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Kriminalroman
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Man hat Nottrodt gefunden, blutüberströmt, schwerverletzt, dem...
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Kriminalroman
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Man hat Nottrodt gefunden, blutüberströmt, schwerverletzt, dem Tode nahe. Was ist geschehen mit jenem Mann, den viele seit Jahren kannten, denen er aber fremd war wie ein Wesen von einem anderen Stern? Unfall oder Mord? Die Kriminalpolizei erhellt ein Leben, das schwer war und voller Enttäuschungen, das mehr Schatten als Licht barg, doch war es so armselig, daß es nicht mehr gelebt werden wollte? Hauptmann Baltrock und seine Leute lösen durch intensive, aufopferungsvolle Arbeit einen Fall, in dem sich mehrere Verbrechen kreuzen und der die Kompliziertheit des Lebens spiegelt.
Werner Steinberg
Ein Mann namens Nottrodt
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Verlag Das Neue Berlin
Die in diesem Buch zugrunde liegende Handlung ist frei erfunden. Entstehende Ähnlichkeiten mit Personen, Orten und Begebenheiten sind unbeabsichtigt und rein zufällig.
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1972 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/63/72 • ES 8 C Lektor: Sieglinde Jörn Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
1. KAPITEL
1 Die Frau, die fernab in einem Vorort der Kreisstadt B. an einer einsamen Haltestelle auf den vorletzten Bus wartet, vermag auf ihrer Armbanduhr nicht mehr die Zeit abzulesen. Zottiger Wind springt auf, reißt Laub von den Bäumen, den Sträuchern ringsum, es strudelt um die Beine der Frau und siedelt sich in dem Wartehäuschen an, das vorn unterm vorgezogenen Dach offen ist und an den Seiten dick verglast. Die Frau fröstelt, sie tritt in den Schutz des Häuschens zurück; am Himmel braut ein Gewitter, fahl zucken Blitze auf, unaufhörlich, und der Donner klingt gefährlich wie das Geräusch berstender Knochen. Endlich taucht ein schwankender Schein auf der Straße, in den Sträuchern auf, verschwindet, taucht auf; die Frau tut ein paar Schritte vor, dann ist sie enttäuscht, nicht der Bus ist es, sondern ein Motorrad; es schießt plötzlich hervor aus der sanften Beuge, die der Weg kurz vor der Haltestelle macht, schießt, so scheint es der Frau, mit seinem grellen Zyklopenauge genau auf sie zu, so daß sie erschreckt zurückspringt, aber im gleichen Augenblick stockert der Motor, der Scheinwerfer schwankt ein paarmal haltlos hin und her, das Motorrad steht. Die Frau erkennt zwei schwarze Klumpen von Männern, die von dem Motorrad abgestiegen sind. Mühsam schieben sie das Rad ein Stück voran, dabei richtet sich der Strahl der Lampe unversehens so scharf auf die Frau, daß sie die Augen schließen muß, und plötzlich scheint 7
es ihr, als werde der Scheinwerfer absichtlich auf sie gerichtet, sie hat Angst. Sie hat Angst, weil sie sich bewußt wird, wie einsam es hier ist; kein Mensch würde etwas merken, wenn zwei Männer in Lederjacken sie beraubten und erschlügen, in den Gesträuchen würde ihr Körper verschwinden, und dem Busfahrer würde nichts auffallen, niemand vermißt eine Frau, die zufällig um diese Zeit von einem Besuch in die nahe Stadt zurückkehren will. Sie zieht sich in das Wartehäuschen zurück und preßt sich eng an die linke Glaswand. Es erleichtert sie, daß im Augenblick der stiere Schein der Lampe verschwindet: einer der beiden Männer hat sich vor das Fahrzeug gestellt und hält die Gabel mit beiden Händen gepackt, sein Leib fängt das Licht ab. Der andere macht sich an dem Motor zu schaffen, so kommt es ihr jedenfalls vor, er tritt ein paarmal den Starter, es gibt einige harte Knalle, danach ist es um so stiller; um so lauter hört sie den Donner himmelwärts heranrollen und in lautem Krachen verenden. Gleich darauf überschauert die Angst sie erneut, weil der eine nun das Gesicht dicht über dem Scheinwerfer hat, und ihr kommt es vor, als ob der Mann jetzt genau zu ihr hinstarre; am meisten aber ängstigt sie das unheimliche Aussehen des Fremden, der einen Sturzhelm weißkreidig über dem Schädel trägt und darunter eine Brille, die sogar auf die Entfernung und in der Dunkelheit aufblitzt. Die Frau fährt zusammen: Ein Windstoß strudelt eine Blätterfontäne unter das Schutzdach; sie wünscht so sehr diesen ratternden Omnibus herbei, wünscht ihn herbei wie einen rettenden Engel, aber nichts ist zu sehen, nichts ist zu hören, und wieder das Aufblitzen der unheimlichen Brille und dann der fahlbläuliche Schein des Gewitters, der die beiden Männer nebst ihrem Gefährt für Bruchteile 8
von Sekunden aus der Nacht heraushebt und gleichsam auf eine Leinwand wirft, bis der nächste Donnerschlag alles wieder mit Dunkelheit zuschüttet. Da, endlich und unerwartet: Der Motor springt an, die beiden Männer schwingen sich auf den Sattel, und zwei tiefgeduckte Teufel jagen an der Haltestelle vorbei, rasen hinweg, als wollten sie das Licht ihres Scheinwerfers einholen, und der Motorlärm ertrinkt im nächsten heranrollenden Donnerschlag. Sie sind verschwunden, über die Straße fahren die Windstöße, die Bäume und Sträucher machen starke Geräusche, weiß blitzt das Gewitter fast im Zenit. Die Frau atmet auf. 2 Auch am Morgen des 3. November fährt Joseph Pilarzyk mit dem Fahrrad zu seiner Arbeitsstelle, der PGH Holzverarbeitung, Werk drei, obwohl es von seinem Häuschen nur neun Fußminuten bis dorthin sind; aber das ist eine Gewohnheit, die sich in vielen Jahren eingeschliffen hat, Pilarzyk läßt auch im Winter nicht von ihr, wenn er sich mühsam durch Eiswind und Stöberschnee voranmahlen muß. In dem dunklen, nebelüberschwemmten See der Weide links schwimmen fünf verspätete Kühe. Pilarzyk nimmt sie nicht wahr, über seinem Kopf sind ein paar dürftige Sterne gerade noch sichtbar, Pilarzyk schaut nicht hinauf. Er sieht immer nur geradeaus, blickt nicht rechts, nicht links, immer nur geradeaus in den holpernden schwachen gelblichen Lichtkegel der Fahrradlampe. Aber so ist der jetzt fünfundvierzigjährige Pilarzyk immer gewesen: nur geradeausschauend. Er stammt aus Kattowitz, sein Vater war dort Häuer; auch er arbeitete in 9
der Grube, bis er trotzdem eingezogen wurde. Nach dem Kriege machte er sich auf die Suche nach seinen Eltern, die verschwunden waren, und so geriet er nach Mühlen, dem eingemeindeten Vorort von B.; dort fand er die Eltern zwar auch nicht, aber er blieb in der Kate des Häuslers Mande hängen – weil er da Unterkunft fand, weil er arbeiten und sich nützlich machen konnte, denn Mande war als vermißt gemeldet worden, und nicht zuletzt, weil hier die damals achtzehnjährige Gundula lebte, ein blondes scheues Geschöpf. Schon zu jener Zeit entstand in groben Umrissen der Lebensplan Pilarzyks, aber davon verriet er nichts, und auch jene Gundula erfuhr lange nicht, daß sie ein bestimmender Grund für sein Bleiben in Mühlen war. Da die Häuslerarbeit nicht ausreichte, suchte Pilarzyk sich eine Beschäftigung in der PGH Holzverarbeitung, die damals noch Tischlerei Hermann hieß; er erwies sich als ein überaus zuverlässiger, gewissenhafter Mann, und als er später den Wunsch äußerte, trotz seines Alters noch eine ordentliche Lehre zu absolvieren, bekam er die Gelegenheit dazu und rechtfertigte das Vertrauen, indem er die Gesellenprüfung mit Auszeichnung ablegte. Jetzt hielt er den Zeitpunkt für gekommen, der Gundula zu erklären, daß er sie heiraten wolle, und seine nüchternen Darlegungen waren so überzeugend, daß sie ohne Zögern einwilligte; jedermann hielt das für selbstverständlich, Pilarzyk war den beiden Frauen unentbehrlich geworden – und bald galt der beständige Mann auch in seinem Betrieb als unentbehrlich, wo er sich allmählich zum Meister emporarbeitete. Als die Tischlerei Hermann in die PGH eingebracht wurde, trat Pilarzyk der LDPD bei. Wenig später wurde er stellvertretender Vorsitzender der Nationalen Front in 10
Mühlen; auch dieses Amt übte er mit der gelassenen Gewissenhaftigkeit aus, die man an dem wortkargen Mann gewohnt war; inzwischen hatte ihm seine Frau einen Knaben und zwei Mädchen geboren, und er galt als reputabler Familienvater. Im Bewußtsein, dieser Tag werde verlaufen wie jeder andere, tritt sich also Pilarzyk durch den Nebel; er kommt an der Haltestelle vorbei, und als links der Schwarze Weg abzweigt, steigt er vom Rad. Das Nachtgewitter mit dem schrecklichen Regenguß hat dieses Stück der Straße, das durch einen verwilderten Grünstreifen führt, in einen Morast verwandelt; geschickt springt Pilarzyk, das Rad führend, von trockener Stelle zu trockener Stelle, er nimmt sich vor, bald für eine Änderung zu sorgen, es ist an der Zeit. Am Staketenzaun der PGH biegt er nach rechts zum Eingangstor ab, neben dem das kleine steinerne Pförtnerhäuschen steht; er sieht das erhellte Fenster, also erwartet ihn Nottrodt, Paul, schon. Er blickt auf die Uhr, vierzehn vor sechs ist es, das befriedigt ihn; wie stets ist er der erste, und das steht ihm, dem Meister Pilarzyk, gut an. Da stutzt er: Die beiden Flügel des Tors sind mit einem Überwurf verriegelt, der während der Nacht zusätzlich mit einem Holzpflock befestigt wird; den pflegt der Wächter rechtzeitig vor Arbeitsbeginn herauszuziehen, so daß der Überwurf nur hochgehoben zu werden braucht. Heute aber ist das nicht so. Wahrscheinlich habe sich Nottrodt, Paul, in der Zeit geirrt, mutmaßt Pilarzyk, er zwängt mühsam den Pflock zurück und vermag nun erst, die beiden Flügel aufzudrücken. Pilarzyk denkt, Nottrodt sei auch für diesen Posten zu alt geworden und er werde sich wohl nach einem Ersatz umsehen müssen. 11
An seinen Stiefeln hängen Lehmklumpen, sorglich schabt Pilarzyk sie an dem eisernen Fußabtreter vor dem Pförtnerhäuschen ab, dann drückt er die Tür auf und blickt in das Zimmerchen. Es ist winzig quadratisch, mit einem Schiebefensterchen zur Toreinfahrt hin, davor ein kleiner Holztisch mit einer Bürolampe darauf, an der hinteren Wand steht ein Eisenöfchen, das – darüber wundert sich Pilarzyk – kalt ist. Auf dem Tisch liegt aufgeschlagen die Besuchskladde. Die Schreibtischlampe brennt nutzlos. Das Zimmerchen macht einen so gottverlassenen Eindruck, daß es sogar der nüchterne Pilarzyk bemerkt. Er knipst mit unwirschem Finger die Lampe aus. Vor der Tür blickt er auf die Uhr, in wenigen Minuten werden die ersten Arbeiter eintreffen; da trabt der Schäferhund plötzlich zu ihm hin und birgt, ganz ungewohnt, den Schädel an seinem Knie. Pilarzyk ist nicht der Mann, der Hunde krault, er ärgert sich, weil Nottrodt, Paul, das Tier nicht in den Zwinger gesperrt hat. Er wird mit ihm ein ernstes Wort reden müssen; der soll seine Gedanken nicht nur auf die Zigaretten richten, die er doch wieder auf dem Werkgelände verkauft, obwohl ihm das vor geraumer Zeit verboten wurde. Pilarzyk lockt den Hund in den Draht-Zwinger hinter dem Pförtnerhäuschen und wirft unwillig den Riegel vor. Wenn Nottrodt, Paul, nicht im Pförtnerhaus ist, wird er sich wohl im Umkleideraum befinden, also geht Pilarzyk mit schwerem Schritt über den schlauchartigen Hof, bis er zum letzten Gebäude gelangt, dessen Fenster sämtlich erhellt sind; also steckt Nottrodt, Paul, tatsächlich hier, denkt er, und: Er kriegt wirklich eine Abreibung! Als Pilarzyk die Tür zum Flur öffnet, irritiert ihn irgend etwas; er blickt sich forschend um, da nimmt er vor der einen Tür einen dunklen Fleck wahr, sieht aus wie 12
Blut, denkt er, scharrt mit der Stiefelspitze daran herum, aber der Fleck ist eingetrocknet; jedenfalls veranlaßt ihn das, die Tür zu öffnen, und was er nun erblickt, erschreckt ihn, ja, es kommt ihm geradezu unwirklich vor. Hinter dieser Tür ist der Waschraum, es handelt sich um eine provisorische Einrichtung: An der Wand befinden sich drei große, zementene Waschtröge und darüber Einhalb-Zoll-Hähne für kaltes und warmes Wasser; die dicken Rohre einer großen Gastherme sind quer über die Wand lustlos verlegt und mit einem mißfarbenen Ölanstrich versehen. Im Hintergrund, durch eine Bretterwand abgeteilt, sind der Abort und die zwei Pißbecken; die scharfe Würze der Desinfektionsmittel vermag den beizenden Uringeruch nicht völlig zu verdrängen. Das alles ist Pilarzyk so gewohnt, daß er es nicht mehr gewahrt; was ihn mitnimmt, ist auch nicht die längliche eingetrocknete Blutlache vor einem der Waschbecken; was ihn zusammenschauern läßt, sind zwei Kothaufen darin. Dafür weiß er keine Erklärung, das verwirrt ihn, das jagt ihm, dem besonnenen Mann, zum ersten Male seit Jahren Angst ein. Er starrt dorthin, aber er betritt den Raum nicht; instinktiv schließt er die Tür und begibt sich, jetzt in großer Hast, in den Umkleideraum. Dieser Anblick! Pilarzyk vermag sich nicht zu rühren. Vor der Ofenbank liegt Nottrodt, Paul, das Gesicht zur Erde, den einen Arm über das gestapelte Holz gekrümmt, die Hand an ein Scheit gekrallt, als wolle er sich daran festhalten; sein Haar ist mit Blut verfilzt, Blut ist über den Nacken gelaufen und hat sich am grünwollenen Pullover gestaut. Auf einmal ist Nottrodt, Paul, für Pilarzyk nicht mehr der Rentner, der bald ausgedient haben wird; er ist für ihn 13
wieder der Kumpel, mit dem er viele Jahre gemeinsam arbeitete, mit dem er in der Kneipe sein Bier trank, der gelegentlich auch den dritten Mann beim Skat machte – das ist freilich lange her, aber die Erinnerung steigt in ihm hoch; Pilarzyk hat Angst um Nottrodt, Paul, er ist schon bei ihm, kniet neben ihm nieder, faßt den Kopf behutsam, dreht den Oberkörper und bettet Nottrodt auf den Rücken und weiß nicht, ob der schon tot ist oder noch lebt; fassungslos bewegt er Nottrodts Arme auf und nieder, er erinnert sich dunkel an Wiederbelebungsversuche, aber alles scheint nutzlos zu sein, so gibt er es auf, kniet immer noch neben Nottrodt und starrt in dessen Gesicht. Dann sagt er leise: „Paule! Mensch, Paule, komm doch zu dir!“ Als hätte er nur auf diesen Zuspruch gewartet, bewegt Nottrodt, Paul, kaum merklich den Kopf und stöhnt fast unhörbar. Im gleichen Augenblick wird die Tür aufgerissen. Aufspringend schreit Pilarzyk aufgeregt: „Zurück! Zurück, Menschenskind! Keiner kommt jetzt herein!“, und er rennt hinaus, blind zwischen den Arbeitern hindurch, und dabei ruft er: „Niemand geht in den Umkleideraum! Alles draußen bleiben!“ Er stolpert in das Büro hinter dem Pförtnerhaus, poltert gegen einen Stuhl, tappt den Drücker der Tischlampe nieder, greift nach dem rotgeränderten Pappblatt NOTRUFE und wählt die Nummer des Rettungsdienstes. Immerhin vermag sich Pilarzyk so weit zu fassen, daß er seiner Stimme einen festen, befehlsgewohnten Klang geben kann, er sagt: „PGH Holzverarbeitung, Werk drei. Ein Kollege ist die Treppe heruntergestürzt und hat sich schwer verletzt! Kommen Sie sofort! Der stirbt uns unter den Händen.“ 14
Dann hängt er den Hörer auf. Das leise Klicken beendet das Gespräch, plötzlich kann Pilarzyk nichts mehr tun, plötzlich ist er ganz allein, er starrt auf den Schreibtisch, ihm ist, als dringe Nebel in den Raum und mache alles undurchsichtig. 3 Obwohl sieben Uhr bereits überschritten ist, haften über der Autobahn immer noch Nebelschleier, und in der Nähe der Chemiewerke wird das Gespinst so undurchdringlich, daß Zeitfuchs widerwillig das Tempo mindern und das Abblendlicht einschalten muß. Der Leutnant, lang und dünn über dem Steuer hängend, als vermöge er so mehr als nur den weißen Trennstreifen zu erkennen, wirft einen schnellen forschenden Blick zu dem Hauptmann hinüber; aber Baltrock, die Arme verschränkt, lehnt schräg zurück an der Tür und sieht aus, als schlafe er. Unwillkürlich denkt Zeitfuchs: Keine Zeit zum Schlafen, und er tritt so unvermittelt aufs Gaspedal, daß der Wartburg einen Satz tut und Oberleutnant Kortleben, der Kriminaltechniker, im Fond erschreckt zusammenzuckt. Zeitfuchs ist selbst erschrocken, nimmt sofort behutsam Gas weg und sieht schlechten Gewissens abermals zu Baltrock hinüber, doch der Hauptmann scheint nichts bemerkt zu haben, so daß Zeitfuchs denkt: Gesegneter Schlaf! Endlich hat der Wagen den Nebel durchdrungen, rechts und links der Autobahn dehnen sich unterm graugemaserten Himmel flach und eintönig die Felder, punktiert allein von den mächtigen Starkstrommasten, zwischen denen die Leitungen schwerbäuchig niederhängen. Jetzt rekelt sich Baltrock, und nach einiger Zeit 15
bemerkt er: „Das Licht kannst du ausmachen, Claus“, und: „Du kennst doch B.?“ Seltsame Koppelung zweier Dinge, unvermitteltes Nebeneinander; aber das ist Baltrocks Art, und auf jeden Fall weiß Zeitfuchs spätestens jetzt, daß der Hauptmann nicht schlief, sondern sich mit der Aufgabe beschäftigte, die vor ihm liegt. „Ich bin dort geboren“, erwidert Zeitfuchs und hat dabei ein Gefühl, als sei das ein Verdienst. „Das ist mir bekannt“, meint Baltrock, dehnt die Worte und schränkt ein: „Aber das heißt nicht, daß du den Ort kennst und die Menschen dort.“ „Ich denke schon“, sagt Zeitfuchs und wendet den Blick nicht mehr von der Autobahn. „Dann ist es gut.“ Mehr äußert Baltrock zunächst nicht, und Zeitfuchs wartet doch darauf, denn er möchte von dem Fall, der sie erwartet, mehr erfahren, er brennt darauf. Leutnant Zeitfuchs ist erst seit knapp sechs Monaten bei der Morduntersuchungskommission, und er wünscht sich hier ebenso hervorzutun, wie er es auf dem Sachgebiet „Leben und Gesundheit“ getan hat; dort wurde er von seinen Kameraden „der Spürhund“ genannt, und obwohl er diese Bezeichnung, kam sie ihm zu Ohren, mit einer wegwerfenden Handbewegung abzutun pflegte, war er insgeheim doch stolz darauf, denn er empfand das gutmütige Spottwort als Auszeichnung, und tatsächlich hatte er es seiner überdurchschnittlichen Ermittlungsarbeit, besonders in Selbstmordfällen, zu verdanken, daß er zur MUK versetzt wurde. Was er nicht ahnte, war, daß Baltrock an dieser Berufung nicht unschuldig war. Dem Hauptmann war eines Tages das Ergebnis aufgefallen, das Zeitfuchs in einem be16
sonders verworrenen Fall zutage gefördert hatte. Von da an beobachtete er den jungen Mann unauffällig, und er registrierte befriedigt die Hingabe, mit der der Leutnant sich seinen Aufgaben widmete – ein Aufgehen im Beruf, das dem Hauptmann erst in seinen späteren Lebensjahren zu eigen geworden war. Als bei der MUK eine Planstelle frei wurde, wies Baltrock auf Zeitfuchs hin, und er mochte dabei den geheimen Gedanken gehabt haben, daß der Leutnant in dieser Arbeit an seiner Seite reifen würde und eines Tages, wenn es soweit war, seine Stelle einnehmen könnte. Die Sache in B. nun ist die erste, bei der Zeitfuchs von Anfang an dabeisein wird, das ist ein Glücksfall, so empfindet der Leutnant es; denn möglicherweise kommt es ihm zugute, daß B. ihm von Kindheit an vertraut ist, hier ist er zur Schule gegangen, hier hat er leidenschaftlich Sport getrieben, hier ist er seiner ersten Liebe begegnet, er braucht keinen Stadtplan, mit geschlossenen Augen würde er sich in den Straßen und Gassen und Höfen und Winkeln zurechtfinden, da gibt es für niemanden, so denkt er mit leisem Triumph, ein Versteck, das er nicht aufstöbern würde … Tatsächlich ist B. mit seinen 28 000 Einwohnern leicht überschaubar. Die Kreisstadt liegt mitten im Flachland, nur sechs Kilometer von der Autobahn entfernt. Am Abzweig wird auf B. nur mit einem kleinen blauen Schild verwiesen, der Hauptverkehr fließt in entgegengesetzter Richtung zu den Chemiewerken, sie sind das Wichtigere. Immerhin kommt B. davon einiges zugute; viele Einwohner sind dort beschäftigt, und die Landstraße zur Autobahn und weiter zu den Chemiewerken ist in gutem Zustand. B. selbst verfügt nur über einen mittleren Maschinenbaubetrieb, der überaltert ist, damit ist wenig Staat zu 17
machen, und so liegt die Stadt außerhalb der Schwerpunkte des Baugeschehens, sie erweckt auch heute noch den Eindruck einer vertrödelten Kleinstadt, und außer der Modernisierung einiger Geschäfte spielt sich hier nicht viel Neues ab. So anheimelnd und vertraut das auch wirken mag – es hat seine Nachteile, und Zeitfuchs weiß darum. Wo beispielsweise sollen sich die jungen Leute die Zeit vertreiben? Das einzige Kino bietet wenig Anreiz, ein Film ist in zwei Stunden abgelaufen, was dann? Die Stadt, so meint Zeitfuchs, ist zu verschlafen. Während er den Wagen von der Autobahn behutsam herunterdreht und auf die apfelbaumbestandene Landstraße lenkt, denkt er, dies sei jetzt nebensächlich. Gleich wird rechts Kreßbergen auftauchen, der zweite eingemeindete Vorort B.s, eine Handvoll dörflicher Einfamilienhäuser. Dann folgt der Busch, ein ziemlich wirres und ungepflegtes Stückchen Wald, das im Sommer und Herbst kreuz und quer nach Pilzen durchstreift wird. Und zwischen dem Busch und dem eigentlichen Stadtrand siedeln sich Schrebergärten an, einige der Holzbüdchen sind kunstfertig in buntfarbige Winzigvillen verwandelt worden. Zeitfuchs kennt das Bild auswendig, er braucht keinen Blick darauf zu verwenden, er weiß: die schön geteerte Straße wird dicht hinter dem Ortseingang von einer Unzahl krummer, schmaler Gassen aufgefangen, sie zersplittert an den Häusern wie ein Wildbach an Felsbrocken, die Bürgersteige müssen durch wichtigtuerische Geländer geschützt werden. Der Leutnant vermutet, sie würden zum Markt fahren; dort befindet sich nicht nur das Rathaus, eingezwängt zwischen Wohnhäuser rechts und links, sondern ihm gegenüber auch das nüchterne VP-Kreisamt, das in seltsam 18
anmutendem Gegensatz steht zum Stadtcafé mit den beiden zu kleinen schmiedeeisernen Laternen am Eingang und der prächtigen Südseelandschaft an den Wänden: jadegrüne Palmenbüschel in einem waschblauen Himmel, ein Werk der ortsansässigen PGH Picasso. Indessen irrt Zeitfuchs; denn gerade noch rechtzeitig rekelt sich der Hauptmann aus seiner bequemen Haltung auf und bemerkt: „Wir fahren Richtung Mühlen, dort ist der Tatort!“ Er setzt hinzu: „PGH Holzverarbeitung, Werk drei, kennst du die, Claus?“ Der Leutnant nickt und lenkt also nicht zum Markt, sondern rechts ab; der Wagen hoppelt unwillig durch ein paar Schlaglöcher, Zeitfuchs muß die Geschwindigkeit mäßigen. Er überlegt, ob er fragen soll; er beschließt, es nicht zu tun. Es ist auch nicht notwendig, denn Baltrock sagt nachdenklich wie zu sich selbst: „Ich weiß nicht viel mehr als du. Nach der Meldung könnte es sich um ein Gewaltverbrechen handeln. Möglich wäre allerdings auch ein Unfall mit Todesfolge.“ Und er wünscht sich sehr, der Vorfall möge sich harmlos aufklären; denn daß in diesem Lande immer noch Menschen getötet werden, erbittert ihn. Ist den Räubern und Mördern nicht der Boden entzogen? Also muß es gelingen, Gewalttaten auszurotten, und er, der Leiter der MUK, verbucht jeden Fall, bei dem er sich nicht auf die Suche nach einem Täter machen muß, als einen Sieg. Also hofft er auch diesmal, daß er seinen Bericht mit dem Wort „Unfall“ abschließen könne. Außerdem verspürt er wahrhaftig keine Lust, zwei Wochen oder noch länger sich in dieser Kleinstadt aufhalten zu müssen. Er mag sich so straff geben, wie er will, er spürt die Müdigkeit in allen Gliedern, zwei Monate hat er gebraucht, bis der letzte Mord aufgeklärt 19
werden konnte, ein vertracktes, ein verschleiertes Verbrechen, und es war keineswegs nur die körperliche Anstrengung gewesen, die ihn mitnahm, es war vor allem die psychische Belastung, die ihn erschöpfte. Er hatte gehofft, einmal „normalen Dienst“ tun zu dürfen, aber was ist für einen Leiter der MUK schon „normaler Dienst“? Baltrock verspottet sich selbst, er denkt: Das, was andere Leute für anomal halten. Er denkt es ohne Erbitterung, er denkt es mit leiser Selbstironie. Die Stadtgassen rinnen wieder zusammen zur geteerten Landstraße, Zeitfuchs kann beschleunigen. Die Windschutzscheibe körnt sich mit winzigen Regentropfen, der Wischer tackt emsig. Auch das noch, denkt Baltrock, und er sagt: „Hoffentlich sind nicht alle Spuren zertrampelt.“ „Spuren“, erwidert Zeitfuchs verbissen, „die finden sich immer!“ Darauf antwortet der Hauptmann nichts. Die Straße krümmt sich in weitem Bogen. Sie führt durch Felder, in die gleichsam Tümpel von Buschwerk und Bäumen eingelassen sind, und hinter einem solchen Tümpel wird Mühlen sichtbar, allerdings nicht das frühere Dorf Mühlen, sondern eine Neubaustelle; dort entstehen fünfstöckige Blocks, einige Gebäude sind bereits fertiggestellt und bezogen, andere befinden sich noch im Rohbau, ein Kran schwenkt elegant darüber hin, schwenkt wieder zurück; diese Bauten sind ein Verdienst der Chemiewerke, hier werden Mitarbeiter mit ihren Familien angesiedelt, fern der giftigen Dunstglocke, unter der selbst die Bäume krepieren. „Dort ganz nahebei ist die PGH“, erläutert Zeitfuchs. Der Hauptmann richtet sich aufmerksam nach vorn. Er fragt: „Hier läuft eine Buslinie entlang?“ 20
„Ja“, bestätigt Zeitfuchs. Danach ist wieder Schweigen. Der Hauptmann dreht sich zu dem Kriminaltechniker um, ohne etwas zu äußern. Mit Oberleutnant Kortleben arbeitet er seit Jahren zusammen, und er schätzt ihn, den praxiserfahrenen Mann, der am Tatort voller Einfälle ist, ein findiger Kopf, dem keine Spur entgeht; Baltrock nickt ihm freundschaftlich zu, man muß ihn kennen, denkt er, man muß ihn ermuntern; er weiß, daß Kortleben für ein paar anerkennende Worte dankbar ist, weil sein Äußeres leicht dazu verführt, daß er unterschätzt, daß seine Arbeit nicht genügend gewürdigt wird: ein hagerer, ein wenig vornübergeneigter Mensch mit blasser, ungesunder Gesichtsfarbe, einer glatten Stirnglatze und einer altmodischen Nickelbrille vor den kurzsichtigen Augen. Kortleben indessen bemerkt den stummen Zuspruch überhaupt nicht, er ist mit seinem Fotoapparat beschäftigt, und wenn er sich einer Sache widmet, nimmt er ringsum nichts anderes wahr. In diesem Augenblick deutet der Leutnant mit dem Kopf nach rechts. „Dahinter steckt die PGH.“ Mißbilligend mustert Baltrock den verwüsteten Grünstreifen, den der Herbst gelichtet hat; es ist nur noch ein Gewirr von Blättern, Ästen, Stämmen auf morastigem Untergrund, durchschauert von diesem feinen Nebelregen. Gut für einen lauernden Mörder, denkt der Hauptmann widerwillig, schlecht für einen Spurensucher. Zeitfuchs bremst den Wagen und dreht das Steuer scharf ein, sie sind am Schwarzen Weg angelangt, keine Tafel nennt den Namen, der Schlamm spritzt aus den Lachen bis an die Seitenfenster, die im Nu von den Dreckpartikeln gesprenkelt werden; eine verdammt un21
gemütliche Ecke, denkt Zeitfuchs, der Wagen schaukelt sich voran, und die Karosse knallt auf die Stoßdämpfer. Wenig später hält er vor der Pforte. Der Hauptmann sieht die Menge Menschen im Hof herumstehen, und während er rasch aussteigt, murmelt er: „Da gehen sie hin – unsere Spuren!“ Doch im gleichen Augenblick ist er der Mann, der befehlsgewohnt ist, straff aufgerichtet, das Gesicht verschlossen, die Augen durchdringend, aufmerksam, abwägend. Dann steht Oberleutnant Schnurk vor ihm, den das VP-Kreisamt mit der Sicherung des Tatorts beauftragt hat; Baltrock sieht auf ihn hinunter, Schnurk ist viel kleiner als er, er ist dünn und trägt ein mißgelauntes Gesicht zur Schau, weil er an einer Magenschleimhautentzündung leidet. Der Hauptmann sagt: „Wir sehen uns zuerst die Leiche an.“ Schnurk erwidert sofort: „Eine Leiche ist ja nicht da!“ Der Hauptmann ist verblüfft – und nicht nur der Hauptmann. 4 Während der ortskundige Volkspolizist, den sich Baltrock von Schnurk als Fahrer hat abstellen lassen, wenig später den Wagen durch die Lachen peitscht, zurück auf die Landstraße und dann der Stadt zu, hält der Hauptmann die Augen geschlossen und überdenkt die Anordnungen, die er innerhalb weniger Minuten gegeben hat. Er ist nun über zwölf Jahre bei der Morduntersuchungskommission und seit mehr als acht Jahren deren Leiter, und in dieser langen Zeit und bei den unterschiedlichsten Fällen hat er gelernt, daß es ebenso wichtig ist, zurückzudenken wie voranzudenken; 22
die ersten Steine müssen richtig gelegt werden, das Fundament muß stimmen und tragen, sonst kann später das ganze Gebäude zusammenbrechen. Also überprüft er in Gedanken noch einmal alles, was er in der Raschheit des Geschehens mit beinahe automatischer Sicherheit entschieden hat. Er hatte, gefolgt von Zeitfuchs und Kortleben, der seine Geräte schleppte, kaum den Hof betreten, als sich aus der Menge der Männer und Frauen ein mächtiger Mensch löste, der mit sicheren und schweren Schritten auf ihn zukam, sich ihm in den Weg stellte und mit auffällig dröhnender Stimme sagte: „Wronski. Ich bin der Werkleiter.“ „Sehr schön“, erwiderte Baltrock flüchtig, „halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung, wir werden Sie gleich benötigen“, und ebenso flüchtig fügte er hinzu: „Ich bin Hauptmann Baltrock und leite die Ermittlungen.“ Nach alter Gewohnheit versuchte der Hauptmann sozusagen aus den Augenwinkeln, Wronski „einzufächern“, wie er es bei sich selbst nannte, das wollte ihm nicht gelingen, Wronski unterschied sich von allen Leitern ähnlicher Betriebe: Ungerührt stand er mit seiner massigen Gestalt vor Baltrock, überragte ihn um fast einen Kopf, schob ihm ungeniert seinen starken Bauch entgegen, über dem der Hosenbund straff und hochgezogen saß; dabei starrte er den Hauptmann aus seinen hellgrauen Augen an, die zwischen den überhängenden Lidern und den schweren Tränensäcken fast verschwanden; die fülligen, leicht rotgeäderten Wangen hingen schlaff herunter und gingen in das Fettpolster eines Kragens von Doppelkinn über, und fast komisch mutete es den Hauptmann an, daß in diese mächtigen Wangen ein winziger Kußmund eingebettet war, der grollende Töne von sich zu geben vermochte. 23
Die vertröstende Bemerkung Baltrocks hatte den Koloß nicht beschwichtigt; ungerührt sagte er: „Sehen Sie sich das Chaos an, die Leute stehen herum und können nicht arbeiten, und mir brennt der Plan auf den Nägeln.“ Erläuternd fügte er hinzu: „Wir machen die Einbauküchen für die Neubauten drüben …“, er wies mit dem Daumen irgendwohin über die Schulter, „die Leute warten auf die Wohnungen, es hängt mit von uns ab, wann sie einziehen können.“ Hinter sich hörte der Hauptmann die ungeduldige Stimme von Zeitfuchs: „Halten Sie uns doch bitte nicht unnötig auf!“, und er hörte ihn murmeln: „Das ist nicht unser Bier!“ Diese Bemerkung ärgerte Baltrock; natürlich, fand er, war auch das ihr Bier! Und wenn ihn das Auftreten Wronskis zuerst gestoßen hatte, so wußte er plötzlich: Das war geschauspielert! Der gab sich als Lokomotive, um alle Widerstände niederzuwalzen, und das tat er nicht nur für seinen Betriebsteil, nicht nur für den Plan, sondern weil er Zusammenhänge sah! Dieser Mann, der die Fünfzig sicherlich überschritten hatte, packte seine ganze Lebenserfahrung, seine Menschenkenntnis in die Art seines Auftretens: Diese kleinen Augen konnten zweifellos nicht nur starren – sie konnten auch verschmitzt blicken. Der Hauptmann lächelte begütigend – so, als legte er dem anderen vertraulich die Hand auf die Schulter – und sagte: „Seien Sie versichert, auch uns liegt daran, schnell fertig zu werden. Und trotz allen Ärgers: Halten Sie uns die Leute vom Halse, bis wir den Tatort freigeben, ja?“ Und da er neben dem Ziertüchlein am Jackenaufschlag das Abzeichen entdeckt hatte, fügte er hinzu: „Genosse.“ 24
Das war gut gegangen, denkt Baltrock jetzt und reibt unwillkürlich seine Stirn; in Wronski würde er einen Verbündeten haben, Verbündete waren immer gut. Ein paar Schritte weiter, so erinnert er sich, hatte er Zeitfuchs auf den Schäferhund in dem Zwinger aufmerksam gemacht und gesagt: „Stellen Sie fest, was mit dem los war!“ Ja, und dann hatten sie flüchtig den Tatort gemustert, die Blutspuren, die beiden Kothügel, das aufgerissene Spind, er hatte angeordnet, daß die Spurensuche von innen nach außen verlaufen sollte; das schien ihm angesichts der Situation das aussichtsreichste, weil, wie er vermutete, der Regenguß und die Menschen außerhalb des Gebäudes die meisten Spuren zerstört hatten; er hatte Kortleben angewiesen, die Aufnahmen zu machen, und Zeitfuchs beauftragt, soweit wie möglich zu klären, wie der verletzte Nottrodt aufgefunden worden war, und dazu den Pilarzyk zu hören; und er hatte sich entschieden, selbst zu prüfen, ob von Nottrodt noch etwas zu erfahren wäre. Über Katzenkopfpflaster hoppelt der eilige Wagen wie ein Hase, sie nehmen keine Rücksicht darauf, daß die Straße gesperrt ist, denn es kann auf Minuten, es kann auf Sekunden ankommen – und hier ist auch schon das Krankenhaus, ein türmchenverzierter dunkelroter Klinkerbau aus den neunziger Jahren. Der Fahrer tritt auf die Bremse, der Wagen verneigt sich tief; noch ehe er zurückschwingen kann, ist Baltrock aus dem Schlag geschlüpft und die steilen Stufen der Klinik hinaufgestürmt. Samtstille und antiseptischer Geruch empfangen ihn, jetzt denkt er nur noch voran, denkt nicht mehr zurück an das, was in der PGH inzwischen geschehen mag. 25
Zeitfuchs steht dort gerade mit Pilarzyk in der Tür des Umkleideraums. Er deutet auf die Ofenbank und fragt: „Von hier aus haben Sie also Nottrodt gesehen?“ „Ja“, erwidert Pilarzyk und blickt zu dem langen Leutnant auf. „Was haben Sie da gedacht?“ forscht Zeitfuchs. „Ich weiß nicht“, sagt Pilarzyk hilflos, „ich dachte nur, daß er sich verletzt haben müßte.“ „Und dann sind Sie hingelaufen?“ „Ja.“ „Sie hätten sich doch sagen müssen, daß es sich um ein Verbrechen handeln könnte; es wäre richtiger gewesen, die VP anzurufen, finden Sie nicht?“ „Ich hörte ihn stöhnen. Und da mußte ihm schnell geholfen werden.“ „Die VP hätte Ihnen schon die richtigen Anweisungen erteilt“, sagt Zeitfuchs unzufrieden. „Und was haben Sie dann getan?“ „Ich bin nach vorn gerannt und habe vom Büro aus den Rettungsdienst angerufen; die sind bald gekommen und haben Nottrodt auf einer Trage abtransportiert.“ „Da hat er noch gelebt?“ „Ja, ich glaube, da hat er wohl noch gelebt.“ Zeitfuchs würde am liebsten laut stöhnen. Im Geiste sieht er, wie die Träger sich am Tatort zu schaffen machten, ahnt, daß sie möglicherweise kostbare Spuren zerstört haben; aber er zwingt den Unwillen nieder, er sagt: „Danach haben Sie die Volkspolizei benachrichtigt?“ Pilarzyk schüttelt den Kopf. „Auf den Gedanken bin ich überhaupt nicht gekommen. Ich habe geglaubt, er ist die Treppe hinuntergefallen und hat sich dann herumge26
schleppt, ich konnte mir nur nicht erklären, wieso …“ Er schweigt, er muß an die beiden Kothügel im Waschbecken denken, aber er vermag darüber nicht zu reden. Und muß es doch, denn der Leutnant forscht unerbittlich und kühl weiter: „Haben Sie sonst nichts Auffälliges bemerkt?“ „Mir ist nur aufgefallen, daß die Verriegelung am Tor nicht gelöst war.“ „Das haben Sie schon gesagt, Herr Pilarzyk. Sonst nichts?“ „Nein.“ „Der Hund war im Zwinger?“ „Nein, der ist herumgelaufen.“ Pilarzyk wartet auf weitere Fragen; doch der Leutnant sieht nachdenklich vor sich hin, zupft an seiner Unterlippe und schweigt. Alles, so meint er, deutet zunächst darauf hin, daß es sich tatsächlich um einen Unfall gehandelt hat: das verriegelte Tor, der Hund frei auf dem Gelände … diese Tatsachen bestärken die Annahme. Daß ein Fremder eingedrungen sein könnte, erscheint wegen des streunenden Hundes unwahrscheinlich; ein mit den Örtlichkeiten Vertrauter wiederum hätte die Torverriegelung gelöst. Andererseits: Was hatte das geöffnete Spind zu bedeuten, aus dem das Hutbrett herausgenommen war? Welchen Grund sollte Nottrodt gehabt haben, so etwas zu tun? Er atmet tief auf, zupft nicht mehr an seiner Lippe und sagt eindringlich, wobei er Pilarzyk unverwandt von oben her anstarrt: „Sie sind jetzt unser wichtigster Zeuge, Herr Pilarzyk. Seien Sie sich dessen bewußt! Auf Ihr Wort kommt es an – und auf Ihre Erinnerung! Wir werden Sie später noch genauer hören, versuchen Sie in der Zwischenzeit, Ruhe zu gewinnen und sich genau an jede Einzelheit zu entsinnen, an alles, was Sie gesehen, gehört, 27
bemerkt haben. Erzählen Sie uns auch das, was Ihnen unwichtig erscheint. Ja, und noch eins: Reden Sie nicht mit anderen über die Sache, das stiftet nur Verwirrung.“ Und während er wieder hinüber zu den blutbeschmierten Holzstücken bei der Ofenbank schaut, sagt er: „Wollen wir hoffen, daß Nottrodt selbst eine Aussage machen kann, die Licht in die Sache bringt.“ Das ist der Augenblick, da endlich der Chirurg Dr. Walter im Gang des Kreiskrankenhauses auftaucht und mit wehendem weißem Mantel auf Baltrock zueilt, der auf alle Formalitäten verzichtet und hastig fragt: „Kann ich Herrn Nottrodt jetzt sprechen?“ „Nein“, erwidert der Arzt, „jetzt nicht und nie. Vor fünf Minuten Exitus!“
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2. KAPITEL
1 Als Baltrock aus der Stadt zurückkehrt, bemerkt er vor der PGH bereits den Wagen des Gerichtsmediziners Dr. Salanda; Salanda mußte also kurz nach ihm seine beiden Assistenten eingesammelt haben und aus der Bezirksstadt aufgebrochen sein. Daß Salanda anwesend ist, erleichtert Baltrock; der Arzt zieht den Tatort in die Überlegungen ein, er verengte sein Blickfeld nie allein auf den Verletzten oder Toten, und der Hauptmann weiß aus Erfahrung, daß er dadurch von dem Mediziner Hinweise über den Tathergang erhalten kann, die ihm selbst sonst leicht verborgen bleiben würden. Baltrock hatte sich in der Klinik nur kurz aufgehalten; er hatte sich zu dem Toten führen lassen, um wenigstens ein äußeres Bild zu gewinnen: Der alte Mann lag friedlich und weiß gebettet da, den Schädel mit Binden umwickelt, der Hauptmann hörte den Arzt neben sich murmeln: „Ziemlich scheußliche Verletzungen, vielleicht hätten wir ihn trotzdem durchgebracht, aber es hat zu lange gedauert, bis er gefunden wurde, der Blutverlust war erheblich, da ist der Kreislauf zusammengebrochen, er ist mir fast unter dem Messer geblieben.“ Als ihn der Hauptmann, bereits wieder auf dem Gang, nach dem Zeitpunkt fragte, zu dem die Verletzungen entstanden sein könnten, zuckte der Chirurg die Schultern. „Schwer zu sagen. Nach dem Zustand der Wunden zu urteilen, sind zweifellos ein paar Stunden vergangen, bis der Verletzte gefunden wurde, aber ob das vier oder sieben waren …“ 29
Er schwieg. Baltrock hatte sich bedankt und war zum Volkspolizei-Kreisamt gefahren; da ihm klar war, daß bei der großen Zahl der Tatortberechtigten vermutlich umfangreiche Ermittlungen notwendig sein würden, hatte er vereinbart, daß drei Kriminalisten für ihn abgestellt würden, auch eine Sekretärin, um die Protokolle aufzunehmen. Weiter hatte er einen Fährtenhund angefordert und schließlich noch um zehn Volkspolizisten gebeten, kurzfristig nur, die das umliegende Gelände nach Spuren absuchen sollten. Das alles war reibungslos verlaufen. Es war auch dafür gesorgt, daß ihm im Kreisamt ein Raum zur Verfügung stand. Salanda ist offensichtlich mit der Begutachtung des Tatorts fertig; er lehnt in der offenen Tür, die Hände in den Hosentaschen, als der Hauptmann in den Hof der PGH einbiegt, und blickt Baltrock entgegen, der, noch bevor er den Mediziner erreicht, sagt: „Tot!“ Salanda seufzt: „Sie machen mir nur Scherereien, Hauptmann – ganz abgesehen davon, daß Sie Ihre Morde ja auch endlich einmal am Tage geschehen lassen könnten und nicht immer nachts. Ich bin Langschläfer aus Passion, Sie berauben mich meiner Leidenschaft!“ Dr. Salanda scheint strahlender Laune zu sein, er windet vergnügt die auffallend langen schmalen Hände umeinander. Dabei neigt er Baltrock den zu kleinen, runden Kopf mit den weiten Gelehrtenecken schief entgegen, als wolle er begierig auf dessen Äußerungen lauschen, doch das hat nichts zu bedeuten, das weiß der Hauptmann, so steht Salanda immer da, und wenn er nicht die Hände umeinanderwindet, zieht er an seinem Ohrläppchen oder streicht über den sorglich gepflegten Menjoubart, dessen weißblonde Haare zu spärlich sind, 30
als daß sie dem Mediziner ein betont männliches oder filouhaft-jungenhaftes Aussehen verleihen könnten. Baltrock weiß, daß er auf den Ton Salandas eingehen muß, und sagt: „Sie sollten Kefir trinken, Doktor, das stärkt!“ Dann aber setzt er sofort hinzu, und damit kommt er zur Sache: „Halten Sie einen Unfall für möglich?“ „Das kann ich Ihnen endgültig erst sagen, vielleicht sagen, wenn ich den Kadaver auseinandergenommen habe“, erwidert Salanda. Baltrock ist diese Ausdrucksweise gewohnt, und er sieht sie ihm nach; er weiß, daß Salandas Berufsweg schwierig war, ihm wurde nichts geschenkt. Sein Abitur fiel in eine Zeit, als auf die soziale Herkunft besonderes Augenmerk gerichtet wurde, und Salandas Vater war Kaufmann gewesen. Deshalb konnte er zunächst nicht studieren. Ungerührt sein Ziel im Auge behaltend, legte er eine kaufmännische Lehre ab, erlangte als streitbarer FDJler mit seiner Gruppe einen Sieg gegen den Betriebsleiter, bekam einen Klecks in die Kaderakte, durfte dann doch studieren, kargte sich mit einem kleinen Stipendium durch die Jahre, verzichtete auf die vielfältigen Möglichkeiten des großen Gelds, die sich ihm später boten, sondern verlegte sich eigensinnig auf die Gerichtsmedizin, weil, wie er dem Hauptmann einmal in einer entspannten Stunde sagte, Verbrechen Schandflecke der Gesellschaft seien und er Schandflecke nicht ausstehen könne – tatsächlich, weiß der Hauptmann, gibt es Leute, die Salanda unausstehlich finden, er aber tut es nicht. Er sieht ihm sogar die saloppen Redensarten nach, die ihm selbst nicht liegen; denn, auch das weiß er, dahinter steckt mehr, steckt ein Stückchen Weltanschauung: Er könne es nicht leiden, hatte ihm Salanda damals 31
gestanden, wenn um Tote soviel Wesens gemacht würde, ihm scheine es, als wolle die Umwelt damit nur sich selbst salvieren, dem Toten nütze das wahrhaftig nichts; viel mehr hätte es ihm genützt, hätte man sich zu seinen Lebzeiten so um ihn gesorgt, wie man jetzt vorgebe, das zu tun. „Immerhin“, setzt Salanda hinzu, als er Baltrocks Enttäuschung bemerkt, „würde ich Unfall bei meinen Erwägungen nicht ausschließen. Es erscheint mir durchaus möglich, daß der Mann von der Treppe gestürzt ist und sich dabei die beiden schweren Kopfverletzungen nebst Gehirnerschütterung zugezogen hat. Er könnte dann in den Waschraum getaumelt sein, vielleicht, um das Blut abzuwaschen, vielleicht, weil er sich entleeren wollte, diesen Drang hat er ja offenbar gespürt, hat es dann aber nicht mehr bis zum Abort geschafft, der Kot könnte also durchaus von ihm stammen. Dafür spricht, daß das Waschbecken benutzt wurde, also eine Stelle, die sich rasch reinigen läßt. Gewalttäter, Einbrecher verunreinigen im Überschwang eines Siegesgefühls zwar auch häufig den Tatort, aber dann mit dem Ziel der ausgesprochenen Verschmutzung. Danach könnte dann unser Mann zu seinem Spind gewollt haben, hat es aber nicht mehr gefunden, sich in das Nebenspind verirrt, dort alles heruntergerissen, ist über die Ofenbank gestürzt und hat sich erneut verletzt, möglicherweise hat er sich noch ein paarmal aufgerappelt und dabei diese vielen Verschmierungen angerichtet. So, das wär’s!“ Salanda verzieht das Gesicht: „Und nun an die Arbeit!“ Schon eilt er durch den Hof, gefolgt von seinen beiden Assistenten, und Baltrock steht nachdenklich da, sieht zu, wie Kortleben, unterstützt von Zeitfuchs, nach Spuren sucht, und fragt hinüber: „Sind die Aufnahmen fertig?“ 32
Kortleben hält inne, nickt ihm zu. „Im Innenraum, ja. Draußen muß ich noch fotografieren. Falls ein Fluchtweg festgestellt wird, will ich auch diese Standpunkte verwenden.“ „Na ja, Fluchtweg“, sagt der Hauptmann, „noch dürfen wir Unfall nicht ausschließen. Wenn aber wirklich Mord vorliegt“, setzt er bedenklich hinzu, „können wir nur das Beste hoffen. Bei dem Regen in der Nacht und bei dem Geniesel immerfort – ich fürchte, wir werden nicht viel finden. Hast du übrigens feststellen können, ob Nottrodt vor oder nach dem Gewitter hier hereingekommen ist?“ Kortleben legt den Kopf schief und mustert durch seine Nickelbrille den Fußboden, als könne er gerade jetzt etwas davon ablesen; indessen ruft er sich nur in Erinnerung zurück, welche Untersuchungen er hier vorgenommen hat, er sagt langsam, mit seiner zu leisen Stimme: „Feuchtigkeit hat sich überall auf dem Boden gefunden, das bedeutet gar nichts, denk nur an die Krankenträger, und Fußabdrücke ließen sich nicht feststellen, auch bei schräger Beleuchtung nicht. Vielleicht findet sich an Nottrodts Kleidung noch etwas, hast du sie mitgebracht?“ Baltrock hatte sowieso wenig Hoffnung gehabt, er ist nicht enttäuscht, er sagt: „Natürlich!“ und fragt: „Was hast du überhaupt gesichert?“ Er ist darauf gefaßt, nun ein paar Minuten lang eine mit näselnder Stimme vorgetragene Aufzählung anhören zu müssen, denn Kortleben ist genau, und das ist sein Vorzug! Ein Fremder würde Kortleben vermutlich für einen Langweiler halten, der Hauptmann weiß indessen, das ist er nicht, vielmehr ist Kortleben darauf geeicht, auch den geringsten Zeichen seine ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden und das Unsichtbare sichtbar zu machen. Und sosehr Baltrock 33
wünscht, es möge sich um keinen Mord handeln, sowenig läßt er sich durch diese Hoffnung in der Untersuchung des Falles beirren. Kortleben fährt mit dem rechten Zeigefinger unter die Brille und reibt sich angestrengt den Augenwinkel, wobei er die blassen Brauen hochzieht. „Von der Blutlache am Fußboden bei der Ofenbank, vom Blut unterm Waschbecken habe ich Proben genommen, ebenso von den beiden Kothaufen und von einer schleimigen Flüssigkeit, bei der es sich wahrscheinlich um Erbrochenes handelt. Bei der Ofenbank lag eine blutverschmierte Tabaksdose, sie war dort nicht hingelegt worden, sondern hingefallen; die Dose und ein blutiges Holzscheit habe ich gesichert, ferner ein paar Blutstropfen vom Fensterbrett, ebenso die Blutstropfen auf den Treppenstufen und an dem Nagel, an dem er sich wohl gerissen hat, als er taumelte. Das Institut für Gerichtsmedizin muß feststellen, ob in allen Fällen Blut, Kot und Schleim vom Opfer stammen. Übrigens fanden sich nirgendwo Blutspritzer, die auf gewaltsame Einwirkung von außen hindeuten würden.“ Kortleben schiebt jetzt mit dem anderen Zeigefinger die Brille etwas hoch und reibt den linken Augenwinkel, der Hauptmann wartet geduldig. „Gegenstände …,“ überlegt der Oberleutnant, „ja, also da ist zunächst die Mütze des Opfers. Daß sie Nottrodt gehörte, hat Claus inzwischen zweifelsfrei festgestellt. Sie lag auf der Ofenbank. Es könnte sein, daß der Mann sie aufhatte, als er hereinkam. Falls Mord vorliegt, wäre immerhin möglich, daß der Täter zugeschlagen hat, als Nottrodt die Mütze noch trug. Daß kein Blut daran ist, will nicht unbedingt etwas besagen, der erste Schlag braucht nicht zu sofortiger Blutung geführt haben, und die Mütze 34
kann gleich heruntergefallen sein. Es könnten sich aber Spuren von Durchtrennungen an der Mütze finden, die auf das Tatwerkzeug schließen lassen. Ja, und dann habe ich beim Brennholz ein Taschenmesser gefunden.“ Baltrock läßt es sich geben und betrachtet es, ein kräftiges Messer mit drei Klingen und einem Korkenzieher, wie es Arbeiter häufig mit sich herumzutragen pflegen, der Griff ist mit einer Art Hirschhorn schale geschützt, und auf der einen Seite ist diese Schale durch Holz ersetzt, das sauber zurechtgeschnitzt wurde. „Wenn das nicht Nottrodt gehört“, sagt der Hauptmann und läßt das Messer auf der flachen Hand liegen, die er leicht hin und her dreht, „oder einem der Arbeiter, dann könnte es von dem Täter stammen, falls es einen gibt, und dann allerdings könnten wir dadurch einen Schritt weiterkommen.“ Er sieht Kortleben an, er fragt: „Und Fingerabdrücke?“ „Eine ganze Menge, allerdings an Stellen, wo sie vermutlich nicht vom Täter stammen, beispielsweise an den Schlössern der Spinde. Einen Teilabdruck habe ich allerdings gefunden, der mehr verspricht.“ Kortleben bewegt sich lang und dünn in den Umkleideraum, der Hauptmann folgt ihm. Von dem geöffneten Spind nimmt der Oberleutnant einen länglichen Handspiegel mit einem Bakelitrahmen und reicht ihn Baltrock, der ihn hin und her wendet und aufmerksam betrachtet; aus dem erblindeten Glas sieht ihm sein Gesicht halbzerstört entgegen. „Der Spiegel“, erläutert Kortleben, „hat offensichtlich an dem Nagel in der Tür des Spinds gehangen, und der das Spind ausgeräumt hat, nahm den Spiegel ab und schob ihn oben hinauf. Das könnte irgend jemand, das könnte Nottrodt, es könnte aber auch der Täter gewesen 35
sein, falls er sich in dem Spind zu schaffen machte. Ich kann mir noch nicht erklären, was er darin wollte, aber das wird sich wohl herausstellen. So. Und an dem Rand des Spiegels fand ich einen Teilabdruck des linken Daumens, ich habe die Spur mit Kupferoxid und schwarzer Folie abgenommen. Könnte natürlich sein, daß sie von dem Arbeiter stammt, der seine Sachen im Spind aufbewahrt, der Abdruck könnte aber auch zu jemandem gehören, der den Spiegel gelegentlich benutzte, vielleicht wurde er beim Ankleiden herumgeborgt …“ Baltrock knurrt und sieht sich noch einmal aufmerksam im Raum um; ein zweiter Wandspiegel, der unmittelbar neben dem Lichtschalter bei der Tür an einem krumm geschlagenen Nagel hängt, erfreut ihn plötzlich. „Die Leute“, sagt er, „die sich drüben gewaschen haben, werden sicherlich den dort zum Kämmen benutzen. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, daß der Daumenabdruck von einem Fremden stammt, um ein paar kräftige Prozente. Erich“, er drückt freundschaftlich Kortlebens Schulter, „wenn ich dich nicht hätte und den Löffel …“ Der Oberleutnant begreift das Lob, und der Hauptmann lobt selten; verlegen reibt Kortleben seine spiegelnde Stirnglatze. Aber solchen Stimmungen pflegt Baltrock ein rasches Ende zu bereiten. „Also bist du endlich hier fertig?“ fragt er und zieht seine Hand zurück. Er wartet keine Antwort ab, sondern weist an: „Dann machst du draußen die Aufnahmen. Wronski wird froh sein, wenn ich die Räume freigebe.“ In diesem Augenblick tritt Zeitfuchs ein. „Die Genossen vom Kreisamt sind da“, meldet er, „auch der Hundeführer.“ „Also“, der Hauptmann wendet sich stracks zur Tür, „auf ein neues, meine Herren!“ 36
2 Während Baltrock am Tor steht und über das regengraue Gelände schaut, wobei er spürt, wie sich die Nässe bereits durch die Kleidung an seine Schultern und seinen Rücken saugt, hat er doch das befriedigende Gefühl, es sei ihm gelungen, eine reibungslose Maschinerie in Gang zu setzen, und dieser Daumenabdruck scheint ihm so etwas wie ein winziger Stoffetzen zu sein, der bereits zwischen die Zahnräder geraten ist; an diesem Stoffetzen könnte der Täter in seine Reichweite gezogen werden, mochte er so weit flüchten, wie er wollte, und alle Spuren hinter sich zu verwischen trachten. Falls es einen Täter gab … mit dieser Möglichkeit rechnet der Hauptmann jetzt stärker, der merkwürdige Zustand des offenen Spinds gibt ihm zu denken. Hier, an diesem Tor, hatte er vor wenigen Minuten seine Anweisungen gegeben: Unter Leitung von Zeitfuchs sollen die drei Kriminalisten, die in seiner Arbeitsgruppe tätig sein werden, den abschließenden Teil der PGH bis zum Gewässer hin durchforschen, insbesondere die Umzäunung begutachten und einen Blick in die restlichen Gebäude werfen; die zehn Volkspolizisten hatte Baltrock dem kleinen mißgelaunten Oberleutnant Schnurk unterstellt, sie suchten außerhalb der PGH nach Spuren und richteten dabei ihr Augenmerk vor allem auf den Schwarzen Weg, die angrenzenden Grundstücke und den verwilderten Grünstreifen zur Landstraße. Auf den Fährtenhund mußte Baltrock verzichten, denn der Hundeführer hatte ihn darauf hingewiesen, daß bei diesem Wetter und dem ständigen Regen das Tier keine Witterung mehr aufnehmen könnte; das hatte der Hauptmann befürchtet. 37
Vom Tor aus sieht er dann und wann die Gestalten der Männer, und die Planmäßigkeit und Ruhe, mit der sie vorgehen, befriedigt ihn. Um nichts zu übersehen, hat er Pilarzyk noch einmal zu sich bitten lassen; er mustert ihn, während er quer über den Hof sich nähert, und bildet sich ein erstes Urteil: ein ruhiger, kraftvoller, zielbewußter Mann – ein verläßlicher Freund im Guten, ein gefährlicher Gegner im Bösen. Der Hauptmann lächelt, um Vertrauen einzuflößen, und sagt: „Ich will mit Ihnen noch einmal den Weg abgehen, den Sie heute früh genommen haben. Es könnte immerhin sein, daß Sie selbst oder auch wir etwas übersehen haben.“ Baltrock schiebt die Steine mit der Fußspitze vom Tor weg und zieht die Flügel zu, schlägt die Haspe herüber und steckt erst den oberen, dann den unteren zugespitzten Holzpflock hindurch, dabei sagt er: „War das so? Das ist für Einbrecher ja geradezu verlockend, so primitiv!“ Pilarzyk erwidert knapp: „So war es!“ Der Hauptmann fragt weiter: „Wenn ein Mitarbeiter der PGH nachts hier hereinkommen wollte, oder sagen wir ruhig: eindringen, wie würde er es dann gemacht haben?“ Pilarzyk erklärt: „Na, wenn er einen Grund gehabt hätte, würde er von außen durch die Latten gegriffen und die Verschlüsse weggeschoben haben.“ „Und was verstehen Sie unter ‚einem Grund haben‘?“ Pilarzyk sieht beiseite, er sagt: „Falls er vom Betrieb aus etwas zu tun hatte. Aber das ist in der ganzen Zeit, wo ich hier bin, noch nie vorgekommen, daß einer in der Nacht etwas erledigen sollte. Könnte aber auch sein, daß irgend jemand den Nottrodt sprechen wollte, privat, meine ich.“ 38
„Und warum zum Beispiel?“ „Na, der Paul hat gelegentlich Geld verliehen.“ Danach entsteht eine Pause, der Regen geht über die beiden Männer nieder, den Hauptmann kümmert es nicht. Endlich sagt er und spielt mit dem kleinen Pflock: „Ach! Geld verliehen hat Nottrodt gelegentlich. Aber, wissen Sie, Herr Pilarzyk, ich kann mir schwer vorstellen, daß jemand um Mitternacht Geld leihen oder zurückzahlen wollte.“ Das ist nur eine halbe Frage, also beantwortet Pilarzyk sie nicht. Baltrock geht mit ihm zum Pförtnerhaus, er öffnet die Tür. „Hier brannte Licht?“ „Ja, Nottrodt war jedoch nicht da, deshalb ging ich nach hinten.“ „Warum?“ „Ich dachte mir: Gleich fängt die Schicht an, und Paul, also Nottrodt, ist vielleicht nicht rechtzeitig fertig geworden und er ist noch im Umkleideraum. Ich habe mich geärgert, weil das doch nicht in der Ordnung ist.“ Der Hauptmann fragt: „Wo war der Hund?“ „Ach, der lief hier herum. Ich habe ihn noch schnell eingesperrt.“ „Also war das Tier üblicherweise im Zwinger?“ „Nicht in der Nacht.“ Baltrock bohrt weiter: „Nun gut, da sollte ja das Gelände bewacht werden. Aber bevor die Arbeit begann, wurde er doch gewiß eingesperrt.“ „Ja.“ „Sie wunderten sich sicherlich darüber, Herr Pilarzyk. Und ebenso fiel Ihnen auf, daß das Tor verstöpselt war. Das hätte doch Ihre Aufmerksamkeit erregen müssen, haben Sie denn wirklich gar nichts beobachtet?“ 39
„Dazu war es viel zu dunkel. Und herumgerannt ist hier keiner. Und was Nottrodt betrifft, warum sollte er nicht vergessen, das Tor zu öffnen und den Hund einzusperren? Der hielt sich ja auch sonst nicht an die Vorschriften, verkaufte ruhig seine Zigaretten weiter im Betrieb, obwohl es ihm verboten war. Also habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Paul war alt, er war schon fast ein Trottel, das muß man sagen!“ „Sie mögen ihn nicht sehr, Herr Pilarzyk?“ Für diese Frage erntet der Hauptmann einen Blick, den er nicht recht zu deuten weiß – Abschätzigkeit ist darin, Mißtrauen vielleicht, was noch? Aber Pilarzyk antwortet, ohne zu zögern: „Ich habe von Paul viel gelernt, habe jahrelang mit ihm zusammen gearbeitet, Paul war hilfsbereit, ein guter Kollege, aber …“, Pilarzyk macht eine unbestimmte Handbewegung, „jetzt war er eben alt, altes Eisen, wie man so sagt. Der taugte auch zum Nachtwächter nicht, und das hätte ich heute unserm Werkleiter sagen müssen, das war einfach nicht mehr zu verantworten. Das ist jedenfalls meine Meinung.“ „Das ist also Ihre Meinung, na schön. Gehen wir weiter!“ Während der Hauptmann sorgfältig den Pfützen ausweicht, fragt er: „Ist der Hund scharf?“ „Manche haben Angst vor ihm, andere nicht“, erwidert Pilarzyk. „Würden Sie sagen, daß er einen Fremden angehen oder wenigstens verbellen würde?“ fragt Baltrock weiter und tritt nun doch in eine der Lachen. „Falls also jemand hier eingedrungen wäre, müßte das einer sein, den der Hund kennt – oder nicht?“ „Wenn er im Zwinger ist, kläfft er jeden an, der aufs Grundstück kommt, da zerreißt er sich beinahe.“ Mehr 40
äußert Pilarzyk dazu nicht. Vor dem Gebäude, in dem Nottrodt gefunden wurde, fallen dem Hauptmann Holzkloben neben dem Fallrohr auf. „Wozu liegen die hier?“ fragt er und stößt mit der Fußspitze daran. „Nottrodt“, erwidert Pilarzyk lakonisch, und auf einen fragenden Blick des Hauptmanns führt er weiter aus: „Der hat jede Menge Hartholz für sich gespalten und es mit dem Handwagen nach Hause geschleppt. Das war ihm zwar auch verboten …“ Er zuckt die Schultern. „Na gut“, beendet der Hauptmann das Gespräch, „das wär’s. Wo treffe ich Herrn Wronski?“ „Der wird wohl im Büro sein“, sagt Pilarzyk und will gehen. Da fällt Baltrock noch ein: „Übrigens … Sie sind gestern nachmittag nach Hause gegangen und heute morgen in den Betrieb gekommen. Waren Sie zwischendurch einmal hier?“ Pilarzyk antwortet: „Nein, ich war daheim.“ „Die ganze Nacht über?“ fragt Baltrock. „Selbstverständlich“, erwidert Pilarzyk sofort und wirft dem Hauptmann einen seltsamen Blick zu, den der nicht deuten kann. Damit ist das Gespräch beendet, und wenig später betritt Baltrock das Büro. Es ist ein kleiner viereckiger Raum, und das erste, was dem Hauptmann auffällt, ist der penetrante abgestandene Zigarrenrauch. Tatsächlich raucht Wronski auch jetzt eine Zigarre, das paßt zu ihm; er sitzt mit dem Rücken zur Tür an einem Schreibtisch, der neben das Fenster gerückt ist, und ihm gegenüber sitzt die Sekretärin, ein unscheinbares älteres Wesen, ein Faktotum, denkt Baltrock, eine graue Motte mit dunklem Haar, das 41
strähnig von einem Mittelscheitel aus über die Ohren nach hinten gekämmt ist und dort in einem ungewöhnlich fülligen Chignon endet. Wronski dreht sich sofort um, und als er den Hauptmann sieht, ist er mit bemerkenswerter Schnelligkeit auf den Beinen und steht dicht vor ihm, die Zigarre zwischen den gespreizten Fingern in Schulterhöhe. „Wie ist’s? Können wir an die Arbeitsplätze?“ ist das erste, was er fragt. Um dem Zigarrenrauch zu entgehen, lehnt sich Baltrock unmerklich zurück. „Noch nicht“, erwidert er, „aber ich hoffe, es wird nicht mehr lange dauern. Sie können inzwischen den Waschraum und den Umkleideraum in Ordnung bringen lassen.“ „Mein Gott“, Wronski stöhnt und faßt sich mit der Linken an die Stirn, so daß die halbgerauchte Zigarre wie ein kleines Horn absteht, „wie ich diesen Verlust wettmachen soll …“ Aber sogleich wird er aktiv und raunzt die Sekretärin an: „Veranlassen Sie das!“ Das späte Mädchen erhebt sich gehorsam, doch bevor sie das Zimmer verlassen hat, bittet Baltrock, das Gespräch unter vier Augen führen zu dürfen, und Wronski ordnet an: „Sie kommen erst wieder herein, wenn ich Sie rufe, und halten Sie mir alle Leute vom Halse!“ Während er Baltrock auf den Stuhl dirigiert, auf dem die Sekretärin gesessen hat, lächelt er mit seinem winzigen Kußmund und gesteht: „Ein zuverlässiges Wesen, mein Gedächtnis und meine rechte Hand. Sie können sich darauf verlassen, die steht nachher vor der Tür wie ein Zerberus, da kommt niemand durch.“ Selbstgefällig und wuchtig sitzt der Mann vor Baltrock, der wie nebenbei sagt: „Sie haben eine barsche Art, mit Menschen umzugehen.“ 42
„Mag so aussehen“, Wronski lehnt sich in seinem Stuhl bequem zurück, der laut aufquarrt, und schlägt den Arm über die Lehne, „aber es hat Erfolg. Außerdem wissen alle: Wenn es darauf ankommt, springt der Wronski für uns ein!“ Er saugt wieder an der Zigarre. „Mich interessiert“, der Hauptmann kommt sofort auf sein Thema, „wie Sie Nottrodt einschätzen. Was war das für ein Mensch? Welche Angewohnheiten hatte er? War er beliebt, unbeliebt? Freunde, Feinde? Mit wem pflegte er Umgang? Halten Sie es für wahrscheinlich, daß es sich um ein Unglück handelt, oder halten Sie einen Überfall für möglich? Viele Fragen, ich weiß, aber ich möchte gern ein zusammenhängendes Bild gewinnen.“ Wronski beugt sich vor und über den Schreibtisch, sein fleischiges Gesicht wird plötzlich konzentriert, er zermalmt langsam seine Zigarre in dem Aschenbecher aus rosa Preßglas. Er sieht den Hauptmann nicht an, während er spricht, seine Stimme ist nicht mehr befehlerisch, sondern leise und nachdenklich. „Ich habe natürlich versucht, mir ein Bild zu machen“, beginnt er, „ich glaube, daß es ein Unfall war. Meiner Ansicht nach war Nottrodt schon lange nicht mehr richtig bei sich. So um neunundfünfzig herum ist sein einziger Sohn republikflüchtig geworden, und seitdem ging es mit ihm bergab. Der Sohn war seine Lebensaufgabe, er hat ihn sogar studieren lassen. Plötzlich war sie ihm genommen, damit konnte er sich nicht abfinden, er sah sein Alter, und er sah es als düstere Einsamkeit. Damals fing er an, mit Zigaretten zu handeln. Vermutlich bezog er sie aus einer Kneipe, die ihren Umsatz steigern wollte, er hat sicherlich nur Pfennige daran verdient.“ „Das haben Sie untersagt?“ 43
Wronski nickt. „Ja, das haben wir, doch er fing wieder an. Vielleicht war es falsch, aber wir haben immer wieder ein Auge zugedrückt.“ Er hebt den Kopf, runzelt die Stirn hoch, streichelt das füllige Doppelkinn. „Woher sollten wir einen anderen Wächter nehmen? Und, was wichtiger ist, die Leute legten Wert darauf, daß sie bei Nottrodt kaufen konnten – der hat ihnen auch mal gestundet. Und das konnte er, denn sein Sohn schickte ihm Sachen, Perlonhemden, Westzigaretten, die er ebenfalls verkaufte. Angeblich hat er später sogar Geld verliehen, immer nur an Leute aus unserm Betrieb, da war er sicher, daß er es wiederbekam, er paßte bei den Lohnzahlungen auf.“ Der Hauptmann denkt, jetzt müsse er Wronski reden lassen, später werde er viele Fragen zu stellen haben – an ihn und andere. Der Werkleiter senkt den Kopf, er fischt seinen toten Stummel aus dem Ascher und fummelt damit herum, tupft und zieht Striche – und dabei redet er. „Soviel ich weiß, hatte er keine Freunde, keine Feinde – er hatte bestenfalls Schuldner. Er rauchte nicht, ging selten in eine Kneipe, er sparte auf sein Alter, er hatte wahrscheinlich Angst, daß es einmal nicht reichen würde. Das war krankhaft.“ Wronski blickt hoch. „Nehmen Sie nur mal diesen Tick mit dem Brennholz! Der muß ja eine ganze Scheune davon voll gehabt haben. Na, uns konnte es gleichgültig sein, es waren Abfälle, handwagenweise hat er sie hinausgezerrt, hoch gestapelt, mit Stricken verschnürt. Ein paar Zentner Briketts hätten es sicherlich auch getan.“ Er macht eine kurze Pause. „Weil er deshalb gehänselt wurde, zog er sich noch mehr in sich zurück. Ich habe ihn nie ein längeres Gespräch mit irgend jemandem führen hören, aber immer 44
murmelte er vor sich hin. Selbst wenn er Pförtnerdienst machte, habe ich ihn so angetroffen, murmelnd, den Kopf in die Hände gestützt, vor sich die Besucherkladde. Ich vermute auch, daß er sich nichts gönnte – na ja, was heißt das schon: gönnte? Er soll sich oft trockenes Brot in den Betrieb mitgebracht haben.“ Allmählich entsteht so vor Baltrock das Bild eines alten Mannes, der sich selbst vereinsamte – ein schreckliches Bild! Er hört Wronskis Stimme: „Es war zu sehen, wie er körperlich zusammenfiel. Er hatte keinen Murr mehr in den Knochen. Und so denke ich mir, daß er aus irgendeinem gottverfluchten Grunde in den ersten Stock geklettert ist, dabei abstürzte, auf den Schädel fiel – er hatte Blut verloren, war benommen, und so ist er herumgelaufen, bis er über seinen Holzscheiten zusammengebrochen ist. Und wenn man noch bedenkt, daß er dort vermutlich stundenlang gelegen hat, dann ist der Zustand verständlich, in dem ihn Pilarzyk aufgefunden hat: halbtot!“ Absichtlich stellt Baltrock jetzt eine Frage, die Wronski nicht erwartet haben kann: „Was halten Sie eigentlich von Pilarzyk?“ Der Betriebsleiter starrt ihn tatsächlich verblüfft an. Dann glimmt in seinen Äuglein Begreifen auf. Er bricht in ein leises meckerndes Gelächter aus, das zu diesem Koloß gar nicht paßt, und sagt: „Pilarzyk? Mein bestes Pferd im Stall! Neben der Dame mit dem Dutt natürlich …“, er deutet mit dem Daumen über die Schulter zur Tür, „aber verraten Sie das den beiden nicht!“ Der Hauptmann lächelt Wronski an. „Na schön, lassen wir das! Wissen Sie, wie hoch die Summen waren, die Nottrodt auslieh?“ „Von einer Schachtel Zigaretten auf Pump bis …“ „Bis …?“ 45
„Da bin ich überfragt. Ich habe mal was von achtzehnhundert Mark läuten gehört.“ „Und wer …“ Wronski läßt ihn nicht ausreden, abwehrend hebt er beide Hände. „Das weiß ich nicht! Darum habe ich mich nicht gekümmert, das war Privatsache.“ „Nun, immerhin“, wirft Baltrock ein, „eine Privatsache, die sich in der PGH abgespielt hat.“ „Mag sein“, erwidert der Betriebsleiter, „aber schließlich ist Geldverleihen nicht verboten.“ Wiederum wechselt der Hauptmann das Thema. „Ihrer Ansicht nach handelt es sich um einen Unfall. Indessen gibt es doch auch Motive für einen Überfall! Ich könnte mir denken, daß ein Gläubiger seinen Schuldner loswerden wollte, daß er sich vielleicht sagte: Der alte Mann, um den ist es nicht schade, aber mir wird er lästig, außerdem habe ich das Geld nicht … Es sind schon um winzige Summen Morde verübt worden, geschweige denn, wenn es sich um achtzehnhundert Mark handelt. Wo hatte Nottrodt denn überhaupt sein Geld aufbewahrt?“ Wronski zuckt die Schultern. „Überfragt! Wenn er es verlieh, sicherlich im Betrieb. Er kassierte hier ja auch die Schulden. Aber, Genosse, das alles sind nur Vermutungen, nageln Sie mich nicht darauf fest!“ Und als sei damit das Gespräch beendet, schiebt er sich vom Stuhl hoch, öffnet einen Schrank, hebt eine Flasche an und lächelt vertraulich zum Hauptmann hinüber. „Ein Gläschen? Bei dem Regenwetter?“ Ehe Baltrock ablehnen kann, läutet das Telefon, Wronski nimmt den Hörer ab, sagt dann: „Für Sie, Genosse!“ Baltrock horcht auf die erschöpfte Stimme, dann antwortet er: „Nein, nicht hier! Ich komme sofort zu Ihnen!“ 46
Und schon steht er auf. „Was Neues?“ fragt Wronski neugierig. „Das werden wir sehen“, erwidert der Hauptmann. Kurz darauf hört der Werkleiter das scharfe Geräusch des anfahrenden Wartburgs. 3 Erschöpfte Stimme: Dr. Salanda macht wirklich einen erschöpften Eindruck, als er Baltrock gegenübersitzt, er fährt mit der langen schmalen Rechten über die Stirn, als schmerze ihn der Kopf, er zupft nervös an dem weißblonden Menjoubärtchen, es dauert lange, ehe er zu sprechen beginnt. Baltrock wartet geduldig, er läßt dem Arzt Zeit. Sie haben sich in ein kleines Sprechzimmer zurückgezogen, die roten und blauen Stühle sind glücklicherweise bequem, die Kunststoffbespannung gibt elastisch nach, man kann sich unmerklich strecken und entspannen. Salanda fingert eine zerknitterte Zigarette aus der Westentasche, streicht sie glatt, sucht vergeblich nach Streichhölzern, der Hauptmann reicht ihm Feuer, Salanda tut einen tiefen Zug. Dann sagt er, und das klingt sachlich, als diktiere er einen Bericht: „Die unmittelbare Todesursache ist Herz- und Kreislaufversagen bei Hirnprellungen mit nicht unerheblichem Blutverlust. Die mittelbare ist nicht ganz einfach zu erläutern. Am Hinterkopf befindet sich eine schwere Wunde, die sternförmig ist; in Verbindung mit den Umgebungsvertrocknungen läßt sich ablesen, daß es sich um eine Platzwunde handelt. Sie ist so stark durchblutet, daß sie wahrscheinlich vor den anderen entstand. Für einen Schlag mit einem breitflächigen Werkzeug, beispielsweise einem Holzscheit, ist die Lage atypisch, wohl aber ist die Wunde durch ebenerdigen Sturz 47
oder Sturz aus der Höhe erklärbar. Auch die Bildungen im Bereich der rechten Stirnseite und der linken Augenbraue sprechen für Sturz. Die zwei weiteren Wunden auf der Schädeldecke könnten allerdings sowohl durch Schlag als auch durch Sturz erklärt werden, wobei dann wieder nur Sturz aus der Höhe in Frage käme; falls es sich um Schlagverletzungen handelt, muß ich einschränken, daß sie insofern atypisch sind, als sie quer liegen, das wäre ziemlich ungewöhnlich.“ Während Dr. Salanda bislang vor sich hingesehen hat, legt er jetzt den Kopf seitlich und blickt Baltrock an. Es macht nicht den Eindruck, als habe er noch etwas hinzuzufügen. Der Hauptmann fragt: „Zu welchem Schluß kommen Sie also?“ Zum ersten Male lächelt Salanda, mit einer Art von gutmütigem Spott sagt er: „Da Sie so fragen, weiß ich, daß sie andere Vermutungen haben, teurer Hauptmann, aber gegen ein objektives Ergebnis werden Sie mit Ihren kriminalistischen Konstruktionen kaum anstinken können. Sie wissen ja längst, worauf alles hinausläuft, aber da Sie es wünschen, bitte …“ Er ruckt sich zusammen, er versucht, seinem Gesicht einen förmlichen Ausdruck zu verleihen, und erklärt: „Die Obduzenten kommen zu dem Schluß, daß die Befunde in ihrer Gesamtheit durch Sturz aus der Höhe erklärbar sind. Allerdings wäre es angesichts der Kopfschwartenverletzungen verfrüht, fremdes Verschulden auszuschließen und alles mit Sturz von der Treppe und möglicherweise nachfolgenden Bodenstürzen erklären zu wollen. Freilich weist nichts zwingend auf fremdes Verschulden hin.“ Der Arzt läßt sich zurücksinken und stößt erleichtert die Luft aus. 48
Draußen vor dem Fenster trieft der Regen nieder, Tropfen schlagen lärmend auf das zinkblechverkleidete Sims. Baltrock schweigt, er hat keinerlei Grund, Salandas Ausführungen zu bezweifeln, er weiß, wie gewissenhaft der ist. Nach allem, was er gesagt hat, muß es so sein, wie auch Werkleiter Wronski vermutet: Nottrodt hat sich zu Tode gestürzt. Was spricht eigentlich dagegen? Das offene Spind? Du lieber Himmel, denkt Baltrock, ich mache mir selbst etwas vor, ich messe dem eine Bedeutung bei, die ihm nicht zukommt, dieser kauzige Nottrodt – wer weiß, was er in dem Spind vermutet und gesucht hat, vielleicht hat er es auch nur verwechselt, als er schon herumgetaumelt ist, hat das Hutbrett heruntergerissen, als er sich daran festhalten wollte … Ich könnte eigentlich froh sein, denkt er, kein neuer Mord im Bezirk, keine zusätzliche Arbeit, Heimkehr zu Muttern, und Nottrodt wird friedlich begraben und vergessen … Das Wort friedlich ist es, worum es in Wahrheit Baltrock geht; das bewegt ihn. Ein Unfall, so schwer die Folgen sein mögen, ist etwas Menschliches, ein Mord aber ist unmenschlich, so empfindet er. Und wenn in diesem Falle seine Befürchtungen nicht bestätigt werden, wenn also Salanda recht hat, dann wird er ruhig schlafen können. Doch plötzlich stutzt er: Ist er nicht dabei, vor sich selbst etwas zu vertuschen? Unwillkürlich seufzt er unbehaglich, er ertappt sich selbst bei diesem Seufzen und lächelt Salanda gezwungen an. Jetzt erst bemerkt er, daß der ihn beobachtet hat, das ist ihm unangenehm, er fragt: „Fremdes Verschulden ist also nicht gänzlich auszuschließen – wie würden Sie sich den Vorgang vorstellen?“ 49
„Wenn Sie mich so fragen“, erwidert Salanda, „kann ich Ihnen nur erwidern: Nach dem Befund war es möglich, daß Nottrodt erst die Treppe hinuntergestürzt, dann noch einmal aufs Gesicht gefallen ist, und schließlich müßte irgendwer dagestanden haben, der ihm zweimal mit dem Knüppel über den Schädel schlug. Wie sich das mit der Realität vereinbaren läßt, ist allerdings nur schwer vorstellbar.“ Der Hauptmann nickt zufrieden, eine solche Version erscheint ihm ebenfalls unwahrscheinlich. „Unsere Beurteilung ist nicht endgültig“, schränkt Dr. Salanda ein, „das Gutachten geht Ihnen noch zu, und der Staatsanwalt hat eingewilligt, daß wir die Kopfschwarte formalinfixieren und im Institut begutachten.“ Abschließend fragt Baltrock: „Und wann könnten die Verletzungen entstanden sein?“ „Schwer zu sagen“, erwidert Salanda, „mein Oberarzt Stich, der auf diese Fragen spezialisiert ist, gibt eine Zeitspanne von sechs bis acht Stunden an, die zwischen der Entstehung der Wunden und deren ärztlicher Versorgung liegen könnte.“ „Das wäre also rund gerechnet zweiundzwanzig Uhr bis Mitternacht, vielleicht auch später?“ „So ist es.“ „Ich schicke Ihnen Kortleben her“, sagt Baltrock, „damit er die Aufnahmen macht.“ Später stehen die beiden Männer in dem schmalbrüstigen dunklen Treppenflur, durch das gefächerte halbrunde Oberfenster der Eingangstür fällt nur schales Licht. Baltrock spürt das glattpolierte Holz des Handlaufs kühl und fremd, riecht wieder diesen abweisenden Duft von Desinfektionsmitteln, sieht in der Pförtnerloge das unbeteiligte helle Gesicht der Schwester – er könnte nun gehen, 50
er weiß, Salanda wartet darauf, er möchte sich entspannen, trotzdem geht Baltrock nicht, er steht nur so da, denkt eigentlich auch nicht, grübelt nicht, überlegt nicht, vermag sich nicht zu lösen, hört endlich zu seiner eigenen Überraschung seine Stimme: „Ich möchte mir Nottrodt noch einmal ansehen.“ Salanda schaut ihn merkwürdig an, er zupft an seinem Ohrläppchen, dann hebt er die Schultern, und ohne ein Wort zu erwidern, geht er voran, und der Hauptmann folgt ihm. Schatten nisten im Gang, das einzige Fenster an der Stirnseite hängt der Regen mit Perlfäden zu, endlich öffnet der Arzt eine Tür, und Baltrock sieht Nottrodt, Paul, dort liegen, er sieht nur das Gesicht: ein nacktes slawisches Antlitz mit einem buckeligen, fast kahlen Schädel, auf dem nur wenige Haare kleben, die sich nach hinten zu einem Kranz zusammenschließen, die Nase ist breit, die Ohren sind merkwürdig eingekniffen, der schmale Mund wird nicht mehr vor sich hin murmeln. Langsam und leise zieht der Arzt die Tür wieder zu und sagt: „Wer sollte das armselige Leben getötet haben …“ Während sie den düsteren Gang zurückgehen, denkt Baltrock über diesen Satz des Arztes nach, er selbst könnte ihn gesprochen haben; aber gerade das beunruhigt ihn, weil es ihn in die Gefahr bringt, andere Zeichen zu übersehen. Das drängt ihn zu sagen: „Wissen Sie, Doktor, ich zögere trotzdem, alles, außer einem Unfall, auszuschließen, auf den ja wirklich sämtliche Zeichen hindeuten. Ich darf mich damit nicht zufriedengeben. Das ist nicht kriminalistischer Eigensinn. Nichts ist mir so zuwider wie gewaltsamer Tod – sei es im Kriege oder sei es in dem Kleinkriege, den wir hier gegen das Verbrechen führen. Jedes Leben ist kostbar, es kann nie wiederholt werden. Und dann ist da noch etwas: Ich würde mir bis an 51
mein Lebensende Vorwürfe machen, hätte ich etwas übersehen und dem einen Mord folgte ein zweiter …“ Er blickt zu Salanda hinüber, er lächelt. „Und Sie sind mein Verbündeter, Doktor …“ Darauf antwortet Salanda nicht, es liegt ihm nicht, „gefühlig“ zu werden, wie er es nennt. Nur wer ihn genau kennt, würde an der Art, wie er sein Schnurrbärtchen streicht, merken, daß in ihm etwas vorgeht. Durch die schmalen Stadtgassen läßt der Hauptmann seinen Wagen trödeln, auch auf der Landstraße fährt er langsam, er sieht den Schädel des Toten vor sich, die furchtbaren Wunden … Er wird entscheiden müssen, ob die Ermittlungen fortgesetzt werden oder nicht, auf ihm lastet die Verantwortung, das empfindet er stark. Der Regen scheint nicht enden zu wollen, der Scheibenwischer vermag die Flut kaum zu bewältigen, breite Wogen werden von den Rädern beiseite gepflügt, ein klatschendes Geräusch begleitet den Wagen. Immer noch hängen an den Ästen der Obstbäume Blätter, der Wind zerrt vergebens daran, sie sind zäh und haften fest, es ist ungewöhnlich warm in diesem November. Vorsichtig lenkt Baltrock den Wagen in das Schlammbett des Schwarzen Wegs; als er sich dem Tor der PGH nähert, sieht er dort Leutnant Zeitfuchs lang und hager stehen, und wenig entfernt von ihm sind die Volkspolizisten versammelt. Die Spurensuche ist also beendet, in wenigen Sekunden wird er das Ergebnis erfahren! Als er auf die Bremse tritt, rutscht der Wagen noch ein Stück weiter und dreht sich leicht. Der Hauptmann ist mit wenigen Schritten bei Zeitfuchs. 52
„Genosse Hauptmann“, meldet der Leutnant, und es ist etwas wie Triumph in seiner Stimme, „die Durchkämmung des Grünstreifens, das Absuchen des umliegenden Geländes hat nichts ergeben. Der Zaun der PGH kurz vor dem Flußufer weist in dem seifigen grünen Belag Schabspuren auf, die nicht genau identifiziert werden können, sie könnten aber von einem menschlichen Körper herrühren, vielleicht von Schuhen beim Übersteigen der Begrenzung. An dieser Stelle haben wir auf einer Zaunlatte Erde entdeckt, und nach Meinung des Genossen Kortleben handelt es sich um die gleiche Erde wie auf der Straßenseite des Zauns. Demzufolge darf angenommen werden, daß hier jemand den Zaun überstiegen hat.“ „Sieh mal einer an!“ sagt Baltrock.
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3. KAPITEL
1 Hauptmann Baltrock sitzt im Gastraum der „Nebelkrähe“ und fühlt sich behaglich. Er ist ganz entspannt, vor ihm steht ein Glas Bier, gelegentlich nimmt er einen Schluck. Die „Nebelkrähe“ ist ein kleines Lokal, es gibt hier nur sechs Tische, viereckig, blankgescheuert, sauber. Schmiedeeiserne Leuchten mit gelben gehämmerten Glasröhren sind an der Wand angebracht, das Licht, das sie verbreiten, ist mild, ja, es hat etwas von Kerzenschein an sich. Die Theke befindet sich im Nebenraum, den man direkt von der Straße betritt, manchmal klingt das leise Klappern der Gläser herüber, das sanfte Zischen des Bierhahns, der Wirt selber bedient, er paßt hier hinein, er sieht genauso aus, wie man sich einen Wirt vorzustellen pflegt: mit breitem gerötetem Gesicht, einer rosafarbenen Glatze, untersetzt, mit einem erheblichen Bauch, der von einer weißen Schürze umhüllt ist. Es ist keiner von der geschwätzigen Sorte, er nimmt die Bestellung entgegen und verschwindet sofort wieder. Außer Baltrock sitzen nur noch vier Gäste hier, drei spielen Skat, der vierte schaut zu. Es ist ein spielerischer Skat, keiner, bei dem mit der Faust auf den Tisch geschlagen wird. Hierher verirren sich unerwünschte Gäste selten: Die „Nebelkrähe“ hockt am Rande von B. in einer Sackgasse. Sie ist in einem kleinen graugetünchten Haus untergebracht, im ersten Stock befindet sich die Wohnung des Wirtsehepaars nebst vier Hotelzimmern. Hier 54
werden Baltrock und Zeitfuchs wohnen, solange der Fall Nottrodt sie in B. festhält. Niemals wäre der Hauptmann auf dieses Lokal verfallen, er kennt B. nur von seinen dienstlichen Inspektionen; daß in dieser Sackgasse eine „Nebelkrähe“ sein könnte, die so völlig seinen Wünschen entspricht, hätte er nie vermutet, und ein wenig wundert er sich, daß Zeitfuchs ihn darauf aufmerksam gemacht hat; der Hauptmann hatte ihn scharf gemustert, als die Bezeichnung „Nebelkrähe“ gefallen war, aber es war ihm nicht gelungen, auch nur die Spur eines mokanten Lächelns in den Mundwinkeln des Leutnants zu entdecken, im Gegenteil, Zeitfuchs hatte sein dienstliches Gesicht aufgesetzt – wenn er sich jetzt daran erinnert, findet Baltrock auch das verdächtig: Wollte der Schlaks sich über ihn und eine seiner kleinen Schwächen lustig machen? Tatsächlich hatte der Leutnant diese Absicht nicht gehabt. Doch er wußte, wie anstrengend die folgende Zeit werden würde, und er gönnte dem Hauptmann, den er insgeheim bewunderte, diese Art der Entspannung, die er liebte. Daß sich der Hang zu solcherart Lokalen aus einer Jahrzehnte zurückliegenden Zeit herschrieb, wußte Zeitfuchs freilich nicht, er hielt es einfach für eine lustige Schrulle. In Wahrheit war diese Neigung jedoch entstanden, als Baltrock in seiner Jugend zur See gefahren war. Er stammte aus den engen Verhältnissen einer kleinen Bergarbeiterstadt; sein Vater war Häuer gewesen, seine Mutter Landarbeiterin. Schon der Vater hatte sich mit der bedrückenden, kärglichen Enge nicht abfinden können, er revoltierte und schloß sich den Kommunisten an; nach dreiunddreißig verbreitete er Flugblätter, und drei Jahre 55
später starb er, kurz bevor eine Welle von Verhaftungen auch ihn erreicht hätte. Begreifen konnte der kleine Baltrock das alles damals natürlich nicht, wohl aber empfinden, ein empörerischer Funke begann auch in ihm zu glimmen, und das hatte zur Folge, daß er, ein ausgesprochen guter Schüler, mit den Lehrern sich überwarf, er geriet in den Ruf, ein schwarzes Schaf zu sein. Seine Mutter war es, die ihm riet, den kleinen Ort zu verlassen; das kam seinen Wünschen entgegen, er meldete sich zur Handelsmarine und blieb dabei bis zum Kriegsende – glücklich in der schärferen Brise der See, glücklich auch, nicht „das Vaterland mit der Waffe verteidigen“ zu müssen. Natürlich war es ein rauheres Leben, als es die Landratten gemeinhin führen, und Baltrock liebte es zweifellos; aber ihm war ein Hang zur Ordnung inne, er mochte das Rabaukentum nicht, das mit der Seefahrt so häufig gekoppelt ist, und damals fand er den Weg in Lokale, die der „Nebelkrähe“ glichen, die also etwas Kräftiges, aber auch etwas Solides an sich hatten. Nach fünfundvierzig war es aus mit der Seefahrt und mit weltweiten Träumen, Baltrock kehrte nach Hause zurück und schulte um, ging in eine Maurerlehre und legte die Gesellenprüfung ab. Drei Jahre später wurde er zur Volkspolizei geworben; nicht aus Begeisterung kam er diesem Wunsch nach, sondern aus einer Art Pflichtbewußtsein, und anfangs schielte er immer wieder sehnsüchtig nach seinem Maurerberuf hinüber mit der geheimen kleinen Hoffnung, eines Tages wieder den Sprung zurücktun zu können. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht; seine Vorgesetzten schätzten ihn bald wegen seiner ruhigen, verläßlichen 56
Art, und als Baltrock, dem die schweigende Anerkennung natürlich auch guttat, merkte, daß sie ihn nicht mehr freigeben würden, machte er Schluß mit dem Gedanken an den Sprung nach rückwärts, und er tat den Sprung nach vorwärts: Er bewarb sich 1951 zur Kriminalpolizei. Hier wurde er Sachbearbeiter für Diebstähle, und ein paar Jahre später bearbeitete er bei „Leben und Gesundheit“ hauptsächlich Fälle schwerer Körperverletzung, spezialisierte sich immer mehr, nahm an einer Reihe von Schulungen teil und entflammte sich so allmählich für seinen dritten Beruf. Nachdem er die Hochschule der Miliz in Moskau absolviert hatte, ging er als Mitarbeiter zur Morduntersuchungskommission und avancierte schließlich zu deren Leiter. Die Erfolge, die er nicht nur seiner absoluten Gewissenhaftigkeit zu verdanken hatte, sondern auch einem besonderen Einfühlungsvermögen – im Laufe der Jahrzehnte hatte er in seinem wechselvollen Leben Hunderte von Menschen kennenlernen und beobachten können und auch abseitigste Regungen verstehen gelernt –, führten zu Anerkennungen und Auszeichnungen, und alles, was jetzt noch aus früheren Zeiten übriggeblieben war, war der etwas sentimentale Hang zu „Nebelkrähen“ und ein leichtes Wiegen des Ganges, das freilich nur jene zu deuten wußten, die etwas von seiner seemännischen Vergangenheit erfahren hatten. So sitzt der Hauptmann also nun hier in der „Nebelkrähe“, freut sich auf ein deftiges Abendbrot, erwartet Zeitfuchs und spinnt kein Seemannsgarn, sondern versucht sich klarzuwerden, was in diesem verworrenen Falle alles unternommen werden muß. Er beabsichtigt, noch an diesem Abend einen Untersuchungsplan zu entwerfen. Morgen früh will er in ei57
ner Arbeitsbesprechung die einzelnen Aufgaben verteilen. Kein noch so geringes Zeichen darf mißachtet, selbst aussichtslos erscheinende Begebnisse müssen weiterverfolgt werden – später, auf dem Papier, wird das so selbstverständlich, so leicht, ja sogar überpeinlich aussehen; er aber weiß um die Bürde der Verantwortung; in dieser Phase gilt es, alles zu durchgrübeln und jeden möglichen Zug zu überlegen – sonst könnte es sein, daß es niemals zu einem Schachmatt für den Täter kommt. Der Täter … noch ist sich Baltrock nicht sicher, ob es überhaupt einen gibt. Der einzige wirkliche Hinweis darauf ist ein winziges Häuflein Erde, das sich auf dem Zaun befand, und das könnte auch durch andere Umstände dahingelangt sein. Dagegen steht der vorläufige Befund Dr. Salandas, und er wiegt schwer. Baltrock nimmt wieder einen Schluck Bier, jetzt erfrischt es ihn nicht mehr so wie anfangs. Er sieht auf die Uhr, eine leise Ungeduld hat ihn ergriffen: Zeitfuchs müßte bald eintreffen, und vielleicht bringt Zeitfuchs neue Fingerzeige mit. Schon nachmittags hatte der Hauptmann den Leutnant angewiesen: „Sie müssen Nottrodts Wohnung durchsuchen. Möglicherweise finden Sie da Unterlagen über seine Geldgeschäfte. Und wenn Sie schon dort sind, hören Sie sich bei den Nachbarn um; es könnte sein, daß die wissen, mit wem der Mann Umgang hatte. Genosse Schnurk wird Sie unterstützen.“ Oberleutnant Schnurk, dünn und mißgelaunt, wußte die Bedeutung dieses Auftrages offensichtlich zu würdigen, er reckte sich noch gerader auf, als er es sonst schon zu tun pflegte, und sein hochgebürstetes Stachelhaar schien zu wachsen. 58
Zeitfuchs hingegen zupfte an der Unterlippe und erwiderte: „Genosse Hauptmann, um diese Zeit finde ich kaum jemanden vor“, er blickte auf die Armbanduhr, „der Chemiebus kommt erst in einer Stunde zurück, ich schlage vor, die Durchsuchung danach vorzunehmen.“ Baltrock hatte eingewilligt, selbstverständlich akzeptierte er die Ortskenntnisse, die Zeitfuchs besaß. Übrigens spürt der Hauptmann allmählich einen gesunden Hunger, sie hatten heute keine Zeit gefunden, Mittag zu essen, hatten ihren Appetit nur mit ein paar gummiweichen Brötchen abgespeist. In diesem Augenblick tritt Zeitfuchs in den Durchgang zur Theke, steht da, lang aufgeschossen, mühsam lächelnd, und hat eine dickgeschwollene Aktentasche unterm Arm. Baltrock gibt ihm ein Zeichen, und Zeitfuchs kommt an den Tisch und legt die Tasche auf einen Stuhl. Der Hauptmann fragt gespannt: „Ergebnisse?“ „Ich bitte um Genehmigung“, sagt Zeitfuchs langsam und verzieht einen Mundwinkel, „mir erst einmal die Hände waschen zu dürfen.“ 2 Zeitfuchs war geraume Zeit in seinem Zimmer verschwunden gewesen, und als er zurückkehrt, läßt er sich auf den Stuhl plumpsen und stößt nur ein einziges Wort hervor: „Mistig!“ Dann schweigt er und starrt Baltrock an, der aber nicht daran denkt, dem Leutnant eine Brücke für seinen Bericht zu bauen, denn diese Äußerung mißfällt ihm. Nach einer Weile sagt er gelassen: „Tja, wenn du meinst – dann will ich mir mein Abendbrot bestellen!“ Mit drei großen Schlucken trinkt er sein Glas aus, 59
stellt es mit deutlichem Ruck beiseite und pocht, innerlich doch erbost, mit seinem Ehering an den Aschenbecher. Der Hauptmann denkt, Zeitfuchs berste offenbar vor Mitteilungsbedürfnis, er werde schon von allein reden. Tatsächlich: als der Wirt, leicht vorgebeugt, neben dem Tisch steht, sagt Zeitfuchs: „Unvorstellbar, wie mistig das ist!“ Da erwidert Baltrock ungerührt und mit deutlicher Zurechtweisung: „Ich möchte nichts von Mist hören, wenn du das begreifst, ich werde jetzt essen!“ Und sofort, zum Wirt gewandt : „Kann ich ein Bauernfrühstück haben, schön fett, mit Speck, wenn möglich, und viel Zwiebeln, aber die Zwiebeln nicht scharf geröstet, sondern ganz leicht bräunlich gedünstet!“ Und während er das sagt, beginnt ihm der Mund zu wässern. „Eine Portion oder zwei?“ fragt der Wirt. „Eine Portion!“ erwidert er und lächelt Zeitfuchs maliziös an, als sei der ein Hungerkünstler. Der schluckt unbehaglich und sagt: „Also dann – mir auch! Aber ohne Speck, bitte! Ich habe keinen Pferdemagen. Und ein großes Helles!“ Sie erhalten ihr Essen wunschgemäß zubereitet. Baltrock bemerkt, wie ihm Zeitfuchs dann und wann einen prüfenden Blick hinüberschickt, aber er gibt kein Zeichen und denkt: Du wirst dich beherrschen lernen! und brennt doch darauf zu erfahren, was der Leutnant erlebt hat. Schließlich tupft er, zufrieden gesättigt und mit einem ausgesprochenen Wohlgefühl im Magen, mit der Serviette den Mund ab, lehnt sich zurück und sagt: „Schieß los!“, und nach einem Blick zu den unentwegten Skatbrüdern: „Aber leise, wenn ich bitten darf!“ 60
Der lange Leutnant neigt sich über den Tisch, zupft nachdenklich die Unterlippe und beginnt zu berichten. Zeitfuchs war also mit Oberleutnant Schnurk nach Mühlen hineingewandert; durch den Ortsteil zog sich die Straße gewunden und katzenköpfig, und die Häuser hier waren niedrig. Der dörfliche Charakter war unverkennbar, Hühner gackerten in einem Hof, ein Pumpenschwengel kreischte, eine Katze flanierte mauerstreichend mit hocherhobenem Schwanz. An der Omnibushaltestelle gabelte die einzige Nebenstraße ab. Hier stand zwischen all den kleinen Häusern ein grauer dreistöckiger Bau, die Flanken kahl, das Dach einer auf den Hinterkopf geschobenen Schirmmütze gleichend. Im ausgebauten Dachgeschoß dieses Hauses hatte Nottrodt, Paul, gehaust. Zeitfuchs läutete an der Nebentür und bat den Maurer Karl Kolping und seine Frau, als Zeugen zu fungieren. Das Ehepaar wohnte seit fünf Jahren hier und kannte Nottrodt so genau, wie man Nottrodt eben kennen konnte. Es war ein guter Griff: Sie waren die einzigen im Haus und in der Nachbarschaft, die über den Toten etwas auszusagen wußten. Schnurk blieb an der Eingangstür stehen, während Zeitfuchs im Beisein der Kolpings die Wohnung durchsuchte. Sie bestand aus einer winzigen Küche, einem kleinen Korridor und einem kombinierten Schlaf-Wohn-Zimmer. Als erstes musterte Zeitfuchs einen dunkelbraunen wackeligen Schreibschrank, er fand in den Schubladen eine Fülle von Zetteln, von denen einige offensichtlich Quittungen und primitive Schuldscheine darstellten, auf anderen waren Zahlenkolonnen aufgeführt, daneben standen 61
Notizen. Alle diese Papiere waren durchmischt mit Zigarettenstummeln und leeren Pappschachteln. Im untersten Fach entdeckte der Leutnant drei Sparbücher. Die Papiere und Sparbücher beschlagnahmte er. Weitere Gegenstände, die für die Sache von Belang sein konnten oder aus strafbaren Handlungen stammten, fand er nicht. Er durchkramte die Schublade des wackeligen Tisches, wühlte in einem Kleiderschrank, zog unter einem der beiden Betten einen Holzkasten hervor, in dem er volle Zigarettenschachteln aufstöberte. Aus allen Behältnissen, die sonst noch vorhanden waren, konnte er nur zerquetschte Stummel, verkrümmte Brotreste, alte Fünfzigpfennigstücke herauskramen. Er ekelte sich dabei, ein unsagbarer Geruch, ja Gestank nach Urin, modrigem Staub und Schimmel benahm ihm den Atem; der Leutnant, Anblicke der Vernichtung und Zersetzung wahrhaftig gewohnt, spürte ein flaues Gefühl im Magen. Als letztes öffnete er eine blauemaillierte Brotbüchse, darin war etwas aufbewahrt, das vermutlich den geheimen Schatz des Nottrodt darstellte: sauber gebündelte und mit Gummis zusammengehaltene rotgestempelte Hundertmarkscheine aus den Jahren vor dem ersten Weltkrieg. Während Zeitfuchs die Wohnung durchsuchte, begleiteten ihn die beiden Kolpings, und da er nicht sprach, sagten sie ebenfalls nichts; nur einmal, als sie auch im stinkenden Abort angeschimmelte Brotreste fanden, stieß die Frau ein bleiches „Mein Gott“ hervor. Und überall waren Holzkloben gestapelt, wie sie Zeitfuchs von jener Ofenbank im Betrieb kannte: grobgespaltene Hartholzkeile. Der Zimmerofen war bis an die Decke darin eingemauert, an jeder freien Stelle der Wände waren sie emporgeschichtet, das zweite Bett, einstmals das Lager der Nottrodt-Ehefrau, war damit 62
bedeckt, den Holzhaufen durchwucherten schmutzige Unterhosen, zerlöcherte Hemden, vielbenutzte Socken und Fußlappen. „Können wir das Protokoll in Ihrer Wohnung ausfertigen?“ fragte Zeitfuchs schließlich. „In der Luft hier erstickt man ja!“ Offensichtlich erleichtert, stimmten die beiden zu. Oberleutnant Schnurk bewachte immer noch die Tür, ein tapferer Zinnsoldat. Er versiegelte die Wohnung sorgfältig und folgte Zeitfuchs. Wohltuend waren die Räume, in denen die beiden Kolpings hausten, zwar nicht größer als die von Nottrodt, aber die Wände frisch tapeziert, blitzende Sauberkeit überall, frisch duftende Gardinen vor den kleinen Fenstern. Zeitfuchs bemerkte auch die vernünftigen Bequemlichkeiten, die der Hausfrau gegönnt waren: den Kühlschrank, die elektrischen Küchenmaschinen. Kolping war Maurer, auch seine Frau war berufstätig, sie arbeitete im Chemiewerk. Sie führten, vierzigjährig beide nun und seit fünfzehn Jahren verheiratet, eine geruhsame Ehe, die kinderlos geblieben war. Ihre Leidenschaft waren kleine Auslandsreisen, die sie sich eifrig zusammensparten, sie kannten Prag, Budapest, Moskau und Leningrad, sie waren zwölf Tage am bulgarischen Sonnenstrand gewesen. Anfangs hatten sie sich um eine andere, freundlichere Wohnung bemüht; aber nachdem sie hatten einsehen müssen, daß sie dieses kleine Glück nicht erreichen würden, hatten sie sich hier heimisch einzurichten gesucht. Der Leutnant sah ein paar Vasen und an der Wand einige Drucke, nach kräftigen Farben ausgewählt. Wenig später saßen sie um einen rechteckigen Tisch auf unbequemen Stühlen; ohne viel zu reden, fertigte 63
Zeitfuchs das Protokoll an, Schnurk und die beiden Kolpings unterschrieben es. „Wir sind nicht ganz sicher“, begann der Leutnant, „ob Herr Nottrodt einen Unfall hatte oder ob ein Verbrechen vorliegt. Sie sollten uns alles erzählen, was Sie über ihn wissen.“ Kolping hob ratlos die Schultern. „Wir wissen nicht viel, er war so ein Sonderling, der ging allen aus dem Wege. Wo er lief und stand, murmelte er vor sich hin, aber mit anderen Leuten hat er nicht gesprochen. Alle hatten sich abgewöhnt, ihn auch nur zu grüßen, denn er hat niemals zurückgegrüßt.“ Die Frau ergänzte: „Wenn Nottrodt in der Dunkelheit nach Hause kam – denken Sie, der hafte im Treppenflur Licht gemacht? Nein! Im Finstern tappte er hoch. Und wenn er dann unvermutet jemandem begegnete, der vielleicht gerade von oben herunterkam, ging er sofort wieder zurück, verließ das Haus, wartete auf der gegenüberliegenden Straßenseite, bis die Luft rein war. Das hat er manchmal zwei-, dreimal getan, sogar die Kinder wußten es schon und machten sich manchmal einen Spaß daraus, nacheinander hinunterzulaufen und ihn so immer wieder auf die Straße zurückzutreiben.“ „Er muß doch aber eingekauft haben, beispielsweise dabei muß es eigentlich Kontakte gegeben haben?“ „Hier nicht“, erklärte die Frau eifrig, „in unserer HO nicht! Da ist er lieber in die Stadt gefahren, aber nicht etwa mit dem Omnibus, sondern auf seiner alten Karre; er hat sich von dort alles geholt, aber in welchem Geschäft – das weiß ich nicht.“ „Meine Frau …“, sagte Kolping, „wissen Sie, er tat uns ja leid, nicht, so ein alter Mensch und so alleine; meine Frau hat ihm anfangs angeboten, für ihn mit ein64
zukaufen. Da hat er nur geknurrt und den Kopf geschüttelt, bis sie es schließlich aufgegeben hat. Ich glaube“, versuchte er nachdenklich zu erklären, „der fürchtete einfach, betrogen zu werden.“ „Oder bestohlen“, ergänzte die Frau, „er hat grundsätzlich niemanden in seine Wohnung gelassen. Wenn Licht und Gas abgelesen wurden, machte er ein Kuvert fertig, schrieb die Zählerstände auf und legte das Geld auf den Pfennig genau bei. Ja, und da haben wir das dann weitergegeben.“ „Ich kann mir trotzdem nicht vorstellen“, warf Zeitfuchs ein, „daß er Tag und Nacht immer nur im Betrieb oder in seiner Wohnung gewesen ist. Er müßte ja an sich selber erstickt sein!“ Kolping erklärte: „So alle halbe Jahre ging er mal in die Kneipe, ich habe ihn selber dort gesehen. Aber auch da sprach er mit niemandem, er bestellte sich lediglich seine Biere, zwei oder drei, und über denen konnte er sechs Stunden hocken, immer nur ins Glas starren, niemanden ansehen, kein Wort reden. Ja, so war Nottrodt. Wissen Sie, jeder hat ihn schließlich gemieden, nicht einmal die Kinder haben sich um ihn gekümmert.“ „Manchmal werden ja alte Leute eigenartig – rechthaberisch, starrsinnig“, sagte die Frau, „oft findet man dann aber eine Tierliebe, sie haben eine Katze oder einen Hund, irgendwas Lebendiges. Nottrodt hatte jedoch überhaupt nichts.“ Kolping merkte, wie bedrückend, wie erschreckend, ja wie unglaublich das Bild des Nottrodt, Paul, war, das sie da zeichneten, und mit einem kläglichen Versuch, ihm scherzend größere Glaubwürdigkeit zu verleihen, setzte er hinzu: „Er lebte wie auf dem Mond, dort hätte ihm wenigstens der Mann im Mond Gesellschaft geleistet.“ 65
Mit einemmal war das Zimmer wie gefroren, und die beiden Kolpings starrten erschrocken den Leutnant an: Mann im Mond – das war der Begriff, der den alten Nottrodt charakterisierte, in jener eisigen Einsamkeit hatte er vegetiert, hatte sich selbst entfernt in unerreichbare Weiten. Zeitfuchs atmete tief auf, auch er empfand die Beklemmung. Er zupfte die Lippe, dann sagte er und schob dabei seine Papiere zusammen und steckte sie in die Aktentasche, die er umständlich zunestelte: „Er war nicht immer der Mann im Mond. Er war ein tüchtiger Arbeiter, und er hat für seinen Sohn jedes Opfer gebracht. Daß der ihn verlassen hat, konnte er nie wiedergutmachen, auch mit noch so vielen Päckchen nicht, das hätte er wissen müssen. Wer weiß – vielleicht hätten wir Nottrodt eines Tages doch noch zurückholen können zu uns allen, es gibt keine völlig verlorenen Menschen, glaube ich. Und wenn tatsächlich ein Mörder diese Möglichkeit zerstört hat, dann …“ Er lächelte gezwungen, er stand auf, und auch Schnurk erhob sich. „Haben Sie vielen Dank. Wir wollen uns umhören, vielleicht kann uns jemand aus der Nachbarschaft doch noch Hinweise geben.“ Aber alles, was sie dann noch erfuhren, war durch die Auskünfte des Ehepaares Kolping bereits eingegrenzt; beide Kriminalisten waren schließlich davon überzeugt, daß weitere Umfragen zwecklos sein würden, und sie waren zur PGH zurückgefahren. Baltrock hat den Leutnant mit keinem Wort unterbrochen, hat ihm zugehört, leicht im Stuhle zurückgelehnt, die Fingerspitzen am Rand des Tisches. Obgleich der Leutnant jetzt schweigt, sieht Baltrock das Bild des Nottrodt immer noch vor sich, und er findet, 66
daß er richtig gewählt hat, als er Zeitfuchs zu sich holte, der eben doch an den Nutzen eines noch so dürftigen Lebens glaubt. Er sagt langsam: „Wenn Nottrodt tatsächlich getötet wurde, dann ist sein Leben vielleicht abgeschnitten worden, bevor er eine neue Chance bekam. Auf jeden Fall müssen wir dem Täter an den Hals, wenn es einen gibt – darin stimmen wir beide überein!“ Damit ist es ihm gelungen, die nachdenkliche Stimmung, die ihn gepackt hatte, abzutun, und er beugt sich vor und sagt: „Also fahren wir ins Kreisamt und sehen uns diese Papiere an!“ Ihr Arbeitszimmer ist im ersten Stock des Kreisamts untergebracht. Auf dem marmorierten Kunststein der Treppenstufen geben ihre Tritte einen seltsam dünnen Klang. Und dieses Zimmer wird also für die nächste Zeit ihr Hauptquartier sein! Der Hauptmann bleibt stehen, er sieht sich um, er nickt zufrieden: Es ist geräumig genug, um die Arbeitsbesprechungen darin abhalten zu können, die Schränke sind in genügender Weise zu sichern, ebenso die drei Schreibtische, die quergestaffelt vor den beiden schmalen Fenstern stehen. Das einzige, was ihm mißfällt, ist ein Blumentopf mit braunvertrocknetem Gestrüpp in steinharter Erde, das ehemals eine lebendige Pflanze war. Er nimmt sich vor, diesen Topf zu entfernen und durch einen anderen zu ersetzen – auch das gehört zu seinem Wohlbefinden. Zeitfuchs sitzt schon am Schreibtisch, fächert die Schubladen auf, prüft das Schreibgerät und beginnt die dickgeschwollene Aktentasche zu entleeren. Er greift mit der flachen Hand hinein und zieht dicke Schichten von 67
Papieren heraus, die wirr durcheinander- und übereinanderliegen, und zum Schluß holt er die drei Sparkassenbücher hervor, die in einer Seitentasche steckten, und während er das tut, quillt mit dem Inhalt ein übel-stockiger Geruch heraus, als hätte der Leutnant aus Nottrodts Wohnung ein Stück Luft herausgeschnitten und mitgenommen. „Wollen mal sehen …“, sagt Baltrock und greift zuerst nach den roten Sparkassenbüchern mit der verschnörkelten goldenen Aufschrift. Er sieht die Endsummen an: eine Mark dreiundsiebzig, fünfhundertsechzehn Mark vierundsiebzig, eintausenddreihundertachtundachtzig! Er blickt auf. „Wozu hat er drei Bücher gehabt, warum nicht eines? Na, vielleicht ergibt sich aus den Buchungen etwas …“ Er schiebt eines zu Zeitfuchs hinüber, und beide Männer prüfen Eintragung um Eintragung, aber weder lassen sich regelmäßige Termine feststellen, noch geben die Beträge, deren Höhe zufällig und willkürlich erscheint, irgendeinen Hinweis. „Damit können wir nichts anfangen, die sagen nichts aus“, faßt Zeitfuchs das Ergebnis zusammen, und Baltrock ergänzt: „Bleibt uns nur übrig, sie sperren zu lassen.“ Sie schieben die Bücher beiseite. Die mit Zahlen und Notizen bedeckten Zettelfetzen zu ordnen ist ein schwieriges Unterfangen, zumal die Wörter oft unleserlich sind. Die beiden Kriminalisten arbeiten schweigend, nur dann und wann schiebt einer dem andern ein Blatt hinüber mit einer stummen Frage, erntet ein klärendes Wort, ein Schulterzucken, es dauert Stunden, bis sie das Material gesichtet haben. Drei Blätter betrachten sie als das Wichtigste, sie ähneln einander, es sind offenbar Seiten, die aus einem 68
Notizbuch herausgerissen wurden. Sie sind mit Kopierstift beschrieben und stellen eine Art formloser Schuldscheine dar, die über Beträge von zehn, zweihundertfünfzig und eintausenddreihundertachtzig Mark lauten. Alle drei tragen verschiedene Unterschriften; sie sind schwer entzifferbar, und da die Kriminalisten annehmen, daß es sich um Betriebsangehörige handelt, verschieben sie die Namenfeststellung auf den nächsten Tag. Die Daten prüfen sie ebenfalls. Die größte Schuld liegt etwa zwei Monate zurück – wann der Betrag zurückgezahlt werden sollte, bleibt offen. Die Summe von zweihundertfünfzig Mark wurde vor zehn Wochen geliehen; hier ist vermerkt, daß drei Monate Ziel gewährt sind, also ist die Rückzahlung noch nicht fällig gewesen. Der unwesentlichste Betrag, zehn Mark, ist vor mehr als einem halben Jahr vorgestreckt worden, und Zeitfuchs nimmt an, die Sache, die ja eine Bagatelle darstellt, sei längst erledigt. Baltrock allerdings bezweifelt das, denn in den anderen Papieren sind diese drei Beträge, vermutlich zur Gedächtnisstütze für Nottrodt, noch einmal hingekritzelt, sie stehen offen. Nottrodt aber, so vermutet der Hauptmann, sei in dieser Hinsicht pinnig gewesen; denn die rund dreißig Namen von Schuldnern, die sich sonst noch finden, sind samt den Beträgen mit dem Vermerk „erledigt“ versehen. Diesen Darlegungen hört Zeitfuchs wirklich nur gelangweilt zu; er sagt: „Darüber brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen, meine ich. Wegen zehn Mark erschlägt schließlich niemand seinen Gläubiger.“ Der Hauptmann sieht ihn so seltsam an, daß Zeitfuchs widerwillig einschränkt: „Na gut, ich habe auch schon Pferde kotzen sehen!“ 69
„Wir werden dem nachgehen“, sagt der Hauptmann mit einer plötzlich unangenehm unpersönlichen Stimme, „die drei Personen werden überprüft und auch ihre Alibis – dann werden wir mehr wissen. Wir sollten uns außerdem die anderen Leute ansehen, deren Namen Nottrodt vermerkt hat. Wir dürfen uns nicht darauf kaprizieren, daß nur ein aktueller Schuldner als Täter in Frage kommt; es könnte ja auch eine Person sein, die über Nottrodt gut Bescheid wußte und seine Angewohnheit kannte, zumindest zu bestimmten Zeiten Geld mit sich herumzuschleppen. Das müssen nicht unbedingt Betriebsangehörige sein. Mühlen ist ein Dorf geblieben, jeder kennt jeden, ich wette, eine nicht geringe Zahl von Menschen wußte genau, daß Nottrodt über Geld verfügte. Ich kann mir gut vorstellen, daß für die Mühlener auch die PGH kein böhmisches Dorf ist, da ist es nicht schwer, zu kombinieren. Selbstverständlich sind auch alle die in Betracht zu ziehen, die vorübergehend in dem Betrieb arbeiteten, aushilfsweise in der Tischlerei, vielleicht Elektriker, die etwas zu reparieren hatten, Chauffeure, die Waren brachten und holten, und dergleichen mehr. Der Personenkreis ist also nicht gerade klein. Schließlich muß die Straftatenvergleichskartei eingesehen und die Abteilung Innere Angelegenheiten über Strafentlassene befragt werden.“ Während der Hauptmann redet, starrt Zeitfuchs ihn unverwandt an und zupft dabei gedankenverloren die Unterlippe; ihn beherrscht ein unangenehmes Gefühl: Wozu zählt Baltrock ihm das alles auf? Schließlich ist er kein Neuling, es kommt ja geradezu einer Standpauke gleich! Aber er versagt es sich, darauf etwas zu erwidern; im Laufe der Jahre hat der Leutnant Disziplin gelernt. 70
Ja, er hatte Disziplin regelrecht lernen müssen, denn ursprünglich gehörte die Selbstzucht nicht zu seinen Eigenschaften. Vielleicht rührte das daher, daß er nicht nur ein intelligenter, sondern auch ein phantasievoller Bursche war, wie sich bereits auf der Grundschule zeigte. Und obgleich ‚das dazu führte, daß er gewissen Lehrern und Lehrerinnen widersprach, weil er sich ihnen überlegen fühlte, hatte er im Kollegium doch einen guten Ruf, da seine Leistungen den Durchschnitt überstiegen. Aus diesem Grunde wurde er, Sohn einer kinderreichen Arbeiterfamilie, dann auch auf die erweiterte Oberschule delegiert, wo er 1956 ein gutes Abitur ablegte. Seiner Neigung zur phantasiegeladenen Abenteurerei entsprach es, daß ihm der Jägerberuf vorschwebte: Er sah sich in Wäldern, sah sich Tiere beobachten, sah sich auf Jagdstreifen gehen – und das war der Grund, weshalb er Forstfacharbeiter wurde. Aber da stellte sich doch heraus, daß die Wirklichkeit nüchterner war als der Traum. Sicherlich trug dieses Erlebnis dazu bei, daß er sich freiwillig zur NVA meldete; er diente in einem Panzertruppenteil. In dieser Zeit, nun unter die harten soldatischen Regeln gestellt, klärte sich in ihm einiges, er wurde Mitglied der SED, und als er seinen Berufsweg erneut durchdachte, entschied er sich für eine Bewerbung bei der Volkspolizei. Immer noch hingen ihm dabei die Eierschalen der Jugend an; denn bei aller Klarheit, die er gewonnen zu haben glaubte, mochte er nicht mehr zurück in den Wald, der ihn enttäuscht hatte; die Jagd, die er sich dort erträumt hatte, hatte er da am wenigsten gefunden. Jetzt erhoffte er sich bei der Volkspolizei die Erfüllung dieser Wünsche, wenn es hier auch nicht um die Jagd auf Tiere, sondern auf Verbrecher ging. 71
Daraus wurde nun freilich nichts. Zunächst betätigte er sich als Verkehrsregler, später als Unfallsachbearbeiter, und das wurde eine zweite und sehr eindringliche Schulzeit, in der er lernte, sich selbst zu bezähmen, niemals vorzuprellen und die Sachlage nüchtern für sich selbst sprechen zu lassen. Seine Leistungen waren auffallend gut, er wurde zur Abteilung Kriminalpolizei versetzt, absolvierte die Fachschule des Ministeriums des Innern mit Erfolg und landete schließlich, wie auch Baltrock seinerzeit, bei „Leben und Gesundheit“. Er liebte seine Arbeit; außer der gelegentlichen Jagd bei Vollmond gab es für ihn keine anderen Hobbys, er besuchte Spezialistenschulungen, las Fachliteratur und gewöhnte sich in dieser Zeit an, nachdenklich an der Unterlippe zu zupfen; allerdings entstand damals in ihm ein untergründiges Gefühl von Überlegenheit gegenüber jenen, deren theoretisches Wissen ihm nicht so fundiert erschien; ein Gefühl, das er freilich zu unterdrücken suchte, das sich aber gelegentlich in jenen unkontrollierten Bemerkungen artikuliert, die Hauptmann Baltrock so sehr mißfallen. Jetzt aber gestattet sich der Leutnant keine solche leichtfertige Rede, er sitzt am Tisch und zupft an der Lippe und hört in stummer Aufsässigkeit Baltrock zu, bis der die Papiere auf dem Tisch zusammenschiebt und sagt: „Für morgen früh um halb sieben habe ich hier eine Arbeitsbesprechung angesetzt. Wir werden die nächsten Maßnahmen festlegen. Ich glaube nicht, daß es sehr sinnvoll ist, wenn wir beide jetzt unsere Besprechung weiterführen. Mehr Fakten haben wir im Augenblick sowieso nicht. Du wirst bis morgen früh einen Maßnahmeplan aufstellen, ich werde das gleiche tun, dann stimmen 72
wir die Pläne aufeinander ab. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß bei dieser Methode oft neue Gesichtspunkte auftauchen.“ Als sie in die „Nebelkrähe“ zurückfahren, spüren sie beide ihre Übermüdung. Trotzdem sitzt wenig später der Leutnant in dem schmalen Gästezimmer, und im kargen Schein der Nachttischlampe, die er auf den Tisch gestellt hat, liegt die Kopie des Tatortplans, liegen viele weiße Blätter; Punkt für Punkt notiert der Leutnant seine Gedanken, ändert die Reihenfolge, streicht, setzt hinzu, er arbeitet mit der Konzentration eines Mathematikers und mit der Jagdlust eines Spürhundes, er weiß, er braucht keinen Kaffee und keinen Kognak; das einzige, was er sich gestattet, sind Zigaretten, bald ist die Luft grau, Zeitfuchs sitzt vornübergebeugt, denkt nach, zupft und notiert mit seiner winzigen, gestochenen Schrift – fast sehen die Blätter aus, als seien sie bedruckt –, und er wird erst aufstehen, das Fenster weit öffnen, sich in der kalten Luft dehnen und tief ein- und ausatmen und ganz zufrieden sein, wenn es ihm gelungen ist, einen Plan fertigzustellen, der Erfolg verspricht. Der Hauptmann hingegen schreibt jetzt nichts. In seinem Zimmer brennt die Deckenlampe, er hat die Fenster weit aufgerissen, es ist stürmisch draußen, die Temperatur sinkt der Null zu, in Wogen fegt die kalte Luft herein; er spürt es nicht, er hat die Jacke abgeworfen, die Hände in die Hosentaschen gestopft und geht im Zimmer hin und her, von der Tür zum Fenster, vom Fenster zur Tür; die Fakten kennt er, die Fakten sind in ihm, seine Phantasie spielt mit ihnen, baut eine Art Puzzlespiel, Steine fügen sich, fügen sich nicht, auseinander fällt das Bild, und wieder beginnt er es neu zusammenzusetzen, ordnet die 73
Puzzles anders an – und erst spätnachts wird er sich am Tisch niederlassen und mit seiner grobschlächtigen, linksfliegenden Schrift festhalten, was in seinem Gehirn bereits notiert ist. Was ihn zuinnerst stört, ist der Widerspruch zwischen dem Befund Dr. Salandas, der so stark gegen ein Verbrechen spricht, und jenem Häuflein Erde auf dem Zaun, das dafür spricht. Eines schließt das andere aus. Zwar gestattet der Hauptmann sich nicht, in dem Obduktionsergebnis eine Weiche zu sehen, über die seine Überlegungen in eine andere Richtung fahren dürfen; aber diese Weiche ist da, immer wieder stößt sie den Zug seiner Gedanken. Nur flüchtig erlaubt sich Baltrock den Seufzer, Salanda habe es gut, Salanda habe seine Pflicht getan, und damit sei der Fall für ihn ausgestanden und erledigt, ja, Salanda dürfe ruhig schlafen … 3 Entgegen dieser Annahme schläft Dr. Salanda keineswegs ruhig, er schläft überhaupt nicht. Offen gestanden ist er ausgesprochen mißmutig gegen neunzehn Uhr aus seinem Institut nach Hause zurückgekehrt. Am Rande der Bezirksstadt bewohnt er mit seiner Familie die untere Etage eines Zweifamilienhauses in einer leicht hügeligen, sehr stillen, waldbegrenzten Gegend, wo sich beiderseits der schmalen Straßen die Häuser hinter Vorgärten zurückziehen. Salanda wurde bereits zum Abendbrot erwartet, der Tisch war gedeckt, die beiden Söhne lungerten untätig und hungrig herum, die Frau empfing ihn unabsichtlich erleichtert: „Endlich kommst du!“ Dieses Endlich öffnete seinem Unmut die Tür, Salanda 74
erging sich darüber, daß er in seinem Beruf kein Achtstundenarbeiter sein könne, man brauche ja nicht auf ihn zu warten, man müsse das eben in Rechnung stellen, zum Teufel noch mal … So verlief das Abendbrot sehr still, die Söhne duckten sich, die Frau wartete geduldig ab, bis sich die Wolken verzogen haben würden, und Salanda strich wütend und appetitlos ein paar Butterbrote, benagte das zweite nur, legte es weg, knurrte: „Ich hab’ keinen Hunger!“, faltete die Serviette und verschwand mit der kargen Entschuldigung, er habe noch zu arbeiten. Tatsächlich war die Familie erleichtert. Das Arbeitszimmer war ein großer Raum mit einem geräumigen Erker, in den der Arzt einen Schreibtisch größten Ausmaßes hineingeschoben hatte. An die Platte war eine Bürolampe mit unnachsichtig scharfem Licht geklammert, die rüsselartig schwenkbar war. Die Wände des Zimmers waren von oben bis unten und ohne jede Lücke durch dunkle, braungebeizte Regale bedeckt, die voll Bücher gepreßt waren, und da nicht genügend Platz zur Verfügung stand, lagen weitere Bücher obenauf. Um diese Zeit, da Baltrock flüchtig an ihn denkt, ist Dr. Salanda bereits in seine Arbeit vertieft. Mit nachtwandlerischer Sicherheit hat er mit dem linken Zeigefinger eine ganze Reihe von Werken aus den Regalen gezogen und auf dem Schreibtisch gehäuft, er hat Stöße wissenschaftlicher Zeitschriften, uralte Jahrgänge auch, durchgeblättert und das eine und andere Heft herausgefischt und auf die rechte Seite des Schreibtisches geschoben. Das grobe Licht der Bürolampe fällt auf Salandas lange schmale Hände; mit der einen blättert er in dem Buch, liest, zögert, blättert weiter, mit der andern notiert er 75
Stichworte; er schiebt das Buch weg, zieht eine Zeitschrift zu Rate, überlegend führt er den Kugelschreiber zart an seinem weißblonden Menjoubärtchen hin und her, schreibt wieder, reibt ärgerlich das linke Ohr. Es ist ganz still im Raum. Draußen, vorm Fenster, raschelt der Wind und quirlt braunes Laub unter einen Sauerkirschbaum, der mitten vor dem Erker steht. Spätnachts, im Hause schläft schon alles, erhebt sich Salanda endlich, sein Rücken schmerzt vom gebückten Sitzen; er geht durch das Zimmer, ein mit Notizen bedecktes Blatt in der Hand. Er geht langsam, er ist nicht mehr ärgerlich, nicht mehr ungeduldig, er ist zufrieden. Neben der Tür ist auf einem kleinen Podest das Telefon angebracht. Salanda hebt den Hörer ab, er wählt, die Nummer kennt er auswendig. Den Kopf gewohnheitsmäßig auf die Schulter geneigt, lauscht er auf das Zeichen, lauscht auf die Stimme, sagt dann: „Hier Doktor Salanda. Bitte, übermitteln Sie Hauptmann Baltrock folgende Nachricht.“ Er hebt das Blatt vor die Augen, es knistert leise, er beginnt langsam, manche Sätze wiederholend, zu lesen. 4 Als Baltrock und Zeitfuchs frühmorgens ihre „Nebelkrähe“ verlassen, hat sich die Welt verändert: Kein nebelnässender Herbsttag empfängt sie, sondern ein klarer Frostmorgen. Die Dächer ringsum sind reifbehaucht, Rauhreif blüht dick an ein paar welken Grashalmen in den Gossenritzen, der Himmel ist von durchsichtigem Hellgrau, noch ist die Sonne nicht über die Häuser geglitten, aber ein fahler Mond ist in das helle Kristall geschliffen; unwillkürlich atmen beide Männer tief auf. Es ist ein Morgen, der Mut macht. 76
Obgleich das Thermometer nur zwei Grad unter Null zeigt, ist die Kälte noch so ungewohnt, daß sie die Männer durchdringt, ihr Atem weht rauchig vom Munde; aber sie fühlen sich dadurch erfrischt, nichts ist zurückgeblieben von der durchgrübelten Nacht. Im Kreisamt nehmen sie kräftig mehrere Stufen auf einmal. Das Arbeitszimmer ist ihnen jetzt schon vertraut. Baltrock will sich gerade niederlassen und rückt an seinem Stuhl, da tritt ein Hauptwachtmeister ein und überreicht ihm ein Fernschreiben. Der Hauptmann reißt es auf, er zieht das knisternde Papier auseinander und tritt nahe ans Fenster, um zu lesen. Zeitfuchs zerrt an seiner Unterlippe und wartet, und da läßt Baltrock das Blatt tatsächlich einen Moment sinken, sieht den Leutnant an und sagt: „Donnerwetter, mein Lieber, Donnerwetter! Nun höre dir das einmal an!“ Er hebt das Blatt wieder vor die Augen und beginnt stockend vorzulesen, wobei er manche Worte wiederholt, als müsse er nach deren Sinn graben. „Die Befunde im Fall Nottrodt haben mich nicht ruhig schlafen lassen. Ich habe unser Bildarchiv durchgesehen, das zahlreiche Fälle aus den dreißiger Jahren enthält. Ferner habe ich sämtliche mir zugängige Literatur nach einschlägigen Darstellungen durchsucht. Dabei bin ich auch auf Fälle von queren Durchtrennungen der Kopfschwarte gestoßen, die nicht durch Sturz entstanden. Ich werde ein solches Foto nachsenden. Die Schläge sind allerdings in selbstmörderischer Absicht beigebracht worden. Man kann aber selbstverständlich nicht ausschließen, daß auch Schläge von fremder Hand so aussehen und dementsprechend liegen können. Wenn also nach Lage der Dinge Sturz von der Treppe auszuschließen wäre, so ist unbedingt Schlag 77
anzunehmen. Der Fall zwingt hier zu besonders sorgfältiger Ermittlung. Doktor Salanda.“ Baltrock schweigt und sieht in stillem Triumph Zeitfuchs an. Dann lächelt er breit, glättet das Papier liebevoll mit der Hand, legt es sorglich in die mittlere Schublade seines Schreibtisches und sagt: „Es ist doch tröstlich, daß sich nicht nur die Kriminalisten ihre Nächte wegen so einer Sache um die Ohren schlagen!“ Alle Ungewißheit ist aus ihm geschwunden, jetzt weiß er, daß es nur eines gibt: Die Fährte zu entdecken, der Fährte zu folgen, den Täter zu stellen. Beinahe munter sagt er: „Also los! Und mit Volldampf! Das Untier, das diesen armen Menschen auf dem Gewissen hat, das müssen wir fassen!“
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4. KAPITEL
1 „Manchmal“, sagt Werkleiter Wronski, lehnt sich auf dem leise krachenden Stuhl zurück und sieht Baltrock mit seinen kleinen Augen verschmitzt und bewundernd zugleich an, „hätte ich auch nicht übel Lust, jemanden zu erschlagen. Aber ich habe mich immer dafür entschieden, ihn mit guten Worten zu überfahren.“ Schnell setzt er hinzu: „Und mit guten Taten, selbstverständlich!“ Er lacht leise grollend und meint: „Und ich danke meinem Gott, daß ich mich dafür entschieden habe, denn wenn ich so sehe, Genosse Hauptmann, welcher Apparat dann in Bewegung gerät – wer hat da eine Chance zu entkommen!“ „Kaum einer“, bestätigt Baltrock, „falls wir nichts übersehen und keinen Fehler machen.“ Er ist mit Befriedigung erfüllt, die Arbeitsbesprechung ist nach seinem Geschmack verlaufen, seine Mitarbeiter hatten den Fall durchdacht, ihre Hinweise waren knapp und nützlich, und der Plan, der entstanden war, überzeugte ihn; freilich wußte er besser als Wronski, wie groß die Maschen des Netzes waren, das auszuwerfen sie im Begriff standen, aber er war sicher, daß es das beste Netz war, das augenblicklich geknüpft werden konnte. „Ich will mich bemühen, Ihren Betrieb möglichst wenig zu behindern“, sagt er, „aber wir benötigen Ihre Unterstützung.“ „Selbstverständlich!“ betont Wronski. „Was an mir liegt …“ Er scheint zu einer breiten Erklärung ausholen zu wollen, der Hauptmann aber unterbricht ihn so, daß der Werkleiter nicht gekränkt sein kann, er sagt: „In den 79
nächsten Tagen brauchen wir hier in Ihrer PGH einen Stützpunkt. Wir müssen beispielsweise von allen, die mit dem Tatort in Berührung kamen, Fingerabdrücke anfertigen – das dient dazu, diejenigen auszuscheiden, die dort Spuren hinterlassen haben und nachweislich für die Tat nicht in Frage kommen.“ „Ja, wer kommt denn in Frage?“ Wronski lehnt sich gespannt vor. „Alle“, erwidert Baltrock gemächlich, „alle, die Geld von Nottrodt geliehen haben, aber auch alle, die vielleicht Geld benötigten! Sie kennen Ihre Leute, Genosse Wronski, Sie werden mir da Fingerzeige geben können. Wir müssen jedoch auch wissen, wer außer den Belegschaftsangehörigen Zugang zum Betrieb hatte und so die Örtlichkeiten kennenlernen konnte, Elektriker beispielsweise, die Reparaturen ausführten, Arbeiter, die zeitweise hier tätig waren, Chauffeure, die Waren brachten oder abholten …“ „War in der letzten Zeit nicht der Fall!“ Wronski sagt das bedeutungsvoll, er fühlt sich bereits wohl in seiner neuen Rolle. Baltrock erwidert nichts, er sieht dem Werkleiter zu, wie er aus der Jackentasche sein Etui hervorholt, eine Zigarre entnimmt, sie genüßlich anzündet. Erst als Wronski das Etui in die Tasche zurückgeschoben hat, sagt der Hauptmann langsam: „Genosse Wronski, was verstehen Sie unter ‚in letzter Zeit‘?“ Damit weiß der Dicke wenig anzufangen, er meint unbestimmt: „Tja, so vierzehn Tage.“ „Warum sollte nicht jemand“, sagt der Hauptmann, „der vor einem halben Jahr hier Einblick gehabt hat, als Täter in Frage kommen? Jemand, der damals kein Geld brauchte, es später aber benötigte – und da fiel ihm ein: 80
Du hast doch mal gesehen, wie dieser alte Mann immer welches mit sich herumschleppte? Nein, Genosse Wronski, wir gehen ein Jahr zurück, und ich möchte Sie bitten, als erstes die Leute zu notieren, an die Sie sich für diesen Zeitraum erinnern können.“ Er dämpft Wronskis Einwurf mit leicht erhobener Hand. „Keine Angst, wir befragen natürlich auch andere, wir wissen schon, wie schwach das Gedächtnis sein kann!“ Er macht eine kleine Pause, er sagt: „Ich hatte mir vorgestellt, daß Sie uns das Pförtnerhäuschen zur Verfügung stellen, damit die Fingerabdrücke genommen werden können. Außerdem brauchten wir noch einen Raum, in dem wir uns mit dem einen oder anderen Ihrer Mitarbeiter ungestört unterhalten können. Wäre das wohl möglich?“ Wronski hat sich von seinem Erstaunen noch nicht erholt. Er sagt: „Ich glaube, Sie würden mir meinen ganzen Zementhof aufreißen, wenn Sie vermuten, daß Sie darunter etwas finden können!“ Baltrock entgegnet ernsthaft: „Davon müssen Sie überzeugt sein, Genosse Wronski! Nur wenn Sie davon überzeugt sind, werden Sie uns richtig helfen können!“ Plötzlich ist Schweigen in dem kleinen viereckigen Raum. Im Ofen knallt das Holz wie mit kleinen Schüssen, und Baltrock denkt, möglicherweise würden dort jetzt die Hartholzscheite verfeuert, die Nottrodt sich zurechtgeschlagen hatte. Des Werkleiters Stimme ist verändert, als er sagt: „Das Pförtnerhaus können Sie selbstredend benutzen, der Wächter kann sich nachts in den Umkleideräumen aufhalten. Ich gebe sofort Anweisung. Und einen ungestörten Raum … wirklich ungestört ist nur dieses Büro; aber ich muß erst ein paar Unterlagen herausnehmen, damit 81
wir weiterarbeiten können. Ich werde schon eine Notunterkunft für uns finden!“ Der Hauptmann ist überrascht, wie sehr ihm der Werkleiter entgegenkommt, er weiß: Für Wronski ist es ein wirkliches Opfer, diesen kleinen Herrschersitz zu räumen. Wenig später ist Baltrock draußen am Tor und gibt den Kriminalisten, die ihn erwarten, seine Anweisungen: Die beiden Wagen sind im Hof abzustellen; Schnurk und ein Hauptwachtmeister sollen die Neubauten, die von der PGH aus sichtbar sind, aufsuchen und sich umhören, ob dort in jener Nacht verdächtige Wahrnehmungen gemacht worden seien, und sie sollen ferner, falls die Zeit ausreicht, mit einem Boot den Fluß absuchen; den beiden anderen Kriminalisten fällt die Aufgabe zu, die Fingerabdrücke zu nehmen, sie werden von Wronski eine Liste der Betriebsangehörigen erhalten, damit niemand übersehen wird; Baltrock selbst will gemeinsam mit Zeitfuchs jene Mitarbeiter der PGH sprechen, die irgendwelche Auskünfte geben können, und der Leutnant soll außerdem die dringendsten Alibis überprüfen, da er Ortskenntnisse besitzt. Während Baltrock mit Zeitfuchs zu dem Büro zurückkehrt, fragt der Leutnant: „Wen wollen wir uns als ersten vorknöpfen?“ „Den Mann, dem das Spind neben Nottrodt gehört“, erwidert der Hauptmann, „das ist eigentlich selbstverständlich! Er kann uns vermutlich am meisten über Nottrodts Gewohnheiten sagen, er kann uns über den Spiegel Auskunft geben, vielleicht bekommen wir sogar Fingerzeige auf jene Leute, die Geld von Nottrodt geborgt haben.“ Der Werkleiter ist noch im Büro, aber das Ausräumen scheint beendet zu sein; er steht da, schiebt den dicken 82
Bauch ungeniert vor, der Kragen seines Fettpolsters von Doppelkinn wogt leise, als er mit seiner tiefen Stimme dröhnt: „Zufrieden, die Herren?“ Zeitfuchs sagt gar nichts, er steht und starrt Wronski stumm an. Baltrock hingegen nickt und bestätigt: „Zufrieden!“ Dann sagt er zu dem Leutnant: „Den Schreibmaschinentisch für die Sekretärin schieben wir am besten in eine hintere Ecke, da stört sie am wenigsten.“ „Ja“, sagt der Hauptmann unvermittelt zu Wronski, als falle ihm das jetzt erst ein, „wir haben da drei Quittungen gefunden. Können Sie uns sagen, wer die unterzeichnet hat?“ Er legt die drei herausgerissenen Notizblätter sorglich nebeneinander auf den Schreibtisch. Wronski beugt sich darüber. „Aber sicher! Genosse Hauptmann, seit Jahren kontrolliere ich die Lohnzahlungen, ich weiß Bescheid!“ Er schiebt die Zettel ein wenig höher, er erklärt: „Das ist Taschenbrecher, Harry, der ist Mitte Zwanzig, seit einem reichlichen Jahr im Betrieb.“ Er sieht auf, schüttelt den massigen Schädel. „Daß der so viel geliehen hat, wundert mich allerdings. Aber …“, und das setzt er in einem Ton hinzu, als wolle er jeden Verdacht ersticken, „ein schneller Arbeiter, vielleicht nicht ganz sorgfältig, jedoch überall einzusetzen, wo es Feuerwehraktionen gibt, ja, die haben wir manchmal noch.“ Gleich darauf lacht er leise. „Der gute Henoch! Hat also auch gepumpt!“ Und sofort ernst: „Er ist über Vierzig, hat Familie, ist angesehen, übrigens Genosse, das kann nur eine momentane Verlegenheit gewesen sein, vielleicht hatte er gerade eine Anschaffung!“ Er richtet sich hoch und meint geringschätzig: „Über den da mit den läppischen zehn Mark kann ich Ihnen gar nichts sagen. Der heißt Romeike 83
oder so ähnlich, hat ja eine miserable Schrift. Der muß zu den dreien gehören, die uns von Werk eins aus der Stadt vor einem Vierteljahr als Hilfskräfte für vierzehn Tage abgestellt wurden. Pilarzyk müßte Bescheid wissen, unter dem hat er gearbeitet.“ Er schaut erst den Hauptmann, dann Zeitfuchs an, als wolle er bestätigt bekommen, daß er seine Sache gut gemacht hat, und Baltrock sieht keinen Grund, ihn nicht zu streicheln: „Ausgezeichnet, Genosse, Sie geben uns wirklich schon ein erstes Bild.“ Doch dann schwenkt er sofort auf die Sache um: „Ach ja – wenn Sie uns den Mann hereinschicken wollten, der das ausgeleerte Spind benutzt?“ „Delitt!“ ergänzt Wronski. „Sofort, sofort!“ „Der Dicke ist mir zu eifrig!“ sagt Zeitfuchs, als Wronski den Raum verlassen hat. „Besser zu eifrig als zu verschlossen“, erwidert Baltrock und setzt sich an den Schreibtisch, der für die nächsten Tage ihm gehören wird. „Aber du ergänzt unseren Spurenplan, nicht wahr?“ Darauf erwidert der Leutnant nichts; er ärgert sich ein wenig, daß er an eine solche Selbstverständlichkeit erinnert wird. „Und nun“, sagt Baltrock, „wollen wir uns diesen Delitt mal ansehen!“ 2 Delitt, Siegfried, von seinen Arbeitskollegen Sigi genannt, macht auf die beiden Kriminalisten keinen günstigen Eindruck. Er ist vierundzwanzig Jahre alt, mittelgroß und schlank, und selbst an seiner Arbeitskleidung kann man sehen, wie sehr er auf sein Äußeres hält. Das schwarze Haar trägt er gewellt bis in den Nacken, an den Wangen 84
herab laufen bestechend rasierte Koteletten, deutlicher Parfümduft geht von ihm aus. Er ist jener Typ, der sich für unwiderstehlich hält, und Baltrock zweifelt keinen Augenblick daran, daß er mit Mädchen reiche Erfahrungen hat – allerdings mit jener Sorte, die der Hauptmann nicht mag. Und er möchte wetten, daß Delitt ein schweres Motorrad fährt! Der junge Mann schweigt, nachdem er eingetreten ist, er bleibt an der Tür stehen, und in seinen großen braunen Augen – Baltrock muß gestehen, daß sie wirklich ausdrucksvoll sind – ist eine Spur Trotz und stummer Widerstand. Um so liebenswürdiger sagt der Hauptmann: „Treten Sie bitte näher, Herr Delitt, und setzen Sie sich!“ Dabei rückt er an dem Stuhl, den er an die Schmalseite des Schreibtisches gestellt hat. Zwar kommt Delitt heran, aber er bleibt stehen. „Es wird einige Zeit dauern“, sagt Baltrock, „setzen Sie sich nur.“ „Ich stehe lieber!“ erwidert Delitt und bewegt sich nicht. „Wie Sie wollen“, meint der Hauptmann nachgiebig, und er geht zur Sache über. „Sie sind Nottrodts Spindnachbar?“ „War!“ betont Delitt. „Gewiß“, bestätigt der Hauptmann, „denn Nottrodt ist erschlagen worden.“ Delitt rührt die Schultern. Baltrock fragt rasch: „Oder was meinen Sie?“ „Ich denke mir, daß er sich den Hals gebrochen hat, als er da mit seinen verdammten Holzklötzen ’rumgekrochen ist. Der war doch nicht mehr ganz bei sich!“ Das kommt sofort. 85
„Ich habe den Eindruck“, sagt Baltrock langsam, „daß Sie Nottrodt nicht so sehr mochten?“ „Nein!“ gesteht Delitt knapp. „Das ist eine eindeutige Auskunft“, erklärt der Hauptmann. „Warum konnten Sie ihn eigentlich nicht leiden?“ „Er war mir zu dreckig“, sagt Delitt frei heraus, „ein schmuddeliger Kerl, er war mir richtig ekelhaft, er stank ja vor Dreck. Und geizig! Wenn der jemandem Geld geborgt hatte, dann kroch er bei jeder Lohnzahlung hinterher, und er hatte sich die Zinsen genau ausgerechnet, immer etwas mehr, als ihm die Bank gegeben hätte.“ „Sie haben nie von ihm geliehen?“ Delitts Augen bekommen einen geradezu aufsässigen Ausdruck. „Nein! Und wenn ich trockenes Brot hätte essen müssen – von dem nicht! Aber ich brauchte Gott sei Dank kein trockenes Brot zu essen.“ „Wieviel verdienen Sie hier, Herr Delitt?“ „Über sechshundert, ohne die Prämien.“ „Nun gut“, schließt der Hauptmann dieses Kapitel ab, „können Sie mir sagen, wo und wie Nottrodt das Geld aufbewahrte, wenn er welches auslieh?“ „Kann ich“, sagt Delitt, „das habe ich ja jeden Tag gesehen. In einer abgeschabten Aktentasche, hundert Jahre alt, ehemals schwarz, zwei Schlösser, eines ging nicht zu, das schnappte nicht mehr ein – ist Ihnen damit gedient?“ Baltrock wechselt mit Zeitfuchs einen Blick, diese Aktentasche ist nicht aufgefunden worden, er sagt langsam: „Ja, Herr Delitt, damit ist uns gedient!“ Er vergewissert sich: „Die Aktentasche war also schwarz, aber alt und abgeschabt, sie hatte zwei Schlösser, eines davon war entzwei. War sonst noch etwas Besonderes daran?“ Delitt antwortet: „Nichts, aber verwechseln kann man sie nicht. Nottrodt hatte seinen Namen hineingeschrieben.“ 86
„Mit Tinte? Und wohin denn?“ „Innen auf die Klappe, zwischen die Nieten von dem Henkel. Aber womit er das geschrieben hat, das weiß ich nicht.“ Der Hauptmann nickt befriedigt, Delitt hat ihm eine ziemlich genaue Beschreibung geliefert, dafür ist er dankbar. Aber ehe er fortfahren kann zu fragen, ruckt Delitt mit dem Kopf nach rückwärts in Richtung der Sekretärin, die mitschreibt, und fragt: „Wird das alles getippt?“ „Würde Ihnen denn das etwas ausmachen?“ Das fährt dem Leutnant heraus, es ist unklug, vorschnell, aber Zeitfuchs ist von Delitts aggressivem Ton gereizt. Baltrock sieht ihn warnend an, doch es ist zu spät, Delitt sagt: „Da werde ich mal lieber vorsichtig sein.“ Der Hauptmann lenkt sofort ein: „Vorsichtig, Herr Delitt, muß man bei Aussagen immer sein, es geht möglicherweise um Mord, und eine falsche oder irrige Auskunft könnte Unschuldige belasten.“ Darauf erwidert Delitt nichts, solche Belehrungen nimmt er ungern hin, alles, was nach Belehrung riecht, mag er nicht; also beschließt der Hauptmann, das zu vermeiden. So sagt er betont sachlich: „Ich möchte nur noch etwas über Ihr Spind wissen, Herr Delitt. Wir haben es offen vorgefunden, das Hutbrett war herausgenommen und unten hineingeschoben. Können Sie eine Erklärung dafür geben?“ „Wieso ich?“ kommt sofort die Antwort. „Ich habe mein Spind in Ordnung, da war immer alles an seinem Platz!“ „Aber abgeschlossen hatten Sie es nicht!“ sagt Zeitfuchs. Delitt erwidert erregt: „Kann ich doch nicht! Ausgerechnet zu meinem Spind gibt es keinen Schlüssel! Seit 87
einem Jahr erzähle ich das dem Meister, aber da ändert sich nichts! Für andere Leute bringen wir Möbel in Ordnung, nur bei uns ist so eine Lotterei.“ „Warum bringen Sie nicht selbst ein neues Schloß an, Herr Delitt, Sie sind doch Fachmann!“ sagt der Leutnant kühl. „Ist nicht meine Sache“, antwortet Delitt. „Sicher nicht“, meint der Hauptmann und nimmt Zeitfuchs das Gespräch aus der Hand, „es spielt auch keine Rolle.“ Dieser Delitt ist ihm keineswegs mehr widerwärtig, der Widerstand, den er anfangs empfand, ist geschmolzen. Mag der junge Mann seine Haarpracht pflegen und auffällig makellose Koteletten tragen, wenn es ihm Spaß macht, denkt der Hauptmann, auf jeden Fall ist er auf Ordnung bedacht, nur für andere Leute will er diese Ordnung nicht machen; es scheint, er will niemanden aus seiner Verantwortung entlassen, und sei es bloß die läppische Verantwortung für einen fehlenden Schlüssel. „Sie sind also sicher, daß Ihr Spind eingeräumt war und das Hutbrett oben lag?“ „Habe ich gesagt“, erwidert Delitt und fügt erbost hinzu: „So unwichtig ist es nun auch nicht, daß ich das Spind nicht abschließen konnte! Jetzt fehlen nämlich mein Arbeitsmantel und die Handtücher!“ „Das ist wieder wichtig, Herr Delitt, Sie sehen, das Gespräch mit Ihnen ist wirklich bedeutungsvoll, es hilft uns weiter!“ Zum ersten Male nickt Delitt zum Zeichen seines Einverständnisses und gibt auf Baltrocks Bitte eine minutiöse Beschreibung der fehlenden Sachen. Er setzt aber gleich hinzu: „Kann ich jetzt gehen?“ 88
„Nur noch eines“, sagt der Hauptmann, „auf dem Spind wurde ein Spiegel gefunden …“ Baltrock kommt nicht dazu, auszureden, Delitt unterbricht ihn empört: „Den habe ich schon gesucht! Wo ist er denn?“ „Wir haben ihn beschlagnahmt.“ Der Hauptmann hebt beruhigend die Hand. „Sie kriegen ihn später zurück, und so wertvoll, daß wir uns deswegen erregen müßten, ist er ja auch wieder nicht.“ Widerwillig gibt Delitt zu: „Erregen will ich mich nicht …“, aber er erklärt gleich wieder aufsässig: „Für mich ist er eben wertvoll!“ „Sie haben den Spiegel nicht auf das Spind gelegt?“ „Nein! Der hing an der Innentür an einem Nagel.“ „Sind Sie sicher, daß Sie ihn vorgestern nicht vielleicht doch abgenommen haben, daß Sie es möglicherweise eilig hatten und ihn hinaufschoben?“ „Warum sollte ich ihn denn abnehmen, den Spiegel!“ wehrt sich Delitt. „Ich kämme mich immer so!“ Unwillkürlich führt der junge Mann das vor, er geht ein wenig in die Kniekehlen, als beuge er sich zu einem Spiegel nieder, er hält mit der flachen rechten Hand sorgfältig den Scheitel fest, streicht mit einem imaginären Kamm seine Wellenhaare nach rechts und stupft die Frisur liebevoll in die erwünschte vollkommene Form, und dabei sagt er: „Sie sehen, ich brauche beide Hände zum Kämmen, da kann ich keinen Spiegel halten! Und wenn ich ihn abgenommen hätte, dann hätte ich ihn auch wieder dort hingehängt, wo er hingehört, bei mir gibt es nämlich keine Schlamperei!“ Das Mir betont der junge Mann so scharf, daß der Seitenhieb auf seine PGH deutlich wird. Baltrock scheint das nicht zu bemerken, er fragt: „Wer hat den Spiegel außer Ihnen benutzt?“ 89
„Niemand“, erwidert Delitt sofort. „Sind Sie da ganz sicher? Haben Sie ihn nicht doch einmal einem Kollegen geliehen, dem Spindnachbarn vielleicht? Ich meine nun nicht gerade Nottrodt!“ „Es hängt ein Spiegel neben der Tür, und den benutzen die anderen alle. Zu mir ist keiner gekommen. Ich habe meinen Spiegel ja nur deshalb, weil sich um den großen immer so viele Kollegen herumdrücken. Kann man sich da vielleicht in Ruhe frisieren?“ Er sagt „frisieren“, nicht „kämmen“. Der Hauptmann verbirgt ein Lächeln. Eigentlich ist für ihn dieses Gespräch abgeschlossen, er ist überzeugt, daß Delitts Auskünfte handfest sind; er ist zufrieden, drei wichtige Informationen erhalten zu haben: den Hinweis auf die Aktentasche, den Vermerk über die fehlenden Kleidungsstücke und die zweifelsfreie Behauptung, der Spiegel sei nur von Delitt benutzt worden; falls also der Daumenabdruck nicht von ihm selber stammt – und das wird sich in Kürze herausstellen –, könnte er ein Signal des Täters sein. Eigentlich nur pro forma und weil es dazu gehört, fragt er: „Wo waren Sie gestern nacht?“ Auf einmal stellt sich Delitt sichtbar dumm, er fragt: „In welcher Nacht?“ „In der Nacht, als Nottrodt starb“, sagt der Hauptmann geduldig. Delitt sieht Baltrock nicht mehr an, und das macht den Hauptmann aufmerksam; aber er läßt dem jungen Mann mit den schönen Koteletten Zeit. Der zuckt schließlich die Schultern: „Darüber will ich nichts sagen. Das ist schließlich meine Sache.“ Darauf schweigt der Hauptmann, er erteilt keinen Verweis, er sagt nichts, er fragt nichts. 90
Er weiß genau, daß dieses unvermittelte Verstummen, diese Stille, die plötzlich den Raum erfüllt, Delitt mehr beunruhigen wird als ein noch so deutlicher Verweis. Delitt sieht keinen der beiden Kriminalisten an, er sucht sich den Anschein des Gleichmuts zu geben und schaut aus dem Fenster; doch vor dem Fenster ist nichts zu sehen, er kann nicht so tun, als sei er von irgend etwas gefesselt, Delitt schluckt, er räuspert sich, er sagt schließlich und trommelt dabei unhörbar mit den Fingern der Linken auf den Schreibtischrand: „Aber wenn Sie es durchaus wissen wollen, es ist ja nichts dabei, ich war bei meiner Braut.“ „Nun also“, sagt Baltrock freundlich, „damit ist die Sache aus der Welt geschafft, Herr Delitt. Sie waren die ganze Nacht dort?“ Delitt hat aufgehört zu trommeln, Delitt ist offensichtlich erleichtert, er sieht den Hauptmann wieder an, er fährt mit der Rechten vage durch die Luft. „Na ja, die ganze Nacht, so bis um fünf morgens vielleicht …“, und er setzt hastig hinzu: „Dann mußte ich nach Hause, mich für den Betrieb zurechtmachen! Und eine Runde schlafen“, fügt er mit einem zu vertraulichen Lächeln noch hinzu. Das erwidert Baltrock nicht, seine Stimme klingt geschäftsmäßig: „Nun geben Sie uns noch Name und Adresse Ihrer Verlobten, und damit ist die Sache erledigt.“ Delitt schweigt, allmählich rötet sich sein Gesicht, die Haut wirkt durch den Kontrast zu den tiefschwarzen Haaren wie angestrichen. „Nun?“ fragt der Hauptmann. „Nein“, antwortet Delitt gepreßt, „ich will nicht, daß sie in die Sache hineingezogen wird!“ 91
Vorsichtshalber dämpft Baltrock den Leutnant mit einem warnenden Blick, er spürt, wie gern der sich einmischen möchte; aber Zeitfuchs hat sehr gut begriffen, warum der Hauptmann vorhin die Befragung Delitts übernahm. Jetzt denkt er nur: Der Alte sollte mit dem verdammten Burschen schlittenfahren! Ein paar hinter die Ohren gehören dem, damit er zur Vernunft kommt! Möglicherweise denkt Baltrock ganz ähnlich, aber er verfährt anders, er sagt betont langsam: „Ich glaube, Herr Delitt, es wäre besser, wenn Sie sich jetzt setzten!“ Und siehe da: auf einmal folgt Delitt dieser unvermittelten Aufforderung, geradezu mechanisch läßt er sich auf dem Stuhl nieder. Baltrock wartet das geduldig ab, und als habe er sehr viel Zeit, sagt er zu dem Leutnant: „Werfen Sie doch bitte ein paar Scheite in den Ofen, ich fürchte, wir haben es sonst bald ganz kalt hier drinnen!“ Davon kann nicht die Rede sein, der Ofen speit geradezu Wärme, die Fensterscheiben sind längst abgetaut; trotzdem läßt der Leutnant keine Andeutung eines Widerspruchs erkennen, er gibt seine Lippe frei, erhebt sich lang, schlenkert zum Ofen hinüber, öffnet das Türchen und wirft ein paar Kloben in den kochenden Schlund. „Rein theoretisch“, beginnt der Hauptmann gelassen, „könnte man sich ja eigentlich fragen, warum nicht Sie als Täter in Frage kommen sollten? Sehen Sie einmal: Sie haben Ihr Spind neben dem von Nottrodt, Ihr Spind allein war aufgerissen, Sie wußten, daß Nottrodt Geld bei sich hatte und wo er es aufbewahrte, Sie waren mit Nottrodts Gewohnheiten vielleicht am besten vertraut, Sie haben genau gewußt, wann der Mann Dienst tat, auch der Hund kannte Sie, Herr Delitt, da hätten Sie nicht einmal zu befürchten gehabt, daß er anschlug, Sie verbellte, Lärm machte. Und schließlich geben Sie uns ein 92
Alibi, das wir nicht überprüfen sollen! Freilich, wir könnten auf Anhieb nicht sagen, warum Sie den alten Mann erschlagen haben, aber Sie selbst haben ja nachgerade deutlich betont, wie widerwärtig er Ihnen war, Sie sind offensichtlich sogar froh, daß Sie ihn los sind – und Geld kann man schließlich immer gebrauchen, nicht wahr?“ Der Hauptmann sieht Delitt voll an; der schüttelt den Kopf, aber was er sagt, ist so undeutlich, daß nur das Wort „Unsinn“ verständlich ist. Baltrock greift es sofort auf. „Unsinn – meinen Sie? Nun, ich meine es nicht! Nehmen wir nur einmal diese ominöse Braut, bei der Sie gewesen sein wollen. Wissen Sie, Herr Delitt, Sie können uns ja für dumm halten, aber für so dumm sollten Sie uns nicht halten! Ein Mann wie Sie! Der so aussieht! Das ist doch der Typ, auf den junge Damen fliegen, nicht wahr? Wenn Sie gesagt hätten: Freundin! Nun ja, das hätte ich Ihnen vielleicht abgenommen. Aber: Braut! Nein, Herr Delitt!“ Wenn Baltrock meinte, Delitt werde sich geschmeichelt fühlen, so scheint er zu irren, denn der junge Mann erwidert hartnäckig: „Es stimmt aber!“ „Auch gut!“ nimmt der Hauptmann davon Notiz. „Und Sie wollen uns den Namen nicht sagen?“ „Nein!“ „Aber Herr Delitt! Sie erschweren uns nur die Arbeit, und Ihnen nützt es nichts. Warum wollen Sie uns das also verschweigen?“ „Ich will eben nicht, daß sie in die Sache hineingezogen wird!“ „Jetzt sagen Sie selber: die Sache – und: hineingezogen! Ich fürchte, Sie sind es, der etwas damit zu tun hat! Ich fürchte, Sie haben keine Braut, die uns Ihr Alibi bestätigen würde! Das ist es!“ 93
Nun reagiert Delitt überhaupt nicht mehr, er sitzt da, nein, er hockt zusammengekauert, die schönen vollen Lippen zusammengekniffen, offenbar will er keine Auskunft mehr geben. „Falls Sie aber eine haben“, fährt Baltrock ruhig fort, „werden wir sie sehr schnell ermitteln. Wir brauchen nur Ihre Eltern zu fragen, Ihre Kollegen.“ Ein schiefes Lächeln sitzt plötzlich auf Delitts Gesicht, zu seinen Händen sagt er: „Die wissen doch nichts!“ „Was“, der Hauptmann ist zum ersten Male wirklich überrascht, „Ihre Eltern wissen nichts von Ihrer Braut?“ Delitt schüttelt verstockt den Kopf. „Und Sie bleiben wirklich dabei, uns den Namen zu verschweigen?“ Delitt nickt. „Wie Sie wollen!“ schließt da Baltrock ab. „Es kann aber für Sie unangenehm werden, denn bedenken Sie doch: Wenn Sie uns die Anschrift mitteilen, ist Ihre Unschuld vermutlich sofort festgestellt. Uns liegt nichts daran, Sie zu belasten. Wenn Sie jedoch schweigen, müssen wir ermitteln – auch, Herr Delitt, in Ihrem eigenen Interesse, damit Sie nämlich nicht in einen vielleicht falschen Verdacht geraten!“ Er macht noch einmal eine Pause, er hofft, Delitt werde sich besinnen; aber nichts erfolgt. „Dann unterzeichnen Sie das Protokoll, damit ist unser Gespräch vorerst beendigt.“ Als Delitt bereits an der Tür ist, sagt der Hauptmann: „Sie müssen sich zu unserer Verfügung halten. Sie bleiben in den nächsten Tagen in der Stadt, und wenn Sie nicht im Betrieb oder bei Ihren Eltern sind, hinterlassen Sie, wo wir Sie finden können!“ Diese Worte sind in den Rücken Delitts gesprochen, er 94
läßt sie über sich ergehen, die Hand auf der Klinke. Dann ist er verschwunden. Im Ofen kracht das Holz. „Na!“ sagt Zeitfuchs kritisch. „Na!“ Natürlich weiß Baltrock, daß der Leutnant mit diesen zwei Brocken seiner Skepsis Ausdruck gibt; indessen schweigt er zunächst und sinniert, über seine Notizen gebeugt, so lange, bis Zeitfuchs unruhig sich auf seinem Stuhle bewegt. Dann erst hebt er den Kopf und sagt bedachtsam: „Wir haben Delitt an keiner einzigen Stelle bei einer Lüge ertappt, und solange das der Fall ist, müssen wir unterstellen, daß er insgesamt die Wahrheit sagt. Wir sind schließlich dazu da, die Wahrheit zutage zu fördern – nicht nur einen Schuldigen haben wir zu überführen, sondern auch einen Unschuldigen zu entlasten. Das ist ein Grundsatz, in dem wir uns nie irremachen lassen dürfen, auch nicht durch unseren Wunsch, den Täter zu entdecken.“ Das klingt Zeitfuchs wieder zu lehrhaft, es ist nicht nach seinem Geschmack. Trotzdem muß er eingestehen, daß Baltrock im Recht ist, so nickt er schließlich und sagt mit schiefem Lächeln: „Mit mir geht eben manchmal der Jäger durch.“ Der Hauptmann lächelt zurück, er sagt: „Du schießt ja auch nicht auf Rehkitze, nicht wahr?“ Bei diesem Gedanken zuckt der Leutnant sichtlich zusammen, Baltrock weiß, daß sein Hinweis genützt hat, also tritt er das nicht breit, er sagt: „Erledigt.“ „Nur“, wendet der Leutnant ein, „ist mir unverständlich, warum Delitt über diese ominöse Braut absolut nichts sagen will.“ Baltrock zuckt die Schultern. „Dafür kann es viele Gründe geben. Hast du denn immer im Leben und vor jedem deine Karten auf den Tisch gelegt? Nein, wir können 95
Delitt damit nicht belasten, auch wenn er uns Arbeit macht, wir müssen seinen Grund herausfinden. Im übrigen haben wir durch ihn einen ganz wichtigen Hinweis bekommen, den auf die Aktentasche.“ „Also, ich bin ganz sicher“, springt Zeitfuchs sofort ein, „daß sie in Nottrodts Wohnung nicht gewesen ist. Die wäre mir aufgefallen.“ „Und hier hat sie sich auch nicht gefunden. Ich nehme an, daß Nottrodt darin sein Geld aufbewahrte und der Täter sie mitgenommen hat. Nach dieser Aktentasche müssen wir fahnden, ich halte sie für unsere bedeutsamste Spur. Stelle du über Mittag noch einmal fest, ob hier im Betrieb jemand mehr davon weiß.“ Er macht eine kurze Pause, er fragt: „Wie schätzt du den Stand jetzt ein?“ „Nicht schlecht“, erwidert Zeitfuchs, „wir haben in kurzer Zeit eine Menge Informationen erhalten. Zunächst einmal wissen wir genau, daß Nottrodt keinem Unfall erlegen ist. Weiter hat der Täter zweifellos die aus dem Spind entwendeten Kleidungsstücke benutzt, nach ihnen müssen wir also auch forschen. Dann haben wir erfahren, daß die Aktentasche fehlt. Schließlich ist da dieses Messer, das möglicherweise auch einen Hinweis auf den Täter gibt.“ Er sieht Baltrock voll an. „Ich würde vorschlagen, daß wir uns umgehend mit einem Aufruf an die Bevölkerung wenden und um ihre Mitarbeit in folgenden Punkten bitten: Wer hat in der Tatnacht verdächtige Personen in der Nähe der PGH bemerkt, wem ist sonst etwas Verdächtiges aufgefallen? Wer kann Hinweise auf den Eigentümer des Taschenmessers geben? Wer kann über den Verbleib der Aktentasche etwas aussagen? Wer hat die Handtücher und den Arbeitsmantel nach der Mordnacht gefunden oder in wessen Besitz gesehen?“ 96
Baltrock vermerkt mit Genugtuung, daß dies präzis formuliert ist. Er nickt Zeitfuchs zu. „Das werden wir tun!“ Aber er warnt noch einmal: „Und uns nicht dadurch irritieren lassen, daß uns der eine oder andere, aus welchem Grunde auch immer, verdächtig erscheint; dann werden wir geduldig nach Beweisen für Schuld und Unschuld forschen.“ Und als habe er damit schon zuviel gesagt, meint er kurz: „Und nun zu Taschenbrecher! Der nächste bitte!“ 3 Harry Taschenbrecher ist weitaus bereitwilliger, Auskunft zu geben, als Delitt. Baltrock und Zeitfuchs bemerken das schon an der Art, wie er hereinkommt: freundlich und laut grüßend, seinen Namen nennend, den Stuhl rückend, „Darf ich mich setzen?“, wenig später die Zigarettenschachtel aus der Tasche ziehend. „Ich darf doch rauchen?“ Hier nun hält es der Hauptmann für richtig, nicht mit genauen Fragen zu beginnen – Taschenbrecher hat das Bedürfnis nach Kontakten, er redet gern, also soll er das tun. Baltrock sagt: „Wir sammeln Informationen über Nottrodt. Erzählen Sie uns, was Sie von ihm wissen.“ Taschenbrecher besinnt sich nur kurz, dann stützt er den linken Ellenbogen auf den Schreibtisch und beginnt mit einem Winken der Hand: „Ja, also Paul, also Nottrodt war ja nun ein Eigenbrötler, nicht wahr, aber ich bin mit ihm immer gut ausgekommen, man mußte ihn nur zu nehmen wissen.“ Der Redefluß ist nicht einzudämmen, Neues erfahren die Kriminalisten allerdings zunächst kaum. Trotzdem unterbricht Baltrock nicht, er wird noch zeitig genug auf 97
die Schulden des Taschenbrecher zu sprechen kommen, falls der nicht selbst davon redet. Inzwischen beobachtet er das Gebaren des jungen Mannes. Auf sein Äußeres gibt der Vierundzwanzigjährige wenig. Sein Arbeitsanzug ist voller Flecken, auch der fehlende Knopf entgeht Baltrock nicht, es ist der oberste der Jacke, immer wieder muß Taschenbrecher sie zusammenraffen. Das spricht, so schlußfolgert der Hauptmann, für eine gewisse Gleichgültigkeit; auch bei der Arbeit müßte ihm das hinderlich sein. Das blonde, ein wenig strähnige Haar steht dort, wo der Scheitel sein sollte, wirbelig und stachelig ab, ganz zweifellos gibt Taschenbrecher dem Friseur keine komplizierten Anweisungen, und er hält es sicherlich für ganz überflüssig, für „Fummelei“ – dieses Wort benutzt Taschenbrecher des öfteren –, wenn der Friseur ihm zum Abschluß das Hinterhaupt spiegelt. Das Gesicht ist nicht einprägsam: das wäßrige Blau der Augen, die zu hellen Augenbrauen, die ungesundblasse Haut mit dem Dutzend Sommersprossen über der Nasenwurzel, der kleine Mund mit Lippen, deren dünnes Rosa sich wenig von der Hautfarbe abhebt – das alles verschwimmt zu einem bedeutungslosen Oval. Verstohlen sieht der Hauptmann auf die Uhr. Taschenbrecher redet jetzt schon zwanzig Minuten, und gesagt hat er gar nichts, hat nur so geplaudert und dabei immer wieder Baltrock, und Zeitfuchs angesehen, als erwarte er von ihnen zustimmende oder beifällige Bemerkungen; trotzdem hofft der Hauptmann immer noch, daß der Mann auf seine Schulden zu sprechen kommen werde. Endlich ist der Redestrom verebbt. Taschenbrecher schneuzt sich geräuschvoll und lang anhaltend, Baltrock 98
denkt: Er braucht eine Pause zum Nachdenken, er überlegt, was er uns weiter erzählen soll. Dazu will er es nicht kommen lassen, er will aber seine Fährte auch nicht zu zeitig verraten, so fragt er und schaut dabei auf einen Zettel: „Kennen Sie einen gewissen Romeike?“ Taschenbrecher sagt: „Reiner meinen Sie wohl, der aus Werk eins abgestellt war? Romeike haben wir den nie genannt. Und ob ich mich an Reiner erinnere, das war doch der, der nicht sagen konnte ‚imposant‘, sondern der dann sagte: im Po-po Sand!“ Taschenbrecher lacht schallend wie über einen herrlichen Witz, er fährt fort: „Den habe ich immer geuzt, war urkomisch, wenn der an seinen Worten fast erwürgt ist.“ „Ah ja!“ sagt der Hauptmann so, als verstünde er jetzt vieles. „Und meinen Sie, daß der Reiner bösartig war, gewalttätig, heimtückisch – manchmal findet man das ja bei körperlich Benachteiligten?“ „Der?“ sagt Taschenbrecher überzeugt. „Nein, Herr Kommissar, der nicht! Der war froh, wenn er in Ruhe gelassen wurde, der tat keiner Fliege etwas zuleide.“ „Und hat er denn“, fragt Baltrock weiter, „trotz seines Stotterns einigermaßen gut gearbeitet? Ich meine, er konnte sich doch schlecht verständlich machen.“ „Ich glaube schon“, sagt Taschenbrecher, „fragen Sie doch den Meister, Pilarzyk kann Ihnen bestimmt genau Auskunft geben.“ „Danke für den Hinweis“, erwidert der Hauptmann und tut, als notiere er sich etwas, „und wieviel, meinen Sie, hat der Reiner Romeike verdient, nur über den Daumen gepeilt?“ „Schätze, vierhundertfünfzig Eier, in der Gegend jedenfalls.“ 99
„Da stehen Sie zweifellos viel besser da?“ fragt Baltrock harmlos. „Klar“, sagt Taschenbrecher selbstbewußt, „siebenhundert sind mir sicher, mal mehr, mal weniger, auf die Prämien kommt es an, und da bin ich schnell bei der Hand.“ Jetzt ist der Augenblick gekommen, da Baltrock zugreift, er sagt rasch: „Dann hatten Sie es doch eigentlich nicht nötig, sich von Nottrodt dreizehnhundertachtzig Mark zu leihen?“ Da verstummt Taschenbrecher plötzlich, und es dauert einige Zeit, ehe er ungewohnt leise sagt: „Das wissen Sie also …“ „Ja“, bekräftigt der Hauptmann und ist zum Angriff entschlossen, „das wissen wir also! Und wir wissen sogar, daß es schon über zwei Monate her ist, seit Ihnen Nottrodt das Geld lieh, wir kennen sogar das genaue Datum.“ Er schlägt einen Schnellhefter auf, da liegt die Quittung bereit, er schiebt sie so zu Taschenbrecher hin, daß der sie lesen kann. Indessen: Taschenbrecher beachtet sie überhaupt nicht, er akzeptiert Baltrocks Behauptung auch ohne Beweis. Langsam zieht der Hauptmann die Quittung zurück und birgt sie sorgfältig in seinem Schnellhefter. Er sagt: „Soweit ist die Sache klar. Wozu brauchten Sie denn das Geld?“ Taschenbrecher atmet auf, er findet wieder Worte, zunächst kommen sie zögernd, holpernd, stolpernd, aber allmählich wird er sicherer; war er soeben ein schnappender Fisch, aufs Trockene geworfen, so plätschert er nun erneut in seinem Redefluß. Er sei, so stellt er es dar, ein Motorradfan, immer wieder habe er seine Maschinen gewechselt, für alte Mecken habe er nichts übrig, es sei nun einmal sein Hobby, und 100
vor zwei Monaten habe er sich entschlossen, eine neue, schwere MZ zu erwerben; sein Geld habe indessen nicht gereicht, er sei eben kein Geizkragen, dafür habe er noch nie was übrig gehabt, und Geld könne man ja sowieso nicht ins Grab mitnehmen, er habe da eine großzügige Hand, gern schmeiße er mal eine Runde oder auch ein paar, und man wisse ja, wie schnell ein Fünfziger vertan sei, nicht wahr? Jedenfalls habe er Kassensturz gemacht und dabei festgestellt, daß sein Geld nicht reichen würde, und so sei er an Nottrodt herangetreten … Wie? Na ja, herangetreten sei vielleicht ein bißchen hochtrabend, er habe ihn abgepaßt, als er gerade mal allein war, nach Arbeitsschluß. Nottrodt habe zuerst nicht gewollt, der Betrag sei ihm zu hoch gewesen, er habe lieber Kleckersummen verliehen, dann habe Nottrodt nach Sicherheiten gefragt, aber er habe gesagt, Paul, habe er gesagt, was willst du mehr an Sicherheiten als meine Prämien? Da habe Nottrodt schließlich ja gesagt, aber er habe zehn Prozent Zinsen gefordert, die er gleich einbehalten habe, in Wirklichkeit habe er ihm nämlich gar nicht dreizehnhundertachtzig geliehen, sondern nur zwölfhundertzweiundvierzig, und er habe sich dann das Motorrad gekauft, und schließlich sei das alles ja nicht strafbar, außer den zehn Prozent, aber wenn das unter Wucher falle, dann sei das nicht seine Hochzeit, sondern die von Nottrodt. Geduldig hört sich Baltrock die langschweifigen Ausführungen an und gewinnt dabei immer mehr den Eindruck: Taschenbrecher schaufele Sand, um etwas zu verschütten, aber was? Als Taschenbrecher schweigt und mit einem forschenden Blick unter den farblosen Brauen hervor die Wirkung seiner Worte abzumessen sucht, sagt der Hauptmann langmütig: „Was Sie mir da erzählen, ist zwar nicht ganz 101
stubenrein, aber das soll mich nicht interessieren. Zunächst wüßte ich gern, welche Rückzahlung zwischen Ihnen und Nottrodt vereinbart wurde. Erstaunlich ist nämlich, daß sich ein entsprechender Vermerk zwar auf einem anderen Schuldschein findet, auf Ihrem aber nicht.“ Taschenbrecher behauptet mit Überzeugung: „Nottrodt hatte zu mir eben Vertrauen! Der wußte, daß ich Wort halte!“ „Na!“ sagt der Hauptmann nur, und allen Zweifel, den er in dieses eine Wort hineinlegen kann, legt er hinein; er fährt fort: „Auf jeden Fall muß also eine mündliche Vereinbarung getroffen worden sein, nicht wahr?“ „Sicher“, bestätigt Taschenbrecher, nicht mehr. „Und wie lautet die?“ Und nun sagt Baltrock zum ersten Male unfreundlich: „Lassen Sie sich nicht alles aus der Nase ziehen!“ Taschenbrecher lächelt unsicher, er spürt, daß diese Bemerkung ernst gemeint ist, er möchte sie gern in den Bereich des freundlichen Scherzes schieben. Es gelingt ihm nicht. Also bequemt er sich zu der Aussage: „Ich habe ihm versprochen, Raten zwischen hundertfünfzig und zweihundertfünfzig zurückzuzahlen, je nachdem, wieviel Prämie ich kriege, und weil der Betrag nicht ganz feststand, hat er das Rückzahlungsdatum nicht vermerkt.“ „Und wann wollten Sie mit der Rückzahlung beginnen?“ Die Augen weichen aus. „Ach“, behauptet er, „ich habe ihm gesagt, so Anfang des nächsten Jahres, im Januar also, ich wollte erst mal Luft haben.“ „Und damit war Nottrodt einverstanden?“ „Ja.“ 102
Der Hauptmann läßt sich Zeit, erst nach einer Pause sagt er: „Wissen Sie, Herr Taschenbrecher, ich hätte Ihnen auf den Kopf zusagen können, wie die Sache war. Ich wollte es nicht. Ich wollte wissen, ob wir Ihren Worten vertrauen können oder ob Sie lügen. Nun wissen wir, daß Sie uns belogen haben.“ Taschenbrecher ruckt sich zusammen, er begehrt auf, er beginnt sich zu wehren. Aber Baltrock läßt ihn nicht mehr zu Wort kommen. „Es mag alles stimmen, das eine indessen stimmt mit Sicherheit nicht: daß Sie erst im Januar mit der Rückzahlung beginnen sollten! Das sollten Sie nämlich bereits nach dem ersten Monat! Nottrodt hat uns das gesagt, obgleich er inzwischen tot ist. Er hat nämlich Buch geführt, zwar primitiv, aber sehr genau, und unter allen seinen Zetteln findet sich auch einer mit Ihrem Namen und der Schuldsumme. Die beiden Monatsersten, die verstrichen, seit Sie geliehen haben, sind ebenfalls vermerkt, aber dahinter finden sich jeweils nur ein Fragezeichen und ein paar Ausrufezeichen. Wollen Sie das sehen?“ Nein, Taschenbrecher will es nicht sehen, Taschenbrecher starrt mit seinen wasserhellen, ausdruckslosen Augen den Hauptmann an und sucht offensichtlich nach Reden und Ausreden, aber es will ihm nichts einfallen; dann zuckt er hilflos die Schultern und gesteht: „Ja, ich habe nicht zurückgezahlt.“ „Und warum nicht?“ fragt Baltrock. Wieder das Schulterzucken, wieder eine Pause. Was mag in diesem Schädel nur vorgehen, denkt der Hauptmann. „Herr Taschenbrecher, ich warte auf Antwort“, sagt er mit warnendem Klang, „bequemen Sie sich endlich.“ Taschenbrecher gibt auf. Er schaut den Hauptmann 103
wieder an, er sagt: „Ich habe mir gedacht, der ist alt. Der kann das sowieso nicht mitnehmen. Und der ist geizig. Ich habe mir gedacht, ich ziehe das hin, und wenn er eines Tages gestorben ist, kräht kein Hahn mehr danach.“ Er sagt es wirklich so, und der Hauptmann ist von der Kälte dieser Überlegung, dieser schamlosen Berechnung so getroffen, daß er härter, als er ursprünglich beabsichtigte, sagt: „Und er ist nicht gestorben, sondern hat Sie gemahnt, wieder und wieder. Er war geizig, sagen Sie, er wollte sein Recht, behaupte ich. Allmählich ist er Ihnen lästig geworden, er ist Ihnen auf den Wecker gefallen, würden Sie vermutlich sagen, und da haben Sie gedacht: Eines Tages stirbt der sowieso, schade ist es um ihn nicht, also beschleunige ich die Sache ein bißchen, also schlage ich ihn tot. War es nicht so, Herr Taschenbrecher?“ Unter diesen Worten duckt Taschenbrecher sich, und als Baltrock endet, noch in die letzten Worte hinein, springt er auf, alle Frechheit ist aus seinem Gesicht geflogen, er stützt sich mit den Händen auf den Tisch, beugt sich zu dem Hauptmann vor und würgt heraus: „Nein, Herr Kommissar, nein, nein! Ich habe dem Nottrodt nichts getan, wirklich und wahrhaftig nicht, ich …“ Die Stimme versagt ihm, verzweifelt schüttelt er den Kopf; auf einmal erschlafft und entmutigt, bringt er nur noch hervor: „Ach, ich …“ und dann gar nichts mehr. „Setzen Sie sich hin!“ sagt Baltrock eisig, und Taschenbrecher folgt diesem Befehl sofort. Der Hauptmann sagt: „Es gibt für uns keinen Grund, Ihnen zu glauben, Herr Taschenbrecher! Sie haben uns vorher belogen, Sie belügen uns auch jetzt.“ „Nein“, wehrt Taschenbrecher sich entsetzt, hinter seiner Stirn arbeitet es, er sagt: „Ich war in der Nacht doch gar nicht hier, ich war in der Stadt, im ‚Ewigen Lämpchen‘.“ 104
Baltrock sieht fragend den Leutnant an, der nickt und erklärt: „Das ist so ein Überbleibsel in einem Abrißhaus.“ „Ah ja!“ sagt Baltrock, er wendet sich wieder an Taschenbrecher: „Und dort wollen Sie in jener Nacht gewesen sein?“ „Ja, Herr Kommissar“, Taschenbrecher ist plötzlich betriebsam eifrig, „wir haben da geskatet. Und getrunken.“ „Und wie sind Sie nach Hause gekommen?“ fragt Baltrock. „Sie wohnen doch in Mühlen?“ „Mit meiner Maschine!“ erklärt Taschenbrecher mit einer Spur von kläglichem Stolz. „Mit dem Motorrad? Aber Sie hatten doch getrunken? Wieviel haben Sie denn getrunken?“ Taschenbrecher sagt zögernd: „Drei Biere … vielleicht. Und drei, vier Klare.“ „Und da wollen Sie mit dem Motorrad gefahren sein? Wußten Sie nicht, daß Sie sich strafbar machten? Aber lassen wir das! Wie lange waren Sie im ‚Ewigen Lämpchen‘?“ Es folgt Frage auf Frage, zwingend, knapp, zupackend – Taschenbrecher kann nicht mehr in Geschwätz flüchten, er wird gezwungen, ebenso präzise zu antworten, wie er gefragt wird; er stützt den Kopf in die Hände, die Handflächen liegen an den Schläfen, die Stirn ist vor Anstrengung quergefaltet. So bemüht er sich um eine genaue Erinnerung; denn das hat er begriffen: Nachdem er einmal bei einer Lüge ertappt wurde und vieles gegen ihn spricht, wird man alle seine Auskünfte überprüfen, und bei einer zweiten Lüge darf er sich nicht mehr ertappen lassen. Natürlich weiß der Hauptmann nicht, ob das Wahrheit ist, was er da erfährt, oder ob Taschenbrecher versucht, ein ganzes Lügengebäude hochzumauern, bei dem alle 105
Steine sicher zusammengefügt sind und das keiner Brechstange Gelegenheit gibt, es von irgendeiner Stelle aus zusammenstürzen zu lassen. Schließlich gewinnt Baltrock dieses Bild: Taschenbrecher ist nach Ende der Arbeitszeit heimgefahren. Dort hat er bis zum Abendbrot an seinem Motorrad herumgebastelt. Sofort nach dem Abendessen, etwa gegen neunzehn Uhr oder etwas später, ist er nach B. gefahren, und zwar geradewegs ins „Ewige Lämpchen“, das zu dieser Zeit schon ziemlich voll war. Mit zwei Bekannten, Thomas Dreier und Alwin Soltau, spielte er bis Mitternacht Skat. In diesen Stunden hat er das Lokal nicht verlassen. Um Mitternacht, leicht angetrunken, hat er mit den beiden Kumpanen das Lokal verlassen und sich von ihnen, die in B. wohnen, getrennt. Als er die Straße betrat, regnete es ziemlich stark. Er ist dann sofort, in erheblichem Tempo, wie er sagt, die Landstraße entlang nach Mühlen gefahren. Als er die Wohnung betrat, schliefen schon alle, und auch er legte sich sofort ins Bett. Während Baltrock das erfragt, macht Taschenbrecher zum ersten Male keine Ausflüge ins Ungewisse, sondern versucht, möglichst knapp zu antworten, so daß der Hauptmann den Eindruck gewinnt, Taschenbrecher sage die Wahrheit. Baltrock wiederholt Punkt für Punkt, langsam, so daß Taschenbrecher Zeit zum Nachdenken bleibt, und sagt dann: „Wir prüfen das nach.“ Und fügt hinzu: „Doch selbst, wenn es stimmt, Herr Taschenbrecher, ist es ein löcheriges Alibi, das wird Ihnen klar sein?“ „Herr Kommissar, ich schwöre …“ Taschenbrecher hebt die Hände. 106
„Schwören Sie nichts!“ sagt der Hauptmann. „Sagen Sie einfach die Wahrheit, Herr Taschenbrecher! Seien Sie sich klar darüber: Wir finden sie sowieso heraus, Sie brauchen sich draußen nur umzusehen, um zu erkennen, welcher Apparat in Gang gesetzt wurde, und falls Sie sich wirklich an Nottrodt vergriffen haben, ist es besser, Sie gestehen freiwillig, denn das wird Ihnen bei der Gerichtsverhandlung angerechnet! Es wäre auch möglich, daß Sie nicht die Absicht hatten, Nottrodt etwas zuleide zu tun, daß er Sie überraschte und Sie zu stark zuschlugen. Es könnte auch Körperverletzung mit Todesfolge sein, nicht Mord.“ So versucht Baltrock, dem Taschenbrecher ein Geständnis zu erleichtern, falls er eines abzulegen hat; aber Taschenbrecher bleibt dabei: „Ich war es nicht, wirklich und wahrhaftig, ich bin sofort nach Hause gefahren!“ „Nun gut! Sollte Ihnen noch etwas einfallen, das Sie mir oder dem Leutnant sagen möchten – wir sind jederzeit für Sie zu sprechen. Und jetzt unterschreiben Sie das Protokoll, dann können Sie gehen.“ Baltrock lehnt sich zurück, er sieht zu, wie Taschenbrecher sich über die Blätter des Protokolls beugt und übereifrig jede einzelne Seite abzeichnet; er folgt zwar der Aufforderung, alles genau durchzulesen, aber er tut es nur oberflächlich ; und dann erhebt er sich und sieht den Hauptmann an, er verbeugt sich mehrere Male in die stumme Ablehnung hinein und geht rückwärts zur Tür, und dort verbeugt er sich nochmals. Als er den Raum verlassen hat, sagt Zeitfuchs: „An zwei Stellen fassen wir zu, und schon haben wir zwei potentielle Täter.“ „Im Grunde ein Schlappier“, antwortet Baltrock, „aber auch solche Naturen sind zu feigen Überfällen 107
fähig, wenngleich …“ Er versinkt in Nachdenken. Er schüttelt den Kopf und sagt: „Ich mußte ihn hart anfassen, nachdem er einmal gelogen hatte, denn ich will ja verhindern, daß er es wieder tut. Und tatsächlich bleibt ein Verdacht bestehen, selbst wenn er im ‚Ewigen Lämpchen‘ war. Er hätte auf der Rückfahrt immer noch Zeit für einen Abstecher in die PGH gehabt. Nur warne ich dich vor zu großem Optimismus. Über Delitt haben wir schon gesprochen, und auch für Taschenbrecher haben wir keinerlei wirklichen Schuldbeweis.“ „Aber wir müssen seine Angaben besonders sorgfältig nachprüfen.“ „Stimmt“, sagt der Hauptmann, „das müssen wir jedoch immer.“ 4 „So“, sagt der Hauptmann, nachdem er das Protokoll gegengezeichnet hat, „ich muß Luft holen, ich möchte zur Abwechslung einen seriösen Menschen hören. Hol uns doch Pilarzyk herein, wollen sehen, welche Auskünfte er uns geben kann!“ Dann sehen sie Pilarzyk vor sich, den gediegenen, sicheren, zuverlässigen Mann, schon seine untersetzte Gestalt strahlt Ruhe und Gelassenheit aus, wie er gewichtig auf dem Stuhle sitzt, die Augen blicken aufmerksam, gelegentlich fährt er mit seiner breiten Handwerkerhand über die Glatze, besonders dann, wenn er sich zu erinnern sucht. Seine Antworten sind wohlüberlegt und gemessen. Aber weder über Delitt noch über Taschenbrecher erfahren die beiden Kriminalisten Neues. Von Delitts angeblicher Braut weiß Pilarzyk nichts, er meint: „Ich kümmere mich um Privatsachen grundsätzlich nicht, das 108
geht mich nichts an, ich sehe nur, wie die Leute ihre Arbeit tun, ob sie nützlich sind, sozusagen.“ Das erscheint dem Hauptmann zwar etwas karg, aber er äußert sich nicht dazu. „Und Henoch?“ fragt er. „Was halten Sie von ihm?“ „Das Beste“, erwidert Pilarzyk. „Wenn der Betrieb sich auf jemanden verlassen kann, dann auf Henoch. Der hat noch nie krankgefeiert, der arbeitet länger, wenn es notwendig ist, und in diesem harten Jahr war es oft notwendig, dazu macht er im Ort Aufbaustunden, der ist für jeden Einsatz zu haben. Außerdem hat er noch einen Schrebergarten, Sie sollten sehen, wie tipptopp der ist, da züchtet er Rosen, er ist Leiter der Rosenzüchtersparte im Kulturbund, wir haben hier nämlich den einzigen Kulturbund in der DDR, der eine Sparte Rosenzüchter besitzt.“ Tatsächlich redet sich Pilarzyk in eine Begeisterung hinein, die nicht größer sein könnte, wenn alle diese Verdienste seine eigenen wären. Der Hauptmann sieht, wie Zeitfuchs ironisch lächelt, vor Vergnügen auf seinem Stuhl hin- und herwetzt, er hört ihn fragen: „Züchten Sie auch Rosen, Herr Pilarzyk?“ „Nein“, sagt der ernst und beinahe empört, „wir halten ein Schwein, wissen Sie!“ „Na, das ist auch ganz schön“, meint Zeitfuchs, „nahrhafter als Rosen.“ Baltrock schickt keinen strafenden Blick zu dem Leutnant hinüber, bei diesem Gespräch darf er eine harmlose Entgleisung erlauben, im Gegenteil, sie lockert die Spannung, die unwillkürlich jeder empfindet, der eine Aussage zu machen hat, das weiß der Hauptmann. Immerhin sagt er zu Pilarzyk: „So hat eben jeder sein Steckenpferd, Leutnant Zeitfuchs beispielsweise ist leidenschaftlicher Jäger, und 109
ohne daß er mir etwas erzählt hätte, weiß ich genau, daß er innerlich ganz verzweifelt ist, weil jetzt dieser Fall zwischen seine Pläne gekommen ist; wir haben Vollmond, und ich ahne, daß der Leutnant um seinen Resturlaub eingekommen wäre, um Böcke zu schießen …“ Es hat den Anschein, als wolle der Hauptmann sich weiterhin plauschend über den Abschuß von Böcken verbreiten, doch unversehens schießt er aus dieser Gemütlichkeit heraus seine nächste Frage auf Pilarzyk ab. „Wenn Henoch so arbeitsam, so fleißig ist, verdient er doch sicherlich gut. Warum leiht er sich dann wohl noch Geld, Herr Pilarzyk?“ „Geld leihen?“ fragt Pilarzyk verdutzt zurück. „Nein, das glaube ich nicht.“ „Sie müssen es aber glauben, wir haben den Beweis dafür vorliegen.“ „Ach!“ Das ist alles, was Pilarzyk hervorbringt, er macht einen hilflosen Eindruck; offensichtlich paßt das nicht zu dem Bild, das er von Henoch hat. Er sieht erst Baltrock, dann Zeitfuchs an, danach zuckt er, immer noch verwirrt, die Schultern. „Sie können uns also nicht helfen?“ fragt der Hauptmann, er wartet die Antwort nicht ab, er fährt fort: „Möglicherweise handelte es sich um eine augenblickliche Verlegenheit, es ist nur eine geringe Summe, unbeträchtlich eigentlich …“ „Seine Frau arbeitet doch auch!“ stößt Pilarzyk hervor. Baltrock weiß, daß er jetzt keine Informationen mehr erhalten wird; immerhin gewinnt die kleine Quittung, die er bisher nicht sehr ernst nahm, an Gewicht. Nun, denkt er, man wird hören, was Henoch dazu zu sagen hat. Er schaltet um. „Dann ist da noch ein gewisser Reiner Romeike“, sagt er, „der hat vor einiger Zeit zwei Wochen 110
hier gearbeitet, abgestellt von Werk eins. Können Sie uns über den etwas erzählen?“ Pilarzyk kann. Er ist über die Gesprächswendung offensichtlich erleichtert, er sagt: „Ein armer Kerl, er hat schrecklich gestottert, anfahren durfte man den nicht. Aber was man ihm auftrug, das hat er gewissenhaft erledigt. Werk eins hatte ihn zusammen mit zwei anderen abgestellt, damit wir termingemäß einen Auftrag für Einbauküchen erledigen konnten. Ja, den könnte ich jetzt wieder gebrauchen, den Romeike! Er hat in meinem Meisterbereich gearbeitet, müssen Sie wissen.“ „Er ist doch oft wegen seines Stotterns gehänselt worden – wie hat er darauf reagiert? Jähzornig?“ „Der? Der hat alles eingesteckt“, erwidert Pilarzyk, „für meinen Geschmack war er sogar zu gutmütig! Alles darf man sich schließlich nicht gefallen lassen, und ich konnte auch nicht verhindern, daß manche ihn wie ihren Laufburschen behandelt haben!“ „Wer ‚manche‘?“ fragt der Hauptmann. „War Nottrodt auch daran beteiligt?“ „Wissen Sie“, Pilarzyk spricht sehr bedächtig, „Nottrodt hatte mit keinem Streit. Er beachtete nicht, was um ihn herum vorging. Auch bevor er so eigenartig wurde, lag es nicht in seinem Wesen, jemandem wehe zu tun.“ Baltrock erinnert sich an den Bericht des Leutnants – nein, Nottrodt, der sogar auf die Straße zurücklief, wenn ihm jemand im Hause begegnete, Nottrodt, der im Hausflur kein Licht machte, wenn er die Treppen hinaufstieg, nein, Nottrodt war nicht so beschaffen gewesen, jemanden zu hänseln. „Nun gut, Herr Pilarzyk, würden Sie freundlicherweise Herrn Henoch herüberbitten? Ohne ihm etwas 111
von unserem Gespräch zu verraten?“ Er glaubt, ihm das zutrauen zu dürfen. Als Pilarzyk den Raum verlassen hat, sagt Zeitfuchs: „Auf Henoch bin ich wahrhaftig gespannt!“ Baltrock ist es ebenfalls, er fragt sich, wie ein zeitgemäßer Rosenzüchter aussehen mag, ein Mann, der einen Schrebergarten besitzt und trotzdem sofort für alles zu haben ist, was man „gesellschaftliche Arbeit“ nennt – er vermag sich kein Bild zu machen. Dann tritt Henoch ein, und der Hauptmann ist überrascht. Das ist keiner von der untersetzten Sorte, der handfest in Beeten wühlt und auf kleinen Versammlungen große Reden schwingt – irgend etwas dieser Art hatte er erwartet. Er hätte sich auch nicht gewundert, wäre so eine Art Wieselchen erschienen, ausgestattet mit blitzschnellen schwarzen Knopfäugelein und eifrigen Redegirlanden. Nein, der eintritt, ist langsam und hager, er geht gebeugt, der große Schädel ist geradezu ausgemergelt, Baltrock hat den Eindruck, als säße die Haut unmittelbar an den Knochen; in der Mitte des Schädeldachs, das rundum kahl ist, steigt eine kleine graue Haarflamme hoch, und die Hände – die Hände hängen an überlangen Gelenken weit aus den zu kurzen Ärmeln des Arbeitsmantels hervor, es sind keine griffesten Handwerkerhände, sondern schlanke, ja zarte Gebilde mit deutlich verdickten Knorpeln, die gichtig aussehen. Der Hauptmann vermutet, daß die Art, wie Henoch sich setzt, bezeichnend für ihn ist: gemessen, ohne langsam zu sein, zweckmäßig sozusagen. Baltrock entschließt sich, bei diesem Manne geradewegs auf sein Ziel loszugehen, er fragt: „Sie kannten natürlich Paul Nottrodt.“ 112
„Ja“, antwortet Henoch mit einer gequälten heiseren Flüsterstimme, „ich kannte ihn gut, und es ist mir sehr nahe gegangen. Ein furchtbares Ende, das hat er nicht verdient.“ „Wie meinen Sie das?“ fragt der Hauptmann und ärgert sich selbst über die Zweideutigkeit, die ungewollt in seinen Worten liegt. Aber Henoch bemerkt das nicht. Er erläutert und begründet, so möchte Baltrock es nennen, bedachtsam, wie es ihm eigen zu sein scheint: „Als wir noch Kinder waren, hat er in der gleichen Straße wie ich gewohnt, ich wohne heute noch dort, und obgleich er viel älter war als ich, hat er immer mit mir gespielt. Das taten die anderen nicht, ich war als Kind sehr ungeschickt und auch scheu, stand immer ein bißchen abseits. Das habe ich ihm nie vergessen.“ Henoch macht eine Pause, er sieht auf seine Hände nieder, die lang und auffällig auf seinen Schenkeln liegen. Der Hauptmann unterbricht ihn nicht, er weiß, Henoch wird weiterreden. Da beginnt die heisere Stimme wieder: „Auch später, als er von seinem Sohn verlassen war und so eigentümlich wurde, habe ich immer getan, als merkte ich das nicht. Wissen Sie, er war dann eigentlich so, wie ich als Kind gewesen war, und ich dachte mir: Vielleicht ändert sich das wieder einmal, bei mir hat es sich auch geändert. Und ich wußte ja, wie unglücklich ich damals oft gewesen bin.“ Jetzt sieht er den Hauptmann sehr ernsthaft an, er spricht weiter: „Früher war ich ein kleiner Nazi, das muß ich auch sagen, ich habe wirklich geglaubt, das war recht. Dann habe ich begriffen, wie unrecht das alles war, und später, als ich das dann wußte, bin ich in unsere Partei 113
eingetreten, weil ich dachte, daß ein Mensch dem anderen Menschen helfen muß – das war so allgemein zuerst.“ „Na schön.“ Der Hauptmann schüttelt ein merkwürdiges Gefühl der Rührung ab, das ihn bei einer Vernehmung bisher nie erfüllt hat, er sagt absichtlich kurz: „Und warum haben Sie sich von Nottrodt zweihundertfünfzig Mark geliehen?“ Henoch scheint zu zögern, doch dann sagt er einfach: „Aus Mitleid.“ Der Stuhl von Zeitfuchs scharrt ein Stückchen zurück. Baltrock beachtet das nicht, die Antwort hat ihn überrascht, er fragt betroffen, als hätte er nicht richtig verstanden: „Aus Mitleid?“ Henoch nickt. „Ich dachte mir, er soll denken, daß ich ihn brauche, so wie früher. Ich dachte mir, vielleicht kannst du ihm damit ein bißchen helfen.“ „Und Sie haben das Geld nicht benötigt?“ „Ach wo“, erwidert Henoch mit seiner leisen heiseren Stimme, „wir arbeiten beide, meine Frau und ich, und wir haben nur bescheidene Ansprüche.“ Das alles erscheint Baltrock so merkwürdig, ja unfaßbar, er fragt weiter: „Aber was haben Sie denn mit dem Geld gemacht, wenn Sie es nicht benötigten?“ „Ich habe es“, erwidert Henoch, und zum ersten Male zieht etwas wie ein Lächeln über sein knochiges Gesicht, „in unser Sparbuch gelegt, es sind fünf Fünfzigmarkscheine, und ich wollte sie ihm nach den drei Monaten genau so zurückgeben, wie ich sie bekommen hatte – plus Zinsen.“ Nachdenklich setzt er hinzu: „Ich werde jetzt gar nicht wissen, was ich damit machen soll, er hat doch hier keine Verwandten! Ja, nun liegen sie da, die Scheine, in dem 114
Sparbuch in unserer Kommode, ich habe sie gestern abend noch einmal herausgenommen und angesehen, und da mußte ich denken: Nun ist er nicht mehr, der Nottrodt, der Paul, war doch ein guter Kerl – was nützt es ihm jetzt?“
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5. KAPITEL
1 Die deutliche Froststarre der Luft, der blaßblaue gespannte Seidenhimmel, die gehämmerten Silberplättchen der Wolken … Ohne zu wissen, warum, empfindet Hauptmann Baltrock das alles als Erleichterung, da er am frühen Nachmittag das überhitzte Büro verläßt. Er bleibt vor der Tür stehen, mustert den Hof, die Gebäude, dehnt sich unmerkbar und atmet tief und ruhig. Die kalte Frische tut ihm wohl. Noch einmal überdenkt er flüchtig die Ergebnisse des Tages. Bis gegen Mittag hatte er mit Zeitfuchs Vernehmungen durchgeführt. Neues brachten sie nicht, Überraschungen blieben aus, Spuren wurden nicht deutlicher – das Bild, das sie bis dahin gewonnen hatten, erhielt ein paar Schatten und Lichter, trat plastischer hervor, änderte sich jedoch nicht. Über das Messer mit der Perlmutt- und der Holzschale bekamen sie keine Informationen; niemand bekannte sich als Besitzer, keiner wollte es bisher gesehen haben. Über den Verbleib der Handtücher und des Mantels erfuhren sie nichts. Den Spiegel mit dem unvollkommenen Daumenabdruck betreffend, wurde immer wieder betont: Niemand anderes habe ihn in der Hand gehabt als Delitt selber. Sollte sich also herausstellen, daß dies stimmte und der Abdruck nicht von dem Eigentümer stammte, sollte also der Vergleich mit den Fingerabdrücken der Betriebsangehörigen nichts anderes ergeben, dann war 116
zweifelsfrei anzunehmen, daß der Täter diese Spur verursacht hatte. Das Forschen nach der Aktentasche war ebenfalls erfolglos geblieben. Immerhin hatten sie eine sehr genaue Beschreibung erhalten: eine schwarze, abgewalkte Tasche mit zwei Metallschlössern, von denen das eine, vermutlich das linke, nicht mehr zuschnappte, so daß Nottrodt sie meistens mit einem alten Lederriemen zugeschnallt hatte. Innen, zwischen den beiden Nieten des Handgriffs, hatte Nottrodt mit Tintenstift seinen Namen eingeschrieben, aber die Schrift war verlaufen und fast unleserlich. Zur Mittagszeit hatte Baltrock seine Mitarbeiter zu einer kurzen Arbeitsbesprechung in sein Büro gebeten, auch der kleine Oberleutnant Schnurk war inzwischen von den Neubauten zurückgekehrt und nahm daran teil. Er berichtete, daß zwei der Wohnblocks bereits fertiggestellt und bezogen seien. Die anderen befänden sich in den verschiedensten Stadien des Baus. Tatsächlich sei ein Hausmeister beauftragt, in jeder Nacht zwei Kontrollgänge durchzuführen. Auch als Nottrodt überfallen wurde, habe er seine Gänge absolviert, und zwar den ersten, auf den es besonders ankomme, kurz vor Ausbruch des Gewitters. Das Gewitter habe ihn überrascht, er sei schnell wieder zurückgerannt, um nicht völlig durchnäßt zu werden. Irgend etwas Auffälliges habe er nicht wahrgenommen. Die Gebäude der PGH könne er von dort aus nicht sehen. Die genaue Zeit vermöge er nicht anzugeben, jedoch habe er gerade noch den Linienbus bemerkt, der auf der Landstraße nach B. gefahren sei. Schnurk war mit seinem Begleiter das Baugelände abgegangen, hatte aber nichts gefunden. Auch die Straftatenvergleichskartei hatte er eingesehen und sich bei der 117
Abteilung Innere Angelegenheiten wegen entlassener Strafgefangener erkundigt. Das war ebenfalls ohne brauchbares Ergebnis geblieben. Der Hauptmann legte fest, daß nach einer kurzen Mittagspause die restlichen Fingerabdrücke genommen werden sollten. Schnurk würde mit zwei Begleitern den Fluß abfahren, und Baltrock entschloß sich, an der Suche teilzunehmen. Zeitfuchs mußte noch einige Alibis überprüfen und auch den Busfahrer befragen, der zu jener Zeit an der Haltestelle in der Nähe der PGH vorbeigekommen war. Schließlich verfaßte Baltrock für die Presse den Aufruf zur Mitarbeit der Bevölkerung. Dann hatte der Hauptmann noch einmal zu der Skizze des Tatortes und zum Spurenplan gegriffen, hatte die Papiere sorgfältig verschlossen und war langsam hinausgetreten in die scharfe Luft. Und nun steht er hier draußen und empfindet plötzlich, wie verhalten auf der PGH heute alles ist, das Gefühl des Unheimlichen, das mit einem gewaltsamen Tode verbunden ist, hemmt jeden Ton, jede Bewegung. Fast unmerkbar schieben sich die Silberplättchen der Wolken am Himmel entlang, die Sonne entblößt sich von ihnen, ihre Strahlen schießen mit gleißender Gewalt auf die Erde nieder. Langsam wendet sich Baltrock ab und schlendert durch das Tor hindurch zum Flußufer hinunter an der rechten Seite des Betriebs; von der Stadt her wird das Boot kommen, mit dem das Gewässer abgesucht werden soll, er will es erwarten. Die Böschung ist wirr mit nacktem Gesträuch bewachsen und morastig, die welken Grasbüschel sind vollgesogen wie Schwämme. Vorsichtig hält sich Baltrock an Zweigen fest, während er sich hinuntertastet. In der kras118
sen Sonne leuchten die Schaumschwäne der Chemie weiß, ein beklemmender Geruchsdunst liegt über dem Fluß. Die Atempause ist vorüber, angestrengt betrachtet der Hauptmann den Fluß und die Ufer, versucht sich ein Bild zu machen, ob der Täter hier entkommen sein könnte, er verneint das, wozu sollte er diese Mühe auf sich genommen haben? Gerade will Baltrock wieder umkehren, da hört er über sich ein Geräusch, er blickt hoch. Es ist Schnurk, klein, diensteifrig und in einer Uniform, die jetzt wie stets aussieht, als habe er sie gerade erst aus der Reinigung geholt, ein penibler Mensch. Schnurk schaut mißtrauisch die Böschung hinunter, sieht auf seine blankgewichsten Schuhe, dann erst klettert er zu dem Hauptmann hinab; dabei ruft er ihm zu: „Sie müssen jeden Augenblick hier sein!“ Und in der Tat taucht wenig später stadtwärts um eine Flußbeuge ein Ruderboot auf, schiebt sich, von zwei Kriminalisten geführt, bedachtsam hin zu Baltrock und Schnurk, die hineinsteigen. Der Hauptmann weist an, vorsichtig die Ufer abzufahren, vor allen Dingen jenen Streifen, der am Ende der PGH liegt, hier auf die Stelle zu achten, wo der Lattenzaun endet, über den der Täter vermutlich geklettert ist. Dann werden sie weiter flußabwärts rudern, möglicherweise ist dort das Tatwerkzeug oder die Aktentasche angeschwemmt oder irgendeine andere Spur zu entdecken. Das geschieht. Es ist keine angenehme Aufgabe, die sie erfüllen, der üble Dunst scheint in der kalten Luft über dem Wasser festgefroren zu sein. Indessen will sich nichts zeigen, die Zeit vergeht, die Stange, mit der die Männer faulende 119
naßbraune Blätterhaufen am Flußrande anheben, fördert nur schwarzen Mulm zutage. Baltrock setzt der Fahrt ein Ende, er hält sie für aussichtslos. „Wir beide steigen hier aus, Genosse Oberleutnant, und suchen noch das Ufer bis zur PGH ab, doppelt genäht hält besser, und Sie …“, wendet er sich an die beiden anderen Kriminalisten, „Sie bringen das Boot zurück. Ich bedanke mich bei Ihnen!“ Schon ist er mit einem Sprung am Ufer, träg schwankt der Kahn, Schnurk muß zweimal ansetzen, bis er neben dem Hauptmann steht. „Schade“, sagt er, „so viele Zeit umsonst vertan!“ „Umsonst?“ fragte der Hauptmann. „Ach nein, Genosse Schnurk, ich bin froh, wenn wir wieder eine Aufgabe erfüllt haben, ob mit oder ohne Erfolg ist erst eine zweite Sache. Wenn ich am Anfang eines Falls stehe, sehe ich immer den breiten Fächer aller der unzähligen Notwendigkeiten, die getan werden müssen, das, Genosse, hat manchmal etwas Bedrückendes für mich, ich frage mich dann, wie wir es bewältigen sollen. Aber jede Möglichkeit, die wir ausschließen, schiebt den Fächer zusammen, und irgendwann ist er dann doch so schmal wie eine einzige Spur.“ Er versucht den Eindruck zu verwischen, als habe er Schnurk belehren wollen, leichthin setzt er dazu: „Na, tippeln wir los! Wir stoßen von dieser Seite auf den Schwarzen Weg, und zwar am Flußufer, wo der Täter über den Zaun gestiegen ist.“ Eine Art verworrener Trampelpfad führt hier entlang, unterbrochen von sich herauswindenden Baumwurzeln, Schlammteichen. Gelegentlich schaut der Oberleutnant betrübt auf seine Schuhe, die allen Glanz verloren haben – sie sehen aus, als habe er Rüben geerntet. 120
Später sagt Baltrock: „Sobald die Genossen mit den Fingerabdrücken der Betriebsangehörigen fertig sind, können wir sie zur daktyloskopischen Überprüfung geben. Ich möchte gern, daß Sie, Genosse Oberleutnant, dann eine Arbeitsgruppe übernehmen, die sich mit denen beschäftigt, die von außen her in den Betrieb gekommen sind; also beispielsweise mit den Arbeitern, die vom Werk eins kurzfristig nach hier abgestellt wurden – mit Ausnahme von Romeike, den nimmt sich im Augenblick schon Genosse Zeitfuchs vor. Ferner müßten alle jene besonders überprüft werden, die sich von Nottrodt Geld geborgt und es zurückgezahlt haben, gegebenenfalls auch die Alibis …“ Schnurk hört ihm aufmerksam zu, den Kopf hoch aufgereckt, die Augen wachsam. Baltrock ist überzeugt, daß Schnurk, den er für ehrgeizig hält, seine Sache gewissenhaft durchführen wird, er lächelt ihm freundlich zu. Später – der Himmel hat sein seidenes Blau längst verloren und sich grau übersponnen –, kurz vor dem Schwarzen Weg, hält Baltrock den Oberleutnant mit der ausgestreckten Hand zurück, beide verharren reglos. Dort, an der Stelle, wo der Täter vermutlich übergestiegen ist, macht sich von der Hofseite her Pilarzyk zu schaffen. Der Hauptmann versucht vergeblich zu erkennen, was er da tut, schließlich tritt er leise vor und ruft: „Hallo, Herr Pilarzyk! Was machen Sie denn da?“ Pilarzyk schrickt zusammen und tut einen Schritt zurück, während Baltrock nahe an den Zaun herangeht und sich sogar gemütlich ein wenig dagegenlehnt. „Nun?“ Pilarzyk sieht vor sich hin, hebt den Kopf, er antwortet: „Ich wollte mir die Stelle nur ansehen. Hier kann wirklich jeder übersteigen. Wir müssen Stacheldraht aufsetzen, denke ich.“ 121
„Ach so“, erwidert Baltrock, als sei ihm nun alles klar, „das gehört auch zu Ihren Aufgaben, Herr Pilarzyk? Ich dachte, das sei Sache des Werkleiters. Nun denn!“ Er nickt ihm zu, geht auf den Schwarzen Weg zurück und läuft neben Schnurk her, der den Kopf schüttelt. „Das ist doch sonderbar!“ Aber dazu äußert sich der Hauptmann nicht. Im gleichen Augenblick, da sie um die Ecke biegen, löst sich Zeitfuchs vom Tor; offenbar hat er sie dort erwartet. Der Lange kommt ihnen in großer Eile entgegen, er sagt, mit einem raschen Blick zu Schnurk: „Genosse Hauptmann, mein Wagen steht auf der Hauptstraße, ich habe jemanden mitgebracht, aber den sollen die Leute in der PGH noch nicht sehen!“ Baltrock zieht die Augenbrauen hoch, er erwidert jedoch nichts, er sagt nur schnell zu Schnurk: „Warten Sie bitte drinnen auf uns!“ und verschwindet an der Seite des Leutnants auf dem letzten Stück des Schwarzen Wegs. Nicht gleich entdeckt der Hauptmann den Wagen, Zeitfuchs hat ihn ein Stück ins Gebüsch gefahren, bis an die Seitenscheiben ist er mit Kot bespritzt. Hastig sagt Zeitfuchs: „Ich habe Delitts Braut mitgebracht, Sie werden sich wundern!“ Baltrock sagt nur: „Gut!“ Zeitfuchs weiß dieses knappe Lob zu würdigen, er reibt sich verlegen die Nasenwurzel. Dann zieht er den Schlag auf, der Hauptmann beugt sich in den Wagen, auf dem Beifahrersitz sieht er das Mädchen. Sie hat schulterlange blonde Haare, ein rundes Gesicht, eine dralle, deutliche Figur, Baltrock schätzt, daß sie Anfang Zwanzig sein müsse; er verbirgt seine Überraschung: Das Mädchen sieht so solide aus, daß er es nie für die Partnerin Delitts gehalten hätte. 122
Zeitfuchs erklärt: „Das ist Fräulein Opitz.“ Baltrock bemerkt ihren ängstlichen Blick, lächelt sie beruhigend an und sagt freundlich: „Ich bin Hauptmann Baltrock. Ich finde es sehr nett, daß Sie Herrn Zeitfuchs begleitet haben. Das wird uns sehr helfen. Ihr Verlobter, Herr Delitt, hat uns nämlich nicht verraten wollen, wer seine Braut ist; ich weiß wirklich nicht warum, Sie brauchte er doch nicht zu verbergen, ein so nettes Mädchen! Nun, das werden wir erfahren. Es stimmt doch, daß Sie seine Braut sind, Fräulein Opitz?“ Das Mädchen nickt, ihre Stimme klingt, als werde sie gleich zu weinen beginnen, so ein bißchen belegt, sie muß sich erst freiräuspern, sie sagt: „Ja, wir haben uns heimlich verlobt. Er wollte nicht, daß es jetzt schon jemand erfährt. Aber wir werden bald heiraten. Ich bekomme ein Kind von ihm!“ „Aha!“ sagt der Hauptmann. Er erfährt, daß sie neunzehn Jahre alt ist und von Beruf Verkäuferin in der HOVerkaufsstelle für Kraftfahrzeuge. Baltrock, sich bereits zurückziehend, sagt in einem Ton, als bitte er sie um eine Gefälligkeit: „Warten Sie noch ein paar Minuten hier, Fräulein Opitz. Der Leutnant wird Sie dann holen!“ Zeitfuchs kann sich, als sie der PGH zugehen, nicht enthalten zu fragen: „Na, wie habe ich das gemacht?“ Darauf erhält er keine Antwort. So fühlt sich Zeitfuchs bemüßigt weiterzureden: „Und ich habe noch eine zweite Überraschung parat, Genosse Hauptmann, das Alibi von Pilarzyk, das hat ein riesiges Loch!“
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2 Tatsächlich erfüllt Zeitfuchs ein Gefühl der Befriedigung, weil er seine Nachforschungen mit so viel Erfolg erledigen konnte. Er war zuerst zu der Bus-Halle gefahren und hatte im Fahrplan festgestellt, daß der Bus in jener Nacht um dreiundzwanzig Uhr sieben an der Haltestelle gewesen sein mußte. Der Einsatzleiter hatte allerdings erklärt, Verspätungen bis zu zehn Minuten seien keine Seltenheit. Leutnant Zeitfuchs hatte aber Glück gehabt: Wenig später konnte er den Fahrer selbst sprechen; der behauptete, damals sehr pünktlich gewesen zu sein, eine Differenz von mehr als einer Minute komme nicht in Frage, er habe besonders wegen des drohenden Gewitters auf die Einhaltung des Plans geachtet. An der Haltestelle Schwarzer Weg sei eine Frau zugestiegen, die aus dem Wartehäuschen rasch durch den Regen zum Einstieg gelaufen sei. Er kenne sie nicht, sie gehöre auch nicht zu den regelmäßigen Benutzern. Sie sei der einzige Fahrgast gewesen, der „Lumpenbus“ sei nur voll, wenn irgendwelche Veranstaltungen stattfänden. Die Frau sei mittelgroß gewesen, vielleicht dreißig, vierzig Jahre alt. Mehr könne er nicht sagen, er sei müde gewesen und habe sie nicht beachtet. Danach war Zeitfuchs zum Werk eins der PGH gefahren, um sich nach Romeike zu erkundigen. Diese Nachfrage blieb zu seiner Verblüffung jedoch erfolglos, weil Romeike am Tag vorher seine Arbeit aufgesagt hatte und nicht mehr erschienen war. Das stieß Zeitfuchs, es war auffällig, daß Romeike so kurz nach der Tat den Betrieb verlassen hatte, aber sein Meister erklärte, er hätte das schon lange erwartet: Romeike sei früher in Berlin in einer Sprachheilschule gewesen, und er habe immer in den Raum Berlin zurück gewollt. Auch Kollegen des 124
Romeike bestätigten das, und alle schilderten ihn als einen stillen und arbeitsamen Menschen, der allen Anweisungen nach Kräften nachgekommen sei. Allerdings habe er sich von jedem Umgang zurückgezogen, das wäre jedoch verständlich bei seinem schweren Stottern, es habe ihm eine Verständigung fast unmöglich gemacht. Zeitfuchs ließ sich seine Anschrift geben und fuhr dorthin. In dem dreistöckigen Haus aus den neunziger Jahren hatte Reiner Romeike im dritten Stock bei einer Frau Gössel in Untermiete gewohnt. Zeitfuchs mußte mehrere Male läuten, bis ihm geöffnet wurde. Frau Gössel, eine kleine dickliche Frau mit weißem Haar und unschuldigen Augen, begriff nur mühsam, was der Leutnant wollte, doch dann nötigte sie ihn hilfsbereit in ihre gute Stube, die gleichzeitig ihr Schlafgemach war, wie ein Holzbett mit gedrechselten Pfosten und hochaufgetürmten Federkissen verriet. Nur behutsam ließ Zeitfuchs sich auf einem dackelbeinigen Stuhl nieder. Er sagte: „Frau Gössel, ich will doch nur Herrn Romeike sprechen!“ Die schlichte Bitte löste eine Flut von Worten aus. Romeike hatte, wie die Witwe ausführte, fast zwei Jahre bei ihr gehaust. Und da ihr Mann vor über einem Jahrzehnt gestorben und die Ehe kinderlos geblieben war, habe sie in ihrer Einsamkeit ihr Herz an den jungen Mann gehängt. Er sei immer lieb, freundlich, hilfsbereit gewesen, nie habe sie zu klagen gehabt, die Kohlen hätte er aus dem Keller heraufgetragen, das Holz gespalten – als wäre es ihr eigener Sohn, so sei es ihr immer gewesen. Liebschaften hätte er nie gehabt, keine Frauenzimmer hätte er mitzubringen versucht, ein solider Mieter eben. Manchmal hätte er freilich getrunken, aber dann sei 125
er immer gleich in sein Zimmer gegangen und habe sich ausgeschlafen. Seine Miete habe er stets pünktlich beglichen, nur die letzten vier Wochen sei er rückständig gewesen, vielleicht weil er sich da ein ziemlich teures Transistorradio gekauft habe, sie hätte ihn jedoch nicht gemahnt, sie hätte gewußt, daß sie das Geld bekommen werde, und wirklich habe er es auf Heller und Pfennig bezahlt, bevor er abgereist sei. „Abgereist?“ fragte Zeitfuchs. Sie nickte. „Nach Berlin zurück, da hat er wohl von früher Freunde. Er wollte schon immer dorthin, in B. hat er sich nicht wohl gefühlt. Mir hat es furchtbar leid getan.“ Der Leutnant fragte sie nach Romeikes neuer Anschrift, aber die wußte sie nicht. Da Zeitfuchs von ihr keine sachdienlichen Auskünfte mehr erhalten konnte, ließ er sich noch das ausgeräumte Zimmer des jungen Mannes zeigen, verabschiedete sich höflich und nahm sich vor, die Sache dem Fahndungsbeauftragten des Kreisamts zu übergeben. Er wollte zuerst das, was er „die leichten Fälle“ nannte, erledigen. Deshalb fuhr er weiter zu Henochs Wohnung, dessen Frau anwesend war; sie erwies sich als eine fixe, zupackende kleine Person, rasch entschlossen, und Zeitfuchs mußte seine Verwunderung darüber verbergen, daß der knochige Henoch gerade an diese Frau geraten war. Sie hörte ihm aufmerksam zu, ging dann ihm voraus in ein zweites Zimmer, zog eine Schublade heraus, entnahm ihr ein Sparkassenbuch und reichte es dem Leutnant; der schlug es auf, sauber zusammengefaltet lagen darin die fünf Fünfzigmarkscheine. „Ja“, sagte Henochs Frau, „was Erwin sagt, stimmt.“ Sie fügte nichts hinzu, Zeitfuchs genügte es, er reichte ihr das rote Büchlein zurück und fuhr zum „Ewigen 126
Lämpchen“, einer Eckkneipe an einem großen Platz, in dessen Mitte sich eine Rasenfläche mit spielenden Kindern befand. Er stieg die vier engen Holzstufen zum Schankraum empor. Der Raum roch auch um diese Tageszeit nach abgestandenem Tabakrauch und schalem Bier, ein paar Männer saßen herum und tranken und unterhielten sich, der Wirt lehnte gelangweilt an der Theke, die überraschend sauber und blankgeputzt war. Als Zeitfuchs nach Taschenbrecher fragte, wußte der Wirt sofort Bescheid, er sagte: „Ach, der Angeber, der Krakeeler – Harry, nicht wahr?“ Zeitfuchs stützte sich mit dem rechten Ellenbogen auf die Theke, nickte, zupfte an der Lippe und blickte den Wirt unverwandt an. „Wann war er das letzte Mal hier?“ „Vorgestern“, antwortete der Wirt sofort, sah, daß einer der Männer ein Bier verlangte, füllte das Glas, wischte den Schaum ab und trug es hinüber. „Wieso wissen Sie das so genau?“ forschte der Leutnant weiter. Gleichgültig erwiderte der Wirt: „Das ist einfach zu erklären. Harry hat Skat gedroschen, und immer, wenn er zuviel getrunken hat, beginnt er Streit, das war auch vorgestern nacht so; aber während er sonst nur die Leute beschimpft, wurde er dieses Mal tätlich, er ging mit dem Bierglas auf den einen Kumpel los. Na, so was ist kein Spaß mehr, ich habe ihn also am Kragen genommen und hinausgeschmissen.“ Selbstgefällig lächelte er. „Ich war mal Bezirksmeister im Ringen, Mittelgewicht, verstehen Sie? Ist schon lange her, aber dafür reicht’s immer noch aus.“ Mit Genugtuung vermerkte er: „Er krachte draußen ordentlich auf die Bordkante.“ Unvermittelt fragte er freundlich: „Möchten Sie ein Bier?“ 127
Zeitfuchs schüttelte den Kopf, deutete mit dem Daumen rückwärts zur Tür, sagte: „Der Wagen steht draußen!“ „Na, denn!“ „Und um welche Zeit war der Krach?“ fragte der Leutnant weiter. Einige Sekunden lang dachte der Wirt nach, dann schüttelte er schwerfällig den Kopf. „Ich weiß das nicht sicher. Auf jeden Fall war es spät, zwischen elf und zwölf.“ „Überlegen Sie bitte! Es ist wichtig, daß wir das möglichst genau erfahren!“ „Das nützt mir nichts. Hier war ein derartiger Tumult, ich war froh, als ich den Burschen los war, da sieht man nicht auf die Uhr. Mir war es auch gleichgültig, der ist so abgebrüht, der Harry, wenn sie den vorne hinausschmeißen, kommt der von hinten wieder herein.“ Plötzlich wurde er aufmerksam und fragte: „Sagen Sie, ist das etwa wegen dem Mord bei der PGH draußen?“ Zeitfuchs schaute ihn unverwandt an, er fragte zurück: „Würden Sie so etwas denn dem Harry zutrauen?“ Heftig wandte sich der Wirt seinen Gläsern zu und begann sie zu spülen, und während er die nassen Gläser aufstülpte, sagte er: „Ich weiß nicht. Feige ist er. Aber so einen alten Mann niederzudonnern ist kein Kunststück. Nein, ich weiß nicht, zutrauen … vielleicht!“ „Na schön“, sagte Zeitfuchs abschließend, „nur noch eines: Als Sie den Harry hinausbesorgten – regnete es da schon, war da bereits das Gewitter im Gange?“ Der Wirt erwiderte: „Keine Ahnung!“ „Aber hören Sie! Das müssen Sie doch wissen! Wenn Sie die Tür aufgerissen haben, müssen Sie ja den Wolkenbruch gesehen haben, schräg vor Ihrer Tür steht die Laterne!“ 128
„Erstens“, sagte der Wirt langsam, „brennt die Laterne nicht, und zweitens habe ich die Tür nicht aufgerissen, ich hatte nämlich den Harry am Schlafittchen. Die Tür hat irgendwer aufgerissen, ich habe den Harry mit Schwung hinausbefördert, habe mich umgedreht und bin sofort zur Theke zurück – die Sache war für mich ausgestanden! Und wenn Sie auf das Gewitter zu sprechen kommen – mein lieber Mann! Was meinen Sie, was für ein Krach gegen Mitternacht in der Bude ist!“ Der ruhige Mann regte sich auf, als er das sagte. Der Leutnant meinte um so gelassener: „Eine gute Meinung scheinen Sie von Ihren Gästen nicht gerade zu haben!“ „Seien Sie mal immer freundlich!“ erwiderte der Wirt kurz. Zeitfuchs sah ein, daß er nicht weiterkommen würde, und verließ das „Ewige Lämpchen“. Das alles ist in dem Leutnant sozusagen griffbereit, während er jetzt langschrittig neben dem Hauptmann dem PGH-Tor zustrebt. Baltrock entscheidet: „Den Taschenbrecher heben wir uns bis zum Schluß auf. Wir müssen nur dafür sorgen, daß er nicht bei Arbeitsschluß von hier verschwindet.“ Und zu Schnurk gewandt, der sie am Tor erwartet: „Kommen Sie bitte mit, Genosse Oberleutnant.“ Dann sitzen sie wieder in dem Büro, Baltrock nestelt an seinem Kragen, so stickig ist es und heiß. Er verteilt die Rollen, er ordnet an, er gibt Schnurk einen Auftrag. „Sie achten darauf, daß Taschenbrecher, Delitt und Pilarzyk den Betrieb nicht verlassen, dafür sind Sie verantwortlich.“ Fast entschuldigend sagt er: „Und da der Genosse Leutnant die Vernehmung führen muß, weil er die Umstände am besten kennt, bringen Sie uns bitte die 129
Leute her, wie wir sie benötigen.“ Er setzt sich zurück, er sagt: „So, da wollen wir mal! Sehen wir uns noch mal den Siegfried Delitt an!“ 3 Die Unsicherheit, die Delitt erfüllt, versucht er hinter forschem Auftreten zu verbergen. Trotzig bleibt er in der Tür stehen; nachdem er sich gesetzt hat, bemüht er sich, seinen schönen braunen Augen einen frechen und aufsässigen Ausdruck zu geben. Er sagt nichts. Die beiden Kriminalisten schweigen, Zeitfuchs lehnt scheinbar gelangweilt zurück und zupft seine Unterlippe. Endlich wird es Delitt zuviel, das Schweigen häuft sich, es bedrückt ihn, er will es loswerden, er fragt, zu dem Hauptmann gewandt: „Was gibt es denn?“ Baltrock erwidert sofort: „Das wird Ihnen der Genosse Leutnant sagen.“ Schnell rafft Zeitfuchs sich aus seiner hingerekelten Haltung auf, er beugt sich vor: „Sie haben uns gesagt, daß Sie in jener Nacht bei Ihrer Verlobten waren.“ „Ja – habe ich gesagt!“ „Eben! Und Sie wollten uns den Namen Ihrer Verlobten nicht nennen.“ „Nein.“ „So, Herr Delitt, dann möchte ich Ihnen klarmachen, daß Sie unter Mordverdacht stehen. Vielleicht begreifen Sie, was das heißt! Ich sage Ihnen jetzt schon: Es wird kein Spaß für Sie, sofern Sie kein Alibi nachweisen können. Sie kannten den Tatort, und wir müssen annehmen, daß Sie der Täter sind – solange Sie Ihr Alibi nicht erhärten.“ „Ich bin nicht der einzige“, erwidert Delitt, „der in der PGH Bescheid weiß. Wenn das alles ist, was Sie vor130
bringen können … Und warum sollte ich denn so etwas getan haben?“ „Vielleicht brauchten Sie Geld. Auf jeden Fall wissen wir mehr, als Sie vermuten. Ich werde Ihnen auch sagen, was ich zu sagen habe, aber dann, wenn ich es für richtig halte! Ich frage also nochmals ausdrücklich: Waren Sie wirklich bei Ihrer Braut, wie heißt sie und wo wohnt sie?“ Delitt sieht vor sich hin, preßt die Lippen zusammen, schweigt. „Jedenfalls behaupten Sie nach wie vor, daß Sie die Nacht bei ihr zugebracht haben?“ Delitt nickt, und es dauert einige Zeit, ehe er sich ein „Ja!“ abringt. Zeitfuchs blickt kurz zu Baltrock hinüber; der Hauptmann weiß, was das bedeutet, er seufzt und nickt dem Leutnant zu, der sich nun an Schnurk wendet: „Genosse Oberleutnant, würden Sie so freundlich sein …“ Schnurk verläßt den Raum, und dann ist Stille. Immer noch knackt Holz im Ofen, während draußen der Hof sich mit nebelfeuchter Luft grau aufzufüllen beginnt. Zeitfuchs trommelt lautlos mit den Fingern an der Tischkante, er läßt Delitt nicht aus den Augen. Da öffnet sich die Tür, sacht schiebt Schnurk Monika Opitz hinein, und im gleichen Augenblick sagt Zeitfuchs schneidend: „Ihre Braut, Herr Delitt! Was sagen Sie nun? Wollen Sie uns immer noch belügen? Wollen Sie immer noch behaupten, daß Sie nachts bei ihr waren?“ Delitt achtet nicht auf den Leutnant, er starrt an ihm vorbei auf das Mädchen. Zeitfuchs mag befürchten, daß Delitt seinem Mädchen einen Augenwink gibt, jedenfalls befiehlt er scharf: „Sehen Sie mich an!“, und als Delitt gehorcht, sagt er ingrimmig: 131
„Wollen Sie diesen Unsinn weiter aufrechterhalten? Da drüben steht sie, ich habe sie geholt, ich habe sie gefragt, und sie hat klar und deutlich behauptet: ‚Nein, der Sigi ist nicht bei mir gewesen, und wo er war, das weiß ich nicht!‘ Sie ist Ihre Braut, sie hat keinen Grund zu lügen, um Sie hereinzulegen, Sie wollen heiraten, zusammen leben. Also, wie ist es, waren Sie bei Ihrer Braut oder nicht?“ „Ja!“ stößt jetzt endlich Delitt hervor. „Wirklich und wahrhaftig, ich war bei ihr, sie will es nicht sagen, das müssen Sie doch verstehen, das ist ihr unangenehm, sie …“ Zeitfuchs läßt ihn nicht ausreden: „Ich habe Fräulein Opitz gesagt, worum es geht; sie weiß, was für Sie auf dem Spiele steht, ja, halten Sie mich denn für so dumm, daß ich glaube, sie würde aus falscher Scham lügen und ihren Verlobten ins Zuchthaus schicken?“ Er ist plötzlich wieder ganz ruhig, sitzt da, wie er vormittags stundenlang gesessen hat, zurückgelehnt, seine Lippe zerrend – nur seine Augen, seine Augen sind unverwandt auf Delitt gerichtet. Und ohne sich umzuwenden, fährt er fort: „Nun sagen Sie uns noch einmal, Fräulein Opitz, wie das war, sagen Sie es auch Ihrem Freund! War Herr Delitt in jener Nacht bei Ihnen, oder war er es nicht?“ Baltrock hatte die ganze Zeit über das Mädchen angesehen, und er hatte sich gestanden, daß sie ihm gefiel. Jetzt bemerkt er, wie es in ihr kämpft, er ahnt, daß sie ihren Freund beschützen möchte, sie hat die Augen niedergeschlagen, sie blickt niemanden an, und einmal schluckt sie mühsam Speichel herunter. Doch dann, die Augen immer noch gesenkt, flüstert sie fast unhörbar: „Nein, er war wirklich nicht bei mir …“ Jetzt weint sie, ohne zu schluchzen, es sieht jammervoll aus. 132
Nun erst wendet der Leutnant sich zu ihr, nickt ihr zu, obgleich sie das gar nicht sehen kann, und sagt: „Schönen Dank, Fräulein Opitz! Der Genosse Oberleutnant wird Sie nach Hause fahren!“ In diesem Augenblick scheint Delitt wirklich zu begreifen, daß das Spiel verloren ist, er springt auf und stürzt auf das Mädchen zu, und während er zu ihr rennt, stößt er hervor: „Monika, ich war doch bei dir, erinnere …“ Weiter kommt er nicht, Zeitfuchs hat sich seitwärts vom Stuhl gelehnt und ihn mit einer Bewegung des rechten Arms abgefangen. Der Leutnant sagt: „So nicht, Freundchen! Zeugenbeeinflussung – das machen wir beide nicht! Setzen Sie sich!“ Und mit einer geschickten Bewegung von Arm und Hand zwingt er Delitt auf den Stuhl zurück. In diesen Bruchteilen von Sekunden hat Schnurk stracks und höflich die Tür geöffnet, das Mädchen hinausgeschoben, die Tür geschlossen; doch nun steht der Hauptmann auf, geht den beiden nach, erreicht sie auf dem Hof, legt dem Mädchen die breite Hand auf die Schulter und sagt zu Schnurk: „Genosse Oberleutnant, ich glaube, wir sollten Fräulein Opitz so nicht entlassen. Sie wird sicherlich wissen wollen, was aus der Geschichte wird. Warten Sie mit ihr im Wagen, Sie können ihn ja jetzt weiter vorziehen.“ „Jawohl, Genosse Hauptmann!“ erwidert Schnurk, und plötzlich ist er Baltrock ausgesprochen sympathisch, denn am Ausdruck seiner Augen hat er gemerkt, daß ihm das Mädchen auch leid tut. Als Baltrock ins überhitzte Büro zurückkehrt, bietet Sigi Delitt ein jammervolles Bild: Nicht mehr der Weiberheld ist er, der Schönling mit der wellig gelegten Frisur und den makellosen rasierten Koteletten, nein, er 133
hockt da, in sich zusammengesunken, am Schreibtisch, mit verzweifeltem Gesicht, die Haare durcheinander, als sei er mit den Händen hineingefahren. Vielleicht wird dieser Eindruck dadurch gefördert, daß Zeitfuchs die Bürolampe, die am Schreibtisch befestigt ist, angeknipst hat, sie wirft einen grellen Schein auf die Platte. Delitt aber sitzt außerhalb im doppelt grauen Dämmer. Zeitfuchs hingegen hat sich so weit zu dem andern hingebeugt, daß er ihm von unten her in die Augen sehen kann, sein Profil mit der fliehenden Stirn, der großen Nase, dem vorgeredeten Kinn ist von einer Seite angestrahlt, und Baltrock hört ihn gerade eindringlich sagen: „Ihr Alibi ist völlig zusammengebrochen, Herr Delitt! Wollen Sie nicht endlich gestehen, wo Sie waren? Wir müssen sonst annehmen, daß Sie Nottrodt niedergeschlagen haben!“ Er spricht langsam und scharf betont, und nach diesem Satz gibt es für Delitt keine Ausflucht mehr. 4 Zwanzig Minuten später tritt der Hauptmann wieder auf den Hof hinaus. Er bleibt stehen, zündet sich eine Zigarette an und inhaliert tief. Drüben am Ende des Grundstücks, nahe dem Wasser, liegt es wie auseinandergezogene graue Wollsträhnen. Die Luft ist von einer unangenehmen kalten Feuchte. Durch das geschlossene Fenster des Büros hört Baltrock das leise blecherne Geklapper der Schreibmaschine, der Rest des Protokolls wird angefertigt. In Gedanken sieht der Hauptmann vor sich die beiden aneinandergerückten Schreibtische, Zeitfuchs daran mit dem Ausdruck der Genugtuung im Gesicht, Delitt zugleich erleichtert und benommen, wie Menschen oft aussehen, die sich ein Geständnis abgerungen haben. 134
Wer ihn dauert, das ist die kleine Monika Opitz mit ihren ganzen neunzehn Jahren, diese dralle Person mit den langen blonden Haaren und dem vertrauensvollen und verschüchterten Blick, ja, die Kleine tut ihm leid. Er wirft die halbgerauchte Zigarette auf den nassen Zement und zerstört sie mit dem Fuß. Dann geht er langsam zum Tor hinaus. Schnurk sieht dem Hauptmann durch das hinuntergekurbelte Seitenfenster entgegen, Baltrock sagt: „Wenn Sie mich einen Augenblick mit Fräulein Opitz allein ließen …“ Er sitzt nun neben dem Mädchen, das ihn nicht anschaut, den Kopf gesenkt hält, die vorfallenden Haare pendeln in ihr Profil. Baltrock sagt: „Sie waren tapfer. Sie haben uns wirklich geholfen. Und nicht nur uns – auch Ihrem Freund. Wir hätten auf jeden Fall herausbekommen, daß er nicht bei Ihnen war. So aber haben Sie uns allen diese Mühe erspart und auch die Zeit, die wir hätten aufwenden müssen – und Zeit benötigen wir jedes Gramm, um den Mörder zu entdecken.“ Er hört ein leises Schluchzen, das verstummt plötzlich. Der Hauptmann versteht das, er lächelt unmerklich vor sich hin, er sagt: „Ja, Fräulein Opitz, wie es aussieht, hat Ihr Freund tatsächlich mit dem Mord nichts zu tun.“ Plötzlich stößt sie hervor: „Wo ist er dann in der Nacht gewesen?“ Sie sieht aus wie eine empörte kleine Katze, und wieder muß Baltrock lächeln. Er spielt am Lenker, er sagt: „Das, ja, das muß er Ihnen selbst sagen. Sehen Sie, Fräulein Opitz, das fällt nun nicht mehr in mein Ressort.“ Sie wendet sich ab. Baltrock überlegt, ob er es dabei belassen solle, dann entschließt er sich jedoch weiterzureden: „Er wird Ihnen selbst sagen müssen, wo er sich aufgehalten hat, und offen gestanden, ich finde es nicht 135
sehr edel. Wenn ich mir die Gründe überlege, die ihn dazu veranlaßt haben, dann sind es zwei: Einmal ist es seine Schwäche, in entscheidenden Augenblicken nicht kurz und hart nein sagen zu können, das ist eine Sache, bei der Sie ihm später in Ihrem gemeinsamen Leben werden helfen müssen; zum andern aber ist es zweifellos seine Zuneigung zu Ihnen.“ Er bemerkt ihre unmutige Bewegung, er sagt: „Ja ja, das ist schon so! Er wollte nämlich einen endgültigen Schlußstrich ziehen, er ist entschlossen, mit Ihnen zusammen zu leben. Er hat uns erzählt, und Sie wissen es ja selbst, daß er das Kind, das Sie bekommen, gewollt hat und daß er sich darauf freut.“ Bevor sie etwas erwidern kann, hat Baltrock den Schlag aufgedrückt, er möchte keine Sentimentalitäten hochkommen lassen, er winkt Schnurk heran, und bevor der eintrifft, beugt er sich noch einmal kurz zu dem Seitenfenster hinunter und sagt in den Wagen hinein: „Es wird ihm schwerfallen, Ihnen alles zu erklären. Machen Sie es ihm nicht zu schwer.“ Im Vorbeigehen sagt er zu Schnurk: „Bringen Sie die junge Frau nach Hause, und kommen Sie möglichst rasch zurück.“ Der Oberleutnant sieht ihn einen Augenblick verwundert an, dann öffnet er den Schlag. Der Hauptmann hört den Motor aufheulen. 5 Als der Hauptmann wieder eintritt, ist Zeitfuchs über die Blätter des Protokolls gebeugt. Er schiebt die Bogen beiseite, blickt gleichzeitig auf und sagt: „Ich habe den Burschen angewiesen zu warten, bis wir seine Aussage überprüft haben. Ist doch ein Haderlump!“ 136
„Na ja“, sagt Baltrock langsam, während er sich niederläßt, „Haderlump – vielleicht sollte man ihn nicht so nennen. Offen gestanden, ist er mir jetzt sympathischer, als er es anfangs gewesen war. Da hatte ich ihn für so einen leichtfertigen Lümmel gehalten, der sich nur mit Mädchen herumtreibt. Wahrscheinlich ist das auch so gewesen. Aber mit der kleinen Opitz ist es ihm jetzt ernst.“ Als er den verwunderten Blick des Leutnants bemerkt, fügt er schulterzuckend hinzu: „Sonst hätte er sich doch wohl nicht so dagegen gesperrt, uns zu sagen, wo er sich tatsächlich aufgehalten hat!“ Das hatte Delitt erst gestanden, nachdem das Mädchen den Raum verlassen hatte, und aus den stoßweise hervorgebrachten und unbeholfenen Worten und Sätzen konnte sich der Hauptmann ein Bild machen: Delitt hatte die kleine Opitz schon als Kind gekannt. Nie hatte er ihr ein besonderes Augenmerk geschenkt, und auch später war es lange Zeit eine Art flüchtiger Freundschaft geblieben. Was ihn immer wieder geärgert hatte, war, daß sie ihm bei jeder Gelegenheit sagte, was sie von ihm hielt – und nach ihren Worten mußte er annehmen, daß es nicht allzuviel war. Vielleicht gerade deshalb und aus einer Art Trotz heraus versuchte er schließlich, sie zu gewinnen. Das war zu einer Zeit, da er schon eine Menge Mädchen gehabt hatte, sie liefen ihm nach, wie er sagte, und Baltrock glaubte es ihm gern. Es war für ihn schließlich eine Spielerei und eine Sache der Routine gewesen, und es bestätigte sein Selbstbewußtsein. Umgekehrt hatte er aber auch die Erfahrung machen müssen, daß diese Mädchen den Verkehr mit ihm ebenso leichtnahmen, sie genossen eine Nacht mit ihm und wandten sich anderntags einem andern zu – es war dasselbe, was auch er tat. 137
Und gerade deshalb hatte es ihn vermutlich so getroffen, daß es bei der kleinen Opitz anders war: Tatsächlich war er der erste Mann, den sie besaß, und er merkte es. Sie redeten beide nicht davon, und auch in der Folge machte das Mädchen nicht den Versuch, ihn für immer zu halten; jetzt redete sie ihm sogar in seine Liebschaften nicht mehr hinein. Aber er selbst hatte an diesen Liebschaften nicht mehr den Spaß, den er sonst daran gehabt hatte. Er begann den ständigen Wechsel langweilig und abgestanden zu finden. Was war, so fragte er sich, denn schon Besonderes daran? Für ihn war es schließlich keine Auszeichnung, wenn er wieder eine mehr besaß – er sah ja, wer alles außer ihm dieses Recht genoß. Sein Verhältnis zu der kleinen Verkäuferin blieb eigentümlich, sie entzog sich ihm, und gerade dadurch lenkte sie seine Aufmerksamkeit in immer stärkerem Maße auf sich, er beachtete und beobachtete sie mehr, als das jemals der Fall gewesen war, und allmählich ging ihm auf, daß sie Werte besaß, über die andere nicht verfügten: Zuverlässigkeit, Natürlichkeit und die Gabe, ihre ganze Umgebung samt den Menschen ruhig und sachlich zu beurteilen und an das eigene Leben nur angemessene Ansprüche zu stellen. Jetzt suchte Delitt den Umgang mit Monika Opitz, in seinem Wortschatz lautete das: Er lief ihr nach. Das kam ihn bitter an. Schließlich führte es jedoch dazu, daß sie sich zu verstehen begannen, und eines Tages sagte er ihr, daß er sie gern heiraten wolle; sie sagte, als sei das selbstverständlich, das wolle sie auch. Das war damals, als sie das Kind empfing. Aber er hatte zu jener Zeit noch eine Affäre, die er 138
nicht loswerden konnte: eine Arzttochter, ein kleines, temperamentvolles, quirliges Geschöpf mit einem unersättlichen Liebesverlangen; sie hatte sich auf ihn kapriziert, sie ließ ihn nicht los, nachdem sie ihn einmal hatte. Zweifellos war sie apart, intelligent, anziehend, aber Delitt hatte sich anders entschieden. Er wagte ihr das nicht zu sagen, und sie wußte ihn auf eine vertrackte Art immer wieder einzufangen. Es dauerte lange, bis er sich wirklich entschied, diese Verbindung abzubrechen, wenn nötig: zu zerstören. Vor der Auseinandersetzung hatte er ganz einfach Angst, da kroch aus ihm ein Stück Feigling heraus. Aber als eines Tages sein Mädchen schnupperte und sagte: „Was für ein scheußliches Parfüm benutzt du denn jetzt?“, da war es ihm endgültig klar, was er tun mußte. Jene kleine Kröte lud ihn zu einer Liebesnacht ein, und er sagte zu; es sollte die letzte Nacht sein, die er mit ihr verbringen wollte, und in diesen Stunden wollte er ausbaldowern – so albern drückte er sich aus –, wann die Gelegenheit günstig sei, ihr zu sagen, daß es aus wäre. Immerhin: Er hatte das tatsächlich fertiggebracht; es wäre scheußlich gewesen, gestand er, er wäre sich wie ein Lump vorgekommen, aber er hätte nicht nachgegeben. Früh gegen vier sei er völlig ausgelaugt heimgekommen. Und das war jene Nacht gewesen, in der Nottrodt erschlagen worden war, und wenn Delitt so standhaft gelogen hatte, so deshalb, weil er seiner Freundin nicht nachträglich von dieser erledigten Affäre berichten wollte, zumal sie schwanger war und er fürchtete, eine solche Aufregung könnte ihr schaden. Zeitfuchs sagt: „Trotzdem lasse ich ihn dahinten schmoren! Ich nehme ihn nachher aufs Kreisamt mit, und dann können wir sehen, ob sein neues Alibi stimmt!“ 139
Baltrock schüttelt den Kopf. „Aber nicht für die Kleine! Die hat es nicht verdient, lange im Ungewissen zu bleiben. Ich schicke nachher den Genossen Schnurk zu der Arztkröte, möglichst so, daß der Herr Papa dabei ist, klar?“ „Ja“, gibt der Leutnant zu, und mit Selbstüberwindung sagt er: „Ich muß von dir lernen, an den Menschen zu denken.“ Er wischt das gleich weg, er sagt: „Dann angle ich mir jetzt den Taschenbrecher – auch so ein kleiner Liebling!“ „In Ordnung“, erwidert Baltrock und ist sehr zufrieden. Taschenbrecher hat sich entschlossen, wieder den überlegenen Plauderer zu spielen; kaum hat er Platz genommen, da schießt er schon los: „Na, haben Sie sich davon überzeugt, daß ich im ‚Ewigen Lämpchen‘ war? Was soll ich denn dann noch hier?“ „Es stimmt, daß Sie dort waren“, erwidert Zeitfuchs langsam, „und was Sie hier sollen, werde ich Ihnen gleich sagen. Sie haben uns eines verschwiegen: daß Sie ein Schläger sind! Auch im ‚Ewigen Lämpchen‘ haben Sie Streit angefangen.“ „Na und“, sagt Taschenbrecher, „warum denn nicht? Wenn mich einer reizt, dann schlage ich ihm eben eine aufs Maul. Aber Sie haben mich danach nicht gefragt.“ Der Leutnant geht darauf nicht ein. „Wenn Sie einer reizt!“ sagt er. „Und Nottrodt hat Sie gereizt, der wollte nämlich sein Geld zurück haben! Und Sie waren in Fahrt, Sie hatten getrunken, Sie waren gerade so schön beim Zuschlagen, und als Sie hier vorbeikamen, sind Sie abgestiegen – das andere kennen wir!“ „Ich darf mir doch eine Zigarette anzünden?“ sagt Taschenbrecher. Er erhält keine Antwort, tut das umständlich, zieht ein paarmal und sagt: „Übrigens – was heißt 140
Schläger?“ Jetzt wird seine Stimme überredend: „Sehen Sie mal, ich bin rasch bei der Hand, wenn Sie wollen, das stimmt, aber dann winke ich dem eine, und damit hat es sich erledigt. Ich erschlage doch keinen!“ „Sie hatten in der Kneipe schon ein Bierglas bereit.“ Zeitfuchs beugt sich vor: „Sie hätten dort schon jemandem den Schädel zertrümmern können! Und Sie wollen kein richtiger Schläger sein? Junge, Junge!“ Plötzlich schaltet er um: „Wie spät war es eigentlich, als Sie vom ‚Ewigen Lämpchen‘ wegfuhren?“ „Weiß ich nicht“, erwidert Taschenbrecher und hat offenbar die Absicht, sich nun auf Kurzschweifigkeit umzustellen, „es hat geregnet wie eine Sau, außerdem war ich voll – ich habe nur gemacht, daß ich wegkam!“ „Daß Sie voll waren, wird Sie die Fahrerlaubnis kosten“, sagt Zeitfuchs beiläufig, „da rede ich noch mit der Verkehrspolizei. Das nehmen wir als Ihre Aussage mit ins Protokoll. Außerdem liegt zwar der Zeitpunkt ungefähr fest, zu dem Sie vom ‚Ewigen Lämpchen‘ abgefahren sind, aber nicht der, zu dem Sie zu Hause ankamen. Das ist das Loch in Ihrem Alibi.“ Diese Argumente scheinen Taschenbrecher einzuleuchten, plötzlich gibt er die Frechheit auf, er versichert bescheiden: „Ich war es nicht, Herr Kommissar! Ich hatte wirklich genug, mir brummte der Schädel, ich wollte nach Hause, und als ich aus der Stadt heraus auf die Landstraße bog, da kam auch noch der Bus und preschte durch eine riesige Pfütze – ich bekam eine Dusche über und über! Ach, hatte ich die Schnauze voll!“ Der Leutnant hat jetzt den Eindruck, daß Taschenbrecher nicht lügt, er überdenkt den Vorgang, er sagt unvermittelt: „Unterzeichnen Sie das Protokoll, Sie können gehen!“ 141
Dann ist Stille, eifrig liest Taschenbrecher die Seiten, nur einmal hebt er den Kopf, fragt: „Kann man das mit der Trunkenheit nicht herausnehmen?“, und als er keine Antwort erhält, zeichnet er die Seiten ab, steht auf, und bevor er die Tür schließt, sagt er: „Guten Abend!“, sehr artig und hörbar erleichtert. „Die Sache mit der Fahrerlaubnis“, sagt Zeitfuchs zu dem Hauptmann, „die hat gewirkt! Im übrigen glaube ich wirklich nicht mehr, daß er etwas mit der Sache zu tun hat. Die Begegnung mit dem Bus werden wir überprüfen, der Fahrer müßte sich eigentlich daran erinnern.“ Baltrock nickt, er ergänzt: „Wir müssen jetzt unbedingt ein Weg-Zeit-Diagramm erstellen. Wir brauchen es, wenn später noch mehr Daten dazukommen.“ Zeitfuchs sagt: „Draußen gehen sie jetzt heim.“ Unwillkürlich schaut der Hauptmann durch das Fenster; in losen Rudeln verlassen die Mitarbeiter des Betriebs das Grundstück. Während Baltrock hinauseilt, um sich im Pförtnerhaus davon zu, überzeugen, ob dort die Kriminalisten mit der Abnahme der Fingerabdrücke fertig geworden sind, während er sie anweist, am nächsten Morgen zu einer Lagebesprechung ins Kreisamt zu kommen, während er danach den ungeduldigen Werkleiter Wronski veranlaßt zu warten, bis Pilarzyks Vernehmung beendet ist, während er dann Schnurk hört, der ihn davon unterrichtet, daß die neuen Angaben Delitts tatsächlich stimmen – während der Hauptmann draußen mit allem diesem beschäftigt ist, raucht Zeitfuchs nachdenklich eine Zigarette und durchdenkt noch einmal den seltsamen Zufall, der ihn Pilarzyk bei einer unverständlichen und verdächtigen Unwahrheit entdecken ließ, diesen gediegenen Mann. 142
6 Baltrock spürt nun doch das Blei der Stunden in seinen Gliedern, als er Pilarzyk betrachtet, der neben dem Schreibtisch sitzt und keinerlei Unsicherheit verrät. Zeitfuchs hat den Schirm der Lampe so hochgerichtet, daß der Schein schräg über dem Raum und auch auf Pilarzyk liegt, so daß er jede Regung deutlich erkennen kann. Der Hauptmann atmet tief aus und beginnt: „Es tut mir leid, Herr Pilarzyk, daß wir Sie noch einmal befragen müssen. Es ist da eine Unklarheit aufgetaucht.“ Er wechselt einen raschen Blick mit Zeitfuchs. Den Blick bemerkt Pilarzyk nicht; arglos, ahnungslos, zuvorkommend antwortet er: „Wenn ich zur Aufklärung beitragen kann …“ „Sie können“, beginnt Zeitfuchs und macht danach eine so lange Pause, daß ihn Pilarzyk erstaunt ansieht. Der Leutnant läßt sich Zeit, ehe er fortfährt: „Ja … indem Sie uns beispielsweise verraten, wo Sie sich in jener Nacht wirklich aufgehalten haben! Zu Hause waren Sie nämlich nicht!“ Pilarzyk ist völlig überrascht. Zuerst scheint es, als habe er Zeitfuchs nicht ganz verstanden, dann aber, als er dessen Worte begreift, kommt in seinen Blick eine seltsame Unsicherheit, abwechselnd sieht er Baltrock und Zeitfuchs an, als könnten die ihm helfen, doch beider Gesichter sind verschlossen. Pilarzyk sagt unsicher: „Sie meinen, ich war nicht zu Hause …“ Es ist albern, wie er noch einmal fragt, wahrscheinlich empfindet er das selbst, denn er senkt die Augen, und seine Backenmuskeln arbeiten angestrengt, als kaue er an unhörbaren Sätzen. In das Schweigen hinein sagt der Leutnant: „Genau das meine ich, Herr Pilarzyk, Sie waren nicht zu Hause, 143
wie Sie uns versicherten, Sie haben uns ganz einfach belogen.“ Er setzt sofort nach: „Wo also waren Sie wirklich?“ Doch diese Frage geht an Pilarzyk vorbei, er antwortet nicht. Zeitfuchs ist sich indessen seiner Sache ganz sicher. Dem Leutnant war die Überprüfung von Pilarzyks Alibi zunächst nur als Formsache erschienen. Da der Meister in Mühlen wohnte, hatte er diese Nachforschung an den Schluß gestellt, und in der Annahme, die Sache werde sich vermutlich in wenigen Minuten erledigen, hatte er Monika Opitz solange im Wagen warten lassen. Das Haus stand in einer Seitenstraße, die besonders stark von dem ursprünglichen dörflichen Charakter des Vororts geprägt war. Langsam bog Zeitfuchs dort ein, der Wagen hoppelte über den zerfahrenen Weg und hinkte schwerfällig an den Häusern vorüber. Es waren einstöckige alte Gebäude, Blumen standen in den Fenstern und Topfgewächse, die braun- oder grüngestrichenen Läden waren zurückgeschlagen. Zeitfuchs kuppelte aus und trat auf die Bremse. Hier war Pilarzyks Haus. Gerade so hatte er es erwartet: besonders sorgfältig gepflegt, die Front frisch getüncht, die Fensterläden grün, aber mit einem gelben Strich freundlich abgesetzt. Hier lebte ein Mensch, der sein Eigentum zusammenhielt, kein Lotterbube, wahrhaftig. Zeitfuchs läutete. Nichts rührte sich. Der Leutnant trat zwei Schritte zurück und musterte alles noch einmal. Da bemerkte er, wie sich aus dem Schornstein ein dünner Rauchfaden zierlich kräuselte. Er läutete ein zweites Mal. Drinnen belferte plötzlich giftig ein Spitz, er geiferte sich an seinem eigenen Gekläff 144
hoch; dann war es, als würde der Hund irgendwo eingesperrt, und wenige Sekunden später wurde ein Fensterflügel aufgestoßen. Zeitfuchs hatte erwartet, von Pilarzyks Frau empfangen zu werden. Um so überraschter war er, als er das kecke Wesen gewahrte, das den Kopf aus dem Fenster streckte: Die pechschwarzen Haare waren bubenhaft kurz geschnitten, sie gaben zwei zierliche Ohren frei; die haben keinen Klimbim nötig, dachte Zeitfuchs begeistert; über den herausfordernden großen braunen Augen wölbten sich dunkle Brauen, die eine Spur struppig waren, Zeitfuchs spürte den geheimen Wunsch, sie mit dem Zeigefinger glattzustreichen; und der Mund! Der Leutnant mochte keine Herzkirschenmünder, er mochte keine konturlosen Breitmäuler, aber Lippen wie diese, die mochte er, Lippen, die leicht geschwungen und deutlich gezeichnet waren, adrette Lippen sozusagen und dabei doch auf eine anziehende Art schnippisch. Es fiel dem Leutnant schwer, sich seine jähe Begeisterung nicht anmerken zu lassen; eine Spur zu knapp erklärte er, daß er eine Auskunft benötige, ob er für ein paar Minuten eintreten dürfe. Das Mädchen erwiderte darauf nichts, sie starrte ihn sekundenlang überlegend an, die Musterung mußte zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen sein, sie klirrte das Fenster zu und öffnete kurz darauf die Tür. Sie gingen in das Haus, der lange Leutnant hinter dem kleinen straffen Persönchen; so hatte er Zeit, eine Art von Bestürzung zu überwinden darüber, daß zu dem Kopf ein ebenso anziehendes Geschöpf gehörte, frisch und angenehm wie eine Kirsche; sie mußte das von sich selbst wissen, der hautnahe schwarze Pullover verriet es genauso wie der großkarierte Minirock, der eigentlich, gestand 145
sich Zeitfuchs, schon kein Rock mehr zu nennen war, eher ein breites Band oder dergleichen, und sie trug ihn, wie der Leutnant meinte, völlig zu Recht; hinter ihr gehend, betrachtete er ihre Beine und dachte dann, für den Vater müßte es geradezu ein Vergnügen gewesen sein, diesen süßen Po zu versohlen, und er war sich ziemlich sicher, daß der Vater nicht selten dazu Anlaß gehabt hatte; er beneidete ihn darum. Dann saßen sie einander gegenüber, das Mädchen – wie sich herausstellte, Pilarzyks neunzehnjährige Tochter – zupfte törichterweise züchtig den Rock herunter, der sich nicht herunterzupfen ließ. Der Leutnant starrte angestrengt über den Kopf des Mädchens hinweg auf eine von Birkenzweigen umrahmte Fotografie ANDENKEN AN SUHL und sagte: „Fräulein Pilarzyk, es tut mir leid, wenn ich Sie mit einer Frage belästigen muß. Wir haben Routineuntersuchungen durchzuführen, und Ihr Vater konnte sich nicht mehr genau daran erinnern, wann er vorgestern nach Hause gekommen ist. Es ist aber wichtig, daß wir die genaue Uhrzeit wissen, vielleicht können Sie uns helfen.“ Sie lächelte ihn an, und von diesem Augenblick an hatte er den Eindruck, es mit einem Menschen zu tun zu haben, der sich ungern auf Winkelzüge einließ. Sie zuckte die Schultern, sie sagte: „Da haben Sie Glück. Ich weiß es genau.“ Sie schwieg. „Also dann …“, half Zeitfuchs nach. „Ja, also dann …“, wiederholte sie und sagte plötzlich: „Aber Sie werden mich nicht verraten? Mein Vater, wissen Sie, ist nämlich ziemlich unmodern, unaufgeklärt, möchte ich sagen, bei ihm ist es noch so, daß man sich abmelden möchte, wenn man abends mal ausgeht, und daß man schwört, nicht später als elf Uhr wiederzukommen 146
und so.“ Sie lachte. Sie sagte: „Schließlich bin ich nicht von vorgestern, und im übrigen passe ich auf mich auf.“ Zeitfuchs glaubte ihr das sofort. „Ich hatte so eine günstige Gelegenheit an dem Abend“, erzählte sie verschmitzt, „ich wollte nämlich tanzen gehen, ich hatte mich mit zwei Freundinnen verabredet, und ich war schon gefaßt darauf, daß es mit dem Alten, mit meinem Vater, endlose Diskussionen geben würde, wir wollten uns um halb neun treffen. Was meinen Sie, wie froh ich war, als er so gegen acht mit dem Moped verduftete!“ „Wer?“ fragte Zeitfuchs überflüssigerweise und ärgerte sich gleich über die dumme Frage. „Na, mein Vater“, antwortete sie und fügte geringschätzig hinzu: „Mutter kümmert sich sowieso nicht darum. Aber vorsichtshalber“, meinte sie, „verstehen Sie, vorsichtshalber bin ich kurz vor elf wieder hier gewesen. Und was meinen Sie: Das Haus war stockdunkel! Also, heilfroh tappt Annegret in ihr Zimmer hinauf, ich schlafe nämlich in der Dachkammer oben“, erklärte sie, „und Annegret, hundemüde, zieht sich aus, und wie sie grade ins Bett hüpfen will, was hört sie da: Es kommt jemand! Wer kommt? Vater mit dem Moped! Na, mein Zimmer war dunkel! So, wenn er sich also nicht erinnern kann: Es war kurz nach elf, aber verraten Sie mich nicht.“ Auf einmal war alles vergessen: die zierlichen Ohren, die adretten Lippen, der süße Hintern – Zeitfuchs beugte sich vor und fragte gespannt: „Sind Sie sicher?“ Sie sah ihn eigentümlich an, als käme ihr das alles plötzlich nicht mehr ganz geheuer vor; sie sagte vorsichtig: „Ja, ich bin sicher!“ Rasch fügte sie hinzu: „Warum wollen Sie das eigentlich so genau wissen?“ 147
„Ach“, der Leutnant machte eine unbestimmte Handbewegung, „wir sind nun einmal genaue Leute, verstehen Sie?“ Aber es schien ihm, als werde sie auf einmal sehr zurückhaltend, beinahe steif, er fand, es paßte nicht zu ihr. Er fragte: „Und wie spät war es tatsächlich, ich meine, nicht nur ungefähr?“ „Gegen elf“, sagte sie unbestimmt. „Sie haben vorhin gemeint: nach elf“, erinnerte er sie. „Das war so hingesagt“, erklärte sie, „es kann auch ein paar Minuten vorher gewesen sein. Ich habe kein Licht angeknipst, meine Uhr besitzt kein Leuchtzifferblatt, nicht wahr?“ Plötzlich sah sie ihn unverschämt an, sie sagte: „Ich könnte mir so eine Uhr eigentlich zum Geburtstag wünschen; wollen Sie wissen, wann ich Geburtstag habe?“ „Nein“, erwiderte er amtlich, „ich möchte nur wissen, ob Sie sich nicht doch genau erinnern, und ich möchte Ihnen sagen, daß es für Ihren Vater wichtig sein kann. Na, wie ist es?“ Sie schwieg, sie zuckte die Achseln. Zeitfuchs erhob sich langsam, er blickte vor sich hin und sagte: „Na gut, wie Sie wollen!“ Auf einmal war Frost im Zimmer. „Ihre Auskunft hat uns auch so genützt. Und wenn wir mehr wissen wollen, melden wir uns.“ Im Hinausgehen meinte er: „Ich werde nicht sagen, daß Sie tanzen waren, wenn es nicht sein muß, ich werde nur sagen, daß Sie Ihren Vater heimkommen gehört haben.“ Aber auch darauf erwiderte sie nichts mehr, und als er sich draußen umdrehte und auf Wiedersehen sagen wollte, fand er die Tür bereits geschlossen. Mit ein paar raschen Schritten war er beim Wagen, 148
fuhr an und sagte entschuldigend zu Monika Opitz: „Es hat halt etwas länger gedauert …“ Das alles ist in Zeitfuchs, als er jetzt zu Pilarzyk sagt: „Damit wir uns richtig verstehen – Sie haben Nottrodt als erster aufgefunden, Sie haben den Krankenwagen angefordert, statt die Kriminalpolizei zu verständigen, ich frage also nicht ohne Absicht, wo Sie in der Nacht eigentlich waren.“ „Nicht im Betrieb“, antwortet Pilarzyk mühsam. „Dann lassen Sie endlich die Geheimniskrämerei, Sie stehlen unsere Zeit!“ sagt Zeitfuchs energisch. „Sie wissen doch, was für Sie auf dem Spiel steht!“ Pilarzyk schweigt. Der Leutnant seufzt absichtlich hörbar, als sei ihm alles zuviel, er klappt einen Aktendeckel zu, als schließe er etwas ab, er sagt: „Wie Sie wollen! Wenn Sie uns nicht Rede und Antwort stehen, dann werden wir Sie ins Kreisamt bitten und dort weitersehen. Aber Sie sind sich hoffentlich klar darüber, daß sich so etwas wie der Wind herumspricht und daß sich jeder sagen wird: Der Pilarzyk hat doch Dreck am Stecken, sonst hätten sie ihn nicht mitgenommen! Also, wie ist’s?“ Pilarzyk, der sonst so deutlich Geradeausblickende, hebt beide Hände zur Stirn und reibt sie und hält dabei den Kopf gesenkt, und dann läßt er die Hände sinken und schüttelt wieder den Schädel. Dem Hauptmann fällt auf, daß Pilarzyk sich überhaupt nicht vergewissert, er fragt nicht nach Zeugen, er unterstellt, daß Zeitfuchs ihn nicht blufft; das eben ist Pilarzyk, der vor dem Gesetz Respekt hat, und in diesen Minuten zumindest verkörpert Zeitfuchs für ihn das Gesetz. 149
Baltrock sieht, daß der Leutnant wieder ausholt, da kommt er ihm zuvor und sagt: „Herr Pilarzyk, ich glaube, Sie brauchen Zeit, sich das zu überlegen. Schnappen Sie jetzt im Hof Luft, und überdenken Sie alles. Dann erzählen Sie uns, wie Sie sich entschieden haben – und, Herr Pilarzyk, ich kann nur unterstreichen, was der Genosse Leutnant gesagt hat: Es wird Ihnen schaden, wenn Sie sich bockbeinig stellen.“ Schwerfällig erhebt sich Pilarzyk, er steht noch einen Augenblick vorgebeugt, Baltrock empfängt einen kurzen dankbaren Blick, dann ist er draußen, der Hauptmann sieht ihn im Hof ein paar Schritte hin und her gehen. „Ich glaube“, sagt Schnurk mit vor Aufregung beinahe krähender Stimme, „jetzt hätte er geredet!“ Der Hauptmann bemerkt, daß Zeitfuchs untätig auf die Tischplatte starrt; er weiß, daß der die Unterbrechung mißbilligt, also sagt er: „Man soll Menschen nur im Notfall bedrängen. Du wirst sehen, in Kürze wird Pilarzyk von selbst die Antwort geben.“ Jetzt ist alles sehr öde. Der Ofen ist tot, die letzten Scheite sind verglüht. Die Schreibmaschine schweigt. Die Mitarbeiter der PGH sind heimgegangen, nur Pilarzyk wandert im Hof trübe hin und zurück, durch die graublauen Streifen hindurch, mit denen sich eine Dunstnacht ankündigt. Irgendwo, weiß Baltrock, sitzt Werkleiter Wronski noch über Rechnungen, er hat sich einen der oberen Umkleideräume notdürftig als Büro eingerichtet – ein hilfreicher Mann, denkt Baltrock. Er überlegt, daß Pilarzyk als Täter wohl nicht in Frage komme, aber dann erinnert er sich, daß er diesem festen Manne in jedem Falle vertraut hätte; und doch hatte er gelogen, schlichtweg gelogen. Warum sollte also nicht Böseres auf ihm lasten, wer vermag wirklich in Menschen hineinzuschauen? 150
Das treibt ihn dazu, den Raum zu verlassen; Pilarzyk sieht ihn an der Tür lehnen, er hält in seiner Wanderung inne, er schaut zu dem Hauptmann hinüber; aber er geht nicht zu ihm. Baltrock besteht nicht darauf, daß der andere den Weg so leicht finde, also kürzt er ihn ab: Er selbst nähert sich ihm. Sie stehen nebeneinander. Baltrock sagt erst nach einer Weile: „Unsere Aufgabe ist schwierig, und die Genossen im Büro haben völlig recht: Sie erschweren sie uns noch mehr! Wir müssen ganz einfach wissen, wo Sie sich in der Nacht aufgehalten haben, wir müssen Zeiten möglichst auf die Minute genau haben. Sogar, Herr Pilarzyk, wenn Sie mit dieser ganzen Geschichte hier nichts zu tun haben, ist es für uns von Bedeutung, möglicherweise könnten wir Sie in irgendeinem anderen Zusammenhang als Zeugen benötigen. Und ich finde, angesichts eines Mordes ist es wirklich ein wenig lächerlich, wie Sie sich verhalten – um kein schlimmeres Wort zu gebrauchen.“ Er setzt hinzu: „Sehen Sie, selbst wenn Sie bei einer Frau waren und Scheu haben, darüber zu sprechen, müssen Sie reden, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig.“ Es geschieht genau das, was Baltrock angenommen hatte: Pilarzyk bewegt wegwerfend die rechte Hand und sagt: „Ach, Frau …!“ Doch der Einwurf des Hauptmanns scheint gewirkt zu haben, auf einmal sieht er nicht mehr so gedrückt aus, er rafft sich zusammen, er fragt: „Darf ich mich in der Angelegenheit mit dem Werkleiter besprechen?“ Baltrock schaut ihn verwundert an, dann sagt er: „Wenn Sie das für notwendig halten, bitte.“ Er fügt hinzu: „Aber das wollen wir auf höchstens eine halbe Stunde begrenzen!“ 151
Plötzlich eilig, läuft Pilarzyk längs durch den Hof zu dem Gebäude mit den Umkleideräumen. In diesem Augenblick bremst draußen scharf ein Wagen, hastig steigt ein Oberwachtmeister aus. Richtig, der Hundeführer! geht es Baltrock durch den Kopf, und während er auf ihn zueilt, denkt er: Ich möchte nur wissen, was die Lösung von Pilarzyks Rätsel ist! 7 Baltrock sitzt im Büro, das Licht hat er gelöscht, er hockt in einem Schattennest; durch das Fenster will er beobachten, wie sich der Hund verhalten wird, den sie nun auf die Probe stellen. Den Leutnant hat der Hauptmann an die Landstraße postiert, um prüfen zu lassen, ob dort Bellgeräusche zu hören sind, Schnurk hat sich zum gleichen Zweck an den Zugang des Schwarzen Wegs begeben. Die Rolle Nottrodts hat Werkleiter Wronski übernommen, den das Tier kennt. Der Hundeführer wird den Eindringling mimen. Das Gelände ist in den Zustand versetzt, in dem es sich in jener Nacht befunden haben dürfte: Das Tor ist geschlossen, in der Wachstube brennt Licht, die Werktüren sind verriegelt, nur die Tür zum Umkleideraum steht offen. Die einzige Unstimmigkeit ist die Tatsache, daß im ersten Stock Pilarzyk sitzt und auf das nächste Gespräch wartet; aber an ihn denkt der Hauptmann in diesen Augenblicken kaum. Beleibt und fröhlichen Schrittes erscheint Wronski im Blickfeld, er kommt vom Wächterhäuschen und verschwindet hinter der Hausecke, zum Zwinger hin; gleich darauf springt erlöst der Schäferhund herüber, er beginnt zu schnuppern, offenbar sind die vielfältigen Spuren interessant, dieses Gemisch aus Vertrautem und 152
Fremdem, doch allmählich wird ihm das langweilig, er begibt sich an eine Hausecke und verrichtet jämmerlich gekrümmt seine Notdurft. Da taucht Wronski zögernd wieder auf, der Hund umkreist ihn freundlich. In diesem Augenblick nähert sich von hinten vorsichtig schleichend der Hundeführer; er steckt in einem schutzgepolstertem Overall. Der Schäferhund wittert ihn, trabt zu ihm, der stehenbleibt, hält sich in einiger Entfernung, gibt jedoch nicht Laut. Der Eindringling macht bedrohliche Bewegungen, das Tier zieht sich zurück, da geht der Oberwachtmeister genau auf ihn zu und schwingt einen Knüppel. Es sieht aus, als knurre das Tier, aber hören kann Baltrock das nicht; es greift jedoch nicht an, sondern weicht nur dem Knüppel aus, es verbellt den Mann auch nicht, Baltrock schüttelt den Kopf. Offenbar erscheint dem Hundeführer das Spiel zu läppisch. Mit schnellen Schritten begibt er sich geradenwegs zu Wronski und schauspielert einen gefährlichen Angriff. Als sogar das erfolglos bleibt, rennt Wronski in Richtung auf die Waschräume weg, der Oberwachtmeister verfolgt ihn, der Hund springt fröhlich mit, als sei das ein lustiges Spiel. So entschwinden die drei aus dem Blickfeld des Hauptmanns. Er weiß nur, daß sich dort hinten das wiederholen wird, was sich in jener Nacht abgespielt haben muß: Der Hundeführer wird sich in den Räumen verstecken, der Werkleiter wird hineingehen, begleitet von dem Tier, er wird scheinbar überfallen werden, hinstürzen – und Baltrock lauscht auf Laute, die nun bald zu hören sein müßten. Doch seine Gedanken gleiten ab, hinüber zu Pilarzyk, unwillkürlich schüttelt der Hauptmann den Kopf. Es ist 153
ihm nicht möglich, sich vorzustellen, was in dem Mann vor sich gehen mag. Er hat auch keine Ahnung, was Pilarzyk bewogen haben könnte zu lügen – denn gelogen hat er! Und was soll diese Bitte, mit dem Werkleiter reden zu dürfen? Baltrock kommt zu keinem Schluß. In diesem Augenblick tauchen Wronski, der Hundeführer und das Tier wieder auf – einträchtig gehen sie nebeneinanderher. Rasch erhebt sich der Hauptmann und verläßt den Raum. Der Oberwachtmeister ist verärgert, Baltrock hört ihn zu Wronski sagen: „Unverantwortlich! Das soll ein Wachhund sein? Wissen Sie, es gibt scharfe Hunde, es gibt lärmende Hunde – beides ist akzeptabel. Dieser hier aber, das ist kein Hund, das ist ein Idiot!“ Erst jetzt bemerkt er den Hauptmann, er rafft sich zusammen, sagt: „Genosse Hauptmann, der Versuch bleibt ergebnislos, er kann abgebrochen werden!“ Baltrock nickt, er erwidert: „Das Ergebnis ist trotzdem wichtig. Wir wissen nämlich jetzt, daß nicht unbedingt ein Betriebsangehöriger oder jemand, der den Hund kannte, der Täter gewesen sein muß. Auch jeder Fremde konnte ungehindert eindringen und angreifen!“ Er schließt ab: „Also gut! Genosse Oberwachtmeister, schicken Sie mir doch die beiden Genossen von draußen herein, wenn Sie jetzt wegfahren. Und Sie, Genosse Wronski“, wendet er sich an den Werkleiter, „kommen bitte mit Herrn Pilarzyk in das Büro.“ Damit verläßt er die beiden Männer. Im Büro knipst er die Lampe wieder an. Fast gleichzeitig mit Zeitfuchs und Schnurk erscheinen Wronski und Pilarzyk, und als wolle Wronski allem zuvorkommen, reißt er geradezu die Brauen hoch, so daß die Augen zwischen den überhängenden Lidern einen starrenden Blick 154
bekommen, macht eine große Gebärde mit der Rechten und dröhnt: „Genossen! Ich kann Sie beruhigen, Sie haben sich umsonst Sorgen gemacht, es handelt sich tatsächlich um eine reine Betriebsangelegenheit.“ Es gelingt ihm nicht, weiterzureden, die Verblüffung von Zeitfuchs über diesen unerwarteten Beginn der Verhandlung dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, dann ist er deutlich dazwischen: „Das zu entscheiden, überlassen Sie uns! Genosse Wronski, auch Sie reden nur, wenn Sie gefragt werden! Und eine reine Betriebsangelegenheit ist in gewisser Weise auch der Mord an Nottrodt, wenn Sie so wollen!“ Baltrock ist dieses Zwischenspiel unangenehm, er hat das dumpfe Gefühl, Wronski habe seinen Mitarbeiter decken wollen, er ist zufrieden, daß Zeitfuchs diesem Versuch, wenn es einer war, so rasch ein Ende gesetzt hat. Wronski wiederum sagt gekränkt: „Bitte, bitte, wie Sie wollen!“ Er begibt sich sozusagen in seine eigenen Fettmassen, er zieht sich in sich selbst zurück. „Also, Herr Pilarzyk“, beginnt Zeitfuchs, „nun erzählen Sie uns, was Sie in jener Nacht gemacht haben: wann Sie von daheim wegfuhren, wann Sie zurückkehrten, was sich in der Zwischenzeit zugetragen hat und wo Sie überhaupt gewesen sind.“ Als habe Pilarzyk einen Leitfaden erhalten, beginnt er brav zu berichten, es ist, als sage er eine Lektion auf, die er in der Schule gelernt hat. „Ich bin kurz nach neunzehn Uhr dreißig mit dem Moped von zu Hause weggefahren. Ich hatte vor, mich mit jemandem in der Stadt zu treffen, aber ich wußte nicht, wann er kommen würde. Ich habe auf ihn in der Gaststätte ‚Rotes Roß‘ gewartet. Er kam kurz nach zehn, und ich war froh darüber, denn ich wollte möglichst zei155
tig wieder zurück. Ich hatte den Verdacht, daß meine Tochter Annegret tanzen gehen wollte. Ich habe deshalb nur die Ware übernommen, bezahlt und in dem Rucksack, den ich mithatte, verstaut. Dann bin ich gleich wieder weggefahren, zu Hause war ich drei oder vier Minuten vor elf. Ich habe nämlich auf. die Uhr geschaut, für den Fall, daß Annegret nicht daheim gewesen wäre.“ Er schweigt. Der Leutnant schüttelt kaum merklich den Kopf, und Baltrock weiß, daß er denkt: Eine merkwürdige Geschichte, albern! Er hört ihn fragen: „Schön und gut, aber Sie haben uns immer noch nicht gesagt, zu welchem Zwecke Sie eigentlich in das ‚Rote Roß‘ wollten? Wen haben Sie dort getroffen? Und welche Ware haben Sie übernommen?“ Er fügt spöttisch hinzu: „Klingt beinahe nach Hasch!“ Pilarzyk schluckt, diese Bemerkung schmeckt ihm nicht. Er wirft einen kurzen Blick zu Wronski hinüber, aber der tut, als bemerke er das nicht, er sitzt gewichtig da, nach vorn gebeugt, die Hände auf der Schreibtischplatte gefaltet, er starrt sie unentwegt an. „Das ist ein Lastwagenfahrer, der Ware von Thüringen nach Berlin gebracht hat“, erklärt Pilarzyk leise, „und er hat für uns etwas abgezweigt …“ „Wer ist ‚uns‘?“ fragt der Leutnant. „Unsere PGH“, erläutert Pilarzyk, „wir haben Termine für die Einbauküchen in den Neubauten, und wenn wir die Termine nicht halten, können die Menschen dort nicht einziehen und …“ Ihm erscheint das wohl selber etwas verworren, er hält inne, dann sagt er: „Herr Wronski nämlich kennt diesen Fahrer.“ In diesem Augenblick nickt Wronski bestätigend seinen gefalteten Händen zu. 156
„Und was ist das nun für Zeug, das Sie da übernommen haben“, fragt Zeitfuchs ungeduldig. „Beschläge“, sagt Pilarzyk unschuldig, „Möbelbeschläge, die sind nämlich ein Engpaß.“ Des Leutnants Geduld ist zu Ende. Sein Ton ist ungehalten, als er Pilarzyk anfährt: „Mann, warum sagen Sie uns das jetzt erst! Wissen Sie nicht, daß wir Wichtigeres zu tun haben, als in Beschlägen zu ermitteln!“ Da hält es Wronski nicht länger, er hebt den schweren Kopf, sieht Zeitfuchs, fest an und sagt: „Das ist ein ehrlicher Mensch, Genosse! Es ist uns nämlich verboten, auf diese Art einzukaufen, aber wenn wir es nicht tun, dann halten wir keinen Termin! Und Pilarzyk kenne ich lange genug, der denkt an die Menschen, die wegen dieser Beschläge nicht zu ihrem Heim kommen, so ist das nämlich! Weil er aber weiß, daß wir hier eine Vorschrift umgehen, wollte er die PGH nicht belasten. Ich denke, das ist verständlich. Wäre er weniger anständig …“ Er wischt mit der Hand durch die Luft. Baltrock spürt, daß der Leutnant keineswegs besänftigt ist – und mit Recht, denkt er; aber er will die unerquickliche Situation, die ihm zugleich komisch erscheint, beenden, er legt Zeitfuchs leicht die Hand auf die Schulter und sagt: „Vielleicht sollten wir nochmals die Zeiten kontrollieren?“ Es ist, als wäre nichts geschehen, aber der Leutnant fragt auf einmal geduldig: „Also noch mal: Wann sind Sie weggefahren, wann zurückgekommen?“ „Um neunzehn Uhr dreißig. Zu Hause war ich drei Minuten vor elf“, erwidert Pilarzyk präzise und verschreckt. „In beiden Fällen haben Sie die Landstraße von Mühlen zur Stadt und zurück ohne Aufenthalt durchfahren?“ 157
„Ja.“ „Und Sie haben nichts Auffälliges bemerkt?“ „Nein, wirklich nicht!“ „Wer ist Ihnen begegnet?“ „Niemand.“ „Auch kein Bus?“ „Nein, kein Bus, nichts.“ Es ist ein bitteres Gefühl, das Zeitfuchs erfüllt, als er gemeinsam mit dem Hauptmann und Schnurk die PGH verläßt, in der Hand nur ein paar betippte Blätter Papier. Baltrock sagt: „Wir werden Pilarzyks Fahrt in das Weg-Zeit-Diagramm eintragen, wir engen den Zeitraum dann immer mehr ein.“ „Ja“, erwidert Zeitfuchs nur, „aber der Unsicherheitsfaktor bleibt trotzdem groß. Da Nottrodt erst nach Stunden gestorben ist, können uns die Mediziner nichts Schlüssiges sagen – nur Schätzungen geben. Wir müßten die genaue Uhrzeit des Überfalls kennen, dann kämen wir weiter.“ Sie sitzen im Wagen, der Leutnant lenkt ihn durch die nebelgestreifte Landschaft; wie ein riesiges Zebrafell, dunkel und grau getönt, liegt sie da. Baltrock erinnert sich, wie er vor einigen Stunden dem Oberleutnant erläuterte, daß sich mit jedem Verdacht, der sich als unzutreffend erweise, der breite Fächer der Spuren verenge und ihre Arbeit sich damit auf wenige Momente konzentrieren könne. Das stimmt zwar, und insofern haben sie heute gute Erfolge erzielt; nur das Entscheidende ist bisher nicht eingetreten: Die wahrhaft heiße Spur haben sie nicht entdeckt. Oder haben sie sie entdeckt und nur nicht bemerkt? 158
Das bespricht er mit Zeitfuchs, als sie in der „Nebelkrähe“ zu Abend essen. „Was hältst du nun von deinen ‚potentiellen Tätern‘?“ fragt er Zeitfuchs und meint es nicht sarkastisch. Der Leutnant kaut einen großen Bissen hinunter, das gibt ihm Zeit zum Überlegen, er erwidert: „Theoretisch könnten sie alle immer noch in Frage kommen. Sowohl Taschenbrecher als auch Pilarzyk und Delitt sind irgendwann nachts an der PGH vorbeigefahren. Sie wären also in der Lage gewesen, Nottrodt niederzuschlagen.“ „Theoretisch ja, aber …“ Baltrock sieht Zeitfuchs auffordernd an, er will, daß der Leutnant sich nicht nur auf Möglichkeiten, auf Hinweise, auf Spuren beschränkt, sondern daß er die Menschen in seine Überlegungen einbezieht. Zeitfuchs lächelt, er muß an Pilarzyks Tochter denken, er erwidert: „Unser guter Pilarzyk scheidet aus. Einmal war er zu sehr mit diesem seltsamen Kauf beschäftigt; daß er etwas nicht ganz Rechtmäßiges tat, muß diesen Mann bedrückt haben. Zum anderen aber wollte er seine Tochter kontrollieren, wollte also schnell wieder heim – das glaube ich ihm wirklich, ich habe sie ja kennengelernt.“ Er sieht Baltrock an, als erwarte er Zustimmung; aber der schweigt. Also fährt er fort: „Delitt – dagegen würde schon die Zeit sprechen, er ist nachweislich bis gegen vier Uhr bei dem Arzttöchterlein gewesen. Nottrodt muß aber gegen Mitternacht niedergeschlagen worden sein, wie die Ärzte annehmen. Außerdem war Delitt wohl heilfroh, den Fängen seiner Dame entronnen zu sein, er hatte bestimmt nichts anderes im Kopfe. Bliebe also Taschenbrecher: Der Zeitpunkt seiner Heimkehr stimmt mit der Tatzeit überein, und ihm traue ich zwar keinen vorgeplanten 159
Mord, wohl aber einen Totschlag zu, der sich aus der Situation ergibt – also beispielsweise im Zusammenhang mit einer Geldmahnung des Nottrodt.“ Er zupft überlegend an seiner Lippe, er sagt schließlich: „Trotzdem – nein! Er hatte den Hinauswurf hinter sich, war naß wie eine Katze, bekam noch die Dusche von dem Omnibus über den Buckel – ich halte es für unwahrscheinlich, daß er in diesem ungemütlichen Zustand noch einen Abstecher zur PGH machte.“ Nun endlich nickt Baltrock zufrieden. „Das ist auch meine Ansicht“, bestätigt er, und er freut sich, ohne es zu zeigen, daß der Leutnant mehr als bisher die Charaktere zu werten beginnt. Er sagt: „Vieles ist hinfällig geworden. Die Untersuchung der Blut- und Kotproben hat nur ergeben, daß sie sämtlich von Nottrodt stammen. An seiner Mütze wurde auch nichts gefunden.“ Und er fragt: „Was bleibt uns also noch?“ „Da ist einmal der Daumenabdruck am Spiegel“, rekapituliert Zeitfuchs, „er wird uns nur nützen, wenn wir den Täter zu überführen haben. Ob wir den Verursacher durch daktyloskopischen Vergleich jetzt schon zu fassen bekommen, ist unentschieden, denn die Abdrücke der Tatortberechtigten sind noch nicht alle gesammelt und verglichen. Dazu gehört auch Romeike, der mit dem Zehn-Mark-Pump. Alles, was wir bis jetzt über ihn gehört haben, widerspricht zwar der Vermutung, er könnte der Täter sein, indessen kann man das endgültig erst nach dem Erfolg der Fahndung entscheiden, die Spur bleibt offen. Der Fahndungsbeauftragte hat den Raum Berlin und die von hier bis Berlin an die Autobahn grenzenden Bezirke zum Schwerpunkt für die Suche gemacht, vielleicht fährt Romeike per Anhalter. Ferner das Messer: Möglicherweise erhalten wir einen 160
Hinweis auf den Besitzer. Schließlich läuft die Suche nach den Handtüchern und dem Mantel, die der Täter wahrscheinlich mitgenommen hat, und vor allem, nicht zu vergessen, nach jener schäbigen Aktentasche. Auf die setze ich einiges, ich kann mir nicht vorstellen, daß sie nicht irgendwann aus der Versenkung auftaucht. Da sind wir auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen – und wenn wir großes Glück haben, finden wir sogar jemanden, der den Täter beobachtet hat.“ Der Hauptmann lehnt sich zurück. „Also eine ganze Menge Chancen. Das wollen wir morgen in der Arbeitsbesprechung vortragen.“ 8 Doch bevor es am nächsten Morgen zu dieser Arbeitsbesprechung kommt, geschieht etwas Überraschendes. Baltrock und Zeitfuchs sitzen noch bei einem gemütlichen Frühstück in der „Nebelkrähe“, als den Hauptmann ein Anruf aus dem Kreisamt erreicht; er veranlaßt ihn, sein halbgelöffeltes weiches Ei stehenzulassen und den Leutnant aufzufordern: „Komm mit! Wir fahren hinüber zu den Neubauten, der Mann mit der Aktentasche wurde gesichtet!“ Das elektrisiert auch Zeitfuchs. Während sie zu den Neubauten fahren – schnell, denn sie wollen rechtzeitig zu der Lagebesprechung wieder im Kreisamt sein –, sagt Baltrock: „Soviel ich verstanden habe, hat sich eine Frau gemeldet, die dort einen HOKiosk für die Bauarbeiter betreut. Sie verkauft auch Zeitungen und hat wohl als erstes die Kreisseite durchgesehen. Dabei ist ihr unser Aufruf aufgefallen.“ Sie sind am Ziel angelangt, Zeitfuchs fährt jetzt behut161
sam; es ist nicht nur der schlechte Zustand der Wege, die provisorisch mit Zementplatten belegt sind, der ihn dazu veranlaßt, sondern auch der Eindruck, den die Gebäude auf ihn machen. Sollte B. allmählich doch aus seiner Verschlafenheit aufwachen? Was hier entsteht, erscheint dem Leutnant beachtlich, es beeindruckt ihn. „Dort drüben!“ sagt Baltrock plötzlich und deutet nach links. Tatsächlich steht da ein ziemlich großer Holzkiosk, der etwas von der Straße zurückgesetzt ist. Die Frau, die darin wirtschaftet, ist offensichtlich Rentnerin, ihre Haare sind weiß, und sie humpelt, wenn sie in der Bude eilfertig hin und her läuft und Zigaretten und Bier zum Verkauf bereitstellt. An der Seite der Theke hängen Zeitungen und Zeitschriften. Der Hauptmann hält sich nicht mit langen Vorreden auf. Er streckt den Kopf durch das hochgeschobene Glasfensterchen und sagt: „Wir kommen vom VP-Kreisamt, ich bin Hauptmann Baltrock. Sie haben dort wegen der Aktentasche angerufen?“ Aus hellen Augen betrachtet die Frau ihn aufmerksam. Mit der Hand streicht sie eine Strähne aus der Stirn und erwidert: „Ja, ich habe angerufen. In der Siedlung hier bekomme ich als erste die Zeitungen, und bevor der Verkauf beginnt, werfe ich schon mal einen Blick hinein. Nun, da habe ich dann diesen Aufruf wegen des schrecklichen Mordes gelesen, und die Aktentasche, wissen Sie, die habe ich gestern gesehen, ich könnte es beschwören.“ „Gestern?“ fragt Baltrock, und Zeitfuchs hängt seinen Kopf dicht neben ihn, um besser zu hören. „Wie war das? Bei wem haben Sie sie entdeckt, bei welcher Gelegenheit und um welche Zeit?“ 162
„Das war gestern nach fünf Uhr nachmittags. Da ist der größte Ansturm vorbei, und ich wollte gerade schließen. Aber plötzlich tauchte noch ein Kunde auf, der verlangte zwei Schachteln Juwel und acht Flaschen Bier. Ich habe mir das gemerkt, denn es fiel mir auf; die meisten Kunden kenne ich, die kommen immer wieder, Leute, die hier schon wohnen, und Bauarbeiter. Aber den hatte ich noch nicht gesehen.“ „Ich verstehe“, sagt Baltrock. „Und wie war das nun mit der Aktentasche?“ „Die hatte er bei sich, und darin verstaute er das Bier. Aber die Tasche ging nicht zu, weil nämlich das eine Schloß kaputt war, genau so, wie Sie es in der Zeitung beschrieben haben! Wenn er sie am Henkel packte, dann klaffte die eine Seite auseinander, und weil er ein Motorrad mithatte, konnte er die Flaschen so nicht transportieren.“ „Motorrad?“ fragt Zeitfuchs dazwischen. „Was war es denn für eines? Haben Sie sich die Marke gemerkt?“ Sie schüttelt den Kopf. „Da kenne ich mich nicht aus. Außerdem hatte er es an der Seite des Kiosks hingestellt, ich konnte es gar nicht richtig sehen. Ich hatte ja auch keine Veranlassung dazu.“ „Natürlich nicht“, bestätigt der Hauptmann, „und wie ging das dann weiter mit den Flaschen und der Aktentasche?“ „Nun ja“, erklärt sie, „ich war ihm halt behilflich. Ich habe ihm ein Stück kräftige Schnur gegeben, die hat er ’rumgebunden, und dann hat er noch gesagt, daß er besser einen Riemen benutzen würde. Das war alles.“ „Und die Aktentasche“, vergewissert sich Zeitfuchs, „Sie sind ganz sicher, daß es die war, die wir suchen?“ „Sie glich ihr jedenfalls genau!“ erwidert die Frau. 163
„Konnten Sie erkennen, ob innen ein Name geschrieben stand?“ fragt Baltrock. „Nein“, antwortet sie. „Wie sah denn der Mann aus, wie alt war er?“ Sie überlegt, dann sagt sie: „Ich würde ihn so auf achtzehn schätzen, keinesfalls älter. Er war ziemlich klein, etwas untersetzt, und er hatte ganz blondes Haar – goldblond eigentlich. Es fiel mir auf, mein Enkel hat ebensolches Haar.“ „Na“, meint Baltrock zufrieden, „das ist ja eine ganze Menge!“ Er sieht Zeitfuchs an, er sagt: „Da haben wir wieder ein Stückchen heiße Spur!“, und der Leutnant nickt. Was sie dann noch erfragen, ist nicht viel; also lassen sie sich die Personalien der Frau geben und bitten sie, nachmittags zur Aufnahme eines Protokolls ins Kreisamt zu kommen, und sie sagt eifrig zu. Als die beiden Kriminalisten sich verabschieden, fragt sie gespannt: „Habe ich Ihnen denn helfen können?“ „Wenn ich einen Orden zu verleihen hätte“, erwidert Zeitfuchs, „würde ich es tun!“ Ist dies nun die heiße Spur, die sie weiterführen wird? Die nächsten Tage könnten es zeigen.
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6. KAPITEL
1 Eine Woche ist vergangen, seit Nottrodt erschlagen wurde, seine Leiche wurde freigegeben, es war ein trauriges und einsames Begräbnis auf dem Stadtrandfriedhof von B. gewesen, traurig und einsam, wie auch Nottrodt in den letzten Jahren seines Lebens gewesen war; die Trauergemeinde war winzig, keine Verwandten gehörten ihr an, keine wirklich Leidtragenden, nur eine Handvoll Neugieriger, die den so sensationell ums Leben Gekommenen begleiten wollte in der Annahme, es könne auch jetzt noch eine Überraschung geben, aber natürlich gab es keine; eine kleine Abordnung des Betriebs war da, angeführt von Wronski, der einen schwarzen Gehrock trug und darin völlig unzeitgemäß aussah, er schleppte einen riesigen Kranz, mit weißen Papierblumen besteckt; auch Baltrock war hingegangen, er wußte eigentlich nicht zu sagen warum, aber es schien ihm eine Verpflichtung zu sein, da er nun einmal diesen Fall bearbeitete, warum auch nicht? Möglicherweise erhielt er dort einen Fingerzeig, und Fingerzeige hatte er nötig. Der Pfarrer war unlustig, er wußte über das Leben des Nottrodt nicht viel zu sagen und zitierte mit vibrierender Stimme mannigfache Spruchweisheiten aus den Psalmen, ausgiebig erging er sich darin und brach unvermittelt ab; später, draußen, es war eine ärmliche Sanderde, die ausgehoben worden war, der Sarg fuhr in die Grube, auch Baltrock warf seine drei Hände voll Trauererde hinein; der Kranz mit den vielen weißen Papierblumen 165
lag in schrecklicher Einsamkeit da, als die Trauergemeinde sich rasch zerstreute, Baltrock sah die Blumen noch leuchten, da er sich an der Pforte umwandte. Sie leuchteten, denn überraschend war das Wetter noch einmal umgeschlagen, früh erhob sich die Sonne schwerfällig aus dem Morast des Morgens, aber sie erhob sich und leuchtete tagsüber um so kräftiger, ihre Strahlen wärmten sogar, und der Hauptmann mußte, als er in den Wagen vor dem Friedhof stieg, an die Kopfschwarte des Nottrodt denken, die Dr. Salanda mit Genehmigung des Generalstaatsanwalts abgetrennt und präpariert hatte. Vielleicht ist von diesem allem etwas in ihm, als er jetzt in seinem Büro im Kreisamt prüfend über den Akten sitzt. Das Konvolut umfaßt nun bereits zwei Ordner, die von der Fülle der Papiere beinahe gesprengt werden. Der Hauptmann durchblättert sie prüfend. Die erste Phase der Ermittlungen erscheint ihm im wesentlichen abgeschlossen. Die Fingerabdrücke von einhundertvierundzwanzig Personen wurden zur daktyloskopischen Überprüfung abgenommen und eingereicht. Dreiundsechzig Spuren wurden verfolgt, sie finden sich in dem Spurenbericht von Zeitfuchs säuberlich numeriert, unter den meisten steht der handschriftliche Vermerk des Leutnants: Erledigt. Achtundzwanzig Alibis sind überprüft worden. Die vielen Vernehmungsprotokolle sind sorgfältig geschichtet. Das gerichtsmedizinische Gutachten ist mit peinlicher Genauigkeit ausgeführt, das Gutachten der Obduzenten liegt bei. Das Weg-Zeit-Diagramm ist noch nicht abgeheftet, es ist nur in die Akte geschoben. Der Hauptmann schlägt das doppelt gefaltete Blatt auf und vertieft sich in die Skizze; als Anfangs- und Endpunkt sind Mühlen und B. angegeben, die Haltestelle ist markiert, eingetragen wurden die 166
Fahrt des Busses und die Fahrten von Pilarzyk und Taschenbrecher; die Begegnung Taschenbrechers mit dem Bus am Ausgang von B. liefert einen weiteren Zeitvermerk, der auf die Abfahrtszeit in B. und die Ankunftszeit in Mühlen schließen läßt, wenn die Geschwindigkeit des Motorrads zugrunde gelegt wird. Aus den ziemlich genauen Fahrtdaten von Pilarzyk wiederum ergibt sich, wann er an der Haltestelle vorbeigekommen sein dürfte. Aber das alles ist noch unergiebig, gesteht sich der Hauptmann, er faltet das Blatt und schiebt es in den Ordner zurück. Überhaupt ist nicht viel Greifbares vorhanden, auch die Suche nach dem Blondkopf mit der Aktentasche blieb bisher ergebnislos. Gestern hat Baltrock in einer erneuten Arbeitsbesprechung alle Ergebnisse gemeinsam mit den Genossen überprüft und zusammengefaßt. Er hat sich entschlossen, vorerst die Genossen des Kreisamtes zurückzustellen, auch Oberleutnant Schnurk, der saubere und zuverlässige Arbeit geleistet hat; Baltrock will die Ermittlungen zunächst mit Zeitfuchs allein weiterführen. Der Hauptmann gesteht sich, daß er im Augenblick ziemlich ratlos ist, in welcher Richtung er die Untersuchung weitertreiben solle. Zeitfuchs ist noch einmal in die PGH gefahren, um sich mit den Mitarbeitern des Betriebs zu unterhalten und herauszufinden, ob nicht doch irgendwelche Fremden Zugang gehabt hatten, die bisher vergessen oder übersehen worden waren. Baltrock blickt zum Fenster hinüber, das schräg und freundlich von der Sonne angeschnitten wird, er muß an die weißen Papierblumen denken und an die Kopfschwarte Nottrodts. Er schüttelt den Schädel. Und auch der verdächtige Daumenabdruck auf dem Spiegelrand konnte nicht identifiziert werden! Es ist nur zu wahrscheinlich, daß er vom Täter stammt, der diesen 167
Spiegel, weil er ihn störte, vom Nagel nahm und oben auf das Spind schob. Ein Geisterdaumen, denkt der Hauptmann, ein Mörderdaumen! In diesem Augenblick läutet das Telefon. Es meldet sich der Genosse von der Pforte: Eine Dame wolle die Mordkommission sprechen, sie habe den Aufruf in der Zeitung gelesen und eine Mitteilung zu machen. „Bringen Sie sie herauf!“ sagt Baltrock, schließt eine Sekunde die Augen und atmet auf. Die kunststeinernen Treppen empor steigt eine neue Hoffnung! 2 Baltrock schätzt die Frau, die leise angeklopft hat, bevor sie eintrat, auf etwas über fünfzig Jahre; sie macht auf ihn einen soliden, aber auch scheuen, ja ängstlichen Eindruck, und deshalb verzichtet er zunächst darauf, sich Notizen zu machen oder gleich ein Protokoll anzufertigen, er will sie nicht irritieren. Also schiebt er ihr nur freundlich einen Stuhl hin und bittet sie, Vertrauen zu haben und zu berichten. Sie erzählt, daß sie einen Resturlaub genommen habe. An dem bewußten Tage habe sie eine Freundin in Mühlen besucht, sie habe ursprünglich nur auf eine Tasse Kaffee „hineinspringen“ wollen – sie sagt: hineinspringen, obwohl sie klein und rundlich ist und niemand ihr das zutrauen möchte –, indessen hätten sie sich verplauscht, und sie sei mit dem Sammelbus nach B. zurückgefahren. Da habe sie dann jenes Erlebnis gehabt. Sie habe dem aber keine Bedeutung zugemessen, und nächsten Tags sei sie zu ihrer Tochter in die Bezirksstadt gefahren; die Tochter studiere dort Germanistik, 168
sie wolle Lehrerin werden, das Mädchen sei ein wenig sorglos und auf ihre Sachen nicht bedacht, da habe sie die Kleidung in Ordnung bringen, flicken, waschen, bügeln wollen; erst gestern sei sie nach B. zurückgekehrt, sie habe die Zeitung gelesen, und dabei sei sie auf den Aufruf gestoßen und habe sich an den Vorfall damals erinnert. Baltrock beobachtet sie, während sie redet – er ist versucht, mit ihren Worten zu sagen: während sie plauscht. Denn sie zählt offensichtlich zu jenen Frauen, die daheim keinen Gesprächspartner haben und deshalb jede Gelegenheit benützen, ihr Lebensschicksal auszubreiten; tatsächlich ist der Ehemann der Martha Ratzke vor elf Jahren verstorben, sie hat ihre zehnjährige Tochter erzogen und selbst als Hilfsschwester gearbeitet – immerhin, denkt der Hauptmann, alle Achtung, ein schwerer Beruf! Das alles berichtet die kleine rundliche Frau ausführlich, wobei sie die graumelierte Haarsträhne immer wieder mit einer mechanischen Bewegung aus der Stirn streicht und ihn mit ihren harmlosen grauen Augen manchmal erschrocken, manchmal zutraulich anblickt. Auf diese umständliche Art erfährt er von ihrer Begegnung mit den beiden Motorradfahrern. Nun will Baltrock Genauigkeit, er sagt: „Heutzutage fahren die meisten jungen Männer Motorrad. Warum sind sie Ihnen so besonders aufgefallen?“ „Es war so eine ängstliche Stunde“, erklärt sie, „so spät, und das drohende Gewitter … und ich dachte, die kommen auf ihrem fahrbaren Untersatz“, vermutlich hat sie diesen Ausdruck von ihrer Tochter, denkt der Hauptmann, „nur einfach vorbei, die wollen wegen des Unwetters schnell nach B. hinein. Doch dann blieben sie plötzlich stehen.“ 169
„Konnte ja eine einfache Panne sein“, meint Baltrock. „Gewiß“, erwidert sie, „nur machten sie sich auffällig an dem Motorrad zu schaffen. Ich hatte ganz einfach das Gefühl: Die beobachten dich, die wollen dir vielleicht sogar an den Kragen!“ „Aber sie wollten nicht“, wirft der Hauptmann ein. Martha Ratzke überlegt, man sieht es ihrem angestrengten runden Gesichtchen an. Sie hebt die Schultern: „Vielleicht war es nur der Blick!“ „Der Blick?“ fragt Baltrock verblüfft. „In der Dunkelheit?“ „Ja“, erklärt sie eifrig, „einer der beiden stand vorn und hielt das Rad an der Gabel fest, und von dem Scheinwerfer wurde er halb angestrahlt. Er stand zwar mit dem Rücken zu mir, aber manchmal drehte er sich zu mir um, als wollte er mich beobachten, jedenfalls schien es mir so. Und ich bekam richtige Angst, und das war nur wegen des Blicks!“ „Ich versuche mir das vorzustellen“, meint Baltrock geduldig, obwohl er allmählich daran zu zweifeln beginnt, daß die Beobachtungen dieser Frau irgendeine Bedeutung haben könnten, „aber … wie weit war er ungefähr von Ihnen entfernt?“ Sie überlegt: „Acht Meter vielleicht.“ Es klingt unsicher. „Gut“; sagt er, „nehmen wir an, acht Meter. Es war dunkel, keine Lampe in der Nähe. Er stand mit dem Rücken zu Ihnen, drehte sich nur manchmal um.“ Er hebt die Stimme. „Also, wenn ich das noch einmal mit Ihnen durchproben würde, ich meine, wenn wir heute nacht diese Szene stellen wollten – glauben Sie wirklich, daß Sie dann meine Augen erkennen könnten? Oder gar die Art meines Blicks?“ 170
Sie schweigt, sie sagt zögernd: „Offen gestanden, ich glaube es eigentlich nicht!“ „Aber Sie behaupten, daß Ihnen der Blick aufgefallen ist“, dringt er in sie. „Sie sagen sogar, daß Sie besondere Angst davor gehabt haben. Dann muß doch an diesem Blick noch etwas gewesen sein, das diesen Eindruck hervorgerufen hat! Versuchen Sie, sich genau zu erinnern! Machen Sie jetzt einmal die Augen zu und stellen Sie sich vor, wie das in der Nacht vor acht Tagen gewesen ist!“ Es ist ein Befehl, und Martha Ratzke befolgt ihn. Ihre Lider flattern ein wenig vor angestrengter Konzentration. Wie Baltrock so ihr Gesicht sieht – ein zuverlässiges und etwas versorgtes Gesicht –, kann er plötzlich nicht mehr glauben, daß sie sich wichtig machen wolle; sie ist keineswegs nur eine jener leeren Plaudertaschen, die bei jeder Gelegenheit ihren kümmerlichen Plunder hervorholen und ausbreiten – sie ist eine Frau, die ein mit Kummer gesättigtes Leben hinter sich hat und der seit Jahren ein Partner fehlt. Flausen, nein, die macht sie nicht, denkt er. Plötzlich öffnet sie die Augen, sie sagt rasch: „Wirklich, jetzt ist es mir eingefallen! Er hatte eine merkwürdige Brille auf, und wenn er sich bewegte, dann warf die solche – Funken!“ „Aha!“ sagt Baltrock und ist froh darüber, eine Erklärung erhalten zu haben. „Das könnte die Motorradbrille gewesen sein. Aber belästigt haben die beiden Sie nicht?“ „Nein“, bestätigt sie, „sie fuhren dann weiter, mit ziemlichem Tempo, wie mir schien.“ „Und das war alles?“ fragt Baltrock. „Ach nein“, sagt sie, „wäre es das allein gewesen … wissen Sie, ich war im Augenblick wie erlöst, aber ich wartete doch sehr auf den Bus, ich hatte einfach Angst. Jedenfalls kam es mir vor, als dauerte es endlos – obwohl es ganz sicher nur ein 171
paar Minuten gewesen sind. Dann brach das Gewitter los, und kaum ging der erste Schauer nieder, da hörte ich einen furchtbaren Schrei.“ Sie schweigt. „Einen Schrei?“ Baltrock ist hellwach. „Was war das für ein Schrei?“ Ihr Gesicht sieht plötzlich aus, als hörte sie ihn wieder. Leise erklärt sie: „Wissen Sie, ich mache jetzt über zehn Jahre Dienst im Krankenhaus, und wenn jemand ganz schrecklich stirbt, dann schreit er manchmal so.“ Sie seufzt. „Ich habe mich nie daran gewöhnen können, ich friere jedesmal und bin dann stundenlang nicht zu genießen.“ Sie blickt vor sich hin. „Mein Mann ist so gestorben …“ Baltrock wartet, er will, daß diese Erinnerungen sich beruhigen. Behutsam fragt er: „Und Sie sind ganz sicher, daß es ein menschlicher Schrei war?“ Erläuternd fügt er hinzu: „Es könnte auch ein Tier geschrien haben, der Todesschrei eines Tieres in der Nacht kann gräßlich klingen.“ Sie sagt ruhig: „Nein, da bin ich ganz sicher!“ „Halten Sie es für möglich“, forscht er weiter, „daß ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Motorradfahrern und jenem Schrei besteht? Ich will es noch genauer sagen: Sie wissen heute, daß damals in der PGH ein Mann ermordet wurde. Wenn Sie sich das alles wieder vorzustellen versuchen – das Erscheinen der Motorradfahrer, ihr Benehmen, den Zeitablauf, den Schrei –, würden Sie glauben, daß einer der beiden oder beide gemeinsam für die Tat verantwortlich wären?“ „Das habe ich mich gefragt“, antwortet sie, und ihr Gesicht ist nicht mehr das einer plappermäuligen alternden Frau, sondern das einer wachsamen Krankenschwester, „als ich in der Zeitung davon las. Ich habe nachts nicht 172
schlafen können, ich mußte immerfort darüber nachdenken. Und heute meine ich: Ja, es ist möglich, daß ein Zusammenhang besteht.“ „Aber warum haben die beiden bei Ihnen angehalten? Wäre es nicht besser für sie gewesen, einfach weiterzufahren? Sie hätten dann keine Aufmerksamkeit erregt.“ „Auch das habe ich mich gefragt“, erwidert sie sofort, „ich glaube, die wollten sich ganz einfach vergewissern, wer da wartet. Und nachdem sie sich überzeugt hatten, daß es eine harmlose Passantin war, sind sie sich ihrer Sache wieder sicher gewesen.“ Diese Antwort hat sich der Hauptmann bereits selber gegeben, er findet sich also bestätigt. „Aber Sie haben nicht gesehen, daß die beiden zur PGH hinübergefahren sind?“ „Die Straße macht vor dem Abzweig einen Knick.“ „Sie hätten vielleicht Licht bemerken können, die Scheinwerfer, das Laub ist ja schon ziemlich schütter.“ „Ich habe doch gedacht, die fahren einfach nach B. durch. Wer kommt denn auf so eine Idee! Und dann glaube ich auch, wenn sie abgebogen sind, haben sie die Scheinwerfer heruntergestellt.“ Baltrock lächelt sie freundlich an und kann es nicht unterlassen, sie zu verbessern. „Abgeblendet“, meint er „,abgeblendet‘ sagt man in diesem Falle.“ Brav wiederholt sie: „Abgeblendet!“ und lächelt zurück: „Da habe ich wieder etwas dazugelernt!“ Mit dieser kleinen Zwischenbemerkung hat der Hauptmann die Spannung durchbrochen, die er als beinahe unerträglich empfand – jene Spannung des Nacherlebens bei der Frau, seine eigene Spannung auf Fakten, die möglicherweise eine heiße Spur verraten. Zusätzlich fragt er: „Wieviel Zeit ist Ihrer Schätzung 173
nach vergangen von dem Augenblick an, wo die beiden weiterfuhren, bis zu dem Schrei?“ „Da verschätzt man sich häufig“, sagt sie, „vielleicht fünf Minuten.“ Er nickt zufrieden. Die Frau ist eine gute Zeugin, sie stellt ihre eigene Aussage in Zweifel, wo es nötig ist. Und fünf Minuten? Der Zeitraum dürfte genügen, um die Tat auszuführen. Sie sind, denkt er, mit dem Motorrad bis an die Ecke des Betriebs gefahren, einer hat Schmiere gestanden, der andere ist hinten über den Zaun … Er fragt weiter: „Wann kam der Bus?“ „Das war wieder ungefähr fünf Minuten nach dem Schrei.“ „Sie sind eingestiegen und …“ „Ich war ganz verängstigt. Ich habe meinen Fahrschein genommen und bin hinten stehengeblieben – ich wollte nur weg von dieser Stelle!“ Der Hauptmann erinnert sich an die Aussage des Busfahrers über die Frau, die er an dieser Station mitgenommen hatte; er kann sich also weitere Fragen ersparen, diese Frau muß es gewesen sein. Und weil die Haltezeit des Busses ziemlich genau feststeht, läßt sich nun auch der Zeitpunkt des Überfalls auf Nottrodt beinahe auf die Minute festlegen. Man sieht Baltrock nicht an, daß in ihm etwas vorgeht, und wenn man ihn danach fragte, könnte er vermutlich nicht genau beschreiben, was das eigentlich ist: diese Empfindungen, die einen Kriminalisten erfüllen, wenn er dem Täter näherkommt. Zunächst ist alles wie eine tiefe Dunkelheit, in der die Tat geschehen ist, da und dort glimmen winzige Leuchtzeichen, aber sie können wie Irrlichter irreführen, sie können sich, greift man zu, als harmlos phosphoreszierendes Holz erweisen; doch das 174
eine oder andere geleitet vielleicht zu einem anderen Leuchtzeichen, das verborgen geblieben war, und dann wieder scheinen diese Lichter zu vergehen, manche erlöschen völlig, die Dunkelheit droht undurchdringlich zusammenzuwachsen, als stünde man vor einer massiven Mauer, so ist das. Und doch darf das nicht entmutigen in der spürenden Suche – bis dann, und manches Mal unvermutet, ein hellerer Schein sich entfacht und einen größeren Umkreis beleuchtet: Dinge treten aus der Schwärze, die zuvor unsichtbar waren, und es entsteht jenes unbeschreibbare Gefühl – vielleicht eine Mischung von Befriedigung, Triumph, Erwartung und Gewißheit –, den Täter doch zu erreichen; aber damit ist zuwenig gesagt, es ist eben unbeschreiblich. Die nüchternen Worte des Hauptmanns verraten von dem allem nichts. Er sagt: „Frau Ratzke, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie gekommen sind. Sicherlich werden wir Sie später noch einmal zu uns bitten müssen, wenn wir diese Motorradfahrer aufgefunden haben. Jetzt möchte ich Sie nur noch bitten, Ihre Aussage zu Protokoll zu geben, wir können uns dabei knapp fassen.“ Baltrock steht auf und geht zur Tür, um die Sekretärin herbeizurufen, und während er das tut, denkt er: Da wird Zeitfuchs staunen. 3 Kurz vor Mittag kommt Zeitfuchs in das Kreisamt zurück, müde, verdreckt, verärgert. Er wirft sich auf einen Stuhl, läßt die Arme herunterhängen, er benötigt eine kurze Pause. Wieder erfolglos, denkt er. Als ihm Baltrock wortlos die drei gelblichen Blätter, auf denen das Protokoll notiert ist, über die Schreibtischplatte zuschiebt, hebt er lustlos nur ein wenig die Augen 175
und blickt sie ohne Interesse an. Dann erst rafft er sich zusammen, nimmt sie und liest die Aussage – manche Worte sind gestrichen und durch andere ersetzt, Martha Ratzke ist eine penible Frau –, Baltrock kann beobachten, wie Zeitfuchs sich zu konzentrieren beginnt; aber nachdem er geendet hat, äußert er sich immer noch nicht, sondern schlägt die drei Blätter zurück und liest sie ein zweites Mal mit gespannter Aufmerksamkeit. Dann erst läßt er die Papiere sinken und hebt den Blick. „Großartig!“ gesteht er. „Ich hatte nicht mehr erwartet, daß sich noch jemand melden würde. Wenn das stimmt … und die Frau scheint ja glaubwürdig zu sein, die spinnt doch nicht.“ „Die spinnt nicht!“ bekräftigt der Hauptmann. „Also, wenn das stimmt …“, nimmt der Leutnant den unterbrochenen Satz wieder auf, „dann kennen wir jetzt den Zeitpunkt der Tat, und wir kennen die mutmaßlichen Täter!“ Behutsam schränkt der Hauptmann ein: „Zumindest zwei Männer, die zum Zeitpunkt der Tat in der Nähe des Tatorts waren und uns weitere Aufschlüsse geben könnten.“ „Na ja, na ja“, erwidert Zeitfuchs ungeduldig, „mag sein. Auf jeden Fall müssen wir sie finden, und im Augenblick bleibt uns nicht anderes übrig, als uns nochmals über die Presse zu melden!“ „Hier ist der Aufruf“, sagt Baltrock knapp und schiebt Zeitfuchs die Kopie hinüber. Da brennt nun also das kleine Feuer, es wirft seinen Schein ins Dunkel und erhellt einen geringen Umkreis; die beiden Kriminalisten hoffen sehr, daß darin zwei Gestalten auftauchen mögen, die jetzt noch nur Schatten sind, aber ob sie auftauchen und wie, das ahnen sie nicht. 176
7. KAPITEL
1 Zwei Schatten tauchen auf, zwei Schatten zögern, schräg angehaucht vom schwachgelblichen Licht einer fernen Torlampe, sie zögern vorgeneigt spähend im tieferen Schatten des Verwaltungsgebäudes, den das versilbernde Mondlicht hart auf den festgefahrenen Hofgrund des VEB Bema schlägt; sie sehen den elefantenhaft schwankenden Schwerlaster rückwärts aus dem Gelände wanken, von den mühlenflügelnden Armen des Pförtners rechts und links eingewiesen. Dann ist er verschwunden, der Motor lärmt behäbig, es ist ganz still. Klumpig liegen auf der Rampe die Güter, die entladen wurden, der Pförtner, steifbeinig, ist weggehumpelt. Die beiden Schatten verharren vorsichtig eine Weile, dann huschen sie wandentlang und entgleiten um eine Ecke des Gebäudes; hier ist der Schlagschatten des Monds so schmal, daß sie sich eng an die Mauer pressen müssen; so gelangen sie an drei dunklen Fenstern vorbei zu einer Tür, sie drücken die Klinke nieder, die Tür ist verschlossen. Behend entnimmt der Kleinere einer Aktentasche den Dietrich, er fummelt am Schloß herum, hauchleise klirrt Metall, das ist alles, die Tür bleibt verschlossen; das dauert dem Großen zu lange, er greift eine Eisenstange, klemmt sie zwischen Klinke und Mauer und reißt so das Schloß auf. Schrecklich laut schreien die Angeln, erschrocken hält der Große inne, der schmale Spalt muß genügen, die beiden schlüpfen hindurch. Aber es bleibt alles ruhig. 177
Jetzt fühlen die beiden Männer sich sicher. Der Lichtkegel einer Taschenlampe schlägt einen grellen Kreis auf den Fußboden. Sie haben es nicht nötig, die beiden, die Örtlichkeiten zu prüfen, zu mustern, zu erkunden, sie kennen sich aus. Sie stehen in einem schmalen Korridor, der zum Verkaufsraum der HO führt, die Mauern des Korridors sind jedoch nur schulterhoch, darüber schließen sich Glaswände bis zur Decke an. Hinter der rechten Trennung aus fünf Millimeter starkem geriffeltem Drahtglas befindet sich das Lohnbüro, hinter der linken, die aus Schaufensterglas besteht, die Plattenschneiderei und Schweißerei des VEB Bema. Die beiden Männer haben es nicht abgesehen auf Zigaretten, Schnaps, Schokolade in der HO-Verkaufsstelle; sie wissen, im Lohnbüro steht ein kleiner Panzerschrank, in dem von heute zu morgen die Lohngelder aufbewahrt werden, sechzigtausend Mark, achtzigtausend Mark, das können sie nur schätzen. Der Kleine eilt in den HO-Verkaufsraum und trägt eine Standleiter herbei, der Große steigt sechs Stufen hinauf, und ohne zu zögern, durchstößt er mit dem Ellenbogen eine Scheibe, es klirrt laut. Beide warten. Nichts Verdächtiges ist zu hören. Nun strahlt der Große dicht unterhalb des herausgestoßenen Fensters die Wand an, mit der behandschuhten Rechten zieht er Scherbe um Scherbe sorgfältig aus dem Kitt heraus, reicht sie dem Kleinen hinunter, der sie lautlos an der Wand hinschichtet, zwängt sich mit dem Oberkörper durch die Öffnung und klettert in die Schweißerei. Der Große braucht die Taschenlampe, die ihn durch die großen Werkstattfenster verraten könnte, nicht mehr 178
anzuknipsen, er hat diesen Raum bei Tage gemustert, er kennt ihn genau. Er nimmt den langen Gasschlauch vom Haken, schließt ihn an das stationäre Schweißgerät an, dreht die beiden Flaschenverschlüsse auf, dann schleift er den Schlauch durch den Raum und wirft ihn in den Gang hinüber, wo der Kleine ihn nachzieht, bis er straff gespannt ist. Danach schiebt der Große einen Tisch unter das herausgeschlagene Fenster, schwingt sich hinauf und klettert mit Anstrengung hinüber. In dem Augenblick, da sie die Leiter auf die andere Seite geschoben und den Gasschlauch gefaßt haben, halten sie inne: Sie hören draußen Schritte. Der Wächter ist ein alter Mann. Er ist tief verärgert. Eigentlich hatte er heute nacht keinen Dienst; aber ein Kollege ist erkrankt, die Besetzung wurde neu eingeteilt, auf ihn fiel das Los. Hunderte von Malen hat er in seinem Leben schon diese Runde gedreht, jeden Schritt kennt er, jede Ecke eines jeden Gebäudes, er kennt auch jeden seiner Schlüssel, er fühlt, ob er den richtigen zur Hand hat. Er will die Runde so schnell wie möglich hinter sich bringen, er fröstelt, die Wachstube aber, wo sein Kollege ihn erwartet, ist warm und gemütlich, und die Pfeife lockt ihn. So geht er rasch an der Wand entlang und drückt flüchtig mit der flachen Hand gegen die Tür, die zum Korridor der HO-Verkaufsstelle führt. Sie ist nur angelehnt, die Angeln schreien laut auf. Ärgerlich schüttelt er den Kopf über diese Nachlässigkeit, er klaubt mit gichtknotigen Fingern aus dem Bund den richtigen Schlüssel heraus, steckt ihn ins Schloß, aber er vermag nicht zuzuschließen. 179
Da steht er nun und besinnt sich, es ist seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Tür abgesperrt wird. Er entfernt sich wieder, die Schritte schlurfen hinweg. Die beiden Schatten in dem Korridor atmen erleichtert auf. Erneut machen sie sich an die Arbeit, der Große steigt auf die Leiter, der Kleine reicht den Schlauch hinauf, kramt gebeugt in seiner Aktentasche und reicht dem Großen einen Gasanzünder. Der prüft sorglich den Brenner und zündet ihn an, es gibt nur einen leisen Puff, das stellt er zufrieden fest; unter der prallen Hitze der Stichflamme zerplatzt die Scheibe sehr bald, noch hängt das Glas an den Drahtfäden fest, er brennt sie durch, die Scheibe fällt Stück um Stück in den Büroraum. Der Große löscht den Brenner wieder, er steckt ihn durch das Loch, und wieder schieben sie den Schlauch nach, bis er leicht gebaucht quer über den Gang hängt. Beide Männer schicken sich an, in das Lohnbüro hinüberzuklettern – da hören sie abermals Schritte. Der Große faßt einen Schraubenschlüssel aus der Aktentasche. Der Wächter ist ein alter Mann. Der Mond ist gewandert am klaren Himmel, sein Schein hat nun die Wand erreicht, der Wächter kann deutlich die einen Spalt offenstehende Tür erkennen und wird immer zorniger wegen der Nachlässigkeit, die ihn zu einem zweiten Gang zwang. Das soll sich nicht wiederholen, er wird den Verantwortlichen einen Denkzettel geben! Er drückt die Tür fest an, dann entnimmt er einer Tasche einen Hammer und einen zehn Zentimeter langen 180
Nagel, und mit hallenden Schlägen nagelt er die beiden Schatten in den Gang hinein. Schließlich prüft er die Tür: Die ist zu! Er nickt befriedigt und setzt seine Streife fort. Wenig später springen die beiden Männer nacheinander in das Lohnbüro. Sie wissen, daß allnächtlich nur ein Rundgang durch den Betriebsschutz geplant ist, also wird sie niemand mehr stören. Sie haben es nicht nötig, die Taschenlampe anzuschalten. Das Mondlicht hat die Fensterrahmen erreicht, schmal steht es darauf, und Spuren von Helligkeit lassen die Umrisse der Gegenstände erkennen: die vier hingereihten Schreibtische, die steiflehnigen Stühle daran, die elektrische Rechenmaschine, die zwei Blumentöpfe mit den dürftigen Pflanzen und an der Rückwand den Panzerschrank. Der Große zieht einen Hocker vor den Tresor, er setzt sich darauf, er will in Ruhe arbeiten können, den Brenner hat er in der Hand, er befühlt mit der Rechten das Schloß und tastet dessen Umgebung ab. Der Kleine nimmt jetzt den Campingbeutel vom Rücken und legt ihn auf den ersten der Schreibtische. Dann begibt er sich an ein Fenster, lehnt sich mit der Stirn gegen die kalte Scheibe und starrt hinaus. Hinter sich hört er den Zündungsknall des Brenners und gleich darauf das eintönige Rauschen der scharfen Flamme, kurz spiegelt sich im Glas der Scheibe verzerrt der blauweiße Widerschein, sofort verschwindet er, der Große ist bemüht, die Flamme mit seinem Körper zu decken. Er schneidet eine Brennaht waagerecht nach rechts, er schneidet senkrecht fünfzehn Zentimeter hinunter und nach links bis zum Drehgriff zurück und wieder hinauf. 181
Der Brenner verlöscht, der Kleine hört es am verendenden Geräusch, er hört gleichzeitig Geflüster: „Den Schraubenzieher!“ Aber den hat er nicht, die Aktentasche mit dem Werkzeug liegt nebenan im Gang, er tastet hastig über die Schreibtischplatte, ergreift ein metallenes Lineal und reicht es dem knurrenden Großen, der klemmt es in die Brennaht hinein und bricht das Rechteck heraus, das glutheiß auf den Fußboden fällt, dort die braune Ölfarbe schmort und Gestank verbreitet. Mit einer unwilligen Bewegung scheucht der Große den Kleinen an das Fenster zurück, er schneidet ein kleineres Rechteck zum zweiten Schloß hinein, um so einen Zugriff zu haben. In diesem Augenblick jedoch beginnt die Zwischenfüllung des Panzerschranks auszutreten, staubfeines Kieselgurmehl, es stäubt wie von einem Sturme getrieben dem Mann ins Gesicht, dringt in seinen Mund, seine Nase, seine Lungen, es erfüllt den ganzen Raum und lagert sich überall als eine dünne Schicht ab, den Mann packt ein krampfhafter Husten, er muß den Brenner ersticken. Gleichzeitig verbreitet sich der üble Geruch der verbrannten Kieselgur wie ein Pesthauch. Auch der Kleine kann kaum mehr atmen, er ist versucht, das Fenster zu öffnen, er unterläßt es, aus Furcht, das leise Klirren der Scheibe könne jemanden herbeilocken. So verharren sie reglos, allmählich setzt sich das Mehl ab, der Gestank bleibt, der Große beginnt erneut mit seiner Arbeit. Voller Unruhe bemerkt der Kleine, daß der Mondschein sich mehr und mehr hereinschiebt, er sickert bereits auf den Fußboden. Wieder verlöscht der Brenner. Der Kleine vernimmt 182
das geringe Geräusch, mit dem das Metallstück den Fußboden berührt. Er dreht sich um und sieht die Schattengestalt des Großen suchend durch den Raum tasten. Der Große entdeckt bei einem der Schreibtische eine kleine, glattgehobelte Holzkiste, die nimmt er auf und geht damit bis zum Ende des Raums, wo sich ein Waschbecken befindet. Das Wasser gurgelt merkwürdig dumpf in die Kiste, die der Große zum Panzerschrank zurückträgt, er schmeißt das Wasser an den glühheißen Stahl. Laut zischt es, eine Dampfwoge wölkt auf. Nun erst versucht er, mit der behandschuhten Rechten die Schlösser zu bewegen, und sie müßten sich jetzt bewegen, da die Hemmungen herausgeschnitten sind, aber sie tun es nicht. Der Große weiß nicht, daß sich Schweißperlen dazwischen abgesetzt haben und die Schlösser verklemmen. Er holt den Kleinen heran, beiden steht vor Anstrengung das Wasser auf der Stirn, ihre Achselhöhlen sind feucht, etwas wie Verzweiflung packt sie, bis den Großen plötzlich wilde Entschlossenheit überkommt. Er beginnt, ein zweites Loch in die Mitte des Panzerschrankes zu schneiden. Der Kleine sieht, wie draußen die flachen Wolken sich vor den Mond schiefern, er spürt Erleichterung, das Licht fällt jetzt nur noch unsicher gefleckt auf die Erde. Hinter sich vernimmt er das Metallgeräusch der herausgestürzten kleineren Platte, da brauchte es keine Nachhilfe, gleichzeitig spürt er den Geruch verbrannten Papiers. Er löst sich vom Fenster und tritt hinter den Großen, der unbeweglich vor dem Panzerschrank steht. Der zieht jetzt den Handschuh ab und tippt mit der Fingerspitze gegen das gerissene Metall, um die Hitze zu prüfen; zufrieden nickt er. Er hält die Taschenlampe dicht an die Öffnung und sticht den Strahl hinein. Beide Männer beugen sich 183
vor und äugen angestrengt, dabei bewegt der Große die Lampe so, daß ihr Schein so weit wie möglich das Innere bestreicht. Am oberen Rande des Lochs zieht sich quer durch den Schrank ein schmales Fach von zehn Zentimeter Höhe, dort lagern übereinandergestapelt Akten; dafür interessieren die beiden Männer sich nicht. Was sie interessiert, ist das untere Fach, das viel höher ist, und in diesem Fach vermögen sie zwei Holzkästen zu erkennen, gefüllt mit Lohntüten, ein Teil davon ist verbrannt und angekohlt. Die Männer drehen sich zueinander; in aufquellender Überfreude packen sie gegenseitig ihre Schultern und pressen sie; der Große hat noch immer die ungelöschte Lampe in der Hand, ihr Schein schießt verwirrt über die Decke des Raums. Indessen fassen die beiden sich gleich wieder und werden ganz nüchtern. Sie lassen sich los. Der Große fährt mit der Hand durch das scharfkantig herausgeschnittene Rechteck, und mit angelnden, greifenden Fingern fischt er so viele Lohntüten heraus, wie er zu erreichen vermag; mit einer schnellen Bewegung schmeißt er sie hinüber auf die Schreibtischplatte, wo jetzt der Kleine zu verhindern sucht, daß sie auf den Fußboden fallen, aber Münzen kollern trotzdem heraus und rollen klingelnd hinunter, es ist ein leises, metallenes Geprassel, das da entsteht, und bevor es vorüber ist, hat der Große bereits eine zweite Handvoll herausgezogen. Dann ist das vorbei. Der Große läßt den Taschenlampenschein rasch über die gehäuften Tüten huschen, und er sagt zum ersten Male etwas, er sagt: „Ich glaube, das reicht für uns!“ Mit sicheren Griffen entnehmen die beiden den Umschlägen die großen Scheine und stopfen sie fahrig in den 184
Campingbeutel. Soweit sie es bei dem dünnen Licht erkennen können, werfen sie die angekohlten, gebräunten Scheine auf den Boden. Endlich löscht der Große die Lampe, der Kleine schultert den Campingbeutel, der zugleich prall gefüllt und leicht ist. So begeben sie sich an das Fenster. Mit Genugtuung erkennen sie, daß das Mondlicht draußen noch zerfaserter ist, man kann kaum noch etwas erkennen. Langsam dreht der Große mit der behandschuhten Rechten den Riegel zurück und zieht lautlos einen Flügel auf. Frisch dröhnt die Luft in den stickigen Raum, unwillkürlich atmen die beiden Männer tief auf. Der Große schiebt ein Bein durch das geöffnete Fenster, hart spürt er die Fensterbank am Schenkel, er zieht das andere Bein nach und läßt sich ins Freie gleiten. Der Kleine folgt ihm. Zwei Schatten huschen über den Hof, hinweg von der gelblichen Lampe, die immer entfernter brennt. Das Gelände ist von einem Drahtzaun umgeben, behende schwingen sich die beiden Schatten hinüber. Dann sind sie verschwunden. Tiefe Stille ist überall. Am Horizont verwandelt sich der Himmel in grauen Karton. Wenig später ist das entschwindende Geräusch eines Motorrades zu hören. 2 Hauptmann Baltrock pflegt es allmorgendlich ein besonderes Vergnügen zu bereiten, den Rasierapparat über die Wangen gleiten zu spüren. Mit Genuß fühlt er, wie von der Haut, die er mit der Linken straff spannt, die Stoppeln verschwinden, die ihm eine unbestimmte 185
Empfindung des Unaufgeräumtseins geben, und während ihm das leise und gleichmäßige Surren des Gerätes angenehm in den Ohren klingt, prüft er sorglich nach, ob irgendwo Reste übriggeblieben sind, die er mit kleinen kreisförmigen Bewegungen wegradiert, und das unwillige Knirschen der Stoppeln erhöht seine Zufriedenheit. Ihm bleibt es unverständlich, wie sich jemand zum Tragen eines Bartzierats entschließen kann, in welcher Form der auch am Gesicht hängen mag, er hat die Vorstellung, daß solche Sauerkrautreste, wie er sie nennt, der täglichen Säuberung hinderlich sein müßten, und auf Sauberkeit legt er außerordentlichen Wert. Heute steht er um sechs Uhr zweiundzwanzig am Fenster und vollzieht genußvoll diesen Ritus, wobei er leer in den Himmel blickt, der von dem halben Daumenabdruck des falben Mondes verunziert ist. In diesem Augenblick pocht es heftig an die Tür. Mit einem leisen Knacken schweigt der Apparat, Baltrock fragt: „Was ist denn?“ und reibt mit der flachen Linken die Kinnbacke, die noch mit harten Stacheln besät ist. „Telefon!“ Es ist die Stimme des Wirts. Baltrock knurrt. Er bettet den Rasierer aufs Kopfkissen, blickt flüchtig in den Spiegel, stapft in die Wirtsstube hinunter und nimmt den Hörer. Dünn, als seien sie bei der langen Fahrt durch den Draht zerschlissen, hört er Schnurks Worte: „Genosse Hauptmann! Wir haben die Aktentasche!“ 3 Der kleine Oberleutnant steht strack aufgerichtet vor Baltrock, er ist sichtlich stolz, denn in der Hand hält der Hauptmann jene zerfledderte, schlappe 186
Aktentasche, reif eigentlich, auf den Müll geworfen zu werden, zumal das eine Schloß nicht mehr schließt; aber innen, mit Tintenstift eingeschrieben und stark verwischt, findet sich in unbeholfenen Druckbuchstaben der Name: P. Nottrodt. Während der Hauptmann sie begutachtet, reibt er mit der Linken über die Wange; dort knistern leise die Bartstoppeln, er hat darauf verzichtet, sich fertigzurasieren. Mit großen Sprüngen war er die Treppe des Gasthauses wieder hinaufgeeilt und hatte Zeitfuchs aus seinem Zimmer gepoltert, der jetzt lang und hager neben ihm steht und bedenksam die Unterlippe vorschiebt. Ohne etwas zu äußern, reicht Baltrock ihm die Tasche; auch der Leutnant dreht und wendet sie, als könnte er darauf etwas Besonderes entdecken. Besonderes ist indessen nicht zu finden; auf Baltrocks Frage erwidert Oberleutnant Schnurk, der Kriminaltechniker habe nur völlig unbrauchbare Abdrücke am Schloß entdeckt. „Schade“, bedauert der Hauptmann, „vielleicht hätten wir sonst die Verbindung zu dem Spiegel herstellen können.“ „Die Verbindung ist ohnehin klar“, sagt Zeitfuchs und gibt die Tasche zurück, „der Mann, der Nottrodt niedergeschlagen hat, muß auch an dieser Sache beteiligt gewesen sein, also jener Blonde von dem Kiosk; und ich hoffe, daß hier die Spuren reichlicher anfallen. Es sieht ja toll aus!“ Sie stehen in der Tür, die in das Lohnbüro führt. Der Raum macht den Eindruck völliger Verwüstung. Auf allen Gegenständen lagert eine feine Schicht weißlichen Kieselgurmehls. Auf dem letzten der Tische häufen sich, wirr durcheinandergeworfen, die Geldtüten, 187
und angekohlte Scheine liegen dort und auf dem Fußboden. Häßlich klaffen die zackigen Schweißnähte in dem Geldschrank. Verloren baumelt die dunkle Schlange des Gasschlauches durch das zerschmetterte Fenster, das in den HO-Korridor führt. Baltrock betritt den Raum nicht, der Kriminaltechniker ist noch darin beschäftigt, und der Hauptmann will sich erst einen Überblick über den ganzen Vorgang verschaffen, denn darüber ist er sich bereits klar: Diesen Fall wird er an sich ziehen, er ist dem Überfall auf Nottrodt nachgeordnet, eine Verbindung zwischen den Tätern scheint unübersehbar, den Beweis, die Aktentasche, hält er in der Hand. Während sie wieder hinausgehen, erläutert Schnurk, wie es zu dem Alarm kam: Gegen halb fünf Uhr holte die Aufräumefrau aus dem Wachlokal von dem Diensthabenden des Betriebsschutzes den Schlüssel. Gemächlich schaukelte die dicke Frau zurück zum Verwaltungsgebäude, schloß es auf und näherte sich der Tür zur Lohnbuchhaltung. Im ersten fahlen Licht bemerkte sie das Kieselgurmehl, das durch die Türritzen gedrungen war. Unwillig wischte sie mit dem Fuß daran herum, kam zu der Überzeugung, es handle sich um Mörtelstaub, nahm an, Maurer seien tätig gewesen, und hielt es für unzweckmäßig, jetzt hier aufzuräumen. Unmutig verließ sie das Gebäude wieder. Der Wachhabende hörte sie verständnislos an, er fragte: „Maurer? Aber davon müßte ich doch wissen!“ Und in der gleichen Sekunde erinnerte er sich: Der Betriebsschutz war darauf hingewiesen worden, daß in der Nacht im Tresor die Lohngelder lagerten. Er sprang auf und eilte mit der Frau zum Verwaltungsgebäude zurück, er schloß die Tür zur Lohnbuchhaltung auf, knipste die Neonröhren an und wußte Bescheid. Was er sah, versetzte 188
ihm einen Schock. Er schloß hastig ab, ließ die völlig verblüffte Frau stehen und rannte langsprüngig in sein Wachlokal zurück; von dort aus informierte er telefonisch die Kriminalpolizei. Wenige Minuten später erschien bereits der Dauerdienst auf dem Gelände und sperrte den Tatort ab, und kurze Zeit danach waren die Kriminalisten an der Arbeit, die von dem diensthabenden Oberleutnant Schnurk angeleitet wurden. Er zeigt jetzt in den HO-Korridor hinein, durch den noch der Gasschlauch hängt, er sagt: „Hier haben wir die Tasche gefunden. Darin war offenbar das Diebswerkzeug, ein Schraubenzieher lag daneben. Wahrscheinlich waren es zwei Personen. Ich nehme an, daß sie beim Einstieg in das Büro die Tasche liegenließen, dann mag es hell geworden sein, und sie sind mit der Beute direkt vom Lohnbüro aus geflüchtet. Die Tasche hatten sie vergessen, oder sie erschien ihnen unwichtig.“ Baltrock nickt zustimmend. Er fragt: „Der Fährtenhund?“ Schnurk reckt sich noch mehr. „Genosse Hauptmann, das habe ich als erstes erledigt; es besteht immer die Gefahr, daß solche Spuren zertrampelt werden, die aus dem Gelände hinausführen. Wir haben das Tier unter dem Ausstiegfenster des Lohnbüros angesetzt. Dort fand sich in dem Rest eines Sandhaufens nämlich der Abdruck einer Schuhsohle.“ „Brauchbar?“ fragt Baltrock. „Sehr!“ erwidert Schnurk. „Der Abdruck zeigt eine Sohle mit einem auffälligen Muster, das bei uns nicht üblich ist. Und das Wichtigste: Der gleiche Sohlenabdruck fand sich im Radiogeschäft Besteller, wo vor ungefähr vier Wochen ein Einbruch verübt wurde. Wir haben 189
uns damals an die Schuhfabrik Weißenfels gewandt, mit der Bitte um Auskunft, und sie haben uns eine Fotokopie geschickt. Es ist eine in Frankreich produzierte Sohle.“ „Ah“, sagt Baltrock, „wir dürfen also annehmen, daß der Täter eine Verbindung nach Westdeutschland hat.“ „Wahrscheinlich. Der Fährtenhund wurde an dieser Stelle angesetzt, er lief quer über das Gelände bis an den Drahtzaun. Dann wurde er wieder hinter dem Zaun an die Spur geführt, die er noch ungefähr siebzig Meter weiterverfolgt hat, und zwar bis zu einem Querweg. Da war Schluß. Ich nehme an, das dort ein Fahrzeug abgestellt war, Fahrrad, Motorrad, möglicherweise sogar ein Wagen, mit dem der oder die Täter weiter flüchteten. Radspuren waren allerdings nicht zu entdecken, der Weg ist gepflastert.“ Langsam und den Tatort genau musternd, gehen sie an der Schweißerei mit den vergitterten Fenstern vorbei, bis zu der Eisentür, die dort hineinführt. Bisher hat Zeitfuchs sich überhaupt nicht geäußert, jetzt sagt er und winkt mit dem Kopf zu den vergitterten Fenstern hin: „So hätten sie die Lohnbuchhaltung sichern sollen – unverständlich, diese Leichtfertigkeit!“ In der Schweißerei fügt er hinzu: „Bequemer konnten es die Gauner nicht haben!“ Das sind naheliegende Gedankengänge, und selbstverständlich entzieht sich ihnen auch Baltrock nicht; doch in ihm geht noch etwas anderes vor, dessen er sich nicht klar bewußt, das aber tief in ihm ist: Er sieht das gemarterte Gesicht des toten Paul Nottrodt, des einsamen alten Mannes, er sieht die fürchterlichen Spuren der Schläge quer über den Schädel, und von diesem unsichtbaren, deutlichen Bild her vibriert eine Erregung in ihm. Der Fächer der Spuren tut sich wieder 190
auf, der Fächer neuer Spuren, nicht mehr nur ein Daumenabdruck ist es, der dabei eine Rolle spielt, oder ein winziger Haufen Erde, der auf einem Zaun lagerte, nicht nur ein Messer, das niemandem zugeschrieben werden kann: ein verräterischer Sohlenabdruck ist hinzugekommen, eine Aktentasche, die dem Täter eignen muß, eine Fülle von Personen, die verdächtig sind und unter denen sich möglicherweise der Täter versteckt. Denn das drängt sich auf: Der hier den Tresor aufschweißte, muß genaue Kenntnis vom Werk haben, muß wissen, wie der Schlauch hinüberzuführen ist, muß aber auch informiert sein, wann in dem Geldschrank die Lohnsummen lagerten … Baltrock sagt plötzlich: „Genosse Oberleutnant, führen Sie bitte die Spurensicherung zu Ende. Ich bin mit dem Genossen Zeitfuchs drüben im Wachlokal und will zuerst mit dem Lohnbuchhalter sprechen. Wenn Sie hier fertig sind, melden Sie sich bei mir.“ Das ist der erste Griff, den er in diese Sache hinein tut. „Jawohl“, erwidert Schnurk. Baltrock zieht die Brauen hoch. Der Eifer in den Augen des Oberleutnants verrät ihm, daß der seinen ganzen Ehrgeiz daransetzen wird, den Fall klären zu helfen; der Hauptmann ahnt, daß es der erste wirklich große Fall ist, den Schnurk bearbeitet, und in der Tat: selbst wenn keine abgeschabte Aktentasche andeuten würde, daß die geriffelte Schuhspur zu einem Mörder führt, selbst dann würde dieser Tresoreinbruch außerordentlich schwerwiegen, würde einen Ausnahmefall im ganzen Bezirk, wahrscheinlich im ganzen Land darstellen dank der Vorbereitung und der Durchführung dieses großen Coups, und gelänge es nicht, die Täter zu stellen, würde damit zu rechnen sein, daß weitere Untaten folgten. 191
„Noch eines“, sagt der Hauptmann leiser. „Während das alles hier abläuft und die Aufmerksamkeit der Belegschaft auf die Vorgänge um die Lohnbuchhaltung gerichtet ist, sollte ein erfahrener Kriminalist in Zivil ins Werk eingeschleust werden, um unauffällig an anderen Stellen nach solchen Schuhspuren zu suchen. Veranlassen Sie das Notwendige!“ Mit schnellen Schritten geht er durch den fröstelnden Morgen, gefolgt von dem langen Zeitfuchs, geht quer über das Gelände hinüber zur Wachstube, und der völlig erblaßte Daumenabdruck des Monds im ergrauten Himmel begleitet ihn. 4 Als der Wachhabende die Stube verlassen hat, bemerkt Zeitfuchs bedenklich: „Hätten wir nicht zuerst den Wächter hören sollen? Vielleicht hat er doch etwas beobachtet?“ Baltrock antwortet: „Ein Wächter, der eine offenstehende Tür zunagelt, statt hineinzuschauen – was soll der wohl beobachten? Hätte er nämlich hineingeblickt, wäre er vermutlich auf die Täter gestoßen.“ „Und hätte eins über den Schädel bekommen“, ergänzt Zeitfuchs. „Kann sein“, sagt der Hauptmann. „Es ist auch möglich, daß er davor Angst gehabt hat. Aber kein Mensch kann seine Angst zunageln.“ Baltrock zuckt die Schultern. „Ich erinnere mich genau, wie es mir gegangen ist, als ich gleich zu Beginn meiner Arbeit bei der VP in so eine Sache verwickelt wurde. Ein Ehemann hatte im Zorn seine Frau erschlagen.“ Zeitfuchs liebt solche Erzählungen nicht, er nennt sie Jugenderinnerungen; also macht er sein mokantes 192
Gesicht und seufzt unüberhörbar. Baltrock stört das nicht. Er fährt fort: „Ich wurde durch Zufall in die Sache hineingezogen, ich hatte einen Hinweis erhalten, wohin der Mann verschwunden war – zu einer Liebsten nämlich. Also dachte ich: Du stellst ihn. Und dann stand ich vor der Zimmertür, ich wußte, dahinter ist er, ich wußte, er trägt eine Waffe … ist ja immer so hübsch im Fernsehen, wenn der Kriminalist die Tür aufsprengt, mit einem Satz im Zimmer ist, furchtlos wie ein Adler. Ich kann nicht sagen, daß ich furchtlos wie ein Adler war. Ich hatte ganz menschliche Angst, ich wußte: Der kann dich umlegen, der benimmt sich, als sei er nicht zurechnungsfähig. Ich wußte aber auch: Wenn ich mich zurückziehe unter dem Vorwand, Verstärkung zu holen, dann entwischt der Mann. Und das ist es eben: Ich habe die Tür nicht zugenagelt, ich bin mit meiner ganzen Angst eingedrungen.“ „Eben doch ein Held“, sagt Zeitfuchs spöttisch. Baltrocks Gesicht verschließt sich. „Wie du willst“, sagt er kurz. In diesem Augenblick öffnet sich die Tür, und der Leiter der Lohnbuchhaltung tritt ein. Mit einer leichten Verbeugung stellt er sich vor: „Hans-Peter Schifer.“ Artig setzt er hinzu: „Schifer ohne e, nur mit i“ und ergänzt mit einem schwachen Lächeln: „Das ist ungewöhnlich.“ „Na ja“, sagt Zeitfuchs, „es ist ja auch ein ungewöhnlicher Fall, zu dem wir Sie hören müssen. Setzen Sie sich bitte.“ Baltrock spürt, daß der Mann dem Leutnant unsympathisch ist. Er selbst muß gestehen, daß er überrascht ist. Hans-Peter Schifer entspricht in keiner Weise dem Bilde, das er sich von dem Leiter einer Lohnbuchhaltung gemacht hat. 193
Er hatte einen mittelgroßen Mann mit einem ernsthaftverschlossenen Gesicht erwartet, den Scheitel sauber gezogen, überaus korrekt gekleidet, einen aufmerksamen, gediegenen Menschen, vielleicht ein wenig umständlich und langweilig, wohlerzogen und bieder – nicht der intelligente Klassenzweite sozusagen, sondern der fleißige Klassenerste. Der da an der Tür steht, trägt eine offene Noppenjacke, deren Ärmel so kurz sind, daß die Hände wie überflüssig heraushängen. Der Oberkörper ist kurz, deshalb wirken die Beine übermäßig lang, und sie müssen geradezu dünn sein, denn die schwarze Tuchhose, auch sie zu kurz, schlottert herum; es sieht aus, als laufe der Mann auf Stelzen. Sein Kopf erweckt den Eindruck, es handle sich um einen verkrachten Komponisten, der aus Verzweiflung Musiklehrer geworden ist: Das dünne wellige Haar fliegt gleichsam über die durchschimmernde Schädeldecke, die verdrossenen blauen Augen liegen unter einer Knochenwulst begraben, die Hakennase hängt schnäbelig über Strichlippen und fliehendem Kinn, und wenn er freundlich sein will – und das will er jetzt –, schieben sich diese nicht vorhandenen Lippen von dem ebenmäßigen Zähnen, die so untadelig sind, daß sie das Gütezeichen Q tragen könnten und offensichtlich aus Kunststoff bestehen. Folgsam setzt Schifer sich, der Leutnant beobachtet alle seine Bewegungen genau, in ihm formt sich die erste Frage: „Sie wissen, was heute nacht geschehen ist. Wer ist Ihrer Ansicht nach an der Sache beteiligt?“ Schifer sieht ihn verdutzt an, dann sagt er: „Woher soll ich das wissen? Ich leite die Lohnbuchhaltung, aber keine Einbrüche.“ Der Hauptmann reibt seine unrasierte Wange, er hört die Borsten knistern, er denkt: Abfuhr für Zeitfuchs. Das 194
mißfällt ihm. Ungut ist es, wenn eine Unterhaltung so gespannt beginnt, das verriegelt die Auskünfte – ein Gespräch sollte es sein, geduldig und deutlich zugleich. Aber ehe er dazu kommt, unauffällig einzugreifen, fährt der Leutnant fort: „Richtig. Nur ist es Ihre Pflicht, uns dabei zu unterstützen – vor allen Dingen deshalb, weil die Sicherung so beträchtlicher Summen überaus leichtfertig war. Ihre Sache als Leiter wäre gewesen, für eine Änderung dieser Zustände zu sorgen. Ich sage das nur, damit wir uns gleich recht verstehen.“ „Ich verstehe sehr wohl“, entgegnet Schifer, „aber Ihr Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Die Unzulänglichkeiten sind längst erkannt, die Vorbereitungen für den Umzug der Lohnbuchhaltung in gesicherte Räume sind getroffen, nur müssen diese Räumlichkeiten erst fertiggestellt sein. Nächsten Monat ist das der Fall.“ „Einen Monat zu spät“, beharrt Zeitfuchs. „Soweit zu erkennen ist, sind Tausende von Mark entwendet worden.“ Er sieht abwartend Schifer an. Der zuckt die Schultern: „Ich weiß es nicht. Als ich kam, war bereits alles abgesperrt.“ Der Leutnant aber besteht zähe darauf, Schifer eine Schuld aufzuladen, er sagt beharrlich: „Dieser Leichtsinn geht auf die Kosten der Arbeiter! Wie wollen Sie denn die Löhne heute auszahlen, wenn vielleicht Zehntausende fehlen?“ Noch während er redet, rückt der Hauptmann unbehaglich die Schultern; Zeitfuchs verbeißt sich in Nebensächlichkeiten, weil Schifer ihm mißfällt. In diesem Augenblick geht eine völlige Veränderung mit Schifer vor. Langsam erhebt er sich. Auf seinen langen, schwarzbetuchten Beinen steht er sehr gerade vor Zeitfuchs, die Muskeln in den eingesogenen Wangen arbeiten. 195
Er zieht den Schillerkragen um den Hals zusammen und knöpft ihn zu. Er knöpft auch die billige Noppenjacke zu. Er sagt überlegt: „Hier geht gar nichts auf Kosten der Arbeiter! Wenn einer versteht, was in Arbeitern vorgeht, dann bin ich es. Ich bin kein Bürohengst, ich bin kein Weißmantel, auch wenn ich dort sitze!“ Seine fliehende Stirn rötet sich, Zeitfuchs will ihn unterbrechen, er kommt nicht dazu. „Wir waren acht Kinder daheim, mein Vater war Arbeiter, meine Mutter hat gearbeitet, ich habe nur die Achtklassenschule besucht, dann bin ich ungelernter Arbeiter geworden, Geld mußte ins Haus, ich war der Älteste, ich habe das eingesehen, nicht wahr! Aber ich habe die Mittlere Reife nachgeholt, ich habe gelernt und gelernt – wissen Sie überhaupt, was es bedeutet, sich noch über Bücher zu setzen, wenn man todmüde nach Hause kommt?“ Der Leutnant, der zuerst empört, dann erstaunt den Buchhalter angeblickt hatte, hält jetzt den Kopf gesenkt; er spielt nachdenklich mit einem Bleistift. Schifer steht, schweigt, es sieht aus, als erwarte er Antwort; aber er hat keine Frage gestellt. Nach einiger Zeit läßt er sich langsam nieder. Warum nur schweigt Zeitfuchs, denkt der Hauptmann, ist er störrisch, will er nicht kapieren, daß dies eine Belehrung war? Baltrock sagt begütigend zu Schifer: „Wir verstehen Sie schon. Aber Sie müssen auch begreifen, daß wir empört und besorgt sind.“ Er sagt „wir“, doch er weiß nicht, ob er den Leutnant damit wirklich einschließt. Schifer nickt langsam, das schüttere Lockenhaar wankt auf seinem Schädel. „Verstehe schon. Die Leute kriegen jedoch ihr Geld, der Genosse macht sich völlig unnötige Sorgen. In diesem Fall wird der Schaden voll 196
von der Versicherung gedeckt. Wir hatten eine Kommission der DVA und der Notenbank hier, die Verwahrung des Geldes ist überprüft und gebilligt worden mit der Maßgabe, daß wir so rasch wie möglich für weitergehende Sicherung zu sorgen haben. Und das geschieht auch.“ Er spricht jetzt ruhig, sachlich, und während er zuletzt Zeitfuchs nicht mehr angeblickt hat, sieht er ihn nun an. Endlich hat offenbar auch Zeitfuchs begriffen, vielleicht ist es das unwillkürlich eingeflossene Wort Genosse, vielleicht wirkt der heftig hingestoßene Lebensabriß nach. Baltrock, der seinen Leutnant kennt, sieht an der Veränderung des Gesichtsausdrucks, daß Zeitfuchs die Art seines Vorgehens bedauert, er ist froh über diese Einsicht und hofft, daß der Leutnant sie auch gegenüber Schifer zum Ausdruck bringen wird. Jedenfalls läßt Zeitfuchs den Bleistift leise klirrend auf den Tisch fallen, sieht Schifer an, hebt eine Braue dabei und sagt: „Ich möchte mich entschuldigen. Die Pferde sind mit mir durchgegangen. In Ordnung, Genosse?“ Und als Schifer lächelnd nickt, fährt er fort: „Lassen wir also das Thema. Wir gehen davon aus, daß der Täter die Örtlichkeiten genau gekannt haben muß, daß er wußte: Jetzt ist das Geld da. Er kann nicht betriebsfremd gewesen sein, zumindest muß er von Betriebsangehörigen Informationen bekommen haben. Deshalb die erste Frage: Halten Sie es für möglich, daß einer Ihrer Mitarbeiter in der Sache drinnenhängt?“ „Nein!“ antwortet Schifer. „Wollen Sie uns bitte alles sagen, was Sie über Ihre Mitarbeiter wissen. Wir möchten uns ein Bild machen.“ Der Hauptmann beobachtet Schifer, während der spricht. Er redet ruhig, verzichtet auf unterstreichende Gesten, jeder Satz wird vorher genau überlegt. Der 197
Ausdruck von Schifers Gesicht ändert sich dabei nicht. Die schmalen Lippen öffnen sich nur wenig, formen aber die Worte klar. Die überraschend blauen Augen unter den tiefen Knochenwülsten blicken dabei sein Gegenüber unverwandt an. Fast sieht es aus, als halte Schifer eine kleine Rede, bei der es nur einen einzigen Zuhörer gibt. Zeitfuchs hat ein Blatt Schreibmaschinenpapier vor sich liegen, er macht sich Notizen, unterstreicht Namen. Er fragt nicht dazwischen, es ist nicht nötig. Die Bilder, die Schifer von seinen Mitarbeitern entwirft, gleichen Miniaturen, bei denen auch die Einzelheiten durchgezeichnet sind. Freilich – es sind keine Röntgenbilder, die so geliefert werden; dazu ist Schifer nicht imstande. Immerhin sieht Baltrock vor sich den Stellvertreter Schifers, einen fußballspielenden jungen Mann, der eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht hat, die Abrechnungen schneller und ebenso exakt wie bisher durchzuführen; er sieht die schmucke Hildegard, die sich ein wenig zu stark parfümiert und der es nicht gelingen will, für sich und den dreijährigen Sohn ihren Ehemann festzuhalten; er sieht Elsa, die sich seit Jahren mit einem schrecklich wachsenden Kropf quält, die Operation nicht wagt, darunter auch körperlich leidet und trotzdem seit Jahren keinen einzigen Tag gefehlt hat; er sieht schließlich die grauhaarige Susanne, eifriges Großmütterchen, die das Rentenalter längst überschritten hat, seit undenklichen Zeiten in der Buchhaltung beschäftigt und bei Abschlüssen als „Pfennigsucherin“ unentbehrlich ist. Nein, auch der Hauptmann hält es für unwahrscheinlich, daß zwischen diesem Personenkreis und dem Tresoreinbruch eine Beziehung bestehen könnte. 198
„Ihr Fußballer“, hört er Zeitfuchs fragen, „könnte der nicht gegen seinen Willen einer zweifelhaften Freundin Informationen gegeben haben?“ Schifer erwidert: „Ich glaube es nicht. Das ist so ein Mensch, der unablässig vom Fußball spricht; hat er im Fernsehen ein Spiel gesehen, ist das vollends unerträglich. Über die Arbeit spricht er nur während der Arbeit. Wenn er nicht so außerordentlich tüchtig und dabei akkurat wäre …“, er gesteht schulterhebend, „hätte ich ihn vielleicht loszuwerden versucht; wissen Sie, ich selbst eigne mich nun mal nicht zum Fußball!“ Der Leutnant verbirgt nur mühsam ein Lächeln. Wenn nichts, so glaubt er das dem stelzlangen Schifer unbesehen! Er macht auf seinem Blatt einen dicken Querstrich und fragt: „Noch eines: Wer konnte sich Informationen von den Örtlichkeiten verschaffen? Und wer konnte wissen, daß heute nacht das Geld im Tresor lag?“ „Jeder, der wollte“, antwortete Schifer, „er brauchte nur vorbeizugehen und durch die Fensterscheiben zu gucken. Außerdem entlohnen wir zwischendurch, wenn jemand den Betrieb verläßt. Da gibt es hundert Möglichkeiten!“ Zeitfuchs zupft an der Lippe, es ist wahr, er sieht diese hundert Möglichkeiten vor sich, und nicht nur sie; zu überprüfen wäre routinemäßig also jeder, der Zugang zu diesem VEB hatte – und da handelt es sich um andere Größenordnungen als bei der PGH. Das alles hat der Hauptmann längst überblickt; hier müssen gleichzeitig Wege nach verschiedenen Seiten gegangen werden, sonst verstreicht zuviel Zeit, und der Geruch der Spuren verflüchtigt sich möglicherweise. Er hat sich entschlossen, Arbeitsgruppen zu bilden. Aber solange die Kriminalisten draußen noch an der Spurensuche und Spurensicherung arbeiten, will er das nicht 199
veranlassen, er will die Ergebnisse abwarten, um seine Arbeitsgruppen deutlich nach dem Material zu profilieren, das vorliegt. Überlegend sieht der Leutnant Baltrock an, dann sagt er zu Schifer: „Das wäre im Augenblick alles. Wir werden uns sicherlich noch einmal unterhalten müssen. Jetzt möchte ich Sie nur bitten festzustellen, welche Summe geraubt wurde. Und achten Sie doch auf alle Hinweise, auch die unscheinbarsten, die Sie möglicherweise noch erhalten können.“ Schifer fragt förmlich: „Ich bin entlassen?“ Der Leutnant nickt ihm zu. Schifer zögert, verneigt sich leicht gegen den Leutnant, gegen den Hauptmann und geht zur Tür. Dort bleibt er nochmals stehen und sagt: „Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht besser helfen konnte.“ „Sie haben sich doch bemüht!“ sagt Zeitfuchs. Die Tür klappt. Fast gleichzeitig sagt der Hauptmann: „Du weißt, daß ich nicht gern Lehren erteile. Aber das muß ich dir doch sagen: Wenn du dich von dem Äußeren eines Menschen so beeinflussen läßt wie bei Schifer, wirst du zu falschen Schlüssen kommen. Mir gefällt deine Nase auch nicht!“ „Weiß ich“, antwortet Zeitfuchs verblüfft; dann beugt er sich über sein Papier und sagt ernsthaft: „Ich habe mich schon korrigiert, meine Entschuldigung bei Schifer war nicht nur eine Formsache.“ Dabei läßt es Baltrock bewenden, denn er spürt, daß dem Leutnant dieses Geständnis schwerfiel und er sich überwinden mußte; und daß Zeitfuchs sich überwinden konnte, bestätigt dem Hauptmann die Richtigkeit seiner Wahl. Wohlwollend sagt er: „Was hältst du jetzt für nötig?“ 200
Zeitfuchs schiebt sein Papier ein Stück zu Baltrock hin und erwidert: „Die vier Mitarbeiter von Schifer werden wir hören müssen. Dann sollten wir überprüfen, wer in der letzten Zeit das Lohnbüro aufgesucht hat. Da die Einbrecher mit Schweißgeräten umzugehen wußten, müssen wir nachforschen, in welchen Betriebsteilen damit gearbeitet wird, wer darauf spezialisiert ist, wer überhaupt eine Ahnung vom Schweißen hat. Dem Besuch von Betriebsfremden ist nachzugeben; ich habe mir sagen lassen, daß beispielsweise in der Nacht noch ein Lastwagen zum Beoder Entladen da war, möglicherweise hat der Chauffeur mit dem Fall zu tun, oder er hat Beobachtungen gemacht – er könnte irgendwo das Motorrad haben stehen sehen …“ „Wieso Motorrad?“ unterbricht Baltrock ihn erstaunt. „Weißt du“, sagt Zeitfuchs nachdenklich und zupft an der Lippe, „ich bin ziemlich überzeugt davon, daß es ein Motorrad war, denn die Aktentasche weist auf die gleichen Leute hin, die Nottrodt auf dem Gewissen haben.“ „Das geht mir ein bißchen schnell“, sagt Baltrock, „aber weiter!“ Er kann nicht leugnen, daß er Vergnügen daran empfindet, wie Zeitfuchs die Figuren auf seinem Schachbrett anzuordnen beginnt. „Wir müssen berücksichtigen“, der Leutnant ist unbeirrt, „daß möglicherweise die Gelegenheit hier nur ausbaldowert wurde, daß aber die eigentlichen Täter unter Fachleuten zu suchen sind. Also wäre anzufragen, wer in dieser Gegend einschlägig vorbestraft ist, wo die Leute sich jetzt aufhalten, was sie tun, ob sie Alibis haben …“ Er schiebt die Unterlippe nachdenklich über die Oberlippe und löst sie mit leisem Schmatzen, wobei er sich zurücklehnt. „Ja, und unabhängig davon müssen wir nach dem Besitzer dieser Schuhe fahnden. Die Sohle ist so auffällig – wenn der Mann die Schuhe also nicht gerade 201
weggeworfen hat, müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn er nicht wieder irgendwo eine Spur hinterläßt!“ Das erinnert Baltrock an den Einbruch im Rundfunkgeschäft, von dem Schnurk sprach. Auch dort ist eine solche Spur gefunden worden. Er sagt: „Die Ermittlungsakten des Geschäftseinbruchs nehme ich mir heute noch vor. Es könnte sein, daß dort Details vermerkt sind, die den Täterkreis einengen.“ Er steht auf. „Aber verschaffen wir uns erst hier einen größeren Überblick! Hören wir, was der Betriebsdirektor zu sagen hat und auch der technische Direktor. Und dann werden die Genossen drüben soweit sein …“ Er spricht nicht weiter. Doch bevor er den Raum verlassen kann, spürt er plötzlich die Hand des Leutnants auf seiner Schulter, er dreht sich um. Zeitfuchs macht einen verlegenen Eindruck. „Was ist?“ fragt Baltrock. „Ich würde gern“, sagt Zeitfuchs bedächtig, „die Arbeitsgruppe übernehmen, die nach der Schuhspur fahndet. Weißt du, ich …“ Er macht eine unbestimmte Armbewegung. Baltrock antwortet nicht sofort. Er reibt seine unrasierte Wange. Er fragt sich, ob es richtig sei, diesem Wunsch nachzugeben, doch plötzlich weiß er, daß Zeitfuchs nach einer Gelegenheit sucht, die Scharte von vorhin auszuwetzen. Er nickt, er sagt: „Genehmigt!“ 5 Als Baltrock am späten Nachmittag das Kreisamt verläßt, muß er vor dem Portal stehenbleiben: die schräge Sonne blendet ihn. Es ist ein freundlicher und 202
überraschend warmer Tag geworden, die Schatten der Häuser liegen quergezerrt auf dem Pflaster des Marktplatzes, über die Lachen und Pfützen ist Katzengold gestreut. Der Hauptmann kneift die ermüdeten Augen ein paarmal zusammen. Über eine Stunde hat er gesessen und sich die Akte Besteller eingeprägt, jetzt ist das Wesentliche daraus sein Besitz. Das Radiogeschäft Besteller befindet sich am Stadtrand in einer ausgebauten Ruine. In einer primitiven Werkstatt werden von dem Inhaber und einem Gesellen Reparaturen an Rundfunkgeräten durchgeführt, auch Antennen setzt die Firma gelegentlich. Das Ladengeschäft führt Bestellers Ehefrau. Um den Umsatz zu vergrößern, ist es nicht spezialisiert, es führt neben den Ersatzteilen zusätzlich mechanisches Spielzeug, Modelleisenbahnen und Zubehör. Dieser Laden lebt von der persönlichen Beziehung zwischen Inhaber und Kunde, der sich vertrauensvoll mit Bastlersorgen an ihn wenden kann und dem kleine Kniffe verraten werden – und selbstredend wird dort dann auch für die Kinder das Spielzeug gekauft. Der Hof hinter dem Geschäft ist von einer zweiundeinhalb Meter hohen Mauer umschlossen. Die Täter hatten sie erstiegen und eine Leiter nachgezogen. Die Hoftür öffneten sie mit einer Brechstange und auch das Scherengitter, das die Firmenräume schützen sollte. Auf dem gleichen Wege, auf dem die Einbrecher in den Laden gelangt waren, flüchteten sie auch. Da auch ein Mikrophonverstärker, ein Kristallmikrophon, ein Meßgleichrichter, ein Multiprüfer, ein Röhrenvoltmeter MV 1 und hundertvierzig Halbleiter entwendet worden waren, drängte sich dem Hauptmann die Schlußfolgerung auf, daß die Diebe möglicherweise nicht an 203
den Verkauf dieser Dinge gedacht hätten, sondern sie ein Berufs- oder Bastlerinteresse daran haben mochten. Es waren Spielsachen gestohlen worden, und zwar fast ausschließlich Teile von Modelleisenbahnen. Baltrock vermutete, daß zumindest einer der Täter sich in seiner Freizeit damit beschäftigte. Außerdem hatten die Einbrecher in der Werkstatt einen kleinen Tresor entdeckt; da sie in der Registrierkasse nichts vorgefunden hatten, mußten sie auf den Gedanken verfallen sein, den Tresor zu knacken. Das war nicht vorgesehen gewesen, und sie hatten kein entsprechendes Werkzeug mitgenommen. In der Werkstatt fanden sie jedoch einen ZehnMillimeter-Spiralbohrer mit Brustleier, den setzten sie an, und zwar unmittelbar über dem Schloß. Vermutlich wollten sie an dieser Stelle mehrere Löcher so eng nebeneinander bohren, daß sie sich zu einem Schlitz verbinden ließen, in den man eine Brechstange einführen konnte, um so das Schloß herauszudrücken. Aus diesem Vorgehen ließ sich schließen, daß die Täter mit Tresoreinbrüchen keine Erfahrung hatten. Indessen war es soweit nicht gekommen. Sie hatten zwar gebohrt, es aber wieder aufgegeben – sei es, daß sie gestört wurden, sei es, daß ihnen das Nutzlose ihres Tuns klargeworden war. Wie Baltrock da vor dem Portal blinzelnd in der schrägen Sonne steht, zeigt sich ihm eine deutliche Linie zwischen den drei Untaten: In dem Radiogeschäft Besteller hatten die Einbrecher versucht, zu Geld zu kommen, dafür zeugten die erbrochene Registrierkasse und der angebohrte Tresor; im Falle Nottrodt hatten sie den Versuch wiederholt, möglicherweise war ihnen auch in der Aktentasche ein Betrag zugefallen, doch der mußte ihnen nicht genügt haben; so waren sie bei 204
ihrem letzten Coup geradewegs darauf losgegangen, eine große Summe zu erbeuten. Das war das entscheidende Motiv in allen drei Fällen. Jedesmal besaßen sie zweifellos genaue Kenntnis der Umstände, sie waren zielsicher auf die Sache losgegangen und hatten sie vermutlich vorher geplant. Und schließlich waren es Verbrecher, die am schnellsten mit Gewalt zum Ziele zu kommen glaubten. Bei Besteller und im VEB Bema hatten sie die Brechstange angesetzt, Nottrodt wurde von ihnen brutal niedergeschlagen. Nachdenklich geht Baltrock zu seinem Wagen hinüber, schließt ihn auf und läßt sich auf seinen Sitz gleiten. Diese deutliche Verbindungslinie, findet er, wird bestätigt durch die Spuren: In zwei Fällen ist der gleiche Schuhabdruck vorhanden, in zwei Fällen spielt die Aktentasche eine Rolle. Das springt in die Augen, das kann nicht übersehen werden. Und daß bei Besteller Spielzeug fehlte, insbesondere Modelleisenbahnen, ist eine interessante Variante, sie kann gegebenenfalls den Kreis der Verdächtigen einengen helfen. Auch der Diebstahl der Radioteile und -geräte weist in die gleiche Richtung. Während er ziemlich rasch zum VEB Bema hinüberfährt und die Kurven der verwinkelten Straßen geschmeidig nimmt, erfüllt ihn Hochachtung vor der Ermittlungstätigkeit der Kriminalpolizei dieses kleinen Ortes – sie hätten die Untersuchungen in der Bezirksstadt nicht sorgfältiger durchführen können. Als Baltrock vor dem VEB anlangt, endet gerade die Arbeitszeit, er gerät in ein Gewirr von Fahrrädern, Mopeds, Motorrädern und Fußgängern und muß vorsichtig fahren. Seinen Wagen stellt er auf dem kleinen Parkplatz für Besucher links vom Tor ab, dann stapft er zur Pforte hinüber. 205
Aber er kommt gar nicht dazu, das Werkgelände zu betreten. Im Pförtnerhaus sieht er Zeitfuchs mit einem zweiten Kriminalisten bei der Arbeit. Der Lange lümmelt quer über den Tisch vor dem Fenster, er hat das Besucherbuch in der Hand; offensichtlich nimmt er diese Haltung ein, um mehr Licht zu haben und die Schrift besser entziffern zu können. Der andere Kriminalist sitzt an einer Tischecke und notiert, was Zeitfuchs ihm ansagt. Offenbar ist also eine Überprüfung der Besucher im Gange, denkt Baltrock, öffnet leise die Tür, bleibt darin stehen und hört tatsächlich, wie der Leutnant Namen und Adressen ansagt und manchmal auch Nummern der Personalausweise. Er fragt: „Wie lange werdet ihr damit noch beschäftigt sein?“ Zeitfuchs ändert seine Haltung nicht, er blickt nur einmal flüchtig über die Schulter zum Hauptmann hinüber. „Ach“, sagt er, „längst erledigt!“ Er starrt weiter aus dem Fenster, an dem jetzt schwatzende, drängelnde Scharen von Mitarbeitern des Betriebs vorbeigehen, er sagt leise: „Die Erde dort ist so schön feucht und geschmeidig, und Schuhsohlen drücken sich einwandfrei darauf ab!“
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8. KAPITEL
1 Der bräunliche Schirm des Nachttischlämpchens filtert das Licht der schwachen Glühbirne zu einem diffusen Schimmer, der könnte zum Träumen anregen, ginge es nicht um Raub und Mord, und Zeitfuchs, dem Langen, der, nur seiner Jacke ledig, angezogen auf dem Bett liegt, ist nicht nach Träumen zumute. Er hat das eine Bein angewinkelt, das andere darübergeschlagen, mit dem Fuß wippt er unablässig; der Kopf liegt auf den Händen, die er verschränkt hat, unter der gerunzelten Stirn blicken die gekniffenen Augen zur matt erhellten Decke empor, über die der unregelmäßige bräunliche Rand eines Wasserflecks sich zerfasernd schlängelt. Das ist Zeitfuchs in seinem Leben noch nicht zugestoßen, daß sein Kopf von reißenden Schmerzen gepeinigt wird; unter der Schädeldecke wühlen sie im Hinterhaupt, er kann ihrer nicht Herr werden, er hat es versucht vor vier Stunden mit einer Tasse überstarken Kaffees, es ist, als hätte er sie damit nur angeheizt, so heftig bohren sie weiter. Zeitfuchs versteht das nicht, er ist zornig auf sich selber. Da ist er, der Jäger, an einen Fuchsbau geraten, noch warm die Röhre, frisch die Losung, da hat er alle Hoffnung gehabt, das Untier zu erledigen; zu sichten wenigstens, einzukreisen, zu umstellen, verbellen zu lassen … seine Gedanken beginnen sich zu verwirren, jedenfalls – und das weiß er – ist es ihm mißlungen. Auch auf dem Boden zeigte die Spur des Untiers sich nicht, prägte sich nicht ab unter allen den anderen harmlosen Spuren. 207
Immerhin, denkt Zeitfuchs, hat die Beobachtung ein Ergebnis gehabt, wenn auch ein negatives. Wir dürfen annehmen, daß die Täter sich nicht unter jenen Betriebsangehörigen befinden, die Tagschicht haben und den VEB zu Fuß verlassen. Entweder sind sie mit dem Fahrrad oder dem Motorrad gefahren, oder sie arbeiten in der zweiten Schicht. Oder, denkt er weiter, sie sind überhaupt nicht im Betrieb zu suchen. Der Leutnant fängt sich wieder, er läßt sich nicht mehr von dem Kopfschmerz martern, er beginnt planvoll zu denken, und als spiele das eine Rolle, ändert er seine Lage; er tut die Beine voneinander, starrt nicht mehr an die Decke, legt sich auf die Seite. Er sucht die markanten Punkte der ersten Ermittlungsergebnisse – jene, die ihm wesentlich erscheinen in der Flut von Informationen. Am Fensterrahmen, auf dem Fensterbrett des Lohnbüros hat der Kriminaltechniker Papillarlinienspuren gesichert; es wird als nächstes festzustellen sein, ob sie identisch sind mit Fingerabdrücken von Menschen, die den Tatort berechtigt aufsuchen – das sind die Mitarbeiter des Lohnbüros, das sind Personen, die das Lohnbüro in den letzten Wochen betreten haben, insgesamt dreiundsechzig. Es ist Routinearbeit, das Ergebnis steht noch aus. Viel erwartet Zeitfuchs nicht, denn bei einem so raffinierten Einbruch, nimmt er an, werden die Täter sich nicht wie Narren benommen, werden sie also Handschuhe getragen haben. Auf dem Fußboden haben sich mehrere Abdrücke von Absätzen gefunden, der Kriminaltechniker hat sie fotografiert. Soweit sich erkennen ließ, handelt es sich um einen ziemlich neuen, häufig vorkommenden Absatz, der zumindest beim ersten Anblick keine charakteristischen Merkmale zeigte. Da ist die Schuhsohle entscheidender. 208
Nachmittags war der Geldschrank von zwei Fachleuten aus der Bezirksstadt begutachtet worden, Mitarbeiter der Tresorfabrik Mittag KG. Sie hatten gemeint, daß die Knacker nur wenig Kenntnisse von Geldschränken besäßen; sofern sie nämlich unmittelbar hinter dem Schloß eine weitere kurze Naht angesetzt hätten, wäre der Riegel herumzuschieben gewesen, statt dessen aber hatten sie es aufgegeben und das zweite Loch gebrannt. Allerdings ist Zeitfuchs unsicher, wieviel Wert er auf diese Hinweise legen soll. Denn andere Behauptungen der beiden Fachleute erscheinen ihm fragwürdig – beispielsweise, daß die Einbrecher den Schrank nicht mit Wasser gekühlt hätten, weil sich sonst der Stahl verfärbt hätte und das Füllmaterial zusammengeklumpt wäre. Würde das stimmen, meint der Leutnant, wäre unerfindlich, warum überhaupt Wasser genommen worden war; denn ein Teil der Tüten und des Geldes war naß, und die Kiste, in der das Wasser offenbar geholt worden war, stand neben dem Tresor in Reichweite. Hingegen dürfte die Behauptung richtig sein, daß die Täter etwas vom Schweißen verstanden haben; das würde, meint Zeitfuchs, den Personenkreis wiederum einengen, denn es wären wohl fast alle Verwaltungsangestellten auszuschließen, auch jener Teil der Arbeiter, der mit Schweißgeräten im Betrieb nichts zu tun hätte. War also das besondere Augenmerk allein auf die Schweißerei zu richten? Soweit möchte der Leutnant nicht gehen; nicht selten werden Arbeiter umgesetzt, es könnten also auch Schweißer jetzt in anderen Betriebsteilen tätig sein, und das zu überprüfen wird schwierig werden. Noch einmal, wie schon nachmittags, versucht der Leutnant sich vorzustellen, wie die Beraubung des Geldschranks vor sich gegangen sein mag. Tatsächlich war 209
ein erheblicher Teil der Geldtüten in den beiden Holzkästen zurückgeblieben. Wie war das zu erklären? Zeitfuchs hatte es selbst ausprobiert: Er war mit seinem Arm durch die beiden Löcher gefahren, die in die vordere und die hintere Wand gebrannt worden waren, und er hatte ohne Mühe auch einen großen Teil der restlichen Tüten erreichen können, es wären nur wenige Handgriffe nötig gewesen, sie ebenfalls herauszuziehen – das Werk von Sekunden. Allerdings, ihm war das möglich gewesen! Er hatte lange und verhältnismäßig schlanke Arme. Wie aber, wenn der Täter einen völlig anderen Körperbau besaß? Dann stellten sich die Dinge anders dar: Das hintere Loch war nämlich wesentlich kleiner als das vordere, dazu der Rand zackig und scharf ausgebrannt. War der Tresorknacker also klein, untersetzt, mit kurzen, dicken Armen, so sind ihm jene Tüten vermutlich unerreichbar gewesen. Es wäre also bei der weiteren Nachforschung auf Menschen solcher Statur besonders zu achten. Und zu achten wäre auch auf Risse im Ärmel der Jacke und auf Kratzspuren an den Unterarmen, verursacht durch die scharfen Ränder des Lochs. Der Leutnant schließt die Augen, er rekapituliert, was sich bei den ersten Vernehmungen ergeben hat, es ist nicht viel. Der Betriebsschutz schien schlecht organisiert zu sein, eigentlich hätten in jener Nacht drei Betriebsschutzleute Dienst tun müssen. Aber einer war krank, der andere entlassen, so wurde ein zweiter Mann für das Wachlokal eingeschoben, und nur einer hatte die Runde gedreht, ein braver Rentner, aber kein Beobachter. Von ihm war nichts zu erfahren gewesen. Die Befragungen des Betriebsdirektors, des Hauptbuchhalters, des Leiters des Lohnbüros hatten den Fall 210
nicht lichten helfen. Den Beschäftigten der Lohnbuchhaltung war unfaßbar, wer eine solche Tat begangen haben könnte. Der Besonnenste war Schifer gewesen; er hatte sich so rasch wie möglich einen Überblick verschafft und behauptet, daß etwas über siebzehntausend Mark fehlten, er hatte auch erklärt, daß er anhand der Lohnlisten bereits am kommenden Tag die pfenniggenaue Summe ansagen könnte. Man würde die Stadtsparkasse und die Banken veranlassen, auf besonders hohe Einzahlungen zu achten, man würde die Abschnittsbevollmächtigten in der Stadt darauf hinweisen, auffällige Anschaffungen zu melden. Schifers Erstaunen, daß die Täter ein paar tausend Mark eingetütet liegengelassen hatten, war kaum beachtenswert; denn durch das häufige Rückschlagen der Flamme mußten nach Aussagen der Tresorfachleute laute Knalle entstanden sein – also konnten die Einbrecher sich vielleicht gestört gefühlt und in hastiger Flucht diese Tüten zurückgelassen haben, wofür ja auch die Aktentasche im Korridor sprach. Unwillkürlich sieht Zeitfuchs auf seine Armbanduhr, es ist kurz vor eins. Er schüttelt den Kopf; was er hier treibt, ist nicht sehr sinnvoll, findet er, morgen früh muß er seine Arbeit ausgeruht aufnehmen. Der Alte, denkt er, hat die Ruhe weg! Gegen neunzehn Uhr erklärte er die ersten Ermittlungen für beendet, führte danach eine kurze Arbeitsbesprechung durch und bildete angesichts der vielfältigen Aufgaben drei Brigaden; die erste soll die Nachforschungen im Betrieb durchführen, die zweite alle Spuren außerhalb des Betriebs verfolgen, und die dritte muß den Fall auf politische Hintergründe prüfen. Der Leutnant streckt sich auf dem Bett, er dehnt sich, die Gelenke knacken. Immerhin, denkt er befriedigt, 211
hatte Baltrock ohne viel Wesens seinem Wunsche entsprochen: Er hatte ihm zum Leiter der ersten Brigade ernannt, und er war entschlossen, den Betrieb bis in seine Mauslöcher zu prüfen. Wenn der Täter dort war, würde er ihn finden! Langsam erhebt er sich, reckt sich auf die Zehenspitzen, dehnt die Arme zur Decke, gähnt laut; dann geht er zum Waschbecken, dreht das kalte Wasser auf und schlägt sich ein paar Hände voll in das Gesicht. Es erfrischt ihn. Danach entkleidet er sich langsam und löscht die Lampe. Im Einschlafen denkt er, sich selbst verspottend: Schlaf schneller, Genosse! Der Hauptmann, der hat sich beim Abendbrot behaglich den Ranzen vollgeschlagen, während du nur deinen doppelten Mokka getrunken hast; der hat schon ein paar Stunden Schlaf hinter sich. Du mußt ihn einholen, Genosse! 2 Indessen irrt Zeitfuchs: Der Hauptmann schläft keineswegs. Es stimmt: Er hat ausgiebig gegessen und mit Appetit. Danach war er mit dem Leutnant die Treppen hochgestiegen, hatte sich von ihm getrennt, ihm einen besorgten Blick zugeworfen, aber nichts gesagt, und war in sein Zimmer gegangen. Hier hatte er seinen Rasierer hervorgeholt und mit Ruhe und Sorgfalt zuerst die längeren Stoppeln an der rechten Wange, dann den Rest entfernt – den ganzen Tag über hatte ihn dieser unordentliche Zustand irritiert. Danach war er mit dem Wagen gemächlich aus der Sackgasse heraus durch die krummen Straßen gefahren, die Hände ganz leicht auf das Lenkrad gelegt, hatte seinen Spaß an verliebten Pärchen gehabt, die vom 212
Scheinwerferlicht in Schattenecken gescheucht wurden, war sich vorgekommen wie ein müßiger Sonntagsfahrer – und als er im Kreisamt eintraf, war er runderneuert, wie er zu sich selber sagte. Nun sitzt er seit Stunden hier oben im Zimmer, prüft die Akten und überdenkt die nächsten Schachzüge. Weit mehr noch ist der Spurenfächer des Tresoreinbruchs auseinandergezogen als der von der PGH, schon allein wegen der zahlreichen Beschäftigten in dem VEB, wegen dessen offener Lage, wegen des Publikumsverkehrs. Viel wäre gewonnen, weiß er, wenn bekannt wäre, wie die Kerle beschaffen sind, die jene Verbrechen begingen, was sie dazu trieb, welche Neigungen und Leidenschaften sie besitzen. Alle Genossen waren sich darin einig, daß der Hauptantrieb Geldgier gewesen sein müsse, und in allen drei Fällen ging es ja auch wirklich um Geld. Indessen, wenn Baltrock es so bedenkt, scheint ihm das nicht zu genügen. Dem widerspricht, daß die Tüten nicht sämtlich aus dem Schrank genommen waren; dafür hat Zeitfuchs allerdings eine plausible Erklärung zur Hand gehabt: Ein stämmiger Mann mit kurzen, dicken Armen, er konnte nicht so tief in den Panzerschrank hineingreifen. Demgegenüber steht fest, daß es zwei Täter waren, die ganze Tatausführung deutet darauf hin; und daß Frau Martha Ratzke zwei Motorradfahrern begegnete, stützt diese Annahme. Ist es aber wahrscheinlich, daß beide Männer von ausgesprochen kleiner Statur, mit kurzen Armen sind? Der Hauptmann schüttelt den Kopf, daran glaubt er nicht. Und gesetzt den Fall, es wäre wirklich so: Hätten sie dann nicht mit einem einfachen Hilfsmittel, einem Stock beispielsweise, Abhilfe schaffen können? 213
Man könnte dem entgegenhalten, sinniert Baltrock, sie hätten es eilig gehabt, seien gestört worden. Das Herausholen des Geldes erfolgte jedoch vor dem Austüten – also kann dieser Grund sie nicht gehindert haben. Und daß sie rasch mit Hilfsmitteln bei der Hand waren, beweist die Tatsache, daß sie mit einer leeren Kiste Wasser herbeischafften. Die Annahmen von Zeitfuchs erscheinen dem Hauptmann nicht schlüssig. Denn, so überlegt er weiter, es war ja eine Summe von mehreren tausend Mark nicht ausgetütet, und Scheine, die nicht angebrannt waren, blieben auf dem Tisch liegen. Allein mit Fluchthast läßt sich das nicht erklären! Wieso überhaupt Flucht? Es kommt Baltrock unwahrscheinlich vor, daß die beiden gestört worden seien, denn sie stiegen durch das Fenster zum Hof aus – zur einzigen Seite also, von der jemand sich dem Lohnbüro nähern konnte. Wäre dort wirklich jemand gewesen, so hätte er sie bemerken müssen; der Mond schien voll, und sein Licht mußte auf die Wand geprallt sein. Angenommen aber, er wäre verdeckt gewesen, so blieb trotzdem ein erhebliches Risiko: Einer nach dem andern hätte sich durch das Fenster klemmen müssen, Zeit genug, daß der Störer herankam. Da sie den Einbruch so überlegt geplant hatten und die Örtlichkeiten ihnen vertraut waren, hätten sie sich im Falle einer Störung vermutlich einfach still verhalten – wie sie sich ja auch still verhalten haben mußten, als der Wächter die Tür des HO-Korridors zu schließen versuchte und sie später zunagelte. Der Hauptmann vermag dieses Rätsel nicht zu lösen, aber es bleibt ein Rätsel, meint er, über das nachzudenken sich lohnt. Jedenfalls will es ihm nicht einleuchten, 214
daß hier ausgepichte Ganoven am Werk waren, kaltblütige Männer. Zu diesem Rätsel paßt auch, findet er, der Hang zu den Modelleisenbahnen. Wenn man auf nackten Raub ausgeht – welch merkwürdiges Verhalten, solches Spielzeug mitzunehmen! Immer hat er gefunden, daß Schwerverbrecher, die sich auf Einbrüche spezialisierten, nur wirklich wertvolle Gegenstände mitgehen hießen. Warum also Eisenbahnen? Warum überhaupt Spielzeug? Die Phantasie solcher Diebe erstreckte sich in der Regel auf engumgrenzte Gebiete, ihre Antriebe waren primitiv. Sich einen Gewaltverbrecher vorzustellen, der mit Modelleisenbahnen spielt, fiel schwer, es war beinahe ein kindlicher Zug darin, etwas Unerwachsenes, Unausgegorenes. Nun gut! Aber der Mord? Der paßte nicht in sein Schema, hier war brutale Gewalt gegen einen Menschen angewandt worden – keine Spielerei wahrhaftig! Baltrock reibt seine Stirn. Es ist ihm, als sei da ein Querholz vorhanden, das er durch die offene Tür nicht bringt, es sperrt. Er sucht den gemeinsamen Nenner, er findet ihn nicht. Er gesteht sich selbst, das ist eine Verlegenheitslösung: Sie seien auf einen Einbruch ausgewesen, dabei überrascht worden, in panischem Schrecken hätten sie zugeschlagen – ein Zufallstotschlag sozusagen, eine Sache, zu der auch unreife Rüpel fähig sind, die daheim mit Modelleisenbahnen spielen. Rüpel, denkt er, Burschen. Und die sich außerdem mit Rundfunkbasteleien beschäftigen. Das ist zu vermuten, nachdem keines der gestohlenen Geräte irgendwo zum Kauf angeboten wurde. In der Erwartung, das werde geschehen, hatte die 215
Kriminalpolizei damals sämtlichen Rundfunkgeschäften des Bezirks, sämtlichen Altwarenläden in einem Rundschreiben eine genaue Beschreibung der entwendeten Dinge gegeben. Nirgendwo ist etwas davon aufgetaucht. Auch die Verkaufsanzeigen der Zeitungen wurden geprüft, es fand sich kein entsprechendes Angebot. Die Geräte blieben verschwunden, und wenn sich Baltrock die Liste ansieht, findet er, sie seien doch wohl für das eigene Hobby entwendet worden – Halbleiter beispielsweise, denkt er, Halbleiter baut man selbst ein. Und Prüfgeräte? Es könnte sein, daß die Burschen sich einen Nebenverdienst verschaffen, indem sie Rundfunkapparate reparieren, vielleicht auch Antennen aufstellen, in dieser Richtung etwa müßte man suchen. Allmählich formt sich in dem Hauptmann ein Bild von den Tätern. Zweifellos ist es nicht vollständig, möglicherweise irrt er. Vielleicht deutet er einzelne Züge völlig falsch. Alles das ist ihm bewußt, trotzdem meint er, auch ein solches inneres Bild verdiene Beachtung, weil es die Nachforschungen in bestimmter Richtung verschärfen könne. Jetzt spürt auch er seine Müdigkeit. Langsam schließt er die Akten und trägt sie hinüber zum Tresor. Er entnimmt ihm die schäbige Aktentasche, die hier deponiert ist, dreht sie nach allen Seiten, betrachtet sie nochmals eingehend, öffnet sie und schaut sich die verwischte Tintenstiftschrift an. Wenn man wüßte, denkt er, wenn man wüßte … Bedächtig schiebt er die Tasche zurück, verschließt den Tresor, sieht sich noch einmal in dem Zimmer um, löscht das Licht und verläßt den Raum. Draußen vor dem Portal bleibt er erstaunt stehen. Unvermutet prescht böiger Wind über den Marktplatz und drischt scharfen Regen auf das Pflaster. 216
Der Hauptmann schlägt den Mantelkragen hoch und eilt zu seinem Wagen. In den Scheinwerfern stehen silberne Strähnen, als er durch die Stadt fährt, auf dem Kühler zersplittern die scharfen Tropfen zu winzig-verhuschenden Fontänen, die Wischer zucken mit leisem Klacken hin und her, mit feinem Dunst beschlägt sich die Scheibe, Baltrock kurbelt schlitzbreit das Seitenfenster herunter, eisig schießt Luft herein, er muß trotzdem mit dem Daumenballen die Windschutzscheibe freiwischen. Ein unruhiger Monat, denkt der Hauptmann. 3 Beim Frühstück treffen sich Baltrock und Zeitfuchs wieder. Der Leutnant hat die unstete Nacht überwunden, in seinem Kopf schwirren Pläne, was alles er in dem Betrieb zu veranlassen habe, lang hängt er über seinem Teller, schiebt große Stücke seines Butterbrötchens in den Mund und kaut zu hastig, die Brötchen sind knusprig, er hört sie krachen und knacken, Honig und Konfitüre verschmäht er. Er nimmt einen Schluck Kaffee, wischt den Mund mit der Serviette und setzt sich behaglich zurück. Schweigend schaut er dem Hauptmann zu, der hat sein Frühstück noch nicht beendet. In altgewohnter Weise bestellte er sich zwei weiche Eier, das eine hat er zu seinen Brötchen gegessen, hat mäßig Salz dazu gestreut und ins blonde Gelbei ein Butterflöckchen gedrückt, so mag er es. Das zweite Ei löffelt er hinterher, und Zeitfuchs schaut ihm spöttisch zu, wie er mit dem kleinen roten Plastlöffel sorglich das wankende Eiweiß von der Schale hebt und in den Mund schiebt. Unversehens, er ist noch über seine Mahlzeit gebeugt 217
und kaut, sagt Baltrock: „Ich vermute, daß es sich um zwei jüngere Leute handelt, Burschen, vielleicht sogar noch Lehrlinge, ein bißchen der Typ Halbstarke, in der Richtung etwa. Mindestens einer von ihnen muß etwas vom Schweißen verstehen, er braucht aber nicht in der Schweißerei beschäftigt zu sein, er kann auch nur gelegentlich mit zugepackt haben. Außerdem wäre darauf zu achten, daß einer der beiden gern bastelt, Rundfunkapparate und dergleichen, möglicherweise könnte man erfahren, wer sich in dieser Richtung in der GST betätigt. Vielleicht repariert er Kollegen gelegentlich auch Radios oder setzt sogar Antennen. Der andere, denke ich, hat das Hobby Modelleisenbahnen, so etwas spricht sich ja, auch herum.“ Er schweigt, er tupft den Mund nicht, er wischt ihn kräftig ab. Zeitfuchs starrt den Hauptmann erstaunt an. Dann lächelt er und fragt: „Kannst du mir auch noch verraten, wie die beiden aussehen?“ „Nein“, erwidert Baltrock, „das kann ich nicht. Aber Schnurk muß ich noch sagen, er soll sich in der Stadt umhören, wer so nebenbei Rundfunkapparate repariert.“ Er schaut Zeitfuchs an, sieht dessen ungläubiges Lächeln. „Also“, sagt er bedächtig, „ich muß dir wohl alle Gründe nennen, die mich zu diesen Schlußfolgerungen kommen ließen“, und so knapp wie möglich erläutert er sie, und je länger er spricht, desto ernster wird Zeitfuchs. Dann sagt der Leutnant: „Bestechend! Zugegeben: Ich wäre auf solche Überlegungen nicht gekommen. Trotzdem spricht einiges dagegen, nun höre dir meine Version an.“ Während er sie vorträgt, merkt er selbst, daß er sich manchmal zu sehr von Äußerlichkeiten beeinflussen ließ – er gesteht es. 218
Der Hauptmann erwidert: „Ich fürchte, da hast du recht. Beispielsweise will mir die Sache mit dem zu kurzen, zu dicken Arm nicht einleuchten. Trotzdem“, fügt er entschieden hinzu, „sollten wir das als schwache Möglichkeit auch gelten lassen. Es bleiben immer noch genug Fragen offen, die ich auch mit meiner Konstruktion nicht beantworten kann. Ermitteln wir also in deiner und in meiner Richtung!“ Er faltet die Serviette, legt sie neben den Teller und erhebt sich.
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9. KAPITEL
1 Es ist verständlich, daß Vorfälle wie der Mord an Nottrodt und der kurz darauf folgende Tresoreinbruch Unruhe unter die Bevölkerung von B. brachten und hitzige Gespräche auslösten. Baltrock war sich darüber klar, daß die Urteile über die Tätigkeit der Kriminalpolizei um so negativer ausfallen würden, je mehr Zeit verstrich. Er befürchtete auch, daß kriminell gefährdete Personen sich ermuntert fühlen würden, neue Straftaten zu begehen, und möglicherweise ebenso schwere, wenn die Aufklärung zu lange auf sich warten ließ. Der Hauptmann konnte sich über seine Mitarbeiter nicht beklagen. Sie nahmen auch die winzigsten Spuren ernst, entwarfen immer neue Pläne, setzten sie mit Eifer und Ausdauer durch. Aber der Erfolg stellte sich nicht ein. Die dürftige Personenbeschreibung des kleinen Blonden mit der Aktentasche hatte nicht weitergeführt. Der Eigentümer des Messers konnte nicht eruiert werden. Handtücher und Mantel blieben verschwunden. Es fehlte nicht an Hinweisen von Außenstehenden, insbesondere Mitarbeiter des VEB hatten den einen und anderen Tip gegeben. Mancher davon hatte zunächst vielversprechend ausgesehen. Die Verfolgung aller dieser Spuren endete jedoch entweder in einer Sackgasse oder klärte sich als harmloser Vorfall auf. Am Nachmittag des zehnten Tages nach dem Tresoreinbruch ist Baltrock gezwungen, ein neues, das dritte Aktenstück anlegen zu lassen, die beiden anderen Ordner wölben sich dick angeschwollen auf seinem Schreibtisch. 220
Er braucht nicht darin zu blättern, er kennt jede Notiz, jedes Protokoll, jeden Bericht, alles das ist ihm gegenwärtig, und einigermaßen verzweifelt sagt er sich, daß im Falle Nottrodt mehr ernsthaft verdächtige Personen aufgetaucht waren als im Falle Tresor, obwohl da der Umkreis weit größer war. In diesem Augenblick läutet das Telefon. Es ist Zeitfuchs, der vom VEB Bema anruft. Seine Stimme ist ungewohnt hastig, Baltrock beugt sich, den Hörer am Ohr, so tief zu dem Apparat nieder, als kämen dann die Worte des Leutnants schneller. Er fragt dringlich: „Ist das sicher?“ Und er hört den Triumph in der Stimme von Zeitfuchs, als der schnarrt: „Absolut sicher, es ist die Spur des Täters!“ „Ich komme sofort!“ sagt der Hauptmann, wirft den Hörer auf die Gabel und verläßt hastig den Raum. 2 Dies also hatte sich zugetragen, erfährt Baltrock wenige Minuten später, als er neben Zeitfuchs an einem Wege steht, der zwischen Hausschlosserei und Lohnbüro zum Ausgang des VEB führt: Der Leutnant hatte nach Schichtwechsel das Wachlokal aufgesucht, um noch einmal jenen Wächter zu sprechen, der in der Einbruchsnacht rundgegangen war. Er hoffte, nach so langer Zeit einige überlegtere Auskünfte zu erhalten, doch so ruhig und freundschaftlich er auch fragte: Der Mann wurde sofort so aufgeregt, daß er sich in seinen eigenen Aussagen verhedderte. Leicht ermüdet, hatte Zeitfuchs es aufgegeben. Er war, innerlich tobend, nach dem Gebäude des Lohnbüros hinübergegangen, den Kopf gesenkt, weil er 221
darüber nachgrübelte, wie er jenem Manne vielleicht doch noch beikommen könne. Plötzlich stutzte er: Da war ein Schuhabdruck, der zum Verwechseln jenem des Täters ähnelte. Zeitfuchs beugte sich nieder, seine Vermutung wurde zur Gewißheit. Er blickte sich um: In gerader Folge schienen noch weitere, allerdings flüchtigere Spuren vorhanden zu sein. Zwar war es wieder wärmer geworden, ein unbeständiger November, aber es war feucht geblieben, der Boden war schwammig, vollgesogen mit Nässe, zumal es in der Frühe manchmal nebelte. Am Rande des Weges begann Rasen, da hatte sich die Nässe gestaut, der Abdruck war ausgezeichnet zu erkennen. Zeitfuchs hatte sofort die Genossen seiner Brigade alarmiert und den Weg absichern lassen. Einen Unterleutnant, der ihm besonders zuverlässig erschien, hatte er an die Pforte postiert, um alle zu registrieren, die den Betrieb verließen oder betraten. Danach hatte er im Kreisamt angerufen, zunächst den Hundeführer und den Kriminaltechniker hergebeten und anschließend Baltrock informiert. Baltrock legt Zeitfuchs die Hand auf den Unterarm, er sagt: „Also ist wahrscheinlich, daß der Täter in den Betrieb gehört. Wir werden zunächst einmal, wenn das hier erledigt ist, die Leute von der zweiten Schicht kontrollieren, da arbeiten nur dreißig Prozent, das Schuhwerk muß überprüft werden.“ „Dadurch alarmieren wir aber die gesamte Belegschaft“, wendet Zeitfuchs ein, „und ich fresse einen Besen, daß der Täter spätestens dann seine Schuhe wechselt.“ Der Hauptmann beugt sich zu dem Schuhabdruck hinunter, und so, fast kauernd, sagt er: „Wir werden 222
natürlich eine Fabel erfinden. Vielleicht so: Es wurde ein neuer Versuch entdeckt, nochmals in das Lohnbüro einzubrechen. Dann haben wir einen plausiblen Grund für unsere Maßnahmen, nicht wahr? Und warum sollte der Täter nicht davon überzeugt sein, daß ein anderer seinen Erfolg wiederholen möchte? Es wird ihm die Brust schwellen, und er wird an alles andere denken, nur nicht an seine Schuhe … An seine Schuhe“, sagt Baltrock, während er sich langsam wieder aufrichtet, „denkt der Bursche am allerwenigsten, sonst hätte er uns nicht drei Abdrücke geschenkt! Und im übrigen …“, er wendet den Kopf dem Tore zu, dort ist Bewegung entstanden, die Kriminalisten des Kreisamts scheinen zu kommen, „wäre er gewarnt genug durch den Posten, den du vorne hingestellt hast.“ Zeitfuchs beißt seine Unterlippe, er ist zornig, aber er muß dem Hauptmann recht geben: Die Fabel ist so und so notwendig! Baltrock hat nicht geirrt: Eilig nähert sich der Hundeführer, das Tier an der Leine, dicht gefolgt von dem Kriminaltechniker. Der Hauptmann überläßt es dem Leutnant, dem Hundeführer eine kurze Lageerklärung zu geben; der setzt das Tier auf die Fährte. Den Kopf tief geduckt, läuft der Hund sicher bis in die Nähe des Tores; hier wird er verwirrt, der Tritt des Täters ist in den vielen Schritten der Arbeiter, die das Terrain verließen, ertrunken. Nichts zu machen hier, also versucht der Hundeführer es in entgegengesetzter Richtung; das Tier geleitet ihn in die Nähe der Hausschlosserei, jedoch nicht bis an den Eingang; etwa acht Meter davon entfernt zuckt der Hundeführer die Schultern: Aus! 223
Er kommt und sagt zu Baltrock: „Das verstehe ich nicht, der Boden ist gut, das Wetter günstig, eigentlich müßte die Spur erhalten sein.“ In diesem Augenblick mischt sich der Kriminaltechniker ein, er sagt: „Da gäbe es eine ganz einfache Lösung. Unmittelbar neben den Schuhabdrücken verläuft eine Radspur. Es hat den Anschein, als wäre der Mann neben dem Fahrzeug gegangen. Es wäre möglich, daß der Mann bis zu der Stelle, wo das Tier die Spur aufnahm, auf dem Fahrzeug gehockt hat und dann erst abgesprungen ist.“ „Eine denkbare Erklärung“, bestätigt Baltrock, „vielen Dank!“ Während der Hundeführer das Werk wieder verläßt und der Kriminaltechniker sich daranmacht, die Schuhspuren fotografisch aufzunehmen, und die beste davon durch einen Gipsabdruck zusätzlich sichert, sagt Baltrock halblaut zu Zeitfuchs: „Wir müssen feststellen, welche Transporte heute durchgeführt worden sind und wer sie begleitet hat. Das ist eine relativ gute Möglichkeit, an den Mann heranzukommen. Und nun scheint mir fast sicher zu sein“, fährt er langsam fort, „daß der Täter im Werk beschäftigt ist. Ich werde dir den Genossen Schnurk mit seiner Brigade für die nächsten Tage beigeben, bis hier die Untersuchung beendet ist. Ganz auszuschließen ist freilich die andere Version, daß es sich um einen Außenstehenden handelt, immer noch nicht, es könnte nämlich auch ein Begleiter von einem Fremdtransport sein.“ Zeitfuchs nickt. Was der Hauptmann sagt, leuchtet ihm ein,, das Gebiet, auf dem sie zunächst weiter zu ermitteln haben, ist umgrenzt. Ihn erfüllt eine geheime Anspannung. Soeben hat der 224
Kriminaltechniker die erste Untersuchung der Spuren beendet und seine Aufnahmen gemacht, jetzt rührt er behutsam Gips ein. Er kniet neben der flachen Fußstapfe nieder, umgrenzt sie mit Pappstreifen, schüttet sorgfältig den Gipsbrei ein und erhebt sich wieder. Während der Gips erstarrt, wendet er sich an Baltrock. „Genosse Hauptmann, ich kann jetzt folgendes sagen: Der Mann ist normal gegangen, er hat keine Last getragen. Er ist weder gerannt noch geschlendert. Er dürfte von mittlerer Größe sein. Aus der Lage der Radspur zu den Fußspuren ist eindeutig zu schließen, daß er neben dem Gefährt hergegangen ist. Eine Hypothese bleibt, daß auf dem Fahrzeug irgend etwas transportiert wurde, das er mit einer Hand festhielt. Er könnte beispielsweise auch mitgegangen sein, um etwas auf- oder abzuladen. Die Radspuren sind ziemlich schlecht erhalten; ich kann nicht mit völliger Sicherheit sagen, es sei eine Dieselameise gewesen, aber ich nehme es an. Jedenfalls finde ich keine einleuchtendere Erklärung.“ Baltrock bedankt sich für diese Auskünfte, er wendet sich zu Zeitfuchs, der neben ihm gestanden, aufmerksam gelauscht und selbstvergessen an seiner Unterlippe gezogen hat. „Genosse Leutnant, wir gehen ins Wachlokal und veranlassen von dort aus alles Nötige, hier werden wir im Augenblick nicht mehr gebraucht.“ Er nickt dem Kriminaltechniker zu, der den Gips prüft und den Abdruck abzulösen beginnt. 3 Kurz vor Mitternacht läutet das Telefon, Werkdirektor Zimmermann schreckt auf und greift schlaftrunken nach dem Hörer. 225
Er hört eine behutsam raschelnde Stimme, und während er mit der Rechten den Hörer hält, reibt er noch traumverwirrt seine Glatze, massiert sie geradezu, und plötzlich ist er hellwach, hält inne mit der Bewegung und fragt gespannt: „Haben Sie ihn? Wer ist es?“ Aber sogleich läßt seine Spannung nach, er lauscht der Erklärung, die jene behutsam raschelnde Stimme gibt, nur gelegentlich läßt er ein bestätigendes Grunzen hören, und jetzt erst greift er tastend mit der Hand nach der Nachttischlampe, knipst sie an und dreht sie gleich darauf so, daß ihr Schirm das Licht vom Gesicht seiner immer noch schlafenden Frau zurückhält. Endlich endet sein Gesprächspartner, die Hörmuschel verstummt; Zimmermann antwortet nicht, man könnte glauben, er habe nicht begriffen, er nimmt langsam die Armbanduhr vom Nachttisch, betrachtet sie, legt sie wieder zurück und sagt dann: „Muß denn das sein? Es ist gleich vierundzwanzig Uhr, ich bitte Sie!“ Die Stimme jedoch ist nicht zu töten, sogleich redet sie ausdauernd weiter, Zimmermann massiert wieder seine Glatze, hört zu, hört nicht zu, weiß bereits, was dabei herauskommen wird, beugt sich sogar schon über die Bettkante vor und beäugt seine Hausschuhe und sagt endlich: „Also meinetwegen! Aber läuten Sie nicht. Ich möchte nicht, daß meine Frau aufwacht, es geht ihr nicht sehr gut. Ich passe auf und lasse Sie ein!“ Er legt den Hörer so vorsichtig auf, als sei er aus Glas, sogar das leise Knacken möchte er vermeiden. Dann dreht er sich um, betrachtet das Gesicht seiner schlafenden Frau, ist erleichtert, weil es keinerlei Störung verrät, schiebt die nackten Beine über den Bettrand, tastet sich in die Hausschuhe und erhebt sich, wobei er gleichzeitig die Lampe löscht. 226
Im Dunkeln kleidet er sich an, korrekt, als müsse er zu einer Berichterstattung, fühlt sogar nach dem Knoten der Krawatte und zieht ihn ein wenig nach links. Dann begibt er sich in sein Arbeitszimmer. Er bevorzugt hier dunkle geschnitzte Möbel, hinter den geschliffenen Scheiben des Bücherschranks lagern Stöße von Zeitschriften, und die schwerrückigen Buchreihen des Dietz Verlages stehen bedeutsam dort. Zimmermann hält inmitten des Raums an, genau unter dem Lüster, der für das Zimmer zu groß erscheint. Zimmermann ist über sechzig, seit elf Jahren leitet er den VEB Bema, er hofft, das bis zu seinem Rentenalter tun zu können; er ist ein gewissenhafter Mann, und als der Tresoreinbruch geschah, machte er sich Vorwürfe, daß er nicht genug für die Sicherung des Geldes getan habe – machte sich selbst Vorwürfe, obwohl keine gegen ihn erhoben wurden. Nun steht er hier um Mitternacht, begutachtet seinen breitflächigen Schreibtisch, räumt ein Aktenstück in die Schublade, rückt den Stuhl bequemer, der für Besucher bestimmt ist, geht dann zum Fenster, lupft den Vorhang und starrt auf die eingedunkelte Straße hinaus, die Lampen sind schon erloschen. Er bewohnt mit seinen Angehörigen das Parterre eines Zweifamilienhauses in einem abseits gelegenen Wohnviertel mit schmalen Straßen und breiten Vorgärten, neben dem Hauseingang erhebt sich eine Birke, er ist in einer unbestimmten Weise stolz darauf, vielleicht erinnert ihn der Baum an die Mädchenzeit seiner Frau, das ist lang her. Auch an ihm hat sich nichts jünglingshaftes erhalten, weder in seinem Wesen, das bedächtig ist, noch in seinem Äußeren, das zur Behäbigkeit neigt. Ein Wagen fährt vor, der Motor verstummt, und ehe die Scheinwerfer zurückzucken, bewegt sich Zimmer227
mann bereits mit einer Gewandtheit, die man ihm bei seiner Beleibtheit nicht zugetraut hätte, zur Eingangstür und geleitet den langen Zeitfuchs in die Wohnung. Zeitfuchs steht fremd in dem dunklen Zimmer. Zimmermann weist auf den Stuhl und fragt gleichzeitig: „Ein Kognak? Zigaretten?“ Dabei schiebt er ihm schon das Kästchen mit den weißen Stäbchen hin, und während Zeitfuchs sich bedient, sagt er: „Nichts zu trinken, bitte! Ich will Sie nicht unnötig aufhalten!“ Darauf erwidert Zimmermann nichts. Er läßt sich schwer auf seinen Schreibtischsessel nieder und sagt: „Daß Sie diese Spur entdeckt haben, erzählten Sie bereits am Telefon. Und?“ Zettfuchs schüttelt das Streichholz aus. „Nichts“, antwortet er. „Wir haben sämtliche Kollegen direkt am Arbeitsplatz kontrolliert und alle Schuhe untersucht, die sich in den Umkleidespinden befanden. Die Mitglieder eines Betriebsblasorchesters …“ „Reste …“, wirft Zimmermann ein, sich selbst verspottend, „Reste eines Betriebsblasorchesters.“ „Na gut, Reste“, sagt Zeitfuchs ungeduldig, „wir haben also auch diese Restmitglieder, die gerade beim Proben waren, nicht vergessen. Danach wurden noch die Anwesenden in einem Raum der Betriebsschule kontrolliert. Fazit: Nichts! Mit Sicherheit ist also zu sagen: Diese Personen kommen als Spurenverursacher nicht in Frage.“ „Was wollen Sie weiter tun?“ fragt Zimmermann. „Wir hatten erwogen“, Zeitfuchs sieht beiseite, „morgen früh, wenn die erste Schicht eingerückt ist, das gleiche zu wiederholen.“ Er wirft einen raschen Blick zu Zimmermann hinüber, sieht, daß der unglückliche Augen hat, lächelt und fügt hinzu: „Wir sind davon abgekommen. Bei der großen Zahl, die dann arbeitet, hätten wir 228
kaum die Gewähr, daß der Täter nicht gewarnt wird und uns also entwischt. Unser Maßnahmeplan stellt folgende Fragen: Was wurde in der letzten Zeit angeliefert oder abgeholt? Wer transportierte, wer begleitete? Wer arbeitete tagsüber in der Hausschlosserei? Welche Transportarbeiter haben vielleicht bis in die zweite Schicht gearbeitet? Wer holte Krankengeld ab, wer wurde entlassen, wer hat aus anderen Gründen das Lohnbüro aufgesucht? Wem unterstehen die Fensterputzer, die am Tage tätig waren? – Wir können diese Fragen natürlich allein nicht beantworten. Dazu brauchen wir Ihre Unterstützung!“ setzt der Leutnant hinzu. „Selbstverständlich!“ erwidert Zimmermann. „Das ist doch ganz selbstverständlich.“ Er ist offensichtlich erleichtert, das alles wird seinen Betrieb nicht wesentlich stören. Doch dann besinnt er sich, starrt Zeitfuchs verblüfft an, greift jetzt selbst nach einer Zigarette und fragt: „Aber mußten Sie mich deshalb um Mitternacht aufsuchen?“ Zeitfuchs lächelt zurück. „Nein, deshalb nicht“, bestätigt er, „mir ist noch ein Einfall gekommen, und der Genosse Hauptmann hat dem zugestimmt. Und die ersten Maßnahmen, die damit zusammenhängen, müssen wir zunächst völlig auf Sie umlasten, wir dürfen damit gar nichts zu tun haben, so muß es scheinen, eine innerbetriebliche Maßnahme, ohne jeden Zusammenhang mit dem Tresoreinbruch. Wir denken uns das so …“ Er beugt sich vor und spricht eindringlich auf Zimmermann ein, der an seiner Zigarette zu ziehen vergißt, sich schließlich zurücklehnt und hervorstößt: „Prächtig! Wirklich prächtig! Selbstredend bin ich dabei!“
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10. KAPITEL
1 Das ist ein Tag, in dem es keine Farben gibt; alle Dinge, der Himmel auch und die Erde, sind grau. Feiner Regenstaub nieselt nebelnd herunter und nistet sich überall ein. Sogar der Arbeitslärm im VEB Berna geht wie auf grauem Samt. Ein junger Transportarbeiter steht am Pförtnerhaus und stößt lustlos eine Zigarette, deren Papier feucht geworden ist. Er sieht, wie zwei schwere Kipper, hochbeladen mit Sand, vor die Schranke fahren, die der Pförtner eilfertig hochleiert. Die Kipper rumpeln schwerfällig in das Gelände hinein, der Arbeiter schmeißt den gelblich gewordenen Stummel mißmutig weg und fragt den Pförtner: „Was soll denn das wieder? Wir haben genug Sand im Getriebe!“ Er verzieht den Mund. Während der Alte in seine Stube zurückhumpelt, sagt er: „Arbeitsschutz, verstehst du? Wenn es Frost gibt, und jemand bricht sich ein Bein, dann hat es der Alte auf dem Halse. So hat er vorgesorgt, es wird Sand gestreut, basta!“ „Bei uns hat sich noch niemand ein Bein gebrochen!“ Der Arbeiter drückt sich von der Mauer ab, an der er lümmelte, und sieht zu, wie die Kipper ihre Ladefläche hochstoßen und der feuchte, hochaufgetürmte Sand schwerfällig abbricht und hinunterrutscht. Das ist gegen zehn Uhr, und als die Arbeiter Mittag machen, sehen sie erstaunt die Sandhaufen, die sich fremd auf dem Betriebsgelände buckeln. Wenig später rückt eine kleine Kolonne mit Schippen und luftbereiften Karren an, fährt den Sand zu den Türen 230
und breitet sorgfältig eine dicke Schicht aus, und der junge Transportarbeiter, der zufällig vorbeikommt, bleibt wiederum stehen und fragt kopfschüttelnd: „Was soll das nun wieder, Kollegen?“ Und einer antwortet mißmutig, weil dergleichen nicht seine Aufgabe ist: „Anweisung vom Alten! Er will nicht, daß wir den Dreck an unseren Stiebein in seinen sauberen Betrieb schleppen.“ Überraschend erwidert der junge Arbeiter: „Na ja, na ja! Ist vielleicht ganz vernünftig bei dem Mistwetter, nicht wahr?“ In allen diesen Stunden bemühen sich die Kriminalisten um Antwort auf jene Fragen, die Zeitfuchs nachts dem Betriebsdirektor gestellt hat: Wer transportierte? Wer begleitete? Wer arbeitete tagsüber in der Betriebsschlosserei – wer, wer, wer? Sie sitzen im Wachraum des Betriebsschutzes, Baltrock, Zeitfuchs, Schnurk, sie gehen Punkt für Punkt durch und stellen Fragen, stellen immer wieder Fragen, neugierig, argwöhnisch, gespannt. Die gefragt werden, sind unwillkürlich bedrückt – und erleichtert, wenn sie den Raum wieder verlassen dürfen. Das läuft beinahe ab wie eine buchhalterische Büroarbeit, ruhig, planvoll, ohne sichtbare Erregung. Noch bringen die Nachforschungen keinen Erfolg. Die Zahl der Fragen schmilzt zusammen. Trotzdem: Jene Spur hat sich abermals gezeigt. Kurz vor Mittag ordnet Baltrock halbstündige unauffällige Streifen durch das Gelände an, und betritt danach einer der Genossen den Wachraum, wenden sich ihm drei Gesichter zu und wenden sich enttäuscht wieder ab. So verstreicht auch der Nachmittag, die Ermittlungen sind beendet. 231
Der Hauptmann sagt: „Schichtwechsel! Unsere letzte große Chance! Ich denke, wir mischen uns selbst mit unter die Leute!“ Sie stehen auf, verlassen den Raum, und Zeitfuchs sagt: „Wenn es jetzt nicht klappt …“ Er beendet den Satz nicht. Der Schluß könnte sowohl lauten „… dann müssen wir von neuem anfangen“ als auch „dann fassen wir die Täter nie“. Aber er bleibt unausgesprochen. 2 Und grauer der Tag noch als am Morgen, nachgedunkelt die Farbe gleichsam, faulendes Holz, das sich vollgesogen hat mit Feuchtigkeit. Aus dem Verwaltungsgebäude, aus den Hallen strömen die Angestellten, die Arbeiter, in der Menge bleiben die Kriminalisten verborgen. In dieser Menge aber ist auch der Täter versteckt. Wird er eine neue Spur hinterlassen? Unablässig und zugleich unauffällig bespähen die Kriminalisten die Schuhtritte, die im Sande verbleiben, und mit Besorgnis nimmt Baltrock wahr, wie die losen Sandschichten, schräg und locker hingeschmissen, festgetreten werden von den vielen Füßen. Wenn der Täter als einer der letzten den Arbeitsplatz verläßt, besteht die Gefahr, daß seine Spur, über hundert andere gelegt, unsichtbar bleibt – dann wird er entkommen. In der Tat haben die meisten Arbeiter das Gelände bereits verlassen. Der Kriminalist, der am Tor steht, gibt kein Zeichen. Der Hauptmann lehnt an der Tür des HOKorridors, er sieht, wie sich die Schweißerei entleert, wie sich die Lohnbuchhaltung entleert, Türen werden 232
verschlossen, verriegelt, zuletzt kommt die Verkäuferin und sichert den Zugang mit zwei Schlössern. In diesem Augenblick sieht er Zeitfuchs in ungewohnter Hast auf sich zustelzen. Schon ist der Lange bei ihm, er beugt sich ein wenig herunter, er flüstert: „Ein Abdruck! Bei der Schlosserei!“ Es bedarf keiner weiteren Worte. Baltrock blickt sich um, Schnurk ist nicht zu entdecken. Da geht er mit dem Leutnant zur Schlosserei zurück. Dort ist der Schuhabdruck, unverkennbar die Riffelspur! Ein einziger Abdruck ist es, er weist nicht nach dem Ausgang, nicht nach links, sondern nach rechts. Aber nirgendwo ist ein Mensch zu finden, der ihn verursacht haben könnte. Zeitfuchs reißt die Eisentür zur Schlosserei auf, schaut in die düstere Halle. Es ist niemand darin. „Also“, sagt er, „ist er uns doch wieder entwischt, verflucht!“ Der Hauptmann starrt auf den Abdruck: Nach rechts weist die Spur. Plötzlich stößt er hervor: „Der Parkplatz, die Fahrräder, die Motorräder, dort ist er hingegangen!“ Zeitfuchs sieht ihn an. Das stimmt! Er preßt die Lippen aufeinander, er denkt: Zu spät! Er denkt: Zu spät? Im gleichen Augenblick setzen sich die beiden Kriminalisten in Bewegung, sie gehen schnell, dabei versuchen sie den Eindruck zu vermeiden, sie hätten es eilig, sie erreichen das Ende der Halle, in der die Schlosserei untergebracht ist; von hier aus ist der Parkplatz sichtbar, eine leere Fläche, auf der ein Gestell für die Fahrräder errichtet ist. In diesem Augenblick tritt jemand sein Motorrad an und entstiebt mit blauer Auspuffwolke. Aber vier Männer stehen noch dort, an Motorräder gelehnt, einer hebt das seine aus dem Ständer, wuchtig 233
fallen die Räder und federn zurück, die Männer unterhalten sich, einer ruft etwas, was die Kriminalisten nicht verstehen. „Hoffentlich ist er dabei!“ flüstert Zeitfuchs. „Der Blonde da könnte es sein!“ „Vorsicht!“ flüstert Baltrock zurück. „Wir müssen eine Fabel erfinden …“ 3 „Meine Herren“, sagt Zeitfuchs sachlich, als er zu den vier jungen Leuten tritt, „bitte, die Fahrausweise!“ Sie unterbrechen ihr Gespräch, auf einmal ist es still, einer sieht den Leutnant an und erwidert: „Was, jetzt schon im Betrieb?“ „Eine allgemeine Kontrolle“, erwidert Zeitfuchs höflich und erklärt: „Heute morgen hat es in der Stadt einen Unfall mit Fahrerflucht gegeben, daran ist ein Motorrad beteiligt gewesen, schwere Verletzungen …“ Dabei geht er um die Motorräder herum und betrachtet sie, als suche er nach irgendwelchen Beschädigungen. Dann greift er nach den Papieren des einen, und während er darin blättert und sich scheinbar darin vertieft, holen auch zwei andere ihre Ausweise aus den Lederjacken. Der vierte steht unbeteiligt dabei, er ist Soziusfahrer. Als sich die beiden Kriminalisten den jungen Leuten genähert hatten, war Baltrock zurückgeblieben; er gibt sich den Anschein, als sei er lediglich der Begleiter des Leutnants, an dem Geschehen nicht sehr interessiert, ja beinahe gelangweilt. Nun steht er fünf Meter von der Gruppe entfernt und bemüht sich um einen Blick auf die Schuhsohlen, dabei achtet er besonders auf den Blonden; 234
der Boden ist hier steinhart festgetreten, an einen Abdruck ist nicht zu denken. Zeitfuchs nimmt sich Zeit, er prüft, blättert zurück, prüft wieder, dann reicht er die Ausweise zurück: „Danke, meine Herren!“ Der Hauptmann hat nur noch wenig Hoffnung; doch gerade, als der Leutnant zurücktreten und grüßend den Weg freigeben will, geschieht es: Der kleine Blonde, der mit dem Soziusfahrer, packt sein Motorrad mit beiden Händen am Lenker und hebt den rechten Fuß, um den Kickstarter zu betätigen, und in diesem Sekundenbruchteil glaubt Baltrock erkannt zu haben: Das ist die Schuhsohle! Er ist sich seiner Sache nicht ganz gewiß, trotzdem gibt er Zeitfuchs durch ein Augenzwinkern einen Wink. Schon will sich der kleine Blonde auf dem Sattel zurechtsetzen, da tritt Zeitfuchs nochmals an ihn heran und sagt: „Ich glaube, Ihre Versicherungskarte ist nicht ganz in Ordnung, darf ich sie noch mal sehen?“ „Mann!“ entfährt es dem Kleinen, er hockt bereits federnd auf dem Sattel, doch er weigert sich nicht, er kramt – während die beiden anderen Motorräder davonstieben – nochmals seine Papiere hervor. Der Leutnant sieht sie nur flüchtig an. „Tatsächlich“, erklärt er, „aber das werden wir gleich haben. Drüben im Wachlokal sitzt der Beauftragte der DVA, der regelt das. Es dauert nur fünf Minuten, und Sie haben keine Scherereien mehr.“ „Na schön“, sagt der Blonde ergeben, klettert von seinem Bock wieder herunter und folgt Zeitfuchs. Baltrock geht hinter den beiden stumm her, er achtet nur auf die Schritte des jungen Mannes, und der Leutnant 235
geleitet ihn absichtlich so, daß er vor der Schlosserei auf den Sand treten muß. Schwach ist der Abdruck, im beginnenden Dunkel muß sich der Hauptmann niederbeugen, aber dann ist er seiner Sache beinahe sicher, er denkt nur erstaunt und erschüttert zugleich: So also sieht das Untier aus, so harmlos! 4 Während der Leutnant wenig später im Kreisamt den jungen Mann verhört, sitzt Baltrock ihm gegenüber, betrachtet ihn und erinnert sich, wie leicht die Überführung war. Im Wachraum hatte der Leutnant sich zu dem Blondschopf umgedreht, plötzlich den Ton geändert und barsch befohlen: „Dahin setzen Sie sich!“ „Wo ist denn der Versicherungsmann?“ hatte der Junge gefragt, offensichtlich verwirrt, und war verblüfft stehengeblieben. Zeitfuchs antwortete darauf nicht. „Sie sollen sich setzen!“ befahl er nochmals. „Kriminalpolizei! Es geht nicht um die Versicherung, es geht darum, daß Sie eines Einbruchs dringend verdächtig sind.“ Der junge Mann war offensichtlich getroffen, er sagte nichts und fragte nichts, er ließ sich auf den Stuhl nieder, vorsichtig, als sei der zerbrechlich, er hockte nur ganz leicht auf der vorderen Kante, er erweckte den Eindruck eines braven und gehorsamen Burschen. Baltrock hatte Zeit, ihn zu betrachten, er war fast davon überzeugt, dieser harmlose Mensch könne der Täter nicht sein, könne schlimmstenfalls als mitgezerrter Komplize gelten: der beinahe goldene Haarschopf fiel rechts und links über die Ohren und wuchs mit einem dümmlichen 236
Zipfel genau über der Nase in die rundgewölbte, vorgestoßene Stirn, die wasserblauen Augen blickten verstört unter dünnen hellen Brauen hervor, die aufgeworfenen Lippen zwischen den fahlfarbenen Pausbacken mochten manchmal trotzig, ja frech gebogen sein, jetzt waren sie erschrocken zu einem Schmollmund geschlossen. Zeitfuchs beabsichtigte offenbar, von Anfang an keinerlei Widerstand aufkommen zu lassen, er befahl knapp: „Ziehen Sie den linken Schuh aus!“ Der junge Mann blickte verständnislos. Der Leutnant hob die Stimme: „Sie sollen Ihren linken Schuh ausziehen! Sie werden gleich hören, warum!“ Der Goldschopf bückte sich, die Haare fielen ihm in die Stirn, er nestelte die Schuhbänder auf, in seiner Erregung verknotete er sie und mußte lange daran herumbasteln, Zeitfuchs trommelte laut auf den Tisch, es war ein entnervendes Geräusch in der grauen Stille, dann hatte der junge Mann den Schuh ausgezogen, auf der grünen Socke humpelte er zu Zeitfuchs hinüber, der die Hand ausstreckte. Der Leutnant drehte den Schuh um und betrachtete genau die Sohle, und während er das tat, versuchte der Blondschopf die Stimmung zu mildern, er erklärte kleinlaut: „Die hat mir mein Onkel aus Hamburg geschickt …“ Zeitfuchs reichte den Schuh über den Tisch dem Hauptmann; kein Zweifel: das war die seltsam geriffelte Sohle, unverkennbar das Muster … „Da haben wir Glück gehabt“, sagte der Leutnant langsam und sprach gleichsam in die Luft, „einen zweiten solchen Schuh gibt es in B. nicht.“ Plötzlich wandte er sich zu dem jungen Mann hin, der krumm dastand, den einen Fuß beschuht, den anderen in der grünwollenen Socke, Zeitfuchs ging auf ihn zu, überlang stand er dicht 237
vor dem Goldkopf, dessen wasserblaue Augen angstvoll auf ihn gerichtet waren, der Leutnant sagte fest: „Damit kein Irrtum möglich ist: den Abdruck der Schuhsohle haben wir nach dem Einbruch bei Besteller gefunden. Geben Sie zu, daran beteiligt gewesen zu sein?“ Der Junge schluckte, er kroch in sich zusammen. Er wagte nichts zu entgegnen. „Ich habe keine Zeit für Umwege! Wie ist das: ja oder nein?“ fragte der Leutnant. Da gab es nur eine ganz kurze Pause, dann erwiderte der Blondschopf kaum hörbar: „Ja!“, und gleichzeitig fiel sein Kopf nach vorn, das Kinn lag unmittelbar auf der Brust, die Arme hingen kraftlos herunter, seltsamerweise bewegten sich die Zehen in dem grünen Strumpf unaufhörlich und unbehaglich. Baltrock sah es verwundert. „Na also“, sagte der Leutnant, drehte sich kurz um, ging zu dem Schreibtisch zurück und schlug den Personalausweis auf. Baltrock bückte sich und stellte den Schuh sehr behutsam auf die Erde, er dachte, es sei geschickt von Zeitfuchs, den Blondschopf zuerst mit der geringfügigen Tat zu belasten; sich dazu zu bekennen mußte in dem jungen Mann die wenigsten Hemmungen hervorrufen, und während er sich wieder aufrichtete, hörte er den Leutnant aus dem leise knisternden Ausweis ablesen: „Geiger, Manfred, geboren am sechsten März dreiundfünfzig, Schlosserlehrling, wohnhaft Ziegelstraße dreizehn. Stimmt das?“ Geiger hatte den Kopf immer noch gesenkt. „Ja“, murmelte er. „Das hätten wir“, sagte Zeitfuchs. Er sah Geiger an. „Nun brauchen wir den andern. Wer war bei dem Einbruch noch dabei?“ 238
Geiger blickte auf seine sich bewegenden Zehen, er schwieg. „Es ist klar“, Zeitfuchs sprach so, als denke er laut, es klang beinahe gemütlich, „Geiger hat den Einbruch nicht allein verübt, er hatte einen Komplizen, das läßt sich beweisen. Es ist weiter klar: Wir fassen den zweiten Ganoven, wir brauchen uns nur umzuhören, mit wem Geiger Umgang hatte, und schon haben wir ihn gepackt. Das könnte freilich etwas länger dauern, und je länger das dauert, um so länger sitzt Geiger bei uns ein, wir vernehmen ihn eben immer wieder, das ist nicht gerade angenehm.“ Nun wandte er sich eindringlich an den jungen Menschen: „Geiger, seien Sie kein Narr! Mit Ihrem Schweigen helfen Sie niemandem, und sich selbst schaden Sie. Denn später wird das Gericht in Rechnung stellen, ob Sie uns bei der Aufklärung unterstützt haben oder nicht.“ Er verstummte. Baltrock bemerkte, daß sich die Zehen in dem grünen Wollstrumpf plötzlich nicht mehr rührten. Der Leutnant wartete beharrlich, er wußte, je größer die Pause war, um so wirksamer wurde sie. Auf einmal hob Geiger den Kopf und sah Zeitfuchs an, er schwieg jedoch immer noch. Der Leutnant lächelte ihn an. „Na, wie ist es“, fragte er, „wer ist der Komplize?“ „Pauli.“ Geiger schluckte. „Paule?“ fragte Zeitfuchs. „Nein. Pauli, Horst.“ Geiger seufzte, als habe er eine schwere Arbeit hinter sich gebracht. „Sehr vernünftig“, lobte der Leutnant und notierte den Namen. Geiger sah ihm dabei zu, er schluckte wieder, und es schien, als sammelten sich in seinen wasserblauen Augen Tränen. 239
„Und wo finden wir den Kollegen?“ fragte Zeitfuchs. „Der wartet doch auf mich!“ stieß Geiger hervor. „Was?“ fragte Zeitfuchs überrascht. „Der schwarzhaarige Bursche bei dem Motorrad, der Soziusfahrer?“ Geiger konnte nur noch nicken, er brachte kein Wort mehr hervor. „Ich hole ihn“, sagte Baltrock, stand auf und verließ das Zimmer. Das Werkgelände war jetzt menschenleer, die Gebäude sahen traurig verlassen aus, über der Wachstube brannte bereits Licht. Schon von weitem erkannte der Hauptmann Pauli, er ging ungeduldig hin und her, die Hände in den Hosentaschen, das Gesicht zur Erde gesenkt. Er war größer als Geiger und machte einen stämmigen und auf unbestimmte Art entschlossenen Eindruck, auch jetzt im Halbdunkel. Er vernahm Baltrocks Schritte, hielt in seiner unruhigen Wanderung inne, blieb stehen, sah auf, und als er den Hauptmann gewahrte, fragte er mit einer brüchigen Stimme: „Was ist denn los? Wo bleibt mein Kumpel?“ Es klang nicht aggressiv, eher ratlos. Der Hauptmann antwortete nicht, ruhig näherte er sich Pauli, bis er dicht bei ihm war, dann sagte er: „Geiger hat den Einbruch bei Besteller gestanden. Er hat angegeben, daß Sie der Mittäter sind. Ich nehme Sie vorläufig fest, Horst Pauli!“ Um eine Flucht zu verhindern, ergriff der Hauptmann ihn am Arm. Nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte Paulis Verblüffung, dann schnob er durch die Nase und sagte verächtlich: „Der kleine Idiot!“, und es war nicht erkennbar, ob er damit die Beschuldigung ins Reich der Lüge verweisen oder sich über Geiger empören wollte. 240
Er wehrte sich übrigens nicht, als Baltrock ihn aufforderte mitzukommen, er ging mit langen Schritten stumm neben ihm her, und der Hauptmann empfand es als überflüssig, daß er Paulis Jackenärmel gepackt hielt, und während er dem Wachlokal zustrebte, fühlte er sich gleichzeitig ermattet und erleichtert, daß die Suche ein Ende hatte und die Täter gestellt waren. Jetzt, bei der Vernehmung im Zimmer des Kreisamts, macht Geiger den Eindruck eines jungen Hundes, der nicht ganz begreift, warum er geschlagen wird, und er redet bereitwillig, wenn der Leutnant Fragen stellt. Tatsächlich hat sich der Einbruch bei Besteller so zugetragen, wie Baltrock es aus den Akten entnehmen konnte. Zeitfuchs sagt: „Sie haben uns also den Vorgang geschildert. Was wollten Sie eigentlich entwenden?“ Er blättert in der Akte, er fügt hinzu: „Sie haben Teile von Modelleisenbahnen mitgehen heißen, Sie haben Halbleiter, Meßgeräte, Radios gestohlen, und Sie haben schließlich versucht, den Tresor anzubohren, das ist Ihnen mißglückt. Sie haben auch die Registrierkasse aufgebrochen, allerdings ohne etwas zu finden. Was war ursprünglich Ihr Ziel?“ Geiger sieht ihn verständnislos an, Baltrock schüttelt den Kopf, er gibt dem Leutnant ein Zeichen: Geiger ist wenig intelligent. Zeitfuchs nickt. Er fragt: „Wollten Sie Spielzeug, wollten Sie Radioteile, wollten Sie Geld? Was stand an erster Stelle?“ „Also, eigentlich wollten wir alles, was zum Rundfunk gehört. Horst und ich, wir sind beide Bastler. Aber als Lehrlinge verdienen wir zuwenig, das Geld langt nicht 241
dafür. Außerdem machen wir Reparaturen, und da brauchen wir eben Ersatzteile.“ „Und die wollten Sie sich durch Diebstahl verschaffen?“ Geiger antwortete darauf nicht; er sieht Zeitfuchs an, als möchte er die Frage bejahen und wage es nur nicht wegen des harten Worts „Diebstahl“. „Sie haben dann die Registrierkasse gesehen. Wer kam auf den Gedanken, sie aufzubrechen?“ Der Goldschopf seufzt, er senkt den Blick: „Horst. Er meinte nämlich, wenn wir Geld finden, können wir uns kaufen, was wir benötigen, und brauchen es uns nicht so besorgen. Danach haben wir den Tresor gesehen, und wir dachten, vielleicht bekommen wir ihn auf, dann haben wir keine Sorgen mehr!“ „Sorgen!“ sagt Zeitfuchs verächtlich. „Ich fürchte, Sie werden jetzt viel mehr Sorgen haben! War Ihnen nicht klar, daß man sich fremdes Eigentum nicht einfach aneignen kann, daß das strafbar ist?“ „Schon …“ Geiger zögert, dann setzt er entschlossen hinzu: „Horst meinte, wir Lehrlinge würden doch nur ausgebeutet, wir hätten ein Recht …“ Er stockt, weiß nicht weiter, fährt fort: „Und ich habe zu Hause in der Woche bloß zwei Mark Taschengeld bekommen, wie sollte ich da …“ Er stockt wieder. Trübsinnig hockt er auf dem Stuhl und sieht ein Schicksal über sich hereinbrechen, das er nicht ganz begreift. In der Tat hat der junge Mann ein Schicksal, und wie er so dasitzt, verloren und verlassen, empfindet trotz allem Baltrock Mitleid mit ihm; aus der Vernehmung zur Person, die Zeitfuchs mit Sorgfalt durchgeführt hat, kann sich der Hauptmann ein Bild von dem Goldschopf machen: 242
Als Geiger geboren wurde, war seine Mutter siebzehn Jahre alt und kannte kein Zuhause. Ihr Vater war im Kriege als vermißt gemeldet, die Mutter, Magd auf einem ostpreußischen Gut, 1945 von ihr getrennt worden, nie wurde sie aufgefunden. Das Mädchen wuchs in Heimen auf, zeigte eine unterdurchschnittliche Intelligenz, hatte keine Neigung, einen Beruf zu erlernen, und arbeitete als Reinigungskraft in verschiedenen Betrieben, die sie oft wechselte. Wer Manfreds Vater sein könnte, wußte sie nicht zu sagen, und auch im Geburtsschein der drei Jahre jüngeren Schwester war kein Vater angeführt. Kurz nach der Geburt des Sohnes lernte sie einen Mann kennen, der zweiundzwanzig Jahre älter als sie selbst war, und da sie bei aller Beschränktheit und Unbekümmertheit immer noch reizvoll anzusehen war, vernarrte er sich so in sie, daß er sie heiratete. Bevor sechs Jahre später Manfreds zweite Schwester geboren wurde, adoptierte Geiger die beiden unehelichen Kinder, er war ein gutmütiger und auf kleinbürgerliche Weise ehrbarer Handwerker. Ein Jahr später erblickte noch ein Sohn das Licht der Welt. Es wäre verfehlt gewesen, die Ehe als gut oder schlecht zu bezeichnen. Der Mann gab seiner Familie eine Art von Geborgenheit, die er mit Strenge selbst bestimmte, und wenn es Manfreds Mutter vielleicht gelegentlich gejuckt haben mochte, dem engen Kreis und dem so viel älteren Mann zu entspringen, so hielt Furcht sie davon zurück: Geiger konnte zuschlagen, und die Kinder wurden mit harter Hand erzogen. Es entsprach nicht nur Geigers Lebensanschauung, die Seinen knappzuhalten, es entsprang auch der Notwendigkeit, sechs Menschen zu nähren, zu bekleiden, zu behausen. Vielleicht hätte alles einigermaßen gut gehen können, aber 243
nach der Geburt des letzten Kindes stellten sich bei der Mutter erste Lähmungserscheinungen ein, die schließlich zu einer völligen Unbeweglichkeit der Beine und des Unterleibes führten und in letzter Zeit auch die linke Hand zu ergreifen begannen. Selbstredend konnte sie den Haushalt nicht mehr versorgen, ja, sie selbst mußte gebettet werden, und ihre Notdurft vermochte sie nicht ohne Hilfe zu verrichten. Auch unter diesen bedrückenden Umständen ließ der Vater in der Fürsorge für die Seinen nicht nach; aber er wurde noch härter, noch verschlossener als bisher, ja, er kapselte sich völlig ab, er redete kaum noch, und bei dem geringsten Versehen der Kinder schlug er zu. In Baltrock ist der Satz: „Und ich habe zu Hause in der Woche bloß zwei Mark Taschengeld bekommen …“ Er denkt: Es ist noch vieles zu tun … Der Leutnant scheint diesen Satz gar nicht mehr zu hören. Er kramt in den Unterlagen, er zieht das Foto des Schuhabdrucks hervor, er hält es vor Geigers Augen, er sagt: „So haben wir Sie überführt!“ Geiger starrt auf das Foto. Zeitfuchs vergewissert sich: „Das ist doch die Sohle Ihres Schuhs?“ Der Blondschopf bringt ein leises „Ja“ heraus. „Also“, sagt Zeitfuchs und schiebt das Blatt wieder in die Tasche zu den anderen Unterlagen, „also habe ich Sie soeben auch des Tresoreinbruchs im VEB Bema überführt! Da haben Sie die gleichen Schuhe getragen, und diesen Abdruck haben wir dort gefunden.“ Er läßt Geiger keine Ausflucht, er formuliert so, daß der Blondschopf annehmen muß, er habe diesen Abdruck im Raum des Lohnbüros hinterlassen und nicht im Sandhaufen vor dem Fenster. 244
Der Leutnant sagt kurz: „Geben Sie das zu?“ Da fällt Geiger in sich zusammen, er bringt ein fast unverständliches „Ja“ hervor, und plötzlich schießen ihm die Tränen aus den Augen, er sieht aus wie ein hilfloses Kind. „Jetzt ist es zum Weinen zu spät“, sagt Zeitfuchs, „das alles hätten Sie sich früher überlegen sollen!“ 5 „So“, sagt Zeitfuchs, nachdem das Protokoll ausgefertigt und Geiger abgeführt ist, „und nun müssen wir uns mit Pauli beschäftigen.“ „Du hast ihm die Sache Nottrodt nicht vorgehalten“, sagt Baltrock im Ton einer sachlichen Feststellung. Zeitfuchs zieht seine Unterlippe lang und läßt sie zurückschnellen. „Will’s der Teufel“, sagt er nachdenklich, „finden die beiden Gelegenheit, sich kurz zu verständigen. Ganz ausschließen kann man das nie. Ich will aber das Überraschungsmoment ausnutzen, und, offen gestanden, bisher zeigt sich, daß Geiger der Handlanger war. Ich möchte eher darauf tippen, daß er bei Nottrodt Schmiere gestanden hat, während Pauli die Tat ausführte. Der hat geplant, der hat den Tresor aufgeschweißt, der hat das Geld verteilt … Wenn ich die beiden vergleiche, traue ich Pauli viel eher einen Totschlag zu.“ In der Tat – Baltrock muß dem Leutnant zustimmen – ist Pauli geradezu der Antipode von Geiger. An ihm ist nichts Halbwüchsiges mehr. Diesen Kopf merkt man sich. Die schwarzen Haare trägt er sorgfältig zurückgekämmt, sie sind kurz geschnitten, keine Strähne fällt ihm in die Stirn, die leicht zurückgeneigt und deutlich gebuckelt ist, sie macht einen entschiedenen Eindruck, wie auch die klugen nußbraunen Augen unter den starken Brauen, die 245
hellwach und aufmerksam blicken und sozusagen ständig auf der Hut oder auch zum Angriff bereit sind. Die schlanken Wangen, die leicht aufgeworfenen Lippen, das ausgeprägte Kinn vervollständigen den männlichen Eindruck – ein Bursche, wie ihn Mädchen lieben. Seine stämmige Gestalt, der leicht herausgedrückte Brustkorb, die knappen entschiedenen Bewegungen weisen auf einen Menschen, der Entschlüsse zu fassen und durchzusetzen gelernt hat. Er überlegt seine Sätze, er weiß die Worte zu wählen, und er kann sich benehmen – sogar jetzt, in dieser kritischen Situation, verbeugt er sich leicht gegen die beiden Kriminalisten, als er hereingeführt wird. Er nimmt Platz und stützt beide Hände leicht auf die Oberschenkel, als erwarte er vorbereitet die ersten Fragen. Nur das überrascht ihn offenbar ein wenig, daß nicht Baltrock das Wort nimmt, sondern Zeitfuchs. Der Leutnant liest aus dem Ausweis ab: „Sie heißen Horst Pauli, sind am siebenten August fünfzig geboren, und zwar in G. Sie wohnen jetzt zur Untermiete bei einer Familie Papenkort, Südweg sechzehn, das ist in Kreßbergen, nicht wahr?“ „Ja“, erwidert Pauli mit seiner brüchigen Stimme knapp. „Schön“, fährt Zeitfuchs gelassen fort und sieht Pauli unablässig an. „Geiger hat bereits gestanden, und zwar sowohl den Einbruch bei Besteller als auch den Einbruch im Lohnbüro.“ Er versucht, die Wirkung seiner Worte zu erkennen, aber Paulis Gesicht bleibt unbewegt. „Geiger hat uns die Einbrüche geschildert, wir haben keinen Grund, seine Aussage zu bezweifeln. Er sagt, daß Sie in beiden Fällen mit von der Partie gewesen sind.“ Pauli schweigt. 246
„Stimmt das?“ fragt Zeitfuchs schärfer. „Wenn Geiger es sagt, wird es wohl stimmen“, erwidert Pauli scheinbar unberührt. Ein harter Bursche, denkt der Hauptmann. „Also schildern Sie uns, wie Sie vorgegangen sind.“ Pauli hebt leicht die dichten schwarzen Brauen. „Ich denke, das hat Geiger bereits erzählt?“ „Wir wollen es auch von Ihnen hören!“ Der Leutnant spart sich einen Verweis. Pauli nickt. Baltrock hat den Eindruck: geradezu herablassend. Er stützt sich mit den Händen fester auf die Oberschenkel, beugt sich etwas mehr vor, runzelt die Stirn, als könnte er sich so besser besinnen, und berichtet dann. Seine Darstellung deckt sich mit der Geigers. „Sie waren es also“, vergewissert sich Zeitfuchs, „der den Tresor aufgeschweißt hat?“ „Ja“, erwidert Pauli. „Haben Sie denn Erfahrung im Schweißen? Wo haben Sie es gelernt?“ Pauli verzieht mokant den Mund. „Habe ich nicht gelernt“, erwidert er, „und ich habe auch keine Erfahrung. Ich habe mir das in unserer Schweißerei ein paarmal angesehen, dann war mir klar, daß ich das könnte.“ „Wieviel Geld haben Sie im Lohnbüro erbeutet?“ „Siebzehntausend Mark. Wir sind dann zu mir gefahren und haben geteilt. Jeder hat genau die Hälfte bekommen. Die angekohlten Scheine habe ich nicht mitgerechnet, ich habe sie einen Tag später verbrannt.“ „Im Tresor war noch eine größere Anzahl Lohntüten, die Sie darin gelassen haben. Auch auf dem Tisch lagen ein paar tausend Mark, die unversehrt waren. Sind Sie gestört worden?“ 247
„Nein. Nachdem dieser Wächter die Tür vernagelt hatte, konnte ich in aller Ruhe arbeiten.“ „Und warum haben Sie das Geld nicht mitgenommen?“ Wieder dieses mokante Lächeln! Aber Pauli bequemt sich zu einer Erklärung. „Ich habe Geiger klargemacht, daß wir jeder ein Anrecht auf ungefähr sechstausend Mark haben, mehr wollten wir nicht nehmen. Gezählt haben wir natürlich nicht, aber ich glaubte, es müßte ungefähr reichen. Deswegen habe ich die Tüten nicht mehr herausgenommen und das andere liegengelassen.“ Der Leutnant macht vor Verblüffung seine Augen groß, er sagt: „Habe ich richtig verstanden? Sie behaupten, Sie hätten ein Anrecht auf die sechstausend und Geiger ebenfalls?“ „Ja, der Meinung bin ich!“ Das klingt hochmütig. „Und warum, wenn ich fragen darf?“ Zum ersten Male gestattet sich Pauli eine Handbewegung, die seine Ansicht unterstreichen soll. „Geigers Zuhause ist elend“, sagt er, „der ist ein richtiges armes Schwein. Da hatte er das Hobby mit den Modelleisenbahnen, aber er konnte es ja nicht ausüben, und mit Radiobastelei war ebenfalls nichts, das alles kostet Geld. Dann mußte er immer alte Klamotten von seinem Vater auftragen …“ Pauli regt sich auf, er sagt: „Und das heutzutage! Alle machen ein bißchen auf modern – und der muß wie Opa ’rumlaufen. Schließlich kann Geiger nichts für seine Eltern, er hat auch Anrecht auf sein Leben.“ „Selbstredend hat er das“, sagt Zeitfuchs, „nur ist es vorerst noch immer so, daß der eine einen leichteren Start als der andere hat. Das kann man nicht dadurch verändern, daß man andere bestiehlt, dazu gehört schon mehr. 248
Wenn Geiger das nicht einsehen kann – Sie müßten es eigentlich können!“ Darauf schweigt Pauli. „Ja“, meint Zeitfuchs, „und Sie selbst? Bei Ihnen ist es doch wohl nicht so?“ „Na, wissen Sie …“ Pauli läßt die Worte verschweben, ehe er weiterspricht. „Natürlich, ganz so nicht, ich konnte mein Lehrlingsgehalt verbrauchen, aber was sind die paar Kröten, wenn man etwas Ansprüche stellt? Schließlich mußte ich die Miete auch selber zahlen. Davon ganz abgesehen …“ Überlegen lehnt er sich zurück und schlägt die Arme über der Brust übereinander. „Wozu habe ich das Abi? Jetzt bin ich zwanzig – und Lehrling! Verstehen Sie? Meinen Eltern geht es gut, mein Vater ist Architekt, hat einen anständigen Job, na, und wie das so ist, er nimmt ja auch Schubladenhonorare ein …“ „Was für Honorare?“ fragt Zeitfuchs verständnislos. „Schubladenhonorar“, erklärt Pauli, „das ist das Honorar, das er ohne Rechnung kassiert, wenn er privat mal was projektiert; das wandert in seine Schublade – wegen der Steuer!“ Er sieht Zeitfuchs bedeutungsvoll an, es hat beinahe den Anschein, als betrachte er den Leutnant als einen Mitverschworenen, er sagt: „Da kann man sich natürlich einen schicken Wartburg leisten und Reisen nach Ungarn und Bulgarien.“ Er stockt kurz, und obwohl er dann sachlich weiterredet, klingt etwas wie Groll in seiner Stimme. „Mein Bruder ist Tierarzt in Mecklenburg, und von mir aber haben sie erwartet, daß ich mich mit den paar Piepen begnüge!“ Er sagt „Piepen“, zum ersten Male gleitet er ins Gewöhnliche ab. Zeitfuchs geht darauf nicht ein, er sagt: „Bei Besteller haben Sie doch alles mögliche mitgenommen, da waren 249
Sie nicht nur auf Geld aus.“ „Stimmt! Zuerst hatte ich die Vorstellung, daß wir uns alles holen, was wir uns nicht leisten können, worauf wir jedoch ein Anrecht haben. Aber als ich die Registrierkasse bei Besteller sah, da ist mir klargeworden, wie unzweckmäßig das ist. Wenn wir zu Geld kommen würden, könnten wir uns alles einfach kaufen.“ Pauli hebt die Brauen. „Wir mußten nur vorsichtig seih. Ich habe Geiger ausdrücklich angewiesen, nicht mehr auszugeben als unbedingt erforderlich, damit nichts auffällt.“ Zeitfuchs tickt mit dem Bleistift auf den Tisch. „Sagen Sie, Herr Pauli, haben Sie nie damit gerechnet, daß die Polizei Ihnen auf die Spur kommen würde?“ „Nein.“ Und nach einer Pause: „Nein, damit habe ich nicht gerechnet. Wir hatten alles genau geplant. Auch unser Verhalten danach.“ Pauli spürt den inneren Widerstand der beiden Kriminalisten, er sucht sich ihnen verständlicher zu machen, er sagt: „Ich habe nach dem Abi in der Bezirksstadt zwei Semester auf der Fachschule für Maschinenbau hinter mich gebracht, doch denen hat meine Nase nicht gepaßt, die haben gesagt: Absolviere erst eine Lehre, dann melde dich wieder! Schön, und weil in G. kein entsprechender Betrieb war, bin ich eben hierhergekommen. Aber überlegen Sie mal!“ Er schlägt ein Bein über das andere, faßt den rechten Ellenbogen mit der linken Hand, und während er erklärt, gestikuliert er mit der Rechten. „Mit Abi und zwei Semestern Fachschule Lehrlingsgehalt! Hätte ich mit dem Zehnklassenabschluß die Kurve gekratzt und wäre sofort in die Lehre gegangen, dann wäre ich längst fertig und dicke da – einschließlich der Prämien! Nur weil ich intelligent bin, werde ich bestraft, sozusagen. Nein, ich habe 250
bloß für Ausgleich gesorgt. Und dann …“, zum ersten Male ereifert er sich, „man kann sich doch nicht dauernd das Gerede anhören: Wir hatten Faschismus, der Krieg, der Nachkrieg, Wiederaufbau, jeder muß zupacken, jeder muß sich bescheiden. Haben wir den Faschismus gemacht und den Krieg oder die Alten! Das sollen die gefälligst ausbaden, und zwar ein bißchen schnell, aber nein, die fahren ihren Wartburg, die kassieren Schubladenhonorare, und wer das Gerede glauben soll, das sind wir!“ Plötzlich zieht er sich wieder in sich selbst zurück. „Ich habe mir nur genommen, was mir in Wirklichkeit zugestanden hat.“ „Und daß die Arbeiter, Ihre Kollegen, nicht ausgezahlt werden konnten, daß sie ihre sauer verdienten Groschen nicht bekamen – daran denken Sie nicht!“ „Haben die ja inzwischen gekriegt!“ Der Leutnant schweigt ein paar Augenblicke; es ist ihm klar, daß Pauli das Verwerfliche seines Tuns nicht, noch nicht einsehen kann. Für Baltrock wiederum ist es erstaunlich, mit welcher Offenheit der junge Mann über seine Motive spricht und wie kraß er sie rechtfertigt – keine Rolle spielt dabei die eigene Leistung, nur von den Ansprüchen ist die Rede, die selbstverständlich befriedigt werden müssen. So erwachsen und gefestigt dieser Pauli auch aussehen mag: darin offenbart sich seine völlige Unreife. Der Hauptmann mustert ihn wieder und wieder; alles in ihm sperrt sich gegen diesen jungen Mann, er möchte ihn zurechtweisen, aber er weiß, daß solche Worte jetzt nur mit Spott abgetan werden würden. Trotzdem, die Selbstgerechtigkeit, mit der Pauli seine Taten bemäntelt, muß durchbrochen werden, findet Baltrock, und da Zeitfuchs offenbar nicht weiß, wie er ansetzen soll, meint er 251
selbst: „Sie sagen, Sie mußten Ihr Studium unterbrechen, weil denen, wie Sie sich ausdrücken, Ihre Nase nicht gefallen habe. Das kann ich mir wirklich nicht denken. War es nicht vielleicht so, daß Ihre Leistungen nicht befriedigten?“ „Na“, gibt Pauli wegwerfend zu, „in Mathe war ich kein As!“ „Also“, unterstreicht Baltrock, „und sollten Sie sich nicht nach der Lehrzeit wieder bewerben?“ „Das haben die sich so gedacht“, empört sich Pauli, „aber dann wäre ich ja noch älter, würde noch später mit meinem Studium fertig werden!“ „Das stimmt“, sagt der Hauptmann, „Sie hätten jedoch Ihr Ziel erreicht, Sie hätten dann genauso leben können wie beispielsweise Ihre Schwester. Daß Sie mehr Zeit dazu gebraucht hätten, können Sie doch nicht der Hochschule in die Schuhe schieben, es lag an Ihrer eigenen Leistung!“ Darauf erwidert Pauli nichts, er blickt angestrengt vor sich hin. Überraschend hebt er den Kopf. „Wenn Sie mir jetzt keine Moralpauke halten, dann gebe ich zu: Ich habe mir da selber was vorgemacht. Aber nun ist es einmal passiert!“ Dabei läßt es Baltrock bewenden. Er gesteht sich, daß ihm ein Zug an Pauli sympathisch ist: Er versucht sich keine Sekunde zu drücken, er gibt offen Auskunft, er macht keine Umwege; nein, nach allem, was zu erkennen ist, muß man sagen: Er lügt nicht. Ist er der Mörder, der Totschläger? Ehe Baltrock zu einem Schluß kommen kann, fährt der Leutnant fort: „Was haben Sie mit dem Geld gemacht, Herr Pauli?“ 252
„Ich habe mich eingepuppt, ein bißchen modern. Sonst nichts. Ich wollte nicht auffallen; nach einem Jahr, sagte ich mir, ist Gras über die Sache gewachsen, dann kräht kein Hahn mehr danach.“ „Und wo haben Sie den Rest des Geldes?“ „In einem Schuhkarton in meinem Zimmer.“ „Und Geiger? Was hat der mit seinem Anteil gemacht?“ „Sich auch eingepuppt. Und ein paar Ergänzungsstücke für seine Eisenbahn hat er gekauft, glaube ich. Na, und das neue Motorrad!“ Pauli setzt erbittert hinzu: „Er mußte sich ja dieses Motorrad kaufen, gegen meine ausdrückliche Anweisung!“ Er fragt mißtrauisch: „Sind Sie etwa dadurch auf uns gekommen?“ „Ja“, erwidert Zeitfuchs sofort, er hält es für gut, Unkraut zwischen die Freundschaft der beiden jungen Leute zu säen. „Was habe ich gesagt!“ Triumph ist in Paulis Stimme. Darauf geht der Leutnant nicht mehr ein. Er öffnet die mittlere Schublade des Schreibtisches, er holt Nottrodts abgeschabte Aktentasche hervor, die er für diesen Augenblick bereitgehalten hat, er legt sie behutsam, als sei sie eine Kostbarkeit, auf den Schreibtisch und betrachtet sie eingehend. Pauli sieht ihm mißtrauisch zu. Dann blickt Zeitfuchs auf. Er fragt langsam: „Kennen Sie diese Aktentasche, Herr Pauli?“ Der erwidert verächtlich: „Ja.“ „Gehört sie Ihnen?“ „Die gehört Geiger. Glauben Sie etwa, ich schleppe so was mit mir herum? Das gehört auf den Schrott – habe ich Geiger auch gesagt.“ „Hat Geiger die Tasche schon lange in seinem Besitz?“ 253
Pauli ist jetzt völlig uninteressiert; er hebt die Schultern, er sagt gleichgültig: „Weiß ich nicht.“ Zeitfuchs beugt sich vor, er sagt eindringlich: „Wir müssen es aber wissen, versuchen Sie, sich zu erinnern!“ Tatsächlich wirft Pauli noch einen Blick auf die Tasche, er erklärt widerwillig: „Ich habe wirklich keine Ahnung. Vielleicht hatte er sie schon lange. Ich habe sie erst vor kurzem gesehen – vor ein paar Tagen, würde ich sagen.“ „Und woher hatte Geiger sie?“ „Keinen Schimmer!“ Und, plötzlich widerspenstig: „Fragen Sie doch Geiger selbst!“ „Das werde ich auch tun“, erwidert Zeitfuchs gelassen, „aber jetzt möchte ich von Ihnen wissen, was Ihnen bekannt ist. Woher hatte er sie also?“ „Ich habe doch gesagt, daß ich davon keinen Schimmer habe!“ Die Augenblicke, da Pauli bereit war, zu erläutern, zu erklären, wo er bereit war, zu sprechen und sich auszubreiten, sind vorüber. Jetzt ist er verstockt, diese Aktentasche interessiert ihn nicht, er hält es offenbar für albern, sich darüber zu unterhalten – jedenfalls macht er diesen Eindruck. Es könnte natürlich auch, überlegt Zeitfuchs, ein geschicktes Manöver sein; nun, da es zu brennen anfängt, spielt er den Unwissenden, den Harmlosen. Der Leutnant steht unvermittelt auf, geht zur Tür, öffnet sie und sagt: „Genosse, führen Sie Pauli ab. Und bringen Sie uns noch einmal Geiger her!“ Dann kehrt er zu seinem Schreibtisch zurück, setzt sich wieder und sieht zu, wie der Wachtmeister Pauli sanft und fest am Arm nimmt. Pauli blickt die beiden Kriminalisten nicht an. Er grüßt auch nicht mehr. 254
6 Als Pauli den Raum verlassen hat, herrscht zwischen den beiden Kriminalisten Schweigen. Dann seufzt Baltrock: „Wenn man die beiden Burschen so sieht, diese Bürschchen, möchte man nicht glauben …“ Er führt den Gedanken nicht zu Ende, er sagt: „Warum hast du Pauli nicht weiter befragt?“ Zeitfuchs schüttelt den Kopf. „Ich hatte das Gefühl: Hier ist Schluß! Stahltür! Verriegelt! Der hat den kritischen Punkt gemerkt, glaube ich. Auf einmal hat er sich völlig anders verhalten, auf einmal wußte er von nichts. Mir kann doch niemand erzählen, daß die beiden nicht auch über die Tasche geredet haben, bei der dicken Tunke. Und außerdem: Vielleicht gehört die Tasche gar nicht Geiger, vielleicht hatte sie tatsächlich Pauli? Nein, Pauli hat nur das zugegeben, was er sowieso zugeben mußte, weil er durch Geigers Aussagen bereits überführt war. Und ich meine, es wird uns schneller gelingen, von Geiger etwas zu erfahren als von …“ Er verstummt. Geiger wird hereingeführt. Da ist es wieder, das angstvolle, verschüchterte Kindergesicht mit der vorgestoßenen Stirn und den wasserblauen Augen, die in geradezu panischem Schrecken bald Zeitfuchs, bald Baltrock ansehen. Zeitfuchs läßt sich Zeit. Er blättert in den Akten und tut, als habe er Geigers Anwesenheit überhaupt noch nicht bemerkt, ja, er sagt sogar zu Baltrock: „Hat ganz schön geplaudert, der Pauli, nicht wahr?“ Auch das ist ausgestreuter Unkrautsamen. Der Hauptmann nickt. Verständnislos hört Geiger diese Worte, angstvoll schluckt er Speichel hinunter. „Von Ihnen, Herr Geiger, will ich nicht mehr viel wissen“, wendet sich Zeitfuchs in gemütvollem Ton an den 255
Blondschopf und dreht dabei, ohne hinzusehen, noch einige Blätter um. „Wenn Sie uns aufrichtig Auskunft geben, können wir die Sache vielleicht überhaupt abschließen. Es liegt also nur an Ihnen, wie lange wir uns jetzt unterhalten müssen. Sie wollen doch auch, daß wir zu einem Schluß kommen?“ Geiger kann nicht sprechen, er nickt. „Sehen Sie!“ sagt Zeitfuchs scheinbar erfreut, und jetzt entnimmt er der Schublade wieder die alte Aktentasche, legt sie vor sich hin, bringt sie geradezu liebevoll in parallelen Abstand zur Schreibtischkante, und fast nebenbei sagt er: „Pauli behauptet, diese Aktentasche gehöre Ihnen?“ Der Blick der wasserblauen Augen flattert. „Ja“, sagt Geiger. Der Leutnant ist verblüfft, er läßt es sich nicht anmerken, er fährt fort: „Wir haben sie am Tatort gefunden. Was hatten Sie darin?“ „Werkzeug“, würgt Geiger hervor. „Diebswerkzeug!“ betont Zeitfuchs. Er macht eine kleine Pause, er fragt: „Und die Tasche gehört wirklich Ihnen?“ Geiger nickt wieder. „Sie ist also Ihr Eigentum?“ fragt Zeitfuchs beharrlich. „Ja“, bestätigt Geiger. Langsam knipst der Leutnant das eine noch funktionierende Schloß auf und schlägt die Klappe zurück. Er zeigt auf die verwischte Schrift, er sagt leise: „Dann ist das also Ihr Name?“ Dieser Satz ist so harmlos wie ein Tiger. „Nein“, erwidert Geiger bebend. „Wenn das Ihre Tasche ist“, sagt Zeitfuchs, „wie kommt es dann, daß ein fremder Name darin steht?“ Er 256
fährt gleich fort und hebt die Stimme: „Wissen Sie, welcher Name das ist?“ Geiger schweigt. Der Leutnant starrt ihn an. Da schüttelt Geiger den Kopf. „Sie wissen es nicht? Dann will ich es Ihnen sagen: Es ist der Name Paul Nottrodt!“ Er läßt Geiger keine Zeit zu einer Antwort, er schiebt die Tasche vor sich hin, drückt den Finger auf den Namen und skandiert: „Paul Nottrodt! Paul Nottrodt! Das ist der Name, und Sie wissen es genau. Ihm gehörte die Aktentasche, darin bewahrte er sein Geld auf, und Sie haben sie mitgenommen, nachdem Sie ihn erschlagen hatten!“ Geiger sieht ihn entsetzt an, er stottert: „Nein, aber nein! Ich habe den Namen gar nicht gelesen!“ Zeitfuchs zieht die Aktentasche zurück. Er sagt betont ruhig: „Es ist völlig klar. Sie haben zugegeben, daß die Aktentasche in Ihrem Besitz war. Es ist eindeutig die Tasche von Paul Nottrodt. In ihr bewahrte er sein Geld auf – auch in der Nacht, als er erschlagen wurde. Also kommen nur Sie als Täter in Frage!“ Sofort wehrt sich Geiger erregt: „Nein! Ich habe den Nottrodt doch gar nicht gekannt, und ich wußte ja nicht, daß ihm die Aktentasche gehört. Ich habe damit nichts zu tun! Die Tasche habe ich wirklich gefunden!“ „Gefunden!“ stößt Zeitfuchs hervor und schnaubt verächtlich durch die Nase. „Wollen Sie mir einen Bären aufbinden? Gefunden! Nein, mein Freund, das glaube ich Ihnen nicht! Ich kann Ihnen nur raten, ein volles Geständnis abzulegen, damit Sie Ihre Lage erleichtern, Sie haben Nottrodt erschlagen!“ Aus mit der Abwehr, aus mit der Gegenwehr. Geiger sinkt zusammen, er hat die linke Hand vor dem Gesicht. 257
Zeitfuchs dringt trotzdem weiter in ihn: „Oder stimmt das gar nicht, was Sie und Pauli mir erzählt haben? Hat Ihnen Pauli die Tasche gegeben?“ Geiger blickt nicht auf. Wie im Krampf schüttelt er den Kopf. „Wieviel Geld war in der Aktentasche?“ Jetzt kommt keine Antwort mehr. Geiger schluchzt nur. Zeitfuchs läßt nicht nach. „Wo waren Sie in der Nacht vom zweiten zum dritten November?“ Er erhält keine Antwort. „Nun gut, dann werde ich Ihnen sagen, wo Sie in der Nacht vom Zweiten zum Dritten gewesen sind. In der PGH Holzverarbeitung!“ „Nein“, stößt Geiger endlich wieder hervor. „Hören Sie, Herr Geiger! Sie und Ihr Freund Pauli sind gesehen worden, wie Sie mit dem Motorrad zur PGH gefahren sind. Das einzige, was ich jetzt noch wissen will: Wer hat Nottrodt erschlagen? Hat Pauli ihn erschlagen? Haben Sie ihn erschlagen, Geiger? Wer war es?“ „Ich war nicht dort“, schluchzt Geiger jammervoll, „wirklich und wahrhaftig nicht. Ich habe nichts damit zu tun! Die Aktentasche, die habe ich gefunden!“ Da greift Baltrock ein, mit seiner tiefen, ruhigen Stimme fragt er langsam und deutlich: „Wo haben Sie die gefunden, Geiger?“ Der andere Tonfall wirkt plötzlich auf den Blondschopf. Er hebt den Kopf. Er sieht den Hauptmann an, die Augen sind hell und leer. Die Frage scheint nur ganz langsam in ihn einzudringen. Und dann schüttelt er verzweifelt den Kopf und sagt: „Weiß ich nicht, weiß ich nicht!“ Geiger kann den heimlichen Augenwink nicht erkennen, mit dem Baltrock dem Leutnant zu verstehen gibt, hier sei es jetzt unmöglich, etwas zu klären. 258
Zeitfuchs begreift und bricht die Vernehmung ab. „Also gut“, sagt er, „dann überlegen Sie sich das alles! Und denken Sie nach, wo Sie die Aktentasche gefunden haben wollen! Überlegen Sie sich vor allen Dingen, wo Sie in der Nacht vom zweiten zum dritten November gewesen sind und welche Zeugen Sie dafür haben!“ Er ist schon an der Tür und sagt zu dem Wachtmeister: „Erledigt, Genosse, bringen Sie ihn weg!“
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11. KAPITEL
1 Hauptmann Baltrock sitzt in seinem Amtszimmer und erwartet Frau Martha Ratzke; es geht auf acht Uhr, ist also noch zeitig, und Baltrock hatte nicht gehofft, so schnell zu einer Gegenüberstellung zu kommen; aber Zeitfuchs verfolgt den Fall mit Nachdruck – mit zuviel Nachdruck, will es dem Hauptmann scheinen. Nach der Vernehmung des Geiger hatte Zeitfuchs pausiert, und Baltrock wollte ihm Zeit lassen, das Ergebnis zu werten, er hatte ihn nicht gestört, hatte stumm zu ihm hinübergeblickt, wie er dasaß, die Augen nachdenklich auf seine Papiere gerichtet. Es dauerte ein paar Minuten, ehe Zeitfuchs aufsah; aber bevor er etwas äußern konnte, fragte ihn der Hauptmann: „Was hältst du von den beiden – im Falle Nottrodt?“ Etwas wie Erstaunen kam in die hellen Augen von Zeitfuchs, er strich mit seiner gewohnten Bewegung das Büschel zu hellen Haars über der Stirn zurück und sagte: „Einer der beiden war es, davon bin ich fest überzeugt. Wer nun Schmiere gestanden und wer den Nottrodt niedergeschlagen hat, das wird sich noch herausstellen. Ich vermute, daß Pauli der Täter ist.“ „Dagegen spricht, daß Geiger die Aktentasche als seine bezeichnet hat“, warf der Hauptmann ein. „Richtig. Doch was will das besagen? Ich denke, Geiger ist dem Pauli …“ Zeitfuchs suchte nach dem passenden Wort, er sagte „hörig“. „So ein Gemisch aus Angst und Bewunderung, das ist ja nicht selten. Und als er 260
merkte, daß die Aktentasche eine Rolle spielte, nahm er die Sache lieber auf sich, als den Pauli damit zu belasten.“ „Es ist doch auffällig, daß beide eigentlich ohne Zögern ihre Straftaten gestanden haben, und zwar bis in die Details. Auch Pauli hatte gar keine Scheu, seine Motive darzulegen, obwohl ihm schon, als er sie vor uns ausgesprochen hat, klargeworden sein muß, wie zweifelhaft sie sind; er ist ein intelligenter Bursche.“ „Er ist auch so intelligent, daß er den Unterschied zwischen Einbruch und Mord oder Totschlag kennt. Die Einbrüche sind für beide so eine Art Mundraub, nicht wahr, ‚wir haben uns genommen, worauf wir einen Anspruch haben und was man uns vorenthalten hat‘. Mord – das steht auf einem ganz anderen Blatt!“ „Das klingt einleuchtend“, sagte der Hauptmann, „ich möchte dich trotzdem warnen, vorschnell zu urteilen. Was spricht gegen sie? Das gewaltsame Vorgehen in allen drei Fällen – aber das allein kann mich nicht überzeugen. Die Aktentasche? Warum sollte Geiger sie nicht wirklich gefunden haben?“ „Eine Ausflucht!“ versetzte Zeitfuchs. „Er hat ja nicht einmal anzugeben gewußt, wo er sie gefunden haben will!“ „Der Junge war ganz verstört. Laß ihn doch einmal zur Ruhe kommen!“ Hartnäckig sagte Zeitfuchs: „Gut und schön! Nur kann ich ihnen nicht so viel Ruhe gönnen, auf neue Lügen zu verfallen. Aber ich versichere dir, ich werde planmäßig vorgehen. Den daktyloskopischen Vergleich werden wir morgen haben, möglicherweise stellt sich heraus, daß der Daumenabdruck auf dem Spiegel von einem der beiden stammt. Ich möchte außerdem bald die Gegenüberstellung mit Frau Ratzke vornehmen, vielleicht könnte Genosse 261
Schnurk sie herbestellen? Denn ich will mit dir die Wohnungen von Pauli und Geiger durchsuchen, um das Diebesgut zu sichern, nun ja, und um möglicherweise von den Leuten dort Hinweise zu erhalten.“ Baltrock nickte. Dagegen war nichts einzuwenden. „Erst danach möchte ich mich mit Pauli noch einmal unterhalten.“ – Das Ehepaar Papenkort, bei dem Pauli in Kreßbergen in Untermiete wohnte, war alt; Papenkort, Maurer von Beruf, hatte nach dem Krieg ein Behelfsheim zu einem kleinen Häuschen erweitert und umgebaut, es war seine letzte Lebenstat gewesen, jetzt näherte er sich der Achtzig, begriff wenig mehr von dem, was um ihn herum vorging, und war zufrieden. Die Pflege des Mannes, die Versorgung des Haushalts, der kleine Garten lasteten auf der zwölf Jahre jüngeren Frau. Sie war es auch, die Zeitfuchs und Baltrock die Tür öffnete und erschrak, als die beiden sich als Kriminalisten auswiesen. Der Horst Pauli, sagte Frau Papenkort, wohne seit über einem Jahr bei ihnen, er sei ein kreuzbraver Junge, habe seine Miete, zwanzig Mark, stets pünktlich bezahlt; er sei sehr leise und zurückhaltend gewesen, er habe auch keine Mädchen mitgebracht, lediglich sein Freund sei öfters gekommen, so ein Blonder, dann seien sie in Paulis Zimmer verschwunden und hätten dort gebastelt. Ob sie das Zimmer sehen dürften? Sie öffnete es, erschrak wieder und sagte sofort entschuldigend, sie habe es niemals betreten, Pauli habe selber aufgeräumt, und ihr sei es so ganz recht gewesen. Die beiden Kriminalisten fanden den Raum in einem wüsten Zustand vor, das Bett war seit langem nicht gemacht worden, der Staub lag in dicker Schicht auf allen 262
Gegenständen, und durch das ganze Zimmer waren Drähte gezogen, die offenbar der Radiobastelei gedient hatten. In Gegenwart der Frau durchsuchten Zeitfuchs und Baltrock das Zimmer. Das Geld fand sich tatsächlich an dem von Pauli angegebenen Ort in einer Schuhschachtel. Auch ein Teil der bei Besteller entwendeten Gegenstände wurde entdeckt. Sie versiegelten das Zimmer, fertigten ein Beschlagnahmeprotokoll an, ließen es unterschreiben, und Zeitfuchs fragte: „Hat Herr Pauli ein Motorrad?“ Frau Papenkort schüttelte den Kopf. „Nein, er selbst nicht. Aber sein Freund, der Blonde, besitzt eins, und das hat Pauli wochenlang bei uns im Hofe stehen gehabt und benutzt. Der Freund hatte es ihm geliehen, weil es von hier doch ein ziemlich weiter Weg bis zu seiner Arbeitsstelle ist, während der Blonde ja in Mühlen wohnt.“ Zeitfuchs sah Baltrock an, hob die Brauen, und der Hauptmann war sich klar darüber, daß der Anblick dieses Zimmers die Meinung des Leutnants verfestigt hatte. Dann fuhren sie mit großer Geschwindigkeit nach Mühlen in die Ziegelstraße, wo Geiger wohnte. Vor dem Haus Nummer 13 bremste der Leutnant scharf, sie stiegen aus und sahen an der Front hinauf; bis ins zweite Stockwerk waren einzelne Fenster gelb hineingespickt. Sie stießen das Türchen des Gartenzauns auf und gelangten an die Rückseite des Hauses, wo sich ein verlotterter Garten auftat, naß lag das vermoderte Laub zu ihren Füßen. An der Grenze zum Nachbargrundstück stand eine verrottende Laube, die kahlen Strippen des Weins umarmten sie trostlos. Die beiden Kriminalisten gingen schweigend zurück, die Haustür stöhnte in den Angeln, sie fanden eine Bewohnertafel : 2. Stock Geiger. 263
Der hohlwangige Mann sah sie verwundert an, er erwartete keinen Besuch. Seine graue Strickjacke war offen und zipfelte über den Hosenbund. „Wir möchten Herrn Geiger sprechen“, sagte Zeitfuchs. „Der bin ich“, erwiderte der Alte, „was wünschen Sie?“ Er zog die Tür um keinen Zentimeter weiter auf. Baltrock unterdrückte sein Erstaunen. Er wußte, daß Geiger vierundfünfzig Jahre alt war – dieser hier sah aus wie Ende Sechzig. Zeitfuchs zeigte seinen Ausweis. „Kriminalpolizei, dürfen wir eintreten?“ In dem schmalen, kaum erhellten Flur hörten sie den gedämpften Lärm des Fernsehers. „Die Kinder glotzen immer, da habe ich Ruhe“, erläuterte Geiger entschuldigend, war offensichtlich ein wenig ratlos und sagte dann: „Wir gehen am besten hier hinein, im zweiten Zimmer liegt meine Frau, sie …“ „Ist uns bekannt“, unterbrach ihn Zeitfuchs. Mit einem Blick erfaßte Baltrock die Küche: den Herd mit dem großen grauemaillierten Wassertopf, den Tisch mit dem Linoleumbelag, das Büfett mit dem verglasten Aufsatz und den Gewürzladen darunter, den Handtuchhalter mit dem gestickten Tuch „Eigner Herd ist Goldes wert“. Was, dachte er, mußte sich an Hoffnungen an diese Ehe geknüpft haben … Geiger schob ihnen Küchenstühle zurecht, Zeitfuchs sagte: „Wir kommen wegen Ihres Sohnes Manfred.“ Geiger blickte ihn an, er sah entsetzlich müde aus. „Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß Manfred in letzter Zeit ziemlich viel Sachen gekauft hat – zum Anziehen, meine ich, auch das neue Motorrad?“ „Er hat doch im Lotto einen Vierer gehabt“, erwiderte Geiger. 264
„Das hat er behauptet?“ „Ja“, sagte Geiger. „Na“, meinte Zeitfuchs, „dann muß ich Ihnen leider etwas ganz anderes erzählen“, und er berichtete, was sich zugetragen hatte. Mitten in dem Bericht stützte Geiger plötzlich den Kopf in die linke Hand, sagte: „Ach Gott!“, hörte zu, sagte dazwischen immer nur wieder: „Ach Gott! Ach Gott!“ Zeitfuchs endete und fragte: „Was meinen Sie zu dem allem?“ Geiger nahm die Hand herunter, er sah Zeitfuchs mit leeren Augen an. „Wenn Sie das sagen, dann stimmt es sicher. Ach Gott! Ich kann daran nichts ändern, ich kann nicht!“ Er machte eine Pause, er fuhr fort: „Meine Frau und ich, wir haben uns alle Mühe gegeben, die Kinder zu ordentlichen Menschen zu erziehen, ich habe sie streng behandelt und an ihre Pflichten gemahnt. Dann kam das Unglück mit meiner Frau. Sie kann sich kaum mehr rühren, alle in dieser Wohnung müssen ihr helfen, auch wenn sie auf den Stuhl muß; wissen Sie, ich liebe meine Frau wirklich, aber manchmal habe ich gedacht: Wenn es doch zu Ende wäre, mit ihr, mit mir, mit uns! Ich bin nicht mehr gerne nach Hause gekommen, es hat mir oft davor gegraut, wie ich das wieder alles vorfinden würde …“ Er hob die Hände, ließ sie mit kraftloser Gebärde auf die Tischplatte sinken. „Ich kann mir wirklich vorstellen, daß Manfred nicht das Gefühl gehabt hat: Hier bin ich zu Hause. Ich kann ihm nicht böse sein deshalb. Daß er freilich nun diese Sachen gemacht hat …“ Er schüttelte den Kopf. „Ja, Herr Geiger, das verstehe ich alles!“ sagte Zeitfuchs, er scharrte mit dem Fuß. „Können wir jetzt mal Manfreds Zimmer sehen?“ 265
„Er besitzt kein eigenes Zimmer, er schläft drüben mit den anderen Kindern zusammen. Seine Sachen hat er unten in der Laube.“ „Aber seine Kleidung ist doch nebenan?“ „Ja, das stimmt.“ „Die müssen wir uns halt auch ansehen!“ Geiger erhob sich, ging vor ihnen her. Manfreds Geschwister scharten sich dort um den Fernsehschirm, sie drehten die Köpfe nach den Eintretenden, beachteten sie dann aber nicht mehr, Geiger öffnete den Kleiderschrank, Zeitfuchs kontrollierte – die Kriminalisten waren froh, als sie die Tür wieder schließen konnten. „Und nun die Laube!“ sagte Zeitfuchs. Er rasselte die Stufen hinunter, er hatte es eilig; Baltrock bat zwei andere Hausbewohner mitzukommen und ging hinter Geiger her. Verblüfft blieben die Kriminalisten im Eingang der Laube stehen, die sich mit einer nackten Birne notdürftig erhellen ließ. Dieser Raum war die exakte verkleinerte Kopie von Paulis Zimmer, an den gleichen Stellen waren ähnliche Möbel aufgestellt, auf dieselbe Art zogen sich Drähte hin und quer, die chaotische Unordnung war dieselbe, und als Zeitfuchs an die Durchsuchung ging, konnte er mit Sicherheit den gleichen Schuhkarton an dem gleichen Ort finden: er enthielt den Rest des Geldes. Der einzige Unterschied war der fehlende Fernseher, den Pauli bei sich aufgestellt hatte und zu dem es bei Geiger vermutlich nicht gereicht hatte. Und ein weiterer Unterschied war die Modelleisenbahn, fahrtbereit auf Schienen, die sich am Fußboden schlängelten. Schweigend gingen die beiden Kriminalisten von Einrichtungsgegenstand zu Einrichtungsgegenstand und beschlagnahmten die Geräte und Ersatzteile, die von dem 266
Einbruch bei Besteller stammten. Geiger unterzeichnete als Zeuge wortlos das Protokoll. Bevor Zeitfuchs und Baltrock sich verabschiedeten, fragte er, schon vor der Front des Gebäudes: „Was wird werden?“ Darauf mußte Baltrock erwidern: „Wir wissen es nicht. Aber ich fürchte, er wird einige Jahre …“ Der Hauptmann beendete den Satz nicht, den Geiger wohl verstand, denn er sagte: „Gottes. Mühlen mahlen trefflich klein.“ Er wandte sich grußlos und verschwand in dem Gebäude. Als sie zurückfuhren, sagte unvermittelt Zeitfuchs, über den Lenker gebeugt: „Er hat Pauli wirklich in allem nachgeahmt! Jetzt glaube ich erst recht, daß er die Sache mit der Aktentasche auf sich genommen hat.“ Baltrock zögerte, dann entgegnete er: „Das wäre mir verständlich, wenn er auch bei der ersten Vernehmung unter dem Einfluß von Pauli ausgesagt hätte, aber das war doch nicht der Fall. Pauli konnte ihn nicht instruieren, nicht beeinflussen, Geiger hat von Anfang an die Tasche als sein Eigentum bezeichnet, als er noch gar nicht wußte, welche Rolle sie spielen würde.“ Zeitfuchs sah kurz vom Lenkrad her zu dem Hauptmann herüber. „Das wußte der sehr gut!“ Und nach einer Weile, geradeausblickend: „Wir werden ja sehen!“ Als Pauli wiederum vorgeführt wurde, war in seinem Gesicht der Ausdruck des Mißtrauens. Bevor eine Frage an ihn gerichtet werden konnte, sagte er: „Ich begreife nicht, was Sie noch von mir wollen. Ich habe alles gestanden.“ Zeitfuchs sah ihn schräg an: „Wirklich alles? Ich wüßte beispielsweise sehr gern“, fuhr er fort, „woher diese Aktentasche stammt?“ 267
Pauli schwieg. „Ich erinnere mich zwar“, sagte Zeitfuchs, „daß Sie erklärt haben, Sie wüßten es nicht; aber schau’n Sie, das ist ganz unglaubhaft, und Sie sind doch ein intelligenter Mensch – so primitiv sollten gerade Sie nun auch wieder nicht lügen!“ Eine unwillkürliche Bewegung durchzuckte Pauli, als wollte er heftig erwidern, er beherrschte sich jedoch sofort wieder und schwieg weiter. Der Leutnant legte die Tasche auf den Tisch und schlug die Klappe auf. Er sagte: „Möglich, daß Ihnen eine Kleinigkeit entgangen ist.“ Er machte eine effektvolle Pause. „Vielleicht haben Sie tatsächlich nicht bemerkt, daß in der Tasche der Name des wirklichen Eigentümers steht, er hat ihn selbst mit Tintenstift hineingeschrieben …“ Baltrock bemerkte, daß Pauli, der bisher an ihm vorbei zu dem Fenster hingesehen hatte, seinen Blick nicht bezwingen konnte, er glitt ganz flüchtig zu der Tasche, sofort jedoch wieder zurück. „Welcher Name, glauben Sie, steht darin?“ Pauli regte sich nicht, er schien entschlossen, überhaupt nicht mehr zu reagieren. Baltrock aber wußte, daß Pauli mit dieser Methode bei Zeitfuchs nichts würde ausrichten können. Tatsächlich steuerte der Leutnant direkt auf sein Ziel zu. „Sie wissen es: Der Name Paul Nottrodt steht darin!“ In diesem Augenblick ging mit Pauli eine völlige Verwandlung vor sich, seine steife Abwehr brach in Bruchteilen von Sekunden zusammen, rief: „Was? Nottrodt? Den sie ermordet haben?“ Pauli und der Leutnant starrten sich an, während Rede und Gegenrede kurz und abgehackt folgten. „Den Sie ermordet haben, Pauli!“ 268
„Nein!“ „Den Geiger ermordet hat!“ „Nein! Ich kenne Nottrodt nicht!“ „Und Sie haben Schmiere gestanden!“ „Aber nein!“ „Oder Sie sind in das Gelände eingedrungen! Sagen Sie die Wahrheit!“ „Nein!“ „Was, Sie wollen nicht die Wahrheit sagen?“ Baltrock wußte: Es war ein Scheingefecht, das Zeitfuchs führte, und er gestand: Er führte es gut! Es mußte Pauli verwirren, dem, war er der Täter, in seiner Verwirrung leicht ein verfängliches Wort entgleiten konnte. „Sie drehen mir das Wort im Munde um!“ Pauli war nicht nur verwirrt, er war auch empört, aufgebracht, wütend. „Ich drehe Ihnen kein Wort herum“, sagte Zeitfuchs plötzlich ganz ruhig und ließ sich auf seinen Stuhl zurückgleiten, „ich habe Sie aufgefordert: ‚Sagen Sie die Wahrheit‘, und Sie haben geantwortet: ‚Nein!‘ Gut, nehmen wir an, daß es ein Mißverständnis war – aber nur, wenn Sie sich endlich bequemen, Ihr verstocktes Schweigen aufzugeben und mit mir zu reden wie ein vernünftiger Mensch.“ Pauli rührte sich nicht, und Zeitfuchs wartete lange. Dann endlich nickte Pauli und sagte: „Nun gut.“ „Ich habe hier diese Aktentasche“, erklärte der Leutnant geduldig, „Sie selbst haben sie als Geigers Eigentum bezeichnet, und Geiger sagt tatsächlich, es sei seine. In Wirklichkeit aber ist es die Tasche von Nottrodt. Daraus ergibt sich, daß sie von Nottrodt in Geigers Hände gelangt sein muß, ist das klar?“ Pauli, der aufmerksam zugehört hatte, nickte. 269
„Es ist jedoch erwiesen“, fuhr Zeitfuchs fort, „daß die Tasche bis zum Tod Nottrodts in dessen Besitz war. Sie ist ihm also weggenommen worden, als man ihn erschlagen hat, und das ist auch verständlich, denn in der Tasche bewahrte Nottrodt sein Geld auf. Das legt den Schluß nahe, daß Geiger Nottrodt getötet hat – es sei denn, er will Sie in Schutz nehmen, weil Sie es gewesen sind. So, und nun können Sie sich in aller Ruhe dazu erklären – nur noch eines, Pauli“, Zeitfuchs hob den Zeigefinger, „glauben Sie mir, der Täter verschlechtert seine Lage vor Gericht erheblich, wenn er hartnäckig leugnet. Zehn oder fünfzehn Jahre – das ist wahrhaftig ein Unterschied!“ Es schien, als erwartete Pauli noch etwas, und tatsächlich fuhr Zeitfuchs langsam fort: „Wissen Sie, für uns ergibt sich eine gerade und logische Linie. Bei Besteller sind Sie auf den Gedanken gekommen, daß der Diebstahl der vielen kleinen Dinge, die Sie und Geiger in Ihren Besitz bringen wollten, umständlich und gefahrvoll ist; mit Geld hätten Sie sich das alles unauffälliger leisten können. Geld fanden Sie jedoch dort nicht, den Panzerschrank konnten Sie noch nicht knacken. Also wurde Nottrodt das nächste Opfer; einer von Ihnen beiden wußte, daß er Geld bei sich zu tragen pflegte. Das ist Ihnen auch gelungen, nur dürfte Nottrodts Geld nicht weit gelangt haben. Also planten Sie einen großen Coup: den Geldschrank im Lohnbüro. In allen drei Fällen ist rigoros und planmäßig vorgegangen worden.“ Während Zeitfuchs seine Ansicht darlegte, beobachtete Baltrock Pauli; der machte einen gelassenen Eindruck, und einmal schien es dem Hauptmann, als zuckte es spöttisch um den Mund, aber das verflog sogleich wieder. 270
„Wenn Sie das so darlegen“, sagte nun Pauli ruhig, „ist es wirklich überzeugend. Ich kann nur erwidern: Es ist eine Theorie, weiter nichts. Ich habe mit der Sache nichts zu tun, ich weiß davon nicht mehr als das, was in der Zeitung gestanden hat. Woher Geiger die Tasche hat, ist mir unbekannt; ich habe ihn nicht danach gefragt. Das ist alles.“ Es klang abschließend. „Und wie erklären Sie“, fragte Zeitfuchs, „daß Sie und Geiger von einer Zeugin zur Tatzeit am Tatort gesehen worden sind?“ „Ich war nicht dort! Die Zeugin möchte ich sehen!“ Pauli hielt die Behauptung des Leutnants offensichtlich für eine Finte. Der Leutnant machte eine Handbewegung, er sagte: „Das Vergnügen werden wir hoffentlich schon morgen früh haben! Und bis dahin haben Sie Zeit, sich sehr gut zu überlegen, wo Sie in der Nacht vom zweiten auf den dritten November gewesen sind! Sie haben ein einwandfreies Alibi dringend nötig.“ Pauli zuckte die Schultern und äußerte nichts mehr. Als er abgeführt worden war, fragte Baltrock: „Meinst du immer noch, daß er als Täter in Frage kommt?“ „Ja, das meine ich“, betonte Zeitfuchs. „Es wäre immerhin möglich, daß Geiger einen Alleingang gemacht hat oder mit einem anderen Kumpel zusammen gewesen ist. Aber ich halte das für ganz unwahrscheinlich. Pauli ist ein zäher Brocken, das ist alles. Ich bin nur gespannt, was er. morgen sagen wird, wenn die Zeugin ihn wiedererkennt!“ „Sei dir deiner Sache nicht zu sicher“, warnte Baltrock, „der Daumenabdruck auf dem Spiegel stammt jedenfalls von keinem der beiden. Wir dürfen diese Spur nicht aus dem Auge verlieren, nur weil manches gegen die beiden Burschen spricht.“ 271
Und nun erwartet der Hauptmann die Zeugin, während Zeitfuchs in einem Nebenraum die Gegenüberstellung vorbereitet. Er sieht auf die Uhr, und in diesem Augenblick geleitet Schnurk Frau Martha Ratzke herein. „Ich bin Ihnen sehr dankbar“, sagt Baltrock zu ihr, „daß Sie sich bereit erklärt haben, uns heute wieder behilflich zu sein. Wir haben zwei Leute festgenommen und vermuten, daß es jene sind, die Ihnen auf dem Motorrad begegneten. Wir müssen also eine Gegenüberstellung vornehmen, und zwar werden wir Sie in ein Zimmer führen, in dem sechs Männer stehen. Darunter sind auch die zwei Verdächtigen. Sie sehen sich diese sechs Männer an, betrachten Sie sie sehr genau, auf Ihre Aussage kommt viel an, sie kann entscheidend sein. Sie sagen bitte zunächst gar nichts, es sei denn, Sie erkennen die beiden einwandfrei. Wir unterhalten uns anschließend hier in meinem Zimmer darüber.“ Martha Ratzke nickt. Der Hauptmann wendet sich an Schnurk. „Genosse Oberleutnant, würden Sie bitte nachschauen, ob alles vorbereitet ist?“ 2 Es ist etwas wie gespannte Feierlichkeit in dem Zimmer, an dessen Seitenwand sechs Männer nebeneinander stehen, unter ihnen Pauli und Geiger. Alle sechs tragen Lederjacken, Schutzhelme und Motorradbrillen, die in die Stirnen geschoben sind. Leutnant Zeitfuchs lehnt an dem Pfeiler zwischen den Fenstern, er sieht der Frau entgegen und entläßt sie während des ganzen Vorganges nicht aus dem Blick; er versucht, in ihrem Mienenspiel zu lesen und das geringste Zeichen des Erkennens festzustellen. 272
Martha Ratzke bleibt an der Tür stehen. Der Hauptmann ist dicht hinter ihr. Sie mustert die Männer, sie läßt sich Zeit. Aber sie deutet auf keinen der sechs. Baltrock sagt: „Gehen Sie ruhig näher heran.“ Brav folgt sie der Anweisung, sieht einem jeden in das Gesicht; sie dreht sich um und schaut Baltrock ratlos an. Er nickt ihr freundlich zu. „Wenn Sie bitte noch einmal zu mir kommen wollen?“ Zeitfuchs sagt zu den Männern: „Und nun schieben Sie die Brillen vor die Augen!“ Sie folgen der Anordnung – Baltrock hat den Eindruck, Geiger mit einer zu hastigen, fast zerrenden Bewegung, Pauli langsam und mit innerem Widerstand. Das Spiel wiederholt sich, Martha Ratzke betrachtet die Männer, geht hinüber, wandert an ihnen vorbei, zögert unschlüssig und geht noch einmal zurück. Dann wendet sie sich nachdenklich dem Hauptmann zu, aber sie redet nicht. Baltrock verläßt mit der Frau den Raum. Kaum hat er die Tür hinter sich geschlossen, fragt er gespannt: „Nun?“ „Nein“, erwidert sie, „nein. Ich bin mir meiner Sache nicht gewiß. Ich muß nachdenken … da ist noch etwas …“ Sie macht einen unsicheren Eindruck, so, als taste ein Blinder sich mit dem Stock seinen Weg. Unwillkürlich faßt Baltrock sie am Ellenbogen. „Kommen Sie, wir unterhalten uns in Ruhe darüber.“ Als er ihr in seinem Arbeitszimmer gegenübersitzt, fragt er behutsam: „Sie haben also unter den sechs Männern keinen der beiden wiedererkannt, die Sie in jener Nacht getroffen haben?“ Sie zögert mit der Antwort, das fällt ihm auf. Doch sie 273
schüttelt den Kopf: „Ich habe keinen wiedererkannt.“ Der Hauptmann wartet ab, sie scheint etwas hinzufügen zu wollen, und tatsächlich ergänzt sie nach einer Pause: „Als sie die Brillen über die Augen gezogen hatten, da war es mir so, als wäre der eine dabei – der damals nach mir hingesehen hat, wissen Sie.“ „Welcher?“ fragt Baltrock. „Der Stämmige, Schwarze!“ Pauli, denkt der Hauptmann, er fragt: „Aber beschwören könnten Sie es nicht?“ „Nein!“ In diesem Nein liegt kein Zweifel. Im gleichen Augenblick tritt Zeitfuchs ein, der Hauptmann kann an seinen Augen die Spannung erkennen, die ihn erfüllt; er fragt nichts. Und doch ist seine ganze Miene eine stumme Frage, auf die Baltrock erwidern muß: „Keine Identifizierung! Frau Ratzke kann lediglich eine gewisse Ähnlichkeit mit Pauli entdecken, aber nicht mehr – und das reicht für eine Überführung nicht aus.“ Er erkennt, wie enttäuscht Zeitfuchs ist, der an der Tür stehenbleibt und nachdenklich an seiner Unterlippe zieht und dann sagt: „Nein, das reicht nicht.“ Er sieht aus, als möchte er hinzusetzen: Verdammt! Unerwartet beginnt Martha Ratzke wieder zu reden. Sie sagt leise: „Ich denke immerfort darüber nach, was da eigentlich anders war. Es ist etwas Auffälliges gewesen, nicht die Autobrillen waren es, das ist mir klargeworden, als die Männer sie aufgesetzt haben … Die Brille war anders, die spiegelte so … nicht wie ein flacher Spiegel, wissen Sie, mehr wie ein Brennglas, wenn das einen Funken wirft … ich weiß nicht, ich …“ Sie verstummt. Die beiden Kriminalisten sehen, wie sie den Kopf vorneigt, die Augen schließt … 274
Plötzlich, als erwache sie, hebt sie den Kopf wieder, sieht Baltrock groß an, als sei sie selber überrascht, und sagt: „Jetzt weiß ich es! Es war keine Autobrille, sondern eine normale Brille, aber eine mit dicken Zylindergläsern – und das war es, was so unheimlich wirkte!“ Wenig später sitzen Baltrock, Zeitfuchs und Schnurk beieinander, um die Ergebnisse zu sichten und die weiteren Schritte zu beraten, und der Hauptmann faßt zuletzt ihr Gespräch zusammen: „Unser Verdacht gegen Pauli und Geiger stützte sich bisher im wesentlichen darauf, daß Nottrodts Aktentasche in ihrem Besitz war. Weitere Verdachtsmomente haben sich jedoch verflüchtigt. Der Daumenabdruck am Spiegel stammt nicht von ihnen. Und wir müssen auch unterstellen, daß unsere Vermutung unrichtig war, sie hätten sich in der fraglichen Nacht in der Nähe der PGH aufgehalten; jedenfalls hat Frau Ratzke sie nicht wiedererkannt, sie hat lediglich eine gewisse Ähnlichkeit bei Pauli angedeutet; aber sie kann sich leicht getäuscht haben, denn sie ist ihnen in der Nacht und unter ungünstigen Umständen begegnet. Außerdem, und das ist entscheidend, hat einer der beiden nach ihrer Aussage eine Zylinderbrille getragen – das trifft weder auf Pauli noch auf Geiger zu.“ Hier meldet Zeitfuchs Einwände an: „Das erscheint mir nicht ausreichend. Man muß einkalkulieren, wie durcheinander die Frau damals gewesen ist, da kann sie auch Gespenster mit Zylinderbrillen gesehen haben. Ich möchte doch unterstreichen, daß ihr die Ähnlichkeit mit Pauli auffiel.“ „Das ist kein Beweis“, sagt Baltrock. „Freilich nicht, aber immerhin …“ Der Leutnant schweigt, aber seine Bedenken möchte er mit dem halben 275
Satz anmelden. Er entschließt sich, hinzuzusetzen: „Ich vermute, ihr wäre schon bei der ersten Anhörung eingefallen, daß der Bursche eine Zylinderbrille trug, wenn das wirklich so gewesen ist; denn eine so auffallende Sache vergißt man nicht so leicht. Wenn sie erst jetzt damit kommt, dann hat sich eben ihre Erinnerung getrübt.“ Schnurk, der steif aufgerichtet aufmerksam zugehört hat, sagt: „Man müßte eruieren, wer solche Zylinderbrillen trägt.“ „Genau!“ bestätigt der Hauptmann. „Finden wir nämlich den Brillenträger und kann Frau Ratzke ihn identifizieren, dann sind Pauli und Geiger vollends entlastet, und wir müssen ja alles tun, um auch Entlastungsmomente zusammenzutragen und zu prüfen.“ Er nickt Schnurk zu. „Zylindergläser sind selten, wir sollten uns bei den hiesigen Optikern erkundigen. Möglicherweise haben sie eine entsprechende Kartei.“ „Und dann können wir alle Träger von Zylinderbrillen abklappern.“ Zeitfuchs scheint der Gedanke wenig zu behagen. „Eben das müssen wir tun!“ betont der Hauptmann, er wendet sich wieder an Schnurk: „Ich möchte das bald erledigt wissen. Du kennst die Optiker hier …“ „Es sind drei“, wirft Schnurk ein. „Schön, du besuchst sie also anschließend, und du“, Baltrock blickt den Leutnant an, „solltest noch einmal Pauli und Geiger hören. Es ist nach wie vor unklar, wo sie die Aktentasche herhaben, das muß doch festzustellen sein. Vielleicht könnten sie sogar ein Alibi für die fragliche Nacht angeben.“ Er sieht flüchtig zum Fenster hinaus. „Unser Verdacht ist dünn geworden; offen gestanden, ich habe von beiden einfach nicht den Eindruck, daß sie die Täter sein könnten; das entspricht nicht ihrem Wesen.“ 276
Zeitfuchs scharrt mit dem Fuß. Der Hauptmann schaut schnell zu ihm hinüber, er hebt beschwichtigend die Hand. „Ich weiß, ich weiß, du bist da anderer Meinung! Nur darfst du dich bei der Nachprüfung davon ebensowenig beeinflussen lassen wie ich mich durch meine Ansicht. Immerhin sind noch weitere Möglichkeiten offen – dieser Daumenabdruck beispielsweise ist nicht identifiziert, und nach jenem Romeike läuft die Fahndung noch immer.“ Er schließt kurz ab: „Verlieren wir keine Zeit!“ 3 Gerade weil Pauli intelligent ist, erkennt er zweifellos die Gefahr deutlich, in die ihn die Anschuldigung von Zeitfuchs bringt, und eine so arrogante, mokante Miene er immer aufsetzen mag, wenn ihm der Zeitpunkt dafür geeignet erscheint – untergründig ist in ihm Angst, das weiß der Leutnant, das weiß der Hauptmann. Und sie wissen auch, daß es trotz der harten Gegenwehr einfacher ist, einen intelligenten Verbrecher zu vernehmen als einen dumpfen. Der Dumpfe wird sich auch dann aufs Leugnen zurückziehen, wenn seine Lage aussichtslos geworden ist, er wird Zusammenbrüche vormimen, wird sentimental werden und an das Gemüt des Kriminalisten appellieren; aber er wird nicht gestehen – es sei denn, er wird überrumpelt. Der Intelligente hingegen wird das, was ihm unzweifelhaft und unbestreitbar nachgewiesen ist, eingestehen – er wird allerdings freiwillig keinen Millimeter des Bodens preisgeben, den er noch mit einiger Aussicht auf Erfolg zu verteidigen vermag, er wird auf der Hut sein, wird Argumente vorbereiten, um Überraschungen 277
vorzubeugen, er hat genügend Phantasie, um sich vorzustellen, auf welchen Wegen ihm nachgespürt werden könnte. Im Grunde genommen ist es ein ziemlich verzweifelter Versuch des Leutnants, Pauli nach jener Gegenüberstellung doch noch zu einem Geständnis zu bewegen, und das weiß er auch. Baltrock muß allerdings bemerken, daß Pauli, wie er ihnen jetzt gegenübersitzt, eher einen verbindlichen Eindruck macht als einen abwehrenden. Das kann er sich nicht erklären. „Das war also die Frau“, sagt Zeitfuchs gerade, „der Sie und Geiger in jener Nacht begegnet sind.“ „Hat sie uns denn wiedererkannt?“ fragt Pauli. Zeitfuchs überhört die Frage. „Das ist die Nacht vom zweiten auf den dritten November“, erklärt er, „von einem Montag auf einen Dienstag gewesen. Sie sind mit dem Motorrad aus Richtung Mühlen gekommen, hatten irgendeine Störung, anscheinend jedenfalls, haben kurz vor der Bushaltestelle gestoppt. Dort wartete die Frau, und sie hatte genügend Zeit, Ihnen zuzusehen.“ Darauf geht Pauli nicht ein. Er wiederholt seine Frage: „Hat die Frau wirklich behauptet, sie habe uns wiedererkannt?“ Und damit zwingt er Zeitfuchs zu einer halben Kapitulation. „Mit Sicherheit nicht“, erwidert er, „aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit!“ „Sehen Sie!“ sagt Pauli erleichtert, aber ohne jeden Triumph in der Stimme. „Und ich kann nur wiederholen: Ich habe mit der Sache nichts zu tun. Ich bin auch mit Geiger nicht bei dieser PGH gewesen. Ich weiß nicht, woher Geiger die Aktentasche hat, ich weiß nur, daß ich ihm so etwas nicht zutraue.“ 278
„Nun gut“, sagt der Leutnant, „aber wo haben Sie denn dann in jener Nacht gesteckt? Können Sie mir wenigstens das verraten?“ „Nein“, antwortet Pauli, „und zwar einfach deshalb nicht, weil ich mich nicht erinnern kann!“ „Vielleicht“, meint Zeitfuchs abschließend, „kann sich Geiger besser entsinnen, und möglicherweise wissen wir dann auch, wo Sie waren!“ Als Geiger vorgeführt wird, scheint er den Zusammenbruch vom Vortag überwunden zu haben; schließlich hat auch er bemerkt, daß die Gegenüberstellung erfolglos geblieben war. Seine wasserblauen Augen aber sind immer noch ängstlich auf Zeitfuchs geheftet. Zeitfuchs betrachtet ihn nachdenklich. Er sagt: „Also zu Ihnen, Geiger! Ich kann Ihnen zwei Tatsachen mitteilen. Erstens: Die Frau, der wir Sie gegenübergestellt haben, hat Sie nicht wiedererkannt, aaaber …“, er dehnt das Wort bedeutungsvoll, „sie glaubt Pauli wiederzuerkennen, und daraus folgt, daß Sie beide tatsächlich in jener Nacht mit dem Motorrad von Mühlen kamen. Zweitens: Pauli behauptet steif und fest, er sei unschuldig – und das bedeutet, daß er Sie mit diesem Mord belastet. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Wenn Geiger in der Zwischenzeit ein wenig Mut gefaßt haben mochte – er bricht in diesem Augenblick wieder völlig zusammen. Er ist nicht so gelassen, nicht so intelligent, daß er des Leutnants Worte genau abzuwägen vermöchte, er hört nur heraus: Die Frau behauptet, ihm und Pauli begegnet zu sein; Pauli behauptet, er habe Nottrodt ermordet. Er kann nur ein „Nein“ hervorstoßen, dabei bleibt es, und sogar, als Zeitfuchs ihn nochmals fragt, ob er die Aktentasche wirklich besessen habe, jammert er: „Nein!“ 279
Zum ersten Male sieht Zeitfuchs ratlos aus. Was soll er mit diesem geschüttelten Bündel Mensch anfangen? Da hält Baltrock es für notwendig, sich einzuschalten. Er erkennt, daß Zeitfuchs sich in diesem Verhör verfahren hat und nicht weiterkommt, also greift er rasch ein, und mit betont leiser und ruhiger Stimme redet er dem Blondschopf zu: „Hören Sie, Geiger, wir kennen nur die eine Aufgabe: die Wahrheit zu erforschen und den wirklich Schuldigen den Gerichten zu überliefern. Wir werden Sie nicht länger fragen, wenn wir alles Notwendige festgestellt haben, und falls Sie unschuldig sind, wird Ihnen auch nichts passieren. Haben Sie das verstanden?“ Geiger schnuffelt ein halbersticktes Ja. „Der Genosse Leutnant“, sagt Baltrock, „hat Sie gestern ermahnt, sich daran zu erinnern, wo Sie sich in der Nacht vom Zweiten zum Dritten aufgehalten haben. Ist Ihnen das eingefallen?“ Geiger schüttelt den Kopf. „Nun gut“, sagt der Hauptmann geduldig, „versuchen wir es gemeinsam. In der Nacht war ein sehr schweres Gewitter, vielleicht hilft das Ihrer Erinnerung. Noch eine zweite Frage: Sie haben in der Vernehmung behauptet, Sie hätten diese Aktentasche gefunden. Wo war das?“ Jetzt kommt die Antwort sofort: „Bei den Neubauten, am Rande von einer Baugrube.“ „War jemand dabei, als Sie die Tasche fanden?“ Geiger schüttelt den Kopf. „Ich war allein.“ „Und haben Sie jemandem davon erzählt? Vielleicht einem Arbeitskollegen oder dem Vater, den Geschwistern? Haben Sie Pauli davon erzählt?“ Geigers Augen sind unstet. „Ich habe ja niemanden, dem ich so was erzählen kann“, sagt er, „und der Pauli, der hört sich das gar nicht an.“ 280
„Hat er denn gar nichts gesagt, als Sie plötzlich mit dieser Tasche auftauchten? Sie muß ihm doch aufgefallen sein?“ „Er hat nur gesagt: Das ist ja ein edles Stück! Und daß ich mir eine andere kaufen soll, wenn wir das Geld haben.“ „Das war alles?“ „Ja.“ Der Hauptmann fragt weiter: „Was haben Sie denn bei den Neubauten gemacht, als Sie die Tasche dort fanden?“ „Da habe ich ein Radio repariert.“ „Bei wem?“ „Schöller, Block zwei.“ „Wir werden das nachprüfen, Geiger“, schließt Baltrock, „und denken Sie noch einmal in aller Ruhe darüber nach, wo Sie in jener Nacht waren!“ Er fügt freundlich hinzu: „Und wenn Sie unschuldig sind, brauchen Sie keine Angst zu haben, wir sind keine Menschenfresser.“ Als der Leutnant mit dem Hauptmann wieder allein ist, sagt er, und es kostet ihn sichtlich Überwindung: „Den habe ich falsch angepackt! Du bist eben doch der bessere Menschenkenner.“ Baltrock erwidert gelassen: „So sammelst du auch deine Erfahrungen und machst es später besser.“ Er geht darüber hinweg, er sagt: „Ich glaube, Geigers Angaben stimmen. Sie decken sich in gewisser Weise mit der Auskunft, die wir am HO-Kiosk erhalten haben.“ In diesem Augenblick kehrt Schnurk zurück, sein Gesicht ist von der Kälte gerötet. Zum ersten Male und voller Erstaunen findet Baltrock darin nicht nur den Ausdruck von Diensteifer, sondern auch von Triumph. Schnurk tritt zu den beiden Schreibtischen. Er legt seine 281
Aktenmappe auf die Platte und stützt sich mit den Händen darauf. Er wippt auf den Zehnspitzen, gerade so, als wolle er größer erscheinen. Oberleutnant Schnurk sagt: „Was, glaubt ihr, habe ich festgestellt?“ Er erwartet keine Antwort. „Zur Tatzeit“, sagt er und hebt die Stimme, „hat Pauli noch eine Zylinderbrille getragen! Erst drei Tage später wurden ihm Haftschalen angepaßt!“
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12. KAPITEL
1 Für Leutnant Zeitfuchs war es ein Triumph gewesen. Überraschend fand er seine Annahme bestätigt. Unvermutet verstärkte sich die Wahrscheinlichkeit, daß Pauli in jener Nacht doch mit Geiger auf dem Motorrad unterwegs gewesen war; und daß er verschwieg, eine so auffällige Brille getragen zu haben, sprach für seine Schuld. Hauptmann Baltrock mußte gestehen, daß diese Version vieles für sich hatte. Sie widerstrebte ihm, denn er hatte bisher angenommen, Pauli bekenne sich ohne Umschweife zu seinen Taten. Daß er seine Brille nicht erwähnt hatte, paßte nicht in das Charakterbild, das sich der Hauptmann von ihm gemacht hatte. Er würde sich wohl korrigieren müssen, meinte Baltrock. In diesem Augenblick beendet Oberleutnant Schnurk seinen detaillierten Bericht; es ist keinerlei Zweifel möglich, Pauli hat noch drei Tage nach dem Mord eine Zylinderbrille getragen und ist danach auf Haftschalen umgewechselt. Die Auskunft des Optometristen ist eindeutig. Zeitfuchs hört auf, an seiner Lippe zu zerren, er sagt: „Und das verstärkt den Verdacht! Warum plötzlich Haftschalen? Offenbar, weil er fürchtete, wiedererkannt zu werden!“ „Es gibt zwei Möglichkeiten“, sagt Schnurk stramm und bedächtig zugleich, „wir können nochmals eine Gegenüberstellung vornehmen. Wir können aber Pauli auch sofort mit dieser Tatsache konfrontieren und hören, was er dazu sagt, und brauchen die Gegenüberstellung nur vorzunehmen, wenn er leugnet.“ 283
„Gegenüberstellung!“ sagt Zeitfuchs sofort. „Dann muß er seine Ausflüchte lassen!“ „Das halte ich für falsch“, widerspricht Baltrock. „Falls Frau Ratzke sich ihrer Sache danach immer noch nicht sicher ist – was dann? Dann haben wir Paulis Widerstand neue Nahrung gegeben. Natürlich wird er nicht bestreiten, diese Brille getragen zu haben, aber er wird sagen: ‚Na, wenn schon? Viele Menschen nehmen eben jetzt Haftschalen.‘ Machen wir es aber umgekehrt, dann haben wir das Ratzke-Eisen immer noch im Feuer.“ Mit einem Anflug von Spott sagt Zeitfuchs: „Du scheinst deine Ansicht geändert zu haben. Bisher warst du doch der Meinung, der Pauli sei so ein lieber offener Bursche?“ Er verwischt das aber sofort und fügt hinzu: „Auf jeden Fall ist es wohl so richtiger. Also, auf nach Sankt Pauli!“ Die spöttische Kritik steckt der Hauptmann gelassen ein. Sie stimmt, er ist tatsächlich in seiner Ansicht über den jungen Mann schwankend geworden; aber die letzte Bemerkung ärgert ihn. Das ist der Zeitfuchs, den er nicht mag. Wenig später wird Pauli hereingeführt. Zeitfuchs bietet ihm eine Zigarette an, gibt dem Verwunderten sogar Feuer und bemerkt: „Rauchen beruhigt manchmal …“ Pauli sieht ihn kurz und sehr wach an, schweigt jedoch dazu. „Der Genosse Oberleutnant“, beginnt Zeitfuchs langsam, „möchte Ihnen etwas erzählen, und wir drei, Herr Pauli, möchten gern hören, was Sie wohl dazu zu sagen haben!“ Auch darauf schweigt Pauli, er schaut nur Schnurk zu, wie der sich einen Stuhl an den Tisch zieht, sich neben den Hauptmann setzt und, kerzengerade aufgerichtet, das Ergebnis seiner Ermittlungen darlegt. 284
Baltrock beobachtet Pauli, der die Augen niedergeschlagen hat und seiner Hand zusieht, die die Zigarette im Ascher abstäubt. „Es erübrigt sich wohl“, sagt dann Zeitfuchs knapp, „zu fragen, ob Sie jener Pauli sind, der sich die Haftschalen anpassen ließ!“ „Ja“, sagt Pauli und sieht immer noch seiner längst abgestaubten Zigarette zu, „der bin ich natürlich.“ „So natürlich finde ich das nun wieder nicht“, fährt Zeitfuchs fort, „jedenfalls haben Sie uns davon nichts verraten!“ Nur kurz sagt Pauli: „Warum denn auch?“ Und da der Leutnant wartet, daß er etwas hinzufüge, sagt er schließlich noch: „Mich hat niemand danach gefragt!“ „Stimmt“, erwidert Zeitfuchs sofort, „aber müssen wir alles aus Ihnen herausfragen? Sollten Sie nicht von sich aus dazu beitragen, den Fall zu klären? Sie hatten doch keine Ursache, die Tatsache zu verschweigen, oder?“ Pauli beginnt widerspenstig zu werden, er sagt: „Ich hatte auch keine Ursache, darüber zu reden!“ „Die hatten Sie in dem Augenblick der Gegenüberstellung, als wir Ihnen die Motorradbrille aufsetzten. Da mußten Sie wissen, daß es auf so etwas ankäme!“ entgegnet Zeitfuchs. „Und ich kann Ihnen auch sagen, warum Sie sich entschlossen haben zu schweigen: Sie wußten oder nahmen zumindest an, daß Sie beobachtet wurden – ob nun bei dem Mord oder bei dem Einbruch im Radiogeschäft, das ist gleichgültig. Ihnen war klar, daß diese Brille eine sehr auffällige Sache ist, und deshalb sind Sie zu dem Optiker gegangen! Mit dieser Vorsichtsmaßnahme hatten Sie völlig recht; denn inzwischen erinnerte sich Frau Ratzke daran, daß einer der beiden Motorradfahrer eine Zylinderbrille trug!“ 285
„Aber es war keine Vorsichtsmaßnahme!“ verwahrt sich Pauli ruhig. „Mich hat diese Brille schon lange gestört. Ich habe verheerend ausgesehen, so richtig glotzäugig! Ich habe das nicht vertragen. Überzeugen Sie sich doch: Auch für den Personalausweis habe ich mich ohne fotografieren lassen. Außerdem war mir die Brille bei den Rundfunkarbeiten hinderlich, wo es auf Millimeter ankommt, ich hatte immer das Gefühl, ich hätte zwei riesige Vergrößerungsgläser vor den Augen, Und dann habe ich die Anzeige wegen der Haftschalen in der Zeitung gelesen; am gleichen Tage bin ich zu Kneefe gegangen und habe mir die Schalen anpassen lassen. Das ist alles, und das ist die Wahrheit.“ Pauli sagt es bestimmt, und der Hauptmann hat den Eindruck, es sei aufrichtig. Er kann dem jungen Mann nachfühlen, daß die Zylinderbrille ihn belastet haben muß. Zeitfuchs lehnt sich zurück, er faltet die Hände und läßt die Daumen in törichtem Spiel umeinanderkreisen, rechts herum, links herum, rechts herum, endlich sagt er mit leisem Seufzen: „Schade, ich wollte Ihnen eine Gelegenheit geben, sich offen zu der Tat zu bekennen. Sie sind doch nicht unklug, Pauli, es müßte Ihnen einleuchten, daß ein Geständnis sich nur vorteilhaft für Sie auswirken kann, und Sie müßten sich auch sagen, daß wir zu viele Beweise für Ihre Schuld in der Hand haben, als daß Sie uns von dem Gegenteil überzeugen könnten.“ Er macht wieder eine Pause, er wendet sich nochmals Pauli zu: „Wollen Sie nicht doch Ihr Gewissen erleichtern?“ Da Pauli darauf hartnäckig schweigt, sagt Zeitfuchs zu Baltrock: „Genosse Hauptmann, dann müssen wir nochmals eine Gegenüberstellung mit Frau Ratzke veranlassen.“ 286
„Das ist unnötig“, sagt unerwartet Pauli mit brüchiger Stimme. Er räuspert sich. Alle drei Kriminalisten sehen überrascht zu ihm hinüber. „Was soll das heißen?“ fragt Zeitfuchs. „In jener Nacht ist ein schweres Gewitter gewesen“, Pauli hüstelt die Kehle frei, „das habe ich mir überlegt. Und in der Nacht habe ich Geiger tatsächlich in Mühlen mit dem Motorrad abgeholt, es kann gut sein, daß wir dabei der Frau begegnet sind!“ „Aha!“ sagt der Leutnant und greift unwillkürlich nach dem Bleistift. „Und was weiter?“ „Nichts weiter“, erwidert Pauli, „wir sind zu mir nach Hause gefahren.“ 2 An diesem Abend ist Zeitfuchs vergnügt und hungrig. In bester Stimmung bestellt er beim Wirt der „Nebelkrähe“ ein paniertes Schweineschnitzel, und er hätte nicht übel Lust, eine Flasche Wein zu trinken. Aber dann läßt er es doch, Baltrock scheint nicht darauf erpicht, ihm zuzuprosten, er sitzt so schweigsam da, zu schweigsam, findet der Leutnant. Doch das Schnitzel soll ihm schmecken! Er wirft einen flüchtigen Blick zu Baltrock hinüber. „Sieht gut aus! Möchtest du nicht auch?“ Doch der schüttelt nur den Schädel – na, denn nicht! „Das war ein erfolgreicher Tag!“ sagt Zeitfuchs kauend. „Findest du?“ fragt der Hauptmann. „Sicher“, erwidert Zeitfuchs und setzt das Glas Bier fest ab, „wir sind ein entscheidendes Stück weitergekommen. Wir werden den Fall bald abschließen können, davon bin ich überzeugt. Selbst wenn die beiden nicht gestehen sollten, besitzen wir genügend Indizien: Wir 287
haben die Aktentasche, wir haben die Zeugin, die die beiden gesehen hat; unter dem Druck der Tatsachen mußten sie zugeben, daß sie tatsächlich in der Nähe des Tatorts waren. Die Uhrzeit stimmt ebenfalls überein, wenn wir die Augenblicke des Schreis, des Gewitterausbruchs und der Abfahrt des Omnibusses als Fixpunkte benutzen; dazu kommt die Art der Tatausführung, die Anwendung von Gewalt in allen drei Fällen; das Motiv ist gleichfalls dasselbe, sie wollten Geld, Bargeld, nicht wahr … du wirst erleben, sie können sich diesen Beweisen nicht entziehen, ich nehme an, Geiger wird als erster gestehen, aber es könnte natürlich auch sein, daß Pauli die Aussichtslosigkeit seiner Verteidigung einsieht.“ „Ich gebe zu“, sagt Baltrock bedächtig, „das ist erheblich. Andererseits kann nicht widerlegt werden, daß Geiger die Tasche gefunden hat; tatsächlich hat er in dem Neubau die Reparatur vorgenommen, das haben wir nachgeprüft …“ „Wer sagt denn, daß er die Tasche dort gefunden hat? Doch nur er selbst!“ „Richtig. Ich gebe auch zu, daß ihre Behauptungen Schutzlügen sein können; aber bevor wir das unterstellen, müssen wir davon ausgehen, daß sie der Wahrheit entsprechen können; denn wir können das Gegenteil nicht beweisen. Schau einmal, da ist nun diese Nachtfahrt. Pauli sagt, jetzt könne er sich daran erinnern – wir sagen: Warum nicht früher? Aber nach ein paar Tagen kann man häufig nicht mehr mit Sicherheit Auskunft darüber geben, was man dann und dann getan oder gelassen hat, dazu kommt die Aufregung der Verhaftung. Wir sagen: Hinter der Omnibushaltestelle seid ihr abgebogen und habt diesen Raubmord verübt – einer von 288
euch beiden jedenfalls. Pauli und Geiger sagen: Wir sind durchgefahren, wir hatten eine Störung am Vergaser, und dann haben wir wegen des Gewitters gemacht, daß wir davonkamen. Wir aber haben niemanden, der die beiden oder zumindest einen wirklich unmittelbar bei der PGH gesehen hätte.“ „Du würdest einen ganz guten Verteidiger abgeben“, sagt Zeitfuchs, „nur muß ich dich daran erinnern, welche Märchen uns Pauli da wieder aufgetischt hat, als es um das ging, was nach der Begegnung mit Frau Ratzke geschehen ist.“ Darauf schweigt Baltrock zunächst. Ja, er erinnert sich an jene Szene. Zeitfuchs hatte Pauli überlegen angesehen und gesagt: „Millimeter um Millimeter nähern wir uns der Wahrheit. Da nützt kein Verschleiern mehr. Nun haben Sie gestanden, daß Sie unterwegs waren mit Geiger. Sie haben gestanden, daß Sie an der Haltestelle der Frau begegnet sind. Ich halte Ihnen vor, daß Sie keine Störung am Motorrad hatten, sondern daß Sie sich nur vergewissern wollten, ob die Frau dort tatsächlich auf den Omnibus wartete, Sie wollten nämlich später in der PGH nicht überrascht werden!“ Pauli schüttelte resigniert den Kopf, er sagte: „Ich habe doch erklärt, daß ich Geiger zum Fernsehen abgeholt habe. Die Frau an der Haltestelle habe ich gesehen. Aber wir sind sofort weiter nach Kreßbergen gefahren, und als wir in meinem Zimmer den Apparat anstellten, brach das Gewitter los; wir mußten wieder abschalten, wir haben uns noch so geärgert. Aber es ist unmöglich, uns mit dem Mord in Zusammenhang zu bringen; denn die Frau hat ausgesagt, sie hat den Schrei gehört, nachdem das Gewitter ausgebrochen war. Und da waren wir bereits in Kreßbergen.“ 289
„Behaupten Sie!“ erwiderte Zeitfuchs „Das behaupte ich nicht, das war so!“ „Wir wollen das in Ruhe nachprüfen“, schlug Zeitfuchs vor, „und zwar gemeinsam!“ Er entfaltete das Weg-Zeit-Diagramm, das er inzwischen bis Kreßbergen erweitert hatte. Er sagte: „Der Bus war um dreiundzwanzig Uhr sieben an der Haltestelle. Etwa fünf Minuten zuvor hatte der Regen begonnen; das ist die Aussage von Frau Ratzke. Sie stimmt auch, denn der Busfahrer hat erklärt, er sei kurz nach seiner Abfahrt in Mühlen um dreiundzwanzig Uhr in diesen Regen geraten. Wir müssen also als richtig unterstellen, daß der Mord um dreiundzwanzig Uhr zwei erfolgt ist, unmittelbar nach dem ersten Regenguß. Nun behaupten Sie, noch vor dem Gewitterregen in Kreßbergen in Ihrer Wohnung gewesen zu sein. Sie benötigen mit dem Motorrad von der Haltestelle bis dorthin etwa fünfzehn Minuten, stimmt das?“ Pauli überlegte. „Ja“, gab er zu, „so lange habe ich mit der alten Mühle gebraucht.“ „Schön“, meinte Zeitfuchs, „bis dahin sind wir uns einig. Wenn aber der Regen um dreiundzwanzig Uhr zwei niederging und Sie dann noch etwa fünfzehn Minuten Fahrzeit hatten, müßten Sie nach Adam Riese spätestens zweiundzwanzig Uhr siebenundvierzig an der Haltestelle gewesen sein – ich sage absichtlich spätestens, denn Frau Ratzke behauptet, daß dann noch Zeit verging, bis es regnete. Ich unterstelle jedoch den für Sie günstigsten Fall. Das würde aber bedeuten, daß Frau Ratzke von der Begegnung mit Ihnen bis zur Ankunft des Busses noch zwanzig Minuten hätte warten müssen – und das widerspricht allen ihren Aussagen. Glauben Sie nicht, Pauli, wir wären da leichtfertig gewesen, wir 290
haben Frau Ratzke immer wieder auf die Bedeutung ihrer Worte hingewiesen.“ „Dann hat Sie sich eben trotzdem geirrt“, sagt Pauli, leicht durcheinandergebracht nun doch, „es kommen ja richtige Justizirrtümer durch falsche Zeugenaussagen vor.“ „Auch das will ich als möglich unterstellen. Aber Sie werden doch hoffentlich nicht die Richtigkeit Ihrer eigenen Angaben bezweifeln?“ „Nein“, erwiderte Pauli, „selbstverständlich nicht!“ „In Ordnung, dann sieht die Sache so aus“, legte Zeitfuchs dar, „die Sendung, zu der Sie Geiger abholten, begann um dreiundzwanzig Uhr zehn. Sie sind, wie auch Geiger bestätigte, gerade noch zum Vorspann zurechtgekommen, waren also kurz nach dreiundzwanzig Uhr zehn in Ihrer Wohnung. Ist das richtig?“ Pauli nickte. Offensichtlich begriff er nicht, worauf Zeitfuchs hinauswollte. Der fuhr mit dem Finger das Diagramm entlang, rutschte sozusagen von Kreßbergen zurück zur Haltestelle und sagte dabei: „Fünfzehn Minuten fuhren Sie, zurückgerechnet waren Sie demnach um zweiundzwanzig Uhr fünfundfünfzig oder etwas später an der Haltestelle …“, jetzt hob Zeitfuchs die Stimme und faltete das Diagramm wieder zusammen, „genau fünf Minuten bevor der Mord passierte, Pauli! Und das nach der Zeitrechnung, die Sie selber bestätigt haben! Wir kommen auf die gleiche Zeitrechnung, die wir nach den Angaben von Frau Ratzke angestellt haben. Wie wollen Sie das nun wieder erklären?“ Zum ersten Male war Pauli ratlos, er blickte Zeitfuchs an, blickte Baltrock an, seine Augen irrten zum Fenster, über die Schreibtischplatte, er fuhr sich über das Gesicht, zuckte die Schultern … 291
„Sie haben das Wort!“ sagte Zeitfuchs kühl. „Ich bin gespannt, wie Sie das erklären wollen!“ Er wartete; endlich sagt Pauli ohne Überzeugung: „Aber es war doch so! Und Geiger sagt auch …“ „Geiger!“ unterbrach ihn Zeitfuchs. „Geiger! Mit Geiger können Sie Ihre Aussage längst abgestimmt haben, als Sie noch nicht verhaftet waren. Nein! Was Sie jetzt meinen, das wollen wir wissen!“ Mit Pauli ging unvermutet eine Veränderung vor sich. Er war plötzlich nicht mehr der klarblickende junge Mann, aufmerksam und ein bißchen überheblich, sein Gesicht veränderte sich, es wurde weich; er äußerte nichts, sah auch keinen der beiden Kriminalisten an, sondern stützte lautlos den linken Arm auf den Schreibtisch und legte die Hand so an die Stirn, daß sie die Augen leicht überdachte. Er gab keinen Laut von sich, saß nur da und rührte sich nicht mehr. Zeitfuchs sagte: „Aber es war doch so – nein, Pauli, es war eben nicht so! Es kann nicht so gewesen sein, und das haben wir Ihnen einwandfrei nachgewiesen! Wenn Sie in den anderen Punkten nicht gelogen haben – hier sagen Sie die Unwahrheit, und der Grund ist einzusehen: Vor nichts haben Sie Angst, aber einen Mord einzugestehen, davor fürchten Sie sich doch!“ Er wartete. Es kam keine Antwort. Baltrock sah plötzlich, wie unter Paulis vorgehaltener Hand nacheinander zwei Tränen schwer auf die Tischplatte fielen, gleichzeitig drückte Pauli die Finger an die Augen, als wollte er weitere Tränen ersticken. Unwillkürlich sagte der Hauptmann zuredend: „Aber Pauli!“ Doch Zeitfuchs packte zu. Schneidend sagte er: „Glauben Sie nicht, daß Sie uns mit Tränen weichmachen kön292
nen! Dazu haben Sie zuviel auf dem Kerbholz. Bedenkenlos haben Sie bei Besteller ausgeräumt, planmäßig haben Sie den schwersten Tresoreinbruch vorbereitet, den wir seit zwei Jahrzehnten im Bezirk hatten – wenn nicht überhaupt in der ganzen DDR. Ihnen traue ich auch die Tat an Nottrodt zu. Sie wollen sich nicht dazu bekennen. Nun gut, ich habe Sie oft genug aufgefordert, Sie eindringlich vor den Folgen gewarnt. Wir werden der Staatsanwaltschaft das Ergebnis unserer Ermittlungen überreichen, und dort wird entschieden, ob Anklage wegen Totschlags gegen Sie und Geiger erhoben werden wird.“ Zeitfuchs war aufgestanden und ließ Pauli abführen. – In der Erinnerung an diese Szene sagt Baltrock: „Ja, Pauli konnte uns wirklich keine einleuchtende Erklärung geben …“ Zeitfuchs verzieht den Mund, er sagt: „Er könnte schon, aber dann müßte er ein Geständnis ablegen!“ „Und trotzdem“, fährt der Hauptmann fort, als habe er das nicht gehört, „muß ich dir sagen: So verhalten sich Leute nicht, die jemanden erschlagen haben. Zumindest Geiger wäre angesichts der Beweise, die du gegen ihn vorgebracht hast, zusammengeklappt, dieser weiche, unfertige Mensch. Der hätte gestanden, wäre er daran beteiligt gewesen, davon bin ich überzeugt!“ „Paulis Einfluß …“, wirft Zeitfuchs ein. Baltrock schüttelt den Kopf. „Der Einfluß Paulis würde nicht so lange nachwirken. Anfangs ja, das gebe ich zu, da hätte sich Geiger an eine Absprache gehalten, wenn es eine gab. Aber nach den vielen Vernehmungen und derart in die Enge getrieben? Nein, er hätte gestanden, und er hätte alle Schuld auf Pauli gehäuft. So, denke ich, würde ein Mensch wie Geiger handeln. Und was Pauli anbelangt …“ 293
„Da bin ich aber gespannt!“ meint Zeitfuchs. „Der ist hartgesotten!“ „Ich bezweifle, ob man es so nennen soll“, sagt Baltrock, „ich würde eher meinen, Pauli ist auf eine ganz andere Weise unfertig als Geiger. Seine Intelligenz ist nicht zu bezweifeln, sie liegt vermutlich sogar über dem Durchschnitt. Aber eher noch stärker entwickelt ist sein Geltungsbedürfnis; wahrscheinlich infolge der häuslichen Verhältnisse; alle Geschwister haben Karriere gemacht, Karriere ist das Zauberwort seines Vaters, Pauli hat das Abitur gut bestanden, er begann zu studieren, er sah vor sich viel Geld, einen Wagen, was weiß ich – und plötzlich genügte er den Anforderungen nicht und wurde Lehrling mit einem vergleichsweise geringen Entgelt. Da entstand dann diese merkwürdige Rechtsvorstellung: er habe einen Anspruch, er dürfe sich nehmen, was ihm vorenthalten werde, die Gesellschaft schulde es ihm – das ist doch eine Haltung, wie wir sie bei vielen lebensunerfahrenen Jugendlichen finden, vielleicht nicht so stark ausgeprägt. Auf dieser Grundlage ist es zu Straftaten gekommen, und nun muß ich dir eines sagen: Ich glaube, daß gerade aus diesen seltsamen Begriffen heraus, diesem Geltungsbedürfnis, dieser Verletzlichkeit auch, Paulis Wahrheitsliebe entstand. Das ist nämlich keine schlichte Wahrheitsliebe. Er protzt damit, er spielt sich damit auf! Er hat doch bei den ersten Vernehmungen mehr ausgepackt, als er nötig gehabt hätte, er hat mit nichts hinter dem Berge gehalten. Ich glaube einfach nicht, daß ein Kerl, der so beschaffen ist, gerade und krumm zugleich, daß der plötzlich einen Vorhang zuzieht und sagt: So, von hier an lüge ich, was das Zeug hält, mir ist es egal, ob ich glaubwürdig bin oder nicht, ich lüge. Jemand, der sich in bestimmte Vorstellungen so verrannt 294
hat wie dieser Pauli, der hält durch – auch dann, wenn es um einen Totschlag geht!“ „Mit andern Worten“, sagt Zeitfuchs, „du bietest mir hier eine Lektion, mit der du mich von meiner Überzeugung abbringen willst. Aber ich halte mich an die ermittelten Fakten. Was eruiert ist, gilt, solange es nicht widerlegt wird. Wenn du mir den Widerspruch, in den sich Pauli mit seiner letzten Aussage verwickelt hat, auflösen kannst – gut, dann hast du mich überzeugt.“ Die beiden Kriminalisten sehen sich an; sie finden jetzt keine Brücke, über die sie zueinander gehen könnten. „Ich bin rechtschaffen müde“, bricht Zeitfuchs das Gespräch ab und verwendet absichtlich einen beiläufigen Ton, „ich gehe schlafen. Kommst du mit hinauf?“ In der gleichen Art erwidert Baltrock: „Ich brauche noch ein Glas Bier zur nötigen Bettschwere!“ Zeitfuchs pocht zum Abschied auf den Tisch, als säße da eine große Runde. Er mag im Augenblick Baltrock nicht die Hand geben. Der nickt ihm zu. 3 Zwei Stunden später pocht es an die Tür des Zimmers von Zeitfuchs, es ist ein behutsames Pochen, kaum hörbar. Zeitfuchs liegt lang ausgestreckt auf der rechten Seite, hat den Kopf aufgestützt und liest ein Buch, der Schein der Nachttischlampe fällt schräg und schattenverwischt über die Seiten. Er hebt den Kopf und lauscht. Einige Zeit bleibt es still, dann rührt sich etwas hinter der Tür, und nochmals kommt dieses behutsame Pochen. Zeitfuchs fragt: „Wer ist da?“ „Ich bin es!“ Das ist Baltrocks Stimme. 295
In einer ihm selbst unerklärlichen Hast klappt der Leutnant das Buch zu, schiebt es auf den Nachttisch, schiebt sich selbst aus dem Bett, steht da in. seinem blaugestreiften Schlafanzug, wirft im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel und streicht mit beiden Händen die verwirrten Haare zurück, geht zur Tür, dreht heftig den Schlüssel herum und öffnet. Draußen – der Gang ist nicht erleuchtet. Nur im dünnen schalen Licht der Nachttischlampe, das durch den Türspalt fällt, erkennt Zeitfuchs den Hauptmann. Er begreift so wenig, daß er die Tür nicht weiter öffnet und nur fragt: „Ich denke, du schläfst?“ Baltrock sagt: „Ich möchte dich ein paar Minuten sprechen.“ Der Leutnant erwidert in seiner Verblüffung nichts, er öffnet die Tür und schließt sie hinter Baltrock, der steht nun in der Mitte des Raumes, er hat seinen Mantel an, er wirkt massig wie ein Felsblock gegenüber dem langen Zeitfuchs in seinem längsgestreiften Schlafanzug. Baltrock sagt gutmütig: „Lege dich wieder hin, es ist nicht gerade warm hier drinnen.“ Tatsächlich beginnt Zeitfuchs zu frieren, er streckt sich aus und zieht die Decke über den Körper. Der Hauptmann tritt näher. Er entdeckt das Buch auf dem Nachttisch, nimmt es in die Hand, liest aufmerksam den Titel, schiebt es wieder zurück und sagt dabei: „Gorkis ‚Mutter‘? Ich habe es seit meiner Jugend oft gelesen. Man kann daraus viel lernen, wenn man Menschen richtig beurteilen will.“ Der Leutnant horcht auf; es ist das jedoch ohne Anzüglichkeit, beinahe beiläufig gesagt. Baltrock denkt nach, wie er beginnen solle, er möchte den Leutnant nicht kränken. Er sagt: 296
„Unser Gespräch vorhin hat mir keine Ruhe gelassen.“ Zeitfuchs wird aufmerksam, aber er antwortet nicht. „Wir beide waren unterschiedlicher Meinung über die Glaubwürdigkeit von Pauli …“ Der Hauptmann macht wieder eine lange Pause. Innerlich mault Zeitfuchs: Kommt er etwa, um diese Unterhaltung fortzusetzen, das ergibt doch nichts Neues, hat er mir nichts anderes mitzuteilen … Gerade das aber will Baltrock tun. Nachdem Zeitfuchs die Wirtsstube verlassen hatte, grübelte er über den unlösbar scheinenden Widerspruch nach, in den sich Pauli verwickelt hatte. Der junge Mann wußte keine Lösung, obwohl ihm Zeitfuchs die Folgen deutlich dargestellt hatte – sollte er also drauflosgelogen haben und dann bei einer unhaltbaren Lüge geblieben sein? Baltrock kannte das von vielen Vernehmungen, doch in allen diesen Fällen waren die Täter primitiv gewesen, unfähig, logisch zu denken. Leute wie Pauli waren anders. Im Geiste stellte sich der Hauptmann noch einmal das Weg-Zeit-Diagramm vor, fuhr in Gedanken die Wege des Omnibusses, die des Motorrads, prüfte die Zeiten, rechnete – der Widerspruch blieb. Nach einer halben Stunde fühlte er sich müde, und weil die Luft in der Wirtsstube schlecht war – an diesem Abend hockten zahlreiche rauchende Gäste an den Tischen –, stand er auf und trat vor die Tür. Es war nicht kalt, obwohl der Himmel klar über der Erde sich wölbte und die Sterne kristallen darin flimmerten, der Mond, klein und weiß, hatte sich gerade über den Dachfirst des gegenüberstehenden Hauses erhoben; die Luft empfand Baltrock als wohltuend rein und frisch, es wehte ein gleichmäßiger, aber keineswegs heftiger Wind, 297
der ein paar flache silberne Inselwolken schnell über das All schob; und als sie den kleinen Mond erreichten, sah es aus, als beginne er selbst rasch dahinzusegeln, und weil die Wolken unterschiedlich dicht waren, hatte es sogar den Anschein, als tue er dann und wann unregelmäßige, holpernde Sprünge, so daß er dem Scheinwerfer eines Motorrads, das sich über eine Landstraße bewegt, nicht unähnlich war. Der Hauptmann starrte hinauf und schaute diesem hübschen Schauspiel zu, ohne dabei zu denken; er atmete nur die angenehme Luft tief und gleichmäßig in seine Lungen. Unwillkürlich begann er mit den Vorgängen am Himmel zu spielen, nagelte den stürmenden Mond nahe bei einem Schornstein fest, verfolgte die flüchtenden Wolken, bedachte, woher sie kommen mochten, daß sie vielleicht das stumme Mordgelände drüben nahe bei Mühlen überglitten, um über B. und Kreßbergen hinweg zum Chemiewerk zu gelangen und sich dort mit den häßlichtrüben Quellungen des Rauchs zu verbinden. Die Wolken mehrten sich, der Scheinwerfer des Monds holperte hastiger, und plötzlich erwachte Baltrock, er zuckte geradezu zusammen, als habe jemand seinen Namen gerufen. Rasch ging er zu dem Wagen hinüber, ließ ihn an, klappte die Scheinwerfer hell und rüttelte sich durch die engen Gassen bis zur Chaussee, glitt eilends auf ihr nach Kreßbergen. Dort parkte er den Wagen und lief die Straße entlang zu dem winzigen Haus der Papenkorts, der Wind zipfelte die wenigen Blätter, die noch an den Zweigen hingen, auf dem ausgetretenen Bürgersteig siedelten sich Laubwehen, seine Füße verursachten ein feuchtes Rascheln. 298
Alle Fenster waren dunkel, Baltrock zögerte, ob er die alten Leute aufstören könne, dann entschloß er sich doch, stieß das knarrende Pförtchen auf und klingelte an der Haustür. Es dauerte lange, nichts rührte sich, er wußte nicht, ob ihn jemand gehört hatte, er mochte aber nicht ein zweites Mal läuten. Schon wollte er wieder weggehen, als im Fenster über der Haustür Licht sichtbar wurde, die Scheiben klirrten, er hörte Frau Papenkorts dünne Stimme ängstlich: „Ja? Was wollen Sie denn?“ Wenig später stand er im Hausflur Frau Papenkort gegenüber, die ihren Schlafmantel mit der Hand am Halse zuhielt. Er entschuldigte sich und sagte: „Aber die Beantwortung meiner Frage ist so wichtig für Horst Pauli. Sie erinnern sich gewiß daran, daß ein gewisser Nottrodt ermordet wurde?“ Sie nickte. „In dieser Nacht war ein schweres Gewitter, Pauli war unterwegs, um seinen Freund Geiger abzuholen, angeblich wollten sie sich hier irgendeine Fernsehsendung ansehen. Das muß nach dreiundzwanzig Uhr gewesen sein. Können Sie sich daran erinnern, daß die beiden kamen?“ Sie sah ihn nachdenklich an, sie sagte: „Nein, wirklich nicht. Wir gehen um neun schlafen. Wir sind doch alt, wir wachen morgens schon um vier oder fünf auf, und abends schlafen wir tief.“ „Haben Sie das Gewitter gehört?“ Sie schüttelte den Kopf. „Die Leute haben es anderntags erzählt.“ Der Hauptmann fühlte sich schlaff werden, seine Spannung verflog; nur um noch etwas zu sagen, fragte er: „Kennen Sie in der Nähe jemanden, der üblicherweise lange aufbleibt?“ 299
Ihr Gesicht erhellte sich. Sie sagte: „Nebenan ist so ein achtzehnjähriger Bengel, über den klagen die Eltern, weil er sich die Sportsendungen immer bis nach Mitternacht ansieht.“ In Baltrock flammte Hoffnung auf. Jene Sendung war die Übertragung eines Boxausscheids gewesen! Er verabschiedete sich schnell und ging die paar Schritte weiter, hier brauchte er nicht zu warten, es wurde ihm sofort geöffnet, vor ihm stand ein junger Mann mit der ungesund-blassen Hautfarbe eines Halbwüchsigen. Baltrock stellte sich vor, er wurde eingelassen, es war die „gute Stube“, und der Fernseher lief. „Wollen Sie meine Eltern sprechen?“ fragte der junge Mensch. „Wenn mir einer Auskunft geben kann, dann vermutlich Sie!“ erwiderte Baltrock und erläuterte genau, worauf es ihm ankam. „Die Boxveranstaltung wurde um dreiundzwanzig Uhr zehn übertragen. Es geht mir einfach darum, zu wissen, ob Sie sie gesehen haben.“ Der bläßliche Mensch schüttelte den Kopf. „Nein“, murrte er und schielte nach dem Bildschirm, „das war ja mein Pech! Da begann doch gerade das Gewitter!“ „Wie war das?“ fragte Baltrock gespannt. „Begann es – oder hatte es schon begonnen?“ „Die Ansage habe ich noch mitgekriegt“, erwiderte der Jüngling ungeduldig, „dann gab es gleich einen schrecklichen Donner, es muß ganz in der Nähe eingeschlagen haben, und gleichzeitig pladderte der Regen los.“ „Gleichzeitig?“ vergewisserte sich der Hauptmann. „Also nicht früher? Demnach war es so: Die Sendung fing an, da war noch keine Störung, dann platzte das Gewitter hinein, und erst jetzt regnete es?“ 300
„Das sage ich doch!“ erwiderte der junge Mann mit wachsender Ungeduld. Und er begriff nicht, daß der Hauptmann plötzlich kehrtmachte und, schon im Hinausgehen, zurückrief: „Vielen Dank, ich will Sie nicht weiter stören.“ Das ist es, was Baltrock dem Leutnant berichtet, der aufmerksam zuhört, und er setzt hinzu: „Also kann es durchaus so gewesen sein, daß Pauli und Geiger sozusagen vor dem Gewitter hergefahren sind, weil es sich von Mühlen über B. nach Kreßbergen hinzog; sie können zu Hause angekommen sein, kurz bevor Gewitter und Regen losbrachen. Wir müssen einkalkulieren, daß es Westwind gab, der das Gewitter erst nach Kreßbergen hinübertrieb. Das würde sich genau mit Paulis Darstellung decken. Und das heißt: Pauli braucht nicht gelogen zu haben.“ Zeitfuchs schweigt und sieht Baltrock grüblerisch an, er durchdenkt, was der Hauptmann berichtete, und schließlich sagt er und läßt sich in die Kissen zurücksinken: „Du bist der bessere Mensch, du traust den andern Menschen, und deshalb bist du auch der bessere Kriminalist, das muß ich gestehen, wirklich, ich habe das übersehen. Ich hätte davon ausgehen müssen, daß Pauli eben möglicherweise doch die Wahrheit sagt, und ich hätte, wie du, die Umstände besser erforschen müssen. Verdammt noch mal, das muß ich Pauli und Geiger gegenüber wiedergutmachen. Weiß der Himmel, von dir muß ich noch viel lernen!“ „Na ja“, wehrt Baltrock ab; er hat jedoch das Gefühl, ein neues Einvernehmen sei zwischen ihnen hergestellt, und er freut sich darüber. Doch gleich kommt der Hauptmann wieder zur Sache. Einschränkend sagt er: „Allerdings kann es bei Pauli und 301
Geiger so gewesen sein, aber es muß nicht! Es bleibt immer noch denkbar, daß die beiden den Abstecher zur PGH gemacht haben und erst nach dem Mord nach Kreßbergen gefahren sind. Und daß sie dort während des Gewitters ankamen. Freilich“, setzt er rasch hinzu, „diese Version verliert jetzt an Wahrscheinlichkeit, aber in Rechnung gestellt werden muß sie nach wie vor!“ „Das stimmt schon“, sagt Zeitfuchs und starrt an die Decke mit dem unregelmäßigen Wasserfleck, „aber wie immer es sein mag, die Glaubwürdigkeit Paulis ist durch diese Sache jedenfalls nicht erschüttert.“ Er schweigt. Dann dreht er den Kopf zu Baltrock hin und fragt: „Was nun?“ „Tja“, erwidert der Hauptmann, „weiter ermitteln! Wir dürfen auf keinen Fall die noch offenen Spuren unterbewerten. Immer noch ist der Fingerabdruck auf dem Spiegel nicht identifiziert, und die Fahndung nach Romeike läuft. Ich kann mir gar nicht denken, daß der schon nach Berlin gelangt sein soll. Und jetzt zunächst einmal: ausschlafen!“ Er steht auf, greift seine Mütze, schiebt sich zur Tür hinaus, schaut für einen Augenblick zurück. „Gute Nacht!“ Beide wissen, daß morgen der ganze Fall noch einmal überprüft, noch einmal aufgerollt werden muß. Sie wissen nicht, daß sich gerade zu dieser Zeit unweit der „Nebelkrähe“ der Abschnittsbevollmächtigte Moser, aufmerksam geworden durch den gellenden Schrei einer Frau, aufmerksam geworden durch einen huschenden, flüchtenden Schatten, mit ausgebreiteten Armen einem Mann entgegenstellt. „Halt! Stehenbleiben, oder ich schieße!“ 302
13. KAPITEL
1 Das ist ein merkwürdiger Mensch, den Baltrock und Zeitfuchs vorfinden, als sie am nächsten Morgen ausgeruht im Dienstraum erscheinen. Er hatte, wie ihnen berichtet wird, nicht versucht, seine Flucht fortzusetzen. Als würde er von den gellenden Rufen der Frau getrieben und von dem Warnruf des Polizisten angezogen, änderte er die Richtung und lief in die ausgebreiteten Arme des Abschnittsbevollmächtigten hinein. Der packte ihn, fragte, erhielt keine Antwort – wenige Sekunden später war die Frau bei ihnen, atemlos, gehetzt, verwirrt, und erklärte, von Atemstößen durchrüttelt, sie wäre aus dem Kino nach Hause gekommen und hätte gerade die drei Stufen zur dunklen Haustür hinaufsteigen wollen, als sie den Mann wahrnahm, vorerst freilich nur als eine Art lebendigen Schatten. Sie hätte in der Handtasche hastig nach ihren Schlüsseln gesucht, denn ihr wäre plötzlich schrecklich angst geworden, und dabei hätte sie den Mann beobachtet, der sich ihr genähert habe, jedoch wäre er nicht geradewegs auf sie zugekommen, sondern zu einer Gaslaterne gegangen, die wenige Meter von dem Hauseingang entfernt am Straßenrand stünde. Dort war er plötzlich stehengeblieben, als warte er auf etwas, und sie hatte das Ganze schon für harmlos halten wollen, als sie durch merkwürdige dunkle Laute, eine Art Gurgeln, wieder aufmerksam geworden war; sie bemerkte, daß der Mann sich offenbar so unter die Laterne gestellt hatte, daß sie ihn deutlich sehen mußte; in dieser 303
Positur hatte er sein Geschlechtsteil entblößt und zur Schau gestellt. Und plötzlich gewann sie den Eindruck, er wollte sie vergewaltigen, und da hatte sie in ihrem Entsetzen geschrien. Daraufhin hatte Moser den Mann vorläufig festgenommen und ihn und die Zeugin zu dem diensthabenden Offizier in das Kreisamt gebracht. Die Vernehmung des Mannes gestaltete sich außerordentlich schwierig. Zuerst hatte er überhaupt nicht geantwortet, sondern auf alle Fragen, die Entblößung betreffend, nur immer verneinend den Kopf geschüttelt. Sehr bald stellte sich jedoch heraus, daß dies nicht aus Verstocktheit geschah: Der Mann stotterte und war unfähig, auch nur einen zusammenhängenden Satz zu sprechen. Baltrock sieht Zeitfuchs an, und dann hören beide die Worte: „Ich glaube, Genosse Hauptmann, die weiteren Vernehmungen sollten Sie selbst durchführen. Nach dem Fahndungsverlangen ergibt sich nämlich, daß Reiner Romeike von Ihnen gesucht wird.“ 2 Das ist also jener Romeike, der von Nottrodt die zehn Mark geliehen hatte, der angeblich in den Raum Berlin zurück wollte und unversehens ganz in der Nähe wieder auftauchte. Das ist dieser harmlose Mensch, der wegen seines Sprachfehlers von manchen Leuten bemitleidet, von anderen bösartig gefoppt wurde, der aber stets gutartig seine Pflicht erfüllte und den seine Wirtin sogar ein wenig muttchenhaft liebte. Der letzte lose Faden ist angeknüpft, unter diese noch offene Spur wird Zeitfuchs bald sein „Erledigt“ setzen können, die beiden Kriminalisten prüfen noch einmal die 304
Ermittlungsergebnisse und vertiefen sich in die Akten, bevor sie Romeike holen lassen. Routinearbeit, empfindet Zeitfuchs, die rasch erledigt werden muß, bevor sie sich Pauli und Geiger wieder zuwenden und eine endgültige Klärung herbeiführen können. „Wir werden uns vorsichtig an Romeike herantasten müssen“, sagt da Baltrock aus tiefem Nachdenken heraus und schiebt die Papiere beiseite. „Ein Stotterer! Wir dürfen ihn nicht kopfscheu machen!“ Zeitfuchs sieht den Hauptmann erstaunt an, erwidert nichts und läßt Romeike vorführen – und dann steht er in der Tür, ein Mann Ende Zwanzig, bekleidet mit einem grauen Pullover, dessen Ärmel durchgescheuert sind, einer Hose, deren Ränder Schmutzstreifen aufweisen, einem eidottergelben Hemd, dessen Kragen nachlässig unter dem Pulli vorgezerrt ist; das breite Gesicht ist knochig, die Augenbrauenwülste sind ausgeprägt, die braunen Augen hinter der schmalgefaßten Brille unstet, das dunkle Haar ist flüchtig zurückgekämmt. Das wirkt wenig auffällig, der Mann sieht verwahrlost aus, das ist alles. Baltrock hat den Eindruck: Das ist einer, den man zu allem auffordern muß, doch dann gehorcht er, er kann auch zupacken, wenn es darauf ankommt. „So, Herr Romeike“, sagt Baltrock gutmütig und rückt an dem Stuhl, „da wollen wir uns mal unterhalten. Setzen Sie sich dort hin!“ Die Bewegungen, mit denen Romeike zu dem Stuhl geht und sich darauf niederläßt, sind nicht fließend, sind eckig – ungefüge möchte der Hauptmann sie nennen. „Ich denke mir“, sagt Baltrock und lächelt Romeike ermutigend zu, „daß Sie vielleicht gern eine Zigarette hätten!“ 305
Gleichzeitig schiebt er ihm Schachtel und Streichhölzer hin. Romeike nickt, er spricht nicht, er sieht etwas erstaunt aus, nimmt aber gehorsam und beginnt durstig zu rauchen. „Da ist nun dieser Vorfall gestern abend“, beginnt Baltrock, „die Frau hat behauptet, daß Sie sich unanständig benommen haben. Sie haben sich entkleidet, nicht wahr? Wollten Sie der Frau eigentlich etwas tun?“ Der Mann raucht hastiger, er schüttelt den Kopf, Baltrock sieht ihn erwartungsvoll an, gleich erinnert er sich jedoch, daß Romeike Stotterer ist, er blickt weg. Und wirklich redet Romeike, er stößt hervor: „Nein – ich nicht!“ „Sie wollten ihr nichts tun?“ „Nein.“ „Aber Sie haben sich doch ausgezogen!“ Zu Baltrocks Überraschung kommt nach einer kurzen Pause wieder: „Nein!“ Der Hauptmann sieht, wie Romeike die Zigarette zwischen den Fingern wälzt, er muß sehr aufgeregt sein, aber seinen Gesichtszügen ist das nicht anzumerken, die sind wie versteinert. „Sie meinen also“, sagt Baltrock sanft, „daß es nicht stimmt, was die Frau behauptet hat.“ „Stimmt nicht!“ Baltrock nickt vor sich hin, dann erklärt er beiläufig: „Möglicherweise hat sich die Frau in der Dunkelheit getäuscht. Wir werden sie noch einmal genau fragen.“ Damit hat er zunächst einmal dieses Thema beiseite gestellt : es ruft, wie der Hauptmann sehr wohl merkt, so viele heftige Gefühle im Innern des jungen Menschen wach, daß diese Emotionen sich auf die gesamte Vernehmung auswirken könnten, wenn er jetzt darauf 306
bestünde, den Vorfall weiter zu klären. Von diesem Augenblick an ist ihm aber auch klar, wie schwierig es sein würde, Romeike zu einem Geständnis zu bringen, sollte er mit dem Fall Nottrodt zu tun haben. Das ist einer, der Lebensangst hat, und in dieser Angst wird er alles bestreiten, wofür er eine Strafe zu erwarten hat. Nur so erklärt sich, daß er die unwiderlegliche Aussage der Frau bestreitet. Der Hauptmann schlägt die Arme übereinander und sagt: „Sie haben hier in B. in Untermiete gewohnt. Ihre Wirtin ist doch eine gute Frau, und ich habe mich eigentlich gewundert, daß Sie dort ausgezogen sind. Eines möchte ich nun gern wissen: Wo sind Sie seither gewesen? In der PGH hatten Sie aufgehört – haben Sie irgendwo anders Arbeit angenommen?“ Romeike erwidert nichts, aber Baltrock merkt, daß er den Kopf schüttelt. „Also nein. Und wo haben Sie gewohnt?“ Was nun beginnt, ist eine Art Puzzlespiel. Es erweist sich, daß Romeike überhaupt nicht zusammenhängend berichten kann, selbst die einzelnen Wortfetzen, die er hervorstößt, fügen sich zu keinem Bild; dabei bemerkt Baltrock sehr wohl, daß Romeike keineswegs widerstrebt – er möchte den Wunsch Baltrocks gern erfüllen, er bemüht sich, aber es gelingt ihm nicht. Da kommt der Hauptmann auf den Gedanken, ihm Papier und Kugelschreiber hinzuschieben, er sagt: „Ich weiß ja, es fällt Ihnen manchmal schwer zu sprechen. Und wenn das so ist, dann schreiben Sie es uns ganz einfach auf.“ Langsam geht es nun weiter, indessen ungehinderter als zuvor. Baltrock stellt seine behutsamen Fragen, er enthält sich jeden Werturteils, er zeigt Verständnis für vieles, und 307
Romeike stottert und schreibt, schreibt mit einer fahrigen, aber nicht ungelenken Handschrift, einer Schrift freilich, die seinem Gang, seinen Bewegungen gleicht: Sie bricht in unvermutete Ecken aus, sie fließt nicht. Romeike hat also, wie er angibt, bei der PGH deshalb gekündigt, weil er in den Raum Berlin zurück wollte, daran scheint er wohltuende Erinnerungen zu haben. Er wagte aber nicht, an einen Schalter zu gehen und sich eine Fahrkarte zu kaufen, er hatte Angst, man würde ihn nicht verstehen, und er hatte auch etwas getrunken. Er wanderte also die Landstraße entlang bis zu der Autobahn. Dort versuchte er, per Anhalter weiterzukommen, doch das gelang ihm nicht. Es hielten zwar drei Wagen, aber wenn er vor dem Schlag stand, konnte er seinen Wunsch nicht klar vortragen, sein Mund folgte seinen Gedanken nicht, und man ließ ihn stehen. Baltrock, den Blick immer auf seine Papiere geheftet, fragt, in welchem Lokal er getrunken hätte, und zur Verwunderung von Zeitfuchs gibt Romeike sofort Antwort; er wäre in keinem Lokal gewesen, sondern an der „Konsum-Bude“ bei den Neubauten, ja, und er hätte ziemlich viel getrunken, er hätte sich Mut angetrunken. Der Hauptmann beläßt es dabei und eruiert weiter: Zum Fahrkartenschalter hatte Romeike sich nicht gewagt, weil er sich, wie er aufschreibt, „zuviel“ Mut angetrunken hatte; so kann sich auch der Leutnant ein Bild machen, er sieht den angetrunkenen Mann an der Autobahn stehen, in den geöffneten Schlag Unverständliches hineinstottern, natürlich war er nicht mitgenommen worden, der Romeike, und als es dunkel wurde und immer kälter, war er durch das Gebüsch seitlich der Autobahn gepirscht, planlos, ziellos, einfach gelaufen in der Erwartung, er werde auf irgend 308
etwas treffen, das ihn wieder ein paar Stunden Lebens weiterbringen werde – er war auf etwas getroffen, eine Kleingartensiedlung in der Nähe der Chemiewerke, verlassen jetzt, ausgeleert die Gärten, verschnitten die Stauden, traurig wie jede Spätherbstlandschaft. Niemand war in der Nähe gewesen. So war Romeike in eine Laube eingebrochen, dort hatte er sich auf einem Liegestuhl aus Decken ein Lager bereitet, hatte auch einige Gläser eingekochtes Obst vorgefunden und die Nacht dort zugebracht. Er habe sich da wohl gefühlt, schreibt Romeike, und deshalb sei er auch die nächsten Tage in der Kleingartensiedlung geblieben, niemand hätte ihn gestört, er sei „ein freier Mensch“ gewesen. Warum er dann nach B. zurückgekehrt sei, will Baltrock wissen. Romeikes Stottern wird so stark, daß der Hauptmann von diesem Thema abläßt; er versucht, auf Romeikes Arbeit in Werk drei der PGH zu sprechen zu kommen, doch da gibt der Mann keine Erklärung mehr ab und verschanzt sich hinter seinem Sprachfehler wie hinter einem Wall. Also weicht Baltrock zunächst wieder aus und fragt, ob er immer noch den Plan gehabt habe, nach Berlin zu gehen, und warum er überhaupt nach Berlin gewollt habe? Den Plan habe er nicht fallengelassen, schreibt Romeike auf, und nach Berlin habe es ihn gezogen, weil … Was sich nun ergibt, ist ein Stück einer Lebensgeschichte, auch das muß Baltrock zusammensetzen wie ein Puzzlespiel, denn die Bruchstücke, die er erfährt, passen zeitlich zunächst nicht zueinander, sie müssen verschoben, müssen eingepaßt werden, und was entsteht, sieht so aus: 309
Die Eltern Romeikes stammten aus Gumbinnen, dort besaß der Vater ein Fuhr- und Kartoffelgeschäft, und jeder Abschluß wurde, wie es in jener Gegend üblich war, mit ein paar scharfen Schnäpsen begossen. Kam er heim, so ordnete er an, was zu geschehen habe, und seine ständigen Redensarten, die in Romeike bis heute haftengeblieben sind, waren: „Willst du wohl kuschen!“ und „Dalli, dalli!“ – Redensarten, die der Vater sowohl gegenüber Romeike und dessen beiden älteren Schwestern als auch gegenüber der Mutter anwandte. 1943 war der Vater endlich eingezogen worden – eine Erlösung für die Familie, die 1945 in die Nähe Berlins verschlagen wurde. Hier fand sich ein Jahr später auch der Vater wieder ein, und nun sei es schlimmer als jemals zuvor gewesen, er habe sich nicht damit abfinden können, kein Geschäft mehr zu besitzen, in dem er anordnen durfte, er habe schwarzgehandelt, „kleine Fische“, schreibt Romeike auf, aber die habe er heftiger noch als früher mit Schnaps gefeiert. Vier Jahre später wurde der Vater zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt; genau weiß Romeike nicht, warum das geschehen sei, aber die Mutter habe aufgeatmet, und kurz bevor der Vater entlassen wurde, sei sie verschwunden – nach Westberlin, wie sich ein paar Monate später herausstellte, sie wollte dem Manne entgehen. Romeike hatte sie in den folgenden Jahren häufig besucht, sie war völlig verwandelt, seit es nicht mehr hieß: „Willst du wohl kuschen!“ und „Dalli, dalli!“; in dem Augenblick, als der Druck von ihr genommen war, explodierte sie sozusagen, sie entlud sich, sie hatte sich ein. schrilles Lachen angewöhnt, Romeike traf immer wieder andere Freunde bei ihr, und ihn selbst behandelte sie mit einer Art gleichgültiger Liebe: Bei mir kannst du 310
machen, was du willst! Und so geschah es auch: Er besuchte die Kinos, er las das, was die Mutter spannend nannte, vor allen Dingen aber sehnte er sich danach, gleichfalls ein solches Leben führen zu können, und daß er sich nicht dazu entschloß, ebenfalls für immer nach Berlin zu gehen, lag daran, daß die Mutter sich ihm in diesem Punkte entzog; sie wollte sich mit dem stotternden Sohn nicht belasten. Als die Verhältnisse im väterlichen Hause vollends untragbar wurden, gab man Romeike in ein Heim, aber die Freundlichkeit, die ihm dort entgegengebracht wurde, würdigte er nicht mehr, ihn lockte das Leben der Mutter; und so versteckte er sich hinter seinem Stottern, er widersetzte sich zwar nie, aber er tat, als begriffe er bestimmte Anordnungen nicht; immerhin gelang es, ihn in eine Lehre zu geben, die er mit Erfolg absolvierte; jetzt war er achtzehn Jahre, er wurde aus dem Heim entlassen, und da er zu seinem Vater nicht mehr zurückkehren wollte, seine Mutter ihm aber keine Hoffnungen für eine Umsiedlung machte, arbeitete er zunächst im Bezirk Dresden und kam später durch Vermittlung eines Arbeitskollegen in die PGH, Werk eins, in B. Vor dem Hauptmann häufen sich die kleinen Zettel mit Romeikes fahriger Schrift, Baltrock ahnt, wie es weitergehen wird – er ahnt es auch deshalb, weil Romeikes Auskünfte nun noch spröder werden als bisher: Er sei gut behandelt worden in der PGH, habe auch einwandfrei gearbeitet, die Meister seien mit ihm zufrieden gewesen, nur verdient habe er zuwenig … nein, Mädchen habe er nicht gehabt, nur getrunken gelegentlich, die Wirtin habe es nicht bemerkt, er sei dann immer gleich in sein Zimmer gegangen, habe sich hingelegt und geschlafen oder geträumt. 311
Wovon er geträumt habe? Von seiner Mutter! Der Begriff Mutter scheint stellvertretend zu stehen für das Leben, das er in Westberlin erfuhr, wobei ihm aber immerhin auch klar war, daß er dazu Geld benötigte; allmählich bildete sich in seinem Kopf die Vorstellung, es gebe dort für Männer auch Möglichkeiten … Welche Art von Möglichkeiten, darüber läßt sich Romeike nicht aus, doch Baltrock fragt: „Kassenraube und dergleichen?“ Romeike erwidert darauf nichts, es ist ein Ja. Absichtlich bemüht sich der Hauptmann, den Eindruck zu erwecken, als messe er dem nicht viel Bedeutung bei. Et sagt: „Nun ja, das machen dort viele – auch wenn dabei jemand erschossen oder totgeschlagen wird. Haben Sie das auch bedacht?“ Romeike zuckt die Schultern. Die Frage berührt ihn nicht. Baltrock spürt, wie seine Handflächen feucht werden. Wie kann man diesem versteinerten Menschen helfen? Doch nur, indem man die Versteinerung aufbricht! Er beugt sich vor, er fragt: „Haben Sie zu mir Vertrauen, Romeike?“ Der überlegt, der Hauptmann sieht es seinen Augen an; er ergreift wieder einen Zettel, schreibt darauf: „Ja.“ Er überlegt weiter, und bevor er Baltrock den Zettel hinschiebt, schreibt er nochmals „Ja!“ darauf, mit einem Ausrufezeichen. Von nun an schaut der Hauptmann ihn unverwandt an. Er sagt eindringlich: „Im Werk drei ist der Wächter Nottrodt niedergeschlagen worden. Das war in der Nacht, bevor Sie die Stadt verließen. Vielleicht haben Sie Geld gebraucht, Romeike, und Sie wollten es bei ihm holen. Man darf aber keinen Menschen niederschlagen, auch 312
nicht, wenn man Geld benötigt. Sollten Sie es getan haben, Romeike, so sagen Sie es mir, ich bitte Sie darum.“ Wie er das ausführt, merkt er bereits, daß Romeikes Gesichtsausdruck wieder versteinert. Er fragt: „Romeike, waren Sie es?“ Heftig schüttelt der Mann den Kopf. „Romeike!“ Baltrocks Stimme ist dringlich. „Ich will Ihnen wirklich helfen, nur müssen Sie auch mir helfen, nicht wahr? Wenn Sie es waren, sagen Sie es mir!“ Romeike schließt die Augen, und abermals schüttelt er den Kopf. „Romeike!“ Der Hauptmann ruft ihn fast an. „Ich bekomme heraus, wer es war – mit allen Mitteln, wenn es sein muß. Aber das würde schlecht für Sie werden. Ich bitte Sie also …“ Er kommt nicht dazu weiterzureden, Romeike reißt die Augen auf, er rafft einen Zettel vor sich hin, mit seiner eckigen Schrift schreibt er ein riesiges „Nein“ darauf und versieht es mit zwei Ausrufezeichen. Da weiß Baltrock, daß Romeike bei seiner Aussage bleiben wird – ob er nun schuldig ist oder nicht. Ermattet und erschöpft fühlt er sich, als er die Vernehmung fortsetzt. „Sie wußten doch, Romeike, daß inzwischen der Zugang nach Westberlin gesperrt ist?“ Romeike schweigt. Aber es ist leicht, Schlußfolgerungen zu ziehen. Der Raum Berlin, von dem immer gesprochen wurde, ist für Romeike der Raum seiner Mutter. Es hat Stunden gedauert, bis Baltrock diese Informationen besaß. Nun sieht er Zeitfuchs an. „Ich glaube, wir belassen es jetzt dabei und machen nachmittags weiter.“ Er lächelt Romeike zu. „Sie haben sicherlich Hunger?“ 313
Romeike lächelt eckig zurück. In diesem Augenblick tritt Oberleutnant Schnurk ein, er reicht dem Hauptmann einige Papiere. Der öffnet den Umschlag nicht, in dem sie sich befinden, sondern sieht Schnurk fragend an. „Genosse Hauptmann, der daktyloskopische Befund besagt …“, setzt Schnurk an. Baltrock gibt ihm mit den Augen zu verstehen, er möge nicht weitersprechen. Er erhebt sich, faßt Romeike an der Schulter und führt ihn zur Tür. Dann ist sie geschlossen. Die drei Kriminalisten sind allein. Baltrock bleibt stehen, er fragt: „Was also besagt der daktyloskopische Befund?“ Schnurk rückt sich gerade, er antwortet: „Daß der Daumenabdruck auf dem Spiegelrand in der PGH einwandfrei von Romeike stammt!“ 3 Eingehend beraten die drei Kriminalisten, wie weiter zu verfahren sei. Zu Beginn dieser Besprechung fordert der Hauptmann Zeitfuchs auf, seine Ansicht darzulegen. Der zupft nachdenklich an der Lippe, er sagt langsam: „Du hast ihm freundschaftlich ins Gewissen geredet, und er hat alles abgestritten. Im Grunde weiß er sicher, daß du ihm helfen wolltest, aber er ist in einem Zustande, in dem er sich nicht helfen lassen kann. Ich halte ihn für krank, für gesellschaftlich krank, wenn du willst. Infolge seines Stotterns hat er allmählich verlernt, mit Menschen in vertrauensvollen Kontakt zu treten. Er kann es einfach nicht. Ja, und ich bin überzeugt, selbst dann, wenn wir ihm den, Daumenabdruck vorhalten, wird er weiterleugnen, und er würde es auch vor Gericht tun. Wir werden von ihm kein Geständnis erhalten!“ 314
„Aber das Geständnis ist wichtig“, betont Schnurk, „vorerst scheint alles zu stimmen: Wir haben ermittelt, daß der Daumenabdruck mit größter Wahrscheinlichkeit von dem Täter stammt, und wenn er also mit Romeikes Abdruck identisch ist, müßte Romeike der Täter sein. Indessen: Wissen wir wirklich genau, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, daß Romeike irgendwann einmal den Spiegel angefaßt hat? Und daß er dann unschuldig wäre?“ Der Hauptmann nickt. Diese Überlegungen befriedigen ihn, und vor allem freut ihn die Einsicht, die Zeitfuchs zeigt, er hat also gelernt. Er fügt hinzu: „Das alles ist sachlich richtig, ich überlege aber außerdem, daß es Romeike vermutlich helfen könnte, wenn er nicht durch Indizien überführt wird, sondern wenn er sich zu seiner Tat bekennt – und sei es durch einen Schock. Vielleicht wird dann seine Versteinerung aufgebrochen, und er wird für Zuspruch wieder zugänglich.“ Er entwickelt den beiden anderen Kriminalisten seinen Plan, dabei spürt er wieder die Feuchte in den Handflächen, er schließt ab: „Es widerstrebt mir, diesen Weg zu gehen. Aber ich fürchte, ich muß es tun – um der Wahrheitsfindung willen und zum Besten Romeikes.“ Er sieht den Augen des Leutnants an, daß der ihn begreift, aber viele Worte macht Zeitfuchs nicht, er sagt: „Dann wollen wir das schnell hinter uns bringen. Suchen wir also Wronski auf.“ Werkleiter Wronski, der mächtige Mensch, springt überrascht von seinem Stuhl im Büro auf, als Baltrock eintritt. Mit seiner dröhnenden Stimme ruft er: „Haben Sie ihn? Und wenn Sie ihn nicht haben: Ich freue mich, Sie zu sehen!“ 315
Das ist aufrichtig, spürt der Hauptmann, er lächelt, er antwortet: „Vielleicht haben wir ihn. Mit absoluter Sicherheit kann ich es jedoch nicht sagen.“ „Wer?“ fragt Wronski nur. „Romeike“, erwidert Baltrock. „Romeike? Nein!“ entfährt es Wronski. Ungläubig starrt er den Hauptmann an. Baltrock hebt die Schultern. „Es hat den Anschein. Aber um den Beweis zu führen, müssen wir Ihnen noch einmal Umstände machen. Vielleicht können uns einige Ihrer Mitarbeiter sagen, wo sich Romeike hier aufzuhalten pflegte; wir möchten außerdem wissen, wo sich Romeikes Spind befand.“ Verständnislos und bereitwillig zugleich sagt Wronski: „Romeike! Nein! Aber selbstredend unterstützen wir Sie.“ Die beiden Männer gehen in den Hof, wo Schnurk und Zeitfuchs sie erwarten, sie besprechen die Art ihres Vorgehens, und dann spult sich alles rasch und planmäßig ab. Nach zwei Stunden fassen die drei Kriminalisten in Wronskis Büro die Ergebnisse zusammen: In der Zeit, als Romeike hier tätig war, befand sich sein Spind im ersten Stock; sie haben es sich zeigen lassen, und an der Seite fanden sie sogar seinen Namen mit Tintenstift eingekritzelt. An dieser Tatsache ist nicht zu zweifeln. Sowohl der Meister als auch sämtliche Arbeitskollegen hatten ausgesagt, daß Romeike niemals den Raum betreten habe, in dem der Mord geschehen war. Dazu hätte keine Veranlassung bestanden. Nach Arbeitsschluß sei er immer in den Waschraum gegangen, hätte sich dort gereinigt, kaum jemals etwas gesagt, sei dann die Treppe hochgestiegen, habe sich umgezogen und sei verschwunden. Immerhin bleibt hier noch die einzige Möglichkeit des unbekannten Zufalls. 316
Sehr wahrscheinlich wußte Romeike, daß Nottrodt Geld bei sich zu tragen pflegte. Darüber war unter den Kollegen immer wieder gesprochen worden, zum anderen standen die Türen zwischen Waschraum und Flur und Flur und Umkleideraum bei Arbeitsschluß stets offen, und dabei hatte jeder beobachten können, wie Nottrodt mit seinem Geld umgegangen war. Tatsächlich konnten sich die Kriminalisten überzeugen, daß auch andere Arbeiter, deren Spinde im ersten Stockwerk standen, darüber sehr wohl informiert waren. Die drei Männer verlassen den Raum, Schnurk und Zeitfuchs gehen in das Gebäude mit den Umkleidespinden, Baltrock sagt zu Wronski: „Sie erwarten mich bitte im Büro, Sie wissen, worauf es ankommt. Sie tun es auch zum Besten Romeikes!“ Und dann steigt er in den Wagen und verläßt die PGH, die jetzt bei Arbeitsschluß öde und verlassen daliegt. Es fällt dem Hauptmann schwer, Romeike unbefangen gegenüberzutreten, als er im Kreisamt vorgeführt wird. Er sagt: „Ob das nun stimmt oder nicht, was die Frau da erzählt hat … wir sind zu der Meinung gekommen, Romeike, daß Sie selbst nicht mehr nach Berlin fahren möchten. Deshalb habe ich mich dafür verwendet, daß Sie bei Ihrer alten Arbeitsstelle wieder anfangen können, in der PGH. Allerdings müssen Sie aushilfsweise zunächst in dem Werk drei beginnen; Herr Wronski erwartet Sie bereits, mit ihm können Sie alles Nähere besprechen, es ist am besten, wir fahren sofort hin.“ Wenn Romeike wirklich der Täter war, dann muß er davon ganz unberührt geblieben sein, stellt Baltrock erstaunt fest, denn er begleitet den Hauptmann willig die Treppen hinunter bis vor das Haus, sie steigen in den Wagen, Baltrock gibt Gas. 317
Wronski erwartet sie im Büro. Er spielt seine Rolle gut, er brummt: „War immer mit Ihnen zufrieden, Herr Romeike. Freut mich, daß Sie wieder bei uns arbeiten werden. Sie kommen wie gerufen, jetzt, knapp vor Weihnachten, wir müssen noch ein paar Einbauküchen richten, auch Meister Pilarzyk freut sich schon, eine zusätzliche Kraft zu bekommen.“ Er saugt an den Lippen, als sei er nachdenklich, es gibt einen leise schmatzenden Ton. „Nur, wie machen wir das? Ich bin morgen früh unterwegs … Am besten, wir regeln das mit Ihrem Spind sofort, Herr Romeike, dann können Sie sich morgen gleich umziehen; für den Meister hinterlasse ich einen Zettel, Sie melden sich bei ihm, er wird Ihnen Ihre Arbeit zuteilen. Kommen Sie.“ Er geht voraus zur Tür. Romeike zögert. Er blickt Baltrock an. Der nickt ihm ermunternd zu und schiebt ihn sanft voran. Sie laufen über den Hof, Wronski einen halben Schritt voran, schweigend. Baltrock ist jetzt neben Romeike und geleitet ihn fast unmerkbar am Ellenbogen, und der läßt sich leiten. Kein Widerstand wird spürbar, der Hauptmann merkt es bestürzt. Wenige Meter vor dem letzten Gebäude wendet Wronski den Kopf und sagt zu Romeike: „Ach, am einfachsten ist es, Sie nehmen wieder das Spind, das Sie schon einmal hatten. Zeigen Sie uns doch, wo es ist.“ Auch das vollzieht sich ohne jede Schwierigkeit, Romeike geht jetzt voran, geht durch die Tür in den Gang, steigt die Treppe empor, sagt zu Wronski: „Hier!“ und zeigt auf das Spind. Wronski tut, als wolle er sich überzeugen, er öffnet die Spindtür, sagt scheinbar erfreut: „Wunderbar, es ist leer! 318
Also können Sie es morgen gleich benutzen, Romeike! So, das wäre erledigt.“ Schwer klettert er vor den anderen beiden die Stufen wieder hinunter. Aber unten, im Flur, als Romeike gerade hinaus in den Hof gehen will, hält Baltrocks Befehl ihn plötzlich zurück. „Romeike, gehen Sie nach rechts!“ Romeike wendet den Kopf, er blickt den Hauptmann an, in ihm verändert sich etwas, seine dunklen Augen werden unstet, beginnen zu flackern … … doch da hat Baltrock die Tür zum Umkleideraum bereits aufgerissen, er führt Romeike am Arm hinein – und da steht der nun und starrt. Auf der Bank vor dem Ofen liegen Stapel gespaltenen Holzes, einige Scheite siedeln sich auf dem Fußboden herum, das Messer liegt dort, die Tür zu dem Spind, die damals offenstand, steht auch heute offen, wie damals ist das Hutbrett heruntergenommen, sind die Handtücher hineingeworfen, ist der Spiegel auf den oberen Rand geschoben: wie damals, wie damals! Romeike bleibt stumm. Baltrock hat seine Rechte an dessen Schulterblatt, er fühlt, wie der Mann steif wird, wie in ihm sich alles spannt – so, als wolle er gleich zurückscheuen, ausbrechen nach dem Hof hin … … da ruft Baltrock mit seiner veränderten Stimme: „Wie haben Sie Nottrodt getötet, Romeike, wie haben Sie es gemacht? Zeigen Sie es uns! Jetzt! Sofort! Dalli, dalli!“ Das ist der Vater-Befehl! Einst hat er den Widerstand des Knaben gebrochen – jetzt bricht er den Widerstand des Mannes! Stumm und automatisch bewegt sich Romeike voran, er sieht das Messer, packt es und steckt es ein, er greift in 319
das Spind, zieht die Handtücher heraus und bindet sie um den Schädel, er zwängt sich in das Spind, er sieht den Hauptmann an, der sagt nochmals: „Dalli, dalli!“, da zwängt Romeike sich wieder aus dem Spind heraus, schiebt sich hinter die Spindtür, ergreift ein Scheit Holz und steht da mit erhobener, schlagbereiter Hand. 4 Spät in dieser Nacht ist die Vernehmung beendet. Baltrock, Zeitfuchs, Schnurk sind erschöpft – nicht, daß Romeike widerstrebt hätte, im Gegenteil, er machte einen erleichterten Eindruck. Aber die Einzelheiten zu erfahren war ein schwieriges Unterfangen, denn in ihm war alles aufgeregt, und außer ja oder nein vermochte er nichts zu sagen, sondern mußte alles aufschreiben, die Zettel sammelte Baltrock in einen großen Umschlag. Zeitfuchs überfliegt noch einmal das Protokoll: aus Frage und Antwort, mühsam formuliert, ergibt sich, daß Romeike in dem Augenblick, als er sich entschlossen hatte, nach Berlin zurückzukehren, erkannte, daß er Geld benötigte; denn er hatte die abenteuerliche Absicht gehabt, dort eine Waffe zu erwerben und so über die Grenze zu gelangen; wie er das im einzelnen anstellen wollte, war nicht zu erfahren gewesen, vermutlich hatte er es selber nicht gewußt. Jedenfalls hatte er sich an Nottrodt erinnert und daran, daß der Geld bei sich zu haben pflegte. In jener Nacht war er zu der PGH gegangen, er hatte nichts vorbereitet. Zuerst hatte er sich vor dem Tor aufgehalten und festgestellt, daß Nottrodt tatsächlich anwesend war, er saß im Pförtnerhaus. Also war er am Fluß über den Zaun gestiegen. Der Hund war zu ihm hingesprungen, aber Romeike hatte ihm den Kopf getätschelt und 320
gesagt: „Bist ein guter Kerl, laß mich!“ Daran konnte sich Romeike noch genau erinnern. Er habe, sagte er aus, Nottrodt nicht erschlagen, er habe nur das Geld nehmen wollen. Aber zunächst habe er nichts vorgefunden und sich deshalb im Spind versteckt, doch da sei es sehr eng gewesen, er sei wieder herausgekommen, habe in diesem Augenblick den Wächter gehört und sich nur noch hinter der offenen Spindtür verbergen können. Nottrodt habe ihn entdeckt, er sei jedoch nicht geflüchtet, sondern auf ihn zugegangen, da habe er einen Schreck bekommen und zugeschlagen. Er habe Nottrodt auf den Schädel getroffen, zweioder dreimal, es habe sehr geblutet. Der Wächter habe aufgeschrien und sei zusammengebrochen, habe sich aber bewegt und laut gestöhnt. Er habe sich über ihn gebeugt, und da habe Nottrodt hochkrabbeln wollen, so drückte sich Romeike aus. Weil er fürchtete, der alte Mann werde ihm die Handtücher abreißen, ihn erkennen und, wie er sagte, verpfeifen, habe er noch „ein paar draufgeschlagen“, bis Nottrodt endgültig liegengeblieben sei. Aber tot sei er nicht gewesen, er habe noch leise gewimmert. Er hatte dann die Aktentasche an sich genommen und war aus der PGH hinausgeflüchtet, Handtücher und Holzscheit warf er in den Fluß, die Tasche öffnete er unter einer Laterne an den Neubauten; er fand darin etwas über hundert Mark und warf die Tasche dort weg. Auf die Frage, ob er seine Tat bereue, hatte Romeike geschwiegen. Zeitfuchs legt die Blätter aus der Hand. Er sagt leise: „Da haben wir gedacht, ein Untier! In Wirklichkeit ist das ein armer Mensch.“ 321
Baltrock hebt die Schultern. Er sagt: „Er kann einem leid tun, aber …“, setzt er hinzu, „auf jeden Fall ist es auch unsere Aufgabe, die Nottrodts vor den Romeikes zu schützen.“
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