sich verstecken konnte. Medina fühlte sich kleiner und trauriger: Im Geiste rannte sie blindlings umher, bis sie auf eine Wand so hoch wie der Himalaja stieß. Als sie nicht weiter kam, blieb sie stehen, um nachzudenken. Sie entschied, für ihren Bruder ein Fallgatter hochzuziehen, das seit dem Tag verriegelt gewesen war, als sie Samater verlassen hatte, ein Fallgatter, vor dem eine Spinne schon ihr Netz gesponnen hatte. »Als Sagal, die mir die Nachricht überbracht hatte, mich verließ, kam Idil herein. Sie sah mich in Tränen erstickt. Niemand hatte mich je in so einem Zustand gesehen. Sie wollte wissen, warum. Ich hab’s ihr gesagt. Ihre Augen blitzten auf, als hätte sie einen Meteor mit dem Teufel am Schweif gesehen. Sie gab zu, das hätte sie auch geplant. Sie sagte, sie würde eines Tages Ubax an die Hand nehmen, als wäre es für den Gang zum Friseur, und sie beschneiden lassen. Ich schwor mir, ich würde sie nicht mehr in Ubaxs Nähe lassen, und wenn sie auch nur ein Wort mit meiner Tochter darüber wechselte, würde ich sie umbringen. Als Samater heimkam, gab ich ihm alles wieder, und weißt du, was er getan hat? Ich war noch immer in dem zerrütteten Zustand.« »Was?« »Er lachte kurz auf und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen, er würde schon mit ihr reden. Natürlich war mir klar, das würde er sich nicht trauen. Inzwischen suchte Idil Ubax
schon in ihren Träumen heim, Idil, die jede Nacht ein Messer in der Hand hielt. Es war am Morgen, als der UN-Mann herkam, um mir die Schlüssel auszuhändigen, da hatte ich in einem hellsichtigen Augenblick die Vision, von der ich hoffte, sie würde meinen Rachedurst stillen – ja, die Vision, die mich schließlich hierher geführt hat.« Sie schwiegen so lange, wie es dauert, um eine Last aus der einen Hand in die andere zu verlagern. Beide wälzten Gedanken in ihren Köpfen. Er wirkte so, als habe er ihre Erklärungen nicht angenommen: zu simpel, dachte er. Er sah unzufrieden aus, unglücklich darüber, dass sie seiner Heilkräfte nicht bedürftig zu sein schien, dass sie keine »überhitzten Nerven« hatte, die er durch kühlendes Handauflegen beruhigen konnte. Sie hielt sich zurück; sie brauchte ihn auch nicht. Weshalb er morgen Dulman aufsuchen wollte, denn Dulman war eine Frau mit Nöten und Ängsten – Medina eine mit gehorteten und sorgfältig gehüteten Geheimnissen. »Sollen wir was zu essen machen?« sagte Nasser. Medina war erfreut, dass er das Thema wechselte. »Ja, komm«, stimmte sie zu. Die Küche war geräumig. An den Wänden befanden sich Regalbretter, worauf Glasbehälter mit Gewürzmischungen aus Indien, China, dem Mittleren Osten sowie auch Afrika aneinandergereiht waren; Teebüchsen und Blechdosen waren sorgsam entsprechend ihrem Inhalt beschriftet. Es gab auch bunte Behälter voller Trockenfrüchte und Heilkräuter. Der indische UN-Mann und Medina hatten eine Vereinbarung getroffen: Sie kaufte ihm die Sachen für eine Gesamtsumme von zweihundert Shilling ab. Doch sie zahlte nicht bar. Nein. Seine Frau hatte die Waschmaschine kaputt gemacht und die Reparaturkosten beliefen sich auf etwa zweihundertfünfzig Shilling. Medina war gerade damit beschäftigt, einen Stapel
Teller zu spülen, während Nasser die Weinflaschen in einer Ecke aufstellte, wobei er sie so anordnete, als sollten sie für ein Kegelspiel aufgestellt werden. Innerlich zischte Medina vor Wut wie ein Gaskocher auf kleiner Flamme. Sie machte ein unverkennbar langes Gesicht: Jemand, mit dem sie telefoniert hatte, hatte ihr offenbar etwas gesagt, was sie ärgerte. Ubax kam herein und fragte: »Was ist los mit dir, Medina? Du hast gesagt, du würdest herkommen, ich sollte auf dich warten. Dann gehst du ans Telefon und vergisst mich ganz und gar.« »Entschuldigung.« »Wer war es?« »Ein dummer Mann.« »Was hat er gewollt?« »Nichts.« Ubax winkelte die Ellbogen wie Vogelflügel an: eine Pose der Herausforderung und des Trotzes. Nasser öffnete den Mund, um zu sprechen, doch Ubaxs Blick lähmte seine Zunge; er war an Yusuf gewohnt, der nie sprach, nie zur Rede stellte, nie fragte und nie Widerworte gab. Er war auf diese Konfrontation nicht vorbereitet. In Ubaxs Alter hätte er seine Mutter nie so ausgefragt, wie es Ubax nun tat. Ubax zerrte an Nassers Hose, Sie zeigte ihm das Glas, das sie in der Hand hielt, und machte Zeichen, er solle etwas Wein hinein gießen. Erst wollte er nicht. Er suchte Medinas Zustimmung. Die erhielt er. Er goss im dito Weißwein in Ubaxs Glas. Sie protestierte, bestand darauf, dass er ihr mehr gab. Als er sich weigerte, nahm sie ihr Glas und füllte es murrend mit Wasser direkt aus dem Hahn auf. »Die Männer, die mich unablässig anrufen«, sagte Medina, in eine fremde Sprache verfallend, die ihre Tochter nicht verstehen konnte, »geben mir das Gefühl, ich sei eine Kuh, die sich im Sand ihrer Hitze wälzt, eine Kuh, die allen ihre rosige
Lust zur Schau stellt wie ein Pfau. Sie rufen mich nacheinander an, diese dämlichen Stammesemporkömmlinge, wollen mich ausführen, sich mit mir verabreden; sie bitten mich, zum inzestuösen Zirkel zu stoßen. Seit ich eingezogen bin, hat das Telefon nicht aufgehört zu klingeln. Sie wollen, dass ihr inzestuöser Zirkel so groß wird wie ihre unersättliche Lust. Sie laden mich ein, zu dem Zirkel zu stoßen, den Sandra und Atta ins Leben gerufen haben. Doch ich lehne ab.« Nasser, der ihrem Blick auswich, öffnete eine Schublade, in der er einen auf Samater ausgestellten und von Medina unterschriebenen Scheck fand. Er fragte sich, ob er sie an den anderen Scheck erinnern sollte, den er im Espresso in der Toilette gefunden hatte, dem Espresso, in dem sie einen Artikel begierig gelesen und unterstrichen hatte. Ihm fiel ein, dass sie einmal erwähnt hatte, sie und Samater hätten ein gemeinsames Konto auf ihren Namen, da er mehr Vertrauen in ihre buchhalterischen Fähigkeiten als sie in seine hatte. Zudem wusste Samater nicht, wann immer jemand mit einer herzerweichenden Bitte kam, wenn ein Clanmann oder eine Clanfrau um einen Beitrag für den Stamm bettelte, wie er sie mit leeren Händen wegschicken sollte; wohingegen jeder Clanmann und jede Clanfrau wusste, dass sie bei Medina keine Chance hatten. »Wer sind diese Männer überhaupt?« fragte Nasser. »Du kennst sie nicht. Es sind Stammesemporkömmlinge, nouveaux arrivistes.« »Aber wer sind sie?« Medina drehte sich, um Ubax anzusehen, deren fragender Blick, wie sie wusste, nach einer Antwort verlangte. Es war offensichtlich, dass sie nervös war, dass sie etwas zurückhielt. Sie gestikulierte, als sie zum Reden ansetzte, wobei sie den eingeseiften Teller in ihrer Hand vergaß. Er fiel zu Boden und
zerbrach. Schweigen. Nasser sammelte die Halbmonde des zerbrochenen Tellers auf und warf sie in den Mülleimer. »Diese Männer sind die neuen Aufsteiger der Stammesoligarchie«, sagte sie. »Sie sind mit derselben Plötzlichkeit hochgekommen wie der Reichtum aus den Petrodollarländern.« Ubax genehmigte sich noch mehr Wein. Keiner der Erwachsenen sagte etwas zu ihr. Medina setzte sich. Nasser fragte sich, was Idil wohl sagen würde, wenn sie ihre Enkelin ungestört Wein trinken sähe. Medina fuhr fort: »Es sind die nouveaux arrivistes, welche die Stammesoligarchie aus den zahlreichen Clans in der Gunst des Generals rekrutiert hat, um Posten zu besetzen, die dadurch frei geworden sind, dass er die titolari eingesprerrt hat, oder weil diese Leute es vorgezogen hatten, im Exil zu bleiben. Sie sind an ihrer Großtuerei zu erkennen.« Nasser erinnerte sich, einige Menschen gesehen zu haben, die zu der Beschreibung passten. Und natürlich hatte er sie in Jiddah und in Rom getroffen. Es war ihm schwer aufgestoßen, mit ansehen zu müssen, dass sie sich benahmen, als würde die Botschaft in Jiddah oder in Rom ihnen gehören. Mit einem oder zweien, die er vor dem rasanten Aufschwung der Stammesmacht gekannt hatte, war er im Cicerone Hotel in Rom sogar essen gewesen. Er stimmte mit Medina darin überein, dass plötzlicher Reichtum genau so wie unvermuteter Machtzuwachs den Lebensstil von Leuten gewissermaßen aus dem Lot bringt; plötzlicher Reichtum verwandelte sie in Geizkragen; sie entdeckten, dass sie das Geld ausgegeben hatten, bevor ihre Fingerspitzen den Silberstreifen im Geldschein gefühlt hatten. Es war wie bei einem Magenkatarrh – die plötzliche, unerwartete Leere machte sich bemerkbar. Das Telefon klingelte und erfüllte die Küche mit seiner Eindringlichkeit.
»Soll ich rangehen?« fragte er. Medina war innerlich gespalten, ob sie ihn lassen sollte oder nicht. Weil er ihr gegenüber zu nachsichtig und fürsorglich war, fürchtete sie, er würde zu dem Anrufer unnötig grob sein. Sie sah zu, wie er aufstand und sein Glas auf den Tisch zwischen ihnen stellte; sie sah zu, wie er hinausging, doch weder ermutigte noch entmutigte sie ihn. Er war nicht mal eine Minute weg, ließ ihr kaum Zeit, ihr Glas zu leeren und sich noch etwas Wein einzuschenken. »Wer war es?« fragte sie. »Niemand.« »Wie meinst du das, niemand?« »Als er meine Stimme hörte, legte er auf.« »Woher weißt du, dass es ein Er war?« »Nur Stammesaufsteiger sind solchen Einflüssen gegenüber so empfänglich und fürchten die unausweichliche Konfrontation.« Nun hörten sie Ubax leise schluchzen. Sie blickten erst einander, dann Ubax an. Ihr Schluchzen verlieh ihrem Protest – ähnlich einer bewussten Änderung der Sprechweise – mehr Nachdruck. »Was ist los, Ubax?« sagte Nasser. Sie schneuzte sich. »Das Gleiche, es ist immer das Gleiche.« Medinas Stirn war vor Verblüffung von nach außen auslaufenden Runzeln durchzogen. Die Adern in ihren Händen, fiel Nasser auf, kreuzten sich wie die Verkehrsadern einer Großstadt und waren angeschwollen. Er wandte sich an seine Nichte: »Wovon redest du?« »Medina und Samater reden immer in einer fremden Sprache, wenn sie nicht wollen, dass ich oder Idil etwas mitbekomme. Auf die Art kann es ihnen egal sein, wenn ich da bin, und sie brauchen mir nicht zu sagen, ich soll zum Spielen rausgehen,
wie es andere Eltern mit ihren Kindern machen. Sie sprechen Somalisch, wenn sie Sandra oder Atta ausschließen wollen. Jetzt machst du das gleiche, Onkel Nasser, und das mag ich nicht. Medina und Samater können nicht behaupten, ich hätte es ihnen nicht gesagt. Und jetzt sag ich’s dir: Es ist nicht fair.« »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?« Es stimmte, dass Ubaxs Anwesenheit manchmal unbequem war. »Da ihr mich nicht dabei haben wollt, gehe ich raus, damit du mit Medina über diese Männer oder über Politik reden kannst. Bitte ruft mich, wenn das Abendessen fertig ist.« Sie ging aus der Küche. Zurück ließ sie die Last einer Beschwerde, die nicht leicht abzuschütteln war. Sie schwiegen lange Zeit und wussten nicht, wo sie anfangen oder was sie sagen sollten. Schließlich stand Nasser auf, um das Abendessen zuzubereiten; Medina ging, um mit Ubax Frieden zu schließen.
Eineinviertel Stunden später: »Ich übernehme keine Garantie, dass es dir schmecken wird«, sagte er. Seine Augen waren so klar wie die Gemüsesuppe, die er gemacht hatte; sein Blick war so verschwommen wie der fahle Hof eines jungen Mondes. Medina und Nasser waren allein in der Küche, denn Ubax war plötzlich vor Erschöpfung zusammengeklappt und konnte nicht mal mehr etwas Suppe hinunterbringen. Während Medina ihrer Tochter eine auf sie zugeschnittene Version aus Tausendundeiner Nacht erzählte, hatte Nasser nach einem unverfänglichen Thema gesucht, das auf ihr strapaziertes Nervenkostüm Rücksicht nahm. Er gedachte, zur Abwechslung einmal jede Erwähnung von Idil oder Samater sowie auch Ubax zu unterlassen, auch würde er ihrer Unterhaltung keine Chance geben, Fatima bint Thabits über allem schwebenden
Geist Leben einzuhauchen. Das war noch am einfachsten, entschied er, da er wusste (oder zu wissen glaubte), warum Medina Samater verlassen hatte. Doch etwas spukte in seinem Kopf wie eine Reizung, die nicht abklingen wollte. Warum sprach Medina nicht selbst mit Idil, wenn sie wusste, dass Samater es nicht tun würde? Warum? Zugegeben, sie suchte die Ruhe, die ihr Haus nicht bieten konnte, und war daher gegangen und hierher gezogen; sie suchte ein Mittel, ihr Haus mit ihrer Abwesenheit zu füllen, auf die gleiche Art, wie Xaddia es tat; sie suchte die einfachste Methode, sich zum Gesprächsthema der anderen zu machen. Auf die Art war sie sicher, dass Samater und Idil über sie sprechen würden und es schließlich zu einem Zusammenstoß kommen würde. Sie hoffte, das würde entweder zu Eintracht oder Zwietracht führen; sie hoffte, sie würden selbst entscheiden, ob sie die Wucht ihrer Abwesenheit ebenso stark empfanden wie jene von Xaddia. Medina hatte Nasser einmal gesagt, sie sei die Fremde in Samaters und Idils Leben; zweifellos brachte ihre Anwesenheit die beiden dazu, sich zu benehmen; sie stritten kaum, wenn sie dabei war. Jahrelang, sagte sie, sei sie der Gast gewesen, der es ihnen unmöglich machte, offen ihre Meinung zu sagen, der sie ihre Konfrontation verschieben ließ, bis der Gast gegangen war, bis sie allein waren und als Mutter und Sohn miteinander reden konnten. Jedes Thema, jede Diskussion zwischen ihnen konnte einen Streit auslösen. Doch was erhoffte sich Medina von dieser Konfrontation? Idil missbilligte alles, was Samater darstellte. Das war kein Geheimnis und beide wussten es. Aber mal angenommen, Idil gewann mehr Runden? Angenommen, sie gewann die gegenwärtige Runde – mit ihrem Vorschlag, Samater solle ein Hausmädchen ihrer Wahl heiraten? Erkannte Medina nicht, dass eine Konfrontation mit Idil eine direkte Herausforderung der Tradition, der Generation des
Generals darstellte? Konnte sie Sandra, den Ideologen etc. nicht unter den Zuschauern sehen, denen es ohnehin gefiel, da es ihnen egal war, ob Samater oder Idil gewann? Denn das war ein Kampf, den sie selbst nach Punkten gewonnen hatten, wobei Medina auf jeden Fall die Verliererin war. Nasser nahm einen Schluck Wein. Er blickte auf. Sein Blick traf den Medinas. Sie probierte die Suppe. Ihr Blick neutralisierte seine zur Schau getragene Besorgnis. »Es schmeckt denen besser, die weniger religiös sind«, sagte er. Sie nahm noch einen Mund voll. »Weniger religiös oder irreligiös?« Er redete weiter, als habe er ihre Spitze nicht gehört, als würde die Unterscheidung ihn nicht betreffen: »Sie haben weniger Hemmungen und Bedenken, die heiligen Ernährungsregeln zu verletzen.« Nasser entkorkte eine weitere Flasche Wein – einen Chianti – und reichte sie ihr, damit sie einschenkte. »Ein Muslim, ein Jude oder ein Hindu verfügt jeweils nur über eine begrenzte Auswahl an Sachen, die nicht durch die Schriften verboten sind. Hinzu kommt noch, dass das, was nicht von der Religion tabuisiert ist, von der Tradition verboten wird.« Sie hatte zwei Gläser mit Wein gefüllt und dachte nun an Samater, der womöglich gerade spärlich mit Alkohol versorgt war, außer er verließ das Haus, in dem Idil, die selbst ernannte Hüterin der Tradition und Religion, mit der eisernen Faust eines Diktators herrschte. Medina war überzeugt, dass Idil die Alkoholika nicht weggeworfen, sondern irgendwo beiseite geschafft hatte und nicht eher damit rausrücken würde, als bis Samater schwor, er würde sie nicht mehr anrühren; knausrig wie sie war, würde Idil nicht das ganze Geld vergeuden, aber sie würde auch nicht wissen, wie sie den Alkohol verkaufen könnte, wenn sie es wollte. Medina fiel ein, wie leicht sie Idils
Stimmung so instrumentieren konnte, dass sie vor sich selbst lächerlich aussah, wann immer das Gespräch auf das Thema Essen und Trinken kam. Denn Medina würde einfach zugeben, dass sie mit »Fleisch und Milch der Ungläubigen« aufgewachsen war und keine andere Wahl gehabt hatte, als den Gewohnheiten zu folgen, die sie entwickelt hatte. »Wie kannst du Schweinefleisch essen oder Schnaps trinken? Hast du dabei keine Gewissensbisse?« Idil würde sich schließlich geschlagen geben. Wohingegen es zwischen Medina und Fatima bint Thabit ein Einverständnis gab, dass, solange diese verbotenen Gerichte in ihrer Abwesenheit verzehrt wurden, sie das Ganze nichts anging, was vielleicht hieß, dass Fatima bint Thabit nicht vorgab, Macht über die Entscheidungen ihrer Tochter zu haben. Medina nippte an ihrem Wein. Nasser servierte den ersten Gang. »Es schmeckt denen nicht gut, deren Essgewohnheiten privat und unveränderlich bleiben«, fuhr er fort. »In Somalia bekommen die Männer die besten Stücke vom Fleisch, Frauen die Eingeweide von Tieren und die Überbleibsel. Sie essen Tag für Tag das Gleiche und sind daher nicht erfinderisch; ihnen fehlt die gedankliche Vielfalt. Homogenität in der Gastronomie ist ein Nachteil.« »Wie meinst du das?« »Die chinesische Küche oder das, was die Leute in Indien oder im Mittelmeerraum essen, ist reichhaltiger und abwechslungsreicher als, sagen wir, die nicht weit herumgekommenen Küchen von Sambia oder Australien. Parmesankäse ist eine so große Erfindung wie Baumwollkleidung oder Seide.« »Wart mal…« »Füge eine Prise Knoblauchsalz hinzu und du veränderst die Beschaffenheit und den Geschmack dessen, was du isst.«
»Knofeliges Essen, hätte ich gedacht, haut einen um mit seinem durchdringenden Geruch und dem nachhaltigen Geschmack, macht träge und lässt einen aufstoßen. Was mich an einen Ausspruch Stendhals erinnert, dass alles schal und leblos für jemand schmeckt, der aus einer Gegend kommt, wo stark gewürzt wird.« Nasser schaute sie argwöhnisch an, denn er glaubte nicht, dass sie den Franzosen richtig zitiert hatte. Er war auch der Meinung, sie hätte ihn aus dem Zusammenhang gerissen. Er seufzte. Dann tauchte er ein Stück Brot in seine Suppe, schaffte es aber nicht, es in den Mund zu bringen, bevor nicht die Hälfte davon auf seine Hose getropft war. Medina gab ihm ihre Papierserviette. Kurz darauf war nur noch ihr Kaugeräusch zu hören, im Wechsel mit der Bewegung von Nassers Adamsapfel. Dann drehte jemand den Schlüssel in der Haustür und öffnete sie. Medina erklärte, es sei das Hausmädchen, das gerade von der Abendschule kam. Nasser erinnerte sich, dass Medina ihm geschrieben hatte, sie zahle für den Unterricht etwas dazu. »Sie ist anders als die Hausmädchen, die ich gekannt habe«, sagte Medina. »Nein, sie kommt nicht, außer wenn ich sie rufe. Sie wird direkt auf ihr Zimmer gehen und sich zum Bettgehen fertig machen.« »Aber die Arme ist womöglich hungrig.« Er hatte sich noch einen Nachschlag genommen. »Sie ist sehr zurückgezogen und leise und wird nicht hereinkommen, solange wir da sind. Wenn wir weg sind, wird sie sich wie ein Dieb in die Küche stehlen und sich bedienen, dann die Sachen wieder zudecken, so wie sie sie vorgefunden hat. Das Mädchen, das Samater und ich hatten, lärmte und lauschte gern. Obwohl wir viel Spaß mit ihm hatten.« Nasser nahm widerstrebend Platz. Er spürte, wie ihm eine Frage in die Kehle stieg, eine Frage nach Samater, nach dem
Hausmädchen, nach Idil und natürlich auch nach Medina. Da sie in ihrer Unaussprechlichkeit ohne Satzzeichen blieb, steckte die Frage in seinem Rachen und kratzte so wie die Stoppeln eines Zweitagebartes an den Nerven seines Kehlkopfs. Sein schweifender Blick fixierte Medina und er fragte sich, ob sie sein Unbehagen spürte. Sollte er warten wie die trockene und heiße Erde auf die kühle Regenzeit? Sollte er warten wie ein Kalb auf seine Mutter? Oder sollte er sie ein wenig anschubsen, ihr Gedächtnis aufrütteln und so schütteln, wie Kinder es mit einem fruchtbeladenen Zitronenbaum machen? Plötzlich räusperte er sich, als wäre eine Spur herumfliegenden Staubs in seine Kehle geraten. »Das Hausmädchen bei Samater…«, sagte er. »Was ist mit ihm?« Jemand hatte ihm gesagt, da wäre etwas zwischen dem Hausmädchen und Samater. Doch nun hatte er nicht den Mut, zu fragen, ob in dem Klatsch, den er in Rom gehört hatte, ein Körnchen Wahrheit steckte. Die Frage verharrte im fleischlosen Zustand des Unausgesprochenen. Nasser zog den Vorhang vor allem zu, das besser privat und ungeäußert blieb. »Ja, Nasser. Was ist mit Samaters Hausmädchen?« Er schwieg. Die Bühne war leer. Er konnte den Ring nicht mit einem Samater bevölkern, der sich mit Idil anlegte, von der Tradition her die Favoritin und mögliche Siegerin; eine Idil, die sich als Titelverteidigerin betrachtete; und unter den Applaudierenden sah er Sandra und den Ideologen. Runde um Runde blieb unentschieden und Medinas Abwesenheit vom Geschehen erfüllte die Luft mit Hochzeitsglocken, einem Konfettiregen und einem Fest, das zu Ehren der Titelträgerin veranstaltet wurde. Das brachte »die Fremde« an den Platz, wo »die Fremde« hingehörte; und wenn der Gast weg war, lichtete sich der Nebel des Missverständnisses. Doch was, wenn die entscheidende Konfrontation wirklich stattfand und der Sohn
die Dinge in seine Hände nahm, seine Mutter zu Boden streckte und sie dann hinauswarf? Hieß das nicht, er würde seinen Posten verlieren? Und dann? Verhaftung? Würden die Dinge wohl so ablaufen oder zeigte dies nur, dass er zu sehr für die gleichen Ängste anfällig war? Verdächtigungen und Paranoia, unter denen das ganze Land litt? Inzwischen konnte Medina das Schweigen nicht mehr ertragen und lenkte das Gespräch behutsam wieder auf die Essgewohnheiten, wobei sie sagte: »Als ich für einen Artikel zur Dürre in der Sahelzone recherchierte, hab ich alles gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte: Bücher über Unterernährung, Statistiken über die Säuglingssterblichkeit, die Politik der amerikanischen und sowjetischen Regierungen gegenüber den Millionen Hungernden in Afrika und Asien, die Taktiken der europäischen Regierungen, die Afrikas Reichtum abschöpfen, aber überhaupt nichts dazu tun, den Marionettenregimes den Ernst der Lage klarzumachen – denn bei der wirtschaftlichen Intelligenz, über die multinationale Konzerne verfügen, wäre es leicht gewesen, sie darüber zu informieren, was auf sie zukommt. Die USA verkaufen der Sowjetunion den Weizen, den die Dritte Welt braucht, zu einem untragbaren Preis, um ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten. Und denk an Natur oder Gott. Regen löst das Schlüpfen von hundertundein Insektenarten aus, von denen wir in Afrika wenig wissen. Steppentermiten konkurrieren mit Rindern und Menschen um die noch verbleibenden spärlichen Weideflächen; TsetseFliegen fallen zwei Drittel der jährlichen (potenziellen?) Produktion in Afrika zum Opfer; die Raupen der Baumwollmotte, die Sorghumsumpffliegen. Kaum unserer wissenschaftlichen Mühe wert, Insekten als Nahrung zu verwenden – die Leute in der Turkana-Senke bereiten Ameisen ihren höchsten Ehrengästen als Delikatesse zu. Wir wissen
sehr wenig über die Insekten, die Pflanzenhormone und die Rinderzecken. Offensichtlich können wir keine Lösungen finden, bis wir wissen, was und mit wem wir es zu tun haben. Die Regierungen in Amerika, Europa und in der Sowjetunion mögen die schreienden Münder mit Reis- und Milchpulver zum Schweigen bringen, aber Afrikas Unterernährung nährt die Multis und die etwa dreihundert unerforschten Insektenarten.« Sie hielt inne. Müde und bekümmert sah sie aus, wie sie den Kopf in die Hand stützte. Sie kam nur langsam auf den Punkt. »Die Hand, die füttert, hat Macht über den Gefütterten«, sagte sie. »Die Abwesenheit des einen setzt die Abwesenheit des anderen voraus. Guarda caso: Der einzige Umstand, der einer Frau in der islamischen Tradition das Recht gibt, sich von ihrem Mann zu ›scheiden‹, ist, wenn er sie und ihre Kinder nicht mit der benötigten Nahrung und Kleidung versorgen kann. Masruuf und marasho. Die Multis aus den Metropolen oder die Oligarchie des Präsidiums öffnen oder schließen die Versorgungshähne.« Eine kurze Pause. Dann: »Während des Hungers 1974/75 in Somalia zum Beispiel… Flugzeugladungen von Verhungernden aus dem Norden wurden hergebracht und zur Ansiedlung in den grüneren südlichen Regionen veranlasst. Andere wurden gezwungen, Fischer zu werden. Die Propagandamaschine der Regierung hat das ausgeschlachtet, die Nachrichten waren auf den Titelseiten etlicher internationaler Blätter, es kamen FAODelegationen, die UNESCO-Hilfsorganisation und Flugzeugladungen von Touristen. Als die Regierung so viel Geld eingeheimst hatte, wie aus dem Schüren der Hoffnungen internationaler Stiftungen und philanthropischer skandinavischer Organisationen nur herauszuschlagen war, verlor der General seine ursprüngliche Begeisterung und die
Helfer, die hierher geschickt worden waren, wurden verabschiedet. Das Ganze ist seitdem als fehlgeschlagenes Projekt abgeschrieben worden.« Wieder eine Pause. Und: »Meiner Ansicht nach hat das den General nicht nur in die Lage versetzt, mit dem Elend dieser hungernden Millionen Geld zu machen – Geld, mit dem er die Staatssicherheit finanziert hat –, sondern er hat damit auch revolutionäre Werbung gemacht. Darüber hinaus war es ihm möglich, die Widerstandsnester auszuräuchern, die vor allem im Norden stark waren. Der Hunger hat es ihm ermöglicht, Familien zu teilen, um sie zu beherrschen. Genauso wie ich mir sicher bin, dass dem sowjetischen Geheimdienst die drohende Dürre, lange bevor sie ausbrach, bewusst war, aber er hat lieber abgewartet. Für mich ist das nichts als die Fortsetzung der barbarischen Methoden, welche die Amerikaner angewandt haben, als sie in Südostasien eine Hungersnot erzeugten. Mit einem hungrigen Land lässt sich leichter von einer Position der Stärke aus verhandeln: Es ist leichter, eine Hunger leidende Familie zu beherrschen. Anzeichen für die Dürre gab es schon ab 1972. Haile Selassie nutzte den Hunger als Herrschaftsfaktor in Ogaden, Wallo, Sidamo und anderen Provinzen. Die Strategie ist immer noch die gleiche: Aushungern und herrschen.« Nasser wollte ihr noch etwas Wein einschenken, doch sie hob die Hand und schüttelte den Kopf. Aus der kurzen Pause wurde ein langes Schweigen. Er hatte nicht den Mut, ihr das Nebeneinander von Ansichten und Annahmen anzuvertrauen, mit denen sein Denken ausgestattet war. Aber vielleicht war es besser, sie ausreden zu lassen. Sie stand diesen Dingen näher als er. Er hätte nur versuchen können, ihre These leicht zu korrigieren, sie hie und da zu verbessern. Auf ihre kategorische Weise konnte es nicht gehen.
Warum hatte sie Samater verlassen? Um ihn zur Einsicht zu bringen, wie sehr er sie brauchte, würde sie warten, bis er auf allen vieren angekrochen kam. Aushungern und herrschen. Oder hatte alles mit einer Kleinigkeit angefangen, etwa indem sie ankündigte, sie wolle die Position eines Stuhls ändern, was wiederum erforderte, das Bett oder anderes Mobiliar zu verrücken, wie sie in ihrem Brief erklärt hatte? Ja, wollte sie denn immer im Mittelpunkt sein? Doch war sie nicht im Stande, aus der von ihr bezogenen Position alles zu dirigieren, und so nahmen die Ereignisse ihren eigenen Verlauf. Die ursprüngliche Kleinigkeit war geringfügig, aber grundlegend wie die Ursünde; dann kam Kain, um zu morden; und Idils Ränke verdickte sich wie Nassers Suppe. Waxaan dhuuso mooday miyaa igu noqday! Sie war die Herrin, die der Hund hinter sich herzog, während sich die Leine immer weiter dehnte. Wiederum wechselte sie das Thema. »Übrigens, möchtest du mit mir und Ubax morgen zum Feuerfest gehen?« »Wohin geht ihr?« fragte Nasser. »Wir haben vor, den Tag mit Fatima bint Thabit zu verbringen.« Es widerstrebte ihm erst, etwas zu sagen. Er zog die Augen nach oben wie eine Bogensehne, dann verengte er den Blick, als wollte er etwas anpeilen. Ein Lächeln so hell wie Margarine überzog sein Gesicht und lief bis zum Kinn hinunter, was eine besänftigende Wirkung auf seine Züge ausübte, die bei der Erwähnung des Namens ihrer Mutter erstarrt waren. »Ich plane, das Neyrusfest mit Dulman zu verbringen«, sagte er. »Ich habe vor, mit ihr über das Untergrundtheater und Geschäfte zu reden. Jedenfalls ziehe ich es vor, den ersten Tag des neuen Jahrs mit jemandem zu verbringen, an dem mir etwas liegt.«
Medina entschied, keine Frage zu riskieren. War es das Handkussritual, das er nicht ausstehen konnte? (Er hatte etwas Dahingehendes einmal erwähnt.) Der Kopf war zu neigen, wenn Fatima bint Thabits unberingte Finger zu küssen waren, und Nasser sprach oft davon, wie er sich verabscheute, wenn er das tat. Medina schaffte es, Distanz zu halten, schaffte es, mit ihrer Mutter förmlich zu bleiben, kein Verneigen, keine Berührung, kein Kuss. Ubax mochte das Handküssen auch nicht. »Dulman hat mir gesagt, dass sie dir Bänder für mich gegeben hat. Hast du Gelegenheit gehabt, sie anzuhören? Glaubst du, dass sie sich, abgesehen von ihrem künstlerischen Wert, auch verkaufen lassen?« »Dazu hab ich noch keine Gelegenheit gehabt. Sie sind im anderen Haus. Tut mir Leid, ich hab sie glatt vergessen. Vielleicht kannst du Samater aufsuchen, wenn er zurück ist, und ihn bitten, sie herzubringen oder so was.« »Ich möchte Samater jetzt noch nicht sehen.« »Es ist sowieso riskant, mit diesen Untergrundbändern zu handeln.« »Ich bin im Besitz eines ausländischen Reisepasses. Sie könnten mich lediglich ausweisen.« »Sie haben deinen Pass genauso konfisziert, wie sie die amerikanische Familie aller Rechte beraubt haben; deren Geschichte habe ich dir doch erzählt. An deiner Stelle würde ich mich auf das Schlimmste gefasst machen.« »Du brauchst nicht so pessimistisch zu sein.« Das bremste ihre Vorwärtsbewegung und gab ihren Gedanken eine andere Richtung. Sie sah betrübt aus. Kam es davon, dass sie sich an die tragische Geschichte erinnerte? Sie wirkte gebrochen und schwach und sah wie ein umgedrehter Stuhl aus, schief und hässlich. Sie ging aus der Küche.
»Das Leben ist ein Krug, den deine strampelnden Füße bei deiner Geburt zerbrechen«, lautete ein Ausspruch Nassers. »Dein ganzes Leben lang arbeitest du auf den Augenblick hin, in dem du den Krug wiederherstellen kannst. Das ist so gut wie unmöglich. Doch wenn es dir gelingt, wirst du der glücklichste Mensch auf dem Antlitz der Erde; du fügst die gezackten, rissigen Kanten deiner zerbrochenen Hälften zusammen und machst ihn wieder ganz. Wenn du Glück hast, lernst du eine andere Person kennen, deren zerbrochene Hälfte die gleichen Risse, die gleichen gezackten Ecken hat wie deiner. Du verliebst dich in dem Augenblick, in dem du dieser Person begegnest. Im Verlauf der Jahre weisen die Zacken Unterschiede in Farbe und Form auf; die zwei Hälften werden nicht mehr passen, werden beim Zusammenfügen kein Ganzes mehr ergeben. Ja, der Zeitpunkt ist gekommen, das Unausweichliche ist eingetreten, die Stunde der Trennung ist da. Jeder muss nach einer anderen Person suchen, bei der die Zacken am Krug Ähnlichkeiten aufweisen.«
Nasser liebte es, kaputte Sachen wieder ganz zu machen, ungeachtet dessen, ob sie danach noch einen Zweck erfüllten. Wenn er zum Beispiel auf einem Spaziergang einen Zweig erspähte, der vom elterlichen Baum zu fallen drohte, blieb Nasser stehen und versuchte mit hingebungsvoller Geduld herauszufinden, was noch zu machen sei. Er würde nicht eher gehen, als bis er ihn in die am wenigsten schädliche Position gebracht hatte. Er war bekannt dafür gewesen, tote Vögel zu begraben. Er kam mit einer verwilderten Katze nach Hause, die sich das Bein verletzt hatte, einem Vogel mit einem fast abgefallenen Flügel oder einem hoffnungslos kranken Tier, das in den letzten Zügen lag. Er kämpfte früher mit jedem Kind, das Hunde jagte oder mit Steinen bewarf. Doch Fatima bint
Thabit sagte: »Wenn du einen Hund angefasst hast, brauchst du gar nicht heimzukommen; Hunde sind unrein.« Eines Tages fragte er sie, warum, und ihre Antwort überraschte und schockierte ihn: »Ein Hund hat ein Stück von Adams Fuß abgebissen, deshalb haben Menschenwesen dort den Spann.« Ein zerbrochener Spiegel. Ein hinkender Vogel. Eine kranke Mutter mit Kind, von den Auswirkungen der Unterernährung geschwächt. Eines Hundes hechelnde Zunge der schmerzerfüllten Einsamkeit. Eine Katze mit feuchter Nase. »Gott ist in diesen oder ähnlichen hilflosen Geschöpfen zu finden«, pflegte er zu sagen. »Gott ist nicht in Moscheen, die schön herausgeputzt und von Wand zu Wand mit saudischen Seidengaben überzogen sind. Genauso wenig ist Er in der Kirche, auf deren sternglitzernden Kandelabern die Augen der Heiligen verweilen. Gott lebt im Sprung eines Spiegels, im gebrochenen Flügel eines Vogels. Er ist in der Lunge eines Hundes, der vor den Kindern davonläuft, die ihn zu Tode steinigen. Wir nehmen Reißaus vor den durch den Schatten dessen, was wir am meisten fürchten, verdoppelten Ängsten, nicht wahr? Wenn eine Maschine einem Arbeiter den Finger abtrennt, kannst du in diesem Finger, wenn er wieder angesetzt werden kann, Gott finden. Er ist in der Falte des verletzten Fingergelenks. Er ist in der schmerzenden Narbe der Erinnerung.« Onkel Salehs Kommentar dazu lautete: »Nasser ist ein Sammler von Kuriositäten, ob menschlich oder tierisch. Er sammelt die leeren Körperhüllen und Flügeldecken von Kakerlaken. Doch warum macht er all das? Weil er keine Freunde hat und keine gewinnen kann. In gewisser Weise gibt ihm das die Chance, seine fehlenden Teile einzusammeln.« Und er bestrafte ihn; Nasser musste hungern. Sein Onkel brachte ihm den Koran und verlangte von ihm, stundenlang bis spät in die Nacht daraus zu rezitieren. Medina stahl sich
manchmal mit Essen in sein Zimmer, Medina, die, weil sie ein Mädchen war, nie aufgefordert wurde, einen Koranvers vorzulesen, Medina, die, weil sie ein Mädchen war, in die Küche gehen durfte, ohne getadelt zu werden. (Erst viel später, als sie bei Barkhadle in Europa waren, konnten die beiden zusammen sein, wann immer sie wollten; Nasser konnte die Kuriositäten sammeln, die er wollte, und Medina konnte den Koran lesen, wenn sie Lust dazu hatte.) Doch er vertraute sich Medina an: »Wenn ich groß bin, werde ich Großvater umbringen und Mutter das Genick brechen und es nicht als Andenken aufheben; genauso wenig werde ich jemandem erlauben, es zu heilen. Oder sonst schenke ich ihr eine gebrochene Feder. Das hat sie nämlich verdient.« Was fand Nasser an all dem? Fand er Erquickung im Besänftigen eines aufgeschreckten Kindes? Fand er Trost, wenn er bei einem Hund den Nerv seines Geselligkeitstriebs traf? Sandra sagte: »Er fühlt sich überlegen, als die einzige Person, die dieses verborgene Talent hat, Dinge wieder in ihre ursprüngliche Ordnung und Beschaffenheit zu versetzen. Er hält sich für großartig, wenn er ganz im Mittelpunkt eines Spitals von Seltsamkeiten steht. Er fürchtet den kraftlosen Schrei mitten in der Nacht, den kraftlosen Schrei der hilflos Hinfälligen.« Doch Medina setzte sich auch für ihn ein, Medina, die ihn länger kannte und die ihn mehr liebte als sonst jemand. Was wussten diese Leute schon von ihm? Sie sagte: »Nasser findet den Zustand dieser Menschen, Tiere und Objekte interessant. Er sieht irgendwie eine Ähnlichkeit zwischen dem geistigen Zustand der Menschheit und dem tiefen Leid dieser Menschen oder Tiere.« Doch was war mit Fatima bint Thabit? Wie sah ihr Verhältnis zu ihm aus, da Nasser nun erwachsen war und Frau und Kind hatte? »Medina ist schwarz vor unislamischen Gedanken, aber besucht mich hin und wieder. Sie kommt und erkundigt sich
nach meinem Gesundheitszustand und ist willens, wenn ich sie darum bitte, für meine bescheidenen Bedürfnisse zu sorgen. Nasser? Weißt du, dass er mich nicht besucht hat bis kurz vor seiner Abreise, als er das letzte Mal hier war? Seine Frau, das arme Ding mit ihren Käferaugen und der sprachlosen Last eines Kindes, die Allah ihnen aufbürdete, hat genügend Mut aufgebracht, mich zu besuchen. Sie war freundlicher zu mir als er; genauso wie Samater auf seine Art sehr viel netter zu mir ist als Medina.« Nun saß Nasser im Wohnzimmer, einen Drink in der Hand, und wartete darauf, dass Medina wieder hereinkam. Diese Sorgen beschlugen die Fenster seiner Erinnerung, doch er befand sich in einem schneebedeckten Land, einem Europa, das vom Winter belagert worden war. Dann brachte ihm der Nachtwind einen Hauch von Dulmans Stimme, Dulman, seiner Lieblingssängerin, der Frau, der er sich sehr nahe fühlte und die er auf seine Art liebte. Er würde sie morgen sehen, hoffte er. Und dass sie zusammen ein Feuer aufschichten, das neue Jahr gemeinsam begrüßen würden. Dulman war eine unfruchtbare Frau, eine gebrochene Frau; sie bedurfte seiner heilenden Fähigkeiten mehr als Medina, die ihren Kopf immer noch hoch tragen konnte und die wie ein Steinbrech das Gewicht darüber gehender Füße aushielt. Medina standen zahlreiche Türen offen, wohingegen Dulman auf das Öffnen nur einer Tür wartete, einer Tür, durch die ein Kinderwagen geschoben werden konnte. Sonst war für sie nichts von Bedeutung. Nur Kinder. Ihre Geschwulste schmerzten sie nicht so sehr wie das Fehlen von Kindern in ihrem Leben. Wenig später war die Luft von Ruß durchsetzt. Medina blickte nach draußen und betrachtete eingehend und mit Hingabe die Sterne, die wie mit bedeutungsvoller Absicht hingeworfene Würfel verteilt waren. Würden die morgigen Flammen eine Erwiderung auf die Frage liefern, die nach
Medinas Verlassen von Samater alle stellten? Würden die morgigen Neujahrsfeiern Sagals Rivalinnen der Meisterschaft näher bringen? Würde das morgige Neyrus Dulman verkünden, sie würde nicht mehr unfruchtbar sein und bald ein Kind bekommen? Würde das morgige Dabshid Samaters Wurzeln mit neuer Hoffnung tränken? Würde Idil, die in den Ausläufern des verminten Geländes gebuddelt und an den gefährlichsten Stellen gegraben hatte, damit durchkommen? Würde die sechzehnjährige Überlebende der Somali-Amerikaner ohne Komplexe aufwachsen, würde sie sich leicht wie Hobelspäne fühlen, den Wind leiten wie ein Sternenbanner? Nasser lauschte den heftigen Lauten der Nacht draußen. Er gestand sich nicht ein, dass er eine vage Ähnlichkeit zwischen seinem Fall und dem der Somali-Amerikaner sah. Da er seinen Pass dem Einwanderungsbeamten ausgehändigt hatte, würde er nun auch, wenn er in ein paar Tagen aufs Amt ging, gesagt bekommen, es würden ihm somalische Reisedokumente ausgestellt werden? Irgendwie zweifelte er daran, dass dies passieren würde. Und so tranken sie schweigend ihre Drinks, ihre Gedanken erhellt vom Freudenfeuer der Hoffnung, welche die Neujahrsfeiern allen bringen sollte.
TEIL ZWEI Ich gleiche dem Halbmond: Mein Becher ist nicht voll Moamed Iqbal Wenn das Brot karg ist, herrscht Hunger. Wenn das Brot schlecht ist, herrscht Unzufriedenheit Bertolt Brecht
6
Eine Galaxie verglühter Sterne im Entschwinden. Ein Niederschlag der Tränen des Tages in Rauch, Aschetränen auf das gerade beendete Jahr gesprenkelt. Der Jahressegen brachte sich zum Ausdruck in Ascheglut – leicht wie totes Laub – die wie Staub auf und ab schwebte und sich herabsenkte wie die Dämmerung. Ebla hatte Sagal und ihrer Freundin Amina, bevor sie in ihren Laden ging, vorgeschlagen, einen Eimer mit Wasser in Reichweite bereit zu halten, falls das Feuer so wie das der Nachbarin außer Kontrolle geriet. Es war nicht nötig, sie daran zu erinnern, was mit dem Kind der Nachbarin und der Strohhütte geschehen war. Die Nachricht hatte sich rascher verbreitet als die Flammen, die das Kind und die Hütte in Asche so pulverig wie Talkum verwandelt hatte; die Nachricht hatte sich schneller verbreitet als der Wind, der Jagd auf den Teufel in den Flammen machte, ihn aber nicht erwischte. Sagal zweifelte jedoch daran, ob das Kind noch eine Jahreszeit überlebt hätte, wenn es nicht im Feuer gestorben wäre. Es war ein armes kleines Mädchen gewesen, sehr knochig, das schon vor seinem ersten Lebensjahr an allen Unterernährungskrankheiten gelitten hatte. Sein ganzes Leben lang war es krank gewesen und hatte keinen Tag gekannt, an dem es sich nicht erbrochen, nicht an Durchfall gelitten, nicht gehustet hatte. Wenn es nicht hustete, hatte es Krankheiten, für die seine Mutter keinen Namen wusste. Kwaschiorkor. Xerophthalmie. Bronchopneumonie. Sagal hatte des Öfteren mit der Mutter gesprochen, sie zu überzeugen versucht, das kleine Mädchen in ein Krankenhaus zu bringen. Die Frau sagte, sie habe nicht das Geld, um Milch für ihr Kind zu
kaufen, keine Milch und kein Essen – wie konnte sie da von Medizin reden? Käme das Essen vor der Milch und die Medizin noch vor den beiden? Natürlich. Doch nun riss der Tod des Kindes Löcher in Sagals Herz, Löcher so klein wie die von Maden in brauner Hirse. Ein junges Feuer ausgelöscht… und das alte noch nicht. »Wie alt war sie?« fragte Amina. »Noch keine eineinhalb Jahre. Vielleicht ein Jahr und vier Monate. Ihr Alter ließ sich nicht schätzen, weil Unterernährung ihren Körper verunstaltet hatte und sie so klein war.« »Das erste Jahr ist entscheidend. Der Tod wartet an jeder Ecke auf Kinder und springt sie an. Dreihunderttausend Kinder jedes Jahr. Das ist eine Menge für ein Land mit einer Bevölkerung von weniger als vier Millionen. Armes Somalia!« »Aber dieses eine starb, weil die dumme Mutter es allein in der Hütte ließ und die Tür verriegelte, ohne jemandem zu sagen, dass das Kind drinnen war.« »Es wäre vor seinem zweiten Geburtstag an Masern, TBC, Skorbut oder Pellagra gestorben. Was macht das für einen Unterschied? Wohin ist ihre Mutter eigentlich gegangen?« »Während das Haus brannte, so hat mir jemand erzählt, stand die Mutter in einer langen Schlange, um ein Kilo Fleisch und eines mit Reis zu besorgen, damit sie eine Mahlzeit für ihren Mann kochen konnte, der sie benachrichtigt hatte, er würde zum Essen kommen. Warte mit deinen Kommentaren bitte, bis du die ganze Geschichte gehört hast.« »Dann mach weiter.« »Ihr Mann, den sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte, hatte sich zum Essen eingeladen. Darüber ganz aus dem Häuschen, ging sie weg und stellte sich in dieser langen Schlange an. Sie stand womöglich unter dem Eindruck, dass sie sich versöhnen würden, sobald sie sich wieder begegneten, dass sie zu einem Kompromiss kommen würden.«
»Dumme Frau«, sagte Amina. »Wie konnte sie in der Schlange stehen und das Kind einfach so zurücklassen?« »Du stehst nicht an, genauso wenig Medina, also erspar dir deine naiven Kommentare. Natürlich müssen das weder ich noch Ebla. Wir gehören zur Privilegenzija, auf die eine oder andere Art.« Sagal schaute weg und blickte auf das Feuer, dessen glühendes Grinsen das neue Jahr willkommen hieß. Kurz darauf schweiften ihre Augen ab und verweilten dann auf einer staubigen Kreuzung, wo Amina an einer Einmündung ihren Wagen geparkt hatte. Ihre Gedanken: die flammende Linie eines Blitzes in dunkler Nacht; sie erinnerte sich an zwei Nächte so unterschiedlich wie zwei Versionen einer Anekdote. Im Gefild einer dieser Nächte lag ein ferner Donnerton in der Luft; geflüsterte Verschwörungen; Hosen werden herabgelassen, Schuhbändel werden gewaltsam gelöst und Blut ist zu sehen, es riecht nach Vergewaltigung. Im Hintergrund der anderen Nacht Dinge, die sich so unmerklich wie Termiten bewegen, die sich an der Zerstörung eines Fundaments laben; hier ist die Szenerie vergnüglicher, eine Party ist im Gang, es ist spät, die Nacht ist vorangeschritten und einige Paare liegen, vom Schweiß frühmorgendlicher Lust getränkt, am Boden. Die Heldin dieser Anekdote kennt nicht den Nachnamen des Mannes, es kümmert sie aber auch nicht. Die erste Nacht säte zwei Sternenkeime ins Himmelszelt; die Ernte erfolgt spät, der Himmel ist klar wie ein Teich, der Mond reflektiert wie ein Spiegel. Die Heldinnen der zwei Nächte sind jung wie die Wolken, die sich am Morgen um die gerade geborene Sonne schlingen werden. Zwei Nächte, eine schon sehr lange vergangen, die andere erst weniger als vier Wochen her. Die Heldinnen: Amina und Sagal! »Und meine Mutter Ebla nervt mich andauernd, sagt, ich muss ihr ein Kind schenken. Was hat ein jetzt geborenes Kind
für eine Zukunft unter der Schirmherrschaft des Generals, Vater der Nation, Generalaufseher dieses Gefängnisses – was für eine Zukunft?« Amina schwieg. Es war wohl eine schlechte Idee von Sagal, frivol und leichtfertig über so etwas zu reden, denn Amina trug lange Zeit ein säuerliches Grinsen zur Schau und sah schrecklich unglücklich drein. Es war bedauerlich, dass sie ihre Freundin unglücklich gemacht hatte. Um es wieder gutzumachen, entschied Sagal, Amina in ihre Hauptsorge einzuweihen, dass sie, nachdem sie mit diesem Mann – wie hieß er noch? Wentworth George – geschlafen hatte… nun ja, raus mit der Wahrheit, wahrscheinlich schwanger war. Ihr fiel etwas ein, was Ebla einmal über die Widerstandspolitik gesagt hatte: dass die Schwachen, um die Mächtigen zu bestrafen, ihre eigenen Aktivitäten untergraben, dämliche Fehler begehen und letztendlich, wenn sie nicht genug aufpassen, ihre eigenen Opfer werden. Demgemäß nahm es Sagal auf sich, Wentworth George für ihr Lager zu rekrutieren. Es war ihr in den Sinn gekommen, dass sie sich damit Medinas und Aminas Bewunderung und Achtung zuziehen würde. Sie hatte gehofft, im Erfolgsfall ein wohlmeinendes Schulterklopfen, einen Schlag mit allen fünfen, wie unter Afroamerikanern üblich, und ein Sag-bloß-wie-du-das-gemacht-hast zu erhalten! Nun jedoch hatte sie keinen Zweifel mehr, dass es dazu nicht kommen würde. Der Mann war anscheinend sehr oft in Gesellschaft des Feindes gesehen worden. Es ging das Gerücht, dass er es mit seiner selbständigen Tätigkeit zu einer Veröffentlichung in der Tageszeitung gebracht hatte. Nicht nur das, der Mann war häufig in Gesellschaft des Ideologen und Sandras und daher deren Freund geworden. Wenn Sagal entweder Medina oder Amina von ihrer misslichen Lage berichtete, würde sie ihnen wahrscheinlich bloß einen lang gezogenen Seufzer entlocken. Ja, das war wahrscheinlicher.
Sie würde von ihnen zusätzlich noch ein Du-dummes-kleinesDing, ein Warum-hast-du-das-getan sowie einen herzzerreißend mitleidigen Blick erhalten und ein Schweigen ernten, das wie der Sack eines Zauberers angefüllt war mit Schlüsseln zu himmlischen Geheimnissen und Lösungen zu dem vorliegenden Problem. »Geht es dir gut, Sagal?« fragte Amina. »Ja. Wieso?« »Mir schaust du gar nicht gut aus. Deine gequälte Miene verrät dich.« Kein Kommentar von Sagal. Die Dorfkinder waren näher an Aminas und Sagals Feuer gerückt, es war lauter als vorher. Einige Mädchen zogen Linien in den staubigen Boden und fingen an, untereinander zu wetteifern, wer am weitesten springen oder mehr Quadrate überhüpfen konnte, ohne mit beiden Füßen den Boden zu berühren. Die Jungen, die davon ausgeschlossen waren, begannen ihrerseits im staubigen Hof in der Nähe Fußball zu spielen. Andere kleinere Mädchen kauerten am Boden und spielten shanlax. Kinderspiele, Kinderweisheit und Worträtsel, auf die Erwachsene keine Antworten hatten. Volkssagen, die das Universum zu einem der Liebe, der Logik und des Verstehens würdigen Ort machten. Warum hat sich der Löwe mit der Hyäne überworfen? Lieder. Märchen. Kabacalaf und Huryo. Dhagdheer. Schauen und lauschen. Andere Mädchen wiederum sangen einen Kindervers… Guun guun, Guun saar! Tan mahee, Teeda kale keen! Das Märchenland der Kindheit, aus dem Ubax wohl ausgeschlossen war – vielleicht auch nicht, dachte Sagal. War sie das denn wirklich? Sie hatte keine Zeit, das zu beantworten, denn Amina sprach: »Du hast also beschlossen, für die Schwimmmeisterschaft zu trainieren. Habe ich es auch richtig mitbekommen, dass du schon zweimal im Orientierungszentrum warst? Wie geht es
dir damit? Und wie schätzt du dich selbst ein? Ich meine, wie stehen deine Chancen auf den Sieg? Was ist mit Cadar und Hindiya, die als Zweite und Dritte gesetzt sind?« Sagals Augen waren so starr wie die eines Denkmals. Eine sehr lange Pause. Wie waren ihre Chancen? Hing das nicht davon ab, ob sie schwanger war oder nicht, hing es nicht letztlich von ihrer Gemütsverfassung ab? Ihre Chancen waren mager. Doch konnte sie das ihrer Freundin sagen? Konnte sie Amina sagen, dass sie schwer beeindruckt gewesen war, als sie heute morgen mit Cadar und Hindiya trainierte? Sie war so beeindruckt gewesen, dass sie dachte, sie hätten als Erste und Zweite und sie selbst als Dritte gesetzt werden sollen. Konnte sie es sich leisten, Amina gegenüber aufrichtig zu sein? Nun? In dem Fall sollte sie es Ebla und Medina mitteilen, sollte ihnen von ihrer misslichen Lage berichten. Während Amina auf Antwort wartete, geschah etwas, das die Aufmerksamkeit aller auf sich zog: Eine weitere Strohhütte in der Nachtbarschaft stand in Flammen. Alle Kinder rannten in die Richtung, aus welcher das Prasseln kam. Das gab Sagal Gelegenheit, der Frage auszuweichen. Sie entschied, das Gespräch ganz allgemein auf Häuser zu lenken, die nach einer Brandstiftung in Flammen aufgingen. »Hast du gewusst, dass es eine familiäre Verschwörung gegeben hat, den Hausflügel abzufackeln, in dem Medina auf die Welt kam? Medina, eben erst geboren, ist in diesem Feuer beinahe umgekommen. Es wird vermutet, dass ihr Großvater hinter der Verschwörung steckte. Hat dir das Medina je erzählt?« »Ich weiß.« »Hast du auch gewusst, dass Nassers Geburt von einem Hochwasser begrüßt wurde?«
»Die Überschwemmung ist elementarer Natur; das Feuer mag verschwörerisch gewesen sein.« Amina verstummte wie ein gerade erst ins Bett gestecktes Kind. Und Sagal fuhr fort: »Zum Beispiel: Wer hat das Giuba Hotel niedergebrannt? Wer hat die zehntausend Doppelzentner Zucker im Fabriklager in Brand gesteckt? Die Staatssicherheit? Der Verwalter der Jowhar-Zuckerfabrik, weil seine Buchhaltung zu Recht nicht für die Veruntreuung von Regierungsgeldern einstehen wollte?« Schweigen. Dann leuchteten Aminas Augen wie eine Laterne. »Es hat alles mit diesem mythischen Diebstahl begonnen, nicht wahr?« sagte sie. »Wie bitte?« »Prometheus, Zeus’ Rivale, der eine glühende Kohle stahl und den Sterblichen beibrachte, damit umzugehen. Die Verschwörungen prometheischer Größe; da wird einem die Leber herausgerissen und den Geiern vorgeworfen.« Das Fenster von Sagals Gedächtnis blieb beschlagen; sie konnte sich nicht mehr erinnern, was sie im Sinn gehabt hatte, als sie das Gespräch auf »Brandstiftung« lenkte, auf Medinas Großvater oder den Brand des Giuba. Prometheus, Zeus’ Rivale, der Feuerdieb, der Halbgott, der großzügig genug war, den Menschen die Geheimnisse und die Macht des Feuers anzuvertrauen. Das ist es: die Macht! Nun: »Der Unteroffizier ist als Chauffeur fest angestellt worden. Er fährt den Mercedes eines Mannes, der in der Partei für schrecklich wichtig gehalten wird. Der Unteroffizier sitzt am Steuer der Macht. Er ist in dieses Dorf ein- oder zweimal gekommen, um eine Schau abzuziehen, um den Kindern im Dorf das Wunderwerk der Technologie des zwanzigsten Jahrhunderts vorzuführen. Die Kinder waren ganz aus dem Häuschen. Sie vergessen, dass sie ihn als Unteroffizier
kannten, der ein Armeefahrzeug fuhr, russischer Bauart und auch sehr verbeult.« »Am Eingang zum Palast der Macht steht ein Unteroffizier in Habachtstellung und tritt beiseite, wenn der Feuerschlucker vorbeigeht und wenn der Laternenträger hindurchgeht. Meinst du das?« Erst nickte sie. Dann: »Die Tachonadel der Macht erwacht zum Leben; sie zeigt auf eine dreistellige Zahl, gewinnt an Fahrt, die Spitze gibt stetig den Zählerstand an; die Zahl wird vierstellig; das Gaspedal pumpt neue Energie hinein und lässt das Blut des Thermometers immer höher steigen. Doch weder der Parteibonze noch der fest angestellte Chauffeur kann die elektronischen Anzeigen des Mercedes lesen; sie verstehen auch nicht die Bedeutung der Zahlen auf dem Tacho.« »Auf was steuerst du eigentlich zu, Sagal?« »Die Privilegien des fest angestellten Chauffeurs sind zahlreich. Er wohnt im Personalflügel des Parteibonzen, der eine rote Lebensmittelkarte bekommen hat, die den Träger davon befreit, sich um ein Kilo Zucker, Fleisch oder Öl anstellen zu müssen.« »Was hat der Unteroffizier mit der roten Lebensmittelkarte gemacht?« »Er hat sie seiner eben erst angelachten Geliebten gegeben. Die Ironien des Lebens spielen einem willkürliche Streiche, nicht wahr? Und da gibt es noch die andere, schlimme Seite der Geschichte, die Version, nach der die Frau, als sie gehört hat, dass ihr Gemahl, der Unteroffizier, die rote Lebensmittelkarte seiner eben erst angelachten Geliebten gegeben hat, beschließt, hinzugehen, sich in eine lange Schlange einzureihen und zuvor Haus und Kind in Brand zu setzen. Na ja, es heißt, sie ist da in dieser Schlange so lang wie
der Tod gestanden, wobei sie wusste, dass das Kind drinnen war.« »Das arme Kind!« »Jedenfalls hat sie ein Vorhängeschloss an der Tür angebracht und niemandem gesagt, dass das Kind drinnen war. Was sie immer getan hat, wenn sie wegging, um etwas zu besorgen.« »Das glaub ich nicht.« Das Feuer strahlte immer noch Wärme aus, wenn auch nicht mehr so lebhaft. Die Asche hatte sich in einem Haufen gesammelt und lag an der Seite; an den Rändern hatten sich Rillen wie Jahresringe gebildet. »Wer ist arm? Das Kind oder die Eltern? Die Stammesoligarchie hat die Frau nicht nur ihres Mannes beraubt, sondern ihr auch alle Überlebensmöglichkeiten verweigert. Und der Mann? Das Regime hat ihn zu jemand ohne Würde oder Integrität degradiert. Und red mir nicht von der Feuerwehr. Was ist das für eine Feuerwehr, wenn die Wache zehn Meilen oder mehr von allem entfernt ist?« »Eine prometheische Intervention ist in Ordnung!« Schweigen. Sagal dachte sich: Wir sind die Borke, die ein Baum abgeworfen hat und kein anderer tragen kann. Dann begann der Wind ihrer Fantasie alles so heftig durchzuschütteln, dass sie sich vorkam wie der Zweig eines Baumes. Da: die verwilderten Felder einer Zukunft tauchten hinter den grüneren Gevierten anderer auf. Und in dieser Zukunft der Zukünfte hatte sie ein Kind, ein Kind aus ihrem eigenen Fleisch und Blut, ein Kind so süß und reizend, dass sie an Ubax erinnert wurde. Ihr Geist streute weiter Samen aufs Feld und (welch angenehme Überraschung!) erntete eine Zukunft der Wonne. Anders als ihre Freundin Amina, die immer davon träumte, die Insel des Glücks für sich alleine zu haben, wollte Sagal unter genau den Leuten sein, die ihre
Unglücksinsel hervorgebracht hatten; sie wollte auch die Nähe Medinas, Eblas und ihrer engen Freundin Amina. Hatte sie nicht immer gesagt, sie würde kein Kind wollen, sie würde sich nicht dazu herablassen, irgendetwas mit Kinderkriegen zu tun zu haben? Aber das hatte ihre Mutter auch. Und als sie Sagal auf die Welt brachte, war sie nicht sicher, von wem sie war. Was war mit ihrer Zukunft als Schwimmerin? Was mit ihrer Zukunft irgendwo? Würde sie der Natur, ihrem Ehrgeiz, ihren Bedürfnissen die Stirn bieten? Würde sie wie Amina ein Kind bekommen, um dem Gewissen der Nation Schuldgefühl einzuimpfen? Nun schien ihre Zukunft sich vom Rest abzusetzen; sie bot sich dar so gewaltig wie Ehrgeiz, so riesig wie ein geträumter Wunsch, aber auch wie noch nicht gelieferte versprochene Güter. Sie erzählte sich ihre Geschichte – her story, nicht history! Eine Frau ließ sich ohne die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen eines Nachts mit einem Mann ein, dem sie vor diesem Abend noch nicht begegnet war. Und dann? Danach kam eine zögernde Pause. War der Brunnen ihrer Fantasie ausgetrocknet? Warum machte sie nicht weiter? Ihr Double sagte ihrem anderen Double, sie sollte nicht beurteilen, sondern erzählen; sicherlich sollte sie nicht der Vernunft oder dem Akt selbst die Schuld geben, denn beide waren für sich genommen edel. Wem sollte sie dann die Schuld geben? Sie hatte vor, einer Sache zu dienen. Es war bedauerlich, dass es die falsche Nacht war; oder dass ihre Konstitution den Fluss des Lebens anhielt; oder dass dies alles wiederum die Wasser ihrer Zukunft aufgewühlt hatte; oder dass sie die Hoffnung und das Vertrauen verraten hatte, die andere, ihr Nahestehende in sie investiert hatten. Sie hatte sich verrechnet, das war alles. Sie bemerkte, dass Amina aufgestanden war und einem kleinen Kind zuwinkte, es anlächelte wie eine zu Besuch
weilende Königin ihre Vasallen. Aminas leutselige Miene war herablassend und ihre winkende Hand, ihr Verhalten ließen auf ein mit Herablassung gekoppeltes Zögern schließen. Ein Blick auf das Kind gab Sagal die Gewissheit, dass sie die gerade geschmiedete Beziehung zwischen Amina und dem neu angekommenen Kind richtig verstanden hatte. Ein Gedanke: War es nicht Nietzsche, der von der Kindheit als dem tragischen Tor gesprochen hatte, durch das jeder Erwachsene gegangen ist? Somalis sagen, jedes ausgewachsene Kamel war einmal ein zweijähriges Kleinkind. Ist die Tragödie grundlegend für das Herauswachsen aus der eigenen Kindheit? Dann schaute sie auf das Feuer, das, wie sie bemerkte, verfrüht erlöschen würde, wenn nicht Brennholz nachgelegt wurde. Die Asche war grauer geworden. Die Sonne hatte mittlerweile begonnen, sich mit einer Aura aus Helligkeit zu krönen; sie umgab sich mit einer Wolkenschar. »Sollen wir reingehen?« fragte Amina. Doch sie wartete nicht, dass Sagal etwas sagte. Amina sammelte einige Sachen ein, welche die beiden herausgebracht hatten, und ging hinein. Inzwischen leerte Sagal einen Eimer Wasser auf das Feuer, tötete es, damit es nicht ein weiteres junges Leben forderte. Sie gingen nach drinnen und ließen ein Aschebett hinter sich, auf dem der Geist des geschlachteten Jahres lag. Sagal entschied, Amina nichts von der Sorge zu sagen, mit der sie aufgewacht war: Dass ihre Periode ausbleiben würde. Sie nahm ein Soda aus dem Kühlschrank und reichte es Amina, die an der Kante des Bettes saß, auf das sie sich selbst legte. Das ungemachte Bett störte Amina, weshalb sie vorschlug, es in Ordnung zu bringen, während Sagal etwas Musik auflegte. Sie hörten sich John Coltrane an, ohne zu sprechen. Coltrane. Cabral. Standfotos aus Lucia. Doch keine dachte an ferne Revolutionen oder Filme. Sagal dachte an das
kleine Mädchen, das in Gestalt des traurigen Bildes einer beraubten Mutter zu ihr kam, die am Grab ihrer toten Tochter kniete. Sie sagte sich ein Gedicht des kurdischen Dichters AlZahawi auf, die traurige Klage einer Mutter über den Tod ihres kleinen Engels. In den ersten Versen des Gedichts weiß die Tochter nicht, warum sie auf dieser Welt ist, warum sie überhaupt in diese freudlose Welt gekommen ist; in den letzten Versen weiß sie nicht, warum sie diese verlässt, als wäre sie ein Eindringling. Ein kleines Wesen, rittlings über fden Brücken geboren, die Leben und Tod verbinden; ein kleines Wesen, das nicht gekommen ist, um zu bleiben. Ein abiku! Amina? Amina dachte an ein Geheimnis – ja, ein Geheimnis, das mit dem Schreiben an Wände und einer Razzia zu tun hatte. »Coltrane ist ein so wunderbarer Poet, nicht wahr?« sagte Amina. »Ja«, nickte sie. Ihre Gedanken trieben dahin wie Holz auf einem Bach. Ein weiterer Poet, diesmal ein einheimischer: Abdi Qays, einer von Somalias glänzendsten lebenden Dichtern, der Lobespsalmen auf seine Tochter singt, der er ein Versprechen gibt: ihr ein Liebesschloss zu bauen. Weiter die Straße entlang hob Sagals Gedächtnis den Namen von Nur Ali Qonof auf und ließ ihn gleich wieder fallen. Die Schönheit der Unschuld, die Wahrheit dieser Schönheit. Stell dir vor, wie harmlos: Mädchen, deren Knöchelschmuck an ihren laufenden Füßen wie Glöckchen läutet. Das fragliche Gedicht war von Tagore. Dann Yeats’ Gedicht ›Gebet für meine Tochter‹, das Medina ins Somalische übersetzt hatte. Und im Palast ihres Poesiegedächtnisses? Da sah sie kleine Mädchen, plappernd vor Glück, die das Herz der Welt im strahlenden Lächeln ihrer Zähne hielten. Doch wenn diese harmlosen Wesen größer wurden, wenn das kurdische, das bengalische, das irische oder
somalische Mädchen zur Frau heranwuchsen – was wäre ihr Los? In Somalia würden fünfzehn Prozent von ihnen nicht ihren ersten Geburtstag feiern können. War das die Tragödie, von der Nietzsche sprach? Und was, wenn sie überlebten? Mit acht werden sie beschnitten; mit achtzehn oder schon bevor sie fünfzehn sind, werden sie in die Sklaverei verkauft. Dann erwartet sie eine weitere barbarisch schmerzhafte ReInfibulation. Wenn sie gute Musliminnen sind, kommen sie in den Himmel, wo Allah ihnen ihre übliche Aufgabe zuweisen wird – die Männer zu bedienen! Sie werden Huris werden, deren Geschäft darin besteht, die Männer im Himmel zu unterhalten. Doch was wäre mit dem kurdischen, dem bengalischen und dem irischen Mädchen? Im jungen Alter würden sie wahrscheinlich quirlig wie ein Wasserfall bleiben, doch wenn sie zu Frauen heranwuchsen… »Von Opferfeuern und -mythen, hast du das gewusst?« sagte Amina gerade. »Was?« »Dass es die zwei Lippen der Vulva einer Frau waren…« »Mach weiter, ich höre zu.« »Ja, dass in diesem Schlitz zwei Stecken gegeneinander gerieben wurden und die Reibung das erste Feuer erzeugt hat. Deshalb verbrennen sich Hindufrauen auf dem Scheiterhaufen.« Sie verstummten. Sagal wusste, das es die falsche Version des Hindumythos war, aber ihr lag nichts daran, ihn zu korrigieren. Durchs offene Fenster konnte sie die Sonne über den blauen Himmel reisen sehen. Amina war nun eingetaucht in die Gewässer ihres überfluteten Hirns und sagte zu sich: Ich komme von gestern; ich habe eine Grenze überwunden und bin in einem Land ohne Wiederkehr angekommen. Ja, ich komme von gestern. Ihre Zunge stolperte nicht über die mangelnde Logik ihrer Feststellung. Ihre Vergangenheit war eine große
Reisetasche, in die alles geworfen wurde, was sie nicht tragen konnte. Nun erhoben sich aus der Öffnung die Geister der drei Männer, die sie vergewaltigt hatten, obwohl genau genommen, wann immer sie an sie dachte, ihre drei Gesichter zu einem verschmolzen, dessen Augen auf die Wunde starrten, die er und die anderen ihr zugefügt hatten. Dann der Schnitt, die Messer, das Blut auf ihren Schenkeln… ihre Lippen zitterten, als sie sah, wie die Männer ihre Hosen aufknöpften. Die Vergewaltiger hatten Namen und sie kannte sie, sie flehte sie deshalb an, bettelte: »Bitte nicht, ich bin nicht er und auch nicht mein Vater…« Doch welcher Schmerz, welcher Schmerz, welcher Schmerz! Sie war noch Jungfrau gewesen, sie war beschnitten worden… welcher Schmerz, welcher Schmerz! »Wir tun das nicht dir an, sondern deinem Vater«, hatte einer von ihnen ihr gesagt, derjenige, der in dieselbe Schule wie sie gegangen war, der jüngste der drei. »Nicht dir, deinem Vater.« Der Rest der traurigen Geschichte ist mit Blut befleckt, Dracularot, Blut an ihren Beinen, ein Messer neben ihr, und Schmerzen, was für Schmerzen! Sie wechselten sich ab. Das obszöne Blut der Vergewaltigung beschmutzte ihre halb herabgelassenen Hosen, dann der Geruch nach Morgendämmerung und Übelkeit. »Wir tun das deinem Vater an. Sag ihm das.« Stunden später fand eine junge Schäferin sie. Inzwischen hatte die Sonne den Morgentau getrocknet. Die Schäferin ging Hilfe holen. »Wessen Tochter bist du?« fragten die Dorfbewohner. Sie sagte ihnen den Namen ihres Vaters. Die zwei Männer verdrehten verwundert die Augen. Sie informierten ihre Leute. Darauf scharten sich die Männer zusammen und flüsterten miteinander. Sie entschieden, nichts mit der Tochter dieses großen Verschwörers zu tun haben zu wollen. »Weißt du, wie viele unschuldige Männer unseres Clans dein Vater ins Gefängnis geschickt hat, wie viele er zum Tode verurteilt hat und wie viele seine Männer gefoltert
haben?« sagte einer von ihnen. Die Männer gingen weg. Sie hatte nicht die Kraft, um Hilfe zu bitten. Sie blieb dort liegen, wo sie vergewaltigt worden war, und ihre Zunge leckte nur mit Mühe über ihre ausgedörrten, schmerzenden Lippen. Dann kam eine ältere Frau in Begleitung etlicher anderer Frauen her. Die Frauen missachteten die Anweisungen der Männer: Sie trugen sie weg, wuschen sie und gaben ihr zu essen. Als sie fragten, ob sie die Männer kannte, die sie vergewaltigt hatten, log Amina und sagte, das wisse sie nicht. Die ältere Frau sagte: »Die Schmerzen gehören uns, Fett, Reichtum und Macht gehören den Männern. Ich bin sicher, dein Vater wird nichts begreifen – aber deine Mutter.« Die Frauen brachten sie zu einem Bus, der zurück nach Mogadischu fuhr. Die Stadt war schockiert. Dann die verfahrene Situation… das politische Dilemma: Welches weitere Vorgehen stand ihr offen? Das war eine selbstmörderische Provokation von drei jungen Männern, dem General im Ring gegenüberzutreten. Ja, die Implikationen waren viel zu groß: Die Leute würden etwas erfahren, sie würden reden; vielleicht würden andere in etwa das Gleiche versuchen, vielleicht würde die Regierung erpresst und würden Lösegelder gefordert werden. Und all das Aufsehen, allein der Gedanke, was die Öffentlichkeit alles erfahren würde. »Die Vergewaltigung ist politisch«, hatte ihr Vater geschlossen. »Aber welche Vergewaltigung ist das nicht?« hatte Amina trotzig dagegengehalten. Denn inzwischen hatte Medina ihr eine Ausgabe von Susan Brownmillers Gegen unseren Willen besorgt; inzwischen hatte Medina ihr Fanon, Richard Wright und Eldridge Cleaver zu lesen gegeben. Doch ihr Vater hatte strikte Anweisungen: »Der Fall deiner Tochter«, sagte der General, »muss isoliert werden; er muss so behandelt werden, als fehle ihm jede politische Bedeutung; es muss so getan werden, als hätte er keinerlei politische Implikationen.« Ihr Vater, ein Major und Kabinettsmitglied, hatte keine Wahl, als
den Anweisungen des Generals Folge zu leisten. Loyalität der Revolution gegenüber. Er würde es für den guten Namen der Revolution tun. Er rief Amina und sagte ihr: »Wir werden dir ein Ticket geben, wohin du auch willst, und dir ein Studium überall auf der Welt bezahlen. Das ist das Beste, was uns im Moment einfällt. In ein paar Monaten werden die Leute das sowieso vergessen haben.« Das schockierte sie. »Was vergessen? Was werden die Leute vergessen?« »Dass du großes Pech gehabt hast. Die Leute werden die Schande vergessen, die dir widerfahren ist.« »Die Leute? Wen kümmern die schon? Und wer ist dieses ›Wir‹? Du und Mutter?« »Nein. Der General und ich. Ich hab mit deiner Mutter noch nicht gesprochen. Ich hab mit dem General gesprochen. Seine Anweisungen sind eindeutig: kein Aufsehen, kein Skandal.« »Wo sind sie? Weiß der General, wo sie sind?« fragte sie. »Wer?« »Die drei Männer, die mich vergewaltigt haben. Wo sind sie?« »Einer von ihnen ist in Haft.« »Einer? Nur einer in Haft? Wo sind die anderen zwei?« »Wir dachten, wir könnten nicht drei Männer wegen Vergewaltigung verhaften. Das würde vor Gericht nicht durchgehen. Und wir haben es getan, um den Skandal herunterzuspielen. Deshalb haben wir zwei laufen lassen.« »Ja, ja, aber wo sind sie?« »Sie werden inzwischen die Grenze nach Kenia überschritten haben, glaube ich.« »Und du meinst, das wird in ein paar Monaten alles vergessen sein? Das denkt ihr, du und der General? Ihr unterschätzt mich, Vater, aber wirklich. Ist dir klar, dass ihr
zwei Männer, die mich vergewaltigt haben, ungestraft habt davonkommen lassen?« »In diesem Land ist Vergewaltigung nicht in der Weise strafbar wie andere Gewalttaten. Der typische Kompromiss, der üblicherweise erzielt wird, besteht darin, dass der Vergewaltiger sein Opfer heiratet, ihre Hand in Anwesenheit der Ältesten aus seinem und ihrem Clan zur Ehe annimmt. Ich bin sicher, du möchtest nicht alle drei heiraten, ich bin sicher, du würdest nicht mal den einen heiraten wollen, der im Gefängnis sitzt. Deshalb schlagen wir vor, dass du das Land verlässt und das schändliche Unglück hinter dir lässt.« »Ich brauche Zeit, um darüber nachzudenken.« Amina beriet sich mit ihren engsten Freundinnen, nämlich Sagal, Medina und Ebla. Ihr Vater ging wegen weiterer Anweisungen wieder zum General. Ein Monat verstrich. Es gab neue Entwicklungen: Amina war schwanger und der dritte Mann war freigelassen worden. Um den Skandal weiter einzugrenzen, richtete es die Regierung für ihn so ein, dass er mit einem schon bezahlten Ticket von Hargeisa über Aden nach Rom gelangen konnte. Nicht viel Fortschritt an Aminas Front. Eines Tages sagte Ebla: »Du bist schwanger. Du brauchst keine Rechtsberatung, wenn du das Kind behalten willst. Doch erst musst du entscheiden, was du machen willst. Wenn du willst, kannst du bei uns einziehen.« »Es scheint mir, dass diese Männer es darauf angelegt hatten, sich auf eine selbstmörderische Mission einzulassen«, sagte Amina, die Stimme von charakteristischem Kummer gesättigt. »Doch sie haben nicht nur überlebt, sondern sind auch noch gut damit gefahren. Ich verspreche, ich werde es ihnen nicht leicht machen, das zu vergessen, was sie mir angetan haben.« »Das Angebot steht. Du kannst bei uns einziehen. Wann du willst.«
»Danke, du warst sehr hilfreich«, sagte Amina. »Jetzt geh und rede mit deinem Vater. Denk dran: Wir stehen zu dir, komme was will.« Sie ging zu ihrem Vater. Er wollte gerade gehen, zögerte aber, und sie nutzte diesen Augenblick der Unentschiedenheit. Sie wusste, er würde nichts Entscheidendes sagen, bevor er sich nicht mit dem General abgesprochen hatte. Sie teilte ihm mit, dass sie schwanger sei, und fügte hinzu: »Nicht du oder meine Mutter tragen dieses Kind. Es ist nicht nötig, mit dem General oder mit meiner Mutter zu sprechen. Ich bin diejenige, die das Kind bekommt. Also kannst du mit mir reden.« »Wir können immer noch einen Kompromiss schließen. Wir sind immer noch bereit, dir jede beliebige Reise zu finanzieren.« »Ich akzeptiere, wenn du alle drei Vergewaltiger zu einem öffentlichen Verfahren hierher bringst, darunter geht nichts. Ich will, dass alle es erfahren. Ich will, dass jeder Somali die politische Bedeutung sieht. Ich will, dass alle wissen, dass jede Vergewaltigung politisch ist, dass die Mächtigen die Schwachen vergewaltigen.« »Gib mir Zeit, darüber nachzudenken«, sagte er. Weitere Beratungen mit dem General ergaben eine Regierungsumbildung, bei der ihr Vater keinen Geschäftsbereich und keinen Kabinettsposten mehr bekam. Er wurde als Botschafter ins Ausland geschickt. Wohingegen Amina, Medina und Sagal untereinander die Angelegenheit beraten hatten und zu einem Entschluss gekommen waren: Amina sollte unter die Arme gegriffen werden, damit sie das Kind behielt. Ebla erinnerte sie jedoch daran, dass sie auch ernsthaft an das Kind denken sollten; sie sollten an die religiösen Belange denken, an den Namen des Vaters, an Aminas Beziehung zu ihren Eltern. Wollte Ebla, dass das Kind
abgetrieben wurde? »Nein, ich möchte kein ungeborenes Kind töten, das ist Mord«, hatte sie gesagt. Schließlich kamen sie alle überein, dass Sagal und Ebla sie aufnehmen würden und dass Medinas Beitrag darin bestünde, einige der Bedürfnisse Aminas und ihres Kindes abzudecken. Während dieser Phase gingen sie zusammen weg, manchmal zu viert, manchmal zu dritt, mit Amina in der Mitte, und gelegentlich kam noch Ubax dazu, die Aminas kleinen Finger umklammert hielt. In der künftigen Mutter stiegen Blasen der Freude auf, die sie durchfuhren wie ein Kamm einen ungepflegten Haarschopf. Abendspaziergänge. Die Freude an Gesellschaft. Ein Leben, das Bedeutung erlangt hat. Medina: Bücher und Geschenke; Sagal: die willkommene und freundschaftliche Wärme; Ebla: die verständnisvolle Mutter. In diesem Sinne las Amina Ann Sextons Unbekanntes Mädchen auf der Entbindungsstation, Medina lieh ihr auch Brechts Von der Kindesmörderin Marie Farrar, »denn ihre Sünd war schwer, doch ihr Leid groß«, und im Geiste hörte Amina mit an, wie das kleine Kind erstickt wurde, sah mit Entsetzen, wie es in ein frisches Laken gewickelt und in einem dunklen, kalten Schuppen abgelegt wurde. Dann kam ihr wie Treibholz, das ihr Gedächtnis angeschwemmt hatte, Barbara Malcolms Gedicht in den Sinn, in dem eine Mutter ihrem Kind eine Waffe gibt, »um damit zu schlafen und davon zu träumen«, weil die Zeit reif sei für eine Revolution. Zweifellos hatten Sagal, Medina und Ebla ihr eine Schnellstraße an Möglichkeiten gebaut, fest wie Zement, mit Eisenbahnüberführungen, Fußgängerbrücken und Zebrastreifen, mit einem Netzwerk möglicher Nebenstraßen für sie. Sie hatten aufmerksam für das Rotlicht der Warnung, das Gelblicht der möglichen Gefahr und das Grünlicht der freien Fahrt gesorgt. Und bei einem Ausflug vor eineinhalb Jahren, mit Sagal auf der einen, Ebla auf der anderen Seite, Medina und auch Ubax hinter ihnen, gestand Amina die
Freude und den damit einhergehenden Schmerz ein, eine Mutter zu sein. Sie brachte Zwillinge auf die Welt, beides Mädchen, wovon das eine schon tot, das andere aber putzmunter war, strampelte und schrie. Eine Woche später bewegte der mütterliche Instinkt Aminas Mutter dazu, nach Somalia zurückzukehren, um ihre Tochter in Sagals und Eblas Haus zu besuchen. Sie wurde freundlich aufgenommen, nicht aber die Nachricht, die sie mitbrachte: Amina sollte wieder in das Haus ihres Vaters ziehen und, da weder er noch ihre Mutter da seien, dort bleiben und es in Schuss halten. Sagal und Medina sprachen sich dagegen aus. Aminas Mutter und Ebla beratschlagten unter vier Augen, redeten miteinander wie eine Mutter mit einer anderen. Noch mehr Überlegungen und Nächte so ermüdend wie die vom letzten Jahr wiederholten Argumente. Die Freude, dieses strampelnde Energiebündel auf die warmen Handflächen der Freundschaft geboren zu haben, verflog. Und in manch einer Nacht wachten Sagal und ihre Freundin kurz vor Tagesanbruch auf, weil Sagal (diesen Namen hatte das »Kind der Schande«, das überlebte, bekommen) Augen und Mund nicht mehr schließen wollte. Das Für und Wider. Ebla: »An deiner Stelle würde ich die von deinen Eltern gestellte Aufgabe in Angriff nehmen, ins Haus ziehen, das Auto benutzen, das er dir zu schenken bereit ist, sowie auch das Geld.« Medina: »An deiner Stelle würde ich lieber nicht die Hoffnung aufgeben, die dich aufrechterhalten und uns zusammengehalten hat. So viele Frauen finden sich zwischen einem Sonnenaufgang und dem nächsten als Opfer der Straßenhyänen des Handels mit Leibern wieder; so viele werden gedemütigt, so viele Ehefrauen werden täglich geschlagen und so viele werden hilflos gemacht durch die Tatsache, dass sie schlecht informiert sind und nicht wissen, was vor sich geht. Ich möchte dich nun nur um eines bitten: Demütige uns nicht. Ich schlage dir vor, nicht ins väterliche
Haus zurückzugehen. Wenn du es machst, dann ist dies das Ende zwischen dir und mir, ich werde nie wieder mit dir reden.« Sagal war ziemlich versöhnlich, nicht so entschieden wie Ebla oder Medina. Dann kam einen Tag vor ihrem Abflug Aminas Mutter und: »Hier ist der Schlüssel zum Haus, hier ist der Schlüssel zu deinem Auto und hier ein Konto auf deinen Namen bei der Bank. Wenn du nicht ins Haus einziehen willst, kannst du es vermieten und das Geld für dich verwenden, wenn du es brauchst. Pass auf dich und Sagal, meinen Sonnenschein, auf. Pass auch auf das Haus auf.« Eine Woche später saßen Amina und ihre kleine Sagal in einem Auto zusammen mit dem Kinderwagen und ihren Sachen. Sagal senior war traurig, dass ihre Freundin ausgezogen war, weil diese meinte, das nachmitternächtliche Schreien der kleinen Sagal würde sie stören; sie war auch traurig darüber, dass Medina beschlossen hatte, nie wieder mit Amina zu reden. Die Sonne trieb wie ein Papierschiffchen über den bewässerten Horizont des Neujahrsmittagsdunsts. Und Sagal, die allein war, weil Amina auf die Toilette gegangen war, konnte sich nicht entscheiden, ob sie es als bloßen Zufall abtun sollte, dass die meisten ihrer Freundinnen und ihr nahe stehenden Menschen entweder keine Kinder oder Töchter hatten. Ein höherer Prozentsatz ihrer Altersgruppe, die Kinder hatte, war mit Töchtern gesegnet. Würde sie selber eine haben? Würden ihre Mutter und ihre Freundinnen zu ihr stehen? Sollte sie jemandem sagen, wer der Vater des Kindes war? War das notwendig? Und sollte sie es ihm mitteilen? Würde all das Komplikationen schaffen, die ihre Pläne, nach Europa zu reisen, über den Haufen werfen würden? Würde ihr dies im Weg stehen? Ihre Mutter hatte sie zur Welt gebracht, als sie mit zwei Männern verheiratet war, obwohl das keine
rechtlichen Probleme aufwarf; nach der Überlieferung des Propheten wurde der Nachkomme dem »Besitzer des Bettes« zugeschrieben, dem ersten Mann, dem die Frau rechtlich angetraut wurde. Medina hatte ihr anvertraut, dass sie insgeheim eine Abtreibung hatte durchführen wollen, doch das sei ihr vom Arzt ausgeredet worden; sie hatte mit Samater nie darüber gesprochen. Der Vater von Aminas Zwillingen war sachlich nicht festzustellen. Vielleicht, dachte sich Sagal, als sie nun Aminas Schritte zurückkommen hörte, war es das Beste, Wentworth George nichts von dem Kind in ihr mitzuteilen. Aber war sie überhaupt schwanger?
Die Sonne hatte aus ihren Strahlen Säulen gebaut. In der Zwischenzeit hatte das jüngste Kind der Bewohnerin der drei von Ebla vermieteten Zimmer einige Schlüssel verschluckt, weshalb es einen großen Aufruhr gab, bis die Mutter entschied, es ins Krankenhaus zu bringen. Als sich die Aufregung gelegt hatte und die beiden Freundinnen in Sagals Zimmer allein waren, sagte Amina: »Ich hab vergessen, dir etwas sehr Wichtiges zu sagen. Ich weiß gar nicht, wie ich es hab vergessen können.« »Sag nichts. Lass mich raten.« »Du weißt also schon davon?« »Samater hat seine Mutter und das neue Hausmädchen aus dem Haus geschmissen.« »Das wusste ich nicht. Hat er das?« »Dann sag’s mir. Was ist es?« »Jemand hat in aller Frühe etwas an die Sonnenaufgangswände geschrieben.« Sagal war buchstäblich Amina zu Füßen und hüpfte aufgeregt herum. Ihre Reaktion auf die Mitteilung ihrer Freundin kam so unerwartet wie ein Fallrückzieher. Ihre Augen waren entrückt
und verträumt wie die eines Lotusessers. Aber warum habe sie ihr das nicht schon gesagt? Amina sah, wie ihre Freundin von der Neuigkeit gepackt war. Vielleicht fürchtete sie, Sagal könnte etwas Übereiltes tun, die Neuigkeit könnte sie in eine Art Koller versetzen. Tatsächlich bestand einer der Gründe, warum sie die ersten Stunden des Neujahrs mit ihr verbrachte, darin, sicherzustellen, dass sie nichts Unüberlegtes tat. Hatten deshalb Amina und Ebla miteinander geflüstert, bevor Ebla wegging? Amina sagte: »Jemand hat mir heute früh gesagt, dass dies wahrscheinlich kein Einzelfall unorganisierten Protestes ist, der leicht isoliert werden kann; diese Person glaubt, dass es kein so fruchtloser Protest ist, wie sich vielleicht denken lässt. Anscheinend war die Ausführung bis ins kleinste Detail geplant.« »Erzähl mir mehr.« »Sie schrieben ihre ersten Worte der Warnung an die Mauern von Hodan. Dann auf die kürzlich frisch getünchten Wände des Hauptpostamts, gegenüber der sowjetischen Botschaft. Die dritte Wand, die sie benutzten, ist die gegenüber der amerikanischen Botschaft. Und sie unterschrieben mit ›Dulman‹.« »Und was haben sie geschrieben?« »›Nieder mit der Ein-Mann-, der Ein-Stamm-Diktatur!‹, ›Nieder mit dem Regime des Generals.‹ Aber es wurde nicht mit derselben Handschrift geschrieben. Die Macht des geschriebenen Wortes ist ungeheuer.« »In welcher Sprache haben sie diese Parolen hingeschrieben?« »Somalisch.« »Lass dir die Ironie auf der Zunge zergehen!« Sie schwiegen ein paar Sekunden. Amina konnte nicht so schnell die Ironie erkennen, doch als sie es tat, lächelte sie.
Unser lieber General; du bist gesegnet; gesegnet seien deine Schriften, gesegnet sei der Name der Völker, Amen! »Hat es eine Razzia gegeben?« wollte Sagal wissen. »Ja. Am frühen Morgen holten sie etwa fünfzig junge Männer und eine Frau zum Verhör ab. Dann kamen sie wieder und nahmen ohne Umschweife die Männer mit, denen die Wände gehörten, auf denen die Zeilen aufgetaucht waren.« »Um die fünfzig Männer und eine einzige Frau?« »Ja. Um die fünfzig junge Männer und eine einzige Frau«, wiederholte Amina. »Kennt jemand den Namen der Frau? Weißt du ihn?« »Ja.« »Wer?« Aminas Augen waren nicht so vor Begeisterung entflammt wie bei Sagal. Eigentlich sah ihr Gesicht leidenschaftslos aus und ihre Lippen trugen das schiefe Lächeln von jemand, der ein Schluchzen erstickt. »Wer?« fragte Sagal nochmals. »Willst du es wirklich wissen?« »Ja.« Über Sagals Rückgrat kroch ein Verdacht hoch bis in ihren Kopf: War jemand, der ihnen nahe stand, an der ganzen Sache beteiligt? Medina? Eine von Aminas Cousinen? »Dann sag ich’s dir.« »Bitte.« Sie wirkte nun entspannter, wie ein Scheich, der geniest und »Alhamdulillah« gesagt hatte. Ihr Herz pochte eilig in seinem rituellen Takt, so rasch wie die Tropfen eines Tropengewitters. »Cadar.« »Cadar wer?« »Cadar Cali natürlich.« Sagal starrte Amina vollkommen ungläubig an. »Was ist mit Hindiya?« sagte sie dann. »War sie auch daran beteiligt?«
»Ja. Hindiya haben sie später geholt. Was bedeutet, dass sie tatsächlich die einzigen Frauen sind, die von dieser Säuberungswelle erfasst wurden.« »Du hast gesagt, nur eine Frau und fünfzig Männer.« »Sie sind später gekommen, um Hindiya abzuholen. Die dritte Durchsuchung galt ausdrücklich Hindiya.« »Heldinnen! Heldinnen!« Amina schwieg. Sagal wirkte schwach wie eine Motte, sie wirkte zerbrechlich wie ein Mythos. Cadar Cali und Hindiya. Ihre am meisten gefürchteten Rivalinnen, was das Schwimmen betraf. Cadar Cali und Hindiya! Die beiden Mädchen, die in allem Schulischen so gut wie sie gewesen waren und die sie in allem herausforderten, die beiden Mädchen, die ihr die Freunde weggeschnappt hatten – Cadar und Hindiya endlich Heldinnen einer Bewegung und Sagal eine bloße Zuschauerin? Die Nation sprach von ihnen –, die Stadt Mogadischu erwähnte ihre großen Rivalinnen voller Ehrfurcht; alle, ob jung oder alt, mächtig oder ohnmächtig, würden ihre Namen mit der entsprechenden Hochachtung erwähnen. Während der General eine Girlande jugendlicher Mädchen bekam, gingen an Cadar und Hindiya nun die Heldenmedaillen. Ihre Namen würden Euphorie in den Herzen derjenigen auslösen, die sie kannten und liebten; ihre Namen würden rhythmisch erklingen wie die Anfeuerungsrufe von Fußballfans, die ihrer Mannschaft zujubelten. Sterbliche wie ich können nichts mehr tun, um sie herauszufordern, dachte Sagal. Sie sind im Gefängnis des Generals. Sie sind als einzige weibliche Wesen geschnappt worden und werden deswegen hervorstechen. Ich kann nichts tun, um das zu ändern. Wenn überhaupt… vielleicht… Aber ihr fiel nichts ein, was das Bild ihrer Rivalinnen zerstören könnte, ohne sie physisch zu vernichten. Nein, sie wollte nicht, dass sie zu Märtyrerinnen wurden, Heldinnen, deren Namen die Lippen beleben würden, die sie aussprachen; Heldinnen,
denen die Nation eine Statue errichten würde, wenn der General nicht mehr die Zügel der Macht in der Hand hatte. Wie aber konnte sie das Bild ihrer Rivalinnen zerstören? Oder sollte sie etwas machen, wozu die beiden nicht in der Lage waren? Eines stand sicherlich außer Frage: Sagal würde nun nicht am Schwimmwettbewerb teilnehmen. Es war keine mehr da, gegen die es sich zu kämpfen lohnte; es gab keinen Ehrentitel mehr, um den es sich zu streiten lohnte. Was würde sie dann tun? Der Rauch, der ins Zimmer gedrungen war, hing wie ein Messer über ihnen. Das war gewiss nicht das Beste, was das neue Jahr einer bieten konnte, die darauf gewartet und fette Hoffnungen auf eine Zukunft genährt hatte, die nun so mager war wie die Mutter, deren Kind im Feuer umgekommen war. Ein langes Schweigen trat ein.
Sobald Ebla wieder zurück war, braute sich Amina eine Geschichte zusammen, dass es ihrer Tochter nicht gut ging und sie wieder zu ihr sollte. Aber nicht, bevor sie Ebla ein wissendes Lächeln zugeworfen und versprochen hatte, sie bald wieder zu besuchen, es sei denn, natürlich, Sagal wollte zu ihr in die Wohnung kommen. Aber nun sagte Ebla bestimmt: »Einige von uns entscheiden sich, die Lampe zu tragen und sich direkt darunter zu stellen, unter ihrem stechenden Auge zu bleiben, bis wir mit dem Scheinwerferlicht eins werden. Einige von uns glauben, das würde einen Helden oder eine Heldin aus ihnen machen, denn wir lieben es, beobachtet, beschattet und des einen oder anderen verdächtigt zu werden, bis wir so schwer bewacht sind wie das Kraftwerk einer Nation. Weißt du noch die Geschichte, die du immer so gern erzählst? Die, in der die dritte Person, die das Streichholz anzündet, zum Ziel wird, das es dem Feind ermöglicht, sie zu entdecken, auf sie zu zielen und zu treffen – weißt du sie noch? Du bist die Dritte!«
Das Licht in Sagals Augen wurde trüber. »Ich bin der Meinung«, sagte sie, »dass Cadar und Hindiya ausgeführt haben, was sie planten, und es geschafft haben, im Licht der Lampe zu stehen. Muss ich wiederholen, dass ihr Graffitigekritzel an den Sonnenaufgangswänden von Mogadischu ihnen Achtung und Bewunderung von allen eingebracht hat?« »Ich sehe das nicht so«, meinte Ebla. »Nicht?« »Sie sind erwischt worden. Wie kannst du von einer erfolgreichen Durchführung reden?« »Genau darum ging es wahrscheinlich: erwischt zu werden, zum allgemeinen Gesprächsthema zu werden, Heldinnen zu werden. Die Gegner eines Diktators sind die potenziellen Begründer der Widerstandsgeschichte eines Volkes. Das aufopfernde Element historischen Märtyrertums…« »Ich würde sagen, sie hätten Erfolg gehabt, wenn sie ihre Botschaft geschrieben und davongekommen wären.« »Der faszinierendste Aspekt ist der Risikoanteil…« Ebla unterbrach sie: »Die Somalis haben ein Sprichwort: Mütter von Feiglingen haben selten Anlass zur Trauer.« Plötzlich sahen sie einander an und verstummten, denn sie hörten die Kennmelodie der Mittagsnachrichten. Sie hielten den Atem an, als sie den Schlagzeilen lauschten. Der Vorfall von heute früh wurde mit keinem Wort erwähnt, was bedeutete, dass er auch in den Einzelmeldungen nicht auftauchen würde. Ebla wandte sich wieder ihrem Salat zu, Sagal ihrem gezuckerten Joghurt, den sie wie Suppe löffelte. Die Mieterin, deren Kind die Schlüssel verschluckt hatte, war gerade zu ihrer hungrigen Kinderschar heimgekommen. Sie huschte nervös hin und her, um ihnen etwas zu essen zu machen.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass Abucar einen Schlüsselbund verschluckt hat?« fragte Ebla. »Was hättest du denn getan?« »Ich hätte für die anderen Kinder etwas zubereitet.« Sagal aber dachte an das kleine Kind, das im Feuer umgekommen war. Das Leben ließ manchen Menschen nur wenig Wahlmöglichkeiten. Sie erfand eine Zukunft für sich und das Kind in ihr. Aber war sie sicher, dass sie schwanger war? Die von ihr erfundene Zukunft hatte geräumige Zimmer, in einem davon befand sich eine kleine Kinderwiege und darüber stand eine Schürze tragende Frau mit einem Babyfläschchen in der Hand. Die Frau konnte ihre Schürze wegen des fortgeschrittenen Zustands ihrer Schwangerschaft nicht zubinden und es gab kein Kind in den geräumigen Zimmern mit großen Fenstern und hohen Decken. Da kein Kind seine Eltern aussucht, kann ich vielleicht mein Kind aussuchen. Oder hat das Schicksal mich ausgesucht? »Übrigens…« »Ja?« fragte Sagal. »Dein Geburtstagsgeschenk.« Sie empfing mit leicht gebeugtem Kopf ein Päckchen von ihrer Mutter. Und ihre starre Miene löste sich in einem sanften Lächeln auf. Morgen würde sie einundzwanzig sein, einundzwanzig träumerische Jahre… Sie wäre betrübt, wenn ihre Periode ausbliebe, die diesmal zugleich mit ihrem Geburtstag fällig war – was für ein Zufall! Doch Ebla hatte vorgehabt, sie zu fragen, ob alles in Ordnung war, sich zu erkundigen, warum ihre Tochter nicht flach auf dem Rücken lag vor Schmerzen, die ihre Periode ankündigten und sie innerlich wie ein Handtuch auswrangen. Sagal dachte gerade: Wenn die Schürze sich nicht zubinden ließ, würde sie so frei sein wie die Wolken, frei, dorthin zu gehen, wo es ihr gefiel, die Nacht mit jedem zu verbringen, den sie haben wollte? Ihre
Mutter, Medina und Amina würden wissen wollen, warum sie keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte. »Er keuchte wie ein Ertrinkender und tat mir leid, also hab ich mit ihm geschlafen.« Nein, das würde nicht gehen. Sie musste sich etwas anderes ausdenken. Warum ihnen nicht die Wahrheit sagen? Warum es ihnen nicht mitteilen? »Der Mann war ein Ausländer und sehr unglücklich. Ja, ein Ausländer, und daher ein Gast meines Volkes und meines Landes. Ein Bruder aus Westindien. Beruflich hatte er es schwer, denn während Italiener, die am selben Tag eintrafen wie er, ihre Genehmigungen über Sandra etc. erhielten, bekam dieser Mann keine und konnte natürlich ohne so einen Schein nicht arbeiten, denn sie hatten seine Kameras konfisziert. Und ihr wisst doch, wie überempfindlich und nervös Brüder aus der Diaspora in Afrika sind. Noch dazu war der Mann sehr, sehr einsam und hatte keine Freunde, war noch nie hier gewesen; ein Bruder, der Hilfe brauchte, ein Gast meines Volkes und meines Landes. Ich dachte, ich könnte ihn anwerben, ja, ich könnte ihm meine Sichtweise vermitteln, ich könnte sein Vertrauen gewinnen, ihn vom Zirkel des Generals weglocken. Kurzum, ich hielt es für meine nationale Pflicht, dem Mann in dieser einen Nacht Gesellschaft zu leisten, und so habe ich mit ihm geschlafen. Am Ende, als wir uns trennten, sagte er, wie dumm er sei, eine Regierung mit ihrem Volk zu verwechseln.« Was sollte sie ihrer Mutter sagen? Sollte sie ihr ihre Gedanken anvertrauen? War das etwas, was sich Cadar und Hindiya ausdenken konnten? Die Sonnenstrahlen drangen durchs Fenster und spielten eine Farbensymphonie auf den Teppichen, die Ebla auf dem Boden ausgebreitet hatte und auf denen sie nun stand, um ihre Gebete zu verrichten. Die Kennmelodie, die das Ende der nachmittäglichen Nachrichtensendung ankündigte, wurde gespielt, dann kam die somalische Nationalhymne (wie konnte
irgendwer dieses Machwerk Somalias Nationalhymne nennen? Wahrscheinlich wussten nicht viele Leute, dass sie von einem Italiener komponiert war und dass es keinen Text gab, der zu der Klaviermusik des Mannes gesungen werden konnte). Sagal schlich auf Zehenspitzen leise aus dem Zimmer ihrer Mutter.
7
Dort, wo sich ein Feuer von Müll und Abfall mehrerer Wochen genährt hatte, gab es hauchdünne Rauchwellen. Und eine Rauchspirale ging in dem ansonsten unbestimmten Wetter auf. Zu Asche verbrannte Holzkloben lagen leblos da. Diese wie handgewebt aussehenden geometrischen Aschefiguren ließen Medinas Fantasie ein Zusammentreffen primitiver Kräfte vorschweben, die zu ihrem Wesen gehörten. In ihren Gedanken waren es Urnen, die jemand opferte, um den Schrei des davonziehenden Jahres verstummen zu lassen. Die Jahresernte war kleiner als die Tagesausbeute an geschnittenem Haar bei einem Frisör. »Neyrus! Dabshid!« sagte sie laut. Sie blickte sich um und sah, dass sie allein war. Ubax hatte sich mit den anderen Mädchen, viele davon ihre Großcousinen, verzogen; Ubax, die sich zuerst geweigert hatte, mit den Töchtern von Medinas Cousinen zu gehen. Sie beschwerte sich, dass alle Spiele machten, die sie nicht kannte und an denen sie sich nicht beteiligen konnte, und sie mochte es auch nicht, dass die anderen immer wieder ins Arabische verfielen. Schließlich kam aber ein Mädchen in ihrem Alter, das sie kannte und schon immer gemocht hatte, und Ubax willigte ein, mit zu den anderen zu gehen. »Dabshid! Neyrus! Das Feuer, das brennt!« Und als ihre Mutter Fatima bint Thabit fragte, wo Nasser sei, hatte Medina für ihn gelogen; sie sagte, er sei auf dem Weg und würde in spätestens ein oder zwei Stunden hier sein. Sie wusste jedoch, dass ihr Bruder nicht kommen würde, weil er eine Verabredung mit Dulman hatte (und das machte Medina
auf jeden Fall Sorgen: Die Staatssicherheit würde ihn beschatten lassen, wenn er allein dorthin ging, hatte sie ihn gewarnt und gleichzeitig angeboten, die Bänder selbst dort abzuholen). Er hatte gesagt, er freue sich auf Dulman. Er hatte Medina Tee ans Bett gebracht, dazu noch Toast und frisch gepressten Orangensaft. Davor hatte er Ubax gebadet und sie auch mit einem Frühstück versorgt. Als Medina noch mit dem Kissen im Rücken dasaß und die erste Mahlzeit des Tages genoss, die ihr Bruder mit Liebe aufgetischt hatte, klingelte das Telefon. Er nahm ab. Als er eine Frauenstimme hörte, reichte er ihr den Hörer. Nein, nein, es sei für ihn. Dulman. Ja. Dulman wolle ihn sprechen, um ihm zu sagen, er solle sie nicht besuchen. Das tat sie in aller Eile, meinte nur, was sie bedrückte, sei etwas, was sie Medina eines Tages erklären werde – doch ihre Stimme klang dringlich, eine Stimme, die hilflos nach jemandem rief. Nasser sprach später von Razzien und von den frühmorgendlichen Parolen an den Wänden der Stadt. Er sagte, Dulman habe geknickt geklungen, er würde aber in der Zeit zu ihr gehen, in der Medina ihre Mutter aufsuchte. Habe Dulman ihm noch mehr erzählt, wisse sie, wen die Staatssicherheit zusammengetrieben habe? Zwei junge Frauen. Nicht Sagal? Nein. Cadar Cali und Hindiya. Dann hatte Medina versucht, Sandra ans Telefon zu bekommen. Ihr Hausboy war am Apparat und gab ihr eine andere Nummer, wo Sandra zu erreichen wäre. Aber Medina entschied, Sandra nicht beim Ideologen anzurufen; es hatte keinen Sinn, mit ihr über die Graffiti an den Wänden zu sprechen, wenn sie beim Ideologen war. »Neyrus!« seufzte sie. »Das Feuer, das reinigt.« Und aus der Asche erhob sich ein halb verbrannter Zettel, auf dem etwas geschrieben stand. Medina bemühte sich nicht, die Schrift zu lesen. Stattdessen blickte sie auf die erloschene Asche und fragte sich, ob tote Menschen so viele Dinge in den Köpfen der Hinterbliebenen erweckten. Wenn sie
diese Asche berührte, dachte sie, würde sie ihre natürliche Form entstellen. Sie sollte diese wunderbar schlafenden Engelsfigürchen in Ruhe lassen, sie sollte ihre stille Ruhe nicht stören. Wenn sie noch näher heranginge, würde ihr Atem die Nerven des Feuers anregen und deren Zellen vor pulvrigem Leben pulsieren lassen; und die unmittelbar an der Oberfläche befindliche Asche, ähnlich der obersten Humusschicht, würde reagieren; etwas davon würde auffliegen und sich in einzelnen Flocken wieder absetzen. Das noch lebendige Feuerbett, rot wie eine Ampel, strahlte Botschaften aus wie eine Pilotenkanzel, in der grüne Lichter Computersignale mit gelben und roten Knöpfen austauschten. »Dabshid!« Und auf Persisch: »Neyrus!« Ein Tempel aus Feuer, errichtet zu Ehren und zum Gedenken an ein Jahr, so ungern ausgegeben wie der letzte Penny in der gekrümmten Hand eines Armen. Und diejenigen, die diesen Tempel der Feuerverehrung bauten, würden hoffen, den verwundeten Stummel des vergehenden Jahres auszuräuchern. Das war der Tag, sagte sie sich, an dem die Menschen so viele Feuer machten, wie Plätze dafür verfügbar waren. Die Vergangenheit wurde freigekauft. Die Vergangenheit wurde verbrannt. Über sie wurde gesprungen wie über die Quadrate des Himmel-und-Hölle-Spiels. Das Jahr wurde in Kästchen aufgeteilt und in jedes etwas hineingetan. Warum das ganze Feuer, der ganze Rauch? »Der Festtagsrauch blendet den Teufel«, erklärten die Traditionalisten, die nicht ganz erkannten, dass erst mit der Einführung der islamischen Moral aus Arabien Begriffe wie Prophet, Allah und Satan ins Land gekommen waren. Aber wie dem auch sei, die Menschen machten Feuer, so hoch und so groß wie nur möglich, jeweils nach ihren zur Verfügung stehenden Mitteln. Feuer so breit wie der Ganges, um darin nicht den täglichen Schweiß der Arbeit, sondern die Sünden der Menschheit
davonzuschwemmen. Ob Kind oder Erwachsener (zumindest im Süden), alle würden über das Feuer springen und sich dabei etwas wünschen. Nun brachte das Geplapper der Kinder ihre Gedanken zum Schweigen. Ubax und ein Dutzend andere. Doch wo war ihre Mutter, wo war Fatima bint Thabit? Warum war sie ins Haus gegangen und nicht wieder herausgekommen? »Neyrus!« Das Feuer, das die Geburt der Welt zuwege bringt. Feuer als Gottheit; Feuer als Dämon. Jahre beginnen mit dem Anzünden eines neuen Feuers und dem Auslöschen des alten. Die ersten Beerdigungen des neuen Jahres zerschmolzen zur feurigen Burleske künftiger Träume. Der Schatten eines Feuers, dachte sie für sich, war so beschaffen, dass er niemandem Obdach bot. Doch der Rauch schoss lotrecht nach oben wie ein Schlot, knickte dann aber in der Hüfte ein wie die Kerzenflamme in einem zugigen Zimmer. An einem Tag wie heute saßen die Astrologen immer vor Feuern, um mit ihrem kreativen Seherblick die Landkarte der reichlich gefüllten Taschen des Regens aufzuspüren und nachzuzeichnen. Sie würden vorhersagen, was im kommenden Jahr eintreten würde. Sie würden prophezeien, wie die Ernte ausfallen würde. Sie würden den Frauen, die bei ihnen Rat einholten, Hoffnung ins Ohr flüstern: Für allein stehende Frauen rochen sie eine Hochzeit in der Luft, das brutzelnde Fett des Reichtums für die armen, eine leichte Geburt, einen Jungen und gute Gesundheit für junge Mütter, trächtig von einem kurzen Bettvergnügen, Beförderung und Verlegung nach Mogadischu für einen Soldaten. Die blühenden neuen Hoffnungen des Jahres begraben in der warmen Asche des verbrannten Jahres. In Äthiopien bauen sie eine Strohpuppe und sagen aus der Art, wie die Puppe verbrennt, den Verlauf des Jahres voraus. »Dabshid! Neyrus!«
Sie spitzte die Ohren. Nein. Niemand näherte sich ihr von hinten. Und vor ihr lag der Hausflügel, in dem sie zur Welt gekommen war, der Flügel, der genau zwei Stunden nach Medinas Geburt vor so langer Zeit in Rauch aufging. Ihre Mutter, ihr Großvater und alle ihre Onkel und Tanten gaben dem Vorfall eine größere symbolische Bedeutung, als er für sie hatte. Doch dann erinnerten sie sich, dass es an dem Tag, als Nasser geboren wurde, eine Überschwemmung gab, die zwei kleine Kinder in den Tod riss. Medina hatte eine naheliegendere Erklärung: Da der Raum, der vom ersten Lecken und Flackern des Feuers erfasst worden war, sich in dem Flügel befand, wo Fatima bint Thabit in den letzten Tagen ihrer beschwerlichen Schwangerschaft abgesondert worden war, war es da nicht denkbar, dass jemand, womöglich mit Zustimmung des bettlägerigen Ungeheuers, ihn in Brand gesetzt hatte? Ihre Mutter lächelte meist darüber und schüttelte den Kopf, als wäre Medina eine Schülerin, die eine Rechenaufgabe nicht richtig gelöst hatte. »Ein Junge und ein Mädchen. Wasser und Feuer. Siehst du nicht den Kontrast, die Elemente des Lebens, die sich ergänzen? Ein im vollen Lauf der Normalität empfangener Junge, ein in der verborgenen Dunkelheit der Tradition empfangenes Mädchen. Ich liebte deinen Vater und das Feuer der Liebe verzehrte mein Herz; Nassers Großvater bat für seinen Sohn um meine Hand und erhielt sie, lange bevor ich wusste, wie er aussah. Ich bin sicher, du wirst mir sagen, dass du es besser weißt, aber…« Sie schaute auf und ihr Blick fiel auf den Flügel, in dem sie geboren war, derjenige, der in jener Nacht vor so langer Zeit Feuer gefangen hatte – dreiunddreißig Jahre. Doch warum trat sie nicht ein? Warum folgte sie nicht ihrer Mutter? Die Tür wurde aufgestoßen und Ubax winkte ihr zu; Medina lächelte ihrer Tochter und ihren zwei Freundinnen zu. (Sie warf sich vor, die Hälfte ihrer Nichten beziehungsweise ihre Namen
nicht zu kennen; es waren so viele, dass sie sich in letzter Zeit nicht mehr bemüht hatte, sich ihre Gesichter, ihre Namen oder ihre Geburtstage zu merken. Allein die Vorstellung, dass eine um zwei Jahre jüngere Cousine von ihr neun Kinder hatte!) Ubax und ihre Gefährtinnen verschwanden und Medina kehrte zu ihren Überlegungen zurück. »Neyrus! Dabshid! Karakorok: ein Mythos der australischen Aborigines – eine Krähe, die in ihrem Schnabel vom Himmel einen flammenden Feuerstock aus der Sonne mitbrachte, einen flammenden Feuerstock als Geschenk vom Tierreich ans Menschenreich, ein Geschenk, das der Mensch nie richtig schätzte. Karakorok! Dabshid! Neyrus!« Dann hob sie einen Stecken auf und schob ein Kügelchen Ziegendung ins Feuer. Als der Dung brannte, wurde er so klein wie eine Pistolenkugel; die organische Masse des ursprünglichen Stücks schrumpfte zu einem grauen, pulvrigen Aschebällchen. Würden die Überreste einer verbrannten Sati, einer Frau, die glaubte, ihre Asche würde der sterblichen Hülle ihres früheren Mannes wieder Leben einhauchen, auch so klein werden? So viel Glauben an die Zukunft. Medina blickte auf und sah, dass sich ihr ein kleiner Junge angeschlossen hatte. »Hallo!« sagte sie. Sie hob das zweieinhalbjährige Kind auf, das aus der Tür gekrochen war, die Ubax und die anderen Mädchen offen gelassen hatten. Mit einem Papiertaschentuch wischte sie seine verschmierten Backen sauber. »Wie heißt du?« Die Antwort des Kindes kam in einem rhythmischen Da-dada. Medina schaute über die Schulter und sah eine Frau. Sie wusste, es war eine ihrer Cousinen, war sich aber wie üblich nicht sicher, welchen Namen sie ihr geben sollte. Die Frau, obwohl jünger als Medina, wirkte gealtert und faltig; sie war auch sehr dick. Die Nackenbändel ihrer dunklen purdah um die Hüfte gebunden, kam sie grinsend auf Medina zu.
»Das ist mein Sohn«, strahlte sie. »Er heißt Nasser.« Medina blickte nun das Kind, das sie hielt, mit frischem Interesse an. Sie sah, dass sie noch ein Papiertaschentuch brauchte, um dem Kind die Nase putzen zu können, denn sonst würde der drohend baumelnde Rotz auf ihr Kleid fallen. Aber das würde ungeheuer schwierig werden, wenn nicht unmöglich. Ihre Handtasche lag zum einen ein paar Schritte hinter ihr; zum andern schien es so, dass die Mutter des Kindes sprechen wollte. »Könntest du das Kind bitte mal halten!« sagte sie und übergab Nasser seiner Mutter. Dann ging sie wegen des Taschentuchs auf ihre Handtasche zu, es war aber schon zu spät; die Mutter hatte bereits einen Zipfel ihres Kleids zum Abwischen benutzt. Sie nahm wieder am Feuer Platz. »Magst du nicht reinkommen?« fragte die Cousine. »Ich warte hier auf meine Mutter.« »Draußen? Sie ist drinnen. Warum kommst du nicht rein?« »Sie hat mir gesagt, ich soll hier auf sie warten«, log sie. Doch sie dachte nicht an die Frau und auch nicht an ihre eigene Mutter: Sie hatte beide an den Rand ihres Bewusstseins verbannt. Sie dachte gerade an die Tatsache, dass unter dem Volk ihrer Mutter, unter den Arabern in Somalia, die Kindersterblichkeit viel, viel geringer war als die der Somalis. Des weiteren war bemerkenswert, dass sogar unter Somalis in den städtischen Gebieten mehr unterernährte Kinder waren als unter den Nomaden. Das brachte sie gewissermaßen auf die These, dass die Zahl unterernährter Inder in Ostafrika sehr viel geringer oder praktisch nicht existent war. Warum auch nicht! Unter den Somalis litten die Kinder des Flussvolks weniger an Unterernährungskrankheiten. Wieso? Sie beschloss, einen Artikel darüber zu schreiben, womöglich in Zusammenarbeit mit Nasser. Jetzt sollte sie erst mal auf ihre Mutter warten. Sie
setzte sich aufrecht hin und lauschte auf die Schritte ihrer Mutter, entschlossen, ihr keine Chance zu geben, so sanft wie der Tod von hinten an sie heranzuschleichen, so rasch wie Feuer. Doch warum machte sie das immer? »Du, Medina, bist das Feuer, das bei der Geburt beinahe alles verbrannte; Nasser ist das Wasser, das uns fast alle ertränkte. Nun, ich bin leise wie ein Schatten; ich bin der Schatten, der nicht nass wird und der vom Feuer nicht verzehrt wird.«
»Ähm… Du-weißt-schon-wer war hier«, sagte Fatima bint Thabit. Medina fuhr zusammen. Das Feuer in ihren Augen erstarb, genauso die Flamme ihrer Fantasien. Da sie nicht ganz sicher war, wo die Stimme ihrer Mutter hergekommen war, wartete sie. Das war ihr einfachstes Spiel, das sie gemessen ausführten. Ihre Mutter stahl sich »leicht wie die plötzliche tropische Dunkelheit der Nacht… leise wie ein Schatten… ein Schatten, der nicht nass wird und der vom Feuer nicht verzehrt wird« an sie heran. Doch Medina war diesmal darauf vorbereitet. Sie hatte in einem fort gewartet und hielt lange die Luft an, während sie an gar nichts dachte; aber dann, zwischen einem nachdenklichen Augenblick und dem nächsten, gerade als sie in den Himmel blickte und zusah, wie die Wolken sich wie Freunde trennten, die einander alles Gute wünschten – zack! Da sprach ihre Mutter zu laut und zu plötzlich in Schussweite, sagte etwas, das Medina verwunderte und sich fragen ließ, ob sie richtig gehört hatte. Wie immer kam ihre Mutter unangekündigt »wie die Morgendämmerung« zu ihr. Medina drehte sich nun nicht um (das gehörte zum Spiel), nicht einmal den Kopf bewegte sie, sonst würde sie sehen, wo ihre Mutter war, und das würde den Kern des Spiels verderben. Doch nach einer langen Pause fragte sie:
»Wer?« Ihre Mutter atmete schwer, als hätte sie Asthma. Medina erhob sich und drehte sich wie eine Person mit einem steifen Genick um. Ihre Mutter war sehr, sehr nahe; die beiden berührten sich beinahe. Medina kippte fast nach hinten und ins Feuer, als sie sich dem schweren Atem ihrer Mutter entzog. Dann wurde ihr die Hand ihrer Mutter gereicht, knochig, aber lang und aristokratisch – wie die von Nasser. Ihre Augen, schwarz und rund wie Oliven, waren klar, mit buschigen Augenbrauen – wie bei Nasser. Die Kinder, unter ihnen Ubax, waren mal zu sehen, mal nicht, und hinterließen einen Lärm, der sich noch eine Weile hielt, nachdem sie verschwunden waren. Medina und Fatima bint Thabit fuhren auseinander wie zwei Heranwachsende, die von ihren Eltern beim Fummeln erwischt worden waren. Dann: »Und er sprach von Bidets«, sagte Fatima bint Thabit. »Wer sprach von Bidets?« »Ähm… Du-weißt-schon-wer?« Sie war sehr elegant gekleidet. Wenn sie wusste, dass Medina oder Nasser zu ihr zu Besuch kamen, zog sie ihre besten Sachen an. An Samater lag ihr nicht so viel. Sie hänselte ihn immer und sagte, er hätte Künstler werden sollen, er sei immer so empfindlich, selbst in seinen Lumpen immer so liebenswert. Eines Tages fragte jemand sie, warum sie sich so herausputzte, wenn Tochter oder Sohn zu Besuch kamen, und ihre Antwort lautete, dass sie dann etwas zu reden hätten. Hohe Wangenknochen, eine Stupsnase, eine imponierende Gestalt, ja. Sie war nicht so groß wie ihre Kinder, dafür aber blasser: Zu ihrer Erfahrung gehörte nicht, sich der schweißtreibenden Sonne in einem heißen Klima auszusetzen. Sie blieb in der »dunklen Tradition, die purdah genannt wird«, und setzte ihren Fuß kaum außerhalb der Umfriedung des Familienanwesens. Knapp sechzig, für ihr Alter und ihren verschleierten Zustand
gesund. Sie hatte sich entweder einen Knöchel geprellt oder verstaucht, da war sie sich nicht sicher. Doch eigentlich war sie nie einer Sache sicher, sie nahm nie eine entschlossene Haltung ein, hatte nie um prinzipielle Fragen oder etwas, das hohe Ideale oder abstrakte Gedanken erforderte, gekämpft. »Die Tradition meines Volkes hält mich in einem Gefängnis mit vier Wänden eingesperrt und macht mich zum ausschließlichen Besitz eines Mannes. Die gleiche Tradition oder eine ähnlich geartete Abstraktion daraus befreit mich davon, auf die gleiche Weise wie die afrikanische Frau, sei sie somalisch, kenianisch oder togolesisch, beschnitten zu werden.« »Wer war hier, Mutter?« Fatima bint Thabit blinzelte konzentriert. Sie setzte sich auf den Stuhl am Feuer, auf dem Medina gesessen hatte. »Wer denn schon? Du-weißt-schon-wer!« Ihre Unsicherheit in Bezug auf alles war tief und dunkel wie ihre Pupillen. »Eine Frau darf sich keiner Sache sicher sein«, pflegte ihr Vater zu sagen. »Eine Frau muss wie jedes andere untergeordnete Wesen ständig rätseln, darf keinen Grund zur Annahme erhalten, dass sie sich einer Sache gewiss sein kann.« Wusste sie deshalb nicht genau, warum Tayib, Nassers Vater, sich das Leben nahm? Das Licht des Lebens, sicher wie ein Stern am wolkenlosen Himmel, flackerte immer wieder auf und erstarb dann. »Wer?« »Er war zweifellos sehr unglücklich.« »Wenn du mir nicht sagst, wer, erfahre ich es nie.« Eine Pause, länger als der Schatten der Sonne. Und: »Samater. Er ist sehr früh gekommen. Er sagte, er sei auf dem Weg ins Büro. Seine Augen waren blutunterlaufen vor Schlaflosigkeit und er sah sehr unglücklich aus. Er ist
gekommen, um mir ein gutes und frohes Neujahr zu wünschen.« Medinas schweifender Blick nahm alles in sich auf, was als äußerer Hof bezeichnet wurde, sowie auch den Lehmweg, der von den laufenden Füßen Abu Bakrs gezähmt worden war. Das Tor war jetzt größer als in ihrer Kindheit. Hier und da waren kleine Ansammlungen von Büschen, Sträuchern und Erdnussgewächsen. Genau an diesem Ort hatte Medina als Kind gespielt; hierher sollte sie nach dem Wunsch ihrer Mutter Ubax bringen; natürlich gab es die Grashalme aus Medinas Kindheit nicht mehr, doch die Erde, von der sie als krabbelndes Kleinkind ihren Anteil geschluckt hatte, war fett wie eh und je. War ihre Mutter es denn nicht zufrieden, dass so viele Nichten und Neffen mit pockennarbigen Gesichtern da waren und das Haus stets von Kindergeplapper erfüllt war? Kurzum, Fatima bint Thabit wollte, dass Medina dorthin zurückkehrte, wo sie ihre ersten Zähne bekommen hatte. »Wenn du nicht bei Samater bist, als Frau für einen liebevollen Ehemann, dann komm doch wieder hierher und sei das erwachsene Kind deiner Mutter.« Sie sagte es mit weniger Worten. Medina hatte gemeint, dass Eltern nie wissen, wie lächerlich sie in den Augen ihrer Kinder sind. Und ihre Mutter hatte zum Gegenschlag ausgeholt mit: »Wissen es Kinder je?« Dann war Schweigen eingetreten. Nun tauchte Samaters Name wie ein verborgener Schatz auf. Medina fragte: »Das ist eine schöne Halskette, Mutter. Wo hast du sie her?« »Gefällt sie dir?« »Ja.« »Ein Geschenk aus Algier. Samater hat sie heute früh gebracht.« »Wie nett.« »Weißt du noch, wer mir dieses Kleid geschenkt hat?« »Nein. Sollte ich?«
Nun also waren beide auf See, die Ruder von beiden stießen auf Urgestein, denn sie waren über felsigem Grund und ihre Erinnerungen nass wie Regenfälle in der Wüste. Fatima bint Thabit war nicht wohl in ihrer Haut, weil sie nicht von dem reden wollte, was Samater ihr anvertraut hatte. Er hatte ihr sein Herz geöffnet, dachte sie. Da weder Medina noch Nasser ihr irgendetwas Wichtiges mitteilten, verleitete die Tatsache, dass Samater sie aufgesucht und schlecht von seiner eigenen Mutter gesprochen hatte, sie zu dem Glauben, er habe ihr ein Geheimnis anvertraut, das sie für sich behalten sollte. Doch sie war froh, dass ihr Kleid und ihre Halskette die passenden Stichworte geliefert hatten. »Weshalb hat er vom Bidet gesprochen?« fragte Medina. »Hast du ein Bidet fürs Haus bestellt?« »Nicht für das, in dem er wohnt. Hat der Laden es dorthin geliefert? Ich habe ein Bidet für Nassers Haus bestellt, in dem ich wohne.« »Was sich manche Leute für Luxus gönnen!« »Wie meinst du das?« »Nun, jetzt hast du zwei Bidets in deinem Haus, und wahrscheinlich keines in Nassers.« »Wieso zwei?« »Seine Mutter Idil hielt es für einen Segen und sagte, schon seit langem sei sie der Auffassung, dass keine gute Muslimin etwas berühren sollte, was eine Nicht-Muslimin (also du) berührt oder benutzt. ›Das ist das Bidet, das nun das Hausmädchen und ich benutzen werden, um uns geläutert und rein zu machen, bevor wir uns vor unserem Schöpfer niederwerfen.‹« »Das ist nicht zu überbieten, was? Wie diese Frau Symbole gebraucht, ist überwältigend! Und wer zahlt für das Bidet? In wessen Haus ist sie? Von wessen Teller isst sie? Eine übermächtige Frau.«
Sie unterdrückte ein Lachen. Fatima bint Thabits halbaristokratische Manieriertheit (»Sie hat weder Klasse noch Stil, oder?« schockierte sie Medina einmal. »Idil hat nicht das Gleiche wie ich, hm?«) bewahrte sie davor, die Szene mit einer Geste, welche die Bewegung ihrer Hand suggerierte, zu ruinieren. Die Hand erhob sich demnach wie von einem Plateau, blieb aber bildfüllend vor Medinas Augen in der Schwebe, schob sich zwischen sie und die Sonne – groß, abschirmend und elegant wie ein Adler nach der Mauser. Bei solchen Gelegenheiten dachte Medina immer, Fatima bint Thabit sei Nassers Mutter und nicht ihre. Ihre Mutter schaute nun auf Geschichtliches, sie betrachtete das, was beinahe hundert Jahre alt war, ein Gebäude, in dem die Familie von Medinas Mutter seit Generationen gelebt hatte – die Thabits, die Abu Bakrs und diejenigen, die ihre Söhne und Töchter heirateten. Medina wurde der Familienbrust entwöhnt, bevor sie fünf war, und spürte die Nähe nicht wie die anderen, konnte deren Sichtweise nicht übernehmen, so wie sie sich alle trabantenhaft durch den Großen Patriarchen miteinander verbunden sahen. »Ich würde das zu einem meiner Kinder nicht sagen«, stellte Fatima bint Thabit fest. »Es ist barbarisch und unhöflich.« »Das würdest du nicht?« »Vielleicht, weil ich eher als sie der Vielfalt und Verschiedenheit von Denkweisen und Herkünften ausgesetzt war, obwohl ironischerweise ich die verschleierte Frau bin, die an die Kordel ihrer Purdah angekettet ist, die Kordel, die einen stranguliert, und sie, ja, sie ist die freie somalische Nomadin, wie ein Straßenköter auf die Welt losgelassen. Ihr Herz ist verschmort, als sie im Auftrag eines dieser Restaurants Maisfladen gebacken hat. Glaubst du, ich bin ungerecht?« Ein süßes kleines Ding kam in Sicht, ein kleines Mädchen, das sich nicht näher hertraute. Vielleicht hatte jemand es erst
von hinten geschoben. Fatima bint Thabit ermutigte es mit Worten wie: »Komm und begrüße deine Tante Medina.« Das verlegene kleine Wesen kam her und nahm Medinas Hand, als wäre sie ein Mikrofon, in das es sprechen wollte. Medina entzog dem Mädchen brüsk die Hand, fasste es unters Kinn und küsste es auf die Backen, dann hielt sie ihm selbst die Wange hin. »Gib ihr deine Hand«, sagte Fatima bint Thabit, »nicht deine Wangen.« »Was?« »Deine Hand und nicht deine Wangen. Verdirb uns Übrigen nicht alles. Komm schon! Gib ihr die Hand wie jeder andere Verwandte.« »Aber…« »In einer Welt von Gleichrangigen umarmst du und schüttelst Hände, ohne den Kopf wie vor einem König oder einer Königin neigen zu müssen. Kinder aber sind den Eltern, was Vasallen für Könige sind: Da muss der Kopf geneigt werden, das Kind sollte Kopf, Rücken und Leib beugen, dann die Hand von einem der Eltern empfangen und sie küssen. Wenn du allerdings eine Person auf die Wange küsst, schaust du ihr ins Auge und könntest sie mit deiner mächtigen Linse scharf erfassen und ihre Unsicherheit im Flackern der Lider mitbekommen oder sehen, wie sich eine Träne in den liebenden Augen bildet. Meinst du, ein König oder eine Königin möchte das gern miterleben? Oder ein Elternteil?« Medina wollte schon gegen die Worte ihrer Mutter aufbegehren, sah dann aber, dass das arme Kind sich etwas von ihnen entfernt hatte. Sie begnügte sich damit, ihr nicht zu Ende gedachtes Argument allgemein zu halten: »Ich sehe das anders, Mutter. Ich sehe mich nicht als die tyrannische Mutter, die über einem zitternden Kind aufragt, die Hand halb erhoben auf eine Weise, dass das Kind nicht weiß,
ob ich zuschlagen, etwas hergeben oder nur den Kopf tätscheln will.« »Aber darauf kommt’s an. Du musst sie im Ungewissen lassen.« »Du erinnerst mich an jemand, den ich kenne!« »Ist dein Kind denn gleichrangig mit dir?« »Selbstverständlich. Mein Kind ist meine Liebe und du kannst nur jemand von gleichem Rang lieben.« »Nein, nein.« »Mir fällt ein Ausspruch meines Großvaters ein: ›Eine Frau muss wie jedes andere untergeordnete Wesen ständig rätseln, darf keinen Grund zur Annahme erhalten, dass sie sich einer Sache gewiss sein kann.‹« »Das stimmt. Kinder müssen im Ungewissen gehalten werden. Sie dürfen dich nie in deinem schwächsten Moment sehen. Ein Kind ist ein untergeordnetes Wesen, genau genommen. Und was die halb erhobene Hand betrifft, wo sich das Kind nicht sicher…« »Aber das ist exakt die gleiche Auffassung wie die des Generals. Die Massen müssen im Ungewissen bleiben. Die Massen sind untergeordnet, sie können in keinem Fall begreifen, wie eine Regierung funktioniert, sie können dies oder das nicht einschätzen. Niemand ist sicher, was passieren wird; niemand ist sicher, wer an deine Tür klopfen wird, niemand darf in der Lage sein, schon im Voraus zu wissen, was stattfinden wird. Es ist das Gleiche, nur mit dem ideologischen Zuckerguss politischer Zweckdienlichkeit überzogen. Geht etwas so Einfaches nicht in deinen Kopf?« »Das ist Politik, die ich sowieso nie verstehe.« »Aber du tust es.« »Nein, eben nicht.« »Doch, doch, doch.« »Es gibt etwas, das ich verstehe. Ja, eine Sache.«
»Und das wäre?« »Du und Nasser, ihr seid beide nicht gewillt, Kopf, Rücken und Leib zu beugen, um eurer Mutter die Hand zu küssen. Ihr wahrt Distanz und Nasser besucht mich kaum. Doch Samater ist ein Kopfbeuger, ein Verneiger, Samater ist so. Er fühlt sich nicht im Geringsten gehemmt, er macht das ganz natürlich. Er küsst mir die Hand.« »Der General hat ihn ausgebildet.« »Vielleicht ist seine Mutter dafür verantwortlich.« »Nein, ich schreibe es dem General zu. Alles.« Fatima bint Thabit erhob sich und schritt ohne ein Wort zu einem Pfad, der um das alte Gebäude herumführte. Wo ging sie hin? Natürlich, dachte Medina, ja klar. Sie würde die Familiengruft direkt hinter dem alten Gebäude aufsuchen. Grabhügel so hoch wie Sanddünen, hier von einem Kaktus, da von einem Wüstenbusch gesäumt. Die Steine, welche die Gräber bezeichneten, waren fahl geworden wie Staub. Ganz der Andacht hingegeben kniete sich Fatima bint Thabit nacheinander vor die Grabhügel. Sie fing bei dem an, der eine nicht mehr lesbare Inschrift trug. Niemand brauchte Medina zu sagen, wessen Grab das war, sie wusste, es war das von Abu Bakr, dem Mann, der diese Familie gegründet hatte, der die See überquert, Augen und Anker auf die Perle seiner Wahl geworfen hatte, nämlich Mogadischu. Er war der Mann, der den Grundstein für das Haus gelegt hatte, dessen Historie die Familiengeschichte bildete. Er war so kraftvoll wie ein Dichter gewesen. Ein riesenhafter Mann, obwohl Medina sich nicht zu dem Glauben durchringen konnte, dass er so ein Riese war, wie immer erzählt wurde; der Mann war von Hadramaut gekommen, einer von Sarong tragenden Knirpsen bevölkerten Halbinsel. Fatima bint Thabit ging von Abu Bakrs Grabhügel zu dem von Gad Thabit, ihrem Vater. Sie blickte sich um und sah, dass Medina den Kopf nicht einmal ansatzweise geneigt
hatte. Dann ging sie weiter und sprach kurze Gebete für die Seelen der kleineren Familienmitglieder, die hier begraben waren, die Seelen der kleinen Jungen, von denen einer im selben Jahr wie Medina geboren worden war. Die Mädchen wurden wie üblich wieder diskriminiert und nicht hier beerdigt; sie kamen außerhalb des Familienfriedhofs unter die Erde. Tatsächlich hatten die meisten keine Steine, die ihre Grabstätte bezeichneten. Fatima bint Thabit wandte sich wieder mit einem Blick nach ihrer Tochter um, doch diesmal lag ein schwaches Lächeln auf ihrem Gesicht. Dann erhob sie sich, stützte sich auf ihren Stock und kam auf Medina zu. »Du weigerst dich sogar, vor den Toten den Kopf zu senken und dich zu verneigen. Das verwundert mich. Das bringt mir Dinge in den Sinn, die so schlimm sind wie deine Seele. Wie kannst du es ablehnen, dich vor deinen eigenen Großeltern zu verneigen und hinzuwerfen?« Die Sonne stand hoch und machte Fatima bint Thabits Gesichtszüge flach, ließ sie älter und betagter aussehen. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren scharf, aber dünn, eher wie eine von einem Kind gezeichnete Linie. Sie kam auf gleiche Höhe mit Medina und ging dann ohne ein Wort an ihr vorbei. Sie betrat das Gebäude und Medina folgte ihr. Die Tür führte in den offenen Innenhof, der wiederum zu den Türen der anderen Zimmer führte. Eines davon betraten sie. Der Raum war von der Sonne erhellt und auch sehr lärmig, da beinahe ein Dutzend Kinder, unter ihnen Ubax, dort spielten, einander auf den Rücken kletterten, dann auf die Betten, und miteinander rangelten, verspielt, freudig, aufgeregt kreischend. Beim Eintreten der Erwachsenen jedoch wurde alles still; die Kinder verzogen sich mit Ausnahme von Ubax von den Eisenbetten, die sie in ihrer Spielfreude durcheinander gebracht hatten, und marschierten still hinaus, die Köpfe
gesenkt, den Blick abgewandt. Als alle anderen gegangen waren und ihre Mutter und Großmutter sie anstarrten, fühlte sich Ubax ein wenig verlegen, fühlte sich so schwer wie ihr Kopf, den sie demzufolge beugte, als auch sie hinausging. Medina war versucht, etwas zu sagen, zog es aber vor, in die andere Richtung und dann an die Decke zu blicken. »Komm, komm«, sagte Fatima bint Thabit zu Medina. »Tritt ein.« »Ja, ja.« Ein Hausmädchen servierte ihnen Kaffee. Die Wände waren olivbraun und trugen die Fingerabdrücke mehrerer Generationen von Erwachsenen und Kindern, deren Hände Flecken hinterlassen hatten wie von Babys verschmierte Schokolade. Der Raum roch wie eine Küche; ein Hauch von Knoblauch lag in der Luft. Die Decke starrte auf Medina zurück, eine Decke so solide wie deren eingefärbte Balken. Das Fenster war groß und bildete damit einen Widerspruch zu allem Übrigen, obwohl die Wände dick waren wie mit Liebe verzierter harter Stein. Auf der Wand ihr gegenüber war eine Fotografie von Gad Thabit, ihrem Großvater, der seine liebste seidene Djellaba trug, die er in Mekka gekauft hatte, an dessen heiliger Stätte er nach seinen Behauptungen zehn der Sklaven seines Vaters freigelassen hatte (wenn auch gemunkelt wurde, dass er sie verkauft hatte). Die Aufnahme – ihr Großvater prahlte damit, fiel ihr wieder ein – war vom Generalvizegouverneur, Signor de Felice, gemacht worden, Sandras Großvater. Medina war damals zu jung gewesen, um zu fragen, ob de Felice ihn gezwungen hatte, die Sklaven freizulassen. Sandra vertrat diese Ansicht und prahlte damit herum. Doch nicht nur das, sie zeigte Medina und Nasser die Korrespondenz ihres Großvaters, worin er mehr oder weniger zugab, dass Thabit »die härteste Nuss war, die ich je geknackt habe«. Der Mann sagt, fuhr der Brief fort, »einige Menschen
sind zu Sklaven geboren, andere sind zu Herren geboren. Der Narr, der starrköpfige Narr! Und so habe ich seinen ganzen Besitz beschlagnahmt, ihn und seinen Sohn ins Gefängnis gesteckt und gesagt, ich würde sie nicht eher in Freiheit setzen, als bis sie ein Schreiben unterzeichnet hätten, dass er alle seine Sklaven freilassen würde. Oh, der Stolz des Mannes, dio mio! Dann dachte ich an einen Kompromiss: Die Kolonialregierung würde ihm eine Reise nach Mekka unter der Bedingung zahlen, dass er seine Sklaven mitnahm und ihnen dort die Freiheit gab. Wir wussten, das würde er nicht tun. Doch selbst wenn er sie woanders verkaufte, kümmerte uns das nicht, solange es außerhalb unserer Jurisdiktion geschah, solange wir das Vertrauen der Versklavten gewannen. Das war so weit der einzige Kompromiss, den die beiden anderen harten Nüsse akzeptiert hatten. Also ging auch er. Beim Abschied sagte er im Scherz, dass er mit der Provision zurückkommen werde. Ob ich glaube, dass das Gerücht, das wir hörten, irgendeine Grundlage hatte? Wahrscheinlich verkaufte er sie auf dem freien Mark, wer weiß! Ein Narr, wie ich noch keinen zuvor gesehen habe. Jedenfalls machte ich bei seiner Rückkehr ein Foto von ihm. Der Stolz des Mannes, dio mio!« »Noch Kaffee?« fragte Fatima bint Thabit. »Nein, danke.« Fatima bint Thabit goss sich noch eine Tasse ein. »Ich habe Samater heute früh, als er kam, gefragt, ob an der Geschichte von der Heirat mit dem Hausmädchen, das seine Mutter aus Mudug hergebracht hat, etwas dran sei. Er sagte, daran sei kein Körnchen Wahrheit, es sei Klatsch. Hast du das gewusst?« »Dass er ein Hausmädchen heiraten würde?« »Oder so.« »Was soll ich sagen?« »Macht es dir nichts aus, ob er heiratet oder nicht?«
»Es ist nicht so, dass es mir nichts ausmacht.« »Nicht, dass es dir nichts ausmacht? Was meinst du damit?« »Es macht mir was aus! Das ist die aufrichtige Antwort.« »Ich hab das sonderbare Gefühl, dass ihr beiden mit uns spielt, uns neckt. Aber hast du je bedacht, dass du diesmal vielleicht überzogen hast? Ist es dir je in den Sinn gekommen, dass dies ein sehr teurer Spaß sein kann? Er wird womöglich seinen Ministerposten verlieren. Und wer weiß, ob du nicht ihn verlierst oder ihn wieder in deine Arme aufnimmst als veränderten Mann, einen gebrochenen Mann, ohne Stolz, bedürftig, mit einer laufenden Nase: ein potenzieller Selbstmörder.« »Ich muss zugeben, das habe ich nicht bedacht.« »Ich bin mir so sicher wie der Existenz Allahs, dass er vor Ende der Woche seinen Posten verlieren wird.« »Woher weißt du das?« »Ich hab ihn letzte Nacht in einem Traum gesehen. Er war in Lumpen, er sah ausgemergelt aus, am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Du weißt, Träume erklären oder rechtfertigen nichts, doch ich konnte nicht einsehen, warum ein armer Mann in Lumpen am Rande eines Nervenzusammenbruchs steht. Das geht nie zusammen. Was zählt, ist das, was er gesagt hat.« »Und, was hat er gesagt?« »Er war sehr unglücklich im Traum, genauso unglücklich, wie er im wirklichen Leben war, als er mich besucht hat. Hast du kein Mitleid? Hast du kein Gefühl in dir? Warum? Warum?« »Jetzt aber, lass uns nicht…« ›»In der Beständigkeit ihres Heims‹, hast du mal gesagt, ›steht meine Mutter im Schatten ihrer Purdah und linst durch Löcher in ihrem Herzen.‹ Du hast dann noch hinzugefügt, dass
ich eine von den Ausgeschlossenen bin und du eine der Dazugehörigen bist.« »Ja?« »Du bist eine Gefangene deiner Grundsätze und deiner geheimen Träume, Medina; ich bin eine Gefangene der Tradition, das will ich nicht abstreiten. Jeder Mensch ist immer ein Gefangener des einen oder anderen: ein Gefangener erworbener Gewohnheiten oder ein Gefangener der Hoffnung, an die er gekettet ist.« Dann herrschte Stille. Und im Türrahmen war die Gestalt einer älteren Frau, die nicht eintreten wollte, bis Fatima bint Thabit sie aufforderte (als wäre sie eines dieser hilflosen Kinder, dachte Medina). Das Auftauchen der Frau half Medinas Gedächtnis auf die Sprünge, erinnerte sie daran, dass die Familie einst mit Sklaven gehandelt hatte. Die Frau vom Flussvolk war in der Tat ein Überbleibsel der »Größe der Familie und ihrer Abkunft von königlichem Geblüt in Hadramaut«, wie Fatima bint Thabit zu sagen pflegte. Die Frau, gedrungen und vollbusig, war zehn oder zwölf Jahre jünger als ihre Herrin Fatima, die sie immer mit »hiindo« ansprach. Nun verneigte sie sich, als sie näher kam, lächelte bei der Verbeugung und kam gebückt näher. Sie war ein Tier auf allen vieren, unterwürfig, gehorsam, kindhaft, erinnerte an eine Vergangenheit, an der Medina keinen Anteil hatte. Noch auf allen vieren küsste sie Fatima bint Thabits Hand. Medina schrie: »Hab ich dir nicht jedesmal, wenn ich hier war, gesagt…« »Ja, ja, hast du, aber sie ist eine Gefangene ihres Rangs«, erklärte ihre Mutter. Medina sprach ihre Gedanken nicht aus. Fatima bint Thabit wandte sich an die Frau: »Was ist? Bedrückt dich etwas?«
»Sie sind gekommen«, sagte die Frau. »Soll ich sagen, dass Sie nicht gestört werden wollen?« »Wer?« wollte Medina wissen. »Wer ist gekommen?« Es war nicht nötig, ihre Frage zu beantworten. Die Frauen traten schon nacheinander ein, Frauen, die verschleiert über die Straße gegangen waren, jedoch nun die Purdah abwarfen und nicht länger geisterhaft und geheimnisvoll aussahen. Eine nach der anderen beugte sich und küsste Fatima bint Thabits hingehaltene Hand, als wäre sie der beringte Mittelfinger eines Papstes; dann drückte jede Frau den Zeigefinger in den Einschnitt zwischen ihren Brüsten, eine zu Herzen gehende Geste der Aufrichtigkeit, begleitet von einer leise gemurmelten wohlwollenden Begrüßung. Doch sobald sie in den Bereich des Zimmers kamen, in dem Medina war, wurden sie verlegen, was diese kurzzeitig unwirsch machte. Anscheinend war Fatima bint Thabit eine ihrer Achtung würdige Person, wohingegen Medina nichts weiter bedeutete. Kurz darauf verteilten sich die sechs Frauen gleichmäßig wie Abendvögel, die dem Licht nachziehen. Drei von ihnen ließen sich bei Medina nieder, während die anderen drei sich zu Fatima bint Thabit setzten. Eine Zeit lang wusste keine, was sie sagen sollte. Doch Medina merkte eines: Sie war sich dieser verschlingenden Augen des Neids bewusst – die starren Blicke der Frauen schossen sich auf sie ein. Sie glaubten, ihnen wäre nichts von ihr verborgen; Medina konnte ihr letztes Geheimnis darauf wetten, dass sie exakt Datum und Stunde wussten, zu der sie Samater verlassen hatte, und natürlich beide Versionen der Geschichte kannten: seine und ihre. Doch wie, wie erfuhren sie davon? Diese Frauen gingen gewöhnlich einmal die Woche aus dem Haus und tauschten bei diesem ›Freigang‹ hinter ihren nur Konturen zeigenden Schleiern den jüngsten Klatsch und geflüsterte Intimitäten aus. Ein Leben mit einem feststehenden Zusammenhalt, ein Leben in Form einer
eingesperrten Existenz, es war so, als würden diese Frauen »im Innern eines Wals leben, der kaum an Land ging«. »Kennst du mich noch?« fragte eine schwer aus den Fugen gegangene Frau, die ein Kleid in schrillen, exhibitionistischen Farben trug. »Kennst du mich noch, Medina?« Medina dachte nach, doch sie konnte sich nicht erinnern, wer diese Frau war, obwohl sie die andere durch ein entsprechendes Eingeständnis nicht beleidigen wollte. Ihre Mutter sah dies, bemerkte, wie gebannt die anderen davon waren, ihre Diva bei einem banalen Gedächtnistest versagen zu sehen: Das konnte sie nicht zulassen, sie würde intervenieren, dazwischengehen und sich einmischen. Genau aufs Stichwort sagte Fatima bint Thabit: »M’dina!« Schweigen – alle sahen Fatima bint Thabit an. In ihrer Stimme lag Stolz, als sie den Namen ihrer Tochter aussprach. Es lag an der Art, wie sie die Silben artikulierte und sie einpasste, als würden sie bloß dadurch zusammengehören, dass sie sie aussprach; es lag am bewussten Auslassen des »e« zwischen dem »m« und dem »d«, womit sie sicherstellte, dass ihre Tochter wenigstens den Wink mitbekam: Dass ihr Name nicht Mina war, wie Nasser und ihr enger Freundeskreis, ob Europäer oder Somalis, sie nannten. Natürlich war dies für das anwesende Publikum verschleierter schlichter Gemüter nicht erfassbar. Das würden sie nicht begreifen. Doch darum ging es: eine Verbindung zu schaffen, eine geheime Passage, zu der die anderen keinen Zugang hatten, eine geheime Verbindung zwischen Mutter und Tochter. Dann nochmals: »M’dina!« Sie biss diesmal das »m« ab und hielt es zwischen den Zähnen, ließ aber beim »d« locker wie ein Löwin, die mit ihrem eigenen Nachwuchs spielt. Damit traf sie die Unterscheidung: Mina – die Säule als Ziel, das Ziel als Symbol
Satans. Es ging die Geschichte, dass Satan, als Ibrahim angeordnet wurde, seinen Sohn Gott zu opfern, anbot, dem kleinen Ismael zur Flucht zu verhelfen. Das geschah dreimal, und jedes Mal wurde Satan von den Steinen von Ibrahims Gottesglauben getroffen. Mina, der Ort, an dem dies stattfand, ist gekennzeichnet durch Säulen, welche die Gläubigen mit Steinen bewerfen. Mina liegt in Mekka. Ihre Tochter hieß Medina und war als Muslimin geboren, auch wenn sie entschieden hatte, als Ungläubige zu sterben. Medina: die Stadt der Rechtschaffenheit. Mina: der Ort, wo Säulen gesteinigt werden, ein Symbol des Satans. Den Unterschied gilt es gefälligst zu beachten! »Natürlich kennt sie dich noch, Anisa. Wie könnte sie es vergessen haben?« »Ich habe gedacht, sie würde mich nicht mehr kennen«, sagte die Frau. »Anisa? Natürlich kenne ich dich«, meinte Medina. »Und das ist meine Schwester Zuhaira«, sagte Anisa. Ihr Gedächtnis hakte die aufgelisteten Namen ab; doch was hatte sie außer den Namen behalten? Nichts. Zwei kleine Mädchen, die vor Jahren mit ihr spielten. »Wir sind uns auch begegnet, als du einmal von deiner Universität auf Urlaub hergekommen bist. Weißt du noch? Wir sind die Zwillinge. Du bist eineinhalb Jahre älter als wir.« Doch sie sahen aus, als wären sie Ende vierzig. Ach, egal, dachte Medina jetzt und fragte: »Verheiratet? Du bist noch verheiratet. Ich erinnere mich, dass du eklige Probleme mit deinem Mann hattest.« »Wir sprechen nicht mehr über solche Dinge.« »Kinder? Wie viel habt ihr jetzt?« Hier schaltet sich Medinas Mutter ein. »Elf Kinder haben die beiden zusammen.« »Elf? Himmel!«
Sie blickte von einer zur anderen, dann zu ihrer Mutter und schließlich wieder auf diejenige, die gerade sprach. Anisa, dann Zuhaira. »Ich hatte acht und sie sechs.« »Das sind vierzehn.« »Drei sind gestorben. Vor ihrem zweiten Geburtstag.« Eine neuerliche Pause. »Infolge von Unterernährung?« Das war ihr zu hoch. Sie sagte einfach: »Zwei von mir und eins von Zuhaira.« Noch eine Pause. »Wir wissen, dass du eines hast«, sagte Zuhaira. »Und Nasser hat eines, Alhamdulillah für alles«, sagte Anisa. »Er ist hier, nicht wahr? Ist gestern gekommen, oder nicht?« »Ja.« »Wie geht es ihm?« »Es geht ihm gut.« »Und seinem Sohn?« Fatima bint Thabit, die ihre Augen geschlossen hatte, öffnete sie, als der Name ihres Sohns erwähnt wurde, wartete aber, bis sie sicher war, dass sie ihr aufmerksam zuhörten. Sie räusperte sich, weswegen die anderen sich ihr zuwendeten. Dann lieferte sie ihren Beitrag: »Allah offenbart sich auf viele Arten.« »Alhamdulillah!« Etwas in Medinas Hirn verhakte sich, die Zahnräder der Zeit passten nicht recht zusammen und die Schraubenmuttern waren zu groß für die Spanne des Schlüssels. Das Wirkliche wurde eine Bedrohung und das Unwirkliche glich einem Unfall, bei dem jemand anders starb und sie nicht. Auf diese Art wurden die Vergangenheiten dieser Frauen zum Albtraum, der den Staub des unbegangenen Wegs aufwirbelte. Eine, die auf demselben Bett wie ihre Mutter saß, fragte:
»Stimmt es, dass du ein Buch über die Revolution schreibst?« »Ein Buch?« »Du hast Samater verlassen, haben wir gehört, weil du ein Buch schreibst, in dem du die Revolution kritisierst. Und da du nicht im selben Haus wie ein Mann wohnen konntest, der Mitglied im Kabinett dieses Regimes ist, hielt er es für das Beste, dass ihr euch trennt. Stimmt das?« War der Wal an Land gegangen? fragte sie sich. Auf jeden Fall war sie freudig überrascht, dass sie intelligente Fragen stellten, dass sie keine banale Wissbegierde an den Tag legten, in der Tat intelligenter als eine Versammlung von Samaters Kollegen, die über nichts anderes sprachen als Frauen, Geld, Auslandsreisen, Geschenke für ihre Geliebten und Ehegattinnen und – am wichtigsten von allem – über ihre Obsession: das Alter. Wer war älter als wer, wer ging vor wem zur Schule… »Aber woher weißt du davon?« Die Frauen tuschelten untereinander und kicherten. Sie waren sicher, die richtige Frage gestellt zu haben. Sie waren sicher, dass sie Samater verlassen hatte, weil sie ein kritisches Buch über das Regime des Generals schrieb. Es war ihr »Aber woher weißt du davon?«, das ihren Verdacht bestätigte. Vielleicht konnte sie die Sache in der Luft hängen lassen wie ein Fragezeichen, das nach spanischer Art auf dem Kopf stand und von keinem Punkt geziert war. Sie blickte auf die Uhr und tat plötzlich so, als wäre sie in Eile. Sie sagte etwas von Schlüsseln und dass Nasser keinen hatte und dass sie noch nichts gekocht habe. Sie müsse jetzt wirklich gehen. »Bleibst du nicht zum Essen?« fragte ihre Mutter. »Es tut mir Leid, aber ich habe glatt vergessen, dass Freunde zum Essen vorbeikommen und Nasser keinen Schlüssel hat, um reinzukommen. Also muss ich mich wirklich auf den Weg machen.«
Ohne Umschweife rauschte sie aus dem Zimmer, küsste keiner die Wange oder die Hand. Wenn der Wal an Land ist, dachte sie, als sie den Flur entlang ging, um Ubax mitzunehmen, sind die Sterne enger verflochten und Münder sind geschlossen. »Ubax« rief sie nach ihrer Blume. Geräuschlos wie die allermodernsten Fußfesseln kam die ältliche Bedienstete vom Flussvolk zum Vorschein und wollte wissen, ob »hiindo« Medina irgend etwas brauchte. Sie wirkte geduckt in einer angedeuteten Verbeugung und ihrem geneigten Kopf. »Da ist sie«, sagte Medina und deutete auf ihre Ubax. »Danke, nein. Ich habe Ubax gerufen. Komm, Liebling. Wir gehen. Danke, danke vielmals. Komm, Liebling, komm, Ubax.« »Aber Medina…«, begann Ubax. »Komm, hab ich gesagt. Komm.« Sie nahm Ubaxs Arm und ging davon. »Wir gehen heim?« »Ja, Liebling. Wir gehen heim. Magst du dich richtig hinsetzen?« Medina fuhr durch Villagio Arabo und nieste ein- oder zweimal in einer allergischen Reaktion auf den durchdringenden Knoblauchgeruch in der Luft. Ubax maulte und sagte, sie wäre so gern noch bei ihren Spielgefährtinnen geblieben. Trotz des milden Protests ihrer Tochter ließ Medinas Anspannung nach und lockerte sich daraufhin wie ein Sarong. Mit ihrer rechten Hand konnte sie Ubax durchs Haar streichen, Ubax, die nun lächelte, deren Blick sich senkte wie die Purdah hinter einer Frau, die gerade ihr Haus betreten hat. Sie musste brüsk bremsen, als die Ampel von Gelb auf Rot sprang. Vier verschleierte Frauen überquerten die Straße und Medina bemerkte, dass ihre Knöchel und Zehen beringt, ihre
Handgelenke von Reifen geschmückt waren. Es wurde grün. Medina legte den Gang ein und fuhr los. Ihr Denken wechselte den Kontinent, reiste nach Indien, wo purdah so weit verbreitet war wie tyrannische Schwiegermütter. Zumindest, sagte sie sich, gaben Feste wie Holi den Frauen Gelegenheit, einmal im Jahr ihre Anspannung zu lösen, ihre Schleier fallen zu lassen, lauthals zu schreien und die Männer, die sie auf den Straßen antrafen, mit Farben so rot wie ihre Menstruation anzumalen. Was hatten die Araberinnen und verschleierten Musliminnen, um Dampf abzulassen? Nichts. Noch dazu wird wiederum in Indien für die Jungfrauen ein heiliges Feuer aufgeschichtet und zahnlose Männer sitzen in dessen Schatten, mummeln ächzende Gebete an Kanya und an Lakshmi, die Göttin des Reichtums. Sie bog um eine Ecke und parkte ein. »Wir sind daheim, Liebling. Wach auf«, sagte sie zu Ubax. Ubax machte ein langes Gesicht. Medina beugte sich vor, um sie zu berühren. »Lass mich in Ruhe.« »Schon gut, schon gut, Schätzchen.« Medina sagte, sie würde allein gehen. Aber: »Möchtest du nicht was essen?« »Nein.« »Was ist denn los?« »Schau mal.« »Was denn? Zeig her.« Ein kleiner Kratzer, an dem das Blut schon getrocknet war. »Ein Kratzer von einem Fingernagel. Vielleicht hat ein Mädchen, als ihr gespielt habt, dich gekratzt. Es ist nichts. Weißt du, wer es war?« »Die Vaterrammlerin von einem Mädchen.« Medina blieb vor Überraschung die Luft weg. »Was hast du gesagt?« »Die Vaterrammlerin von einem Mädchen, hab ich gesagt.«
»Ubax. Ich möchte, dass du deine Ausdrucksweise änderst. Ich möchte, dass du sagst, es tut dir Leid.« »Alle anderen Kinder reden so.« »Du bist nicht wie alle anderen Kinder. Ich möchte nicht, dass du ihre Sprache sprichst. Jetzt will ich, dass du dich bei mir entschuldigst.« Medina griff nach ihren Zigaretten und Streichhölzern. Sie zündete sich eine an. Ubax begriff das als den Höhepunkt, den ihre Auseinandersetzung erreichen konnte. »Aber ich will, dass du wie andere Mütter bist. Ich will nicht als die Tochter von Medina ausgegrenzt werden. Ich möchte, dass du wie die Mütter der anderen Kinder aus dem Viertel bist. Und wie du immer sagst, werden die Blütenblätter der Liebe deiner Tochter welk, wenn sie mit Rauch in Kontakt kommen.« Medina war so schockiert, dass sie sich am Rauch verschluckte. Dann erkannte sie, was sie getan hatte, und drückte die Zigarette augenblicklich aus. Sie nahm ihren ganzen Mut und Willen zusammen. »Ich werd’s versuchen, wenn du es auch probierst«, sagte sie und hielt ihrer Tochter die Hand hin. »Ich werd’s probieren.«
8
Der Blinde sieht mit seinem Stock, dachte sich Nasser, als er allein zu Dulmans Haus ging; der Stock eines Blinden führt, tappt, trifft, fühlt und sagt seinem von ihm abhängigen Träger, wo die Dinge in Bezug zu ihm sind. Der Blinde hält seinen Stock senkrecht, dann diagonal, dann waagrecht und schließlich wieder senkrecht Der Stock hilft ihm, die Dinge in einer neuen Perspektive zu sehen, Dinge, die im allgemeinen als eine bloß angedeutete Kontur beginnen, ein auskragender Zwischenstock, die Drehungen und Windungen eines Geländers oder sonst irgendeine Falle. Die Erdoberfläche wird wie ein Buch in Brailleschrift gelesen; der Stock trifft auf ein kleines Loch im Boden, das Loch behindert die Auf-und-abBewegungen des Stocks, so irritierend wie das Sandkorn in Medinas Reis, das ihre Zunge sorgsam von den Körnern trennt; Medina, deren Zunge, an Boden oder Wand ihres Mundes anliegend, mit eigenen Augen sieht, schmeckt, sich Zeit lässt, wenn sie die blinden Stockzähne entlang gleitet. Der Blinde sieht mit seinem Stock…
»Jaalle?« sagte ein Mann zu Nasser, ein Mann, den er noch nie gesehen hatte. »Ja?« Nassers Grinsen war dünner als ein Glitzern, als er erst die Sonne anblinzelte, dann den Mann. Der Mann zog es vor, zu schweigen, und die beiden schritten nebeneinander her. Doch was wollte der Mann? War er einer von jenen, vor denen Medina gewarnt hatte, eines jener verdächtig aussehenden
Individuen, die, wie sie sagte, sich an jemand heranmachen, dessen Gesicht oder Namen ihnen nicht vertraut ist, und ihn in ein Gespräch zu verwickeln versuchen, um ihm Informationen zu entlocken, ob für oder gegen das Regime? Wie gut Medina eine solche Begegnung beschrieben hatte – es schien beinahe so, als hätte sie das geplant, als hätte sie gewusst, wie oder wann das eintreten würde. »Männer mittleren Alters mit einem Zweitagebart, das Haar ungepflegt, die Hosen ausgebeult, in jenem Grad von Ungepflegtheit, wie sie Neuankömmlingen in der Stadt zugeschrieben wird; außerdem haben sie den lässigen Gang eines Päderasten, der durch die Straßen streift, in denen er schon immer gejagt hat. Sie verwickeln dich in ein nichts sagendes Gespräch, stellen die dümmsten Fragen und imitieren zuweilen die klischeehaften Detektive aus Krimis, denen eine unangezündete Zigarette im Mundwinkel hängt und die um Feuer bitten.« Doch der Mann, der nach Nassers Auffassung zu Medinas Beschreibung der Kategorie von Überwachungsbehörde passte, zu der er gehörte, schwieg, sagte nichts. Dann griff er nach etwas in seiner Tasche, brachte eine Packung Zigaretten zum Vorschein und bat um Feuer. Nasser antwortete nicht gleich; die Stümperhaftigkeit des Mannes verletzte seinen Stolz. Dementsprechend fühlte er sich billig, wie eine aufgegabelte Prostituierte. Er war sicher, dass alle in dieser staubigen Straße ihn beobachteten, dass die Frauen sich gegenseitig in die Rippen stießen, als sie sahen, wie »der Päderast sein Opfer abfing«; er war sicher, dass die Kinder, die sich über das Neujahrsfeuer gebeugt hatten, innehielten, weil auch sie bemerkt hatten, was sich da abspielte. Der »Fänger« und sein »Opfer« strebten aufeinander zu, umkreisten einander wie Ringer, standen sich wie Duellanten gegenüber und jeder dachte, der andere sei in der Tat das »Opfer, das dem Tod geweiht ist«, jeder wollte, als er
die Augen zum Zielen verengte, den anderen unbedingt aus dem Weg räumen. »Nein, ich rauche nicht«, sagte Nasser. »Magst du keine?« »Ich hab gesagt, ich rauche nicht.« »Und du hast auch keine Streichhölzer?« »Nein. Aber du kannst sie dir am Neujahrsfeuer anzünden, dessen Flammen den geruchlosen Wind würzen. Da. Dort. Billig wie eine Prostituierte.« »Das stimmt. Feuer überall. Billig wie Petrodollars.« Einen Augenblick schienen die Augen des Mannes trübe zu werden, als wäre ihnen das Öl der Neugier und Empfänglichkeit ausgegangen, doch dann flammten sie lebhaft wieder auf. Er machte keinen Versuch, stehen zu bleiben, um sich die Zigarette anzuzünden. Verhielt er sich wie ein kleines Kind, das sich lieber in die Hosen macht, als die Einzelheiten einer immer wieder erzählten Geschichte zu verpassen? Er achtete darauf, dass er Nasser nicht in dem Augenblick verlor, den es brauchte, um sich zu bücken und die Zigarette anzuzünden. Nun war sich Nasser sicher, dass im Kopf des Mannes so viel Nacht herrschte wie auf seiner Haut. Und von Alto Bondheere aus konnte Nasser die See schäumen und hoch in den Himmel spritzen sehen, und er dachte, das Salz sei in die Wunden der Wellen gerieben worden und heile sie. Er warf einen verstohlenen Seitenblick auf den Mann und kämpfte schwer dagegen an, ihn in ein Gespräch zu verwickeln; doch vielleicht sollte er ihn fragen, ob er den Weg zu Dulmans Wohnung wusste. »Dulman, die berühmte Schauspielerin?« »Kennst du sie?« »Kennt jemand sie nicht?« »Gehen wir in die richtige Richtung? Führt uns diese Straße zu ihrem Haus?«
»Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« »Warum? Ich dachte…« Der Mann blieb stehen, kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn; er übertrieb diese Gesten der Konzentration, um Nassers Vertrauen zu gewinnen. Dann lächelte er siegesgewiss, hielt sich für den Gewinner dieser Runde, weil er etwas hatte, das er dem Hauptquartier berichten konnte. Er hatte die höchst bedeutsame Nachricht, die an diesem Tag jeder »Päderast« hätte aufschnappen können: dass Dulman, die Lady der Revolution, in ihrer Residenz von Nasser besucht wurde, einem Mann, der zweifellos antirevolutionär war. Der Mann schmatzte triumphierend mit den Lippen, glaubte, er habe kampflos gewonnen. »Darf ich vorangehen?« fragte er Nasser. »Natürlich.« Sie drehten um und gingen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Hin und wieder kam die Sonne heraus und führte eine Herde Wolken wie ein Hirte sein Vieh, dann blieb sie stehen, wartete auf sie und wurde eins mit ihnen, verschmolz mit dem staubigen Dunst, den sie aufgewirbelt hatten. Wenn die Sonne sich verbarg, wurde alles lichtlos wie in den schwachen Augen einer senilen Person. Der Geführte und der Führer. Wer sieht was oder wen? dachte Nasser, als er dem Mann folgte. Der General, so tyrannisch, wie Dionysios der Realität gegenüber blind war, hat eine Höhle aus Ohren geformt, in denen die Geheimnisse seiner Gefangenen widerhallen; es ist schade, dass weder die Blinden in der Lage sind, die Lippen ihrer Gesprächspartner zu lesen, noch die Tauben hören, was sie sehen; aber Generäle haben ihre Systeme und Philosophen ihre Logik. »Wie lang kennst du Dulman schon?« fragte der Päderast. »Sie ist eine gute Freundin von mir.« »Wo hast du sie das letzte Mal gesehen?«
»In Arabien. Warum?« »Kommst du daher?« »Ich lebe in Jiddah. Du bist aber neugierig. Warum stellst du all diese Fragen?« »Du lebst in Jiddah und bist hier zu Besuch? Ich bin nur freundlich«, sagte der Mann mit dem Grinsen des Siegers. »Stimmt irgendetwas nicht? Ich bin nur freundlich, das ist alles.« »Ich lebe einen Teil des Jahres in Rom und den Rest der Zeit in Jiddah.« »Für einen Fremden sprichst du unsere Sprache recht gut.« »Ich bin gar kein Fremder. Ich bin hier geboren.« Sie kamen an einigen Kindern und Frauen vorbei, die über ein Neujahrsfeuer sprangen. Der Mann, sah Nasser, schnaubte verächtlich bei dem Anblick; vielleicht fand er es als Nordländer dämlich, dass diese Südländer so streng an ihren heidnischen Bräuchen der Feuerverehrung und Neujahrsopfer festhielten (im Norden warfen sie brennende Stecken und beschwörten dabei Satans unheilige Namen). Doch er sagte lieber nichts, ging weiter vor Nasser her. »Dulman ist vor kurzem zur Lady der Revolution gekürt worden«, sagte der Mann. »Ich nehme an, du weißt das.« »Ja, das weiß ich«, sagte Nasser. Er genoss diese perverse Unterhaltung. Was konnte sie ihm schaden? Schließlich würde ihm sein ausländischer Pass zugute kommen. Oder etwa nicht? »Du hast sie seitdem nicht gesehen, oder?« »Nein.« »Hast du das Lied gehört, mit dem sie sich diese Ehre errungen hat?« »Nein.« »Es ist ein wunderschönes Revolutionslied.« Der Mann blieb plötzlich stehen. Er räusperte sich und schickte sich an, ein paar Zeilen des Lieds zu singen, mit dem
Dulman die Ehre und den Titel errungen hatte. Seine Stimme war rau wie Sandpapier und knirschte in Nassers Ohren. »Er ist der Garant für Gott, Das ist er sicherlich, Seine Maschine ist in Schuss, Um der Nation und Gott zu dienen.« Der flehentliche Blick, der um einen Kommentar zum Lied und zur Sängerin bat, traf auf Nassers stumme Gleichgültigkeit. Der Mann wiederholte den Refrain. Die Kinder hatten aufgehört, über die Feuer zu springen, und die Frauen, die den schlafenden Teufel aus ihren Matten klopften, verharrten mit erhobenen Händen und lauschten. Ein oder zwei Jungen applaudierten, während die anderen pfiffen und buhten. Nasser war verwundert über so viel Nacht im Kopf des Mannes und seine Stümperhaftigkeit war, sonderbar genug, überaus bestürzend. Andererseits bedarf es einer bestimmten Sorte von Mann, die sich dem Staatssicherheitsdienst des Generals anschließt, oder nicht? Genauso wie es eines schwachen Charakters bedarf, um ein Minister in diesem Regime zu werden. Nasser trat einen Schritt zurück. Der Mann gab weiter die Richtung vor, was den Weg wie auch das Gespräch anging. »Wenn du einen Teil des Jahres in Jiddah lebst und den andern Teil in Rom, heißt das, dass du nicht oft nach Mogadischu kommst?« »Das ist richtig«, sagte Nasser. »Und wann warst du das letzte Mal hier?« »Vor sechs Jahren.« »Dann bist du der richtige Mann. Was hältst du von der Revolution?« »Ich hab nicht genug vom Land gesehen. Ich bin erst gestern angekommen.«
»Meinst du damit, Dulman hat sich nie für die Revolution ausgesprochen?« »Dieses Gespräch wird langsam lächerlich. Was hat Dulman mit all dem zu tun? Ich sagte schon, ich habe sie seit unserem letzten Treffen in Saudi-Arabien nicht mehr gesehen, ich weiß gar nicht mehr, wann das war.« Schweigen. Sie gingen weiter. Die Sonne verbrannte die Minuten, Sekunden des Tages, während Nasser darauf wartete, dass der Mann ihn mit einer weiteren provokanten Frage herausforderte. Dann entspannte sich der starre Blick des Mannes zu einem Lächeln: Er erkannte, er hatte es mit einem Schwergewicht aufgenommen, er sah ein, er würde mit dieser Last nicht vom Fleck kommen, wenn er sich nicht tief bückte und sein Gewicht langsam, aber sicher, und Stück für Stück stemmte, immer höher, bis die Stränge seiner Armmuskeln die Geometrie seines starken Körpers nachzeichneten. Andernfalls würde sein Rückgrat einen Knacks bekommen und er könnte das Gewichtheben vergessen. Nasser überraschte den Päderasten mit einer Frage, die ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Nasser, der nichts zu verlieren hatte, fragte: »Bist du bei der Sicherheit?« »Warum? Wie kommst du darauf?« »Dein Gang und dein Verhalten.« »Wie meinst du das?« »Du wirkst auf mich wie ein Mann, der sich nicht entscheiden kann, ob er den Gewehrkolben oder ein freundliches Lächeln einsetzen soll, um zu bekommen, was er will; und dennoch benimmst du dich wie ein untergeordneter Offizier in einer zu großen Uniform.« Sie standen sich eine ganze Weile gegenüber. Nasser war froh, dass seine Stimme so schneidend klang, so scharf und aggressiv wie Chili. Dann kam ein vor seiner Mutter
davonlaufendes Kind her und stellte sich zwischen sie, schaute flehentlich auf Nasser; an den Augen des Mädchens hingen zwei große Tropfen noch nicht vergossener Tränen wie Zwiebeln. Nasser wandte sich der Mutter des Mädchens zu, die herkam und versprach, sie würde das Kind nicht schlagen, wenn es mit ihr kam. Das Mädchen wollte das nicht glauben. Doch die Mutter gelobte es bei ihrer eigenen Mutter. Und das kleine Mädchen nahm die Hand, die den Stock fallen ließ, mit dem sie zugeschlagen hätte. Als die beiden weg waren, deutete der Mann auf eine Tür. »Das ist Dulmans Haus.« Er wartete nicht darauf, dass Nasser ihm dankte, sondern sagte, bevor er ging: »Ich bin sicher, wir sehen uns wieder.« Nasser ging hin und drückte Dulmans Klingel. Ein junges Mädchen, wahrscheinlich mit Dulman verwandt, hatte ihn hereingebeten und in einem Zimmer allein gelassen, das von der Sonne erweitert und erheitert wurde und leer war bis auf einen Tisch, einen Stuhl und einen Kassettenrecorder, an dem jemand die Eject-Taste gedrückt und den Kassettenschacht offen gelassen hatte. Während er wartete, entschied er, sich der Reihe nach die wenigen Fotografien anzuschauen, die mit der Gelassenheit beglaubigter Geschichte die Wände zierten. Es war ein Jahr her seit jenem Abend in Jiddah, an dem er ihr zu Ehren eine Party gegeben hatte. Offenbar hatte sie inzwischen einen Ehrentitel errungen und die Fotos hielten den Anlass zur Erinnerung fest. Soyaan war postum zum »Helden der Revolution« und Dulman nun zur »Lady der Revolution« geadelt worden. Nassers Blick ging von einem Foto zum nächsten. Sein Herz pochte wie der Puls bei hohem Fieber, als sein Blick die Unterschrift erspähte und er las: »Die Mutter der Revolution verleiht den Ehrentitel an die Lady der Revolution.« Er stellte sich vor, Dulman müsse sich von dieser Unterscheidung verraten gefühlt haben: die
Mutter der Revolution im Gegensatz zur Lady der Revolution. Sie hätte es sicher vorgezogen, sagte er sich, nicht den Titel der Ladyschaft zu erringen, sondern Freud und Leid der Mutterschaft, punktum! Sie hatte nie in Wehen gestöhnt, sie war eine unfruchtbare Frau zwischen siebenunddreißig und vierzig, weshalb es immer unwahrscheinlicher war, dass sie eine Mutter wurde, die von der Milch der Mutterschaft feucht war und nach dem Bäuerchen eines Babys und nach dilq roch. Dulman, die gablan! Sie glaubte, dass sie einer Entweihung zum Opfer gefallen sei, dass ein »düsterer Fluch auf ihrer Weiblichkeit« liege, wie ein Scheich gesagt hatte. »Der Bann dieses Fluchs kann erst gelöst werden, wenn die Scheichs für sie gebetet haben.« Und sie gab Monat für Monat eine Reihe von Festen für die Scheichs und jeder Perle in der Gebetskette wurde eine Serie von Dekaden gewidmet. Sie nannten sie eine hohe Frau. Sie feierten ihre Rülpser mit Verkündigungen der Dankbarkeit und alhamdulillah und berührten ihre Stirnen in Verehrung Allahs, der großzügig gibt. Sie zählten die Segen bringenden Gebetsperlen. Doch sie blieb unfruchtbar wie zuvor. Nicht nur das. Zur gleichen Zeit, als diese teuren Gebete ihre Finanzen austrockneten und sie sich immer mehr Geld ausleihen musste, um die Forderungen der Scheichs zu erfüllen, fiel der Stern ihres Ruhms plötzlich wie ein Meteor. Sie war bankrott und schwer verschuldet. Keiner der Produzenten des Nationaltheaters bot ihr mehr Rollen in den inszenierten Stücken an. Und in dieser überaus katastrophalen Zeit akzeptierte sie, eine Tournee durch den Mittleren Osten zu machen, organisiert vom Ministerium für Information und nationale Führung. Es war eine Tournee, die alle berühmten Sängerinnen abgelehnt hatten. Doch sie war schwer verschuldet gewesen und es war ihr egal, ob sie die speichelleckerischen Verse des Generals oder des Teufels sang, solange im Vertrag eine Klausel stand, dass sie anständig
bezahlt wurde und nach Beendigung der Tournee zu einer von der Regierung bezahlten Reise aufbrechen könne, um die bekanntesten Gynäkologen in Europa zu konsultieren, damit sie ein Kind bekommen konnte, da nun einmal »die Korandrüsen ihrem erträumten Nachwuchs nicht zur Geburt verhelfen konnten«. Die Tournee durch den Mittleren Osten war in jeder Hinsicht eine Katastrophe. Die Exilgemeinden der Somalis in Saudi-Arabien hatten sich zu kleineren Einheiten organisiert und jeden Abend ging eine bestimmte Gruppe hin und buhte und pfiff die Vortragenden aus. Ein- oder zweimal erhielt sie Drohanrufe. Eines Abends rief jemand sie an und sprach von einer Zeitbombe, die explodieren würde; der Theatersaal wurde von den saudiarabischen Sicherheitskräften rechtzeitig geräumt. Verständlicherweise lief Dulmans Popularität bei den Somalis allgemein und bei den Exilierten im Besonderen völlig auf Grund. Nasser traf sie während dieser katastrophalen Tournee. Sie weinte sich eines Abends an seiner Schulter aus und sagte, er sei derjenige, den eine Wahrsagerin beschrieben hatte und von dem sie ein Kind bekommen würde, wenn er mit ihr schlief. Nasser ließ sich darauf ein. Es wurde nichts daraus, genauso wie aus den tausenden Malen nichts geworden war, als sie geglaubt hatte, ihr Schoß könne eine Weissagung behalten, befruchten und erfüllen. Vier Ehemänner. Sie hatte einen traditionellen Arzt in Lagos konsultiert, als sie zum Black Arts Festival dort gewesen war. »Sie meint, sie schulde der Welt ein Kind«, sagte einer ihrer Ehemänner. »Noch dazu ist sie zuversichtlich, dass in ihr der Mahdi ist, den sie auf die Welt bringen muss. Sie ist verrückt, total aufs Gebären versessen, und ich habe sie nie auch nur für eine Sekunde vom Tod reden hören. Ein echt pathologischer Fall.« Doch hatte sie dem etwas entgegenzusetzen? Ja, sie sagte zu Nasser: »Meine Weiblichkeit weist zum Mond. Ich werde unter dem Warten
nicht leiden; ich werde leiden, wenn ich verzweifle. Wenn ich eine Botschaftersgattin oder die Geliebte eines der Mächtigen wäre, wer weiß? Dann hätte ich schon einen Arzt gefunden, der sich etwas einfallen ließe, damit ich vor meinem Klimakterium noch eine Weissagung erfülle.« In jener Nacht kamen sie zu einer Vereinbarung: Gegen Bezahlung würde sie ihm Aufnahmen aller Untergrundsongs schicken. Er drehte sich um, als er die Tür aufgehen hörte. Dulman. »Ah, da bist du ja«, sagte er. »Nasser, Nasser, hast du nicht warten können? Warum bist du heute gekommen?« »Wieso?« »Unheil. Schreckliches Unheil. Und ich habe Angst.« Sie packte ihn regelrecht am Kragen, als sie ihn küsste, so wie eine Nichtschwimmerin sich an allem festklammert, was gerade vorbeitreibt, wie eine Ertrinkende, die sich an einer anderen Person festhält, deren Wärme Sicherheit gibt. Sie hielt ihn am Kragen, als sie ihn küsste, so als würde sie ihr unerfülltes Leben wie ein Handtuch zum Trocknen an ihn hängen und es für immer dort lassen. Sie war kalt, sackte wie von Sinnen zusammen und packte ihn; er musste sein Gewicht dagegenstemmen, damit er nicht auch die Balance verlor und auf sie fiel. Sie küsste ihn in einem fort auf den Hals; er mühte sich ab wie ein totes Huhn in seinen letzten Zuckungen. Dann ließ sie ihn los und holte tief Luft. Tiefe Ruhe machte sich breit, als hätte sich gerade ein Gewitter verzogen. Sie ging von ihm weg und nahm in einem Sessel Platz. Dann machte sie ein Zeichen, er solle näher kommen. »Ich dachte, du würdest heute nicht kommen«, sagte sie. »Und fürchtete doch, du würdest.« »Ich hab es versprochen.« »Die Leute machen immer Versprechungen und halten sie nicht. Das ist, worüber ich mich bei meinem Volk am meisten
beklage. Früher war es qawl sharaf, aber was bedeutet das heute noch?« »Ich hab’s versprochen und bin hier.« War ihre innere Stärke nach ein paar Begegnungen mit der nackten Gewalt des autoritären Regierungssystems schon brüchig? Es schien so, als sei sie nicht bereit, ihn zu empfangen. Hatte er Dulmans Ruhe und Frieden gestört? War jemand bei ihr? Sollte er fragen, ob es stimmte, dass es der zweite Vizepräsident der Republik gewesen war, der sie in dieser Villa untergebracht hatte, mit Telefon und Wachdienst? »Du siehst gut aus«, sagte sie. »Du siehst auch super aus.« »Wann bist du angekommen?« Ihm kam die Begegnung mit dem Beschatter auf dem Weg zu ihrem Haus wieder in den Sinn und er fragte sich, ob er ihr davon erzählen sollte. Vielleicht brauchte sie bloß zu telefonieren und könnte jeden entfernen lassen – ohne Anstrengung! Doch er begriff nicht, warum sie so angespannt war, warum die Luft im Raum dicht, schwer und atembeklemmend war. Das machte ihm Unbehagen und er hielt es unter diesen Umständen für das Beste, ihr das Geschenk sowie den beiliegenden Brief zu überreichen, etwas, das einige ihrer Fans ihr durch ihn zukommen ließen. Deshalb sagte er sehr unbeholfen und ohne Vorrede oder Nettigkeiten: »Hier ist ein Geschenk, das ich dir bringen sollte.« Er hielt es ihr hin, als wäre es ein Blumenstrauß, lächelte sie dabei an, war freundlich. Sie sah bekümmert aus, zutiefst besorgt, und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sie war argwöhnisch. Ihr Stichwort jetzt: die Bühne des wirklichen Lebens und Menschen, die an andere denken, die sie mit Geschenken überhäufen. Sie war es gewohnt, auf der Bühne Armbanduhren und Halsketten beschert zu bekommen, die ihren Eigentümern zurückgegeben werden würden, wenn das
Stück aus, das Fest vorbei war. Dachte sie, das wäre auch so ein Geschenk, das jemand wieder einfordern und für sich reklamieren würde wie diese Armbanduhren, Halsketten und Seidenschals, mit denen Schauspieler und Schauspielerinnen, kurzfristig und nur solange die Vorstellung lief, geschmückt werden? Oder war das etwas Besonderes – ein Geschenk, das sie behalten durfte? Sie erhob sich. Ihr langes Kleid, knöchellang, rauschte über den Boden. Stille. Das war die Bühne des Lebens. Sie schritt auf und ab, sagte nichts, wie in den Sekunden, wenn das Publikum verstummte und darauf wartete, dass sie ihr berühmtestes Lied sang, das den Titel »Kain, in den Tod verliebt« trug. Verstumme und lausche dem seidigen Rauschen ihrer Schritte. »Kain, in den Tod verliebt« war Hadraawis vollkommenstes Werk gewesen, Hadraawi, der zweifellos der beste Dichter war, den Somalia in den letzten zehn Jahren hervorgebracht hatte. Doch sie mochte Abdi Qays lieber, einen weiteren exzellenten Lyriker; sie sagte, es sei leichter, Qays’ Verse zu lernen, zu verstehen und sich damit zu identifizieren. Sie ging stumm wie eine Nadel bei der Arbeit auf und ab, obwohl sie hin und wieder den Eindruck vermittelte, sie würde diese Stille mit dem lieblichsten Lied durchbrechen, das je zu hören war. Er erinnerte sich, dass die Exilgemeinde der Somalis im Mittleren Osten ihr den Spitznamen Umm Kalthoum des Horns von Afrika gegeben hatte. Endlich setzte sie sich. »Wer genau hat mir dieses Geschenk geschickt? Und darf ich es behalten?« »Da ist ein Schreiben von denen, die dir dieses Geschenk geschickt haben.« »Wer?« »Hier ist das Schreiben. Du kannst es selbst lesen.« Er ließ das Blatt in ihren Schoß fallen. Sie hob es auf und drehte es, als wäre es eine heiße Kartoffel, die sie erst
abkühlen lassen sollte, bevor sie einen Bissen davon nahm. Sie entfaltete das Blatt und hielt es wie eine weitsichtige Person von sich weg. Er dachte, sie würde vielleicht sagen, dass sie ihre Brille vergessen hätte und ob er es ihr freundlicherweise vorlesen könnte – etwas, das viele Somalis sagen, wenn sie nicht zugeben wollen, dass sie nicht lesen können. Nasser jedoch war sich sicher, dass sie Somalisch lesen gelernt hatte; sie hatte ein Versprechen abgegeben, es zu lernen. In einem darauf folgenden Brief hatte sie ihm mitgeteilt, sie hätte es getan. Doch nun blickte sie verkniffen auf etwas, das jemand auf das Papier vor ihr geschrieben hatte, schüttelte den Kopf und gab ihm das Blatt zurück. »Ich kann nicht«, sagte sie. »Was?« »Ich kann nicht lesen. Ich weiß nicht, wie.« »Lies!« »Ich kann nicht.« »Lies in Allahs Namen!« Ihr traten die Augen wie bei einer Besessenen hervor, einer von Furcht Besessenen. Und sie schwieg lieber. Nun schritt er auf und ab, fing an, sich Allahs erste Begegnung mit dem Propheten durch Gabriel vorzusagen. Lies, lies in Allahs Namen. Lies im Namen deines Herrn, der dich aus geronnenem Blut erschaffen hat. Das Manna und davor die Torah in fünf Büchern mit ausgiebigen und umfangreichen Anweisungen. Die Araber nennen die Juden »das Volk des Buches«. Die Araber bezeichnen ihre eigene Sprache als die des Korans. Das ist sicherlich eine sehr interessante Unterscheidung. Die arabische »Sprache« erhält allerhöchste Bedeutung durch das »Volk«, das sie spricht. Lies, lies in Allahs Namen. Doch kann jemand lesen, bevor er schreibt? Mit einem einzigen Schlag, mit einem sehr simplen Befehl göttlicher Allmacht wollte Allah, dass die Araber ein Volk wurden, ja, ein Volk mit einer schriftlichen Überlieferung. Lies
in Allahs Namen, sprich Meinen Namen nach dem Engel Gabriel, der dir die göttliche Botschaft der Schriftkunde gebracht hat. Mohammed war ein ummi und er las. »Magst du es mir vorlesen?« Sie hielt ihm das Blatt hin. »Du hast mich angelogen.« »Nein, hab ich nicht. Als ich von der Tournee durch den Mittleren Osten zurückkam, habe ich mich daran gesetzt, lesen und schreiben zu lernen und vierzehn Tage nur das gemacht. Damals habe ich Fanpost bekommen und musste wissen, wie ich diese Briefe beantworten sollte. Ein paar Monate später dann, als keine Fanpost mehr kam, verlernte ich das Lesen und Schreiben wieder. So einfach ist das.« Ihre Worte rührten ihn nicht, denn er teilte nicht ihre Ansicht, dass Lesen und Schreiben nach Belieben zu beherrschen sei, was eine Theorie von Medina war, eine Theorie, welche die Somalis generell als »buchfremd« klassifizierte. Lies, sagte er sich nun, liebe Dulman, lies im Namen des Allmächtigen, der großzügig ist in Seiner Vorsehung und der deine Vaginapfropfen beseitigen könnte, ohne dass du den geringsten Schmerz spürst, und der in deinen fruchtbaren Boden ein Kind legen könnte, einen Mahdi. »Du glaubst, es ist so einfach?« sagte sie. »Was?« »Es geht nicht um das Erlernen des Alphabets. Es geht um einen Wandel, darum, eine andere Person zu werden. Es ist nicht so leicht. Du veränderst dich nicht zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang desselben Tages. Um ein schriftkundiges Volk zu werden, bedarf es langer Zeit und ungeheurer Geduld.« »Warum ist es so einschüchternd?« »Warum ist der Tod so schrecklich?« Darauf verstummte sie. »Ich vermute, weil wir Veränderungen fürchten.«
»Warum?« (Ihm fiel eines auf, nämlich dass sie vom Tod sprach.) Er hörte zu. »Ich vermute, weil du den Kontakt mit dem verlierst, was du am besten kennst, hingegen aber nicht weißt, was der Tod auf Lager hat. In meinem Alter ist es nicht leicht, sich an Neues zu gewöhnen.« »In deinem Alter? Du redest, als wärst du uralt.« »Der einzige Zustandswechsel, der mir nichts ausmachen würde, wäre, Mutter zu werden. Das ängstigt mich nicht. Und es ginge nicht so sehr um eine Veränderung, eher vielleicht um eine Herausforderung.« Sie schwiegen wieder. Ein junges Mädchen kam mit einem Tablett herein, auf dem alkoholfreie Getränke für sie waren. Dulman tätschelte ihm liebevoll den Kopf, als es das Tablett absetzte. Dann sah sie, dass sie das Blatt hatte fallen lassen. Das Mädchen bückte sich, um es aufzuheben, doch Dulman gab ihm mit einem Kopfschütteln zu verstehen, das sei nicht notwendig. Nasser nahm die Getränke entgegen, die sie ihm hinschob. Das junge Mädchen kehrte mit einem Stuhl zurück, den es vor ihn stellte, worauf es hinausging. Nasser setzte sich. Er nahm einen Schluck vom Orangensaft. »Macht es dir keine Angst, dass du als Analphabetin sterben könntest?« fragte er. »Ich bin keine ›Analphabetin‹. Medina hat mir das erklärt. Aber warum reden wir über das alles? Sprechen wir von dir, von uns, hm? Warum diskutieren wir darüber, ob ich Analphabetin bin oder nicht? Wir können auch das Geschenk außer Acht lassen, das diese Leute mit dir und diesem Schreiben geschickt haben.« »Durch eine Ironie der Geschichte«, sagte Nasser, »hat ein analphabetischer ›Prophet‹ ein Volk aus der mündlichen Überlieferung geholt und sie gezwungen, sich der schriftlichen Überlieferung anzuschließen. Das war der Prophet
Mohammed. Und durch eine andere Ironie der Geschichte hat ein analphabetischer General, der sich gottgleich geriert, das Gleiche versucht.« Das schwache Sonnenlicht zwängte sich kraftlos durchs Fenster. Mit ihm kam ein Schwall Rauch herein. Dulman hustete. Nasser wunderte sich, traute sich aber nicht zu fragen, warum auf ihrem Anwesen kein Feuer angezündet war. Kam es daher, dass sie meinte, es lohne sich nicht, ein Feuer zu entfachen, ein Feuer, in dessen Flammen sie ihre Zukunft lesen konnte? »Nun ja, dann erzähl mal«, sagte er. »Was?« Er sprang nervös auf und stellte sich vors Fenster, drehte sich dann wieder um und schwieg eine Weile. Erst nach einer halben Ewigkeit sagte er: »Wie ist es dir ergangen?« »Gut, sehr gut. Und dir?« »Gut, sehr gut.« Er kam wieder her, setzte sich aber nicht hin. »Wie geht die Arbeit?« »Welche Arbeit?« »Deine Theaterarbeit, die Stücke, in denen du spielst, wie laufen die Dinge im Allgemeinen bei dir?« Mit ausdruckslosem Gesicht sagte sie: »In letzter Zeit war nichts mehr mit Theater. Hat dir Medina das nicht erzählt?« »Ich hab sie nicht gefragt. Was ist passiert?« »Schwer zu erklären.« Ihre Augen waren kalt wie Metall, leblos. Dann: »Reden wir von dir. Wie geht dein Geschäft?« Er sagte nichts. Ihr fiel ein, was er ihr früher mal gesagt hatte: Dass erst im Verhältnis zu den Personen oder Dingen, mit denen jemand zu tun hat, das eigene Leben bedeutungslos oder bedeutungsvoll wird. Sie sah zu, wie er ihr das Päckchen, das er aus Jiddah mitgebracht hatte, hinschob; sie sah zu, wie er
den Kassettenrecorder zu sich herzog. Er blickte in den leeren Kassettenschacht. Seine Stimme klang mitgenommen, als er sprach. »Da du nicht schreiben kannst und nicht liest, benutzt du das hier, nimmst alles direkt aus des Dichters Mund auf und lernst dann deine Rolle, ist es so?« Ein Schatten der Trauer hatte sein Gesicht überzogen. Sie fragte sich, warum er nicht glauben wollte, dass sie mit dem Theater nichts mehr zu tun hatte, dass Stückeschreiber keine Rollen mehr speziell für sie schrieben. »Du bist abhängig von diesem Gerät und nicht von deinem eigenen Gedächtnis, um deine Rollen zu lernen?« fuhr er fort. »Du bist abhängig von der fortschrittlichen Technologie des zwanzigsten Jahrhunderts, sehe ich das richtig?« Sie stand auf und strich ihr Kleid glatt. Groß, hellhäutig und schön wie sie war, verfügte sie über attraktive Züge, die mit ihr gereift waren. Sie war von den Hüften abwärts etwas fülliger und ihre Augen waren so dunkel, wie Nassers hell waren. Beim Lächeln aber zeigten ihre Augenfältchen, wie alt sie war. Nasser glaubte, sie könnte ihre Altersrequisiten und ihre Schönheitsmaske ablegen, wann immer sie wollte, es sollte für sie so einfach sein wie das Entkleiden vor einem beinahe Fremden, einem beinahe Fremden, der ihrer Einbildung nach den Samen in sich hatte, der sich in ihrem Schoß vervielfältigen und den Glanz der Schauspielerin verbreiten würde. Mit einer Stimme so gelassen, als wäre ihre Rede geprobt, sagte sie: »Einige von uns sind mitten auf die Bühne eines Jahrhunderts katapultiert worden, in das wir eigentlich nicht gehören und mit dem wir nichts gemein haben. Einige von uns sind von den Umständen dazu gezwungen worden, die Bedingungen und Diktate der Bedürfnisse dieses Jahrhunderts zu akzeptieren. Es ist, als ob du dein Leben in natürlicher Dunkelheit oder in
einem in Mondlicht getauchten Bereich verbringst. Dann werden plötzlich starke Glühbirnen eingeschaltet und du wirst zu dem Punkt, auf den das Licht fällt, auf den sich alle Augen der Welt richten.« Sie blickte zur Decke, wo ein Käfer geräuschvoll im Herzen seines eigenen Brummens herumwirbelte, sich auf eine Art beständig um sich selbst drehte, dass Nasser dachte, er würde sich wie die symbolische Schlange in den eigenen Schwanz beißen. »Wie dieser Käfer«, sagte sie und deutete mit halb erhobenem Arm nach oben, so dass Nasser die schweißige Feuchtigkeit ihrer Achselhöhle sehen konnte. »Genau wie dieser Käfer.« »Ich begreife nicht.« »Er wirbelt im Puls seines Brummens und abgesehen davon existiert nichts. Doch die weiße Decke stellt seine Nacktheit bloß und verwandelt sie in den Fleck, auf den unsere Blicke fallen.« »Ich begreife immer noch nichts«, gestand er. Er konzentrierte sich auf die schadhafen Stellen im Putz der Decke, die Einkerbungen, die erst durch das Kerbtier stärker hervorstachen. Die Ränder des Jahrhunderts und der mittig ausgerichtete Scheinwerfer waren ein und dasselbe für ihn. Er dachte daran, wie Europa auf das Amerika schaute, das es in die zentrale Position des ganzen Wirbels katapultiert hatte; europäische Intellektuelle schauten auf das Afrika, das sie in ihrer Fantasie entworfen hatten. Ist es das, was sie meint? fragte er sich. Doch sie beobachtete den Käfer, wie er den Kopf in die Delle bohrte, die er weiter und tiefer gemacht hatte. Sie dachte, dass sie vielleicht gar nicht auf die Hauptbühne katapultiert worden waren; vielleicht schaltete niemand das Flutlicht ein, um die dichte tropische Dunkelheit zu ertränken und zu schmelzen. Wenn sie es nicht selbst
wollten, konnte kein Mensch auf der Welt sie in eine Position drängen oder ihnen Unsinn aufschwatzen. Sie zog den Kassettenrecorder zu sich, drückte auf Eject und schloss dann das Fach, indem sie es zuklappte. »Einige von uns gehören nur teilweise zum zwanzigsten Jahrhundert«, sagte sie. »Und ich glaube, wir haben das Recht, dessen Technologie genauso zu benutzen, wie ein afrikanischer Diktator richtigen oder falschen Gebrauch von einer gegebenen Ideologie macht. Es sind doch die Technologie und die politischen Widersprüche, die von dem von mir erwähnten Katapult abgeschossen werden und einen zum Opfer machen.« Nasser nickte zustimmend. In der darauf folgenden kurzen Pause summte er eine Melodie vor sich hin, die Dulman berühmt gemacht hatte. Sie aber dachte an ihre nomadische Herkunft, hing Erinnerungen an das nach, was sich abspielte, als sie das erste Mal in Hargeisa eintraf. Die ersten schwierigen Jahre. Sie durchlebte die schlimmste Phase, als sie eines Abends von einem der talentiertesten Bühnenautoren, Ali Sugulle, entdeckt wurde, mit dem sie zweimal schlief. Sie ging von einer Hand zur anderen wie ein Frachtbrief, schlief mit jedem von ihnen, kaute qaat mit ihnen und machte mit jedem den geerash. Von Sugulle zu Hassan Mumins fetten, behaarten Fingern weiter zu Mustafa Hagi Nur bis schließlich zu dem damaligen Direktor von Radio Hargeisa; sie wurde Mitglied einer Truppe namens Walaalo Hargeisa. Volkstümliche Aufführungen in Somalia verlangen kein schauspielerisches Talent. Und das Theater folgte den gleichen Zickzacklinien wie in Ägypten. Beinahe alle Theater- und Kino-Debütanten wurden aus den Männern und Frauen rekrutiert, die als Sänger oder Entertainer berühmt geworden waren. Der wichtigste Teil der Aufführungen sind die von Held oder Heldin gesungenen Liedtexte. Diese Lieder werden eingearbeitet in die nicht schriftlich fixierten Theaterstücke, die nicht mehr als
Aufschneidereien der wildesten Art sind. Die Lieder lassen die Stücke reüssieren oder durchfallen. Allerdings waren kürzlich Hadraawis surrealistische und geistreiche Stücke, die anscheinend einen Hauch von geistigem Schliff mit einer ansprechenden Reihe von Liedtexten verbinden, sehr beliebt geworden und hatten derart eingeschlagen, dass der General den Verfasser in die Provinzen hatte verbannen müssen. Er nahm einen Schluck Orangensaft. »Was ist so schwer zu erklären? Was ist passiert? Warum bekommst du keine Rollen mehr zu spielen? Warum bist du weg vom Theater, Dulman? Wirst du es mir sagen?« »Ich bin zu berühmt geworden, zu wichtig, da dachte der General, es wäre an der Zeit, mich zurechtzustutzen, so bedeutungslos zu machen wie den Witz vom vergangenen Jahr.« »Ich dachte, sie bräuchten Leute wie dich. Ich dachte, sie würden dich kaufen, dir jede Summe zahlen, damit du für sie Stimmung machst. Hast du das nicht für sie getan, als du jene grotesken Sachen gesungen und ihn wie einen Gott gepriesen hast? Wie ging das? Ich probier’s mal: ›Er ist ein Prophet Sein Name ist Mohammed Er ist ein ummi Hat aber sein Volk zum Lesen und Schreiben gebracht?‹« Sie lächelte ihm zu wie einem Erwachsenen, der eine kindische Frage gestellt hat. »Der General hat uns benutzt, als er unsere Stimmungsmache brauchte, auch weil einige von uns bei seinem Machtantritt berühmter waren als er. Doch wir waren wie ein Schatten spendender Baum, den andere gepflanzt hatten. Inzwischen bewies er allen, wie billig wir alle zu haben waren, wie wir die Uniform wechselten, wie wir Lobhudeleien auf ihn sangen, so wie wir es für niemand anders bisher gemacht hatten. Und er
hat eines getan: Er hat seine eigene Truppe von Speichelleckern geschaffen. Mit anderen Worten, er hat seinen eigenen Baum gepflanzt, lange bevor wir erkannten, dass unserer keinen Schatten mehr warf. Er schuf sich jüngere Schauspielerinnen an unserer Stelle, jünger und daher gefälliger. Lasst den Mächtigen eine Girlande jugendfrischer Mädchen zukommen.« »Und wo stehst du?« fragte Nasser. »Mir wurde der Teppich unter den Füßen weggezogen. Mir wurde klar gemacht, wie machtlos ich bin. Ich wurde beschuldigt, mit Hadraawi bei einem Untergrundstück zusammengearbeitet zu haben.« »Und weiter?« »Ich bin sicher, du hast davon gehört, dass er, bevor er eine Auslandsreise antritt, Anweisungen hinterlässt, hunderte von Leuten ins Gefängnis zu stecken, und dass seine Untergebenen das Land terrorisieren sollen. Nach seiner Rückkehr, wenn er ein oder zwei Tage wieder da ist, lässt er diejenigen frei, die seine Leute inhaftiert haben. Aber das macht er nicht, ohne ihnen seine Botschaft zu vermitteln, und so versammelt er die zu Unrecht Inhaftierten und sagt: ›Ich hatte Gelegenheit, meine Sicherheitsbeamten dafür zu tadeln, dass sie dies euch angetan haben, und es wird nie wieder vorkommen. Ich hoffe, wir haben alle daraus gelernt, dass die ohne mein Zutun plündern und rauben, eure Frauen vergewaltigen und euch ins Gefängnis stecken und all das.‹ Dann verziehen sich alle dankbar, wie er hofft, dass er da ist. Mir ist so was passiert.« »Er hat dich gerufen und…« »Eine schwarze Geheimdienstlimousine kam eines frühen Morgens, ich wurde hineingestoßen und zu seinem Büro gefahren, wo er auf mich wartete. Ich war nicht sicher, ob ich einen Posten im Kabinett erhalten oder direkt ins Kittchen wandern würde. Er sprach gewunden, ging das durch, was über
mich gesagt worden war, dann redete er davon, wie er mich vor meinem eigenen Zerstörungstrieb zu retten versuchte. Er bat mich, zwischen zwei Sachen zu wählen: entweder zu seinen Feinden überzulaufen, den antirevolutionären Reaktionären (und er nannte Clans, die mit seinem eigenen rivalisierten), oder sich ihm wieder anzuschließen. Er sagte, er habe alles mit meinen Stammesangehörigen geklärt und sie seien erfreut darüber, was er mir anzubieten beschlossen habe. Ich könnte an jeden beliebigen Ort der Welt reisen, jeden Arzt wo auch immer konsultieren, die Regierung würde alle meine Ausgaben begleichen.« »Hast du dich dann für Genf entschieden?« »Es war seine Idee. Er hat gemeint, seine Schwägerin, die Frau des Botschafters. So und so, hätte in Genf Erfolg gehabt.« »Welche weiteren Bedingungen, abgesehen vom Übertritt zu seiner Gruppe, hat er festgelegt?« »Etliche Sachen.« »Was denn?« In einem anderen Zimmer klingelte ein Telefon, hörte aber nach ein- oder zweimaligem aufgeschrecktem Läuten wieder auf. Sie legte die Hand auf den ungelesenen Brief, zog sie aber wieder zurück und blickte Nasser an. »Da ist ein Gedanke, der mir immer wieder kommt wie der Refrain eines vertrauten Liedes, etwas, das du in jener einen Nacht gesagt hast, als wir miteinander im Bett waren, allein mit Gott. Du glaubtest, hast du gesagt, dass wir Schauspieler nicht ganz verstünden, um was es bei der Schauspielerei ginge, und dann hast du die berühmten amerikanischen und europäischen Theatertheoretiker und aktiven Künstler aufgezählt. Ich glaube, ich habe gesagt, das würden wir schon, solange wir einen Bezug zu unserem Publikum aufrecht erhielten, solange wir und die Zuschauer glaubten, dass wir für sie sprachen, solange es diesen Kontakt mit ihnen gab. Du hast
verallgemeinert, dass Somalis nicht begriffen, um was es beim Theater geht. Stimmt das, Nasser?« »Bitte rede weiter.« »Der Gedanke, der mir wie ein Refrain immer wieder durch den Kopf geht, ist der, dass Somalis das einzige Volk sind, das tatsächlich die Bedeutung dieser Kunst verstanden hat. Und ich werde dir auch sagen, warum.« »Bitte.« »Schauspieler stellen dar, führen auf. Sie geben sich als jemand aus, der sie im wirklichen Leben nicht sind. Und wenn du das außerordentlich gut machst und sie dich mögen, applaudieren Somalis nicht nur, sie kommen auch auf die Bühne und schmücken dich mit ihren goldenen Armbanduhren, Halsketten und Schals, indem sie vorgeben, sie dir zu schenken; das Publikum, alle im Theater sehen, dass sie das gemacht haben, und auch sie erhalten Applaus für ihren Akt der Großzügigkeit. Ihre Freunde klopfen ihnen auf die Schulter und gratulieren ihnen. Wenn das Stück aus ist, kommen diese Schauspieler und fordern das wieder zurück, was sie dir zum Schein geschenkt haben; diese Schauspieler kommen, um das im Privaten zurückzufordern, was sie öffentlich hergeschenkt haben. Auf allen Seiten nur Schauspieler.« Sie schwieg ein paar Minuten. Dann drang wieder ein Rauchschwall ins Wohnzimmer, erinnerte sie daran, was draußen stattfand: die Feier zur Begrüßung des neuen Jahres. Nasser fragte sich, wie es Medina wohl gerade erging, wie sie mit seiner Mutter zurechtkam (er schaute auf die Uhr und dachte, sie wäre wahrscheinlich noch nicht wieder auf dem Rückweg nach Hause), und er schmeichelte sich, dass er anders war als diejenigen, die an einem solchen Tag zur Wohnung der Mutter gegangen wären. Dulman sagte gerade:
»Einmal ist ein sudanesischer Sänger – ich glaube, es war Wardi – nach Mogadischu gekommen und mit Halsketten, Armbanduhren und allen möglichen anderen Geschenken behängt worden. Als die Abendvorstellung vorbei war, schloss er sie in seine Aktentasche und wollte gerade in sein Hotel gehen, als er eine Schar Frauen auf ihn warten sah. Das nahm ihm den Wind aus den Segeln. Von da an wurde es zur Politik des Nationaltheaters, alle gastierenden Künstler über diese gewaltige Verstellung zu informieren. Was ist theatralischer als das?« »Die Griechen zum Beispiel…« »Bei ihnen kann es nicht so sein wie bei uns. Bei keinem anderen Volk. Vielleicht noch die Ägypter. Aber lass mich nicht vom hundertsten ins tausendste kommen, lass mich auf den Punkt kommen. Politik ist ein anderer Bereich, in dem wir ›theatralisch‹ sind. Der General sagt, Somalia ist sozialistisch, und wenn du irgendwen in der Öffentlichkeit fragst, was Somalias Ideologie ist, dann lautet die Antwort, dass wir sozialistisch sind. Wir geben vor, sozialistisch zu sein, wir kaufen uns das selbst ab, was wir der Welt verkaufen. Aber sind wir sozialistisch? Wir sagen, wir sind es, wenn wir in der Öffentlichkeit oder bei denen sind, die nicht wissen, dass wir nur so tun als ob, dass wir etwas aufführen. Sobald der Vorhang fällt, sobald wir allein sind, fällt die Maske, wir reden von der Stammesformation im Regime des Generals und kommen, um unseren Anteil an der Beute zu verlangen.« Sie verstummte wieder. Nasser grinste, belustigt darüber, wie sicher sie sich all dessen war, was sie gesagt hatte. Er schaute auf die Uhr, denn sein Magen hatte zu knurren begonnen. »Der ungelesene Brief ist hier«, sagte er, »und hier ist das ungeöffnete Päckchen. Möchtest du bitte das Geschenk annehmen, das ich dir mitgebracht habe?« »Nein, wirklich nicht.«
»Aber warum?« »In Riad, Rom, Genf, Nairobi und Abu Dhabi, überall, wo ich gastierte, sah ich Somalis, die in schockierend obszönem Elend leben. Nicht Armut, nein, sondern bloß jene tiefe Niedergeschlagenheit, bei der mir alles hochkommt und ich mich übergeben möchte, wenn ich daran denke. Ich hab sie von den kleinen Hütten, in denen sie leben, weggehen sehen. Ich hab gesehen, wie sie sich in Bars zum Tratsch versammelten. In der uralten Nomadentradition des Landes trafen sich Gleichaltrige im Schatten eines Baums, um zu reden, sich Gedichte anzuhören oder Klatsch zu verbreiten. Das ist im Ausland durch Bars ersetzt worden. Ich hab gesehen, wie sie sich wie Zugvögel bewegten. Sie hielten sich stundenlang in einer dieser Bars auf, um dort vorrangig über den General zu reden und was er ihnen angetan hat, aber sie machen nie einen Finger krumm, organisieren sich nie gewerkschaftlich und rebellieren nie. Leben sie immer noch in diesem abgrundtiefen Elend? Leben sie in höchster Angst, deportiert zu werden, weil ihre Papiere nicht in Ordnung sind? So mittellos zurückgeschickt zu werden wie bei ihrem Weg in die Freiheit? Aus Saudi-Arabien en bloc ausgewiesen zu werden? Ist das noch so?« »Es hat sich nichts verändert.« »Wie kannst du dann erwarten, dass ich ihr Geschenk annehme?« »Weil sie ihren Frauen, Kindern, Eltern und noch schulpflichtigen Brüdern und Schwestern hier Geld heimschicken, und weil die Geschenke, die sie schicken, von allen anderen angenommen werden.« »Schließlich habe ich das Elend, in dem diese Leute leben, gesehen, ihre Mütter, Brüder und Schwestern aber nicht. Sonst würden sie es sich zweimal überlegen, ehe sie einen ehrlos in
Saudi-Arabien, Nairobi, Abu Dhabi oder Kampala erworbenen Penny annehmen.« Darauf wusste er keine Erwiderung. Dann fiel ihm die Botschaft ein, die Abdullahi Dheere ihn zu überbringen gebeten hatte, entschied aber, es sei nicht der richtige Moment für diese Art Mitteilung. Er stellte fest, ihm fiel kein Grund ein, womit er die Leute entlasten könnte, die sie verdammt hatte – denn in gewisser Weise konnte er ihr nur beipflichten. »Kannst du mir sagen, warum Somalis im Ausland erbärmlich leben, besonders wenn sehr viele auf einem Haufen sind?« fragte er. »Und warum hassen sie sich so sehr, dass sie einander aus dem Weg gehen?« »Weil das ›Theatralische‹ und das ›Maskenfest‹ im Ausland kürzer sind. Tatsächlich dauert es länger, Seifenschaum abzuwaschen. Und dann werden sie humorlos, wortkarg, wissen nicht, was sie einander sagen sollen.« Dulmans Augapfel wurde weißer als eine Monatsbinde. Er sah allmählich einen Sinn hinter ihren Worten, hinter den von ihr benutzten Analogien. Doch er war enttäuscht, dass sie entschlossener war, als er sie kannte, und sie schien sich ihrer Entscheidungen sicher zu sein; sie wusste, was sie mochte, was sie hasste. Und der Arzt, den sie in Genf konsultierte, hatte ihr gesagt – das wusste er sowieso –, dass kein Arzt etwas für sie tun könne. Das half ihr wahrscheinlich, entschiedener zu sein, half ihr, sich dem Leben mutig zu stellen – und zwar allein! Sie sah, wie er ein- oder zweimal auf die Uhr blickte. Dann stand er auf. »Es tut mir sehr Leid, dass du nicht mehr spielen oder singen wirst.« »Es gibt andere«, sagte sie ohne jede Gefühlsregung. »Nein, nein, sie sind nicht so gut wie du.« »Vielleicht sogar besser. Einige jedenfalls. Zumindest eine ist es.«
»Deine Lieder haben unsere Tage im Exil unbeschwert verstreichen lassen«, sagte er. Sie eilte ans Telefon, das im anderen Zimmer klingelte. »Tut mir Leid«, sagte sie, als sie zurückkam. Sie war in Eile, als würde etwas Stärkeres als sie selbst sie drängen, glich einer Person, die augenblicklich aufbrechen muss, weil sie sonst den Zug versäumt. Wahrscheinlich hatte es mit dem Anruf zu tun, der eben gekommen war. »Ich fürchte, ich muss dich verlassen.« »Aber… hat es… Was ist los?« fragte Nasser. Sie schritt nervös umher, dann packte sie den Brief und das Päckchen, das er gebracht hatte, und gab ihm im Austausch etwas für Medina. »Keine Zeit für Erklärungen. Bitte.« »Was ist passiert, Dulman?« »Es hat eine Razzia gegeben, zwei meiner jüngeren Brüder sind zum Verhör mitgenommen worden. Jemand hat gerade angerufen und gesagt, sie seien besorgt um mich, da der Name ›Dulman‹ offenbar an verschiedenen Stellen aufgetaucht ist. Jemand hat offensichtlich ›Dulman‹ an die Wand geschrieben.« »Deinen Namen?« »Nein, das nicht. Nicht meinen Namen. Das glaube ich nicht. Möglicherweise. Ich vermute, ›Dulman‹ als adverbiales Substantiv im Sinne von ›zu Opfernden‹.« »Nicht deinen Namen, sondern ein adverbiales Substantiv im Sinne von ›zu Opfernde?‹« Er schaute auf das, was sie ihm gegeben hatte, ein Päckchen, das Kassetten zu enthalten schien, als er es drückte. »Bitte geh jetzt. Geh sofort!« Sie war äußerst nervös. »Und das? Was mach ich damit?« »Diebe sind vor ein paar Nächten in mein Haus eingebrochen. Ich habe es niemandem gesagt, also tu du es
bitte auch nicht. Weißt du, auf was sie aus waren? Die Kassetten, die du hast, ja, die Kassetten, die ich aufgenommen habe und die du hoffentlich so billig wie möglich vertreiben wirst. Bitte geh jetzt. Aber sei auf der Hut.« »Sind das die versprochenen Bänder? Wie gut?« »Reich wie die russische Untergrundliteratur. Russen lesen, Somalis nicht, denn unsere Tradition ist oral. Die Herzen der Somalis lassen sich nur über ihr Gehör erreichen. Ein erstklassiger Poet, dessen Werk mir Medina vorlas, hat ein Gedicht über die Form des Ohrs geschrieben – gleichsam ein Fragezeichen. Komm. Ich bring dich ans Tor. Bitte. Komm. Beeil dich!« »Alexandre Vincent?« »Später.« Sie packte ihn am Arm. Sie gingen auf die Tür zu. »Warum sollten Diebe hinter diesen Kassetten her sein?« »Der Nachtwächter hat einen von ihnen erwischt und wir haben ihn auf die nächste Wache gebracht. Zwei Tage später haben wir erfahren, dass er kein Dieb auf der Suche nach Gold war, sondern in Wirklichkeit einer von der Staatssicherheit, der Anweisung hatte, diese Schätze zu stehlen.« »Absurd, das ist ziemlich absurd.« »Fast lachhaft. Das hab ich gesagt. Aber komm jetzt. Beeil dich, bevor sie auftauchen.« »Äußerst absurd.« Sie befanden sich am Tor. »Ruf mich an oder ich telefoniere mit Medina«, sagte sie. »Ich empfehle dir äußerste Diskretion.« »Alles Gute!« Draußen nahm er etwas Sonderbares wahr: Sein Herauskommen ließ wie das Auftauchen eines Busses drei Männer aufmerken, die offenbar auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten eines Baumes gewartet hatten. Die drei Männer stießen sich an. Sie schauten zu ihm herüber,
setzten sich aber nicht in Bewegung. Er beschleunigte seine Schritte wie eine einsame Frau nach Mitternacht, die sicher ist, von einem Triebtäter verfolgt zu werden. Einer von ihnen, dachte er, ähnelte sehr dem Mann, dem er bei der Ankunft am Flughafen seinen Pass ausgehändigt hatte. Würden seine Beine ihn heimtragen? Er wollte das Haus erreichen, die Kassetten bei Medina deponieren, dann nachdenken, den besten Ausweg planen. Aus was heraus? Und wohin? Er hatte ja keinen Pass, er konnte das Land nicht verlassen. Ihm fiel die Tragödie der somali-amerikanischen Familie ein. Ein Auto tauchte aus einer uneinsehbaren Kurve auf. Am Steuer, da war er sicher, saß ein Mann von der Staatssicherheit; er würde aufgelesen werden und niemand würde je wieder von ihm hören. Er hatte ja keine Ausweispapiere bei sich. Der Wagen hielt an und heraus stieg ein junger Mann, den die anderen militärisch grüßten. Nasser sah ihm nach, bis er in Dulmans Haus verschwand. Dann schaute er zu den übrigen drei Männern, er sah sich die Welt genau an, in der er sich befand, die Welt, die sich ziemlich ungerührt (im Gegensatz zu seinem Kopf) um ihre Achse drehte, um die starken gesunden Strahlen der Sonne, eine Welt, die sogar, nachdem Nasser, Dulman und Leute wie sie eingesperrt oder ermordet worden waren, weiterleben und gedeihen würde. Dieser Gedanke flößte ihm Mut ein, seine Beinmuskeln trugen ihn wie von selbst weiter und er machte sich auf den Heimweg. Doch bevor er um eine weitere Ecke bog, hörte er seinen Namen rufen. Er tat das Unausweichliche, er vergewisserte sich, dass er die Kassetten noch bei sich hatte, dann pumpte er sein Herz auf, das gegen seine Brust schlug. Er hörte wieder seinen Namen. »Mina! Was machst du denn hier?« rief er. »Komm, komm«, sagte sie und hielt ihm die Wagentür auf. »Was ist geschehen?« »Steig ein! Ich erzähl es dir später.«
9
Ein auffliegender Vogel, der in die Höhe strebte, als würde er einem Ruf folgen, stieß in der Luft mit einem anderen zusammen. Dies rief ein abscheuliches Kreischen hervor und mit flinker Flügeldrehung ließen sie voneinander ab. Zweifellos war das schmerzhaft: das Emporschwingen, das Aufsteigen genau dieser Flügel und dann der Seele allein, die sich vom Körper des Gefiederten trennte, die Seele des Beschnäbelten. Daher der gequälte Schrei, das verwundete Krächzen, als der Vogel auf die Erde der lebenden Toten zurückfiel. Die Nacht war mit den Tagesgraffiti aus Rauch tätowiert und eine Wolke in Gestalt eines Hais mit einer langen Zunge aus Feuer und roter Lust zwängte sich immer weiter in die Bauchhöhle des Himmels; die Zunge würde alles, was ihr in den Weg kam, zu Fitzelchen feiner als Nieselregen zerreißen. Ein anderer Vogel erhob sich vom Plateau der Abendröte und flog hoch über die tausend Feuer der Neujahrsfeiern, die den Leichnam des vergangenen Jahres zu toter Schlacke verbrannten. Der Vogel schien in Eile zu sein, er flog westwärts, verabschiedete sich von dem Tag, der bereit war, woandershin zu wandern.
Samaters Gedanken trieben wie Asche über einer Schicht schwererer Luft, doch blieb er sitzen, als wäre er auf den Stuhl genagelt. Er hatte ewig auf das Kommen oder den Anruf seiner Schwester Xaddia gewartet. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte ihr Flugzeug Verspätung; das war normal, so normal wie
ein Streik in Italien. Er hatte gewartet, um ihr sagen zu können, warum er Idil hinausgeworfen hatte; er hatte gewartet, um sich zu erklären, ihr mitzuteilen, warum er entschieden hatte, aus Medinas Haus und in ein Hotel zu ziehen. Doch nun stolperte seine Zunge über die Formulierung »Medinas Haus«. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass er sie verwenden würde. Natürlich war Xaddia nicht da, um ihm zuzuhören, und auch sonst niemand. Er hielt es für das Beste, niemandem zu erzählen, dass er sich ein Zimmer im Caruuba Hotel genommen und für eine Woche ein Auto gemietet hatte, dass er bei der Bank ein Konto eröffnet und beschlossen hatte, mit der rauchigen Luft des neuen Jahres einen Neuanfang zu machen. Er würde auch noch etwas tun, was er seit seiner Heirat mit Medina nicht mehr gemacht hatte: sich mit einer anderen Frau treffen. Er war enttäuscht, dass Xaddia nicht gekommen war, um anzuhören, wie er sich alles von der Seele redete. Sein Blick fiel auf den Stapel von Briefen und Habseligkeiten vor sich. Er würde alles in eine Plastiktüte stecken, es im Kofferraum seines Wagens transportieren und auf seinem Weg zur Verabredung noch eine Unterhose, Zahnpasta und Zahnbürste, einen Kamm und vielleicht ein Hemd und Rasiersachen kaufen. Und bevor der Tag um war, würde er sein Rücktrittsschreiben einreichen. Morgen: ein anderes Leben und eine weitere schon überquerte Brücke. Er war auf den Beinen. Das gerahmte Porträt des Generals starrte aus mehreren Winkeln auf ihn herab, ein vom Fotografen hübscher und jünger gemachtes Porträt. Sollte er es abnehmen und darauf herumtrampeln, das Glas zerbrechen? Und was würde ihm das einbringen? Er erinnerte sich an die Nacht, in der er aus Medinas wiegenden Armen der Geborgenheit und Liebe gezogen wurde, als laut an ihre Tür geklopft wurde und er aufmachen ging. Und an die zwei Männer, die zu ihm kamen. Das schwarze Auto, dasselbe, in
dem die Staatssicherheit immer Gefangene wegbrachte. Er sah den irrealen weiteren Ablauf wieder vor sich: Wie einige seiner Clanangehörigen nacheinander herkamen; wie sie ihn anflehten, den Kabinettsposten anzunehmen, den der General ihm anbot; denn wenn er es nicht tat, würden sie alle ins Gefängnis wandern, ihr Geld verlieren. »Unser Leben hängt von deiner Entscheidung ab«, hatten sie gesagt. Und Medina hatte gemeint: »Wann habe ich je für dich entschieden? Es ist dein Leben.« Er bezweifelte, ob sie die stammesgesellschaftlichen Spannungen in jemand verstand, der in einer Clangemeinde aufgewachsen war. Das waren seine Cousins, seine Leute, seine Freunde. Der Druck seiner Mutter; seine Ideen. Xaddia war nie da, um ihren Kommentar abzugeben, Xaddia – eine große Abwesenheit in seinem Leben, seit Idil das Scheitern ihrer Ehe verursachte; und all diese Cousins und Clanangehörigen, die in einer Stammesgesellschaft zur Familie gehörten… In der Zwischenzeit ließ der General dreißig Stammesangehörige festnehmen. Die Clanältesten kamen und baten ihn inständig, sich der Laune des Diktators zu beugen. »Unser Leben hängt von deiner Entscheidung ab«, hatten sie gesagt. Und Medina in einem fort: »Wann habe ich je für dich entschieden?« Am nächsten Morgen schwor er dem Regime den Treueid. Das war vor sechs Monaten. Nun würde er alles zunichte machen. Keine Medina, keine Mutter, kein Haus, nur ein Konto auf seinen Namen, ein Hotelzimmer, eine Frau, mit der er sich verabredet hatte. Er würde zurücktreten. Dazu war er entschlossen. Zur Hölle mit dem Rest. Er band die Briefe und persönlichen Habseligkeiten mit einer Schnur zusammen und vergewisserte sich, dass er die zwei Schubladen geleert hatte. Er nahm die Büroschlüssel vom Ring und legte sie in eine Schublade. Dann senkte sich sein Blick ehrfürchtig: ein Foto von Medina und Ubax, die ihn aus einem
gerahmten Glas in seiner Schublade anlächelten. Er steckte das Foto in die Plastiktüte und sagte sich, dass Medina sicherlich glücklich wäre, wenn sie hörte, wozu er sich entschieden hatte. Medina war eine Person, die es überhaupt nicht mochte, wenn sich jemand schwer und abhängig an sie lehnte. Ein Leihwagen. Ein Bankkonto. Eine Verabredung am Abend. Ein Hotelzimmer. Vielleicht würde das Hotel, das er ausgesucht hatte, bei ihr nicht gut ankommen; sie hatte das Caruuba nie gemocht. Ach, egal. Es würde sich wohl lohnen, ihr zu sagen, dass er ausgezogen war, damit sie die notwendigen Vorkehrungen treffen und veranlassen konnte, dass ein Nachtwächter angestellt wurde. Nein, nein. Jeder Kontakt mit ihr würde ihm als Schwäche ausgelegt werden. Keine Telefonate, keine Besuche und keine Mitteilungen. Und auch keine Erwähnung ihres Namens. Nachdem er alle Türen geschlossen hatte, ging er die Treppe hinunter und kam zu dem Schuppen, wo er das Auto geparkt hatte. Die Aufpasser der Nachtschicht grüßten ihn, verbeugten sich und öffneten ihm das Tor. Er legte die Plastiktüte in den Kofferraum. Lange blieb er hinter dem Lenkrad sitzen und nahm alles in sich auf, denn er würde morgen nicht als »Minister« zurückkommen. Als er zu der Begegnung mit Atta fuhr, mit der er für den Abend verabredet war, dachte er: Ich bin der Tiermensch, halbanimalisch… Er bog rechts ab, tippte aufs Gas. Der Wagen hustete stockend, doch bevor er ganz erstickte, trat Nasser mit dem rechten Fuß das Pedal entschieden durch und ließ das Auto erzittern wie ein Pferd, das bei einem Rodeo den Zureiter vom Rücken schütteln will. Dann lief die Fahrt glatt wie die Zufuhr des Diesels, der den Motor speiste. Ein in Rauch aufgegangener Tag, begann er seinen inneren Monolog. Doch hatte er das Spiel schon verloren? Er war sicher, richtig gehandelt zu haben. Mit dem Mieten eines Hotelzimmers hatte
er sich die Verlegenheit erspart, einem Hausmädchen zu sagen, dass er für die Lebensmittel des Tages oder der Woche kein Geld besaß; gegen Vorzeigen des Zimmerschlüssels konnte er alles essen, jeden einladen und alles auf die Rechnung setzen lassen, die er erhielte, wenn er sich entschied, das Zimmer aufzugeben. Sie zappelten herum, der Manager, der Rezeptionist, sie waren alle nervös. Offenbar war dem General, dessen Lauscher für alles aufgestellt waren, was irgendwo in der Republik geschah, bereits etwas zu Ohren gekommen, denn es erwartete ihn eine Nachricht: Komm und such mich auf, sobald du kannst Das erklärte die Rastlosigkeit des Managers nicht vollkommen. Später sagte ihm einer der Pförtner, den er bestochen hatte, dass zwei Sicherheitsbeamte die Zimmer rechts und links von ihm belegt hatten. Nun bog er links ab. Er kam auf eine Art Autobahn, die er und Medina den Äußeren Ring nannten. Und er beschleunigte. Das Hemd knöpfte er auf; der Wind war frisch und angenehm. Er saß hinterm Steuer und fuhr immer weiter. Über ihm, so hoffte er, würde getreulich der Himmel bleiben, stets da, wohin auch immer jemand fuhr – ob bewölkt, bestirnt oder klar. Der Himmel war in Tränen gebadet und am Horizont hatte der Wind die Wolken wie einen Satz Karten gemischt, und da war auch der Himmelshai, tot wie ein Vogelgerippe und groß wie ein Webstuhl, der an einem Stoff der Hoffnung webte, einem Stoff, den das neue Jahr sich über die Schulter werfen würde. Noch weiter weg am Horizont, etwas links vom toten Hai, war der Leichnam seiner Mutter, um den die Fliegen der Verwesung summten – Fliegen so groß wie Geier – und ihn bis zum Skelett abnagten. Vorsicht! Abbremsen. Herunterschalten. Nicht aufs Gas gehen. Zurück in den Ersten. Dann Leerlauf. Armes Wesen. Samater stieg aus, um es sich genauer anzusehen. Ein Kranich war erfasst und überfahren worden. Der schmale Hals, der
Schnabel und die langen Beine markierten den Umkreis des Kampfs um sein Leben, bevor er seine flüchtige Seele aushauchte. Von einem Vogel wie dem Kranich hätte er nicht erwartet, dass er sich den Schädel an der Windschutzscheibe eines Autos einschlagen würde. Ein schlechtes Vorzeichen, dachte er, als er wieder zum Auto ging und die Tür aufmachte. Der Tod hatte einen Vogel niedergestreckt (Samater rührte sich nicht, weil er zitterte), dessen Seele nicht zu Gott fliegen würde. Höchst verstörend fand er (was sein Zittern erklärte), dass sein Spitzname shimbir war – der somalische Gattungsname für gefiederte Wirbeltiere. Sollte er das als symbolisch auffassen? Er ließ den Motor an, legte den Gang ein. Drücken. Kupplung loslassen, Handbremse lösen. Er war wieder unterwegs, dachte nach, erinnerte sich, durchlebte unmittelbare Gegenwart, ferne Vergangenheit und ungewisse Zukunft auf einmal. Er würde mit der Zeit anfangen, als er das »Bündel aus Lumpen und Wut« hinauswarf. Ja, da würde er ansetzen. Er schmiss Idil und Asli aus dem Haus. Er ließ ein Taxi für sie kommen. Hatte er nicht gesagt, er würde sie hinauswerfen, wenn das neue Hausmädchen bei seiner Rückkehr immer noch da war? Als sie in das Taxi geschubst wurde, hatte Idil gesagt: »Vorsicht, Vorsicht, nicht so grob. Ich kann gehen. Du brauchst mich nicht schieben oder derb anfassen. Ich bestehe aus Lumpen, in denen die Wut des Lebens haust. Das wirst du noch bereuen. Dafür werde ich sorgen.« Dann winkte sie dem Hausmädchen, ihr zu folgen. Keine nahm etwas mit, sie gingen mit leeren Händen. Gerade als der Fahrer Gas geben wollte, hatte sie ihm auf den Rücken getippt, um zu Samater, ihrem Sohn, noch zu sagen: »Kinder entwachsen ihren Eltern, Männer entwachsen ihren Frauen, Frauen entwachsen den Moden, dem Jahr und den Jahreszeiten. Anders als die Jahreszeiten, die Jahre, die Männer, die Frauen und die Kinder,
anders als all das, bleibt die Tradition bestehen und siegt am Ende. Du hast etwas getan, was du nicht hättest tun sollen. Und dafür wirst du bezahlen.« Das Taxi sollte sie zu Xaddia bringen. Eine halbe Stunde später brach Samater zu seinem Büro auf. Dann Anruf auf Anruf. Ein Strom von Stammesangehörigen stellte sich ein. Samater sagte, er wolle die von einem Häuptling angeführte Delegation nicht sehen, trug seiner Sekretärin auf, sie abzuwimmeln. Vom Gehalt her waren alle Anrufe gleich: Hast du den Verstand verloren? Was ist aus deiner Erfahrung als Weltmann geworden? Du brauchst einen Arzt, du bist verrückt Du bist krank im Kopf. Einer von ihnen sagte ihm voraus, er würde seinen Posten verlieren. Ein anderer drohte, für seine Entlassung zu sorgen. Ein Dritter sprach von Stalin, der als der mächtigste Mann der Welt von der Tagespolitik gezwungen wurde, seine betagte Mutter in Georgien zu besuchen. Dazu gab es noch ein wiederkehrendes Thema und Bild, das gänzlich islamisch war: Es ging um den sagenumwobenen Mann, der seine Mutter, weil er das Wohlwollen der Gesellschaft und Allahs erringen wollte, den ganzen Weg bis nach Mekka auf dem Rücken trug. Zu einem weiteren wiederkehrenden Bild rundete sich, dass der Clan gegen ihn vereint war, dass der Clan den General bitten würde, ihm den Stuhl vor die Tür zu setzen. Langsam. Vorsichtig. Ein Schild warnte die Autofahrer vor einem Kontrollpunkt in hundertfünfzig Metern. Abbremsen. Ein erhobener Arm winkte ihn heraus. »Ja?« »Reine Formsache.« Ein Soldat würde ihn mit vorgehaltener Waffe bitten, den Kofferraum aufzumachen. Ein weiterer würde sich die Namen der Passagiere, das Kennzeichen, den Anlass der Fahrt und das Fahrtziel notieren – Formalitäten, an welche die Bewohner Mogadischus gewöhnt waren wie Kettenraucher an den
morgendlichen Husten. Besonders an einem Tag wie diesem würden sie angespannter und gröber sein; es konnte aber auch sein, dass der hier mit denen sympathisierte, die an die Wände geschrieben hatten. Doch es herrschte ein ungemütliches Schweigen; der Feldwebel zupfte seinen Kameraden am Ärmel und flüsterte ihm etwas zu, woraufhin beide wegschauten, als würden sie ein Lachen unterdrücken. Hatte die Nachricht sie bereits erreicht? Welche Version hatten sie gehört? Samater war allerdings immer noch im Auto, ließ ein anderes vorbeifahren. »Ich an Ihrer Stelle würde mich mit den Behörden in Verbindung setzen«, sagte der Feldwebel. »Es ist einiges vorgefallen. Es hat kleinere Störungen und Hausdurchsuchungen gegeben. Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeit.« »Ist schon in Ordnung.« Erst als er wieder auf der Straße war, allein mit dem Wind und seinen Gedanken, dämmerte ihm, dass der Feldwebel und sein Freund wohl noch nicht von der Staatssicherheit vorgewarnt gewesen waren und auch nicht wussten, was mit seiner Mutter geschehen war. Hatten sie von Medina gehört? Da stieg er auf das Gaspedal seines Hirns: schmierige Gedanken, Gedanken rußig von dem schmutzigen Weg, den sie zurückgelegt hatten, bis sie zu ihm gelangt waren (inzwischen warf er einen flüchtigen Blick in den Rückspiegel seines Gesichts, das wie ein Kotflügel vom Reisestaub überzogen war). Er fühlte sich nackt wie ein Eukalyptusbaum, der einsam auf einem Sandberg stand… Die Nacht hatte sich sanft, zielstrebig ausgebreitet; der Mond behauptete den Raum, den er erobert hatte; die Sterne blinzelten ihm zu wie eine Eidechse der Fliege, die sie sich schnappen will.
Eines führte zum anderen. Er erinnerte sich, wann er das letzte Mal Medina erblickt hatte, die mit versunkener Miene über ein Notizbuch gebeugt war, denn sie übersetzte eine Geschichte, die sie in Achebes Okonkwo gefunden hatte und wozu Samater vorgeschlagen hatte, sie solle sie sinngemäß »Alles von euch« nennen. Sie meinte, ein subtilerer, suggestiverer Titel wäre angebrachter. Sie brauchte Achebes Wiedergabe der Ibo-Geschichte gegenüber nicht treuer sein als ihrer eigenen Reaktion darauf. Welchen Titel würde sie ihr geben? Er. Bloß das? »Er«? Ja. »Er«! Und sie sprach in der Rhetorik philosophischer Sackgassen, zitierte Camus, Sartre, Crane und Virginia Woolf; sie sprach von der gedemütigten Stellung der Frauen. Er war wegen irgendetwas zu spät dran und sie hackte wie ein Muttertaube auf ihm herum. »Er ist die Schildkröte, die alles von euch ist, sagte Er der Versammlung der Vögel.« (Achebe). Der Tag davor, die Woche oder der Monat davor. Er würde auf ihren Befehl hin alles tun. Zum Beispiel: »Pflück mir die Blume, Samater.« »Wenn ich es tue, wird der Baum sterben, Liebes.« »Pflück mir die Blume, hab ich gesagt.« »Und soll ich den Baum seinen weißen Saft ausbluten lassen?« »Ich will die Blume. Am Baum bin ich nicht interessiert.« Er hörte zu denken auf, dann hielt er den Wagen an. Er sprach laut aus, dass nie ein solcher Dialog zwischen Medina und ihm stattgefunden hatte. Warum dachte er sich das alles aus? Weil er rechtfertigen wollte, was er heute getan hatte, zunächst vor sich selbst und dann vor dem Rest der Welt? Er schwitzte, zitterte so wie vorhin, als er den toten Kranich auf der Straße gesehen hatte. Nein, nein. Was sie ihm einmal sagte, lautete so: »Eine Blume dient als Humus für den Boden meiner Liebe zu dir. Ja, du bist der Dünger. Deshalb haben wir unserer Tochter den Rosennamen Ubax gegeben.« Sie gaben sich auf der Stelle
der Liebe hin, unter der laufenden Dusche. Er pickte die intime Blüte ihrer Seele an: »Weißt du, warum sie dir den Spitznamen ›Vogel‹ gegeben haben? Du bist wie die Krähe, die laut der ägyptischen Mythologie das Gehen vergessen haben soll. Die Krähe als Gottheit.« Das Kwa-kwa der Krähe (hier schlug sie vor, er solle Luckys Monolog in Warten auf Godot oder Ted Hughes’ Passagen über den Waaq-waag nachlesen): ein bedeutungsschwangeres Bindestrichwort der Heiligkeit, das an den uralten Gott von Punt denken lässt – Waaq! Es füllte demjenigen, der den Namen der Gottheit aussprach, den Mund, ein Kwa-kwa des Sprachlosen, ein Waaq-Waaq, das die empfindsamen Nerven der Prinzessin anpickt. »Die Krähe«, schloss sie, »war Gott von allen, bevor sie zum Todes- und Unglücksboten wurde – weshalb wir sie mit Steinen von unseren Dächern vertreiben. Also liebe mich, sei bei mir. Picke doch die göttliche Blüte meiner Weiblichkeit an.« Aber es gab noch eine andere Version, oder nicht? Dass die Krähe, als der Prophet Mohammed aus Mekka emigrierte, die Verfolger mit ihrem Ruf »Waaka, waaka« zum Versteck des Propheten führte, was auf Somalisch heißt: »Hier ist er, hier ist er.« Nach seinem Sieg belegte der Prophet die Krähe mit einem Fluch, der sie dunkler machte, und Muslime schauten von diesem Tag an Krähen nur noch ungnädig an. Zuerst hatte er Schwierigkeiten gehabt, seine nomadische Art an ihre uneingeschränkte Weitläufigkeit anzupassen. »Du musst deine Nomadenart ändern«, lautete ihre Rede. »Da sind die Geschenke der Jahreszeiten: eine Matte aus Herbstlaub und eine Matratze aus Schnee so hell wie das Leben, wie der Frühling. Dann die Zeit der Stockung – aber schließlich erblühen die Blumen. Denk an mich und meine Jahreszeiten der Fruchtbarkeit, meine Perioden: ein Augenblick der Stockung, ein Augenblick der Unentschiedenheit und nichts weiter.« Sie gab ihm Weltliteratur zu lesen, brachte ihm
klassische Musik, Jazz und das Kino näher; sie nahm ihn mit in Fahrraddiebe, Casablanca und einige Chaplin-Klassiker. Sie half ihm mit seinem Englisch, mit seinem Französisch. Sie nahm ihn an die Hand und arbeitete mit ihm die ungelesenen Reiseführer des Lebens durch. Da sagte er dann, Medina sei ein grauäugiger Storch, der Wörter verschlinge, sie glaube, Bücher und Bildung würden die Welt vor der bevorstehenden Selbstzerstörung retten. Seine somalischen Freunde in Mailand, deren Gesellschaft er nicht mehr aufsuchte, warfen ihm alles Mögliche an den Kopf. Das half ihm, sich ihnen ganz zu entwöhnen. Sie wurden zu einem Quartett, manchmal auch nur zu einem Trio. Medina und Sandra. Nasser und Samater. Er war die gestriegelte Hoffnung dieses Bunds. Still, zurückhaltend, kein Freund der offenen Meinungsäußerung, lauschte er, lernte er, las er, was ihm an Lektüre gegeben wurde, und hatte mit niemandem eine bis zum Bruch der Freundschaft gehende Meinungsverschiedenheit. »Die innere Energie des Mannes ist ungeheuer«, pflegten sie einander zu sagen. »Er ist ein Brunnen der Geduld.« Doch nun fuhr er zusammen. Er sah auf seine Uhr und erkannte, er würde sich schrecklich verspäten, wenn er nicht schneller fuhr. Er fummelte herum, ließ den Motor an: das übliche Husten, der übliche Tritt des Vergasers wie bei einem Kamel, das sich weigert, aufzustehen und zu gehen. Die Nacht war rabenschwarz; die Straße erstreckte sich vor ihm so gerade wie das lineare Denken seiner Mutter: Das ist gut, das ist schlecht; das ist böse, das nicht. Er wechselte den Gang. Er wechselte das Thema. Er kämmte das graue Haar seiner Vergangenheit: Mailand. Medina. Nasser. Sandra. Vor allem Medina. Sie trank seine »Zuckerattacke«, den Tee, den er für sie und Nasser gemacht hatte, als er ihre Essenseinladung erwiderte, und sprach von Descartes, Nietzsche und Sartre. Beeindruckend war sie, wie ein Souvenir in die bunten Hüllen
ihres (damaligen) leuchtenden Geschmacks gehüllt. Medinas Vater war Botschafter gewesen. In etlichen östlichen und westlichen Hauptstädten war sein Name in den Zeitungskolumnen eher zu fett gedruckt worden. Ein Journalist hatte ihn einmal den Mann genannt, »der sein Land berühmt gemacht hat«. Wenn Medina von ihrer Vergangenheit sprach, formulierte sie es so: »Ich habe mich mit dreizehn in einem Hotel in Stockholm vor den Kräften der Weiblichkeit niedergeworfen und dabei wie ein zu gut gefüttertes Haustier ausgesehen. Ich bin am Bordstein einer gepflasterten Straße gestanden und habe einer Kutsche zugewinkt, die meinen Vater in die Wintersilhouette einer skandinavischen Nacht hinausbeförderte. Nasser ging in Mailand zur Schule.« In jener Nacht wusch Medina die ersten Rinnsale ihrer monatlichen Schmerzen ab. Als sie vierzehn war, begrüßten die Frauenzeitschriften New Yorks sie als die Tochter des bekanntesten afrikanischen Botschafters bei den Vereinten Nationen. Paris verhätschelte sie ein Jahr später mit seinen Erinnerungsgeschenken, ein persönlich zugestelltes ›Joy‹Parfüm, vom Schöpfer selbst signiert. Laut den Klatschspalten von Nairobis Nation ging sie damals mit dem Sohn eines Kikuyu-Häuptlings, einem jungen Oxbridge-Absolventen, der in der Stadt als Playboy bekannt war. Mogadischus Zunge, zu einer Sichel geformt, zerschnitt sie in zwei Hälften. Samater fragte, warum bloß? »Der Somali ist ein Brudermörder, er ist Romulus, der Remus das Stadttor vor der Nase zuschlägt; er ist der Bruder, der die Ermordung von Joseph plant. Der Somali bringt die Schwester genauso wie den Bruder um. Er ist eifersüchtig, konkurriert gern und wird alles tun, um sein Ziel zu erreichen. Jedenfalls ist der Somali niemals ein Vatermörder. Noch nie in der Geschichte der Machtkämpfe hat jemand einen Somali gesehen, der um des Reichtums oder der Macht willen seinen Vater oder seine Mutter ermordet hätte.
Vor seiner Altersgruppe, vor seinesgleichen wird er einen Finger der Rivalität herausfordernd erheben, er würde sogar einen feuchten Finger in den Wind halten und sagen: ›Wage es nur, mich zu treffen, bevor dieser Finger trocken ist.‹« Erklärte das, warum alle so schockiert waren, als die Geschichte von ihm und seiner Mutter in Umlauf kam? Die Clanmitglieder waren so schockiert, dass sie gegen Samater nicht mal eine gemeinsame Front aufbauen konnten. Wenn er seine Frau verprügelt hätte, bis sie Blut spuckte, würde niemand ihn aufhalten oder verdammen, niemand würde Allahs Zorn auf ihn herabschicken. Medina war gleichrangig mit ihm, im gleichen Alter wie er, also konnte er sie im Zweikampf töten und niemand würde ein Wort sagen. Seine Mutter? Niemals. Er schaute wieder auf die Uhr. Er war bereits eine halbe Stunde zu spät. Ob Atta warten würde? Er kam zu Terminen fast immer zu spät, und Medina erinnerte ihn beständig an dieses oder jenes Treffen mit dieser oder jener Person. Wenn sie bei ihm wäre, würde er keine Sekunde vor oder nach dem vereinbarten Zeitpunkt eintreffen. Wenn sie bei ihm wäre, hätte es allerdings eine weitere Konfrontation zwischen Atta und ihr gegeben – wie an jenem Tag, als sie in ihre Wohnung zum Essen kam, ja, dem letzten Essen, das sie als Ehepaar gaben. Atta sprach davon, »zu den Kulturen zurückzukehren, zu denen eine gehört, in der sie geboren ist«. Medina hatte sie zur Rede gestellt: »Zurückkehren zu was, bitte? Ich begreife es, wenn du sagst, die Afroamerikanerin ist auf ihren Kontinent zurückgekehrt. Doch die Kultur ist kein Laternenpfahl, zu dem du jederzeit wieder hingehen kannst. Die Dynamik der Kultur ist weitaus geschwinder und stärker als der europäische Holocaust der Invasion, die dich von deinem Mutterkontinent gerissen hat. Ich bin so sehr wie du ein Beitrag zur Kultur. Du für die amerikanische, ich für die
somalische. Ich liefere genauso einen Beitrag zur somalischen Kultur wie der Anführer einer Kamelherde.« Worauf Atta fragte: »Aber warum bist du nach Afrika zurückgekehrt, Medina?« »Das hat nichts mit Kultur zu tun. Wie ein Elefant bin ich heimgekehrt, um zu sterben.« Sie sah dabei sehr ernst aus. Er bog in Gedanken versunken um eine uneinsehbare Kurve. Beim Abbiegen hupte er. Noch eine Kurve, etwas nach rechts, etwas nach links. Langsam. Achtung, vorne ein Auto! Aus dieser Entfernung glichen die Rücklichter den Schwielen eines Pavianhinterns. Sei vorsichtig. Noch einmal etwas nach rechts. Und aus der Nacht tauchte ein Mann mit einer Paraffinlampe in der Hand auf. Samater bremste. »Wie viele?« fragte der Platzanweiser. »Auf mich wartet eine Afroamerikaner in. Ich heiße Samater. Kannst du mir vielleicht sagen, ob sie da ist?« »Die Negerin?« »Ja, die Afroamerikanerin.« »Folge bitte meiner Lampe. Ich bringe dich zu ihr.« Unter dem gewölbten Baldachin einer dornigen Akazie, dessen überhängendes Dach von Stöcken gestützt war, unter den katzenaugenhaften Löchern im Dach bückte sich Samater etwas, damit ihn kein Dorn blind machte. Er sah Atta flach auf dem Rücken liegen, still auf einer Strohmatte am Sandboden. Schlief sie? Wie ein Kleinkind, das von einem hohen Bett fallen könnte, hatte sie Kissen zu beiden Seiten; ihr Kleid war hochgerutscht. Eine Paraffinlampe war da, in deren Licht er ihr Geschlecht in allen Einzelheiten sehen konnte. Was für eine ruhige Schläferin, dachte er. Er vergewisserte sich zu seiner Erleichterung, dass der Platzanweiser, der ihn hierher begleitet hatte, weggegangen war. Die Lampe zog eine Schar von Nachtfaltern an, die aufgescheucht tanzten, schwirrten und sich wie Voodooanhänger in höchster Ekstase herumwarfen.
Ansonsten war es still hier und sie schlief noch immer. Im Hintergrund war Dulmans Stimme zu hören, die den Gästen Gesellschaft leistete, Dulman, die eine Passage aus »Kain« sang. Was für ein Engel, wenn sie schläft, sagte er sich erneut. (»Lass doch bitte die Klischees weg«, sagte Medinas »Stimme« zu ihm.) Er wandte sich von der Lampe und ihren ekstatischen Motten ab, kehrte Atta den Rücken zu – denn ihn schüttelte ein Sturm von Erinnerungen durch; Medina tauchte auf, die ihn kurzzeitig aller Gedanken beraubte, und das Feuer zwischen seinen Schenkeln brannte nicht mehr vor Lust auf Attas schlafendes Geschlecht – Medina, die… Atta ächzte, als sie sich rührte. Aber ihre Schlafstellung blieb im Wesentlichen unverändert, sie schnarchte nur ein bisschen, die Nase vielleicht von Staub oder Rauch verstopft. Sie lag noch auf dem Rücken; so glich sie einem Boot, das ein ruhiges Flüsschen mit einer dicht bewachsenen Böschung hinabtrieb, ein Boot, das die Botschaft der darin Sitzenden über hundert Jahrhunderte entstellter Geschichte in sich bewahrte. Samater erinnerte sich, dass er Medina in mehr oder weniger der gleichen Stellung vorgefunden hatte, und daraus hatte sich alles Weitere ergeben; er glitt in sie hinein, weil sie ihn eingeladen hatte. Stimmte das? Die Geschichte wurde bei jedem Nacherzählen wieder anders. Wenn es die augenblickliche Stimmung zuließ, sagte er, dass eine sehr verführerische Hand ihn genommen und hineingezogen hatte; bei anderen Gelegenheiten sagte er, er habe sie um Hilfe rufend angetroffen, sie hatte einen furchteinflößenden Albtraum gehabt, der sie zeitgleich mit seinem Wiedereintritt ins Zimmer heimsuchte. Medina war in allen Versionen, die er zum Besten gab, die Heldin, Medina war diejenige, die darüber entschied, was wann zu geschehen hatte. Doch konnte er sich in die Nähe von Atta wagen, die ihn aller Wahrscheinlichkeit nach willkommen heißen, die Beine weit spreizen, seine Finger
an die faltigen Lippen ihrer Weiblichkeit geleiten und mit der freien Hand sein Glied einführen würde? Könnte er sich dem in die Luft gehaltenen feuchten Finger der Herausforderung stellen? Er zuckte zurück und machte sich den Unterschied zwischen der Situation, in der er Medina vorgefunden hatte, und der mit Atta klar. Medina hatte er schon fast fünf Monate gekannt und sie hatten die Präliminarien bereits hinter sich. Hinzu kam: Das Zimmer war seins, sie hatte es für eine Woche belegt, als er wegen seines Praktikums verreist war. Dazu hatte er seine Mutter Idil im Ohr: Wenn Medina ihn nicht verführt hätte…! Nun, hatte sie? Atta kannte er kaum, diese afroamerikanischen Frauen waren ihm nicht geheuer, denn sie würde möglicherweise nichts sagen, sie würde ihm womöglich helfen, sich ihr körperlich hinzugeben und anschließend ein Wolfsgeheul von Ich-bin-vergewaltigt-worden anstimmen. Doch wenn er ihr Gewalt antat, würde seine Mutter seiner »Männlichkeit« endlich das zubilligen, was ihm schon immer zustand… ein echter Mann! Würde sie das wirklich? Er verwarf den Gedanken. Atta regte sich. Vielleicht spürte sie die Last seiner unbeholfenen und nervösen Bewegungen. Er war näher getreten, um ihren nackten Hintern zu bedecken, bevor er sie weckte. Doch nun zögerte er, weil sie die Augen genau dann aufschlagen könnte, wenn er es tat – und dann das Wolfsgeheul von Ich-bin-vergewaltigt-worden! Mogadischu hatte sich über ihre Promiskuität das Maul zerrissen, hatte von ihrem kurzen Flirt mit einem der Vizepräsidenten und dem General persönlich gesprochen. Mogadischu hatte von diesen Dingen so leichthin geredet, wie es die Affären des Generals diskutierte, der angeblich eine Reihe von Geliebten übers ganze Land verteilt hatte. Einer Sache war sich Samater sicher: Atta und der Ideologe hatten etwas am Laufen, und deshalb zogen Sandra und sie übereinander her. Wenn er, Samater, mit
ihr schlief, was konnte ihm schlimmstenfalls geschehen? Nichts. Schließlich war er entschlossen, als Minister zurückzutreten. Langsam, aber sicher öffneten sich ihre Augen wie eine Blume, die sich in der streichelnden Morgendämmerungsbrise regt. Sie nahm ihn erst als Teil der Umgebung wahr. Dann, flink wie ein Akrobat, setzte sie sich auf und bedeckte sich, so gut es ging. Beide schwiegen zunächst. Schließlich brach ein sanftes Lächeln wie ein flüssiges Ei an ihren feuchten Lippen auf, die sie abgeleckt hatte. »Bist du schon lange da?« »Fünfzehn Minuten.« »Warum hast du mich nicht geweckt?« Sie verhielt sich so, als machte es ihr etwas aus, dass er sie in diesem Zustand erwischt haben könnte. Sie stand auf und klopfte ihr Kleid ab, glättete es mit den Händen. »Solch ein Engel im Schlaf«, sagte er. Sie gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange. Dann drehte sie sich weg, ging zur Strohmatte, die sie aufhob, um den Staub auszuschütteln; die Kissen fielen zu Boden und er ging hin, um sie aufzuheben. »Es tut mir Leid, dass ich zu spät dran bin«, sagte er. »Ich kenne außer Medina niemanden, der pünktlich ist. In Amerika haben wir die akademische Viertelstunde. Du brauchst dich also nicht entschuldigen. Ich habe immer Lesestoff bei mir, für den Fall, dass ich warten muss oder so. Ich bin Afroamerikanerin, du Afrikaner.« Sie setzte sich hin, war aber zunächst ruhelos. Wie ein Yogi suchte sie nach einer Position, in der sie meditieren, essen und mit Samater reden konnte. »Was hast du diesmal zum Lesen dabei?« fragte er, als er sich hinsetzte. »Es interessiert mich.« »Mein Land und mein Volk. Band II und III.«
»Ich wette, das hältst du für eine gute Lektüre.« Sie sagte ein oder zwei Sekunden lang nichts. Dann: »Können wir das Thema auf etwas weniger Persönliches lenken?« »Selbstverständlich.« Doch sie verstummten. Samater hob sein Glas und sie tranken einander durstig zu. Sie war eine große Trinkerin, eine gewaltige Esserin und schätzte vor allem das einheimische Essen. Er bat den Kellner, ihnen einen Sechserpack kaltes Bier zu bringen und eine Portion Reis mit Fleisch »für sechs Personen«. Der Kellner hielt die Luft an und wollte schon beinahe fragen, ob sie noch vier weitere Gläser brauchten. Samater präzisierte und sagte, sie wollten »sechs Portionen Essen und Gläser sowie Besteck für zwei«. Da der Kellner sah, dass sie Ausländerin war und seine Sprache nicht verstehen würde, erlaubte er sich, zu bemerken, er habe einmal einen Deutschen bedient, der die Menge verzehrt hatte, die zehn Somalis essen würden. Samater nippte wie ein Spatz an seinem Getränk, während Atta in der gleichen Sekunde eine Dose kaltes Bier öffnete, sie leerte und dann wegwarf. Sie war die Freundin einer Freundin von einer Freundin; so hatten Medina und Samater sie kennen gelernt und so hatten sie Atta zum Essen eingeladen. Und sie redete von New York und Boston und prahlte mit ihrer Affäre mit einem sehr bekannten schwarzen Dichter. Attas »schicksalhafte Schuld« beruhte auf der Tatsache, dass sie der letzte Gast war, den Samater und Medina gemeinsam zu einem viergängigen Essen gebeten hatten. Medina saß am Kopfende des Tisches, Atta ihr gegenüber, während Ubax rechts von Medina und Samater rechts von Atta saß. Sie hatte sich selbst zum Essen eingeladen. Schließlich war sie im Land ihrer Brüder und Schwestern, wo sie den afrikanischen Boden wie ein
unbeaufsichtigtes Kind essen und dies überleben konnte, und sie konnte mit den Fingern essen und alles, keine Sorge, keine Mühe, kein Problem mit dem Besteck, keine Formalitäten betreffs der Anzahl der Tischgäste – eine gleiche Anzahl der Geschlechter und ähnliche Rücksichtnahmen der weißen Bourgeoisie; sie war eine Schwester, bevorzugt vegetarisch, doch wenn nicht, würde sie essen, was ihr vorgesetzt wurde, sie verzehre alles, was nicht sie verzehre, wie einer ihrer äthiopischen Freunde in Boston zu sagen pflegte (»Ups, er war Somali, kein Äthiopier – was sage ich da?«)… Sollte sie jemand dort abholen, wo sie gerade war? Nein, sie habe eine Fahrgelegenheit, da sei ein Bruder, ganz süß, der alles für sie arrangiert habe: ein Ausflug ins Hinterland (»ganz so, wie ich mir vorstelle, wo meine Ururgroßväter gewohnt haben, so natürlich, unberührt von der Zivilisation des weißen Mannes«), ein Ausflug in den Norden (»Hargeysha: die untergeschlagenen Beine beim Qaatkauritual, das hab ich auch genossen, saß Rippe an Rippe mit dem Gouverneur der Provinz – was hätte ich noch mehr verlangen sollen?«) und ein weiterer zu dem Umerziehungsprogramm (»der Kibbuz der organisierten Kooperativen, und sie sangen in einem fort und lobten und priesen den General – da habe ich mich dem General noch dankbarer gefühlt als vorher«) sowie zum revolutionären Jugendzentrum und dem Orientierungszentrum. Es gab nichts weiter zu tun, als die Adresse anzugeben und ihr zu sagen, wie sie herfinde. Bevor sie auflegte, sagte sie, sie würde blitzartig da sein, pünktlich, wie es der Westen verlangt. Das war sie auch. Die Klingel läutete – aber sie war schon eingetreten. Sie war freigebig mit den engen Umarmungen gegenüber dem Hausmädchen und der Ordonnanz (die sie für Medina und Samater hielt), und küsste dann Ubax; als schließlich das Missverständnis geklärt war, begrüßte sie Gastgeber und Gastgeberin auf Suaheli und war schockiert,
dass sie nicht nur weniger wussten als sie, sondern auch nicht besonders begeistert davon waren, die Sprache zu lernen oder ihrer kleinen Tochter beizubringen, sie zu sprechen. Bei Tisch rühmte Atta Kenyatta, Haile Selassie, Senghor und Kaunda; im gleichen Atemzug sagte sie, dass der General der größte afrikanische Staatslenker sei, mit dem sie je das Vergnügen gehabt hatte, die Hände zu schütteln. Die Somalis? Ein tolles Volk, wundervolle Leute. Sie habe somalische Freunde in Boston, Nairobi und Kampala und liebe sie alle. In langatmigen Ausführungen über die Gruppe, in der sie nach eigener Aussage eine Militante war, gab sie schließlich die Bezeichnung der radikalen Gruppierung preis, in der sie ein aktives Mitglied zu sein behauptete. Medina wollte Attas politische Ausrichtung kennen lernen. Atta wollte nicht mehr als die Abkürzung der Organisation herausrücken und verfiel, ohne sie zu übersetzen, in eine Tirade über Schwestern und Brüder im Kampf. Und jedesmal, wenn Medina die Unterhaltung auf etwas Konkreteres lenkte (»Welche Position nimmt Amiri Baraka in Bezug auf dies oder jenes ein?« oder »Wie haben die Brüder und Schwestern im Kampf auf Cleaver reagiert, und was tun sie, um Personen wie ihn zu isolieren?«), wischte Atta dies beiseite, wie ein Körnchenesser eiserne Gabeln und Messer beiseite schiebt, fuhr fort und aß, beantwortete aber nicht die Frage. Ihre gute Erziehung verbot es Medina, die meisten der naiven Theorien abzuklopfen, die Atta vorbrachte; während Samater und Ubax sie mit offensichtlicher Bewunderung betrachteten und amüsiert zusahen, wie sie aß und welche Mengen sie sich jedesmal auflud, wenn sie nachfasste. Medina durchbrach endlich ihre Verteidigungsmauer, und zwar als das Gespräch sich »dominanten und dominierten Kulturen« zuwandte. »Meine Rasse erinnert sich an das Leiden.« »Erinnert sich? ›Meine Rasse erinnert sich‹?«
»Ja. Erinnert sich«, sagte Atta. »Jemand erinnert sich an das, was er vergessen hat.« »Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst.« »Unsere Rasse leidet heute noch immer, in Afrika, in Amerika, in der Karibik. An den Schmerz, den du erleidest, erinnerst du dich nicht, du erlebst ihn«, polterte Medina. »Ich weiß immer noch nicht, worauf du hinauswillst.« »Wenn sich die Juden an Auschwitz erinnerten, dann würden sie sich gegenüber den Palästinensern anders verhalten. Ich habe so meine Zweifel an dieser kollektiven Rassenerinnerung, von der du sprichst.« Das Hausmädchen Jijo trat an dieser Stelle herein und wechselte die Teller; Medina hatte ihren nicht angerührt. Atta fuhr dann fort: »Jahrhunderte des Leidens lassen sich nicht vergessen. Meine Rasse erinnert sich an dieses Leiden, meine Rasse hat es nicht vergessen. Ich erinnere mich an dieses Leiden, diesen Schmerz. Also bin ich.« »So wie Soyinkas Poetik?« »Wer?« Wenn sie Amiri Baraka, Nikki Giovanni, Don Lee, Audre Lorde, Jayne Cortez nicht kannte, wenn sie die nicht kannte oder las, würde sie auch Soyinka nicht kennen, dachte Medina. »Ein nigerianischer Schriftsteller, der von Ketten und Rassengedächtnis in einer Weise spricht, die deiner nicht unähnlich ist. Keine Rasse hat eine Erinnerung an Schmerz, Leiden und Ketten, genauso wie keine Rasse ein Monopol auf Intelligenz hat.« »Aber die Juden, das ›Auserwählte Volk‹, haben sich genau so verhalten. Sie schreiben umfangreiche Geschichtsbücher über Auschwitz und erzählen der Welt auch, dass die glänzenden Physiker, Dichter und Schriftsteller Juden sind.«
»In Auschwitz hat die Menschheit gelitten, keine bestimmte Rasse. Hitler und sein Unterdrückungssystem hätte es nicht geschert, wer ihre Opfer waren. Das Gleiche passiert in Palästina, in den USA, in Südafrika und andernorts. Keine Rasse hat ein Monopol auf Schmerz.« »Meine Rasse erinnert sich. Darauf bestehe ich.« »Das verhält sich ähnlich wie mit Träumen. Es gibt keine kollektiven Träume. Jeder von uns hat ihren oder seinen eigenen Traum, jeder von uns leidet auf ihre oder seine Weise. Und wenn einige Schwarze leiden, kannst du dich darauf verlassen, dass es anderen gut geht. Du leidest, weil du ein menschliches Wesen bist, nicht weil du die bist, die du bist, nicht, weil du schwarz bist. Und wenn mein eigenes Volk andere leiden lassen würde, würde ich auch leiden.« Atta wiederholte einfach, was sie vorher gesagt hatte. »Siehst du das kleine Wesen hier, meine Tochter?« sagte Medina. »Ja. Was für ein Engel.« »Sie kam durch Kaiserschnitt auf die Welt.« Auf Attas Gesicht zeigte sich ein Ausdruck von Schmerz. »Glaubst du, mein Mann hat genauso gelitten wie ich?« »Natürlich nicht.« »Und weißt du, warum ich all diese Schmerzen erleiden musste? Weißt du, warum ich den Kaiserschnitt brauchte?« »Sag es mir.« »Weil ich beschnitten bin. Weißt du, was das heißt? Infibuliert.« Mehr Schmerz zeigte sich auf Attas Gesicht, eine dickere Schicht, auch von Furcht beschwert. Zum ersten Mal hörte sie zu essen auf und fing an, ihre Finger sauber zu lecken. »Ich erleide diese Demütigung, diese inhumane Prozedur der Beschneidung; du wirst nie wissen, wie schmerzhaft das ist, außer an dir selbst ist die Operation durchgeführt worden.
Muss aber jede Frau auf der Welt diese barbarische Prozedur über sich ergehen lassen, um das damit einhergehende Leiden zu kennen, jede Frau, ob sie arabisch, malayisch, afrikanisch oder amerikanisch ist? Eine große Mehrheit der weiblichen Bevölkerung Afrikas leidet unter Komplikationen, die sich aus der Infibulation ergeben. Das ist nicht rassebedingt. Leiden ist menschlich.« Ubax war aufgebracht, dass sie in einer Sprache redeten, die sie nicht verstand und sich daher nicht beteiligen konnte. Erst schwiegen sie alle. Doch nach einer Weile übersetzte Samater alles, was gesagt worden war, vielmehr fasste er es für sie zusammen. Ubaxs Kommentar lautete, wenn Atta überhaupt keine Weißen mochte, sollte sie vielleicht nicht am gleichen Tag wie Sandra eingeladen werden – was Medina eigentlich vorgehabt hatte. Sandra war jedoch mit dem Ideologen auf Reisen. (»Glück gehabt«, hatte Ubax darauf gesagt – als Erwiderung auf Samaters geduldige Erklärungen.)
»Wie geht es Medina?« sagte Atta nun. Sie hatte eine Art, die falsche Frage zur falschen Zeit zu stellen, alles aus dem Gleichgewicht zu bringen, was sorgfältig aufgebaut worden war. Er hätte sie vergewaltigen sollen, dachte Samater; das hätte zu ihrem Charakter gepasst: Der Schmerz, trocken penetriert zu werden, das Leiden, die Demütigung. Anders als Amina, die Kinder der Schande zur Welt gebracht hatte, war Atta vielleicht auf diese Eventualität vorbereitet, da sie mit nichts darunter gekommen war. Ich leide. Also bin ich. Und sie würde abtreiben. Ja, er hätte sie vergewaltigen sollen. »Es ist der Überraschungsmoment, der so schockierend an einer Vergewaltigung ist, weil du unvorbereitet erwischt wirst, unerregt, trocken, der Stecken, der in eine Tür geschoben wird, die bei entsprechender Zeit und dem notwendigen Streicheln von selbst aufgegangen
wäre«, sagte Amina. »Es ist der Frontalzusammenstoß zweier Fahrzeuge bei einem tödlichen Unfall; es ist der Schock, das Unvorbereitetsein«, hatte sie weiter geredet. Atta konnte nicht unvorbereitet erwischt werden, sagte er sich, als er ihr zusah, wie sie die zweitletzte Dose Bier öffnete und austrank. Sie hatte vier Kinder »daheim«. Ihre Väter? »Afrika.« Genaueres? Einer war Igbo, einer Mandingo, einer sprach Haussa, einer Suaheli. Und nun? »Ich bin auf der Jagd nach dem unentbundenen Hamiten in mir.« Ja, er hätte sie vergewaltigen sollen. Aber da er es nicht getan hatte, sollte er es damit probieren: »Wie geht es Sandra? Hast du sie in letzter Zeit gesehen?« Attas Lippen warfen sich auf vor Zorn, Lippen, über denen der schwache Ansatz eines Barts zu sehen war. Sie erinnerte Samater an jene Sizilianerinnen, uralt wie ihre Trauerkleider, die sie jahraus, jahrein trugen. War es ihm noch in Erinnerung, dass sie ihn gefragt hatte, wie es Medina ging? »Diese Schlampe! Diese weiße Schlampe!« fluchte sie. Und im facettenreichen Braun seiner Augen war ein Labyrinth, aus dem das Führungslose verbannt war: Dort im intimsten Teil seines Hirns war die Spur eines Siegerlächelns. »Aber was hat sie dir getan?« »Ich hab’s schon immer gewusst: Schwarze Männer in Machtpositionen vertrauen den weißen Miezen, mit denen sie schlafen, blind und lassen sie die Staatsangelegenheiten für sie führen.« »Was ist passiert?« »Sie sei Kommunistin und ideologisch vom selben Zuschnitt wie der Ideologe, sagt sie. Sie schert sich nicht viel um das, was andere empfinden. Sie hat Macht in der geballten Faust.« »Aber…« »Sie hat auf Kosten der Regierung eine große Delegation ihrer Freunde eingeladen. Sie hat Dienstwagen zu ihrer
Verfügung, sie hat den Fernschreiber des Informationsministeriums in Reichweite. Es gibt eine totale Nachrichtensperre, bis sie ihr Zeug eingegeben und der ganzen Welt verkauft hat. Absolutes Monopol. Die weiße Schlampe.« Sie öffnete die letzte Bierdose. »Hoodi, hoodi«, kündigte der Kellner seine Ankunft an. »Endlich«, sagte sie. »Endlich«, konnte auch er nur mit erleichterter Stimme sagen. Das Eintreffen des Essens öffnete eine Klammer, die beiden das Gefühl gab, sie würde sich erst wieder schließen, nachdem sie gegessen hatten. Attas Kaugeräusche klangen wässrig, weshalb seine Gedanken nach kurzer Zeit auf marschigem Sand marschierten. Sie war allein unter vielen Männern auf einer Arche voller Hamiten… die Wahl fiel ihr umso schwerer, da sie jeden Prinzen wollte, der ihr über den Weg lief, sei er aus Nigeria, Somalia oder Zululand. Doch die Küste, deren Gewässer sie durchpflügten, war von Weihrauchduft geschwängert, und etwas sagte Samater, dass sie sich an der Küstenlinie von Punt befanden. »Meine Rasse erinnert sich an das, was Medina vergessen hat«, sagte sie gerade. Und sie gab sich promiskuitiv und großzügig und sagte: »Afrika soll sich vermehren.« Sie bezauberte jeden in ihrem Umkreis. Ihr wurde Gastfreundschaft in jeder Form zuteil, der Anruf vor Mitternacht, das warme Bett, und sie war mit sich selbst in Frieden. Eine Arche voller Hamiten, alles Männer, die sämtlich wegen dieser weißen Schlampe untergingen, die sie verhext hatte und die von »Ideologie« als einender Kraft sprach. Und die Söhne von Harns Land fielen auf so etwas herein, ganz so wie der Neger seine Minderwertigkeit hinnahm, bloß weil der weiße Mann sie behauptete. »Vor hundert Jahren war der Afrikaner ein Wilder, der die zivilisierende Mission des weißen Mannes brauchte; jetzt
braucht der Afrikaner Technologie, er braucht die Ideologie des weißen Mannes; nun sind wir alle Menschen, gleich und menschlich vor dem heiligen Wort von Marx und Lenin. Sie kriegen dich immer wieder rum. Die ganze Technologie, die ganze Ideologie, das ganze Getue um die weiße Frau laufen auf das Gleiche hinaus: die Zügel ihrer Macht in der Hand zu behalten.« Und sie schenkte den Ordensbändern ihre Liebe, weil sie einem afrikanischen Krieger gehörten. Dann gab sie sich seiner Liebe hin, während sie diese ihm abnahm. Sie sagte, sie sei nach Afrika gekommen, um die Kerze des Leuchters anzuzünden. Und warum sei sie nach Somalia gekommen? Keine Antwort. Sie war nach Somalia gekommen, um die Lenden des Kabinetts zu entflammen, sagten böse Zungen in Mogadischu. Es lebe die Macht von Frauen über Männer, ob weiß, ob schwarz oder afrikanisch! CIA, behaupteten viele. Als sie mit dem Essen fertig waren… Der Mond, den er durch die Löcher im Laubdach sehen konnte, war von einem leichten Wolkenschleier gekrönt. Die Augen des Himmels waren tiefe Brunnen reflektierten Lichts, silbrig wie ein Spiegel; grau wie der Rauch des Tages. Sobald sie gegessen hätten, dachte er, würden sie aufbrechen, sie in ihrem regierungseigenen Auto, er in seinem Leihwagen. Er war nicht bereit, mit Atta über Medina zu reden, über das, was zwischen ihm und seiner Mutter vorgefallen war oder ob er zurücktreten werde. Doch eine leichte Irritation breitete sich wie eine Zyste in ihm aus: Warum sollte er es nicht mit ihr probieren? Da sie nur eine Armeslänge voneinander entfernt waren, würde er sie mit einer vermeintlich verirrten Hand berühren. Wenn sie darauf einging, schön und gut, wenn nicht, war nichts verloren. Dann würde er ihr mit Worten den Hof machen. Ein Leihwagen. Ein neues Bankkonto auf seinen Namen. Ein Hotelzimmer. Ein abendliches Rendezvous. Eine
von der Straße aufgegabelte Prostituierte würde sich in das alles nicht gut einfügen. »Eine wunderschöne Nacht«, sagte er. »Herrlich.« »Deine Gesellschaft hat sie noch schöner gemacht.« »Danke.« Er berührte sie mit der Hand. Sie behielt sie beiläufig, hielt seinen Finger ein wenig zu lang, bevor sie ihn losließ. Er legte sich auf den Rücken und nahm sich eines der Kissen. Sie breitete ihren Kopf auf seinen Bauch, ihre Füße berührten den Sand bei der Lampe und spielten damit. Ohne Mühe und Aufwand ließ er die Finger über ihre seidenweichen Lippen gleiten. Sie biss auf sie, küsste sie, öffnete den Mund, damit er sie spielerisch hineinsteckte, um gesaugt und geliebt zu werden. Dann setzte sie sich auf. »Weißt du, wie spät es ist?« »Warum willst du das wissen?« »Die Nacht ist jung wie ein Kalb, nicht wahr?« »Alt wie eine zahnlose Kuh«, sagte er. »Hast du schon mal eine gesehen?« »Was?« Sie war aufgestanden, blieb aber etwas gebeugt, so dass ihr die Dornen nicht in die Augen stachen. Sie befand sich hinter der Paraffinlampe und zupfte an einem herabhängenden Akazienast. »Bevor ich hierher kam, habe ich gedacht, dass Somalis auf Kamelen reiten wie die nordafrikanischen Araber. Meine Mutter hat mich sogar davor gewarnt. Sie hat gesagt, ich könne alles tun, was mit gefiele, bloß kein Kamel reiten.« »Warum?« »Einer ihrer Brüder war während des Krieges einem britischen Kommando in Nordafrika zugeteilt und brach sich das Genick, als er von einem herunterfiel. Ein paar Beduinen
fanden ihn halb tot und brachten ihn um, anstatt ihm zu helfen. Meine Mutter meinte, die Somalis könnten sich genauso verhalten.« Er erhob sich und stellte sich still hinter sie. Er legte ihr die Hände um den Hals und tat so, als würde er sie erwürgen. Als er losließ, wartete er nicht ab, bis sich eine Reaktion auf ihrem Gesicht zeigte, sondern sprang über die Lampe (er wünschte sich dabei, sie würde ihm folgen) und blieb leicht gebeugt direkt im Eingang des Akazienbaldachins stehen. Doch bevor er wusste, wie ihm geschah, hing sie ihm verspielt am Hals wie ein ergebenes Äffchen. Sie ließ vom Spielen mit ihm ab und forderte ihn direkt heraus: »Kannst du mich in die Höhe heben?« »Dich vom Boden aufheben?« »Ja, du Muskelmann. Kannst du das?« »Warum um Himmels willen?« »Einfach so.« Die Frage, die ihm schon vorher in den Sinn gekommen war und sich nun wieder meldete, war die: Wie kommt es, dass eine Amerikanerin, vermeintlich die Feindin einer sozialistischen Revolution, nicht zuerst einmal verdächtig war, sondern alles bekam, worum sie bat? Wusste irgendwer wirklich, wer diese Frau war? Seine Schenkel waren nicht mehr entflammt. Aber sein Kopf loderte vor besorgten Fragen. Sie bewegte sich wie ein Akrobat, führte ihm ihre Muskeln vor, führte ganz wie Muhammed Ali ihre körperliche Wendigkeit vor. »Um es zu vereinfachen, kann ich mich leichter machen«, sagte sie. »Wie?« »Indem ich meine Kleider ablege«, antwortete sie. »Spielst du mit?« Sollte er? Konnte er ihre Herausforderung kontern?
»Was setzt du ein?« »Alles.« »Alles? Erkläre dich näher. Was?« »Wenn du mich hochhebst, hast du es gewonnen.« »Ich habe es gewonnen? Was?« »Mich!« Er spannte die Muskeln an. »Ist das dein Ernst?« »Oder willst du, dass ich dich hochhebe? Du bist leicht wie ein Vogel. Ich fürchte, du wirst ins Unerreichbare fliegen, wenn ich dich hochhebe.« Sie kam auf ihn zu. Er wich zurück. »Wenn der Ideologe es konnte, sehe ich nicht ein, warum du nicht auch«, sagte sie. »Du kommst mir muskulöser, stärker und männlicher vor.« »Du meinst, der Ideologe…« »Und zwei deiner drei Vizepräsidenten. Macht mag Mösen.« »Zwei der drei Vizepräsidenten?« »Einem von ihnen kam es schon bei einer bloßen Fußmassage. In echt!« Sie packte ihn beherzt an den Ellbogen und sie rangen miteinander; er wollte sich nicht auf die Art nehmen lassen, taktlos. Medina machte so etwas nicht. Medina war nicht auf Gewalt aus und er auch nicht. Wenn der Ideologe und die zwei Vizepräsidenten es auf diese Weise mochten, war das ihr Bier. Und vor allem, warum sollte er ihr glauben? Was wusste er schon, sie konnte auch lügen. Doch sie hörten mit der Rangelei auf, sie stellte den Kampf ein und war in seinen Armen, ihr Leib warm an seinem, ihre Brüste unter dem leichten Baumwollkleid trommelten den Rhythmus ihres Verlangens, genommen zu werden. Sie war wie die See zum Sand: flach, großzügig und bereit. Er schlüpfte aus ihrer Umarmung. »Einen Augenblick«, sagte er.
Sie lösten sich voneinander. Er trat ein oder zwei Schritte beiseite, damit er frei durchatmen konnte, ohne Lunge und Brust einer anderen Person warm an seiner kalten, leblosen Männlichkeit. »Was ist los?« fragte sie perplex und stellte sich neben ihn. »Was habe ich getan?« »Nichts«, sagte er, doch seine Stimme verriet ihn. »Wenn du gern möchtest, dass ich mich sanft, süß und schleckend wie diese oberschlauen Frauen aufführe, die du in Europa kennen gelernt hast, sag es mir. Ich kann das auch.« Und sie berührte ihn. Sie half ihm aus seiner Hose. »Bitte«, sagte er, während er vor ihrer Berührung zurückzuckte und das Hemd selbst aufknöpfte. Dann erhellte sich die Nacht plötzlich mit Licht – als hätte eine Sternschnuppe ihren letzten Atemzug mit ihnen geteilt. Was zum Teufel war das? Eine kurze Zeit blieben sie reglos. Dann hörte er einen Kellner einem Gast, dessen Auto nicht anspringen wollte, etwas erklären. Vielleicht war einer der Ober mit einer Paraffinlampe in der Hand nahe an ihnen vorbeigegangen. »Sollen wir dann gehen?« fragte sie unerklärlicherweise. »Nein, nein. Bleiben wir noch eine Weile da.« »In Ordnung.« Sie rückte näher, legte ihm die Hand in den Nacken und küsste ihn. Diesmal wich er nicht vor ihrer Berührung zurück und löste sich auch nicht. Er ließ sie seine Hand hinunter und herauf geleiten, ihren Intimbereich berühren. Sie zog ihr Kleid aus und legte sich völlig nackt über ihn. Wieder diese plötzliche Helligkeit. Samater war sich dieses Mal sicher: Er sah die Hände des Fotografen in die Nacht verschwinden. Er war sicher, den Mann wieder zu erkennen. Es war Wentworth George, der Mann, der das Porträt des Generals gemacht hatte. »Ich glaube, wir können jetzt gehen«, sagte Samater ruhig.
»Ich dachte, es würde dir Spaß machen.« »Tut es auch. Machen wir es in meinem Hotelzimmer.« Er sagte ihr, wo sie sich treffen sollten und dass sie ihr Auto einfach in Sichtweite des Caruuba Hotels parken sollte, wenn er sich verspätete. Er gab ihr seine Zimmernummer und fragte sich, ob ein weiterer Fotograf auf ihre Ankunft warten würde, vielleicht noch mit einem Tonbandgerät, um alles aufzuzeichnen, was gesagt wurde. Er war ziemlich sicher, Medina würde sich die Ergebnisse dieses Lauschangriffs auf ihn genüsslich anhören.
TEIL DREI Die Jahrhunderte folgen einander und vervollkommnen dabei eine kleine Wildblume. Rabindranath Tagore Ein Hund, verreckt vor des Herren Haus, sagt den Untergang des Staates voraus. William Blake Ein Mensch ist unendlich komplizierte als seine Gedanken. Paul Valery Der Schrei erbrach sich selbst Ted Hughes Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe könnte den Himmel zerstören. Das ist zweifellos, beweist aber nichts gegen den Himmel, denn Himmel bedeuten eben: Unmöglichkeit von Krähen. Franz Kafka
10
Die Sonne sah blass aus, als ob sie kränkelte. Wie ein sterbender Invalide wurde sie schwach, wurde sie mild. Überall um sie herum trugen die azurblauen Wunden des Himmels Verbände aus gazedünnen Wolken. Dann kletterte sie weiter die Sprossen der Zeit nach oben. Medina sah mit dem kontemplativen Blick eines Weisen die vergangene Zeit in der gegenwärtigen: hellere Schattierungen der Dunkelheit eingebettet in kräftigeren Farbtönen. Vergangene Zeit, dünn wie die oberste Bodenschicht in der Sahelzone, leblos, schon tot, bevor sie das Leben vollends in ihre sandigen Adern aufgenommen hat. Doch die Luft war ihr vertraut, der Ort ebenfalls. Und genauso die in Rot geschriebene Warnung: Halt ein und gib Acht – Er ist nicht wir alle! Sie war wieder in ihrer eigenen Umgebung, sie war der Vogel im Nest – nun da Samater weg war, da die Geschichten zirkulierten, er sei mit dieser Frau gesehen worden, habe sie mit ins Hotel genommen und die Nacht mit ihr verbracht. Medina war wieder da, wo sie sich am besten auskannte, und Ubax mit ihr, glücklich, dass sie ihre Spielsachen, ihr Zimmer und die Zeichnungen an ihren Wänden wieder hatte. Ubax hatte ihre Mutter gefragt, was das alles sollte; warum waren sie erst ausgezogen und dann wieder eingezogen, was sollte das alles für einen Sinn haben? Medina entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten und versprach, es würde nicht wieder vorkommen. »Du hast deine Spielsachen. Bist du jetzt glücklich?« »Wo ist das Hausmädchen, wo ist die Ordonnanz?« Medina fiel auf, dass Ubax den Namen ihres Vaters nicht erwähnte.
Ubax ließ ihr aber keine Zeit, die Frage zu beantworten, denn sie war schon weg, darauf bedacht, ihre Spielsachen wieder in die Hand zu nehmen und damit zu spielen. Wie sie sich auf dieses Spielzeug und auf ihr Zimmer freute! Wo aber war Samater? Wusste es Medina? Ihr waren nicht bestätigte Berichte zu Ohren gekommen, dass er als Minister zurückgetreten war, und alle fragten sich, ob er ins Gefängnis kommen würde oder nicht. Rauch und Staub der gestrigen Razzien hatten sich schon fast wieder gelegt, da die meisten verhafteten Jugendlichen mit einer Ermahnung freigelassen worden waren, nachdem von ihren Stammeshäuptlingen und ihren Eltern eine eidesstattliche Erklärung unterschrieben worden war, dass sie künftig an keinem Aufstand gegen das Regime mehr teilnehmen und nicht mehr an die Wände schreiben würden. Einige wenige waren nicht freigelassen worden, unter ihnen waren Cadar und Hindiya und noch eine weitere Freundin. Medina blickte auf; Ubax war zurückgekehrt und es schien so, als hätte sie etwas zu sagen, etwas, das sie zu fragen vergessen hatte. »Ja? Was liegt dir am Herzen, meine Süße?« »Wo ist Nasser?« »Nasser ist zu Hause, im anderen Haus, seinem Haus, glaube ich.« »Und Samater? Warum sind sie nie zusammen?« Medina schob den Notizblock zur Seite und machte sich auf weitere und kompliziertere Fragen gefasst, die Ubax stellen mochte. Ihr Gesicht behielt säuberlich sein Lächeln bei und sie wartete ab. »Glaubst du, es wird wieder so wie früher sein? Samater. Du. Ich. Nasser. Und Sandra. Wird es das?« »Ich glaube nicht, dass es wieder so sein wird.« »Ich hab ihn gestern Nacht gesehen, ganz im Ernst.«
»Wen?« »Samater. Im Traum. Ich werde ihn fragen, wenn ich ihn wieder sehe, wo er gewesen ist, warum er mich nicht besucht hat und was er so macht. Ich habe ein Recht, es zu wissen; er ist mein Vater, du aber magst mir gar nichts erzählen. Du sprichst am Telefon, redest mit anderen Leuten über ihn in Sprachen, die ich nicht verstehen kann.« »Aber mein Liebling, wie hat er im Traum ausgesehen?« »Er hat abgekämpft ausgesehen. Er hat sich geprügelt, hat er gesagt.« Und Ubax war weg. Medina konnte sich jetzt nicht konzentrieren. Die gegenwärtige Zeit zog sich zurück wie ein scheues Kind, wohingegen die vergangene Zeit mutig, tapfer und dominierend wie ein Traum zum Vorschein kam. Eine lange, zugige Straße, wie sie nur in Träumen zu sehen ist. Medina, Samater und ihre Ubax wieder zusammen, ein Jubeltrio, eine nach allem, was sie auch immer auseinander gerissen hatte, wieder vereinigte Familie, und sie hielten sich an den Händen. Die lange, zugige Straße war gesäumt von angeschwemmtem Meerestreibgut, das jemand in mühevoller Kleinarbeit in Urnen mit brennendem Weihrauch gestopft hatte, dessen Duft die beiden Fahrbahnen umhüllte. Nirgends war ein Porträt des selbsternannten Usurpators der Macht zu sehen und genauso wenig gab es die Werbetafeln mit den speichelleckerischen grafischen Huldigungen von dafür ansehnlich bezahlten Plakatmalern. Der Strand war übersät mit den Leichen derjenigen, die in dem Bürgeraufstand umgekommen waren, außerdem mit halb toten Vögeln, die in den letzten Atemzügen zuckten, da in allen noch die Lebensgier pulsierte, obwohl ihnen schon der Wille fehlte, es noch einmal zu versuchen. »Es gibt nichts Verstörenderes als den Anblick eines sterbenden Kranichs«, sagte Samater. »Er markiert den Umkreis seines Kampfes, denn der Schnabel
zeigt in die eine und die langen Beine weisen in die andere Richtung; er hat den Umriss des auf sein Horn gestellten afrikanischen Kontinents, tot wie ein Jagdhorn, dessen Löcher mit Sand verstopft sind.« Glücklich schritten sie zu dritt aus; rechts war die See und links stachen die Sanddünen hervor wie die Flaggenmasten einer herrschaftlichen Residenz. Immer wieder blockierten Sturzbäche von Sand ihren Weg. Doch irgendwie konnten sie wundersamerweise die Hemmnisse überwinden; manchmal flogen sie darüber, und zweimal, als dies wegen der Höhe unmöglich war, blieben sie einfach unterhalb des Hindernisses. Dann gingen sie beide voraus und Ubax, die Kinder zum Spielen fand, blieb eine Weile zurück. Da gaben sie sich der Liebe hin und kamen einmal, zweimal, dreimal gleichzeitig. Sie versuchten es noch ein viertes und fünftes Mal, obwohl nun keiner von ihnen mehr kam, während der andere im lustvollen Schmerz des Lebens stöhnte. Dann wechselten sie die Stellung, er legte sich auf sie, was sie kaum je probierten, und da kam es ihm so schnell wie ein Schuss. Sie waren voller Energie wie der taufrische Tag und Medina war fruchtbar wie der feuchte Morgen. Die gegenwärtige Zeit in der vergangenen wie eine Spielkarte in einem Blatt, das ein Experte gemischt hat, die vergangene Zeit wie aus einer Traumszene geborgt. Und sie waren noch im Wasser, sie beide draußen in den blauen Tiefen des Indischen Ozeans, und ihre Ubax verspielt planschend in den seichten Gewässern der Sicherheit. Dann jedoch hörten sie Ubax um Hilfe schreien und rannten blitzschnell zu ihr. Sie stießen auf Idil, riesig wie ein aufgeplustertes Ungetüm mit ihren großen milchlosen Zitzen, die schlaff von ihrem voluminösen Brustkorb hingen. »Warum bist du hier, Mutter?« fragte Samater. »Ich bin gekommen, um das Wundmal der Natur zu vernähen.«
Medina verfiel in eine fremde Sprache, die Idil und Ubax nicht verstehen konnten, und sagte, sie würde Samaters Mutter mit demselben Messer umbringen, das diese mitgebracht hatte, »um ihre unschuldige Enkelin rein zu machen«. Samater bat sie, zu warten. »Wofür ist das Messer, Mutter?« »Was für ein Messer?« Da wandte Idil sich ab. Samater, geschwind wie ein Unfalltod, versetzte Idil einen so heftigen Schlag, dass sie ins Wasser fiel und auf der Stelle tot war. Ihre Leiche trieb gewaltig wie ein Wal in den Wellen. Samater zog sie immer weiter in die tiefen Zonen des Ozeans und versenkte sie im geheimen Schoß der See. Als er an Land kam, war Ubax wieder mit sich selbst beschäftigt und Medina war geil und heiß vor Lust, so dass sie sich leidenschaftlich der Liebe hingaben. »Komm, komm jetzt, komm in mich, ich will dich, mein Blatt, in mich einfalten«, sagte sie. Das Meer, dunkel in Grün und Schwarz, tat sich auf und verschlang sie ganz, gierig wie die Liebe. Und Samater tauchte ein und erschloss sich die Kartografie ihrer Weiblichkeit, seine Lust dehnte ihr Geschlecht wie ein Spekulum. Sie kamen immer und immer wieder zum Höhepunkt. Dann schaukelten sie wie Ubaxs Papierschiffchen gemeinsam in den von ihnen erzeugten Wellen, gaben sich willfährig wie die Begierde den Lüsten und Launen der See hin. »Komm«, sagte Medina, »ich möchte, dass wir uns in den Strahlen der Sonne und im Sand der Erde waschen.« Doch als sie aus dem Wasser stiegen, war Ubax nicht mehr da. »Wir haben Besuch«, sagte Samater. Schweige und lausche den Geheimnissen einer anderen Seele, den Träumen und Begierden einer anderen Person. Die Zeit verging wie beim erneuten Mischen eines Kartenspiel, Medina hob ab und Samater teilte die Karten aus. Ubax war verschwunden und ihre Stelle nahm Sandra ein, blass und
krank. Sandra war über und über mit Edelsteinen geschmückt und befand sich vor einem Hindutempel, wo sie mit einem freundlichen und sanftmütigen sannyasin sprach, einem kleinen, umgänglichen Mann aus Kerala, der eine skandalös schockierende Aussprache hatte, die V’s und W’s vertauschte und zudem lispelte. Ihm fehlten zwei Schneidezähne. Seine Haut jeoch war die wunderbarste, die Medina je erblickt hatte, glatt wie Elfenbein und schön wie Ebenholz. Er hatte ein Buch offen vor sich liegen. »Was siehst du?« fragte Sandra den sannyasin. Er nahm ihre Handfläche, schaute ihr dann forschend in die Augen und schwieg lange. »Du sollst reich belohnt werden«, versprach Sandra. »Dazh hazhd du mir schon gezhagt«, lispelte der sannyasin. Er blickte in sein Buch. Dann schaute er wieder auf ihren Handteller. »Sonn und niede«, sagte er schließlich. »Sonne und Liebe?« Er nickte. »Sonn und niede.« »Was? S-o-n-n-e und L-i-e-b-e?« Sie buchstabierte es. Er wackelte mit dem Kopf. Sie versuchte es erneut: »Meinst du S-o-h-n der L-i-e-b-e?« Er schüttelte den Kopf. »Ich meine S-o-n-n-e und L-i-e-b-e.« Sie fuhr in lautem Überschwang hoch. Doch der kühle Blick des Mannes legte ihr nahe, sich zu entschuldigen. Sie tat es nicht. Stattdessen setzte sie sich wieder auf den Boden, die Beine untergeschlagen. »Wo?« »Vo vazh?« »Diese Sonne und Liebe?« Der sannyasin schwieg. Dann nahm er sanft ihre Hand. »Sonne und Liebe. Ich zhehe wiel won beidem, ich zhehe in den Furchen deiner Handfläche Flüsse von Sonnenschein und
Liebe. Ich zhehe zhie aufleuchten und dunkel werden. Du virst Mailand wor Jahrezhende werlassen.« »Und wohin werde ich gehen?« »Du virst nach Afrika gehen.« »Afrika, wie toll. Wohin in Afrika?« »Zu deinem Vohlergehen izht bereits ein Schirm in einem Land aufgestellt, vo dein Grozhwater alzh Offizier der italienischen Regierung diente.« »Somalia? Ich werde nach Somalia gehen zu Medina und Samater? Unglaublich!« Die Augen des sannyasins spiegelten Sandras sonnige Wonne und Liebe wider und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Ist da ein Mann? Ein Mann unter dem aufgeschlagenen Baldachin in der Sonne? Ist da Liebe?« »Wiele. Wiele, wiele won ihnen, mehr alzh du je in Mailand kennen gelernt oder gezhehen hast.« »Wie viele?« »Dazh hängt won dir ab.« »Von mir?« »Die mächtigsten Männer diezhezh Landezh verden zhich wor dir niederverfen. Du virst won den Mächtigsten in diezhem Land bevirtet und bedient und umvorben werden.« Sandra kauerte ehrfürchtig und dankbar vor dem sannyasin. Sie nahm seine langfingrigen Hände in ihre und küsste sie voller Verehrung. »Ich werde mich sofort hinsetzen und Medina, einer meiner besten Freundinnen, schreiben und ihr meine Entscheidung kundtun, sie zu besuchen. Medina und Samater, zwei enge Freunde. Sie werden begeistert sein.« Die Szene, die sich soeben abgespielt hatte, wirbelte umher wie ein Kreisel, zylindrisch und spitz am unteren Ende; sie drehte sich wie die Welt um ihre Achse, die Zeit tickte im Sekundentakt, pendelte und schwang zwischen einer
bekannten Vergangenheit und einer noch nicht gelebten Zukunft. Und da waren sie alle vier: Sandra, Nasser, Samater und Medina bei Tisch mit Tellern voll chowder vor sich, während die See in der Ferne rumorte. Mailand. Vigevano. Wie die helleren Schattierungen der Dunkelheit, eingelassen in die tieferen Schichten einer anderen. Dann, fast zu unvorhersehbar und plötzlich, ließ die gegenwärtige Zeit die Jalousie vor der vergangenen Zeit herunter, als… »Wo bist du?« sagte Ubax gerade. »Hier, ich bin hier, Liebes.« Den linken Daumen im Mund, während der rechte ihre Augen noch röter rieb, kam Ubax in die Küche, aus der sie die Stimme ihrer Mutter gehört hatte. »Was machst du in der Küche?« »Kochen.« »Kochen? Aber wer kommt?« Medina deutete auf einen Zettel auf dem Küchentisch. »Ein Gast.« »Wer?« »Lies den Zettel selber.« Ubax hob ihn auf und blinzelte auf eine Anordnung von Buchstaben, die ihr das Gefühl gab, Analphabetin zu sein. »Das ist ausländisch.« »Ist es nicht. Es ist Italienisch.« »Aber das ist ja ausländisch.« Ubax verschränkte wütend und trotzig die Arme vor der Brust. Ihre Pupillen flammten zornig auf; warum war Medina so dumm und verbohrt? Italienisch war ausländisch, und sie, Ubax, konnte es nicht lesen und sie hasste diejenigen, die es sprachen, schrieben oder sie baten, Sprachen zu lesen, die sie nicht verstehen konnte. Medina gab klein bei, aber: »Kannst du erraten, wer kommt?« Ubax geschwind: »Sandra.«
Sie erhielt von ihrer Mutter einen Kuss. Ein Kreuzgang aus roten Fahnen. Eine Säule studentischen Widerstands. Ein Pfeiler aus gereckten Fäusten. Eine Brücke aus untergehakten Armen. Ein Banner von Sicheln. Und ein Meer jugendlicher Gesichter. Medina. Sandra. Nasser. Hinter ihnen wie ein Kind, das in der Menge verloren zu gehen glaubt und sich an Mutters Rockzipfel festhält, Samater, ihre Bücher, Medinas Handtasche oder die von Sandra mit ihrer Tamponschachtel fest im Griff. Und das Weberschiffchen spann einen Vorhang aus Schlachtrufsängern: Giap/Giap/Giap Ho/Chi/Minh. Eine öffentlich gemachte private Beschwerde. Ein Schatten am Ende des Tages ist länger als das, was ihn geworfen hat. Confronto-scontro. Die avanguardia degli operai e dei braccianti. Der Pariser Mai. Der Sommer vor dem Herbst. Medina, Sandra und Nasser sangen und nahmen teil wie alle, während Samater sich zurückhielt. Vielleicht hatte es in der Nacht zuvor eine Diskussion bis in die frühen Morgenstunden gegeben, bis die Sterne die Augen schlossen; vielleicht waren alle vier mit weiteren Freunden in ihrer Stammkneipe gewesen, einer Trattoria, in der es gutes Essen und guten Wein zu zivilen Preisen gab. Von dort gingen sie meist mit untergehakten Armen zum Porto Garibaldi und sangen provozierend Bandiera rossa. Die Faschisten in ihren dunklen Hemden warteten in den Schatten der Palazzi und manchmal kam es zu leichten Rangeleien und Prügeleien, bis die Polizei herbeieilte und sie zerstreute. Bei der Via Fiesta del Perdono, die Universität in Rufweite, skandierten, sangen und erschreckten sie die Passanten wie das laute Schrillen eines Weckers. Säe deine Blütenträume am Tage
damit du sie nachts als Vergißmeinnicht pflücken kannst wenn die Faschisten schlafen. Giap/Giap/Giap Ho/Chi/Minh! Giap/Giap/Giap Ho/Chi/Minh! Ein ununterbrochenes Ginsberg’sches Geheul des Engagements, und der Anführer der Gruppe schrie Befehle, gab Anweisungen. Ein Schar junger Männer und Frauen in Jeans und löchrigen T-Shirts schleuderte den Institutionen der Autorität Schmährufe entgegen in der Hoffnung, das gläserne Gebilde der Regierung würde als Folge ihres vereinten Aufschreis, der Einheit ihrer geballten Fäuste gleich in Scherben fallen; junge Männer und Frauen, die ein Ebenbild des Neokruzifix verbrannten, das Herz, das eine der jungen Frauen um den Hals getragen hatte, das sacra cuore, war schändlich zu Tode verblutet. Dann wurde eine Scheinkommunion abgehalten, ein kurzes Gebet wurde kreiert und Sandra sprach es vor: »Vater unser, der du gekleidet bist in die Neonbrüchigkeit aus Plastik, gib uns heute unseren Anteil an Konsumgütern, behüte uns, o Herr, vor dem Hagelschauer widersprüchlicher Klischees.« Am Statale in Mailand waren sie organisiert und Sandra war Mitglied des Zentralkomitees. Da Medina und Nasser an der Piazza San Babila wohnten, kamen Sandra und die anderen engen Freunde dieses Kreises, immer wenn die commizzi aufgelöst wurden, in ihrer Wohnung zusammen und machten da weiter, wo sie aufgehört hatten. Die roten Schals. Die roten Fahnen von ‘68. Die Rebellion gegen all jene Institutionen, welche die bourgeoise Gesellschaft mit Autorität ausstattete – Staat, Schule, Universität und Familie. Sandra lag mit ihren Eltern im Clinch und zog daher bei Medina und Nasser ein. Die langen Nächte
waren verräuchert von den Kippen Selbstgedrehter und geschwätzig wie Abschiedsbeteuerungen. Und wenn alle gegangen waren, schlüpfte Sandra mit Nasser in den wärmenden Liebeskontakt, der nicht existierte, sondern erst hergestellt werden musste. Mit dem lusterfüllten Hinausschreien ihres Orgasmus weckte sie Medina im anderen Zimmer. Und Sandra wurde schwanger. Nasser ging eines Vormittags mit ihr zum Arzt in der Nähe der Piazza Napoli, ließ sie dort und kam am nächsten Morgen wieder, um sie heimzubegleiten. Einen Monat später trieben sie es wieder. Denn Sandras denkwürdigste Nächte waren diejenigen, die wie die Löcher in einer Flöte mit dem Phallus der Liebe gefüllt wurden. Wenn Nasser nicht greifbar war, dann eben ein anderer. Was soll’s…! Die Faschisten der Piazza Fontana. Die Studenten als Rebellen stellten die Familie als Institution in Frage, da deren Hauptfunktion ökonomisch und von so autoritärer Tendenz war, dass der Duce sie genauso wie Hitler und Stalin ausgenutzt hatte. Sandra ging nach der Abtreibung in leicht gebückter Haltung und dies schien Medinas leichtes Watscheln zu komplementieren. Privatim hatten Nasser und Medina ein Gedicht geschrieben, zu dem jeder einen Buchstaben beitrug, als wäre es ein Kreuzworträtsel. Das sollte anzeigen, dass ihre Auffassung von den 68ern sich von der Sandras und ihrer europäischen Genossen unterschied. Das Gedicht konnte zum Tam-Tam einer Trommel gesungen werden: In Europa und den USA ist jetzt Fragestunde in den Hallen der Bildung: in Südostasien lauschen sie der Vorlesung zum Ethos des Widerstandes…
Ein weiteres ununterbrochenes Geheul. Und Medina, Sandra, Samater und Nasser hörten einer Wiederaufführung von Ginsberg zu, dem Meister, der das eulenhafte Geheul so laut anstimmte, dass das Publikum sich aus seiner wallenden Lockenpracht einen Joint hätte drehen können. Das Mantra. Das OM des Omnipräsenten, des Allwissenden: irdene Krüge, dazu geschaffen, die Bedürfnisse eines Kerouac unterwegs zu befriedigen. Sandelholzöl gegen Mücken auf die Haut auf getragen. Kein Moskito darf in die Nähe kommen: Malaria ist der Feind der Menschheit. Das waren die Tage der Bottle Partys, zu denen unterschiedslos und ohne Einladung jeder kommen konnte. Medina und Sandra gingen sogar Papierbecher holen – der Inbegriff dessen, was sich die Konsumgesellschaft unter billiger Wegwerfware vorstellte. Danach kamen die improvisierten Gitarrenfeste. Medinas hochgeachteter Beitrag zu all dem waren die von ihr gekauften Bücher gewesen, die sie allen auslieh, Bücher von Malcolm X, Sartre, Lukács, Le Roi Jones, Cleaver. Und an die Wand ihres Zimmers hatte sie geschrieben: Das ist eine Post-Hollywood-Farce Ionesco tritt darin auf! Und an die Badezimmerwand: Hör auf die Sirenen. Rasch, frage. Was kostet die Kugel, Monsieur? Doch der Prager Herbst und die sowjetische Invasion der Tschechoslowakei schockierten sie so sehr, dass sie sich mit hohem Fieber ins Bett legen musste. Eines Tages, während Sandras Rekonvaleszenz von der schmerzhaften Abtreibung, eines Tages also, als sie sich schon wieder erholt hatte, mit
sich selbst im Reinen war und klar im Kopf fühlte, kam Medina zu ihr, um über ein verabredetes Abendessen zu sprechen zur Feier des Tages, an dem sie und Samater beschlossen hatten, zu heiraten. Sandra war an einem Gespräch darüber nicht interessiert. »Sechsundfünfzig, erinnerst du dich an das Jahr 1956?« fragte sie plötzlich. »Da war ich zu jung«, sagte Medina. »Ich kann mich nicht an etwas erinnern, was ich nie kennen gelernt habe.« »Ich bin doch nicht älter als du, oder? Wenn ich mich erinnern kann, dann solltest du das auch. Und ich kann es. Sehr deutlich.« »Der Suezkanal wurde von drei imperialistischen Mächten besetzt – Frankreich, Großbritannien und Israel. Und sie wurden geschlagen. Das war alles, was ich von meinem Ort aus sehen konnte. Ein Spiegel reflektiert zuerst sich selbst.« »Ein Gastgeber gibt erst seinen Gästen zu essen. Ein Spiegel sieht andere, die in ihm eine Reflexion ihrer selbst sehen. An was erinnerst du dich noch?« »Die Befreiungsbewegung der Mau-Mau schlug zu und brachte das pochende Herz des britischen Stolzes zum Bluten; an das erinnere ich mich auch. Wir wurden von Fehlinformationen überflutet. Das ist alles, was ich noch weiß.« »Das waren blutsaugerische Kannibalen, die Mau-Mau. General China, Dedan Kimathi: barbarische Kannibalen.« »Wie in Teufels Namen kommst du dazu, so was zu sagen?« »So haben die Zeitungen sie beschrieben, die Zeitungen, die wir hatten. Und Moravia auch.« Medina war eindeutig verstimmt. »Worauf willst du denn hinaus, Sandra? Komm zum Kernpunkt, bevor ich wieder die Fassung verliere.« »Warum bist du wütend?«
»Ist doch egal, warum. Worauf willst du hinaus? Was ist so wichtig an 1956? Ungarn? Ist es das, Sandra? Raus mit der Sprache.« »Jeder nationalistische Aufstand ohne gefestigten marxistischen ideologischen Rückhalt ist in seinem Versuch, zu revolutionieren und die Massen zu erreichen, zum Scheitern verurteilt. Wir haben die Folgen gesehen. Wir haben gesehen, was aus den Mau-Mau als nationaler Bewegung geworden ist, und wir haben Abdel Nassers Fehler gesehen. Ein nationalistischer Imperialist (Nasser) und ein stammesmäßiger Imperialist (Jomo Kenyatta). Aber 1956…« »Der Punkt, Sandra. Bring es auf den Punkt!« Sandra setzte sich auf und lehnte ein Kissen für ihren Kopf gegen die Wand. Sie ließ sich Zeit. Sie glaubte zu wissen, was Medina empfand, aber nie aussprach: Sandra tat Afrikas politische Bewegungen und Bemühungen immer als »neokolonialistisch«, »nachahmend«, »planlos und unausgegoren« oder »stammesmäßig« ab. »Ich möchte die politische Bedeutung nationaler Befreiungskämpfe in Afrika, Asien oder Lateinamerika nicht abwerten. Aber Afrikas faschistische, neokolonialistische Diktaturen sind ein direktes Ergebnis dieser völligen Abwesenheit eines programmatischen, ideologisch gefestigten marxistischen Denkens. 1956 steht anders als in der europäischen Kolonialzeit in Afrika die Ideologie auf dem Spiel. Afrika war im frühen neunzehnten Jahrhundert ideologisch nicht gerüstet und daher konnte das kapitalistische System ihre primitive Form der Selbstregierung überrennen. 1956 jedoch fand der erste Versuch seitens der Sozialimperialisten statt, die internationale öffentliche Meinung zu vernebeln, als die Sowjets in Ungarn einmarschierten. Ich will darauf hinaus, dass der Prager Herbst
nur ein Nebenprodukt der Frage ist, die sich echte Marxisten 1956 nicht stellten oder zu beantworten versuchten.« Medina dachte an andere Möglichkeiten, an eine Reihe anderer Beispiele, um ihrem Gast gegenüber den Beweis anzutreten, dass die Sozialimperialisten bei ihrem Bemühen, die Führung der internationalen marxistischen Bewegung zu übernehmen, schuldhaft handelten. Sie könnte von Afrika sprechen, insbesondere von Ägypten. Doch warum so weit gehen? Sie waren ja in Italien. »Die kommunistische Partei in Italien, mal als Beispiel…« Da begann die Schlacht. Sandra hatte das erboste Aussehen einer Löwin, deren Junge verletzt waren. Ihre Augen waren rot, das Blut stieg ihr ins Gesicht und sie sagte: »Lass das, lass das!« »Hä?« »Lassen wir Italien aus dem Spiel, Mina.« »Aber warum?« »Du hast Italien nie begriffen.« »Ich hab nie was?« »Du lebst mit Unterbrechungen schon die letzten zwölf Jahre in diesem Land, du sprichst die Sprache so perfekt wie eine Einheimische, du hast jeder Ecke und Rundung seiner Ruinen alles abgelesen. Aber du begreifst Italien nicht und wirst es auch nie. Es ist nicht einfach.« »Du aber sprichst von Afrika. Wie kannst du…« »Lass das, Mina!« »Zum Teufel! Nein!« »Ich spreche nicht von Afrika. Ich spreche von der marxistischen Theorie, der marxistischen Ideologie, die grundsätzlich europäisch ist, sowohl in ihrer Sichtweise als auch in ihrer philosophischen Entwicklung. Hegel, Marx, Engels, Lenin. Das sind alles Europäer.«
Medina war gekränkt. In einem Versuch, die verletzten Gefühle der Freundin zu schonen, sagte Sandra: »Jedes Land hat Probleme und eine für sein Gebiet einzigartige Kultur. Afrika ist so ein Ort und Somalia so ein Land. Ich möchte nicht behaupten, dass ich die Lage, die Probleme Afrikas (oder Somalias) so gut verstehe wie ein Somali.« Als Sandra sich richtig erholt hatte, versuchten sie wieder einen Ausgleich herzustellen, und tatsächlich kam Medina während einer Woche immer wieder auf diese Unterhaltung zurück, die ihre Beziehung ihrer Auffassung nach etwas angeknackst hatte. Vierzehn Tage später packte Sandra ihre Sachen und zog wieder in die elterliche Wohnung in der Via del Boccaccio. Die beiden standen nie wieder auf so vertrautem Fuß wie vor jener Auseinandersetzung, vor jenem Gespräch. Zum einen vermieden sie nun stets jedes Thema, das sich auf die europäische Linke und ihre Haltung gegenüber dem afrikanischen Kontinent bezog. Das am hartnäckigsten wiederkehrende Echo, die Stimme, die Medina immer hörte, wenn sie Sandra begegnete, war: Du begreifst Italien nicht, also klammern wir es aus unseren Diskussionen aus. Drei Jahre später. Medina war nach Somalia zurückgekehrt und hatte geheiratet; Nasser hatte inzwischen im Mittleren Osten Posten bezogen und ebenfalls geheiratet. Drei Jahre, viele schlaflose Nächte. Drei Jahre und viele durchwachte Morgendämmerungen. Drei Jahre und tausend von Langeweile und Schuldgefühl niedergedrückte Abende. Drei Jahre, drei oder vier Beziehungen, doch Sandra war äußerst unglücklich. Sie beschloss, sich das Leben zu nehmen, besorgte genügend Tabletten, um einen Wal umzubringen, und schluckte sie. Aber es klappte nicht. Sie war jedoch immer noch entschlossen, Selbstmord zu begehen. Dann tauchte am Rand ihres Blickfelds, abschweifend wie die Augen der Zukunft, der
sannyasin auf, der eine Zeit voller Liebe und Sonne in Afrika kommen sah. Sie fragte Medina in einem Telegramm, ob sie eine Woche, einen Monat, maximal zwei bei ihr Aufnahme finden könnte. Sie wäre ihr sehr zu Dank verpflichtet. Medina gab ihr Bescheid, sie würde versuchen, ein Visum für sie zu bekommen, dann eine Reiseroute für sie zu planen. Sie sprachen etliche Male miteinander. Medina vereinbarte über Freunde eine Begegnung zwischen dem somalischen Botschafter in Rom und Sandra. Der Botschafter war beeindruckt. Er rief noch am selben Tag seinen Cousin an, erzählte ihm, dem Generalissimo, von einer glänzenden Journalistin, mit der er gesprochen habe: eine brillante freischaffende italienische Journalistin, mit der ein Interview angebracht wäre. Er erwähnte auch die kolonialen Verbindungen der jungen freischaffenden Journalistin; ihr Großvater war der Vize-Generalgouverneur von ItalienischSomaliland gewesen. Der General war seinerseits beeindruckt. Große Überraschung. Denn Sandra rief Medina an und berichtete ihr, dass sie als Ehrengast zu den Revolutionsfeiern im Oktober eingeladen worden war und für das Flugticket und den Hotelaufenthalt, so lange sie in Somalia bleiben wolle, nichts aufwenden müsse. Und als weiteres Exklusivangebot ein Interview am Vorabend der Feiern. »Unglaublich«, hatte Medina nur herausgebracht. »Warten wir’s ab.« Sandra konnte es ebenfalls nicht glauben. Sie wurde am Flughafen vom damaligen Kultusminister (nun der Ideologe) abgeholt und ins Hotel verfrachtet, wo sie üppig bewirtet und unterhalten wurde. Sie war beeindruckt. Ein Auto mit Chauffeur, ein Haus mit Garten, ein Dienstmädchen, eine Ordonnanz und dazu noch ein Schlüssel, um ihr jede Tür der Republik zu öffnen. Medina war sprachlos vor Schreck, als sie sich trafen. Sandra sah verheerend aus. Sie sagte ihr, was geschehen war und was der sannyasin gesagt hatte. Die beiden
Freundinnen fielen sich in die Arme. Sandra schluchzte vor Erleichterung. Medina gelobte, sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihrer Freundin zu helfen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen und zu sich selbst zu finden. Sie umarmten sich innig und schwiegen, wobei beide das Gleiche empfanden und dachten. Dann lösten sie sich voneinander, Sandra war größer und noch immer kräftiger. Sie befanden sich in der Wohnung, die dem »Ehrengast« der Revolution zur Verfügung gestellt worden war. Ich bin Gast in meinem eigenen Land, sagte sich Medina an jenem Tag. Doch sie äußerte auf die freundlichste Weise: »Politik ist ein vielzimmriger Palast mit Fluren und Machtzellen. Wer weiß, vielleicht bin ich diejenige, die deine Hilfe braucht, so wie mein Großvater deinen Großvater gebraucht hat. Vielleicht ist es für eine Vorhersage zu früh.« Sandra warf der Vertreterin ihres Gastlandes ein Lächeln zu, bunt wie der Würfel, den ein auf den Sieg erpichtes Kind wirft, um den Abstand zwischen sich und seiner Rivalin zu verkürzen. »Mein Großvater war Kolonialist. Dein Großvater handelte mit Sklaven. Wir sind anders. Wir mögen ideologisch unterschiedlicher Meinung sein, du und ich. Es könnte auf die Frage hinauslaufen, wer von uns nun extrem links ist.« Die Sonnenstrahlen fielen auf Medinas Stirn, wo eine Lampe angezündet wurde, eine Lampe des Bewusstseins. Sie lächelte. »Dein Großvater kam her und brachte das Licht der zivilisierenden Mission des Kruzifixes«, sagte sie. »Als dessen Flamme schwächer wurde, zündete Marx eine andere an. Die hast du hergebracht. Du bist Sprecherin eines Kontinents, genau wie es dein Großvater hier war.« Nach einem raschen Blick auf ihre Uhr fing Sandra an, das Wohnzimmer aufzuräumen. Medina spürte, dass sie lästig wurde; vielleicht erwartete Sandra jemand, einen Gast. In
Medinas Gesicht stahl sich ein Ausdruck der Trauer, der so gelassen war, dass jeder geglaubt hätte, sie wäre eine Person mit einem Geheimnis, von dem niemand sonst auf der Welt etwas wusste. Sandra hielt kurz inne und brachte dann heraus: »Es tut mir Leid, aber ich muss hier aufräumen. Ich erwarte jemanden. Einen sehr wichtigen Menschen in der Regierung – der glänzendste Minister im Kabinett.« »Einen Gast?« »Ja, einen Gast. Stell dir vor, in einem Land Gäste zu haben, in dem du selbst Gast bist. Du hast von dir, der Afrikanerin, immer als Gast in einem Jahrhundert gesprochen, das Europa und der westlichen Hemisphäre gehört.« »Er, ein Gast?« »Ja, mein Gast.« »Der Kultusminister. Wer hätte das gedacht!« Sie reichte Sandra eine Haarnadel, nach der diese gesucht hatte. In diesem Jahrhundert ist der Afrikaner ein Gast, ob er in Afrika oder sonstwo ist. Ein Gast. Die Technologie, die Ideologie, die lebendigen Machtzellen, die vor Zuversicht pochen, die intellektuelle Fassade als Quelle unserer Macht, die Widersprüche, die uns Leben einhauchen. Wenn schon kein Gast, dann zumindest der Sklave eines Denksystems, eines Systems mit einer vorgegebenen wirtschaftlichen Neuorientierung. Es war zu früh, um vorherzusagen, was passieren würde; doch eine Woche nach ihrer Ankunft war Sandra zur Gastgeberin geworden und hatte sie zu Gästen gemacht – vielleicht kennzeichnete das die prekäre Lage des Afrikaners in seinem eigenen Kontinent zur Genüge. Ihre Jahre in Europa waren genauso gefahrvoll, wenn nicht schlimmer gewesen: Sie war immer ein Gast, die zusätzliche Person, deren Anwesenheit dem Abendessen Farbe verlieh und es interessanter machte (»Wir haben einen Gast, ein wunderbares Mädchen aus Somalia«). Ihr fielen die langen,
durchdiskutierten Nächte ein, die in Afrika eine Seltenheit waren. Attas Volk ist seit vierhundert Jahren Gast in Amerika! Ein Gast in Mailand, ein Gast in Mogadischu. Sie war ein »Gast« im marxistischen Denksystem, das sie nicht drehen und wenden konnte, wie sie wollte, denn sie brauchte den sowjetischen, den chinesischen oder den jugoslawischen Stempel, um ihm Glaubwürdigkeit zu verleihen, sie brauchte die Zustimmung der europäischen intellektuellen Linken; in dieser Ideologie gab es jedenfalls nicht genügend Raum, um ihre Matte und ihre erschöpften Knochen auszubreiten. Wie aber konnte sie Sandra all dies begreiflich machen? Wie konnte sie Sandra vor der ideologischen Falle warnen, in die sie getappt war? »Wie steht es denn bei dir?« fragte sie Sandra. »Wie kommst du in Afrika zurecht?« »Ich hab mich nie so gut gefühlt.« Aber sie hörte nicht auf das, was Medina auch immer hätte sagen wollen. Wo war das Hausmädchen? Wo war die Ordonnanz? Jemand hatte angeblich gesagt, der Platz wimmle vor Bediensteten. Waren sie verschwunden, weil er kam? Nach Medinas Geschmack war das Haus hier mit teuren Möbeln und Krimskrams vollgestopft. Warum schob Sandra diese Sachen nervös herum? Schwache Spuren des Abendrots; die Brise roch nach Monsun; der Ozean war nicht weit. Sandra sagte lächelnd mit erhobenem Kopf: »Es ist alles ein Traum. Ich hätte das nie für möglich gehalten. Die Großzügigkeit des Somalis kennt keine Grenzen. Die feinsinnige Liebenswürdigkeit. Und was den Minister angeht, so hat er Vertrauen zu mir, glaubt an meine journalistischen Fähigkeiten! Ein Glauben, den noch niemand gehabt hat, ob es nun Freunde oder Zeitungsredakteure waren, für die ich schrieb. Es ist alles ein Traum. Und ich bin so glücklich.«
Medina sagte nichts dazu. Sie fürchtete, ihre Stimme würde die in ihr aufsteigende Verstimmung und Eifersucht verraten, die sich nicht so sehr gegen Sandra richtete, sondern gegen das Afrikanische in ihr selbst, ihren Gaststatus; wenn sie könnte, hätte sie die Italienerin mit ihrem starren Hassblick vernichtet. Doch sie bemerkte die Freude in Sandras Gesicht nicht. Und Medina erinnerte sich, dass sie ein Gast war, dass sie sich benehmen sollte. Im Hintergrund des Schweigens war eine Erinnerung. Schwache Stimmen aus der Vergangenheit: Europa redete in diesem Spiegelsaal narzisstisch in einem fort und fort, wohingegen Afrika der Geist war, der nie ein Abbild erzeugte; Afrika war das substanzlose Gespenst, das keinen Schatten wefen konnte. Sandra fuhr fort: »Er sagt, es dürfte nicht schwierig sein, Zeitschriften wie Afrique-Este, Africa, Jeune Afrique und andere davon zu überzeugen, mich mit einer Reihe von Artikeln über Somalia zu beauftragen. Hin und wieder gäbe es ein Exklusivinterview mit dem General, und er würde dafür sorgen, dass Nachrichten über Somalia mich erreichen, bevor eine Agentur sie erhält.« »Und was machst du im Austausch dafür?« »Es sind keine Bedingungen daran geknüpft. Ich soll sagen, wie die Dinge stehen, die Wahrheit schreiben, dem Rest der Welt von der wunderbaren Revolution hier berichten.« »Natürlich, die Revolution zuerst.« »Schon richtig. Kein Kleingedrucktes. Bloß die Wahrheit über die Oktoberrevolution.« »Sei doch nicht naiv.« »Was kann er wollen, Mina?« sagte Sandra. »Was hast du denn?« »Nichts.« »Sie bieten dir alles einfach so? Sei nicht naiv.« Nun ja! Sie war unabsichtlich aus der studentischen Politik direkt in die vertrackte, clanmäßige, stammesbestimmte
Polemik und Politik Somalias getappt, ein Land, in dem es überall interne Intrigen, internationale Verschwörungen und lokale Mafiastrukturen gab. Da gab es die gekrönten Clowns, die Stammesaufsteiger, die echten »Sozialisten«, die benebelten Personen – und Sandra war mitten in eine Szene geplatzt, wobei die Bühne bereits mit dem Blut hingerichteter Männer besudelt war. Doch es wurde eine Farce gegeben und die Russen, trickreich wie Tarzan, schrieben die Regieanweisungen für diese unaufführbare Farce um. Wenn Medina, deren intellektuelles Rüstzeug auf einer europäischphilosophischen Grundlage beruhte, wenn sie, die in Europa den größten Teil der sie prägenden Jahre verbracht hatte, Italien nicht begreifen konnte – wie war es dann vorstellbar, dass Sandra, naiv in ihrer Eitelkeit, Sandra, die noch nie zuvor einen Fuß nach Afrika gesetzt hatte, diesen Kontinent innerhalb einer Woche begreifen konnte, ihn so gut begreifen konnte, dass sie darüber schrieb… Es sei denn, die Eingeweihten der Revolution diktierten ihr den Text und sie hätte nur ihren Namen darunter zu setzen. Zwei Cousins des Generals, davon der eine der Minister, dessen Geliebte sie geworden war, der andere der Botschafter des Landes in der italienischen Hauptstadt, der Mann, der sie vermittelt und im Namen des Generals das Flugticket und die Einladung überreicht hatte – dies waren die Eingeweihten, ihre politischen Mentoren. »Er hat gesagt, ich kann schreiben, was ich will.« »Über was?« »Über die Revolution.« »Du wirst schreiben, was sie dir sagen. Du wirst dies im Austausch für ihr Entgegenkommen tun und deinen Namen unter alles setzen, was sie dir vorgeben.« »Du hast eh noch nie geglaubt, dass ich gut schreibe, oder?« »Darum geht es nicht.«
»Worum denn dann?« Medina überlegte kurz und sagte schließlich: »Am Ende des Tages ist ein Schatten länger als das Objekt, das ihn geworfen hat.« »Was meinst du damit?« Sandra hängte gerade ein Porträt des Generals an die Wand gegenüber von Medina. War es schon so weit gekommen? Medina würde gehen, bevor der Minister kam, bevor (wer weiß?) der General auf ein Gläschen vorbeischaute, er selbst ein Gast wie sie und der Minister. Doch sie sollte Sandra daran erinnern, dass sie, seit sie in Mogadischu war, noch nicht zum Essen in ihre Wohnung gekommen war. Das sollte sie noch tun, bevor sie das Land wieder verließ. »Nein, nein. Ich reise noch nicht ab.« »Nicht?« »Nein. Ich bin noch nie so glücklich gewesen.« Medina warf Sandra einen durchdringenden Blick zu. »Umso mehr besteht Anlass, dass du dein Glück mit mir, Samater und meiner Tochter teilst. Komm mal zum Essen zu uns, ganz privat, typisch einheimisch. Du musst mal rauskommen aus diesem inzestuösen Zirkel von Cousins, Schwagern und Brüdern der Macht. Ich möchte dir das Volk vorstellen, dir ein wahres Bild vermitteln, dich mit der anderen Version vertraut machen, der wahren Version, die diese Cousins des Generals, seine Schwager oder Schwiegersöhne dir nicht mitteilen werden.« »Ich hab gesagt, ich bin noch nie so glücklich gewesen.« »Ich dachte, du möchtest mal aus diesem inzestuösen Zirkel herauskommen. Es tut mir Leid, aber ich glaube, es ist sehr ungesund für dich. Du hast doch selber gesagt, mir bestätigt, dass sie völlig uninteressant sind, dass die meisten nur darüber reden, wie alt sie sind, wer älter als wer ist und so weiter.«
»Ich wiederhole, Medina, ich bin noch nie so glücklich gewesen.« »Faschisten. Exhibitionisten. Manipulierer von Fakten und Zahlen, um an der Macht zu bleiben. Politikverschleierer. Täuscher der Massen. Und mit denen bist du glücklich?« Sandra schien schon ihre Wohltäter verteidigen zu wollen, doch fiel ihr wohl das Gespräch ein, das sie in Mailand und Vigevano geführt hatten, insbesondere darüber, ob Medina die Politik in Italien begriff oder nicht, ob sie in der Lage war, einen Kommentar zur italienischen Landespolitik abzugeben oder nicht. Außerdem kannte sie den Minister und seinen Cousin, den General, noch nicht gut genug; sie war nicht hinreichend vertraut mit ihren Redewendungen, ihren Namen, der Art, wie sie Sachverhalte verdrehten, die Eleganz, mit der sie sich bewegten. Also hielt sie den Mund – wie ein Gast. Dies eine Mal. »Warum reden wir nicht darüber, wenn ich euch besuchen komme?« Medina stand auf, griff nach ihren Sachen und sagte: »Im Hause Gottes darf nicht gelästert werden.« Sandra schien das nicht zu kapieren, außer sie zog es natürlich vor, Medinas Provokation nichts entgegenzusetzen. »Ich freue mich darauf, Samater und deine Tochter – Ubax? – zu sehen. Wie geht es ihr?« »Ein wahrer Engel. Du musst kommen und sie dir anschauen.« Für einen Augenblick sah es so aus, als würden sie in Freundschaft scheiden. »Ich freue mich darauf. Es tut mir Leid, dass ich bis jetzt noch keine Zeit hatte.« »Ist schon gut.« Sandra brachte sie zum Tor. Einen friedfertigen Anblick bietend, ein Lächeln auf ihren Gesichtern, waren sie wieder
zusammen, Hand in Hand, wieder Freundinnen, keine Politik, kein Afrika, kein Europa, keine trennende Ideologie. Aber: »Es sei denn, der Minister, dein Freund, ist der Meinung, es wäre nicht ratsam, mich zu besuchen«, sagte Medina. Sandra fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, wie eine Lügnerin, die in einem unbedachten Augenblick ertappt wurde, wie jemand, der auf eine Unstimmigkeit in der Anekdote hingewiesen wurde, die er einer Gruppe begeisterter Zuhörer erzählte. »Er hält sehr viel von dir«, log sie. »Das hat er mir selber gesagt.« »Bis dann, also.« Sie küssten sich auf die Wangen. Medina ging weg, höflich wie ein Dienstmädchen am Zahltag. Der Falter, nun ohne Flügel, starb und sein Körper brach entzwei. Wie ein Mythos fiel er auseinander und lag neben den Flammen der Paraffinlampe, in die er heldenhaft mit dem Kopf voraus geflogen war. Er lag da, er lag tot da nach seinem Insektenmartyrium, von seinen Gefährten nicht betrauert, denen seine Abwesenheit noch gar nicht aufgefallen war, seinen Gefährten, die fanatisch um das Licht schwirrten wie Cherokee-Indianer, die mit ihrem Stamm einen Angriff auf die Technologie dieses Jahrhunderts vorbereiteten, obwohl sie die Waffen einer anderen Epoche trugen. Vier Wochen verstrichen und Sandra hatte Medina, Samater und Ubax immer noch nicht besucht. Die beiden kamen in Medinas Zeitungsbüro oder bei Pressekonferenzen beruflich zusammen. Jedesmal, wenn sie sich über den Weg liefen, hatte Sandra eine Ausrede, die einmal lahm, dann wieder ernsthaft ausfiel, zum Beispiel als die Eltern und ein paar Freunde überfallartig gekommen waren, die Flugtickets im Voraus von der Regierung bezahlt, und eine Rundreise anstand mit einem Besuch der Touristenorte im Süden, wo die See gleichzeitig
auf den Fluss und die Wüste traf, und Ausflügen in den Norden, Hargeisa, Zeila und zurück. Als ihre Eltern und ihre Freunde weg waren, kam eine fünfzig Mann starke Delegation der kommunistischen Partei Italiens. Sandra war überall, ihr Bild war in den Zeitungen, als sie die compagni vorstellte, ihnen Sachverhalte erklärte, als sie zum Bräunen am Meer lagen, als ihnen frischer Hummer und ein reichhaltiger und herzhafter Fischsalat serviert wurde. Inzwischen veröffentlichten sechs oder sieben Zeitschriften ihre Artikel über das fortschrittliche Somalia und ihre Interviews aus »erster Hand«. Dann begleitete sie den General auf eine Reise durch Afrika, als dieser Vorsitzender der OAU war. Was machte sie auf der Reise mit einem afrikanischen Staatsoberhaupt? Im frankophonen Afrika diente sie als Dolmetscherin und wenn der General sich in seinem gebrochenen Englisch verständlich machen konnte, tauschte sie die Rolle und wurde Presseattache. Medina hörte sich das alles mit enormer Beklommenheit an. Samater war allerdings damals noch nicht zum Minister ernannt worden, sie war noch nicht in die Schusslinie und in den Bannstrahl des Generals geraten. Jemand meinte, sie sei eifersüchtig, gönne Sandra nichts, weil sie so sehr in deren Schuhen stecken wollte. Das widerte Medina so an, dass sie es rundweg ablehnte, noch über Sandra und ihre skandalösen Affären zu diskutieren. Was war mit den Artikeln, die Sandra in ausländischen Zeitschriften veröffentlichte? Medina las sie, da es die einzigen ausländischen Druckerzeugnisse waren, welche die Zensoren ins Land ließen. »Was hältst du von ihrer Schreibe?« fragte ein Kollege von der Zeitung, den viele für einen Regierungsinformanten hielten. »Ekelhaftes und klischeehaftes Zeug.« »Aber sie bringt es überall unter.«
»Sie schreibt schlecht, ungemein schlecht, deshalb.« »Das musst du erklären.« »Eine gute Schreibe ist subversiv, eine schlechte nicht.« »Was ist subversiv an einer guten Schreibe?« »›Gute Lieder sind wie Pistolen: Sie schießen dich frei.‹ Sandras Schreibe ist flach und uninteressant wie der Klatsch von gestern, voller Wiederholungen wie die Rede eines Demagogen.« Medina war sich ziemlich sicher, Sandra würde das zu Ohren kommen und über Sandra dem Minister und über den Minister dem General. Eine Woche später kursierte eine andere Version dieser Geschichte, eine, die jemand anders und nicht ihr zugeschrieben wurde. Der arme Mann, ein Journalistenkollege, wurde abgeführt und niemand hörte mehr von ihm. Dann… Eines Tages kam Sandra uneingeladen wie eine Prinzessin und brachte, was sie für eine »gute Nachricht« hielt: Medina war (auf ihre und des Ministers Empfehlung?) zur Herausgeberin der einzigen Tageszeitung des Landes, Xiddigta Oktoober, ernannt worden. Bei dieser Gelegenheit deutete Sandra auch an, dass Samater für etwas seiner Qualifikation Gemäßes in Erwägung gezogen werde. Soyaan war seit drei Monaten tot; Loyaan, Siciliano und andere Freunde waren seit zweieinhalb Monaten in Haft. Die anderen Mitglieder ihrer klammheimlichen Bewegung waren in den Untergrund gegangen. »Der General ist der Ertrinkende aus dem Sprichwort, der sich hilfesuchend an den Schaum klammert. Weißt du, was ich machen werde?« sagte sie zu Samater. »Ich nehme den Posten an. Ich persönlich sehe das als eine Herausforderung für die Bewegung.« Samater war anderer Ansicht und sagte, die Annahme des Jobs habe keinen Sinn, da sie nicht in einer Position sei, um einen radikalen Wandel herbeizuführen. (Sie suchte und erhielt Rat von den überlebenden Mitgliedern der Bewegung; sie müsse den Job
annehmen, alles in ihrer Macht Stehende tun, um Veränderungen innerhalb des Blatts herbeizuführen; Samater hatten sie um nichts gebeten, als er Minister wurde, denn die Bewegung verweigerte die Zustimmung.) Am ersten Tag hatte die Zeitung eine neue Aufmachung, was jeden zufrieden stellte – Druckfehler waren seltener, es gab einen Leitartikel, sauber, geschliffen und »subversiv«. Am zweiten ließ sie das Foto des Generals und seinen täglichen weisen Spruch an die Nation weg und fügte stattdessen eine Nachricht und eine Kurzmeldung ein. Am dritten redigierte sie die Rede des Generals (Ansprachen des Generals wurden immer unredigiert und ungekürzt veröffentlicht und manchmal enthielten die vier Seiten, aus denen die Zeitung bestand, keine anderen Meldungen) und kommentierte sie nicht in ihrem Leitartikel, in dem es um gesundheitliche Schäden durch Unterernährung ging, die in diesem Teil des Kontinents häufig waren. Am vierten Tag jedoch erschien die Zeitung nicht. Die Staatssicherheit machte eine Razzia, Medina wie auch eine Reihe anderer Journalisten wurden zu einem langen Verhör abgeholt. Die anderen, alles Männer, wurden wegen subversiver Umtriebe ins Gefängnis gesteckt. Sie erhielt Publikationsverbot. Wenige Tage später stieß sie eines Abends beim Einkaufen zufällig auf Sandra. Deren Begrüßung fiel brüsk, beinahe feindselig aus. Medina lenkte das Gespräch absichtlich auf das, was vorgefallen war. »Ich verstehe kein Somalisch und kann es nicht lesen. Deshalb kann ich keinen Kommentar dazu geben.« »Die Aufmachung, das Sichtbare, das fehlende Foto – die radikale Veränderung, das Subversive daran konntest du doch erkennen, oder nicht?« »Das ist ein Spiel, an dem ich mich nicht beteiligen kann.« »Was hat diese inzestuöse Gruppe bloß mit dir angestellt?«
Sandra meinte nur, sie sei in Eile. »Ich muss weiter. Grüße Samater und Ubax herzlich von mir.« Medina hörte nichts mehr von ihr, bis Samater zum Bauminister ernannt wurde. Eine Zeit lang begegneten sie sich hin und wieder, luden einander zu Partys und Essen ein, wobei beide wussten, die andere würde nicht hingehen. Doch als Medina ihre Sachen packte und auszog, kam Sandra vorbei, um zu fragen, warum. Und weshalb kam sie ausgerechnet heute? Hatte sie irgendwelche Neuigkeiten, gute oder schlechte? Hatte Samater seinen Job verloren? Hatte sich Nasser mit ihr in Verbindung gesetzt? Hatte die Staatssicherheit die Kassetten beschlagnahmt?
»Sandra.« »Hallo Mina.« »Wie geht es dem Großmeister der Belanglosigkeit?« »Wem?« »Dem Großmeister der Belanglosigkeit.« Sie fragte sich, ob Medina den Ideologen, ihren engsten Freund und Cousin des Generals, oder den General selbst meinte, und wollte sich daher vergewissern. »Ich dachte, er sei der Große Intellektuelle und Visionär. Ist er ausreichend vorbereitet auf andere Berufungen, Persönlichkeitskult und verwandte Zuschreibungen?« »Der General ist krank«, sagte Sandra. »Wie betrüblich. Ich habe mir immer vorgestellt, göttergleiche Persönlichkeiten würden nie krank werden wie wir Sterblichen. Was hat er denn? Altersschwäche? Machtverstimmung?« Sandra bewegte sich schwerfällig und bedrückt in ihrer leicht gebückten Haltung. Doch kurzzeitig schafften sie es, diese gedrückte Stimmung wie ein kaputtes Spielzeug abzulegen, als
Ubax hereinkam und Sandra sehr höflich, aber förmlich die Hand schüttelte und sich küssen ließ. Dann ließ sie die beiden wieder allein. Medinas Lächeln würde sich wie eine improvisierte Lüge nicht längere Zeit durchhalten lassen, denn sie war wieder trübsinnig und auf Provokation aus, bereit, schlimme Sachen über den inzestuösen Zirkel und den erkrankten General zu sagen. Was wäre, wenn er starb? Was wäre, wenn er aus seinem albtraumhaften Schlaf nicht mehr erwachte? War der Ideologe der Thronfolger oder einer der Vizepräsidenten? Das Vakuum, das Diktatoren hinterlassen, ist im Allgemeinen nicht zu füllen: Würde sich das hier auch bewahrheiten? dachte Medina, als sie nach etwas zu trinken suchte, das sie Sandra anbieten konnte. Idil hatte wahrscheinlich alle Flaschen konfisziert und sie irgendwo versteckt, damit ihr Sohn nicht mehr im selben Haus sündigte, in dem sie wohnte. Doch nachdem Samater und Idil aus dem Haus waren – was geschah, nachdem beide weg waren? Sandra wollte sowieso nicht zum Essen bleiben, sie wollte Medina, Ubax und Nasser nur guten Tag sagen. Würde sie wenigstens auf Nasser warten? Ja, das würde sie. War das alles, weswegen sie gekommen war, guten Tag zu sagen und wieder zu verschwinden? Oder Nachricht von der Krankheit des Generals und außerdem noch etwas anderes zu bringen? »Hast du was von Samater gehört?« fragte Sandra. Sandra hatte nicht mal gefragt, warum Medina gepackt hatte und ausgezogen war, warum Nasser in Mogadischu war. Und ihre erste Bezugnahme auf Samater war diese Frage. Wie sonderbar, dachte Medina. »Ob ich was von Samater gehört habe? Wann und warum?« »Also ein Geheimnis.« Medina setzte sich bedächtig, behutsam hin, heftete den Blick auf Sandras Auf-und-ab-Bewegungen und den leichten Buckel auf ihrem Rücken, auf und ab, während diese den Samen eines
Geheimnisses um Samaters Aufenthalt mit sich herumtrug. Ihre Augen waren weit geöffnet und sie fürchtete, sie würden zerbrechen wie die Fenster des Himmels und sie im Stich lassen; sie fürchtete, dass nach all den Jahren eine Träne ihre Lider benetzen würde, dass eine einzelne beschämende Träne in Gegenwart eines außerordentlichen Mitglieds des inzestuösen Zirkels aufgrund des ausgesäten Wirbelwinds einer noch nicht geernteten Saat austreten würde. »Ein Geheimnis? Was ist ihm zugestoßen? Sag’s mir.« »Er wurde zuletzt gesehen, wie er kurz vor Tagesanbruch das Hotel verließ.« »Verließ? Oder wurde er in einem Auto der Staatssicherheit weggefahren?« »Er war in Begleitung einer Frau.« »Einer Frau? Eine andere Frau als Atta?« Sandra loderte vor Wut, was Medina erst nicht begreifen konnte. Warum benahm sie sich so seltsam? »Was ist so geheimnisvoll daran, mit einer Frau gesehen zu werden?« »Hängt davon ab, wer die Frau ist.« »Ich kapier jedenfalls nicht, was dich das angehen soll«, provozierte Medina. »Diese Schlampe. Für sie sind das ihre Brüder und Schwestern. Sie meint, sie kann mich ausgrenzen, mich ausspannen. Dieses läufige Luder. Ich bin ‘ne Weiße, ein Feind; ich bin diejenige, vor der sich alle hüten sollen.« Medina allerdings blieb gelassen. Sie blickte auf und beobachtete, wie Sandra schwergewichtig wieder auf und ab tigerte, die blauäugige und blonde Sandra. Da ihre Haut jetzt gebräunt war, war sie nicht mehr so blass wie der Saharasand, als sie bleich und kränklich in Mogadischu eingetroffen war. Sie hatte auch starke Knochen wie ihre Mutter, »deren unbeholfene Körperbewegungen so unkoordiniert wie bei
einem Kleinkind sind«. Die Gesichtszüge ihrer Mutter waren hässlich »wie ein mit Filzstift mangelhaft nachgezogenes, schlecht gezeichnetes Graffito; aber auch so wie die Kratzer unter glasierter Oberfläche in Pompeji künstlerisch gestaltet unter der ersten Hautschicht«. Sie hatte einen Gang wie ein Gaul (ihrem Vater ähnlich), aber den kurzen Hals ihrer Mutter (einen Hals, der nickte wie die Spielzeugmandarine, die chinesische Fabriken gern zu Milliarden herstellten). Ihre Eltern sprachen Französisch mit ihr. (»Französisch ist nicht nur eine von kultivierten Menschen gesprochene Sprache«, pflegte ihr Vater zu sagen, »es ist eine hohe Kunst.«) Die kleine Sandra las Verlaine, Valery, Rimbaud, Hugo und Baudelaire, reiste nach Frankreich, so oft es ihre Schulferien zuließen. Später betrachtete sie Französisch als die Sprache, in der sie sich am wohlsten fühlte, als einen Adelspalast mit hohen Fenstern, geräumigen Zimmern, Schaukelstühlen und dem ganzen bürgerlichen Komfort, an den sie gewöhnt war. Ihre Mutter war die Tochter eines Kleinhändlers aus bescheidenen Verhältnissen, ein Mann, »auf dessen Handflächen die Kartoffeln Gott sei Dank nicht abgefärbt hatten!«, so rühmte ihn ihre Mutter. Und Sandra und sie verfielen vor allen Anwesenden wieder in ihren ideologischen Krieg. Eines Tages, als Medina zugegen war, gingen die beiden zu weit, denn ihre Mutter hatte noch hinzugefügt: »Und seine Augen waren auch nicht staubgrau und hart wie die schwieligen Hände eines Proletariers. Es stimmt, sie waren nicht so blau und von adeligem Blut wie bei meinem Ehemann.« Die fieberhafte Begeisterung von ‘68 flößte Sandra den Mut ein, ihre Eltern zu verlassen und bei Medina und Nasser einzuziehen. Eines allerdings sollte nicht übersehen werden: Sandra suchte sich ihre Gastgeber mit Bedacht aus, denn diese waren selbst »Gäste und befristet Ansässige«. Für Medina war dies ein Zeichen für die befristete Trennung Sandras von ihrer
Mutter. Und es gab noch einen weiteren Beweis: Sobald Sandra sich in Somalia niedergelassen hatte, was tat sie da? Sie ließ ihre Eltern zu Besuch kommen und sich in dieser afrikanischen Umgebung begutachten, glücklich, geliebt, geschätzt, begehrt, eine junge Frau, die sich mit einem Staatschef duzte. Das Urteil ihrer Eltern und ihrer Freunde bedeutete ihr was. War da nicht die Frage angebracht, ob sie ideologisch, philosophisch und persönlich schon erwachsen genug war, um die Beziehungen zu ihren Eltern, deren Ideen und ihrer bourgeoisen Erziehung zu kappen? Was war denn mit dieser lächerlichen Rivalität zwischen ihr und Atta? »Deine Gelassenheit verblüfft mich, muss ich gestehen«, sagte Sandra nach langem Schweigen. »Anscheinend weißt du von Samaters geheimnisvollem Verschwinden. Du wirkst nicht im Geringsten besorgt über diese melodramatischen Vorkommnisse zwischen ihm und Atta. War sie der Grund für euer Zerwürfnis?« »Nein. Aber mich verblüfft dein Verhalten. Samater und ich haben eine solide Freundschaft und der Flirt einer einzigen Nacht mit dir, Atta oder einer anderen Frau würde mich nicht entrüsten. Das weißt du besser als ich. Mich verblüfft allerdings, warum du mir die Neuigkeit auftischen musst.« »Diese Schlampe!« »Ich wäre besorgt, wenn Attas Rolle in dem Komplott nicht klein und geringfügig wäre; ich wäre besorgt, wenn du unaufrichtig zu mir wärst. Aber ich sehe nicht ein, warum du das sein solltest. Gibt es irgendeinen anderen Grund, warum ich mir über sein Verschwinden Sorgen machen sollte? In dem Fall wären die Staatssicherheit, dein Freund, der Ideologe, und du selbst diejenigen, die ich beschuldigen würde. Seltsame, sonderbare Dinge geschehen, wenn der General krank wird oder für eine Woche oder einen Monat das Land verlässt. Hunderte von Leuten verschwinden in völliger
Übereinstimmung mit seinen persönlichen Anweisungen. Wenn er wieder auf der Bildfläche erscheint, wenn er zurück oder erholt ist, setzt er sein inzwischen berühmtes breites Grinsen auf und sagt, er habe nichts von diesen Säuberungen, diesen Inhaftierungen gewusst. Also wo hast du die Neuigkeit von Samaters und Attas Verschwinden gehört?« Sandra erwähnte den Namen des Ideologen. »Hat er vorgeschlagen, dass du herkommst und mich benachrichtigst?« Sandra nickte. »Wie naiv du sein kannst!« Ein Schweigen, schwer und düster, befiel die beiden wieder. Medina war sicher, es hatte ein Komplott gegeben, dass Atta und Samater gemeinsam verschwinden sollten, damit der dadurch hervorgerufene Skandal die Ansicht, dass er aus eigenem Antrieb zurückgetreten war, diskreditierte; damit würde Samater in der Öffentlichkeit das Gesicht verlieren; es würde auch so aussehen, als hätte Atta ihre Ehe zerrüttet. Samaters Clan hätte dann keinen Grund, ein erneutes Aufrollen des Falls zu verlangen; schließlich würde Atta mit der Begründung ausgewiesen werden, dass sie als Ausländerin in einen Sexskandal mit einem Kabinettsminister verwickelt war. Das würde außer Sandra den Ideologen, den General und viele andere zufrieden stellen. Mit einem Fingerschnippen konnte der Ideologe das Spiel an sich reißen und einen fetten Gewinn einheimsen. Aber erkannte Sandra, wie sie ausgenutzt wurde? »Ich höre Schritte im Haus«, sagte Sandra leicht beunruhigt. »Kann es Samater sein?« Es war Nasser. Er war schon zu ihnen gestoßen, geräuschlos wie ein Schatten, ganz wie Fatima bint Thabit. Medinas herabgezogene Mundwinkel und Sandras steinerne Miene hinderten ihn daran, ihre trüben Augen mit einer flapsigen Bemerkung zum Leuchten zu bringen, denn das war ihm durch
den Kopf geschossen, als er sie in dieser düsteren Stimmung sah. Er und Sandra gaben sich keinen Kuss, keine Hand. Sonderbar? Sie alle benahmen sich seltsam. Niemand stand auf, um einen Kuss zu geben oder zu empfangen. Er kam herein wie ein gesitteter Student, der zu einer Vorlesung zu spät kommt, trippelte auf Zehenspitzen herein und nahm wortlos Platz. Sandra und Medina ruckten auf ihren Plätzen herum wie Studentinnen, die eine Frage ihres Prüfers nicht beantworten konnten. »Ein vorübergegangener Tag erfordert gewöhnlich eine Änderung des Tages, des Datums und des Kalenderblatts«, sagte Nasser provozierend. Medina und Sandra blickten erst einander, dann ihn an. »Was meinst du?« fragte Medina. »Das Verschwinden von Samater und Atta ist Tagesgespräch. Außerdem hat ein Mann angerufen und dir eine Nachricht hinterlassen«, wandte er sich an Medina. »Er hat seinen Namen nicht genannt. Er sagte, er sei ein Freund.« »Was hat dieser Mann gesagt? Versuch, dich genau an seine Worte zu erinnern.« »›Samater ist zuletzt gesehen worden, wie er kurz vor Tagesanbruch das Hotel verließ‹, sagte er. ›Er war in Begleitung einer Frau, aller Wahrscheinlichkeit nach einer afroamerikanischen Schwester, nämlich Atta. Sag ihr nur das.‹« Medina fiel auf, wie überaus sonderbar es war, dass die Worte, die der Nachrichtenüberbringer gebraucht hatte, und die von Sandra verwendeten die gleichen waren. Sandra stand auf und wünschte sich, sie könne gehen. Medina wandte sich an Nasser mit der Frage: »Was, meinst du, hat das alles zu bedeuten?« Er verfiel ins Somalische, um Sandra auszuschließen. Er sagte, es bestehe kein Anlass zur Sorge. Das Schlimmste, was
eintreten könnte, sei eine Art politischer Skandal, der Samaters Rücktritt aus grundsätzlichen Erwägungen diskreditieren würde. Medina meinte, sie sehe das auch so. Dann sagte sie ihm, dass sie die Nachrichten gleichlautend übermittelt bekommen hatte. Sie fügte hinzu, dass sie die Nachrichtenquelle kannte. Wer? Sie benützte das italienische Wort »ideologo«, damit Sandra neugierig wurde, die Ohren aufstellte und etwas fragte. Aber das geschah nicht. Nasser schlug vor, das Thema überhaupt zu wechseln. Er sprach Sandra an: »Wer verschwunden ist, taucht früher oder später auf, tot oder lebendig. Also verschwenden wir keine Zeit mit den Einzelheiten von Samaters oder Attas Verschwinden. Wie geht es dir und wie läuft’s bei dir? Ich habe gehört, dass du glücklich und mit mehreren journalistischen Projekten gleichzeitig beschäftigt bist. Ich habe gehört, dass du eine hoch angesehene Korrespondentin bist, die auf freier Mitarbeiterbasis mit sechs oder sieben verschiedenen Zeitschriften im Ausland in Verbindung steht. Ich habe gehört, du bist glücklich und viel beschäftigt. Ich freue mich für dich.« Sie ging herum wie ein Schlafwandlerin. Hier war sie im selben Zimmer mit zwei Personen, die früher ihre engsten Freunde gewesen waren; hier sprach sie vom Verschwinden eines weiteren Freundes, der früher einer ihrer engsten Freunde gewesen war, ein weiterer »inzestuöser Zirkel«, ein Quartett aus dem einen Paar Medina und Samater und dem anderen Nasser und Sandra. Der Zirkel zerbrach und diejenigen, die ihn gebildet hatten, zerstreuten sich wie die Perlen einer gerissenen Halskette, kullerten holterdiepolter davon, verkrümelten sich so desorganisiert, wie eine geschlagene Armee den Hang hinabrennt. Wenn Nasser jetzt hier war, konnte es sein, dass er die gerissene Schnur wieder zusammenzufügen versuchte, die Perlen aufsammelte und neu auffädelte? Würde sie die verirrte
Perle sein, die Perle, die unter dem Sesselbein verschwunden war? Wer würde noch glauben, dass sie von ihm einmal schwanger war? Nun war sie eifersüchtig wie ein Pavian und zugleich zufrieden, dass es eine Verschwörung gab, um Atta loszuwerden. Nasser sagte gerade, auf beleidigende Weise provozierend: »Ich habe gehört, du beschreitest den unbegangenen Boden mit Worten, die in die blasse Farbe revolutionärer Wahrheit gehüllt sind. Ich habe gehört, dass du als Journalistin berühmt bist und zum tagtäglichen Behagen der Mächtigen arbeitest? Stimmt das?« Warum waren ihre Kreise inzestuös? Sie war doch nicht die »Herz«-Perle – sie war nicht im Mittelpunkt, im Brennpunkt des Scheinwerfers. Das war Medina. Sie und Samater waren der »Nachgedanke«, der Zusatz. Und als Sandra diesen Zirkel verließ, schloss sie sich einem anderen Kreis an, dem des Generals und seiner inzestuösen Oligarchie, einer Gruppe, die zugegebenermaßen weniger interessant und weniger anregend war als Medinas. Der inzestuöse Zirkel des Generals war offenbar weniger homogen. »Samater hat wenigstens ungeheure Monumente für die Nachwelt errichtet. Glaubst du, dass das von dir aus Worten so giftig wie Spinnenspeichel gewobene Netz noch gelesen werden wird, wenn die Tinte getrocknet ist?« Sandra sagte gar nichts. Medina stand auf, um ans Telefon zu gehen, das im Schlafzimmer klingelte. Ubax kam in die Tür, stand da und hörte Nasser wie ihre Eltern in einer fremden Sprache reden, die sie nicht verstand. Sie hatte einen mit Klammern zusammengehefteten Packen aus Papier dabei und tat so, als würde sie beim Umblättern darin lesen. »Was liest du denn da?« fragte Nasser. »Chinua Achebes Geschichte ›Er‹«, antwortete Ubax. »Medina hat sie für mich ins Somalische übersetzt.«
Medina schaute Sandra an, die sie nun als Störquelle betrachtete; sie kämpfte schwer dagegen an, nicht zu zeigen, wie sehr sie Sandra hassen konnte. Es schmerzte Medina, dass es zwischen ihnen kein Kameradschaftsgefühl mehr gab, dass sie keinen freundlichen Wettstreit austrugen. Sie war traurig, dass sie Sandra nichts mehr zu sagen hatte, trauriger noch, dass Sandra, die einstige Freundin, nun eine Verräterin war, die ihr Vertrauen missbraucht hatte. Nasser gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Wohingegen Sandra die sie umgebende Stille unerträglich fand, aufstand und das Zimmer verließ.
11
Ebla war dabei, Ratschläge zu erteilen: »Wir werden das Kind gemeinsam aufziehen, wenn du willst. Wenn du es nicht haben willst, veranlassen wir das Notwendige. Und wenn du es wünschst, können wir sogar einen anständigen Ausweg finden.« »Wie?« »Einen Vater für es finden.« »Das ist eine absolute Beleidigung.« »Ich hab’s nicht so gemeint. Tut mir Leid.« Sie waren in Sagals Zimmer. Die Wände waren nackt, keine Standfotos aus Queimada und auch kein Porträt von Cabral. Doch wie konnten sie sicher sein, dass sie schwanger war? Sie hatte keinen Blut- oder Urintest durchführen lassen. Es stimmte, dass ihre Periode seit zwei Tagen ausblieb, das war bei ihr noch nie vorgekommen; ihre Monatsblutung war verlässlich wie ein gehaltenes Wort. Wie konnten sie nur so sicher sein? »Frauen sind so rätselhaft wie die Innereien Afrikas«, hatte sie noch an diesem Morgen an Barbara geschrieben. Ebla schaute ihre Tochter an, als wäre sie ein altes Kleidungsstück, von dem sie nicht wusste, ob sie es aufheben oder wegwerfen sollte. Dann sagte sie zu ihrer Tochter: »Die Zukunft liegt in dir. Du entscheidest und sagst mir, was ich tun soll.« Sagal besah und berührte ihren Bauch – Innereien mit unbekannten Eigenschaften, dachte sie. »Ich bin eine Frau und alles ist möglich.« Sie verbannte ihre Sorgen an den Rand ihres Denkens.
»Was, wenn es voreilige Panik ist?« »Ja, was dann?« »Lachhaft.« »Ich an deiner Stelle würde am Schwimmwettbewerb teilnehmen. Du kannst zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden, ob du nun weggehen, ob du das Kind haben oder abtreiben willst.« »Es hat keinen Sinn, teilzunehmen, wenn ich weiß, dass ich gewinnen werde. Ohne Cadar und Hindiya macht der Wettkampf keinen Spaß. Außerdem muss ich mit meinem Gewissen leben. Cadar und Hindiya sind in Haft, weil sie an die Sonnenaufgangswände geschrieben haben, etwas, das ich immer wollte. Ich hab ihnen gegenüber eine gewisse Verpflichtung, schulde ihnen eine Solidaritätsbekundung.« Ebla ließ die Arme sinken. »Ich geb’s auf. Ich begreife nichts.« »Ich versteh nicht, warum. Du hast mir so was doch selber beigebracht.« »Eine Solidaritätsbekundung? Politik und Solidarität? Das soll ich dir beigebracht haben?« »Ja. Bleib bei der Wahrheit, Ebla. Du hast mich zu der gemacht, die ich bin.« Es entstand eine kurze Pause. »Du hast etwas mit Amina vereinbart, stimmt’s? Hast du eine Verabredung mit ihr?« »Sie wird mich zum Austragungsort begleiten, ja.« »Und du wirst nicht am Wettbewerb teilnehmen?« »Nein, werde ich nicht.« »Warum gehst du dann hin? Du hast doch nichts ausgeheckt, oder?« »Ich würde nichts tun, was dir Schande bringt, das weißt du doch.« »Woraus besteht diese ›Solidaritätsbekundung‹?«
»Dort hinzugehen und den anderen Mädchen zu sagen, sie sollen an der Sache nicht teilnehmen.« »Meinst du, einen Boykott zu organisieren?« »Nein, nein, nichts dergleichen.« »Weshalb gehst du dann hin?« »Zu einer Solidaritätsbekundung.« Ebla atmete heftig wie eine Person, die einen steilen Hügel hinaufgeht. Sie sah Sagal über etwas gebeugt, was sie geschrieben hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach ein Brief an eine Freundin. Dann hörten sie den singenden Ruf eines Bettelmönchs – ein Mann, der regelmäßig wie die Sonne immer mittags kam. Der Mann sang den Bettelruf, bat um Almosen, um einen Mund voll von etwas, um seinen Magen oder seinen Blechnapf zu füllen. Sagal blickte auf und rief ihm zu: »Allahs Gaben sind üppig, aber wir haben heute Vormittag nichts«, ein feststehender Satz, den der Bettler an diesem Morgen vermutlich schon öfter gehört hatte. Doch Ebla fiel wieder ein, dass sie noch die Reste vom Vorabend hatten, weil Sagal nicht rechtzeitig zum Essen gekommen war, den Reis mit Bohnen, den sie dem Bettler anbieten könnte. Also rief sie ihm zu, einen Augenblick zu warten. Während Ebla weg war, um dem Mann zu essen zu geben, käute Sagal im Geiste Erinnerungen wieder, denn ihr fiel der Tag ein, an dem sie und Amina den Bettler ins Haus gebeten, ihm einen Platz und etwas zu essen angeboten hatten. Nachdem er sich satt gegessen hatte, stellten ihm die beiden Freundinnen abwechselnd Fragen. Sie versicherten ihm, dass ihre Fragen rein soziologischer Natur seien und er sie nicht zu beantworten brauche, wenn er nicht wollte. Wo stamme er her? Was habe er getan, bevor er ein wandernder Bettelmönch wurde, der von Tür zu Tür zog und von morgens bis abends seine Segnungen rief? Ob er mal verheiratet gewesen sei? Ob er Kinder habe? Habe er keine Verwandten in Mogadischu? Warum sei er
überhaupt in diese Stadt gekommen? Der Mann gab zuerst ausweichende Antworten. Dann öffnete er sich, wurde freimütiger und sehr viel freundlicher. Er war ein gut aussehender Mann, der würdevoll und gelassen auftrat. Er brauchte gar nicht die Kleidung zu wechseln, denn selbst in diesen Lumpen war ihm anzusehen, dass das Gesicht, die Art, wie er sich bewegte, dass nichts an ihm zu der von ihm gewählten Tätigkeit passte. Warum also? Er sei einmal ein reicher Mann gewesen, nicht sehr reich nach städtischem Maßstab, aber einer der wohlhabendsten in seiner Gegend. Er sei Mitte fünfzig, schon ein alter Mann, sagte er und fügte hinzu: »Schaut euch meinen Kopf an, fast völlig weiß.« Ob er Kinder habe? Ob er je verheiratet gewesen sei? Er hatte Kinder, fünfzehn sogar, und war fünfmal verheiratet gewesen, aber nie mit mehr als einer Frau gleichzeitig. Er wollte einen männlichen Erben und versuchte es immer wieder, doch jedes Mal wurde ihm ein Mädchen geboren. Es ging ihm wie dem Spieler in einer volkstümlichen Geschichte, der schwor, seine Hauptabsicht bestünde darin, das Verlorene oder wenigstens die Hälfte davon wiederzugewinnen, und sobald das erreicht sei, würde er mit dem Spielen aufhören. Fünfzehn Töchter und kein Sohn, trotz all seiner Bemühungen, trotz allem, was er Wahrsagerinnen, Handleserinnen, Zauberern und Gottesmännern gezahlt hatte. In der Nacht, als seine fünfzehnte Tochter geboren wurde, entschied er, die sechste Ehe einzugehen. »Dann offenbarte sich mir mein Lieblingsheiliger im Schlaf. Ich erzählte ihm von meiner Verzweiflung und er antwortete, dass Gott mehr als gütig zu mir gewesen sei, dass ich derjenige sei, der undankbar gewesen ist, und dass ich nichts getan hätte, was meines gehobenen Standes würdig sei. ›Warum glaubst du, dein Leben wird nur erfüllt sein, wenn du einen Sohn hast? Alle Kinder, ob Jungen oder Mädchen, sind Manifestationen von Allahs Willen und Seiner Großzügigkeit.
Sind Mädchen nicht auch Seine Schöpfungen?‹ Er riet mir, für meine sündigen Gedanken Buße zu tun. Ich sagte, ich sei ein halbes Dutzend Mal in Mekka gewesen und würde nach bestem Vermögen nie eines Seiner kanonischen Gesetze brechen. ›Das reicht nicht‹, sagte er. ›Dein Hochmut wurzelt tief im Boden Satans.‹ Was, mein Heiliger und Fürsprecher, kann ich deiner Meinung nach tun, um Allahs Wohlwollen zu gewinnen? ›Der Gottlose suhlt sich in seinem Hochmut und in Satans Pfuhl, die Frommen sind demütig und suchen nach der Verzeihung derjenigen, denen sie Unrecht getan haben. Gehe zu deinen Töchtern und entschädige sie mit Güte und Frömmigkeit, bitte sie, das schmerzhafte Unrecht, das du ihnen angetan hast, zu verzeihen. Dann musst du dein Heim mit so leeren Händen verlassen, wie du geboren wurdest, und für einen Zeitraum von nicht weniger als zwei Jahren um Nahrung, Unterkunft und Kleidung betteln. Erst danach werde ich mich dir wieder zeigen.‹« Wie viele Monate habe er schon hinter sich? wollten sie wissen. Er sagte, acht. Doch mehr wollte er nicht mitteilen. Sein Gesicht sah nun gramvoll aus, es hatte nicht mehr den gelassenen Ausdruck wie zu Anfang seiner Erzählung; seine Stirn glich einem Schlachtfeld. Er war aber immer noch ansehnlich und würdevoll. Sagal wandte sich ihrer Mutter zu, die gerade wieder eingetreten war, nachdem sie den Bettler versorgt hatte. Sie war erst gestern einundzwanzig geworden, obwohl sie heute viel älter aussah, genauso gramvoll wie das Gesicht des Bettelmönchs damals, als sie und Amina mit ihm gesprochen hatten. Sie hatte aufgrund von Schlafmangel dunkle Ringe unter den verquollenen Augen und konnte nur verschwommen und unscharf sehen. Ebla sah den Zustand ihrer Tochter und konnte nicht wieder in den Laden gehen, das würde ihr Gewissen nicht zulassen, also entschied sie, bis zu Aminas Ankunft zu warten.
»Ach, komm. Das ist nicht das Ende der Welt«, sagte Ebla. »Wer hat denn das gesagt?« »Steh auf! Erhebe dich von diesem ungemachten Bett. Gib mir deine Hand.« Ebla nahm die Hand ihrer Tochter und zog daran. »Bitte lass mich allein.« »Als ich mit dir schwanger war, lang ist’s her…« »Das kenn ich doch schon.« »Ich sage: Das ist nicht das Ende der Welt.« Sagal saß aufgestützt im Bett und schaute ihre Mutter an, die nach Kräften versuchte, sie aufzuheitern. Sie konnte Sagals Körper nicht aus dem Bett heben und auch ihren Geist nicht vom Gram befreien. Eine Schlucht unüberbrückbarer Unmöglichkeiten trennte sie. Sie waren nicht mehr zwei Uhren, die unterschiedliche Zeit anzeigten. Und es ging nicht um eine Frage des Generationenunterschieds oder der Meinung. »Hat das alles mit dem Vater deines Kindes zu tun?« »Welchem Vater?« »Weißt du, wer der Vater ist?« »Natürlich.« »Wer ist es? Das hast du mir nicht gesagt. Wer ist der Vater deines Kindes?« »Er tut nichts zur Sache. Wie alle Väter. Wie meiner auch. Wie Samater.« »Wie heißt er denn überhaupt? Oder ist er so unbedeutend, dass es niemand erfahren soll?« »Das ist mein Kind.« »Der Vater, wer ist der Vater?« beharrte Ebla. »Es ist mein Kind und nur das zählt.« »Und du weißt immer noch nicht, ob du es haben willst oder nicht? Du solltest dankbar sein, dass ich deine Mutter bin. Viele andere Mütter würden einer Tochter die Sache
unerträglich schwer machen, wenn sie mit einem vaterlosen Kind schwanger heimkäme. Also bitte sag mir, wer der Vater ist.« »Warum kannst du mich nicht in Ruhe lassen!« schrie Sagal. Das versetzte Ebla schlagartig in eine Friedfertigkeit, die Sagal seit Jahren nicht mehr an ihr gesehen hatte. Sie rieb sich die Stirn, setzte ein reizendes Lächeln auf und sagte: »Die Erde ist warm, wenn ein Samen darin versenkt wird, und eine Mutter ist froh, wenn ein Kind in ihr ist. Sei froh, wie es nur eine Mutter sein kann. Sei froh, wie die Erde warm ist.« »Ich brauche einen Augenblick Ruhe. Ich muss diese Briefe zu Ende bringen.« »Ich werde nichts mehr sagen«, meinte Ebla und verstummte, blieb aber am Bettrand sitzen. »Denn eines weiß ich sicher: Dass du mich nicht verlassen wirst. Das habe ich mir immer gewünscht. Dich in meiner Nähe zu haben. Und mit einem Kind.« Hätte ihre Mutter von ihr verlangt, abzutreiben oder zu heiraten, hätte Ebla ihr widersprochen, hätte sie sich gegen das Austragen des Kindes ausgesprochen, dann hätte Sagal das als Herausforderung genommen und noch entschiedener und todesmutiger gekämpft. Ihr »Du kannst tun, was du willst« hatte sie entwaffnet und ihr keine andere Wahl gelassen, als genau das zu tun, was Ebla zuallererst für sie gewollt hatte. Manche Eltern kennen die Gesinnung ihrer Kinder besser als andere, und Ebla kannte ihre Sagal so gut, wie Eltern ihr Kind nur kennen können. Aber was wollte Ebla von ihrer Tochter? Wusste es Ebla selbst? Nun sahen sie sich an: Aminas Stimme war zu hören, Amina, die mit einem Nachbarskind sprach. Als sie auf ihre Uhren schauten, zeigte Eblas Uhr eine andere Zeit an als Sagals. Dann warteten sie schweigend auf Amina. Eingelassen in den lichtlosen Boden eines Verlieses, ein Samen oder vielmehr ein Tropfen, klebrig von den lebenden
Atomen der Keimung, ein Tropfen bloß, und neun Monate später die Wehen, ein drängendes Baby, das herauskommen will, das darum kämpft, mit der eigenen Lunge zu atmen, unabhängig sein eigenes Leben zu führen. Sagal war allein in ihrem Zimmer, Amina und Ebla waren nebenan und flüsterten miteinander; es hätte gut sein können, dass Ebla dasselbe Feld beackerte, das sie seit dem Morgen mit ihrer Tochter bearbeitet hatte, Möglichkeiten prüfte, Ideen mit Amina austauschte, die als Altersgenossin von Sagal und als eine ihrer engsten Freundinnen elegant einen passenden Rat einflechten mochte – Amina, von der Ebla hoffte, sie würde die Dinge genauso sehen wie sie selbst. Allein und gedankenverloren hielt Sagal das Tampon flach und schnurlos auf der offenen Hand. Sie warf es hoch, fing es wieder auf und unterhielt sich mit ihm… Unglück bringt einen schließlich zum Spiegel, lautete ein Ausspruch Medinas, und genau das tat Sagal jetzt. Sie stand vor dem Spiegel und sah einen zerzausten Kopf, ähnlich einer Warzentaube, die im offenen Hof vom Nieselregen erwischt worden ist. Wenn sie ein Kind bekam und von ihm nach dem Namen seines Vaters gefragt wurde, was würde sie sagen? Was wusste sie eigentlich von dem Mann, der sie geschwängert hatte? Sie konnte sicher nicht dieselben Ansprüche geltend machen wie Maria, die Mutter von Cisse, außerdem werden Wunder selten geschaut oder geglaubt; sie war auch nicht in derselben Lage wie Amina, bei der die Vaterschaft des Kindes gegebenenfalls bis zu einem der Vergewaltiger zurückverfolgt werden konnte. Es war eine Sache, einem Mann nichts von seinem eigenen Kind zu sagen, doch es war etwas völlig anderes, die Identität des Vaters zu verheimlichen. Sie empfand eine Schwäche ähnlich dem zaghaften Zirpen von Nachtinsekten, sie fühlte sich ausgesetzt wie einem unerwarteten Regenguss. Ebla hatte gesagt, sie könnten einen
anständigen Ausweg finden, sie könnten einen Vater für ihr ungeborenes Baby finden – womit sie meinte, sie könnten eine Ehe zwischen ihr und einem anderen Mann aus dem Ärmel schütteln, die gleiche Regelung, die Aminas Vater vorgeschlagen hatte, bevor diese aus seinem Patriarchat ausbrach. Die Welt sollte erfahren, dass keine Schwangerschaft sie in die Arme eines Mannes jagen könne, für den sie nichts empfand. Sie hatte eine verständnisvolle Mutter mit einem offenen Herzen und einem offenen Geist – schon wahr, das konditionierte einen, doch die Chancen, zwei von drei Hürden zu überwinden, waren gegeben. Und Ebla, das musste ihr zuliebe gesagt werden, war die Freundlichkeit in Person. Ist jeder Tropfen ein ausgehobenes Grab? Ist dieser Spermatropfen mein Grab? Ein Tropfen zu viel, und schon vermehrt er sich… ein Tropfen zu viel, der schließlich einen Teich bildete, in dem sie sich ertränken, so viel Wasser schlucken würde, bis sie starb. »Not waving, but drowning«: Sagal sang Stevie Smiths trotzige Zeilen, aber ihr Herz gab nach, das Wasser war zu kalt, das Blut, die Verantwortung der Mutterschaft war unerträglich. Würden sie den kleinen Leichnam in einem eigenen Tuch bestatten oder würden sie ihn gemeinsam mit seiner Mutter beerdigen? Ein Kind, bislang namenlos; Geschlecht: weiblich? Wie das erwärmte Wasser, das aus den Ohren läuft, wenn jemand zu lange im Wasser gewesen ist – würde es dem etwa ähnlich sein, wenn sie es abtrieb? Würde aus ihrem weiblichen Schoß warmes Wasser sickern wie aus einer Wärmflasche, wenn sie entschied, es zu beseitigen? Loswerden? Was loswerden? Wie konnte sie den Lapsus einer Nacht loswerden? Sie zog eine Schublade auf und legte das Tampon hinein. Heraus nahm sie einen Stapel Fotografien, die mit einer Kordel verschnürt waren, und starrte auf eine davon: Sie war im
Wasser, den Arm erhoben, und die Kamera hatte diese Bewegung fabelhaft eingefangen, denn im Winkel ihres gebeugten Armes, oder eher dahinter, war Cadar, und direkt dahinter Hindiya. Sie wusste nicht, wer die Aufnahme gemacht hatte, doch sie wusste die Aussagekraft der eingefangenen Aktion zu schätzen, ein historischer Augenblick, der eingerahmt und künstlerisch eingefroren war (es war der Augenblick, als sie am Ziel anschlug, genau der Augenblick, der ihr die Bronzemedaille eintrug). Noch dazu berührte der Arm nie das Wasser – und das Wasser stieg nie zu ihm auf. Sieger treffen sich, Liebende auch, aber… Das erinnerte sie an ihn, den Mann, dessen Kind sie in sich trug, und ihr fiel wieder ein, was er bezüglich der Fotografie, seines Berufs, zu ihr gesagt hatte: »Ich fange die Geschichte ein, erwische sie mitten in der Bewegung und fange sie im Geist der Kamera ein, einem Geist der Ruhe, der Stille. Die Gegenwart in der Vergangenheit und die Zukunft im Schatten des Lächelns, das später erinnert und über das gesprochen wird. Ich flöße Bewegungen Stillstand ein. Ich gebe etwas vor, daher bin ich Fotograf.« Doch wer war dieser Mann? Ganz abgesehen von dem, was sie anderen über ihn erzählen würde. Wer war dieser Mann? Er war in London geboren, die Eltern kamen aus Barbados, beide schwarz und schon in London aufgewachsen. Seine Welt war eine lässige, für alles offene, in der Blue Jeans getragen und alle geduzt wurden. Gut über eins achtzig, bewegte er sich afromäßig mit der Leichtigkeit von jemand, der sich beim Gehen genüsslich der Luft anvertraut; ein Bein verharrte auf der Stelle, die Sohle fest aufgedrückt, dann hob es federnd ab. Sein Aussehen war von einer kosmopolitischen Unbestimmtheit. »Afrika ist eine Überlagerung verschiedener Farben. Stell dir mal vor: Ostafrika ist farblich fantasielos und auch um
Zentralafrika brauchen wir uns nicht zu kümmern, denn das ist so farbenblind wie der nordafrikanische Beduine. Aber Westafrikas Farbpalette hat mir den Wunsch eingeflößt, ihr Schillern mit dem präzisen Gedächtnis der Kameralinse einzufangen.« »Was hältst du von Somalia?« »Sie haben bei der Ankunft meine Kamera konfisziert. Und jede Tür ist unübersehbar bürokratisch versiegelt. Genehmigungen, Genehmigungen, Genehmigungen.« »Wie lange bist du schon hier?« »Drei Wochen. Mir wird überall nachspioniert. Jeder Somali hat Angst, mit mir zu reden oder mir zu helfen.« »Und was hast du gesehen? Wo bist du bis jetzt gewesen?« »Amtstüren, die mir vor der Nase zugeschlagen wurden, das ist alles, was ich bisher gesehen habe. Und Leute mit ängstlichen Gesichtern, eine paranoide Sicherheitsbehörde.« »Leute – kennst du denn niemand?« »Leute, Leute, welche Leute? Ich brauche eine Genehmigung, um mit Leuten zu reden.« »Hast du keine Freunde? Keine Freunde unter den Leuten?« »Keine. Und es langweilt mich zu Tode, wenn ich morgens aus dem Hotel gehe und meine Tage damit verbringe, darauf zu warten, dass etwas passiert, dass mir eine Genehmigung ausgestellt wird. Ich sehe die ganzen Europäer, die ihre Arbeits- und Fotografiererlaubnis schon ausgestellt bekommen, bevor sie einen Fuß in dieses Land gesetzt haben.« »Wir sind ein gutes, gastfreundliches Volk, freundlich und großzügig.« »Als Volk vielleicht. Aber eure Regierung ist hoffnungslos paranoid.« »Das ist eine faschistische Regierung, argwöhnisch und sehr diskriminierend. Du solltest die beiden nicht
durcheinanderbringen: das Volk und die Regierung. Der Unterschied sollte dir auffallen.« »Bist du vom Volk oder von der Regierung?« »Ich bin vom Volk.« Sie redeten und redeten und redeten. Sie entschied, ihn kurzfristig aus seinem Unglückskäfig herauszuholen, sie entschied, ihm den Unterschied zwischen einem im Grunde angenehmen und gastfreundlichen Volk und der paranoiden Regierung bewusst zu machen, die sich ihm aufgezwungen hatte, indem sie die Macht an sich riss und sich dann als die alleinige gesetzliche Autorität im Lande konstituierte. Sie würde ihn in ihr Mitgefühl einbeziehen; sie, die das Volk und nicht die Regierung repräsentierte, würde lieb und nett zu ihm sein. Wenn er sich zur Abreise anschickte, sagte sie sich, würde er die Erinnerung an diese Nacht und an Amtstüren mitnehmen, die ihm vor der Nase zugeschlagen wurden, und sie hoffte, er würde ihre Bemühungen zu schätzen wissen. Sie legten sich zum Schlafen auf die sternenlose Wiese und gaben sich der Liebe hin. Die Sonne weckte sie. Was hatte sie nun aber über ihn gehört, das ihr den Wunsch einflößte, nichts mehr mit ihm zu tun zu haben? Wentworth George hatte sich und seine Haltung in den Dreck gezogen, indem er ein lukratives Abkommen mit dem Regime schloss. Sein erstes professionell geschossenes Porträtfoto seit Ausstellung seiner Genehmigung würde in der heutigen Zeitung erscheinen, hatte ihr jemand berichtet. Eblas und Aminas Stimmen kamen näher, wurden lauter und erstarben dann. Ebla war bereit, in den Laden zu gehen. Amina war bereit, Sagal zum Austragungsort des Wettkampfs zu begleiten. »Du hast deine Meinung nicht geändert, ja?« »Nein, nein. Ich geh hin.« Ebla küsste sie nacheinander. Sie wünschte Sagal viel Glück.
Amina war beauftragt worden, bei Sagal zu bleiben und sie keine Sekunde aus den Augen zu lassen, und daran schien sie sich auch zu halten. Sie begleitete sie zur Umkleidekabine und zurück, hörte, wie sie ein paar Takte mit anderen Mädchen redete, Bemerkungen, die nicht nur unwesentlich, sondern auch gehaltlos waren. Beide hatten diesen Augenblick gefürchtet und ihn wie Schülerinnen, die auf eine Prüfung nicht vorbereitet waren, mit Schrecken erwartet. Was würden die anderen Mädchen sagen? Wie würden sie es aufnehmen, dass Sagal frei war, während die anderen in Haft waren? In all dem lag eine Spur sportlichen Neids. Wenn Sagal so wie Cadar und Hindiya nicht da wäre, hätten die Konkurrentinnen, die noch nichts in ihrem Leben gewonnen hatten, eine Chance gehabt. Die Mädchen blickten sie hasserfüllt an und ein oder zwei sagten sogar abscheuliche Sachen, die niemand mit Sinn für Anstand wiederholen würde. Schließlich war es Sagal, die Amina keine Sekunde von der Seite wich; sie ließ sie nicht aus den Augen und folgte ihr wie ein Schatten seinem Erzeuger. Als Amina zu der dem Centro Sportivo angeschlossenen Bar wollte, ging Sagal mit ihr, in ein Handtuch gehüllt, das sie umhüllte wie ein Kinderwagen ein Kind. »Was möchtest du haben?« fragte Amina, die noch komplett angezogen war, mit der Geldbörse in der Hand. »Was wirst du denn bestellen?« Die Anspannung in Sagals Stimme war scharf wie ein Schwert. »Ich möchte etwas Starkes haben, wenn ich darf.« »Dann bestell es.« »Nein, nein.« »Eine Dose Bier?« »Nein, danke. Nur was Alkoholfreies.« »Deine Überlegungen sind heute aber sprunghaft.« »Das stimmt.« »Was kümmern dich die Ansichten dieser dummen Gänse?«
»Vielleicht, weil ich zu müde bin, um es mit ihnen auszufechten. Schau sie dir an – eine hassenswerte Clique, eifersüchtig und neidisch. Aber ich kann ihren Hass verstehen und deshalb wollte ich schon gar nicht herkommen. Ich verstehe ihren Hass und das macht ihn wahrscheinlich schwerer zu ertragen. Mir ist danach, zu ihnen hinzugehen und zu sagen: ›Wie auch immer diese Farce ausgeht, ich trete nicht an, habt also keine Angst.‹ Stell dir vor: Ich hab sogar daran gedacht, ich könnte es schaffen, einen Boykott zu organisieren.« »Das würde ich als defätistisch bezeichnen.« Weitere Mitbewerberinnen kamen und gingen, einige nickten Sagal und Amina zu, andere taten so, als hätten sie die beiden nicht gesehen. Zwei Mädchen platzierten sich in Hörweite von ihnen und sprachen laut miteinander über ein Gerücht, das in Umlauf gesetzt worden war und demzufolge es nicht mehr notwendig war, den Wettbewerb abzuhalten, da nämlich zwei der Teilnehmerinnen »nominiert« werden würden. In der Hoffnung, die Namen der Nominierten zu hören, schlenderten Amina und Sagal an den ins Gespräch vertieften Mädchen vorbei. »Was würdest du machen, wenn du nominiert wirst?« fragte Amina. »Ich würde nicht hingehen«, erwiderte Sagal bewusst laut. Schweigen. Die Gerüchteträgerinnen gingen davon, nachdem sie Sagals Worte gehört hatten. Sie würden das auf eine Weise verbreiten, wie unsaubere Luft Keime und Krankheiten verbreitet. Sagal beobachtete eine Sommerfliege an der Theke, die vom Furnier die klebrige Süße saugte. Inzwischen bestellte und bezahlte Amina die Getränke, die beiden Freundinnen verließen die Bar und gingen in Richtung Schwimmbecken. Sie machten einen weiten Bogen und gingen über den Parkplatz, traten gegen die Grasbüschel und niederen
Sträucher, die den Platz asymmetrisch erscheinen ließen. Sagal kam der Gedanke, dass sie die Inhaftierte war, nicht Cadar oder Hindiya. Sie beneidete sie um ihre Ruhe in diesem Zustand, beneidete sie um ihr Image, sah sie als Heldinnen eines Volksaufstandes, Heldinnen, die eines Tages eine Anhängerschaft haben würden. Sie waren das Gesprächsthema, zweifellos die Lieblinge von allen. Und was war sie? Sie war Gefangene ihres Gewissens, eines Traums, Gefangene eines Verlangens, mit ihrem Namen Geschichte zu schreiben. Sicher, sie hatte die eine oder andere Medaille als Schwimmerin, als Sportlerin, gewonnen. Doch sie wollte mehr sein als das, sie hielt sich für eine, die zu größeren Leistungen bestimmt war. »Ich kapiere immer noch nicht, warum du nicht hingehen möchtest.« »Einige Geschenke demütigen den Empfänger, während sie den Geber aufbauen.« »Das ist kein Geschenk.« »Wie geistlos von dir.« »Du und Ebla – erinnerst du dich noch? –, ihr habt mich doch überzeugt, den Einfluss meines Vaters auszunutzen, um mir und meinem Kind den nötigen materiellen Komfort zu beschaffen. Und jetzt, wo du die Chance hast, auf die du dein ganzes Leben gewartet hast, was machst du? Du greifst sie nicht auf.« »Wenn Cadar und Hindiya hier wären und ich hätte dann den Wettbewerb gewonnen, hätte ich mir überlegt, mit einem Ticket der Regierung abzureisen. Aber Cadar und Hindiya sind nicht da; sie sind im Gefängnis, weil sie Wände mit Parolen gegen den General bemalt haben, etwas, das ich schon immer machen wollte und worum ich sie beneide. Daraus folgt, dass es, da kein anderes Mädchen talentiert genug ist, um mit mir ernsthaft zu konkurrieren, eine politische Entscheidung geben wird, und da es der Zustimmung des Generals bedarf, werde
ich zusammen mit irgendeinem anderen Mädchen ihrer Wahl nominiert. Was sagst du dazu? Schlägst du etwa vor, ich soll dieses demütigende Angebot annehmen und dankbar sein?« Amina ging voraus, während Sagal am Schwimmbecken stehen blieb und mit Schaudern auf den verzerrten Schatten im Wasser starrte: Das Bild direkt vor ihr zerfiel in Wellen zusammengestückelter Wassermotive, eine Art Collage. Hell wie Marmor, groß wie eine Statue, ließ sie dieser Anblick erstarren. Eine hier im Becken zu Ehren der inhaftierten Heldinnen, nämlich Hindiya und Cadar, errichtete Marmorstatue? Undeutlich konnte sie Leute von Dingen reden hören, die sie nicht betrafen. Eine Wasserstatue, errichtet, um einer Schwimmerin zu gedenken? Sie hörte Wentworth Georges Worte: »Wasser bedeutet Leben, so wie das somalische Wort für Wasser auch biyo lautet, was das griechische Wort für Leben ist. Ich kann mir kein anderes so poetisches Volk wie die Barden in deinem Land vorstellen.« Oder hatte sie das irgendwo gelesen? Wasser, das biyo heißt, so wie das somalische Wort für Sperma ebenfalls biyo lautet. Mir fällt nichts ein, was ich über dich sagen könnte. Eine Pause, lange genug, um dem gedanklichen Drama in ihrem Kopf Bedeutung zu verleihen. Amina stand jetzt neben ihr und sagte: »An dem Gerücht von den politisch ›Nominierten‹ scheint etwas dran zu sein. Ich habe es schon mehr als einmal gehört.« »Werden Namen genannt?« »Ja.« »Welche?« »Du bist darunter.« »Und die anderen?« »Die hab ich nicht mitbekommen. Die anderen Namen wechseln, aber deiner ist immer dabei.« »Ich frage mich, warum sie mich nominieren.«
»Warum nicht?« In diesem Augenblick kam aus den Lautsprechern die Ankündigung, dass alle Teilnehmerinnen noch da bleiben sollten, bis der Vertreter des Sports- und Arbeitsministeriums käme und bis sie die ministerielle Verfügung bezüglich des heutigen Wettkampfs gehört hätten. »Es verletzt meinen Stolz, wenn irgendwer denkt, ich würde die Nominierung annehmen«, sagte Sagal. »Ich weiß nicht«, meinte Amina. »An deiner Stelle würde mir das nichts ausmachen.« Das veranlasste Sagal, einen leichten Fluch zu murmeln. Sie schauten sich nach einer kleinen, ruhigen Ecke um. Dann sah Sagal einem Vogelschwarm zu, der sich vom verborgenen Horizont erhoben hatte und nach einer Weile ins unerreichbare Ungewisse des Himmels entschwand.
»Schau mal«, sagte Amina nach einer langen Pause mit entsetzter Stimme. »Was?« »Schau hin!« »Ach, das!« »Wer ist sie?« fragte Amina. »Sie heißt Khadija.« »Ja, ja. Aber was ist sie?« »Wir haben sie immer ›die Ideale, die Puritanische, die Perverse‹ genannt.« »Alles auf einmal?« Khadija sprang immer voll angekleidet ins Wasser, und zwar wie ein Soldat bei der Wachablösung im Stechschritt. Sie tauchte unter und blieb am Grund, wo niemand sie sehen konnte, bis sie sich umgekleidet hatte. »Das ist lachhaft«, meinte Amina.
»Das kommt von ihrer puritanischen Erziehung.« »So wie sie flitzt und rennt, würdest du sie nicht für normal halten, oder?« »Sie ist ein besonderer Fall.« Verständlicherweise wurde Aminas Gesichtsausdruck starr; sie schaute Khadija an, als würde ihr Leben davon abhängen, ihr Kopf beugte sich nach hinten, sogar ihr Hals – wie eine Haspel, die dabei war, ein Objekt zu heben. Musste sie niesen? Sagal fragte sich, ob sie »Gesundheit« oder »yarxamukallah« sagen sollte, entschied aber, es davon abhängig zu machen, ob Amina »alhamdulillah« oder »Verzeihung« sagte oder nicht. Schließlich sagte sie gar nichts, da Amina nicht nieste. »Es ist krass, absolut krass. Warum macht sie das?« »Kaum; der Leib einer Frau verführt zur Sünde und niemand sollte ihn sehen. Khadija meidet den sündigen Blick anderer, seien es Männer oder Frauen. Sie zieht sich auch nicht mit den anderen Mädchen um, denn sie glaubt, dass irgendwo Männer versteckt sind, die durch ein Loch in der Trennwand einen Blick auf sie erhaschen wollen.« »Genauso exhibitionistisch, als wenn sie nackt wäre. Alle schauen auf sie. Ich sehe keinen Sinn darin. Wenn sie sich wie alle anderen Mädchen ihren Badeanzug anziehen würde, fiele sie niemandem auf.« »Eben deswegen nennen wir Khadija ›die Ideale, die Puritanische und die Perverse‹.« »Ich begreife ihre puritanische Perversion. Aber warum ›die Ideale‹? Inwiefern ist sie ideal? Wegen ihrer Orthodoxie und der strengen Befolgung des islamischen Begriffs der kaum?« »Nicht wirklich.« »Wie dann?« »Sie soll dem Ruf der Revolution mit solcher Hingabe gefolgt sein, dass sie ihre Tage und Nächte mit dem Absingen
der Lobeshymnen auf den General verbringt und tagein, tagaus für das Revolutionszentrum ihres Bezirks arbeitet.« »Na ja. In diesem Fall…« »Der Rest besteht aus einem Füllhorn von Obszönitäten und Belanglosigkeiten, Geschichten darüber, mit wem sie schläft. Nicht dass ich dem irgendeine Bedeutung beimesse, aber es sind mir die sonderbarsten Anekdoten zu Ohren gekommen und manchmal auch im Gedächtnis geblieben.« Amina nieste so plötzlich, dass sie Sagal keine Chance gab, irgendetwas zu äußern. Denn gleich darauf sagte sie: »Unter dieser puritanischen Erscheinung verbirgt sich die wahre Frau, die Perverse. Ich wette, sie sagt fünfmal am Tag ihre Gebete auf und ist so sanftmütig wie der Engel der Wahrheit.« »Sie ist die ideale ›revolutionäre‹ Frau, unterwürfig wie die Knechtschaft, dumm und dämlich wie ein ›Ja, jaalle, viva Generalissimo‹.« Sie schwiegen eine kurze Weile, doch dann redete Amina, mit Anzeichen von nervlicher Anspannung und Besorgnis in der Stimme. Sie sprach sorgfältig und deutlich: »Besteht die Wahrscheinlichkeit, dass sie nominiert wird?« »Ich glaube nicht, dass die sich derart lächerlich machen würden.« Woraufhin Amina ihrer Freundin zuliebe all die lächerlichen Nominierungen Revue passieren ließ, die von der Stammesoligarchie des Generals gemacht worden waren. Sie erwähnte die Namen etlicher Botschafter, die drei oder vier Jahre vor dem Machtantritt des Generals völlig unbedeutend waren und plötzlich Botschafter- oder Ministerposten bekamen. Sie half dem Gedächtnis ihrer Freundin mit einer längeren Liste lächerlicher Ernennungen auf die Sprünge; Männer, die am Tag ihres Universitätsabschlusses Generalkonsul in Botschaften wurden, Männer und Frauen,
denen ungeachtet ihrer früheren Erfahrung Amtspositionen zugewiesen wurden, die ihre Anwesenheit nicht nur bedeutungslos, sondern auch überflüssig machten. Natürlich brauchte Sagal nicht daran erinnert zu werden, so wenig wie Amina es sich von der Seele reden musste. »Du hast es schon gehört, nicht wahr?« »Was?« fragte Sagal. »Was habe ich gehört?« »Der General ist krank.« »Wie krank?« Amina schaute sich nach allen Seiten um, vergewisserte sich, dass niemand sie belauschte. Die Paranoia ist grenzenlos, dachte Sagal. »Jemand sagt, es wäre möglicherweise sein Ende.« »Das haben sie früher schon gesagt.« »Nein, nein. Diesmal ist es ernst.« »Was? Was hat er denn?« »Syphilis.« »Ist das dein Ernst?« »Syphilis.« »Nomaden benennen ihre Jahre und Jahreszeiten: ›das Jahr der Dürre‹, ›die Jahreszeit des Wassermangels und Hungers‹, ›das Jahr der kindertötenden Masern‹ oder ›der Regenmonat, in dem der Sultan starb‹. Wir datieren unser Gedächtnis anders; wir halten den General für eine Institution und datieren und benennen Dinge dementsprechend. ›Ich weiß noch, dass dies-und-jenes passierte, als Dheel, Gavere und Caynaanshe getötet wurden; ich weiß, dies-und-jenes fand statt, als die zehn Scheichs exekutiert wurden. Ich weiß noch, das war, als Soyaan auf mysteriöse Weise eliminiert und zum Helden gemacht wurde; ich weiß noch, das war, als ich hörte, dass Samater zum Bauminister ernannt wurde, oder als Medina der Bannfluch traf, der ihr verbot, noch irgendwas in diesem Land zu veröffentlichen.‹ Vielleicht werde ich in zehn Jahren dies
als den Tag taufen, an dem ich hörte, dass der General die Syphilis hat.« »Nein, das wirst du nicht.« »Warum nicht?« »Du wirst ihn den Tag taufen, an dem du dich, deine Mutter und mich überzeugt hast, du wärst schwanger; den Tag, an dem du blöderweise beschlossen hast, ein dir gratis gegebenes Flugticket nicht zu nutzen.« Sagal wurde rastlos und war ohne Zweifel von Aminas Worten erschüttert. Etwas, das stärker als sie war, schien sie erfasst zu haben. Sie fühlte etwas Hartes, das ihre Kehle so fest packte, dass sie weder weinen noch sprechen konnte. Es war, als würde sie von etwas Größerem verschluckt werden, etwas »Abgeschlossenem«, einem Zimmer ohne Tür, einer ausweglosen Straße, »einem Wal, der nie an Land kam«. Neun Monate davon, Tag für Tag; neun Monate voller Untersuchungen und Prüfungen, die sie bestehen musste. Würde sie das aushalten? Amina hatte ihre Prüfung ohne Schwierigkeiten bestanden und dafür war zum Teil Sagal verantwortlich. Würde Amina für sie nun das Gleiche tun? Oder Medina und Ebla? Sie würde erst die Katze aus dem Sack lassen müssen, oder nicht? »Apropos Samater…« Ein beschwerter Ausdruck lag auf Sagals Gesicht, als sie sich zu ihrer Freundin umwandte. »Ja, was ist mit ihm?« »Gut möglich, dass wir dies den Tag nennen müssen, ›an dem Samater verschwand‹.« »Verschwand?« »Verschiedene Versionen derselben Geschichte. Aber in allen verschwindet er.« Sie war nicht mehr die betrübte, vergrübelte pensierosa wie eben noch. Alles schien von ihr gewichen zu sein. Sie setzte
sich energisch auf und benahm sich so, als wäre sie bereit, wenn nötig in den Krieg zu ziehen, um das Leben ihres Freundes zu retten. »Was für Versionen?« »Zum einen heißt es, er sei zuletzt in Gesellschaft der Afroamerikanerin in einem Auto gesehen worden. Zum andern heißt es, er sei gesehen worden, wie er betrunken von einer Hauswand zur anderen getaumelt ist. In wieder einer anderen Version heißt es, das Meer habe eine nicht identifizierte Leiche ausgespuckt.« »Was für eine Leiche? Wessen Leiche?« »Die einer Frau? Die eines Mannes? Niemand weiß was Genaues.« Sagal sah wie eine Verurteilte aus. »Kommst du mit?« »Wohin gehst du?« »Zu Medina. Kommst du mit oder nicht?« Sie packte Amina am Arm und zog sie zu den Umkleidekabinen. Doch als sie dort waren, verkündete der Lautsprecher die getroffene politische Entscheidung und die Namen der zwei vom Ministerium »nominierten« Mädchen, die Somalia beim Comecontreffen in Budapest vertreten sollten: Sagal und Khadija. Als sie in Medinas Wohnung kamen, trafen sie alle mit Leichenbittermiene im Kreis sitzend an. Medina. Nasser. Dulman. Aber keine Ubax. Niemand sagte etwas. Stumm nahmen Amina und Sagal auf den leeren Stühlen Platz und warteten wie alle anderen, dass etwas passierte. Hin und wieder standen Medina, Nasser oder Dulman auf und drehten ihre Runden wie eine Ameise, die um den Leichnam eines Insekts kreist. Amina und Sagal fühlten sich wie zu spät Gekommene, die eintrafen, nachdem jemand schon mit einer Geschichte angefangen hatte; sie spürten, dass etwas
Gravierendes stattgefunden hatte, obwohl ihnen bis jetzt niemand etwas gesagt hatte. Dulman, die keine der beiden seit langer Zeit gesehen hatte, war da, Dulman, die so vernichtet aussah wie Medina, auf deren Wangen Spuren getrockneter Tränen waren, deren Augen vom Weinen gerötet waren. Als Medina sich setzte, stand Nasser auf und drehte seine Runden wie ein Offizier, der sich vergewisserte, dass die Person, die sein Exekutionskommando niedergeschossen hat, kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Wann hatten sie ihn das letzte Mal gesehen? Amina und Sagal waren noch nicht zwanzig gewesen, bezopft, schüchtern und schweigsam in seiner Gegenwart. Vielleicht dachte er gerade, wie schnell Mädchen doch wachsen; vielleicht sagte er sich das somalische Sprichwort vor, demzufolge der nächtliche Wachstumsschub eines Mädchens die Größe eines Eselsohrs hatte, und genau dieser Sachverhalt war Rechtfertigung genug dafür, Mädchen mit fünfzehn zu verheiraten. Sagal fragte sich nun, ob der nächtliche Wachstumsschub eines Jungen die Größe eines Weizenkorns hatte. Nasser nickte erst Sagal, dann Amina lächelnd zu. Das war so etwa die erste Kenntnisnahme ihrer Anwesenheit, wofür beide dankbar waren. Sagal verlor beinahe ihr inneres Gleichgewicht und wollte schon etwas sagen, hielt sich aber noch rechtzeitig zurück. Dennoch ergab sich eine leichte Veränderung. Amina und Dulman nickten einander begrüßend zu. Dulman und Sagal gleichfalls. Dann Medina und Amina. Das alles erinnerte Sagal ein wenig an ein Spiel, das sie und ihre Mutter immer spielten, ein Spiel, das darin bestand, herauszufinden, wer von beiden länger schweigen konnte; sie spielten das meist, wenn sie die Paraffinlampe ausgeblasen hatten und Ebla zu müde war, um ihrer Tochter zuzuhören, wie sie die Geschichte aus einem Buch nacherzählte, an dem Ebla nicht im Geringsten interessiert war, oder Sagal war zu müde,
um ihrer Mutter zuzuhören, wie sie von einer Begebenheit berichtete, die sich tagsüber im Laden zugetragen hatte. Doch das hier war kein Spiel und niemand erzählte eine Geschichte. Appunto! Gerade diese Sprachlosigkeit sagte mehr. Genau diese melancholische Stille sagte Sagal etwas. Nasser setzte sich hin, da stand Dulman auf. Das war eine makabre Pantomime. Während sie herumging, nickte nun auch Dulman ihnen begrüßend zu. Irgendwie vermittelte sich Sagal der Eindruck, dass nichts so Ernstes wie der Tod die Familie heimgesucht hatte. Im schlimmsten Fall hatte Samater etwas Skandalöses angestellt, etwas unter seiner Würde, etwas, das Medina, Dulman, Nasser und alle anderen in Verlegenheit stürzte, etwas, das gar nicht zu seinem Charakter passte. Könnte sein. Die Abwesenheit Idils brachte Sagal auf den Gedanken, dass ein Todesfall außer Frage stand. Gefängnis? Sein Rücktritt abgelehnt, dann die Verhaftung? Oder war er wegen Trunkenheit und verkehrsgefährdender Fahrweise im Stadtzentrum gestoppt worden, mit einer gleichfalls beschwipsten Atta neben sich? Und wo war Ubax? Da kam sie schon wie auf ein Stichwort, doch sie schwieg bekümmert, den Daumen im Mund, unglücklich darüber, dass niemand mit ihr sprach, oder weil Nasser und Medina wieder ins Italienische verfallen waren, da sie einander Dinge mitzuteilen hatten, für die sie noch nicht erwachsen genug war. Dulman nahm wieder Platz. Nun gehörte die Bühne Ubax, die tun konnte, was ihr gefiel. Sie war die Person, auf die sich alle Augen richteten, und das machte sie befangen, unschlüssig. Dann kam sie näher her und suchte Trost bei der ihr nächsten Sitzenden, Sagal. Sie wurde die auftauende Wärme, die das Eis, das nicht brechen wollte, in Wasser verwandelte. »Ciao, Sagal!« sagte sie. »Ciao, Ubax!« Sie küssten sich auf die Wangen. Ubax ging zu Amina.
»Ciao, Muna!« »Ciao, Ubax!« Der Raum schwirrte vor Stimmen wie in einem Klassenzimmer, das ein Lehrer kurzzeitig verlassen hat; Stimmen, die hastig und dringlich redeten – ähnlich wie bei Studenten, die einander ausfragten: »Was ist die Antwort auf das? Was ist der Quotient dazu? Was ist der Schlüssel zu diesem Rätsel?« Dann Schweigen. Eine Stille, die alle vereinnahmte, betraf und berührte. Ubax blieb bei Sagal und verhielt sich mucksmäuschenstill. Medina stand auf und ging herum, in ihrem Kleid, einem langen Kaftan aus violettem Leinen von unaufdringlicher Eleganz wie eine Königin wirkend. Was konnte Sagal sagen? Was konnten Medina, Amina oder Nasser sagen? Jemand spielte ein tödliches Spiel. Soyaan war leise und elegant beiseite geschafft worden. Ein Geräusch aber gab es, wie das der Kugel, die beim russischen Roulette in eine bestimmte Kammer fiel, und dieser einzigartige Umstand flößte dem Duellanten Mut ein, und die Trommel wurde unablässig geschlagen, doch jedesmal, wenn es eine geringfügige Pause gab, fiel eine Person, ja, eine Person erhielt den Stempel des Todes oder wurde im Morgengrauen ins Gefängnis geschafft und gezwungen, die Tarantella der Demütigung zu tanzen. Nur wer diese sfilata ansieht, vermisst diesen oder jenen. Es handelte sich aber hierbei nicht um ein Glücksspiel von Duellanten, sondern um staatliche Politik, tollkühn wie der Faschismus in dem Ziel, jeden Herausforderer umzubringen, zu inhaftieren oder – was das Schlimmste war – ihn oder sie zu demütigen. Als Medina ihre Runde absolviert hatte – wie ein in den ländlichen Gegenden Afrikas selten zu sehender Arzt, der selbst mit den Krankheiten infiziert ist, die er zu heilen versucht – setzte auch sie sich wieder. Doch sie sah nicht resigniert aus, sie wirkte nicht geschlagen, sondern erschien so ruhig, als wolle sie
sagen: »Schiebt noch eine Kugel rein, bringt mir den General persönlich in Schussweite, dann werden wir schon sehen, wer fällt.« Ihre Augen glühten wie Hexenkessel, ihre Wut war so gewaltig, dass Sagal die Frage nicht stellen konnte, die ihr auf der Zunge lag, eine Frage so einfach und direkt wie: »Was ist passiert?« Amina und Sagal tauschten einen Blick voller Fragezeichen wie Ohrgehänge aus. »Wie ist es gelaufen, Sagal?« fragte Medina endlich. Sagal zuckte zusammen, spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte, und konnte kurzzeitig kein Wort herausbringen. Denn was auch immer ihr in den Sinn käme, würde, wie sie dachte, in dieser ernsten Situation banal oder sinnlos klingen. Stattdessen antwortete Amina: »Sie ist immer noch Titelverteidigerin. Sie hat wieder gewonnen.« Medina blickte Amina anklagend, mit solcher Härte an, dass Sagal versucht war, zu erklären, was ihre Freundin gemeint hatte. Nasser, seine Stimme sanft, mild und gütig, sagte: »Gratulation. Wann wirst du nach Budapest aufbrechen?« »Ich geh da nicht hin.« Ihre Stimme todernst. Sie verstummten alle, als sie diese knappe Antwort hörten. Sagal bedauerte schon ihre Worte. Sie fühlte sich wie jemand, der, anstatt zu helfen, einen Nichtschwimmer unter Wasser drückte, dessen Kopf, nach Luft schnappend, noch einmal aus dem Wasser aufgetaucht war. Wenn sie versuchte, den im Zimmer Anwesenden zu erklären, was ihr »Ich geh da nicht hin« bedeutete, würde sie dazu ein halbes Leben lang brauchen. Der Vorbeimarsch von Gesichtern und Erinnerungen: Was könnte sie Nasser sagen, damit er verstand? Welche stenografische Information könnte sie Medina bieten, um sie ins Bild zu setzen? Sie wollte Wentworth Georges Namen nicht erwähnen oder nonchalant damit herausplatzen, dass sie schwanger war, als wäre das
nichts weiter als eine kleine Unpässlichkeit. Wie schlau von Nasser, als er sagte: »Du wirst alles später erklären, nicht wahr?« »Ja.« Ein kurzes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, das sie aber sofort wieder zurücknahm. Ihre Miene wurde wieder hölzern und unnatürlich. Doch sie würde den Kopf des Nichtschwimmers nicht wieder unter Wasser drücken, sie würde der Konversation ihren Lauf lassen. Sie wartete, bis Ubax sich leise entfernt hatte, bevor sie sagte: »Gibt es Neuigkeiten von Samater?« Ihre Stimme verriet unzweifelhaft, dass sie aufgeregt war. Die Antwort aber gab Nasser und nicht Medina, an die sie die Frage gerichtet hatte. »Wir wissen nichts oder sehr wenig.« »Nichts oder sehr wenig?« Er wartete ein zustimmendes Zeichen seiner Schwester Medina ab, bevor er weitersprach. Als er das erhielt, fuhr er ziemlich behutsam fort, wie ein Mann, der über vermintes Gelände geht. »Die einzig sichere Information ist die, dass er zuletzt in Gesellschaft von Atta gesehen wurde. Wir wissen nicht, wohin sie unterwegs waren und in welcher Verfassung.« Dulman schluchzte leise und alle blickten sie an, als würden sie fragen: »Warum weinst gerade du?« Nasser fragte Sagal und Amina, was sie wüssten. Amina gab an, was sie wusste, wo und von wem sie die Nachrichten erhalten hatte. Sie verglichen die Aussagen, tauschten ihre Ansichten über die Verlässlichkeit der in der Stadt kursierenden Informationen aus. »Der General ist krank und da passieren die sonderbarsten Dinge; hunderte von Leuten werden ins Gefängnis gesteckt. Nach meiner Einschätzung haben Cadar und Hindiya und ihre
Freunde diese Sachen in Mogadischu nicht an die Wände geschrieben. Das war die Staatssicherheit. Nur ein Mittel, um den harten Kern zu beseitigen.« Sagals hübsches Gesicht setzte alles in Bewegung, zu dem sie fähig war: Sie schien einen Augenblick lang glücklich, im nächsten schon wieder äußerst betrübt zu sein. Cadar und Hindiya sollen diese aufrührerischen Sprüche nicht an die Wände geschrieben haben? Hieß das… nein, das war nicht möglich! »Sie hatten es nicht auf die Mädchen abgesehen«, fuhr Medina fort. »Auf wen dann?« »Sie haben größere Fische gefangen.« »Was soll das heißen?« »Zwanzig bis fünfundzwanzig potenzielle Regimegegner sind bei der Razzia geschnappt worden. Die Anklage: Sie hätten die Studentinnen angestiftet, Parolen an die Wände zu malen, und hätten gleichzeitig einen Umsturz geplant, der rechtzeitig vereitelt wurde.« »Und Samaters Rolle?« »Er war einer der Drahtzieher. Das sagt zumindest der Ideologe.« Die Luft wurde drückender. »Was ist mit Atta?« »Eine amerikanische Agentin im Dienst des Imperialismus.« Sagal war trunken vor Trübsinn, wie auch alle anderen, doch zusätzlich fürchtete sie, sie würde sich auf der Stelle übergeben, wenn sie auch nur den Mund öffnete. Ihr war das alles unerträglich. Ihr fehlte der Mumm, sich diesem und Schlimmerem auszusetzen. Würde jemand denen bitte sagen, mit diesem Verwirrspiel aufzuhören? Würde jemand bitte die Roulettescheibe anhalten, die sich immer weiter drehte? Würde jemand die Schrauben des Trommelfells lockern, die
Trommelstöcke an sich nehmen und sie in kleinste Stücke zerbrechen, damit sie keinen Lärm mehr machten und nicht mehr das Geheimnis des Trommlers aussprachen? Wenn das noch eine Sekunde weiterging, würde sie ohnmächtig werden. Das Licht in ihren Augen wurde trübe. Alles war dunkel. Sie war in einem Tunnel und Amina, Medina, Ubax, Nasser, Samater, Sandra und Dulman waren bei ihr. Sie wusste mit tödlicher Sicherheit, dass beim Herauskommen aus dem Tunnel eine oder einer fehlen würde, geopfert worden wäre, wie ein Lamm auf der Schlachtbank läge. Verschreckt wachte sie auf. Lärm. Jemand sagte etwas, eine Frauenstimme sang ein Totenlied, einen improvisierten Klagegesang zum Gedenken ihres Kindes. Idil war im Zimmer, als sie die Augen aufschlug. Und alle anderen bis auf Medina, Idil und sie waren weg. Wohin waren sie gegangen? Sie stand auf und ging ebenfalls.
EPILOG
Wie Pusteln an der Stirn des Himmels erschienen Fledermäuse in der Luft und veranstalteten einen Heidenlärm, den monotonsten, durchdringendsten und ärgerlichsten Lärm, der je zu hören war. Sie kämpften in der Luft, vertrieben einige gutmütigere Abendvögel. Sie stürzten erdwärts, ohne je den Boden zu erreichen. »Wo bin ich? Was soll das alles?« fragte Samater benommen. »Du bist daheim«, sagte Medina, »wieder dort, wo wir alle angefangen haben. Du bist wieder daheim, Samater, und ich und Ubax genauso; wir sind endlich wieder alle daheim.« »Daheim? Wann bin ich zurückgekommen?« »Du bist hier abgeladen worden.« Er setze sich auf oder probierte es zumindest. Den Kopf behielt er in die Hände gestützt. Er fühlte sich schwindlig, hatte einen schweren, wie verkaterten Kopf. Er betrachtete die Decke und schwieg. »Du hast dich wacker gehalten«, sagte sie. »Du hast die erste Leidensprüfung bestanden. Es werden noch mehr kommen. Du wirst schon sehen. Und du wirst alle bestehen. Und nach dir und mir sind Mursal und Mahad dran.« Seine Augen sahen aus wie die eines aufgeschreckten Hirsches. Dann fiel ihm ein, dass er einen langen, endlosen Korridor entlanggeschleift worden war. Er erinnerte sich wieder an das lächerliche Verhör, dem er unterzogen worden war: Wer sei Atta? Was habe sie wissen wollen? Was habe er ihr mitgeteilt? Es fiel ihm ein, dass er verprügelt worden war, dass er Schläge auf den Kopf bekommen hatte. »Du hast dich gut gehalten. Ich gratuliere!« sagte Medina.
Samater hob den Kopf auf ähnliche Weise, wie ein Pferd, das Schmerzen hat, den Huf vom Boden hebt, dann versank er wieder im Delirium. Er war so zerschunden gewesen, als ihm Medina ins Haus geholfen hatte, Medina, die etwas geflüstert hatte – war es, dass die Staatssicherheit Nasser und Dulman geholt hatte? Samater rollte sich zu einer Kugel zusammen, steckte den Kopf zwischen die Knie und sagte wiederholt mit verzweifelt flehender Stimme: »Bitte nicht schlagen, bitte nicht schlagen.« Medina fragte sich nun doch, ob sich Samater gut gehalten hatte, ob nicht alles vergeblich gewesen war, ob es Sinn hatte, noch einmal ganz von vorne anzufangen. Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, bis wieder jemand etwas sagte. Sie sah erschüttert aus, weigerte sich aber, dies einzugestehen. Ihre Stimme verriet sie auch nicht. »Wir haben es versucht. Koschin. Soyaan. Siciliano. Du. Und ich. Nun bekommen die anderen ihre Chance, es zu probieren.« Dann stand sie auf und sprach weiter: »Jeder Revolutionär dient einer Sache, die größer ist als er. Aber warte, ich bin gleich zurück.« Es ließ sich nicht leugnen: Medina hatte ihre Eleganz verloren, ihr Verhalten war grob geworden, ihre Sprache aggressiv. Zeigte die systematische Sabotage der Staatssicherheit allmählich Wirkung bei ihr? Hatte der lang anhaltende Konflikt sie allmählich mürbe gemacht? Was hatte die bewusste Aufschiebung des Augenblicks der unausweichlichen letzten Konfrontation zu bedeuten? Um zu ihnen vorzustoßen, sie zu brechen, ließ sich die Überwachungsbehörde des Generals Zeit, suchte sich ihr Opfer aus. Soyaan war tot, Loyaan ins Exil verbannt, Siciliano und Koschin vegetierten nur noch vor sich hin (es ging das Gerücht, dass Koschin in einer Irrenanstalt war); Nasser und Dulman im Gefängnis. Der Ablauf war klar: Die
Roulettescheibe drehte sich und jedesmal, wenn die Kugel in ein Zahlenfach fiel, war einer der Zehn verschwunden. Würde sie länger durchhalten als alle anderen? Sie stand vor dem Ankleidespiegel, da kamen ihr andere Gedanken – dass ein Tag wie ein Kind wächst: Morgen, Mittag, Nachmittag, Dämmerung und Abend. Auf der Erde ließ sich der Tagesschatten messen, so wie jemand die Größe eines Kindes an einer Wand markiert. Dann stellte sie sich vor, sie sei das Kind, das nicht mehr weiter wachsen wollte. In der Ferne wurde eine Blechtrommel geschlagen und zu deren Rhythmus marschierte sie eins-zwei-drei, drei-zwei-eins, einsdrei-zwei… Sie veränderte die Schrittfolge, spielte mit der Ziffernkombination – stellte aber sicher, dass sie nie bis vier kam. Ja, sie war sich selbst die größte Gegnerin. Aber hätten sie anders gespielt, wenn das Zeitroulette verkehrt herum gedreht und die Zahlenfächer anders nummeriert gewesen wären? Was hätte sie getan, wenn Idil und Samater sich anfänglich anders verhalten hätten? Was, wenn Idil nicht vorgeschlagen hätte, dass Samater das Hausmädchen heiraten sollte? Was, wenn Idil vor allem nicht seine Drinks beschlagnahmt hätte? Oder noch besser, was hätte sie getan, wenn Samater das Hausmädchen als seine gesetzliche Gemahlin angenommen hätte, da nach islamischem Brauch der Mann das Recht hatte, bis zu vier Ehefrauen zu haben? Am wichtigsten aber: Wie weit sollte sie in der Zeit zurückschreiten? Bis dahin, als Koschin – der erste der Zehn – gefangen genommen und gefoltert wurde? Oder als der General an die Macht kam – im Oktober 1969? Oder sollte sie mit dem Tag beginnen, als sie aus dem Haus auszog, was eigentlich der Schritt war, der alles in Gang setzte? Ein Seufzer der Erschöpfung. Sie trat vom Standspiegel weg und war nun an einem Fenster, das offen war und die Luft hereinließ. Sagal. Die somalisch-
amerikanische Familie und der Infibulationsritus bei ihrer Tochter. Ubax. Xaddia. Nassers Untergrunddichtung und Dulman als Zuträgerin. Samater. Amina. Idil. Sandra. Frage: Warum zog Medina aus? In ihrer Symbol- und Metaphernsprache ausgedrückt: Sie zog aus, um sich friedlich in einer Vorstellung einzurichten, darin ein Heim zu finden, eines, in das sie die Schätze ihres Lebens bringen konnte wie ein Laubenvogel die Federn fremder Vögel, ein Zimmer, das sie ihr eigen nennen konnte und in dem sie kein Gast war; ein Heim, in dem ihre Gedanken frei und ungehemmt schweifen durften, ohne Angst; ein Heim, in das Patriarchen wie Gad Thabit und Matriarchinnen wie Idil (die sie stellvertretend für den autoritären Staat sah) keinen Fuß setzen durften. Warum beriet sie sich nicht mit Samater? Sie hatte befürchtet, er würde sich nicht dazu herablassen, mit ihr in ihrer Vorstellung zu wohnen, er sei zu sehr davon vereinnahmt, mit seiner Mutter und mit dem Regime des Generals Kompromisse zu schließen. Zweifellos konnte sie nichts für ihre kühne Fantasie. Nasser hatte an jenem Nachmittag, als sie ihn abholte, um ihm die Peinlichkeit zu ersparen, von den Päderasten aufgegriffen zu werden, gesagt, dass Samater (und wahrscheinlich zitierte er sie dabei) der Stuhl war, den Medina an den falschen Platz gestellt hatte, der Stuhl, über den jemand stolperte und ihn umstieß. Und als Samater aufwachte, sagte Nasser, sei er über den Stuhl gestolpert und habe sich das Genick gebrochen. Aber Nasser war im Gefängnis, so wie Dulman. Zu welchem Zweck? Dem Gesetz nach konnten sowohl Nasser wie Dulman, wenn sie für schuldig befunden wurden, zum Tode verurteilt werden. Alles zusammengenommen, wäre das, was Medina getan hatte, und die Samater zugefügte Demütigung so geringfügig wie der Schmerz, den das Reiben an einem Bienenstich hervorruft. Es klingelte. Ubax sagte, sie würde aufmachen.
Xaddia. »Hallo!« »Nabad!« Für Medina war Xaddias Erscheinen auf der Bildfläche bestürzend und verstörend. Ihr war unbehaglich, als wäre sie eine Gastgeberin, die von einem später eintreffenden Gast gezwungen wird, die Essensportionen neu aufzuteilen. Xaddias spätes Auftauchen hieß, eine zum Teil schon erzählte Geschichte noch einmal abspulen zu müssen. Doch wo könnte sie anfangen? Die beiden kommunizierten erst schweigend, dann berührten sie sich zaghaft. Xaddia drückte Medina kurz die Hand und löste sich gleich wieder. Ubax hielt Abstand. Lange Zeit sagte niemand ein Wort. »Wie geht es ihm?« fragte Xaddia. »Er schläft.« Xaddia ermahnte sich, höflich und rücksichtsvoll wie ein Gast zu sein, der als Spätankömmling keine andere Wahl hatte, als sich mit den noch aufgetragenen Portionen zufrieden zu geben. Und ihr fiel ein Gespräch ein, das sie mit Nasser in Rom geführt hatte, ein Gespräch, das jetzt erst Sinn ergab, denn Nasser hatte gemeint: »Wie viel Veränderungen kann jemand in einer Landschaft herbeiführen, die so kahl ist, so unabänderlich erscheint? Medina hat einen Stuhl verrückt. Das ist alles. Sie hat sich einen Lebensraum geschaffen, in dem nur sie allein funktionieren kann, sie hat sich Bedingungen geschaffen, unter denen nur sie allein leben kann. Kein Platz für Samater oder Ubax. Wie hat sie das geschafft? Sie hat im Dunkeln den Stuhl an die falsche Stelle gerückt. Als Samater aufwachte, stolperte er darüber und brach sich das Genick. Weißt du noch Barkhadles Lieblingsspruch: Wer keine Kompromisse schließt, wird nicht zerbrechen. Samater ist mit dem faschistischen Regime Kompromisse eingegangen, sie aber nicht. Der Logik ihres Gedankenkonstrukts zufolge wird
er am Ende zerbrechen. Medinas Maxime: Wer gedemütigt wird, der zerbricht.« Bald würde Xaddia sie fragen, eines Tages… »Seit wann bist du wieder zurück und von wo?« wollte Medina wissen. »Unser planmäßiger Flug wurde gestrichen, weil der General sich das Flugzeug ›borgte‹, um nach Gabun zu reisen. Ich glaube, dort findet ein OAU-Treffen oder so was statt.« »Ich habe gehört, er sei krank«, kommentierte Medina. »Von Gabun aus wird er nach Rom gehen, um einen Arzt oder so aufzusuchen, aber klar ist nichts. Wir haben von der Streichung des Flugs eine halbe Stunde vor Abflug erfahren. Krank? Er ist gesünder als ein junges Muli.« »Und niemand hat sich getraut, ihm zu sagen, dass Somali Airlines eine internationale Fluggesellschaft ist, die Verpflichtungen gegenüber ihren Passagieren hat? Was ist aus dem Flugzeug geworden, das der arabische Prinz ihm geschenkt hat, als Somalia Mitglied der Arabischen Liga wurde?« »Der Prinz hat ihm einen Blankoscheck überreicht, kein Flugzeug.« Die Worte hingen in der Luft wie der Rauch eines Neujahrsfeuers, spannungsgeladen. Medina wollte wissen, wie Xaddia von Samater, Nasser und Dulman erfahren hatte. Xaddia wollte ihrerseits alles erfahren, was Medina von Samater wusste. Aber es fiel ihr schwer, Fragen zu stellen. Es gab auch noch ein Tabuthema: Idils Aufenthaltsort. Niemandem war klar, wo sie sich aufhielt. Xaddia konnte Meldungen, sie verberge sich im Haus eines Stammeshäuptlings, nicht bestätigen. Was sonst konnten die beiden über sie sagen? Nichts. Was war mit Atta? Xaddia berichtete:
»Eine Stewardess hat mir mitgeteilt, sie habe gesehen, wie Atta in ein Flugzeug nach Nairobi gesteckt wurde. Es war dieselbe Stewardess, die mir von Samater, Nasser und Dulman berichtete. Sie ist eine ehemalige Klassenkameradin von Sagal.« »Ich frage mich, wo dann Sandra steckt.« »Die Stewardess sagte, Sandra und der Ideologe seien in der VIP-Lounge gewesen, als zwei Sicherheitsbeamte Atta in den Flieger nach Nairobi steckten.« »Das Biest«, sagte Medina. Einen Augenblick lang hatte Xaddia den Verdacht, dass Medinas Stärke zu ihrer Schwäche werden würde, denn da diese sich nicht hatte vorstellen können, dass die Ereignisse einen anderen Verlauf nehmen könnten, erschien es Xaddia, als würde Medina deshalb zwischen Unaussprechlichkeiten und allgemeinen Verwünschungen wie etwa »Biest« hin und her schwanken. Ein aufrichtiges Eingeständnis, dass sie versagt hatte, hätte schließlich das Problem klären können. Denn Xaddia wäre wohl bereit gewesen, die Pforten ihres Verstandes zu öffnen, Xaddia, die Vertrauen in ihre Freundschaft hatte, Xaddia, die auf Nassers Können vertraut hatte, schnell ein Gerüst zu zimmern, dessen Statik sie und die anderen trug, Xaddia, die auf Samaters Fähigkeit baute, zu lieben und geliebt zu werden, ungeachtet dessen, was vorgefallen war. Ein Leben mit so rauen wie nicht vorhersagbaren Kanten: So sah es bei Xaddia aus. Sie sah keine Sagal, die ihre Zukunft fortsetzen oder eine Brücke zur Vergangenheit schlagen konnte. Nun schauten sie einander an, als sie das Hausmädchen herumgehen und Ubaxs laute Bitte hörten, in Ruhe gelassen zu werden: Der Lärm kam aus der Küche, aber keine reagierte darauf. Schweigend blickte Medina aus dem Fenster und sah
möglicherweise die Nacht als Offenbarung all dessen, was die Sterne allen anderen vorenthalten haben mochten. »Welchem Zweck diente das alles, Medina?« fragte Xaddia. »Wie meinst du das, welchem Zweck diente das alles?« Medina schaute Xaddia an, als wäre sie eine unangepasste Idee, offensichtlich fremd und unverdaulich. Wohingegen Medina für Xaddia einfach unerklärlich war. »Du möchtest wohl, dass dies das Geheimnis von dir und Samater bleibt?« Medina nickte. Sie waren Überlebende eines Traumas und nicht im Stande, die Geschichte des Tages oder des Zeitpunkts zu erzählen, an dem irgendetwas geschah. Würde Xaddia verstehen, wenn Medina in ihrer üblichen Sprache hochgestochener Metaphern und Symbole redete: ein im Dunkeln verrückter Stuhl, Idil im General, das Persönliche im Politischen? Denn Idil ist nur ein Symbol, der General nur eine Metapher etc. Würde sie begreifen? »Er ist wieder da wie ein Stück, das jemand verpfändet und mit hohen Zinsen zurückerworben hat. Andererseits werden gewisse Dinge als gegeben hingenommen«, sagte Xaddia dann. »Wieder da wie ein verpfändetes Stück? Wovon redest du, Xaddia?« »Wenn jemand ein verpfändetes Gut zurückerwirbt, prüft er es, bevor er es wieder in Besitz nimmt. Hast du das getan, Medina? Ich wäre enttäuscht, wenn du mit Nein antwortest.« Medina war verletzt. Aber sie tat ihr Bestes, es zu verbergen. »Du siehst müde aus, Xaddia. Ich schlage vor, du legst dich eine Weile hin. Du kannst Ubaxs Zimmers nehmen, oder wenn du willst, kann ich auch das Hausmädchen bitten, das Gästezimmer für dich herzurichten.«
»Ich bin nicht müde«, erwiderte Xaddia, ihre Stimme so hart wie der Stein in ihrer Kehle. »Wie kommst du darauf, dass ich müde bin?« fragte sie. Das ließ Medina innehalten. Dann sah sie das Feuer in Xaddias Augen. Und genau in diesem Augenblick erkannte sie, dass Xaddia gegen das mit ihr verbundene Vorurteil ankämpfte, mit ihrem Bruder Samater in einen Topf geworfen, für schwach gehalten zu werden. »Du hast kein Recht, mir so was zu sagen, Xaddia.« »Du hast kein Recht, unsere Familie zu zerstören.« »Unsere Familie?« Sie verstummten. »Ich halte es nicht mehr aus«, sagte Xaddia. »Was? Was hältst du nicht mehr aus?« »Das Affentheater. Deine Politik. Die Tatsache, dass du keine Niederlage eingestehen willst. Du bist eine Spielerin, die meint, weil sie einmal gewonnen hat, sei schon der nächste Gewinn in Sicht. Du bist eine gewohnheitsmäßige Spielerin.« »Du kapierst überhaupt nichts«, fuhr Medina sie an. »Nein, meine liebe Mina. Ich bin auch keine Sagal oder sonst eine, der du ein Buch zu lesen gibst, wenn etwas schief läuft«, schrie Xaddia. »Also sag mir: Was war die Bedeutung dieser Winkelzüge? Oder schlägst du vor, dies in einem Buch nachzulesen? Einem Buch für alle Fälle.« Xaddias Worte gingen in Medinas Ohren wie eine Bombe hoch und verletzten sie. Wenn Xaddia bloß begreifen könnte, dass ich für das Überleben der Frau in mir, in ihr kämpfe, indem ich »Familien« wie der von Idil und Regimen wie dem des Generals Schaden zufüge, dachte sie. Als Medina nichts sagte, fuhr Xaddia fort: »Du verpfändest in einem fort, bis nichts oder niemand mehr zur Versteigerung gegeben werden kann. Gestern war es Samater, heute Nasser und Dulman, morgen – wer weiß –
vielleicht ich. Und übermorgen Sagal. Wann wirst du mit deiner Borniertheit aufhören und wieder Vernunft annehmen? Wirst du nie eine Niederlage eingestehen oder hinnehmen?« »Niederlage?« »Ja. Gib dich geschlagen!« Medina übergoss das mit einem Grinsen. Dann: »Ich gebe mich nicht geschlagen und werde auch keinen Fußbreit einem Regime nachgeben, das keinem Menschen das Recht zu existieren und in Würde zu leben zugesteht. Ein faschistisches Regime ist am schwächsten, wenn ihm die Stirn geboten wird.« Xaddias Wut sammelte sich in einem Knoten, der plump und knebelnd ihr die Kehle zuschnürte und sie daran hinderte, ihr die Meinung zu sagen. Inzwischen stand Medina auf, schloss das Fenster und setzte sich wieder. Sie wartete wachsam und gespannt. Schließlich löste sich bei Xaddia der Knoten: »Dann sag mir mal: Welchen Sinn hatte das Affentheater, bei dem Samater sein Gesicht und seinen Posten verlor, meine Mutter ihren Sohn und ihre Würde, Nasser und Dulman ihre Freiheit? Was soll das Ganze?« »Ich sehe nichts so Besonderes daran, dass Samater seinen Posten oder sein Gesicht verloren hat, oder deine Mutter eine Würde, die sie von vornherein gar nicht besaß, oder Nasser und Dulman ihre – wie du es nennst – Freiheit. Andere haben im Kampf gegen dieses faschistische Regime ihr Leben verloren. Andere sind zu Unrecht ins Gefängnis gesteckt worden. Andere sind gefoltert, gedemütigt und gebrochen worden. Was das Ganze soll: Der Kampf geht weiter.« »Und Familien müssen zerstört werden?« Xaddias Aufmerksamkeit wurde plötzlich auf das gerahmte Foto von Samater gelenkt, das an der Wand hing, und das verscheuchte alle anderen Gedanken. Sie entschied, ihn in seinem Zimmer aufzusuchen. Sie wusste, Medina würde ihr
dieses Recht nicht absprechen, und fühlte sich besänftigt. Jiijo, das Hausmädchen, das Idil entlassen, aber Medina wieder eingestellt hatte, trat ins Zimmer und der Raum füllte sich mit einer seltsamen Mischung aus Parfüms unterschiedlicher Herkunft. Das Hausmädchen wollte wissen, wie viele Personen zum Abendessen bleiben würden und ob noch mehr Gäste zu erwarten seien. Xaddia sagte, sie würde wahrscheinlich nicht mit ihnen essen. Dann stand sie auf, um zu Samater zu gehen. Gedanken so beharrlich wie blutdürstige Sommermücken gestatteten Medina keinen Augenblick der Ruhe, piesackten ihr Gehirn mit tausend Stichen, die piekten, juckten und zwackten. Ist dies oder jenes wahr? Geschichten über Atta und Samater; Geschichten darüber, dass Dulman zusammengebrochen war und Nasser an allem die Schuld gegeben hatte; Geschichten über Attas Schwangerschaft und darüber, dass hinter dieser plötzlichen Ausweisung die verschwörerische Hand des Ideologen (und nicht Sandras) steckte. Samater als uomo bruciato. Nasser: ein von den gegenläufigen Strömungen der Machtpolitik und des Streits zwischen Sandra und Medina erfasster Mann. Idil: ein Stich, der zum Kratzen reizte, denn Idil war für Medina nie von besonderer Bedeutung. Sie wäre sie losgeworden an dem Tag, an dem sie und Samater heimkamen. Idils Zugeständnisse waren so billig wie eine Rotzfahne und Medina hätte sie sich leicht erkaufen, sie hätte sie leicht bezahlen können, dafür hätte sie nicht Samater verpfänden müssen… Medina hatte einer größeren Sache als sich gedient. Theorien als Tatsachen. Hypothesen als Thesen. Sagal hatte sie eingeschleppt und war gekommen, so früh sie konnte. Sie war besorgt um Samater und wollte wissen, wie es ihm ging. Medina sagte, dass Xaddia bei ihm sei, wenn auch das letzte Mal, als das Hausmädchen zu ihnen hineinspähte, beide
geschlafen hatten – Samater auf dem Bett und Xaddia im Sessel davor. »Und du hast gesagt, du wirst nicht nach Budapest gehen, das ist deine feste Entscheidung, ja?« fragte Medina in der Absicht, das Thema zu wechseln. »Wenn du nicht gehst, wer dann?« »Ein anderes Mädchen ist an meiner Stelle nominiert worden.« »Nichts Neues von Cadar und Hindiya?« »Rein gar nichts.« Über ihnen brannte die Glühbirne. Die Vorhänge blieben starr, da kein Windhauch sich regte. In einem Zimmer des Hauses, in dem wohl die Erinnerungen an diese Woche spukten, waren Samater und Xaddia, in einem anderen Ubax und das Hausmädchen und in diesem Sagal und Medina. In einem herrschte Grabesstille, in einem anderen lärmige Gleichgültigkeit oder Ähnliches und in diesem verstummten die beiden Hauptdarstellerinnen und hatten aneinander Fragen, deren Antworten eines Tages in das Leben all derjenigen eingreifen würden, mit denen sie in dieser Woche in Kontakt gekommen waren. Medina betrachtete sich als die einzige Überlebende einer traumatischen Reise; Sagal hielt sich für die Einzige, die in einem Einbaum über die aufgewühlten Gewässer der Leben anderer Menschen glitt. Cadar und Hindiya waren im Gefängnis, weil sie es gewagt hatten, sich der Herausforderung zu stellen, der zu trotzen das Regime sie aufgerufen hatte. Auch sie befeuchteten ihre Zeigefinger mit der Zunge (wie Kinder es tun) und begegneten ihren Widersachern im Morgengrauen. Nasser und Dulman dagegen boten der Todesstrafe die Stirn, als sie sich entschieden, die Untergrundliteratur des Landes zu verbreiten.
»Hab ich dir schon gesagt, dass dem Wie-heißt-er-noch vierundzwanzig Stunden Zeit gegeben wurde, um das Land zu verlassen?« sagte Sagal. »Wer ist Wie-heißt-er-noch?« »Wentworth George.« Medinas Blick verweilte etwas länger auf Sagals Gesicht, das wie eine Lampe flackerte, deren Flamme sich unter einer kräftigen Windströmung im Zimmer beugte. »Weswegen um Himmels willen?« »Er war ein guter Bekannter von Atta, heißt es, und konnte seinen Mund nicht halten, als er von ihrer plötzlichen Ausweisung erfuhr. Er sagte, er kenne das Motiv hinter der Ausweisung.« »Und das wäre?« »Sie bekomme ein Kind und habe ihm gesagt, von wem es sei.« »Und du bekommst eins von ihm, nicht wahr?« Sagal verschlug es die Sprache. Medinas Blick wurde abgelenkt. Samater und Xaddia standen im Türrahmen. Samaters Anwesenheit erfüllte ihre leeren Augen und lud sie mit Bedeutung auf. Stumm sah sie ihm zu, wie er sich schwach vor Erschöpfung an die Wand lehnte. Mit der freien Hand tastete er nach der von Xaddia. Und Sagal schaute erst Medina, dann Samater an und fragte sich, ob sie gehen sollte – ja, ob nicht alle Gäste gehen sollten. Doch Medinas sanftes Lächeln und Nicken bedeuteten ihr, zu bleiben. Nach einer Weile schloss sich ihnen das Hausmädchen an, das Ubax am kleinen Finger hinter sich herzog. Niemand sprach. Es war wie bei einer Sitzung, zu welcher der Vorsitzende noch nicht eingetroffen war. Oder die Stille war vielmehr so lastend wie im Wartezimmer eines Arztes, wo jeder überzeugt war, sein Leiden wäre schwerer als das der anderen. Und doch hatten alle eine Geschichte zu erzählen. Idil
und der General waren die abwesenden Veranstalter. Idil, die Ubaxs Schlaf mit Albträumen überschwemmte; Idil, die der Grund für dieses Familiendrama war. Wenn Medina Samater nicht verlassen hätte, wenn Samater nicht Minister gewesen wäre, wenn er nicht in die gegenläufigen Strömungen interner Rivalitäten geraten wäre, wenn der Ideologe nicht Wentworth George angeheuert hätte, kompromittierende Aufnahmen von Samater und Atta zu machen, wenn Cadar und Hindiya nicht unter dem Verdacht eingesperrt worden wären, Mogadischus Morgendämmerung mit Parolen gegen das Regime bemalt zu haben, wenn…! Xaddia war gekommen, weil sie den Appell gehört hatte. Medina? Oder meinetwegen auch Samater? Medina entschied, zu warten, bis die Nacht fortgeschritten war, bis alle anderen gegangen waren. Dann würde sie ihre Fragen stellen. Zum Beispiel, ob er wisse, dass Nasser verhaftet worden war und wahrscheinlich jahrelang ohne Prozess im Gefängnis schmachten würde, ein Mann ohne Reisedokumente, von dem nie wieder was zu hören wäre? Es gab nämlich das nationale Sicherheitsgesetz vom 10. September 1970 (Artikel 18), wonach sowohl Nasser wie Dulman zum Tode verurteilt werden würden, weil sie »gedrucktes, gesprochenes oder gesendetes Material oder Informationen verbreitet, ausgestreut oder verteilt hatten, das darauf abzielte, der unumschränkten Gültigkeit der Revolution des somalischen Volkes Schaden zuzufügen«. Würde Dulman kinderlos und (wie sie glaubte) unerfüllt im Gefängnis sterben? Was konnte für sie alle getan werden? Sollte Medina die jemenitische Botschaft aufsuchen? Würde sie wie in einem Kafka-Roman von einer Tür zur nächsten laufen, um das Unbeweisbare zu beweisen? Drei Personen lasteten schwer auf ihrem Gewissen – zwei von ihnen tot und eine so gut wie tot; auf ihrem Gewissen lastete auch Sagal, die sich auf ihren Intellekt und ihren Rat, auf ihre Liebe und ihr Verständnis
verließ; eine Brücke, die sie in ihrer eigenen Fantasie zwischen ihrem Gestern und Ubaxs Morgen geschlagen hatte. Sie schaute Sagal an und empfing ein liebevolles Lächeln; Sagal wirkte so müde wie sie selbst, Sagal, die – wenn auch in anderer Richtung – eine traumatische Reise voller dorniger Abwege und Fallen und Verrat zurückgelegt hatte. Medina fragte sich, ob sie selbst noch eine weitere traumatische Reise vor sich hatte. Sie wusste, sie hatte ganz bestimmt noch einen sehr weiten Weg im Kampf für Nassers Freilassung, für Samaters Rehabilitation und Genesung zurückzulegen. Morgen früh würde sie als Erstes einen Brief an Amnesty International schreiben, doch vorher musste sie jemand finden, der ihr Dulmans Personalien geben könnte, Geburtsdatum, Geburtsort etc. Medina würde so bald wie möglich auch nach Cadars und Hindiyas Personalien fragen. Sie zweifelte nicht daran, dass Xaddia bereit wäre, den Brief persönlich in Rom aufzugeben. Medina würde ihre intellektuellen Tätigkeiten – ihre Übersetzungen und eigenen Artikel – durch diese sozialen Verpflichtungen ergänzen. Mit einer Hand würde sie ihre Übersetzungen redigieren und weiterschreiben, mit der anderen würde sie pflegen, verarzten und die soziale Arbeit leisten, die sie eigentlich immer hatte tun wollen. Ein Gast, war sie noch ein Gast? fragte sie sich. Nein, sie war eindeutig kein Gast mehr im eigenen Land. Sandra, Atta, Wentworth George – ja, letztlich entschied die Zeit. Wenn jemand lange ein Gast gewesen ist, erwirbt er das Recht, die kleinen Veränderungen durchzuführen, welche die Position eines Stuhls betreffen oder das Zuziehen von Vorhängen… Medina als Gastgeberin? Wenn sie aber einen Stuhl umstellte, fiel ihr das Haus auf den Kopf und der Boden unter ihr erbebte mit seismischer Urgewalt. Nein, sie war kein Gast mehr. Sie nahm entschieden und aktiv an der Geschichte ihres Landes teil.
Die Reise zur Akzeptanz von Rollen ist endgültig, dachte sie. Samater. Ubax. Und Medina. Es blieb keine Zeit, die losen Enden der Geschichte zu verknüpfen, allerdings bestand das Bedürfnis, einander mitzuteilen, was geschehen war, ein menschliches Bedürfnis, den Nerv zu treffen… Es würde nicht schwer sein, dies Samater zu erklären, wenn die anderen gegangen waren, es würde nicht schwer sein, ihr Haus wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Sie stand auf und ging sanft und still zu Samater. Sie nahm seine Hand und zog ihn weiter von den anderen weg, ja, von denen, die als Gäste galten; dann winkte sie Ubax, ihnen zu folgen. Die drei gingen davon, weigerten sich, Gastgeber für die Gäste zu spielen, die darauf warteten, mit Erklärungen, Erläuterungen und Exempeln unterhalten zu werden. Medina, Samater und Ubax verhielten sich so, als hätten sie einander nötig – und sonst nichts.