Ein Schaubild der Mathematik
Dmitry Fuchs · Serge Tabachnikov
Ein Schaubild der Mathematik 30 Vorlesungen u¨ ber klassische Mathematik
123
Dmitry Fuchs University of California Davis Dept. Mathematics Shields Ave. 1 Davis, CA 95616-8633 USA
[email protected]
Serge Tabachnikov Pennsylvania State University Dept. Mathematics University Park, PA 16802 USA
[email protected]
¨ Ubersetzer Micaela Krieger-Hauwede unterst¨utzt durch Ines Laue Leipzig Deutschland
[email protected]
Die Originalausgabe dieses Buches ver¨offentlichte die American Mathematical Society auf c 2007 American Mathematical Society. Die Englisch unter dem Titel “Mathematical Omnibus”, ¨ vorliegende Ubersetzung wurde f¨ur den Springer-Verlag mit Genehmigung der American Mathematical Society vorgenommen.
ISBN 978-3-642-12959-9 e-ISBN 978-3-642-12960-5 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Mathematics Subject Classification (2010): 00A05 c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Dieses Werk ist urheberrechtlich gesch¨utzt. Die dadurch begr¨undeten Rechte, insbesondere die der ¨ Ubersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielf¨altigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielf¨altigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zul¨assig. Sie ist grunds¨atzlich verg¨utungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten w¨aren und daher von jedermann benutzt werden d¨urften. Einbandentwurf: deblik, Berlin Gedruckt auf s¨aurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
c Svetlana Tretyakova
Urspr¨unglich Vladimir Arnold anl¨asslich seines 70. Geburtstags gewidmet, und nun, in Trauer, seinem Andenken umgewidmet
Vorwort
Seit u¨ ber zweitausend Jahren galt eine gewisse Vertrautheit mit Mathematik als ein unverzichtbarer Bestandteil des intellektuellen R¨ustzeugs jedes gebildeten Menschen. Heutzutage ist die traditionelle Stellung der Mathematik in der Ausbildung in ernsthafter Gefahr.
Diese Er¨offnungss¨atze schrieb Richard Courant im Jahr 1941 in seinem Vorwort zum Klassiker What is Mathematics? Etwas beruhigend ist es festzustellen, dass die Probleme, auf die wir die gegenw¨artige Situation gerne zur¨uckf¨uhren, vor 65 Jahren (und h¨ochstwahrscheinlich auch viel fr¨uher) genauso akut waren wie jetzt. Damit wollen wir aber nicht sagen, dass die Situation ungetr¨ubt sei. Wir hoffen, mit diesem Buch einen bescheidenen Beitrag zum Fortbestand der mathematischen Kultur zu leisten. Das erste Mathematikbuch, das Vladimir Arnold, einer unserer mathematischen Helden, im Alter von zw¨olf Jahren las, war das Buch Von Zahlen und Figuren von Hans Rademacher und Otto Toeplitz. In seinem Interview, das er der Zeitschrift Kvant“ gab und das dort 1990 ver¨offentlicht wurde, erinnert sich Arnold, dass er ” das Buch langsam durcharbeitete, ein paar Seiten pro Tag. Wir kommen nicht umhin, zu hoffen, dass unser Buch eine a¨ hnliche Rolle bei der mathematischen Entwicklung einiger ber¨uhmter Mathematiker der Zukunft spielen wird. Wir hoffen, dass dieses Buch f¨ur jeden von Interesse sein wird, der Mathematik liebt, angefangen von Gymnasiasten bis hin zu gestandenen Wissenschaftlern. Wir versprechen keine leichte Reise: Die Mehrheit der Resultate wird bewiesen, und es wird beachtliche Anstrengungen von Ihnen als Leser erfordern, den Details der Argumente zu folgen. Wir hoffen, dass Sie als Belohnung daf¨ur, zumindest manchmal, von Ehrfurcht f¨ur die Harmonie des Stoffes erf¨ullt sein werden (es ist dieses Gef¨uhl, das die meisten Mathematiker in ihrer Arbeit vorantreibt!). Um es mit den Worten aus A Mathematician’s Apology von G. H. Hardy zu sagen: Die Bilder der Mathematik m¨ussen, wie die von Malern oder Poeten, sch¨on sein; die Gedanken m¨ussen sich wie Farben oder Worte harmonisch ineinander f¨ugen. Sch¨onheit ist das erste Kriterium: Es gibt keinen festen Platz in der Welt f¨ur h¨assliche Mathematik.
Auch f¨ur uns ist Sch¨onheit das erste Kriterium bei der Auswahl der Themen f¨ur unsere eigene Forschung sowie f¨ur die Gegenst¨ande popul¨arwissenschaftlicher Artikel vii
viii
Vorwort
und Vorlesungen und folglich bei der Stoffauswahl f¨ur dieses Buch. Wir haben uns nicht auf irgendein bestimmtes Gebiet beschr¨ankt (etwa Zahlentheorie oder Geometrie); uns geht es um die Vielfalt und Einheit der Mathematik. Sollten Sie als Leser nach der Lekt¨ure dieses Buches an einer systematischeren Darstellung eines bestimmten Fachgebietes interessiert sein, so werden Sie leicht gute Quellen in der Literatur finden. Zum Untertitel: Die Lexikondefinition des Wortes klassisch ist: hat sich u¨ ber ” eine geraume Zeit als von h¨ochster Qualit¨at und herausragend in seiner Art erwiesen“. Wir haben versucht, Mathematik auszuw¨ahlen, die diesem strengen Kriterium gen¨ugt. Sie als Leser werden hier S¨atze von Isaac Newton und Leonhard Euler, Augustin Louis Cauchy und Carl Gustav Jacob Jacobi, Michel Chasles und Pafnuti Lwowitsch Tschebyschow, Max Dehn und James Alexander und von vielen anderen großen Mathematikern der Geschichte finden. Recht oft beziehen wir j¨ungste Resultate ber¨uhmter zeitgen¨ossischer Mathematiker ein, darunter Robert Connelly, John Conway und Vladimir Arnold. Es gibt etwa vierhundert Abbildungen in diesem Buch. Wir stimmen vollkommen mit dem Sprichwort u¨ berein, dass ein Bild mehr als tausend Worte sagt. Die Abbildungen sind mathematisch exakt – eine kubische Kurve wurde per Computer als die Ortslinie von Punkten gezeichnet, die eine Gleichung dritten Grades erf¨ullen. Insbesondere illustrieren die Abbildungen die Bedeutung des sorgf¨altigen Zeichnens als ein Experimentierwerkzeug in der geometrischen Forschung. Zwei Beispiele werden in Vorlesung 29 gegeben: Das sind der Satz von Money-Coutts, der noch in den 1970er Jahren durch sorgf¨altiges Zeichnen entdeckt wurde, und ein sehr neuer Satz u¨ ber Poncelet-Gitter von Richard Schwartz, den er bei Computerexperimenten entdeckte. Ein anderes Beispiel f¨ur die Verwendung des Computers als Experimentierwerkzeug wird in Vorlesung 3 gegeben (siehe die Diskussion der privilegierten Exponenten“). ” Wir haben nicht versucht, die Vorlesungen in ihrer L¨ange und in ihrem Schwierigkeitsgrad a¨ hnlich zu gestalten: Einige Vorlesungen sind recht lang und anspruchsvoll, w¨ahrend andere beachtlich k¨urzer und einfacher sind. Eine Vorlesung, Spit” zen“, sticht heraus: Sie enth¨alt keine Beweise, sondern nur zahlreiche Beispiele, die durch Abbildungen reichlich illustriert werden; viele dieser Beispiele werden in anderen Vorlesungen streng behandelt. Die Vorlesungen sind unabh¨angig voneinander, aber Ihnen als Leser werden einige Themen auffallen, die u¨ ber das Buch hinweg immer wieder auftauchen. Wir setzen nicht viele Vorkenntnisse voraus: Ein gew¨ohnlicher Analysiskurs reicht in den meisten F¨allen, und recht oft wird nicht einmal Analysis gebraucht (und durch diese relativ niedrige Schwelle werden auch mathematisch unbedarfte Gymnasiasten nicht ausgeschlossen). Wir glauben auch, dass jeder Leser, unabh¨angig von seiner ¨ Ausbildung, in fast jeder Vorlesung Uberraschungen finden wird. ¨ Im Buch gibt es etwa zweihundert Ubungen, zu vielen ist eine L¨osung oder Antwort angegeben. Sie entwickeln die Themen, die in der Vorlesung behandelt wurden, weiter; in vielen F¨allen beinhalten sie h¨ohere Mathematik (dann geben wir anstelle ¨ einer L¨osung Verweise auf die Literatur). Schwierigere Ubungen sind durch einen einfachen oder durch einen doppelten Stern gekennzeichnet.
Vorwort
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Zur¨uckf¨uhren l¨asst sich dieses Buch auf eine ganze Menge von Artikeln, die wir f¨ur die russische Zeitschrift Kvant“ in den Jahren 1970–1990 verfasst haben1 , und ” auf etliche Vorlesungen, die wir u¨ ber die Jahre verschiedenen Zuh¨orerkreisen in der Sowjetunion und in den Vereinigten Staaten (wo wir seit 1990 leben) gegeben haben. Darunter sind Gymnasiasten – die Teilnehmer des kanadisch/amerikanischen Binational Mathematical Camps in den Jahren 2001 und 2002, Studenten, die in den Jahren 2000–2006 am Mathematics Advanced Study Semesters (MASS) Program an der Penn State teilnahmen, und Gymnasiasten, die – zusammen mit ihren Lehrern und Eltern – am Bay Area Mathematical Circle in Berkeley teilnahmen. Das Buch eignet sich als Grundlage eines Mathematikseminars f¨ur Studienanf¨anger (es gibt mehr als ausreichend Stoff f¨ur ein ganzes akademisches Jahr), f¨ur verschiedene Fachseminare, f¨ur Matheclubs an Gymnasien oder Fachschulen oder einfach als Kaffepausenbuch, in dem man in seiner Freizeit bl¨attert. Um die Behauptung mit dem Kaffeepausenbuch“ zu st¨utzen, wurde dieser Band ” von einem gestandenen K¨unstler, Sergey Ivanov, großz¨ugig illustriert. Sergey war in den 1980er Jahren der Chefillustrator der Zeitschrift Kvant“ und machte dann ” bei ihrem englischsprachigen Gegenst¨uck Quantum“ in einer a¨ hnlichen Position ” in den 1990er Jahren weiter. Als Werke eines ausgebildeten Physikers sind Ivanovs Illustrationen nicht nur a¨ sthetisch attraktiv, sondern sie spiegeln auch den mathematischen Inhalt des Stoffes wider. Wir haben dieses Vorwort mit einem Zitat begonnen; wir wollen es mit einem anderen beenden. Max Dehn, dessen S¨atze hier mehr als ein Mal erw¨ahnt werden, charakterisiert Mathematiker in seiner Schrift [22] auf diese Weise; wir glauben, dass diese Worte auf das Anliegen dieses Buches zutreffen: Hin und wieder erf¨ullt den Mathematiker die Leidenschaft eines Poeten oder eines Eroberers, die Strenge seiner Argumente ist die eines pflichtbewussten Staatsmanns oder einfacher eines besorgten Vaters, und seine Duldsamkeit und sein Verzicht sind die eines alten Weisen; er ist revolution¨ar und konservativ, skeptisch und doch vertrauensvoll optimistisch.
Danksagung: Dieses Buch ist V. I. Arnold anl¨asslich seines siebzigsten Geburtstags gewidmet; seine Art der mathematischen Forschung und Darstellung hat die Autoren u¨ ber Jahre hinweg stark beeinflusst. In zwei aufeinanderfolgenden Jahren, 2005 und 2006, nahmen wir am Programm Research in Paris“ des Mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach (MFO) ” teil. Wir sind diesem Paradies f¨ur Mathematiker sehr dankbar, wo sich Verwaltung, K¨oche und Natur verb¨unden, um die Kreativit¨at jedes Einzelnen zu f¨ordern. Ohne unsere Aufenthalte am MFO l¨age der Abschluss dieses Projekts noch immer in ferner Zukunft. Der zweite Autor bedankt sich beim Max-Planck-Institut f¨ur Mathematik in Bonn f¨ur seine best¨andige Gastfreundschaft. Vielen Dank an John Duncan, Sergei Gelfand und G¨unter Ziegler, die das Manuskript von Anfang bis Ende lasen und deren detaillierte (und nahezu disjunkte!) Kommentare und Kritiken die Darstellung wesentlich verbesserten. 1
In Russisch unter http://kvant.mccme.ru/ online verf¨ugbar.
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Vorwort
Der zweite Autor bedankt sich herzlich f¨ur die teilweise Unterst¨utzung durch die National Science Foundation (NSF).
Dmitry Fuchs und Serge Tabachnikov Dezember 2006
Erg¨anzung zur ersten deutschen Auflage ¨ Wir sind unserer Ubersetzerin Micaela Krieger-Hauwede und allen Mitarbeitern des Springer-Verlags f¨ur ihre exzellente Arbeit dankbar.
Dmitry Fuchs und Serge Tabachnikov September 2010
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii Algebra und Arithmetik – Teil I Arithmetik und Kombinatorik 1
Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3
2
Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten . . . . . . . . 31
3
¨ ¨ Uber das Sammeln gleichartiger Terme, uber Euler, Gauß und ¨ MacDonald und uber verpasste Gelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Algebra und Arithmetik – Teil II Gleichungen 4
Gleichungen dritten und vierten Grades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
5
¨ Gleichungen funften Grades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
6
Wie viele Nullstellen hat ein Polynom? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
7
Tschebyschow-Polynome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
8
Die Geometrie von Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
¨ Geometrie und Topologie – Teil III Einhullende und Singularit¨aten 9
Spitzen (Cusps) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
10
Rund um vier Scheitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
11
Segmente gleicher Fl¨achen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
12
¨ Uber ebene Kurven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
xi
xii
Inhaltsverzeichnis
Geometrie und Topologie – Teil IV Abwickelbare Fl¨achen 13
Papierbogengeometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
14
M¨obiusband aus Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
15
¨ Mehr uber das Falten von Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Geometrie und Topologie – Teil V Geraden 16
¨ Geraden auf gekrummten Fl¨achen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
17
Siebenundzwanzig Geraden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
18
Gewebegeometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
19
Die Crofton-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Geometrie und Topologie – Teil VI Polyeder 20
¨ Krummung und Polyeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
21
Nicht einschreibbare Polyeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
22
¨ Kann man aus einem Wurfel ein Tetraeder machen? . . . . . . . . . . . . . . . 351
23
Unm¨ogliche Kachelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
24
Die Starrheit der Polyeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385
25
Flexible Polyeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
¨ Geometrie und Topologie – Teil VII Zwei verbluffende topologische Konstruktionen 26
Die geh¨ornte Sph¨are von Alexander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
27
¨ Kegel umstulpen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427
¨ Geometrie und Topologie – Teil VIII Uber Ellipsen und Ellipsoide 28
Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
29
Der Schließungssatz von Poncelet und andere Schließungss¨atze . . . . . 459
30
Gravitationsanziehung von Ellipsoiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
Inhaltsverzeichnis
xiii
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Grafik- und Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
Algebra und Arithmetik
Teil I ARITHMETIK UND KOMBINATORIK
Vorlesung 1
Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
1.1 Prolog √ Alice1 (die links durch eine T¨ur kommt): Ich kann beweisen, dass 2 irrational2 ist. Bob (der rechts durch eine T¨ur kommt): Aber das ist doch ganz einfach: Nimm einen √ Taschenrechner, dr¨ucke die Taste , dann 2 und Du siehst die Quadratwurzel von 2 auf der Anzeige. Es ist offensichtlich, dass die Zahl irrational ist: 1. 4 1 4 2 1 3 5 6 2 √ Alice: In der Tat ein gewisser Beweis! Aber was ist, wenn 2 ein periodischer Dezimalbruch ist, die Periode aber l¨anger als Deine Anzeige ist? Wenn Du Deinen Taschenrechner verwendest, um beispielsweise 25 durch 17 zu dividieren, wirst Du auch eine wilde Ziffernfolge erhalten: 1. 4 7 0 5 8 8 2 3 5 Aber diese Zahl ist rational! 1 Alice und Bob (alias A und B) sind beliebte Figuren in vielen mathematischen Essays; siehe zum Beispiel: D. Knuth, Surreal Numbers“, Addison-Wesley Publ. Co., Massachusetts-London” Amsterdam, 1974. 2 Das bedeutet: nicht durch einen Bruch zweier ganzer Zahlen darstellbar.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 1,
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1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
Bob: Du kannst recht haben, aber f¨ur Zahlen, die in Alltagsproblemen vorkommen, liefert meine Methode im Allgemeinen die richtige Antwort. Also kann ich mich auf meinen Taschenrechner verlassen, wenn ich bestimmen will, welche Zahlen rational sind und welche irrational. Die Wahrscheinlichkeit f¨ur einen Irrtum wird sehr gering sein. Alice: Da bin ich anderer Ansicht (verschwindet links durch eine T¨ur). Bob: Und ich bin anderer Ansicht als Du (verschwindet rechts durch eine T¨ur).
1.2 Wer hat recht? Das haben wir viele Leute gefragt, und alle sagten: Alice. Egal, ob Sie nun neun (oder neunzig oder neun Millionen) Dezimalstellen einer Zahl kennen, Sie k¨onnen nicht sagen, ob die Zahl rational oder irrational ist: Es gibt unendlich viele rationale und irrationale Zahlen, deren Dezimalbruch denselben Anfang hat. Wie a¨ hnlich sie auch aussehen m¨ogen, unterscheiden sich die beiden Zahlen aus Abschnitt 1.1 doch in einer erheblichen Weise. Die zweite Zahl liegt sehr nah an 25 25 : Die Differenz zwischen 1.470588235 und ist ungef¨ahr der rationalen Zahl 17 17 −10 3 · 10 . Was 1.414213562 betrifft, gibt es keinen Bruch mit einem zweistelligen 99 Nenner, der genauso nah an dieser Zahl liegt. Von den Br¨uchen dieser Art liegt 70 der Zahl 1.414213562 am n¨achsten, und die Differenz zwischen den beiden Zahlen √ ist ungef¨ahr 7 · 10−5 . Der k¨urzeste Bruch, der 2 mit einem Fehler von 3 · 10−10 47321 25 n¨ahert, ist , was viel l¨anger als ist. Noch wichtiger ist, dass diese Diffe33461 17 renz zwischen den beiden neunstelligen Dezimalbr¨uchen (die durch einfaches Hinschauen nicht erkennbar ist) mit einem einfachen Taschenrechner leicht aufgedeckt werden kann. Um Bob in seiner Diskussion mit Alice etwas zu unterst¨utzen, k¨onnen Sie Ihren Freunden einen einfachen Trick zeigen.
1.3 Ein Trick Sie brauchen dazu einen Taschenrechner, der addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren kann (eine Taste x−1 w¨are hilfreich). Bitten Sie jemanden, Ihnen zwei neunstellige Dezimalzahlen anzugeben, sagen wir zwischen 0.5 und 1, zum Beispiel die beiden Zahlen 0.635149023
und
0.728101457.
Eine dieser Zahlen soll sich aus einem Bruch ergeben, deren Nenner (den Zuschauern bekannt) kleiner als 1000 ist; die andere soll zuf¨allig sein. Sie behaupten, dass
1.4 Was ist eine gute N¨aherung?
5
Sie in einer Minute herausfinden k¨onnen, welche der beiden Zahlen ein Dezimalbruch ist, und dass Sie diesen Bruch nach einer weiteren Minute angeben k¨onnen. Sie d¨urfen Ihren Taschenrechner verwenden (die Zuschauer werden sehen, was Sie damit machen). Wie macht man das? Wir werden das in dieser Vorlesung (siehe Abschnitt 1.13 auf Seite 25) erkl¨aren. Salopp gesagt, ist eine dieser Zahlen ungef¨ahr rational“, ” w¨ahrend es die andere nicht ist – was auch immer das bedeutet.
1.4 Was ist eine gute N¨aherung? p (den wir q als nicht reduzierbar annehmen k¨onnen) eine N¨aherung f¨ur α ist? Das Erste, gute p worauf es ankommt, ist der Fehler, also α − ; er soll klein sein. Aber das ist q nicht alles: Ein Bruch sollte handhabbar sein, das heißt, dass die Zahlen p und q nicht zu groß sein sollten. Es ist vern¨unftig, zu fordern, dass der Nenner q nicht zu groß ist: Die Gr¨oße von p h¨angt von α ab, was nicht mit der Genauigkeit der N¨aherung angt. Also wollen wir zwei Zahlen minimieren, n¨amlich den zusammenh¨ p Fehler α − und den Nenner q. Die beiden Ziele widersprechen sich aber: Um q den Fehler kleiner zu machen, m¨ussen wir einen gr¨oßeren Nenner w¨ahlen und umgekehrt. Um die beiden widerspr¨uchlichen Forderungen unter einen Hut zu bringen, k¨onnen wir sie zu einem einzigen G¨uteindikator“ einer N¨aherung zusammenfasp” von α als gut bezeichnen, wenn das Produkt sen. Wir wollen eine N¨aherung q 1 α − p · q klein ist, sagen wir kleiner als 1 oder . Die Idee scheint q 100 1000000 vern¨unftig, der folgende Satz klingt aber entmutigend. Sei α eine irrationale Zahl. Wie k¨onnen wir entscheiden, ob ein Bruch
Satz 1.1. F¨ur jedes α und jedes ε > 0 existieren unendlich viele Br¨uche q α −
p mit q
p < ε. q
Mit anderen Worten: Alle Zahlen haben beliebig gute N¨aherungen, sodass wir Zahlen nicht anhand der G¨ute ihrer rationalen N¨aherung unterscheiden k¨onnen. Ein Beweis von Satz 1.1 ist geometrisch, und die geometrische Hauptzutat dieses Beweises ist ein Gitter“. Weil Gitter auch in nachfolgenden Abschnitten hilfreich ” sein werden, diskutieren wir ihre maßgeblichen Eigenschaften nun in einem separaten Abschnitt.
6
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
1.5 Gitter − → −→ Sei O ein Punkt in der Ebene (der Ursprung“), und seien v = OA und w = OB zwei ” nicht kollineare Vektoren (was bedeutet, dass die Punkte O, A, B nicht auf einer Geraden liegen). Wir betrachten die Menge aller Punkte (Endpunkte der Vektoren) pv + qw (siehe Abbildung 1.1). Dies ist ein Gitter (das durch v und w generiert wird). Wir brauchen die beiden folgenden Propositionen (wobei wir f¨ur den Beweis von Satz 1.1 nur die erste Proposition brauchen). Sei Λ ein Gitter in der Ebene, das durch die Vektoren v und w generiert wird. Proposition 1.1. Sei KLMN ein Parallelogramm, dessen Eckpunkte K, L und M zu Λ geh¨oren. Dann geh¨ort auch N zu Λ . −→ −→ −−→ Beweis. Sei OK = av + bw, OL = cv + dw, OM = ev + f w. Dann ist −→ −→ −→ −→ −→ −→ −−→ −→ ON = OK + KN = OK + LM = OK + (OM − OL) = (a − c + e)v + (b − d + f )w; folglich gilt N ∈ Λ . 2 −→ −→ Den Fl¨acheninhalt des elementaren“ Parallelogramms OACB (mit OC = OA + ” −→ OB) bezeichnen wir mit a. Proposition 1.2. Sei KLMN ein Parallelogramm mit Eckpunkten in Λ . (a) Dann ist der Fl¨acheninhalt von KLMN gleich n, wobei n eine positive ganze Zahl ist. (b) Wenn außer den Punkten K, L, M, N kein Punkt von Λ im Innern des Parallelogramms KLMN oder auf seinem Rand liegt, dann ist der Fl¨acheninhalt von KLMN gleich s. ¨ (Eine allgemeinere Aussage macht die Formel von Pick, siehe Ubung 1.1 auf Seite 26.)
Abb. 1.1 Das durch v und w generierte Gitter.
1.5 Gitter
7
Beweis von (b). Sei die L¨ange der l¨angeren Diagonale von KLMN. Kacheln Sie die Ebene mit Parallelogrammen, die parallel zu KLMN sind. F¨ur eine Kachel π sei Kπ der Eckpunkt von π , der unter der Parallelverschiebung KLMN → π dem Eckpunkt K entspricht. Dann stellt π ↔ Kπ eine eineindeutige (injektive) Beziehung zwischen den Kacheln und den Punkten des Gitters Λ her. (In der Tat liegt kein Punkt von Λ im Innern einer Kachel oder auf einer Kachelseite; folglich ist jeder Punkt von Λ ein Kπ f¨ur ein π .) Sei DR die Kreisscheibe mit dem Radius R um O, und sei N die Anzahl der Punkte von Λ im Innern von DR . Die Punkte von Λ im Innern von DR bezeichnen wir mit K1 , K2 , . . . , KN . Sei Ki = Kπi . Die Vereinigung aller Kacheln πi (1 ≤ i ≤ N) enth¨alt DR− und ist in DR+ enthalten. Wenn der Fl¨acheninhalt von KLMN gleich S ist, dann gilt folglich
π (R − )2 ≤ NS ≤ π (R + )2 . Dasselbe gilt (m¨oglicherweise mit einem anderen , wir k¨onnen aber das gr¨oßere der beiden verwenden) f¨ur das Parallelogramm OACB, das ebenfalls außer seinen Eckpunkten keine weiteren Punkte von Λ enth¨alt; folglich gilt
π (R − )2 ≤ Ns ≤ π (R + )2 . Die Division der Ungleichungen zeigt, dass S (R + )2 (R − )2 ≤ ≤ (R + )2 s (R − )2 gilt und, weil
(R − )2 f¨ur große R beliebig nah an 1 liegt, S = s ist. (R + )2
Beweis von (a). Bedenken Sie zun¨achst: Wenn ein Dreieck PQR mit Eckpunkten in Λ außer P, Q, R keine weiteren Punkte von Λ enth¨alt (weder im Innern noch auf s dem Rand), so ist sein Fl¨acheninhalt . Dieses Dreieck ist die H¨alfte des Paralle2 logramms PQRS, das ebenfalls außer seinen Eckpunkten keine weiteren Punkte aus Λ enth¨alt. Und es gilt S ∈ Λ nach Proposition 1.1 auf der vorherigen Seite. Daher ist der Fl¨acheninhalt des Parallelogramms PQRS gleich s (nach Teil (b)) und der s Fl¨acheninhalt des Dreiecks PQR ist . Wenn nun unser Parallelogramm KLMN im 2 Innern q Punkte von Λ und auf den Seiten p Punkte enth¨alt (außer K, L, M, N), so ist p gerade (gegen¨uberliegende Seiten enthalten die gleiche Anzahl von Punkten von Λ ). Das Parallelogramm kann dann in 2q + p + 2 Dreiecke mit Eckpunkten in Λ zerlegt werden, die im Innern oder auf den Seiten keine weiteren Punkte aus Λ enthalten (siehe Abbildung 1.2 auf der n¨achsten Seite). Sein Fl¨acheninhalt ist p p s (2q + p + 2) = (q + + 1)s = ns mit n = q + + 1 ∈ Z. 2 2 2 (Warum ist die Anzahl der Dreiecke 2q + p + 2? Berechnen Sie die Summe der Winkel aller Dreiecke, die nat¨urlich π mal die Anzahl der Dreiecke ist. Jeder Punkt im Innern des Parallelogramms tr¨agt 2π zu dieser Summe bei, jeder Punkt auf einer
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1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
Abb. 1.2 Eine Zerlegung eines Parallelogramms in Dreiecke.
Seite tr¨agt π bei, und der Beitrag der vier Eckpunkte ist 2π . Teilen Sie das Ergebnis durch π , um die Anzahl der Dreiecke zu bestimmen.) 2
1.6 Beweis von Satz 1.1 Seien α , p und q wie in Satz 1.1 auf Seite 5. Wir betrachten das Gitter, das von den Vektoren v = (−1, 0) und w = (α , 1) generiert wird. Dann ist p ,q . pv + qw = (qα − p, q) = q α − q Wir wollen beweisen, dass f¨ur unendlich viele Paare (p, q) dieser Punkt im Innern des Streifens −ε < x < ε liegt, der im linken Teil der Abbildung 1.3 schraffiert dargestellt ist. Mit anderen Worten: Der schraffierte Streifen enth¨alt (f¨ur jedes ε > 0) unendlich viele Gitterpunkte.
Abb. 1.3 Beweis von Satz 1.1.
1 Das ist offensichtlich, wenn ε nicht sehr klein ist, sei zum Beispiel ε = . F¨ur 2 jede positive ganze Zahl q liegen auf der Horizontalen y = q in der Tat eine Reihe
1.7 Quadratische N¨aherungen
9
von Gitterpunkten, deren Abstand 1 ist. Genau einer dieser Punkte liegt im Innern 1 des breiten Streifens |x| < . Folglich enth¨alt der breite Streifen unendlich viele 2 Punkte mit positiven y-Koordinaten. 1 Wir w¨ahlen eine positive ganze Zahl n so, dass < ε gilt, und zerschneiden 2n 1 den breiten Streifen in 2n schmale Streifen der Breite . Mindestens einer dieser 2n schmalen Streifen muss unendlich viele Punkte mit positiven y-Koordinaten enthalten. Nehmen wir an, dass es der schraffierte Streifen aus dem rechten Teil der Abbildung 1.3 auf der vorherigen Seite ist. Seien A0 , A1 , A2 , . . . die Punkte auf dem schraffierte Streifen, die mit wachsender y-Koordinate nummeriert sind. F¨ur alle i > 0 betrachten wir den zu A0 O kollinearen Vektor mit dem Ausgangspunkt Ai . Sei Bi der Endpunkt dieses Vektors. Weil OA0 Ai Bi ein Parallelogramm ist und O, A0 , Ai zum Gitter geh¨oren, geh¨ort auch Bi zum Gitter. Außerdem ist die x-Koordinate von Bi gleich der Differenz zwischen den x-Koordinaten von Ai und A0 (wieder weil OA0 Ai Bi ein Parallelogramm ist). Folglich ist der Betrag der x-Koordinate von Bi 1 kleiner als < ε ; alle Punkte Bi liegen also im Streifen aus dem linken Teil der 2n Abbildung 1.3 auf der vorherigen Seite. 2
1.7 Quadratische N¨aherungen Satz 1.1 auf Seite 5 klingt ziemlich entmutigend, wie sch¨on seine Aussage und sein Beweis auch sein m¨ogen. Wenn es f¨ur alle Zahlen beliebig gute N¨aherungen gibt, dann haben wir keine M¨oglichkeit, Zahlen mit guten N¨aherungen von Zahlen zu unterscheiden, die keine guten N¨aherungen besitzen. Um es besser zu machen, k¨onnen wir versuchen, mit einem anderen G¨uteindikator zu arbeiten, der dem Nenp ner q mehr Gewicht gibt. Wir wollen nun sagen, dass die N¨aherung von α gut ist, q p 2 wenn das Produkt q α − klein ist. q Der folgende Satz, der vor einem Jahrhundert bewiesen wurde, zeigt, dass diese Wahl vern¨unftig ist. Satz 1.2 (A. Hurwitz, E. Borel). (a) Zu jedem α existieren unendlich viele Br¨uche p mit q 1 p 2 q α − < √ . q 5 √ (b) Es existiert eine irrationale Zahl α , sodass es f¨ur alle λ > 5 nur endlich p viele Br¨uche gibt mit q p 1 2 q α − < . q λ
10
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
Abschnitt 1.12 auf Seite 23 liefert einen Beweis dieser Aussage. Der Beweis st¨utzt sich auf die geometrische Konstruktion aus Abschnitt 1.6 auf Seite 8 sowie auf Eigenschaften sogenannter Kettenbr¨uche, die in Abschnitt 1.8 diskutiert werden. Bevor wir aber Kettenbr¨uche betrachten, wollen wir erst die nat¨urliche Neugier des Lesers befriedigen, der wohl die Zahl wissen m¨ochte, die nach Teil (b) des Satzes existiert. Was ist die irrationalste aller irrationalen Zahlen, die Zahl, die sich am meisten gegen eine rationale N¨aherung str¨aubt? Erstaunlicherweise ist diese schlimmste Zahl genau die Zahl, die von Generationen von K¨unstlern, Bildhauern √ 1+ 5 3 . und Architekten am meisten geliebt wurde: Es ist der Goldene Schnitt 2
¨ 1.8 Kettenbruche 1.8.1 Definition und Terminologie Ein endlicher Kettenbruch ist ein Ausdruck der Form a0 +
1 a1 +
1 a2 +
1 ..
.
+
1 an−1 +
1 an
,
wobei a0 eine ganze Zahl ist, a1 , . . . , an positive ganze Zahlen sind und n ≥ 0 gilt. Proposition 1.3. Jede rationale Zahl ist als ein endlicher Kettenbruch darstellbar. Diese Darstellung ist eindeutig, abgesehen von einer Mehrdeutigkeit: Ist n > 0 und an = 1, so k¨onnen wir an eliminieren und an−1 durch an−1 + 1 ersetzen. p werden wir per Induktion u¨ ber q q beweisen, dass eine Kettenbruchdarstellung existiert. F¨ur ganze Zahlen (q = 1) ist die Existenz offensichtlich. Nehmen wir an, dass eine Kettenbruchdarstellung p f¨ur alle Br¨uche mit Nennern kleiner als q existiert. Sei r = , a0 = [r]. Dann gilt q p 1 q r = a0 + mit 0 < p < q und r = a0 + , wobei r = ist. Wegen p < q existiert q r p eine Kettenbruchdarstellung
Existenzbeweis. F¨ur jeden irreduziblen Bruch
3 Genau genommen, ist der Goldene Schnitt nicht einzigartig: Jede andere Zahl, die im Sinne von ¨ Ubung 1.8 auf Seite 27 mit ihr verwandt ist, ist genauso schlecht.
1.8 Kettenbr¨uche
11
r = a1 +
1 a2 +
1 ..
.
1
+
an−1 +
1 an
und wegen r > 1 gilt a1 = [r ] ≥ 1. Folglich ist r = a0 +
1 = a0 + r
1 a1 +
1 1
a2 +
..
.
+
1 an−1 +
1 an
Eindeutigkeitsbeweis. Wenn r = a0 +
1 a1 +
1 a2 +
1 ..
.
+
1 an−1 +
1 an
und an > 1 (oder n = 0) ist, dann gilt a0 = [b0 ], a1 = [b1 ], . . . , an = [bn ] (= bn ) mit b0 = r, b1 =
1 1 1 , b2 = , . . . , bn = , b0 − a0 b1 − a1 bn−1 − an−1
was zeigt, dass die Konstanten a0 , a1 , a2 , . . . eindeutig durch r bestimmt sind. 2 Die letzte Zeile in dieser Reihe von Formeln liefert einen Algorithmus, mit dem zu gegebenem r die Konstanten a0 , a1 , a2 , . . . berechnet werden k¨onnen. Dar¨uber hinaus l¨asst sich dieser Algorithmus anstatt auf r auch auf eine irrationale Zahl α anwenden. In diesem Fall liefert der Algorithmus eine unendliche Folge von ganzen Zahlen a0 , a1 , a2 , . . . , ai > 0 f¨ur i > 0. Wir schreiben
α = a0 +
1 a1 +
1 a2 + . .
.
12
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
Die Zahlen a0 , a1 , a2 , . . . heißen unvollst¨andige Quotienten von α . Die Zahl rn = a0 +
1 a1 +
1 ..
.
+
1 an−1 +
1 an
heißt n-ter N¨aherungsbruch von α . Offenbar gilt r0 < r2 < r4 < · · · < α < · · · < r5 < r3 < r1 . Die Standardmethode zur Reduktion von mehrstufigen Br¨uchen liefert Werte f¨ur den Z¨ahler und den Nenner von rn : r0 = oder allgemein rn =
a0 a0 a1 + 1 a0 a1 a2 + a0 + a2 , r1 = , ... , r2 = 1 a1 a1 a2 + 1 pn mit qn
p0 = a0 , q0 = 1,
p1 = a0 a1 + 1, q1 = a1 ,
p2 = a0 a1 a2 + a0 + a2 , . . . , q2 = a1 a2 + 1, ....
Ab jetzt werden wir eine Kurzschreibweise f¨ur Kettenbr¨uche verwenden: F¨ur einen unendlichen Kettenbruch mit den unvollst¨andigen Quotienten a0 , a1 , a2 , . . . werden wir [a0 ; a1 , a2 , . . . ] schreiben; f¨ur einen endlichen Kettenbruch mit den unvollst¨andigen Quotienten a0 , a1 , . . . , an werden wir [a0 ; a1 , . . . , an ] schreiben.
1.8.2 Einige einfache Relationen Proposition 1.4. Seien a0 , a1 , . . . , p0 , p1 , . . . , q0 , q1 , . . . wie vorhin. Dann gilt (a) pn = an pn−1 + pn−2 (n ≥ 2); (b) qn = an qn−1 + qn−2 (n ≥ 2); (c) pn−1 qn − pn qn−1 = (−1)n (n ≥ 1). Beweis von (a) und (b). Wir werden diese Aussagen in einer allgemeineren Form beweisen, n¨amlich wenn a0 , a1 , a2 , . . . beliebige reelle Zahlen (nicht zwingend ganze Zahlen) sind. Im Fall n = 2 haben wir die erforderlichen Relationen bereits. Sei n > 2, und nehmen wir an, dass pn−1 = an−1 pn−2 + pn−3 , qn−1 = an−1 qn−2 + qn−3
1.8 Kettenbr¨uche
13
f¨ur beliebige a0 , . . . , an−1 gilt. Wir wenden diese Formeln auf a0 = a0 , . . . , an−2 = 1 an. Offensichtlich ist pi = pi , qi = qi f¨ur i ≤ n − 2 und an−2 , an−1 = an−1 + an pn qn pn−1 = , qn−1 = . Folglich gilt an an pn = an pn−1 = an (a n−1 pn−2 + pn−3 ) 1 = an an−1 + pn−2 + pn−3 an = an (an−1 pn−2 + pn−3 ) + pn−2 = an pn−1 + pn−2 ,
und analog qn = an qn−1 + qn−2 . Beweis von (c). Induktion u¨ ber n. F¨ur n = 1 gilt p0 q1 − p1 q0 = a0 a1 − (a0 a1 + 1) · 1 = −1 . Wenn n ≥ 2 ist und die Gleichung f¨ur n − 1 statt f¨ur n gilt, dann ist pn−1 qn − pn qn−1 = pn−1 (an qn−1 + qn−2 ) − (an pn−1 + pn−2 )qn−1 = pn−1 qn−2 − pn−2 qn−1 = −(pn−2 qn−1 − pn−1 qn−2 ) = −(−1)n−1 = (−1)n . 2 Korollar 1.1. lim rn = α . n→∞
pn pn−1 pn qn−1 − qn pn−1 (−1)n−1 − = = . qn qn−1 qn qn−1 qn qn−1 1 Weil α zwischen rn−1 und rn liegt, gilt |rn − α | < . Der letzte Ausdruck qn qn−1 geht gegen null, wenn n gegen unendlich geht. 2 Beweis. In der Tat gilt rn − rn−1 =
1.8.3 Warum Kettenbruche besser als Dezimalbruche sind ¨ ¨ Dezimalbr¨uche f¨ur rationale Zahlen sind entweder endlich √ oder periodisch unendlich. Dezimalbr¨uche f¨ur irrationale Zahlen wie e, π oder 2 sind chaotisch. Kettenbr¨uche f¨ur rationale Zahlen sind immer endlich. Unendliche, periodische Kettenbr¨uche entsprechen quadratischen Irrationalit¨aten“, das heißt Wurzeln qua” dratischer Gleichungen mit rationalen Koeffizienten. Den Beweis dieser Behaup¨ ¨ tung u¨ berlassen wir dem Leser als Ubung (siehe Ubungen 1.4 und 1.5 auf Seite 27), wir geben aber zwei Beispiele. Gegeben seien
α = [1; 1, 1, 1, . . . ] und β = [2; 2, 2, 2, . . . ].
14
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
1 1 und β = 2 + . Daher gilt α 2 − α − 1 = 0, β 2 − 2β − 1 = 0, α β √ √ 1+ 5 und die L¨osungen dieser Gleichungen sind α = und β = 1 + 2 (wir bilden 2 die positiven Wurzeln der √ quadratischen Gleichungen). Folglich ist α der ”Goldene Schnitt“; außerdem ist 2 = β − 1 = [1; 2, 2, 2, . . . ]. Dann ist α = 1 +
1.8.4 Warum Dezimalbruche besser als Kettenbruche sind ¨ ¨ F¨ur Dezimalbr¨uche gibt es geeignete Algorithmen zur Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division (und sogar zum Ziehen von Quadratwurzeln). F¨ur Kettenbr¨uche gibt es fast keine derartigen Algorithmen. Wenn wir etwa die Gleichung [a0 ; a1 , a2 , . . . ] + [b0 ; b1 , b2 , . . . ] = [c0 ; c1 , c2 , . . . ] betrachten, gibt es keine vern¨unftigen Formeln, um die Quotienten ci durch die Quotienten ai und bi auszudr¨ucken. Abgesehen von den offensichtlichen Relationen [a0 ; a1 , a2 , . . . ] + n = [a0 + n, a1 , a2 , . . . ] (f¨ur n ∈ Z), (f¨ur a0 > 0), [a0 ; a1 , a2 , . . . ]−1 = [0; a0 , a1 , a2 , . . . ] ¨ gibt es fast keine Formeln dieser Art (wir verweisen jedoch auf die Ubungen 1.2 und 1.3 auf Seite 27).
1.9 Der euklidische Algorithmus 1.9.1 Kettenbruche und der euklidische Algorithmus ¨ Der euklidische Algorithmus wird in der Regel verwendet, um den gr¨oßten gemeinsamen Teiler zu bestimmen. Sind M und N zwei positive ganze Zahlen mit N > M, so ergibt sich aus der wiederholten Division mit Rest eine Reihe von Gleichungen N = a 0 M + b0 , M = a1 b0 + b1 , b0 = a2 b1 + b2 , ................ bn−2 = an bn−1 . Dabei sind a und b positive ganze Zahlen, und es gilt die Ungleichung 0 < bn−1 < bn−2 < · · · < b0 < M .
1.9 Der euklidische Algorithmus
15
Die Zahl bn−1 ist der gr¨oßte gemeinsame Teiler von M und N. Er kann mithilfe des euklidischen Algorithmus selbst dann berechnet werden, wenn M und N f¨ur eine explizite Primzahlzerlegung zu groß sind. (Es ist erw¨ahnenswert, dass der euklidische Algorithmus nicht nur auf ganze Zahlen angewendet werden kann, sondern auch auf Polynome in einer Variablen mit komplexen, reellen oder rationalen Koeffizienten.) Von unserem gegenw¨artigen Standpunkt aus ist allerdings das wichtigste Charakteristikum des euklidischen Algorithmus seine Beziehung zu Kettenbr¨uchen. Proposition 1.5. (a) Die Zahlen a0 , a1 , . . . , an sind die unvollst¨andigen Quotienten N von , es gilt M N = [a0 ; a1 , . . . , an ]. M (b) Seien
N pi (i = 0, 1, 2, . . . , n) die N¨aherungsbr¨uche von . Dann gilt qi M bi = (−1)i (Nqi − M pi ) .
Beweis von (a). N b0 1 = a0 + = a0 + M M M/b0 1 1 = a0 + = a0 + 1 b1 a1 + a1 + b0 /b1 b0 = a0 +
1 a1 +
1
= a0 +
b2 a2 + b1 = · · · = [a0 ; a1 , . . . , an ].
1 a1 +
1 a2 +
1 b1 /b2
Beweis von (b). F¨ur i = 0, 1 ist die Behauptung offensichtlich: b0 = N − Ma0 = Nq0 − M p0 ; b1 = M − a1 b0 = M − Na1 + Ma0 a1 = M(a0 a1 + 1) − Na1 = −(Nq1 − M p1 ). Daraus ergibt sich durch Induktion bi = bi−2 − ai bi−1 = (−1)i [Nqi−2 − M pi−2 + ai (Nqi−1 − M pi−1 )] = (−1)i [N(ai qi−1 + qi−2 ) − M(ai pi−1 + pi−2 )] = (−1)i (Nqi − M pi ). 2
16
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
Der Induktionsbeweis l¨asst sich auf den Fall u¨ bertragen, in dem die ganzen Zahβ len N, M durch reelle Zahlen β , γ > 0 ersetzt werden. Wir erhalten dann (wenn γ irrational ist) eine unendliche Reihe von Gleichungen
β = a0 γ + b0 , γ = a1 b0 + b1 , b0 = a2 b1 + b2 , .............. Dabei ist a0 eine ganze Zahl, und a1 , a2 , . . . sind positive ganze Zahlen. Die reellen Zahlen bi erf¨ullen die Ungleichungen 0 < · · · < b2 < b1 < b0 < γ . Proposition 1.5 auf der vorherigen Seite l¨asst sich auf diesen Fall verallgemeinern:
β = [a0 ; a1 , a2 , . . . ]. γ β pi der i-te N¨aherungsbruch von , so gilt bi = (−1)i (γ qi − β pi ). (b) Ist qi γ Proposition 1.6. (a)
(Der Beweis ist wie vorhin.)
1.9.2 Geometrische Darstellung des euklidischen Algorithmus Die Darstellung finden Sie in Abbildung 1.4 auf der n¨achsten Seite. Nehmen wir einen Punkt O in der Ebene und eine Gerade durch diesen Punkt (Vertikale aus Abbildung 1.4 auf der n¨achsten Seite). Nehmen wir die Punkte A−2 und A−1 mit den Abst¨anden β und γ von . Beide Punkte sollen u¨ ber der Horizontalen durch O liegen: A−2 rechts von und A−1 links von . Wir legen den Vektor −−−→ OA−1 so oft hintereinander an den Punkt A−2 , dass wir damit gerade noch nicht schneiden. Sei A0 das Ende dieses letzten Vektors; folglich schneidet der Vektor −−→ −−→ A0 D die Gerade . Dann legen wir den Vektor OA0 so oft hintereinander an den Punkt A−1 , dass wir damit gerade noch nicht schneiden. Sei A1 das Ende des −−→ letzten Vektors. Dann legen wir den Vektor OA1 an A0 und erhalten den Punkt A2 , anschließend A3 , dann A4 (nicht in Abbildung 1.4 dargestellt) usw. Wir erhalten zwei Polygonz¨uge A−2 A0 A2 A4 . . . und A−1 A1 A3 . . . , die von beiden Seiten gegen −−−→ −−−→ −−−→ −−→ −−→ −−→ konvergieren, und es gilt A−2 A0 = a0 OA−1 , A−1 A1 = a1 OA0 , A0 A2 = a2 OA1 , usw. Mit dem euklidischen Algorithmus h¨angt diese Konstruktion u¨ ber die Formelspalte β aus Abbildung 1.4 zusammen. Insbesondere gilt = [a0 ; a1 , a2 , . . . ]. γ Vergegenw¨artigen Sie sich Folgendes: Liegt ein Punkt An auf der Geraden , so β ist das Verh¨altnis rational und gleich [a0 ; a1 , a2 , . . . , an ]. γ
1.9 Der euklidische Algorithmus
17
Abb. 1.4 Geometrische Darstellung des euklidischen Algorithmus.
Die folgende Beobachtung ist f¨ur die nachfolgenden Abschnitte sehr wichtig. Alle Punkte, die in Abbildung 1.4 markiert sind (nicht nur A−2 , A−1 , A0 , A1 , A2 , son−−−→ −−−→ dern auch B,C, D) geh¨oren zum Gitter Λ , das von den Vektoren OA−2 und OA−1 generiert wird. Und zwar betrachten wir die Folge von Parallelogrammen OA−1 BA−2 , A−1 OBC, A−1 OCA0 , A−1 OA0 D, DOA0 A1 , A1 OA0 A2 , . . . . Da A−1 , O, A−2 Punkte des Gitters sind, schließen wir aus Proposition 1.1 auf Seite 6 sukzessive, dass B,C, A0 , D, A1 , A2 , . . . Punkte des Gitters sind. Dar¨uber hinaus gilt Folgendes: Proposition 1.7. Kein Punkt des Gitters Λ liegt zwischen den beiden Polygonenz¨ugen A−2 A0 A2 A4 . . . und A−1 A1 A3 . . . (und u¨ ber A−2 und A−1 ). Beweis. Das Gebiet zwischen diesen Polygonz¨ugen wird durch die Parallelogramme OA−2 BA−1 , OBCA−1 , OCA0 A−1 , OA0 DA−1 , OA0 A1 D, OA0 A2 A1 , OA2 EA1 , usw. u¨ berdeckt (der Punkt E liegt weit oberhalb von Abbildung 1.4). Diese Parallelo-
18
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
gramme haben gleiche Fl¨acheninhalte (jeweils zwei aufeinanderfolgende Parallelogramme haben eine gemeinsame Basis und gleiche H¨ohen). Folglich haben alle denselben Fl¨acheninhalt wie das Parallelogramm OA−2 BA−1 , und Teil (b) von Proposition 1.2 auf Seite 6 besagt, dass keines von ihnen einen Punkt von Λ enth¨alt. 2 ¨ (Ubrigens lassen sich die Polygonz¨uge A−2 A0 A2 A4 . . . und A−1 A1 A3 . . . als new” tonsche Polygone“ konstruieren). Wir nehmen an, dass sich an jedem Punkt des Gitters Λ rechts von und u¨ ber A−2 ein Nagel befindet. Wir legen ein Lineal so waagerecht an die Ebene, dass es den Nagel am Punkt A−2 ber¨uhrt. Dann drehen wir das Lineal so im Uhrzeigersinn, dass es fortw¨ahrend mindestens einen Nagel ber¨uhrt. Das Lineal dreht sich zuerst um A−2 , dann um A0 und dann um A2 usw. Und es u¨ berstreicht das Außengebiet des Polygonzugs A−2 A0 A2 A4 . . . .)
¨ 1.10 N¨aherungsbruche als beste N¨aherungen Sei α eine reelle Zahl. In Abschnitt 1.6 haben wir ein Gitter Λ betrachtet, das von den Vektoren (−1, 0) und (α , 1) aufgespannt wird. F¨ur alle p und q geh¨ort der Punkt p ,q p(−1, 0) + q(α , 1) = (qα − p, q) = q α − q p von α war gleich dem Abq p 2 stand dieses Punkte von der y-Achse. Der neue G¨uteindikator, q α − , ist der q Betrag des Produkts aus den Koordinaten dieses Punktes. Daher ist die Frage, f¨ur p wie viele N¨aherungen von α dieser G¨uteindikator kleiner als ε ist, a¨ quivalent zu q der Frage, wie viele Punkte des Gitters Λ u¨ ber der x-Achse (q > 0) im Innern des hyperbolischen Kreuzes“ |xy| < ε (siehe Abbildung 1.5) liegen. ”
zum Gitter; unser alter G¨uteindikator der N¨aherung
Abb. 1.5 Gitterpunkte innerhalb des hyperbolischen Kreuzes“. ”
1.10 N¨aherungsbr¨uche als beste N¨aherungen
19
Wenden wir die Konstruktion aus Abschnitt 1.9.2 auf Seite 16 auf das Gitter Λ mit A−2 = (α , 1) und A−1 = (−1, 0) an. Worin liegt die Bedeutung der Punkte A0 , A1 , A2 , . . . ? Proposition 1.8. F¨ur n ≥ 0 gilt An = (qn α − pn , qn ). pn und qn sind Z¨ahler und Nenner des irreduziblen Bruchs, der gleich dem n-ten N¨aherungsbruch der Zahl α ist. Beweis. Induktion u¨ ber n. F¨ur n = 0, 1 pr¨ufen wir das direkt: Wegen p0 = a0 , q0 = 1, p1 = a0 a1 + 1, q1 = a0 (siehe Abschnitt 1.8 auf Seite 10) gilt A0 = A−2 + a0 A−1 = (α , 1) + a0 (−1, 0) = (α − a0 , 1) = (q0 α − p0 , q0 ), A1 = A−1 + a1 A0 = (−1, 0) + a1 (α − a0 , 1) = (a1 α − (a0 a1 + 1), a1 ) = (q1 α − p1 , q1 ) . Dar¨uber hinaus gilt, wenn n ≥ 2 ist und die Formeln f¨ur An−1 und An−2 richtig sind, An = An−2 + an An−1 = (qn−2 α − pn−2 , qn−2 ) + an (qn−1 α − pn−1 , qn−1 ) = ((an qn−1 + qn−2 )α − an pn−1 − pn−2 , an qn−1 + qn−2 ) = (qn α − pn , qn ). 2 Proposition 1.8 zeigt, dass N¨aherungsbr¨uche die besten rationalen N¨aherungen reeller Zahlen sind. Insbesondere gilt Folgendes: pn die UnProposition 1.9. Sei ε > 0. Gilt nur f¨ur endlich viele N¨aherungsbr¨uche q n pn p p gleichung q2n α − < ε , so ist die Menge der Br¨uche mit q2 α − < ε endqn q q lich. Beweis. Die Annahme impliziert, dass f¨ur ein n alle Punkte An+1 , An+2 , An+3 , An+4 außerhalb des hyperbolischen Kreuzes |xy| < ε liegen. Das bedeutet, dass das gesamte hyperbolische Kreuz zwischen den Polygonz¨ugen An+1 An+3 An+4 . . . und An+2 An+4 An+6 . . . liegt (wir verwenden die Konvexit¨at einer Hyperbel: Liegen die Punkte Ak und Ak+2 in einem Teil des Gebiets |xy| > ε , so gilt das auch f¨ur das gesamte Segment Ak Ak+2 ). Aber nach Proposition 1.7 auf Seite 17 gibt es keine Gitterpunkte zwischen den beiden Polygonz¨ugen (und u¨ ber An ). Folglich enth¨alt das hyperbolische Kreuz |xy| > ε keine Gitterpunkte u¨ ber An , woraus sich die Proposition ergibt. 2 p Bedenken Sie, dass der Ausdruck q2 α − f¨ur den Beweis keine große Rolq le spielt. Dieselbe Aussage wir aus w¨urde auch f¨ur den G¨uteindikator gelten, den p p p 3 100 q α − oder q α − berechnen, oder sogar jeden Ausdruck F q, α − , q q q
20
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
in dem die Funktion F die Eigenschaft besitzt, dass das Gebiet F(x, y) > ε im ersten oder zweiten Quadranten f¨ur jedes ε konvex ist. Also liefern die N¨aherungsbr¨ √uche die besten N¨aherungen. Die besten N¨aherungen 1+ 5 = [1; 1, 1, 1, . . . ] sind zum Beispiel f¨ur den Goldenen Schnitt 2 3 5 8 2 1, [1; 1] = , [1; 1, 1] = , [1; 1, 1, 1] = , [1; 1, 1, 1, 1] = , . . . ; 1 2 3 5 das sind die Verh¨altnisse aus aufeinanderfolgenden Fibonacci-Zahlen (was sich √ aus Teil (b) von Proposition 1.4 auf Seite 12 ergibt). Die besten N¨aherungen von 2 = [1; 2, 2, 2, . . . ] sind 7 17 41 3 1, [1; 2] = , [1; 2, 2] = , [1; 2, 2, 2] = , [1; 2, 2, 2, 2] = , 2 5 12 29 99 47321 [1; 2, 2, 2, 2, 2] = , . . . , [1; 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2] = ,.... 70 33461 √ Die beiden letzten N¨aherungen von 2 haben wir bereits in Abschnitt 1.2 auf 99 Seite 4 erw¨ahnt. Insbesondere haben wir behauptet, dass die beste N¨aherung 70 √ von 2 unter den Br¨uchen mit zweistelligem Nenner ist. Am u¨ berraschendsten ist, dass f¨ur die G¨uteindikatoren von N¨aherungsbr¨uchen wunderbare Formeln existieren.
¨ ¨ N¨aherungsbruche ¨ 1.11 Guteindikator fur pn der (irreduzible) n-te N¨aherungsbruch der reellen Zahl α = [a0 ; a1 , qn a2 , . . . ]. Dann gilt 1 pn 2 qn α − = qn λn Satz 1.3. Sei
mit
λn = an+1 +
1 an+2 +
1 1 an+3 + .. .
+
1 an +
Der Beweis st¨utzt sich auf das folgende Lemma.
1 an−1 +
1 ..
.
+
1 a1
1.11 G¨uteindikator f¨ur N¨aherungsbr¨uche
21
Abb. 1.6 Berechnung des Fl¨acheninhalts eines Parallelogramms.
Lemma 1.1. Die Punkte A und B sollen in einem gew¨ohnlichen rechtwinkligen Koordinatensystem mit dem Ursprung O die Koordinaten (a1 , a2 ), (−b1 , b2 ) haben, wobei die Zahlen a1 , a2 , b1 , b2 positiv sind. Dann hat das Parallelogramm OACB (siehe Abbildung 1.6, links) den Fl¨acheninhalt a1 b2 + b1 a2 . Beweis des Lemmas. Wir erg¨anzen das Parallelogramm (siehe Abbildung 1.6, links) durch vertikale Linien durch A und B und eine horizontale Linie durch C. Wir erhalten ein F¨unfeck OAFDB (siehe Abbildung 1.6, rechts). Wir zerlegen es, wie in der Abbildung dargestellt, in sieben Teile und bezeichnen mit Si den Fl¨acheninhalt des Teils mit der Nummer i. Offensichtlich ist EF = GA = a1 , DB = GD = a2 , AF = OH = b2 . Ebenso offensichtlich ist S4 = S2 + S5 und S1 = S7 . Folglich gilt Fl¨acheninhalt(OACB) = S3 + S4 + S6 + S7 = S3 + (S2 + S5 ) + S6 + S1 = (S1 + S2 + S3 ) + (S5 + S6 ) = Fl¨acheninhalt(HEDB) + Fl¨acheninhalt(AFEG) = b1 a2 + a1 b2 . 2 Beweis des Satzes. Wir betrachten den linken Teil der Abbildung 1.7 auf der n¨achsten Seite. Das entspricht dem Fall eines geraden n. Wir werden die Notation rk = |α qk − pk | verwenden. Die Koordinaten der Punkte A−2 , A−1 , An−1 , An sind (α , 1), (−1, 0), (−rn−1 , qn−1 ), (rn , qn ) (siehe Proposition 1.8 auf Seite 19). Der Fl¨acheninhalt des Parallelogramms OAn EAn−1 ist 1 (siehe Proposition 1.7 auf Seite 17 und dessen Beweis). Wir haben die folgenden Relationen: (1) rn−1 qn + rn qn−1 = 1; rn−1 = [an+1 ; an+2 , an+3 , . . . ]; (2) rn
22
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
Abb. 1.7 Beweis des Satzes 1.3 auf Seite 20.
(3)
qn = [an ; an−1 , . . . , a1 ]. qn−1
Relation (1) wurde in Lemma 1.1 auf Seite 20 aufgestellt. Relation (2) ergibt sich rn−1 aus Teil (a) von Proposition 1.6 auf Seite 16 (der euklidische Algorithmus f¨ur rn α ist Teil des Algorithmus f¨ur , der in Abbildung 1.4 auf Seite 17 dargestellt ist). Re1 lation (3) mag weniger offensichtlich erscheinen, sie ergibt sich aber ebenfalls aus Teil (a) von Proposition 1.6 auf Seite 16. Um uns davon zu u¨ berzeugen, spiegeln wir die Punkte An , An−2 , . . . , A0 im Ursprung, wie im rechten Teil von Abbildung 1.7 qn dargestellt. Wir erhalten ein Bild f¨ur den euklidischen Algorithmus f¨ur (um qn−1 90◦ gedreht und an der x-Achse gespiegelt). Die A−2 A0 A2 A4 . . . und A−1 A1 A3 A5 . . . entsprechenden Polygonz¨uge sind An An−2 . . . A0 und An−1 An−3 . . . A−1 . Der zweite endet in einem Punkt A−1 auf der x-Achse, was bedeutet (wie wir bereits im qn Abschnitt 1.9.2 auf Seite 16 erw¨ahnt haben), dass ein endlicher Kettenbruch qn−1 [an ; an−1 , an−2 , . . . , a1 ] ist, wie in Relation (3) angegeben. Nun dividieren wir Relation (1) durch rn qn und berechnen λn :
λn =
1 rn−1 qn−1 1 . = + = [an+1 ; an+2 , . . . ] + rn qn rn qn [an ; an−1 , . . . , a1 ]
Es gilt auch
λn−1 =
1 qn rn 1 . = + = [an ; an−1 , . . . , a1 ] + rn−1 qn−1 qn−1 rn−1 [an+1 ; an+2 , . . . ]
Damit ist der Beweis des Satzes sowohl f¨ur gerade als auch f¨ur ungerade n abgeschlossen. 2
1.12 Beweis des Satzes von Hurwitz und Borel
23
Satz 1.3 auf Seite 20 zeigt, dass obwohl N¨aherungsbr¨uche die besten rationalen pn ist N¨aherungen f¨ur reelle Zahlen sind, nicht alle gleich gut sind. Die N¨aherung qn wirklich gut, wenn λn groß ist, was wegen an+1 < λn < an+1 + 2 bedeutet, dass der unvollst¨andige√ Quotient an+1 groß ist. In diesem Sinne haben weder der Goldene Schnitt noch 2 wirklich gute N¨aherungen. Betrachten wir die am h¨aufigsten verwendeten irrationalen Zahlen π und e. Es ist nicht schwer, Dezimaln¨aherungen, die ein Taschenrechner liefert, in Fragmente von Kettenbr¨uchen umzuwandeln (wir werden dies in Abschnitt 1.13 auf Seite 25 detailliert besprechen). Insbesondere ist
π = [3; 7, 15, 1, 293, 10, 3, 8, . . . ],
e = [2; 1, 2, 1, 1, 4, 1, 1, 6, . . . ].
Wir sehen, dass π im Gegensatz zu e einige große unvollst¨andige Quotienten aufweist; die beachtenswertesten sind 15 und 293. Die dazugeh¨origen guten N¨aherungen sind [3; 7] =
355 22 , [3; 1, 15, 1] = . 7 113
Die erste war bereits Archimedes bekannt; mit dem Nenner 7 liefert sie den Wert von π mit einem Fehler von 1.3 · 10−3 . Die zweite wurde vor fast vier Jahrhunderten von Adriaan Metius entdeckt. Sie hat (f¨ur einen Bruch mit diesem Nenner) eine beachtliche Genauigkeit von 2.7 · 10−7 und liefert sechs korrekte Dezimalstellen von π . F¨ur e existiert nichts Vergleichbares: Die besten N¨aherungen (innerhalb des 19 (der Fehler ist ≈ 4 · 10−3 ) und oben angegebenen Kettenbruchfragments) sind 7 199 (der Fehler ist ≈ 2.8 · 10−5 ). F¨ur weitere Informationen u¨ ber Kettenbr¨uche f¨ur 71 π und e verweisen wir auf [56], Anhang II.
1.12 Beweis des Satzes von Hurwitz und Borel Sei α = [a0 ; a1 , a2 , . . . ] eine irrationale Zahl. Wir m¨ussen beweisen, dass f¨ur unendpn lich viele N¨aherungsbr¨uche qn √ 1 > 5 qn (qn α − pn ) √ gilt, und dies nicht immer zutrifft, wenn 5 durch eine gr¨oßere Zahl ersetzt wird.
λn =
Fall 1. Es seien unendlich viele an gr¨oßer oder gleich 3. F¨ur diese n gilt dann √ λn−1 > an ≥ 3 > 5. Fall 2. Seien nur endlich viele an gr¨oßer als 2, aber unendlich viele von ihnen gleich 2. Dann gilt f¨ur unendlich viele n an+1 = 2, an ≤ 2, an+2 ≤ 2 und
24
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
λn = an+1 +
1 an+2 +
1 .. .
+
1 an +
1 .. .
≥ 2+
1 1 8 √ + = > 5. 3 3 3
Fall 3. F¨ur hinreichend große m ist am = 1. Dann gilt f¨ur n > m 1 . [1; 1, 1, . . . , a1 ] √ 5+1 , und der zweite Summand Der erste Summand ist der Goldene Schnitt 2 √ −1 √ 5+1 5−1 = geht gegen , wenn n gegen unendlich geht, und ist f¨ur 2 2 √ √ √ 5−1 5+1 5−1 √ . Folglich gilt λn > + = 5 f¨ur alle anderen n gr¨oßer als 2 2 √ 2 unendlich viele n. Da aber f¨ur alle ε > 0 lim λn = 5 ist, gilt die Ungleichung n→∞ √ λn > 5 + ε nur f¨ur endlich viele n. 2
λn = [1; 1, 1, 1, . . . ] +
√ Anmerkungen. Aus dem Beweis ist klar, dass wir die Konstante 5 nur im Fall 3 durch eine gr¨oßere Konstante ersetzen k¨onnen. In diesem Fall hat die Zahl α die Form [a0 ; a1 , . . . , an , 1, 1, 1, . . . ]. Der charakteristischste Vertreter dieser Klasse ist der Goldene Schnitt √ 5+1 ρ= = [1; 1, 1, 1, . . . ]. 2 Man kann beweisen, dass alle Zahlen aus dieser Klasse genau die von der Form aρ + b mit a, b, c, d ∈ Z und ad − bc = ±1 sind. Ist α keine dieser Zahlen, so kann cρ + d √ √ die Konstante 5 auf 8 erh¨oht werden. Es gibt noch mehr Resultate dieser Art ¨ (siehe Ubungen 1.11– 1.14 auf Seite 28). Abschließend wollen wir den folgenden Satz erw¨ahnen, f¨ur den sein Urheber Klaus Roth im Jahr 1958 mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wurde. Satz 1.4 (Roth). Ist α eine L¨osung einer algebraischen Gleichung an xn + an−1 xn−1 + · · · + a1 x + a0 = 0 mit ganzzahligen Koeffizienten, so existieren f¨ur jedes ε > 0 nur endlich viele Br¨uche p mit q α − p < 1 . q q2+ε
1.13 Zur¨uck zum Trick
25
¨ zum Trick 1.13 Zuruck In Abschnitt 1.3 auf Seite 4 waren zwei neunstellige Dezimalbr¨uche gegeben, von denen einer aus der Division einer dreistelligen Zahl durch eine andere stammte, w¨ahrend es sich bei dem anderen um eine zuf¨allige Ziffernfolge handelte. Wir m¨ussen herausfinden, welche Zahl welche ist. Ist α eine neunstellige N¨aherung eip nes Bruchs mit einem dreistelligen Nenner q, dann gilt q 1 1 α − p < 1 = < . q 109 1000 · (10002 ) 1000q2 Nach Satz 1.3 auf Seite 20 bedeutet dies, dass einer der unvollst¨andigen Quotienten an+1 von α gr¨oßer als 1000 und der zugeh¨orige Nenner qn kleiner als 1000 ist. Wie groß kann n sein? Wegen qn = an qn−1 + qn−2 wachsen die Zahlen qn mindestens so schnell wie die Fibonacci-Zahlen Fn . Da F15 = 987 ist, sollte n h¨ochstens 15 sein. Das Anfangsfragment des Kettenbruchs f¨ur ein gegebenes α zu bestimmen, ist sehr leicht: [ α ] = a0 ; (α − a0 )−1 = α1 , [α1 ] = a1 ; (α1 − a1 )−1 = α2 , [α2 ] = a2 ; (α2 − a2 )−1 = α3 , [α3 ] = a3 ; .................. Mithilfe dieses Algorithmus k¨onnen wir relativ schnell ein paar unvollst¨andige Br¨uche der beiden Zahlen aus Abschnitt 1.3 auf Seite 4 bestimmen: 0.635149023 = [0; 1, 1, 1, 2, 1, 6, 13, 1204, 1, . . . ], 0.728101457 = [0; 1, 2, 1, 2, 9, 1, 1, 1, 1, 3, 1, 15, 1, 59, 7, 1, 39, . . . ]. Offensichtlich hat die erste Zahl, und nicht die zweite, eine sehr gute rationale N¨aherung, n¨amlich [0; 1, 1, 1, 2, 1, 6, 13]. N¨achster Schritt: Mithilfe der Relationen (a) und (b) aus Proposition 1.4 auf Seite 12 k¨onnen wir die zugeh¨origen N¨aherungsbr¨uche bestimmen: p0 = a0 = 0, p1 = a0 a1 + 1 = 1, p3 = 1 · p2 + p1 = 2, p5 = 1 · p4 + p3 = 7, p7 = 13 · p6 + p5 = 618, q0 = 1, q1 = a1 = 1, q3 = 1 · q2 + q1 = 3, q5 = 1 · q4 + q3 = 11, q7 = 13 · q6 + q5 = 973.
p2 = 1 · p1 + p0 = 1, p4 = 2 · p3 + p2 = 5, p6 = 6 · p5 + p4 = 47, q2 = 1 · q1 + q0 = 2, q4 = 2 · q3 + q2 = 8, q6 = 6 · q5 + q4 = 74,
26
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
618 (um sicherzugehen, k¨onnen Endresultat: Die erste Zahl ist rational. Sie ist 973 Sie 618 mit Ihrem Taschenrechner durch 973 dividieren, und Sie werden genau 0.635149023 als Ergebnis erhalten).
1.14 Epilog Bob (der rechts durch eine T¨ur kommt): Du hattest recht. Ein Taschenrechner kann √ keinen Beweis daf¨ur liefern, dass 2 irrational ist.
c Gerald Alexanderson
Alice (die links durch eine T¨ur kommt): Nein, Du hattest recht. Mithilfe eines Ta√ 25 unterscheiden. schenrechners kann man gewiss Zahlen wie 2 von Zahlen wie 17 Bob: Ja, das ist aber immer noch kein Beweis f¨ur Irrationalit¨at. In einem Geschichtsbuch √ habe ich gelesen, dass Pythagoras, nachdem er einen Beweis gefunden hatte, dass 2 irrational ist, seine ganzen Freunde einlud, um diese Entdeckung zu feiern. Alice: Nun, wir sollten nicht unsere ganzen Freunde einladen. Aber g¨onnen wir uns jetzt ein gutes Mahl. Mein Kuchen ist fertig. Bob: Dann lass uns gehen und ihn kosten. (Sie gehen durch eine T¨ur in der Mitte.)
Emil Borel 1871–1956
Adolf Hurwitz 1859–1919
¨ 1.15 Ubungen ¨ Ubung 1.1. (Formel von Pick) Sei P ein nicht u¨ berschlagenes Polygon, dessen Ecken die Punkte eines Gitters sind. Der Fl¨acheninhalt seines Elementarparallelogramms sei s. Sei m die Anzahl der Punkte des Gitters im Innern von P und n die Anzahl der Punkte auf dem Rand von P (einschließlich Eckpunkte). Beweisen Sie:
¨ 1.15 Ubungen
27
n Fl¨acheninhalt (P) = m + − 1 s· 2
Hinweis: Zerlegen Sie P in Dreiecke, deren Ecken Punkte des Gitters sind und die im Innern oder auf dem Rand keine weiteren Punkte des Gitters enthalten, und untersuchen Sie, wie sich die rechte Seite der Gleichung verh¨alt. ¨ Ubung 1.2. Beweisen Sie −[a0 ; a1 , a2 , . . . ] =
[−1 − a0 ; 1, a1 − 1, a2 , . . . ] [−1 − a0 ; a2 + 1, a3 , . . . ]
f¨ur a1 > 1, f¨ur a1 = 1.
¨ Ubung 1.3. (a) Beweisen Sie: Sind die Quotienten a0 , a2 , a4 , a6 , . . . durch n teilbar, so gilt
[a0 ; a1 , a2 , . . . ] a0 a2 = ; na1 , , na3 , . . . . n n n (b) Beweisen Sie: Sind die Quotienten a1 , a3 , a5 , . . . durch n teilbar, so gilt n[a0 ; a1 , a2 , . . . ] = [na0 ,
a1 a3 , na2 , , . . . ]. n n
¨ Ubung 1.4. Nehmen Sie an, dass
α = [a0 ; a1 , a2 . . . ] ein periodischer Kettenbruch ist; das heißt, dass f¨ur ein r ≥ 0 und ein d > 0 die Relation am+d = am f¨ur alle m ≥ r gilt. Beweisen Sie, dass α eine Wurzel (Nullstelle) einer quadratischen Gleichung mit ganzzahligen Koeffizienten ist. Hinweis: Beginnen Sie mit dem Fall r = 0. ¨ Ubung 1.5. ** Beweisen Sie die Umkehrung: Ist α eine Wurzel (Nullstelle) einer quadratischen Gleichung mit ganzzahligen Koeffizienten, so stellt α einen periodischen Kettenbruch dar. √ √ √ ¨ Ubung 1.6. Bestimmen Sie die Kettenbruchdarstellungen von 3, 5, n2 + 1 und √ n2 − 1. ¨ ¨ Ubung 1.7. Bestimmen √ Sie mithilfe √ der Ubungen 1.6 und 1.3 die Kettenbruchdar√ 5 1+ 3 und . stellungen von 4 5, 2 2 ¨ ¨ Ubung 1.8. (Vorbereitung auf Ubung 1.9.) Seien α , β reelle Zahlen. Wir sagen, dass aβ + b gilt, wobei a, b, c, d ganze Zahlen sind und α mit β verwandt ist, wenn α = cβ + d ad − bc = ±1 gilt. Beweisen Sie: Ist α mit β verwandt, so ist β mit α verwandt. Beweisen Sie außerdem: Ist α mit β verwandt und β mit γ , so ist α mit γ verwandt.
28
1 Kann eine Zahl ungef¨ahr rational sein?
¨ Ubung 1.9. * Seien
α = [a0 ; a1 , a2 , . . . ], β = [b0 ; b1 , b2 , . . . ] fast identische“ Kettenbr¨uche; es existieren also nicht negative ganze Zahlen k, , ” sodass ak+m = b+m f¨ur alle m ≥ 0 gilt. Beweisen Sie, dass α und β verwandt sind. ¨ Ubung 1.10. * Beweisen Sie die Umkehrung: Sind α und β verwandt, so sind ihre ¨ Kettenbr¨uche fast identisch (siehe Ubung 1.9). Hinweis: Das folgende Lemma k¨onnte hilfreich sein. Sind α und β verwandt, so gibt es eine Folge reeller Zahlen α0 , α1 , . . . , αN , sodass α0 = α , αN = β gilt. F¨ur 1 ≤ i ≤ N gilt
αi = −αi−1 oder αi = αi−1 + 1 oder αi =
1 . αi−1
¨ Ubung 1.11. Beweisen Sie: Ist α nicht mit dem Goldenen Schnitt verwandt (also
α = [a0 ; a1 , a2 , . . . , ar , 1, 1, 1, . . . ]) , so kann im Satz von Hurwitz-Borel
√
5 durch
√ 8 ersetzt werden.
√ ¨ Schnitt oder 2 verUbung 1.12. Beweisen Sie: Ist α nicht mit dem Goldenen √ 221 wandt, so kann im Satz von Hurwitz-Borel 5 durch ersetzt werden. 25 √ √ ¨ Anmerkung zu den Ubungen 1.11 und 1.12. Der Leser kann die Folge 5, 8, √ 221 beliebig fortsetzen (ist also α nicht mit dem Goldenen Schnitt, 2 und einer 25 √ weiteren speziellen Zahl verwandt, so kann im Satz von Hurwitz-Borel 5 durch eine noch gr¨oßere Konstante ersetzt werden usw.) Die sich daraus ergebende Folge konvergiert gegen 3. ¨ Ubung 1.13. Beweisen Sie, dass es u¨ berabz¨ahlbar viele reelle Zahlen α mit der p folgenden Eigenschaft gibt: Ist λ > 3, so gibt es nur endlich viele Br¨uche mit q 1 p α − < . q λ q2 Hinweis: Probieren Sie die Zahlen [1; 1, 1, . . . , 1, 2, 2, 1, 1, . . . , 1, 2, 2, 1, 1, . . . , 1, 2, 2, 1, . . . ] , n0
n1
n2
wobei n0 , n1 , n2 , . . . eine wachsende Folge ganzer Zahlen ist. ¨ ¨ Ubung 1.14. ** Die Zahl 3 aus Ubung 1.13 kann nicht verringert werden.
¨ 1.15 Ubungen
29
¨ Ubung 1.15. Bestimmen Sie die kleinste Zahl λn mit der folgenden Eigenschaft. Gilt α = [a0 ; a1 , a2 , . . . ] und ak ≤ n f¨ur hinreichend große k, so gibt es f¨ur alle λ > λn 1 p p nur endlich viele Br¨uche mit α − < . q q λ q2
Vorlesung 2
Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
2.1 Binomialkoeffizienten und das pascalsche Dreieck Binomialkoeffizienten begegnen uns zuerst in einer Reihe von Formeln (a + b)0 = 1, (a + b)1 = a + b, (a + b)2 = a2 + 2ab + b2 , (a + b)3 = a3 + 3a2 b + 3ab2 + b3 , (a + b)4 = a4 + 4a3 b + 6a2 b2 + 4ab3 + b4 , .................. m n−m (mit als Koeffizienten in den rechten Seiten. F¨ur den Koeffizienten von a b n (mitunter auch Cnm ), was n u¨ ber m“ oder m aus 0 ≤ m ≤ n) schreibt man ” ” m n“ gesprochen wird (wir werden das sp¨ a ter erl¨ a utern). Es gibt zwei wesentliche We n zu berechnen. Einer davon ist die Anwendung der rekursiven ge, die Zahlen m Formel von Pascal: n−1 n−1 n , + = m m−1 m
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 2,
31
32
2 Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
die einen einfachen Beweis hat: n m n−m + · · · = (a + b)n = (a + b)n−1 (a + b) a b ... + m n − 1 m−1 n−m n − 1 m n−m−1 a = ···+ a b b + + . . . (a + b) m−1 m = ···+
n−1 n−1 am bn−m + . . . . + m m−1
Der zweite Ausdruck f¨ur die Binomialkoeffizienten ist die Formel n(n − 1) . . . (n − m + 1) n n! = = , m 1·2·····m m!(n − m)! die sich aus der rekursiven Formel von Pascal per ableiten l¨asst: F¨ur n = 0 Induktion n−1 (f¨ur alle k zwischen 0 und ist sie offensichtlich richtig, und gilt sie f¨ur k n − 1), so ist (n − 1)! n−1 n−1 n (n − 1)! = + = + m m−1 m (m − 1)!(n − m)! m!(n − m − 1)! =
(n − 1)! · n n! (n − 1)! · m + (n − 1)! · (n − m) = = . m!(n − m)! m!(n − m)! m!(n − m)!
Die Formel von Pascal f¨uhrt auf das pascalsche Dreieck. Das ist eine h¨ubsche Anordnung der Binomialkoeffizienten in Form einer dreieckigen Tabelle, die nach unten unendlich fortgesetzt werden kann:
In dieser Tabelle besteht die n-te Zeile (die oberste Zeile mit dem einzigen Element 1 hat die Nummer 0) aus den Zahlen
2.2 Pascalsches Dreieck, Kombinatorik und Wahrscheinlichkeit
33
n n n n . , ,..., , n n−1 1 0 Die rekursive Formel von Pascal besagt, dass jede Zahl in dieser Tabelle, abgesehen von der obersten 1, gleich der Summe der beiden u¨ ber ihr stehenden Zahlen ist. (Die Zahl 56 in der 8-ten Zeile ergibt sich zum Beispiel aus 21 + 35.) Hier betrachten wir die leeren Stellen als Nullen. n unter der Um die letzte Anmerkung zu begr¨unden, nehmen wir an, dass m Voraussetzung n ≥ 0f¨ur alle ganzen Zahlen n, m definiert ist: Im Fall m < 0 oder n = 0. Das widerspricht der rekursiven Formel von Pascal nicht m > n setzen wir m (vorausgesetzt n ≥ 1), sodass wir diese Formel f¨ur jedes m verwenden k¨onnen. Ziehen wir einige unmittelbare Schl¨usse aus der Binomischen Formel n n n n−1 n n n n n−1 a + a b+···+ ab b . + (a + b) = 0 1 n−1 n n n n n = 2n . + +···+ + Proposition 2.1. (a) n n−1 1 0 (b) Ist n ≥ 1, so gilt n n n n−1 n n + · · · + (−1) − + (−1) = 0. 1 0 n−1 n (c) Ist n ≥ 1, so gilt n n n n n n + · · · = 2n−1 . + + +··· = + + 5 3 1 4 2 0 Beweis. Die Binomische Formel liefert (a), wenn man a = b = 1 setzt, und (b), wenn man a = 1, b = −1 w¨ahlt. Die Formel (c) ergibt sich aus (a) und (b). 2
2.2 Pascalsches Dreieck, Kombinatorik und Wahrscheinlichkeit n M¨oglichkeiten, m Objekte aus einer Menge von n Proposition 2.2. Es gibt m (verschiedenen) Objekten auszuw¨ahlen. Anmerkung 2.1. (1) Proposition 2.2 erkl¨art den Ausdruck m aus n“. ” (2) Ist m < 0 oder m > n, so gibt es keine M¨oglichkeit, m Objekte aus n aus n = 0 f¨ur m < 0 oder m > n. zuw¨ahlen. Diese Tatsache passt zur Gleichung m Beweis von Proposition 2.2. Wieder greifen wir auf Induktion zur¨uck. F¨ur n = 0 ist die Tatsache offensichtlich. Nehmen wir an, dass Proposition 2.2 f¨ur den Fall mit n − 1 Objekten gilt. Es seien n Objekte gegeben (n ≥ 1). Eines davon markieren wir.
34
2 Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
Wenn wir m Objekte aus n Objekten ausw¨ahlen, nehmen wir entweder das markierte Objekt oder wir nehmen es nicht. Nehmen wir es, so m¨ussen m − 1 Objek wir noch n−1 M¨oglichkeiten. te aus den verbleibenden n − 1 ausw¨ahlen; daf¨ur gibt es m−1 Wenn wir das markierte Objektnicht nehmen, m¨ussen wir noch m Objekte aus n − 1 n−1 M¨oglichkeiten gibt. Folglich ist die GesamtObjekten ausw¨ahlen, wof¨ur es m zahl der Wahlm¨oglichkeiten n n−1 n−1 , = + m m m−1 und wir sind fertig. 2 Nebenbei bemerkt, hat diese Proposition unmittelbare Anwendungen in der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wenn Sie zum Beispiel 4 Karten zuf¨allig aus einem Stapel mit 52 Karten ziehen, ist die Wahrscheinlichkeit daf¨ur, 4 Asse zu ziehen,
1 1 4! · 48! = = ≈ 3.7 · 10−6 52 52! 270725 4
52 M¨oglichkeiten, und nur eine davon bringt Ihnen 4 Asse). Die Wahr(es gibt 4 scheinlichkeit, 4 mal Pik zu ziehen, ist gr¨oßer: Sie ist 13 11 13! · 4! · 48! 4 = = ≈ 2.64 · 10−3 52 4! · 9! · 52! 4165 4 52 ); die Anzahl der (die Gesamtzahl der Wahlm¨oglichkeiten f¨ur 4 Karten ist 4 13 ). Wahlm¨oglichkeiten f¨ur 4 mal Pik ist 4
2.3 Pascalsches Dreieck und Trigonometrie Ihnen als Leser sind die folgenden Formeln vielleicht bereits vertraut: sin 2θ = 2 sin θ cos θ , cos 2θ = cos2 θ − sin2 θ . Wie verh¨alt es sich mit sin 3θ , cos 5θ und sin 12θ ? All diese Formeln kommen im pascalschen Dreieck vor:
2.3 Pascalsches Dreieck und Trigonometrie
35
K¨onnen Sie darin das pascalsche Dreieck erkennen? Es ist durch die Vorzeichen etwas verzogen. Hier folgt das Ergebnis. Proposition 2.3. n n n cosn−1 θ sin θ − cosn−3 θ sin3 θ + cosn−5 θ sin5 θ − . . . , sin nθ = 1 3 5 cos nθ = cosn θ −
n n cosn−2 θ sin2 θ + cosn−4 θ sin4 θ − . . .. 2 4
Beweis. Wir beweisen wie u¨ blich per Induktion. F¨ur n = 1 sind die Formeln tautologisch. Gelten die Formeln f¨ur sin(n − 1)θ und cos(n − 1)θ (n > 1), so ist sin nθ = sin((n − 1)θ + θ ) = sin(n − 1)θ cos θ + sin θ cos(n − 1)θ n−1 n−1 cosn−2 θ sin θ − cosn−4 θ sin3 θ + . . . cos θ = 1 3 n−1 n−1 cosn−3 sin2 θ + . . . + sin θ cosn−1 θ − 2 0 n−1 n−1 cosn−1 θ sin θ + = 1 0 n−1 n−1 cosn−3 θ sin3 θ + . . . + − 3 2 n n cosn−1 θ sin θ − = cosn−3 θ sin3 θ + . . . 1 3 und analog dazu cos nθ = cos((n − 1)θ + θ ) = cos(n − 1)θ cos θ − sin(n − 1)θ sin θ , was zu beweisen war. 2 Es gibt auch eine Formel f¨ur tan nθ (was die Lehrbuchformel f¨ur tan 2θ verallgemeinert):
36
2 Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
n n n tan θ − tan3 θ + tan5 θ − . . . 1 3 5 tan nθ = n n n tan2 θ + tan4 θ − tan6 θ + . . . 1− 2 4 6 ¨ (siehe Ubung 2.1 auf Seite 48). Um diese Anwendungen soll es aber in dieser Vorlesung gar nicht vorrangig gehen. Wir werden uns haupts¨achlich f¨ur die arithmetischen Eigenschaften von Binomialkoeffizienten interessieren, wie zum Beispiel f¨ur Teilbarkeit, Rest usw.
2.4 Pascalsches Dreieck mod p Nehmen wir das pascalsche Dreieck und ersetzen wir jede ungerade Zahl durch einen schwarzen Punkt, •, und jede gerade Zahl durch einen weißen Punkt, ◦. Das sich ergebende Bild erinnert uns an den Sierpinski-Teppich (f¨ur diejenigen, die wissen, was ein Sierpinski-Teppich – alias Sierpinski-Sieb – ist).
Ein genauer Blick auf dieses Bild offenbart das Folgende. Sei 2r ≤ n < 2r+1 . Dann gilt: n − 2r n r (1) Ist m ≤ n − 2 , so hat . dieselbe Parit¨at wie m m r n−2 n . (2) Ist m ≥ 2r , so hat dieselbe Parit¨at wie m − 2r m n (3) Ist n − 2r < m < 2r , so ist gerade. m
2.4 Pascalsches Dreieck mod p
37
Das folgende Resultat verallgemeinert diese Feststellungen auf den Fall einer beliebigen Primzahl p. Satz 2.1 (Lucas, 1872). Sei p eine Primzahl, und seien n, m, q, r nicht-negative Zahlen mit 0 ≤ q < p, 0 ≤ r < p. Dann gilt q n pn + q mod p. ≡ r m pm + r Wir gehen davon aus, dass Ihnen das Symbol ≡ vertraut ist. Die Formel A ≡ B mod N, A ist kongruent zu B modulo N“, bedeutet, dass A − B durch N teilbar ist ” oder A und B bei Division durch N denselben Rest haben. Wir werden dieses Symbol auch f¨ur Polynome mit ganzzahligen Koeffizienten verwenden: Es ist P ≡ Q mod N, wenn alle Koeffizienten des Polynoms P − Q durch N teilbar sind.) Um den Satz zu beweisen, brauchen wir ein Lemma. p durch p teilbar (und durch p2 nicht teilbar; Lemma 2.1. Gilt 0 < m < p, so ist m das brauchen wir aber nicht). Beweis des Lemmas. Es gilt p(p − 1) . . . (p − m + 1) p , = 1·2·····m m und außer p im Z¨ahler ist kein Faktor in Z¨ahler und Nenner durch p teilbar. 2 Beweis des Satzes. Das Lemma impliziert, dass (a + b) p ≡ a p + b p mod p gilt. Daher ist (a + b) pn+q = ((a + b) p )n (a + b)q ≡ (a p + b p )n (a + b)q mod p, n pm p(n−m) (a p + b p )n (a + b)q = a pn + · · · + a b + · · · + b pn m q r q−r a b + · · · + bq , · aq + · · · + r und es ist klar, dass der Term a pm+r b p(n−m)+(q−r) letzten Ausdruck nur ein Mal im q n , weshalb vorkommt und das mit dem Koeffizienten r m q n pn + q mod p gilt, ≡ r m pm + r und wir sind fertig. 2 Um eine h¨ubsche Folgerung aus dem Satz von Lucas zu ziehen, erinnern wir uns daran, dass unabh¨angig davon, ob p eine Primzahl ist oder nicht, jede positive ganze Zahl n eine eindeutige Darstellung als nr pr + nr−1 pr−1 + · · · + n1 p + n0 mit 0 < nr < p und 0 ≤ ni < p f¨ur i = 0, 1, . . . , r − 1 hat. Wir werden die Kurzschreibweise n = (nr nr−1 . . . n1 n0 ) p verwenden. Die Zahlen ni heißen Ziffern von n
38
2 Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
im Zahlensystem mit der Basis p. F¨ur p = 10 sind diese Ziffern gew¨ohnliche ( dezi” mal“) Ziffern. Beispiele: 321 = (321)10 = (2241)5 = (101000001)2 . Bedenken Sie, dass wir eine Darstellung der Zahlen im Zahlensystem mit einer beliebigen Basis verwenden k¨onnen, um Zahlen zu addieren, zu subtrahieren (und zu multiplizieren und sogar zu dividieren), genauso, wie wir das mithilfe des Dezimalsystems tun. Kommen wir auf unsere Annahme zur¨uck, dass p eine Primzahl ist. Korollar 2.1. Sei n = (nr nr−1 . . . n1 n0 ) p , m = (mr mr−1 . . . m1 m0 ) p (wir lassen mr gleich null zu). Dann gilt nr nr−1 n1 n0 n ≡ ... mod p. m mr mr−1 m1 m0 Beweis. Induktion u¨ ber r. Der Fall r = 0 ist offensichtlich; nehmen wir an, dass unsere Kongruenz gilt, wenn wir r durch r − 1 ersetzen. Dann ist n = pn + n0 , m = pm + m0 mit n = (nr nr−1 . . . n2 n1 ) p , m = (mr mr−1 . . . m2 m1 ) p . Aus dem Satz von Lucas beziehungsweise der Induktionsvoraussetzung ergibt sich n0 n n mod p, ≡ m m0 m nr n1 n ≡ ... mod p, m mr m1 woraus sich
nr n n1 n0 ≡ ... mod p m mr m1 m0
ergibt, und wir sind fertig. 2 Dieses Resultat zeigt, dass Binomialkoeffizienten die Tendenz haben, durch Primzahlen teilbar zu sein: Ist mindestens ein mi gr¨oßer als das zugeh¨orige ni , so ist das Produkt auf der rechten Seite der letzten Kongruenz null. Beispiel: 31241 modulo 3? Wegen 31241 = (1120212002)3 und Was ist der Rest von 17101 17101 = (0212110101)3 gilt 1 1 2 0 2 1 2 0 0 2 31241 ≡ 0 2 1 2 1 1 0 1 0 1 17101 = 1 · 0 · 2 · 0 · 2 · 1 · 1 · 0 · 1 · 2 = 0 mod 3. Andererseits ist 31241 = (1444431)5 , 17101 = (1021401)5 , und es gilt 1 4 4 4 4 3 1 31241 ≡ 1 0 2 1 4 0 1 17101 = 1 · 1 · 6 · 4 · 1 · 1 · 1 = 24 ≡ 4 mod 5.
2.5 Primfaktorzerlegungen
39
Vergegenw¨artigen Sie sich abschließend, dass Korollar 2.1 auf der vorherigen Seite die Beobachtungen erkl¨art, die wir am Anfang dieses Abschnitts gemacht haben. Wenn 2r ≤ n < 2r+1 ist, so gilt n = (1nr−1 . . . n1 n0 )2 (ni = 0 oder 1 f¨ur i = 0, . . . , r − 1). Wenn m ≤ n − 2r ist, so gilt m = (0mr−1 . . . m1 m0 )2 und n0 nr−1 n0 n − 2r nr−1 1 n ... = ... ≡ mod 2. ≡ m0 mr−1 m0 m 0 mr−1 m Wenn m ≥ 2r ist, so gilt m = (1mr−1 . . . m1 m0 )2 und nr−1 1 n n0 nr−1 n0 n − 2r ≡ ... = ... ≡ mod 2. 1 mr−1 m m0 mr−1 m0 m − 2r r r ist, so gilt m > n f¨ Wenn r − 1. In diesem Fall i i ur mindestens ein i ≤ n− 2 < m <2 n n ni gerade. ≡ · · · · 0 · · · · = 0 mod 2, und damit ist = 0 und ist m m mi
2.5 Primfaktorzerlegungen Beginnen wir mit dem folgenden einfachen, aber sch¨onen Resultat. Satz 2.2. Sei n = (nr . . . n1 n0 ) p . Dann ist die Anzahl der Faktoren p in der Primfaktorzerlegung von n! n − (nr + · · · + n1 + n0 ) . p−1 Anmerkung 2.2. Die Tatsache, dass der letzte Bruch eine ganze Zahl ist, trifft unabh¨angig davon zu, ob p eine Primzahl ist oder nicht, und sie ist f¨ur p = 10 wohlbekannt: Jede positive ganze Zahl hat denselben Rest modulo 9 wie die Summe ihrer Ziffern. Das kann man f¨ur ein beliebiges p genauso pr¨azise beweisen, wie in elementaren Lehrb¨uchern f¨ur p = 10 dargestellt. Beweis. Induktion u¨ ber n. Wir bezeichnen mit Cp (n) die Anzahl der Faktoren p in der Primfaktorzerlegung von n. Ist Cp (n) = k, so gilt nk−1 = · · · = n0 = 0, nk = 0 und n − 1 = (nr . . . nk+1 (nk − 1)(p − 1)(p − 1) . . . (p − 1)) p . Nach Induktionsvoraussetzung ist (n − 1) − (nr + · · · + nk+1 + nk − 1 + (p − 1)k) p−1 n − (nr + · · · + nk ) = −k p−1
C p ((n − 1)!) =
und folglich Cp (n!) = C p ((n − 1)!) +Cp (n) = 2
n − (nr + · · · + nk ) . p−1
40
2 Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
Dieser Satz liefert einen sehr effizienten Weg, die Anzahl der Primfaktoren in einem Binomialkoeffizienten zu bestimmen. Ein Beispiel: 31241! 31241 ; = 17101! · 14140! 17101 31241 = (1120212002)3 ,
C3 (31241!) =
31241 − 11 = 15615, 2
17101 = (212110101)3 ,
C3 (17101!) =
17101 − 9 = 8546, 2
14140 = (201101201)3 ,
C3 (14140!) =
14140 − 8 = 7066, 2
31241 C3 = C3 (31241!) −C3 (17101!) −C3 (14140!) 17101 = 15615 − 8546 − 7066 = 3. 31241 durch 3 teilbar ist. Wir haben im vorherigen Abschnitt festgestellt, dass 17101 Nun sehen wir, dass die Vielfachheit des Faktors 3 in der Primfaktorzerlegung dieser Zahl 3 ist; die Zahl ist also durch 27 teilbar, nicht aber durch 81. Unsere Darstellung w¨are nicht vollst¨andig, wenn wir den wunderbaren Weg ausgelassen h¨atten, auf dem die Vielfachheit gegebener Faktoren in der Primfaktorzerlegung von Binomialkoeffizienten bestimmt wird, was auf einen der besten Zahlentheoretiker des 19. Jahrhunderts zur¨uckgeht.
¨ Satz 2.3 (Kummer, 1852). Die Anzahl der Ubertr¨ age bei der Addition m + (n − n . m) = n im Zahlensystem mit der Basis p ist C p m Zum Beispiel ist 17101 = (212110101)3 und 14140 = (201101201)3 . Wir addieren beide Zahlen: ∗
∗ ∗ 212110101
+ 201101201 1120212002 ¨ Esgibt drei Ubertr¨age (mit Stern gekennzeichnet), und die Primfaktorzerlegung 31241 enth¨alt drei Mal den Faktor 3. von 17101 Wir u¨ berlassen dem Leser die angenehme Aufgabe, den Satz von Kummer aus ¨ den vorangegangenen Resultaten in diesem Abschnitt herzuleiten (siehe Ubung 2.5 auf Seite 48).
2.6 Kongruenzen mod p3 im pascalschen Dreieck
41
2.6 Kongruenzen mod p3 im pascalschen Dreieck Es ist wesentlich leichter, die Resultate aus Abschnitt 2.6 und Abschnitt 2.7 zu nennen, als sie zu beweisen. Dementsprechend werden wir die Aussagen von mehr oder weniger allen bekannten Resultaten angeben und keine Beweise f¨uhren. Vielleicht wollen Sie als Leser einige der Beweise rekonstruieren (selbst wenn sie nicht elementar sind) und u¨ ber weitere Resultate in dieser Richtung nachdenken. Der Satz von Lucas (siehe Abschnitt 2.4 auf Seite 36) impliziert, dass n 0 n pn mod p = ≡ m m 0 pm gilt. Experimente zeigenaber, es eigentlich ”bessere“ Kongruenzen gibt. Bei dass 5 3·5 durch 3 teilbar sein; in Wirklichkeit gilt sogar − spielsweise sollte 2 3·2 5 15 5 3·5 = 5005 − 10 = 4995 = 185 · 33 . − = − 2 6 2 3·2 Ein weiteres Beispiel ist 3 5·3 = 3003 − 3 = 3000 = 24 · 53 , − 1 5·1 und es gibt einen Satz, der genau das aussagt, was wir beobachten! Satz 2.4 (Jacobsthal, 1949, [11]). Gilt p ≥ 5, so ist n pn − m pm durch p3 teilbar. (Das istauch In 2 und p = 3 richtig, das aber mit einigen f¨urp = ”Ausnahmen“. 7 14 4 12 3 = 3003 − 35 = 2968 = 371 · 2 und − der Tat ist = 216 = − 3 6 1 3 3 2 6 6 = 15 − 3 = 12 = 3 · 22 und = 20 − − − 8 · 33 . Es ist allerdings 1 1 2 3 2 ¨ 2 = 18 = 2 · 3 . F¨ur weitere Resultate verweisen wir auf die Ubungen 2.6 und 2.7 auf Seite 48.) Den Satz von Jacobsthal werden wir hier nicht beweisen; wir werden uns mit einem Beweis f¨ur ein bescheideneres Resultat begn¨ugen. Proposition 2.4. F¨ur jede Primzahl p und jedes m und n ist n pn − m pm durch p2 teilbar.
42
2 Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
Beweis. Wir werden den folgenden Schluss aus demSatz von Lucas verwenden: n durch p teilbar. (Und zwar Ist n durch p und m nicht durch p teilbar, so ist m r 0 n = 0 mod p.) ≡ gilt: Ist n = pr und m = ps + t, 0 < t < p, so ist t s m Wir verwenden nun Induktion u¨ ber n (f¨ur n = 1 m¨ussen wir nichts beweisen). Die Aussage mit n − 1 anstelle von n sei richtig. Wir betrachten dann die Gleichung (a + b) pn = (a + b) p(n−1) · (a + b) p . Nach Koeffizientenvergleich von a pm b p(n−m) erhalten wir Folgendes: p p(n − 1) p p(n − 1) pn + = 1 pm − 1 0 pm pm p p(n − 1) p p(n − 1) . + +···+ p pm − p p−1 pm − p + 1 Abgesehen von den beiden Extremf¨allen, ist jeder Summand auf der rechten Seite der letzten Gleichung ein Produkt zweier Zahlen, die durch p teilbar sind; folglich ist jeder dieser Summanden durch p2 teilbar, und es gilt p(n − 1) p(n − 1) pn mod p2 . + ≡ p(m − 1) pm pm Nach Induktionsvoraussetzung gilt n n−1 n−1 p(n − 1) p(n − 1) mod p2 , = + ≡ + m m−1 m p(m − 1) pm woraus sich unser Resultat ergibt. 2 Kann man den Satz von Jacobsthal erweitern? In einigen Spezialf¨allen ist das m¨oglich (siehe n¨achster Abschnitt). Im Allgemeinen ist es unwahrscheinlich. Wir wollen das folgende (unver¨offentlichte) Resultat erw¨ahnen. Satz 2.5 (G. Kuperberg, 1999). Gilt 2 2p mod p4 , ≡ 1 p so ist
f¨ur alle m und n.
n pn mod p4 ≡ m pm
2.7 Kongruenzen modulo h¨oherer Potenzen von p
43
2 2p mod p4 gilt aber nicht allzu oft. Nach G. Ku≡ Diese Eigenschaft 1 p perberg (der einen heuristischen Beweis“ daf¨ur hat, dass sie unendlich viele Prim” zahlen p besitzen), ist die kleinste Primzahl mit dieser Eigenschaft die Zahl 16 483. Dennoch kann f¨ur spezielle m und n Kongruenz modulo einer wesentlich h¨oheren Potenz von p gelten. Wir werden einige Resultate dieser Art im n¨achsten Abschnitt betrachten.
2.7 Kongruenzen modulo h¨oherer Potenzen von p 2n+1 : 2n 32 16 8 4 2 = 601080390. = 12870, = 70, = 6, = 2, 16 8 4 2 1
Betrachten wir Zahlen der Form
Keine dieser Zahlen ist durch 4 teilbar. Untersuchen wir nun aber die Differenzen aufeinanderfolgender Zahlen: 2 4 = 6 − 2 = 4 = 22 , − 1 2 4 8 = 70 − 4 = 64 = 26 , − 2 4 8 16 = 12870 − 70 = 12, 800 = 25 · 29 , − 4 8 16 32 = 601080390 − 12870 = 601067520 = 146745 · 212 . − 8 16 Wir betrachten a¨ hnliche Differenzen f¨ur gr¨oßere Primzahlen: 3 9 = 84 − 3 = 81 = 34 , − 1 3 9 27 = 4686825 − 84 = 3143 · 37 , − 3 9 5 25 = 53130 − 5 = 17 · 55 , − 1 5
7 49 = 85900584 − 7 = 5111 · 75 . − 1 7
44
2 Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
Wir wollen diese Resultate erl¨autern. Satz 2.6 (A. Schwarz, 1959). Ist p ≥ 5, so gilt 2 p p mod p5 . ≡ 1 p Anmerkung 2.3. (1) Dieses Ergebnis wurde nie ver¨offentlicht. A. Schwarz, der jetzt ein prominenter Topologe und mathematischer Physiker ist, erinnert sich selbst nicht daran, diesen Satz bewiesen zu haben. Allerdings war einer der Autoren dieses Buches (D. Fuchs) ein Zeuge dieses Ereignisses. (2) Wir wissen nicht, ob die Kongruenz modulo p6 f¨ur jede Primzahl p gilt. Wir stellen fest, dass moderne Software diese Frage unter Umst¨anden in einem Bruchteil einer Sekunde kl¨aren kann. Um den Satz von Schwarz zu beweisen, werden wir den folgenden erweiterten Begriff einer Kongruenz verwenden. Wir werden sagen, dass eine rationale Zahl m r= (wobei der Bruch irreduzibel sei) durch pk teilbar ist, wenn m durch pk n teilbar ist und n nicht durch p teilbar ist. F¨ur rationale Zahlen r und s bedeutet die 1 Kongruenz r ≡ s mod pk , dass r − s durch pk teilbar ist. (Es gilt zum Beispiel ≡ 5 2 mod 32 .) Diese Kongruenz besitzt die u¨ blichen Eigenschaften von Kongruenzen: Ist r ≡ s mod pk und s ≡ t mod pk , so gilt r ≡ t mod pk ; ist r ≡ s mod pk und ist der Nenner von r nicht durch p teilbar, so gilt rt ≡ st mod pk ; usw. Lemma 2.2. F¨ur eine Primzahl p ≥ 5 ist 1+
1 1 +···+ 2 p−1
durch p2 teilbar. Beweis des Lemmas. Sei p = 2q + 1 (wegen p ≥ 5 ist p ungerade). Dann gilt 1 1 1 1 1 1 1 1+ +···+ + +···+ = 1+ + + 2 p−1 p−1 2 p−2 q p−q 1 1 1 = p· , + +···+ p − 1 2(p − 2) q(p − q) und wir m¨ussen nur beweisen, dass 1 1 1 + +···+ p − 1 2(p − 2) q(p − q) durch p teilbar ist. Unterlemma 2.2.1 F¨ur jedes i = 1, . . . , p − 1 existiert ein eindeutig bestimmtes si mit 1 ≤ si ≤ p − 1, sodass isi ≡ 1 mod p ist. Dar¨uber hinaus gilt (a) s p−i = p − si ; (b) die Zahlen s1 , s2 , . . . , s p−1 bilden eine Permutation der Zahlen 1, 2, . . . , p − 1.
2.7 Kongruenzen modulo h¨oherer Potenzen von p
45
Beweis des Unterlemmas. Zu einem gegebenem i betrachten wir die Zahlen i, 2i, . . . , (p − 1)i. Keine dieser Zahlen ist durch p teilbar, und kein Zahlenpaar ist kongruent modulo p (ist tats¨achlich ji ≡ ki mod p, so ist ji − ki = ( j − k)i durch p teilbar, was aber unm¨oglich ist, weil weder i noch j − k durch p teilbar sind). Folglich haben die Zahlen i, 2i, . . . , (p − 1)i unterschiedliche Reste mod p, und da es genau p − 1 m¨ogliche Reste gibt, taucht jeder Rest genau ein Mal auf. Insbesondere existiert ein eindeutig bestimmtes j mit ji ≡ 1 mod p; dieses j ist unser s i . Die Aussagen (a) und (b) sind offensichtlich: Es gilt (p − i)(p − si ) = p2 − p(i + si ) + isi ≡ 1 mod p. Und weil die Zahlen s1 , s2 , . . . , s p−1 alle verschieden sind, bilden sie eine Permutation von 1, 2, . . . , p − 1. 2 Beispiel. Ist p = 11, so gilt s1 = 1, s2 = 6, s3 = 4, s4 = 3, s5 = 9, s6 = 2, s7 = 8, s8 = 7, s9 = 5, s10 = 10. 1 1 isi − 1 ¨ zum Lemma. Wegen ≡ si mod p (in der Tat ist si − = Zuruck , was i i i durch p teilbar ist) gilt 1 1 1 + +···+ ≡ s1 s p−1 + s2 s p−2 + · · · + sq s p−q mod p p − 1 2(p − 2) q(p − q) (wobei wie vorhin p = 2q + 1 ist). Von den beiden Zahlen si , s p−i = p − si ist gep nau eine kleiner als . Folglich bilden die Zahlen s1 s p−1 , s2 s p−2 , . . . , sq s p−q eine 2 Permutation der Zahlen 1(p − 1), 2(p − 2), . . . , q(p − q), und es gilt 1 1 1 + +...+ ≡ 1(p − 1) + 2(p − 2) + · · · + q(p − q) p − 1 2(p − 2) q(p − q) = p(1 + 2 + · · · + q) − (12 + 22 + · · · + q2 ) =
pq(q + 1) pq(q + 1) q(q + 1)(2q + 1) − = ≡ 0 mod p, 2 6 3
was zu beweisen war. 2 Beweis des Satzes von Schwarz. 2 p2 (p2 − 1) . . . (p2 − (p − 1)) p p = − −p 1 p 1 · · · · · (p − 1)p =
p [(1 − p2 )(2 − p2 ) . . . ((p − 1) − p2 ) − 1 · 2 · · · · · (p − 1)], (p − 1)!
und zu beweisen bleibt nur noch (1 − p2 )(2 − p2 ) . . . ((p − 1) − p2 ) − 1 · 2 · · · · · (p − 1) ≡ 0 mod p4 .
46
2 Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
Allerdings gilt (1 − p2 )(2 − p2 ) . . . ((p − 1) − p2 ) = 1 · 2 · · · · · (p − 1) 1 1 −p2 1 + + · · · + (p − 1)! + durch 4 teilbare Terme p4 , 2 p−1 weshalb (1 − p2 )(2 − p2 ) . . . ((p − 1) − p2 ) − 1 · 2 · · · · · (p − 1) 1 1 (p − 1)! mod p4 ≡ −p2 1 + + · · · + 2 p−1 gilt, was nach Lemma 2.2 auf Seite 44 durch p4 teilbar ist. 2 Viele der oben betrachteten Kongruenzen sind im folgenden (unver¨offentlichten) Resultat enthalten. Satz 2.7 (M. Zieve, 2000). Ist p ≥ 5, so gilt f¨ur beliebige ganze Zahlen k, m, n k k−1 np np ≡ mod p3k . k mp mpk−1 Wir werden diesen Satz hier nicht beweisen, sondern uns (wie schon beim Satz von Jacobsthal) auf ein bescheideneres Resultat beschr¨anken. k+1 k 2 2 Proposition 2.5. Ist p ≥ 5, so ist − k−1 durch 22k+2 teilbar. 2k 2 k Beweis. Wir werden von der folgenden Tatsache Gebrauch machen: Ist 0 < m < 2 k 2 und m ungerade, so ist durch 2k teilbar. (Das folgende, allgemeinere Resultat m ergibt sich aus dem Satz von Kummer, Abschnitt 2.5 auf Seite 39: Ist n durch siehe n pk und m nicht durch p teilbar, so ist durch pk teilbar.) m k+1 k 2 2 k − k−1 ist der Koeffizient von x2 im Polynom Die besagte Differenz k 2 2 k+1
k
k
k
k
(1 + x)2 − (1 − x2 )2 = (1 + x)2 [(1 + x)2 − (1 − x)2 ] k k 2 2 2 2k x+ x +···+x = 1+ 1 2 k k k 2 2 2 3 2k −1 . x+ x +···+ k x ·2 1 3 2 −1 Da das zweite Polynom im letzten Ausdruck nur ungerade Potenzen enth¨alt, ist der k Koeffizient von x2 im Produkt
2.7 Kongruenzen modulo h¨oherer Potenzen von p
47
k k k k k k 2 2 2 2 2 2 + +···+ k . 2 1 2k − 1 3 2k − 3 2 −1 1 Jeder Binomialkoeffizient im letzten Ausdruck ist nach der Anmerkung vom Anfang des Beweises durch 2k teilbar; also ist jeder Summand in der letzten Summe durch 22k teilbar. Zudem kommt jeder Summand in der Summe zwei Mal vor, und es gibt auch einen Faktor 2 vor der Summe. Daher ist der ganze Ausdruck durch 22k+2 teilbar. 2
c Greg Kuperberg
¨ Abschließend sei A. Granvilles dynamische Online-Ubersicht u¨ ber die arithmetischen Eigenschaften von Binomialkoeffizienten erw¨ahnt [37].
Greg Kuperberg geboren 1967
Edouard Lucas 1842–1891
c Albert Schwarz
Ernst Kummer 1810–1893
Albert Schwarz geboren 1934
Michael Zieve geboren 1971
48
2 Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
¨ 2.8 Ubungen ¨ Ubung 2.1. Beweisen Sie n n n tan θ − tan3 θ + tan5 θ − . . . 1 3 5 tan(nθ ) = . n n n 2 4 tan θ + tan θ − tan6 θ + . . . 1− 2 4 6 ¨ Ubung 2.2. Beweisen Sie, dass f¨ur die hyperbolischen Funktionen sinh(x) =
ex − e−x ex + e−x sinh(x) , cosh(x) = , tanh(x) = 2 2 cosh(x)
Formeln gelten, die denen aus Abschnitt 2.3 auf Seite 34 entsprechen. Dabei sind alle Minuszeichen durch Pluszeichen ersetzt. m+n ¨ mit 0 ≤ m < 2100 , 0 ≤ n < 2100 Ubung 2.3. Wie viel Prozent der Zahlen n sind ungerade? m+n ¨ mit 0 ≤ m < 2100 , 0 ≤ n < 2100 Ubung 2.4. Wie viel Prozent der Zahlen n sind nicht durch 4 teilbar? ¨ Ubung 2.5. Beweisen Sie Satz 2.3 von Kummer auf Seite 40. (Leiten Sie ihn aus Satz 2.2 auf Seite 39 her.) n 2n ¨ ≡ 0 mod 23 f¨ur unendlich viele − Ubung 2.6. (a) Beweisen Sie, dass m 2m n 2n ≡ 0 mod 23 genau − Paare (m, n) gilt. Und zwar beweisen Sie, dass 1 2 n gerade ist, wenn also n ≡ 0 oder 1 mod 4 gilt. dann gilt, wenn 2 n 2n ≡ 0 mod 23 genau dann gilt, wenn − (b) Beweisen Sie außerdem, dass 2 4 n 2n , − n ≡ 3 mod 4 ist. Sie sind damit aufgefordert, die Differenzen 3 6 n 2n usw. zu betrachten. − 4 8 n 3n ¨ ≡ 0 mod 33 genau dann gilt, wenn − Ubung 2.7. (a) Beweisen Sie, dass 1 3 n ≡ 2 mod 3 ist.
¨ 2.8 Ubungen
49
n 3n ≡ 0 mod 33 f¨ur alle n gilt. − (b) Beweisen Sie, dass 2 6 Wir wissen nicht, ob n 3n ≡ 0 mod 33 − m 3m
f¨ur alle m, n mit 2 ≤ m ≤ n gilt.
∞
¨ Ubung 2.8. (a) Beweisen Sie, dass die Reihe
∑
n=0
2n n 1 1 x f¨ur |x| < gegen √ n 4 1 − 4x
konvergiert. (b) Leiten Sie daraus ab (oder beweisen Sie direkt), dass f¨ur alle n gilt: 2n 4 2(n − 2) 2 2(n − 1) 2n · 1 = 4n . +···+ + + 1· n n−2 2 n−1 1 n ¨ Ubung 2.9. Gegeben sind die Zahlen 2n (2n)! n = ; Cn = n!(n + 1)! n+1
diese Zahlen heißen Catalan-Zahlen. (a) Beweisen Sie, dass die Catalan-Zahlen ganze Zahlen sind (die ersten f¨unf Catalan-Zahlen sind 1, 2, 5, 14, 42). (b) Sei C(x) =
∞
∑ Cn xn . Beweisen Sie
n=0
(xC(x)) =
∞
∑
n=0
2n n x . n
1 ¨ (c) Leiten Sie aus (b) und Ubung 2.8(a) ab, dass (f¨ur 0 < |x| < ) gilt 4 √ 1 − 1 − 4x C(x) = . 2x (d) Aus (c) folgt xC(x)2 − C(x) + 1 = 0. Leiten Sie daraus ab, dass f¨ur jedes n ≥ 1 gilt Cn =
∑
CpCq .
p+q=n−1
¨ Die u¨ brigen Teile dieser Ubung haben L¨osungen, die sich auf die letzte Formel st¨utzen.
50
2 Die arithmetischen Eigenschaften der Binomialkoeffizienten
(e) Sei ∗ eine nicht assoziative Multiplikationsoperation. Dann kann der Ausdruck a∗b∗c entweder (a∗b)∗c oder a∗(b∗c) bedeuten. Analog dazu kann a∗b∗c∗d f¨unf verschiedene Bedeutungen haben: ((a ∗ b) ∗ c) ∗ d, (a ∗ b) ∗ (c ∗ d), (a ∗ (b ∗ c)) ∗ d, a ∗ ((b ∗ c) ∗ d), a ∗ (b ∗ (c ∗ d)). Beweisen Sie, dass die Anzahl der Bedeutungen, die der Ausdruck a1 ∗ · · · ∗ an+1 haben kann, in Abh¨angigkeit von der Reihenfolge der Multiplikation gleich Cn ist. (f) Sei P ein konvexes n-Eck. Eine Triangulation von P ist eine Zerlegung des nEcks in n − 2 Dreiecke, deren Eckpunkte die Eckpunkte von P sind. Ein konvexes Viereck ABCD hat beispielsweise zwei Triangulationen: ABC ∪ ACD und ABD ∪ BCD. Ein konvexes F¨unfeck hat f¨unf Triangulationen (zeichnen Sie sie!). Beweisen Sie, dass die Anzahl der Triangulationen eines konvexen n-Ecks gleich Cn−2 ist. ¨ Wir verweisen auf Ubung 6.19 im Buch von Stanley [73] mit 66 verschiedenen kombinatorischen Interpretationen der Catalan-Zahlen; siehe auch den Online-Anhang [74] f¨ur viele weitere.
Vorlesung 3
¨ ¨ Uber das Sammeln gleichartiger Terme, uber ¨ Euler, Gauß und MacDonald und uber verpasste Gelegenheiten
3.1 Die Euler-Identit¨at Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte Leonhard Euler Interesse an den Koeffizienten des Polynoms
ϕn (x) = (1 − x)(1 − x2 )(1 − x3 ) . . . (1 − xn ). Er l¨oste die Klammern auf – und erhielt das folgende verbl¨uffende Resultat:
ϕ1 (x) = 1 − x, ϕ2 (x) = 1 − x −x2 +x3 , ϕ3 (x) = 1 − x −x2 +x4 +x5 −x6 , ϕ4 (x) = 1 − x −x2 +2x5 −x8 −x9 +x10 , 2 5 6 7 ϕ5 (x) = 1 − x −x +x +x +x −x8 −x9 −x10 . . . , 2 ϕ6 (x) = 1 − x −x +x5 +2x7 −x9 −x10 . . . , 2 5 7 8 ϕ7 (x) = 1 − x −x +x +x +x −x10 . . . , 2 5 7 9 ϕ8 (x) = 1 − x −x +x +x +x ..., ϕ9 (x) = 1 − x −x2 +x5 +x7 +x10 . . . , ϕ10 (x) = 1 − x −x2 +x5 +x7 ....
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 3,
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52
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten
Die Punkte stehen f¨ur Terme mit einem Exponenten > 10 (es ist kein Platz f¨ur alle Terme: Das Polynom ϕ10 (x) ist zum Beispiel vom Grad 55). Euler folgend, wollen wir einige Beobachtungen anstellen. Als Erstes stellen wir fest (was nicht u¨ berraschend ist), dass die Koeffizienten jedes Terms xm mit zunehmendem n stabil werden; genauer gesagt, haben alle Polynome ϕm+1 (x), ϕm+2 (x), ϕm+3 (x), . . . vor xm denselben Koeffizienten. (Offenbar ist: ϕm+1 (x) = ϕm (x)(1 − xm+1 ), ϕm+2 (x) = ϕm+1 (1 − xm+2 ), . . . ; folglich ber¨uhrt die Multiplikation mit 1 − xn f¨ur n > m den Koeffizienten von xm nicht.) Aufgrund dessen k¨onnen wir vom stabilen“ Produkt sprechen: ” ∞
ϕ (x) = ϕ∞ (x) = ∏ (1 − xn ). n=1
Das ist kein Polynom mehr; das ist eine unendliche Reihe mit beliebig hohen Potenzen von x. Wir werden ϕ (x) mitunter als Euler-Funktion bezeichnen. Die zweite (¨uberraschendere) Beobachtung ist: Wenn wir Terme aus dem Produkt (1 − x)(1 − x2 ) . . . (1 − xn ) sammeln, heben sich viele Terme auf. Multiplizieren wir zum Beispiel (1 − x)(1 − x2 ) . . . (1 − x10 ) aus, gibt es 43 Terme mit x hoch 0 bis 10 und nur f¨unf davon (1, −x, −x2 , x5 , x7 ) u¨ berleben am Ende. Dieses Ph¨anomen tritt noch deutlicher zutage, wenn wir weitere Berechnungen anstellen; hier ist zum Beispiel der Teil der Reihe ϕ (x) mit allen Termen von x bis zur Potenz ≤ 100:
ϕ (x) = 1 − x − x2 + x5 + x7 − x12 − x15 + x22 + x26 − x35 − x40 + x51 + x57 − x70 − x77 + x92 + x100 + . . . . Euler, der in langen Berechnungen a¨ ußerst gut war, berechnete wahrscheinlich fast so viele Terme. Danach konnte er nicht umhin, festzustellen, dass alle von null verschiedenen Koeffizienten dieser Reihe Einsen mit positiven und negativen Vorzeichen sind und dass sie eine streng vorbestimmte Reihenfolge haben: zwei Einsen, zwei Einsen mit negativen Vorzeichen, zwei Einsen, zwei Einsen mit negativen Vorzeichen usw. Wenn Sie sich die nachfolgende Tabelle ansehen, k¨onnen Sie (wie Euler) die Potenzen von x mit von null verschiedenem Koeffizienten erraten: Exponenten
0 1, 2 5, 7 12, 15 22, 26 35, 40 51, 57 70, 77 92, 100
Koeffizienten
1 −1
1
−1
−1
1
1
−1
3n2 ±n
1
Diese Tabelle suggeriert, dass der Term x 2 (n ≥ 0) mit dem Koeffizienten (−1)n vorkommt und es keine weiteren von null verschiedenen Terme gibt. Diese Vermutung kann in der Form (1 − x)(1 − x2 )(1 − x3 ) . . . = 1 − x − x2 + x5 + x7 + · · · + (−1)n x
3n2 −n 2
+ (−1)n x
3n2 +n 2
+....
3.2 Was Euler u¨ ber diese Identit¨at schrieb
53
Abb. 3.1 F¨unfeckzahlen.
ausgedr¨uckt werden. Oder k¨urzer 2 ∞ 3r −r 3r2 +r n r 2 2 x . (1 − x ) = 1 + (−1) + x ∏ ∑ ∞
n=1
r=1
Noch k¨urzer ist ∞
∞
n=1
r=−∞
∏ (1 − xn ) = ∑
(−1)r x
3r2 +r 2
.
3n2 ± n ¨ Ubrigens sind die Zahlen , die in der Formel auftauchen, unter dem Na2 men F¨unfeckzahlen“ bekannt. Der Grund f¨ur diese Bezeichnung wird aus Abbil” dung 3.1 ersichtlich (die schwarz gepunkteten F¨unfecke haben entlang jeder Seite dieselbe Anzahl von Punkten). Interessant ist, dass obwohl der Beweis der Euler-Identit¨at kurz und elementar erscheint (siehe Abschnitt 3.3 auf der n¨achsten Seite), Euler, der so viele ungemein schwierigere Aufgaben in der Mathematik gel¨ost hat, Probleme mit dem Beweis hatte. Seine Denkschrift“, die sich diesem Thema widmet und im Jahr 1751 unter dem ” Titel Decouverte d’une loi tout extraordinaire des nombres par rapport a la som” me de leurs diviseurs“ ver¨offentlicht wurde (der Leser wird bis zum Abschnitt 3.5 auf Seite 60 auf eine Erkl¨arung dieses Titels warten m¨ussen), enthielt keinerlei Beweise der Identit¨at. Der folgende Abschnitt gibt einen relevanten Auszug aus der Denkschrift (dem Buch von G. Polya [62] entnommen) wider.
¨ 3.2 Was Euler uber diese Identit¨at schrieb Bei der Betrachtung der Partition der Zahlen untersuchte ich vor langer Zeit den ” Ausdruck (1 − x)(1 − x2 )(1 − x3 )(1 − x4 )(1 − x5 )(1 − x6 )(1 − x7 )(1 − x8 ) . . . ,
54
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten
in dem das Produkt unendlich sein soll. Um zu sehen, was f¨ur eine Reihe sich daraus ergeben w¨urde, multiplizierte ich tats¨achlich eine große Anzahl von Faktoren aus und fand 1 − x − x2 + x5 + x7 − x12 − x15 + x22 + x26 − x35 − x40 + . . . . Die Exponenten von x, die in der obigen Formel vorkommen, sind wieder dieselben wie vorhin.1 ; auch die Vorzeichen + und − tauchen nacheinander jeweils doppelt auf. Es gen¨ugt, diese Multiplikationen auszuf¨uhren und so lange weiter zu machen, wie es angemessen erscheint, um sich von der Richtigkeit dieser Reihe zu u¨ berzeugen. Noch habe ich keinen anderen Beleg daf¨ur außer einer langen Induktion, die ich so weit ausgef¨uhrt habe, dass ich in keiner Weise an dem Gesetz zweifeln kann, das f¨ur die Bildung dieser Terme und ihrer Exponenten maßgeblich ist. Ich habe lange erfolglos nach einem strengen Beweis f¨ur die Gleichung zwischen der Reihe und dem obigen unendlichen Produkt (1 − x)(1 − x2 )(1 − x3 ) . . . gesucht. Und ich habe diese Frage auch einigen meiner Freunde gestellt, deren F¨ahigkeiten in dieser Sache mir bekannt sind. Alle konnten mir nur best¨atigen, dass die Umwandlung des Produkts in eine Reihe richtig sei, ohne aber irgendeinen Schl¨ussel f¨ur einen Beweise zutage f¨ordern zu k¨onnen.“
3.3 Beweis der Euler-Identit¨at Fassen wir die Terme im Produkt (1 − x)(1 − x2 )(1 − x3 )(1 − x4 ) . . . zusammen. Wir erhalten die folgende (unendliche) Summe der Terme: (−1)k xn1 +···+nk , k ≥ 0, 0 < n1 < · · · < nk . Der Gesamtkoeffizient von xn ergibt sich aus Anzahl der Partitionen n = n1 + · · · + nk , 0 < n1 < · · · < nk mit geradem k
−
Anzahl der Partitionen n = n1 + · · · + nk , 0 < n1 < · · · < nk mit ungeradem k
.
Wir wollen beweisen, dass die beiden Terme in den K¨asten in der Regel gleich sind und sich in einigen Ausnahmef¨allen um 1 unterscheiden. Gegeben sei eine Partition n = n1 + · · · + nk , 0 < n1 < · · · < nk . Mit s = s(n1 , . . . , nk ) bezeichnen wir die maximale Anzahl der ni , von nk nach links gez¨ahlt, 1
Das ist ein Verweis auf einen vorangegangenen Teil der Denkschrift, der eine Erkl¨arung f¨ur die Folgen 1, 5, 12, 22, 35, . . . und 2, 7, 15, 26, 40, . . . enth¨alt.
3.3 Beweis der Euler-Identit¨at
55
die einen Block aufeinanderfolgender Zahlen bilden (also der Form a, a + 1, . . . , a + b). Mit anderen Worten: a ist die gr¨oßte Zahl, die die Relation nk−s+1 = nk − s + 1 erf¨ullt. (Folglich gilt 1 ≤ s ≤ k.) Wir unterscheiden drei Arten von Partitionen n = n1 +· · ·+nk , 0 < n1 < · · · < nk . Typ 1: n1 ≤ s, ausgenommen der Fall n1 = s = k. Typ 2: n1 > s, ausgenommen der Fall n1 = s + 1 = k + 1. Typ 3: die beiden ausgenommenen F¨alle n1 = s = k oder n1 = s + 1 = k + 1. Es folgt eine eineindeutige Transformation der Partitionen der Zahl n vom Typ 1 in Partitionen der Zahl n vom Typ 2: s aufeinanderfolgende Zahlen
n1 n2 . . .
. . . . . . . . . nk−1 nk
s
→ ⏐n2 . . . . . . . . . nk−1 nk → n2 . . . nk−n1 +1 . . . nk ⏐ ↑ ... ↑ ↑ +1 . . . + 1 n1 −→ 1 . . .1 1 n1
Mit anderen Worten: Wir streichen die Zahl n1 aus der Partition, dann zerlegen wir sie in n1 Einsen, und anschließend addieren wir diese Einsen zu den n1 letzten (gr¨oßten) Termen der Partition (es ist wichtig, dass im Fall s = n1 die Ungleichung s < k gilt; anderenfalls m¨ussten wir die Zahl n1 streichen und anschließend 1 zu n1 addieren, diese Zahl ist aber nicht mehr vorhanden). In Formeln bedeutet das: f¨ur i < k − n1 , ni+1 , (n1 , . . . , nk ) → (m1 , . . . , mk−1 ), mi = ni+1 + 1, f¨ur i ≥ k − n1 . Beispiele: 13 = 1 + 3 + 4 + 5; (1, 3, 4, 5) → ( 1, 3, 4, 5 ) = (3, 4, 6), +1
37 = 2 + 5 + 9 + 10 + 11; (2, 5, 9, 10, 11) → ( 2, 5, 9, 10, 11) = (5, 9, 11, 12). +1 +1
Die Partition m1 , . . . , mk−1 ist vom Typ 2. In der Tat ist m1 ≥ n2 > n1 = s(m1 , . . . , mk−1 ). Und gilt m1 = s(m1 , . . . , mk−1 ) + 1 = (k − 1) + 1, so ist einerseits m1 = n1 + 1 und andererseits n1 + 1 = k. Folglich ist mi = ni+1 + 1 f¨ur i ≥ k − n1 = 1, und demzufolge ist m1 = n2 + 1; das ist wegen n2 > n1 aber unm¨oglich. Die Tatsache, dass die obige Transformation eine eineindeutige Transformation ist, ergibt sich aus der Existenz einer inversen Transformation: s aufeinanderfolgende Zahlen
m1 . . .
. . . . . . . . . mk−1
s
→ m1 . . . . . . . . . mk−1 → s m1 . . . mk−s . . . mk−1 −1 · · · − 1 −1 . . . − 1 ⏐ ↓ ... ↓ ⏐ s ←− 1 . . . 1
(wir subtrahieren also 1 von jeder der s aufeinenderfolgenden Zahlen auf der rechten Seite, fassen diese Einsen in einer Zahl s zusammen und setzen diese Zahl s vor m1 ).
56
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten
In Formeln ausgedr¨uckt, heißt das ⎧ f¨ur i = 1, ⎨ s, f¨ur 2 ≤ i ≤ k − s, (m1 , . . . , mk−1 ) → (n1 , . . . , nk ), ni = mi−1 , ⎩ mi−1 − 1, f¨ur i > k − s. Beispiele: (3, 4, 6) → (3, 4, 6 ) → (1, 3, 4, 5), −1
(5, 9, 11, 12) → (5, 9, 11, 12) → (2, 5, 9, 10, 11). −1 −1
Die einander entsprechenden Terme (−1)k xn1 +···+nk
und
(−1)k−1 xm1 +···+mk−1
heben sich im Produkt (1 − x)(1 − x2 )(1 − x3 ) . . . gegenseitig auf, und es bleiben nur Terme u¨ brig, die Partitionen vom Typ 3 entsprechen. Das sind k k + 1 . . . 2k − 1
k + 1 k + 2 . . . 2k,
und
und die entsprechenden Terme in (1 − x)(1 − x2 )(1 − x3 ) . . . sind (−1)k xk+(k+1)+···+(2k−1) = (−1)k x
k(3k−1) 2
und
(−1)k x(k+1)+(k+2)+···+2k = (−1)k x
k(3k+1) 2
. 2
Als n¨achstes werden wir zwei Anwendungen der Euler-Identit¨at vorstellen.
3.4 Erste Anwendung: Die Partitionsfunktion Der Begriff Partition“, den wir als einen gel¨aufigen deutschen Begriff verwendet ” haben, hat in der Kombinatorik eine genau festgelegte Bedeutung. Von nun an werden wir diesen Begriff traditionell verwenden: Als Partition einer Zahl n bezeichnen wir eine Folge ganzer Zahlen n1 , . . . , nk mit n = n1 + · · · + nk und 0 < n1 ≤ · · · ≤ nk . Wir hoffen, dass diese Verschiebung der Terminologie keine Schwierigkeiten verursachen wird. Wir wollen aber noch erw¨ahnen, dass die in Abschnitt 3.3 verwendeten Partitionen solche spezieller Art sind: Alle Summanden ni sind verschieden. Mit p(n) bezeichnen wir die Anzahl der Partitionen einer positiven ganzen Zahl n mit n = n1 + · · · + nk , k > 0, 0 < n1 ≤ · · · ≤ nk . Wir berechnen p(n) f¨ur kleine n: p(1) = 1, p(2) = 2 (2 = 1 + 1), p(3) = 3 (3 = 1 + 2 = 1 + 1 + 1), p(4) = 5 (4 = 1 + 3 = 2 + 2 = 1 + 1 + 2 = 1 + 1 + 1 + 1).
3.4 Erste Anwendung: Die Partitionsfunktion
57
K¨onnen Sie p(10) bestimmen? Es ist nicht schwer, obwohl Sie vielleicht nicht auf Anhieb auf das richtige Ergebnis kommen. Die Antwort lautet p(10) = 42. Wie ist es mit p(20), p(50) oder p(100)? Es stellt sich heraus, dass wir diese Zahlen relativ schnell bestimmen k¨onnen, wenn wir die Euler-Identit¨at verwenden. Betrachten wir die Reihe ∞
p(x) = 1 + x + 2x2 + 3x3 + 5x4 + · · · = 1 + ∑ p(r)xr . r=1
Satz 3.1. ϕ (x)p(x) = 1. Beweis. ∞ 1 1 = ∞ = (1 + xn + x2n + x3n + . . . ) ∏ ϕ (x) ∏n=1 (1 − xn ) n=1
1 selbst ein Produkt von unendlich vielen Reihen). Was ϕ (x) ist der Koeffizient von xr im Produkt (folglich ist die Reihe
(1 + x + x2 + . . . )(1 + x2 + x4 + . . . )(1 + x3 + x6 + . . . ) . . .? Wir m¨ussen aus jedem Faktor einen Summanden nehmen (nur endlich viele von ihnen sollten ungleich 1 sein) und sie multiplizieren. Wir erhalten x1·k1 · x2·k2 · · · · · xm·km = xk1 +2k2 +···+mkm . Wir wollen die Anzahl solcher Produkte mit k1 + 2k2 + · · · + mkm = r bestimmen, das heißt, die Anzahl der Darstellungen r = k1 + 2k2 + · · · + mkm = 1 + · · · + 1 + 2 + · · · + 2 + · · · + m + · · · + m , k1
k2
km
und damit die Anzahl der Partitionen von r. Folglich ist der Koeffizient von xr in 1 gleich p(r). 2 ϕ (x) Nun verwenden wir die Euler-Identit¨at: (1 − x − x2 + x5 + x7 − x12 − x15 . . . )(1 + p(1)x + p(2)x2 + p(3)x3 + . . . ) = 1; das heißt, der Koeffizient von xn mit beliebigem n > 0 in diesem Produkt ist gleich null. Daraus erhalten wir eine Reihe von Gleichungen: p(1) − 1 = 0, p(2) − p(1) − 1 = 0, p(3) − p(2) − p(1) = 0, p(4) − p(3) − p(2) = 0,
58
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten
p(5) − p(4) − p(3) + 1 = 0, p(6) − p(5) − p(4) + p(1) = 0, p(7) − p(6) − p(5) + p(2) + 1 = 0, p(8) − p(7) − p(6) + p(3) + p(1) = 0,
oder p(n) = p(n − 1) + p(n − 2) − p(n − 5) − p(n − 7) + p(n − 12) + p(n − 15) − . . . wobei wir p(0) als 1 und p(m) mit m < 0 als 0 z¨ahlen. Dies k¨onnen wir als ein Hilfsmittel f¨ur eine induktive Berechnung der Zahlen p(n) verwenden: p(5) = p(4) + p(3) − 1 = 5 + 3 − 1 = 7, p(6) = p(5) + p(4) − p(1) = 7 + 5 − 1 = 11, p(7) = p(6) + p(5) − p(2) − 1 = 11 + 7 − 2 − 1 = 15, p(8) = p(7) + p(6) − p(3) − p(1) = 15 + 11 − 3 − 1 = 22, p(9) = p(8) + p(7) − p(4) − p(2) = 22 + 15 − 5 − 2 = 30, p(10) = p(9) + p(8) − p(5) − p(3) = 30 + 22 − 7 − 3 = 42, und weitere Berechnungen ergeben p(20) = 627, p(50) = 204 226, p(100) = 190 569 791. Erw¨ahnenswert ist, dass unsere rekursive Formel f¨ur die Funktion p dazu verwendet werden kann, eine sehr einfach Maschine zur Berechnung der Werte dieser Funktion zu konstruieren. Diese Maschine zeigt Abbildung 3.2 auf der n¨achsten Seite. Nehmen Sie ein kariertes Blatt Papier und schneiden Sie einen langen Streifen ab, wie auf der linken Seite von Abbildung 3.2 auf der n¨achsten Seite dargestellt (je l¨anger Ihr Streifen ist, umso mehr Werte der Funktion p werden Sie damit berechnen k¨onnen). In das obere K¨astchen des Streifens zeichnen Sie einen Pfeil nach rechts. Dann schreiben Sie in die K¨astchen mit den Nummern 1, 2, 12, 15, 35, 40, . . . ein Pluszeichen (vom Pfeil aus gez¨ahlt) und ein Minuszeichen in die K¨astchen mit den Nummern 5, 7, 22, 26, . . . In die unterste linke Ecke des karierten Blattes schreiben Sie eine 1 (das ist p(0)). Legen Sie die rechte Kante Ihres Streifens so an die linke Kante des karierten Blattes, dass der Pfeil auf diese 1 zeigt. Schieben Sie dann den Streifen K¨astchen f¨ur K¨astchen nach oben. Jedes Mal, wenn der Pfeil in ein leeres K¨astchen (in der linken Spalte des Papiers) zeigt, schreiben Sie in dieses K¨astchen die Summe der Zahlen an den Pluszeichen minus die Summe der Zahlen an den Minuszeichen. Die aufgeschriebenen Zahlen sind die Funktionswerte von p. Diese Prozedur ist in Abbildung 3.2 auf der n¨achsten Seite bis zum Wert p(12) dargestellt. Schließlich geben wir eine asymptotische Formel f¨ur p(n) nach Rademacher an: p(n) ∼
2π √ n √ 1 √ e 6 . 4n 3
3.4 Erste Anwendung: Die Partitionsfunktion
59
Abb. 3.2 Eine Maschine zur Berechnung von p(n).
Das Symbol ∼ bedeutet, dass das Verh¨altnis aus dem Ausdruck auf der rechten Seite zu p(n) f¨ur n gegen unendlich gegen 1 geht. Unter anderem offenbart diese Formel, dass p(n) eine Eigenschaft besitzt, die f¨ur Funktionen, die u¨ blicherweise in der Mathematik vorkommen, selten ist: Die Funktion w¨achst schneller als jedes Polynom, aber langsamer als jede Exponentialfunktion cn .
60
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten
3.5 Zweite Anwendung: Die Summe der Teiler Diese Anwendung gab Eulers Denkschrift den Namen. In diesem Abschnitt folgen ¨ wir Eulers Uberlegungen. Sei n eine positive ganze Zahl. Mit d(n) bezeichnen wir die Summe der Teiler von n. Es gilt zum Beispiel d(4) = 1 + 2 + 4 = 7, d(1000) = 1 + 2 + 4 + 5 + 8 + 10 + 20 + 25 + 40 + 50 + 100 + 125 + 200 + 250 + 500 + 1000 = 2340, d(1001) = 1 + 7 + 11 + 13 + 77 + 91 + 143 + 1001 = 1344. Im Gegensatz zu den Zahlen p(n) lassen sich die Zahlen d(n) leicht berechnen. F¨ur sie gibt es eine einfache, explizite Formel. Und zwar: Ist n = 2k2 3k3 . . . pk p eine Primfaktorzerlegung von p, so gilt d(n) = (2k2 +1 − 1) ·
pk p +1 − 1 3k3 +1 − 1 ... 2 p−1
¨ (siehe Ubung 3.3 auf Seite 72). Interessant ist dar¨uber hinaus, dass eine Rekursionsformel f¨ur die Zahlen d(n) existiert, die der Formel f¨ur p(n) aus Abschnitt 3.4 auf Seite 56 sehr a¨ hnelt. Sie verkn¨upft die Zahl d(n) mit den scheinbar unzusammenh¨angenden Zahlen d(n − 1), d(n − 2), d(n − 5), . . . . (F¨ur Euler war das ein Schritt zum Verst¨andnis der Natur der Verteilung der Primzahlen). Sei d(x) =
∞
∑ d(r)xr = x + 3x2 + 4x3 + 7x4 + 6x5 + 12x6 + . . . .
r=1
Satz 3.2. ϕ (x)d(x) + xϕ (x) = 0. Hier bedeutet ϕ (x) die Ableitung von ϕ (x). Folglich gilt xϕ (x) = −x − 2x2 + 5x5 + 7x7 − 12x12 − 15x15 + . . . . Beweis des Satzes. Betrachten wir die Gleichung ∞
nxn
∞
∑ 1 − xn = ∑ n(xn + x2n + x3n + . . . ).
n=1
n=1
Sind d1 , d2 , . . . , dm Teiler von r (einschließlich 1 und r), so erscheint xr in der letzten d·r Summe als di · x i di f¨ur alle di , und der Gesamtkoeffizient von xr ist d1 + d2 + · · · + r dm = d(r). Folglich ist die Summe ∑∞ r=1 d(r)x = d(x), also d(x) =
∞
nxn
∑ 1 − xn .
n=1
3.6 Die Identit¨aten von Gauß und Jacobi
61
Es gilt aber nxn = −x · [ln(1 − xn )] . 1 − xn Folglich muss d(x) = −x
∞
∑ ln(1 − x ) n
n=1
∞
= −x ln ∏ (1 − x ) n
n=1
= −x · [ln ϕ (x)] = −
xϕ (x) ϕ (x)
sein, was d(x)ϕ (x) + xϕ (x) = 0 beweist. 2 Setzen wir den Koeffizienten von xn , n > 0 auf der linken Seite der letzten Gleichung gleich null, so stellen wir fest: d(n) − d(n − 1) − d(n − 2) + d(n − 5) + d(n − 7) − . . . ⎧ 2 3m2 ± m ⎨ m 3m ± m −(−1) , f¨ur n = , = 2 2 ⎩ 0, wenn n keine F¨unfeckzahl ist. Man formuliert dies besser in der folgenden Form: d(n) = d(n − 1) + d(n − 2) − d(n − 5) − d(n − 7) + d(n − 12) + d(n − 15) − . . . , wobei d(k) mit k < 0 als 0 gez¨ahlt wird und d(0) (wenn es in dieser Formel vorkommt) als n.
3.6 Die Identit¨aten von Gauß und Jacobi Etwa 70 Jahre nach Eulers Entdeckung bewies ein anderer großartiger Mathematiker, Carl Friedrich Gauß, dass die dritte Potenz der Euler-Funktion auf eine Reihe f¨uhrt, die noch bemerkenswerter als die Euler-Funktion ist:
ϕ (x)3 = (1 − x)3 (1 − x2 )3 (1 − x3 )3 · · · = 1 − 3x + 5x3 − 7x6 + 9x10 − 11x15 . . . oder ∞
∏ (1 − xn )3 =
n=1
∞
∑ (−1)r (2r + 1)x
r=0
r(r+1) 2
.
62
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten
Noch weitaus bemerkenswerter erscheint die Gauß-Identit¨at, wenn wir bedenken, dass die zweite Potenz der Euler-Funktion, zumindest auf dem ersten Blick, keine interessanten Eigenschaften aufzuweisen scheint:
ϕ (x)2 = 1 − 2x − x2 + 2x3 + x4 + 2x5 − 2x6 − 2x8 − 2x9 + x10 . . . . F¨ur die Gauß-Identit¨at sind etliche Beweise bekannt. Sie fallen in sehr verschiedene Teilgebiete der Mathematik, darunter homologische Algebra, komplexe Analysis und hyperbolische Geometrie (diese Tatsache kann an sich als ein Hinweis darauf angesehen werden, dass das Resultat sehr tiefgreifend ist). Es existiert auch ein elementarer kombinatorischer Beweis (den wir in Abschnitt 3.7 auf der n¨achsten Seite diskutieren werden). Die meisten dieser Beweise (einschließlich des Beweises aus Abschnitt 3.7) liefern sogar ein strengeres Resultat: die Jacobi-TripelproduktIdentit¨at: ∞
∞
n=1
r=−∞
∏ (1 + y−1 z2n−1)(1 + yz2n−1)(1 − z2n) = ∑
2
yr zr .
(3.1)
Vor ihrem Beweis werden wir zeigen, dass sich daraus die Gauß-Identit¨at ergibt. Herleitung der Gauß-Identit¨at aus der Jacobi-Identit¨at. Wir leiten die beiden Seiten der Jacobi-Identit¨at (3.1) nach z ab, setzen y = −z und dann z2 = x. Um ein Produkt abzuleiten (auch wenn es unendlich ist), m¨ussen wir jeweils die Ableitung eines Faktors bilden und den Rest unver¨andert lassen. Anschließend m¨ussen wir alle entstandenen Produkte addieren: ( f 1 f2 f3 . . . ) = f1 f2 f3 · · · + f 1 f2 f3 · · · + f 1 f2 f3 · · · + . . . . Allerdings verschwindet der erste Faktor (1 + y−1 z) auf der linken Seite der JacobiIdentit¨at durch die Substitution y = −z. Von allen Summanden in der Ableitung u¨ berlebt diese Substitution daher nur einer, und das ist ∞
(1 + y−1 z)z (1 + yz)(1 − z2 ) ∏ (1 + y−1 z2n−1 )(1 + yz2n−1 )(1 − z2n ). n=2
Nach der Substitution y = −z erhalten wir (wegen (1 + y−1 z)z = y−1 ) ∞
∞
n=2
n=1
−z−1 (1 − z2 )2 ∏ (1 − z2n−2 )(1 − z2n )2 = −z−1 ∏ (1 − z2n )3 . Aus der gesamten Identit¨at (3.1) wird (wegen (yr zr )z = r2 yr zr 2
∞
∞
n=1
r=−∞
∏ (1 − z2n )3 = −z ∑
r2 (−1)r zr zr
woraus nach der Substitution z2 = x
2 −1
=
∞
∑
r=−∞
2 −1
)
(−1)r+1 r2 zr
2 +r
,
3.7 Beweis der Jacobi-Identit¨at
63 ∞
ϕ (x)3 =
∑
(−1)r+1 r2 x
r2 +r 2
(3.2)
r=−∞
wird. Es bleibt festzustellen, dass der r-te Term und der (−r − 1)-te Term auf der (−r − 1)2 + (−r − 1) r2 + r = . Also gilt rechten Seite von (3.2) gleichartig sind: 2 2 ∞
∑
(−1)r+1 r2 x
r2 +r 2
∞
∑ [(−1)r+1 r2 + (−1)−r (−r − 1)2]x
=
r=−∞
=
r=0 ∞
∑ (−1)r (2r + 1)x
r2 +r 2
r2 +r 2
,
,
r=0
was zu beweisen war. 2 Abschließend bemerken wir, dass man die Jacobi-Identit¨at dazu verwenden kann, andere Identit¨aten in einer Variablen zu beweisen. Wenn wir zum Beispiel in der Jacobi-Identit¨at (3.1) einfach y = −1 setzen (und dann z durch x ersetzen), erhalten wir die bemerkenswerte Identit¨at ∞
(1 − x)2 (1 − x2 )(1 − x3 )2 (1 − x4 ) · · · =
∑
r=−∞
∞
(−1)r xr = 1 + 2 ∑ (−1)r xr , 2
2
r=1
¨ die auch Gauß bekannt war. Ubrigens ist die linke Seite dieser Identit¨at k¨onnen daraus also auch eine Formel f¨ur ϕ (x)2 herleiten:
ϕ (x)2 =
∞
∑
2
(−1)r xr ·
r=−∞
∞
∑
2 +s
(−1)s x3s
ϕ (x)2 ; wir ϕ (x2 )
,
s=−∞
die jedoch nicht so bemerkenswert ist wie die Formeln f¨ur ϕ (x) und ϕ (x)3 . F¨ur eine weitere Identit¨at, in der ϕ (x) vorkommt und die sich aus der Jacobi¨ Identit¨at ergibt, verweisen wir auf Ubung 3.4 auf Seite 72.
3.7 Beweis der Jacobi-Identit¨at Dieser Beweis geht auf Zinovy Leibenzon zur¨uck; wir folgen seinem Artikel [50] und verwenden seine Terminologie. Schreiben wir die Jacobi-Identit¨at als ∞
∞
∞
∏ (1 + yz2n−1 )(1 + y−1 z2n−1 ) = ∏ (1 − z2n)−1 ∑
n=1
n=1
= p(z2 )
∞
∑
r=−∞
2
yr zr =
∞
yr zr
r=−∞ ∞ 2n
∑ p(n)z ∑
n=0
r=−∞
2
yr zr
2
64
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten 2
und vergleichen wir die Koeffizienten von yr z2n+r . Auf der rechten Seite ist der 2 Koeffizient offensichtlich p(n). Auf der linken Seite kann yr x2n+r als ein Produkt yz2α1 −1 · · · · · yz2αs −1 · y−1 s2β1 −1 · · · · · y−1 z2βt −1 vorkommen, wobei 0 < α1 < · · · < αs , 0 < β1 < · · · < βt , s − t = r ist und s
t
i=1
j=1
∑ (2αi − 1) + ∑ (2β j − 1) = 2n + r2 2
gilt. Daher ist der Koeffizient von yr x2n+r die Anzahl der Mengen ((α1 , . . . , αs ), (β1 , . . . , βt )) mit den besagten Eigenschaften. Diese Anzahl bezeichnen wir mit q(n, r). Um die Jacobi-Identit¨at zu beweisen, m¨ussen wir das Folgende beweisen. Proposition 3.1. q(n, r) = p(n) (insbesondere h¨angt q(n, r) nicht von r ab). F¨ur den Beweis von Proposition 3.1 brauchen wir folgende Konstruktion. Wenn wir von einer Kette sprechen, dann meinen wir eine auf beiden Seiten unendliche Folge von zwei verschiedenen Symbolen: (Kreise) und | (Striche), sodass links von einer Stelle nur Kreise vorkommen und rechts von einer Stelle nur Striche. Zwei Beispiele: ...... | | | | | | | | ...... ...... | | | | | | | | | ...... Ketten, die durch Verschiebung auseinander hervorgehen, unterscheiden wir nicht voneinander. Die H¨ohe h(A) einer Kette A ist als die Anzahl der Inversionen, also der Paare von Symbolen (nicht notwendigerweise aufeinanderfolgend), definiert, von denen das linke ein Kreis und das rechte ein Strich ist. In den beiden obigen Beispielen sind die H¨ohen 13 und 17. Wir werden annehmen, dass der Abstand zwischen zwei beliebigen benachbarten Symbolen 2 ist und dass sich zwischen ihnen, im Abstand 1, eine L¨ucke befindet. Die L¨ucken einer gegebenen Kette k¨onnen nat¨urlich nummeriert werden: Wir sagen, dass eine L¨ucke T den Index r hat, wenn die Anzahl der Striche links von T minus die Anzahl der Kreise rechts von T gleich r ist. Es ist klar, dass sich, wenn wir uns von links nach rechts bewegen, der Index der L¨ucke um 1 erh¨oht. Ein Beispiel: ...···
−6
−5
−4
|
−3
|
−2
−1
0
1
2
3
4
5
6
| | | | | ......
Beweis von Proposition 3.1. Wir werden die Anzahl der Ketten der H¨ohe n auf zwei Wegen berechnen. Erster Weg: Gegeben sei eine Kette A der H¨ohe n. Mit ni bezeichnen wir die Anzahl der Kreise rechts des i-ten Strichs von links. F¨ur ein hinreichend großes i gilt offensichtlich n1 ≥ n2 ≥ . . . ; ni = 0; und es ist n1 + n2 + · · · = n. Die Zahlen n1 , n2 , . . . bestimmen die Kette und k¨onnen beliebige Werte annehmen (wenn sie die oben gestellte Bedingung erf¨ullen). Daher ist die Anzahl der Ketten der H¨ohe n gleich p(n).
3.7 Beweis der Jacobi-Identit¨at
65
Zweiter Weg: Wir halten die ganze Zahl r fest und betrachten die L¨ucke T mit der Nummer r. Links von T sollen sich s Striche befinden, und rechts von T sollen sich t Kreise befinden; folglich ist s − t = r. Die Abst¨ande der Striche links von T zu T seien (in aufsteigender Reihenfolge) 2α1 − 1, . . . , 2αs − 1 und die Abst¨ande der Kreise rechts von T zu T seien (in aufsteigender Reihenfolge) 2β1 − 1, . . . , 2βt − 1. Ein Beispiel:
α4 α3 α2 α1 β 1 β2 8 4 3 1 1 4 ··· | | | | T | | | | ... Die Zahlen s,t, α1 , . . . , αs , β1 , . . . , βt bestimmen die Kette. Beweisen wir s
t
i=1
j=1
2n + r2 = ∑ (2αi − 1) + ∑ (2β j − 1). In der Kette A gibt es drei Arten von Inversionen: (1) sowohl der Kreis als auch der Strich sind links von T ; (2) sowohl der Kreis als auch der Strich sind rechts von T und (3) der Kreis ist rechts von T und der Strich ist links von T . Zwischen einem Strich im Abstand 2αi − 1 links von T und T gibt es (einschließlich dieses Strichs) αi Symbole, von denen i Striche und αi − i Kreise sind; daher ist dieser Strich an αi − i Inversionen der ersten Art beteiligt, und die Anzahl der Inversionen der ersten Art ist ∑si=1 (αi − i). Analog dazu gibt es ∑tj=1 (β j − j) Inversionen der zweiten Art, und offensichtlich ist die Anzahl der Inversionen der dritten Art st. Damit ist s
t
i=1
j=1
n = ∑ (αi − i) + ∑ (β j − j) + st
s
t
i=1
j=1
s
t
i=1
j=1
s
t
i=1
j=1
= ∑ αi + ∑ β j −
= ∑ αi + ∑ β j −
= ∑ αi + ∑ β j −
t(t + 1) s(s + 1) + st − 2 2 s2 + s − 2st + t 2 + t 2 r2 + s + t , 2
s
t
s
t
i=1
j=1
i=1
j=1
2n + r2 = 2 ∑ αi + 2 ∑ β j − s − t = ∑ (2αi − 1) + ∑ (2β j − 1). Wir sehen, dass die Anzahl der Ketten der H¨ohe n gleich q(n, r) ist. Somit ist p(n) = q(n, r), was Proposition 3.1 und die Jacobi-Identit¨at beweist. 2
66
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten
3.8 Potenzen der Euler-Funktion Bis jetzt wissen wir, wie die Reihen f¨ur ϕ (x) und ϕ (x)3 aussehen, aber f¨ur ϕ (x)2 haben wir nichts vergleichbar Gutes. Wie verh¨alt es sich mit den Reihen ϕ (x)4 , ϕ (x)5 , usw.? Mit anderen Worten: F¨ur welche n existiert eine Formel f¨ur die Koeffizienten der Reihe ϕ (x)n ? Um diese saloppe (das heißt, nicht streng formulierte) Frage zu beantworten, werden wir das folgende halb saloppe Kriterium verwenden. Wenn es f¨ur ein n unter den Koeffizienten der Reihe ϕ (x)n viele Nullen gibt, ist das ein Anhaltspunkt daf¨ur, dass es f¨ur ϕ (x)n eine Formel gibt, die denen von Euler und Gauß a¨ hnelt. (Jedoch kann die Tatsache, dass es nur ein paar Nullen oder u¨ berhaupt keine Nullen gibt, nicht als eindeutiger Hinweis darauf betrachtet werden, dass keine Formel existiert.) Es ist eine Sache eines einfachen Computerprogramms, die Anzahl der Nullen unter den, sagen wir, ersten 500 Koeffizienten von ϕ (x)n zu bestimmen. Diese Anzahl bezeichnen wir mit c(n), und es folgen die Werte von c(n) f¨ur n ≤ 35: n c(n)
1
2
3
4
5
6
7
8
464 243 469 158 0 212 0 250
9
10
0 151
11-13
14
15 16-25 26 27-35
0
172
2
0
80
0
Wir k¨onnen Folgendes beobachten. F¨ur n = 1, 3 gibt es sehr viele Nullen (das wissen wir bereits); f¨ur n = 2, 4, 6, 8, 10, 14, 26 ist die Anzahl der Nullen erheblich; f¨ur n = 15 gibt es zwei Nullen (was nicht als ernsthafter Hinweis f¨ur irgendetwas angesehen werden kann)2 ; f¨ur n = 5, 7, 9, 11 − 13, 16 − 25, 27 − 35 gibt es u¨ berhaupt keine Nullen. Wir sollten u¨ ber die erheblich Anzahl von Nullen f¨ur n = 2, 4, 6 nicht u¨ berrascht sein: Die Reihen f¨ur ϕ (x) und ϕ (x)3 sind so d¨unn besetzt, dass ihren Produkten ϕ (x)2 = ϕ (x) · ϕ (x), ϕ (x)4 = ϕ (x) · ϕ (x)3 , ϕ (x)6 = ϕ (x)3 · ϕ (x)3 einige Potenzen von x abhanden kommen k¨onnen, noch bevor wir gleichartige Terme zusammenfassen. Zum Beispiel k¨onnen die Zahlen 11, 18, 21 (und viele weitere) 3n2 ± n dargestellt werden. Und aus nicht als Summen von Zahlenpaaren der Form 2 2 diesem Grund gibt es in der Reihe f¨ur ϕ (x) keine Terme x11 , x18 , x21 . Aus einem a¨ hnlichen Grund gibt es keine Terme x9 , x14 , x19 in der Reihe f¨ur ϕ (x)4 , und es gibt keine Terme x5 , x8 , x14 in der Reihe f¨ur ϕ (x)6 . Warum gibt es aber so viele Nullen in den Reihen f¨ur ϕ (x)8 , ϕ (x)10 , ϕ (x)14 und ϕ (x)26 ? Es stellt sich heraus, dass es f¨ur diese Potenzen der Euler-Funktion Formeln gibt, die zwar nicht so einfach wie die Formeln von Euler und Gauß sind, aber auch tiefgreifend und sch¨on. (Es gibt auch f¨ur einige andere Potenzen der Euler-Funktion 2
Obwohl eine Formel f¨ur ϕ (x)15 existiert (siehe sp¨ater).
3.9 Dysons Geschichte
67
Formeln, doch das spiegelt sich in unserer Tabelle nicht wider.) Zur Illustration geben wir eine Formel f¨ur ϕ (x)8 an, die auf Felix Klein zur¨uckgeht: 1 3 ϕ (x)8 = ∑ + (3klm − kl − km − lm) x−(kl+km+lm) , 3 2 wobei die Summe auf der rechten Seite u¨ ber alle Tripel (k, l, m) von ganzen Zahlen mit k + l + m = 1 l¨auft. Aus der Formel kann man Folgendes ablesen: Kann eine Zahl r nicht als −(kl + km + lm) mit k + l + m = 1 dargestellt werden, so enth¨alt die Reihe f¨ur ϕ (x)8 keinen Term xr . Beispielsweise enth¨alt sie keine Terme xr , wenn ¨ r = 4s + 3 (mit ganzzahligem s) oder r = 13, 18, 28, 29 ist (siehe Ubung 3.5 auf Seite 72). All dem entnehmen wir, dass es einige privilegierte Exponenten“ n gibt, f¨ur die ” eine fassbare Formel existiert. Das R¨atsel der privilegierten Exponenten wurde im Jahre 1972 von Ian MacDonald (siehe Abschnitt 3.9, der einen Teil seiner Resultate wiedergibt), gel¨ost. Ein Bericht u¨ ber diese Entdeckung findet sich in einem emotio¨ nal verfassten Artikel von F. Dyson [26]. Uber Dyson und seinen Artikel seien ein paar Worte gesagt. Freeman Dyson ist einer der prominentesten Physiker unserer Zeit. Seine Karriere begann er als Mathematiker, und er schrieb einige bekannte Arbeiten u¨ ber klassische Kombinatorik und Zahlentheorie. Mit seinem Artikel wollte er aufzeigen, wie die fehlende Kommunikation zwischen Physikern und Mathematikern zu einer katastrophalen Verz¨ogerung einiger wesentlicher Entdeckungen in beiden Disziplinen f¨uhrte. Es folgt ein Auszug aus Dysons Artikel, der sich auf unser Thema bezieht.
3.9 Dysons Geschichte Ich beginne mit einer belanglosen Episode aus meiner eigenen Erfahrung, die leb” haft illustriert, wie die Gewohnheit der Spezialisierung dazu f¨uhren kann, dass wir Gelegenheiten verpassen. Diese Episode hat etwas mit einer k¨urzlich erschienen und wunderbaren Arbeit von Ian MacDonald zu tun, die sich mit den Eigenschaften affiner Wurzelsysteme aus der klassischen Lie-Algebra besch¨aftigt. Ich begann mein Leben als Zahlentheoretiker, und w¨ahrend der Anfangsjahre meines Studiums in Cambridge saß ich vor der bereits damals legend¨aren Pers¨onlichkeit G. H. Hardy. Selbst einem Studienanf¨anger war damals klar, dass Zahlentheorie im Stil von Hardy und Ramanujan altmodisch war und keine große und glorreiche Zukunft vor sich hatte. Sogar Hardy selbst hatte in einer ver¨offentlichten Vorlesung u¨ ber die τ -Funktion von Ramanujan dieses Thema als eines der R¨uck” standsgebiete der Mathematik“ bezeichnet. Die τ -Funktion ist als der Koeffizient in der Modulform ∞
∞
n=1
m=1
∑ τ (n)xn−1 = ϕ (x)24 = ∏ (1 − xm )24
(3.3)
68
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten
definiert. Ramanujan entdeckte etliche bemerkenswerte arithmetische Eigenschaften von τ (n). Der Beweis und die Verallgemeinerung dieser Eigenschaften durch Mordell, Hecke und andere spielten bei der Entwicklung der Theorie von Modulformen eine wesentliche Rolle. Aber die τ -Funktion selbst ist fernab des mathematischen Mainstreams ein R¨uckstandsgebiet geblieben, worin sich Amateure nach Herzenslust versuchen k¨onnen, ohne Konkurrenz von Profis f¨urchten zu m¨ussen.3 Noch lange, nachdem ich zu einem Physiker geworden war, hielt ich eine sentimentale Bindung an die τ -Funktion aufrecht, und als Entspannung von der ernstzunehmenden Angelegenheit der Physik wollte ich ab und zu auf Ramanujans Artikel zur¨uckkommen und u¨ ber die vielen faszinierenden Probleme nachdenken, die er ungel¨ost gelassen hatte. Vor vier Jahren fand ich w¨ahrend einer dieser Erholungspausen eine neue Formel f¨ur die τ -Funktion, die so elegant ist, dass es ziemlich u¨ berrascht, dass Ramanujan nicht selbst darauf gekommen ist. Die Formel lautet
τ (n) = ∑
∏1≤i< j≤5 (ai − a j ) , 1!2!3!4!
(3.4)
wobei u¨ ber alle Mengen ganzer Zahlen a1 , . . . , a5 mit ai ≡ i mod 5, a1 + · · · + a5 = 0, a21 + · · · + a25 = 10n2 summiert wird. Das kann nach Gleichung (3.3) auf der vorherigen Seite auch als eine Formel f¨ur die 24-te Potenz der Euler-Funktion ϕ geschrieben werden. Darauf gekommen bin ich durch einen kurzen Artikel von Winquist, der eine a¨ hnliche Formel f¨ur die 10-te Potenz von ϕ entdeckte. Winquist war zuf¨allig auch ein Physiker, der sich in seiner Freitzeit in altmodischer Zahlentheorie versuchte. W¨ahrend ich den Identit¨aten mit meinen umst¨andlichen Methoden weiter nachging, stellte ich fest, dass eine Formel von derselben Eleganz wie (3.4) f¨ur alle d-ten Potenzen von ϕ existiert, f¨ur die d aus der folgenden Reihe ganzer Zahlen stammt: d = 3, 8, 10, 14, 15, 21, 24, 26, 28, 35, 36, . . . .
(3.5)
Tats¨achlich entdeckt wurde der Fall d = 3 von Jacobi, der Fall d = 8 von Klein und Fricke und die F¨alle d = 14, 26 von Atkin. An dieser Stelle kam ich nicht weiter. Ich starrte eine Weile auf diese seltsame Liste von Zahlen aus Gleichung (3.5). Da ich einstweilen ein Zahlentheoretiker war, ergaben die Zahlen f¨ur mich keinen Sinn. Mein Verstand war so wohl-strukturiert, dass ich mich nicht daran erinnerte, dass mir dieselben Zahlen in meinem Leben als Physiker oft begegnet waren. W¨aren die Zahlen im Zusammenhang mit einem physikalischen Problem aufgetaucht, h¨atte ich sie bestimmt als die Dimensionen endlich-dimensionaler einfacher Lie-Algebren erkannt. Mit Ausnahme der 26. Warum die Zahl 26 vorkommt, weiß ich immer noch nicht.4 So verpasste ich die Gelegenheit, einen tieferen Zusammenhang zwischen ¨ In einer Fußnote zu einer russischen Ubersetzung von Dysons Artikel (1980 ver¨offentlicht) be¨ merkte der Ubersetzer, dass es ihm schwergefallen sei, sich auch nur vorzustellen, dass es jemals so sein k¨onnte. 4 Das wollen wir kurz erkl¨ aren. Die Drehung einer Ebene um einen Punkt h¨angt von einem Parameter ab: dem Drehwinkel. Drehungen des dreidimensionalen Raumes h¨angen von drei Parametern ab: dem L¨angen- und Breitengrad der Drehachse und dem Drehwinkel. Allgemein h¨angen Drehun3
3.10 Die MacDonald-Identit¨aten
69
Modulformen und Lie-Algebren zu entdecken. Und das nur, weil der Zahlentheoretiker Dyson und der Physiker Dyson nicht miteinander sprachen. Diese Geschichte hat ein gutes Ende. Ohne dass ich es wusste, hatte der englische Geod¨at Ian MacDonald dieselben Formeln als Spezialfall einer viel allgemeineren Theorie entdeckt. In seiner Theorie kamen die Lie-Algebren von Anfang an vor, u¨ berraschend ergab sich der Zusammenhang mit Modulformen. Wie dem auch sei, MacDonald stellte den Zusammenhang her und ergriff so die Gelegenheit, die ich verpasste. Es war zuf¨allig auch so, dass MacDonald am Institute for Advanced Study in Princeton war, w¨ahrend wir beide an diesem Problem arbeiteten. Da wir T¨ochter in derselben Schulklasse hatten, sahen wir uns w¨ahrend seines Jahres in Princeton ab und zu. Da er aber ein Mathematiker und ich ein Physiker war, diskutierten wir nicht u¨ ber unsere Arbeit. Die Tatsache, dass wir u¨ ber dasselbe Problem nachdachten, w¨ahrend wir so eng beieinander saßen, kam erst heraus, nachdem er nach Oxford zur¨uckgegangen war. Das war eine weitere verpasste Gelegenheit, wenn auch keine tragische, denn MacDonald kl¨arte das gesamte Thema ganz ohne meine Hilfe.“
3.10 Die MacDonald-Identit¨aten Wir beenden diese Vorlesung mit einer schier endlosen Sammlung von Identit¨aten, die einen erheblichen Teil der Arbeit von MacDonald umfassen, die von Dyson erw¨ahnt wurde. Die erste Formel verallgemeinert die Jacobi-Identit¨at (was dem Fall n = 2 entspricht): ∞ k . . . xk k . . . xk x x n n 1 1− ∏ (1 − x1k . . . xnk )n−1 ∏ 1 − xi .1. . x j−1 x1 . . . xi−1 x j . . . xn 1≤i< j≤n k=1 = ∑ ε (k1 , . . . , kn )x1k1 . . . xnkn , wobei die Summe auf der rechten Seite u¨ ber alle n-Tupel nicht-negativer ganzer Zahlen (k1 , . . . , kn ) l¨auft, die die Gleichung k12 + · · · + kn2 = k1 + · · · + kn + k1 k2 + · · · + kn−1 kn + kn k1
(3.6)
erf¨ullen. Dabei ist ε (k1 , . . . , kn ) = ±1 folgendermaßen definiert. Erf¨ullen die Zahlen k1 , . . . , kn die Gleichung (3.6), so gilt das auch f¨ur die Zahlen k1 , . . . , ki−1 , ki , ki+1 , . . . , kn , wobei ki = −ki + ki−1 + ki+1 + 1 ist (hier gilt 1 ≤ i ≤ n; f¨ur i = n sollten wir n(n − 1) Parametern ab, und Drehungen eines komplexen 2 n(n − 1) n-dimensionalen Raumes h¨angen von n2 − 1 Parametern ab. Zu den Zahlen und n2 − 1, 2 also 1, 3, 6, 10, 15, 21, 28, 36, . . . und 3, 8, 15, 24, 35, . . . , sollte man f¨unf außergew¨ohnliche Dimen” sionen“ 14, 52, 78, 133, 248 hinzunehmen. Streicht man, wie Dyson, außerdem die Zahlen 1 und 6 und nimmt 26 hinzu (was hier nach einer moderneren Erkl¨arung als 52 ÷ 2 erscheint), so ergibt sich die Reihe (3.5); sicher erinnert sich jeder theoretischer Physiker sehr genau an diese Reihe. gen eines n-dimensionalen Raumes von
70
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten
x1 f¨ur xi+1 verwenden, und f¨ur i = 1 sollten wir xn f¨ur xi−1 verwenden). Dar¨uber hinaus kann jedes n-Tupel k1 , . . . , kn nicht-negativer ganzer Zahlen, die die Gleichung (3.6) erf¨ullen, aus (0, . . . , 0) durch eine endliche Reihe solcher Transformationen erzeugt werden. Das kann auf vielen verschiedenen Wegen geschehen; aber die Parit¨at der Anzahl solcher Transformationen h¨angt nur von k1 , . . . , kn ab. Ist diese Zahl gerade, so gilt ε (k1 , . . . , kn ) = 1; anderenfalls gilt ε (k1 , . . . , kn ) = −1. Es gibt noch einige weitere explizite Formeln f¨ur ε (k1 , . . . , kn ). Ist zum Beispiel n = 2, so wird Gleichung (3.6) zu (k1 − k2 )2 = k1 + k2 und alle ganzzahligen L¨osungen sind n(n − 1) n(n + 1) , −∞ < n < ∞; , 2 2 das zugeh¨orige ε ist (−1)n . F¨ur n = 3 gilt 1, f¨ur k1 + k2 + k3 ≡ 0 mod 3, ε (k1 , k2 , k3 ) = −1, f¨ur k1 + k2 + k3 ≡ 1 mod 3 (der Fall k1 + k2 + k3 ≡ 2 mod 3 kann nicht vorkommen). F¨ur n = 4 gilt 1, f¨ur k1 + k2 + k3 + k4 ≡ 0, 2, 3, 7 mod 8, ε (k1 , k2 , k3 , k4 ) = −1, f¨ur k1 + k2 + k3 + k4 ≡ 1, 4, 5, 6 mod 8. Die zweite Formel verallgemeinert die Gauß-Identit¨at (und auch die Klein2 Identit¨at und die Dyson-Identit¨at) zu einer Formel f¨ur ϕ (x)n −1 : k2 kn−1 kn k1 n2 −1 n−1 ... x , ϕ (x) = (−1) ∑ ε (k1 , . . . , kn ) n−1 n−2 1
c Freeman Dyson
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
wobei die Summe u¨ ber dieselben n-Tupel (k1 , . . . , kn ) l¨auft wie in der vorherigen Identit¨at, und auch ε (k1 , . . . , kn ) hat dieselbe Bedeutung wie vorhin.
Freeman Dyson geboren 1923
Leonard Euler 1707–1783
Carl Friedrich Gauß 1777–1855
¨ 3.11 Ubungen c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
71
Felix Klein 1849–1925 c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
Godfrey Harold Hardy 1877–1947
Ian MacDonald geboren 1928
Srinivasa Ramanujan 1887–1920
¨ 3.11 Ubungen ¨ Ubung 3.1. Beweisen Sie Anzahl der Partitionen n = n1 + · · · + nk (k > 0) mit 0 < n1 < · · · < nk
=
Anzahl der Partitionen n = n1 + · · · + nk (k > 0) . mit 0 < n1 ≤ · · · ≤ nk alle ni ungerade
Hinweis: Es gibt eine nat¨urliche eineindeutige Transformation zwischen den Partitionen im linken Kasten und den Partitionen im rechten Kasten. Sie sollen aus den folgenden Beispielen ableiten, wie die Transformation funktioniert:
72
3 Zusammenfassen gleichartiger Terme und verpasste Gelegenheiten
1 + 3 + 6 + 10 ↔ 1 + 3 + 3 + 3 + 5 + 5, 1 + 4 + 7 + 11 ↔ 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 7 + 11, 2 + 4 + 6 ↔ 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 3 + 3. ¨ Ubung 3.2. Beweisen Sie, dass f¨ur jedes reelle s > 1 (oder ein komplexes s mit Realteil Re s > 1) s s s s 1 3 5 7 1 1 1 2 1+ s + s + s + s +··· = ... 2 3 4 5 2s − 1 3s − 1 5s − 1 7s − 1 gilt. K¨urzer ausgedr¨uckt ∞
1 ∑ ns = ∏ n=i p∈{Primzahlen}
ps . ps − 1
Anmerkungen. (1) Diese Formel, die ebenfalls auf Euler zur¨uckgeht, hat nicht direkt etwas mit dem Thema dieser Vorlesung zu tun. Aber ihr Beweis a¨ hnelt stark dem Beweis von Satz 3.1, und wir hoffen, dass Sie als Leser das zu sch¨atzen wissen. (2) Der Ausdruck auf der linken Seite (und folglich die rechte Seite) der letzten Gleichung wird als ζ (s) bezeichnet. Das ist die ber¨uhmte riemannsche ζ -Funktion. Ein einfacher Trick liefert eine Fortsetzung dieser Funktion auf alle komplexen Werte des Arguments (außer s = 1). Es ist bekannt, dass f¨ur jede positive ganze Zahl n die Funktion ζ (−2n) = 0 ist. Die riemannsche Vermutung (wobei es sich vermutlich um das gegenw¨artig ber¨uhmteste ungel¨oste Problem der Mathematik handelt) 1 besagt: Gilt ζ (s) = 0 und s = −2n f¨ur jede positive ganze Zahl n, so ist Re s = . 2 ¨ Ubung 3.3. Beweisen Sie die Formel aus Abschnitt 3.5 auf Seite 60: Ist n = 2k2 3k3 5k5 . . . eine Primfaktorzerlegung von n, so gilt d(n) =
∏
p∈{Primzahlen}
pk p +1 − 1 . p−1
¨ Ubung 3.4. Leiten Sie aus der Jacobi-Identit¨at die folgende Identit¨at her, in der die Euler-Funktion ϕ vorkommt: ∞ ϕ (y)ϕ (y4 ) 2 = (−1)n y2n +n . ∑ ϕ (y2 ) n=−∞
Hinweis: Versuchen Sie es mit z = −y2 . ¨ Ubung 3.5. Beweisen Sie folgende Aussage. Sind k, l und m ganze Zahlen und gilt k + l + m = 1, so ist −(kl + km + lm) eine nicht-negative ganze Zahl, die nicht kongruent zu 3 modulo 4 ist. Anmerkungen. (1) Das hat etwas mit der Klein-Identit¨at f¨ur ϕ (x)8 zu tun. (2) Nach der Tabelle aus Abschnitt 3.8 auf Seite 66 sind 250 der ersten 500 ¨ spezifiziert 125 Koeffizienten. Koeffizienten der Reihe f¨ur ϕ (x)8 null. Diese Ubung
¨ 3.11 Ubungen
73
Die Zahlen f¨ur die u¨ brigen 125 Koeffizienten sehen chaotisch aus. Sie als Leser sollen versuchen, eine gewisse Ordnung in diesem Chaos zu finden. ¨ Ubung 3.6. (a) Sei q(n) die Anzahl der Partitionen n = n1 + · · · + nk mit 0 < n1 ≤ n2 ≤ · · · ≤ nk−1 < nk (im Fall k = 1 bedeutet dies nur 0 < n). Beweisen Sie q(n) = p(n − 1) f¨ur n ≥ 1. (b) Leiten Sie aus (a) ab, dass p(n) > p(n − 1) f¨ur n ≥ 2 gilt. ¨ Ubung 3.7. Beweisen Sie, dass p(n) < Fn gilt, wobei Fn die n-te Fibonacci-Zahl ist (F0 = F1 = 1, Fn = Fn−1 + Fn−2 f¨ur n ≥ 2). ¨ Hinweis: Verwenden Sie die Euler-Identit¨at und Ubung 3.6(b). ¨ Ubung 3.8. * Seien Fn (k = 1, 2, . . . ) die Fibonacci-Zahlen (F1 = 1, F2 = 2, Fn = ¨ 3.7 betrachten wir F0 nicht). Fn−1 + Fn−2 f¨ur n ≥ 3; im Gegensatz zu Ubung (a) Beweisen Sie, dass jede ganze Zahl n ≥ 1 als Summe verschiedener FibonacciZahlen ausgedr¨uckt werden kann: n = Fk1 + · · · + Fks , 1 ≤ k1 < · · · < ks . (b) Beweisen Sie, dass eine Partition von n wie in Teil (a) existiert und eindeutig ist, wenn wir die zus¨atzliche Bedingung ki − ki−1 ≥ 2 f¨ur 1 < i ≤ s stellen. (c) Beweisen Sie, dass eine Partition von n wie in Teil (a) auch existiert und eindeutig ist, wenn wir die entgegengesetzte Bedingung stellen: k1 ≤ 2, ki − ki−1 ≤ 2 f¨ur 1 < i ≤ s. (d) Sei Kn die Anzahl der Partitionen von n wie in Teil (a) mit geradzahligem s, und sei Hn dasselbe mit ungeradzahligem s. Beweisen Sie, dass |Kn − Hn | ≤ 1 gilt. (e) (analog zu (d)) Gegeben sei (1 − x)(1 − x2 )(1 − x3 )(1 − x5 )(1 − x8 ) · · · = 1 + g1 x + g2 x2 + g3 x3 + . . . (oder in Kurzschreibweise
∞
∞
k=1
n=1
∏ (1 − xFk ) = 1 + ∑ gnxn ). Beweisen Sie, dass f¨ur
alle n die Ungleichung |gn | ≤ 1 gilt. (f) (Verallgemeinerung von (e)) Beweisen Sie, dass f¨ur jedes k, > k alle Koeffizienten des Polynoms (1 − xFk )(1 − xFk+1 ) . . . (1 − xF ) gleich null oder ±1 sind. (g) (Erg¨anzung zu (e)) Beweisen Sie, dass f¨ur jedes k ≥ 4 gilt: gn = 0 f¨ur 2Fk − 2 < n < 2Fk + Fk−3 .
Algebra und Arithmetik
Teil II GLEICHUNGEN
Vorlesung 4
Gleichungen dritten und vierten Grades
¨ 4.1 Einfuhrung Die Formel x1,2 = f¨ur die
Nullstellen1
−p ±
p2 − 4q
2
einer quadratischen Gleichung x2 + px + q = 0
ist eine der popul¨arsten Gleichungen der Mathematik. Sie ist kurz und praktisch, sie hat eine große Vielfalt von Anwendungen, und jeder ist angehalten, sie sich zu merken. Es ist auch weithin bekannt, dass eine explizite Formel f¨ur die L¨osung einer kubischen Gleichung existiert, doch Studenten werden im Allgemeinen nicht dazu ermuntert, sie zu lernen. Die u¨ bliche Begr¨undung daf¨ur ist, dass die Formel zu lang, zu kompliziert und nicht besonders praktisch in der Anwendung ist. Diese Warnungen reichen allerdings nicht immer aus, unseren Wissensdurst zu bremsen, und viele Leute suchen nach dieser Formel in verschiedenen Lehrb¨uchern und Nachschlagewerken. Dort finden sie Folgendes. 1 Mitunter spricht man auch von Wurzeln von englisch roots. Wir werden aber in der Regel von ¨ Nullstellen sprechen. Anm. d. Ubers.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 4,
77
78
4 Gleichungen dritten und vierten Grades
4.2 Die Formel Wir werden die Gleichung x3 + px + q = 0
(4.1)
betrachten. (Die allgemeine Gleichung x3 + ax2 + bx + c kann auf eine Gleichung a dieser Form reduziert werden, indem man x = y − substituiert: 3
a 3 a 2 a
+a y− +b y− x3 + ax2 + bx + c = y − +c 3 3 3 2a3 ab a2 y+ − +c , = y3 + b − 3 27 3 was y3 + px + q mit p = b −
2a3 ab a2 , q= − + c ist.) 3 27 3
Die L¨osungsformel lautet2 3 3 q q p3 q 2 p3 q2 x= − + + + − − + . 2 27 4 2 27 4
(4.2)
Festzustellen ist, dass diese Formel weder lang noch kompliziert ist. Die beiden kubischen Wurzeln sind einander sehr a¨ hnlich: Merken Sie sich eine davon, und Sie werden sich auch an die andere erinnern. Die Nenner 2, 4 und 27 lassen sich ebenfalls leicht merken; außerdem k¨onnen Sie ihr Auftauchen vermeiden, indem Sie die gegebene Gleichung in der Form x3 + 3rx + 2s = 0 √ √ 3 3 schreiben; dann wird die L¨osungsformel zu x = −s + r3 + s2 + −s − r3 + s2 . Vielleicht ist diese Formel doch nicht so schlecht, wie viele Leute denken? Um uns eine Meinung dar¨uber zu bilden, wollen wir mit der einfachsten Sache beginnen.
4.3 Der Beweis der Formel Satz 4.1. Gilt
p3 q2 + ≥ 0, so ist (4.2) eine L¨osung der Gleichung (4.1). 27 4
Beweis. Seien A= 2
3
q − + 2
p3 27
+
q2 4
und
B=
3
q − − 2
p3 q2 + . 27 4
Diese Formel wird u¨ blicherweise als Cardano-Formel oder Cardano-Tartaglia-Formel bezeichnet. Die dramatische Geschichte k¨onnen Sie im Buch von S. Gindikin [35] nachlesen.
4.4 Wir wollen diese Formel verwenden
79
Dann ist A3 + B3 = −q, 3 q p3 p3 q 2 3 q p3 q2 p 3 AB = − + + · − − + = − =− 2 27 4 2 27 4 27 3 und x3 = (A + B)3 = A3 + 3AB(A + B) + B3 = −px − q, x3 + px + q = 0, was zu beweisen war. 2
4.4 Wir wollen diese Formel verwenden Wenn diese Formel gut ist, sollte sie n¨utzlich sein. Wir wollen versuchen, mit ihrer Hilfe Gleichungen zu l¨osen. Beispiel 4.1. Wir betrachten die Gleichung x3 + 6x − 2 = 0. Nach der Formel ist x=
3
√ 1+ 8+1+
√ √ √ 3 3 3 1 − 8 + 1 = 4 − 2.
Dieses Resultat ist zweifellos gut: Ohne die Formel h¨atten wir kaum erraten k¨onnen, dass diese Differenz kubischer Wurzeln eine Nullstelle unserer Gleichung ist. Beispiel 4.2. Wir betrachten die Gleichung x3 + 3x − 4 = 0. Nach der Formel ist √ √ √ √ 3 3 3 3 x = 2 + 1 + 4 + 2 − 1 + 4 = 2 + 5 + 2 − 5. Nicht schlecht. Wenn Sie aber Ihren Taschenrechner verwenden, um das Ergebnis √ √ 3 3 zu n¨ahern, so werden Sie vermutlich feststellen, dass 2 + 5 + 2 − 5 = 1 ist. Um diese Aussage zu pr¨ufen, setzt man am besten die linke und die rechte Seite der letzten Gleichung in die Gleichung x3 + 3x − 4 = 0 ein, um zu zeigen, dass beide Seiten L¨osungen sind. Anschließend beweist man, dass die Gleichung h¨ochstens eine (reelle) L¨osung hat. (Die Funktion x3 + 3x − 4 ist monoton: Ist x1 < x2 , so gilt x13 + 3x1 − 4 < x23 + 3x2 − 4.) Das wirft den ersten Zweifel auf. Aus der quadratischen Formel kann man immer ablesen, ob die L¨osung rational ist; hier ist die L¨osung rational (sogar ganzzahlig), aber an der Formel erkennt man das nicht.
80
4 Gleichungen dritten und vierten Grades
Abb. 4.1 Kubische Parabeln.
Beispiel 4.3. Um unsere Zweifel zu zerstreuen, betrachten wir eine Gleichung, de¨ ren L¨osungen wir von Anfang an kennen. Ubrigens ist der Koeffizient a von x2 in 3 2 Gleichung x + ax + bx + c = 0 gleich minus Summe der Nullstellen; somit sollte f¨ur unsere Gleichung (4.1) die Summe der Nullstellen null sein. Nehmen wir x1 = −3, x2 = 2 und x3 = 1 an. Die Gleichung mit diesen Nullstellen ist (x + 3)(x − 2)(x − 1) = x3 − 7x + 6 = 0 . Wir l¨osen sie mithilfe unserer Formel: −343 −343 3 3 + 9 + −3 − +9 x = −3 + 27 27 100 3 100 10 10 3 3 = −3 + − + −3 − − = −3 + √ i + 3 −3 − √ i. 27 27 3 3 3 3 Da ist nichts mit −3, 2 oder 1. Das ist zu dumm.
Schlussfolgerung. Die Formel ist einfach und l¨asst sich leicht merken, aber sie ist etwas unzuverl¨assig: Manchmal gibt sie eine L¨osung in einer unbefriedigenden Form, und manchmal gibt sie u¨ berhaupt keine L¨osung. Versuchen wir, den Ursprung dieser Schwierigkeiten ausfindig zu machen.
4.5 Wie viele L¨osungen gibt es? Die Frage ist sehr nat¨urlich. Unsere Formel gibt bestenfalls eine L¨osung, w¨ahrend eine kubische Gleichung drei (reelle) L¨osungen haben kann (siehe Beispiel 4.3). Wir betrachten den Graphen der Funktion y = x3 + px + q. Der Graph von y = x3 ist die wohlbekannte kubische Parabel (siehe Abbildung 4.1); wenn wir px addieren, ver¨andert sich der Graph, wie in Abbildung 4.1 dargestellt.
4.5 Wie viele L¨osungen gibt es?
eine Nullstelle
81
eine Nullstelle
drei Nullstellen
Abb. 4.2 Die Anzahl der Nullstellen.
F¨ur p > 0 sieht er anders aus als f¨ur p < 0. Schließlich ergibt sich der Graph von y = x3 + px+q aus einem der Graphen aus Abbildung 4.1 auf der vorherigen Seite durch eine vertikale Verschiebung (siehe Abbildung 4.2). Wir erkennen Folgendes. F¨ur p ≥ 0 ist die Anzahl der L¨osungen immer 1. F¨ur p < 0 ist die Anzahl der L¨osungen 1, 2 oder 3. Wir wollen verstehen, wie wir diese F¨alle voneinander unterscheiden. Lemma 4.1. Die Gleichung x3 + px + q hat genau dann zwei L¨osungen, wenn p < 0 und
p3 q2 + = 0 ist. 27 4
Anmerkung 4.1. Dieses Resultat wird mit einem Beweis, der sich vom unten stehenden unterscheidet, in Vorlesung 8 diskutiert. Wir erinnern uns daran, dass der p3 q2 Ausdruck + , der f¨ur unsere gegenw¨artigen Zwecke a¨ ußerst wichtig ist, als 27 4 Diskriminante des Polynoms x3 + px + q bezeichnet wird. Beweis des Lemmas. Damit die Gleichung nur zwei L¨osungen hat, muss sie eine mehrfache (doppelte) Nullstelle haben. Ist diese Nullstelle a, so sollte die dritte Nullstelle −2a sein, da die Summe der Nullstellen 0 ist. Insbesondere gilt a = 0 (anderenfalls gibt es nur eine Nullstelle, n¨amlich 0). Folglich gilt x3 + px + q = (x − a)2 (x + 2a) = x3 − 3a2 x + 2a3 27a6 4a6 p3 q2 + =− + = 0. 27 4 27 4 q p3 q2 Umgekehrt, wenn p < 0 und + = 0 ist, nehmen wir a = 3 und schlussfol4 2 27 2 √ 27q 3 3 = 27a6 = 3a2 . Folglich ist gern daraus q = 2a3 , p = − 4 mit p = −3a2 , q = 2a3 . In diesem Fall ist p < 0 und
x3 + px + q = x3 − 3a2 x + 2a3 = (x − a)2 (x + 2a) . Diese Gleichung hat eine mehrfache Nullstelle a. 2
82
4 Gleichungen dritten und vierten Grades
Betrachten wir nun die allgemeine Gleichung x3 + px + q = 0 mit p < 0, die keine mehrfachen Nullstellen hat. Offenbar gibt es zwei verschiedene Werte von r, sodass die Gleichung x3 + px + q = r eine mehrfache Nullstelle hat (siehe Abbildung 4.2 auf der vorherigen Seite). Haben diese beiden r dasselbe Vorzeichen (ist also ihr Produkt positiv), so hat die Gleichung x3 + px + q = 0 eine L¨osung; haben sie entgegengesetzte Vorzeichen (ihr Produkt ist negativ), dann ist die Anzahl der L¨osungen drei. Wir wollen dazu Berechnungen anstellen. Nach dem Lemma hat x3 + px + q = r genau dann zwei L¨osungen, wenn p3 (q − r)2 + =0 27 4 ist, das heißt, r = q±
−
4p3 . 27
Das Produkt der beiden Werte von r ist 3 p q2 4p3 . =4 + q + 27 27 4 2
Daraus erhalten wir folgendes Resultat. Satz 4.2. Die Gleichung x3 + px + q = 0 hat p3 q2 + > 0 ist (oder p = q = 0); 27 4 3 p q2 • zwei L¨osungen, falls + = 0 (und p < 0) ist; 27 4 3 2 q p + < 0 ist. • drei L¨osungen, falls 27 4 • eine L¨osung, falls
¨ zur Formel 4.6 Zuruck p3 q2 + sowohl in Satz 4.2 als auch in Formel (4.2) auftaucht, Da der Ausdruck 27 4 ergibt sich ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Resultaten, der die experimentellen Beobachtungen aus Abschnitt 4.4 ziemlich gut erkl¨art. Satz 4.3. Hat Gleichung (4.1) nur eine reelle Nullstelle (oder zwei reelle Nullstellen), so ist die rechte Seite von Formel (4.2) definiert (die Summe von zwei kubischen Wurzeln reeller Zahlen). Hat Gleichung (4.1) drei (verschiedene) reelle Nullstellen, so ist die rechte Seite von Formel (4.2) undefiniert: Sie ist dann die Summe von kubischen Wurzeln komplexer Zahlen.
4.8 L¨osung kubischer Gleichungen mithilfe der Trigonometrie
83
4.7 Der Fall mit negativer Diskriminante Um Formel (4.2) auf diesen Fall anwenden zu k¨onnen, m¨ussen wir lernen, wie man kubische Wurzeln aus komplexen Zahlen zieht. Das wollen wir jetzt versuchen. Unsere Aufgabe lautet: Gegeben seien a und b. Bestimmen Sie x und y, sodass (x + iy)3 = a + ib gilt. Die letzte Gleichung f¨uhrt auf das Gleichungssystem x3 − 3xy2 = a, 3x3 y − y3 = b, das auf die Gleichung 27b3 x3 = (x3 − a)(8x3 + a)2 reduziert werden kann. Dabei handelt es sich um eine kubische Gleichung in t = x3 , und sie muss drei reelle L¨osungen haben (da unser Ausgangsproblem drei L¨osungen hat); folglich wird uns unsere Formel nicht helfen, das Problem zu l¨osen. Es gibt eine andere Methode, Wurzeln aus komplexen Zahlen zu ziehen, die sich auf die Formel von de Moivre √ θ θ 3 3 r(cos θ + i sin θ ) = r cos + i sin 3 3 st¨utzt. Also k¨onnen wir Trigonometrie verwenden, um kubische Gleichungen mithilfe von Formel (4.2) zu l¨osen. Man kann aber Trigonometrie auch zur L¨osung kubischer Gleichungen verwenden, ohne auf Formeln wie (4.2) zur¨uckzugreifen.
4.8 L¨osung kubischer Gleichungen mithilfe der Trigonometrie In der Trigonometrie gibt es eine Formel f¨ur den Sinus eines Dreifachwinkels: sin 3θ = 3 sin θ − 4 sin3 θ . Lautet unsere Gleichung also 4x3 − 3x + sin 3θ = 0 oder sin 3θ 3 = 0, x3 − x + 4 4
84
4 Gleichungen dritten und vierten Grades
3 so ist die L¨osung x = sin θ . Mit anderen Worten: Ist p = − , so ist die L¨osung von 4 Gleichung (4.1) 1 −1 x = sin sin (4q) . 3 3 Wie verh¨alt es sich, wenn p = − ist? In diesem Fall k¨onnen wir x = ay substituie4 ren. Gleichung (4.1) wird dann zu a3 y3 + apy + q = 0 oder y3 + p 3 Sofern 2 = − , also a = a 4
p q y+ 3 = 0. a2 a
4p , ist, ergibt sich f¨ur die L¨osung dann 3 ⎞ ⎛ 4q 1 ⎠, y = sin ⎝ sin−1 3 4p 3 (− 3 ) 4p 4p 1 −1 9q − x = ay = − sin . sin 3 3 4p2 3 −
(4.3)
Ist das nicht eine Formel? Zugegeben, p muss nat¨urlich negativ sein. Aber auch das Argument von sin−1 muss zwischen −1 und 1 liegen: 9q 4p 81q2 · 4p ≤ 1, 2 − ≤ 1, − 4p 3 16p4 · 3 27q2 ≥ −1, 27q2 ≤ −4p3 , 4p3 p3 q2 + ≤ 0. 27q2 + 4p3 ≤ 0, 27 4 Wir stellen fest, dass die Formel (4.3) genau dann funktioniert, wenn die Formel (4.2) nicht funktioniert. Somit decken die Formeln (4.2) und (4.3) die gesamte Viel¨ falt der F¨alle ab. Ubrigens liefert die Formel (4.3) immer drei L¨osungen: Im Fall 4p −1 9q sin =α − 2 4p 3 sind die drei L¨osungen x=
1 4p (α + 2kπ ) , k = 0, 1, 2. − sin 3 3
4.10 Gleichungen vierten Grades: Was an der Zahl 4 so besonders ist
85
4.9 Zusammenfassung: Wie man kubische Gleichungen l¨ost Die Formel (4.2) dr¨uckt (zusammen mit Formel (4.3)) die L¨osungen von Gleichung (4.1) u¨ ber p und q aus. Was praktische Zwecke betrifft, so ist diese Formel manchmal nicht besonders n¨utzlich; N¨aherungswerte f¨ur die Nullstellen kubischer Gleichungen k¨onnen mithilfe anderer Methoden bestimmt werden (die insbesondere von Taschenrechnern verwendet werden). Dass man eine solche Formel f¨ur Zwischenschritte von Berechnungen verwenden kann (Einsetzen von L¨osungen kubischer Gleichungen in andere Gleichungen), erscheint nicht wahrscheinlich. Die Bedeutung von Formel (4.2) ist haupts¨achlich theoretischer Natur. Diesen Aspekt werden wir sp¨ater diskutieren. Nun widmen wir unsere Aufmerksamkeit den Gleichungen vierten Grades.
4.10 Gleichungen vierten Grades: Was an der Zahl 4 so besonders ist Gleichungen vierten Grades lassen sich auf Gleichungen dritten Grades reduzieren. F¨ur dieses Ph¨anomen gibt es unter den Gleichungen, deren Grad gr¨oßer als 4 ist, keine direkten Analogien. Aus diesem Grund verdient es eine spezielle Betrachtung. Was ist an der Zahl 4 so besonders? Aus den vielen m¨oglichen Antworten auf diese Frage werden wir eine ausw¨ahlen, die sich f¨ur uns aus technischer Sicht am n¨utzlichsten erweisen wird. Unter den verschiedenen mathematischen Problemen gibt es sogenannte kom” binatorische Aufgaben“. Sie sehen folgendermaßen aus: Gegeben seien soundso ” viele gewisse Objekte. Wie viele M¨oglichkeiten gibt es, eine Sache soundso zu erledigen?“ Ein Beispiel: Wie viele M¨oglichkeiten gibt es, in einer Klasse mit 20 Studen” ten, einen Klassensprecher und zwei Stellvertreter zu w¨ahlen?“ Das Ergebnis ist: 19 · 18 = 3 420. 20 × 2 Ein anderes Beispiel: Wie viele M¨oglichkeiten gibt es, zwei gr¨une B¨alle und ” drei rote B¨alle aus einem Kasten mit zehn B¨allen in jeder Farbe zu w¨ahlen?“ Das 10 · 9 10 · 9 · 8 · = 5 400. Und so weiter. Ergebnis ist: 2 6 Uns f¨allt auf, dass die Ergebnisse relativ groß sind. In der Regel sind sie wesentlich gr¨oßer als die Zahl aus der Aufgabenstellung. Kennen Sie eine kombinatorische Aufgabe, bei der das Ergebnis kleiner ist als die gegebene Zahl (und, sagen wir, gr¨oßer als 1)? Wir kennen eine derartige Aufgabe. Aufgabe: Wie viele M¨oglichkeiten gibt es, aus einer Menge von 4 Elementen 2 Paare zu bilden? Ergebnis: 3 (ist die Menge {ABCD}, so sind die L¨osungen AB/CD, AC/BD und AD/BC). ¨ Uberraschenderweise liegt in dieser einfachen Aufgabe der Schl¨ussel zur L¨osung von Gleichungen vierten Grades.
86
4 Gleichungen dritten und vierten Grades
4.11 Die kubische Resolvente Unsere Gleichung sei x4 + px2 + qx + r = 0
(4.4)
(genau wie im kubischen Fall k¨onnen wir den zweitf¨uhrenden“ Term mit x3 eli” minieren, indem wir eine Substitution von der Form x = y + α vornehmen). Seien x1 , x2 , x3 und x4 die L¨osungen von Gleichung (4.4). Dann gilt x4 + px2 + qx + r = (x − x1 )(x − x2 )(x − x3 )(x − x4 ), woraus sich 0 = x1 + x2 + x3 + x4 , p = x1 x2 + x1 x3 + x1 x4 + x2 x3 + x2 x4 + x3 x4 , −q = x1 x2 x3 + x1 x2 x4 + x1 x3 x4 + x2 x3 x4 , r = x1 x2 x3 x4 ergibt. Nun schauen wir uns unsere Gleichung noch einmal an und setzen y1 = (x1 + x2 )(x3 + x4 ), y2 = (x1 + x3 )(x2 + x4 ), y3 = (x1 + x4 )(x2 + x3 ). Bedenken Sie, dass wir wegen x1 + x2 + x3 + x4 = 0 auch y1 = −(x1 + x2 )2 = −(x3 + x4 )2 , y2 = −(x1 + x3 )2 = −(x2 + x4 )2 , y3 = −(x1 + x4 )2 = −(x2 + x3 )2 schreiben k¨onnen. Sei y3 + ay2 + by + c = 0 die kubische Gleichung mit den Nullstellen y1 , y2 und y3 . Dann ist a = −y1 − y2 − y3 , b = y1 y2 + y1 y3 + y2 y3 , c = −y1 y2 y3 .
(4.5)
4.12 Wie man a, b und c durch p, q und r ausdr¨uckt
87
¨ 4.12 Wie man a, b und c durch p, q und r ausdruckt Satz 4.4. a = −2p, b = p2 − 4r, c = q2 . Beweis (direkte Berechnung). Sie ist etwas einfacher f¨ur a und c und l¨anger f¨ur b. a = −y1 − y2 − y3 = (x1 + x2 )2 + (x1 + x3 )2 + (x2 + x3 )2 = 2(x12 + x22 + x32 + x1 x2 + x1 x3 + x2 x3 ) = x12 + x22 + x32 + (x1 + x2 + x3 )2 = x12 + x22 + x32 + (−x4 )2 = (x1 + x2 + x3 + x4 )2 − 2p = −2p. c = −y1 y2 y3 = (x1 + x2 )2 (x1 + x3 )2 (x1 + x4 )2 = [(x1 + x2 )(x1 + x3 )(x1 + x4 )]2 = [x13 + x12 (x2 + x3 + x4 ) + x1 (x2 x3 + x2 x4 + x3 x4 ) + x2 x3 x4 ]2 = (x13 − x13 − q)2 = q2 . b =y1 y2 + y1 y3 + y2 y3 =(x1 + x2 )2 (x1 + x3 )2 + (x1 + x2 )2 (x1 + x4 )2 + (x1 + x3 )2 (x1 + x4 )2 = x14 + 2x13 (x2 + x3 ) + x12 (x22 + x32 + 4x2 x3 ) + 2x1 x2 x3 (x2 + x3 ) + x22 x32 + x14 + 2x13 (x2 + x4 ) + x12 (x22 + x42 + 4x2 x4 ) + 2x1 x2 x4 (x2 + x4 ) + x22 x42 + x14 + 2x13 (x3 + x4 ) + x12 (x32 + x42 + 4x3 x4 ) + 2x1 x3 x4 (x3 + x4 ) + x32 x42 = x14 + 2x13 (x2 + x3 ) + x12 (x22 + x32 + 4x2 x3 ) − 2x1 x2 x3 (x1 + x4 ) + x22 x32 + x14 + 2x13 (x2 + x4 ) + x12 (x22 + x42 + 4x2 x4 ) − 2x1 x2 x4 (x1 + x3 ) + x22 x42 + x14 + 2x13 (x3 + x4 ) + x12 (x32 + x42 + 4x3 x4 ) − 2x1 x3 x4 (x1 + x2 ) + x32 x42 =3x14 + 4x13 (x2 + x3 + x4 ) + 2x12 (x2 + x3 + x4 )2 − 2x12 (x2 x3 + x2 x4 + x3 x4 ) − 6x1 x2 x3 x4 + x22 x32 + x22 x42 + x32 x42 =x14 − 2x12 (x2 x3 + x2 x4 + x3 x4 ) − 6x1 x2 x3 x4 + x22 x32 + x22 x42 + x32 x42 . p = −x12 + x2 x3 + x2 x4 + x3 x4 ; p2 = x14 − 2x12 (x2 x3 + x2 x4 + x3 x4 ) + (x2 x3 + x2 x4 + x3 x4 )2 ; p2 − b = (x2 x3 + x2 x4 + x3 x4 )2 − (x22 x32 + x22 x42 + x32 x42 ) + 6x1 x2 x3 x4 = 2(x22 x3 x4 + x2 x32 x4 + x2 x3 x42 ) + 6x1 x2 x3 x4 = 2x2 x3 x4 (x2 + x3 + x4 ) + 6x1 x2 x3 x4 = −2x1 x2 x3 x4 + 6x1 x2 x3 x4 = 4x1 x2 x3 x4 = 4r. 2
88
4 Gleichungen dritten und vierten Grades
Dieser Beweis ist u¨ berzeugend, aber er offenbart nicht die Gr¨unde, aus denen heraus man a, b und c durch p, q und r ausdr¨ucken kann. Wir wollen versuchen, diese Gr¨unde zu erkl¨aren. Setzen wir die (allerersten) Formeln f¨ur y1 , y2 und y3 in die Definition von a, b und c ein, so werden aus a, b und c Polynome in x1 , x2 , x3 und x4 (vom Grad 2, 4, 6). Außerdem sind diese Polynome in x1 , x2 , x3 und x4 symmetrisch, was bedeutet, dass das Polynom dasselbe bleibt, wenn Sie zwei Variablen xi und x j vertauschen. Wenn Sie etwa x1 und x2 vertauschen, so bleibt y1 unver¨andert, w¨ahrend y2 mit y3 vertauscht; etwas a¨ hnliches passiert, wenn Sie zwei beliebige x vertauschen. Aber a, b und c bleiben unver¨andert, da sie offenbar symmetrisch bez¨uglich der Variablen y sind. In der Algebra gibt es einen Satz (nicht schwierig), der besagt, dass jedes symmetrische Polynom in x1 , x2 , x3 und x4 als ein Polynom aus den elementaren sym” metrischen Polynomen“ geschrieben werden kann: e1 = x1 + x2 + x3 + x4 , e2 = x1 x2 + x1 x3 + x1 x4 + x2 x3 + x2 x4 + x3 x4 , e3 = x1 x2 x3 + x1 x2 x4 + x1 x3 x4 + x2 x3 x4 , e4 = x1 x2 x3 x4 . (Ein a¨ hnlicher Satz gilt f¨ur eine beliebige Anzahl von Variablen.) Wegen e1 = 0 sind a, b und c Polynome in e2 , e3 und e4 , also in p, q und r. Da die Grade von p, q und r gleich 2, 3 und 4 sind, sollte a = Ap, b = Bp2 +Cr, c = Dp3 + Eq2 + F pr gelten, und wir k¨onnen A, . . . , F bestimmen, indem wir einzelne Werte f¨ur x1 , x2 , x3 und x4 einsetzen (sodass x1 + x2 + x3 + x4 = 0 ist). Ist zum Beispiel x1 = 1, x2 = −1 und x3 = x4 = 0, so haben wir y1 = 0, y2 = y3 = −1, p = −1, q = r = 0, a = −2, b = 1 und c = 0. Folglich ist −2 = A · (−1), 1 = B · 1 +C · 0, 0 = D · 1 + E · 0 + F · 0, woraus sich A = 2, B = 1, D = 0 ergibt. Analog k¨onnen wir C, E und F bestimmen.
¨ 4.13 Wie man x1 , x2 , x3 und x4 durch y1 , y2 und y3 ausdruckt Wir k¨onnen also aus einer gegebenen Gleichung (4.4) vierten Grades die Resolvente (4.5) dritten Grades aufstellen, sie l¨osen und y1 , y2 und y3 bestimmen. Wie
4.14 Zusammenfassung: Wie man Gleichung (4.4) l¨ost
89
bestimmen wir daraus unsere urspr¨unglichen Unbekannten x1 , x2 , x3 und x4 ? Das ist einfach: Wegen y1 = −(x1 + x2 )2 = −(x3 + x4 )2 , y2 = −(x1 + x3 )2 = −(x2 + x4 )2 , y3 = −(x1 + x4 )2 = −(x2 + x3 )2 und x1 + x2 + x3 + x4 = 0 haben wir √ x1 + x2 = −(x3 + x4 ) = ± −y1 , √ x1 + x3 = −(x2 + x4 ) = ± −y2 , √ x1 + x4 = −(x2 + x3 ) = ± −y3 , √ √ √ 3x1 + x2 + x3 + x4 = 2x1 = ± −y1 ± −y2 ± −y3 ,
x1 =
√ √ √ ± −y1 ± −y2 ± −y3 . 2
Die Formeln f¨ur x2 , x3 und x4 sind genau dieselben. Indem wir die Vorzeichen im √ √ √ Ausdruck ± −y1 , ± −y2 , ± −y3 variieren, erhalten wir acht Zahlen, n¨amlich ±x1 , ±x2 , ±x3 , ±x4 . Damit ist Gleichung (4.4) gel¨ost. Der Anschaulichkeit halber sollten wir die gesamte Prozedur von Anfang bis Ende wiederholen.
4.14 Zusammenfassung: Wie man Gleichung (4.4) l¨ost (1) Nehmen wir an, gegeben sei Gleichung x4 + px2 + qx + r = 0. (2) Wir l¨osen die kubische Resolvente y3 − 2py + (p2 − 4r)y + q2 = 0; die L¨osungen seien y1 , y2 und y3 . (3) Wir betrachten die acht Zahlen √ √ √ ± −y1 ± −y2 ± −y3 . 2 Vier dieser Zahlen sind L¨osung der gegebenen Gleichung; die u¨ brigen sind Mi” nusl¨osungen.“ Durch Einsetzen w¨ahlen wir die L¨osungen aus.
4 Gleichungen dritten und vierten Grades c Smith. Inst. Libraries, Washington, DC
90
Girolamo Cardano 1501–1576
Niccol`o Tartaglia 1500–1557
¨ 4.15 Ubungen ¨ Ubung 4.1. Die Gleichung x3 + 9x + 26 = 0 kann mithilfe von Formel (4.2) auf Seite 78 explizit gel¨ost werden, wobei alle quadratischen und kubischen Wurzeln ganze Zahlen sind: √ 3 x = −13 + 27 + 169 √ √ √ √ 3 = 3 −13 + 14 + 3 −13 − 14 = 1 + 3 −27 = 1 − 3 = −2. Bestimmen Sie unendlich viele kubische Gleichungen mit von null verschiedenen, ganzzahligen Koeffizienten p und q, die dieselbe Eigenschaft besitzen. ¨ Ubung 4.2. Beweisen Sie, dass die Formel x = r−
p 3r
genau drei komplexe L¨osungen einer kubischen Gleichung x3 + px +q = 0 mit komp3 q 2 plexen Koeffizienten p, q mit p = 0, + = 0 liefert. Dabei ist r ein beliebiger 27 4 q Wert der kubischen Wurzel 3 − + s, wobei wiederum s ein beliebiger Wert der 2 p3 q 2 Wurzel + ist. 27 4
¨ 4.15 Ubungen
91
¨ Ubung 4.3. Beweisen Sie: Hat eine kubische Gleichung x3 + px + q = 0 (mit reellen Koeffizienten) eine doppelte (nicht dreifache!) Nullstelle, so liefert Formel (4.2) auf √ Seite 78 die andere (nicht doppelte) Nullstelle. Und diese ist 3 −4q. eα − e−α ¨ Ubung 4.4. F¨ur den hyperbolischen Sinus, sinh α = , existiert die Formel 2 sinh 3α = 3 sinh α + 4 sinh3 α . Verwenden Sie diese Formel wie in Abschnitt 4.8 auf Seite 83, und bestimmen Sie eine hyperbolisch-trigonometrische Formel f¨ur die L¨osungen einer kubischen Gleichung x3 + px + q = 0 mit reellen Koeffizienten. F¨ur welche p und q gilt sie? Wie viele L¨osungen liefert sie? ¨ Ubung 4.5. L¨osen Sie mithilfe der Prozedur aus Abschnitt 4.14 auf Seite 89 die folgenden Gleichungen vierter Ordnung: (a) x4 + 4x + 3 = 0; (b) x4 + 2x2 + 4x + 2 = 0; (c) x4 + 480x + 1924 = 0. Anmerkungen. Es ist einfach, Gleichung (a) mithilfe der u¨ blichen Schulmethode zu l¨osen: Nullstelle raten, einsetzen und dividieren; wir haben die Gleichung hier angegeben, weil sie auch eine gute Illustration unserer Methode liefert. Trotzdem kann man die oben beschriebene Schulmethode auf die kubischen Resolventen anwenden, die sich aus den Gleichungen (b) und (c) ergeben. Im letzten Fall ist es nicht einfach, eine Nullstelle zu erraten; einem verzweifelten Leser, der sie nicht erraten kann, geben wir einen Hinweis: Versuchen Sie −100. ¨ Ubung 4.6. Bestimmen Sie die L¨osungen der Gleichung x4 + px2 + qx + r = 0 , indem Sie den Ausf¨uhrungen aus den Abschnitten 4.12 auf Seite 87 und 4.13 auf Seite 88 mit y1 = x1 x2 + x3 x4 , y2 = x1 x3 + x2 x4 , y3 = x1 x4 + x2 x3 folgen. ¨ Ubung 4.7. Seien m, n und k ganze Zahlen, sodass mnk eine Quadratzahl ist. Be4 2 stimmen Sie eine √ x + px + qx + r = 0 mit rationalen Koeffizienten p, q √ √ Gleichung und r, f¨ur die m + n + k eine Nullstelle ist. Hinweis: Bestimmen Sie eine Gleichung vierter Ordnung, f¨ur die die kubische Resolvente (x + m)(x + n)(x + k) = 0 ist.
Vorlesung 5
¨ Gleichungen funften Grades
¨ 5.1 Einfuhrung In Vorlesung 4 haben wir Wurzelausdr¨ucke“ angegeben, mit denen Gleichungen ” dritten und vierten Grades gel¨ost werden k¨onnen. Diese Formeln dr¨ucken die Nullstellen von Polynomen dritten und vierten Grades (einschließlich m¨oglicherweise irreleventer Nullstellen) als Funktion der Koeffizienten dieser Polynome aus. Genauer gesagt, ergeben sich die Nullstellen aus den Koeffizienten durch die Rechenoperationen: Addition, Subtraktion, Multiplikation und Wurzelziehen mit beliebigen ganzzahligen Wurzelexponenten. Wir wollen in dieser Vorlesung beweisen, dass f¨ur Polynome f¨unften und h¨oheren Grades keine derartige Formel existieren kann. Das erste Resultat dieser Art erzielte im Jahr 1828 Niels Henrik Abel. Er bestimmte ein einzelnes Polynom f¨unften Grades mit ganzzahligen Koeffizienten, bei dem man keine Nullstelle durch die oben aufgef¨uhrten Operationen mit rationalen Zahlen erhalten kann. Eine allgemeine Theorie, die solche Ph¨anomene erkl¨art, wurde etwa zu derselben Zeit von Evariste Galois aufgestellt. (Leider erreichte die Arbeit von Galois, der 1832 bereits in jungen Jahren starb, erst f¨unfzig Jahre nach seinem Tod allgemeine Bekanntheit.) Der Satz, den wir hier beweisen werden, befasst sich nicht mit irgendeiner einzelnen Gleichung: Er untersucht die Abh¨angigkeit der Nullstellen eines Polynoms von den Koeffizienten; insbesondere werden wir uns nicht darum k¨ummern, ob die Koeffizienten rational oder irrational sind. Es handelt sich um einen geometrischen Beweis, obwohl er sich (implizit) auf die Ideen der Galois-Theorie st¨utzt. D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 5,
93
94
5 Gleichungen f¨unften Grades
5.2 Was ist ein Wurzelausdruck? Beginnen wir mit einer quadratischen Gleichung x2 + px + q = 0.
(5.1)
Die L¨osungen werden durch folgende Formel ausgedr¨uckt: −p ± p2 − 4q x= . 2 Wir k¨onnen die Prozedur der Nullstellenbestimmung beschreiben, ohne das schwie√ “ zu verwenden. Stattdessen schreiben wir die Formelfolge rige Symbol ” x12 = p2 − 4q, 1 1 x2 = − p + x1 . 2 2 Von p und q ausgehend, bestimmen wir erst x1 und dann x2 , und x2 wird eine L¨osung sein. Da x1 nicht eindeutig bestimmt ist, ist auch x2 nicht eindeutig: Wir bestimmen so alle L¨osungen der Gleichung (5.1). Wir kommen nun zu einer kubischen Gleichung, n¨amlich x3 + px + q = 0 .
(5.2)
Wieder schreiben wir sie als eine Folge von Formeln um: x12 =
p3 q2 + , 27 4
x23 = −
q + x1 , 2
x33 = −
q − x1 , 2
x4 = x2 + x3 . Wir erhalten zwei Werte f¨ur x1 , dann jeweils drei Werte f¨ur x2 und x3 . Scheinbar haben wir dann 36 Werte f¨ur x4 , in Wirklichkeit sind aber nur neun von ihnen voneinander verschieden. Die L¨osungen von Gleichung (5.2) sind drei davon (die anderen 3 3 sechs sind die √ Nullstellen der Polynome x + ε3 px + q = 0, x + ε 3 px + q = 0, wobei 1 3 i eine dritte Einheitswurzel“ ist). ε3 = − + ” 2 2 In a¨ hnlicher Weise k¨onnen wir die L¨osungen von Gleichungen vierten Grades ¨ darstellen (siehe Ubung 5.1 auf Seite 109). Nun k¨onnen wir eine genaue Definition f¨ur einen Wurzelausdruck“ aufschreiben. Wir sagen, dass die Gleichung ” xn + a1 xn−1 + · · · + an−1 x + an = 0
(5.3)
5.4 Vielfachheit von Nullstellen
95
(mit variablen komplexen Koeffizienten a1 , . . . , an ) durch Wurzelausdr¨ucke (Radikale) l¨osbar ist, wenn Polynome p1 , . . . , pN (in n, n + 1, . . . , n + N − 1 Variablen) und positive ganze Zahlen k1 , . . . , kN existieren, sodass es zu jeder (komplexen) Nullstelle x = xN des Polynoms (5.3) zu gegebenem a1 , . . . , an (komplexe) Zahlen x1 , . . . , xN gibt, die das System xk11 = p1 (a1 , . . . , an ), xk22 = p2 (a1 , . . . , an , x1 ), ..................... xkNN = pN (a1 , . . . , an , x1 , . . . , xN−1 ) erf¨ullen. Diese Definition werden wir auch dann anwenden, wenn Gleichung (5.3) (wie Gleichung (5.2)) weniger als n variable Koeffizienten enth¨alt.
5.3 Hauptresultat Satz 5.1. Die Gleichung x5 − x + a = 0
(5.4)
ist nicht durch Wurzelausdr¨ucke l¨osbar. Ziel dieser Vorlesung ist es, dieses Resultat zu beweisen. Dieses Theorem impliziert, dass die allgemeine Gleichung (5.3) mit n ≥ 5 ebenfalls nicht durch Wurzelausdr¨ucke l¨osbar ist. (Es gilt sogar: Ist Gleichung (5.3) mit n ≥ 5 durch Wurzelausdr¨ucke l¨osbar, so gilt das auch f¨ur die Gleichung xn − xn−4 + axn−5 = xn−5 (x5 − x + a) = 0; dann ist auch die Gleichung x5 − x + a = 0 durch Wurzelausdr¨ucke l¨osbar). Bevor wir mit dem Beweis von Satz 5.1 beginnen, werden wir eine allgemeine Anmerkung machen. Der Beweis mag vielen Lesern ungew¨ohnlich erscheinen. Anstatt uns direkt mit Wurzelausdr¨ucken zu besch¨aftigen, werden wir ausf¨uhrlich Objekte analysieren, die scheinbar nichts mit unserem Vorhaben zu tun haben. Wenn einige Leser anfangen, sich durch diese m¨achtige Vorarbeit“ irritiert zu f¨uhlen, wer” den wir feststellen, dass der Beweis fertig ist.
5.4 Vielfachheit von Nullstellen 44 Proposition 5.1. Hat Gleichung (5.4) mehrfache Nullstellen, so ist a4 = 5 ; mit 5 anderen Worten: 4 a=± √ 545
oder
4i ± √ . 545
96
5 Gleichungen f¨unften Grades
Nullstellen
gef¨ahrliche Werte
¨ ¨ Abb. 5.1 Eine Anderung von a f¨uhrt zu einer Anderung der Nullstellen.
Lemma 5.1. Ist b eine mehrfache Nullstelle der Gleichung (5.4), so gilt 5b4 = 1. Beweis des Lemmas. Ist b eine mehrfache Nullstelle des Polynoms x5 − x + a, so gilt x5 − x + a = (x − b)2 p(x), wobei p ein Polynom dritten Grades ist. Wir w¨ahlen x = b + ε , wobei ε eine sehr kleine Zahl ist. Dann gilt (b + ε )5 − (b + ε ) + a = ε 2 p(b + ε ), b5 + 5ε b4 + ε 2 (10b3 + 10b2 ε + 5bε 2 + ε 3 ) − b − ε + a = ε 2 p(b + ε ). Wir streichen b5 − b + a = 0 und dividieren durch ε : 5b4 − 1 = ε (p(b + ε ) − 10b3 − 10b2 ε − 5bε 2 − ε 3 ). Das gilt f¨ur jedes ε , die rechte Seite wird aber beliebig klein (betragsm¨aßig), wenn ε klein ist. Folglich ist 5b4 − 1 beliebig klein“; das heißt, 5b4 − 1 = 0. 2 ” Beweis von Proposition 5.1. Ist 5b4 = 1, so gilt a4 = (b − b5 )4 = b4 (1 − b4 )4 = 1 4 4 44 = 5. 2 · 5 5 5
¨ 5.5 Anderung von a Im Fall a = 0 lautet die Gleichung x5 −x = 0, und die L¨osungen sind 0, ±1, ±i. Wenn wir a ver¨andern, so a¨ ndern sich auch die f¨unf Nullstellen, sie werden aber nicht 4i 4 ,± √ annimmt zusammenfallen, solange s nicht die gef¨ahrlichen Werte ± √ 4 5 5 545 (siehe Abbildung 5.1).
5.6 Permutationen
97
Nullstellen
¨ Abb. 5.2 Eine Anderung von a entlang einer Schleife f¨uhrt zu einer Permutation der Nullstellen.
Was passiert, wenn a eine geschlossen Kurve ( Schleife“) durchl¨auft, die bei ” 0 beginnt und endet (und die gef¨ahrlichen Werte umgeht)? Die f¨unf Nullstellen 0, ±1, ±i der Gleichung x5 − x = 0 kehren zu 0, ±1, ±i zur¨uck; kehrt dabei aber jede einzelne Nullstelle zu ihrem Ausgangspunkt zur¨uck? Nein! Die Nullstellen werden ihre Positionen in der Regel vertauschen (siehe Abbildung 5.2); außerdem k¨onnen sie das in beliebiger Weise tun. Das werden wir sp¨ater beweisen. Doch bevor wir gleich eine entscheidende Aussage machen, m¨ussen wir noch weiter u¨ ber Permutationen sprechen.
5.6 Permutationen Wir werden uns nur f¨ur Permutationen einer Menge von f¨unf Elementen interessieren, die wir mit 1, 2, 3, 4, 5 bezeichnen (also wird sich das Wort Permutation“ ” immer auf eine Permutation dieser Menge beziehen). Die Notation f¨ur eine Permutation ist (i1 i2 i3 i4 i5 ), wobei i1 , i2 , i3 , i4 , i5 voneinander verschiedene ganze Zahlen zwischen 1 und 5 sind. Die oben angegebene Permutation bedeutet, dass die Permutation als 1 → i1 , 2 → i2 , 3 → i3 , 4 → i4 , 5 → i5 wirkt. Wir werden die Permutation in der Regel durch solche Diagramme wie das in Abbildung 5.3 auf der n¨achsten Seite dargestellte beschreiben, in dem die Pfeile die Bilder von 1, 2, 3, 4, 5 kennzeichnen; die Permutation aus Abbildung 5.3 auf der n¨achsten Seite ist zum Beispiel (41352). (Die Pfeile in einem Diagramm wie in Abbildung 5.3 auf der n¨achsten Seite sollen u¨ blicherweise gerade sein, mitunter werden wir sie aber leicht deformieren, um Dreifach¨uberschneidungen zu vermeiden; deshalb ist der Pfeil 3 → 3 aus Abbildung 5.3 auf der n¨achsten Seite nicht gerade.)
98
5 Gleichungen f¨unften Grades
Abb. 5.3 Eine Permutation.
Die Gesamtzahl der Permutationen ist 120. Wenn wir zwei Permutationen, zuerst α und dann β , erfolgreich ausf¨uhren, erhalten wir eine neue Permutation, die als Produkt αβ der Permutationen α und β bezeichnet wird. Ein Beispiel ist (21435)(13254) = (31524), (13254)(21435) = (24153) (was zeigt, dass das Produkt von der Reihenfolge der Faktoren abh¨angen kann). Zu jeder Permutation α gibt es eine inverse Permutation α −1 , die sich aus der Permutation α ergibt, indem man die Pfeile umkehrt. Die Produkte αα −1 und α −1 α sind beide gleich der identischen Permutation ε = (12345). Bedenken Sie, dass sowohl Produkte als auch Inversionen mithilfe von Diagrammen wie in Abbildung 5.3 veranschaulicht werden k¨onnen: Um ein Produkt zu bestimmen, m¨ussen wir den zweiten Faktor unter dem ersten Faktor darstellen; um eine inverse Permutation zu bestimmen, m¨ussen wir das Diagramm der Permutation an der Horizontalen spiegeln. Das illustriert Abbildung 5.4 anhand der Gleichungen (41352)(21354) = (52341) und (41532)−1 = (25413). Zu einer Permutation (i1 i2 i3 i4 i5 ) kann man die Anzahl der Fehlst¨ande“ bestim” men, das ist die Anzahl der Zahlenpaare s,t mit 1 ≤ s < t ≤ 5, is > it . Folglich variiert die Anzahl der Fehlst¨ande von null (die identische Permutation (12345) hat keine Fehlst¨ande) bis zehn (die umgekehrte Permutation (54321) hat zehn Fehlst¨ande). Die Permutation (41352) hat f¨unf Fehlst¨ande (4 > 1, 4 > 3, 4 > 2, 3 > 2, 5 > 2). Fehlst¨ande kann man am besten anhand eines Diagramm wie in Abbildung 5.3
Abb. 5.4 Operationen auf Permutationen.
5.6 Permutationen
99
Abb. 5.5 Beweis von Proposition 5.2.
¨ abz¨ahlen: Fehlst¨ande entsprechen in diesem Diagramm Uberschneidungen (aus diesem Grund wollten wir vorhin eine Dreifach¨uberschneidung vermeiden). Es ist nicht nur die Anzahl der Fehlst¨ande, sondern vielmehr ihre Parit¨at, die in der Theorie der Permutationen eine gr¨oßere Bedeutung hat. Eine Permutation wird als gerade bezeichnet, wenn die Anzahl der Fehlst¨ande gerade ist, sie wird als ungerade bezeichnet, wenn die Anzahl der Fehlst¨ande ungerade ist. Beispielsweise sind (12345) und (54321) gerade Permutationen, w¨ahrend die Permutation (41352) ungerade ist. Proposition 5.2. Das Produkt zweier Permutationen mit derselben Parit¨at ist gerade. Das Produkt zweier Permutationen mit entgegengesetzter Parit¨at ist ungerade. Beweis. Wir verwenden die Beschreibung des Produktes zweier Permutationen wie in Abbildung 5.4 auf der vorherigen Seite dargestellt. F¨ur jedes s = 1, 2, 3, 4, 5 gibt es einen zweikantigen Polygonzug, der in der oberen Zeile bei s startet und nach unten verl¨auft (siehe Abbildung 5.5). F¨ur zwei Polygonz¨uge, die bei s und t starten, gibt es drei M¨oglichkeiten: (1) Sie schneiden sich weder in der oberen noch in der unteren H¨alfte. (2) Sie schneiden sich entweder in der oberen oder in der unteren H¨alfte. (3) Sie schneiden sich sowohl in der oberen als auch in der unteren H¨alfte. ¨ Die Gesamtzahl der Uberschneidungen der beiden Polygonz¨uge in den beiden ¨ H¨alften des Diagramms ist entweder 0, 1 oder 2. Die Anzahl der Uberschneidungen derselben Z¨uge im Produktdiagramm (in dem die Z¨uge gestreckt sind), ist entweder 0, 1 oder 0. Wir stellen fest, dass die Parit¨aten vor und nach dem Strecken der Polygonz¨uge gleich sind. 2 Korollar 5.1. F¨ur jede Permutation α haben die Permutationen α und α −1 dieselbe Parit¨at. Beweis. Diese Tatsache folgt (offenbar direkt) aus der Gleichung αα −1 = ε . 2 Korollar 5.2. Es gibt genau sechzig gerade und sechzig ungerade Permutationen.
100
5 Gleichungen f¨unften Grades
Abb. 5.6 Eine Zerlegung einer Permutation in ein Produkt von Permutationen β .
Beweis. Seien α1 , . . . , αN alle geraden Permutationen, und sei γ eine ungerade Permutation (etwa (12354)). Dann sind alle Permutationen β1 = γα1 , . . . , βn = γαN ungerade und voneinander verschieden: Ist γα = γα , so gilt γ −1 γα = γ −1 γα ; also α = α . Außerdem ist jede ungerade Permutation unter den Permutationen βi : Ist β ungerade, so ist γ −1 β ungerade, und es gilt β = γγ −1 β . Folglich ist die Anzahl der geraden Permutationen gleich der Anzahl der ungeraden Permutationen, und da jede Permutation entweder gerade oder ungerade ist, ist die Gesamtzahl der Permutationen 120. Die Anzahl der geraden Permutationen ist wie die Anzahl der ungeraden Permutationen gleich sechzig. 2 Nun werden wir die beiden S¨atze u¨ ber Permutationen beweisen, die wir in den nachfolgenden Abschnitten dieser Vorlesung brauchen werden. Zuerst werden wir beweisen, dass jede Permutation als ein Produkt ausgedr¨uckt werden kann, in dem nur ein paar sehr spezielle Permutationen vorkommen. Die speziellen Permutationen sind
α1 = (52341), α2 = (15342), α3 = (12543), α4 = (12354) (kurz gesagt: αi vertauscht i mit 5 und l¨asst den Rest der Zahlen unver¨andert). Satz 5.2. Jede Permutation l¨asst sich als Produkt der Permutationen αi darstellen. Beweis. Betrachten wir ein Diagramm (wie Abbildung 5.3 auf Seite 98) der ge¨ gebenen Permutation. Wir nehmen an, dass keine Uberschneidungen auf gleicher H¨ohe liegen. Wir unterteilen das Diagramm so durch horizontale Linien, dass es ¨ in jedem Teilst¨uck genau eine Uberschneidung gibt (siehe Abbildung 5.6). Dann zerf¨allt die Permutation in ein Produkt von elementaren Vertauschungen“ ”
β1 = (21345), β2 = (13245), β3 = (12435), β4 = (12354) (βi vertauscht i mit i + 1 und bel¨asst die u¨ brigen Zahlen). Es bleibt anzumerken, dass
β1 = α2 α1 α2 , β2 = α3 α2 α3 , β3 = α4 α3 α4 , β4 = α4 ist (pr¨ufen Sie das!). 2
5.6 Permutationen
101
Abb. 5.7 Beweis von Satz 5.3.
Der Kommutator [α , β ] zweier Permutationen α und β ist als αβ α −1 β −1 definiert. Offenkundig ist der Kommutator zweier beliebiger Permutationen eine gerade Permutation. Satz 5.3. Jede gerade Permutation ist ein Produkt von Kommutatoren gerader Permutationen. Beweis. Wir zerlegen das Diagramm der gegebenen Permutation durch horizon¨ tale Linien in St¨ucke, die jeweils zwei Uberschneidungen enthalten (siehe Abbildung 5.7). Dann wird unsere Permutation zum Produkt der Permutationen mit zwei ¨ Uberschneidungen. Offensichtlich gibt es neun derartige Permutationen γ1 , . . . , γ9 (siehe Abbildung 5.8). Jede dieser Permutationen ist ein Kommutator zweier gerader Permutationen:
γ1 = [(42135), γ5 ], γ4 = [γ3 , γ2 ], γ7 = [γ2 , γ3 ], γ2 = [(42351), (14352)], γ5 = [(52431), (53241)], γ8 = [(53241), (52431)], γ3 = [γ9 , (14352)], γ6 = [γ2 , γ1 ], γ9 = [γ1 , γ2 ] (pr¨ufen Sie das!). Anmerkung 5.1. Satz 5.2 auf der vorherigen Seite und sein Beweis gelten f¨ur Permutationen der Menge von n Elementen f¨ur jedes n ≥ 2 (in diesem Fall m¨ussen wir
Abb. 5.8 Permutationen γ .
102
5 Gleichungen f¨unften Grades
nat¨urlich n − 1 Permutationen αi betrachten). Jedoch gilt die Aussage von Satz 5.3 auf der vorherigen Seite f¨ur Permutationen der Menge von n Elemente nicht, wenn n < 5 ist. Genau das ist der Grund daf¨ur, dass Gleichungen, deren Grad kleiner als 5 ist, durch Wurzelausdr¨ucke l¨osbar sind.
¨ 5.7 Anderung von a und Permutationen der Nullstellen Wir betrachten eine geschlossene Kurve (eine Schleife“) in der Ebene von a, die ” bei 0 beginnt und bis in die N¨ahe des gef¨ahrlichen Punktes“ entlang der reellen ” Achse verl¨auft. Dann umrundet sie diesen Punkt entgegen dem Uhrzeigersinn auf einem Kreis mit einem sehr kleinen Radius und kehrt entlang der reellen Achse zum Ausgangspunkt zur¨uck. Es stellt sich heraus, dass die Nullstellen unseres Polynoms x5 − x + a auf die¨ se Anderung von a folgendermaßen reagieren (siehe Abbildung 5.9). Die Nullstellen −1 und ±i durchlaufen relativ kleine Schleifen und kehren zu ihren Ausgangspunkten zur¨uck. Im Gegensatz dazu n¨ahern sich die Nullstellen 0 und 1 dem Punkt 1 (und folglich auch einander, dann f¨uhren sie jeweils eine halbe Drehung im b0 = √ 4 5 Uhrzeigersinn um b0 aus und bewegen sich anschließend entlang der reellen Achse zu 1 beziehungsweise −1. Insbesondere vertauschen sie dabei ihre Positionen: 0 geht in 1 u¨ ber und 1 geht in 0 u¨ ber). Wir wollen erkl¨aren, woran das liegt. Der Graph der Funktion y = x5 − x ist im linken Teil der Abbildung 5.10 auf der n¨achsten Seite dargestellt (sie l¨asst sich leicht als die Differenz der beiden wohl-bekannten Graphen y = x5 und y = x zeichnen). Addieren wir zur Funktion ein a > 0, so bewegt sich der Graph noch oben, die Nullstelle −1 bewegt sich etwas nach links, die Nullstellen 0 und 1 bewegen sich aufeinander zu und fallen fast zusammen (im Punkt b0 ), wenn a gegen a0 geht. Die Nullstellen ±i bleiben konjugiert komplex; sie u¨ berqueren die reelle Achse nie
Nullstellen
¨ Abb. 5.9 Eine spezielle Anderung von a.
¨ 5.7 Anderung von a und Permutationen der Nullstellen
103
Abb. 5.10 Zwei Graphen.
(w¨urden sie das n¨amlich tun, so w¨urden sie die reelle Achse gleichzeitig erreichen und dort zu einer doppelten Nullstelle werden). Wenn a den Punkt a0 umrundet, bleiben die drei Nullstellen, die von −1 und ±i ausgehen, nahezu unver¨andert; aber was passiert mit den beiden anderen Nullstellen? W¨ahlen wir zur Beantwortung dieser Frage eine (betragsm¨aßig) kleine komplexe Zahl ε und schauen wir, f¨ur welche Werte von a das Polynom x5 − x + a die Nullstelle b0 + ε hat. Das ist eine Angelegenheit einer einfachen Berechnung: a = (b0 + ε ) − (b0 + ε )5 = b0 − b50 + ε (1 − 5b40 ) − ε 2 (10b30 + 10ε b20 + 5ε 2 b0 + ε 3 ) = a0 − ε 2 (10b30 + 10ε b20 + 5ε 2 b0 + ε 3 ) ≈ a0 − 10b30 ε 2 (dabei haben wir die Tatsache verwendet, dass b0 − b50 = a0 und 1 − 5b0 = 0 ist; das Symbol ≈ steht f¨ur eine N¨aherung mit einem Fehler, der betragsm¨aßig viel kleiner als |ε |2 ist). W¨ahrend also x eine halbe Umdrehung um b0 im Uhrzeigersinn vollf¨uhrt, macht a eine volle Umdrehung um a0 entgegen dem Uhrzeigersinn, und umgekehrt; demzufolge tauschen die beiden Nullstellen x nahe bei b0 ihre Positionen. Das best¨atigt Abbildung 5.9 auf der vorherigen Seite. Wir wollen nun eine weitere einfache Beobachtung anstellen. Die Nullstellen des Polynoms x5 − x + ia erh¨alt man aus den Nullstellen des Polynoms x5 − x + a durch Multiplikation mit i. Das bedeutet: Drehen wir die linke Seite von Abbildung 5.9 auf der vorherigen Seite um 90◦ entgegen dem Uhrzeigersinn, so dreht sich die rechte Seite von Abbildung 5.9 auf der vorherigen Seite ebenfalls um 90◦ entgegen dem Uhrzeigersinn. Wir erkennen, dass die Schleifen, die der Schleife auf der linken Seite von Abbildung 5.9 auf der vorherigen Seite a¨ hneln, aber ia0 , −a0 , und −ia0 (anstatt a0 ) umrunden, die Nullstelle 0 mit i, −1 beziehungsweise −i vertauschen und die u¨ brigen drei Nullstellen an ihren Positionen belassen (siehe Abbildung 5.11 auf der n¨achsten Seite). Wir wollen noch eine weitere Anmerkung machen. Eine Verkn¨upfung zweier Schleifen (das heißt, eine Schleife, die zuerst die erste Schleife durchl¨auft und an-
104
Nullstellen
5 Gleichungen f¨unften Grades
Nullstellen
Nullstellen
Nullstellen
Abb. 5.11 Vertauschen der Nullstellen.
schließend die zweite) f¨uhrt auf eine Permutation der Nullstellen, die das Produkt der zu den beiden Schleifen geh¨orenden Permutationen ist. Aus alledem k¨onnen wir das Hauptresultat dieses Abschnitts schließen (wie in Abschnitt 5.5 versprochen). Satz 5.4. Zu jeder Permutation der f¨unf Nullstellen 0, ±1, ±i existiert eine Schleife, 4 4i die bei 0 beginnt, bei 0 endet und die Punkte ± √ ,± √ umgeht, die zu dieser 4 5 5 545 Permutation f¨uhren. Beweis. Wir nummerieren die Nullstellen in der Reihenfolge 1, i, −1, −i, 0. Die obige Konstruktion ergibt Schleifen, die die Permutationen α1 , α2 , α3 , α4 induzieren (in der Notation aus Abschnitt 5.6 auf Seite 97). Folglich k¨onnen wir eine Schleife bestimmen, die jedes beliebige Produkt dieser Permutationen induziert, das heißt, nach Satz 5.2 auf Seite 100 eine beliebige Permutation. 2
¨ 5.8 Anderung von a und Permutationen der Zwischenwurzeln Wir nehmen an, dass Gleichung (5.4) auf Seite 95 durch Wurzelausdr¨ucke gel¨ost werden kann: xk11 = p1 (a), xk22 = p2 (a, x1 ), ........................... xkNN = pn (a1 , x1 , . . . , xN−1 ) ,
¨ 5.8 Anderung von a und Permutationen der Zwischenwurzeln
105
Werte von
Werte von
Werte von Abb. 5.12 Das Geb¨aude von Werten f¨ur xi .
und alle L¨osungen von Gleichung (5.4) sind unter den m¨oglichen Werten von xN . Theoretisch betrachtet, k¨onnen wir im Ganzen k1 k2 . . . kN Werte f¨ur xN haben, aber einige von ihnen k¨onnen f¨ur alle Werte von a zusammenfallen (dieses Ph¨anomen haben wir im Fall einer kubischen Gleichung bereits beobachtet). Folglich haben wir ein ganzes Geb¨aude“ von Werten f¨ur a, x1 , . . . , xN , wie in Abbildung 5.12 dar” gestellt. (Abbildung 5.12 zeigt ein schematisches Bild, das in der Realit¨at nicht vorkommen kann: Fallen zwei Werte von x2 zusammen, wie in diesem Bild dargestellt, so gibt es mindestens zwei weitere Paare mit zusammenfallenden Werten.) Wenn wir a a¨ ndern, so beginnt sich das gesamte Geb¨aude zu ver¨andern. Wesentlich ist, dass die Werte von xN , die L¨osungen von Gleichung (5.4) sind, L¨osungen von Glei¨ chung (5.4) bleiben, und ihre Anderung ist genauso, wie wir sie in Abschnitt 5.7 auf Seite 102 untersucht haben. Wir wollen noch eine weitere Anmerkung machen. Wie wir bereits schon beobachtet haben, k¨onnen einige Werte von xM (f¨ur beliebiges M) f¨ur alle Werte von a zusammenfallen. Es kann aber auch zuf¨allige Zusammenf¨alle geben, die f¨ur spezielle Werte von a auftreten. Zum Beispiel hat die Gleichung xk11 = p1 (a) k1 L¨osungen (f¨ur x1 ), wenn p1 (a) = 0 ist; ist p1 (a) = 0, so gibt es nur eine L¨osung (x1 = 0). Also sind die Nullstellen des Polynoms p1 (es gibt aber nur endlich viele davon) Stellen von zuf¨alligen Zusammenf¨allen“. Wir m¨ussen diese Nullstellen ” als gef¨ahrlich“ erkl¨aren (neben den vier gef¨ahrlichen Punkten aus Abschnitt 5.5 ” auf Seite 96). Ein Zusammenfallen kommt in der zweiten Zeile vor, wenn f¨ur zwei verschiedene L¨osungen x1 , x1 der Gleichung xk11 = p1 (a) p2 (a, x1 ) = p2 (a, x1 ) gilt. Das System
106
5 Gleichungen f¨unften Grades
⎧ k ⎨ x11 = p1 (a), (x )k1 = p1 (a), ⎩ 1 p2 (a, x1 ) = p2 (a, x1 ) hat entweder endlich viele L¨osungen (a, x1 , x1 ) (in welchem Fall wir die zugeh¨origen Werte von a als gef¨ahrlich erkl¨aren) oder es hat L¨osungen f¨ur alle a und auch einige isolierte L¨osungen (a, x1 , x1 ) (und wir erkl¨aren die Werte von a f¨ur gef¨ahrlich, die zu diesen L¨osungen geh¨oren). Wenn wir weiter so vorgehen, erkl¨aren wir eine endliche Menge von Werten von a f¨ur gef¨ahrlich. In Zukunft werden wir nur Schleifen ¨ betrachten, die alle gef¨ahrlichen Werte, alte und neue, umgehen. (Ubrigens kann es vorkommen, dass 0 ein gef¨ahrlicher Wert wird. Dann werden wir Schleifen betrachten, die nicht bei 0 anfangen und enden, sondern bei einem nahegelegenen nicht gef¨ahrlichen Punkt.)
5.9 Kommutatoren von Schleifen Seien 1 , 2 zwei Schleifen in der Ebene a. Wir betrachten die Schleife [1 , 2 ] = −1 1 2 −1 1 2 , die zuerst die Schleife 1 , dann 2 , dann 1 in umgekehrter Richtung und schließlich 2 in umgekehrter Richtung durchl¨auft (siehe Abbildung 5.13). Diese Schleife wird als Kommutator der Schleifen 1 und 2 bezeichnet.
Abb. 5.13 Der Kommutator von Schleifen.
Lemma 5.2. Ist eine Schleife in der Ebene von a ein Produkt von Kommutatoren von Schleifen (die die gef¨ahrlichen Punkte umgehen), so kehrt jeder Wert von x1 ¨ nach Anderung von a entlang zu seinem Ausgangspunkt zur¨uck. Beweis. F¨ur jeden (nicht gef¨ahrlichen) Wert von a, kann man die k1 Werte von x1 wie folgt aus einem Wert erhalten x1 , x1 εk1 , x1 εk21 , . . . , x1 εkk11 −1 , 2π 2π + i sin die k1 -te Einheitswurzel“ ist. Die Verh¨altnisse dieser ” k1 k1 ¨ Werte von x1 bleiben w¨ahrend des Anderungsprozesses von a konstant. −1 −1 ¨ Sei = 1 2 1 2 . Die Anderung von a entlang 1 soll x1 in x1 εkm11 u¨ berf¨uhren 1 ¨ (und folglich x1 εkr1 in x1 εkr+m ), und die Anderung von a entlang 2 soll x1 in x1 εkm12 1 wobei εk1 = cos
5.9 Kommutatoren von Schleifen
107
2 ¨ u¨ berf¨uhren (und folglich x1 εkr1 in x1 εkr+m ). Die aufeinanderfolgenden Anderungen 1 −1 −1 von a entlang 1 , 2 , 1 und 2 transformieren dann x1 nach der Regel
x1 → x1 εkm11 → x1 εkm11 +m2 → x1 εkm11 +m2 −m1 → x1 εkm11 +m2 −m1 −m1 = x1 . ¨ Daher u¨ berf¨uhrt die Anderung von a entlang eines Kommutators von Schleifen jeden Wert von x1 in sich selbst, und dasselbe gilt f¨ur Produkte von Kommutatoren. 2 Lemma 5.3. Ist eine Schleife in der Ebene von a ein Produkt von Kommutatoren von Produkten von Kommutatoren von Schleifen (die die gef¨ahrlichen Punkte umgehen), so kehrt jeder Wert von x1 und x2 ¨ nach Anderung von a entlang zu seinem Ausgangspunkt zur¨uck. Beweis. Sei ein Kommutator von Schleifen 1 , 2 , die wiederum Produkte von Kommutatoren sind. So u¨ berf¨uhrt, nach Lemma 5.2 auf der vorherigen Seite die ¨ Anderung von a entlang jeder der Schleifen 1 , 2 jeden Wert von x1 in sich selbst. Wegen x2k2 = p2 (a, x1 ) muss x2 f¨ur irgendein m in x2 εkm2 u¨ berf¨uhrt werden. In diesem Fall wird x2 εkr2 u¨ berf¨uhrt (die Verh¨altnisse zwischen den Werten x2 , die zu denselben in x2 εkr+m 2 ¨ konstant). – ver¨anderlichen – Werten von x1 geh¨oren, bleiben bei der Anderung ¨ Daher transformieren die aufeinanderfolgenden Anderungen entlang der Schleifen −1 1 , 2 , −1 1 , 2 den Wert x2 wie folgt: x2 → x2 εkm21 → x2 εkm21 +m2 → x2 εkm21 +m2 −m1 → x2 εkm21 +m2 −m1 −m1 = x2 . ¨ Folglich u¨ berf¨uhrt die Anderung von a entlang des Kommutators von Produkten von Kommutatoren von Schleifen, die die gef¨ahrlichen Punkte umgehen, jeden Wert x2 (sowie jeden Wert von x1 ) in sich selbst. 2 In der gleichen Weise k¨onnen wir eine Reihe von Lemmata beweisen, an deren Ende das folgende Lemma steht. Lemma 5.4. Ist eine Schleife ⎧ ein Produkt von Kommutatoren von ⎪ ⎪ ⎪ ⎨Produkten von Kommutatoren von N ⎪ ........................... ⎪ ⎪ ⎩ Produkten von Kommutatoren von ¨ Schleifen (die die gef¨ahrlichen Punkte umgehen), so u¨ berf¨uhrt die Anderung von a entlang alle Werte x1 , . . . , xN in ihre Ausgangswerte. Nun sind wir ganz auf den folgenden Beweis vorbereitet.
108
5 Gleichungen f¨unften Grades
5.10 Beweis des Hauptsatzes Wir nehmen an, dass Gleichung x5 − x + a = 0 durch Wurzelausdr¨ucke l¨osbar ist. Wir halten eine nicht identische gerade Permutation α0 von Nullstellen fest. Wir stellen α0 als ein Produkt von Kommutatoren gerader Permutationen dar
α0 = [α1 , α2 ][α3 , α4 ] . . . [α2s−1 , α2s ]. Anschließend stellen wir jede Permutation αi als ein Produkt von Kommutatoren gerader Permutationen dar
α1 = [α11 , α12 ] . . . [α1,2t−1 , α1,2t ] .............................. usw., das machen wir N Mal. Zu jeder Permutation αi1 ...iN , die im letzten, N-ten Schritt vorkommt, bestimmen wir eine Schleife i1 ...iN , die alle gef¨ahrlichen Werte von a umgeht, die diese Permutation induziert. Im Ausdruck f¨ur α0 u¨ ber die αi1 ...iN ersetzen wir jede Permutation αi1 ...iN durch die entsprechende Schleife i1 ...iN . Wir werden eine Schleife erhalten, die ein N-faches Produkt von Kommutatoren von Schleifen ist (wie in Lemma 5.4 auf der vorherigen Seite). Einerseits u¨ berf¨uhrt diese Schleife nach Lemma 5.4 jeden Wert von xN in seinen Ausgangswert, und folglich u¨ berf¨uhrt sie jede Nullstelle von Gleichung (5.4) in ihren Ausgangswert. Andererseits induziert diese Schleife die (nicht identischen) Permutationen α0 der Nullstellen. Mit diesem Widerspruch ist der Satz bewiesen. 2
Niels Henrik Abel 1802–1829
Evarist Galois 1811–1832
¨ 5.11 Ubungen
109
¨ 5.11 Ubungen ¨ Ubung 5.1. Schreiben Sie, wie am Ende des Abschnitts 5.3, eine Reihe von Formeln auf, die Gleichung x4 + qx + r = 0 l¨osen. Wie viele L¨osungen hat die Gleichung? Die irrelevanten L¨osungen sind die Nullstellen anderer Gleichungen. Welche sind das? Anmerkung 5.2. Wir empfehlen, die obige spezielle Gleichung vierten Grades zu betrachten, da die L¨osung der allgemeinen Gleichung x4 + px2 +qx+r = 0 im Grunde dieselbe ist, die Formeln aber viel l¨anger sind. ¨ Ubung 5.2. Beweisen Sie, dass es genau vier Permutationen (i1 , i2 , i3 , i4 ) der Menge {1, 2, 3, 4} gibt, die sich als Produkte von Kommutatoren gerader Permutationen darstellen lassen (tats¨achlich sind es einfach Kommutatoren gerader Permutationen). Beweisen Sie dies, und bestimmen Sie diese vier Permutationen. ¨ Ubung 5.3. Betrachten Sie die kubische Gleichung x3 + ax − 1 = 0 . √ −1 + 3i und ε 3 . F¨ur a = 0 hat sie drei Nullstellen: 1, ε3 = 2 (a) F¨ur welche Werte von a hat unsere Gleichung doppelte Nullstellen (was sind also die gef¨ahrlichen Werte“ von a)? ” (b) Einer dieser gef¨ahrlichen Werte von a ist reell (und negativ). Wenn a eine Schleife um diesen gef¨ahrlichen Wert macht, die bei 0 beginnt (wie im dritten Diagramm von links in der ersten Zeile von Abbildung 5.11 auf Seite 104 dargestellt), was ist dann die sich ergebende Permutation von Nullstellen? (c) Zeigen Sie, dass man jede Permutation der Nullstellen durch eine Schleife erhalten kann, die bei a = 0 beginnt, die gef¨ahrlichen Werte von a umgeht und zu 0 zur¨uckkehrt.
Vorlesung 6
Wie viele Nullstellen hat ein Polynom?
Nullstellen werden in diesem Buch mehr als ein Mal diskutiert. Die Antwort eines durchschnittlichen Mathematikstudenten (oder eines praktizierenden Mathematikers) auf die Frage aus dem Titel dieser Vorlesung lautet, dass die Anzahl der Nullstellen eines Polynoms vom Grad n die Zahl n nicht u¨ bersteigt. Einige w¨urden hinzuf¨ugen, dass die Anzahl genau n ist, wenn man komplexe Nullstellen und diese mit ihrer Vielfachheit z¨ahlt (wir werden diesen Fundamentalsatz der Algebra in Abschnitt 6.4 beweisen). In dieser Vorlesung geht es um Verschiedenes: Wir werden zwei ziemlich u¨ berraschende Tatsachen diskutieren. Die erste Tatsache ist, dass die Anzahl reeller Nullstellen eines Polynoms mit reellen Koeffizienten nicht von seinem Grad, sondern vielmehr von der Anzahl seiner von null verschiedenen Koeffizienten abh¨angt. Die zweite Tatsache ist, dass man, obwohl es keine expliziten Formeln f¨ur Nullstellen gibt (siehe Vorlesung 5), genau bestimmen kann, wie viele Nullstellen ein Polynom in einem gegebenen Intervall besitzt.
6.1 Oligonome Oligonom ist kein mathematischer Begriff.1 Das ist die Bezeichnung f¨ur ein Polynom2 h¨oheren Grades mit nur wenigen von null verschiedenen Koeffizienten. Typi1
Analogie zum englischen Begriff fewnomial, der von A. Khovanskii gepr¨agt wurde. Die Polynome in dieser Vorlesung sind, abgesehen vom letzten Abschnitt, h¨oheren Grades und haben reelle Koeffizienten, und wir besch¨aftigen uns nur mit ihren reellen Nullstellen. 2
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 6,
111
112
6 Wie viele Nullstellen hat ein Polynom?
Abb. 6.1 Satz von Rolle.
sche Oligonome sind x100 − 1 oder axn + bxm . Die Haupteigenschaft von Oligonomen ist, dass sie nur wenige Nullstellen besitzen. Satz 6.1. Ein Polynom mit k von null verschiedenen Koeffizienten hat nicht mehr als 2k − 1 reelle Nullstellen. Beweis. Induktion u¨ ber k. F¨ur k = 1 ist das Resultat offensichtlich: axn = 0 hat nur eine Nullstelle, n¨amlich x = 0. Sei f (x) ein Polynom mit k + 1 von null verschiedenen Koeffizienten. Dann gilt f¨ur ein r ≥ 0 die Gleichung f (x) = xr g(x), wobei g(x) immer noch k + 1 von null verschiedene Koeffizienten hat und einer davon der konstante Term ist. Die Ableitung l¨asst den konstanten Term verschwinden, und es ergibt sich daraus, dass das Polynom g (x) genau k von null verschiedene Koeffizienten hat. Nach der Induktionsannahme hat g (x) h¨ochstens 2k − 1 Nullstellen. Der Satz von Rolle impliziert, dass es zwischen zwei aufeinanderfolgenden Nullstellen eines Polynoms (tats¨achlich jeder differenzierbaren Funktion; siehe Abbildung 6.1) eine Nullstelle der Ableitung des Polynoms gibt. Daraus folgt, dass die Anzahl der Nullstellen von g(x) die Zahl 2k nicht u¨ bersteigt. In Bezug auf f (x) sind das die Nullstellen von g(x) und eventuell x = 0. Deshalb hat das Polynom f (x) h¨ochstens 2k + 1 Nullstellen, wie wir behauptet hatten. 2 Die Absch¨atzung aus Satz 6.1 ist scharf: x(x2 − 1)(x2 − 4) · · · (x2 − k2 ) hat 2k + 1 Nullstellen 0, ±1, ±2, · · · , ±k und k + 1 von null verschiedene Koeffizienten.
6.2 Die Vorzeichenregel von Descartes Satz 6.1 erweist sich als zu schwach, wenn man nur an positiven Nullstellen interessiert ist. Ein Polynom mit nichtnegativen Koeffizienten hat zum Beispiel gar keine positiven Nullstellen! Der n¨achste, feinere Satz wird als Vorzeichenregel von Descartes bezeichnet. Satz 6.2. Die Anzahl positiver Nullstellen eines Polynoms u¨ bersteigt die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge seiner von null verschiedenen Koeffizienten nicht.
6.3 Die Methode von Sturm
113
Abb. 6.2 Wie sich eine neue Nullstelle auf die Koeffizienten eines Polynoms auswirkt.
Insbesondere impliziert die Vorzeichenregel von Descartes Satz 6.1: Man wendet die Vorzeichenregel von Descartes zwei Mal an, ein Mal auf die positive und ein Mal auf die negative Halbachse. Beweis. Wir wollen untersuchen, was mit den Koeffizienten eines Polynoms passiert, wenn eine neue positive Nullstelle auftaucht. Sei f (x) = (x − b)g(x) mit b > 0 und g(x) = a0 xn + a1 xn−1 + · · · + an−1 x + an . Die Koeffizienten von f (x) sind a0 , a1 − ba0 , a2 − ba1 , · · · , an − ban−1 , −ban .
(6.1)
a0 , a1 , · · · , an
(6.2)
Die Koeffizienten des Polynoms g(x) untergliedern sich in aufeinanderfolgende Bl¨ocke von Zahlen mit demselben Vorzeichen (um die Nullen k¨ummern wir uns nicht). In Abbildung 6.2 sind diese Bl¨ocke in Form von Ovalen dargestellt. Wir erkennen, dass an jeder Stelle, an der die Folge ai einen Vorzeichenwechsel hat, in der Folge der Koeffizienten von f (x) dasselbe Vorzeichen wie im rechten Oval auftritt. Und zwar: Ist ak < 0, ak+1 > 0, so gilt ak+1 − bak > 0, und ist ak > 0, ak+1 < 0, so gilt ak+1 − bak < 0. Außerdem haben wir am Anfang der Folge (6.1) dasselbe Vorzeichen wie am Anfang der Folge (6.2). Am Ende sind die Vorzeichen von (6.1) und (6.2) entgegengesetzt. Daraus folgt, dass die Folge (6.1) mindestens einen Vorzeichenwechsel mehr als die Folge (6.2) hat. Jede neue positive Nullstelle eines Polynoms erh¨oht so die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge seiner Koeffizienten mindestens um 1. Um den Beweis abzuschließen, schreiben wir f (x) als (x − b1 ) · · · (x − bk )g(x), wobei g(x) keine positiven Nullstellen hat. Dann ist die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge der Koeffizienten von f (x) mindestens genauso groß wie die von g(x) plus k, folglich nicht kleiner als k. 2
6.3 Die Methode von Sturm In diesem Abschnitt werden wir erkl¨aren, wie man die Anzahl der Nullstellen eines Polynoms in einem gegebenen Intervall bestimmt. Sei f (x) ein Polynom, das keine mehrfachen Nullstellen hat. Wir werden eine Folge von Polynomen p0 (x), p1 (x),
114
6 Wie viele Nullstellen hat ein Polynom?
Abb. 6.3 Die Anzahl der Vorzeichenwechsel verringert sich um 1.
p2 (x), · · · , pn (x) von abnehmendem Grad konstruieren, die als sturmsche Kette bezeichnet wird. Sie erfreut sich der folgenden Eigenschaften: (1) p0 (x) = f (x), p1 (x) = f (x); (2) ist pk (t) = 0, so sind die Zahlen pk−1 (t) und pk+1 (t) von null verschieden und haben entgegengesetzte Vorzeichen; (3) das letzte Polynom pn (x) hat gar keine Nullstellen.3 Wir wollen eine solche Folge von Polynomen als sturmsche Kette bezeichnen. Zu einem gegebenem x sei S(x) die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge p0 (x), · · · , pn (x) (wieder ignorieren wir die Nullen). Zum Beispiel hat die Folge 2, 0, 1 keine Vorzeichenwechsel, w¨ahrend 2, 0, −1 einen Vorzeichenwechsel hat. Um die Anzahl der Nullstellen von f (x) in einem Intervall (a, b) zu bestimmen (wir schließen nicht aus, dass a oder b oder beide unendlich sind), berechnen wir S(a) − S(b): Das ist die Anzahl der Nullstellen von f (x) im Intervall (a, b). Wir beweisen, dass dies tats¨achlich der Fall ist. W¨ahrend sich x von a nach b bewegt, kann sich die Anzahl S(x) nur a¨ ndern, wenn x eine Nullstelle eines der Polynome pi ist. Ist x eine Nullstelle von p0 = f , so a¨ ndert f sein Vorzeichen entweder von − nach +, und dann ist f (x) > 0, oder von + nach −, und dann ist f (x) < 0 (siehe Abbildung 6.3). Die ersten beiden Terme in der sturmschen Kette a¨ ndern sich wie folgt: (− + · · · ) → (+ + · · · )
oder
(+ − · · · ) → (− − · · · )
und in beiden F¨allen verringert sich die Anzahl der Vorzeichenwechsel um 1. Ist x eine Nullstelle des Polynoms pk mit 0 < k < n, so sind die Vorzeichen von pk−1 (x) und pk+1 (x) nach der zweiten Eigenschaft der sturmschen Kette entgegengesetzt. Dies impliziert, dass sich unabh¨angig davon, wie sich das Vorzeichen von pk a¨ ndert, die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der sturmschen Kette dieselbe bleibt: (· · · − + + · · · ) → (· · · − − + · · · ) oder
(· · · + + − · · · ) → (· · · + − − · · · ) .
Es bleibt, eine sturmsche Kette zu konstruieren. Dies bewerkstelligen wir durch eine lange Division von Polynomen. Die Terme p0 und p1 kennen wir bereits. Um pk+1 aus pk und pk−1 zu konstruieren, dividieren wir den letzten Term durch den ersten Term und nehmen den Rest mit umgekehrtem Vorzeichen: pk−1 (x) = q(x)pk (x) − pk+1 (x) . 3
Erinnern Sie sich daran, dass wir nur reelle Nullstellen betrachten.
(6.3)
6.3 Die Methode von Sturm
115
Bedenken Sie, dass der Grad des n¨achsten Terms pk+1 kleiner als der von pk ist; folglich bricht die Division nach endlich vielen Schritten ab. Dieser Prozess ist eine Version des euklidischen Algorithmus zur Bestimmung des gr¨oßten gemeinsamen Teilers zweier Zahlen, den wir in Abschnitt 1.9 auf Seite 14 diskutiert hatten. In der Tat ist das letzte Polynom pn (x) der gr¨oßte gemeinsame Teiler von f (x) und f (x). Das impliziert, dass pn (x) keine Nullstellen hat: W¨urde eine solche Nullstelle existieren, w¨are sie auch eine gemeinsame Nullstelle von f (x) und f (x); f (x) h¨atte also eine mehrfache Nullstelle4 – das ist der Fall, den wir von Anfang an ausgeschlossen hatten. Uns bleibt, Eigenschaft (2) der sturmschen Kette zu beweisen. Wir nehmen an, dass pk (x) = 0 ist. Aus Gleichung (6.3) entnehmen wir, dass pk+1 (x) und pk−1 (x) entgegengesetzte Vorzeichen haben, vorausgesetzt, dass beide von null verschieden sind. Ist pk+1 (x) = 0, so impliziert (6.3), dass auch pk−1 (x) = 0 ist. Nach wiederholter Anwendung dieses Arguments impliziert das schließlich, dass p1 (x) = p0 (x) = 0 ist. Das bedeutet aber wieder, dass f bei x eine mehrfache Nullstelle hat, was unm¨oglich ist. Zusammenfassend stellen wir fest, dass (6.3) ein Algorithmus zur Konstruktion einer sturmschen Kette ist. Betrachten wir ein Beispiel. Gegeben sei f (x) = x5 − x + a, das war der Hauptdarsteller aus Vorlesung 5. Die sturmsche Kette besteht in diesem Fall aus vier Termen: 4 5 1 5 1 5 4 x − x + a, x − , x − a, − a4 5 4 5 4 (wir haben einige Terme mit positiven Faktoren skaliert, damit der f¨uhrende Koeffizient 1 ist). Man erkennt sofort, dass die Werte von a, f¨ur die a4 = 44 /55 ist, gef¨ahrlich“ sind, was den Lesern, die mit Kapitel 5 vertraut sind, kaum neu sein ” d¨urfte. Im Folgenden nehmen wir an, dass a4 > 44 /55 ist. Wir bestimmen die Gesamtzahl der reellen Nullstellen von f (x). Die Vorzeichen der sturmschen Kette bei −∞ und +∞ sind (−, +, −, −) und
(+, +, +, −);
folglich gibt es eine Nullstelle (im Fall a4 < 44 /55 ist diese Zahl 3). Wie viele positive Nullstellen gibt es? Um diese Frage beantworten zu k¨onnen, m¨ussen wir die Polynome der sturmschen Kette bei x = 0 berechnen. Wir erhalten 4 5 1 5 1 a, − , − a, − a4 . 5 4 5 4 Wenn wir weiter annehmen, dass die letzte Zahl negativ ist, gibt es zwei F¨alle: a > 0 und a < 0. Im ersten Fall haben wir die Vorzeichen (+, −, −, −), im letzteren Fall sind sie (−, −, +, −). 4
Diese Tatsache wird in Abschnitt 8.2 auf Seite 133 bewiesen.
116
6 Wie viele Nullstellen hat ein Polynom?
Abb. 6.4 F¨ur kleine t ist die Umlaufzahl null.
Vergleichen wir dies mit den Vorzeichen bei +∞, (+, +, +, −), so kommen wir zu folgendem Schluss: Im Fall a > 0 gibt es keine positiven Nullstellen, und im Fall a < 0 gibt es eine einzelne Nullstelle (das gilt auch f¨ur a = 0).
6.4 Fundamentalsatz der Algebra Diese Vorlesung w¨are unserem Empfinden nach ohne Diskussion des Fundamentalsatzes der Algebra5 nicht vollst¨andig. Ihnen als Leser ist vermutlich bekannt, was er besagt: Jedes komplexe Polynom vom Grad n hat genau n komplexe Nullstellen (mit ihrer Vielfachheit gez¨ahlt). Es reicht sogar aus zu zeigen, dass eine Nullstelle existiert: Ist b eine Nullstelle von f (x), so k¨onnen wir f (x) durch x − b dividieren. Dann hat der Quotient auch eine Nullstelle usw. Das setzen wir fort, bis n Nullstellen bestimmt wurden. Es ist zu bemerken, dass fast jeder Zweig der Mathematik seine Methoden testet und ihre Ausgereiftheit pr¨uft, indem er einen Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra liefert. Wir werden einen Beweis angeben, der sich auf den Begriff der Umlaufzahl einer geschlossenen Kurve um einen Punkt st¨utzt.6 Gegeben sei ein Polynom f (x) = xn + a1 xn−1 + · · · + an mit komplexen Koeffizienten. Wir nehmen an, dass das Polynom f¨ur kein komplexes x den Werte 0 hat. Wir betrachten f als eine stetige Abbildung der komplexen Ebene auf sich selbst. Betrachten wir den Kreis mit dem Radius t um den Ursprung. Sei γt das Bild dieses Kreises unter der Abbildung f . Dann ist γt eine geschlossene Kurve, die nicht durch den Ursprung verl¨auft. Sei r(t) die Umlaufzahl (Gesamtzahl der Uml¨aufe) dieser Kurve um den Ursprung. W¨ahrend t zwischen sehr kleinen und sehr großen Werten variiert, a¨ ndert sich die Zahl r(t) nicht: Diese Zahl ist sogar eine ganze Zahl, die stetig von t abh¨angt und deshalb konstant ist. Wir wollen r(t) f¨ur sehr kleine t berechnen. Der konstante Term an von f (x) ist von null verschieden: Anderenfalls w¨are f (0) = 0. F¨ur hinreichend kleine t liegt die Kurve γt in einer kleinen Umgebung des Punktes an und verl¨auft gar nicht um den Ursprung (siehe Abbildung 6.4). Daher ist r(t) = 0. 5 6
Der erste Beweis dieses Satzes wurde 1746 von d’Alembert ver¨offentlicht. Siehe Vorlesung 12 auf Seite 197 f¨ur eine detaillierte Diskussion.
6.4 Fundamentalsatz der Algebra
117
Wie verh¨alt sich r(t) f¨ur sehr große t? Schreiben wir a1 a2 an
f (x) = xn 1 + + 2 + · · · + n . x x x Nun deformieren wir diese Formel: a a2 an
1 + 2 +···+ n fs (x) = xn 1 + s , x x x
(6.4)
wobei s von 1 bis 0 variiert. Sei γt,s das Bild des Kreises vom Radius r unter der Abbildung fs . Ist |x| hinreichend groß, so ist die komplexe Zahl innerhalb der inneren Klammern von (6.4) klein; insbesondere ist der Betrag dieser Zahl kleiner als 1. Sei sogar |x|i > n|ai | f¨ur alle i = 1, . . . , n. Dann ist a an |a1 | |an | 1 1 a2 +···+ n < n· = 1. + 2 +···+ n ≤ x x x |x| |x | n Es folgt, dass die Kurven γt,s f¨ur alle s nicht durch den Ursprung verlaufen. Folglich haben sie alle dieselbe Umlaufzahl um den Ursprung. Diese Umlaufzahl ist im Fall s = 0 besonders leicht zu bestimmen: Wegen f0 (x) = xn ist die Kurve γt,0 ein Kreis mit dem Radius t n , der den Ursprung n Mal umrundet und folglich die Umlaufzahl n hat. Daraus folgt, dass f¨ur hinreichend große t die Umlaufzahl r(t) = n ist, w¨ahrend f¨ur kleine t die Umlaufzahl r(t) = 0 ist. Dies ist ein Widerspruch, der beweist, dass f (x) eine Nullstelle hat. Zum Abschluss wollen wir ein anderes Argument umreißen, das den Gedanken aus den Vorlesungen 8 und 5 wesentlich mehr entspricht. In diesen Vorlesungen haben wir den Raum der Polynome einer bestimmten Art (wie etwa x3 + px + q oder x5 − x + a) betrachtet, und wir haben gesehen, dass die Menge der Polynome mit mehrfachen Nullstellen den gesamten Raum entsprechend der Anzahl der Nullstellen eines Polynoms unterteilt. Die Menge der Polynome mit mehrfachen Nullstellen ist eine (sehr singul¨are Hyperfl¨ache), die man erh¨alt, indem man die Diskriminante eines Polynoms null setzt. Anders als im reellen Fall unterteilt die Menge der Nullstellen einer komplexen Gleichung den komplexen Raum nicht. Dies ist besonders in einer Dimension offensichtlich: Eine endliche Punktmenge unterteilt die reelle Achse in eine Reihe von Intervallen und zwei Strahlen, die komplexe Ebene unterteilt sie dagegen nicht. Also k¨onnen zwei beliebige Punkte durch einen Pfad verbunden werden, der diese Menge umgeht. Man beginnt mit einem Polynom f0 (x) vom Grad n, das offenkundig n Nullstellen, sagen wir (x − 1)(x − 2) · · · (x − n), besitzt. Jedes andere Polynom, das keine mehrfachen Nullstellen hat, kann mit f0 (x) im Raum der Polynome ohne mehrfache Nullstelle durch einen Pfad verbunden werden. Bewegt“ man f0 gegen f , so bewe” gen sich auch die Nullstellen, sie fallen aber nie zusammen, bis sie die Nullstellen von f (x) werden (dieser Prozess wird in Vorlesung 5 detailliert beschrieben).
6 Wie viele Nullstellen hat ein Polynom?
Ren´e Descartes 1596–1650
c Askold Khovanskii
Smith. Inst. Libraries, Washington, DC
118
Askold Khovanskii geboren 1947
¨ 6.5 Ubungen ¨ Ubung 6.1. Ein Polynom vom Grad n nennt man hyperbolisch, wenn es n einzelne reelle Nullstellen hat. Beweisen Sie die Aussage: Ist f (x) ein hyperbolisches Polynom, so gilt das auch f¨ur seine Ableitung f (x). ¨ Ubung 6.2. Beweisen Sie, dass zwischen zwei Nullstellen des Polynoms f (x) eine Nullstelle des Polynoms f (x) + a f (x) liegt, wobei a eine beliebige reelle Zahl ist. ¨ Ubung 6.3. Sei f (x) ein Polynom, das keine mehrfachen Nullstellen besitzt. Wir betrachten die Kurve in der Ebene, die durch die Gleichungen x = f (t), y = f (t) gegeben ist. Beweisen Sie: (a) Diese Kurve verl¨auft nicht durch den Ursprung. (b) Die Kurve schneidet den positiven Teil der y-Achse von links nach rechts und den negativen von rechts nach links. (c) Schlussfolgern Sie, dass zwischen zwei Nullstellen von f eine Nullstelle von f liegt (Satz von Rolle). ¨ Ubung 6.4. (a) Schneidet ein Graph y = f (x) eine Gerade in drei verschiedenen Punkten, so gibt es zwischen den beiden a¨ ußeren Schnittpunkten einen Wendepunkt. (b) F¨allt eine Funktion an n + 1 Punkten mit einem Polynom vom Grad n − 1 zusammen, so hat ihre n-te Ableitung eine Nullstelle, ¨ Ubung 6.5. Das Polynom 1+
xn x x2 + +···+ 1! 2! n!
¨ 6.5 Ubungen
119
besitzt, abh¨angig davon, ob n gerade oder ungerade ist, entweder keine oder eine Nullstelle. Anmerkung. Im Gegensatz dazu haben die komplexen Nullstellen dieses Polynoms f¨ur n → ∞ eine interessante Verteilung. Genauer gesagt, gehen die komplexen Nullstellen des Polynoms 1+
nx (nx)2 (nx)n + +···+ 1! 2! n!
gegen |ze1−z | = 1, wenn n gegen ∞ geht. Das besagt ein Satz von G. Szeg¨o [77]. ¨ Ubung 6.6. Beweisen Sie, dass die Anzahl der positiven Nullstellen eines Polynoms dieselbe Parit¨at hat wie die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge seiner Koeffizienten. ¨ Ubung 6.7. Beweisen Sie die Vorzeichenregel von Descartes f¨ur die Funktion f (x) = a1 eλ1 x + a2 eλ2 x + · · · + an eλn x : Gilt λ1 < λ2 < · · · < λn , so u¨ bersteigt die Anzahl der Nullstellen der Gleichung f (x) = 0 nicht die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge a1 , . . . , an . ¨ Ubung 6.8. Berechnen Sie die sturmsche Kette, und bestimmen Sie die Anzahl der Nullstellen des Polynoms x3 − 3x + 1 u¨ ber den Intervallen [−3, 0] und [0, 3]. ¨ Ubung 6.9. * Das folgende Resultat ist als Satz von Fourier-Budan bekannt. Sei f (x) ein Polynom vom Grad n. Sei S(x) die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge f (x), f (x), f (x), . . . , f (n) (x). Dann ist die Anzahl der Nullstellen von f zwischen a und b, wobei f (a) = 0, f (b) = 0 und a < b ist, nicht gr¨oßer als S(a) − S(b) und hat auch dieselbe Parit¨at. ¨ Ubung 6.10. Die folgende Herangehensweise an den Fundamentalsatz der Algebra geht auf Gauß zur¨uck. Sei f (x) ein gew¨ohnliches komplexes Polynom vom Grad n. Wir betrachten zwei Kurven γ1 und γ2 , die durch die Bedingung gegeben sind, dass Real- und Imagin¨arteil von f (x) null sind. Man m¨ochte beweisen, dass sich γ1 und γ2 schneiden. Beweisen Sie, dass jede Kurve γ1 und γ2 den Rand C einer hinreichend großen Kreisscheibe D in genau 2n Punkten schneidet und sich die Punkte γ1 ∩ C mit den Punkten γ2 ∩C abwechseln. Daraus schließen wir, dass γ1 ∩ D und γ2 ∩ D jeweils aus n Komponenten bestehen und dass jede Komponente von γ1 ∩ D irgendeine Komponente von γ2 ∩ D schneidet.
Vorlesung 7
Tschebyschow-Polynome
7.1 Das Problem Gegenstand dieser Vorlesung ist ein sehr elegantes Problem f¨ur Polynome, das auf P. Tschebyschow zur¨uckgeht. Tschebyschow war ein herausragender russischer Mathematiker des 19. Jahrhunderts (siehe Vorlesung 18 auf Seite 289). Wir betrachten ein festes Intervall der reellen Achse, sagen wir [−2, 2] (die For¨ meln sind f¨ur dieses Intervall am einfachsten, siehe Ubung 7.2 auf Seite 129 f¨ur den allgemeinen Fall). Gegeben sei ein normiertes Polynom1 vom Grad n Pn (x) = xn + a1 xn−1 + · · · + an .
(7.1)
Mit M bezeichnen wir das Maximum und mit m das Minimum des Polynoms u¨ ber dem Intervall [−2, 2]. Die Abweichung von Pn (x) von null ist die gr¨oßere der beiden Zahlen |M| und |m|. Ist die Abweichung von null c > 0, so liegt der Graph des Polynoms innerhalb des Streifens |y| ≤ c, aber nicht innerhalb eines schmaleren Streifens, der symmetrisch bez¨uglich der x-Achse ist. Das Problem besteht darin, dasjenige normierte Polynom vom Grad n zu finden, das die kleinste Abweichung von null hat, und anschließend den Wert dieser kleinsten Abweichung zu bestimmen.
1
¨ Ein Polynom, dessen Koeffizient vor der h¨ochsten Potenz von x gleich 1 ist. Anm. d. Ubers.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 7,
121
122
7 Tschebyschow-Polynome
7.2 Polynome niedrigen Grades Wir wollen mit Polynomen niedrigen Grades experimentieren. Beispiel 7.1. F¨ur P1 (x) = x + a ist M = a + 2 und m = a − 2. Ist c die Abweichung von null, so gilt |a + 2| ≤ c und |a − 2| ≤ c. Nach der Dreiecksungleichung gilt 2c ≥ |a + 2| + |a − 2| ≥ |(a + 2) − (a − 2)| = 4, und folglich ist c ≥ 2. Diese Abweichung wird vom Polynom P1 (x) = x erreicht. Beispiel 7.2. Betrachten wir nun Polynome zweiten Grades von der Form P2 (x) = ¨ x2 + px + q. Nach kurzer Uberlegung kommt man zu dem Schluss, dass die optimale Position des Graphen eines quadratischen Polynoms die symmetrischste ist, wie in Abbildung 7.1 dargestellt. Diese Abbildung zeigt den Graphen des Polynoms x2 −2, dessen Abweichung von null gleich 2 ist. Wir wollen beweisen, dass dies tats¨achlich die L¨osung des Problems f¨ur Polynome zweiten Grades ist. Wenn c die Abweichung des Polynoms P2 (x) von null ist, so sind die Betr¨age der Funktionswerte an den Endpunkten und im Punkt 0 nicht gr¨oßer als c: c ≥ |4 − 2p + q|, c ≥ |4 + 2p + q|, c ≥ |q|. Verwenden wir wieder die Dreiecksungleichung, so erhalten wir 4c ≥ |4 − 2p + q| + |4 + 2p + q| + 2|q| ≥ |(4 − 2p + q) + (4 + 2p + q) − 2q| = 8 , und folglich gilt c ≥ 2.
Abb. 7.1 Die beste“ quadratische Parabel. ”
7.3 Die L¨osung
123
Beispiel 7.3. Versuchen wir unser Gl¨uck noch einmal, diesmal mit Polynomen dritten Grades von der Form P3 (x) = x3 + px2 + qx + r. Wenn c die Abweichung des Polynoms P3 (x) ist, so sind die Betr¨age der Funktionswerte an den Endpunkten ±2 und den Punkten ±1 nicht gr¨oßer als c: c ≥ | − 8 + 4p − 2q + r|, c ≥ |8 + 4p + 2q + r|, c ≥ | − 1 + p − q + r|, c ≥ |1 + p + q + r|. Die Dreiecksungleichung liefert 2c ≥ | − 8 + 4p − 2q + r| + |8 + 4p + 2q + r| ≥ |16 + 4q|, 4c ≥ 2| − 1 + p − q + r| + 2|1 + p + q + r| ≥ |4 + 4q|, und wenn wir die Dreiecksungleichung nochmal anwenden, ergibt sich 6c ≥ |16 + 4q| + |4 + 4q| ≥ |(16 + 4q) − (4 + 4q)| = 12, was c ≥ 2 impliziert. Ein Beispiel f¨ur ein Polynom dritten Grades mit Abweichung von null gleich 2 ist x3 − 3x. Der unternehmungslustige Leser kann versuchen, Polynome vierten Grades zu betrachten. Allerdings ist das keine sehr einladende Aufgabe. Man k¨onnte vermuten, dass die kleinste Abweichung von null immer 2 ist. Um das zu beweisen, braucht man aber mehr als bloße Rechengewalt“. ”
7.3 Die L¨osung Angenommen, wir haben f¨ur ein c > 0 ein Polynom Pn (x) vom Grad n bestimmt, sodass sein Graph (¨uber dem Intervall [−2, 2]) innerhalb des Streifens |y| ≤ c liegt und n + 1 Punkte aus seinen horizontalen R¨andern enth¨alt: Der am weitesten rechts liegende Punkt geh¨ort zum oberen Rand y = c, der n¨achste Punkt geh¨ort zum unteren Rand y = −c, der n¨achste Punkt liegt bei y = c usw. Der Graph schl¨angelt sich also zwischen den Geraden y = ±c hindurch, wobei er die Geraden abwechselnd n + 1 Mal ber¨uhrt. Satz 7.1. Die Abweichung von null jedes normierten Polynoms vom Grad n ist kleiner als c, und Pn (x) ist das eindeutig bestimmte normierte Polynom vom Grad n, dessen Abweichung von null gleich c ist. Beweis. Sei Qn (x) ein anderes normiertes Polynom vom Grad n, dessen Abweichung von null kleiner oder gleich c ist. Dann liegt sein Graph auch innerhalb des Streifens |y| ≤ c. Zerlegen wir diesen Streifen durch vertikale Linien durch die Maxima und Minima von Pn (x) in n Rechtecke (siehe Abbildung 7.2 auf der n¨achsten Seite). Der
124
7 Tschebyschow-Polynome
Abb. 7.2 Der Graph eines optimalen Polynoms.
Graph von Pn (x) verbindet die diagonal gegen¨uberliegenden Eckpunkte jedes Rechtecks; deshalb schneidet der Graph von Qn (x) den von Pn (x) in jedem Rechteck (siehe Abbildung 7.3). Es gibt n solcher Rechtecke, und deshalb hat die Gleichung Pn (x) − Qn (x) = 0 mindestens n Nullstellen. Allerdings ist Pn (x) − Qn (x) ein Polynom vom Grad n − 1, das h¨ochstens n − 1 Nullstellen hat, abgesehen von dem Fall, dass es identisch null ist. Schlussfolgerung: Pn (x) ≡ Qn (x), und wir sind fertig. 2
Abb. 7.3 Beweis von Satz 7.1 auf der vorherigen Seite.
7.3 Die L¨osung
125
Noch k¨onnen wir nicht sagen Mission erf¨ullt“, weil wir immer noch nicht die ” Polynome Pn (x) kennen, die die Bedingungen aus Satz 7.1 auf Seite 123 erf¨ullen. Lemma 7.1. Es existiert ein normiertes Polynom Pn (x) vom Grad n mit 2 cos nα = Pn (2 cos α ) .
(7.2)
Zum Beispiel ist 2 cos 2α = 4 cos2 α − 2 = (2 cos α )2 − 2, und somit P2 (x) = x2 − 2; 2 cos 3α = 8 cos3 α − 6 cos α = (2 cos α )3 − 3(2 cos α ), und somit P3 (x) = x3 − 3x. Beweis. (Vgl. Proposition 2.3 auf Seite 35.) Induktion u¨ ber n. Wir nehmen an, dass (7.2) f¨ur n − 1 und n gilt. Dann ist cos(n + 1)α + cos(n − 1)α = 2 cos α cos nα und folglich 2 cos(n + 1)α = 4 cos α cos nα − 2 cos(n − 1)α = (2 cos α )(2 cos nα ) − 2 cos(n − 1)α = (2 cos α )Pn (2 cos α ) − Pn−1 (2 cos α ). Deshalb gilt Pn+1 (x) = xPn (x) − Pn−1 (x).
(7.3)
Diese Rekursionsbeziehung definiert die gesuchte Folge normierter Polynome Pn vom Grad n. 2 Was wir brauchen, sind die Polynome Pn (x). Wir lassen α u¨ ber [0, π ] laufen. Dann l¨auft nα u¨ ber [0, nπ ], und die Funktionen x = 2 cos α und Pn (x) = 2 cos nα erstrecken sich u¨ ber das Intervall [−2, 2]. Zudem u¨ berstreicht x das Intervall genau ein Mal, w¨ahrend Pn (x) es n Mal u¨ berstreicht, wobei die Funktion f¨ur x = arccos(kπ /n), k = 0, . . . , n die alternierenden Werte ±2 annimmt. Das bedeutet, dass der Graph des Polynoms Pn (x) im Streifen |y| ≤ 2 liegt und n + 1 Punkte abwechselnd aus den beiden R¨andern enth¨alt. Fassen wir zusammen: Es gibt ein eindeutig bestimmtes Polynom von Grad n, das durch Gleichung (7.2) gegeben ist, dessen Abweichung von null u¨ ber dem Intervall [−2, 2] gleich 2 ist, und die Abweichung von null jedes andereren normierten Polynoms vom Grad n ist gr¨oßer. Die Polynome Pn (x) heißen Tschebyschow-Polynome (siehe Abbildung 7.4 auf der n¨achsten Seite f¨ur die Graphen der ersten Tschebyschow-Polynome).
126
7 Tschebyschow-Polynome
Abb. 7.4 Die Graphen von sechs Tschebyschow-Polynomen.
7.4 Die Formeln Die Tschebyschow-Polynome P0 (x) = 2, P1 (x) = x, P2 (x) = x2 − 2, P3 (x) = x3 − 3x, P4 (x) = x4 − 4x2 + 2, . . . k¨onnen durch eine Reihe expliziter Formeln beschrieben werden. Betrachten Sie zum Beispiel den Kettenbruch 1
Rn = x −
.
1
x−
1
x− ···−
1 x−
2 x
Demnach ist R1 = x, R2 = und im Allgemeinen gilt:
x2 − 2 x3 − 3x , R3 = 2 x x −2
7.4 Die Formeln
127
Lemma 7.2. Rn (x) =
Pn (x) . Pn−1 (x)
Beweis. Induktion u¨ ber n. Wir haben Rn+1 = x −
1 Pn−1 (x) xPn (x) − Pn−1 (x) Pn+1 (x) = = , = x− Rn Pn (x) Pn (x) Pn (x)
die letzte Gleichheit ergibt sich aus der Rekursionbeziehung (7.3). 2 Hier ist eine weitere Formel, die die Koeffizienten der Tschebyschow-Polynome durch Binomialkoeffizienten beschreibt. Satz 7.2. Pn (x) = xn −
n − 1 n−2 n − 2 n−4 n n x x + +... 1 2 n−1 n−2 n n − j n−2 j x + (−1) j +... j n− j
(mit j ≤ n/2).
Beweis. Man kann die Tschebyschow-Polynome durch die erzeugende Funktion
Φ (z) = 2 + xz + (x2 − 2)z2 + · · · + Pn (x)zn + . . . codieren. Mithilfe der Rekursionsbeziehung (7.3) kann man Pn (x) ab n = 2 durch eine Kombination von Pn−1 (x) und Pn−2 (x) ersetzen:
Φ (z) = 2 + xz + (xP1 (x) − P0 (x))z2 + (xP2 (x) − P1 (x))z3 + (xP3 (x) − P2 (x))z4 + . . . = 2 + xz + xz(P1 (x)z + P2 (x)z2 + P3 (x)z3 . . . ) − z2 (P0 (x) + P1 (x)z + P2 (x)z2 + . . . ) = 2 + xz + xz(Φ (z) − 2) − z2 Φ (z) = 2 − xz + (xz − z2 )Φ (z) . Folglich gilt
Φ (z) =
2 − xz . 1 − xz + z2
Diese Formel enth¨alt alle Informationen u¨ ber Tschebyschow-Polynome; man muss die Information nur noch daraus extrahieren. Der Schl¨ussel dazu ist die Formel f¨ur die geometrische Reihe: 1 = 1 + q + q2 + q3 + . . . . 1−q Somit gilt
Φ (z) = (2 − xz)[1 + (xz − z2 ) + (xz − z2 )2 + (xz − z2 )3 + . . . ].
(7.4)
128
7 Tschebyschow-Polynome
Wir haben (xz − z ) = x z − kx 2 k
k k
k−1 k+1
z
k k− j k+ j + · · · + (−1) x z +.... j j
Fassen wir die Terme auf der rechten Seite von Gleichung (7.4) zusammen, so erhalten wir f¨ur den Koeffizienten vor zn : n− j−1 n− j n j xn−2 j + . . . . − x + · · · + (−1) 2 j j Nun m¨ussen wir den Klammerausdruck nur noch vereinfachen: 2(n − j)! n− j−1 n− j (n − j − 1)! = − 2 − j j j!(n − 2 j)! j!(n − 2 j − 1)! (n − j − 1)! n− j n , =n = j j!(n − 2 j)! n− j und das Resultat folgt. 2
P. L. Tschebyschow 1821–1894
¨ 7.5 Ubungen ¨ Ubung 7.1. Der Beweis von Satz 7.1 auf Seite 123 hat eine Schw¨ache: Die beiden Polynome k¨onnen in ihrem Schnittpunkt tangential sein (siehe Abbildung 7.5 auf der n¨achsten Seite). Passen Sie die Argumentation auf diesen Fall an.
¨ 7.5 Ubungen
129
Abb. 7.5 Ein Problem mit der Ber¨uhrung.
¨ Ubung 7.2. Beweisen Sie, dass die kleinste Abweichung von null eines normierten Polynoms u¨ ber einem Intervall [a, b] gegeben ist durch b−a n 2 . 4 ¨ Ubung 7.3. Bestimmen Sie die kleinste Abweichung einer linearen Funktion y = ax + b von der Funktion y = ex u¨ ber dem Intervall [0, 1]. ¨ Ubung 7.4. Beweisen Sie noch eine weitere Formel f¨ur Tschebyschow-Polynome √ √ (x + x2 − 4)n + (x − x2 − 4)n Pn (x) = 2n (wir nehmen hier |x| ≥ 2 an). ¨ Ubung 7.5. Beweisen Sie x 2 1 x 0 1 Pn (x) = det · ··· 0 0 0 0
0 1 x ··· ··· ···
0 0 1 ··· 1 0
··· ··· ··· ··· x 1
0 0 0 . · 1 x
130
7 Tschebyschow-Polynome
¨ Ubung 7.6. Beweisen Sie, dass die Polynome im folgenden Sinn orthogonal sind: # 2 Pm (x)Pn (x) −2
√
4 − x2
dx = 0
f¨ur alle m = n. ¨ Ubung 7.7. Beweisen Sie, dass Tschebyschow-Polynome kommutieren: Pn (Pm (x)) = Pm (Pn (x)). ¨ Ubung 7.8. * Betrachten Sie eine Schar paarweise kommutierender Polynome mit positivem f¨uhrenden Koeffizienten, die mindestens ein Polynom jedes positiven Grades enth¨alt. Beweisen Sie, dass dies, abgesehen von einer linearen Substitution, die Schar der Tschebyschow-Polynome oder die Schar der Polynome xn ist. ¨ Die drei folgenden Ubungen liefern einen alternativen Beweis f¨ur Satz 7.1. ¨ Ubung 7.9. Betrachten Sie ein trigonometrisches Polynom vom Grad n: f (α ) = a0 + a1 cos α + a2 cos 2α + · · · + an cos nα .
(7.5)
Beweisen Sie, dass sein Mittelwert“ ” π
2π 3π (2n − 1)π 1 f (0) − f +f −f +···− f 2n n n n n gleich an ist. ¨ Ubung 7.10. Beweisen Sie, dass die Abweichung von null des trigonometrischen Polynoms (7.5) auf dem Kreis [0, 2π ] nicht kleiner als |an | ist. Hinweis: Die Abweichung von null ist nicht kleiner als π (2n − 1)π 1 | f (0)| + f + · · · + f . 2n n n ¨ Verwenden Sie Ubung 7.9 und die Dreiecksungleichung |a| + |b| ≥ |a + b|. ¨ ¨ Ubung 7.11. Leiten Sie Satz 7.1 auf Seite 123 aus den Ubungen 7.9 und 7.10 her. Hinweis. Nach der Substitution x = cos α wird das Polynom Pn (x) zu einem trigonometrischen Polynom (7.5) mit dem f¨uhrenden Koeffizienten 1/2n−1 . W¨ahrend α u¨ ber den Kreis l¨auft, bewegt sich x u¨ ber das Intervall [−1, 1].
Vorlesung 8
Die Geometrie von Gleichungen
8.1 Die Gleichung x2 + px + q = 0 Betrachten wir den Ausdruck aus dem Titel dieses Abschnittes, so erkennen wir eine quadratische Gleichung in der Variablen x, deren Koeffizienten die Parameter p und q sind. Das ist aber nur eine Frage der Perspektive: Genausogut h¨atten wir diesen Ausdruck als eine lineare Gleichung in den Variablen p und q betrachten k¨onnen, deren Koeffizienten vom Parameter x abh¨angen. Eine lineare Gleichung q = −xp − x2 beschreibt eine nicht vertikale Gerade; folglich hat man eine einparametrige Geradenschar in der (p, q)-Ebene, und zwar eine Gerade f¨ur jedes x. Zeichnen wir einige Geraden aus dieser Schar (siehe Abbildung 8.1 auf der n¨achsten Seite). Diese Geraden sind Tangenten an eine Kurve, die wie eine Parabel aussieht. Diese Einh¨ullende ist die Ortslinie der Schnittpunkte von Paaren infinitesimal nah beieinander liegender Geraden aus unserer Schar (explizite Formeln werden Sie in Abschnitt 8.3 auf Seite 135 finden). Dass unsere Einh¨ullende tats¨achlich eine Parabel ist, wird in K¨urze klar werden. Jede Gerade aus Abbildung 8.1 auf der n¨achsten Seite geh¨ort zu einem speziellen Wert von x. Schreiben wir diesen Wert von x als den Ber¨uhrungspunkt der entsprechenden Gerade mit der Einh¨ullenden. Das macht die Einh¨ullende zu einer Art Maßband, das wie die x-Achse, aber gebogen ist (siehe Abbildung 8.2 auf der n¨achsten Seite). Man kann die Kurve aus Abbildung 8.2 auf der n¨achsten Seite verwenden, um die Gleichung x2 + px + q = 0 graphisch zu l¨osen. Zu einem gegebenen Punkt in der (p, q)-Ebene zeichnen wir von diesem Punkt aus eine Tangente an die Einh¨ullende. D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 8,
131
132
8 Die Geometrie von Gleichungen
Abb. 8.1 Die Einh¨ulle der Geradenschar q = −xp − x2 .
Abb. 8.2 Ein gebogenes Maßband“. ”
Abb. 8.3 Eine Maschine zur L¨osung quadratischer Gleichungen.
8.2 Die Gleichung x3 + px + q = 0
133
Der x-Wert des Ber¨uhrungspunktes der Tangente ist dann eine Nullstelle der Gleichung x2 + px + q = 0 (siehe Abbildung 8.3 auf der vorherigen Seite). Insbesondere ist die Anzahl der Nullstellen gleich der Anzahl der Tangenten an die Einh¨ullende von einem Punkt (p, q) aus. F¨ur Punkte unterhalb der Einh¨ullenden gibt es zwei Tangenten, und f¨ur die dar¨uber liegenden – keine. Wie verh¨alt es sich mit den Punkten auf der Einh¨ullenden? F¨ur sie gibt es eine eindeutig bestimmte Tangente an die Einh¨ullende; das bedeutet, dass die beiden Nullstellen der quadratischen Gleichung zusammenfallen. Somit ist die Einh¨ullende die Ortslinie der Punkte (p, q), f¨ur die die Gleichung x2 + px + q = 0 eine doppelte Nullstelle hat. Das passiert f¨ur p2 = 4q; die Einh¨ullende ist folglich die Parabel q = p2 /4.
8.2 Die Gleichung x3 + px + q = 0 Eine einfache quadratische Gleichung bedarf dieser relativ komplizierten Betrachtung vermutlich nicht. Wir wollen nun die interessantere kubische Gleichung x3 + px + q = 0 betrachten. Zwar kann auch diese Gleichung noch durch Wurzelausdr¨ucke explizit gel¨ost werden (siehe Vorlesung 4), aber die L¨osungsformeln sind nicht so einfach, und – in manchen Situationen – nicht besonders hilfreich. Behandeln wir diese Gleichung stattdessen als eine einparametrige Geradenschar in der (p, q)-Ebene.
Abb. 8.4 Die Einh¨ullende der Geradenschar x3 + px + q = 0 und ein gebogenes Maßband“. ”
134
8 Die Geometrie von Gleichungen
Abb. 8.5 Die Anzahl der Nullstellen einer kubischen Gleichung.
Abbildung 8.4 auf der vorherigen Seite zeigt mehrere Geraden und versieht die Einh¨ullende mit einer Messskala. Diese Einh¨ullende hat eine Spitze und erinnert stark an die semikubische Parabel aus Vorlesung 9. Ihre Gleichung werden wir in K¨urze bestimmen. Wie vorhin ist die Kurve aus Abbildung 8.4 auf der vorherigen Seite ein Hilfsmittel zur graphischen L¨osung der Gleichung x3 + px + q = 0: Zeichnen wir von einem Punkt (p, q) aus eine Tangente an die Einh¨ullende. Als eine Nullstelle lesen wir die x-Koordinate des Ber¨uhrungspunktes ab. F¨ur Punkte innerhalb der Spitze gibt es drei Tangenten, und f¨ur Punkte außerhalb davon – nur eine (siehe Abbildung 8.5). Die Kurve selbst ist die Ortslinie der Punkte (p, q), f¨ur die die Gleichung eine mehrfache Nullstelle hat. Und der Scheitel der Spitze, der Ursprung, entspricht der Gleichung x3 = 0, deren Nullstellen alle gleich null sind. Um eine Gleichung f¨ur die Kurve aus den Abbildungen 8.4 und 8.5 bestimmen zu k¨onnen, m¨ussen wir wissen, wann die Gleichung x3 + px + q = 0 eine mehrfache Nullstelle besitzt. Ein allgemeines Kriterium daf¨ur lautet wie folgt. Lemma 8.1. Ein Polynom f (x) hat genau dann eine mehrfache Nullstelle, wenn es mit seiner Ableitung f (x) eine Nullstelle gemeinsam hat. Beweis. Ist a eine mehrfache Nullstelle von f (x), so gilt f (x) = (x−a)2 g(x), wobei g(x) ebenfalls ein Polynom ist. Dann ist f (x) = 2(x − a)g(x) + (x − a)2 g (x); also ist a eine Nullstelle von f (x). Umgekehrt sei a eine gemeinsame Nullstelle von f und f . F¨ur irgendein Polynom g gilt dann f (x) = (x − a)g(x) und folglich f (x) = g(x) + (x − a)g (x).
8.3 Die Gleichung der Einh¨ullenden
135
Damit ist a nicht nur eine Nullstelle von f , sondern auch von g. Also muss g(x) = (x − a)h(x) f¨ur ein Polynom h gelten und deshalb auch f (x) = (x − a)2 h(x). Daraus folgt, dass a eine mehrfache Nullstelle des Polynoms f ist. 2 In unserem Fall ist die Funktion f (x) = x3 + px + q, und die zugeh¨orige Ableitung lautet f (x) = 3x2 + p. Ist a eine gemeinsame Nullstelle dieser Polynome, so gilt p = −3a2 und q = −a3 − pa = 2a3 . Das sind parametrische Gleichungen der Einh¨ullenden aus den Abbildungen 8.4 und 8.5 auf der vorherigen Seite. Man kann a aus diesen Gleichungen eliminieren. Das Resultat ist 4p3 + 27q2 = 0 . Das ist eine semikubische Parabel. Der Term D = −(4p3 + 27q2 ) ist die Diskriminante des Polynoms x3 + px + q; ihr Vorzeichen bestimmt die Anzahl der Nullstellen: Ist D > 0, so gibt es drei Nullstellen, und ist D < 0, so gibt es eine reelle Nullstelle. Es ist u¨ brigens keine Beschr¨ankung der Allgemeinheit, wenn wir Polynome der Form x3 + px + q betrachten, in denen der zweith¨ochste Koeffizient null ist: Diesen Koeffizienten kann man immer durch die Substitution x → x + c eliminieren (das wird in Vorlesung 4 detailliert diskutiert).
¨ 8.3 Die Gleichung der Einhullenden Eine Gleichung der Einh¨ullenden einer einparametrigen Kurvenschar, vornehmlich einer Geradenschar, zu bestimmen, ist leicht. Wir wollen dies f¨ur unser kubisches Polynom f (x) = x3 + px + q tun. Ein Punkt der Einh¨ullenden ist ein Schnittpunkt der Geraden x3 + px + q = 0 mit der infinitesimal nah liegenden Gerade (x + ε )3 + p(x + ε ) + q = 0. Die zweite Gleichung l¨asst sich als (x3 + px + q) + ε (3x2 + p) + O(ε 2 ) = 0 schreiben, wobei O(ε 2 ) nach der u¨ blichen Notation f¨ur Terme zweiter und h¨oherer Ordnung in ε steht. Da ε infinitesimal klein ist, ignorieren wir seine Potenzen ab ε 2 , und das Gleichungssystem wird zu f (x) = 0, f (x) + ε f (x) = 0, was nat¨urlich a¨ quivalent zu f (x) = f (x) = 0 ist. Das ist eine parametrische Gleichung f¨ur die Einh¨ullende (wobei x der Parameter ist), und diese gilt f¨ur jede einparametrige Kurvenschar in der (p, q)-Ebene, die durch die Gleichung f (x, p, q) = 0 gegeben ist. In Anbetracht von Lemma 8.1 auf der vorherigen Seite, stellen wir wieder fest, dass die Einh¨ullende den Punkten (p, q) entspricht, f¨ur die die kubischen Polynome x3 + px + q eine mehrfache Nullstelle haben.
136
8 Die Geometrie von Gleichungen
8.4 Duale Kurven Wir betrachten die Gleichung l + kp + q = 0.
(8.1)
Wir haben die Freiheit, Gleichung (8.1) entweder als eine lineare Gleichung in den Variablen p, q anzusehen, die von den Parametern k, l abh¨angt, oder als eine lineare Gleichung in den Variablen k, l, die von den Parametern p, q abh¨angt. Somit entspricht jede nicht vertikale Gerade in der (p, q)-Ebene durch (8.1) einem Punkt der (k, l)-Ebene, und umgekehrt. Wir haben zwei Ebenen vor uns, und jeder Punkt der einen geh¨ort zu den nicht vertikalen Geraden der anderen. Diese beiden Ebenen bezeichnen wir als zueinander dual. Wir wollen von der folgenden Konvention Gebrauch machen: Punkte werden durch Großbuchstaben bezeichnet und Ebenen durch Kleinbuchstaben. Ist auf einer der Ebenen ein Punkt gegeben, so bezeichnen wir die zugeh¨orige Gerade der dualen Ebene mit demselben Kleinbuchstaben. Wir werden uns die (k, l)-Ebene links vorstellen und die (p, q)-Ebene rechts. Die erste Beobachtung ist, dass diese Dualit¨at die Inzidenzrelation erh¨alt: Ist A ∈ l, so gilt L ∈ a. Und zwar sollen A und l in der linken Ebene liegen, A = (k, l), und L = (p, q) sei der zu l duale Punkt. Dann besagt Gleichung (8.1), dass l durch A verl¨auft, aber ebenso, dass a durch L verl¨auft. Ein Dreieck ist beispielsweise ein Gebilde, das aus drei Punkten und drei Geraden besteht. Die Dualit¨at vertauscht Punkte und Geraden, erh¨alt aber ihre Inzidenz, und das duale Gebilde ist wieder ein Dreieck. Analog besteht das Gebilde, das zu einem Viereck mit seinen beiden Diagonalen dual ist, aus vier Geraden und ihren sechs paarweisen Schnittpunkten (siehe Abbildung 8.6). Die Dualit¨at l¨asst sich auf glatte Kurven u¨ bertragen. Sei γ eine Kurve in der linken Ebene. Die Tangenten an γ entsprechen Punkten in der rechten Ebene (wir nehmen an, dass γ keine vertikalen Tangenten hat). In der rechten Ebene erh¨alt man eine einparametrige Schar von Punkten, also eine Kurve. Man sagt, dass diese Kurve dual zu γ ist, und wir bezeichnen sie mit γ ∗ . Das n¨achste Beispiel wird diese Konstruktion verdeutlichen.
Abb. 8.6 Duale Gebilde.
8.4 Duale Kurven
137
Beispiel 8.1. Sei γ eine Parabel“ vom Grad α , die durch die Gleichung l = kα gege” ben ist. Die Tangente im Punkt (t,t α ) hat die Gleichung l − α t α −1 k + (α − 1)t α = 0; das heißt l + kp + q = 0 mit p = −α t α −1 , q = (α − 1)t α . Das ist eine parametrische Gleichung einer anderen Parabel vom Grad β = α /(α − 1), und folglich ist γ ∗ eine Parabel vom Grad β . Eine symmetrischere Art, diese Relation zwischen α und β auszudr¨ucken, ist 1 1 + = 1. α β Insbesondere gilt: F¨ur α = 2 ist β = 2, und f¨ur α = 3 ist β = 3/2. Wir wollen nun diskutieren, wie die Dualit¨at die Form einer Kurve ver¨andert. Hat γ eine Doppeltangente, so hat die duale Kurve γ ∗ einen Doppelpunkt (siehe Abbildung 8.7).
Abb. 8.7 Eine Doppeltangente ist zu einem Doppelpunkt dual.
Nehmen wir nun an, dass γ , wie in Abbildung 8.8 dargestellt, einen Wendepunkt besitzt. Ein Wendepunkt ist eine Stelle, an der sich die Kurve ungew¨ohnlich gut durch eine Gerade (in einem allgemeinen Punkt hat man eine Tangente erster Ordnung, in einem Wendepunkt ist die Tangente mindestens zweiter Ordnung) approximieren l¨asst. Das impliziert, dass die duale Kurve ungew¨ohnlich nah an einem Punkt ist, sie also eine Singularit¨at hat (siehe Abbildung 8.8). Dieses qualitative Argument
Abb. 8.8 Ein Wendepunkt ist zu einer Spitze dual.
138
8 Die Geometrie von Gleichungen
Abb. 8.9 Beweis von Satz 8.1.
wird durch Beispiel 8.1 auf der vorherigen Seite best¨atigt: Ist γ eine kubische Parabel, so ist γ ∗ eine semikubische Spitze. Aufgrund der Symmetrie zwischen dualen Ebenen w¨urde man erwarten, dass Dualit¨at eine reflexive Relation ist. Mit anderen Worten: Ist γ dual zu δ , so ist auch δ dual zu γ . Dies ist tats¨achlich der Fall. Satz 8.1. Die Kurve (γ ∗ )∗ f¨allt mit γ zusammen. Beweis. Unser Ausgangspunkt ist die Kurve γ ∗ . Um ihre duale Kurve zu konstruieren, m¨ussen wir ihre Tangenten betrachten. Betrachten wir stattdessen eine Sekante l, die γ ∗ in zwei nah beieinander liegenden Punkten A und B schneidet. Das duale Bild besteht aus zwei eng beieinander liegenden Tangenten a und b an γ , die sich im Punkt L schneiden (siehe Abbildung 8.9). Wenn A und B im Limes gegeneinander gehen, wird die Gerade l zu einer Tangente an γ ∗ und der Punkt L f¨allt“ auf γ . ” Somit ist (γ ∗ )∗ = γ . 2 Dieser Dualit¨atssatz erm¨oglicht es uns, die Abbildungen 8.7 und 8.8 auf der vorherigen Seite r¨uckw¨arts zu lesen: Besitzt eine Kurve einen Doppelpunkt, so hat ihre duale Kurve eine Doppeltangente. Und besitzt eine Kurve eine Spitze, so hat ihre duale Kurve einen Wendepunkt. Die beiden Kurven aus Abbildung 8.10 sind beispielsweise zueinander dual. ¨ Stellen wir nun einen Zusammenhang zu unseren Uberlegungen aus den Ab3 schnitten 8.1 und 8.2 her. Die Gleichung x + px + q = 0 erh¨alt man zum Beispiel aus der Gleichung l + kp + q = 0, wenn man k = x und l = x3 setzt. Die zweite Gleichung beschreibt eine kubische Parabel in der (k, l)-Ebene. Die duale Kurve in der
Abb. 8.10 Ein Paar dualer Kurven.
8.5 Die projektive Ebene
139
(p, q)-Ebene ist die Einh¨ullende der einparametrigen Geradenschar x3 + px + q = 0. Das ist eine semikubische Parabel, wie wir in Abschnitt 8.2 festgestellt hatten. Wir k¨onnen auch erkl¨aren, weshalb die Kurven aus den Abbildungen 8.2 auf Seite 132 und 8.4 auf Seite 133 keine Wendepunkte haben. Die einparametrigen Geradenscharen x2 + px + q = 0 und x3 + px + q = 0 bestimmen glatte Kurven in der (k, l)-Ebene (im ersten Fall ist zum Beispiel k = x und l = x2 ). Deshalb sind ihre dualen Kurven aus den Abbildungen 8.2 und 8.4 frei von Wendepunkten.
8.5 Die projektive Ebene Die selbst auferlegte Einschr¨ankung, keine vertikalen Geraden zu betrachten, ist etwas hinderlich. Kann man die Dualit¨at zwischen Punkten und Geraden auf alle Geraden u¨ bertragen? Der Weg, den wir einschlagen m¨ussen, ist, die Ebene auf die projektive Ebene zu erweitern. Die projektive Ebene ist als die Menge der Geraden im dreidimensionalen euklidischen Raum definiert, die durch den Ursprung verl¨auft. Da jede Gerade die Einheitskugel in zwei Antipodenpunkten schneidet, ergibt sich die projektive Ebene aus der Identifikation von Antipodenpunkten der Kugel. Die (reelle) projektive Ebene wird mit RP2 bezeichnet. Gegeben sei eine Gerade in l durch den Ursprung, das heißt ein Punkt in der projektiven Ebene. Wir w¨ahlen einen Vektor (u, v, w) l¨angs l. Dieser Vektor ist nicht eindeutig; er ist bis auf ein Vielfaches einer von null verschiedenen Zahl definiert. Die Koordinaten (u, v, w), die bis auf einen Faktor definiert sind, heißen homogene Koordinaten des Punktes l. Per Definition besteht eine Gerade in der projektiven Ebene aus den Geraden im Raum, die in einer Ebene liegen. Wir w¨ahlen eine Ebene π im Raum, die nicht durch den Ursprung verl¨auft (einen Schirm). Wir ordnen jeder Geraden ihren Schnittpunkt mit diesem Schirm zu. Nat¨urlich verlaufen einige Geraden parallel zum Schirm, und wir werden sie zeitweilig ignorieren. Dies liefert eine Identifikation eines Teils des projektiven Raums mit der Ebene π , und die Geraden in der projektiven Ebene werden mit den Geraden in π identifiziert. Mit anderen Worten: Man kann die Ebene π als einen (großen) Teil der projektiven Ebene betrachten, der als affine Karte bezeichnet wird. Eine andere Wahl eines Schirms w¨urde eine andere affine Karte ergeben. Ist π durch die Gleichung z = 1 gegeben (wobei x, y, z kartesische Koordinaten sind), so kann man homogene Koordinaten in der Form (u, v, 1) w¨ahlen und die letzte Komponente streichen, um die gew¨ohnlichen kartesischen Koordinaten in der Ebene π zu erhalten. Welcher Teil der projektiven Ebene passt nicht in eine affine Karte? Das sind die Geraden im Raum, die parallel zu π verlaufen. Bildet eine Gerade mit π einen kleinen Winkel, dann befindet sich ihr Schnittpunkt mit der Ebene weit entfernt, und wenn dieser Winkel gegen null geht, entfernt sich dieser Punkt ins Unendliche. Somit erh¨alt man die projektive Ebene aus der gew¨ohnlichen Ebene π , indem man die Punkte im Unendlichen“ hinzunimmt. Diese Punkte bilden eine Gerade, die ” Gerade im Unendlichen“. Die homogenen Koordinaten dieser Punkte sind (u, v, 0). ”
140
8 Die Geometrie von Gleichungen
Gegeben sei eine Gerade l durch den Ursprung. Wir betrachten die orthogonale Ebene β , die durch den Ursprung verl¨auft. Sie definiert eine Beziehung zwischen Punkten und Geraden der projektiven Ebene, die projektive Dualit¨at. Seien (u, v, w) homogene Koordinaten von l, und sei die Ebene β durch die lineare Gleichung ax + by + cz = 0 gegeben. Die Bedingung, dass l orthogonal zu β ist, lautet au + bv + cw = 0.
(8.2)
Wir nehmen w = 0 und a = 0 an. Dann kann man die homogenen Koordinaten so skalieren, dass w = a = 1 ist, und Gleichung (8.2) kann als u + bv + c = 0 geschrieben werden. Diese Gleichung unterscheidet sich von Gleichung (8.1) nur in den Variablenbezeichnungen. Die Bedingung w = 0 bedeutet, dass wir uns auf eine affine Karte beschr¨anken, und die Bedingung a = 0 bedeutet, dass wir Geraden betrachten, die nicht vertikal sind.
8.6 Die Gleichung x4 + px2 + qx + r = 0 Diese Gleichung definiert eine einparametrige Ebenenschar im dreidimensionalen euklidischen Raum mit den Koordinaten p, q, r. Die Einh¨ullende dieser Schar ist eine Fl¨ache, die in Abbildung 8.11 auf der n¨achsten Seite dargestellt ist. Wir betrachten zwei Ebenen aus unserer Schar, die zu sehr nah beieinander liegenden Werten des Parameters, n¨amlich x und x + ε , geh¨oren. Diese beiden Ebenen schneiden sich in einer Geraden, und diese Gerade hat f¨ur ε → 0 eine Grenzlage. Wir haben eine einparametrige Geradenschar l(x). Alle Geraden liegen auf der Fl¨ache. Folglich ist die Fl¨ache geradlinig. Nun betrachten wir drei Fl¨achen aus unserer Schar, die zu den Parameterwerten x − ε , x und x + ε geh¨oren. Die drei Ebenen schneiden sich in einem Punkt. Auch dieser Punkt hat im Limes ε → 0 eine Grenzlage. Dieser Punkt P(x) ist gleichzeitig der Schnittpunkt der infinitesimal nah beieinander liegenden Geraden l(x) und l(x + ε ). Somit sind die Geraden l(x) tangential in Bezug auf die r¨aumliche Kurve P(x), die sie einh¨ullen. Bedenken Sie, dass eine einparametrige Geradenschar im Raum im Allgemeinen keine Kurve einh¨ullt: Zwei infinitesimal nah beieinander liegende Geraden sind in der Regel windschief; unsere Situation ist ziemlich speziell! Fassen wir also zusammen: Die Fl¨ache aus Abbildung 8.11 auf der n¨achsten Seite besteht aus Geraden, die tangential an einer r¨aumlichen Kurve liegen. Es ist in der Tat einfach, Gleichungen f¨ur diese Kurve aufzuschreiben. Sei f (x) = x4 + px2 + qx + r. Argumentieren wir wie in Abschnitt 8.3, so ist eine parametrische Gleichung der Kurve P(x) durch das Gleichungssystem f (x) = f (x) = f (x) = 0 gegeben, also durch x4 + px2 + qx + r = 0,
4x3 + 2px + q = 0,
12x2 + 2p = 0 .
Folglich ist p = −6x2 ,
q = 8x3 ,
r = −3x4 ,
8.6 Die Gleichung x4 + px2 + qx + r = 0
141
Abb. 8.11 Die Einh¨ullende der Ebenenschar x4 + px2 + qx + r = 0.
das ist eine parametrische Gleichung einer r¨aumlichen Kurve. Diese Kurve hat im Ursprung selbst eine Spitze. In Abbildung 8.11 besteht diese Kurve aus zwei glatten Segmenten BA und AC; A ist der Ursprung. Neben dem krummlinigen Dreieck BAC hat die Fl¨ache zwei Fl¨ugel“ ABGF und ACHE, die an den Segmenten BA und ” AC h¨angen und einander entlang der Kurve AD schneiden. Abbildung 8.11 zeigt die Fl¨ache, wie sie in den Arbeiten u¨ ber algebraische Geometrie im 19. Jahrhundert dargestellt wurde. In den Arbeiten u¨ ber algebraische Geometrie aus der zweiten H¨alfte des 20. Jahrhunderts tauchte diese Fl¨ache unter dem Namen Schwalbenschwanz“ ” wieder auf. Wir werden diese Fl¨ache im Zusammenhang mit Papierbogengeometrie betrachten und in Vorlesung 13 ein (umfassenderes) Bild dieser Fl¨ache zeichnen (siehe Abbildung 13.17 auf Seite 227). Abbildung 8.12 auf der n¨achsten Seite stellt die Kurve p = −6x2 ,
q = 8x3 ,
r = −3x4
getrennt von der Fl¨ache dar. Die Nebendiagramme aus Abbildung 8.12 auf der n¨achsten Seite zeigen die Projektionen dieser Kurve auf die pq-, pr- und qr-Ebene. Beachten Sie, dass die Kurve bei der Projektion auf die pr-Ebene in eine halbe Parabel zusammenf¨allt. Die Fl¨ache aus Abbildung 8.11 ist durch das Gleichungssystem f (x) = f (x) = 0 gegeben, also durch x4 + px2 + qx + r = 0,
4x3 + 2px + q = 0 .
142
8 Die Geometrie von Gleichungen
Abb. 8.12 Die Kurve selbst hat eine Spitze.
Eliminiert man x aus diesen Gleichungen, so erh¨alt man eine Relation f¨ur p, q, r, und genau um diese Gleichung wird es im n¨achsten Abschnitt gehen. Wie in den Abschnitten 8.1 und 8.2 ist die Anzahl der Nullstellen der Gleichung x4 + px2 + qx + r = 0 durch die Anzahl der tangentialen Ebenen an unsere Fl¨ache vom Punkt (p, q, r) aus gegeben. Diese Zahl a¨ ndert sich um 2, wenn der Punkt die Fl¨ache kreuzt. Das Mengenkomplement der Fl¨ache besteht aus drei Teilen, die zu den F¨allen mit 4, 2 und 0 Nullstellen geh¨oren.
¨ die Diskriminante 8.7 Eine Formel fur Die Diskriminante eines Polynoms f (x) vom Grad n ist ein Polynom D in den Koeffizienten von f (x), sodass D genau dann null ist, wenn f (x) eine mehrfache Nullstelle hat. Und zwar ist D = Π1≤i< j≤n (xi − x j )2 , wobei x1 , ..., xn die Nullstellen sind. Erinnern Sie sich daran, dass die Koeffizienten eines Polynoms die elementaren symmetrischen Funktionen seiner Nullstellen sind (vgl. Vorlesung 4). Die Diskriminante ist auch eine symmetrische Funktion der Nullstellen, und deshalb kann sie als ein Polynom in den Koeffizienten von f (x)
8.7 Eine Formel f¨ur die Diskriminante
143
ausgedr¨uckt werden. Die tats¨achliche Berechnung ist eine langwierige Arbeit, aber sie ist f¨ur Polynome niedrigen Grades h¨andisch“ machbar. ” Beispiel 8.2. F¨uhren wir diese Berechnung f¨ur f (x) = x3 + px + q aus (die L¨osung kennen wir aus Abschnitt 8.2). Wir haben x1 + x2 + x3 = 0, x1 x2 + x2 x3 + x3 x1 = p, x1 x2 x3 = −q. Daher hat p als ein Polynom in den Nullstellen den Grad 2 und q hat den Grad 3. Die Diskriminante hat den Grad 6, und es gibt nur zwei Monome in p und q diesen Grades: p3 und q2 . Also muss D = ap3 + bq2 sein, wobei die Koeffizienten a und b unbekannt sind. Um diese Koeffizienten zu bestimmen, sei x1 = x2 = t, x3 = −2t . Dann ist D=0
und
p = −3t 2 , q = 2t 3 .
Dies impliziert 27a = 4b. Als n¨achstes sei x1 = −x2 = t, x3 = 0. Dann ist D = 4t 6
und
p = −t 2 , q = 0 .
Daraus folgt a = −4, b = −27 und D = −4p3 − 27q2 . Eine a¨ hnliche, aber wesentlich langwierigere Berechnung liefert die ziemlich beachtliche Formel f¨ur die Diskriminante des Polynoms f (x) = x4 + px2 + qx + r: D = 256r3 − 128p2 r2 − 27q4 − 4p3 q2 + 16p4 r + 144pq2 r .
(8.3)
Eine weitere Methode, die Diskriminante D zu berechnen, ist wie folgt. Wir wollen wissen, wann f (x) und f (x) eine gemeinsame Nullstelle besitzen, sie sei a. Wenn dies der Fall ist, so gilt f (x) = (x − a)g(x) und f (x) = (x − a)h(x), wobei g ein Polynom dritten Grades und h ein Polynom zweiten Grades ist. Daraus folgt f (x)h(x) − f (x)g(x) = 0 .
(8.4)
Man kann die Koeffizienten von h und g als Unbekannte betrachten (es gibt sieben davon). F¨uhrt man f¨ur alle Koeffizienten in (8.4) einen Koeffizientenvergleich durch, so erh¨alt man ein System von sieben linearen Gleichungen in diesen Variablen. Dieses System hat genau dann eine nichttriviale L¨osung, wenn seine Determinante verschwindet. Sie werden sich leicht davon u¨ berzeugen k¨onnen, dass diese Determinante
144
8 Die Geometrie von Gleichungen
1 0 p q r 0 1 0 p q 0 0 1 0 p −4 0 −2p −q 0 0 −4 0 −2p −q 0 0 −4 0 −2p 0 0 0 −4 0
0 0 r 0 q r 0 0 0 0 −q 0 −2p −q
(8.5)
ist. Durch Nullsetzen erh¨alt man eine weitere Form der Gleichung der Fl¨ache aus Abbildung 8.11 auf Seite 141. Dies mag eine h¨ubschere Darstellungsart der L¨osung sein, trotzdem ist es noch eine andere und nicht so vergn¨ugliche Aufgabe, zu pr¨ufen, dass dies dasselbe wie (8.3) ist; heutzutage k¨onnen wir das einem Computer u¨ berlassen. Eine letzte Anmerkung: Die Koeffizienten in Formel (8.3) sind ziemlich große Zahlen, und man fragt sich, ob diese Zahlen eine kombinatorische oder geometrische Bedeutung haben. Eine konzeptionelle Erkl¨arung dieser und vieler anderer a¨ hnlicher Formeln liefert die moderne Theorie der Diskriminanten und Resultanten (siehe das Buch von I. Gelfand, M. Kapranov und A. Zelevinsky [33]). Insbesondere werden die Koeffizienten in (8.3) als Volumina gewisser konvexer Polyeder interpretiert.
¨ 8.8 Ubungen ¨ Ubung 8.1. (a) Betrachten Sie die einparametrige Geradenschar p sin x + q cos x = 1 .
(8.6)
Zeichnen Sie ihre Einh¨ullende und verwenden Sie sie, um Gleichung (8.6) f¨ur verschiedene Werte von (p, q) zu l¨osen. (b) Dieselbe Aufgabe f¨ur die Gleichung ln x = px + q. ¨ Ubung 8.2. Zeichnen Sie die zum Graph von y = ex duale Kurve. ¨ Ubung 8.3. (a) Die Gleichung x2 + y2 = 1 beschreibt einen Kreis in der affinen Karte z = 1 der projektiven Ebene. Zeichnen Sie diese Kurve in der affinen Karte x = 1. (b) Dieselbe Aufgabe f¨ur die Gleichung y = 1/(1 + x2 ). ¨ Ubung 8.4. Zeichnen Sie die Kurven in der projektiven Ebene, die zu den Kurven ¨ aus Ubung 8.3 dual sind. ¨ Ubung 8.5. (a) Beweisen Sie, dass die projektive Ebene mit einer gel¨oschten Kreisscheibe ein M¨obiusband ist. (b) Beweisen Sie, dass die Menge aller nicht orientierter Geraden in der Ebene (die nicht zwangsl¨aufig durch den Ursprung verlaufen) ein M¨obiusband ist. ¨ Ubung 8.6. (a) Beweisen Sie Formel (8.3) auf der vorherigen Seite. (b) Beweisen Sie, dass (8.3) gleich (8.5) ist.
Geometrie und Topologie
Teil III E I N H U¨ L L E N D E UND S I N G U L A R I T A¨ T E N
Vorlesung 9
Spitzen (Cusps)
Zu den Graphen, die Mathematiklehrer gern ihre Sch¨uler zeichnen lassen, geh¨oren Kurven mit scharfen Richtungswechseln, die Mathematiker Spitzen (Cusps) nennen. Abbildung 9.1 zeigt ein typisches Beispiel. Dargestellt ist eine semikubische Parabel, eine durch die Gleichung y2 = x3 definierte Kurve.
Abb. 9.1 Semikubische Parabel.
Das n¨achste Beispiel ist die ber¨uhmte Zykloide (siehe Abbildung 9.2 auf der n¨achsten Seite). Sie k¨onnen sie beobachten, wenn Sie auf den Reifen ihres Fahrrads einen Farbfleck aufbringen und dann einen Freund bitten, mit dem Fahrrad zu fahren. Der Farbfleck beschreibt die Zykloide. D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 9,
147
148
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.2 Zykloide.
Abb. 9.3 Kardioide.
Unser letztes Beispiel ist die sogenannte Kardioide (siehe Abbildung 9.3), eine ¨ Kurve, deren Name ihre Ahnlichkeit mit einer Zeichnung des menschlichen Herzens widerspiegelt. Mathematiker stellen diese Kurve gew¨ohnlich durch die Gleichung ρ = 1 + cos θ in Polarkoordinaten dar. Allerdings k¨onnte es scheinen, dass die Spitzen in diesen Graphen nur gelgentlich, rein zuf¨allig vorkommen: Es gibt so viele Kurven ohne Spitzen. Kommen Sie aber zu keinem voreiligen Schluss. Unser Ziel ist es, Sie davon zu u¨ berzeugen, dass Spitzen in so vielen geometrischen oder analytischen Zusammenh¨angen nat¨urlich vorkommen, dass wir mit Recht sagen k¨onnen: Spitzen gibt es u¨ berall. x2 Zeichnen wir eine Ellipse, die durch die Gleichung + y2 = 1 gegeben ist, und 4 eine hinreichend dichte Schar von Normalen an die Ellipse (eine Normale ist eine Gerade, die senkrecht zu einer Tangente in deren Ber¨uhrungspunkt steht; siehe Abbildung 9.4).
Abb. 9.4 Eine Tangente und eine Normale einer Ellipse.
9 Spitzen (Cusps)
149
Abb. 9.5 Eine Ellipse mit 32 Normalen.
Abbildung 9.5 zeigt die Ellipse und zweiunddreißig ihrer Normalen. Obwohl Abbildung 9.5 nichts außer einer Ellipse und 32 Geraden enth¨alt, erkennen wir darin eine weitere Kurve, n¨amlich eine Kurve in Form eines Diamanten mit vier Spitzen. Dieses Ph¨anomen ist keine spezifische Eigenschaft einer Ellipse. Legen wir eine Normalenschar an eine weniger symmetrische eif¨ormige Kurve, verliert auch der Diamant seine perfekte Symmetrie, aber die Spitzen bleiben (siehe Abbildung 9.6 auf der n¨achsten Seite). Die Kurve mit Spitzen heißt Evolute der gegebenen Kurve (an die wir die Normalen gelegt haben). Sie hat eine einfache geometrische, oder besser gesagt, mechanische Beschreibung. Bewegt sich ein Teilchen entlang einer Kurve, so kann seine Bewegung zu jedem Zeitpunkt als Rotation um einen bestimmten Mittelpunkt betrachtet werden. Dieser Mittelpunkt ver¨andert st¨andig seine Lage; er beschreibt also eine Kurve. Genau diese Kurve sehen wir in Abbildung 9.5 und Abbildung 9.6 auf der n¨achsten Seite. Evoluten haben immer Spitzen. Außerdem besagt der ber¨uhmte Vierscheitelsatz 1 (vor etwa 100 Jahren bewiesen, aber immer noch mysteri¨os): Schneidet sich eine gegebene Kurve (wie eine Ellipse oder die eif¨ormige Kurve aus Abbildung 9.6 auf der n¨achsten Seite) nicht selbst, so hat die Evolute mindestens vier Spitzen. 1
siehe Vorlesung 10
150
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.6 Eine eif¨ormige Kurve mit Normalen.
F¨ur Kurven mit Selbst¨uberschneidungen gilt dies nicht mehr; das nachfolgende Bild (siehe Abbildung 9.7) zeigt eine Normalenschar an einer Kurve mit Selbst¨uberschneidungen; die Evolute ist deutlich erkennbar und hat nur zwei Spitzen.
Abb. 9.7 Eine sich selbst schneidende Kurve mit Normalen.
9 Spitzen (Cusps)
151
Um ehrlich zu sein, hat das scheinbar spontane Auftauchen einer Kurve mit Spitzen im Bild einer Normalenschar nicht direkt mit den Normalen zu tun. Sie werden ¨ etwas sehr Ahnliches beobachten, wenn Sie eine hinreichend willk¨urliche“ oder ” hinreichend zuf¨allige“ Geradenschar nehmen. Stellen Sie sich einen w¨utenden Pro” fessor vor, der seinen Stock nach seinen Studenten wirft. Der Stock fliegt und dreht sich dabei. Wenn Sie einige aufeinanderfolgende Positionen des Stocks in der Luft in einer Zeichnung festhalten, werden Sie so etwas wie Abbildung 9.8 erhalten.
Abb. 9.8 Ein fliegender Stock (gerade).
Dort sehen Sie zweiunddreißig aufeinanderfolgende Positionen des Stocks, aber auch eine Kurve mit Spitzen (eine der Spitzen ist in der Mitte der Zeichnung deutlich zu erkennen), die ein wenig wie die Zykloide (siehe Abbildung 9.2 auf Seite 148) aussieht. Auch darauf, dass es Geraden sind, kommt es gar nicht unbedingt an; es ist lediglich bequemer sie zu zeichnen. Wenn der Professor alt und schwergewichtig ist und sein Stock seine Linearit¨at verloren hat, sieht das Bild aus Abbildung 9.8 etwas anders aus, aber die Spitzen bleiben (siehe Abbildung 9.9).
Abb. 9.9 Ein fliegender Stock (gekr¨ummt).
Wenden wir uns aber einer weiteren geometrischen Konstruktion zu, bei der sich Spitzen in noch unerwarteterer Weise ergeben. Beginnen wir wiederum mit einer Ellipse. Stellen Sie sich vor, dass alle Punkte auf der Ellipse gleichzeitig anfangen, sich mit konstanter Geschwindigkeit zu bewegen, die f¨ur alle Punkte gleich ist, und dass sich jeder Punkt entlang der Normalen an die Ellipse in die Ellipse hinein
152
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.10 Zun¨achst beh¨alt die Ellipse ihre ovale Form bei.
Abb. 9.11 Dann beginnen sich die Punkte zu h¨aufen.
Abb. 9.12 Schließlich entwickelt die Kurve Spitzen.
bewegt. Zun¨achst schrumpft die Ellipse, beh¨alt aber ihre gleichm¨aßig ovale Form bei (siehe Abbildung 9.10). Dann beginnen sich die Punkte aber an einem linken und rechten Randpunkt gewissermaßen zu h¨aufen (siehe Abbildung 9.11), die Trajektorien der Punkte kreuzen sich (ohne Kollisionen, sie durchdringen sich) und, ob Sie es glauben oder nicht, die Kurve entwickelt vier Spitzen (siehe Abbildung 9.12). Die Entwicklung der sich bewegenden Kurve, passenderweise als Front bezeichnet, zeigt Abbildung 9.13 auf der n¨achsten Seite. Wir sehen, dass sich die Kurve nach dem Auftauchen der vier Spitzen in vier Abschnitte untergliedert, n¨amlich zwei kurze und zwei lange, und dass sich die langen Abschnitte zwei Mal schneiden. Die kurzen Abschnitte werden dann l¨anger und die langen k¨urzer. Zu einem bestimmten Zeitpunkt trennen sich die langen“ Abschnitte (die dann nicht mehr so ” lang sind); die kurzen“ Abschnitte (die dann ziemlich lang sind) treffen sich nun ” und schneiden sich zwei Mal. Anschließend stoßen die Spitzen gegeneinander und verschwinden, und die Kurve wird wieder mehr oder weniger elliptisch.
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.13 Die Entwicklung einer Front.
153
154
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.14 Die Fronten und die Evolute.
Es ist interessant, alle Fronten aus Abbildung 9.13 auf der vorherigen Seite in einer Zeichnung festzuhalten. Die Spitzen der Fronten bilden selbst eine Kurve (siehe Abbildung 9.14). Wenn Sie Abbildung 9.14 mit Abbildung 9.5 auf Seite 149 vergleichen, f¨allt auf, dass unsere Kurve nichts anderes als die Evolute der Ellipse ist. Genauso zeigt Abbildung 9.15 auf der n¨achsten Seite die Bewegung der Fronten der sich selbst schneidenden Kurve aus Abbildung 9.7 auf Seite 150. Die Zeichnung aus Abbildung 9.16 auf Seite 156 stellt die gesamte Familie in einem Bild dar; wenn Sie gedanklich die Kurve der Spitzen verfolgen, erhalten Sie die in Abbildung 9.7 auf Seite 150 sichtbare Evolute mit zwei Spitzen. Wenn Sie noch mehr Beispiele haben m¨ochten, betrachten Sie die Frontenschar einer Sinuskurve (siehe Abbildung 9.17 auf Seite 156); Sie k¨onnen erraten, wie die Evolute einer Sinuskurve aussieht (die Evolute einer Kurve mit Wendepunkten hat stets Asymptoten; diese Asymptoten sind Normalen an die Kurve in den Wendepunkten ; wenn Ihnen die Begriffe Wendepunkte“ und Asymptoten“ nicht viel ” ” sagen, vergessen Sie sie einfach). All diese Beispiele scheinen die Aussage Spitzen gibt es u¨ berall “ aber noch ” nicht zu rechtfertigen. Man k¨onnte einwenden: Wenn es Spitzen u¨ berall gibt, ” warum sehen wir sie nicht?“ Wir sehen sie aber!
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.15 Entwicklung der Fronten einer sich selbst schneidenden Kurve.
155
156
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.16 Die Fronten einer sich selbst schneidenden Kurve.
Abb. 9.17 Die Fronten einer Sinuskurve.
Um uns davon zu u¨ berzeugen, sehen wir uns mit den Augen eines großen K¨unstlers um. Schauen Sie sich das ber¨uhmte Portr¨at Igor Strawinskis an, das Pablo Picasso 1932 gezeichnet hat (siehe Abbildung 9.18 auf der n¨achsten Seite). Dieses von einem großen K¨unstler gemalte Bild eines großartigen Komponisten, das ¨ wahrscheinlich eine bemerkenswerte Ahnlichkeit zum Original aufweist, besteht eigentlich aus nichts weiter als aus einigen Dutzend Bleistiftkurven. Igor Strawinskis Gesicht wurde aber nicht aus Kurven gemacht. Was stellen diese Kurven dann aber dar? Und warum enden sie so abrupt ohne sichtbaren Grund?
157
c VG Bild-Kunst, Bonn 2008
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.18 Pablo Picasso. Portr¨at von Igor Strawinski (1932).
Als Einstieg in das Thema ist diese Zeichnung sicher zu kompliziert. Betrachten wir daher eine einfachere Zeichnung. Stellen Sie sich den jungen Pablo Picasso vor, wie er zum ersten Mal eine Kunstschule in seinem Heimatort Malaga oder vielleicht sp¨ater in Barcelona betritt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sein Lehrer ihn einen Krug zeichnen ließ (Kunststudenten beginnen ihre Studien oft anhand eines Kruges). Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Pablos Bild eines Kruges, sogar wenn es wirklich existiert h¨atte, noch irgendwo zu finden w¨are. Aber vielleicht sah es aus wie eine der Zeichnungen aus Abbildung 9.19 auf der n¨achsten Seite. Oder der Kunstlehrer war vielleicht ein Geometriefreund, und Pablos erste Aufgabe war ein Torus (die Oberfl¨ache eines Bagels, wenn Sie nicht wissen, was ein Torus ist). Dann k¨onnte Pablos erste Zeichnung wie die aus Abbildung 9.20 auf der n¨achsten Seite ausgesehen haben.
158
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.19 Pablo ??. Zwei Kr¨uge.
Abb. 9.20 Pablo ???. Ein Torus.
In diesen einfachen Zeichnungen erkennen wir die gleichen Dinge wie im Meisterwerk: Es gibt Kurven; einige von ihnen enden abrupt, entweder wenn sie auf andere Kurven treffen oder ohne sichtbare Gr¨unde. Denken wir u¨ ber die Gr¨unde nach. Die Kurven, die wir sehen (und zeichnen) sind die Umrisse sichtbarer Objekte oder, mit anderen Worten, sie setzen sich aus Ber¨uhrungspunkten der von unseren Augen ausgehenden Strahlen mit der Oberfl¨ache zusammen, auf die wir blicken. Diese Oberfl¨ache nennen wir S und die von den Ber¨uhrungspunkten gebildete Kurve C (siehe Abbildung 9.21 auf der n¨achsten Seite). Wenn wir gedanklich einen Schirm hinter diese Oberfl¨ache bringen, bilden unsere Strahlen eine Kurve auf dem Schirm ab, und diese Kurve C sieht genau wie der Umriss der Oberfl¨ache aus, die wir betrachten. Wenn die Form der Oberfl¨ache S komplizierter ist, k¨onnten einige Teile der Kurve C f¨ur unser Auge von der Oberfl¨ache verdeckt sein (geometrisch bedeutet das, dass der Strahl die Oberfl¨ache vor der Ber¨uhrung vielleicht mehr als ein Mal schneidet). Genau das passiert, wenn eine Kurve an einer anderen Kurve endet: W¨aren die Objekte, die wir zeichnen, transparent, w¨urde die Kurve nicht enden, sondern als glatte Kurve weitergehen. Der zweite Fall, wenn die Kurve endet, ohne auf eine andere Kurve zu treffen, ist interessanter. Wie schon gesagt, bilden die Ber¨uhrungspunkte unserer Sehstrahlen eine Kurve C auf unserer Oberfl¨ache S. Ein einfaches analytisches Argument, das wir hier u¨ berspringen, zeigt, dass diese Kurve immer glatt ist. Der Strahl kann jedoch nicht nur tangential zur Oberfl¨ache S sein, sondern auch zur Kurve C. In diesem Fall ist das Bild dieser Kurve auf dem Schirm und damit in unserem Auge oder
9 Spitzen (Cusps)
159
SCH
IRM
Abb. 9.21 Sichtbarer (scheinbarer) Umriss einer einfachen Form.
SCH
IRM
Abb. 9.22 Ein sichtbarer Umriss einer komplizierten Form.
in unserer Zeichnung eine Spitze (siehe Abbildung 9.22). Wir sehen aber nur eine H¨alfte dieser Spitze, w¨ahrend die zweite H¨alfte vom Objekt verdeckt wird. W¨aren also die Objekte um uns transparent (das klingt nach Nabokov!), so h¨atten wir nie endende Kurven gesehen; wir h¨atten vielmehr eine Menge Spitzen gesehen, die in der Realit¨at nur zur H¨alfte sichtbar sind. W¨aren zum Beispiel Pablos Kr¨uge und Pablos Torus transparent, h¨atte er seine Zeichnung durch die in Abbildung 9.23 auf der n¨achsten Seite dargestellten Kurven (gestrichelte Linien) erg¨anzt.
160
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.23 Transparente Objekte.
Betrachten wir abschließend die Projektionen eines transparenten Torus. Um ihn transparent zu machen, ersetzen wir ihn durch eine dichte Schar von Kreiseen in parallelen Ebenen. Genauer gesagt, ist ein Torus die Rotationsfl¨ache eines Kreises um eine Achse, die den Kreis nicht schneidet (siehe Abbildung 9.24, links). Wir ersetzen den Kreis durch eine dichte Punktmenge, in unserem Beispiel durch eine Menge von Eckpunkten eines ihm eingeschriebenen regelm¨aßigen 32-Ecks (siehe Abbildung 9.24, rechts).
Abb. 9.24 Ein Kreis durch eine Menge aus 32 Punkten ersetzt.
Vier Projektionen (aus geringf¨ugig verschiedenen Blickwinkeln) mit Vergr¨oßerungen der zentralen Fragmente dieser Projektionen sind in den Abbildungen 9.25 und 9.26 auf der n¨achsten Seite sowie 9.27 und 9.28 auf Seite 162 dargestellt. Die Kurve mit vier Spitzen ist in jeder der vier Projektionen zu erkennen.
9 Spitzen (Cusps)
Abb. 9.25 Eine Projektion eines Torus’.
Abb. 9.26 Eine andere Projektion eines Torus’.
161
162
Abb. 9.27 Eine weitere Projektion eines Torus’.
Abb. 9.28 Die letzte Projektion eines Torus’.
9 Spitzen (Cusps)
Vorlesung 10
Rund um vier Scheitel
10.1 Der Satz In der Mathematik gibt es Resultate, auf die man leicht viel fr¨uher h¨atte kommen k¨onnen, als es tats¨achlich der Fall war. Ein Beispiel, das einem einf¨allt, ist die For¨ mel von Pick aus Ubung 1.1 auf Seite 26, die schon den alten Griechen h¨atte bekannt sein k¨onnen. Sie wurde aber erst 1899 von Georg Pick entdeckt. In dieser Vorlesung geht es um den Vierscheitelsatz, und Sie als Leser werden uns zustimmen, dass auch dieser viel fr¨uher, sagen wir, von Huygens oder Newton h¨atte entdeckt werden k¨onnen. Der Vierscheitelsatz wurde aber erst 1909 von dem indischen Mathematiker S. Mukhopadhyaya ver¨offentlicht. Der Vierscheitelsatz besagt, dass eine ebene Eikurve mindestens vier Scheitel hat. F¨ur uns ist eine Eikurve (ein Oval) immer eine geschlossene glatte Kurve mit positiver Kr¨ummung.1 Ein Scheitel einer Kurve ist ein lokales Maximum oder Minimum ihrer Kr¨ummung. Dass eine geschlossene Kurve mindestens zwei Scheitel hat, ist offensichtlich: Die Kr¨ummung wird mindestens ein Mal maximal und minimal.
¨ 10.2 Kaustik, Evoluten, Evolventen und Krummungskreise Betrachten wir eine glatte Kurve γ in der Ebene. An jedem Punkt x ∈ γ gibt es eine Kreisschar, die in diesem Punkt zur Kurve tangential ist (siehe Abbildung 10.1). 1
Ovum ist im Lateinischen ein Ei. D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 10,
163
164
10 Rund um vier Scheitel
Abb. 10.1 Tangentiale Kreisschar an eine Kurve.
Einer dieser Kreise ist tangierender“ als die anderen; er wird als Kr¨ummungskreis ” oder Schmiegekreis bezeichnet. Die Definition des Kr¨ummungskreises ist wie folgt. Wir lassen zwei Punkte vom Punkt x aus mit gleicher Geschwindigkeit in die gleiche Richtung loslaufen, einen entlang der Kurve γ und den anderen entlang eines tangentialen Kreises. Der Abstand der beiden Punkte w¨achst f¨ur alle tangentialen Kreise quadratisch mit der Zeit, mit Ausnahme eines Kreises. Nur f¨ur diesen besonderen Kreis w¨achst der Abstand kubisch. Das ist der Kr¨ummungskreis. Der Kr¨ummungskreis kann wie folgt konstruiert werden. Wir parametrisieren γ , so dass x = γ (t) ist. Wir betrachten drei benachbarte Punkte γ (t − ε ), γ (t), γ (t − ε ). Durch diese drei Punkte gibt es einen eindeutig bestimmten Kreis (den Fall einer Geraden, also eines Kreises mit unendlichem Radius, schließen wir nicht aus). Im Limes ε → 0 ist die Grenzlage dieses Kreises der Kr¨ummungskreis von γ im Punkt x. Man kann sagen, dass der Kr¨ummungskreis Dreipunktkontakt mit der Kurve hat oder dass er die Tangente zweiter Ordnung an die Kurve ist. Der Radius des Kr¨ummungskreises heißt Kr¨ummungsradius und sein Kehrwert Kr¨ummung der Kurve im gegebenen Punkt; der Mittelpunkt des Kr¨ummungskreises wird als Kr¨ummungsmittelpunkt bezeichnet. Ist die Kurve durch eine Parametrisierung nach der Bogenl¨ange gegeben, bewegen wir uns entlang der Kurve also mit gleichbleibender Geschwindigkeit, so ist die Kr¨ummung die Gr¨oße des Beschleunigungsvektors.2 Am Scheitel einer Kurve ist die Tangentialordnung des Kr¨ummungskreises h¨oher als an einem gew¨ohnlichen Punkt: Der Kreis hat an einem Scheitel Vierpunktkontakt mit der Kurve, der Kr¨ummungskreis ist dort also hyperoskuliert. Stellen Sie sich unsere Kurve als Lichtquelle vor: Lichtstrahlen gehen senkrecht zur Kurve γ aus (in der Ebene von γ ). Die Einh¨ullende Γ dieser einparametrigen 2
Jeder Autofahrer weiß: Je sch¨arfer die Kurve, desto schwerer ist es, sie zu nehmen.
10.2 Kaustik, Evoluten, Evolventen und Kr¨ummungskreise
165
Abb. 10.2 Die Evolute einer Kurve.
Normalenschar wird besonders hell; diese Einh¨ullende wird als Kaustik3 oder Evolute der Kurve bezeichnet (siehe Abbildung 10.2 und die Abbildungen aus Vorlesung 9). Die Kurve γ heißt Evolvente der Kurve Γ . Evoluten und Evolventen sind die Hauptdarsteller dieser Vorlesung. Lemma 10.1. Die Evolute einer Kurve ist die Ortsline der Kr¨ummungsmittelpunkte. Ein Scheitel der Kurve entspricht einer Singularit¨at der Evolute, generisch einer Spitze. Beweis. Sei γ (t) die Parametrisierung der Kurve. In der Gleichung f¨ur die Normale an γ im Punkt γ (t) kommt die erste Ableitung γ (t) vor, und in den Koordinaten des Schnittpunktes zweier infinitesimal nah beieinander liegender Normalen, das heißt des Kr¨ummungsmittelpunktes, kommen die ersten beiden Ableitungen γ (t) und γ (t) vor (siehe die Gleichung einer Einh¨ullenden aus Abschnitt 8.3). Das bedeutet, wenn man den Kr¨ummungsmittelpunkt der Kurve im Punkt x berechnet, kann man die Kurve durch ihren Kr¨ummungskreis ersetzen, der zur Kurve an diesem Punkt Tangente zweiter Ordnung ist. Die Normalen eines Kreises schneiden sich in seinem Mittelpunkt. Daher schneiden sich die infinitesimal nah beieinander liegenden Normalen der Kurve im Punkt x im Mittelpunkt dieses Kreises. ¨ Ahnlich kommen im Geschwindigkeitsvektor der Evolute die ersten drei Ableitungen der vektorwertigen Funktion γ (t) vor. An einem Scheitel wird die Kurve durch den Kr¨ummungskreis bis zur dritten Ableitung approximiert. Daher hat die Evolute einer Kurve in einem Scheitel den gleichen Geschwindigkeitsvektor wie die Evolute eines Kreises. Letztere ist aber ein Punkt! Das bedeutet, dass die Geschwindigkeit der Evolute verschwindet und sie einen singul¨aren Punkt hat. 2 Es sei noch erg¨anzt, dass in einem lokalen Maximum der Kr¨ummung die Spitze der Evolute zur Kurve hin zeigt, w¨ahrend sie in einem lokalen Minimum der Kr¨ummung von ihr weg weist. 3
Vom Griechischen kaustikos u¨ ber Lateinisch causticus, brennend“. ”
166
10 Rund um vier Scheitel
Aus Lemma 10.1 auf der vorherigen Seite folgt, dass der Vierscheitelsatz in einen Vierspitzensatz f¨ur die Evolute umformuliert werden kann. Vergegenw¨artigen Sie sich aber, dass die singul¨aren Punkte der Evolute, anders als die vier Scheitel, verschmelzen k¨onnen: Zum Beispiel ist die Evolute eines Kreises nur ein (sehr singul¨arer) Punkt. Wir orientieren die Normalen an γ nach innen. Dadurch erhalten auch die glatten Kreisb¨ogen der Evolute eine Orientierung. Was mit dieser Orientierung an einer Spitze passiert, zeigt Abbildung 10.3. Daraus folgt, dass die Spitzen die Evolute in Kreisb¨ogen mit entgegengesetzten Orientierungen unterteilen. Daher gilt: Ist γ geschlossen, so hat die Evolute eine gerade Anzahl von Spitzen.
Abb. 10.3 Orientierung von Spitzen.
Evoluten k¨onnen Spitzen haben, aber keine Wendepunkte. Der Grund hierf¨ur wurde in Vorlesung 8 erl¨autert. Die Normalen einer glatten Kurve definieren eine glatte Kurve in der dualen Ebene, und die Einh¨ullende ist zu dieser glatten Kurve dual. Ein Wendepunkt ist zu einer Spitze dual, also ist die Evolute wendepunktfrei.
Abb. 10.4 Evoluten haben keine Wendepunkte.
10.2 Kaustik, Evoluten, Evolventen und Kr¨ummungskreise
167
Der Leser, dem diese Argumentation zu anspruchsvoll ist, m¨oge einer pragmatischeren Herangehensweise folgen: H¨atte Γ einen Wendepunkt, w¨urde es in irgendeinem Punkt von γ zwei verschiedene nach innen gerichtete Normalen an γ geben (siehe Abbildung 10.4 auf der vorherigen Seite). Kann man aus einer gegebenen Evolute Γ die urspr¨ungliche Kurve rekonstruieren? Mit anderen Worten: Wie konstruiert man eine Evolvente einer Kurve? Die Antwort gibt die folgende Fadenkonstruktion. Wir w¨ahlen einen Punkt y auf Γ und wickeln von y ausgehend einen nicht dehnbaren Faden um Γ . Das freie Ende des Fadens x zeichnet dann eine Evolvente von Γ (siehe Abbildung 10.5).
Abb. 10.5 Die Fadenkonstruktion einer Evolvente.
Beweis der Fadenkonstruktion. Wir m¨ussen uns davon u¨ berzeugen, dass die Geschwindigkeit des Punktes x senkrecht zum Segment zx ist. Physikalisch ist das einleuchtend: Die Radialkomponente der Geschwindigkeit von x w¨urde den Faden dehnen. Der gegen¨uber diesem Argument misstrauische Leser wird wahrscheinlich mit dem folgenden rechnerischen Beweis zufrieden sein. Wir versehen Γ mit der Bogenl¨angen-Parametrisierung Γ (t), so dass y = Γ (0) ist. Die L¨ange des Fadens sei c. Dann ist z(t) = Γ (t) und x(t) = Γ (t) + (c − t)Γ (t). Somit gilt x (t) = Γ (t) − Γ (t) + (c − t)Γ (t) = (c − t)Γ (t), und der Beschleunigungsvektor Γ (t) ist orthogonal zur Geschwindigkeit Γ (t), da t ein Bogenl¨angenparameter ist. 2 Bedenken Sie, dass die Fadenkonstruktion nicht nur eine, sondern eine ganze Schar von einparametrigen Evolventen hervorbringt: Der Parameter ist die L¨ange des Fadens. Je zwei Evolventen sind a¨ quidistant: Ihr Abstand entlang ihrer gemeinsamen Normalen ist konstant. Die Beziehung zwischen Evolventen und Evoluten a¨ hnelt der Beziehung zwischen Funktionen und ihren Ableitungen: Bei der Rekonstruktion einer Funktion aus ihrer Ableitung gibt es eine Integrationskonstante. Die Fadenkonstruktion impliziert folgende Eigenschaft.
168
10 Rund um vier Scheitel
Korollar 10.1. Die L¨ange eines Kreisbogens der Evolute Γ ist gleich der Differenz ihrer tangentialen Segmente an die Evolvente γ , ist also gleich dem Zuwachs der Kr¨ummungsradien von γ . Betrachten wir die Evolute einer ebenen Eikurve. Wir wollen die Konvention u¨ bernehmen, dass sich das Vorzeichen der L¨ange der Evolute nach jeder Spitze a¨ ndert; diese Konvention ist sinnvoll, da die Anzahl der Spitzen gerade ist. Lemma 10.2. Die Gesamtl¨ange der Evolute ist null.
Abb. 10.6 Die Gesamtl¨ange der Evolute ist null.
Beweis. Wir betrachten Abbildung 10.6. Sind die Kr¨ummungsradien r1 , R1 , r2 , R2 , so haben die Kreisb¨ogen der Evolute nach Korollar 10.1 die L¨angen R1 − r1 , R1 − r2 , R2 − r2 und R2 − r1 , und ihre alternierende Summe verschwindet. Der allgemeine Fall ist a¨ hnlich. 2 Die Nulll¨angeneigenschaft impliziert nat¨urlich wieder, dass die Kaustik einer Eikurve Spitzen hat, das ist uns aber kaum neu. Wir betrachten einen Kreisbogen γ mit monoton positiver Kr¨ummung und zeichnen einige Kr¨ummungskreise ein. H¨ochstwahrscheinlich sieht Ihre Zeichnung in etwa wie Abbildung 10.7 aus. Das ist aber falsch! Korrekt muss die Zeichnung wie Abbildung 10.8 auf der n¨achsten Seite aussehen, wie der nachfolgende Satz von Tait-Kneser zeigt.
Abb. 10.7 Ein inkorrektes Bild von Kr¨ummungskreisen.
10.2 Kaustik, Evoluten, Evolventen und Kr¨ummungskreise
169
Abb. 10.8 Dargestellt sind Kr¨ummungskreise s1 , s2 , s3 , s4 an eine Kurve γ . Obwohl die Kreise s1 , s2 , s3 , s4 disjunkt sind, scheinen sie einander zu ber¨uhren. Kein Wunder: Der kleinste Abstand zwischen den Kreisen s1 und s2 ist ungef¨ahr 0.2% des Radius’ von s1 , und der kleinste Abstand zwischen den Kreisen s1 und s4 ist ungef¨ahr 5% des Radius’ von s1 .
Satz 10.1. Die Kr¨ummungskreise eines Kreisbogens mit monoton positiver Kr¨ummung sind verschachtelt. Beweis. Betrachten wir Abbildung 10.9. Die L¨ange des Kreisbogens z1 z2 ist r1 − r2 ; folglich gilt |z1 z2 | ≤ r1 − r2 . Deshalb enth¨alt der Kreis mit dem Mittelpunkt z1 und dem Radius r1 den Kreis mit dem Mittelpunkt z2 und dem Radius r2 . 2
Abb. 10.9 Beweis von Satz 10.1.
170
10 Rund um vier Scheitel
Abb. 10.10 Ein Kreisring gef¨ullt mit disjunkten Kr¨ummungskreisen.
Betrachten wir Abbildung 10.10 mit einer Spirale γ und einer einparametrigen Schar ihrer Kr¨ummungskreise. Die Kreise sind disjunkt und ihre Vereinigung ist ein Kreisring.4 Diese Abbildung ist ziemlich erstaunlich (obwohl das auf den ersten Blick nicht offensichtlich sein mag)! Erstens zeigt Abbildung 10.10 sechzehn Kreise; die Kurve, die sich zwischen den Kreisen zu schl¨angeln“ scheint, ist nicht gezeichnet – Sie erkennen sie aber ” deutlich als Einh¨ullende der Kreise. Zweitens ist die Unterteilung des Kreisrings in disjunkte Kreise ziemlich paradox, und zwar im folgenden Sinne. Proposition 10.1. Ist eine differenzierbare Funktion im Kreisring auf jedem Kreis konstant, so ist es eine konstante Funktion.5 Wenn Sie als Leser dar¨uber nachdenken, was diese Proposition aussagt, kommen Sie vermutlich zu dem Schluss, dass das nicht stimmen kann. Es gibt zum Beispiel eine offenbar nicht konstante Funktion auf dem Kreisring, die jedem Punkt den Radius des Kreises zuordnet, der durch diesen Punkt verl¨auft. Diese Funktion ist auf den Kreisen eindeutig konstant, auf dem Kreisring ist sie es nicht. Diese Funktion ist so nat¨urlich, dass es schwer f¨allt zu glauben, dass sie nicht differenzierbar ist. Aber das sie ist wirklich nicht! Beweis. Ist eine Funktion f auf den Kreisen konstant, so verschwindet ihr Differential auf den Tangentialvektoren an diesen Kreisen. Da die Kurve γ in jedem Punkt zu einem der Kreise tangential ist, verschwindet das Differential d f auf γ . Folglich ist f auf γ konstant. Die Kurve γ schneidet aber alle Kreise, die den Kreisring bilden, somit ist f u¨ berall konstant. 2 Anmerkung 10.1. Die meisten Mathematiker sind zu der Ansicht gelangt, dass solche Dinge wie nichtdifferenzierbare Funktionen im echten Leben“ nicht vorkom” men; sie werden als Gegenbeispiele zu waghalsigen Formulierungen mathematischer S¨atze erfunden und geh¨oren in B¨ucher mit solchen Titeln wie Gegenbeispiele ” 4
In der Fachsprache ausgedr¨uckt: Der Kreisring ist durch Kreise gebl¨attert. In der Fachsprache ausgedr¨uckt: Die Bl¨atterung ist nicht differenzierbar – obwohl ihre Bl¨atter perfekte Kreise sind. 5
10.3 Der Beweis des Vierscheitelsatzes
171
in der Analysis“ oder Gegenbeispiele in der Topologie“. Proposition 10.1 auf der ” vorherigen Seite liefert ein vollkommen nat¨urliches Beispiel einer solchen Situation, und es gibt dabei u¨ berhaupt nichts K¨unstliches.
10.3 Der Beweis des Vierscheitelsatzes Eine ebene Eikurve γ kann durch ihre St¨utzfunktion beschrieben werden. Wir w¨ahlen einen Ursprung O, der vorzugsweise innerhalb von γ liegt. Die Orientierung von φ sei gegeben. Wir betrachten die Tangente an γ , die senkrecht auf dieser Orientierung steht. Mit p(φ ) bezeichnen wir den Abstand dieser Tangente vom Ursprung (siehe Abbildung 10.11). Liegt der Ursprung außerhalb der Eikurve, so ist der Abstand vorzeichenbehaftet.
Abb. 10.11 Die St¨utzfunktion einer Eikurve.
Die St¨utzfunktion bestimmt die Tangentenschar an γ eindeutig, und daher die Kurve selbst als die Einh¨ullende dieser Schar. Alle interessanten Eigenschaften von γ , wie etwa der Umfang oder der Fl¨acheninhalt der von ihr umschlossenen Fl¨ache, lassen sich mithilfe von p(φ ) ausdr¨ucken, diese Formeln brauchen wir aber nicht. Wissen m¨ussen wir, wie die St¨utzfunktion von der Wahl des Ursprungs abh¨angt. Sei O = O + (a, b) ein anderer Ursprung. Lemma 10.3. Die neue St¨utzfunktion ist durch die folgende Formel gegeben p = p − a cos φ − b sin φ .
(10.1)
Beweis. Jede Parallelverschiebung l¨asst sich in eine Verschiebung in Richtung von φ und eine Verschiebung in die orthogonale Richtung zerlegen. Bei einem Verschiebungsabstand r in die erstgenannte Richtung ist a = r cos φ , b = r sin φ , und (10.1) ergibt p = p − r, wie gefordert. Bei einer Verschiebung in die orthogonale Richtung ist a = −r sin φ , b = r cos φ , und (10.1) ergibt p = p, wie gefordert. 2
172
10 Rund um vier Scheitel
Was sind die St¨utzfunktionen von Kreisen? Ist ein Kreis um den Ursprung zentriert, so ist seine St¨utzfunktion konstant. Nach dem vorangegangenen Lemma sind die St¨utzfunktionen von Kreisen lineare Schwingungen, n¨amlich die Funktionen p(φ ) = c + a cos φ + b sin φ . Wir k¨onnen jetzt Scheitel hinsichtlich der St¨utzfunktion charakterisieren. Lemma 10.4. Die Scheitel einer Kurve entsprechen den Werten von φ , f¨ur die gilt p (φ ) + p (φ ) = 0 .
(10.2)
Beweis. Scheitel sind die Punkte, an denen die Kurve Kontakte dritter Ordnung mit einem Kreis hat. Hinsichtlich der St¨utzfunktionen bedeutet das, dass p(φ ) mit a cos φ + b sin φ + c bis zur dritten Ableitung identisch ist. Es bleibt zu beachten, dass lineare Schwingungen (10.2) identisch erf¨ullen. 2 Somit k¨onnen wir den Vierscheitelsatz wie folgt umformulieren. Satz 10.2. Sei p(φ ) eine glatte 2π -periodische Funktion. Dann hat die Gleichung p (φ ) + p (φ ) = 0 mindestens vier verschiedene Nullstellen. Beweis. Eine Funktion auf dem Kreis hat eine gerade Anzahl von Vorzeichenwechseln. Der Mittelwert der Funktion f = p + p ist null, da sie die Ableitung von p + p ist; somit hat f mindestens zwei Vorzeichenwechsel. Nehmen wir an, dass f genau zwei Vorzeichenwechsel hat, und zwar an den Punkten φ = α und φ = β . Man kann die Konstanten a, b, c so bestimmen, dass die lineare Schwingung g(φ ) = c + a cos φ + b sin φ genau an denselben Punkten α und β Vorzeichenwechsel hat, und dass f und g u¨ berall dieselben Vorzeichen haben. Nehmen wir etwa β −α β +α − cos φ − . ±g(φ ) = cos 2 2 Dann ist # 2π 0
f (φ )g(φ ) d φ > 0.
Andererseits ergibt sich durch partielle Integration # 2π 0
(p + p )g d φ = − =−
# 2π 0
# 2π 0
(p + p)g d φ =
# 2π 0
p(g + g )d φ = 0 ,
da g + g = 0 ist. Dies ist ein Widerspruch. 2
(p g − pg ) d φ
10.4 Zwei andere Beweise
173
Anmerkung 10.2. Satz 10.2 hat Verallgemeinerungen. Eine glatte 2π -periodische Funktion hat eine Fourier-Entwicklung f (φ ) =
∑ (ak cos kφ + bk sin kφ ) .
k≥0
Die Fourier-Reihe der Funktion f = p + p enth¨alt keine linearen Schwingungen. Der Satz von Sturm-Hurwitz besagt: Beginnt die Fourier-Entwicklung einer Funktion mit n-ten Schwingungen (in der obigen Summe also k ≥ n), so hat diese Funktion mindestens 2n verschiedene Nullstellen auf dem Kreis [0, 2π ). Der obige Beweis l¨asst sich auf diese allgemeinere Situation u¨ bertragen. Andere Beweise sind eben¨ falls bekannt (siehe beispielsweise [57] und Ubung 10.6 auf Seite 181).
10.4 Zwei andere Beweise Wie fast jedes gute mathematische Resultat hat der Vierscheitelsatz eine Reihe verschiedener Beweise. In diesem Abschnitt zeigen wir zwei geometrische Beweise. Wir kennen viele andere Beweise, die verschiedene Ideen verfolgen und in verschiedene Richtungen verallgemeinern; man w¨are in großer Bedr¨angnis, m¨usste man den einen Beweis aus dem Buch der Beweise“ 6 f¨ur den Vierscheitelsatz ausw¨ahlen. ” Erster Beweis ([79]) Wir betrachten die Evolute Γ einer Eikurve γ . Nach Lemma 10.2 auf Seite 168 ist die L¨ange von Γ null, und folglich hat sie mindestens zwei Spitzen. Wir nehmen an, dass die (gerade) Anzahl der Spitzen genau zwei ist. In der Ebene sei ein Punkt x gegeben. Sei n(x) die Anzahl der Normalen an γ durch diesen Punkt. Mit anderen Worten: n(x) ist die Anzahl der Tangenten von x zu Γ . Diese Funktion ist im Komplement der Evolute lokal konstant. Kreuzt x die Evolute Γ von der konkaven zur konvexen Seite, erh¨oht sich der Wert von n(x) um 2 (siehe Abbildung 10.12).
Abb. 10.12 Die Anzahl der Tangenten an eine Kurve.
F¨ur jeden Punkt x hat der Abstand zu γ ein Minimum und ein Maximum. Daher gibt es mindestens zwei Senkrechten von x zur Eikurve, und daher ist n(x) ≥ 2 f¨ur jedes x. Da sich die Normalen in γ monoton drehen und eine vollst¨andige Drehung ausf¨uhren, gilt n(x) = 2 f¨ur alle Punkte x, die hinreichend weit von der Eikurve entfernt sind. 6
Paul Erd¨os verwies immer auf Das Buch“, in dem Gott die elegantesten Beweise mathematischer ” S¨atze aufbewahrt (siehe [2]).
174
10 Rund um vier Scheitel
Abb. 10.13 Beweis des Vierscheitelsatzes.
Betrachten wir die Gerade durch zwei Spitzen der Evolute; nehmen wir an, dass sie horizontal ist (siehe Abbildung 10.13). Dann nimmt die H¨ohenfunktion, auf Γ beschr¨ankt, weder ein Minimum noch ein Maximum noch beides in einer Spitze an. Angenommen, es w¨are ein Maximum (wie in Abbildung 10.13); durch dieses zeichnen wir die Horizontale l. Da die Evolute unterhalb dieser Geraden liegt, ist u¨ ber ihr n(x) = 2. Unmittelbar unter l ist deshalb n(x) = 0. Das ist ein Widerspruch, was den Vierscheitelsatz beweist. 2 Skizze des zweiten Beweises. Dieser Beweis folgt den Gedanken des ber¨uhmten franz¨osischen Mathematikers R. Thom. Es ist eine wirklich sch¨one Argumentation! Betrachten wir zu jedem Punkt x im Innern der Eikurve γ den ihm am n¨achsten liegenden Punkt y auf der Eikurve. Nat¨urlich ist der n¨achste Punkt f¨ur einige Punkte nicht eindeutig bestimmt. Die Ortslinie solcher Punkte wird als Symmetriemenge bezeichnet; nennen wir sie Δ . Bei einen Kreis ist Δ zum Beispiel sein Mittelpunkt, und bei einer Ellipse ist Δ die Strecke zwischen den beiden Brennpunkten. Bei einer gew¨ohnliche Eikurve ist Δ ein Graph (mit gekr¨ummten Kanten) und seine Scheitel erster Ordnung sind die Mittelpunkte der lokalen Maximalkr¨ummung von γ (siehe Abbildung 10.14 auf der n¨achsten Seite). Die letzte Behauptung erfordert eine Erkl¨arung. Klar ist, dass die Scheitel erster Ordnung die Mittelpunkte extremaler Kr¨ummung sind (wo in Abbildung 10.14 auf der n¨achsten Seite zwei mit y bezeichnete Punkte zusammenfallen). Aber warum sind es nicht Mittelpunkte minimaler Kr¨ummung? Das liegt daran, dass ein Kr¨ummungskreis mit minimaler Kr¨ummung lokal außerhalb der Kurve γ liegt. Daher ist der Abstand zwischen dem Mittelpunkt eines solchen Kreises und der Kurve kleiner als der Radius des Kreises, und folglich geh¨ort sein Mittelpunkt nicht zur Symmetriemenge Δ .
10.5 Verschiedene andere Resultate
175
Abb. 10.14 Die Symmetriemenge einer Eikurve.
Streichen wir die Symmetriemenge aus dem Inneren von γ . Was u¨ brig bleibt, kann stetig zu der begrenzenden Eikurve verformt werden, indem jeder Punkt x zum n¨achsten Punkt y bewegt wird. Folglich ist das Komplement von Δ ein Kreisring, und Δ hat deshalb keine Schleifen (und besteht aus nur einer Komponente). Somit ist Δ ein Baum, der notwendigerweise mindestens zwei Scheitel erster Ordnung besitzt. Daraus folgt, dass die Kr¨ummung der Eikurve mindestens zwei lokale Maxima hat, und wir sind fertig. 2
10.5 Verschiedene andere Resultate Seit seiner Entdeckung vor etwa einem Jahrhundert ziehen der Vierscheitelsatz und seine zahlreichen Verallgemeinerungen die Aufmerksamkeit der Mathematiker auf sich. In diesem letzten Abschnitt beschreiben wir, ohne Beweise, einige Resultate rund um vier Scheitel (siehe zum Beispiel [57]). Ein Weg, den Vierscheitelsatz zu verallgemeinern, ist, eine glatte ebene Kurve nicht durch ihre Kr¨ummungskreise zu approximieren, sondern durch andere Kurvenarten wie etwa Kegelschnitte. Es gibt einen eindeutig bestimmten Kegelschnitt durch alle beliebigen f¨unf Punkte in der Ebene. W¨ahlt man diese Punkte so, dass sie unendlich nah auf einer Eikurve liegen, erh¨alt man ihren Kr¨ummungskegel. Genau wie ein Kr¨ummungskreis kann dieser Kegel hyperoskulieren: Ein solcher Punkt auf der Kurve heißt sextaktisch (oder aus Gr¨unden, die wir hier nicht diskutieren werden, affiner Scheitel). Was ist die minimale Anzahl sextaktischer Punkte einer ebenen Eikurve? Die Antwort lautet sechs, und das wurde von Mukhopadhyaya 1909 in einem Artikel bewiesen. Man kann eine Kurve auch durch ihre Tangenten approximieren. Dann interessieren wir uns f¨ur Wendepunkte, das sind die Punkte, an denen die Tangente eine Tangente zweiter Ordnung an die Kurve ist. Nat¨urlich hat eine Eikurve keine Wendepunkte. Betrachten wir jedoch eine einfache geschlossene Kurve in der projektiven Ebene. Wie wir aus Vorlesung 8 wissen, ergibt sich die projektive Ebene da-
176
10 Rund um vier Scheitel
durch, dass wir Antipoden, also Punktepaare der Sph¨are, die an beiden Enden eines Durchmessers liegen, verkleben“. In der projektiven Ebene kann eine geschlossene ” Kurve auf der Sph¨are entweder als geschlossene Kurve oder als Kurve, deren Endpunkte Antipoden sind, gezeichnet werden. Und ein Wendepunkt ist ihre entartete Ber¨uhrung mit einem Großkreis. Nehmen wir an, dass unsere Kurve zum letztgenannten Typ geh¨ort, ihre Endpunkte also entgegengesetzt sind. Nach dem Satz von M¨obius (1852) hat die Kurve dann mindestens drei Wendepunkte. Sehen Sie sich dazu Abbildung 10.15 an. Dort ist die Sph¨are von ihrem Mittelpunkt aus auf eine Ebene projiziert, sodass die Kurven ins Unendliche zu verschwinden scheinen. Die Abbildung zeigt eine einfache Kurve mit drei Wendepunkten und eine sich schneidende Kurve mit nur einem Wendepunkt.
Abb. 10.15 Wendepunkte einer Kurve in der projektiven Ebene.
¨ Ubrigens gibt es ein wesentlich aktuelleres Resultat zu sph¨arischen Kurven. Wir nehmen an, dass eine glatte geschlossene einfache Kurve die Fl¨ache der Sph¨are halbiert. Dann hat sie mindestens vier Wendepunkte. Dieses Resultat, das nach V. Arnold Tennisballsatz“ 7 heißt, wurde von B. Segre (1968) entdeckt und von Arnold ” Ende der 1980er Jahre wiederentdeckt. Man kann eine glatte Kurve auch durch eine kubische Kurve approximieren. Eine algebraische Kurve dritten Grades ist durch neun ihrer Punkte bestimmt, und der Kr¨ummungsraum einer glatten Kurve verl¨auft durch neun unendlich nah liegende Punkte. Ein Raum hyperoskuliert, wenn er durch zehn solcher Punkte verl¨auft, und der entsprechende Punkt der Kurve heißt 3-extaktisch (in dieser etwas sperrigen Terminologie, 2-extaktisch = sextaktisch und 1-extaktisch = Wendepunkt). 7
Jeder Tennisball hat eine deutlich sichtbare Kurve auf seiner Oberfl¨ache, die genau vier Wendepunkte hat.
10.5 Verschiedene andere Resultate
177
Abb. 10.16 Kubische Kurven.
Eine typische kubische Kurve sieht wie eine der Kurven aus Abbildung 10.16 aus; im letzteren Fall ist ihre begrenzte Komponente eine Eikurve. Vor kurzem entdeckte V. Arnold den folgenden Satz: Eine glatte Kurve, die sich aus einer kleinen St¨orung der Eikurve einer kubischen Kurve ergibt, hat mindestens zehn 3extaktische Punkte. Es ist verlockend, weiter zu machen, indem man den Grad der approximierenden algebraischen Kurve erh¨oht, aber unseres Wissens liegen keine weiteren Resultate in dieser Richtung vor. Anfang der 1990er Jahre entdeckte E. Ghys den folgenden sch¨onen Satz. Die reelle projektive Gerade ergibt sich aus der reellen Geraden, indem man den unend” lich fernen“ Punkt hinzunimmt. Diese Erweiterung hat klare Vorteile. Zum Beispiel ist eine gebrochen lineare Funktion f (x) =
ax + b , cx + d
ad − bc = 0
keine wohl-definierte Funktion der reellen Variablen: Ist x = −d/c, so gilt f (x) = ∞; f erlangt aber den Status einer wohl-definierten und invertierbaren Funktion durch die reelle projektive Geraden zu sich selbst zur¨uck ( f (∞) = a/c). Sei f (x) eine glatte invertierbare Funktion von der reellen projektiven Geraden zu sich selbst. An jedem Punkt x kann man eine gebrochen lineare Funktion bestimmen, deren Funktionswert sowie deren erste und zweite Ableitungen mit denen von f am Punkt x u¨ bereinstimmen. Es ist nat¨urlich, diese Funktion als oskulierende gebrochen lineare Funktion zu bezeichnen. Eine gebrochen lineare Funktion hyperoskuliert in x, wenn dort auch ihre dritte Ableitung gleich f (x) ist. Wie viele hyperoskulierende gebrochen lineare Funktionen gibt es f¨ur eine beliebige Funktion f ? Nach dem Satz von Ghys sind es mindestens vier. Hinsichtlich der Funktion f sind diese Punkte die Nullstellen eines recht furchterregenden Ausdrucks f (x) 3 − f (x) 2
f (x) f (x)
2 ,
der als schwarzsche Ableitung von f bezeichnet wird.
178
10 Rund um vier Scheitel
Eine Erweiterung des Vierscheitelsatzes in eine andere Richtung ist, die glatte Kurve durch ein Polygon zu ersetzen. Diese Diskretisierung kann auf verschiedenen Wegen erfolgen, was auf unterschiedliche Resultate f¨uhrt. Wir erw¨ahnen nur eines davon, wahrscheinlich das a¨ lteste. Das ist das Lemma von Cauchy (1813), das in Cauchys ber¨uhmtem Beweis der Starrheit konvexer Polyeder eine zentrale Rolle spielt, der in Vorlesung 24 behandelt wird: Sind zwei konvexe Polygone gegeben, deren einzelne Seiten kongruent sind, so hat die zyklische Folge der Differenzen ihrer einzelnen Winkel mindestens vier Vorzeichenwechsel.
zul¨assig
unzul¨assig
Abb. 10.17 Positive und negative Eigentangenten.
Zum Schluss kommen wir auf Scheitelpunkte zur¨uck. Es ist seit langem bekannt, dass der Vierscheitelsatz auch f¨ur nichtkonvexe einfache geschlossene Kurven gilt. V. Arnold vermutete, dass man ihn noch viel st¨arker verallgemeinern k¨onne. Ausgehend von einer Eikurve k¨onnte man die Kurve glatt verformen und sie sich sogar selbst schneiden lassen; verboten ist nur der Fall, in dem sich die Kurve so selbst ber¨uhrt, dass die sich ber¨uhrenden St¨ucke dieselbe Orientierung haben (siehe Abbildung 10.17). Nach Arnolds Vermutung gilt der Vierscheitelsatz f¨ur jede Kurve, die sich aus einer Eikurve als Resultat einer solchen Verformung ergibt. Abbildung 10.18 zeigt ein Beispiel.
Abb. 10.18 Eine zul¨assige Verformung einer Eikurve.
Vor kurzem bewiesen Yu. Chekanov und P. Pushkar diese Vermutung mithilfe ¨ von Uberlegungen aus der modernen symplektischen Topologie und Knotentheorie [15].
´ c Etienne Ghys
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
179
c Svetlana Tretyakova
10.5 Verschiedene andere Resultate
Adolf Kneser 1862–1930
c Calcutta Mathematical Society
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
´ Etienne Ghys geboren 1954
Vladimir Arnold 1937–2010
Beniamino Segre 1903–1977
Peter Guthrie Tait 1831–1901
Ren´e Thom 1923–2002
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
Syamadas Mukhopadhyaya 1866–1937
180
10 Rund um vier Scheitel
¨ 10.6 Ubungen ¨ Ubung 10.1. (a) Zeichnen Sie Evolventen einer kubischen Parabel. (b) Zeichnen Sie Evolventen der Kurve aus Abbildung 10.19.
Abb. 10.19
¨ Ubung 10.2. Eine Zykloide ist die Kurve, die von einem Kreispunkt durchlaufen wird, der ohne zu gleiten eine Horizontale entlang rollt. Beschreiben Sie die Evolute einer Zykloide. ¨ Ubung 10.3. Berechnen Sie die Kr¨ummung einer semikubischen Parabel an der Spitze. ¨ Ubung 10.4. (a) Dr¨ucken Sie Umfang und Fl¨ache einer Eikurve durch ihre Tr¨agerfunktion aus. (b) Parametrisieren Sie eine Eikurve γ durch den Winkel φ , den ihre Tangente mit einer festgelegten Richtung bildet. Ihre St¨utzfunktion sei p(φ ). Beweisen Sie
γ (φ ) = (p(φ ) sin φ + p (φ ) cos φ , −p(φ ) cos φ + p (φ ) sin φ ) . (c) Zeigen Sie, dass der Kr¨ummungsradius von γ (φ ) gleich p (φ ) + p(φ ) ist. ¨ Ubung 10.5. Sei f eine glatte Funktion einer reellen Variablen. Das oskulierende (Taylor) Polynom gt (x) n-ten Grades der Funktion f (x) im Punkt t ist das Polynom, dessen Wert und dessen Werte ihrer ersten n Ableitungen im Punkt t mit denen von f u¨ bereinstimmen: n
gt (x) = ∑
i=0
f (i) (t) (x − t)i . i!
Nehmen Sie an, dass n gerade ist und f (n+1) (t) = 0 auf einem (m¨oglicherweise unendlichem) Intervall I gilt. Beweisen Sie, dass f¨ur alle voneinander verschiedenen a und b aus dem Intervall I, die Graphen der oskulierenden Polynome ga (x) und gb (x) disjunkt sind. Kommentar: Dieser Satz a¨ hnelt stark dem Satz 10.1 von Tait und Kneser.
¨ 10.6 Ubungen
181
¨ Ubung 10.6. * Betrachten Sie das trigonometrische Polynom f (x) = ak cos kx + bk sin kx + ak+1 cos(k + 1)x + bk+1 sin(k + 1)x + · · · + an cos nx + bn sin nx mit k < n. Beweisen Sie, dass f auf dem Kreis [0, 2π ] mindestens 2k Nullstellen hat. Hinweis: Sei I die inverse Ableitung einer periodischen Funktion, wobei die Integrationskonstante so gew¨ahlt ist, dass der Mittelwert der Funktion null ist. Bezeichnen Sie die Anzahl der Vorzeichenwechsel der Funktion f mit Z( f ). Dann ist nach dem Satz von Rolle Z( f ) ≥ Z(I( f )). Iterieren Sie die Ungleichung viele Male und untersuchen Sie, wie sich f unter der Wirkung von I a¨ ndert.
Vorlesung 11
Segmente gleicher Fl¨achen
11.1 Das Problem Die Botschaft“ aus Vorlesung 9 war, dass Spitzen allgegenw¨artig sind: Jede allge” meine einparametrige Kurvenschar hat eine Einh¨ullende, und diese Einh¨ullende besitzt gew¨ohnlich Spitzen. Diese Vorlesung ist eine Fallstudie: Wir untersuchen eine konkrete Geradenschar in der Ebene ausf¨uhrlich. Sei γ eine geschlossene konvexe ebene Kurve. Legen wir eine Zahl 0 ≤ t ≤ 1 fest. Wir betrachten die Schar orientierter Geraden, die die Fl¨ache innerhalb von γ im Verh¨altnis t : (1 − t) teilen, den t-ten Teil links und den (1 − t)-ten rechts der Geraden. Diese einparametrige Geradenschar hat eine Einh¨ullende, die Kurve Γt . Machen wir eine unmittelbare Beobachtung: Die Kurven Γt und Γ1−t stimmen u¨ berein. Daher k¨onnen wir uns auf 0 ≤ t ≤ 1/2 beschr¨anken. Die Kurven Γt sind unsere wesentlichen Untersuchungsgegenst¨ande.
11.2 Ein Beispiel Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel (das einigen Lesern noch aus der Sekundarschule vertraut sein k¨onnte1 ). Wir betrachten die Geradenschar, die von einem ebenen Keil eine bestimmte Fl¨ache A abschneidet. Sei Γ die Einh¨ullende dieser Geradenschar. 1
Dies ist zugegebenermaßen eine mehr als optimistische Behauptung. D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 11,
183
184
11 Segmente gleicher Fl¨achen
Satz 11.1. Die Kurve Γ ist eine Hyperbel. Beweis. F¨uhren wir eine fl¨achentreue lineare Transformation aus, die den gegebenen Keil in einen rechten Winkel u¨ berf¨uhrt. Wir betrachten die Seiten des Winkels als die Koordinatenachsen. Es reicht aus, den Satz in diesem Fall zu beweisen. Sei f (x) eine differenzierbare Funktion. Die Tangente an den Graph y = f (x) im Punkt (a, f (a)) hat die Gleichung y = f (a)(x − a) + f (a). Die Schnittpunkte dieser Geraden mit der x- und der y-Achse sind a−
f (a) f (a)
und
f (a) − a f (a).
Betrachten wir die Hyperbel y = c/x. In diesem Fall schneidet die Tangente im Punkt (a, c/a) die x-Achse bei 2a und die y-Achse bei 2c/a. Der Fl¨acheninhalt des von den Koordinatenachsen und dieser Tangente eingeschlossenen Dreicks ist daher 2c, er ist also konstant. Das beweist, dass Tangenten an eine Hyperbel vom Koordinatenkreuz“ Dreie” cke mit konstantem Fl¨acheninhalt abschneiden. Formell ist das noch nicht die Behauptung des Satzes. Um den Beweis abzuschließen, w¨ahlen wir die Konstante c in der Gleichung der Hyperbel y = c/x so, dass besagter Fl¨acheninhalt gleich A ist. Dann ist diese Hyperbel die Kurve Γ aus der Formulierung des Satzes, n¨amlich die Einh¨ullende der Geraden, die Dreiecke mit dem Fl¨acheninhalt A vom Koordinatenkreuz abschneiden. 2
¨ 11.3 Die Einhullende der Segmente gleicher Fl¨achen ist die Ortslinie ihrer Mittelpunkte ¨ Die Uberschrift dieses Abschnitts ist die Formulierung eines Satzes. Der Satz besagt, dass die Kurve Γt tangential zu den Segmenten ist, die t-te Teile der Gesamtfl¨ache in ihren Mittelpunkten abschneiden.
Abb. 11.1 Beweis, dass die Einh¨ullende von Segmenten gleicher Fl¨achen die Ortslinie ihrer Mittelpunkte ist.
11.3 Die Einh¨ullende der Segmente gleicher Fl¨achen
185
Beweis des Satzes. Betrachten wir Abbildung 11.1 auf der vorherigen Seite. Seien AB und A B zwei benachbarte Segmente aus unserer Schar, und sei ε der von ihnen eingeschlossene Winkel. Da beide Segmente aus der Kurve γ Segmente mit gleichem Fl¨acheninhalt abschneiden, sind die Fl¨acheninhalte der Sektoren AOA und BOB gleich. Die Fl¨acheninhalte dieser Sektoren sind ungef¨ahr (1/2)|AO|2 ε und (1/2)|BO|2 ε mit einem Fehler von der Ordnung ε 2 . Daher geht |AO| − |BO| f¨ur ε → 0 gegen null. 2 Als Anwendung wollen wir folgendes Problem l¨osen: Gegeben seien zwei ineinander verschachtelte Eikurven. Gibt es eine Sehne der a¨ ußeren Eikurve, die zur inneren Eikurve tangential ist und durch den Ber¨uhrungspunkt halbiert wird (siehe Abbildung 11.2)? So einfach es klingt, ist dieses Problem doch nicht leicht zu l¨osen, wenn man nicht den eben genannten Satz verwendet.
Abb. 11.2 Das Problem der zwei Eikurven.
L¨osung des Problems. Sei die Tangente an die innere Kurve, die von der a¨ ußeren Kurve die kleinste Fl¨ache abschneidet. Den Fl¨acheninhalt dieser Fl¨ache bezeichnen wir mit S. Wir betrachten zwei benachbarte Segmente und , die die Fl¨ache mit dem Fl¨acheninhalt S von der a¨ ußeren Eikurve abschneiden. Sei A der Ber¨uhrungspunkt von mit der inneren Eikurve, und seien B und C die Schnittpunkte von mit und (siehe Abbildung 11.3).
Abb. 11.3 L¨osung des Problems der zwei Eikurven.
186
11 Segmente gleicher Fl¨achen
Da S die Minimalfl¨ache ist, enthalten die Segmente und keine Punkte aus dem Innern der inneren Eikurve. Daher liegt der Punkt A zwischen B und C. Da und gegen gehen, gehen die Punkte B und C im Limes ε → 0 gegen A. Somit ist A der Ber¨uhrungspunkt des Segments mit der Einh¨ullenden der Segmente, die von der a¨ ußeren Eikurve die Fl¨achen mit dem Fl¨acheninhalt S abschneiden. Nach dem eben genannten Satz halbiert A das Segment . Nat¨urlich kann man diese Argumentation wiederholen und dabei die Minimalfl¨ache durch die Maximalfl¨ache ersetzen. Als Resultat ergibt sich, dass es mindestens zwei Sehnen gibt, welche die innere Eikurve an ihren Mittelpunkten ber¨uhren.
11.4 Exkurs: Außenbillard Auf nat¨urliche Weise kommt man zur Definition eines interessanten dynamischen Systems, das als Außenbillard (oder duales Billard) bezeichnet wird. Im Gegensatz zu gew¨ohnlichem Billard, das in Vorlesung 28 auf Seite 437 diskutiert wird, spielt man Außenbillard außerhalb des Billardtischs. Sei C eine ebene Eikurve. Ausgehend von einem Punkt x außerhalb von C, gibt es zwei Tangenten an C. W¨ahlen wir die von x gesehen rechte aus und spiegeln x am Ber¨uhrungspunkt. Wir erhalten einen neuen Punkt y, und die Abbildung von x in y ist die Außenbillardabbildung (siehe Abbildung 11.4).
Abb. 11.4 Außenbillardabbildung.
Es gibt viele interessante Dinge u¨ ber Außenbillards zu sagen (siehe [23, 78, 83] ¨ f¨ur Ubersichten). Wir werden lediglich einige grundlegende Eigenschaften von Außenbillards behandeln. Satz 11.2. F¨ur jede Eikurve C ist die Außenbillardabbildung fl¨achentreu. Beweis. Betrachten wir zwei benachbarte Tangenten an die Kurve C. Auf diesen Geraden suchen wir die Punkte x1 , x2 und x1 , x2 . Es seien y1 , y2 , y1 , y2 deren Bilder unter der Außenbillardabbildung (siehe Abbildung 11.5 auf der n¨achsten Seite). Die Außenbillardabbildung u¨ berf¨uhrt das Viereck x1 x2 x2 x1 in das Viereck y1 y2 y2 y1 . Bezeichnen wir den Schnittpunkt der Geraden mit O, und sei ε der Winkel zwischen ihnen. Argumentieren wir wie in Abschnitt 11.3, so sind die Fl¨acheninhalte der Dreiecke x1 Ox1 und y1 Oy1 bis auf einen Fehler von der Ordnung ε 2 gleich. Dasselbe gilt f¨ur die Dreiecke x2 Ox2 und y2 Oy2 . Somit sind die Fl¨achen der Vierecke
11.5 Was die Einh¨ullende hat und was nicht
187
Abb. 11.5 Eigenschaft der Fl¨achentreue von Außenbillards.
x1 x2 x2 x1 und y1 y2 y2 y1 bis auf einen Fehler derselben Ordnung gleich. Im Limes ε → 0 erhalten wir die Eigenschaft der Fl¨achentreue. 2 Hier ist eine andere Frage zu Außenbillards. Gegeben sei eine ebene Eikurve C. Gibt es ein n-Eck, das C umschrieben ist, dessen Seiten von den Ber¨uhrungspunkten halbiert werden? Ein solches Polygon entspricht einem n-periodischen Orbit des Außenbillards von C. Die Antwort auf diese Frage lautet Ja“. Betrachten wir tats¨achlich das um” schriebene n-Eck mit miminalem Fl¨acheninhalt. Argumentieren wir dann wie bei der L¨osung des Problems aus Abschnitt 11.3, so wird jede Seite dieses Polygons von seinen Ber¨uhrungspunkten mit C halbiert. Das gleiche Argument gilt f¨ur sternenf¨ormige n-Ecke (siehe Abbildung 11.6 mit drei Arten von Siebenecken).2
Abb. 11.6 Drei Arten umschriebener Siebenecke.
¨ 11.5 Was die Einhullende hat und was nicht Die Einh¨ullenden Γt haben keine Doppeltangenten und Wendepunkte. Hat eine Kurve tats¨achlich eine Doppeltangente oder einen Wendepunkt, so hat sie nah beieinanTats¨achlich gibt es f¨ur jedes n ≥ 3 und jedes 1 ≤ r ≤ n/2, wobei r teilerfremd mit n ist, mindestens zwei umschriebene n-Ecke mit r Uml¨aufen um die Eikurve C, deren Seiten von den Ber¨uhrungspunkten halbiert werden (siehe [78, 83]). 2
188
11 Segmente gleicher Fl¨achen
Abb. 11.7 Die Einh¨ullende hat keine Doppeltangenten.
der liegende parallele Tangenten (siehe Abbildung 11.7), und diese parallelen Tangenten k¨onnen nicht die gleichen Fl¨achen von der Kurve γ abschneiden. Was die Einh¨ullenden von Abschnitten gleicher Fl¨achen haben k¨onnen, sind Spitzen. Der folgende Satz sagt uns, wann Γt eine Spitze hat. Nehmen wir an, dass γ eine Eikurve ist. Satz 11.3. Ist der Mittelpunkt einer Sehne AB der Kurve γ eine Spitze der Einh¨ullenden von Segmenten gleicher Fl¨achen, so sind die Tangenten an γ in den Punkten A und B parallel. Beweis. Sei O der Mittelpunkt von AB. Da O eine Spitze der Einh¨ullenden von Segmenten gleicher Fl¨achen ist, bewegt sich der Punkt O nicht, seine Geschwindigkeit ist also null. Die unmittelbare Bewegung der Geraden AB ist eine Drehung um den Punkt O. Da O der Mittelpunkt des Segments AB ist, sind die Geschwindigkeitsvektoren der Punkte A und B symmetrisch in Bezug auf Punkt O, und somit sind die Tangenten an γ in den Punkten A und B parallel. 2 Nehmen wir an, die Tangenten an γ in den Punkten A und B sind parallel. Um das Verhalten der Einh¨ullenden von Segmenten gleicher Fl¨achen Γt zu beschreiben, brauchen wir zus¨atzliche Angaben u¨ ber die Kr¨ummung der Kurve γ in den Punkten A und B. Nehmen wir an, die Kr¨ummung in B ist gr¨oßer. Satz 11.4. Die Einh¨ullende Γt hat eine Spitze, die in Richtung B zeigt. Beweis. Betrachten wir den linken Teil von Abbildung 11.8 auf der n¨achsten Seite: γ1 und γ2 sind Teile der Kurve γ in der N¨ahe der Punkte A und B; O ist der Mittelpunkt des Segments AB; und γ¯1 ist symmetrisch zu γ1 bez¨uglich O. Wir zeichnen eine Sehne C D durch Punkt O, nahe AB. Da die Kr¨ummung von γ2 gr¨oßer als die von γ1 ist, ist der Fl¨acheninhalt des Sektors AOC gr¨oßer als der von BOD (er ist gleich dem Fl¨acheninhalt des Sektors BOM, der symmetrisch zu AOC ist). Daher liegt das Segment CD, das die Fl¨ache von γ im gleichen Verh¨altnis teilt wie AB, rechts von C D . Der Mittelpunkt von CD ist nahe Punkt O , dem Schnitt¨ punkt der Segmente AB und CD. Ahnliche Beobachtungen k¨onnen in Bezug auf die Segmente E F und EF gemacht werden. Daher muss die Einh¨ullende Γt , die AB, CD und EF ber¨uhrt und durch O verl¨auft, in O eine Spitze haben, die in Richtung B zeigt (siehe Abbildung 11.8 auf der n¨achsten Seite, rechts). 2
11.6 Wie viele Spitzen gibt es?
189
Abb. 11.8 Spitze der Einh¨ullenden.
Was passiert, wenn die Kr¨ummungen in den Punkten A und B gleich sind? Diese Situation wird bei einer allgemeinen Kurve γ nicht eintreten. Nehmen wir tats¨achlich an, dass die drei Bedingungen erf¨ullt sind: Das Segment AB teilt die Fl¨ache im Verh¨altnis t : (1 − t), die Tangenten in A und B sind parallel und die Kr¨ummungen in A und B sind gleich. Ein Punktepaar A und B auf der Kurve γ hat aber nur zwei Freiheitsgrade, es ist also zu viel anzunehmen, dass die drei Bedingungen erf¨ullt sind. L¨asst man jedoch zu, dass sich der Parameter t a¨ ndert, so k¨onnte man auf eine Sehne AB von γ mit parallelen Tangenten und gleichen Kr¨ummungen in den Endpunkten treffen. Wir werden diese Situation als den Fall maximaler Entartung bezeichnen. F¨alle maximaler Entartung m¨ussen notgedrungen vorkommen. Lemma 11.1. Jede Eikurve γ hat eine Sehne mit parallelen Tangenten und gleichen Kr¨ummungen an den Endpunkten; die Anzahl solcher Sehnen ist ungerade. Beweis. Zu jedem Punkt A von γ existiert ein eindeutig bestimmter Antipoden” punkt“ B, sodass die Tangenten in A und B parallel sind. Wir nehmen an, dass die Kr¨ummung in A gr¨oßer als die in B ist. Wir bewegen Punkt A stetig in Richtung B; sein Antipodenpunkt bewegt sich dann in Richtung A. Nachdem die Punkte A und B ihre Pl¨atze getauscht haben, ist die Kr¨ummung am ersten Punkt kleiner als die am zweiten. Demzufolge m¨ussen die Kr¨ummungen an den beiden Punkten an irgendeinem Zwischenpunkt gleich gewesen sein. Dar¨uber hinaus ist die Gesamtzahl der Vorzeichenwechsel der Differenz zwischen den Kr¨ummungen an den Punkten A und B ungerade, wie wir behauptet hatten. 2
11.6 Wie viele Spitzen gibt es? Wie viele Spitzen hat die Einh¨ullende Γt ? Die Antwort h¨angt davon ab, ob t gleich 1/2 ist oder nicht.
190
11 Segmente gleicher Fl¨achen
Satz 11.5. Die Anzahl der Spitzen von Γ1/2 ist ungerade und nicht kleiner als drei.3 Beweis. In jeder Richtung gibt es eine eindeutig bestimmte nicht-orientierte Gerade, die die von der Kurve γ begrenzte Fl¨ache halbiert. Somit hat sich ihre Tangente nach dem Durchlauf von Γ1/2 um 180◦ gedreht. Wie kann das sein? Bei jedem Durchlauf einer Spitze kehrt sich die Orientierung der Tangente um (siehe Abbildung 11.9). Das bedeutet, dass die Gesamtzahl der Spitzen ungerade sein muss.
Abb. 11.9 Eine Spitze kehrt die Orientierung um.
Die Anzahl der Spitzen von Γ1/2 ist nicht eins. Beim Beweis durch Widerspruch nehmen wir an, dass es eine einzelne Spitze gibt, die eine senkrechte Tangente hat. Dann hat Γ1/2 keine anderen senkrechten Tangenten. Links von der Spitze bewegt sich eine glatte Kurve Γ1/2 nach links, und rechts von der Spitze bewegt sie sich nach rechts. Eine solche Kurve kann sich nicht schließen (siehe Abbildung 11.10), das ist ein Widerspruch. 2
Abb. 11.10 Beweis, dass es mindestens drei Spitzen gibt.
Ist t = 1/2, so gibt es in jeder Richtung eine eindeutig bestimmte orientierte Gerade, die die von der Kurve γ begrenzte Fl¨ache im Verh¨altnis t : (1 − t) teilt. Somit hat sich ihre Tangente nach dem Durchlauf von Γt um 360◦ gedreht. Daraus folgt, dass die Anzahl der Spitzen ungerade ist.
3
Vergleichen Sie mit dem in Vorlesung 10 erw¨ahnten Satz von M¨obius.
11.7 Alle in einer Abbildung
191
11.7 Alle in einer Abbildung Abbildung 11.11 zeigt die Gruppe von Einh¨ullenden Γt , wenn t von 0 bis 1/2 variiert. Die dreieckige Kurve in der Mitte ist Γ1/2 . Die wesentliche neue Beobachtung ist, dass die Spitzen der Kurven Γt auf einer neuen Kurve liegen, n¨amlich auf der Kurve Δ (in Abbildung 11.11 als gestrichelte Linie dargestellt). Das ist die Ortslinie der Mittelpunkte der Sehnen mit parallelen Tangenten an den Endpunkten. Auch die Kurve Δ hat Spitzen! Das sind die Punkte, in denen Spitzen der Einh¨ullenden Γt paarweise erscheinen oder verschwinden. Und das sind genau die Punkte maximaler Entartung, die wir in Abschnitt 11.5 eingef¨uhrt haben. Wie viele Spitzen hat die Kurve Δ ? Wenn wir diese Frage stellen, nehmen wir wie immer, wenn es um Spitzen geht, an, dass unsere Kurven hinreichend allgemein sind: Sonst k¨onnte Δ sogar zu einem einzigen Punkt entarten – das ist der Fall, wenn die urspr¨ungliche Eikurve ein Kreis oder eine Ellipse ist. Satz 11.6. Die Anzahl der Spitzen von Δ ist ungerade und nicht kleiner als drei. Beweis. Dass die Anzahl der Spitzen ungerade ist, folgt aus Lemma 11.1 auf Seite 189. Wir behaupten, dass die Anzahl der Spitzen von Δ nicht kleiner als die von Γ1/2 ist, nach Satz 11.5 auf der vorherigen Seite also nicht kleiner als drei ist. Sei k die Anzahl der Spitzen von Γ1/2 . Dann hat die Kurve Γ1/2−ε f¨ur hinreichend kleine ε genau 2k Spitzen (siehe Abbildung 11.11). Andererseits ist die Kurve Γε f¨ur hinreichend kleine ε glatt. Da t von 1/2 − ε bis ε variiert, m¨ussen somit alle 2k Spitzen an Punkten maximaler Entartung paarweise verschwinden, das heißt an den Spitzen von Δ . Folglich hat Δ mindestens k Spitzen, und wegen k ≥ 3 ergibt sich daraus das Resultat. 2
Abb. 11.11 Die Schar der Einh¨ullenden Γt .
192
11 Segmente gleicher Fl¨achen
11.8 Polygone Selbstverst¨andlich ist ein konvexes Polygon keine Eikurve, man kann es aber durch eine glatte streng konvexe Kurve approximieren: Fast flache B¨ogen entlang der Seiten und scharfe Wendungen an den Ecken.
Abb. 11.12 F¨ur ein Dreieck ist die Kurve Δ ein homothetisches Dreieck.
Beginnen wir mit einem Dreieck. Ein Punktepaar A, B mit parallelen Tangenten wird aus einem Eckpunkt des Dreiecks und irgendeinem Punkt auf der gegen¨uberliegenden Seite gebildet. Die Ortslinie Δ aus den Mittelpunkten solcher Segmente AB ist wieder ein Dreieck, das zu dem gegebenen Dreieck mit dem Faktor −1/2 a¨ hnlich ist (siehe Abbildung 11.12). Die Ecken von Δ liegen in der Mitte der Seiten des urspr¨unglichen Dreiecks; somit haben alle Einh¨ullenden Γt Spitzen (sogar f¨ur sehr kleine Werte von t). Die Kurven Γt bestehen aus Hyperbelb¨ogen: Das folgt aus Satz 11.1 auf Seite 184.
Abb. 11.13 Die Einh¨ullenden Γt f¨ur ein regelm¨aßiges F¨unfeck.
11.8 Polygone
193
Letzteres gilt f¨ur jedes konvexe Polygon: Die Einh¨ullenden Γt sind st¨uckweise glatte Kurven, die sich aus Hyperbelb¨ogen zusammensetzen. Bedenken Sie, dass an Verbindungspunkten zwischen verschiedenen Hyperbeln die beiden Hyperbeln die gleiche Tangente haben. Die Richtungen der beiden Hyperbeln k¨onnen entweder entgegengesetzt (in diesem Fall sieht der Verbindungspunkt wie eine Spitze aus) oder gleich sein (wobei die Kurve glatt aussieht, obwohl die beiden Hyperbeln im allgemeinen verschiedene Kr¨ummungen aufweisen). Wir wollen sagen, dass der Eckpunkt A eines konvexen Polygons einer Seite a gegen¨uberliegt, wenn die Gerade durch A, die parallel zu a verl¨auft, außerhalb des Polygons liegt. Jede Seite liegt einem bestimmten Eckpunkt gegen¨uber (wir nehmen an, dass das Polygon keine parallelen Seiten hat), aber ein Eckpunkt kann mehreren Seiten, oder aber auch keiner, gegen¨uberliegen. ¨ Ahnlich wie bei Dreiecken besteht ein Punktepaar A, B mit parallelen Tangenten aus einem Eckpunkt A des Polygons und Punkten B auf der gegen¨uberliegenden Seite; die Ortslinie der Mittelpunkte solcher Segmente AB ist ein Segment, das parallel zur Seite im halben Abstand zu A verl¨auft. Die Vereinigung dieser Segmente ist ein (m¨oglicherweise u¨ berschlagenes) Polygon Δ . Das ist die Ortslinie der Spitzen aller Einh¨ullenden Γt . Die Ecken des Polygons Δ sind Punkte maximaler Entartung (siehe Abbildung 11.13 auf der vorherigen Seite f¨ur den Fall eines regelm¨aßigen F¨unfecks). Die Kurve Δ ist in diesem Fall ein sternenf¨ormiges u¨ berschlagenes F¨unfeck; es ist in Abbildung 11.13 auf der vorherigen Seite gestrichelt dargestellt. Die Ortslinien anderer Hyperbelverbindungen, die die Kurven Γt bilden, sind ebenfalls gestrichelt dargestellt. Eine vergr¨oßerte Version des Mittelteils von Abbildung 11.13 auf der vorherigen Seite zeigt Abbildung 11.14. Schließen wir mit einer Bemerkung u¨ ber den seltsamen Unterschied zwischen ungeradzahligen und geradzahligen Polygonen ab. Wir betrachten ein n-Eck mit ungeradem n, das nahezu regelm¨aßig ist. Die Einh¨ullende Γ1/2 der Geraden, die die Fl¨ache dieses n-Ecks halbieren, hat n Spitzen und gleicht einem regelm¨aßigen
Abb. 11.14 Der Mittelteil von Abbildung 11.13.
194
11 Segmente gleicher Fl¨achen
Abb. 11.15 Die Einh¨ullenden Γt f¨ur ein Viereck.
n-zackigen Stern. Ein n-Eck mit geradem n ist zentralsymmetrisch und die Kurve Γ1/2 entartet zu einem Punkt, dem Mittelpunkt des Polygons. Nach einer kleinen St¨orung erh¨alt man eine anst¨andige“ Kurve Γ1/2 mit weniger als n Spitzen (die An” zahl der Spitzen ist nach Satz 11.5 auf Seite 190 ungerade). F¨ur ein Viereck ist diese Kurve zum Beispiel ein Dreieck“ aus drei Hyperbel¨asten, die an den Scheitelpunk” ten Spitzen bilden (Abbildung 11.15 zeigt die Kurvenschar Γt f¨ur ein allgemeines Viereck).
¨ 11.9 Ubungen ¨ Ubung 11.1. Gegeben sei eine Eikurve. Zeigen Sie, dass es eine Gerade gibt, die die Fl¨ache und die Umfangsl¨ange der Eikurve halbiert. ¨ Ubung 11.2. Betrachten Sie zwei ineinander verschachtelte konvexe K¨orper mit glatten R¨andern (Ellipsoide) im Raum. Beweisen Sie, dass es mindestens zwei Ebenen gibt, die tangential zum inneren K¨orper sind und f¨ur die der Ber¨uhrungspunkt gleichzeitig der Massenmittelpunkt des Schnittes des a¨ ußeren K¨orpers mit der Ebene ist. Hinweis: Betrachten Sie die Ebene, die das maximale Volumen abschneidet. ¨ Ubung 11.3. Gegeben sei eine Eikurve γ . Beweisen Sie, dass auf γ mindestens drei Punktepaare existieren, deren Tangenten parallel und deren Kr¨ummungen gleich sind. Hinweis: Zeigen Sie, dass die Anzahl solcher Paare ungerade ist. Zeigen Sie, dass wir in Bezug auf die St¨utzfunktion p(α ) an den α interessiert sind, f¨ur die gilt p(α ) + p (α ) − p(α + π ) − p (α + π ) = 0. Argumentieren Sie dann wie in Abschnitt 10.3 auf Seite 171.
¨ 11.9 Ubungen
195
¨ Ubung 11.4. Die zentrale Symmetriemenge einer Eikurve ist die Einh¨ullende der Schar der Sehnen, die Punktepaare verbinden, in denen die Tangenten an die Eikurve parallel sind (siehe [34]). (a) Beweisen Sie, dass die zentrale Symmetriemenge einer allgemeinen Eikurve keine Wendepunkte oder Doppeltangenten hat, sondern eine ungerade Anzahl von Spitzen, und zwar nicht weniger als drei. (b) Betrachten Sie eine Sehne A1 A2 , die zwei Punkte einer Eikurve mit parallelen Tangenten verbindet. Seien k1 und k2 die Kr¨ummungen der Eikurve in den Punkten A1 und A2 . Beweisen Sie, dass A1 A2 durch den Ber¨uhrungspunkt mit der zentralen Symmetriemenge im Verh¨altnis k2 : k1 geteilt wird. (c) Zeigen Sie, dass die Spitzen der zentralen Symmetriemenge dem Fall entsprechen, in dem k1 = k2 ist. (d) Hat eine Eikurve eine konstante Breite, so stimmt ihre zentrale Symmetriemenge mit ihrer Evolute u¨ berein. ¨ Ubung 11.5. Beweisen Sie, dass bei einem Viereck, das kein Parallelogramm ist, alle Kurven Γt Spitzen haben. ¨ Ubung 11.6. (a) Wie viele Geraden, die die Fl¨ache eines gegebenen Dreiecks halbieren, k¨onnen durch einen gegebenen Punkt laufen? (b) Gleiche Frage f¨ur ein Viereck, das keine parallelen Seiten hat. ¨ Ubung 11.7. Sei P ein konvexes n-Eck, das keine parallelen Seiten hat. Beweisen Sie: Ist n gerade, so ist die Korrespondenz Seite → gegen¨uberliegende Ecke nicht eineindeutig.
Vorlesung 12
¨ Uber ebene Kurven
12.1 Doppelpunkte, Doppeltangenten und Wendepunkte Das Thema dieser Vorlesung sind glatte ebene Kurven wie die aus Abbildung 12.1. Schnittpunkte einer Kurve mit sich selbst werden als Doppelpunkte bezeichnet; die Kurve aus Abbildung 12.1 hat drei davon.
Abb. 12.1 Eine ebene Kurve.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 12,
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198
¨ 12 Uber ebene Kurven
Abb. 12.2 Zwei Arten von Doppeltangenten.
Eine Doppeltangente ist eine Gerade, die an die Kurve an zwei verschiedenen Punkten tangential ist. Wir unterscheiden zwischen a¨ ußeren und inneren Doppeltangenten: Bei der a¨ ußeren Doppeltangente liegen die beiden kleinen Kurvenabschnitte auf einer Seite der Tangente, bei der inneren Doppeltangente liegen sie auf gegen¨uberliegenden Seiten (siehe Abbildung 12.2). Es mag vielleicht nicht sofort klar sein, aber die Kurve aus Abbildung 12.1 auf der vorherigen Seite hat acht a¨ ußere und vier innere Doppeltangenten. Wir interessieren uns auch f¨ur Wendepunkte. Versehen wir eine Kurve mit einer Orientierung. W¨ahrend man sich entlang der Kurve bewegt, dreht man sich dann entweder nach links oder nach rechts. Die Wendepunkte sind die Punkte, an denen sich diese Drehrichtung a¨ ndert. Die links drehenden“ und rechts drehenden“ ” ” Abschnitte der Kurve wechseln einander ab; folglich ist die Gesamtzahl der Wendepunkte einer geschlossenen Kurve gerade. Die Kurve aus Abbildung 12.1 auf der vorherigen Seite hat zwei Wendepunkte.
Abb. 12.3 Elimination eines Dreifachpunktes durch eine kleine St¨orung.
Wir interessieren uns f¨ur typische Eigenschaften von Kurven, die von kleinen St¨orungen unber¨uhrt bleiben. Es kann zum Beispiel vorkommen, dass eine Kurve drei Mal denselben Punkt passiert, dieses Ereignis ist aber nicht typisch: Eine kleine St¨orung macht aus einem Dreifachpunkt drei Doppelpunkte (siehe Abbildung 12.3). Ebenso kann eine Doppeltangente die Kurve ein drittes Mal ber¨uhren, aber auch das ist nicht typisch (siehe Abbildung 12.4).
Abb. 12.4 Elimination einer Dreifachtangente durch eine kleine St¨orung.
12.2 Kritzeln: Die Formel von Fabricius-Bjerre
199
Es gibt viele weitere untypische Ereignisse, die wir ausschließen, wie etwa eine durch einen Doppelpunkt verlaufende Doppeltangente oder eine Selbstber¨uhrung der Kurve, usw. Wir nehmen unsere Kurven immer als allgemein an.
12.2 Kritzeln: Die Formel von Fabricius-Bjerre Sei T+ die Anzahl der a¨ ußeren Tangenten und T− die Anzahl der inneren Tangenten an eine glatte geschlossene Kurve, I sei die (gerade) Anzahl der Wendepunkte und D die Anzahl der Doppelpunkte. Diese Zahlen sind nicht unabh¨angig: Zwischen ihnen existiert eine universelle Beziehung, die der folgende Satz beschreibt. Satz 12.1. F¨ur jede allgemeine glatte geschlossene Kurve gilt 1 T+ − T− − I = D. 2
(12.1)
F¨ur die Kurve aus Abbildung 12.5 ist zum Beispiel T+ = 5, T− = 2, I = 2, D = 2. Auf die Formel (12.1) stieß 1962 der d¨anische Mathematiker Fabricius-Bjerre [28]. Kritzeln ist eine nat¨urliche menschliche Besch¨aftigung, an der Millionen Kinder in der ganzen Welt Gefallen finden, und dieses sch¨one Resultat h¨atte viel fr¨uher entdeckt werden k¨onnen! Beweis. Wir orientieren die Kurve und betrachten ihre positive Halbtangente im Punkt x. Die Anzahl der Schnittpunkte N dieser Halbtangete mit der Kurve h¨angt vom jeweiligen Punkt ab. W¨ahrend x die Kurve durchl¨auft, a¨ ndert sich diese Anzahl. Und wenn x zur Anfangsposition zur¨uckkehrt, nimmt N den urspr¨unglichen Wert an. Unter welchen Umst¨anden a¨ ndert sich N? Wenn x einen Doppelpunkt durchl¨auft, verringert sich N um 1. Da jeder Doppelpunkt zwei Mal besucht wird, ist der Bei-
Abb. 12.5 Ein Beispiel f¨ur die Formel von Fabricius-Bjerre: T+ = 5, T− = 2, I = 2, D = 2.
¨ 12 Uber ebene Kurven
200
trag von Doppelpunkten zu N insgesamt −2D. Durchl¨auft x einen Wendepunkt, so verringert sich N ebenfalls um 1; der Gesamtbeitrag der Wendepunkte ist somit −I (siehe Abbildung 12.6).
Abb. 12.6 Zwei Umst¨ande, unter denen sich N a¨ ndert.
Der Beitrag einer Doppeltangente ist ±2, was davon abh¨angt, ob es sich um eine a¨ ußere oder eine innere Doppeltangente handelt. Genauer gesagt, gibt es in Abh¨angigkeit von der Orientierung sechs F¨alle, die in Abbildung 12.7 dargestellt sind. Ihre Gesamtbeitr¨age zu N sind 2T+ + 4T+ − 2T− − 4T− .
Abb. 12.7 Buchhaltung f¨ur Doppeltangenten.
Folglich gilt
2T+ + 4T+ − 2T− − 4T− − 2D − I = 0.
(12.2)
Nun a¨ ndern wir die Orientierung der Kurve. Die Zahlen T± und T± werden vertauscht, die anderen Zahlen aus Formel (12.2) bleiben unver¨andert. Deshalb gilt 2T+ + 4T+ − 2T− − 4T− − 2D − I = 0.
(12.3)
Nun m¨ussen wir (12.2) und (12.3) nur noch addieren und durch 4 teilen: 1 T+ + T+ + T+ − T− − T− − T− − D − I = 0, 2 was dasselbe wie (12.1) ist. 2 Die Relation (12.1) ist eine notwendige Bedingung daf¨ur, dass T± , I, D die Zahlen der a¨ ußeren und inneren Tangenten, Wendepunkte und Doppelpunkte einer ebenen
12.2 Kritzeln: Die Formel von Fabricius-Bjerre
201
¨ 12.5 auf Seite 211 geschlossenen Kurve sind. Aber ist sie auch hinreichend?1 Ubung gibt eine Teilantwort. Eine Verallgemeinerung der Formel von Fabricius-Bjerre (12.1), die von Weiner [89] stammt, betrifft glatte geschlossene Kurven auf der Sph¨are. Nat¨urlich verstehen wir in diesem Fall unter Geraden“ Großkreise. Es gibt eine weitere Gr¨oße, die in die ” Formel eingeht, n¨amlich die Anzahl A der Paare von Antipodenpunkten der Kurve. Die Formel von Weiner besagt: 1 T+ − T− − I = D − A. 2
(12.4)
Liegt die Kurve in einer Halbkugel, so hat sie keine Antipodenpunkte. Man kann die Halbkugel zusammen mit der Kurve durch Zentralprojektion auf die Ebene abbilden. Dann stimmt (12.4) mit (12.1) u¨ berein. Anmerkung 12.1. Einen mit algebraischer Geometrie vertrauten Leser erinnert Formel (12.1) an die Pl¨ucker-Formeln. Diese Formeln beziehen sich auf algebraische Kurven in der projektiven Ebene; jeder Term hat einen komplexen Koeffizienten. Wie vorhin ist T die Anzahl der Doppeltangenten, D die Anzahl der Doppelpunkte, I die Anzahl der Wendepunkte und C die Anzahl der Spitzen der Kurve (wenn wir mit komplexen Zahlen arbeiten, kommen keine Vorzeichen vor). In die Pl¨ucker-Formeln gehen zwei weitere Zahlen ein: Die Anzahl N der Schnittpunkte der Kurve mit einer allgemeinen Geraden (der Grad der Kurve) und die Anzahl N ∗ der Tangenten an die Kurve von einem allgemeinen Punkt (die Klasse der Kurve). Die Zahl N ist der Grad des Polynoms, das die Kurve definiert, und N ∗ ist der Grad des Polynoms, das die projektive duale Kurve definiert. F¨ur eine Ellipse ist zum Beispiel N = N ∗ = 2. Die Pl¨ucker-Formeln lauten N ∗ = N(N − 1) − 2D − 3C, und 3N(N − 2) = I + 6D + 8C,
N = N ∗ (N ∗ − 1) − 2T − 3I 3N ∗ (N ∗ − 2) = C + 6T + 8I.
Die Formeln in jedem Paar werden durch die in Vorlesung 8 beschriebene projektive Dualit¨at ausgetauscht. F¨ur eine glatte Kurve vom Grad N = 4 ergibt sich beispielsweise C = D = 0, und somit N ∗ = 12, I = 24 und T = 28; das wird in Vorlesung 17 von entscheidender Bedeutung sein. Bedenken Sie den Unterschied zwischen algebraischen Kurven und glatten Kurven, den Kritzeleien“ aus dieser Vorlesung: Algebraische Kurven sind starre“ Ob” ” jekte, die von einer endlichen Anzahl von Parametern abh¨angen, n¨amlich von den Koeffizienten ihrer Polynomgleichungen, w¨ahrend glatte Kurven a¨ ußerst weich“ ” sind und mit viel gr¨oßerer Freiheit verformt werden k¨onnen. Eine Weise, auf die sich diese Flexibilit¨at a¨ ußert, wird in Abschnitt 12.4 auf Seite 203 diskutiert. 1
Kann man aus der G¨ultigkeit der Relation schließen, dass eine entsprechende ebene und ge¨ schlossene Kurve existiert? Anm. d Ubers.
¨ 12 Uber ebene Kurven
202
12.3 Kritzeleien mit Spitzen: Die Formel von Ferrand Eine andere, recht neue Formel f¨ur Kurven mit Spitzen geht auf E. Ferrand [29] zur¨uck. Betrachten wir eine ebene Kurve mit einer geraden Anzahl von Spitzen, und f¨arben wir die glatten Kreisb¨ogen zwischen den Spitzen abwechselnd rot und blau. Wir ordnen den Doppelpunkten Vorzeichen zu: Ein Doppelpunkt ist positiv, wenn er der Schnittpunkt zweier Kreisb¨ogen gleicher Farbe ist, und er ist negativ, wenn er der Schnittpunkt zweier B¨ogen unterschiedlicher Farbe ist. Bezeichnen wir die Anzahl positiver und negativer Doppelpunkte mit D± . Wir definieren auch die Vorzeichen von Doppeltangenten neu. Eine Doppeltangente hat drei Merkmale: Die Orientierungen der beiden B¨ogen sind entweder gleich oder entgegengesetzt; die B¨ogen liegen entweder auf der gleichen Seite oder auf entgegengesetzten Seiten der Tangente; und die beiden B¨ogen haben entweder dieselbe oder eine unterschiedliche Farbe. Welches Vorzeichen man einer Doppeltangente demnach zuordnet, zeigt Abbildung 12.8.
Abb. 12.8 Vorzeichen von Doppeltangenten.
Sei T± die Anzahl positiver und negativer Doppeltangenten. Nach dieser Vorbereitung lautet Ferrands Verallgemeinerung der Formel von Fabricius-Bjerre f¨ur Kurven mit Spitzen wie folgt. Satz 12.2. F¨ur jede allgemeine ebene Kurve mit Spitzen gilt 1 1 T+ − T− − I = D+ − D− − C. 2 2
(12.5)
Wir werden den Satz von Ferrand nicht beweisen: Wir kennen keinen Beweis, der so einfach ist, wie der, den wir f¨ur den Satz von Fabricius-Bjerre angegeben haben (Sie als Leser k¨onnen aber gern versuchen, einen solchen Beweis zu finden; ¨ siehe Ubung 12.8 auf Seite 212). Die Formel (12.5) ist in Abbildung 12.9 auf der n¨achsten Seite illustriert; f¨ur die erste Kurve gilt
12.4 Windungszahl und der Satz von Whitney
203
Abb. 12.9 Eine Illustration der Formel von Ferrand.
T+ = 4, T− = 3, I = 6, D+ = 0, D− = 1, C = 2, und f¨ur die zweite T+ = 2, T− = 0, I = 4, D+ = 1, D− = 0, C = 2. Anmerkung 12.2. Die projektive Dualit¨at vertauscht die in die Formeln von FabriciusBjerre und Ferrand eingehenden Zahlen: Die Anzahl der Doppeltangenten und der Wendepunkte einer Kurve ist gleich der Anzahl der Doppelpunkte und der Spitzen der dualen Kurve (siehe Abbildungen 8.7 und 8.8 auf Seite 137).
12.4 Windungszahl und der Satz von Whitney Die Windungszahl einer geschlossenen ebenen Kurve ist die Gesamtzahl der Wendungen, die der Tangentialvektor beim Durchlaufen der Kurve ausf¨uhrt. Ist die Kurve orientiert, so ist die Windungszahl vorzeichenbehaftet; ansonsten ist es eine nichtnegative ganze Zahl. Die Windungszahlen der Kurven aus Abbildung 12.10 sind zum Beispiel gleich 1 beziehungsweise 3.
Abb. 12.10 Kurven mit den Windungszahlen 1 und 3.
204
¨ 12 Uber ebene Kurven
Abb. 12.11 Eine stetige Verformung einer glatten Kurve.
Verformen wir eine glatte Kurve stetig. Dass sich die Kurve selbst ber¨uhrt oder Mehrfach¨uberschneidungen besitzt, schließen wir nicht aus (siehe Abbildung 12.11). Unter einer solchen Verformung2 bleibt die Windungszahl gleich. Tats¨achlich f¨uhrt ¨ eine kleine St¨orung einer Kurve zu einer kleinen Anderung der Windungszahl; da die Windungszahl eine ganze Zahl ist, muss sie konstant bleiben. Die umgekehrte Aussage ist der Satz von Whitney. Satz 12.3. Haben zwei geschlossene glatte Kurven die gleiche Windungszahl, so kann die eine stetig in die andere verformt werden. Zum Beispiel kann die linke Kurve aus Abbildung 12.10 auf der vorherigen Seite zu einem Kreis verformt werden, was Ihnen als Leser wahrscheinlich schon aufgefallen ist. Wir werden den Satz von Whitney f¨ur eine andere Klasse von Kurven beweisen, die langen Kurven. Eine lange Kurve ist eine glatte ebene Kurve, die außerhalb einer Kreisscheibe mit der horizontalen Achse zusammenf¨allt (siehe Abbildung 12.12). Mit langen Kurven l¨asst es sich etwas leichter arbeiten, daher unsere Wahl.
Abb. 12.12 Eine lange Kurve.
¨ lange Kurven. Lange Kurven sind von links Beweis des Satzes von Whitney fur nach rechts orientiert. Ein Modell f¨ur eine lange Kurve mit der Windungszahl n ist die Horizontale mit |n| aufeinanderfolgenden Schleifen, die – abh¨angig vom Vorzeichen von n – im oder entgegen dem Uhrzeigersinn durchlaufen werden (siehe 2
Der Fachbegriff f¨ur eine solche Verformung ist regul¨are Homotopie.
12.4 Windungszahl und der Satz von Whitney
205
Abb. 12.13 Muster von langen Kurven.
Abbildung 12.13). Wir wollen beweisen, dass eine lange Kurve mit der Windungszahl n in eine dieser Modellkurven verformt werden kann. Abbildung 12.14 zeigt eine Verformung, die ein Paar Schleifen entgegengesetzter Orientierung hinzunimmt (oder wegnimmt). Mithilfe dieses Tricks kann man stets |n| solcher Paare zu einer gegebenen Kurve so hinzunehmen, dass man eine Kurve mit der Windungszahl 0 erh¨alt, auf die n Schleifen folgen. Folglich brauchen wir nur zu beweisen, dass eine lange Kurve γ mit Windungszahl 0 in die horizontale Achse verformt werden kann.
Abb. 12.14 Hinzunehmen oder Wegnehmen eines Paars entgegengesetzt orientierter Schleifen.
Sei γ (t) eine Parametrisierung unserer Kurve. Wir betrachten den Winkel α (t), den der positive Tangentialvektor an γ (t) mit der Horizontalen bildet. Der Graph der Funktion α (t) k¨onnte wie Abbildung 12.15 aussehen.
Abb. 12.15 Ein Graph der Funktion α (t).
206
¨ 12 Uber ebene Kurven
Eigentlich ist der Winkel α (t) nur bis auf ein Vielfaches von 2π definiert. Auf dem linken waagerechten Teil der Kurve w¨ahlen wir α (t) = 0 und setzen die Funktion stetig zu einer anst¨andigen“ Funktion von t fort. Da die Windungszahl null ist, ” ist auch auf dem rechten waagerechten Teil der Kurve α (t) = 0. Wir wollen diesen Graph gegen die horizontale Achse dr¨ucken: Dazu setzen wir αs (t) = sα (t), wobei s zwischen 1 und 0 variiert. Zu jedem Wert von s gibt es eine eindeutig bestimmte Kurve γs , deren Richtung im Punkt γs (t) gleich αs (t) ist. Insbesondere gilt α0 (t) = 0; somit ist γ0 die horizontale Achse. Wie sehen die Kurven γs aus? Sie beginnen als horizontale Achse und enden als horizontale Linien, da α (t) = 0 f¨ur hinreichend große |t| gilt. Das einzige Problem ist, dass γs rechts auf einer anderen H¨ohe enden k¨onnte (siehe Abbildung 12.16). Dieses Problem wird dadurch behoben, dass man die Kurve in ihrem rechten horizontalen Teil glatt angleicht (siehe die gleiche Abbildung), und man erh¨alt eine lange Kurve γs .
Abb. 12.16 Angleichen der H¨ohe des rechten Endes.
Das heißt: Wir haben von γ = γ1 nach γ0 , das ist die horizontale Achse, eine stetige Schar langer Kurven konstruiert. Dies ist die gew¨unschte Verformung. 2 Wir wollen eine Version des Satzes von Whitney f¨ur Kurven auf der Sph¨are erw¨ahnen. Das Resultat ist sogar einfacher als in der Ebene. Eine allgemeine glatte geschlossene sph¨arische Kurve hat eine einzige Invariante, die die Werte 0 oder 1 annimmt: Dies ist die Parit¨at der Anzahl der Doppelpunkte. Satz 12.4. Zwei allgemeine glatte sph¨arische Kurven k¨onnen genau dann stetig ineinander verformt werden, wenn die Anzahl ihrer Doppelpunkte entweder bei beiden gerade oder bei beiden ungerade ist. Beweisskizze. Dass sich die Parit¨at der Anzahl von Doppelpunkten unter einer allgemeinen Verformung nicht a¨ ndert, wird aus Abbildung 12.11 auf Seite 204 klar. Wir wollen zeigen, dass zwei Kurven, deren Anzahl von Doppelpunkten die gleiche Parit¨at haben, ineinander verformt werden k¨onnen. Die Sph¨are wird nach dem Entfernen eines Punktes zur Ebene. Man erh¨alt eine ebene Kurve, die nach dem Satz von Whitney in eine (in den Abschluss einer) Musterkurve aus Abbildung 12.13 auf der vorherigen Seite verformt werden kann. F¨ur diese Kurven ist die Anzahl der
12.5 Kombinatorische Formeln f¨ur die Windungszahl
207
Abb. 12.17 Die Verformung einer sph¨arischen Kurve.
Doppelpunkte um eins kleiner als die Windungszahl. Es bleibt zu zeigen, dass auf der Sph¨are die Musterkurven, deren Windungszahlen sich um 2 voneinander unterscheiden, ineinander verformt werden k¨onnen. Abbildung 12.17 zeigt eine solche Verformung (f¨ur die Windungszahlen 0 und 2). 2 Anmerkung 12.3. Der Satz von Whitney hat weitreichende Verallgemeinerungen, in denen der Kreis und die Ebene durch beliebige glatte Mannigfaltigkeiten ersetzt werden. Diesem Thema widmet sich die Theorie von Smale und Hirsch. Eins der verbl¨uffendsten Resultate dieser Theorie ist die Sph¨arenumkehrung. Dabei wird die Sph¨are im dreidimensionalen Raum innerhalb der Klasse von glatten, sich aber m¨oglicherweise u¨ berschlagenden Fl¨achen verformt. Am Ende ergibt sich dieselbe Sph¨are, deren Inneres nach Außen gekehrt ist. Es sind etliche explizite Konstruktionen solcher Sph¨arenumkehrungen bekannt; in der Animation Outside in“ [94], die ” wir Ihnen als Leser empfehlen, wird eine Umkehrung nach W. Thurston gezeigt.3
¨ die Windungszahl 12.5 Kombinatorische Formeln fur Um die Windungszahl einer geschlossenen oder langen Kurve zu bestimmen, kann man einfach die Kurve durchlaufen und die Gesamtzahl der ausgef¨uhrten Wendungen z¨ahlen. Es gibt aber bessere Wege, die Anzahl der Wendungen zu z¨ahlen, ohne dass es einem schwindlig wird. Wir werden einige in diesem Abschnitt besprechen. 3
Ein neuerer Animationsfilm, The Optiverse“, zeigt eine andere Sph¨arenumkehrung. Sie beruht ” auf der Minimierung einer elastischen Biegeenergie f¨ur Fl¨achen im Raum.
¨ 12 Uber ebene Kurven
208
2 Abb. 12.18 Eine Formel f¨ur die Windungszahl.
Die erste Formel veranschaulicht Abbildung 12.18. Diese Formel ist mehr oder weniger offensichtlich. Um die Anzahl der kompletten Wendungen zu ermitteln, brauchen wir nur zu z¨ahlen, wie oft die Tangente an die Kurve horizontal ist. Es gibt insgesamt vier M¨oglichkeiten, die in Abbildung 12.18 dargestellt sind. Die ersten beiden geh¨oren zu einem Umlauf in die positive Richtung (entgegen dem Uhrzeigersinn), und die beiden letzten geh¨oren zu einem Umlauf in die negative Richtung (im Uhrzeigersinn). Damit ist die Formel bewiesen. Eine andere Formel wurde von Whitney im gleichen Artikel angegeben, in dem er den im vorherigen Abschnitt diskutierten Satz bewies. Beschreiben wir zuerst diese Formel f¨ur lange Kurven. Wir durchlaufen eine Kurve von links nach rechts. Jeder Doppelpunkt wird zwei Mal besucht und sieht aus, wie in Abbildung 12.19 dargestellt. Wir bezeichnen den ersten als positiven und den zweiten als negativen Doppelpunkt. Sei D± die Anzahl der positiven bzw. negativen Doppelpunkte der Kurve. Die Formel f¨ur die Windungszahl ist dann w = D+ − D− .
(12.6)
Abb. 12.19 Die Vorzeichen von Doppelpunkten.
Beweis der Formel (12.6). Ist die Kurve eine Modellkurve wie in Abbildung 12.13 auf Seite 205, so gilt das Resultat offensichtlich. Da jede Kurve in eine Modellkurve verformt werden kann, sind wir fertig, wenn wir zeigen, dass sich D+ − D− unter Verformungen nicht a¨ ndert. Bei einer allgemeinen Verformung k¨onnen zwei singul¨are“ Ereignisse eintreten, ” die in Abbildung 12.11 dargestellt sind. Im ersten Fall wird ein Paar von Doppelpunkten mit entgegengesetztem Vorzeichen eingef¨uhrt (oder eliminiert), und folglich bleibt der Ausdruck D+ − D− davon unber¨uhrt. Der zweite Fall a¨ ndert weder die Anzahl noch die Vorzeichen der vorkommenden Doppelpunkte. Damit ist (12.6) bewiesen. 2 F¨ur eine geschlossene orientierte Kurve γ wird die Formel (12.6) wie folgt modifiziert. Um Doppelpunkten Vorzeichen zuordnen zu k¨onnen, w¨ahlt man zuerst einen Anfangspunkt x auf γ .
12.5 Kombinatorische Formeln f¨ur die Windungszahl
209
Abb. 12.20 Umlaufzahlen.
Sei y ein Punkt, der nicht auf der Kurve γ liegt. Bezeichnen wir die Umlaufzahl der Kurve um y mit r(y), damit ist die Anzahl von Uml¨aufen von γ um y gemeint (siehe Abschnitt 6.4 auf Seite 116). Mit anderen Worten: r(y) ist die Anzahl kompletter Wendungen, die der Ortsvektor yx ausf¨uhrt, w¨ahrend der Punkt x die Kurve durchl¨auft. Sehen Sie sich zum Beispiel Abbildung 12.20 an. Dort werden die Umlaufzahlen den Komponenten der Komplement¨arkurve zugeordnet. Die Formel f¨ur die Windungszahl einer geschlossenen Kurve ist w = D+ − D− + 2r(x).
(12.7)
¨ Uberquert der Punkt y die Kurve, so a¨ ndert sich r(y) um 1, wie in Abbildung 12.21 dargestellt. Ist y ein Punkt auf der Kurve (aber kein Doppelpunkt), so wird die Umlaufzahl halbzahlig definiert. Sie ist gleich dem Mittelwert aus den beiden Werten, die man erh¨alt, wenn man y etwas auf beide Seiten der Kurve verschiebt.
¨ Abb. 12.21 Wie sich die Umlaufzahl beim Uberqueren der Kurve a¨ ndert.
Noch eine andere M¨oglichkeit, die Windungszahl w einer orientierten Kurve zu ermitteln, besteht darin, jeden Doppelpunkt aufzul¨osen, wie es in Abbildung 12.22 auf der n¨achsten Seite dargestellt ist. Nachdem wir jeden Doppelpunkt aufgel¨ost haben, zerf¨allt unsere Kurve in eine Ansammlung einfacher Kurven, von denen einige im Uhrzeigersinn (Anzahl I− ) und einige entgegen dem Uhrzeigersinn (Anzahl I+ ) orientiert sind.
210
¨ 12 Uber ebene Kurven
Abb. 12.22 Die Aufl¨osung eines Doppelpunktes.
Satz 12.5. Es gilt w = I+ − I− (siehe Abbildung 12.23). Beweis. Durchlaufen wir eine Kurve γ . Wir starten bei einem Doppelpunkt, sagen wir x. Bis zu unserer ersten R¨uckkehr zu x durchlaufen wir eine geschlossene Kurve (mit Ecke) γ1 ; sei α1 die Gesamtwendung ihres Tangentialvektors. Setzen wir analog dazu unsere Reise entlang γ bis zur zweiten R¨uckkehr zu x fort, durchlaufen wir eine weitere geschlossene Kurve γ2 ; sei α2 die Gesamtwendung ihres Tangentialvektors. Die Gesamtwendung des Tangentialvektors von γ ist offenbar α1 + α2 . L¨osen wir den Doppelpunkt x wie in Abbildung 12.22 auf, dann machen wir beide Kurven glatt, indem wir den gleichen Betrag (sagen wir π /2) zu α1 addieren und von α2 subtrahieren. Folglich ist die Windungszahl von γ die Summe aus den Windungszahlen der abgerundeten Kurven γ1 und γ2 . Die Anwendung dieser Argumentation auf jeden Doppelpunkt ergibt das Resultat. 2
Abb. 12.23 Berechnung der Windungszahl durch Aufl¨osung einer Kurve.
Anmerkung 12.4. Das Thema dieser Vorlesung h¨angt eng mit der Knotentheorie zusammen (siehe [1, 72] f¨ur Darstellungen). Die Formeln von Fabricius-Bjerre (12.1) und Ferrand (12.5) haben nat¨urliche Interpretationen als Selbstverschlingungszahlen, und das stimulierte das neuerliche Interesse an ihnen. Die kombinatorischen Formeln f¨ur die Windungszahl aus Abschnitt 12.5 auf Seite 207 erinnern an einige Formeln f¨ur Knoteninvarianten endlicher Ordnung in der heutigen Knotentheorie.
¨ 12.6 Ubungen
c Emmanuel Ferrand
211
Emmanuel Ferrand geboren 1969
Julius Pl¨ucker 1801–1868
Hassler Whitney 1907–1989
¨ 12.6 Ubungen ¨ Ubung 12.1. Beweisen Sie, dass das Komplement einer geschlossenen ebenen Kurve Schachbrettf¨arbung hat (benachbarte Gebiete haben verschiedene Farben). ¨ Ubung 12.2. Beweisen Sie, dass die Anzahl der Schnittpunkte zweier geschlossener Kurven gerade ist. ¨ Ubung 12.3. Betrachten Sie zwei ebene Kurven (wie u¨ blich in allgemeiner Lage). Sei t+ die Anzahl ihrer a¨ ußeren und t− die Anzahl ihrer inneren gemeinsamen Tangenten, und sei d die Anzahl ihrer Schnittpunkte (wir m¨ussen uns also nicht mit Doppeltangenten oder Doppelpunkten beider Kurven befassen). Zeigen Sie, dass t+ = t− + d gilt. ¨ Ubung 12.4. Zeichnen Sie Kurven mit (a) T+ = 2, T− = 0, I = 2, D = 1; (b) T+ = 3, T− = 0, I = 2, D = 2; (c) T+ = 4, T− = 2, I = 0, D = 2. ¨ Ubung 12.5. * Beweisen Sie: (a) Ist I eine positive gerade Zahl und ist T+ − T− − I/2 = D, so existiert eine Kurve mit der entsprechenden Anzahl von Doppeltangenten, Wendepunkten und Doppelpunkten. (b) Ist I = 0, so ist T− gerade, und es gilt T− ≤ (2D + 1)(D − 1). (c) Ist T− gerade und ist T− ≤ D(D − 1), so existiert eine Kurve ohne Wendepunkte und mit der entsprechenden Anzahl von Doppeltangenten und Doppelpunkten.
¨ 12 Uber ebene Kurven
212
Abb. 12.24 Eine Kurve mit Spitzen.
¨ Ubung 12.6. Betrachten Sie eine Kurve mit Spitzen, wie in Abbildung 12.24 dargestellt. Erweitern Sie den Begriff der Doppeltangenten um die Geraden, die die Kurve in Spitzen ber¨uhren (siehe Abbildung 12.25). Sei C die Anzahl der Spitzen. Beweisen Sie 1 T+ − T− − I = D +C . 2
Abb. 12.25 Verallgemeinerte Doppeltangenten.
Abb. 12.26 Abrunden einer Spitze.
Hinweis: Runden Sie die Spitzen ab, indem Sie jede (Spitze) durch zwei Wendepunkte ersetzen (siehe Abbildung 12.26). ¨ Ubung 12.7. * Beweisen Sie die Formel von Weiner (12.4) auf Seite 201. ¨ Ubung 12.8. * Beweisen Sie die Formel von Ferrand (12.5) auf Seite 202. ¨ Ubung 12.9. Beweisen Sie die Formel (12.7) auf Seite 209. ¨ Hinweis: Uberpr¨ ufen Sie, dass die rechte Seite von (12.7) nicht von der Wahl von x abh¨angt (siehe Abbildung 12.27 auf der n¨achsten Seite).
¨ 12.6 Ubungen
213
Abb. 12.27 Die Wirkung der Verschiebung des Basispunktes.
¨ Ubung 12.10. Beweisen Sie, dass die Umlaufzahl r(y) der Kurve um einen Punkt y wie folgt berechnet werden kann: L¨ost man alle Doppelpunkte wie in Abbildung 12.22 auf Seite 210 auf, so wird y von einer Anzahl von Kurven umgeben, die im Uhrzeigersinn und entgegen dem Uhrzeigersinn orientiert sind. Dann ist r(y) die Anzahl der Kurven mit Orientierung entgegen dem Uhrzeigersinn minus die Anzahl der Kurven mit Orientierung im Uhrzeigersinn. ¨ Ubung 12.11. Zeigen Sie, dass die Windungszahl einer geschlossenen Kurve die Anzahl ihrer Doppelpunkte h¨ochstens um eins u¨ bersteigt und beide Zahlen entgegengesetzte Parit¨at haben. ¨ Ubung 12.12. Nehmen Sie an, dass eine geschlossene Kurve n Doppelpunkte hat, die Sie mit 1 bis n bezeichnen. Durchlaufen Sie die Kurve und schreiben Sie die Bezeichnungen der Doppelpunkte in der Reihenfolge ihres Durchlaufs auf. Sie erhalten eine zyklische Folge, in der jede Zahl 1, . . . , n zwei Mal vorkommt. Beweisen Sie, dass es f¨ur jedes i zwischen den beiden Stellen, an denen das Symbol i vorkommt, eine gerade Anzahl von Symbolen in dieser Folge gibt (Satz von Gauß). Hinweis: L¨osen Sie den i-ten Doppelpunkt wie in Abbildung 12.22 auf Seite 210 auf, und nutzen Sie die Tatsache, dass sich die beiden resultierenden Kurven in einer geraden Anzahl von Punkten schneiden.
Abb. 12.28 Eingebettete und immersierte Scheiben.
¨ Ubung 12.13. Die linke Seite von Abbildung 12.28 zeigt eine in die Ebene eingebettete Scheibe, w¨ahrend die rechte Seite eine immersierte Scheibe ist, die sich
214
¨ 12 Uber ebene Kurven
Abb. 12.29 Ist diese Kurve der Rand einer immersierten Scheibe?
selbst u¨ berlappt. Eine solche Immersion ist eine glatte Abbildung einer Scheibe in der Ebene, die lokal eine Einbettung ist. Der Rand einer eingebetteten Scheibe ist eine einfache geschlossene Kurve; der Rand einer immersierten Scheibe kann viel komplexer sein. (a) Ist die Kurve aus Abbildung 12.29 der Rand einer immersierten Scheibe? (b) Beweisen Sie, dass der Rand einer immersierten Scheibe die Windungszahl 1 hat. (c) Zeigen Sie, dass die Kurve aus Abbildung 12.30 der Rand von zwei verschiedenen immersierten Scheiben ist.
Abb. 12.30 Diese Kurve ist der Rand von zwei verschiedenen immersierten Scheiben.
Geometrie und Topologie
Teil IV ABWICKELBARE F L A¨ C H E N
Vorlesung 13
Papierbogengeometrie
13.1 Abwickelbare Fl¨achen: Fl¨achen aus einem Papierbogen Nehmen Sie einen Papierbogen und verformen Sie ihn, ohne ihn zu falten. In Ihren H¨anden halten Sie dann einen Teil einer Fl¨ache, deren Gestalt davon abh¨angt, wie Sie verformen. Beispiele f¨ur Fl¨achen, die Sie auf diese Weise erhalten k¨onnen, sind in Abbildung 13.1 dargestellt.
Abb. 13.1 Papierbogenfl¨achen.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 13,
217
218
13 Papierbogengeometrie
Allerding kann man nicht jede Fl¨ache dadurch erhalten, dass man einen Papierbogen verformt. Zum Beispiel ist jedem klar, dass es unm¨oglich ist, auch nur einen kleinen Teil einer Kugel aus einem Papierbogen zu formen: Wenn Sie ein St¨uck Papier zu einer Kugel zusammendr¨ucken, werden auf Ihrem Blatt einige Falten entstehen. Man kann einen Zylinder oder einen Kegel formen. Aber Sie k¨onnen einen Papierbogen nicht wie ein Taschentuch verformen, ohne Falten zu produzieren (siehe Abbildung 13.2).
JA
JA
NEIN
Abb. 13.2 Wir k¨onnen Zylinder und Kegel, aber kein Taschentuch erhalten.
In der Geometrie heißen Fl¨achen, die sich, wie eben beschrieben, aus einem Papierbogen formen lassen, abwickelbar. Wir werden gar nicht erst versuchen, diese Definition strenger zu formulieren. Wir werden aber noch die beiden physikalischen Eigenschaften von Papier spezifizieren, die f¨ur unsere geometrischen Zwecke wesentlich sind: Papier l¨asst sich nicht stauchen oder dehnen und es ist vollkommen elastisch. Die erste Eigenschaft bedeutet, dass alle auf dem Papier gezeichneten Kurven unter der Verformung ihre L¨ange behalten. Die zweite Eigenschaft bedeutet, dass die Fl¨ache glatt bleibt, was wiederum bedeutet, dass die Fl¨ache in jedem Punkt eine Tangentialebene besitzt. Dass nicht alle Fl¨achen abwickelbar sind, werden wir aus der einfachsten Eigenschaft abwickelbarer Fl¨achen erkennen (wie alle anderen Hauptresultate der Theorie abwickelbarer Fl¨achen wurde auch diese Eigenschaft von Euler bewiesen).
13.2 Jede abwickelbare Fl¨ache ist geradlinig ¨ Die Aussage aus der Uberschrift bedeutet, dass zu jedem Punkt einer abwickelbaren Fl¨ache ein geradliniges Intervall existiert, das zur Fl¨ache geh¨ort und den Punkt in seinem Inneren enth¨alt. In unserer Alltagssprache heißt das: An jeden Punkt A des verformten Papierbogens k¨onnen wir eine Fahrradspeiche so anlegen, dass zu beiden Seiten von A ein Teil der Speiche das Papier ber¨uhrt (siehe Abbildung 13.3 auf der n¨achsten Seite). Wir werden diese Tatsache nicht beweisen (die uns bekannten
13.2 Jede abwickelbare Fl¨ache ist geradlinig
219
Abb. 13.3 Eine Regelgerade.
Beweise arbeiten mit Formeln und nicht mit geometrischen Bildern) und sie als eine experimentelle, aber fest begr¨undete Eigenschaft abwickelbarer Fl¨achen ansehen. Geh¨ort ein Punkt einer abwickelbaren Fl¨ache zu zwei verschiedenen geradlinigen Intervallen, so ist ein Teil der Fl¨ache um diesen Punkt eben (siehe Abbildung 13.4). Um diese M¨oglichkeit auszuschließen, werden wir unsere Aufmerksamkeit einfach auf Fl¨achen beschr¨anken, die keine ebenen Teile haben. Diese Annahme impliziert, dass es zu jedem Punkt der Fl¨ache eine eindeutig bestimmte Gerade gibt, die zur Fl¨ache geh¨ort und durch diesen Punkt verl¨auft.
Abb. 13.4 Ein ebener Punkt einer abwickelbaren Fl¨ache.
Wir m¨ussen erw¨ahnen, dass kein real existierender Papierbogen unendlich ist. Unsere Fl¨achen werden also R¨ander haben. Jeder Punkt der Fl¨ache geh¨ort zu einem eindeutig bestimmten geradlinigen Intervall, das auf dem Rand beginnt und endet.
220
13 Papierbogengeometrie
Abb. 13.5 Eine Schar von Regelgeraden.
Diese geradlinigen Intervalle (Regelgeraden) bilden eine stetige Schar, die die gesamte Fl¨ache u¨ berzieht (siehe Abbildung 13.5).
13.3 Nicht nur eine Speiche, sondern auch ein Lineal Es gibt allzu viele geradlinige Fl¨achen (bzw. Regelfl¨achen1 ): Jede bewegliche Gerade im Raum u¨ berstreicht eine. Die Eigenschaften zweier konkreter Regelfl¨achen werden wir in Vorlesung 16 detailliert besprechen, n¨amlich die eines einschaligen Hyperboloids und eines hyperbolischen Paraboloids. Nun k¨onnen wir feststellen, dass abwickelbare Fl¨achen viel seltener als Regelfl¨achen sind; insbesondere sind die doppelt geradlinigen Fl¨achen aus Vorlesung 16 nicht abwickelbar (was man bereits anhand der Eigenschaften abwickelbarer Fl¨achen erkennt, die wir in Abschnitt 13.2
Abb. 13.6 Die Tangentialebenen entlang einer Erzeugenden. 1
¨ Aus einer Fehl¨ubersetzung des englischen Begriffs ruled surface. Anm. d. Ubers.
13.4 Wir wollen die Linien einer abwickelbaren Fl¨ache fortsetzen
221
aufgef¨uhrt haben). Wir werden nun eine weitere experimentelle Tatsache formulieren, die den Unterschied zwischen geradlinigen Fl¨achen (Regelfl¨achen) und abwickelbaren Fl¨achen kennzeichnet. Gegeben sei eine beliebige Regelfl¨ache S und eine Gerade auf S. Wir betrachten die Tangentialebene TA an S in einem Punkt A von . Diese Ebene enth¨alt , die Ebene TA wird allerdings in der Regel f¨ur verschiedene Punkte A von verschieden sein. Das heißt: Schieben wir den Punkt A entlang von , so dreht sich die Ebene TA um . Handelt es sich bei S beispielsweise um ein einschaliges Hyperboloid (siehe Abbildung 13.6 auf der vorherigen Seite), so enth¨alt TA neben die Gerade der zweiten Erzeugendenschar (siehe Vorlesung 16), und folglich unterscheiden sich diese Ebenen f¨ur verschiedene Punkte A. Bewegt sich A entlang von , so vollf¨uhrt TA fast eine halbe Drehung um . Soetwas passiert auf einer abwickelbaren Fl¨ache allerdings nie: Alle Tangentialebenen an eine abwickelbare Fl¨ache S in den Punkten auf einer geraden Linie auf dieser Fl¨ache fallen zusammen. Mit anderen Worten: Man kann an eine abwickelbare Fl¨ache nicht nur eine (eindimensionale) Fahrradspeiche anlegen, sondern auch ein (zweidimensionales) Lineal (siehe Abbildung 13.7).
Abb. 13.7 Die Tangentialebenen entlang einer Regelgeraden sind gleich.
Dieses Kriterium (das wir ebenfalls nicht beweisen) liefert nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung daf¨ur, dass eine Regelfl¨ache abwickelbar ist.
13.4 Wir wollen die Linien einer abwickelbaren Fl¨ache fortsetzen Sehen wir uns noch einmal Abbildung 13.5 auf der vorherigen Seite an. Da unsere Fl¨ache S nicht unendlich ist (ein Papierbogen kann nicht unendlich sein!), sind diese geraden Linien auf S nicht unendlich: Sie beginnen und enden auf dem Rand der
222
13 Papierbogengeometrie
Fl¨ache. Wir wollen diese Linien in eine der beiden m¨oglichen Richtungen fortsetzen. Was wird passieren? Diese Frage scheint auf den ersten Blick harmlos. Setzen wir die in Abbildung 13.5 auf Seite 220 dargestellten Linien nach oben fort (dorthin, wo sie divergieren). Wir sehen, dass nichts außergew¨ohnliches passiert: Die Fl¨ache w¨achst, schließlich ist sie immer weniger gekr¨ummt, wobei sie mehr und mehr einer Ebene gleicht (siehe Abbildung 13.8).
Abb. 13.8 Fortsetzung der Linien nach oben.
Aber was passiert, wenn wir die Linien in die entgegengesetzte Richtung fortsetzen (siehe Abbildung 13.9)? Sie als Leser sollten hier eine Pause einlegen und u¨ ber diese Frage nachdenken. Die Linien konvergieren, aber sie treffen sich in der Regel nicht in einem Punkt; wir k¨onnen erwarten, dass sie paarweise windschief sind. Wir k¨onnen erwarten, dass sie erst konvergieren und dann divergieren, wobei sie eine Fl¨ache bilden, die an ein Hyperboloid erinnert – das Hyperboloid ist aber
Abb. 13.9 Fortsetzung der Linien nach unten.
13.5 Warum gibt es eine R¨uckkehrkante?
223
Abb. 13.10 Scharfe Kante (R¨uckkehrkante).
keine abwickelbare Fl¨ache, sodass auch dies wahrscheinlich nicht passiert. Es l¨asst sich nicht leicht erraten, was passiert, und was passiert, ist Folgendes: Die Fl¨ache bleibt nicht glatt; sie entwickelt eine scharfe Kante (R¨uckkehrkante). Das ist eine Kurve, f¨ur die der Schnitt der Fl¨ache mit einer Ebene, die senkrecht zu dieser Kurve ist, wie eine semikubische Parabel aussieht (siehe Abbildung 13.10). Dar¨uber hinaus sind alle Linien auf der Fl¨ache S Tangenten an diese Kurve.
¨ 13.5 Warum gibt es eine Ruckkehrkante? Wenn wir diese Aussage schon nicht beweisen, so wollen wir wenigstens den Versuch unternehmen, zu erkl¨aren, warum sie gelten sollte. Versuchen wir, die fortgesetzten Linien aus unserer Abbildung 13.5 auf Seite 220 tats¨achlich zu zeichnen (siehe Abbildung 13.11). In Abbildung 13.11 k¨onnen Sie die R¨uckkehrkante mit eigenen Augen sehen!
Abb. 13.11 Die Einh¨ullende der Regelgeraden.
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13 Papierbogengeometrie
Abb. 13.12 Die Tangentialebene des Hyperboloids steht senkrecht auf der Zeichnung.
Aber nein, das ist nicht u¨ berzeugend. Die Zeichnung eines Hyperboloids (siehe Abbildung 13.12) sieht ganz genauso aus: In der Zeichnung gibt es eine Kurve (die seitliche Hyperbel), an die alle Geraden auf dem Hyperboloid scheinbar tangential sind. Wir sagen scheinbar“, weil die Linien, die wir in der Zeichnung erkennen, die ” Projektionen der Linien auf der Fl¨ache auf eine ebene Buchseite sind. Auf der Fl¨ache ist nichts tangential; der Eindruck entsteht lediglich dadurch, dass die Tangentialebenen an das Hyperboloid im Punkt, der den Punkten auf der seitlichen Hyperbel entspricht, senkrecht auf unserer Zeichnenebene stehen und ihre Projektionen Linien sind. Aufgrund der Regel, die wir in Abschnitt 13.3 formuliert hatten, ist das aber auf einer abwickelbaren Fl¨ache unm¨oglich. Tats¨achlich steht die Tangentialebene an die Fl¨ache in den Punkten unserer Linie, die nicht zur R¨uckkehrkante geh¨oren, nicht senkrecht auf der Zeichenebene. Die Tangentialebene ist allerdings f¨ur alle Punkte der Linie gleich (erinnern Sie sich an unsere Regelgeradenregel?); folglich steht sie in den Ber¨uhrungspunkten mit der Kante nicht senkrecht auf der Zeichenebene.
Abb. 13.13 Die Tangentialebene einer abwickelbaren Fl¨ache steht nicht senkrecht auf der Zeichenebene.
13.6 Umgekehrte Konstruktion: Von der R¨uckkehrkante zur abwickelbaren Fl¨ache
225
Somit sieht die Tangentialebene so aus, wie in Abbildung 13.13 auf der vorherigen Seite dargestellt, was zeigt, dass die Kurve, n¨amlich die R¨uckkehrkante, tats¨achlich zu den Regelgeraden auf der Fl¨ache tangential ist.
¨ 13.6 Umgekehrte Konstruktion: Von der Ruckkehrkante zur abwickelbaren Fl¨ache Da unsere Fl¨ache aus Geraden besteht, die tangential an der R¨uckkehrkante liegen, k¨onnen wir unsere Konstruktion aus der Gegenrichtung betrachten. Beginnen wir mit einer r¨aumlichen Kurve (die nirgends eben sein sollte). Wir betrachten alle Tangenten an unsere Kurve; sie u¨ berstreichen eine Fl¨ache. Diese Fl¨ache ist eine abwickelbare Fl¨ache, und ihre Ursprungskurve ist unsere R¨uckkehrkante. Wirklich u¨ berraschend ist, dass eine beliebige, nirgends ebene, abwickelbare Fl¨ache (einschließlich des Papierbogens, den Sie in Ihren H¨anden halten) auf diese Weise konstruiert werden kann. Zugegeben, die Fl¨ache ist nicht ganz beliebig. Es gibt zwei außergew¨ohnliche, entartete F¨alle. Ihre Fl¨ache kann zylindrisch sein. Das bedeutet, dass alle Linien darauf parallel zueinander sind; diese Fl¨ache hat keine R¨uckkehrkante (man kann sagen, dass ihre R¨uckkehrkante im unendlich fernen Punkt liegt). Der andere Fall ist eine konische Fl¨ache, was bedeutet, dass alle Linien durch einen Punkt verlaufen (man kann sagen, dass die R¨uckkehrkante zu einem Punkt kollabiert). Aber ein all” gemeiner “, zuf¨allig verformter Papierbogen besteht immer aus Tangenten an eine unsichtbare R¨uckkehrkante (unsichtbar deshalb, weil sie stets nicht auf dem Papier, sondern auf der fortgesetzten Fl¨ache liegt).
Abb. 13.14 Diese Fl¨ache wird von den Tangenten an eine Schraubenlinie gebildet.
226
13 Papierbogengeometrie
Es ist nicht wenig u¨ berraschend, dass eine beliebige, nicht ebene Kurve eine R¨uckkehrkante der Fl¨ache ist, die ihre Tangenten bilden. Zur Illustration k¨onnen Sie das Bild der Fl¨ache betrachten, die von den Tangenten an die gew¨ohnliche Schraubenlinie gebildet wird (siehe Abbildung 13.14 auf der vorherigen Seite). Sie k¨onnen sogar selbst eine Modell dieser Fl¨ache aus einem schraubenf¨ormigen Drahtst¨uck und einem B¨undel Fahrradspeichen basteln. Die Speichen bringen Sie als Tangenten an die Kurve am Draht an.
¨ 13.7 Ist die Ruckkehrkante glatt? Ist das alles, was man u¨ ber die R¨uckkehrkante sagen kann? Ganz und gar nicht, wie wir gleich sehen werden. Vergr¨oßern Sie Ihre Fl¨ache gedanklich auf eine solche Gr¨oße, dass Sie darauf laufen k¨onnen, und laufen Sie dann u¨ ber die geraden Linien auf der Fl¨ache. Da die Linien tangential an der R¨uckkehrkante liegen, nimmt der Abstand zwischen Ihnen und dem Ber¨uhrungspunkt entweder schnell ab oder zu, und beides ist m¨oglich. Was passiert in dem Moment, in dem man von dem einen Modus in den anderen u¨ bergeht. Abbildung 13.15 zeigt einen Papierbogen mit geraden Linien und zwei Segmente der R¨uckkehrkante. Was befindet sich dazwischen? Ist es etwa eine glatte Kurve, wie wir sie gestrichelt und mit einem Fragezeichen gekennzeichnet in die Zeichnung eingetragen haben?
Abb. 13.15 Ist die R¨uckkehrkante u¨ berall glatt?
Nein, diese Kurve kann nicht tangential zu allen geraden Linien sein. Daher bleibt nur eine M¨oglichkeit: Die R¨uckkehrkante selbst muss in einigen Punkten Spitzen haben (siehe Abbildung 13.16 auf der n¨achsten Seite). Wir wollen versuchen zu verstehen, wie die Fl¨ache in der Umgebung dieser unglaublichen Punkte aussieht.
13.8 Der Schwalbenschwanz
227
Abb. 13.16 Die R¨uckkehrkante hat eine Spitze.
13.8 Der Schwalbenschwanz Wir wollen mit einem Bild anfangen. Die in Abbildung 13.17 dargestellte Fl¨ache heißt Schwalbenschwanz (wir u¨ berlassen Ihnen das Urteil, wie sehr diese Fl¨ache dem echten Schwanz einer Schwalbe a¨ hnelt). Neben der R¨uckkehrkante hat sie auch eine Selbstschnittkurve. Die Zeichnung auf der linken Seite zeigt eine Schar von Regelgeraden auf der Fl¨ache; die Zeichnung (derselben Fl¨ache) auf der rechten Seite zeigt einige maßgebliche ebene Schnitte.
Abb. 13.17 Der Schwalbenschwanz: Regelgeraden und ebene Schnitte.
228
13 Papierbogengeometrie
Um uns selbst davon zu u¨ berzeugen, dass die Fl¨ache tats¨achlich wie in Abbildung 13.17 auf der vorherigen Seite aussieht, wollen wir wie in Abschnitt 13.6 vorgehen: Wir beginnen mit einer R¨uckkehrkante und konstruieren unsere Fl¨ache als die Vereinigung aller Tangenten. Die typische“ r¨aumliche Kurve mit einer Spitze k¨onnen wir uns aus einer (ebe” nen) semikubischen Parabel verschaffen, indem wir ihre Ebene etwas verformen. Diese Kurve kann in einem rechtwinkligen Koordinatensystem durch die parametrischen Gleichungen x = at 2 , y = bt 3 und z = ct 4 beschrieben werden. Schauen wir von oben auf die Kurve (so erkennen wir die semikubische Parabel) und zeichnen wir ihre Tangenten. Durch den Ber¨uhrungspunkt und den Schnittpunkt mit der Symmetrielinie der semikubischen Parabel wird jede Tangente in drei Abschnitte unterteilt (siehe Abbildung 13.18).
Abb. 13.18 Tangente an eine semikubische Parabel.
Dann zeichnen wir den ersten, zweiten und dritten Teil jeder Tangente einzeln (siehe Abbildung 13.19(a)–(c); das sind drei Teile des Schwalbenschwanzes). Abbildung 13.19(a) zeigt einen Teil der Fl¨ache zwischen den Zweigen der R¨uckkehrkante; er w¨olbt sich etwas nach oben. Abbildung 13.19(b) zeigt die beiden Teile des Schwalbenschwanzes der Selbstschnittkurve. Abbildung 13.19(c) zeigt den u¨ brigen Teil der Fl¨ache. Bedenken Sie, dass die in Abbildung 13.19(b) und 13.19(c) dargestellten Teile der Fl¨ache Kanten entlang der Selbstschnittkurve haben, und das diese Kurve die H¨alfte einer gew¨ohnlichen ebenen Parabel ist.
Abb. 13.19 Drei Teile des Schwalbenschwanzes.
13.9 Schwalbenschw¨anze gibt es u¨ berall
229
Also hat eine Fl¨ache, die sich aus der nat¨urlichsten Fortsetzung eines zuf¨allig verformten Papierbogens ergibt, eine R¨uckkehrkante mit Spitzen. In der Umgebung einer Spitze der R¨uckkehrkante sieht die Fl¨ache wie ein Schwalbenschwanz aus. Das ist die Antwort auf eine harmlos wirkende Frage, die wir am Beginn des Abschnitts 13.4 gestellt haben.
¨ 13.9 Schwalbenschw¨anze gibt es uberall Sie werden sich daran erinnern, dass wir in einem anderen Teil dieses Buches (Vorlesung 9) versucht haben, Sie davon zu u¨ berzeugen, dass es u¨ berall Spitzen gibt. Das galt f¨ur ebene Geometrie; wir m¨ussen zugeben, dass es im Raum u¨ berall Schwalbenschw¨anze gibt. Die r¨aumlichen Konstruktionen, die denen aus Vorlesung 9 entsprechen, darunter Fronten von Fl¨achen und sichtbare Konturen vierdimensionaler K¨orper, f¨uhren auf Fl¨achen mit Schwalbenschw¨anzen. Stellen Sie sich beispielsweise eine Fl¨ache vor, die wie ein Ellipsoid aussieht (etwa ein Ellipsoid), und bewegen Sie dann gedanklich jeden Punkt entlang einer Normalen ins Innere des Ellipsoids, dann bildet die sich bewegende Fl¨ache in einem gewissen Moment R¨uckkehrkanten, Selbstschnittkurven und Schwalbenschw¨anze aus, die einander durchdringen und schließlich verschwinden. Historisch betrachtet, tauchte das erste Bild des Schwalbenschwanzes (nicht unter diesem Namen, den erhielt die Fl¨ache erst 1960 von Ren´e Thom) in der Mitte des 19. Jahrhunderts in B¨uchern u¨ ber Algebra auf. Wir haben diesen Aspekt des Schwalbenschwanzes in Vorlesung 8 diskutiert. Das war so: Sind wir an der Anzahl der (reellen) L¨osungen der Gleichung x4 + px2 + qx + r = 0
(13.1)
interessiert, so m¨ussen wir einen Schwalbenschwanz mit den Koordinaten p, q, r im Raum betrachten (die R¨uckkehrkante dieses Schwalbenschwanzes m¨usste p = −6t 2 , q = 8t 3 , r = −3t 4 sein). Im Innern der dreieckigen Tasche des Schwalbenschwanzes gibt es Punkte ¨ (p, q, r), f¨ur die Gleichung (13.1) vier reelle L¨osungen besitzt. Uber der Fl¨ache gibt es Punkte (p, q, r), die zu Gleichungen mit zwei reellen L¨osungen (und zwei konjugiert komplexen L¨osungen) geh¨oren. Zu Punkten unter der Fl¨ache geh¨oren Gleichungen, die u¨ berhaupt keine reellen L¨osungen besitzen. Auf der Fl¨ache, außer dem Rand der Tasche (mit anderen Worten – auf dem Teil der Fl¨ache, der zu Abbildung 13.19(c) geh¨ort), gibt es eine reelle L¨osung (doppelt) und ein Paar konjugiert komplexer L¨osungen. Auf dem Rand der Tasche gibt es drei reelle L¨osungen – zwei einfache L¨osungen und eine doppelte; der Unterschied zwischen dem oberen Teil dieses Randes (siehe Abbildung 13.19(a)) und den Seitenteilen (siehe Abbildung 13.19(b)) besteht in der Reihenfolge der L¨osungen: Auf dem oberen Teil liegen die mehrfachen Nullstellen zwischen den einfachen Nullstellen, und auf den beiden Seitenteilen ist die mehrfache Nullstelle kleiner als jede einfache Nullstelle beziehungs-
230
13 Papierbogengeometrie
Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
weise gr¨oßer. Auf der R¨uckkehrkante gibt es zwei Nullstellen: eine dreifache Nullstelle und eine einfache Nullstelle; die beiden Zweige der R¨uckkehrkante geh¨oren zu den beiden Ungleichungen, die zwischen diesen Nullstellen bestehen k¨onnen. Auf der Selbstschnittkurve gibt es zwei Paare doppelter Nullstellen (¨ubrigens liegt die zweite H¨alfte dieser Selbstschnittparabel im Gebiet ohne reelle Nullstellen“; es ” geh¨ort zu Gleichungen mit mehrfachen, konjugiert komplexen Nullstellen). Schließlich geh¨ort der singul¨arste Punkt, die Spitze der R¨uckkehrkante, zur Gleichung x4 = 0 mit vier gleichen Nullstellen. Bedenken Sie, dass das erste Bild des Schwalbenschwanzes (aus Abbildung 8.11 auf Seite 141 in Vorlesung 8) ganz anders als Abbildung 13.17 auf Seite 227 aussieht.
Leonard Euler 1707–1783
Ren´e Thom 1923–2002
¨ 13.10 Ubungen ¨ In den nachfolgenden Ubungen k¨onnen Sie alle S¨atze aus dieser Vorlesung verwenden, unabh¨angig davon, ob wir sie bewiesen haben oder nicht. Sei γ = {x = x(t), y = y(t), z = z(t)} eine Kurve, und sei P = (x(t0 ), y(t0 ), z(t0 )) kein Wendepunkt (was bedeutet, dass Geschwindigkeitsvektor γ (t0 ) = (x (t0 ), y (t0 ), z (t0 )) und Beschleunigungsvektor γ (t0 ) = (x (t0 ), y (t0 ), z (t0 )) nicht kollinear, also linear unabh¨angig, sind). Die von diesen beiden Vektoren aufgespannte Ebene im Punkt P heißt Schmiegeebene von γ im Punkt P. ¨ Ubung 13.1. Beweisen Sie: Enth¨alt eine Ebene Π die Tangenten an die Kurve γ im Punkt P und liegt die Kurve γ in einer Umgebung von P nicht auf einer Seite von Π , so ist Π die Schmiegeebene.
¨ 13.10 Ubungen
231
¨ Ubung 13.2. Beweisen Sie, dass die Tangentialebenen einer allgemeinen (nicht ebenen, nicht zylindrischen und nicht konischen) abwickelbaren Fl¨ache Schmiegeebenen an die R¨uckkehrkante sind, und umgekehrt. (Es gibt Tangentialebenen an die Fl¨ache, die durch die Spitze der R¨uckkehrkante verlaufen; diese Ebenen k¨onnen als Schmiegeebenen der R¨uckkehrkante angesehen werden, obwohl die oben angegebene Definition diesen Fall nicht einschließt). ¨ Ubung 13.3. Beweisen Sie, dass eine allgemeine Ebenenschar im Raum die Tan¨ gentialebenenschar an eine abwickelbare Fl¨ache ist, und sie daher nach Ubung 13.2 auch eine Schar von Schmiegeebenen an eine Kurve ist. Hinweis: Eine Ebenenschar hat also zwei Einh¨ullende“: Eine abwickelbare Fl¨ache ” und eine Kurve; die Kurve ist die R¨uckkehrkante der abwickelbaren Fl¨ache. ¨ ¨ Ubung 13.4. (Ubung 13.3 in Formeln.) (a) Sei A(t)x + B(t)y +C(t)z + D(t) = 0 (wobei t ein Parameter ist) eine Ebenenschar. Beweisen Sie: Um parametrische Gleichungen f¨ur die einh¨ullende abwickelbare Fl¨ache zu erhalten, muss man als Parameter den Parameter t und eine der Koordinaten verwenden und das Gleichungssystem A(t)x + B(t)y +C(t)z + D(t) = 0, A (t)x + B (t)y +C (t)z + D (t) = 0 bez¨uglich der beiden u¨ brigen Koordinaten l¨osen. Um parametrische Gleichungen f¨ur die einh¨ullende Kurve zu erhalten, muss man das Gleichungssystem ⎧ A(t)x + B(t)y +C(t)z + D(t) = 0, ⎨ A (t)x + B (t)y +C (t)z + D (t) = 0, ⎩ A (t)x + B (t)y +C (t)z + D (t) = 0 bez¨uglich x, y, z l¨osen. (b) Wenden Sie diese Formeln auf die Ebenenschar an, die Sie aus der Ebene x +z = 0 erhalten, wenn Sie sie um die z-Achse drehen und gleichzeitig in Richtung dieser Achse parallelverschieben: x cost − y sint + z − t = 0 . ¨ Ubung 13.5. Gegeben sei eine r¨aumliche Kurve mit einem Wendepunkt: x = t, y = t 3 , z = t 4 . Betrachten Sie die abwickelbare Fl¨ache, die von den Tangenten an diese Kurve gebildet wird. Untersuchen Sie alle Singularit¨aten (R¨uckkehrkanten und Selbst¨uberschneidungen) dieser Fl¨ache.
232
13 Papierbogengeometrie
¨ Ubung 13.6. * (a) Betrachten Sie eine geradlinige, abwickelbare Kreisscheibe D. Sei γ eine glatte geschlossene Kurve auf D. Beweisen Sie, dass es zwei Punkte von γ gibt, die auf derselben Regelgeraden von D liegen, und f¨ur die die Tangenten in diesen Punkten an γ parallel sind. (b) Konstruieren Sie eine abwickelbare Kreisscheibe und eine darauf verlaufende glatte geschlossen Kurve, die keine parallelen Tangenten hat.
Vorlesung 14
M¨obiusband aus Papier
¨ 14.1 Einfuhrung: Hier geht es nicht um Ameisen oder Scheren Das M¨obiusband ist ein ungemein beliebtes geometrisches Objekt. Sogar kleine Kinder k¨onnen es schon basteln: Wir nehmen einen Papierstreifen, verdrehen ihn um 180 Grad (durch eine halbe Wendung) und verbinden dann seine Enden mit Leim oder Klebeband. Einer von uns ist u¨ brigens noch immer seinem Analysis-Professor daf¨ur dankbar, dass er seinen Studenten beibrachte, wie man ein M¨obiusband zeichnet. Und das geht so: Zeichnen Sie zuerst ein normales Kleeblatt, f¨ugen Sie drei Doppeltangenten hinzu und radieren Sie dann drei Segmente der Kurve zwischen den Selbstschnittpunkten und Ber¨uhrungspunkten aus (siehe Abbildung 14.1). Sie sehen die Zeichnung, sie ist sch¨on.
Abb. 14.1 Wie man ein M¨obiusband zeichnet.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 14,
233
234
14 M¨obiusband aus Papier
Abb. 14.2 Ein M¨obiusband aus gefaltetem Papier basteln.
Es gibt eine Reihe bekannter Tricks mit dem M¨obiusband. Wir k¨onnen es am mittleren Kreis entlang durchschneiden – sehen Sie selbst, was passiert. Oder wir k¨onnen eine Ameise von einer Seite zur anderen krabbeln lassen, ohne dass sie den Rand u¨ berquert. Wir werden jetzt aber ein ganz anderes Problem betrachten: Wenn es so leicht ist, aus einem Papierstreifen ein M¨obiusband zu machen, was f¨ur eine Streifenform sollte man nehmen? Genauer gesagt: Es muss eine reelle Zahl λ geben, sodass man aus einem rechteckigen Papierstreifen der Breite 1 und der L¨ange f¨ur > λ ein M¨obiusband machen kann, dies aber f¨ur < λ unm¨oglich ist. Frage: Wie groß ist diese Zahl λ ? Antwort: Unbekannt. Wir k¨onnten hier aufh¨oren, werden das aber nicht tun. Diskutieren wir, was u¨ ber dieses Problem bekannt ist und welche Sichtweisen es gibt.
14.2 Falten Sie kein Papier Unsere mit Vorlesung 13 u¨ ber Papierbogengeometrie vertrauten Leser wissen, dass die Bedingung der Glattheit bei Problemen dieser Art entscheidend ist. Wenn es also erlaubt ist, sagen wir, das Papier zu falten, kann ein M¨obiusband aus einem beliebigen Papierrechteck hergestellt werden. Das gilt sogar dann, wenn seine Breite seine L¨ange u¨ bersteigt. Wie man das macht, zeigt Abbildung 14.2: Wir nehmen ein rechteckiges St¨uck Papier (beliebiger Gr¨oße), wir falten es, verdrehen es und kleben es dann zusammen. Die Bedingung der Glattheit – in der Fachsprache bedeutet das die Existenz einer eindeutig bestimmten Tangentialebene in jedem Punkt der Fl¨ache – sollte bei unserem Problem eine Rolle spielen. Nun sind wir f¨ur die Formulierung unseres Hauptresultats ger¨ustet.
14.4 Fl¨achen aus Papier
235
14.3 Hauptsatz Sei λ eine solche reelle Zahl, dass ein glattes M¨obiusband aus einem Papierrechteck der Abmessung 1 × hergestellt werden kann, wenn > λ ist, und dies f¨ur < λ nicht geschehen kann. Satz 14.1.
√ π ≤ λ ≤ 3. 2
√ Somit bleibt das Intervall zwischen π /2 ≈ 1.57 und 3 ≈ 1.73 f¨ur unser Problem eine Grauzone. Sp¨ater werden wir die Situation innerhalb dieser Zone diskutieren; beweisen wir aber zuerst diesen Satz. Wir ben¨otigen einige allgemeine Eigenschaften von Fl¨achen aus Papier.
14.4 Fl¨achen aus Papier Wir haben diese Eigenschaften in Vorlesung 13 diskutiert. Nicht jede Fl¨ache l¨asst sich aus Papier herstellen. Einschr¨ankungen ergeben sich aus physikalischen Eigenschaften von (idealem) Papier: Es ist flexibel, aber nicht dehnbar. Die letzte Eigenschaft bedeutet, dass jede auf einen Papierbogen gezeichnete Kurve ihre L¨ange beh¨alt, wenn wir den Bogen zu einer Fl¨ache verformen. Wie wir aus Vorlesung 13 wissen, ist jede Papierfl¨ache geradlinig, was bedeutet, dass jeder Punkt zu einem geradlinigen Intervall geh¨ort, das auf der Fl¨ache liegt. Die Gerade, auf der dieses Intervall liegt, ist eindeutig bestimmt, abgesehen von dem Fall, dass ein Teil der Fl¨ache
Abb. 14.3 Eine Lineatur einer Papierfl¨ache.
236
14 M¨obiusband aus Papier
um den gew¨ahlten Punkt eben ist. Somit besteht jede Papierfl¨ache aus ebenen Bereichen und geradlinigen Intervallen. Zeichnen wir diese Intervalle und schattieren wir diese Bereiche auf der Fl¨ache. Wenn wir diese Fl¨ache dann zu einem ebenen Bogen auseinanderfalten, so erhalten wir ein Bild wie in Abbildung 14.3 auf der vorherigen Seite.
14.5 Beweis der Ungleichung λ ≥
π 2
Sei ein M¨obiusband aus einem Papierstreifen der Breite 1 und der L¨ange gemacht. Nehmen wir einen sehr langen (unendlichen) Streifen der Breite 1, so k¨onnen wir ihn auf unser M¨obiusband wickeln, sodass jedes Rechteck der L¨ange die Form unseres M¨obiusbandes annimmt (und diese Rechtecke befinden sich abwechselnd auf beiden Seiten des Kernbandes). Markieren wir auf dem Streifen die geradlinigen Intervalle und die ebenen Bereiche (letztere haben die Form von Trapezen, die zu Dreiecken entarten k¨onnen; sie sind im oberen Teil von Abbildung 14.4 schraffiert dargestellt). Das Bild ist periodisch: Es wiederholt sich mit der Periode 2, und die aufeinanderfolgenden Rechtecke der L¨ange wiederholen sich, werden dabei aber umgedreht. Wir f¨ullen die ebenen Bereiche so mit geradlinigen Intervallen, dass der ganze Streifen von einer fortlaufenden Intervallschar (paarweise disjunkt) mit der gleichen Periodizit¨atseigenschaft wie oben (siehe den unteren Teil von Abbildung 14.4) u¨ berzogen ist. Alle Intervalle haben die L¨angen ≥ 1, ihre Endpunkte
Abb. 14.4 Anordnung ebener Bereiche auf dem Streifen mit geradlinigen Segmenten.
14.5 Beweis der Ungleichung λ ≥
π 2
237
liegen auf den R¨andern des Streifens und alle bleiben geradlinig, wenn wir den Streifen zu einem M¨obiusband verformen. Nehmen wir ein beliebiges Intervall unserer Schar, etwa das Intervall AB. Verschieben wir es um nach rechts bis zur Position A B und spiegeln wir dann das Intervall A B an der Mittellinie des Streifens (siehe Abbidlung 14.5). Das resultierende Intervall CD geh¨ort ebenfalls zu unserer Schar (wegen der oben beschriebenen Periodizit¨atseigenschaften).
Abb. 14.5 Intervalle AB und CD.
Zwei Dinge sind offensichtlich. Erstens ist AC + BD = 2; zweitens, f¨allt auf dem M¨obiusband der Punkt C mit Punkt B und der Punkt D mit Punkt A zusammen. Die zweite Aussage bedeutet, dass auf unserem Papiermodell der Winkel zwischen den Intervallen AB und CD gleich 180◦ ist. Folglich bilden im Raum die Intervalle unserer Schar zwischen AB und CD einen Winkel mit dem Intervall AB, der stetig zwischen 0 und 180◦ variiert. Wir nehmen eine (große) Zahl n und w¨ahlen Intervalle A0 B0 = AB, A1 B1 , . . . , An−1 Bn−1 , An Bn = CD unserer Schar (siehe Abbildung 14.6) 180◦ so, dass der Winkel zwischen AB und Ak Bk (auf dem M¨obiusband) gleich k · n (f¨ur k = 0, 1, . . . , n − 1) ist. Das setzt voraus, dass der Winkel zwischen Ak Bk und 180◦ Ak+1 Bk+1 mindestens ist. n
Abb. 14.6 Die Schar Ak Bk .
Lemma 14.1. Sei an die Seite des regul¨aren n-Ecks, das in einen Kreis mit dem Durchmesser 1 eingeschrieben ist. Dann ist (auf unserem Papierstreifen) Ak Ak+1 + Bk Bk+1 > an (f¨ur jedes k).
238
14 M¨obiusband aus Papier
Abb. 14.7 Beweis von Lemma 14.1
Beweis. Betrachten wir ein St¨uck unseres M¨obiusbands aus Papier, das die (Abbilder der) Intervalle Ak Bk und Ak+1 Bk+1 enth¨alt. Die Segmente Ak Ak+1 , Bk Bk+1 im Raum sind nicht l¨anger als dieselben Intervalle auf dem Streifen (die L¨angen der Intervalle auf dem Streifen sind gleich den Bogenl¨angen Ak Ak+1 , Bk Bk+1 auf der Randkurve des M¨obiusbands). Folglich m¨ussen wir unsere Ungleichung nur f¨ur die Punkte Ak , Ak+1 , Bk , Bk+1 im Raum beweisen. Wir w¨ahlen Punkt E so, dass Ak E die gleiche L¨ange und Richtung wie Ak+1 Bk+1 hat (siehe Abbildung 14.7, links). Dann ist Bk+1 E = Ak+1 Ak und Bk E ≤ Bk Bk+1 + Bk+1 E = Ak Ak+1 + Bk Bk+1 . Es gilt aber Bk E > an . Um das zu beweisen, betrachten wir ein gleichschenkliges Dreieck KLM, das in einen Kreis mit dem Durchmesser 1 eingeschrieben ist. Die Basis LM dieses Dreiecks ist eine Seite eines regul¨aren n-Ecks, das in denselben Kreis eingeschrieben ist und den Mittelpunkt des Kreises enth¨alt (siehe Abbildung 14.7, rechts). In diesem Dreieck gilt ∠MKL = 180◦ /n und KL = KM = bn < 1. Im Dreieck Ak Bk E bezeichnen wir mit F und G die Punkte auf den Seiten Ak Bk und Ak E im Abstand bn von Ak (diese Punkte existieren wegen Ak Bk ≥ 1 > bn und Ak E = Ak+1 Bk+1 ≥ 1 > bn ). Dann gilt Bk E > FH ≥ FG ≥ an (die letzte Ungleichung gilt wegen ∠Bk Ak E ≥ 180◦ /n). 2 ¨ zur Ungleichung λ ≥ Zuruck
π . Es gilt 2
2λ ≥ 2 = AC + BD = (A0 A1 + · · · + An−1 An ) + (B0 B1 + · · · + Bn−1 Bn ) = (A0 A1 + B0 B1 ) + · · · + (An−1 An + Bn−1 Bn ) > nan . Da das f¨ur jedes n wahr ist und nan mit wachsendem n gegen π geht, gilt 2λ ≥ π . 2
14.6 Beweis der Ungleichung λ ≤
√ 3
√ 14.6 Beweis der Ungleichung λ ≤ 3
239
Um diese Ungleichung zu beweisen, m¨ussen wir√nur zeigen, wie ein M¨obiusband aus einem 1 × Streifen f¨ur ein beliebiges > 3 hergestellt werden kann. Wir √ werden zeigen, wie ein M¨obiusband aus einem Streifen mit der exakten L¨ange 3 hergestellt werden kann. Dabei entstehen allerdings zwangsl¨aufig einige Falten. Wir bem¨uhen uns, Falten zu vermeiden, aber es is klar, dass disjunkte Falten gegl¨attet werden k¨onnen, wenn wir eine beliebig geringe Verl¨angerung des Streifens in Kauf nehmen (siehe Abbildung 14.8).
Abb. 14.8 Abrunden von Falten.
Die Konstruktion ist in √ Abbildung 14.9 dargestellt: Wir nehmen ein Rechteck ABCD mit AB = 1, AD = 3, und wir zeichnen die gleichseitigen Dreiecke AKL und KLC mit K auf BC und L auf AD. Beachten Sie, dass die rechtwinkligen Dreiecke ABK und CDL zwei H¨alften eines weiteren gleichseitigen Dreiecks sind. (Diese Konstruktion ist m¨oglich, da die Seite eines gleichseitigen Dreiecks mit der H¨ohe 1 √ 2√ 2√ 1√ 3 ist und 3 = 3+ 3 gilt). Dann falten wir den Streigleich 2 tan 30◦ = 3 3 3 fen entlang der Linien AK, KL und LC, wie in Abbildung 14.9 dargestellt. 2
√ Abb. 14.9 Konstruktion eines M¨obiusbands aus einem Rechteck 1 × 3.
240
14 M¨obiusband aus Papier
Bedenken Sie, dass das von uns konstruierte M¨obiusband“ nicht wie ein M¨obius” band aussieht. Es ist eher die Vereinigung von drei identischen gleichseitigen Papierdreiecken AKL, wobei sich das obere Dreieck an das mittlere Dreieck entlang der Seite AL anschließt und das mittlere an das untere entlang der Seite KL. Das obere und das untere schließen entlang der √ Seite AK aneinander an. Nehmen wir einen Streifen, der geringf¨ugig l¨anger als 3 ist und runden die Falten ab, so erhalten wir ein glattes M¨obiusband, das immer noch st¨arker einem gleichseitigen Dreieck als einem M¨obiusband a¨ hnelt.
14.7 Warum ist ein genauerer Wert von λ nicht bekannt? Bis ein Problem gel¨ost wird, ist es schwer zu sagen, warum es noch nicht gel¨ost ist. Trotzdem ist es manchmal m¨oglich, in verschiedenen ungel¨osten Problemen gemeinsame Schwierigkeiten festzustellen. Dies wiederum kann dabei helfen, Erfolg oder Scheitern beim L¨osen mancher ungel¨oster Probleme vorauszusagen oder sogar eine L¨osung zu erraten. In vorangegangenen Abschnitten haben wir bewiesen, dass √ % $ λ ein Punkt des Segments π /2, 3 ist. Aber welcher Punkt? Gibt es wenigstens √ eine plausible Vermutung? Ja: Wir denken, dass λ = 3 ist, und es u¨ berrascht uns nicht, dass noch kein Beweis daf¨ur gefunden wurde. Um das zu begr¨unden, vergegenw¨artigen wir uns, dass unser Beweis der Ungleichung λ ≥ π /2 eine wichtige Eigenschaft eines M¨obiusbands aus Papier nicht ber¨ucksichtigt: Es hat keine Selbst¨uberschneidungen. Man kann kein sich selbst u¨ berschneidendes M¨obiusband aus einem realen Papierbogen herstellen. Es ist aber nicht schwer, es sich vorzustellen: Wie eine Kurve mit Selbst¨uberschneidungen l¨auft es durch sich selbst“, besteht aber aus nicht selbst¨uberschneidenden St¨ucken. ” Angenommen, wir schließen von Anfang an die M¨oglichkeit der Selbst¨uberschneidungen nicht aus, wenn wir von einem M¨obiusband aus Papier sprechen. Dann erh¨alt die Zahl λ eine neue Bedeutung, und der neue Wert von λ ist geringer als der alte oder genauso groß. Zudem bleibt die Ungleichung λ ≥ π /2 g¨ultig, und wir brauchen in ihrem Beweis kein einziges Wort zu a¨ ndern: Die Abwesenheit von Selbst¨ √uberschneidungen wird u¨ berhaupt nicht ber¨ucksichtigt. Was die Ungleichung λ ≤ 3 betrifft, k¨onnte sie betr¨achtlich verfeinert werden. Satz 14.2. Ein glattes M¨obiusband mit Selbst¨uberschneidungen kann aus einem Papier-Rechteck 1 × f¨ur jedes > π /2 hergestellt werden. Beweis. W¨ahlen wir ein beliebig großes ungerades n, und betrachten wir ein regul¨ares n-Eck, bei dem der Abstand von einer Ecke zur gegen¨uberliegenden Seite gleich 1 ist. Sei pn der Umkreis dieses n-Ecks. Es ist klar, dass das n-Eck mit zunehmendem n von einem Kreis mit dem Durchmesser 1 nicht mehr zu unterscheiden ist und dass pn gegen π geht. pn Nehmen wir ein Rechteck ABCD mit der Abmessung 1 × und schreiben wir 2 ihm n − 1 gleichschenklige Dreiecke AKQ, KQL, . . . , MNC ein, die dem Dreieck
14.7 Warum ist ein genauerer Wert von λ nicht bekannt?
241
Abb. 14.10 Ein heptagonales Modell eines M¨obiusbands mit Selbst¨uberschneidungen.
gleichen, das von einer Seite und zwei der l¨angsten Diagonalen unseres regul¨aren nEcks gebildet wird (siehe Abbildung 14.10 mit n = 7). Die Dreiecke ABK und NCD sind zwei H¨alften eines solchen Dreiecks. Falten wir dann das Rechteck entlang der Linien AK, KQ, . . . , NC (in alternierenden Richtungen). Dieser Faltprozess ist in Abbildung 14.10 dargestellt. Am Ende erhalten wir eine Papierfigur, die nicht von einem regul¨aren n-Eck zu unterscheiden ist (ein regul¨ares Siebeneck in unserem Bild), bei dem die Abschnitte AB und CD fast miteinander verschmelzen: Zwischen ihnen liegen lediglich mehrere Schichten von gefaltetem Papier. Gl¨atten wir die Falten (das erfordert einen etwas l¨angeren Streifen) und verbinden wir dann AB mit CD durch einen sehr kurzen Papierstreifen (was heftige Selbst¨uberschneidungen verursacht), so erhalten wir ein glattes M¨obiusband mit Selbst¨uberschneidungen, dessen Verh¨altnis zwischen L¨ange und Breite des Streifens beliebig nahe an π /2 liegt. 2 Wollen wir also beweisen, dass λ > π /2 ist, m¨usste unser Beweis die Abwesenheit von Selbst¨uberschneidungen ber¨ucksichtigen. Die Frage, ob eine Fl¨ache Selbst¨uberschneidungen hat, geh¨ort zur dreidimensionalen Positionsgeometrie“. ” Die gesamte Erfahrung der Mathematik zeigt, dass dieser Bereich der Geometrie besonders schwierig ist: Es gibt fast keine technischen Mittel, um die Probleme dieses Bereichs anzugehen. Folglich ist es schwierig, wenn es eine Verfeinerung der Ungleichung λ ≥ π /2 gibt, einen Beweis√daf¨ur zu finden. Ganz im Gegenteil h¨atte eine Verfeinerung der Ungleichung λ ≤ 3 eine bessere Konstruktion als die von Abschnitt 14.5 erfordert. Man kann aber erwarten, dass diese Konstruktion nat¨urlich und sch¨on ist. Die Tatsache, dass wir sie nicht kennen, k¨onnte als Indiz daf¨ur betrachtet werden,√dass es sie nicht gibt. Aus diesem Grund scheint es uns einleuchtend, dass λ = 3 ist, aber der Beweis wird kaum einfach sein.
242
14 M¨obiusband aus Papier
August Ferdinand M¨obius 1790–1868
¨ 14.8 Ubung Angenommen, wir haben einen Papierzylinder, der aus einem Papierstreifen der Abmessung 1× gemacht wurde. Ist es m¨oglich, ihn umzust¨ulpen (ohne seine Glattheit zu st¨oren)? Es ist eindeutig m¨oglich, wenn der Zylinder kurz und weit ist ( ist groß). Ist der Zylinder aber lang und eng ( ist klein), so ist es unm¨oglich. Wo befindet sich die Grenze zwischen kurzen und weiten Zylindern und langen und engen? Die folgenden Aussagen von B. Halpern und K. Weaver [41] geben eine Teilantwort auf diese Frage. (Bisher ist nichts anderes bekannt.) ¨ Ubung 14.1. * (a) F¨ur > π + 2 ist es m¨oglich, den Zylinder von innen nach außen zu st¨ulpen. (b) F¨ur > π kann der Zylinder mit Selbst¨uberschneidungen von innen nach außen gest¨ulpt werden. (c) F¨ur < π kann der Zylinder nicht von innen nach außen gest¨ulpt werden, weder mit noch ohne Selbst¨uberschneidungen.
Vorlesung 15
¨ Mehr uber das Falten von Papier
15.1 Die Falzlinie ist gerade Nehmen Sie einen Papierbogen und falten Sie ihn: Die Falzlinie ist gerade (siehe Abbildung 15.1). Wir beginnen unsere Diskussion u¨ ber das Falten von Papier mit einer mathematischen Erkl¨arung dieses Ph¨anomens.
Abb. 15.1 Wenn man einen Papierbogen faltet, ergibt sich eine gerade Linie.
Als Modell f¨ur unseren Papierbogen verwenden wir einen Teil der Ebene. Die Falzlinie zerlegt die Ebene in zwei Teile. Durch das Falten stellen wir eine eineindeutige Beziehung zwischen diesen Teilen her. Und diese Beziehung ist eine Isometrie: Die Abst¨ande zwischen Punkten a¨ ndern sich nicht. Die letzte Eigenschaft bedeutet, dass Papier nicht dehnbar ist; das ist unsere geltende Annahme aus Vorlesung 13. D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 15,
243
244
15 Mehr u¨ ber das Falten von Papier
Abb. 15.2 Ein Beweis daf¨ur, dass die Falzlinie nicht gekr¨ummt sein kann.
Bezeichnen wir die Falzlinie mit γ . Wir wollen beweisen, dass sie gerade ist. Anderenfalls hat γ einen Teilbogen mit einer von null verschiedenen Kr¨ummung. Sei γ+ die um ein (kleines) St¨uck ε auf die konkave Seite verschone Kurve γ und γ− die auf die konvexe Seite verschobene Kurve (siehe Abbildung 15.2). Dann gilt L¨ange γ+ > L¨ange γ > L¨ange γ− (die Differenz ist von der Ordnung ε ·L¨ange γ ·Kr¨ummung γ ). Andererseits u¨ berf¨uhrt die Isometrie γ+ in γ− , sodass die L¨ange von γ+ genauso groß wie die L¨ange von γ− sein muss. Das ist ein Widerspruch.
¨ 15.2 Und trotzdem kann die Falzlinie gekrummt sein Entgegen dessen, was wir gerade gesagt haben, kann man Papier entlang einer beliebigen glatten Kurve falten! Sie k¨onnen ein Experiment dazu machen: Zeichnen Sie eine Kurve auf einen Papierbogen und falten Sie das Papier leicht entlang der Kurve.1 Das Resultat ist im linken Teil der Abbildung 15.3 dargestellt.
Abb. 15.3 Ein Papierbogen, der entlang einer Kurve gefaltet wurde.
1
Dazu ein praktischer Hinweis: Dr¨ucken Sie beim Zeichnen der Kurve stark auf. Außerdem ist es g¨unstig, die Kurve schon einmal grob auszuschneiden, um sp¨ater nicht mit einem zu großen St¨uck hantieren zu m¨ussen. Ein ernsthafterer Grund, aus dem wir uns auf die Umgebung der Kurve
15.2 Und trotzdem kann die Falzlinie gekr¨ummt sein
245
Abb. 15.4 Eine geschlossene Falzlinie.
Man kann sogar von einer geschlossenen Kurve auf dem Papier ausgehen. Um das Papier falten zu k¨onnen, muss man ein Loch in das Papier schneiden (siehe Abbildung 15.4). Es versteht sich von selbst, dass dies kein Widerspruch zu unserem Argument aus Abschnitt 15.1 auf Seite 243 ist: Die beiden Bl¨atter aus dem linken Teil der Abbildung 15.3 auf der vorherigen Seite ber¨uhren sich nicht; sie stoßen in einem von null verschiedenen Winkel aufeinander (der von Punkt zu Punkt variiert). Die Terminologie wollen wir wie folgt festlegen: Die auf das Papier gezeichnete Kurve bezeichnen wir als Faltkurve und die r¨aumliche Kurve, die wir nach dem Falten erhalten, bezeichnen wir als Faltkante. Experimente mit Papier offenbaren Folgendes: (1) Man kann von einer beliebigen glatten Faltkurve ausgehen und eine beliebige Faltkante erhalten, wenn die Faltkante st¨arker gekr¨ummt ist“ als die Faltkurve. ” (2) In jedem Punkt der Faltkante bilden die beiden Bl¨atter des gefalteten Papiers gleiche Winkel mit der Schmiegeebene2 der Kante. (3) Hat die Faltkurve einen Wendepunkt (wo sie wie eine kubische Parabel aussieht), so ist auch der zugeh¨orige Punkt auf der Faltkante ein Wendepunkt, seine Kr¨ummung ist also null. (4) Ist die Faltkurve geschlossen und streng konvex, so kann die Faltkante keine ebene Kurve sein. In den n¨achsten Abschnitten werden wir diese experimentellen Beobachtungen erkl¨aren. beschr¨anken, besteht darin, dass wir so Selbt¨uberschneidungen der Bl¨atter vermeiden, die anderenfalls unvermeidlich w¨aren. 2 Siehe Abschnitt 15.3 f¨ ur eine Definition.
246
15 Mehr u¨ ber das Falten von Papier
15.3 Geometrie r¨aumlicher Kurven Wir m¨ussen einige Worte u¨ ber die Kr¨ummung ebener und r¨aumlicher Kurven sagen. Sei γ eine glatte ebene Kurve. Um die Kr¨ummung definieren zu k¨onnen, versehen wir die Kurve mit einer Parametrisierung γ (t) nach der Bogenl¨ange. Dann ist der Geschwindigkeitsvektor γ (t) ein Einheitsvektor, und der Beschleunigungsvektor γ (t) steht immer senkrecht auf der Kurve. Der Betrag der Beschleunigung |γ (t)| ¨ ist die Kr¨ummung der Kurve. Das heißt, die Kr¨ummung ist die Anderungsrate der Richtung der Kurve pro L¨angeneinheit. Genauso kann man den Kr¨ummungskreis (Schmiegekreis) der Kurve in einem gegebenen Punkt betrachten; das ist der Kreis durch drei infinitesimal nah beieinander liegende Punkte der Kurve (siehe Vorlesung 10). Die Kr¨ummung ist der Kehrwert des Radius’ des Kr¨ummungskreises. Noch ein weiterer Weg besteht darin, die Kr¨ummung wie folgt zu messen. Wir bewegen jeden Punkt der Kurve mit einheitlicher Geschwindigkeit in die zur Kurve orthogonale Richtung (siehe Vorlesung 9). W¨ahrend dieses Prozesses a¨ ndert sich ¨ die L¨ange der Kurve. Der Betrag der relativen Anderungsrate der L¨ange in einem Punkt ist gleich der Kr¨ummung der Kurve (f¨ur einen Kreis l¨asst sich das leicht u¨ berpr¨ufen, eine beliebige Kurve n¨ahern wir durch ihren Kr¨ummungskreis). Diese Charakterisierung der Kr¨ummung hatten wir in der Argumentation am Ende von Abschnitt 15.1 verwendet. Nun kommen wir zu r¨aumlichen Kurven. Sei γ (t) eine nach der Bogenl¨ange parametrisierte r¨aumliche Kurve. Analog zum ebenen Fall ist ihre Kr¨ummung gleich dem Betrag des Beschleunigungsvektors |γ (t)|. Bedenken Sie den folgenden wichtigen Unterschied gegen¨uber dem ebenen Fall. Eine typische ebene Kurve besitzt Wendepunkte (Punkte mit Kr¨ummung null), in denen sie wie in Abbildung 15.5 aussieht. Das Wort typisch“ bedeutet, dass sich der ” Wendepunkt etwas verschiebt, aber nicht verschwindet, wenn man die Kurve leicht st¨ort. Im Raum enth¨alt eine typische Kurve keine Punkte, in denen die Kr¨ummung null ist.
Abb. 15.5 Eine typische ebene Kurve hat Wendepunkte.
(Ein exakter Beweis dieser Behauptung ist ziemlich langwierig, es gibt aber eine plausible Erkl¨arung. Der Beschleunigungsvektor γ (t) steht senkrecht auf der Kurve und hat zwei Freiheitsgrade. Damit dieser Vektor verschwindet, m¨ussen zwei unabh¨angige Bedingungen erf¨ullt sein. Ein Punkt auf einer Kurve hat aber nur einen Freiheitsgrad, sodass wir mehr Gleichungen als Variable haben, und folglich besitzt eine typische Kurve keine Punkte, in denen die Kr¨ummung null ist.)
15.4 Erkl¨arung der Papierfaltexperimente
247
Angenommen, unsere r¨aumliche Kurve hat keine Punkte mit verschwindender Kr¨ummung. Die Ebene, die von Geschwindigkeitsvektor γ (t) und Beschleunigungsvektor γ (t) aufgespannt wird, heißt Schmiegeebene oder Kr¨ummungsebene der Kurve. Diese Ebene approximiert die Kurve in diesem Punkt γ (t) besser als jede andere Ebene: Bis auf Fehler zweiter Ordnung liegt die Kurve dort in ihrer Schmie¨ geebene. Aquivalent dazu ist die Aussage, dass die Schmiegeebene die Ebene durch drei infinitesimal nah beieinander liegende Punkte der Kurve ist. Der Einheitsvektor, der senkrecht auf der Schmiegeebene steht, heißt Binormalenvektor. Der Binormalenvektor a¨ ndert sich von Punkt zu Punkt, und der Betrag seiner Ableitung (nach dem Bogenl¨angenparameter) heißt Torsion. Die Torsion gibt an, wie sich die Schmiegeebene entlang der Kurve dreht. Wir nehmen an, dass eine nach der Bogenl¨ange parametrisierte Kurve γ (t) auf einer Fl¨ache M liegt. Der Beschleunigungsvektor γ (t) kann in zwei Komponenten zerlegt werden, und zwar in die senkrecht auf M stehende Komponente und die Tangentialkomponente. Der Betrag der Tangentialkomponente heißt geod¨atische Kr¨ummung der Kurve (siehe Vorlesung 20). Sie kann wieder als die ¨ relative Anderungsrate der L¨ange interpretiert werden, wenn sich jeder Punkt von γ auf M mit Einheitsgeschwindigkeit in der senkrecht auf der Kurve stehenden Richtung bewegt.
15.4 Erkl¨arung der Papierfaltexperimente Rufen Sie sich ins Ged¨achtnis, dass unsere mathematischen Modelle f¨ur Papierb¨ogen abwickelbare Fl¨achen waren. Setzen Sie die beiden Bl¨atter der abwickelbaren Fl¨ache aus dem linken Teil der Abbildung 15.3 auf Seite 244 u¨ ber ihre Schnittkurve, die Faltkante, hinaus fort, wie es im rechten Teil der Abbildung 15.3 auf Seite 244 dargestellt ist. Man erkennt zwei abwickelbare Fl¨achen, die sich entlang der r¨aumlichen Kurve γ schneiden. Entfaltet man eine der beiden Fl¨achen in die Ebene, so transformiert sich γ in ein und dieselbe ebene Kurve δ , die Faltkurve. Betrachten wir die umgekehrte Situation und stellen wir die folgende Frage: Gegeben seien eine ebene Kurve δ , eine r¨aumliche Kurve γ und eine Isometrie (abstandserhaltende Beziehung) f zwischen δ und γ . Ist es m¨oglich, f auf einer ebenen Umgebung von δ fortzusetzen, um eine abwickelbare Fl¨ache zu erhalten, die γ enth¨alt? Anders ausgedr¨uckt: Kann man einen Papierbogen, auf den eine Kurve δ gezeichnet ist, so verformen, dass sich δ zu einer gegebenen r¨aumlichen Kurve γ verformt? Satz 15.1. F¨ur jeden Punkt x von δ sei die Kr¨ummung von γ im entsprechenden Punkt f (x) gr¨oßer als die Kr¨ummung von δ in x. Dann existieren genau zwei Fortsetzungen von f auf einer ebenen Umgebung von δ , die abwickelbare Fl¨achen liefern, die γ enthalten. Beweis. Wir parametrisieren die Kurven γ und δ so durch einen Bogenl¨angenparameter t, dass γ (t) = f (δ (t)) ist. Die gew¨unschte abwickelbare Fl¨ache M bildet mit der Schmiegeebene der Kurve γ (t) (die aufgrund der Annahme wohldefiniert ist, dass die Kr¨ummung von γ nie verschwindet) den Winkel α (t). Die Kr¨ummung der
15 Mehr u¨ ber das Falten von Papier
248
r¨aumlichen Kurve γ bezeichnen wir mit κ (t), die Kr¨ummung der ebenen Kurve δ mit k(t). Der Betrag des Kr¨ummungsvektors von γ ist κ , und seine Projektion auf M hat den Betrag κ (t) cos α (t); folglich ist die geod¨atische Kr¨ummung von γ gleich κ (t) cos α (t). Die geod¨atische Kr¨ummung einer Kurve auf einer Fl¨ache h¨angt nur von der inneren Geometrie der Fl¨ache ab. Sie a¨ ndert sich nicht, wenn diese Fl¨ache ohne Dehnung verformt wird. Deshalb ist die geod¨atische Kr¨ummung von γ gleich der Kr¨ummung der ebenen Kurve δ :
κ (t) cos α (t) = k(t) .
(15.1)
Diese Gleichung bestimmt die Funktion α (t) eindeutig. Wegen k < κ verschwindet der Winkel α nie. Um die abwickelbare Fl¨ache M aus der Funktion α (t) zu konstruieren, betrachten wie die einparametrige Ebenenschar durch Punkte γ (t), die den Tangentialvektor γ (t) enthalten und mit der Schmiegeebene von γ (es gibt zwei solcher Ebenen) den Winkel α (t) bilden (siehe Abbildung 15.6). Aus der Betrachtung abwickelbarer Fl¨achen in Vorlesung 13 wissen wir, dass eine einparametrige Ebenenschar eine abwickelbare Fl¨ache einh¨ullt, und wir erhalten unsere beiden Ebenen durch γ . 2
Abb. 15.6 Konstruktion der abwickelbaren Fl¨ache aus der Funktion α (t).
Die beiden abwickelbaren Fl¨achen aus Satz 15.1 auf der vorherigen Seite sind die Bl¨atter, die sich entlang der Faltkante aus Abbildung 15.3 auf Seite 244 schneiden. Setzen wir die Bl¨atter u¨ ber die Faltkante hinaus fort, so erhalten wir eine weitere Konfiguration von Bl¨attern, die sich entlang der Kurve γ treffen. Es gibt also genau zwei Arten, Papier entlang der Kurve δ zu falten, um die r¨aumliche Kurve γ zu erhalten. Dies erkl¨art und erweitert die erste Beobachtung aus Abschnitt 15.2. In dem speziellen Fall, dass γ eine ebene Kurve ist, ergibt sich eines des Bl¨atter aus dem anderen durch Reflexion an der Kurvenebene. Im allgemeinen Fall einer nichtebenen Kurve γ , sind die Tangentialebenen der beiden Bl¨atter bez¨uglich der Schmiegeebene von γ in jedem Punkt symmetrisch: Tats¨achlich sind die Winkel zwischen der Schmiegeebene und den beiden Bl¨attern gleich α . Dies begr¨undet die zweite Beobachtung aus Abschnitt 15.2 auf Seite 245. Wenden wir uns der dritten Beobachtung zu. Sei δ (t0 ) ein Wendepunkt, an dem die Falte wie eine kubische Parabel aussieht. Somit ist k(t0 ) = 0, und die Kr¨ummung verschwindet unmittelbar vor und nach dem Wendepunkt nicht. Nach Formel (15.1)
15.5 Mehr Formeln und weitere Beobachtungen
249
ist entweder α (t0 ) = π /2 oder κ (t0 ) = 0. Wir wollen zeigen, dass tats¨achlich die letzte der beiden M¨oglichkeiten gilt. Angenommen, dem ist nicht so. Dann stehen beide Bl¨atter senkrecht auf der Schmiegeebene von γ im Punkt γ (t0 ), und daher fallen ihre Tangentialebenen zusammen. Außerdem gilt f¨ur κ (t0 ) = 0, dass die Projektion des Kr¨ummungsvektors der r¨aumlichen Kurve γ auf jedes Blatt der Vektor der geod¨atischen Kr¨ummung darin ist. Dieser Vektor liegt auf einer Seite von γ auf der Fl¨ache in den Punkten γ (t0 − ε ) unmittelbar vor dem Wendepunkt und auf der anderen Seite in den Punkten γ (t0 + ε ) unmittelbar nach dem Wendepunkt. Deshalb hat die Funktion α (t) − π /2 bei t = t0 einen Vorzeichenwechsel. Das bedeutet, dass sich die beiden Bl¨atter im Punkt t = t0 durchdringen. Das ist f¨ur echtes Papier unm¨oglich. Dies impliziert κ (t0 ) = 0, die Faltkante hat also einen Wendepunkt. Kommen wir nun zur vierten Beobachtung. Wir nehmen an, dass sowohl die Faltkante γ als auch die Faltkurve δ geschlossene Ebene Kurven sind und dass δ streng konvex ist. Die Relation (15.1) zwischen den Kurven gilt immer noch: κ cos α = k und k verschwindet nirgends. Folglich verschwindet auch κ &nicht, und γ& ist eine konvexe ebene Kurve. Zus¨atzlich gilt κ (t) ≥ k(t) f¨ur alle t und κ (t) dt > k(t) dt, weil α (t) nicht verschwindet. Andererseits ist die Gesamtkr¨ummung einer einfa¨ chen geschlossenen Kurve gleich 2π (siehe Ubung 15.1 auf Seite 253). Deshalb m¨ussen die beiden Integrale gleich sein, was ein Widerspruch ist.
15.5 Mehr Formeln und weitere Beobachtungen Nach Satz 15.1 auf Seite 247 bestimmen die Faltkurve δ und die Faltkante γ die abwickelbare Fl¨ache, das Ergebnis aus der Fortsetzung der Isometrie zwischen δ und γ auf eine Umgebung von δ . Rufen Sie sich aus Vorlesung 13 ins Ged¨achtnis, dass abwickelbare Fl¨achen geradlinig sind. Den Winkel, den die Regelgeraden mit γ (t) bilden, bezeichnen wir mit β (t). Man sollte die Winkel β (t) durch geometrische Merkmale der Faltkurve und der Faltkante ausdr¨ucken k¨onnen. In der Tat existiert eine solche Formel: cot β (t) =
α (t) − τ (t) , κ (t) sin α (t)
(15.2)
wobei τ die Torsion der Kurve γ und α der Winkel zwischen der Fl¨ache und der Schmiegeebene der Kurve γ ist, der durch Gleichung (15.1) auf der vorherigen Seite gegeben ist. Wir leiten diese Formel hier nicht her: Das ist eine relativ unkompli¨ zierte Ubung zu den Frenet-Formeln aus der Differentialgeometrie von r¨aumlichen Kurven. Wenn Sie mit den Frenet-Formeln vertraut sind, erledigen Sie diese Aufga¨ be als Ubung 15.3 auf Seite 253, anderenfalls vertrauen Sie uns. Kommen wir auf das gefaltete Papier aus Abbildung 15.3 auf Seite 244 zur¨uck. Wir erkennen zwei abwickelbare Fl¨achen, die sich entlang der Faltkante γ schneiden, und jede tr¨agt eine Schar von Regelgeraden. Daher haben wir zwei Funktionen β1 (t) und β2 (t). Entfalten wir die Fl¨achen wieder in die Ebene, so erhalten wir eine
15 Mehr u¨ ber das Falten von Papier
250
Abb. 15.7 Entfalten des gefalteten Papiers.
ebene Kurve, die Faltkurve δ , mit zwei Scharen von Regelgeraden, eine auf jeder Seite (siehe Abbildung 15.7). Die Winkel β1 und β2 sind durch die Formeln cot β1 (t) =
α (t) − τ (t) −α (t) − τ (t) , cot β2 (t) = κ (t) sin α (t) κ (t) sin α (t)
gegeben, wobei die erste davon Formel (15.2) ist und sich die zweite aus der ersten dadurch ergibt, dass wir α durch π − α ersetzen. Daraus folgt cot β1 (t) + cot β2 (t) =
−2τ (t) 2α (t) , cot β1 (t) − cot β2 (t) = . (15.3) κ (t) sin α (t) κ (t) sin α (t)
Die Formeln (15.3) haben zwei interessante Konsequenzen. Wir setzen voraus, dass die Faltkante eine ebene Kurve ist. Dann ist τ = 0 und deshalb β1 + β2 = π . In diesem Fall liefert das Entfalten der beiden Bl¨atter in der Ebene die geraden Linien, die sich zu beiden Seiten der Faltkurve fortsetzen (siehe Abbildung 15.8). Nehmen wir nun an, dass der Raumwinkel zwischen den beiden Bl¨attern entlang der Faltkante konstant ist. Dann ist α = 0 und deshalb β1 = β2 . In diesem Fall bilden die Regelgeraden gleiche Winkel mit der Faltkurve.
Abb. 15.8 Die Regelgeraden zu beiden Seiten der Faltkante k¨onnen sich ineinander Fortsetzen.
15.6 Zwei Beispiele
251
Wir k¨onnen diese Situation wieder umkehren: Wir beginnen mit der Faltkante δ und geben Winkel β1 und β2 vor. Wenn Sie als Leser Interesse an weiteren Experimenten haben, k¨onnen Sie mit Klebeband eine Reihe von Reißzwecken oder Nadeln an beiden Seiten der Faltkante anbringen (was die Winkel β1 und β2 fixiert). Nun falten Sie!
15.6 Zwei Beispiele Als erstes Beispiel verwenden wir als Faltkurve einen Kreisbogen. Auf beiden Seiten seien die Regelgeraden die Radiallinien, die senkrecht auf der Faltkurve stehen. Dann ist β1 = β2 = π /2. Deshalb ist die Faltkante eben und der Raumwinkel zwischen den Bl¨attern ist konstant. Die Regelgeraden zu beiden Seiten schneiden sich in einem Punkt, und folglich sind beide Bl¨atter Kegel (siehe Abbildung 15.9).
Abb. 15.9 Beide Bl¨atter sind Kegel.
Im zweiten Beispiel nutzen wir die optische Eigenschaft der Parabel: Die Schar der Brennpunktstrahlen wird in die Schar der Paralellstrahlen reflektiert (siehe Abbildung 15.10). Ist Ihnen diese Eigenschaft nicht vertraut, sollten Sie entweder
Abb. 15.10 Optische Eigenschaft einer Parabel.
252
15 Mehr u¨ ber das Falten von Papier
¨ Ubung 15.4 auf der n¨achsten Seite bearbeiten oder auf eine Diskussion in Vorlesung 28) warten. Sei die Faltkurve eine Parabel. Die Regelgeraden seien auf der konvexen Seite parallel zur Symmetrieachse, und die Fortsetzungen der Regelgeraden auf der konkaven Seite sollen alle durch den Brennpunkt verlaufen. Aufgrund der optischen Eigenschaft bilden diese Regelgeraden mit der Parabel gleiche Winkel. Folglich ist der Raumwinkel zwischen den Bl¨attern konstant. Eines der Bl¨atter ist wieder ein Kegel. Da die Regelgeraden auf dem anderen Blatt parallel sind, ist dieses ein Zylinder (siehe Abbildung 15.11).
Abb. 15.11 Ein Blatt ist ein Kegel, das andere ein Zylinder.
15.7 Historische Anmerkungen Dass Papier entlang von Kurven gefaltet werden kann, haben wir 1994 von M. Kontsevich gelernt, der dies vor langer Zeit als ein Student im Grundstudium entdeckte. Neben anderen Dingen bemerkte Kontsevich, dass die Faltkante danach strebt, eine ebene Kurve zu sein; das l¨asst sich nicht beweisen, außer man macht einige Annahmen u¨ ber die Elastizit¨at des gefalteten Materials (unser Modell des Papierfaltens ignoriert diese Belange vollkommen). Wir haben die Resultate unserer ¨ Uberlegungen zum Papierfalten in [32] ver¨offentlicht. Wir entdeckten dabei, dass Satz 15.1 auf Seite 247 ziemlich alt ist: Er wurde schon in [6] erw¨ahnt. Sp¨ater stellten wir fest, dass das Falten von nicht dehnbarem Material entlang von Kurven bereits in [24] betrachtet wurde. Duncan und Duncan untersuchten das Problem im Hinblick auf technische Erzeugnisse, die durch Falten und Verformen eines einzelnen Blattes hergestellt werden (wie etwa beim Falzen von Blechkan¨alen oder Pappkartons).
¨ 15.8 Ubungen
253
Wir fragen uns, ob dieses interessante Thema weitere Vorg¨anger hat. Uns bleibt nur, M. Berrys Gesetz zu zitieren (ver¨offentlicht unter 3 ): Nie wird etwas das erste Mal entdeckt.
¨ 15.8 Ubungen ¨ Ubung 15.1. Sei γ (t) eine glatte, nach der Bogenl¨ange parametrisierte, geschlossene Kurve mit der L¨ange L und der Windungszahl w. Sei k(t) die Kr¨ummung von γ (t). Bestimmen Sie # L 0
k(t) dt .
¨ Ubung 15.2. Sei γ eine glatte geschlossene Kurve mit der L¨ange L und der Windungszahl w. Bewegen Sie jeden Punkt von γ ein kleines St¨uck ε in die Normalenrichtung, um eine Kurve γε zu erhalten. Bestimmen Sie die L¨ange von γε . ¨ Ubung 15.3. Beweisen Sie Formel (15.2) auf Seite 249. ¨ Ubung 15.4. Beweisen Sie die optische Eigenschaft der Parabel. ¨ Ubung 15.5. Sei die Faltkurve ein Bogenst¨uck eine Ellipse. Die Regelgeraden sollen auf einer Seite der Faltkurve durch einen Brennpunkt laufen und auf der anderen Seite durch den anderen Brennpunkt. Beweisen Sie, dass beim Falten zwei Kegel entstehen, die entlang der Faltkante einen konstanten Winkel bilden. Hinweis: Verwenden Sie die optische Eigenschaft von Ellipsen (siehe Vorlesung 28). ¨ Ubung 15.6. Warum muss man ein Loch in ein St¨uck Papier schneiden, wenn man es entlang einer geschlossenen Kurve falten will?
3
www.phy.bris.ac.uk/people/berry mv/quotations.html
Geometrie und Topologie
Teil V GERADEN
Vorlesung 16
¨ Geraden auf gekrummten Fl¨achen
16.1 Was ist eine Fl¨ache? Wir w¨urden es lieber vermeiden, diese Frage ernsthaft zu beantworten, aber um S¨atze beweisen zu k¨onnen, brauchen wir pr¨azise Definitionen.
Abb. 16.1 Definition einer Fl¨ache.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 16,
257
258
16 Geraden auf gekr¨ummten Fl¨achen
Abb. 16.2 Diese Fl¨ache enth¨alt eine gerade Linie.
Eine Menge S im Raum heißt Fl¨ache, wenn zu jedem Punkt A in S eine Ebene P und eine positive Zahl r existiert, sodass der Schnitt von S mit einer beliebigen Kugel vom Radius < r um A eineindeutige Projektionen auf die Ebene P hat (siehe Abbildung 16.1 auf der vorherigen Seite). Ebenen, Sph¨aren, Zylinder, Paraboloide, usw. sind Fl¨achen. Manche Fl¨achen, scheinen sie auch noch so gekr¨ummt, enthalten eine vollkommen gerade Linie (was bei der in Abbildung 16.2 dargestellten Fl¨ache der Fall ist). In dieser Vorlesung werden wir Fl¨achen mit sehr vielen Geraden behandeln.
16.2 Regelfl¨achen Eine Fl¨ache S heißt liniert (Regelfl¨ache), wenn zu jedem Punkt A in S eine Gerade durch A existiert, die auf S liegt. Es gibt viele Regelfl¨achen. Eine Ebene ist eine Regelfl¨ache, aber das ist uninteressant. Auch bei einigen anderen Regelfl¨achen, wie etwa Zylindern, sind die Regelgeraden leicht auszumachen. Andere Fl¨achen sind ebenfalls liniert, dies ist aber weniger offensichtlich. Denken Sie zum Beispiel daran, dass Sie eine Regelfl¨ache erhalten, wenn Sie einen Papierbogen (ohne ihn zu falten) kr¨ummen (siehe Vorlesung 13). Hier interessieren wir uns f¨ur eine andere Klasse von Fl¨achen.
¨ 16.3 Zwei Schlusselbeispiele Ein einschaliges Hyperboloid wird im Raum durch die Gleichung x2 + y2 − z2 = 1
16.3 Zwei Schl¨usselbeispiele
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Abb. 16.3 Ein einschaliges Hyperboloid.
beschrieben. Es kann auch als Rotationsfl¨ache der Hyperbel x2 − z2 = 1 in der xzEbene um die z-Achse beschrieben werden (siehe Abbildung 16.3). Glauben Sie, dass diese Fl¨ache liniert ist? Das ist sie. Sie k¨onnen sich davon u¨ berzeugen, indem Sie einen Zylinder aus vertikalen F¨aden basteln, die zwei identische horizontale Reifen miteinander verbinden. Dann drehen Sie den oberen Reifen um die vertikale Achse, wobei Sie die F¨aden straff halten. Aus ihrem Zylinder wird ein Hyperboloid, und Sie erkennen die Regelgeraden (siehe Abbildung 16.4).
Abb. 16.4 Verdrehen eines Zylinders liefert eine Lineatur eines Hyperboloids.
Dar¨uber hinaus existiert noch eine zweite Lineatur derselben Fl¨ache: Um sie zu erhalten, drehen Sie einfach den Reifen um denselben Winkel in die entgegengesetzte Richtung. Abbildung 16.5 auf der n¨achsten Seite zeigt beide Lineaturen (in Wirklichkeit werden Sie das Spiegelbild Ihres Hyperboloids erhalten, da es sich aber um eine Rotationsfl¨ache handelt, ist sie in jeder Ebene durch die Achse symmetrisch und f¨allt damit mit ihrem Spiegelbild zusammen). Um genau das Hyperboloid zu erhalten, das durch die vorhin genannte Gleichung beschrieben wird, m¨ussen Sie die
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16 Geraden auf gekr¨ummten Fl¨achen
Abb. 16.5 Ein einschaliges Hyperboloid ist doppelt liniert.
H¨ohe des Zylinders und den Drehwinkel in bestimmter Weise w¨ahlen. Diese Details u¨ berlassen wir Ihnen als Leser. Ein weiteres Beispiel ist ein hyperbolisches Paraboloid. Diese Fl¨ache kann durch eine sehr einfache Gleichung beschrieben werden: z = xy (siehe Abbildung 16.6, links). Sie a¨ hnelt einem Pferdesattel oder einer Landschaft in der N¨ahe eines Gebirgspasses. Der einfachste Weg, eine Lineatur dieser Fl¨ache zu konstruieren, besteht darin, ihre Schnitte mit den Ebenen x = c zu nehmen, die parallel zur yz-Ebene liegen. Der Schnitt ist (in den Koordinaten y, z in der Ebene x = c) durch die Gleichung z = cy gegeben; er ist eine Gerade. Wieder hat die Fl¨ache eine zweite Lineatur: Dazu nehmen Sie die Schnitte mit den Ebenen y = c (siehe Abbildung 16.6, rechts).
Abb. 16.6 Ein hyperbolisches Paraboloid.
16.5 Es gibt keine dreifach linierten Fl¨achen, die nicht eben sind
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16.4 Doppelt linierte Fl¨achen Die eben beschriebenen Fl¨achen sind doppelt liniert. Das bedeutet, dass es zu jedem Punkt A jeder dieser Fl¨achen zwei verschiedene Geraden 1 und 2 durch A gibt, die auf der Fl¨ache liegen. Man erh¨alt weitere Beispiele f¨ur doppelt linierte Fl¨achen, indem man die eben beschriebenen Fl¨achen gegen Ebenen dr¨uckt oder sie von Ebenen zieht. Formaler ausgedr¨uckt: Es gibt doppelt linierte Fl¨achen, die durch die Gleichungen x2 + y2 − z2 = 1, z = xy beschrieben werden, und das in beliebigen, nicht zwingend rechtwinkligen Koordinatensystemen. Das Erstaunliche ist, dass es keine anderen doppelt linierten Fl¨achen gibt (wir werden sp¨ater eine genauere Aussage dazu machen). Beginnen werden wir aber mit einem Satz, der dreifach linierte Fl¨achen mehr oder weniger ausschließt.
16.5 Es gibt keine dreifach linierten Fl¨achen, die nicht eben sind Eine dreifach linierte Fl¨ache sollte als eine Fl¨ache definiert sein, f¨ur die zu jedem Punkt drei verschiedene Geraden durch diesen Punkt existieren, die auf dieser Fl¨ache liegen. Wir wollen beweisen, dass eine dreifach linierte Fl¨ache in Wirklichkeit eine Ebene sein sollte. Wir beginnen mit der Behauptung, dass eine wesentlich mildere Bedingung eine verheerende Einschr¨ankung f¨ur die Geometrie einer Fl¨ache nach sich zieht. Satz 16.1. Sei S eine Regelfl¨ache, und sei A ∈ S ein Punkt, zu dem es drei verschiedene Geraden 1 , 2 und 3 durch A gibt, die auf der Fl¨ache S liegen. Entweder enth¨alt dann S eine ebene Kreisscheibe um A oder S besteht aus Geraden, die durch A verlaufen. Beweis. Nach der Definition einer Fl¨ache hat ein Teilst¨uck von S um A eine eineindeutige Projektion auf ein Gebiet D in einer Ebene P. Wir bezeichnen mit A , 1 , 2 und 3 die Projektionen von A, 1 , 2 und 3 auf D. Wir w¨ahlen einen Punkt B in S, der hinreichend nah bei A liegt und f¨ur den die Gerade BA nicht zur Fl¨ache geh¨ort (wenn kein derartiger Punkt existiert, so besteht die Fl¨ache S aus Geraden, die durch A verlaufen). Sei eine Gerade durch B (die nicht durch A verl¨auft), die auf der Fl¨ache S liegt. Seien B und Projektionen von B und auf die Ebene P. Dann muss, wenn B hinreichend nah an A liegt, die Gerade in unserem Gebiet D mindestens zwei der Geraden 1 , 2 und 3 schneiden. (Liegt B hinreichend nah an A , so bilden die Geraden durch B , die 1 in D nicht schneiden, tats¨achlich einen kleinen Winkel α1 bei B . Und genauso ergeben sich kleine Winkel α2 und α3 f¨ur 2 und 3 ; siehe Abbildung 16.7 auf der n¨achsten Seite. Diese drei Winkel sind disjunkt, sodass eine Gerade durch B in D h¨ochstens eine der Geraden 1 , 2 und 3 verfehlen kann.) Die Gerade soll 1 und 2 schneiden. Dann schneiden sich auch , 1 und 2 in drei verschiedenen Punkten. Und insbesondere geh¨oren sie zu derselben Ebene Q. F¨ur jeden Punkt C ∈ S, der hinreichend nah an A liegt, muss außerdem die Gerade
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16 Geraden auf gekr¨ummten Fl¨achen
Abb. 16.7 Die Winkel α1 , α2 , α3 sind disjunkt.
auf der Fl¨ache durch C mindestens zwei der Geraden , 1 und 2 an verschiedenen Punkten schneiden (der Beweis ist zum vorherigen Beweis identisch), und folglich geh¨ort C auch zu Q. 2 Korollar 16.1. Lokal betrachtet, ist eine dreifach linierte Fl¨ache eine Ebene; f¨ur jeden Punkt der dreifach linierten Fl¨ache existiert also eine ebene Kreisscheibe um diesen Punkt, die zur Fl¨ache geh¨ort. Beweis. Nach Satz 16.1 auf der vorherigen Seite ist die Fl¨ache in einer Umgebung von A entweder eben oder konisch. Wenn aber eine konische Fl¨ache mit einer Spitze bei A eine Gerade enth¨alt, die nicht durch A verl¨auft, so ist es offensichtlich, dass die Fl¨ache eben ist. 2 (Besser scheint die Behauptung, dass jede zusammenh¨angende dreifach linierte Fl¨ache eine Ebene ist. Wir u¨ berlassen es Ihnen als Leser, das nachzuvollziehen und zu beweisen.) Unser n¨achstes Ziel besteht darin, alle doppelt linierten r¨aumlichen Fl¨achen zu beschreiben. Dazu m¨ussen wir eine sehr spezielle Klasse von Fl¨achen betrachten.
16.6 Fl¨achen, die von drei Geraden erzeugt werden Stellen Sie sich vor, dass Ihre Arbeit darin besteht, Aufgaben f¨ur Mathematiklehrb¨ucher zu schreiben. Stellen Sie sich ferner vor, dass Ihr aktueller Auftrag darin besteht, Aufgaben f¨ur ein Kapitel zusammenzustellen, das sich mit Gleichungen von
16.6 Fl¨achen, die von drei Geraden erzeugt werden
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Geraden und Ebenen im Raum besch¨aftigt. Sie schreiben etwa: Bestimmen Sie eine Gleichung einer Ebene, die durch drei gegebene Punkte verl¨auft. Das ist ein gut ” gestelltes“ Problem: Es gibt immer eine L¨osung, und diese L¨osung ist in der Regel eindeutig (sie ist eindeutig außer in dem Fall, dass die drei Punkte versehentlich kollinear“ sind, also auf einer Geraden liegen). Das Problem ist allerdings nicht gut ” gestellt, wenn Sie sogar vier Punkte (es wird in der Regel keine L¨osungen geben) oder nur zwei Punkte (es wird unendlich viele L¨osungen geben) angeben. Oder das Problem besteht darin, eine Gleichung einer Ebene durch einen gegebenen Punkt zu bestimmen, die parallel zu – wie vielen? – gegebenen Geraden verl¨auft. Die Antwort auf die Frage wie viele?“ ist zwei: Sie nehmen Geraden, die parallel zu den ” gegebenen Geraden durch den gegebenen Punkt verlaufen, und wenn es zwei Geraden gibt, so bestimmen sie (falls sie nicht zusammenfallen) eine einzelne Ebene. Denken Sie zur Unterhaltung u¨ ber das folgende Problem nach: Bestimmen Sie eine Gerade (im Raum) die – wie viele? – gegebene Geraden schneidet? Wie viele Geraden sollten Sie angeben, damit das Problem gut gestellt ist? Wir werden die Antwort auf diese Frage am Ende von Abschnitt 16.7 liefern, sodass Sie Zeit haben, dar¨uber nachzudenken. In der Zwischenzeit werden wir ein einfacheres Problem betrachten. Proposition 16.1. Sei A ein Punkt und seien 1 und 2 zwei Geraden im Raum, sodass A weder zu 1 noch zu 2 geh¨ort und alle drei Objekte nicht auf ein und derselben Ebene liegen. Dann existiert eine eindeutige Gerade durch A, die sowohl zu 1 als auch zu 2 koplanar (schneidend oder parallel) ist. Beweis. (Siehe Abbildung 16.8.) Sei P1 die Ebene, die A und 1 enth¨alt, und sei P2 die Ebene, die A und 2 enth¨alt. Aus der Annahme in der Proposition ergibt sich, dass solche Ebenen P1 , P2 existieren und eindeutig und verschieden sind. Da sie nicht parallel zueinander verlaufen (beide enthalten A), ist ihre Schnittmenge eine Gerade. Diese Gerade erf¨ullt die Bedingungen aus der Proposition. Eine solche Gerade ist eindeutig, weil sie sowohl zu P1 als auch zu P2 geh¨oren muss. 2 Als eine unmittelbare Anwendung greifen wir eine Eigenschaft der beiden doppelt linierten Fl¨achen heraus, die wir in Abschnitt 16.3 betrachtet haben. Offenbar
Abb. 16.8 Beweis von Proposition 16.1.
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16 Geraden auf gekr¨ummten Fl¨achen
ist eine Gerade, die zur ersten Geradenschar (erste Lineatur) des einschaligen Hyperboloids geh¨ort, koplanar zu jeder anderen Gerade der zweiten Geradenschar. Betrachten wir drei beliebige Geraden 1 , 2 und 3 aus der ersten Geradenschar. Dann setzt sich die zweite Schar genau aus den Geraden zusammen, die koplanar zu allen drei Geraden sind. In der Tat haben alle Geraden aus der zweiten Schar diese Eigenschaft, sodass wir nur zeigen m¨ussen, dass jede Gerade mit dieser Eigenschaft zu dieser Schar geh¨ort. Die Gerade soll etwa die Gerade 1 im Punkt A schneiden (sie kann nicht parallel zu allen drei Geraden sein). Es gibt eine Gerade aus der zweiten Schar, die durch A verl¨auft. Sie muss koplanar zu 2 und 3 sein, also muss es sich um handeln, weil eine Gerade mit dieser Eigenschaft eindeutig ist. Folglich ist das einschalige Hyperboloid die Vereinigung aller Geraden, die koplanar zu drei beliebigen, windschiefen Geraden sind, die auf dem Hyperboloid liegen. Dasselbe gilt (und wird analog bewiesen) f¨ur das hyperbolische Paraboloid (mit dem Zusatz, dass es auf dem hyperbolischen Paraboloid keine parallelen Geraden gibt.)
¨ Fl¨achen, die durch drei Geraden erzeugt 16.7 Gleichungen fur werden Seien 1 , 2 und 3 drei paarweise windschiefe (nicht koplanare) Geraden im Raum. Betrachten wir Geraden, die koplanar zu diesen drei Geraden sind. Und zwar gibt es nach Proposition 16.1 auf der vorherigen Seite eine solche Gerade, die durch jeden Punkt von 3 verl¨auft, und es gibt eine weitere Gerade, die parallel zu 3 ist und 1 und 2 schneidet. Die Vereinigung S all dieser Geraden ist eine Regelfl¨ache (wir werden nicht pr¨ufen, ob es sich um eine Fl¨ache handelt, da sich dies aus anderen Resultaten ergeben wird). Wir werden S als Fl¨ache bezeichnen, die von den Geraden 1 , 2 und 3 erzeugt wird. Satz 16.2. Sei S eine Fl¨ache, die von den paarweise windschiefen Geraden 1 , 2 und 3 erzeugt wird. (1) Sind die Geraden 1 , 2 und 3 nicht parallel zu einer Ebene, so wird S in einem (m¨oglicherweise windschiefen) Koordinatensystem durch die Gleichung x2 + y2 − z2 = 1 beschrieben. (2) Anderenfalls wird S in einem Koordinatensystem durch die Gleichung z = xy beschrieben. Beweis. Beginnen wir mit Teil (1). Die Geraden 1 , 2 und 3 sollen nicht parallel zu ein und derselben Ebene verlaufen. Lemma 16.1. Es existiert ein Koordinatensystem, in dem die Geraden durch die Gleichungen (1 ) (2 ) (3 )
x = −z, y = 1, x = z, y = −1, x = 1, y = z
16.7 Gleichungen f¨ur Fl¨achen, die durch drei Geraden erzeugt werden
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Abb. 16.9 Beweis von Lemma 16.1.
beschrieben werden (sie setzen sich also aus Punkten (t, 1, −t), (t, −1,t), (1,t,t) zusammen). Beweis von Lemma 16.1. Sei i , i = 1, 2, 3, eine Gerade, die parallel zu i ist und die beiden u¨ brigen Geraden j , j = i schneidet. (Diese Gerade existiert und ist eindeutig. Und zwar w¨ahlen wir j = i und betrachten die Ebene P, die durch Geraden erzeugt wird, die parallel zu i verlaufen und j schneiden. Diese Ebene ist nicht parallel zur dritten Geraden k , anderenfalls ist sie parallel zu allen drei Geraden. Sei C der Schnittpunkt von P und k . Die Gerade durch C, die parallel zu i verl¨auft, schneidet sowohl j als auch k ; es ist i .) Die Geraden 1 , 2 , 3 , 1 , 2 , 3 bilden ein r¨aumliches Hexagon mit parallelen gegen¨uberliegenden Seiten. Seine Eckpunkte bezeichnen wir mit ABCDEF (wobei A der Schnittpunkt von 1 und 2 ist, B ist der Schnittpunkt von 2 und 3 usw.; siehe Abbildung 16.9, links). Die gegen¨uberliegenden Seiten dieses Hexagons sind parallel (wie wir bereits erw¨ahnt haben), sie haben aber auch noch gleiche L¨angen: Es gilt −→ − → − → −→ −→ −→ −→ AD = AB + BC + CD = AF + FE + ED . Und weil eine Darstellung eines Vektors als Summe von Vektoren, die kollinear zu −→ −→ − → −→ − → −→ 1 , 2 und 3 sind, eindeutig ist, muss AF = CD, AB = ED, BC = FE gelten. Daraus ergibt sich, dass das Hexagon ABCDEF zentralsymmetrisch ist; wir verwenden sein Symmetriezentrum O als Ursprung eines Koordinatensystems. Als e1 verwenden wir den Vektor von O zum Mittelpunkt von BC; als e2 verwenden wir den − → −→ Vektor OA; als e3 verwenden wir den Vektor OB − e1 − e2 . Im Koordinatensystem mit dem Ursprung O und den Basisvektoren e1 , e2 , e3 haben die Punkte A, B, C, D, E und F die in Abbildung 16.9 rechts dargestellten Koordinaten. Wir stellen fest, dass die Punkte F und A Koordinaten haben, die die Gleichungen x = −z, y = 1 erf¨ullen, und somit sind letztere die Gleichungen der Geraden 1 . Analog dazu erf¨ullen die Koordinaten von D und E die Gleichungen x = z, y = −1, und die Koordinaten von B und C erf¨ullen die Gleichungen x = 1, y = z, sodass diese Gleichungen diejenigen der Geraden 2 und 3 sind. 2
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16 Geraden auf gekr¨ummten Fl¨achen
Aus Lemma 16.1 ergibt sich Teil (1) des Satzes 16.2. Und zwar geh¨oren die Geraden aus dem Lemma offensichtlich zur Fl¨ache S , die (in unserem Koordinatensystem) durch die Gleichung x2 + y2 − z2 = 1 beschrieben wird. Die Punkte von S entsprechen Punkten des einschaligen Hyperboloids (das im Standardkoordinatensystem durch dieselbe Gleichung beschrieben wird), und diese Abbildung u¨ berf¨uhrt Geraden in Geraden. Da das Hyperboloid die Vereinigung von Geraden ist, die zu beliebigen drei zueinander windschiefen Geraden koplanar sind, gilt dasselbe f¨ur S . Die Fl¨ache S ist also die Vereinigung von Geraden, die koplanar zu 1 , 2 und 3 sind. Folglich ist S identisch mit S. Kommen wir nun zu Teil (2) des Theorems 16.2. Die Geraden 1 , 2 und 3 sollen in parallelen Ebenen P1 , P2 und P3 liegen. Wir nehmen auch an, dass P2 zwischen P1 und P3 liegt und dass das Verh¨altnis der Abst¨ande von P1 zu P2 und von P2 zu P3 gleich a ist. Lemma 16.2. Es existiert ein Koordinatensystem, in dem die Geraden durch die Gleichungen (1 ) (2 ) (3 )
y = −a, z = −ax, y = 0, z = 0, y = 1, z = x
beschrieben werden.
Abb. 16.10 Beweis von Lemma 16.2.
Beweis von Lemma 16.2. Halten wir die Geraden m1 und m2 fest, die die Geraden 1 , 2 und 3 in den Punkten A1 , A2 ; B1 , B2 und C1 ,C2 schneiden (siehe Abbildung 16.10, links). Wir verwenden B1 als Ursprung des Koordinatensystems und −−→ −−→ −−→ definieren Basisvektoren e1 = B1 B2 , e2 = B1C1 und e3 = B1C2 − e1 − e2 . Dann sind die Koordinaten der Punkte B1 , B2 , C1 und C2 wie in Abbildung 16.10, rechts dargestellt. Weil die Geraden 1 , 2 und 3 in parallelen Ebenen liegen, gilt außerdem |A1 B1 | |A2 B2 | = = a, |B1C1 | |B2C2 | und somit sind die Koordinaten der Punkte A1 und A2 gleich (0, 0, 0) − a((0, 1, 0) − (0, 0, 0)) = (0, −a, 0) und (1, 0, 0) − a((1, 1, 1) − (1, 0, 0)) = (1, −a, −a). Daraus ergibt sich, dass die Geraden 1 , 2 und 3 die behaupteten Gleichungen besitzen. 2
16.8 Es gibt keine anderen doppelt linierten Fl¨achen
267
Aus Lemma 16.2 auf der vorherigen Seite ergibt sich Teil (2) von Satz 16.2 auf Seite 264 genauso wie sich Teil (1) aus Lemma 16.1 auf Seite 264 ergibt. 2 Zum Schluss wollen wir die Frage beantworten, die wir am Anfang von Abschnitt 16.6 auf Seite 262 unbeantwortet gelassen hatten. Wenn das Problem, eine Gerade zu konstruieren, die zu einer gewissen Anzahl windschiefer Geraden koplanar liegt, gut gestellt sein soll, dann muss die Anzahl der gegebenen Geraden vier sein. Und zwar bilden die Geraden, die zu den ersten drei Geraden koplanar sind, eine Fl¨ache, die durch eine Gleichung zweiten Grades beschrieben wird. Die vierte Gerade schneidet diese Fl¨ache in 2, 1 oder 0 Punkten, und jeder dieser Punkte liegt auf einer Geraden, die koplanar zu den ersten drei Geraden ist. Folglich ist die Anzahl der L¨osungen 2, 1 oder 0, genau wie bei einer quadratischen Gleichung.
16.8 Es gibt keine anderen doppelt linierten Fl¨achen Satz 16.3. Sei S eine doppelt linierte Fl¨ache, die keine ebenen Kreisscheiben enth¨alt. Dann existiert f¨ur jeden Punkt A in S eine Fl¨ache S0 , die durch drei Geraden erzeugt wird, derart, dass die Fl¨achen S und S0 in einer Kugel um A zusammenfallen. Anmerkung 16.1. Aus Satz 16.3 kann man ableiten, dass jede zusammenh¨angende, nicht-ebene, doppelt linierte Fl¨ache durch drei windschiefe Geraden erzeugt wird und dass diese nach dem letzten Satz folglich in einem Koordinatensystem durch eine der Gleichungen x2 + y2 − z2 = 1 oder z = xy beschrieben wird. Den Beweis dieser Behauptung u¨ berlassen wir Ihnen als Leser.
Abb. 16.11 Beweis von Satz 16.3.
Beweis von Satz 16.3. Da die Fl¨ache nicht eben ist, gibt es nur zwei Geraden, die durch A verlaufen und in S liegen; diese beiden Geraden seien 1 und 2 . Ein Teil der Fl¨ache um A hat eine eineindeutige Projektion auf ein Gebiet D in einer Ebene. Seien A , 1 und 2 die Projektionen von A, 1 und 2 (siehe Abbildung 16.11, links). F¨ur einen Punkt B in S, der hinreichend nah an A liegt, schneidet
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16 Geraden auf gekr¨ummten Fl¨achen
jede Gerade durch sein Bild B in D entweder 1 oder 2 . Seien m1 und m2 die beiden Geraden in S durch Punkt B, und seien m1 und m2 ihre Bilder in D. Dann schneidet jede Gerade m1 , m2 in D eine der Geraden 1 , 2 . Aber keine von beiden kann beide schneiden: Schneidet etwa m1 sowohl 1 als auch 2 , so bilden die Geraden m1 , 1 , 2 ein Dreieck, und das ebene innere Gebiet des Dreiecks sollte in S liegen (jede Gerade durch einen beliebigen Punkt C im Innern dieses Dreiecks schneidet den Rand dieses Dreieck in zwei Punkten und liegt folglich in der Ebene des Dreiecks.) Aus demselben Grund k¨onnen die beiden Geraden m1 und m2 nicht ein und dieselbe Gerade 1 oder 2 schneiden. Somit schneidet in einer gewissen Umgebung von A jede Gerade in S durch einen Punkt von S, der nicht auf 1 und 2 liegt, genau eine dieser Geraden. Daher k¨onnen wir von zwei Geradenscharen in S sprechen: Geraden, die 2 schneiden (einschließlich 1 ) bilden die erste Schar“, w¨ahrend Geraden, die 1 ” schneiden (einschließlich 2 ) die zweite Schar“ bilden. Offensichtlich ist, dass ” (1) sich die Geraden in jeder Schar nicht schneiden; (2) jede Gerade aus jeder Schar jede Gerade der anderen Schar schneidet; (3) die Geraden jeder Schar die ganze Fl¨ache u¨ berziehen (das ganze Gebiet um A) (siehe Abbildung 16.11, rechts). Das zeigt, dass die Fl¨ache (in einer Umgebung von A) durch drei Geraden aus jeder der beiden Scharen erzeugt wird. 2 Demnach ist jede nicht-ebene doppelt linierte Fl¨ache, zumindest lokal, entweder ein einschaliges Hyperboloid oder ein hyperbolisches Paraboloid.
16.9 Schattentheater Zum Schluss wollen wir Schattenkonfigurationen von Lineaturen einer doppelt linierten Fl¨ache auf einem flachen Schirm betrachten. Wir werden uns auf den Fall eines einschaligen Hyperboloids beschr¨anken, das aus zwei identischen runden Reifen und ein paar Dutzend identischer Speichen aufgebaut ist, die f¨ur die beiden Lineaturen (Scharen von Regelgeraden) stehen (siehe Abbildung 16.5 auf Seite 260). ¨ (Ubung 16.6 auf Seite 271 behandelt den Fall eines hyperbolischen Paraboloids.) Als Erstes nehmen wir an, dass alle Lichtstrahlen parallel zueinander verlaufen (die Lichtquelle soll sich also in unendlicher Entfernung befinden) und dass die Lichtstrahlen parallel zu einer der Geraden auf dem Hyperboloid sind, sagen wir . Zun¨achst ignorieren wir die Reifen (wir nehmen also an, dass die Geraden sehr lang sind und der Abstand zum Schirm sehr groß ist). Der Schatten von wird ein Punkt sein (das sei A). Eine der Geraden aus der zweiten Schar (etwa ) ist parallel zu ; auch ihr Schatten wird ein Punkt sein (etwa A ). Jede Gerade aus der ersten Schar, mit Ausnahme von , wird schneiden; also wird ihr Schatten durch A verlaufen. Analog dazu werden die Schatten aller Geraden aus der zweiten Schar durch A verlaufen. Folglich werden die Schatten aller Geraden auf dem Hyperboloid die Geraden auf dem Schirm sein, die durch einen der (aber nicht durch beide) Punkte A und A verlaufen (siehe Abbildung 16.12 auf der n¨achsten Seite).
16.9 Schattentheater
269
Abb. 16.12 Schatten von Regelgeraden.
Nun beziehen wir die Reifen in unsere Betrachtung ein. Ihre Schatten sind gleichm¨aßige Ellipsen E1 und E2 (oder Kreise, wenn wir sie parallel zum Schirm anordnen; nat¨urlich fallen die Lichtstrahlen in diesem Fall nicht senkrecht auf den Schirm). Da die beiden Geraden und die Reifen schneiden, verlaufen die beiden Ellipsen E1 und E2 durch A und A . Ist s der Schatten der Geraden m aus der zweiten Schar (verl¨auft sie also durch A), so schneidet s die Ellipse E1 in zwei Punkten, n¨amlich in den Punkten A und B, und die Ellipse E2 ebenfalls in zwei Punkten, n¨amlich in den Punkten A und B ; das Segment BB ist dann der Schatten der Gerade m zwischen den Reifen. Genauso kann man die Schatten der Geraden aus der ersten Schar (zwischen den Reifen) zeichnen (siehe Abbildung 16.13).
Abb. 16.13 Schatten von Reifen und Speichen.
Betrachten wir nun eine andere Konfiguration. Platzieren wir eine punktf¨ormige Lichtquelle im Punkt L auf dem Hyperboloid. Mit und bezeichnen wir die beiden Geraden durch L. Den Schirm platzieren wir parallel zu und (damit liegt das Hyperboloid zwischen der Lichtquelle und dem Schirm; siehe Abbildung 16.14 auf der n¨achsten Seite).
270
16 Geraden auf gekr¨ummten Fl¨achen
SCHIRM
Abb. 16.14 Eine Projektion von einem Punkt auf das Hyperboloid.
Die Geraden und werfen keinen Schatten. Sei m = eine Gerade auf dem Hyperboloid aus derselben Schar wie ; sie schneidet in einem Punkt M (oder verl¨auft parallel zu ). Der Schatten von m ist die Schnittlinie zwischen dem Schirm und der Ebene von und m; insbesondere ist sie parallel zu . Genauso sind die Schatten der Geraden aus der zweiten Schar parallel zu . Folglich ist, wenn wir die Reifen kurz ignorieren, die Konfiguration der Schatten diejenige von zwei Scharen paralleler Geraden (siehe Abbildung 16.15, links). Nun seien A und A die Schnittpunkte der Geraden und mit dem ersten Reifen. B und B seien die Schnittpunkte dieser Geraden mit dem zweiten Reifen. Von den beiden Kreisb¨ogen AA des ersten Reifens wirft einer keinen Schatten; der Schatten des zweiten (gr¨oßeren) Kreisbogens ist ein Zweig einer Hyperbel mit Asymptoten,
Abb. 16.15 Schatten auf dem Schirm.
¨ 16.10 Ubungen
271
die parallel zu und sind. Der Schatten des großen Kreisbogens BB des zweiten Reifens ist ein Zweig einer anderen Hyperbel, deren Asymptoten ebenfalls parallel zu und sind. Das vollst¨andige Bild zeigt Abbildung 16.15, rechts. Beachten Sie, dass es zentralsymmetrisch ist: Das Symmetriezentrum ist der Schatten des Punktes L gegen¨uber von L (also der Schnittpunkt der Geraden auf dem Hyperboloid, die parallel zu und sind).
¨ 16.10 Ubungen ¨ Ubung 16.1. Zwei Punkte A und B bewegen sich mit konstanter Geschwindigkeit entlang zweier windschiefer Geraden im Raum. Welche Fl¨ache u¨ berstreicht die Gerade AB? ¨ Ubung 16.2. Beweisen Sie, dass jedes nicht-ebene Viereck in einem eindeutig bestimmten hyperbolischen Paraboloid enthalten ist. ¨ Ubung 16.3. Sei ABCD ein r¨aumliches Viereck. Betrachten Sie die Punkte K, L, M AK MD BL NA und N auf den Seiten AB, BC, CD und DA, sodass = und = gilt. AB CD BC DA Beweisen Sie, dass die Segmente KM und LN einen gemeinsamen Punkt haben. ¨ Ubung 16.4. Seien 1 , 2 und 3 drei Geraden, wobei die Geraden 1 und 2 koplanar sind (aber voneinander verschieden) und 3 zu beiden windschief liegt. Welche Fl¨ache erzeugen die Geraden 1 , 2 und 3 ? (Mit anderen Worten: Was ist die Vereinigung aller Geraden, die koplanar zu allen drei Geraden sind?) Hinweis: Betrachten Sie zwei F¨alle getrennt voneinander. In einem Fall ist die Gerade 3 parallel zur Ebene der Geraden 1 und 2 , im anderen Fall schneidet sie sie. ¨ Ubung 16.5. Bestimmen Sie alle Geraden, die koplanar zu den vier Geraden sind: x = 1, z = y; x = 0, z = 0; x = −1, z = −y; x = y, z = 4. ¨ Ubung 16.6. Ein hyperbolisches Paraboloid wird auf einen Schirm in der Richtung projiziert, die parallel (a) zu einer der Regelgeraden ist; (b) zu den beiden Ebenen ist, zu denen alle Regelgeraden parallel sind. Wie sehen die Projektionen aller Regelgeraden aus?
Vorlesung 17
Siebenundzwanzig Geraden
¨ 17.1 Einfuhrung In Vorlesung 16 haben wir erkannt, dass manche Fl¨achen 2. Ordnung g¨anzlich aus Geraden aufgebaut sind; zudem sind sie doppelt liniert. Wie wir dort bemerkt haben, werden alle Fl¨achen 2. Ordnung, sogar Kugeln und Paraboloide, zu doppelt linierten Fl¨achen, wenn wir nicht nur reelle, sondern auch komplexe Geraden z¨ahlen. Betrachten wir die Geometrie vom algebraischen Standpunkt, so sollten wir uns nach den Fl¨achen 2. Ordnung mit den Fl¨achen 3. Ordnung besch¨aftigen. W¨ahrend aber die Geometrie von Fl¨achen (und nat¨urlich von Kurven) 2. Ordnung bereits den Griechen vor Jahrtausenden bekannt war, wandte man sich der systematischen Analyse von Fl¨achen (und Kurven) 3. Ordnung erst ab dem 19. Jahrhundert zu. Heute gibt es B¨ucher, die sich mit kubischer Geometrie“ besch¨aftigen (erw¨ahnen ” wollen wir The non-singular cubic surfaces“ von B. Segre [71] und Cubic forms“ ” ” von Yu. Manin [53]). Kubische Geometrie unterscheidet sich sehr stark von der klassischen quadratischen Geometrie“. Insbesondere sind kubische Fl¨achen in der ” Regel nicht liniert. Trotzdem enthalten sie noch m¨achtige, wenn auch endliche Ge¨ radenscharen. (Ubrigens enthalten Fl¨achen der Ordnung > 3 u¨ berhaupt keine Geraden.) Geometer des 19. Jahrhunderts, wie Salmon und Cayley, fanden die Antwort auf die nat¨urliche Frage: Wie viele Geraden enth¨alt eine Fl¨ache 3. Ordnung? Die Antwort ist siebenundzwanzig.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 17,
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17 Siebenundzwanzig Geraden
17.2 Wie viele?“ – ist das eine gute Frage? ” Sinn macht die Frage in der algebraischen Geometrie, also in der Geometrie von Kurven und Fl¨achen, die durch algebraische (polynomiale) Gleichungen beschrieben werden. Solche Kurven und Fl¨achen haben Ordnungen, die den Graden der Polynome entsprechen. Zum Beispiel: Wie viele Punkte haben zwei Geraden in der Ebene gemeinsam? Die richtige Antwort ist 1, obwohl sie auch 0 (wenn die Geraden parallel sind) oder ∞ (wenn sie zusammenfallen) sein kann. Im ersten Fall k¨onnen wir sagen, dass der Punkt im Unendlichen“ liegt und ihn mitz¨ahlen. Somit ist das Ergebnis 1 oder ∞. ” Betrachten wir nun eine Kurve 2. Ordnung. Das kann eine Ellipse, eine Hyperbel, eine Parabel oder etwas Entarteteres, wie etwa ein Geradenpaar, sein. Wir k¨onnen sagen, dass eine Kurve 2. Ordnung und eine Gerade 2, 1, 0 oder ∞ viele Punkte gemeinsam haben. Aber die F¨alle 1 oder 0 sind strittig. Gibt es nur einen Punkt, so bedeutet dies: Wir haben entweder eine Tangente oder zwei zusammenfallende Punkte oder eine Gerade, die parallel zu einer Asymptote einer Hyperbel liegt, oder die Achse einer Parabel. In diesen F¨allen liegt der zweite“ Punkt im Unendlichen. ” Der Fall 0 bedeutet: Wir haben komplexe Punkte (Punkte mit komplexen Koordinaten, die sowohl die Gleichung der Geraden als auch die der Kurve erf¨ullen) oder beide Punkte liegen im Unendlichen (was der Fall ist, wenn unsere Gerade eine Asymptote einer Hyperbel ist). Z¨ahlen wir aber jeden Punkt so oft, wie er vorkommt, und vernachl¨assigen komplexe oder unendliche L¨osungen nicht, so lautet unsere Antwort 2 oder ∞. Gleichermaßen m¨ussen Kurven der Ordnung m und n entweder mn oder ∞ Punkte gemeinsam haben (wie der Satz von B´ezout besagt). Salopp gesagt: Hat ein Problem der algebraischen Geometrie endlich viele L¨osungen, so h¨angt die Anzahl der L¨osungen nur von der Ordnung der beteiligten Kurven und Fl¨achen ab. Diese Aussage trifft nat¨urlich nicht mehr zu, wenn wir uns nur f¨ur reelle L¨osungen interessieren. Schlimmer ist, dass bei manchen Proble-
Abb. 17.1 Die Kurve x3 = x2 y + y2 mit markierten Wendepunkten.
17.4 Eine Hilfsbetrachtung: Doppeltangenten
275
men unm¨oglich alle L¨osungen reell sein k¨onnen. Es ist zum Beispiel bekannt, dass eine Kurve 3. Ordnung, die keine Gerade enth¨alt, genau neun Wendepunkte besitzt. Aber nur h¨ochstens drei von ihnen sind reell. Eine Kurve 3. Ordnung mit drei reellen Wendepunkten ist in Abbildung 17.1 auf der vorherigen Seite dargestellt. (Eine andere Kurve 3. Ordnung mit drei reellen Wendepunkten zeigt Abbildung 18.6 auf Seite 294.) Zur Veranschaulichung haben wir eine Asymptote der Kurve eingezeichnet und die drei Wendepunkte durch Pfeile markiert.
17.3 Hauptresultat Satz 17.1. Die Anzahl der Geraden einer Fl¨ache 3. Ordnung ist 27 oder ∞.
17.4 Eine Hilfsbetrachtung: Doppeltangenten Eine Doppeltangente an eine Kurve oder Fl¨ache ist eine Gerade, die die Kurve oder Fl¨ache in zwei verschiedenen Punkten ber¨uhrt. Ein Ber¨uhrungspunkt wird als doppelter (oder mehrfacher) Schnittpunkt einer Geraden mit einer Kurve oder einer Fl¨ache gez¨ahlt. Folglich haben Kurven oder Fl¨achen der Ordnung < 4 nie Doppeltangenten, die nicht in ihnen enthalten sind. Wichtige Beobachtung. Eine Doppeltangente an eine Fl¨ache 3. Ordnung ist in dieser Fl¨ache enthalten. Betrachten wir nun Kurven 4. Ordnung in der Ebene. Frage: Wie viele Doppeltangenten hat eine Kurve 4. Ordnung? Antwort: Achtundzwanzig. Von einem vollst¨andigen Beweis dieser Behauptung sehen wir ab.1 Wir beschr¨anken uns darauf, eine Kurve 4. Ordnung mit achtundzwanzig (reellen, endlichen, verschiedenen) Doppeltangenten zu konstruieren. Dazu betrachten wir das Polynom p(x, y) = (4x2 + y2 − 1)(x2 + 4y2 − 1). Das ist ein Polynom vierten Grades. Die Gleichung p(x, y) = 0 definiert in der Ebene ein elliptisches Kreuz“ (siehe Abbildung 17.2 auf der n¨achsten Seite, links). Das ” Kreuz unterteilt die Ebene in sechs Gebiete. Die Funktion p(x, y) ist im a¨ ußeren (unbeschr¨ankten) und im zentralen Gebiet positiv, und in den Bl¨attern ist sie negativ. Wir w¨ahlen ein sehr kleines ε und betrachten die Kurve p(x, y) + ε = 0, die auch 4. Ordnung ist. Sie besteht aus vier Ovalen innerhalb der Bl¨atter des vorherigen Kreuzes.2 Diese Ovale liegen sehr nah an den R¨andern der Bl¨atter. 1
Man kann sie aus den Pl¨ucker-Formeln ableiten (siehe Vorlesung 12). Der Begriff Oval“ bzw. Eikurve“ wird an anderer Stelle in diesem Buch als ein Synonym f¨ur ” ” eine geschlossene, streng konvexe, glatte Kurve verwendet. In der reellen algebraischen Geometrie ist ein Oval einer algebraischen Kurve seine Komponente, die eine topologische Scheibe begrenzt. 2
276
17 Siebenundzwanzig Geraden
Abb. 17.2 Konstruktion einer Kurve.
Jeweils zwei Ovale haben (mindestens, aber in Wirklichkeit genau) vier gemeinsame Tangenten: zwei innere und zwei a¨ ußere Tangenten. Außerdem sind die Ovale (ihre Form ist wie die der Bl¨atter) nicht konvex, und jedes Oval hat seine eigene Doppeltangente. Insgesamt sind das: 4 · 4 + 4 = 28. 2
Abb. 17.3 Achtundzwanzig Doppeltangenten.
17.5 Fl¨achen 3. Ordnung und Kurven 4. Ordnung
277
17.5 Fl¨achen 3. Ordnung und Kurven 4. Ordnung Sei S eine Fl¨ache 3. Ordnung, die durch die Gleichung p3 (x, y, z) + p2 (x, y, z) + p1 (x, y, z) + c = 0 gegeben ist, wobei p1 , p2 und p3 homogene Polynome vom Grad 1, 2 und 3 sind. Wir nehmen 0 = (0, 0, 0) ∈ S an, was c = 0 bedeutet. Betrachten wir eine Gerade, die durch 0 verl¨auft; sie besteht aus Punkten mit proportionalen Koordinaten, etwa x = α t, y = β t, z = γ t
(α , β , γ ) = (0, 0, 0).
(17.1)
Diese Gerade schneidet die Fl¨ache S im Punkt 0 und in zwei anderen Punkten. Markieren wir unsere Gerade, wenn diese beiden Punkte zusammenfallen, wenn also die Gerade die Fl¨ache S im Punkt 0 schneidet, sie in einem Punkt T ber¨uhrt und außer 0 und T keine Punkte mit der Fl¨ache S gemeinsam hat. Betrachten wir die Schnittpunkte der markierten Geraden mit einem Schirm. Wir erhalten eine Kurve auf dem Schirm; wir wollen sie mit L bezeichnen. Wenn P ∈ L gilt, so ber¨uhrt die Gerade durch 0 und P also die Fl¨ache S in einem Punkt T (P) ∈ S. Bedenken Sie dabei: Ist l eine Tangente an L im Punkt P, so ist die Ebene p, die 0 und l enth¨alt, im Punkt T (P) tangential zu S. Wir wollen nun zeigen, dass die Kurve L gerade 4. Ordnung ist. Um den Schnittpunkt der Geraden (17.1) mit der Fl¨ache S zu bestimmen, setzen wir (17.1) in die Gleichung von S ein: p3 (α , β , γ )t 3 + p2 (α , β , γ )t 2 + p1 (α , β , γ )t = 0. SCHIRM
Abb. 17.4 Eine Projektion der Fl¨ache auf einen Schirm.
278
17 Siebenundzwanzig Geraden
Abb. 17.5 Von Doppeltangenten zu Geraden auf der Fl¨ache.
Eine L¨osung dieser Gleichung ist 0. Die beiden anderen fallen genau dann zusammen, wenn D(α , β , γ ) = p2 (α , β , γ )2 − 4p3 (α , β , γ )p1 (α , β , γ ) = 0 ist. Der Schnittpunkt der Geraden (17.1) und der Ebene z = 1 entspricht t = γ −1 (ist γ = 0, so gibt es keinen Schnittpunkt; dieser Fall entspricht den Punkten im ” Unendlichen“; es muss vier solcher Punkte geben). Dieser Schnittpunkt hat die Koordinaten (x, y, 1), wobei x = α /γ , y = β /γ ist. Die Gleichung D(α , β , γ ) = 0 kann als D(x, y, 1)γ 4 = 0 geschrieben werden, also D(x, y, 1) = 0. Das ist eine Gleichung vierten Grades. Sei nun l eine der achtundzwanzig Doppeltangenten an L mit den Ber¨uhrungspunkten P1 und P2 . Die Ebene p, die 0 und l enth¨alt, ber¨uhrt die Fl¨ache S in den Punkten T (P1 ) und T (P2 ). Folglich ist die Gerade durch T (P1 ) und T (P2 ) in den Punkten T (P1 ) und T (P2 ) tangential zu S, was nur m¨oglich ist, wenn sie auf S liegt (siehe Wichtige Beobachtung“ aus Abschnitt 17.4 auf Seite 275). Das beweist un” seren Satz bis auf die letzte und ziemlich unerwartete Frage.
17.6 Achtundzwanzig oder siebenundzwanzig? Dem Anschein nach haben wir in der Fl¨ache S achtundzwanzig Geraden konstruiert. Wir wollen zeigen, dass eine davon eine Spiegelung ist. Wer kann schw¨oren, dass im Fall P = (x, y, 1) ∈ L immer T (P) = 0 ist? Die Gleichheit T (P) = 0 gilt genau dann, wenn die Gerade (17.1) einen dreifachen
17.7 Diese Geraden k¨onnen alle reell sein
279
Schnittpunkt mit der Fl¨ache S hat. Das bedeutet, dass die Gleichung p3 (x, y, 1)t 3 + p2 (x, y, 1)t 2 + p1 (x, y, 1)t = 0 drei zusammenfallende L¨osungen t1 = t2 = t3 = 0 hat, was genau dann vorkommt, wenn p2 (x, y, 1) = 0 und p1 (x, y, 1) = 0 ist. Diese beiden Gleichungen beschreiben eine Gerade und eine Kurve 2. Ordnung in der Ebene mit den Koordinaten x und y; es gibt also zwei L¨osungen. Geometrisch bedeutet dies, dass es zwei Geraden gibt, die die Fl¨ache S nur an der Stelle 0 schneiden: Alle drei Schnittpunkte fallen zusammen. Diese beiden Geraden erzeugen die Tangentialebene p0 an S an der Stelle 0; die Geraden schneiden die Ebene z = 1 in zwei Punkten der Kurve L, und die Ebene p0 schneidet die Ebene z = 1 in einer Geraden, die in diesen beiden Punkten tangential zu L ist. Diese Doppeltangente an L geh¨ort zu keiner Geraden in S. Folglich haben wir nur“ 28 − 1 = 27 Geraden in S. ”
17.7 Diese Geraden k¨onnen alle reell sein Betrachten wir die Fl¨ache 4(x3 + y3 + z3 ) = (x + y + z)3 + 3(x + y + z).
(17.2)
Sie ist in Abbildung 17.6 dargestellt; die vertikale Achse in diesem Bild ist die Diagonale“ x = y = z. ”
Abb. 17.6 Die kubische Fl¨ache (17.2).
280
17 Siebenundzwanzig Geraden
Abb. 17.7 Die Fl¨ache mit siebenundzwanzig Geraden.
Satz 17.2. Die Fl¨ache (17.2) enth¨alt siebenundzwanzig reelle Geraden. Alle siebenundzwanzig Geraden der Fl¨ache (17.2) sind in Abbildung 17.7 dargestellt – Sie k¨onnen versuchen, sie zu z¨ahlen. Trotzdem sieht diese Abbildung ziemlich chaotisch aus, aber der unten angef¨uhrte Beweis von Satz 17.2 k¨onnte etwas Licht in die Konstruktion der Geraden und ihr Verhalten bringen. Beweis. Neun der Geraden sind offensichtlich: x = 0, y = 0, z = 0, (1) (2) (3) y = −z, z = −x, x = −y, x = 1, y = 1, z = 1, (4) (5) (6) x y = −z, z = −x, = −y, x = −1, y = −1, z = −1, (7) (8) (9) y = −z, z = −x, x = −y (jede dieser Gleichungen impliziert x3 + y3 + z3 = x + y + z = (x + y + z)3 ). Diese Geraden liegen in drei parallelen Ebenen: x+y+z = 0, x+y+z = 1, x+y+z = −1; in der ersten dieser Ebenen treffen sich die Geraden im Punkt (0, 0, 0), in den beiden anderen Ebenen bilden die Geraden gleichseitige Dreiecke. F¨ur die u¨ brigen achtzehn Geraden f¨uhren wir der Einfachheit halber Buchstabenbezeichnungen ein: a, b, . . . , r. Sechs dieser Geraden haben einfache Gleichungen:
17.7 Diese Geraden k¨onnen alle reell sein
281
x = 0, y = 0, z = 0, (j) (b) y = z + 1, z = x + 1, x = y + 1, x = 0, y = 0, z = 0, (g) (k) (c) y = z − 1, z = x − 1, x = y − 1. (f)
(Um diese Gleichungen zu bestimmen, betrachten wir die Schnittpunkte der Fl¨ache (17.2) mit den Ebenen x = 0, y = 0 und z = 0. Wir setzen zum Beispiel x = 0 in Gleichung (17.2) ein: 4(y3 + z3 ) = (y + z)3 + 3(y + z). Folglich ist 3x3 + 3y3 = 3yz(y + z) + 3(y + z) und somit entweder y + z = 0 oder y2 = yz + z2 = yz + 1; das heißt (y − z)2 = 1, y − z = ±1. Eine dieser drei Gleichungen ist die von Gerade (1), und die beiden anderen sind die der Geraden (f) und (g). Die F¨alle y = 0, z = 0 werden analog behandelt.) In den√Gleichungen der zw¨olf u¨ brigen Geraden kommt der Goldene Schnitt“ ” 1+ 5 ϕ= vor. Die Gleichungen sind im Einzelnen: 2 y = ϕ (z + x), z = ϕ (x + y), x = ϕ (y + z), (e) (i) (a) ϕ , ϕ , y = z + z = x + x = y + ϕ , x = ϕ (y + z), y = ϕ (z + x), z = ϕ (x + y), (l) (d) (h) y = z − ϕ, z = x − ϕ, x = y−ϕ und
y = −ϕ −1 (z + x), z = −ϕ −1 (x + y), x = −ϕ −1 (y + z), (q) (m) −1 −1 , ϕ , ϕ −1 , y = z + ϕ z = x + −1 x = y +−1 −1 x = −ϕ (y + z), y = −ϕ (z + x), z = −ϕ (x + y), (p) (r) (n) y = z − ϕ −1 , z = x − ϕ −1 , x = y − ϕ −1
(o)
(wir u¨ berlassen es Ihnen als Leser, diese zw¨olf Gleichungen in Gleichung (17.2) einzusetzen und zu pr¨ufen, dass diese Geraden auf der Fl¨ache liegen). Die Kurven in den Abbildungen 17.8 auf der n¨achsten Seite und 17.9 auf Seite 283 zeigen die Schnitte unserer Fl¨ache mit zw¨olf verschiedenen Ebenen der Form x + y + z = konst. (um den Punkt mit x = y = z zentriert). Auch die Spuren der Geraden (a) − (r) sind dargestellt. Sie k¨onnen erkennen, dass die Fl¨ache in jedem der Gebiete x + y + z > 1 und x + y + z < 1 aus einem zentralen Schlauch“ und drei ” Fl¨ugeln“ besteht. Im Gebiet −1 ≤ x + y + z ≤ 1 verschmelzen die Fl¨ugel mit dem ” Schlauch; in diesem Gebiet gibt es neun Geraden, n¨amlich die Geraden (1) − (9). Von den achtzehn u¨ brigen Geraden liegen sechs (drei Paare paralleler Geraden (m) − (r)) auf den Fl¨ugeln und zw¨olf (sechs Paare paralleler Geraden (a) − (l)) im zentralen Schlauch. Die Anordnung dieser Geraden zeigt Abbildung 17.10 auf Seite 284.2
282
Abb. 17.8 Schnitte der Fl¨ache (17.2).
17 Siebenundzwanzig Geraden
17.7 Diese Geraden k¨onnen alle reell sein
Abb. 17.9 Schnitte der Fl¨ache (17.2), fortgesetzt.
283
284
17 Siebenundzwanzig Geraden
Abb. 17.10 Geraden auf dem Schlauch.
17.8 Einige andere Fl¨achen Es gibt andere kubische Fl¨achen mit u¨ ppigen Scharen reeller Geraden. Einige von ihnen werden wir kurz diskutieren. Betrachten wir die Fl¨achenschar x3 + y3 + z3 − 1 = α (x + y + z − 1)3 .
(17.3)
17.9 Die Anordnung der siebenundzwanzig Geraden
285
1 Satz 17.3. Gilt α > und α = 1, so enth¨alt die Fl¨ache (17.3) siebenundzwanzig 4 reelle Geraden. Beweis. Drei Geraden sind offensichtlich: Eine ist {x = 1, y = −z}. Die beiden anderen L¨osungen erhalten wir, indem wir x mit y und z vertauschen. Vier weitere L¨osungen sind {x = u, y + z = 0}, {x = 1, y + uz = 0}, wobei u eine der L¨osungen der quadratischen Gleichung (α − 1)(u − 1)2 = 3u ist. Daraus erhalten wir acht weitere L¨osungen, indem wir x mit y und z vertauschen. Schließlich sind vier andere L¨osungen {x + v2 (y + z) = 0, y − z = 2v − v3 (y + z)}, wobei v eine der vier L¨osungen der Gleichung (4α − 1)(v2 − 1)2 = 3v2 ist. Wieder erhalten wir acht weitere L¨osungen, indem wir x mit y und z vertauschen. Die Gesamtzahl ist siebenundzwanzig. 2 Im Fall α = 1/4 bestimmt Gleichung (17.3) eine Fl¨ache mit singul¨aren Punk” ten“ (1, 1, 1), (1, −1, −1), (−1, 1, −1), (−1, −1, 1) (in einer Umgebung jeder dieser Punkte sieht die Fl¨ache wie ein Kegel aus; u¨ brigens ist diese Fl¨ache“ keine Fl¨ache ” im Sinne der Definition aus Abschnitt 15.2). Es gibt nur neun Geraden auf dieser Fl¨ache: {x = 1, y = z}, {x = 1, y = −z}, {x = −1, y = −z}, sechs weitere ergeben sich, indem wir x mit y und z vertauschen. Der Fall α = 1 ist besonders interessant. Um diese Fl¨ache attraktiver zu gestalten, ist es vern¨unftig, ein (nicht rechtwinkliges) Koordinatensystem zu verwenden, sodass die Punkte (0, 0, 0), (1, 0, 0), (0, 1, 0), (0, 0, 1) (die zur Fl¨ache geh¨oren) die Ecken eines regelm¨aßigen Tetraeders sind. Dann u¨ berf¨uhren alle r¨aumlichen Symmetrieoperationen, die das Tetraeder in sich selbst u¨ berf¨uhren, auch die Fl¨ache in sich selbst. Wir u¨ berlassen es Ihnen als Leser, die Gleichungen der Geraden auf ¨ dieser Fl¨ache zu bestimmen (siehe Ubung 17.1 auf Seite 288).
17.9 Die Anordnung der siebenundzwanzig Geraden In den Abbildungen 17.8 auf Seite 282 und 17.9 auf Seite 283 und noch besser in der Abbildung 17.10 auf der vorherigen Seite kann man leicht erkennen, dass es bei ¨ den siebenundzwanzig Geraden viele Uberschneidungen gibt. In Wirklichkeit ge¨ horchen die Uberschneidungen sehr strengen Regeln, die f¨ur alle kubischen Fl¨achen gleich sind. Wie u¨ blich werden wir nicht zwischen sich schneidenden und parallelen Geraden unterscheiden, sodass wir eher von koplanaren als von sich schneidenden Geraden sprechen werden. Die erste Eigenschaft ist offensichtlich. Satz 17.4. Sind zwei Geraden in unserer Fl¨ache koplanar, so existiert eine eindeutig bestimmte dritte Gerade in unserer Fl¨ache, die in derselben Ebene liegt.
286
17 Siebenundzwanzig Geraden
Beweis. Die Schnittmenge einer kubischen Fl¨ache mit einer Ebene ist eine kubische Kurve in der Ebene, sie kann also durch eine Gleichung dritten Grades dargestellt werden. Enth¨alt diese Schnittmenge zwei verschiedene Geraden, so ist die Gleichung der Kurve durch die Geradengleichungen teilbar, und nach der Division erhalten wir eine Gleichung ersten Grades. Das ist die Gleichung der dritten Geraden. 2 Der folgende Satz charakterisiert die Koplanarit¨atseigenschaften zwischen den Geraden vollst¨andig. Satz 17.5. Sei 1 eine der siebenundzwanzig Geraden in einer kubischen Fl¨ache S. (1) Es existieren genau zehn Geraden in S, die koplanar zu 1 sind; wir wollen sie mit 2 , . . . , 11 bezeichnen. Diese zehn Geraden k¨onnen in f¨unf Paare wechselseitig koplanarer Geraden 2 , 3 ; 4 , 5 ; . . . ; 10 , 11 gruppiert werden. Unter den Geraden 2 , . . . , 11 gibt es kein weiteres Paar koplanarer Geraden. (2) Jede der u¨ brigen sechzehn Geraden 12 , . . . , 27 ist genau zu einem Paar aus (1) koplanar. F¨ur jedes Paar von Geraden 12 , . . . , 27 ist die Anzahl der Geraden von 2 bis 11 , die zu beiden koplanar sind, ungerade. (3) Zwei der Geraden 12 , . . . , 27 sind genau dann koplanar, wenn genau eine der Geraden 2 , . . . , 11 koplanar zu beiden ist (die in Teil (2) erw¨ahnte ungerade Anzahl ist also eins). Es ist bemerkenswert, dass alle Aussagen unabh¨angig davon gelten, welche der siebenundzwanzig Geraden man als 1 bezeichnet. Wir werden diesen Satz nicht beweisen. F¨ur die Fl¨ache aus Abschnitt 17.7 k¨onnen wir seine Aussagen aber anhand der grafischen Darstellungen (Abbildungen 17.8, 17.9 und 17.10) und/oder Gleichungen pr¨ufen. Beispielsweise ist die Gerade (a) zu jeder der Geraden (1), (l); (5), (h); (9), (d); (b), (r); (j), (n) koplanar. Die f¨unf Paare in dieser Gleichung sind ebenfalls dargestellt. Jede der u¨ brigen Geraden ist koplanar zu einer Gerade aus jedem der f¨unf Paare. Zum Beispiel ist die Gerade (c) koplanar zu (l), (5), (d), (b), (j); die Gerade (f) koplanar zu (1), (5), (9), (r), (n); die Gerade (m) koplanar zu (l), (5), (d), (r), (n). Die Quintupel zu den Geraden (c) und (f) haben nur eine Gerade gemeinsam, n¨amlich die Gerade (5), und die Geraden (c) und (f) sind koplanar. Dagegen haben die Quintupel zu den Geraden (c) und (m) drei Geraden gemeinsam, n¨amlich die Geraden (l), (5) und (d), und die Geraden (c) und (m) sind nicht koplanar. Aus Satz 17.5 folgen noch einige andere Eigenschaften der Geraden. Sie heraus¨ zufinden und zu beweisen, u¨ berlassen wir Ihnen als Leser zur Ubung.
17.10 Fazit. Z¨ahlprobleme in der algebraischen Geometrie
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17.10 Fazit. Z¨ahlprobleme in der algebraischen Geometrie
c Jean-Yves Welschinger
Probleme, bei denen die Anzahl algebraischer Kurven einer gegebenen Ordnung (etwa der Anzahl der Geraden) berechnet werden soll, die andere Kurven schneiden oder andere Kurven ber¨uhren, haben in letzter Zeit sehr an Popularit¨at gewonnen. Der Grund daf¨ur ist ihre Bedeutung in der modernen theoretischen Physik (genauer gesagt, in der Quantenfeldtheorie; siehe [18, 44]). Wir werden hier eines dieser Probleme kurz diskutieren, das aufgrund eines unerwarteten Resultats und einer dramatischen, zweihundertj¨ahrigen Geschichte interessant ist. Frage: Gegeben seien f¨unf Kegelschnitte (= Ellipsen, Hyperbeln und Parabeln). Wie viele Kegelschnitte sind zu ihnen tangential? (Warum f¨unf? Weil bei vier Kegelschnitten die Anzahl der tangentialen Kegelschnitte unendlich ist. Und zu einer allgemeinen Menge von sechs Kegelschnitten gibt es u¨ berhaupt keine Kegelschnitte, die zu allen tangential sind.) Dieses Problem wurde zuerst von Steiner untersucht (dessen Satz wir in Abschnitt 29.5 angeben). Sein Resultat ver¨offentlichte er Anfang des 19. Jahrhunderts: Es gibt 7736 solcher Kegelschnitte. Vielen Leuten erschien dieses Resultat aber fraglich. Einige Jahrzehnte sp¨ater wiederholte De Jonqui`eres Steiners Berechnungen und erhielt ein anderes Resultat. Steiners Ansehen in der mathematischen Gemeinschaft war aber so hoch, dass sich De Jonqui`eres nicht traute, seine Arbeit zu ver¨offentlichen. Die richtige Antwort wurde schließlich im Jahr 1864 von Chasles (dessen anderes Resultat wir in Abschnitt 28.6 beweisen) gefunden; es gibt 3264 Kegelschnitte, die tangential zu den f¨unf gegebenen Kegelschnitten sind. Chasles z¨ahlte aber komplexe Kegelschnitte, und es blieb unklar, wie viele von ihnen reell sein k¨onnten. Im Jahr 1997 bestimmten Ronga, Tognoli und Vust eine Schar von f¨unf Ellipsen, f¨ur die alle 3264 tangentialen Kegelschnitte reell waren. Außerdem bewies Welschinger im Jahr 2005, dass f¨ur eine Schar aus f¨unf reellen Kegelschnitten, deren Schnittpunkte paarweise disjunkt sind, mindestens 42 der tangentialen 3264 Kegelschnitte reell sind.
Arthur Cayley 1821–1895
Jean-Yves Welschinger geboren 1974
288
17 Siebenundzwanzig Geraden
¨ Ubungen ¨ Ubung 17.1. Bestimmen Sie die Gleichungen aller Geraden in der Fl¨ache x3 + y3 + z3 − 1 = (x + y + z − 1)3 . Hinweise: (a) Es gibt nur vierundzwanzig Geraden; die u¨ brigen drei liegen im Unendlichen. (b) Durch jede Ecke des Tetraeders aus Abschnitt 17.8 gibt es drei Geraden; sie sind zu den drei Seiten der Fl¨ache parallel, die dieser Ecke gegen¨uberliegen. Das ergibt zw¨olf Geraden. (c) In den Gleichungen der u¨ brigen zw¨olf Geraden kommt der Goldene Schnitt vor. ¨ Ubung 17.2. Bestimmen Sie die Geraden auf der Fl¨ache xyz + β (x2 + y2 + z2 ) = γ . ¨ Ubung 17.3. Unter den siebenundzwanzig Geraden auf einer kubischen Fl¨ache gibt es genau f¨unfundvierzig koplanare Tripel von Geraden. Anmerkung: Einige koplanare Tripel aus Abschnitt 17.7 auf Seite 279 setzen sich aus Geraden zusammen, die durch einen Punkt verlaufen (es gibt sieben solcher Tripel) oder wechselseitig parallel sind (es gibt zwei solcher Tripel). Diese Eigenschaften sollten als rein zuf¨allig betrachtet werden; auf einer allgemeinen kubischen Flache kommen solche Dinge nicht vor. ¨ Ubung 17.4. Die maximale Anzahl wechselseitig nicht koplanarer Geraden ist sechs. Es gibt genau zweiundsiebzig solcher 6-Tupel. ¨ Ubung 17.5. Die Anzahl der Permutationen der siebenundzwanzig Geraden, die koplanare Geraden in koplanare Geraden u¨ berf¨uhren, ist 51 840 = 27 · 34 · 5. (Diese Permutationen bilden eine Gruppe, die in der Gruppentheorie unter dem Namen E6 bekannt ist.)
Vorlesung 18
Gewebegeometrie
¨ 18.1 Einfuhrung Diese Vorlesung besch¨aftigt sich mit der Gewebegeometrie, einem relativ jungen Forschungszweig der Differentialgeometrie. Begr¨undet wurden die Forschungen auf diesem Gebiet haupts¨achlich von W. Blascke und seinen Mitarbeitern in den 1920er Jahren. Die Geometrie der Gewebe ist u¨ ber viele F¨aden mit anderen Teilen der Geometrie verkn¨upft. Dazu geh¨ort insbesondere der Satz von Pappus, der von Pappus von Alexandria im 4. Jahrhundert n. Ch. entdeckt wurde. Eine h¨ubsche Einf¨uhrung in die Gewebegeometrie geben das kleine Buch [8] von Blaschke und ein Artikel [14] von einem seiner Studenten, S.-S. Chern, der ein großer Geometer des 20. Jahrhunderts war. In der Differentialgeometrie geht es oft um die lokalen Eigenschaften geometrischer Objekte. Zum Beispiel haben wir in Vorlesung 13 erw¨ahnt, dass ein Papierbogen, sei er auch noch so klein, nicht so verformt werden kann, dass ein Teil einer Sph¨are daraus wird. Die Invariante, die zwischen der Ebene und der Sph¨are unterscheidet, ist die Kr¨ummung. F¨ur die Ebene ist sie null – f¨ur die Sph¨are ist sie positiv (siehe Vorlesung 20), und die zul¨assigen Transformationen sind Isometrien (Papier l¨asst sich nicht stauchen oder dehnen). In der Geometrie der Gewebe ist das Angebot an zul¨assigen Verformungen gr¨oßer: Man besteht nicht darauf, dass die Abst¨ande erhalten bleiben und betrachtet alle differenzierbaren und invertierbaren Verformungen der Ebene.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 18,
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290
18 Gewebegeometrie
18.2 Definition und ein paar Beispiele Ein d-Gewebe in einem ebenen Gebiet besteht aus d Scharen glatter Kurven, die so angeordnet sind, dass keine zwei Kurven tangential sind und durch jeden Punkt genau eine Kurve aus jeder Schar verl¨auft. Wir nehmen stets an, dass jede Schar aus Niveaulinien einer glatten Funktion besteht (das ist eine sinnvolle Bedingung: siehe das Beispiel eines Kr¨ummungskreises einer Ebene, das wir in Vorlesung 10 diskutiert haben); bedenken Sie aber, dass diese Funktion keineswegs eindeutig ist. Zwei d-Gewebe werden als identisch betrachtet, wenn eine glatte Verformung existiert, die ein Gewebe in das andere u¨ berf¨uhrt. Im Fall d = 1 gibt es nichts zu untersuchen: Man kann die Kurven in horizontale Geraden verformen. Genauso kann man im Fall d = 2 beide Scharen so verformen, dass sie zu horizontalen und vertikalen Geraden werden. (Beweis: Setzen sich die Scharen aus den Niveaulinien der Funktionen f (x, y) und g(x, y) zusammen, so sind die Kurven in den neuen Koordinaten X = f (x, y), Y = g(x, y) horizontale und vertikale Geraden). Im Fall d = 3 wird es langsam interessant. Wir wollen ein paar Beispiele betrachten. Das einfachste 3-Gewebe besteht aus drei Geradenscharen x = konstant, y = konstant, x + y = konstant. Dieses 3-Gewebe nennt man trivial. Jedes 3-Gewebe besteht aus den Niveaulinien der drei glatten Funktionen f (x, y), g(x, y) und h(x, y), da keine zwei Kurven im Gewebe tangential sind, sind die Gradienten von jeweils zwei dieser Funktionen linear unabh¨angig. F¨ur ein 3-Gewebe gibt es ein einfaches Trivialit¨atskriterium. Lemma 18.1. K¨onnen die Funktionen f , g und h so gew¨ahlt werden, dass f +g+h = 0
(18.1)
gilt, so ist das 3-Gewebe trivial. Beweis. Wie vorhin betrachten wir die neuen Koordinaten X = f (x, y), Y = g(x, y), in denen die beiden ersten Scharen aus horizontalen und vertikalen Geraden bestehen. Wegen h = − f − g hat die dritte Schar die Gleichung X +Y = konstant. 2 Unser n¨achstes Beispiel ist ein 3-Gewebe im Innern des Dreiecks A1 A2 A3 . Die Kurven der i-ten Schar (i = 1, 2, 3) bestehen aus den Kreisen, die durch die Eckpunkte Ai und Ai+1 verlaufen (siehe Abbildung 18.1 auf der n¨achsten Seite). (Wir betrachten die Indizes mod 3: Diese Konvention macht die Notation sinnvoll, wie etwa Ai+1 f¨ur i = 3). Ein Punkt P im Innern des Dreiecks ist durch die Winkel α = A1 PA2 , β = A2 PA3 und γ = A3 PA1 eindeutig charakterisiert. Da ein Winkel u¨ ber einer festen Sehne eines Kreises einen festen Betrag hat, haben die drei Scharen die Gleichungen
α = konstant, β = konstant, γ = konstant.
18.2 Definition und ein paar Beispiele
291
Abb. 18.1 Ein 3-Gewebe, das aus Kreisen besteht, die durch Paare von Eckpunkten eines Dreiecks verlaufen.
Da α + β + γ = 2π gilt, k¨onnen wir zur Definition des 3-Gewebes die Funktionen f = α − 2π /3, g = β − 2π /3, h = γ − 2π /3 verwenden. Diese Funktionen erf¨ullen Gleichung (18.1), und somit ist dieses 3Gewebe trivial. Das n¨achste Beispiel ist das 3-Gewebe im Innern des ersten Quadranten, das aus horizontalen Geraden, vertikalen Geraden und Geraden durch den Ursprung besteht (siehe Abbildung 18.2). Dieses Gewebe hat die Gleichungen x = konstant, y = konstant, y/x = konstant . Eine andere Wahl der definierenden Funktionen ist ln x, − ln y und ln y − ln x. Diese drei Funktionen erf¨ullen Gleichung (18.1), und somit ist auch dieses 3-Gewebe trivial.
Abb. 18.2 Ein 3-Gewebe, das aus horizontalen Geraden, verikalen Geraden und Geraden durch den Ursprung besteht.
292
18 Gewebegeometrie
Abb. 18.3 Ein 3-Gewebe, das aus den Geraden durch die Eckpunkte eines Dreiecks besteht.
Unser n¨achstes Beispiel ist eine Modifikation des vorherigen Beispiels (siehe Abbildung 18.3). Dieses 3-Gewebe im Innern des Dreiecks A1 A2 A3 besteht aus den Geradenscharen durch die Eckpunkte des Dreiecks. Ist dieses Gewebe trivial? Um diese Frage zu beantworten, projizieren wir die Ebene des Dreiecks A1 A2 A3 auf eine andere Ebene, und zwar von einem Punkt O aus, sodass die Geraden OA2 und OA3 parallel zum Schirm verlaufen. Dann werden die Geraden durch A2 in parallele Geraden projiziert, was ebenso f¨ur die Geraden durch A3 gilt. Folglich ist die Projektion des 3-Gewebes aus Abbildung 18.3 das Gewebe aus Abbildung 18.2 auf der vorherigen Seite, und das Gewebe ist deshalb trivial.
18.3 Hexagonale Gewebe Nun k¨onnten Sie als Leser dem Irrtum unterlegen sein, dass alle 3-Gewebe trivial sind. In Wirklichkeit ist ein allgemeines 3-Gewebe nicht trivial.
Abb. 18.4 Ein Hexagon in einem 3-Gewebe.
18.4 Hexagonale geradlinige Gewebe und kubische Kurven
293
Um uns davon zu u¨ berzeugen, betrachten wir die Anordnung aus Abbildung 18.4 auf der vorherigen Seite. Wir nehmen einen Punkt O heraus und zeichnen die Kurven der drei Scharen, die durch ihn verlaufen. Wir w¨ahlen einen Punkt A auf der ersten Kurve aus und zeichnen durch ihn die Kurve der zweiten Schar, bis sie die dritte Kurve durch O im Punkt B schneidet. Dann zeichnen wir die Kurve aus der ersten Schar durch B bis zum Schnittpunkt mit der zweiten Kurve durch O im Punkt C, usw. Am Ende dieser spinnanertigen Fortbewegung steht der Punkt G auf der ersten Kurve. F¨ur ein triviales 3-Gewebe ist G = A; im Allgemeinen muss das nicht unbedingt so sein. Ein 3-Gewebe, in dem sich das Hexagon aus Abbildung 18.4 auf der vorherigen Seite stets schließt, heißt hexagonal. Ein triviales 3-Gewebe ist hexagonal. Die ¨ Umkehrung gilt ebenso (siehe Ubung 18.5 auf Seite 305).
18.4 Hexagonale geradlinige Gewebe und kubische Kurven Ein geradliniges Gewebe ist ein Gewebe, dessen Kurven Geraden sind (siehe die Beispiele aus den Abbildungen 18.2 auf Seite 291 und 18.3 auf der vorherigen Seite). In diesem Abschnitt werden wir hexagonale geradlinige 3-Gewebe beschreiben. Etwas unerwartet ist dieses Thema eng mit einem klassischen Resultat aus der Geometrie verkn¨upft, n¨amlich mit dem Satz von Pappus. Eine allgemeine einparametrige Geradenschar besteht aus Tangenten an eine Kurve; das haben wir in den Vorlesungen 8 und 9 ausf¨uhrlich diskutiert. Wir haben es mit drei derartigen Scharen zu tun, und sie setzen sich aus Tangenten an drei Kurven, etwa γ1 , γ2 und γ3 , zusammen. Wir nehmen an, dass unser Gewebe hexagonal ist (siehe Abbildung 18.5). Wir wollen die duale Anordnung der Punkte und Geraden betrachten (siehe Vorlesung 8 f¨ur eine Diskussion der projektiven Dualit¨at). Diese Anordnung zeigt Abbildung 18.5, rechts, worin die Punkte, die dual zu den Geraden AB, BC usw. sind,
Abb. 18.5 Ein geschlossenes Hexagon und die dazu projektiv duale Anordnung.
294
18 Gewebegeometrie
mit AB, BC gekennzeichnet werden. Und die Geraden, die zu den Punkten A, B, . . . dual sind, werden mit a, b, . . . gekennzeichnet. Die Punkte AD, FE und BC liegen auf der dualen Kurve γ1∗ , die Punkte AF,CD und BE liegen auf der Kurve γ2∗ und die Punkte FC, AB und DE auf der Kurve γ3∗ . Wir wollen eine Anordnung von sechs Geraden und ihren Schnittpunkten, wie in Abbildung 18.5 auf der vorherigen Seite dargestellt, als Pappus-Anordnung bezeichnen. Wir wollen wissen, f¨ur welche Tripel von Kurven γ1∗ , γ2∗ und γ3∗ es eine PappusAnordnung gibt, die diesen drei Kurven eingeschrieben ist. Eine hinreichende (und notwendige – was wir nicht beweisen werden) Bedingung ist, dass γ1∗ , γ2∗ und γ3∗ allesamt Teile derselben kubischen Kurve sind. Kubische Kurven werden durch Gleichungen 3. Grades beschrieben: P(x, y) = ax3 + bx2 y + · · · + j = 0 (insgesamt zehn Terme). Multiplizieren wir alle Koeffizienten mit demselben Faktor, so erhalten wir dieselbe Kurve. Es gibt eine eindeutige kubische Kurve durch eine allgemeine Menge von neun Punkten. Kubische Kurven haben zahlreiche interessante Eigenschaften. Davon brauchen wir die Folgende. Satz 18.1. Betrachten wir zwei Geradentripel, die sich in neun Punkten schneiden. Verl¨auft eine kubische Kurve Γ durch acht dieser Punkte, so verl¨auft sie auch durch den neunten Punkt (siehe Abbildung 18.6).
Abb. 18.6 Illustration des Satzes.
18.4 Hexagonale geradlinige Gewebe und kubische Kurven
295
Beweis. Mit Ai j bezeichnen wir den Schnittpunkt der Geraden Li = 0 und R j = 0; hierbei sind Li und R j lineare Gleichungen der Geraden. Wir nehmen an, dass alle Punkte, vielleicht A22 ausgenommen, auf Γ liegen. Sei P(x, y) = 0 eine Gleichung von Γ , und setzen wir L = L0 L1 L2 , R = R0 R1 R2 . Wir behaupten, dass f¨ur gewisse Koeffizienten λ und μ die Gleichung P = λ L + μ R gilt. Daraus w¨urde sich ergeben, dass im Punkt A22 die Gleichung P = 0 gilt, weil L2 und R2 an diesem Punkt verschwinden. Wir w¨ahlen die Koordinaten so, dass L0 (x, y) = x und R0 (x, y) = y gilt (dahinter verbirgt sich nur eine affine Koordinatentransformation, sodass eine kubische Kurve kubisch bleibt). Dann ist L = x(x − a1 − b1 y)(x − a2 − b2 y) , wobei a1 und a2 die x-Koordinaten der Punkte A10 und A20 sind. Weil an den Punkten A00 , A10 und A20 die Gleichung P = 0 gilt, ist P(x, 0) = λ x(x − a1 )(x − a2 ) f¨ur ein konstantes λ , also P(x, 0) = λ L (x, y). Genauso ergibt sich P(0, y) = μ R(0, y). Betrachten wir nun das Polynom Q = P − λ L − μ R. Es gilt Q(x, 0) = Q(0, y) = 0 und folglich Q(x, y) = xyH(x, y), wobei H eine lineare Funktion ist. Bedenken Sie, dass Q an den Punkten A11 , A12 und A21 verschwindet, aber xy an diesen Punkten nicht verschwindet. Deshalb ist an diesen drei nicht kolinearen Punkten H = 0. Daraus ergibt sich, dass H identisch null ist und somit Q = 0. Deshalb gilt P = λ L + μ R. 2 Wir k¨onnen zusammenfassen: Ein geradliniges 3-Gewebe ist hexagonal, wenn es aus drei Tangentenscharen an eine Kurve besteht, deren duale Kurve kubisch ist. Betrachten wir zum Beispiel die semikubische Parabel y2 = x3 . Ihre duale Kurve ist eine kubische Parabel (siehe Vorlesung 8), und folglich ist das 3-Gewebe aus Abbildung 18.7 hexagonal.
Abb. 18.7 Ein hexagonales 3-Gewebe aus den Tangenten einer semikubischen Parabel.
296
18 Gewebegeometrie
18.5 Pappus und Pascal Zwei Spezialf¨alle von Satz 18.1 auf Seite 294 sind besonders erw¨ahnenswert. Der erste ist der Fall, in dem eine kubische Kurve Γ aus drei Geraden besteht. Dann erhalten wir den ber¨uhmten Satz von Pappus, der in Abbildung 18.8 illustriert ist.
Abb. 18.8 Der Satz von Pappus.
Die zur Vereinigung dreier Geraden duale Kurve ist entartet und besteht aus drei Punkten. Das zugeh¨orige 3-Gewebe ist das Gewebe aus Abbildung 18.3 auf Seite 292. Aus unserem fr¨uheren Beweis der Tatsache, dass dieses Gewebe hexagonal ist, ergibt sich u¨ ber die Dualit¨at der Satz von Pappus. Ein anderer Spezialfall liegt vor, wenn Γ aus einer Geraden und einem Kegelschnitt besteht. Wir erhalten dann den ber¨uhmten Satz von Pascal (1640), der in Abbildung 18.9 illustriert ist.
Abb. 18.9 Der Satz von Pascal.
18.6 Addition von Punkten auf einer kubischen Kurve
297
18.6 Addition von Punkten auf einer kubischen Kurve Satz 18.1 auf Seite 294 steht in einer engen Beziehung zu der bemerkenswerten Operation, Punkte auf einer kubischen Kurve zu addieren. Diese Operation ist geometrisch definiert. Die Definition st¨utzt sich auf die Eigenschaft, dass eine Gerade, die eine kubische Kurve zwei Mal schneidet, diese auch noch ein weiteres Mal schneidet. Hier ist die Definition. Sei Γ eine nicht singul¨are kubische Kurve. Wir w¨ahlen einen Punkt E, der die Rolle des Nullelements spielen wird. Aus zwei gegebenen Punkten A und B konstruieren wir den dritten Schnittpunkt D der Geraden AB mit Γ ; wir verbinden D mit E. Sei C der dritte Schnittpunkt dieser Geraden mit Γ . Per Definition gilt A + B = C. Wir wollen ein Beispiel ausarbeiten: Γ ist der Graph y = x3 und E ist der Ursprung. Die ersten Koordinaten der Punkte A, B und D seien x1 , x2 und x3 (siehe Abbildung 18.10). Diese Punkte sind kolinear; deshalb gilt x3 − x33 x13 − x33 = 2 , x1 − x3 x2 − x3 woraus sich x12 + x1 x3 + x32 = x22 + x2 x3 + x32 oder (x1 − x2 )(x1 + x2 + x3 ) = 0 und schließlich x1 + x2 + x3 = 0 ergibt. Der Punkt C ist zentralsymmetrisch zu D, sodass seine erste Koordinate −x3 = x1 + x2 ist. Daher l¨auft die Addition von Punkten auf dieser kubischen Kurve auf die gew¨ohnliche Addition der ersten Koordinaten hinaus.
Abb. 18.10 Ein Beispiel f¨ur die Addition von Punkten auf einer kubischen Kurve.
Die Addition von Punkten auf einer kubischen Kurve ist kommutativ und assoziativ. Das Erste liegt auf der Hand: Die Gerade AB f¨allt mit der Gerade BA zusammen. Das Letzte ergibt sich aus (und ist a¨ quivalent zu) Satz 18.1 auf Seite 294, wie
298
18 Gewebegeometrie
Abb. 18.11 Die Assoziativit¨at der Addition.
in Abbildung 18.11 dargestellt. Aus diesem Satz folgt, dass der Schnittpunkt der Geraden, die A mit B + C und A + B mit C verbinden, auf Γ liegt (das ist Punkt Z aus der Abbildung). Daraus folgt A + (B +C) = (A + B) +C = W, also die gew¨unschte Assoziativit¨at.
18.7 Im Raum In Abschnitt 18.2 haben wir erw¨ahnt, dass jedes 2-Gewebe in der Ebene trivial ist. Anders im Raum1 ! Ein triviales 2-Gewebe im Raum ist ein Gewebe, das aus zwei Geradenscharen aufgebaut ist, die parallel zur x- bzw. zur y-Achse verlaufen, und jedes 2-Gewebe, das in dieses Gewebe verformt werden kann. Ein Kriterium f¨ur die Trivialit¨at eines 2-Gewebes im Raum zu konstruieren, ist noch einfacher als in der Ebene. Wir nehmen einen Punkt A, zeichnen durch ihn eine Kurve aus der ersten Schar, w¨ahlen einen Punkt B auf dieser Kurve, zeichnen durch ihn die Kurve aus der zweiten Schar und w¨ahlen einen Punkt C auf dieser Kurve. 1
Jedes 1-Gewebe ist trivial.
18.7 Im Raum
299
Abb. 18.12 Dieses Viereick kann sich nicht schließen.
Nun zeichnen wir durch C die Kurve aus der ersten Schar und durch A die Kurve aus der zweiten Schar (siehe Abbildung 18.12). Schneiden sich die Kurven? Wenn das Gewebe trivial ist, dann ja, im Allgemeinen tun sie das nicht. Hier ist ein Beispiel f¨ur ein nicht triviales 2-Gewebe. Die erste Schar besteht aus vertikalen Geraden und die zweite aus horizontalen Geraden. Die horizontalen Geraden in der Ebene in der H¨ohe h liegen parallel zueinander und haben in dieser Ebene den Anstieg h. Mit anderen Worten: Nehmen Sie eine horizontale Ebene mit einer Schar paralleler Geraden und bewegen Sie sie entlang einer vertikalen Achse, wobei Sie die Ebene dabei mit einer positiven Winkelgeschwindigkeit um diese Achse drehen. Diese Schraubenzieherbewegegung liefert das in Abbildung 18.13 dargestellte Gewebe.
Abb. 18.13 Ein nicht triviales 2-Gewebe im Raum.
Die Nicht-Trivialit¨at eines 2-Gewebes hat eine interessante Konsequenz. Die beiden Geraden durch den Punkt x spannen eine Ebene auf, nennen wir die Ebene π (x). Wir erhalten eine Ebenenschar im Raum. Diese Ebenen erfreuen sich einer Eigenschaft, die als vollst¨andige Nicht-Integrabilit¨at bezeichnet wird: Es existiert keine Fl¨ache (sei sie auch noch so klein), f¨ur die π (x) in jedem Punkt x die Tangential-
300
18 Gewebegeometrie
Abb. 18.14 Eine Schar von Richtungen verbindet sich zu einer Kurvenschar.
ebene ist. W¨urde n¨amlich eine solche Fl¨ache existieren, so w¨urde das Viereck aus Abbildung 18.12 auf der vorherigen Seite darauf liegen und geschlossen sein. Auf den ersten Blick ist diese Nicht-Integrabilit¨at ziemlich u¨ berraschend: Sie widerspricht unserer Intuition, die wir im ebenen Fall entwickelt haben. In der Ebene (und im Raum jeder Dimension) gilt: Gibt es in jedem Punkt eine Richtung, die gleichm¨aßig vom Punkt abh¨angt, so existiert eine Schar glatter Kurven, die u¨ berall tangential zu diesen Richtungen sind (siehe Abbildung 18.14). (Das besagt der Fundamentalsatz der gew¨ohnlichen Differentialgleichungen). Ein vollst¨andig nichtintegrierbares Ebenenfeld im Raum heißt Kontaktstruktur. Das ist ein sehr popul¨arer Forschungsgegenstand in der modernen Mathematik.
18.8 Tschebyschow-Gewebe Kann man einen Stoff durch ein Gewebe modellieren? Ein flaches St¨uck Stoff wird aus zwei Scharen nicht dehnbarer F¨aden gewebt, die ein rechtwinkliges Gitter bilden. Werfen Sie dieses St¨uck Stoff u¨ ber eine gekr¨ummte Fl¨ache, und die Rechtecke werden zu elementaren Parallelogrammen verformt (siehe Abbildung 18.15).
Abb. 18.15 Ein St¨uck Stoff.
18.8 Tschebyschow-Gewebe
301
Ein Tschebyschow-Gewebe ist ein 2-Gewebe, bei dem die L¨angen gegen¨uberliegender Seiten jedes Rechtecks, das aus einem Kurvenpaar aus jeder Schar besteht, gleich sind (siehe Abbildung 18.16).
Abb. 18.16 Tschebyschow-Gewebe.
Pafnuti Tschebyschow, ein bekannter russischer Mathematiker des 19. Jahrhunderts2 , wurde durch ein angewandtes Problem angeregt: Wie ist Stoff o¨ konomischer zu schneiden (er arbeitete f¨ur einen Privatkunden, der Eigent¨umer eines Textilbetriebes war). Das war ein akutes Problem: Mit dem Beginn des Krimkrieges gab es eine riesige Nachfrage nach Armeeuniformen. Es folgt eine Konstruktion eines Tschebyschow-Gewebes in der Ebene. Wir beginnen mit zwei Kurven, den Kurven a und b, die sich im Ursprung O schneiden. F¨ur jeden Punkt A auf der Kurve a f¨uhren wir eine Parallelverschiebung der Kurve b um den Vektor OA aus. Genauso f¨uhren wir f¨ur jeden Punkt B auf b eine Parallelverschiebung von a um den Vektor OB aus. Es ergibt sich ein 2-Gewebe, und zwar ein Tschebyschow-Gewebe. In der Tat ist das Viereck OBCA aus Abbildung 18.17 ein Parallelogramm. Deshalb ist die Kurve BC eine Parallelverschiebung der Kurve OA, genauso verh¨alt es sich mit den Kurven AC und OB. Folglich sind die gegen¨uberliegenden Seiten des gekr¨ummten Vierecks OBCA gleich lang.
Abb. 18.17 Eine Konstruktion eines Tschebyschow-Gewebes in der Ebene.
Man kann noch mehr sagen: Durch die Kurven a und b ist ein TschebyschowGewebe eindeutig bestimmt. Um uns davon zu u¨ berzeugen, wollen wir die Kurven a 2 Wenn Sie Vorlesung 7 gelesen haben, sind Sie bereits mit einigen anderen Arbeiten von Tschebyschow vertraut.
302
18 Gewebegeometrie
und b durch Polygonz¨uge mit Abschnitten der L¨ange ε n¨ahern. Hat ein elementares Viereck eines Tschebyschow-Gewebes geradlinige Seiten, so ist es ein Parallelogramm. Daraus ergibt sich, dass die Polygonz¨uge a und b eine Schar von Parallelogrammen eindeutig bestimmen (siehe Abbildung 18.18). Im Limes ε → 0 erh¨alt man ein Tschebyschow-Gewebe, das durch die Kurven a und b erzeugt wird.
Abb. 18.18 Ein Tschebyschow-Gewebe aus Parallelogrammen.
Um ein Tschebyschow-Gewebe auf einer gekr¨ummten Fl¨ache zu erhalten, kann man ein ebenes Tschebyschow-Gewebe auf einen Papierbogen zeichnen und den Bogen dann zu einer abwickelbaren“ Fl¨ache verformen (siehe Vorlesung 13); man ” kann sich zum Beispiel eine Fl¨ache aus einem Bogen Millimeterpapier vorstellen. Jedoch existieren Tschebyschow-Gewebe nicht nur auf abwickelbaren Fl¨achen.
Abb. 18.19 Eine Konstruktion eines Tschebyschow-Gewebes im Raum.
18.8 Tschebyschow-Gewebe
303
Es folgt eine allgemeinere Konstruktion f¨ur ein Tschebyschow-Gewebe, diesmal konstruieren wir es auf einer gekr¨ummten Fl¨ache. Seien a und b zwei Kurven im Raum. F¨ur jedes Punktepaar A auf a und B auf b sei C der Mittelpunkt des Segments AB. Die Ortskurve von Punkten C ist eine Fl¨ache. Diese Fl¨ache besteht aus zwei Kurvenscharen: Diese Kurven erh¨alt man, indem man in der obigen Konstruktion den Punkt A (erste Schar) oder den Punkt B (zweite Schar) festh¨alt. Das ist ein Tschebyschow-Gewebe. Tats¨achlich betrachten wir zwei Punktepaare: A und A auf der Kurve a und B und B auf der Kurve b (siehe Abbildung 18.19 auf der vorherigen Seite). Die Mittelpunkte der vier Segmente K, L, M und N liegen auf der Fl¨ache. Die Paare K, L und M, N liegen auf zwei Kurven aus der einen Schar, und die Paare K, N und L, M liegen auf zwei Kurven aus der anderen Schar. Es gilt 1 KL = AA = NM, 2
1 KN = BB = LM, 2
und folglich erh¨alt man die Kurve NM aus der Kurve KL durch Parallelverschiebung um den Vektor KN, und mit den Kurven LM und KN verh¨alt es sich ebenso. Daraus folgt, dass die L¨angen gegen¨uberliegender Seiten des krummlinigen Vierecks KLMN gleich sind. Die Fl¨ache selbst (die Ortskurve der Mittelpunkte C) ist das Ergebnis der Parallelverschiebung der Kurve a entlang der Kurve b. Solche Fl¨achen nennt man Verschiebungsfl¨achen. Liegen die Kurven a und b auf einer Ebene, so f¨allt die Verschiebungsfl¨ache mit dieser Ebene zusammen, und das konstruierte TschebyschowGewebe ist das Gewebe aus Abbildung 18.17 auf Seite 301. Ein Ihnen vertrautes Beispiel einer Verschiebungsfl¨ache ist ein hyperbolisches Paraboloid z = x2 − y2 ; die zugeh¨origen Kurven sind die Parabeln (x, 0, x2 ) und (0, y, −y2 ) (siehe Abbildung 18.20, links); ein zirkulares Paraboloid z = x2 + y2 liefert ein weiteres Beispiel (siehe Abbildung 18.20, rechts).
Abb. 18.20 Quadratische Fl¨achen als Verschiebungsfl¨achen.
304
18 Gewebegeometrie
Wilhelm Blaschke 1885–1962
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
In Bezug auf den Unterschied zwischen abwickelbaren Fl¨achen und Fl¨achen mit Tschebyschow-Geweben l¨asst sich Folgendes feststellen. W¨ahrend abwickelbare Fl¨achen Bilder von Abbildungen der Ebene auf den Raum sind, die die L¨angen aller glatten Kurven erhalten, werden Fl¨achen mit Tschebyschow-Geweben durch Abbildungen beschrieben, die nur die L¨angen von vertikalen und horizontalen Geraden erhalten. Salopp gesagt: Eine Fl¨ache ist abwickelbar, wenn man ein St¨uck Papier an sie schmiegen kann, wohingegen sie ein Tschebyschow-Gewebe zul¨asst, wenn man ein Fischernetz an sie schmiegen kann.
Shiing-Shen Chern 1911–2004
Blaise Pascal 1623–1662
¨ 18.9 Ubungen ¨ Ubung 18.1. (a) Beweisen Sie, dass das Gewebe aus horizontalen und vertikalen Geraden und aus Hyperbeln xy = konstant trivial ist. (b) Zeigen Sie dasselbe f¨ur das Gewebe aus horizontalen und vertikalen Geraden und dem Graphen y = f (x) + konstant, wobei f (x) eine beliebige Funktion mit positiver Ableitung ist. ¨ Ubung 18.2. Betrachten Sie das 3-Gewebe aus den Geraden durch einen festen Punkt, den Geraden durch einen anderen festen Punkt und Halbtangenten an einen festen Kreis. Ist dieses Gewebe trivial? ¨ Ubung 18.3. Beweisen Sie, dass das 3-Gewebe aus Tangenten an einen festen Kreis und den Geraden durch einen festen Punkt hexagonal ist. ¨ Ubung 18.4. Betrachten Sie ein Dreieck aus Kurven eines 3-Gewebes. Zeigen Sie, dass ein eindeutiges eingeschriebenes Dreieck existiert, das aus Kurven dieses Gewebes besteht.
¨ 18.9 Ubungen
305
Abb. 18.21 Ein hexagonales 3-Gewebe ist trivial.
¨ Ubung 18.5. * Beweisen Sie, dass ein hexagonales 3-Gewebe trivial ist. Hinweis: Setzen Sie das Hexagon wie in Abbildung 18.21 zu einer Wabe“ fort. ” Man kann die Koordinaten so transformieren, dass die Wabe aus drei Scharen paralleler Geraden besteht. Indem man das urspr¨ungliche Hexagon immer kleiner macht, verformt man das hexagonale 3-Gewebe im Limes zu einem trivialen Gewebe. ¨ Ubung 18.6. * Beweisen Sie, dass die drei Wendepunkte einer glatten kubischen Kurve auf einer Geraden liegen (das kann man klar aus Abbildung 18.6 auf Seite 294 erkennen).
Vorlesung 19
Die Crofton-Formel
19.1 Der Strahlenraum und die Fl¨achenform Die Crofton-Formel bezieht sich auf die Menge orientierter Geraden in der Ebene. Wie in der geometrischen Optik werden wir orientierte Geraden mitunter als Lichtstrahlen betrachten und sie als Strahlen bezeichnen. Eine orientierte Gerade ist durch ihre Richtung ϕ und ihren Abstand p vom Ursprung O definiert. Dieser Abstand ist vorzeichenbehaftet (siehe Abbildung 19.1). Der Strahlenraum ist also ein Zylinder mit den Koordinaten (ϕ , p) (den wir uns als vertikalen Einheitszylinder im Raum vorstellen).
Abb. 19.1 Koordinaten im Raum orientierter Geraden.
¨ Die Anderung der Orientierung entspricht der Zentralsymmetrie des Zylinders: (ϕ , p) → (ϕ + π , −p). Daraus folgt, dass die Menge der nicht orientierten Geraden
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 19,
307
308
19 Die Crofton-Formel
durch den Quotienten des Zylinders mit dieser Zentralsymmetrie bestimmt ist. Das ist das M¨obiusband. Eine Verschiebung des Ursprungs a¨ ndert die Koordinaten einer Gerade. Ist n¨amlich O = O + (a, b) eine andere Wahl des Ursprungs, so h¨angen die neuen Koordinaten von den alten wie folgt ab:
ϕ = ϕ,
p = p − a sin ϕ + b cos ϕ .
(19.1)
Sie als Leser k¨onnen einen Beweis dieser Formel in Vorlesung 10 nachschlagen ¨ oder Ubung 19.1 auf Seite 320 bearbeiten. Insbesondere ist die Menge der Strahlen durch den Punkt (a, b) durch die Gleichung p = −a sin ϕ + b cos ϕ gegeben. Das ist ein Ebenenschnitt unseres Zylinders. Der Zylinder hat das Fl¨achenelement d ϕ d p; diese Fl¨achenform ist der Hauptdarsteller dieser Vorlesung. Sie a¨ ndert sich unter Isometrien der Ebene nicht. Tats¨achlich setzt sich eine Isometrie aus einer Drehung um den Ursprung und einer Parallelverschiebung zusammen. Eine Drehung um den Winkel α wirkt auf den Strahlenraum wie folgt:
ϕ = ϕ + α,
p = p .
Dies ist eine Drehung des Zylinders, die den Fl¨acheninhalt nicht verf¨alscht. Eine Parallelverschiebung wirkt gem¨aß den Formeln (19.1). Auch dies a¨ ndert den Fl¨acheninhalt nicht (siehe Abbildung 19.2).
Abb. 19.2 Die Parallelverschiebung erh¨alt die Fl¨achenform im Raum der orientierten Geraden.
Erw¨ahnenswert ist eine Tatsache, die bereits Archimedes bekannt war. Man beschreibe dem Zylinder eine Einheitssph¨are ein und betrachte die axiale Projektion der Sph¨are auf den Zylinder (die an den Polen nicht definiert ist). Diese Projektion ist fl¨achentreu: Die Fl¨achen jedes Gebietes auf der Sph¨are und auf dem Zylinder ¨ sind gleich (siehe Ubung 19.2 auf Seite 320). Aufgrund dieser Tatsache k¨onnen wir den Fl¨acheninhalt der Sph¨are sofort bestimmen.
19.2 Beziehung zur geometrischen Optik
309
Die axialen Projektionen werden in der Kartografie verwendet, wo sie unter etlichen Namen bekannt sind: Gall-Peters, Behrmann, Lambert, Balthasart usw. Sie verf¨alschen Fl¨achen nicht, sodass Gr¨onland etwa dreizehn Mal so klein erscheint wie Afrika (im Gegensatz zur Mercator-Projektion, wo sie ann¨ahernd gleich groß erscheinen). Abst¨ande verf¨alschen sie hingegen stark, insbesondere in der N¨ahe der Pole. Siehe [90] f¨ur eine Geschichte der Kartografie. Aus der Tatsache, dass die axiale Projektion der Einheitssph¨are auf den Zylinder fl¨achentreu ist, ergibt sich, dass der Fl¨acheninhalt eines sph¨arischen G¨urtels (das Gebiet der Sph¨are zwischen zwei parallelen Ebenen) nur von der H¨ohe h des G¨urtels (also dem Abstand der Ebenen) abh¨angt, und zwar ist dieser Fl¨acheninhalt 2π h. Dieses Ergebnis aus der Schulgeometrie hat eine seltsame Konsequenz. Die Einheitsscheibe sei von einer Menge aus Streifen mit parallelen Seiten ( Planken“) u¨ berdeckt. ” Satz 19.1. Die Summe der Breiten dieser Streifen ist nicht kleiner als 2. Das ist der Satz von Tarski (Plankensatz) (seine Behauptung ist nat¨urlich offensichtlich, wenn die Streifen parallel sind). Beweis. Betrachten wir die mit Streifen u¨ berdeckte Scheibe als die vertikale Projektion der mit sph¨arischen G¨urteln u¨ berzogenen Einheitssph¨are. Die Gesamtfl¨ache dieser G¨urtel ist 2π mal die Summe ihrer Breiten, und das ist nicht kleiner als die Fl¨ache der Sph¨are 4π . Folglich ist die Summe der Breiten nicht kleiner als 2. 2
19.2 Beziehung zur geometrischen Optik Die Fl¨achenform d ϕ d p auf dem Strahlenraum spielt in der geometrischen Optik eine Rolle. Ein idealer Spiegel wird in zwei Dimensionen durch eine ebene Kurve dargestellt; das Reflexionsgesetz lautet: Der Einfallswinkel ist gleich dem Reflexi” onswinkel.“ Somit bestimmt der Spiegel eine (partiell definierte) Transformation des Strahlenraumes: Ein einfallender Strahl wird in den reflektierten, ausgehenden Strahl u¨ berf¨uhrt. Das ist eine Transformation des Zylinders, und ihre wesentliche Eigenschaft ist die Fl¨achentreue. Dasselbe gilt f¨ur kompliziertere optische Systeme, in denen etliche Spiegel und Linsen vorkommen. Wir verweisen auf Vorlesung 28 f¨ur eine detailliertere Diskussion dieser Eigenschaft der Fl¨achentreue im Zusammenhang mit Billard. ¨ Ubrigens ist die Existenz einer Fl¨achenform auf dem Strahlenraum, die invariant unter Spiegelreflexionen ist, nichts Ebenen spezifisches. Betrachten wir zum Beispiel die Einheitsph¨are. Die Rolle der Geraden u¨ bernehmen die Großkreise. Ein orientierter Großkreis ist durch seinen Pol eindeutig charakterisiert, wobei es sich um einen Mittelpunkt dieses Großkreises in der sph¨arischen Metrik handelt (es ist eine Frage der Konvention, welchen der beiden Pole man ausw¨ahlt, nachdem man sie getroffen hat, sollte diese Wahl aber konsistent sein; insbesondere w¨ahlt man, indem man die Orientierung eines Großkreises a¨ ndert, den entgegengesetzten Pol).
310
19 Die Crofton-Formel
Somit ist der Strahlenraum auf der Sph¨are mit der Sph¨are selbst identifiziert (diese Konstruktion deckt sich nahezu mit der projektiven Dualit¨at, die wir in Vorlesung 8 diskutiert haben). Die Sph¨are hat ein Standardfl¨achenelement, und dieses liefert ein Fl¨achenelement auf dem Strahlenraum. Diese Fl¨achenform ist unter ¨ den Bewegungen der Sph¨are invariant (siehe Ubung 19.3 auf Seite 320) und a¨ ndert sich nicht unter einer Reflexion an einem beliebigen Spiegel, der durch eine glatte sph¨arische Kurve gegeben ist.
19.3 Die Formel Betrachten wir eine glatte ebene Kurve γ (die nicht notwendigerweise geschlossen oder einfach sein muss), und definieren wir eine Funktion nγ auf dem Raum der orientierten Geraden als Anzahl der Schnittpunkte einer Geraden mit der Kurve. Mit dieser Definition gibt es einige Probleme: Handelt es sich bei γ zum Beispiel um ein gerades Segment, so hat nγ f¨ur die beiden orientierten Geraden, die dieses Segment enthalten, einen unendlichen Wert. Machen Sie sich aber keine Gedanken: Wir werden nγ u¨ ber den Zylinder integrieren, und diese Abnormit¨aten“ werden ” nicht zum Integral beitragen.
Abb. 19.3 Die Funktion nγ .
Im Allgemeinen a¨ ndert sich der Wert von nγ um 2, wenn die Geraden zu Tangenten an die Kurve γ werden (siehe Abbildung 19.3). Sind die Koordinaten der Geraden (ϕ , p), so schreiben wir die Funktion als nγ (ϕ , p). Unter der Crofton-Formel verstehen wir folgende Aussage. Satz 19.2.
1 L¨ange (γ ) = 4
# #
nγ (ϕ , p) d ϕ d p.
(19.2)
Ist die Kurve γ nicht zu wild“ (ist sie etwa ein beschr¨ankter Polygonzug), so hat ” das Integral einen endlichen Wert.
19.4 Erste Anwendungen
311
Beweis der Crofton-Formel. Die Kurve γ kann durch einen Polygonzug gen¨ahert werden, und es reicht aus, (19.2) f¨ur einen solchen Zug zu beweisen. Nehmen wir an, dass ein Polygonzug die Verkn¨upfung zweier Polygonz¨uge γ1 und γ2 ist. Beide Seiten der Formel (19.2) sind additiv, und die Formel f¨ur γ w¨urde sich aus den Formeln f¨ur γ1 und γ2 ergeben. Folglich reicht es aus, Formel (19.2) f¨ur ein Segment aufzustellen. Sei C der Wert des Integrals (19.2) f¨ur ein Einheitssegment; die Konstante h¨angt nicht von der Lage des Segments ab, weil die Fl¨achenform auf dem Raum der Geraden unter Isometrien invariant ist. Eine Streckung um einen Faktor r versieht die Fl¨achenform mit einem Faktor r; deshalb gilt f¨ur jedes Segment γ # #
nγ (ϕ , p) d ϕ d p = C|γ | .
Es bleibt zu pr¨ufen, dass C = 4 ist. Davon kann man sich am einfachsten u¨ berzeugen, wenn γ der Einheitskreis um den Ursprung ist: Die L¨ange ist 2π , w¨ahrend nγ (ϕ , p) f¨ur alle ϕ und −1 ≤ p ≤ 1 gleich 2 und sonst null ist. 2 Ein Gegenst¨uck der Crofton-Formel gilt f¨ur Kurven auf der Sph¨are: Nat¨urlich wird das Integral bez¨uglich des Fl¨achenelementes genommen, wie am Ende von ¨ Abschnitt 19.2 diskutiert (siehe Ubung 19.5 auf Seite 321).
19.4 Erste Anwendungen Die Crofton-Formel hat zahlreiche Anwendungen. In diesem Abschnitt werden wir vier davon diskutieren. 1) Betrachten wir zwei verschachtelte, geschlossene, konvexe Kurven γ und Γ (siehe Abbildung 19.4). Ihre L¨angen seien l und L. Wir behaupten, dass L ≥ l gilt. Tats¨achlich schneidet eine Gerade eine konvexe Kurve in zwei Punkten, und jede Gerade, die die innere Eikurve schneidet, schneidet auch die a¨ ußere Kurve. Folglich gilt nΓ ≥ nγ , und das Resultat folgt aus der Crofton-Formel. 2) Die Breite einer konvexen Figur in einer gegebenen Richtung ist der Abstand zwischen zwei Geraden in dieser Richtung, die Tangenten an die Figur an den
Abb. 19.4 Verschachtelte Eikurven.
312
19 Die Crofton-Formel
Abb. 19.5 Eine Figur konstanter Breite.
gegen¨uberliegenden Seiten sind. Eine Figur mit konstanter Breite hat in allen Richtungen dieselbe Breite. Ein Beispiel daf¨ur ist ein Kreis. Es gibt viele andere Figuren konstanter Breite (siehe Abbildung 19.5). Was sie gemeinsam haben, ist die L¨ange ihres Umfangs, die gleich π d ist, wobei d die Breite ist. Diese Behauptung wollen wir beweisen. Sei γ eine geschlossene, konvexe Kurve konstanter Breite d. Wir w¨ahlen einen Ursprung im Innern von γ . Betrachten wir die Tangente an γ in der Richtung ϕ , und sei p(ϕ ) ihr Abstand vom Ursprung. Die periodische Funktion p(ϕ ) wird als St¨utzfunktion der Kurve bezeichnet (siehe Vorlesung 10). Die Bedingung f¨ur die konstante Breite lautet p(ϕ ) + p(ϕ + π ) = d. Nach der Crofton-Formel gilt L¨ange(γ ) =
1 4
# 2π # p(ϕ ) 0
−p(ϕ +π )
2 d p dϕ =
d 2
# 2π 0
d ϕ = π d,
wie wir behauptet hatten. 3) Der Abstand zwischen den Geraden auf einem linierten Papier ist 1. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit daf¨ur, dass eine Nadel mit Einheitsl¨ange, die wahllos auf das Papier fallen gelassen wird, eine Gerade schneidet? Das ist das ber¨uhmte buffonsche Nadelproblem. Wir nehmen an, dass das Einheitssegment γ horizontal und um den Ursprung zentriert ist, w¨ahrend das linierte Papier jede m¨ogliche Lage einnehmen kann. Nun betrachten wir anstelle des linierten Papiers lediglich eine Gerade, die h¨ochstens 1/2 vom Ursprung entfernt ist. Alle m¨oglichen Lagen der Gerade bilden dann das Rechteck 0 ≤ ϕ ≤ 2π , −1/2 ≤ p ≤ 1/2, dessen Fl¨acheninhalt 2π ist. Schneidet eine Gerade γ , so gilt nγ = 1; anderenfalls gilt nγ = 0. Deshalb ist die gew¨unschte Wahrscheinlichkeit # # nγ (ϕ , p) d ϕ d p /2π .
19.4 Erste Anwendungen
313
Nach der Crofton-Formel ist das Integral vier Mal die L¨ange von γ , und die Wahrscheinlichkeit ist 2/π . 4) Die Kr¨ummung einer glatten, r¨aumlichen Kurve ist der Betrag des Beschleunigungsvektors der gegebenen Kurve in einer Parametrisierung nach der Bogenl¨ange (siehe Vorlesung 15). Satz 19.3. Die totale Kr¨ummung einer geschlossenen Kurve ist mindestens 2π . Beweis. Sei die Kurve γ (t). Mit sich a¨ nderndem Parameter t beschreibt der Geschwindigkeitsvektor Γ (t) = γ (t) eine geschlossene Kurve auf der Einheitssph¨are (die mitunter als tangentiale Indikatrix oder einfach als Tantrix bezeichnet wird). Die L¨ange der Tantrix ist #
|Γ (t)|dt =
#
|γ (t)|dt,
also gleich der totalen Kr¨ummung von γ . Wir wollen zeigen, dass die L¨ange von Γ nicht kleiner als 2π ist. Wir behaupten, dass die Tantrix jeden Großkreis mindestens zwei Mal schnei¨ det. Da alle Großkreise gleich sind, w¨ahlen wir den Aquator. Wir betrachten den h¨ochsten und den tiefsten Punkt von γ . An diesen Punkten ist die Geschwindig¨ keit γ horizontal, und folglich schneidet Γ den Aquator. ¨ Schließlich wenden wir die sph¨arische Crofton-Formel an: Uberall gilt nΓ ≥ 2, und die Gesamtfl¨ache der Sph¨are ist 4π ; deshalb gilt f¨ur die L¨ange (Γ ) ≥ 2π . 2 Der ber¨uhmte Satz von Fary-Milnor besagt mehr: Satz 19.4. Ist eine geschlossene, r¨aumliche Kurve verknotet, so ist ihre totale Kr¨ummung gr¨oßer als 4π .
Abb. 19.6 Eine Kurve mit einem lokalen Maximum und einem lokalen Minimum kann nicht verknotet sein.
314
19 Die Crofton-Formel
Dass die totale Kr¨ummung nicht kleiner als 4π ist, ergibt sich mehr oder weniger offensichtlich aus der Tatsache, dass es bei einem Knoten mindesten zwei lokale Maxima und zwei lokale Minima geben muss (siehe Abbildung 19.6 auf der vorherigen Seite). Wir werden nicht n¨aher darauf eingehen, wie man diese Ungleichung streng macht.
19.5 Die geometrische DNA-Ungleichung Wieder betrachten wir zwei geschlossene, glatte, verschachtelte, ebene Kurven: Die a¨ ußere Kurve Γ ist konvex, die innere Kurve γ muss nicht notwendigerweise konvex sein und kann Selbst¨uberschneidungen haben. Das Bild erinnert an die DNA im Innern einer Zelle (siehe Abbildung 19.7).
Abb. 19.7 DNA im Innern einer Zelle.
Wir definieren die totale Absolutkr¨ummung einer geschlossenen Kurve als das Integral des Absolutwertes der Kr¨ummung bez¨uglich des Bogenl¨angenparameters. Die totale Absolutkr¨ummung ist die totale Windung “ der Kurve. Die mittlere Abso” lutkr¨ummung einer Kurve ist die totale Absolutkr¨ummung dividiert durch die L¨ange. Es gilt folgende geometrische Ungleichung. Satz 19.5. Die mittlere Absolutkr¨ummung von Γ ist nicht gr¨oßer als die mittlere Absolutkr¨ummung von γ . Das bezeichnen wir als geometrische DNA-Ungleichung. Dieser Satz wurde erst k¨urzlich bewiesen [49, 54], und der Beweis ist unerwartet schwer. Wir werden ein schw¨acheres Resultat beweisen, das auf Fary (einen der Namensgeber des ber¨uhmten Satzes von Fary-Milnor; dieser Satz wurde in Abschnitt 19.4 bewiesen) zur¨uckgeht. Und zwar nehmen wir an, dass die a¨ ußere Kurve Γ eine konstante Breite hat (sie zum Beispiel ein Kreis ist). Beweis. Wir wissen bereits, dass die L¨ange von Γ gleich π d ist, wobei d der Durchmesser ist, und ihre totale Kr¨ummung 2π ist. Die totale Kr¨ummung von γ bezeichnen wir mit C. Die L¨ange von γ sei L. Wir wollen folgende Ungleichung beweisen: C 2 ≥ . L d
(19.3)
19.5 Die geometrische DNA-Ungleichung
315
Wir versehen γ mit einer Orientierung und definieren eine lokal konstante Funktion q(ϕ ) auf dem Kreis als die Anzahl orientierter Tangenten an γ mit der Richtung ϕ . F¨ur die totale Absolutkr¨ummung gilt die folgende Integralformel: C=
# 2π 0
q(ϕ ) d ϕ .
(19.4)
Ist t der Bogenl¨angenparameter auf der Kurve γ und ϕ die Richtung ihrer Tangente, so ist die Kr¨ummung k = d ϕ /dt. Die totale Kr¨ummung # L # L d ϕ |k|dt = dt dt 0 0 ist die totale Variation von ϕ . Sei I ein Intervall von ϕ , in dem die Funktion q(ϕ ) einen konstanten Wert hat, sagen wir m. Dann hat I genau m Urbilder unter der Funktion ϕ (t), und der Wert des Integrals # d ϕ dt dt u¨ ber jedem dieser m Intervalle ist die L¨ange von I. Dies impliziert Formel (19.4). Wir wollen die Crofton-Formel verwenden, um L zu berechnen. Die wesentliche Beobachtung ist, dass nγ (ϕ , p) ≤ q(ϕ ) + q(ϕ + π ) (19.5) f¨ur alle p, ϕ gilt. Zwischen zwei aufeinanderfolgenden Schnittpunkten von γ mit einer Geraden, deren Koordinaten (ϕ , p) sind, hat die Tangente an γ in der Tat mindestens ein Mal die Richtung ϕ oder ϕ + π (siehe Abbildung 19.8). Das ist im Wesentlichen der Satz von Rolle.
Abb. 19.8 Eine Version des Satzes von Rolle.
Wir bezeichnen die St¨utzfunktion von Γ mit p(ϕ ). Nun bleibt noch, (19.5) zu integrieren, wobei wir (19.4) und die Tatsache p(ϕ ) + p(ϕ + π ) = d ber¨ucksichtigen: # #
#
#
1 1 2π p(ϕ ) nγ (ϕ , p) d p d ϕ ≤ (q(ϕ ) + q(ϕ + π )) d p d ϕ 4 4 0 −p(ϕ +π ) # # d 2π d 2π Cd . = (q(ϕ ) + q(ϕ + π )) d ϕ = q(ϕ ) d ϕ = 4 0 2 0 2
L=
Dies impliziert die gew¨unschte Ungleichung (19.3). 2
316
19 Die Crofton-Formel
Wir k¨onnen hinzuf¨ugen, dass die Gleichheit in (19.3) impliziert, dass γ mit der Kurve Γ zusammenf¨allt, wobei die Kurve m¨oglicherweise mehr als ein Mal durchlaufen wird. Auch das folgt aus unserem Beweis. Es ist interessant, die r¨aumliche Version der geometrischen DNA-Ungleichung zu untersuchen, wenn die Zelle ein konvexer K¨orper ist, der eine geschlossene Kurve enth¨alt. Ist die Zelle eine Kugel, erh¨alt man im Wesentlichen dasselbe Resultat, jedoch ist nichts u¨ ber Zellen bekannt, die allgemeinere Formen haben.
19.6 Hilberts viertes Problem In seinem ber¨uhmten Vortrag beim Internationalen Mathematiker-Kongress 1900 formulierte D. Hilbert dreiundzwanzig Probleme, die die Entwicklung der Mathematik im 20. Jahrhundert wesentlich beeinflussen sollten und die die Mathematiker wahrscheinlich weiter inspirieren w¨urden. Im vierten Problem geht es darum, Geo” metrien zu konstruieren und zu untersuchen, in denen das gerade Liniensegment die k¨urzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist.“ In diesem Abschnitt werden wir zeigen, wie die Crofton-Formel eine L¨osung zu Hilberts viertem Problem in zwei Dimensionen lieferte. Zuerst wollen wir die Frage kl¨aren, was mit Geometrie“ gemeint ist. Die geome” trische Optik legt folgende Antwort nahe. Betrachten wir die Ausbreitung des Lichts in einem inhomogenen und anisotropen Medium. Das bedeutet, dass die Lichtgeschwindigkeit vom Punkt und von der Richtung abh¨angt. Man kann den Abstand“ ” zweier Punkte A und B als die k¨urzeste Zeit definieren, die das Licht braucht, um von A nach B zu gelangen. Dies definiert eine Geometrie, die als Finsler-Geometrie bezeichnet wird, und die Lichttrajektorien sind Analogien f¨ur Geraden (die Geod¨aten heißen). Wir wollen, dass diese Geod¨aten Geraden sind. Die Lichtgeschwindigkeit kann an jedem Punkt x durch den Einheitskreis“ in x ” beschrieben werden, der aus Einheitsvektoren der Geschwindigkeit in diesem Punkt besteht. Dieser Einheitskreis“, der als Indikatrix bezeichnet wird, ist eine glatte, ” konvexe, zentralsymmetrische Kurve, die um den Punkt x zentriert ist. Zum Beispiel sind in der gew¨ohnlichen euklidischen Ebene alle Indikatrizen Einheitskreise. Sind alle Indikatrizen Ellipsen, so heißt die Geometrie riemannsch (dies ist die bedeutendste und am gr¨undlichsten untersuchte Klasse von Geometrien). Wir wollen mit Beispielen beginnen, die Hilberts Bedingung erf¨ullen. Das allererste Beispiel ist nat¨urlich die euklidische Metrik in der Ebene. Als n¨achstes betrachten wir die Einheitssph¨are mit ihrer Standardgeometrie, in der die Geod¨aten Großkreise sind. Projizieren wir die Sph¨are vom Mittelpunkt aus auf eine Ebene; diese Zentralpojektion identifiziert die Ebene mit einer Hemisph¨are, und sie u¨ berf¨uhrt Großkreise in Geraden. Dadurch versehen wir die Ebene mit einer Geometrie, die sich von der euklidischen unterscheidet, deren Geod¨aten Geraden sind (f¨ur den mit Differentialgeometrie vertrauten Leser ist das eine riemannsche Metrik mit konstanter, positiver Kr¨ummung). Das n¨achste Beispiel ist die hyperbolische Geometrie, deren Entdeckung eine der gr¨oßten Errungenschaften der Mathematik des 19. Jahrhunderts ist. Betrachten
19.6 Hilberts viertes Problem
317
wir die Einheitsscheibe in der Ebene, und definieren wir den Abstand zwischen den Punkten x und y durch die Formel d(x, y) = ln[a, x, y, b] ,
(19.6)
wobei a und b die Schnittpunkte der Geraden xy mit dem Randkreis sind (siehe Abbildung 19.9), und [a, x, y, b] ist das Doppelverh¨altnis von vier Punkten, das folgendermaßen definiert ist: [a, x, y, b] =
(a − y)(x − b) . (a − x)(y − b)
Dies ist das sogenannte Beltrami-Klein-Modell (oder projektive Modell oder kleinsches Kreisscheibenmodell) der hyperbolischen Ebene.
Abb. 19.9 Das Beltrami-Klein-Modell der hyperbolischen Ebene.
Tats¨achlich war zu der Zeit, in der Hilbert seinen Vortrag hielt, wohlbekannt, dass die einzigen riemannschen Geometrien, deren Geod¨aten Geraden sind, die euklidischen, sph¨arischen und hyperbolischen Geometrien sind (Satz von Beltrami). Bei seiner Problemstellung wurde Hilbert durch zwei andere Beispiele motiviert. Eines davon wurde von Hilbert im Jahr 1894 entdeckt. Es wird als HilbertMetrik bezeichnet. Die Hilbert-Metrik ist eine Verallgemeinerung des BeltramiKlein-Modells, bei der die Einheitsscheibe durch ein beliebiges konvexes Gebiet ersetzt ist. Der Abstand ist durch dieselbe Formel (19.6) gegeben, aber – außer wenn der Rand eine Ellipse ist – diese Finsler-Metrik ist keine riemannsche Metrik mehr. Ein anderes Beispiel wurde von H. Minkowski im Zusammenhang mit Zahlentheorie untersucht. In der Minkowski-Geometrie sind die Indikatrizen an verschiedenen Punkten durch Parallelverschiebungen identifiziert. Das ist zwar eine homogene, aber im Allgemeinen anisotrope Geometrie. Die L¨osung zu Hilberts viertem Problem st¨utzt sich auf die Crofton-Formel. Sei f (p, ϕ ) eine positive, stetige Funktion auf dem Strahlenraum und eine gerade Funktion bez¨uglich der Umkehrung der Orientierung einer Geraden: f (−p, ϕ + π ) = f (p, ϕ ). Dann erh¨alt man eine neue Fl¨achenform auf dem Strahlenraum
318
19 Die Crofton-Formel
f (p, ϕ ) d ϕ d p. Wir definieren die L¨ange einer Kurve durch die Formel L¨ange (γ ) =
# #
1 4
nγ (ϕ , p) f (p, ϕ ) d ϕ d p .
(19.7)
Wir erhalten eine Geometrie in der Ebene, und wir behaupten, dass ihre Geod¨aten Geraden sind. Um uns davon zu u¨ berzeugen, dass dies tats¨achlich der Fall ist, m¨ussen wir die G¨ultigkeit der Dreieckungleichung pr¨ufen: Die Summe der L¨angen zweier Seiten eines Dreiecks ist gr¨oßer als die L¨ange der dritten Seite. Tats¨achlich schneidet jede Gerade, die die dritte Seite schneidet auch die erste oder zweite Seite, und die Integration von (19.7) liefert die gew¨unschte Dreiecksungleichung. In der Tat ist jede Finsler-Metrik, deren Geod¨aten Geraden sind, durch die Formel (19.7) gegeben, was wir aber hier nicht beweisen werden. Das bedeutet, dass es in jeder dieser Geometrien eine Version der Crofton-Formel gibt. In h¨oheren Dimensionen hat Hilberts viertes Problem eine a¨ hnliche L¨osung; anstelle des Strahlenraumes verwendet man den Raum der Hyperebenen und eine dort definierte Version der Crofton-Formel. Zum Abschluss unserer kurzen Diskussion von Hilberts viertem Problem wollen wir eine elegante Beschreibung von Metriken erw¨ahnen, deren Geod¨aten Geraden sind. Diese geht auf Hamel, einen von Hilberts Studenten, zur¨uck, und sie wurde 1901 gefunden, kurz nachdem Hilbert seinen Vortrag gehalten hatte. Man kann eine Finsler-Metrik durch eine Funktion charakterisieren, die wir in der Tradition der Physik als Lagrange-Funktion L bezeichnen. Zu einem gegebenen Geschwindigkeitsvektor v an einem Punkt x ist der Wert der Lagrange-Funktion L(x, v) der Betrag des Vektors v in Einheiten der Lichtgeschwindigkeit, also das Verh¨altnis aus v und der Lichtgeschwindigkeit an diesem Punkt und in dieser Richtung. Anders ausgedr¨uckt: Die Indikatrix im Punkt x besteht aus den Geschwindigkeitsvektoren v, die die Gleichung L(x, v) = 1 erf¨ullen. Offensichtlich ist L(x, v) in der Geschwindigkeit homogen: L(x,tv) = tL(x, v) f¨ur alle positiven t. In der euklidischen Geometrie ist zum Beispiel L(x, v) = |v|, das ist die euklidische L¨ange des Vektors. In der Minkowski-Geometrie h¨angt die Lagrange-Funktion nicht von x ab. Die L¨ange einer glatten Kurve γ (t) ist u¨ ber die Lagrange-Funktion ausgedr¨uckt #
L(γ (t), γ (t)) dt .
Aufgrund der Tatsache, dass die Lagrange-Funktion homogen vom Grad 1 ist, h¨angt dieses Integral nicht von der Parametrisierung ab (was jeder Student in der Analysisvorlesung lernt, wenn es um Linienintegrale geht). Die Lagrange-Funktion kann man aus Formel (19.7) zur¨uckgewinnen, indem man sie auf ein infinitesimales Fl¨achensegment γ = [x, x + ε v] anwendet. Das Resultat ist die folgende Formel: L(x1 , x2 , v1 , v2 ) =
1 4
# 2π 0
|v1 cos α + v2 sin α | f (x1 cos α + x2 sin α , α ) d α
¨ (siehe Ubung 19.11 auf Seite 321).
(19.8)
19.6 Hilberts viertes Problem
319
Nun k¨onnen wir den Satz von Hamel formulieren. Satz 19.6. Eine Lagrange-Funktion L(x1 , x2 , v1 , v2 ) definiert eine Finsler-Metrik, deren Geod¨aten genau dann Geraden sind, wenn
∂ 2L ∂ 2L = ∂ x1 ∂ v2 ∂ x2 ∂ v1 gilt. Die explizite Formel (19.8) liefert eine L¨osung zu dieser partiellen Differentialgleichung. Mehr u¨ ber Hilberts viertes Problem k¨onnen Sie in Busemanns Beitrag in [93], in den B¨uchern [61, 91] und im Artikel [3] erfahren.
Morgan Crofton 1826–1915
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
George Comte de Buffon 1707–1788
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
Eugenio Beltrami 1835–1900
c American Mathematical Society
Archimedes c. 287–212 v. Ch.
Istv´an F´ary 1922–1984
George Hamel 1877–1954
19 Die Crofton-Formel
c Gerald Alexanderson
c Media Serv., State University, New York
320
John Milnor geboren 1931
Hermann Minkowski 1864–1909
Alfred Tarski 1902–1983
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
David Hilbert 1862–1943
¨ 19.7 Ubungen ¨ Ubung 19.1. Beweisen Sie Formel (19.1) auf Seite 308. ¨ Ubung 19.2. Beweisen Sie, dass die axiale Projektion einer Sph¨are auf den umschriebenen Zylinder fl¨achentreu ist (Archimedes). ¨ Ubung 19.3. Beweisen Sie, dass das Fl¨achenelement auf dem Raum der orientierten Großkreise, das wir in Abschnitt 19.2 definiert haben, auf der Sph¨are unter Drehungen der Sph¨are invariant ist. ¨ ¨ Ubung 19.4. Uberpr¨ ufen Sie die Crofton-Formel (19.2) f¨ur ein Einheitssegment anhand einer expliziten Berechnung.
¨ 19.7 Ubungen
321
¨ Ubung 19.5. Beweisen Sie die Crofton-Formel f¨ur eine Sph¨are. ¨ Ubung 19.6. Sei Γ eine geschlossene, konvexe Kurve, und sei γ eine geschlossene, sich m¨oglicherweise selbst u¨ berschneidende Kurve im Innern von Γ ; die L¨angen der beiden Kurven seien L und l. Beweisen Sie, dass eine Gerade existiert, die γ mindestens [2l/L] Mal schneidet. ¨ Ubung 19.7. (a) Ersetzen Sie jede Seite eines gleichseitigen Dreiecks durch den Kreisbogen eines Kreises, der in der gegen¨uberliegenden Ecke zentriert ist. Beweisen Sie, dass die resultierende konvexe Kurve eine konstante Breite hat. (b) Konstruieren Sie eine a¨ hnliche Figur konstanter Breite aus einem regelm¨aßigen n-Eck mit ungeradem n. (c) Beweisen Sie, dass man einer Kurve konstanter Breite ein regelm¨aßiges Sechseck umschreiben kann. Hinweis: Umschreiben Sie ein Sechseck mit den Winkeln 120◦ und zeigen Sie, dass die Summe zweier aufeinanderfolgender Seiten immer gleich ist. Drehen Sie dieses Sechseck um 60◦ und zeigen Sie, dass jedes dazwischen liegende Sechseck regelm¨aßig ist. (d)* Beweisen Sie, dass das Reuleaux-Dreieck unter den Figuren mit konstanter Breite den kleinsten Fl¨acheninhalt hat. Hinweis: Umschreiben Sie der Kurve γ mit konstanter Breite ein regelm¨aßiges Sechseck und schreiben Sie diesem Sechseck auch ein Reuleaux-Dreieck ein. Zeigen Sie, dass die St¨utzfunktion des Reuleaux-Dreiecks nicht gr¨oßer als die ¨ 10.4(a). von γ ist und verwenden Sie Ubung ¨ Ubung 19.8. Beweisen Sie folgende Aussage: L¨asst man eine Kurve der L¨ange l wahllos auf ein liniertes Papier fallen, so ist die mittlere Anzahl ihrer Schnittpunkte mit einer Geraden 2l/π . ¨ Ubung 19.9. Sei γ eine nicht notwendigerweise geschlossene Kurve im Innern eines Einheitskreises. Sei C ihre totale Absolutkr¨ummung und L ihre L¨ange. Beweisen Sie L ≤ C + 2. ¨ Ubung 19.10. Formulieren und beweisen Sie eine Version des DNA-Satzes f¨ur eine Kurve im Innern einer Kugel im Raum. ¨ Ubung 19.11. * Sei γ eine geschlossene Kurve im Raum, und sei C ihre totale Kr¨ummung. Betrachten Sie die orthogonale Projektion eines Einheitsvektors v auf die Ebene l¨angs v. Sei Cv die totale Absolutkr¨ummung der ebenen Projektion von γ . Beweisen Sie, dass C=
1 4π
#
Cv dv
gilt, wobei v als ein Punkt der Einheitssph¨are betrachtet wird und die Integration bez¨uglich des Standardfl¨achenelements auf der Sph¨are erfolgt. Hinweis: Nehmen Sie an, dass γ ein Polygonzug ist, und f¨uhren Sie das Problem auf den Fall eines einzelnen Dreiecks zur¨uck. ¨ Ubung 19.12. Beweisen Sie die Dreiecksungleichung f¨ur die Hilbert-Metrik.
Geometrie und Topologie
Teil VI POLYEDER
Vorlesung 20
¨ Krummung und Polyeder
20.1 In der Ebene Die Kr¨ummung einer glatten, ebenen Kurve ist durch die Rate gegeben, mit der sich die Tangente dreht, w¨ahrend man sich entlang der Kurve mit gleichf¨ormiger Geschwindigkeit bewegt. Wie definiert man die Kr¨ummung eines Polygonzuges? Die Kr¨ummung eines ebenen Keils α ist als sein Defekt π − α definiert. Das ist das Winkelmaß des Komplement¨arwinkels. Je spitzer der Winkel ist, umso gr¨oßer ist die Kr¨ummung. Die Kr¨ummung eines Polygonzuges ist die Summe der Kr¨ummungen seiner Winkel.
Abb. 20.1 Die Summe der Außenwinkel eines konvexen Polygons. D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 20,
325
326
20 Kr¨ummung und Polyeder
Abb. 20.2 Zwei 7-zackige Sterne.
Die Summe der Kr¨ummungen eines konvexen Polygons ist 2π (siehe Abbildung 20.1 auf der vorherigen Seite). Die Summen der Kr¨ummungen der beiden 7-zackigen Sterne aus Abbildung 20.2 sind 4π und 6π .
¨ 20.2 Krummung eines Polyederkegels Jede Fl¨ache eines Polyederkegels1 hat einen Winkel, der an der Ecke liegt; diesen Winkel bezeichnen wir als flachen Winkel. Wir wollen einen Polyederkegel mit den flachen Winkeln α1 , . . . , αn betrachten. Wir definieren seine Kr¨ummung als den Defekt 2π − (α1 + · · · + αn ). Vergegenw¨artigen Sie sich, dass die Kr¨ummung positiv oder negativ sein kann; ist ein Kegel flach, so ist seine Kr¨ummung null. Hat der Kegel mehr als drei Fl¨achen, so ist er flexibel. Wir stellen uns vor, dass die Fl¨achen, die starre ebene Keile sind, an den Kanten durch Scharniere miteinander verbunden sind. Dann kann man den Kegel so verformen, dass keine Fl¨ache gedehnt oder gestaucht wird, die Raumwinkel aber variieren. Unter einer solchen Verformung bleibt die Kr¨ummung konstant. Sei P ein konvexes Polyeder. Lemma 20.1. Die Summe der Kr¨ummungen aller Ecken von P ist gleich 4π . Beweis. Sei v die Anzahl der Ecken, e die Anzahl der Kanten und f die Anzahl der Fl¨achen von P. Diese Zahlen erf¨ullen die Euler-Formel v − e + f = 2 (einen Beweis daf¨ur finden Sie in Vorlesung 24). Wir wollen die Summe S aller Winkel der Fl¨achen P berechnen. Die Summe der Winkel an einer Ecke ist 2π minus die Kr¨ummung dieser Ecke. Summieren wir u¨ ber die Ecken, so ergibt das S = 2π v − K ,
1
¨ Unbeschr¨ankter Polyeder mit nur einer Ecke. Anm. d. Ubers.
20.3 Duale Kegel und sph¨arische Polygone
327
wobei K die totale Kr¨ummung ist. Andererseits kann man u¨ ber die Fl¨achen summieren. Die Summe der Winkel der i-ten Fl¨ache ist π (ni − 2), wobei ni die Anzahl der Seiten dieser Fl¨ache ist. Folglich gilt S = π (n1 + · · · + n f ) − 2π f . Da jede Kante an zwei Fl¨achen grenzt, gilt n1 + · · · + n f = 2e; deshalb ist S = 2π e − 2π f . Somit ist 2π v − K = 2π e − 2π f , was mit der Euler-Formel das Resultat liefert. 2 Ein Analogon zu Lemma 20.1 auf der vorherigen Seite gilt zusammen mit dem dazugeh¨origen Beweis auch f¨ur nicht-konvexe Polyeder und sogar f¨ur andere polyedrische Fl¨achen, die nicht notwendigerweise mit der Sph¨are topologisch a¨ quivalent sein m¨ussen (beispielsweise f¨ur einen Torus): Die totale Kr¨ummung ist 2π χ , wobei χ = v − e + f die Euler-Charakteristik ist.
20.3 Duale Kegel und sph¨arische Polygone Gegeben sei ein konvexer Polyederkegel C mit der Ecke V . Wir betrachten die Außennormalen an seine Fl¨achen durch V . Diese Geraden sind die Kanten eines neuen konvexen Polyederkegels C∗ , den wir als dual zu C bezeichnen. Eine a¨ hnliche Konstruktion wie in der Ebene liefert einen Winkel, der den urspr¨unglichen Winkel zu π erg¨anzt. Die Beziehung zwischen einem Kegel und seinem dualen Kegel im Raum ist komplexer und wird im n¨achsten Lemma beschrieben. Lemma 20.2. Die Winkel zwischen den Kanten von C∗ sind Komplement¨arwinkel zu π der Raumwinkel von C, und die Raumwinkel von C∗ sind Komplement¨arwinkel zu π der Winkel zwischen den Kanten von C.
Abb. 20.3 Beweis von Lemma 20.2.
328
20 Kr¨ummung und Polyeder
Beweis. Die erste Behauptung geht aus Abbildung 20.3 auf der vorherigen Seite hervor, und die zweite Behauptung ergibt sich aus der Symmetrie der Relation zwischen C und C∗ . 2 Von nun an argumentieren wir mit sph¨arischer Geometrie. Es ist naheliegend, die euklidische Ebene durch die (Einheits-) Sph¨are zu ersetzen – schließlich ist die Oberfl¨ache unserer Erde (ungef¨ahr) eine Kugel.2 Die Rolle der Geraden u¨ bernehmen Großkreise (anders als in der Ebene schneiden sich zwei solcher Geraden“ in ” zwei Punkten); ein sph¨arisches Polygon wird durch Kreisb¨ogen von Großkreisen begrenzt. Die Leser, die wissen m¨ochten, was die Gegenst¨ucke von Geraden auf beliebigen Fl¨achen sind, sollten sich bis Abschnitt 20.8 auf Seite 336 gedulden. Der Winkel zwischen Großkreisen, die sich im Punkt X schneiden, ist definiert als der Winkel zwischen ihren Tangenten an die Sph¨are im Punkt X. Eine sonderbare Eigenschaft der sph¨arischen Geometrie ist das Fehlen von ¨ Ahnlichkeiten; insbesondere kann man ein Polygon nicht so dehnen, dass seine Winkel gleich bleiben, der Fl¨acheninhalt sich aber a¨ ndert. Satz 20.1. Sei P ein konvexes n-Eck in der Einheitssph¨are, A sei sein Fl¨acheninhalt und α1 , . . . , αn seien seine Winkel. Dann ist A = α1 + · · · + αn − (n − 2)π .
(20.1)
Bedenken Sie, dass f¨ur ein ebenes n-Eck die rechte Seite von Gleichung (20.1) verschwindet. Beweis. Wir wollen mit dem Fall n = 2 beginnen. Ein 2-Eck ist ein Gebiet, das durch zwei Meridiane begrenzt wird, welche die Pole verbinden. Ist α der Winkel zwischen den Meridianen, so ist der Fl¨acheninhalt des 2-Ecks der (α /2π )-te Teil des Gesamtfl¨acheninhalts 4π der Sph¨are, also 2α .
Abb. 20.4 Fl¨acheninhalt eines sph¨arischen Dreiecks. 2 Sph¨ arische Geometrie war schon den alten Griechen bekannt. Viele Resultate der ebenen Geometrie haben sph¨arische Analoga. Zum Beispiel gibt es sph¨arische Sinus- und Kosinuss¨atze.
20.3 Duale Kegel und sph¨arische Polygone
329
Als N¨achstes betrachten wir ein sph¨arisches Dreieck (siehe Abbildung 20.4 auf der vorherigen Seite). Die drei Großkreise bilden sechs 2-Ecke, die die Sph¨are u¨ berdecken. Das urspr¨ungliche Dreieck und sein entgegengesetztes Dreieck werden drei Mal u¨ berdeckt, und der u¨ brige Teil der Sph¨are wird ein Mal u¨ berdeckt. Der Gesamtfl¨acheninhalt der sechs 2-Ecke ist 2(2α1 + 2α2 + 2α3 ); folglich ist 4(α1 + α2 + α3 ) = 4π + 4A . Daraus folgt die Behauptung f¨ur n = 3. Schließlich kann jedes konvexe n-Eck mit n ≥ 4 durch seine Diagonalen in n − 2 Dreiecke zerschnitten werden. Der Fl¨acheninhalt und die Winkelsumme sind dabei additiv, und es folgt (20.1). 2 Als Konsequenz dessen interpretieren wir die Kr¨ummung eines konvexen Polyederkegels C als den Fl¨acheninhalt eines sph¨arischen Polygons. Sei C∗ der duale Kegel. Wir betrachten die Einheitssph¨are, die um seine Ecke zentriert ist. Die Schnittmenge von C ∗ mit der Sph¨are ist ein konvexes, sph¨arisches Polygon P. Der Fl¨acheninhalt von P ist ein Maß f¨ur den festen Winkel des Kegels C∗ . Korollar 20.1. Der Fl¨acheninhalt A des sph¨arischen Polygons P ist gleich der Kr¨ummung des Kegels C. Beweis. Nehmen wir an, dass das Polygon P n-seitig ist, und seien αi seine Winkel. Der Fl¨acheninhalt von P ist durch Formel (20.1) gegeben. Die Winkel αi sind die Raumwinkel von C∗ . Seien βi die Winkel zwischen den Kanten des Kegels C. Nach Lemma 20.2 ist αi = π − βi . Das setzen wir in (20.1) ein und erhalten A = 2π − (β1 + · · · + βn ) . Die rechte Seite ist die Kr¨ummung des Kegels C, wie wir behauptet hatten. 2
Abb. 20.5 Die Summe der Kr¨ummungen eines konvexes Polyeders.
330
20 Kr¨ummung und Polyeder
Korollar 20.1 liefert einen alternativen Beweis f¨ur Lemma 20.1 auf Seite 326: Man kann die dualen Kegel an allen Ecken von P auf den Ursprung verschieben, und die Kegel werden dann den ganzen Raum u¨ berdecken (siehe Abbildung 20.5 auf der vorherigen Seite). Daraus folgt, dass die Summe der Fl¨acheninhalte der zugeh¨origen sph¨arischen Polygone 4π ist, und daraus folgt Lemma 20.1. Auch dieser alternative Beweis impliziert zusammen mit dem Argument aus Lemma 20.1 die Euler-Formel.
20.4 Parallelverschiebung und Rollen Wir wollen die Parallelverschiebung auf einer polyedrischen Fl¨ache P definieren. Das Objekt, das wir verschieben wollen, ist ein Vektor, etwa der Vektor v, der in einer der Fl¨achen des Polyeders liegt. So lange man in ein und derselben Fl¨ache bleibt, verschiebt man v genauso parallel wie in der Ebene. Die große Frage stellt sich, wenn man den Vektor u¨ ber eine Kante bringen will. Seien F1 und F2 benachbarte Fl¨achen, die eine Kante E gemeinsam haben. Wir identifizieren die Ebenen der beiden Fl¨achen durch Drehung um E (so als w¨aren sie durch Scharniere miteinander verbunden). Ein Tangentialvektor v soll in F1 parallelverschoben werden. Wenn der Fußpunkt von v die Kante E erreicht, wenden wir diese Drehung an, um einen Vektor u zu erhalten, der in F2 liegt. Der Vektor u ist das Ergebnis einer Parallelverschiebung von v u¨ ber die Kante E. Anders ausgedr¨uckt: Unter der Parallelverschiebung von v u¨ ber die Kante E bleiben die Tangentialkomponente von v entlang E und die Normalkomponente von v gleich. Betrachten Sie dazu die Abbildung 20.6, die eine Parallelverschiebung eines Vektors u¨ ber drei benachbarte Fl¨achen eines W¨urfels veranschaulicht.
Abb. 20.6 Parallelverschiebung auf einem W¨urfel.
¨ Aquivalent dazu legen wir den Polyeder P so, dass die Fl¨ache F1 auf der horizontalen Ebene liegt und rollen ihn u¨ ber die Kante E. Nun liegt die Fl¨ache F2 auf der horizontalen Ebene. Die Abdr¨ucke der Vektoren v und u auf der horizontalen Ebene sind parallel. Folglich ist die Parallelverschiebung auf der Oberfl¨ache eines Polyeders dasselbe wie das Rollen dieses Polyeders auf der horizontalen Ebene. Eine Geod¨ate γ ist auf einer polyedrischen Oberfl¨ache definiert als eine Kurve, die in jeder Fl¨ache geradlinig ist und deren Tangentialvektoren u¨ ber jede Kante,
20.5 Der Satz von Gauß-Bonnet
331
die γ schneidet, parallelverschoben werden. Wir nehmen an, dass Geod¨aten nicht durch Ecken verlaufen. Ein realistisches Bild einer Geod¨ate ist ein Geschenkband, das um eine Pralinenschachtel gewickelt ist. Rollt man ein Polyeder in der Ebene, so hinterlassen Geod¨aten eine gerade Spur. Geod¨aten minimieren den Abstand zwischen ihren hinreichend nah beieinander liegenden Punkten. Lemma 20.3. Betrachten wir zwei Ebenen F1 und F2 im Raum, die sich entlang der Geraden E schneiden, und seien A1 und A2 Punkte in F1 und F2 . Sei γ der k¨urzeste Weg von A1 nach A2 u¨ ber die Kante E auf der Fl¨ache, die aus zwei Halbebenen besteht, die durch E voneinander getrennt sind. Dann ist γ eine Geod¨ate. Beweis. Wir drehen die Ebene F2 solange um die Kante E, bis sie mit der Ebene F1 zusammenf¨allt. Die k¨urzeste Kurve γ von A1 nach A2 entfaltet sich zu einem geradlinigen Segment; deshalb wird der Einheits-Tangentialvektor von γ u¨ ber E parallelverschoben. 2
20.5 Der Satz von Gauß-Bonnet Sei V die Ecke eines Polyederkegels C. Wir wollen einen Vektor betrachten, der in einer der Fl¨achen des Kegels liegt. Wir w¨ahlen einen geschlossenen Weg auf der Kegelfl¨ache, der am Fußpunkt des Vektors beginnt und V ein Mal entgegen dem Uhrzeigersinn umrundet. Entlang dieses Weges verschieben wir den Vektor parallel. Was passiert? Der Fußpunkt kehrt an seine Ausgangsposition zur¨uck, und der Vektor dreht sich um einen Winkel α . Dieser Winkel h¨angt weder von der Wahl des Vektors noch vom Weg ab. Was ist dieser Winkel? Lemma 20.4. Der Winkel α ist gleich der Kr¨ummung von C. Beweis. Anstelle der Parallelverschiebung setzen wir den Kegel C auf die horizontale Ebene und rollen ihn u¨ ber aufeinanderfolgende Kanten. Die resultierende Entfaltung des Kegels ist ein ebener Keil, dessen Maß die Summe der flachen Winkel von C ist. Der gesuchte Winkel erg¨anzt diese Summe zu 2π , und es ergibt sich das Resultat (siehe Abbildung 20.6 auf der vorherigen Seite und Abbildung 20.7). 2
Abb. 20.7 Beweis von Lemma 20.4.
332
20 Kr¨ummung und Polyeder
Allgemeiner betrachtet, sei γ ein orientierter einfach geschlossener Weg auf einer polyedrischen Fl¨ache P; wir nehmen an, dass γ die Kanten schr¨ag schneidet und die Ecken meidet. Die Kurve γ zerlegt P in zwei Komponenten, n¨amlich in eine auf der linken Seite und eine auf der rechten Seite der Kurve. Die erste Komponente bezeichnen wir als das von γ begrenzte Gebiet. W¨ahlen wir einen Tangentialvektor v mit Fußpunkt auf γ und verschieben wir ihn entlang von γ parallel. Sei u der Endvektor dessen Fußpunkt mit dem von v zusammenf¨allt; mit α (γ ) bezeichnen wir den Winkel zwischen v und u. Das n¨achste Resultat ist der ber¨uhmte Satz von Gauß-Bonnet (in einer polyedrischen Version). Satz 20.2. Der Winkel α (γ ) ist die Summe der Kr¨ummungen der Ecken des Polyeders P, die in dem Gebiet liegen, das von γ begrenzt wird. Beweis. Wir wollen mit Induktion u¨ ber die Anzahl n der Ecken im Innern von γ argumentieren. Im Fall n = 1 ist dies das Lemma 20.4 auf der vorherigen Seite.
Abb. 20.8 Beweis des Satzes von Gauß-Bonnet.
F¨ur n > 1 kann man das von γ begrenzte Gebiet durch einen Kreisbogen δ in zwei Gebiete zerlegen, die jeweils weniger als n Ecken haben (siehe Abbildung 20.8). Sei γ1 der Weg, der γ von A bis B folgt und anschließend δ von B bis A. Analog dazu ist γ2 der Weg, der δ von A nach B folgt und anschließend γ von B nach A. Die Verkn¨upfung von γ1 und γ2 unterscheidet sich von γ durch den Kreisbogen δ , der hin und zur¨uck durchlaufen wird. Folglich heben sich die Beitr¨age von δ gegenseitig auf, also gilt α (γ ) = α (γ1 ) + α (γ2 ), und das Resultat folgt durch Induktion. 2
20.6 Geschlossene Geod¨aten auf generischen Polyedern Abbildung 20.9 auf der n¨achsten Seite zeigt einfach geschlossene Geod¨aten auf einem regelm¨aßigen Tetraeder und auf einem W¨urfel. Erstere ist der Schnitt des Tetraeders durch eine Ebene, die parallel zu einem Paar von paarweise windschiefen
20.7 Geschlossene Geod¨aten auf regelm¨aßigen Polyedern
333
Abb. 20.9 Geschlossene Geod¨aten auf Polyedern.
Kanten ist, und Letztere ist der Schnitt des W¨urfels mit einer Ebene, die senkrecht auf seiner großen Diagonalen steht. Kann man eine derartige Geod¨ate auf einem generischen, geschlossenen konvexen Polyeder P bestimmen? Mit generisch“ ist gemeint, dass die einzige lineare ” Relation mit rationalen Koeffizienten, die zwischen den Kr¨ummungen der Ecken und π besteht, diejenige aus Lemma 20.1 auf Seite 326 ist. Satz 20.3. Es existieren auf P keine einfach geschlossenen Geod¨aten. Beweis. Angenommen, es existiert eine derartige Geod¨ate γ . Dann ist der EinheitsTangentialvektor von γ entlang γ parallelverschoben. Insbesondere kehrt dieser Tangentialvektor ohne Drehung zu seinem Ausgangspunkt zur¨uck. Andererseits f¨uhrt die Parallelverschiebung entlang γ nach dem Satz von GaußBonnet zu einer Drehung um einen Winkel, der gleich der Summe der Kr¨ummungen der Ecken im Innern von γ ist. Diese Menge von Ecken ist eine echte und nichtleere Teilmenge der Menge der Ecken von P. Da P generisch ist, kann die Summe der Kr¨ummungen kein Vielfaches von 2π sein. Das ist ein Widerspruch. 2 Insbesondere verschwinden die Geod¨aten aus Abbildung 20.9 nach einer generischen, kleinen St¨orung des Tetraeders oder des W¨urfels.
20.7 Geschlossene Geod¨aten auf regelm¨aßigen Polyedern Die Diskussion im vorherigen Abschnitt legt nahe, dass symmetrischere Polyeder f¨ur die Konstruktion geschlossener Geod¨aten zug¨anglicher sind. Unter diesem Gesichtspunkt ist es vern¨unftig, den Fall von regelm¨aßigen Polyedern zu untersuchen (siehe [16, 31] f¨ur eine solche Untersuchung). Der einfachste Fall ist der eines regelm¨aßigen Tetraeders. Wir wollen ein regelm¨aßiges Tetraeder mit der Kantenl¨ange 1 mit T bezeichnen. Seine Ecken seien A, B, C und D. Wir betrachten die gew¨ohnliche Kachelung der Ebene durch gleichseitige Dreiecke mit Einheitskante. Die Ecken bezeichnen wir mit den Buchstaben A, B, C, D, wie in Abbildung 20.10 auf der n¨achsten Seite dargestellt. Es gibt eine
334
20 Kr¨ummung und Polyeder
Abb. 20.10 Dreieckskachelung der Ebene.
nat¨urliche Abbildung π der Ebene auf das Tetraeder T , welche die Ecken der Kachelung in die Ecken von T mit denselben Buchstaben, die Kanten in Kanten und die Dreiecke (Kacheln) in die Seiten u¨ berf¨uhrt. In der Ebene w¨ahlen wir das Koordinatensystem mit dem Ursprung in einem − → − → Punkt A und die Koordinatenvektoren AB und AC, wobei B der n¨achste rechte Nachbar von A ist und C direkt u¨ ber AB liegt. Wir w¨ahlen die Punkte X = (α , 0), 0 < α < 1 auf AB und X = (α + 2p, 2q), q ≥ p ≥ 0, q > 0 auf einer anderen Seite, die mit / Z u¨ berf¨uhrt die Abbildung π das AB gekennzeichnet ist. F¨ur (p, q) = 1 und qα ∈ in eine einfache (sich nicht selbst wiederholende) Geod¨ Segment XX ate auf T mit der L¨ange p2 + pq + q2 . Außerdem ist diese Geod¨ate nicht selbst¨uberschneidend, und alle geschlossenen Geod¨aten auf T sind nicht selbst¨uberschneidend (siehe ¨ Ubung 20.8 auf Seite 342). Die zu p = 2, q = 3 geh¨orende Geod¨ate ist in Abbildung 20.11 dargestellt. Sie zerlegt das Tetraeder in zwei St¨ucke, die ebenfalls in ¨ Abbildung 20.11 dargestellt sind. (In Ubereinstimmung mit dem Satz von GaußBonnet enth¨alt jedes dieser beiden St¨ucke zwei Ecken.)
Abb. 20.11 Eine geschlossene Geod¨ate auf einem Tetraeder.
20.7 Geschlossene Geod¨aten auf regelm¨aßigen Polyedern
335
Eine vollst¨andige Beschreibung von geschlossenen Geod¨aten auf dem regelm¨a¨ ßigen Oktaeder wird in Ubung 20.9 auf Seite 342 gegeben. Bis auf eine Parallelit¨at und Symmetrien des Oktaeders gibt es nur zwei √ geschlossenen Geod¨aten ohne Selbst¨uberschneidungen. Ihre L¨angen sind 3 und 2 3 (wobei das Oktaeder eine Einheitskante besitzt). Eine Geod¨ate ist eben, die andere nicht. Es gibt auch unendlich viele nicht parallele Geod¨aten mit Selbst¨uberschneidungen. Die beiden geschlossenen Geod¨aten ohne Selbst¨uberschneidungen und eine geschlossene Geod¨ate mit Selbst¨uberschneidungen sind in Abbildung 20.12 dargestellt.
Abb. 20.12 Drei geschlossene Geod¨aten auf dem Oktaeder.
Eine fast vollst¨andige Beschreibung von geschlossenen Geod¨aten auf dem W¨urfel ¨ wird in Ubung 20.10 auf Seite 343 gegeben. Es gibt drei Arten von √ √ geschlossenen Geod¨aten ohne Selbst¨uberschneidungen (ihre L¨angen sind 4, 3 2, 2 5) und unendlich viele Arten geschlossener Geod¨aten mit Selbst¨uberschneidungen. Die drei geschlossenen Geod¨aten ohne Selbst¨uberschneidungen und drei Geod¨aten mit Selbst¨uberschneidungen sind in Abbildung 20.13 beziehungsweise in Abbildung 20.14 dargestellt.
Abb. 20.13 Einfach geschlossene Geod¨aten auf dem W¨urfel.
Abb. 20.14 Geschlossene Geod¨aten mit Selbst¨uberschneidungen auf dem W¨urfel.
336
20 Kr¨ummung und Polyeder
Abb. 20.15 Einfach geschlossene Geod¨aten auf dem Ikosaeder.
Auf einem regelm¨aßigen Ikosaeder gibt es (bis auf Parallelit¨at und Symmetrien des Ikosaeders) Geod¨aten ohne Selbst¨uberschneidungen (mit √ √ drei geschlossene den L¨angen 5, 3 3 und 2 7), und nur eine von ihnen ist eben. Sie sind in Abbildung 20.15 dargestellt. Es gibt auch unendlich viele geschlossene Geod¨aten mit Selbst¨uberschneidungen. (Die Details sind in [31] nachzulesen.)
20.8 Glatte Fl¨achen: Ein Panorama In der Differentialgeometrie sind alle Begriffe, die wir bisher diskutiert haben, f¨ur glatte Fl¨achen definiert. Die Beziehung zwischen den polyedrischen und glatten F¨allen ist im Wesentlichen dieselbe wie zwischen Polygonz¨ugen und glatten Kurven in der Ebene, wie wir sie in Abschnitt 20.1 diskutiert haben. Die Definition der Kr¨ummung wird in der Aussage von Korollar 20.1 auf Seite 329 modelliert. Sei X ein Punkt einer Fl¨ache. Wir wollen eine kleine Umgebung des Punktes X mit dem Fl¨acheninhalt A betrachten. In jedem Punkt dieser Umgebung betrachten wir den Einheits-Normalenvektor an die Fl¨ache (sodass die Fl¨ache wie ein Stachelschwein aussieht). Wir verschieben die Fußpunkte dieser Normalenvektoren auf den Ursprung, um ein St¨uck der Einheitsph¨are zu erhalten. Sei A der Fl¨acheninhalt dieses St¨ucks. Die Kr¨ummung der Fl¨ache im Punkt X ist der Grenzwert des Verh¨altnisses A /A, wenn die Umgebung auf den Punkt X schrumpft. Zum Beispiel ist die Kr¨ummung eines Zylinders oder eines Kegels null: Die Endpunkte des Einheits-Normalenvektors liegen auf einer Kurve, deren Fl¨acheninhalt null ist. Die Kr¨ummung einer Sph¨are mit dem Radius r ist 1/r2 .
20.8 Glatte Fl¨achen: Ein Panorama
337
Die Beziehung dieser Definition zur Definition der Kr¨ummung eines Polyederkegels aus Abschnitt 20.3 ist direkt. Sei C ein Polyederkegel. Seine Kanten und seine Ecke kann man gl¨atten, um eine glatte Fl¨ache zu erhalten. Die EinheitsNormalenvektoren an diese Fl¨ache beschreiben ein Gebiet auf der Einheitssph¨are. F¨ur den Kegel wird dieses Gebiet ein sph¨arisches Polygon P, n¨amlich die Schnittmenge der Sph¨are mit dem dualen Kegel C∗ . Der Fl¨acheninhalt von P ist die Kr¨ummung von C, wie wir aus Korollar 20.1 auf Seite 329 wissen. Die Kr¨ummung hat ein Vorzeichen. Das liegt daran, dass die Fl¨ache A vorzeichenbehaftet ist. Insbesondere durchlaufen wir den Rand einer Umgebung des Punktes X entgegen dem Uhrzeigersinn. Die Endpunkte des Einheits-Normalenvektors durchlaufen eine Kurve auf der Einheitssph¨are; ist diese Kurve entgegen dem Uhrzeigersinn orientiert, so ist die Kr¨ummung positiv, und ist sie im Uhrzeigersinn orientiert, so ist sie negativ. Abbildung 20.16 zeigt den Fall eines Torus.
Abb. 20.16 Positive und negative Kr¨ummung.
In Analogie zu Lemma 20.1 auf Seite 326 ist die totale Kr¨ummung einer geschlossenen, konvexen Fl¨ache 4π . F¨ur allgemeinere, geschlossene Fl¨achen lautet die Antwort 2π χ , wobei χ die Euler-Charakteristik ist. Die Kr¨ummung eines Polyederkegels a¨ ndert sich nicht unter Verformungen, die flache Winkel erhalten. Konstant bleibt die Kr¨ummung einer glatten Fl¨ache auch unter isometrischen Verformungen, den Verformungen, die die innere Geometrie der Fl¨ache nicht a¨ ndern.3 Beispielsweise ergibt sich eine große Vielzahl von abwickelbaren Fl¨achen dadurch, dass man einen Papierbogen (St¨uck einer Ebene) verformt, ohne ihn zu dehnen. Und sie alle haben die Kr¨ummung null (siehe Vorlesung 13). Sei γ eine orientierte, glatte Kurve auf einer glatten Fl¨ache S. Die Parallelverschiebung entlang γ ist definiert als gleitfreies Rollen der Tangentialebene an S ent¨ lang γ . Aquivalent dazu kann man S auf die Ebene legen und die Fl¨ache entlang der Kurve γ rollen. Der Satz von Gauß-Bonnet gilt auch im glatten Fall: Die Parallelverschiebung der Tangentialebene an eine Fl¨ache S entlang einer orientierten, einfach geschlos3
Das ist das Theorema Egregium von C. F. Gauß.
338
20 Kr¨ummung und Polyeder
senen Kurve γ f¨uhrt zu einer Drehung der Tangentialebene um einen Winkel, der gleich der totalen Kr¨ummung von S im Innern von γ ist. Eine geod¨atische Kurve auf einer glatten Fl¨ache S ist als eine Kurve γ definiert, deren Tangentialvektor entlang γ parallelverschoben ist. Rollt man eine Fl¨ache entlang einer geod¨atischen Kurve, so ist die Spur auf der Horizontalebene geradlinig. Geod¨aten sind Trajektorien eines freien Teilchens, das auf S verhaftet ist. Ihre Geschwindigkeit bleibt konstant, und ihre Beschleunigung wirkt orthogonal zur Fl¨ache (also ist die einzige Kraft, die auf das Teilchen wirkt, die gew¨ohnliche Auflagekraft). Zum Beispiel sind die Geod¨aten auf einer Sph¨are Großkreise. Genau wie im polyedrischen Fall minimieren Geod¨aten den Abstand zwischen Paaren ihrer hinreichend nah beieinander liegenden Punkte. Anders als in Satz 20.3 auf Seite 333 verf¨ugt jede geschlossene, glatte, konvexe Fl¨ache u¨ ber eine einfach geschlossene Geod¨ate, tats¨achlich sind es sogar drei: Dies wurde von Poincar´e vermutet; ein Beweis wurde von Lyusternik und Shnirelman im Jahr 1930 ver¨offentlicht. Diese drei geschlossenen Geod¨aten sind bei einem Ellipsoid offensichtlich; sie sind seine drei Schnitte durch die Symmetrieebenen. Zum Schluss wollen wir die geod¨atische Kr¨ummung einer orientierten Kurve auf einer glatten Fl¨ache definieren. Wir n¨ahern eine Kurve durch einen geod¨atischen Polygonzug γ . Die geod¨atische Kr¨ummung ist an den Ecken konzentriert, und ihr Wert ist das Winkelmaß des Komplement¨arwinkels. Sie ist positiv, wenn sich die Kurve γ nach links wendet und negativ, wenn sie sich nach rechts wendet. Die geod¨atische Kr¨ummung einer geod¨atischen Gerade ist null. Sei γ ein orientiertes, einfaches, geod¨atisches Polygon. Die Parallelverschiebung entlang γ f¨uhrt zu einer Drehung der Tangentialebene, und der Winkel dieser Drehung erg¨anzt die totale geod¨atische Kr¨ummung von γ zu 2π (siehe Abbildung 20.17). Das f¨uhrt auf eine weitere Version des Satzes von Gauß-Bonnet: Die totale geod¨atische Kr¨ummung einer orientierten, einfach geschlossenen Kurve γ plus die totale Kr¨ummung der Fl¨ache im Innern von γ ist 2π .
Abb. 20.17 Parallelverschiebung auf einer Fl¨ache.
20.9 Drei Beispiele: Tennisball, foucaultsches Pendel und Rad eines Fahrrads
339
20.9 Drei Beispiele: Tennisball, foucaultsches Pendel und Rad eines Fahrrads Jeder Tennisball hat eine Kerbe in Form einer geschlossenen Kurve auf seiner Oberfl¨ache. Markieren Sie einen Punkt auf dieser Kurve und setzen Sie den Ball so auf den Boden, dass er den Boden am markierten Punkt ber¨uhrt. Nun rollen Sie den Ball gleitfrei entlang der Kurve bis er den Boden wieder am markierten Punkt ber¨uhrt. Der Ball hat von seiner Ausgangs- bis zu seiner Endposition eine bestimmte Drehung um die vertikale Achse gemacht. Was ist der Winkel dieser Drehung? Der Satz von Gauß-Bonnet liefert eine Antwort: Der gesuchte Winkel ist die von der Kurve eingeschlossene totale Kr¨ummung. Obwohl die Kurve eine komplizierte Form hat, offenbart ein Blick auf einen Tennisball, dass diese Kurve symmetrisch ist und genau eine H¨alfte der totalen Kr¨ummung des Balls einschließt, also 2π . Daher ist der Drehwinkel null. In unserem zweiten Beispiel geht es um das foucaultsche Pendel, das die Rotation der Erde demonstriert. Das Originalpendel wurde von L´eon Foucault f¨ur die Ausstellung im Jahr 1850 in Paris konstruiert: Dabei handelte es sich um ein 67 Meter langes und 28 Kilogramm schweres Pendel, das Foucault in der Kuppel des Panth´eon in Paris aufh¨angte; die Bewegungsebene des Pendels dreht sich gegen¨uber dem Bezugssystem Erde langsam im Uhrzeigersinn.4 Heute stellt nahezu jedes wissenschaftliche Museum ein foucaultsches Pendel aus. Stellen Sie sich vor, dass das Pendel am Nordpol aufgeh¨angt ist. Seine Bewegungsebene bleibt gleich, w¨ahrend sich die Erde nach Osten dreht. Folglich dreht sich die Bewegungsebene des Pendels gegen¨uber dem Bezugssystem Erde mit einer Winkelgeschwindigkeit von 360◦ /24 = 15◦ pro Stunde. Je n¨aher man sich am ¨ ¨ Aquator befindet, umso schw¨acher wird der Effekt, und am Aquator dreht sich die Bewegungsebene des Pendels gegen¨uber dem Bezugssystem Erde gar nicht (aufgrund der Symmetrie!). Das foucaultsche Pendel ist ein rein geometrisches Ph¨anomen. Sein Verhalten l¨asst sich auf die Bewegung des Aufh¨angungspunktes zur¨uckf¨uhren. Wir wollen uns vorstellen, dass sich die Erde nicht dreht und sich nur der Aufh¨angungspunkt des Pendels entlang einer Kurve γ auf der Erdoberfl¨ache bewegt. Wir nehmen außerdem an, dass γ ein sph¨arisches Polygon ist. So lange wir uns entlang eines geod¨atischen Segments bewegen, dreht sich die Bewegungsebene des Pendels relativ zur Richtung der Geod¨ate nicht. An einer Ecke bleibt die Bewegungsebene des Pendels gleich, aber die Bewegungsrichtung des Aufh¨angungspunktes a¨ ndert sich um den a¨ ußeren Winkel γ . Somit dreht sich die Bewegungsebene des Pendels relativ zur Richtung von γ um den Außenwinkel an der Ecke. Zusammenfassung: Die Gesamtdrehung der Bewegungsebene des Pendels ist gleich der totalen geod¨atischen Kr¨ummung der Trajektorie seines Aufh¨angungspunktes. Nach dem Satz von Gauß-Bonnet ist dies 2π minus die totale Kr¨ummung innerhalb dieser Trajektorie. Wir betrachten das foucaultsche Pendel am Breitengrad ψ . Die Trajektorie des Aufh¨angungspunktes ist ein Breitenkreis. Die totale Kr¨ummung der Polkappe der 4
Wir empfehlen Ihnen den Roman Das Foucaultsche Pendel“ von Umberto Eco. ”
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20 Kr¨ummung und Polyeder
Sph¨are, die von diesem Kreis begrenzt wird, ist gleich dem Fl¨acheninhalt der Polkappe des Breitengrades ψ auf der Einheitssph¨are; sie l¨asst sich leicht berechnen – ¨ siehe Ubung 20.3 auf der n¨achsten Seite – und das Ergebnis lautet 2π (1 − sin ψ ). Somit ist die Gesamtdrehung der Bewegungsebene des Pendels 2π sin ψ . F¨ur Paris ist ψ etwa 48◦ , und die Winkelgeschwindigkeit des foucaultschen Pendels im Panth´eon ist 11◦ pro Stunde. In der Physik wird die Drehung der Bewegungsebene des Pendels auf eine Tr¨agheitskraft zur¨uckgef¨uhrt, n¨amlich auf die Corioliskraft. Dieselbe Kraft ist f¨ur die Richtung der großen Luftstr¨omungen und des Windes auf der Erde verantwortlich. Man hat festgestellt, dass Fl¨usse auf der n¨ordlichen Halbkugel eher auf der (in Fließrichtung) rechten Uferseite erodieren; Fl¨usse der s¨udlichen Halbkugel erodieren haupts¨achlich auf der linken Uferseite. Das wird besonders bei den großen, nordw¨arts fließenden Fl¨ussen in Russland, wie etwa Ob, Lena und Yenisey, offenbar. Auch dieses Ph¨anomen wird oft auf die Corioliskraft zur¨uckgef¨uhrt, obwohl die Frage etwas umstritten bleibt (und die Corioliskraft ist definitiv nicht f¨ur die Drehrichtung von Wirbeln in Badewannen verantwortlich!). Schließlich kann man nach M. Levi [51] das Rad eines Fahrrads mit reibungsloser Aufh¨angung f¨ur die physikalische Realisierung der Parallelverschiebung verwenden. Halten Sie die Radebene senkrecht zur Fl¨ache und richten Sie es so ein, dass die Winkelgeschwindigkeit des Rades relativ zu seiner Drehachse null ist. F¨uhrt man den Mittelpunkt des Rades entlang einer Kurve auf der Fl¨ache, so erf¨ahrt jede Speiche, als Tangentialvektor betrachtet, eine Parallelverschiebung entlang der Kurve. (Die Erkl¨arung f¨ur dieses Ph¨anomen ist im Wesentlichen dieselbe wie beim foucaultschen Pendel).
Pierre Bonnet 1819–1892
Jean Bernard L´eon Foucault 1819–1868
Carl Friedrich Gauß 1777–1855
¨ 20.10 Ubungen
L. A. Lyusternik 1899–1981
341
Henri Poincar´e 1854–1912
L. G. Schnirelman 1905–1938
¨ 20.10 Ubungen ¨ Ubung 20.1. Bestimmen Sie die Summe der Kr¨ummungen eines (n, k)-Sterns, also eines n-zackigen Sterns, der k Uml¨aufe macht, die Zahlen n und k sind teilerfremd. ¨ Ubung 20.2. Sei C ein konvexer Kegel, C∗ sein dualer Kegel. Zeigen Sie (C∗ )∗ = C. ¨ Ubung 20.3. Berechnen Sie den Fl¨acheninhalt der Polkappe des Breitengrades ψ auf der Einheitssph¨are. ¨ Ubung 20.4. Eine Schlinge wird u¨ ber einen Kegel geworfen und nach unten gezogen. Wenn der Kegel spitz ist, bleibt die Schlinge h¨angen. Ist der Kegelwinkel dagegen hinreichend stumpf, so rutscht die Schlinge ab (nat¨urlich nehmen wir an, dass es keine Reibung gibt). Bestimmen Sie den kritischen Kegelwinkel, der die beiden F¨alle trennt. ¨ Ubung 20.5. Eine geschlossene, einfache Kurve ist in der Ebene gezeichnet. Man setzt einen konvexen K¨orper auf einen Punkt der Kurve auf die Ebene und rollt den K¨orper gleitfrei entlang der Kurve. Beweisen Sie, dass die Spur der Kurve auf der Oberfl¨ache des K¨orpers keine einfach geschlossene Kurve sein kann. Hinweis: Verwenden Sie den Satz von Gauß-Bonnet und die Tatsache, dass die totale Kr¨ummung einer geschlossenen, einfachen, ebenen Kurve 2π ist. ¨ Die n¨achste Ubung befasst sich mit der Geometrie von Kurven auf der Einheitssph¨are und h¨angt eng mit dem Stoff aus Abschnitt 10.2 zusammen. ¨ Ubung 20.6. Sei γ eine einfache, konvexe Kurve auf der Einheitssph¨are. Bewegen Sie jeden Punkt von γ ein St¨uck π /2 entlang der a¨ ußeren Normalen (des orthogonalen Großkreises). Die resultierende Kurve bezeichnen wir mit γ ∗ und nennen sie dual zu γ .
342
20 Kr¨ummung und Polyeder
(a) Zeigen Sie, dass ((γ )∗ )∗ die zu γ entgegengesetzte Kurve ist. (b) Beweisen Sie, dass die L¨ange von γ ∗ gleich 2π minus dem von γ eingeschlossenen Fl¨acheninhalt ist. (c) Sei γε die Kurve, die Sie aus γ erhalten, indem Sie jeden Punkt ein St¨uck ε entlang der a¨ ußeren Normalen schieben. Bestimmen Sie die L¨ange von γε und die von ihr eingeschlossene Fl¨ache. Bezeichnen Sie mit γ die Kurve, die Sie aus γ erhalten, indem Sie jeden Punkt ein St¨uck π /2 entlang des tangentialen Großkreises an γ schieben. Die Kurve γ nennt man Ableitung von γ . (d) Sei γ ein Kreis des Breitengrades φ . Bestimmen Sie γ . (e) Beweisen Sie, dass γ die Fl¨ache der Sph¨are halbiert. ¨ Ubung 20.7. Gegeben sei ein Polytop P. Mit S(P) bezeichnen wir die Summe der festen Winkel an seinen Ecken und mit D(P) die Summe seiner Raumwinkel. (a) Beweisen Sie, dass f¨ur ein Tetraeder die Beziehung S(P) − 2D(P) + 4π = 0 gilt. Hinweis: Verschieben Sie die Seiten von P parallel auf den Ursprung, und betrachten Sie die Zerlegung der Einheitssph¨are durch die zugeh¨origen Halbr¨aume. Verwenden Sie das Prinzip von Inklusion und Exklusion. (b) Beweisen Sie, dass f¨ur den allgemeinen Fall S(P) − 2D(P) + 2π f − 4π = 0 gilt, wobei f die Anzahl der Seiten von P ist (Satz von Gram). Hinweis: Zerlegen Sie P in Tetraeder und verwenden Sie die Additivit¨at der gesuchten Relation. ¨ Ubung 20.8. (a) Beweisen Sie, dass die in Abschnitt 20.7 gegebene Konstruktion alle Geod¨aten auf einem regelm¨aßigen Tetraeder liefert. (b) Beweisen Sie, dass alle geschlossenen Geod¨aten auf einem regelm¨aßigen Tetraeder keine Selbst¨uberschneidungen haben. ¨ Ubung 20.9. Ein geradliniges Intervall in der Ebene mit der gew¨ohnlichen Dreieckskachelung aus Abbildung 20.10 auf Seite 334 (jedoch ohne Buchstabenbezeichnung der Ecken), das nicht durch die Ecken verl¨auft, ergibt eine Geod¨ate auf einem Oktaeder, wenn man das Dreieck, das den Anfangspunkt des Intervalls enth¨alt, mit einer Seite des Oktaeders identifiziert. Betrachten Sie ein Intervall mit den Rand α∈ /Z punkten (α , 0), (α + k, ) mit 0 < α < 1, k, ∈ Z, ≥ k ≥ 0, > 0, (k, ) wie in Abbildung 20.10. Bezeichnen Sie (k, ) als ein gutes Paar, wenn dieses Intervall zu einer geschlossenen Geod¨ate ohne Selbst¨uberschneidungen geh¨ort. (a) Sei (p, q) = 1, q ≥ p ≥ 0, q > 0. Gilt p ≡ q mod 3, so ist (2p, 2q) ein gutes Paar. Gilt p ≡ q mod 3, so ist (3p, 3q) ein gutes Paar. (b) Bis auf Parallelit¨at und Symmetrien des Oktaeders ergeben die Paare aus Teil (a) alle geschlossenen Geod¨aten auf dem regelm¨aßigen Oktaeder. (c) Nur Geod¨aten, die zu den guten Paaren (0, 3) und (2, 2) geh¨oren, haben keine Selbst¨uberschneidungen.
¨ 20.10 Ubungen
343
¨ Ubung 20.10. Ein geradliniges Intervall in der Ebene, das nicht durch die Ecken der gew¨ohnlichen Quadratkachelung verl¨auft, ergibt eine Geod¨ate auf einem W¨urfel, wenn das Quadrat, das den Anfangspunkt enth¨alt, mit einer Seite des W¨urfels identifiziert wird. Wir verwenden das nat¨urliche Koordinatensystem, in dem die Ecken der Kachelung die Punkte mit ganzzahligen Koordinaten sind. Betrachten Sie ein Intervall mit den Randpunkten (α , 0), (α + k, ) mit 0 < α < 1, k, ∈ Z, ≥ k ≥ 0, > 0, α∈ / Z. Abermals ist (k, ) ein gutes Paar, wenn dieses Intervall zu (k, ) einer geschlossenen Geod¨ate ohne Selbst¨uberschneidungen geh¨ort. (a) Sei (p, q) = 1. Sind p und q ungerade, so ist (3p, 3q) ein gutes Paar. Ist eine der Zahlen p, q gerade, so ist entweder (2p, 2q) oder (4p, 4q) ein gutes Paar. (Wir wissen nicht welches.) (b) Bis auf Parallelit¨at und Symmetrien des W¨urfels liefern die Paare aus Teil (a) alle geschlossenen Geod¨aten auf dem W¨urfel. (c) Nur die Geod¨aten, die zu den guten Paaren (0, 4), (3, 3) und (2, 4) geh¨oren, haben keine Selbst¨uberschneidungen.
Vorlesung 21
Nicht einschreibbare Polyeder
21.1 Hauptsatz Die Ecken eines zuf¨allig erzeugten, konvexen Polygons liegen wahrscheinlich nicht auf einer Sph¨are. Zum Beispiel ist die Pyramide aus Abbildung 21.1 nicht einer Sph¨are eingeschrieben, wenn ihre viereckige Basis nicht einem Kreis eingeschrieben ist. Man kann aber die Form der Basis leicht so anpassen, dass sie zu einem eingeschriebenen Viereck wird, und dann wird die Pyramide zu einem eingeschriebenen Polyeder. Man ist dazu geneigt anzunehmen, dass jedes konvexe Polyeder so angepasst werden kann, dass es einer Sph¨are eingeschrieben werden kann.
Abb. 21.1 Verformung einer Pyramide, um sie einer Sph¨are einzuschreiben.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 21,
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346
21 Nicht einschreibbare Polyeder
Dem ist aber ganz und gar nicht so! Im Jahr 1928 bewies E. Steinitz den folgenden Satz. Satz 21.1. Sei P ein konvexes Polyeder, dessen Ecken so schwarz und weiß gef¨arbt sind, dass es mehr schwarze Ecken gibt und keine schwarzen Ecken benachbart sind. Dann kann P einer Sph¨are nicht eingeschrieben werden. Die Bedingung ist rein kombinatorisch, also kann keine Deformation das Polyeder P einschreibbar machen. Somit ist P ein nicht einschreibbares Polyeder. Hier ist ein Beispiel f¨ur ein Polyeder, das diese Bedingung erf¨ullt. Betrachten wir ein Oktaeder und f¨arben wir seine Ecke weiß. An jede Fl¨ache heften wir ein Tetraeder (mit einer hinreichend kleinen H¨ohe, um die Konvexit¨at nicht zu zerst¨oren). Die neuen Ecken f¨arben wir schwarz. Wir haben acht schwarze und sechs weiße Ecken, und zwei schwarze Ecken werden nicht durch eine Kante verbunden (siehe Abbildung 21.2). Anstatt von einem Oktaeder kann man genauso gut von einem Ikosaeder ausgehen.
Abb. 21.2 Ein nicht einschreibbares Polyeder.
Auf den ersten Blickt erscheint diese Situation paradox. Ein regelm¨aßiges Oktaeder ist bereits einer Sph¨are eingeschrieben. Die Kantenl¨ange der an seine Fl¨achen gehefteten Tetraeder kann man leicht so w¨ahlen, dass ihre neuen Ecken auf derselben Sph¨are liegen, und wir erhalten ein eingeschriebenes Polyeder. Schief l¨auft dabei, dass dieses neue Polyeder nicht konvex ist! Beweis. Betrachten wir eine Sph¨are S und einen Keil (von zwei Ebenen gebildet), dessen Kante die Sph¨are S in den Punkten A und B schneidet. Die Schnittmenge der Sph¨are mit den beiden Ebenen, die den Keil bilden, besteht aus zwei Kreisen. Sei α der Winkel zwischen den Kreisen, berechnet im Punkt A. Wir werden α als Raumwinkel relativ zur Sph¨are oder kurz relativen Raumwinkel bezeichnen. Offensichtlich kann man genauso gut den Punkt B ausw¨ahlen: Dies ergibt einen kongruenten Winkel (siehe Abbildung 21.3 auf der n¨achsten Seite). Ein a¨ ußerer, relativer Raumwinkel ist π − α , wobei α ein relativer Raumwinkel ist.
21.1 Hauptsatz
347
Abb. 21.3 Relative Raumwinkel.
Betrachten wir nun einen konvexen Polyederkegel, dessen Ecke A auf der Sph¨are S liegt und dessen Kanten die Sph¨are schneiden. Dann ist die Summe seiner a¨ ußeren, relativen Raumwinkel 2π . In der Tat kann man die Tangentialebene an S im Punkt A verwenden, um die relativen Raumwinkel wie folgt zu berechnen. Wir verschieben diese Ebene zu sich selbst in der Sph¨are parallel, sodass sie alle Kanten des Kegels schneidet. Die Schnittmenge ist ein konvexes Polygon, dessen Winkel gleich den relativen Raumwinkeln sind. Die Summe der Außenwinkel jedes konvexen Polygons ist aber 2π , was unsere Behauptung beweist (siehe Abbildung 21.4).
Abb. 21.4 Beweis von Satz 21.1.
Nach dieser Vorbereitung wollen wir ein eingeschriebenes Polyeder P betrachten, das die Bedingung des Satzes erf¨ullt. F¨ur jede Ecke ist die Summe der a¨ ußeren, relativen Raumwinkel 2π . Sei Σ die Summe dieser Winkel, wobei die Winkel weißer Ecken mit positiven Vorzeichen versehen werden und die Winkel schwarzer Ecken
348
21 Nicht einschreibbare Polyeder
mit negativen Vorzeichen. Einerseits gibt es mehr schwarze Ecken als weiße, sodass Σ < 0 ist. Andererseits gibt es zwei Arten von Kanten: Kanten mit zwei weißen Ecken und Kanten mit einer weißen und einer schwarzen Ecke. Die a¨ ußeren, relativen Raumwinkel an den Enden einer Kante sind gleich. F¨ur alle weiß-weißen Kanten sind die beiden Beitr¨age zu Σ positiv, und f¨ur jede weiß-schwarze Kante heben sich die Beitr¨age auf. Somit ist Σ ≥ 0, das ist ein Widerspruch. 2
21.2 Ein weiteres Beispiel Satz 21.1 auf Seite 346 ist eine hinreichende Bedingung daf¨ur, dass ein konvexes Polyeder nicht einschreibbar ist, er ist aber bei Weitem keine notwendige Bedingung. Betrachten wir das Beispiel aus Abbildung 21.5. Dieser abgestumpfte W¨urfel P erf¨ullt die Bedingung von Satz 21.1 auf Seite 346 nicht. Wir wollen beweisen, dass P nicht einschreibbar ist.
Abb. 21.5 Abgestumpfter W¨urfel.
Wir betrachten einen Polyederkegel mit drei Fl¨achen und der Ecke A, dessen Kanten eine Sph¨are S schneiden. Lemma 21.1. Abh¨angig davon, ob A außerhalb, auf oder innerhalb S liegt, ist die Summe der relativen Raumwinkel kleiner als, gleich oder gr¨oßer als π . Beweis. Die Kegelfl¨achen schneiden die Sph¨are entlang dreier Kreise, und die Winkel zwischen diesen Kreisen sind die relativen Raumwinkel. Greifen wir einen Punkt der Sph¨are heraus, der nicht auf den Kreisen liegt, und projizieren wir S stereographisch von diesem Punkt. Wir erhalten drei Kreise in der Ebene, und die Winkel zwischen den Kreisen sind dieselben wie auf der Sph¨are (weil die stereographische Projektion Winkel erh¨alt und Kreise in Kreise u¨ berf¨uhrt). Liegt A auf S, so schneiden sich die drei Kreise in einem Punkt, und die Summe der Winkel ist π (siehe Abbildung 21.6 auf der n¨achsten Seite). Liegt A nicht auf S, sind abh¨angig davon, ob A innerhalb oder außerhalb S liegt, zwei F¨alle zu unterscheiden, die in Abbildung 21.6 dargestellt sind. Im ersten Fall ist die Winkelsumme kleiner als π , im zweiten Fall ist sie gr¨oßer als π . 2
21.2 Ein weiteres Beispiel
349
Abb. 21.6 Gegenseitige Lage von drei Kreisen.
Kommen wir auf den abgestumpften Kegel P zur¨uck. Wir nehmen an, dass er einer Sph¨are S eingeschrieben ist. Mit Q bezeichnen wir den urspr¨unglichen W¨urfel, also das Polyeder, dessen Abstumpfung P ist. Wir f¨arben die Ecken von Q so schwarz und weiß, dass die Enden jeder Kante verschiedene Farben haben. Die abgestumpfte Ecke bezeichnen wir mit A und nehmen an, dass sie weiß war. Jeder Kante von Q weisen wir den a¨ ußeren, relativen Raumwinkel der zugeh¨origen Kante von P zu. F¨ur jede Ecke von Q, abgesehen von der Ecke A, ist die Summe dieser Winkel 2π . Die Ecke A liegt offenbar außerhalb von S, sodass nach Lemma 21.1 die Summe der relativen Raumwinkel bei A kleiner als π ist, und deshalb ist die Summe der a¨ ußeren, relativen Raumwinkel gr¨oßer als 2π . Wie im Beweis von Satz 21.1 auf Seite 346 summieren wir nun diese Summen relativer Winkel mit Vorzeichen u¨ ber alle Ecken von Q. Einerseits erhalten wir null: Jede Kante hat ein schwarzes und ein weißes Ende. Andererseits ist diese Summe positiv: Die sieben Ecken von Q, drei weiße und vier schwarze tragen insgesamt −2π bei, und der Beitrag von A ist gr¨oßer als 2π . Das ist ein Widerspruch. 2
c Oded Schramm
Zum Schluss wollen wir erw¨ahnen, dass es zwischen einer Sph¨are und einem konvexen Polyeder eine dritte Art der gegenseitigen Lage gibt: Diese Situation liegt vor, wenn alle Kanten des Polyeders Tangenten an die Sph¨are sind. P. Koebe bewies im Jahr 1936, dass solche Polyeder alle kombinatorischen Arten eines konvexen Polyeders realisieren. Wesentlich sp¨ater, n¨amlich im Jahr 1992, bewies O. Schramm in seinem Artikel mit dem Titel How to cage an egg“ [69], dass die Sph¨are durch ” ein beliebiges Ellipsoid ersetzt werden kann.
Oded Schramm 1961–2008
Ernst Steinitz 1871–1928
350
21 Nicht einschreibbare Polyeder
¨ 21.3 Ubungen ¨ Ubung 21.1. Pr¨ufen Sie anhand einer expliziten Berechnung: Heftet man Tetraeder an die Fl¨achen eines Oktaeders, sodass ihre Ecken auf der dem Oktaeder umschriebenen Sph¨are liegen, dann ist das resultierende Polyeder nicht konvex (siehe Abbildung 21.2 auf Seite 346). ¨ Ubung 21.2. Beweisen Sie, dass die stereographische Projektion der Sph¨are auf die Ebene Kreise in Kreise u¨ berf¨uhrt und die Winkel zwischen ihnen erh¨alt. ¨ Ubung 21.3.* Sei P ein Polyeder, dessen Fl¨achen so schwarz und weiß gef¨arbt sind, dass es mehr schwarze Fl¨achen gibt und keine schwarzen Fl¨achen aneinander angrenzen. Dann ist P keiner Sph¨are umschrieben. Ein einfaches Beispiel eines solchen Polyeders erh¨alt man, indem man alle Ecken eines W¨urfels abschneidet (siehe Abbildung 21.7).
Abb. 21.7 Ein nicht umschreibbares Polyeder.
¨ Ubung 21.4. Betrachten Sie ein Polyeder, bei dem jede Ecke an dieselbe Anzahl von Fl¨achen angrenzt. Beweisen Sie: Sind die Ecken so schwarz und weiß gef¨arbt, dass zwei Ecken derselben Farbe nie benachbart sind, so ist die Anzahl der schwarzen Ecken gleich der Anzahl der weißen Ecken. ¨ Ubung 21.5. Beweisen Sie, dass die Ecken eines Polyeders genau dann so schwarz und weiß gef¨arbt werden k¨onnen, dass Ecken derselben Farbe nicht benachbart sind, wenn jede Fl¨ache eine gerade Anzahl von Ecken hat. Hinweis: F¨arben Sie eine Ecke, anschließend die benachbarten Ecken, danach ihre benachbarten Ecken usw. Dieser Prozess f¨uhrt entweder auf die gesuchte F¨arbung oder es gibt einen geschlossenen Weg entlang einer ungeraden Anzahl von Kanten des Polyeders.
Vorlesung 22
¨ Kann man aus einem Wurfel ein Tetraeder machen?
22.1 Hilberts drittes Problem Ist es m¨oglich, einen W¨urfel durch endlich viele Ebenen zu zerschneiden und aus den sich daraus ergebenden polyedrischen St¨ucken ein regelm¨aßiges Tetraeder mit demselben Volumen zusammenzusetzen? Dies ist eine leichte Modifikation eines der dreiundzwanzig Probleme, die David Hilbert in seiner ber¨uhmten Rede auf dem internationalen Mathematikerkongress in Paris am 8. August 1900 pr¨asentierte; es l¨auft unter der Nummer 3. Hilberts Probleme hatten einen gewaltigen Einfluss auf die Mathematik. Die meisten der Probleme wurden im 20. Jahrhundert gel¨ost, und jedes Problem hat eine sehr spezielle Geschichte. Dennoch bleibt das dritte Problem in vielerlei Hinsicht außergew¨ohnlich. Erstens war es das erste von Hilberts Problemen, das gel¨ost wurde. Die L¨osung geh¨orte einem 23-j¨ahrigen deutschen Geometer, Hilberts Studenten Max Dehn [20]. Sein Artikel erschien zwei Jahre nach dem Pariser Kongress, aber die L¨osung wurde fr¨uher gefunden, m¨oglicherweise sogar bevor Hilbert das Problem aufstellte. Dehns Beweis (mehr oder weniger derselbe wie unten dargestellt) war kurz und klar, und er wurde zu einem der beliebtesten Themen f¨ur popul¨arwissenschaftliche Vorlesungen, Artikel und B¨ucher u¨ ber Geometrie, wie dasjenige, dass Sie gerade in Ihren H¨anden halten. Unter den praktizierenden Mathematikern war er dagegen fast vergessen.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 22,
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22 Kann man aus einem W¨urfel ein Tetraeder machen?
Nat¨urlich war der Name Dehn nicht vergessen. Er wurde einer der wenigen f¨uhrenden Experten in der Topologie der dreidimensionalen Mannigfaltigkeiten, und seine Arbeit aus dem Jahre 1902 wurde nie als seine Haupterrungenschaft betrachtet. Im Jahr 1976 ver¨offentlichte die American Mathematical Society eine zweib¨andige Artikelsammlung unter dem Titel Mathematical Developments Arising from ” Hilbert Problems“ [93]. Es war ein sehr gr¨undlicher Bericht u¨ ber die ein dreiviertel Jahrhundert alte Geschichte der Probleme. Er enthielt: L¨osungen, vollst¨andige und unvollst¨andige, Verallgemeinerungen, a¨ hnliche Probleme usw. Diese Ausgabe enth¨alt eine sorgf¨altige Analyse von 22 der 23 hilbertschen Probleme. Nur das dritte Problem wird dort nicht diskutiert. Die Ansicht der Herausgeber ist offensichtlich: keine Entwicklungen, kein Einfluss auf die Mathematik; nichts zu diskutieren. Wie merkw¨urdig mutete das nur ein paar Jahre sp¨ater an! Dehns Satz, Dehns Theorie, Dehns Invariante wurden zu einem der heißesten Themen in der Geometrie. Angeregt wurde dies durch die neu entwickelte K-Theorie, ein faszinierendes Fachgebiet, das sich an der Grenze zwischen Algebra und Topologie entwickelte. Wir werden diese Entwicklung nicht verfolgen, sondern wir werden einfach den Satz und seinen Beweis angeben.
¨ ein a¨ hnliches Problem in der Ebene ist die Antwort Ja 22.2 Fur Satz 22.1 (Wallace, Bolyai, Gerwien). Seien P1 und P2 zwei ebene Polygone mit demselben Fl¨acheninhalt. Dann ist es m¨oglich, P1 durch Geraden in St¨ucke zu zerschneiden und die St¨ucke zu P2 zusammenzusetzen. Beweis. Erstens ist es klar, dass wir nur den Fall zu betrachten brauchen, in dem P2 ein Rechteck mit einer Seitenl¨ange 1 und mit dem Fl¨acheninhalt P1 ist; wenn wir dies tun, k¨onnen wir die Bezeichnung von P1 auf P abk¨urzen. Da sich jedes polygonale Gebiet in Dreiecke zerlegen l¨asst, k¨onnen wir zweitens den allgemeinen Fall auf den eines Dreiecks zur¨uckf¨uhren (siehe Abbildung 22.1).
Fl¨ache P Abb. 22.1 R¨uckf¨uhren des allgemeinen polygonalen Falls auf den eines Dreiecks.
Drittens m¨ussen wir durch Schneiden und Zusammensetzen aus einem Dreieck ein Rechteck machen, dessen eine Seitenl¨ange 1 ist. Dies haben wir in Abbildung 22.2 auf der n¨achsten Seite in vier Schritten getan.
22.3 Ein ebenes Problem
353
Schritt 1
rationale L¨ange
Schritt 2
Schritt 3
Schritt 4
Abb. 22.2 Verwandlung eines Dreiecks in ein Rechteck.
Zuerst machen wir aus unserem Dreieck ein Parallelogramm (Schritt 1). Auf einer Seite des Parallelogramms schneiden wir dann ein kleines Dreieck so ab und heften es an die andere Seite an, dass die L¨ange einer der Seiten des Parallelogramms rational wird, also p/q (Schritt 2). In Schritt 3 machen wir aus diesem Parallelogramm ein Rechteck (die Anzahl der notwendigen horizontalen Schnitte h¨angt von der Form des Parallelogramms ab). Im letzten Schritt schneiden wir das Rechteck durch p − 1 horizontale Schnitte und q − 1 vertikale Schnitte in pq gleiche St¨ucke (unter der Vereinbarung, dass die vertikale Seite des Rechtecks diejenige mit der L¨ange p/q ist); dann ordnen wir diese pq St¨ucke in ein Rechteck, dessen vertikale Seite die L¨ange 1 hat.
22.3 Ein ebenes Problem, das Hilberts drittem Problem nicht a¨ hnelt, aber eine a¨ hnliche L¨osung hat Ist es m¨oglich, ein 1 × 2-Rechteck in endlich viele kleinere Rechtecke zu zerschneiden, wobei deren Seiten zu den Seiten des gegebenen Rechtecks sind, und √ √ parallel aus den St¨ucken ein 2 × 2-Quadrat zusammenzusetzen? Die Antwort ist NEIN. Der Beweis ist eher algebraisch als geometrisch, aber trotzdem braucht er, anders als Hilberts Problem, etwas geometrische Vorbereitung.
354
22 Kann man aus einem W¨urfel ein Tetraeder machen?
22.3.1 Geometrische Vorbereitung Es seien uns zwei Rechtecke mit vertikalen und horizontalen Seiten gegeben (von nun an werden wir solche Rechtecke kurz als V H-Rechtecke bezeichnen), und nehmen wir an, dass wir sie so in kleinere V H-Rechtecke zerschneiden k¨onnen, dass die St¨ucke des ersten gleich (kongruent) den St¨ucken des zweiten sind. Dann existiert eine Menge von N (noch kleineren) V H-Rechtecken, sodass jedes der gegebenen Rechtecke durch eine Folge von N − 1 zul¨assigen Z¨ugen zusammengesetzt werden kann. Ein zul¨assiger Zug ist: Wir nehmen zwei unserer kleinen Rechtecke, die gleiche Breite oder gleiche H¨ohe haben, und heften sie vertikal oder horizontal aneinander, wobei wir ein Rechteck derselben Breite oder H¨ohe erzeugen. Somit tritt an die Stelle des Schneidens das Anheften von Rechtecken. Wie dies zu tun ist, zeigt Abbildung 22.3.
Abb. 22.3 Erzeugen von Rechtecken durch zul¨assige Z¨uge.
Angenommen, zwei Rechtecke wurden wie von der Aufgabe gefordert in gleiche St¨ucke zerlegt (Rechtecke (A) und (C) aus Abbildung 22.3; gleiche St¨ucke sind dort mit derselben arabischen Zahl gekennzeichnet). Dann setzen wir die Seiten der St¨ucke von Rechteck (A) u¨ ber die gesamte Breite oder L¨ange dieses Rechtecks fort (siehe Rechteck (B) aus Abbildung 22.3). Einige St¨ucke der Zerlegung werden dadurch in kleinere St¨ucke zerlegt (in Rechteck (B) sind alle St¨ucke durch r¨omische Buchstaben gezeichnet): Somit wird 1 eine Vereinigung von a und d, 2 wird eine Vereinigung von g und h usw.). Dann zerlegen wir die St¨ucke des zweiten gegebenen Rechtecks genauso (siehe Rechteck (D) aus Abbildung 22.3; wir zerlegen das Rechteck 1 von Rechteck (C) in St¨ucke, die kongruent zu a und d sind, Rechteck 2 in St¨ucke g, h usw.). Wir erhalten eine neue Zerlegung des zweiten gegebenen Rechtecks C in kleinere Rechtecke, und wir verl¨angern die Seiten dieser kleineren St¨ucke wieder u¨ ber die gesamte Breite und die gesamte L¨ange des Rechtecks (siehe Rechteck (E) aus Abbildung 22.3). Diese letzten St¨ucke bilden unsere Menge. Of-
22.3 Ein ebenes Problem
355
fensichtlich k¨onnen wir aus diesen St¨ucken mit den zul¨assigen Z¨ugen das Rechteck (C) zusammensetzen. Andere zul¨assige Z¨uge erzeugen aus unseren kleinen Rechtecken die Teile der feineren Zerlegung von Rechteck (A) (also a, b, c, . . . , i), und aus diesen Teilen k¨onnen wir das Rechteck (A) in zul¨assigen Z¨ugen zusammensetzen. Die geometrische Vorbereitung ist beendet.
22.3.2 Ein algebraischer Beweis Gegeben sei uns eine endliche Menge von V H -Rechtecken mit dem Gesamtfl¨acheninhalt 2. Angenommen, man kann aus diesen Rechtecken ausschließlich mithilfe zul¨assiger Z¨uge ein (1× 2)-Rechteck zusammensetzen. Dann √ ist es √unm¨oglich, aus diesen Rechtecken ausschließlich in zul¨assigen Z¨ugen ein ( 2 × 2)-Quadrat zusammenzusetzen. Genau das m¨ussen wir beweisen, n¨amlich dass die Antwort auf die Frage dieses Abschnitts negativ ausf¨allt. Seien w1 , . . . , wN die Breiten der Rechtecke unserer Menge (wobei N die Anzahl dieser Rechtecke ist), und seien h1 , . . . , hN ihre H¨ohen. Betrachten wir die Folge √ 1, 2, w1 , . . . , wN ; (22.1) wir streichen aus dieser Folge alle Terme, die Linearkombinationen der vorherigen Terme mit rationalen Koeffizienten sind. (Somit streichen wir 1 nicht; wir streichen √ 2 nicht, weil diese Zahl irrational ist, w1 streichen wir genau dann, wenn w1 = r1 + √ r1 , r2 ist, usw.) Seien a1 , . . . , am die verbleibenden r2 2 mit rationalen Koeffizienten √ Zahlen (also a1 = 1, a2 = 2). Es ist wichtig, dass jede der Zahlen in (22.1) als eine rationale Linearkombination der Zahlen a1 , . . . , am in einer eindeutigen Weise dargestellt werden kann. (Dies ist ein Standardsatz aus der linearen Algebra, der Vollst¨andigkeit halber wollen wir aber einen Beweis angeben: Wir wissen, dass√1 = a1 eine rationale Linearkombination von a1 , . . . , am ist, und dasselbe gilt f¨ur 2 = a2 . Nehmen wir per Induktion an, dass alle Zahlen in (22.1) vor wk rationale Linearkombinationen von a1 , . . . , am sind. Ist wk keine rationale Linearkombination der vorherigen Zahlen, so ist sie eine der Zahlen a j und folglich eine rationale Linearkombination der Zahlen a1 , . . . , am ; ist wk eine rationale Linearkombination der vorherigen Zahlen, so ist sie eine rationale Linearkombination der Zahlen a1 , . . . , am , weil alle vorherigen Zahlen rationale Linearkombinationen von a1 , . . . , am sind. Es bleibt der Beweis der Eindeutigkeit. Sind zwei verschiedene rationale Linearkombinationen von a1 , . . . , am m gleich, n¨amlich ∑m oßte Zahl aus 1, . . . , m, f¨ur die i=1 ri ai = ∑ j=1 r j a j , und ist s die gr¨ rs = rs ist, so gilt as =
s−1 ri − ri a, i i=1 rs − rs
∑
was zeigt, dass as eine rationale Linearkombi-
nation der vorherigen Zahlen a j ist. Das ist ein Widerspruch zur Wahl der Zahlen a1 , . . . , am .)
356
22 Kann man aus einem W¨urfel ein Tetraeder machen?
Ebenso verfahren wir nun mit der Folge √ 1, 2, h1 , . . . , hN .
(22.2)
√ Wir werden die Zahlen b1 , . . . , bn mit b1 = 1, b2 = 2 erhalten, sodass jede der Zahlen in (22.2) in eindeutiger Weise als eine rationale Linearkombination der Zahlen b1 , . . . , bn dargestellt werden kann. Wir bezeichnen ein Rechteck als zul¨assig, wenn seine Breite eine rationale Linearkombination der Zahlen a1 , . . . , am und seine H¨ohe eine rationale Linearkombination der Zahlen b1 , . . . , bn ist. Sei P ein zul¨assiges Rechteck der Breite w und n der L¨ange h, und sei w = ∑m i=1 ri ai und h = ∑ j=1 s j b j mit rationalen Zahlen ri und s j . Wir definieren das Symbol Symb(P) des Rechtecks P als die rationale m × nMatrix Si j mit Si j = ri s j . Wir werden die Notation Symb(P) = ∑i, j ri s j ai ⊗ b j f¨ur die Symbole verwenden (wobei es sich einfach um eine alternative Notation f¨ur die obige Matrix handelt). Somit betrachten wir die Symbole als formale rationale ” Linearkombinationen“ der Ausdr¨ucke“ ai ⊗ b j . Solche formalen Linearkombina” tionen k¨onnen in der naheliegenden Weise addiert werden; wir sehen zwei formale rationale Linearkombinationen ∑i, j ti j ai ⊗ b j , ∑i, j tij ai ⊗ b j als gleich an, wenn ti j = tij f¨ur alle i, j gilt. Seien P und P zwei zul¨assige Rechtecke gleicher H¨ohe oder gleicher Breite. Dann k¨onnen wir diese beiden Rechtecke in einem zul¨assigen Zug zu einem Rechteck P verschmelzen. Offensichtlich ist P auch ein zul¨assiges Rechteck, und es gilt Symb(P) = Symb(P ) + Symb(P ). Und zwar gilt: Haben P und P die Breim ten w = ∑m ohen, so hat P die Breite i=1 ri ai und w = ∑i=1 ri ai und dieselben H¨ m w + w = ∑i=1 (ri + ri )ai und die H¨ohe h, und es ist Symb(P) = ∑i, j (ri + ri )s j ai ⊗ b j = ∑i, j ri s j ai ⊗ b j + ∑i, j ri s j ai ⊗ b j = Symb(P ) + Symb(P ). Haben wir also eine Menge von zul¨assigen Rechtecken P1 , . . . , PN und k¨onnen wir aus ihnen in N − 1 zul¨assigen Z¨ugen ein Rechteck P zusammensetzen, so ist Symb(P) = ∑Ni=1 Symb(Pi ). K¨onnen wir auf diese Weise zwei verschiedene Rechtecke P und P zusammensetzen, so gilt Symb(P ) = Symb(P). Dies beweist unseren Satz, √ √ weil das Symbol eines 1 × 2-Rechtecks 2(a1 ⊗ b1 ) und das Symbol eines 2 × 2-Quadrats a2 ⊗ b2 ist. Das sind zwei verschiedene Dinge. 2
22.4 Beweis des Satzes von Dehn Wir wollen Folgendes beweisen. Satz 22.2. Sei C ein W¨urfel und T ein regelm¨aßiges Tetraeder mit demselben Volumen. Angenommen, jeder dieser K¨orper ist durch Ebenen in dieselbe Anzahl von St¨ucken zerlegt. (Wir zerschneiden unser Polyeder also in zwei St¨ucke, dann zerschneiden wir eines der beiden St¨ucke in zwei St¨ucke, dann zerschneiden wir eines
22.4 Beweis des Satzes von Dehn
357
der drei St¨ucke in zwei St¨ucke usw.) Es ist ausgeschlossen, dass die beiden Mengen von (polyedrischen) St¨ucken identisch sind. Beweis. Seien 1 , . . . , N die L¨angen aller Kanten aller am Zerlegunsprozess beteiligten Polyeder. Seien ϕ1 , . . . , ϕN die zugeh¨origen Raumwinkel (wir nehmen an, dass 0 < ϕi < π f¨ur alle i ist). Wir betrachten die Folge 1 , . . . , N und streichen daraus jeden Term, der eine rationale Linearkombination der vorhergehenden Terme ist; wir erhalten eine Folge a1 , . . . , am , sodass jede der Seitenl¨angen gleich einer eindeutigen rationalen Linearkombination der ai ist. Anschließend verfahren wir mit der Folge π , ϕ1 , . . . , ϕN ebenso; die sich ergebende Folge wird mit α0 = π , α1 , . . . , αn bezeichnet, und jeder der Raumwinkel ϕk ist gleich einer eindeutigen Linearkombination der α j . Ein konvexes Polyeder wollen wir als zul¨assig bezeichnen, wenn die L¨ange jeder Kante eine rationale Linearkombination der Zahlen a1 , . . . , am und jeder Raumwinkel eine rationale Linearkombination der Zahlen α0 , α1 , . . . , αn ist. Seien m1 , . . . , mq die Kantenl¨angen eines konvexen Polyeders P, und seien ψ1 , n . . . , ψq die zugeh¨origen Raumwinkel. Sei mk = ∑m i=1 rki ai und ψk = ∑ j=0 sk j α j . ¨ Ahnlich wie bei den Symbolen im vorherigen Abschnitt definieren wir die DehnInvariante von P durch die Formel m
n
Dehn(P) = ∑ ∑
i=1 j=1
q
∑ rki sk j
ai ⊗ α j .
k=1
Wichtige Anmerkung: Es ist kein Druckfehler, dass die zweite Summe von j = 1 bis n l¨auft und nicht von j = 0 bis n; wir nehmen den Summanden sk0 π nicht in ¨ die Dehn-Invariante auf. Andert man also einen Winkel um ein rationales Vielfaches von π , so bleibt die Dehn-Invariante davon unber¨uhrt; ist ein Raumwinkel ein rationales Vielfaches von π , so kommt die zugeh¨orige Kante im Ausdruck f¨ur die Dehn-Invariante u¨ berhaupt nicht vor. Beispiel 22.1. Die Dehn-Invariante eines W¨urfels (oder eines rechteckigen Kastens) ist null. Und zwar sind alle Winkel π /2. Lemma 22.1. Sei P ein konvexes Polyeder. Angenommen, es wird durch eine Ebene L in zwei St¨ucke P und P zerlegt. Dann gilt (vorausgesetzt, dass P, P und P zul¨assig sind) Dehn(P) = Dehn(P ) + Dehn(P ) . Beweis. Sei S = {e1 , . . . , eq } die Menge aller Kanten von P, sei k die L¨ange der Kante ek , und sei ψk der zugeh¨orige Raumwinkel. Wir unterteilen die Menge S in vier Teilmengen: S1 besteht aus den Kanten, die keine inneren Punkte in L haben und auf der P -Seite von L liegen; S2 ist eine a¨ hnliche Menge mit P anstelle von P ; S3 besteht aus den Kanten ek , die durch L in eine Kante ek von P und eine Kante ek von P zerlegt wurden; und S4 besteht aus Kanten, die vollst¨andig in L enthalten sind; f¨ur jedes ek ∈ S4 wird der Raumwinkel ψk durch L in zwei Teile zerlegt: ψk und ψk . Betrachten wir außerdem die Schnittmenge L ∩ P. Dies ist ein konvexes Polygon; jedes ek ∈ S4 ist seine Seite; sei T = { f1 , . . . , f p } die Menge der anderen Seiten. Jedes fk ist sowohl eine Seite von P als auch von P ; sei mk die
358
22 Kann man aus einem W¨urfel ein Tetraeder machen?
L¨ange von fk und seien χk , χk die zugeh¨origen Winkel in P und P . Offensichtlich ist χk + χk = π . Die Kanten von P sind • • • •
die Kanten ek ∈ S1 ; ihre L¨angen sind k , und die Winkel sind ψk ; die Kanten ek f¨ur ek ∈ S3 ; ihre L¨angen sind k , und die Winkel sind ψk ; die Kanten ek ∈ S4 ; ihre L¨angen sind k , und die Winkel sind ψk ; die Kanten fk ∈ T ; ihre L¨angen sind mk , und die Winkel sind χk .
Die Kanten von P sind • • • •
die Kanten ek ∈ S2 ; ihre L¨angen sind k , und die Winkel sind ψk ; die Kanten ek f¨ur ek ∈ S3 ; ihre L¨angen sind k , die Winkel sind ψk ; die Kanten ek ∈ S4 ; ihre L¨angen sind k , und die Winkel sind ψk ; die Kanten fk ∈ T ; ihre L¨angen sind mk , und die Winkel sind χk .
Abb. 22.4 Beweis von Lemma 22.1.
22.4 Beweis des Satzes von Dehn
359
Die Dehn-Invariante aller Polyeder P , P und P besteht aus vier Summandengruppen; f¨ur P und P geh¨oren diese Gruppen zu den vier oben aufgef¨uhrten Kantengruppen; f¨ur P entsprechen sie den Mengen S1 , S2 , S3 , S4 . Die erste Summandengruppe in Dehn(P ) ist dieselbe wie die erste Summandengruppe in Dehn(P). Die erste Summandengruppe in Dehn(P ) ist dieselbe wie die zweite Summandengruppe in Dehn(P). Die Summe der zweiten Summandengruppe in Dehn(P ) und Dehn(P ) ist die dritte Summandengruppe in Dehn(P), weil k + k = k ist. Die Summe der dritten Summandengruppe in Dehn(P ) und Dehn(P ) ist die vierte Summandengruppe in Dehn(P), weil ψk + ψk = ψk ist. Schließlich ist die Summe der vierten Summandengruppe in Dehn(P ) und Dehn(P ) null, weil χk + χk = π ist. Somit ist Dehn(P) = Dehn(P ) + Dehn(P ), wie im Lemma behauptet. 2 Ein Beispiel ist in Abbildung 22.4 auf der vorherigen Seite dargestellt. Ein Polyeder P (ein Prisma mit viereckiger Grundfl¨ache und nicht paralleler Deckfl¨ache, das links in der ersten Zeile dargestellt ist) wird durch eine Ebene in zwei Polyeder zerlegt (der Schnitt ist in der ersten Zeile dargestellt, und die Polyeder P und P sind in der zweiten Zeile dargestellt). Die Kanten von P sind e1 , . . . e12 ; die Mengen Si sind S1 = {e1 , e3 , e4 , e5 }, S2 = {e6 , e7 , e9 , e10 , e11 , e12 }, S3 = {e8 }, S4 = {e2 }. Kommen wir auf Satz 22.2 auf Seite 356 zur¨uck. K¨onnen zwei Polyeder in dieselbe Menge von Polyederst¨ucken zerlegt werden, so sind ihre Dehn-Invarianten beide gleich der Summe der Dehn-Invarianten der St¨ucke, und folglich sind die DehnInvarianten der beiden gegebenen Polyeder einander gleich. Die Dehn-Invariante eines W¨urfels ist aber null, weil alle Winkel π /2 sind (siehe Beispiel 22.1 auf Seite 357). Die Dehn-Invariante eines regelm¨aßigen Tetraeders ist 6( ⊗ α ), wobei die Kantenl¨ange und α der Raumwinkel ist. Pr¨ufen m¨ussen wir lediglich, dass α kein rationales Vielfaches von π ist. Der Raumwinkel eines regelm¨aßigen Tetraeders √ ist der gr¨oßte Winkel eines √ 3 3 , sind (siehe Abbildung 22.5). gleichschenkligen Dreiecks, dessen Seiten , 2 2 Der Kosinussatz zeigt cos α =
√ 2 √ 2 3 + 23 − 2 2 √ √
2 23 23
1 α Lemma 22.2. Ist cos α = , so ist irrational. 3 π
Abb. 22.5 Der Raumwinkel eines regelm¨aßigen Tetraeders.
=
1 . 3
360
22 Kann man aus einem W¨urfel ein Tetraeder machen?
Beweis. Anderenfalls w¨are cos nα = 1 f¨ur ein n. Aus der Trigonometrie ist jedoch bekannt, dass cos nα = Pn (cos α ) ist, wobei Pn ein Polynom vom Grad n mit dem f¨uhrenden Koeffizienten 2n−1 ist (siehe Vorlesung 7). Dies wird per Induktion bewiesen. Behauptung: F¨ur alle n gilt cos nα = Pn (cos α ), sin nα = Qn (cos α ) · sin α , wobei deg Pn = n und deg Qn = n − 1 ist. Die f¨uhrenden Koeffizienten von Pn und Qn sind gleich 2n−1 . F¨ur n = 1 ist die Behauptung wahr (P1 (t) = t, Q1 (t) = 1); angenommen, die Behauptung ist f¨ur ein n wahr. Außerdem ist cos(n + 1)α = cos nα cos α − sin nα sin α = Pn (cos α ) cos α − Qn (cos α ) sin2 α = Pn (cos α ) cos α + Qn (cos α )(cos2 α − 1); sin(n + 1)α = sin nα cos α + cos nα sin α = Qn (cos α ) sin α cos α + Pn (cos α ) sin α = (Qn (cos α ) cos α + Pn (cos α )) sin α . Folglich ist Pn+1 (t) = Pn (t)t + Qn (t)(t 2 − 1), Qn+1 (t) = Qn (t)t + Pn (t), und daraus folgt die Behauptung u¨ ber die Grade und die f¨uhrenden Terme. Dies zeigt, dass 1 2n−1 eine ganze Zahl = n + cos nα = Pn 3 3 3n−1 ist, was keine ganze Zahl sein kann, insbesondere nicht 1. 2 Dies beweist Lemma 22.2 auf der vorherigen Seite und schließt den Beweis des Satzes von Dehn ab. 2
22.5 Weitere Resultate In der Sprache der Algebra (sie mag Ihnen als Leser technisch fremd sein, aber die unten stehenden Formeln erscheinen uns selbsterkl¨arend) weist die Konstruktion
22.5 Weitere Resultate
361
aus dem vorangegangenen Abschnitt jedem konvexen (eigentlich nicht notwendigerweise konvexen) Polyeder eine bestimmte Invariante zu, n¨amlich Dehn(P) ∈ R ⊗Q (R/π Q) , und Dehns Satz besagt: Sind zwei Polyeder P1 und P2 zerlegungsgleich (k¨onnen sie also durch Ebenen in identische Mengen von St¨ucken zerlegt werden), so gilt Dehn(P1 ) = Dehn(P2 ) . Das ist genau das Resultat aus dem vorherigen Abschnitt. Nat¨urlich kann dies nicht nur auf W¨urfel oder Tetraeder angewandt werden. Das urspr¨ungliche Hilbert-Problem besch¨aftige sich u¨ brigens mit einem anderen Beispiel; Hilbert mutmaßte, dass zwei Tetraeder mit gleichen Grundfl¨achen und gleichen H¨ohen (wie die aus Abbildung 22.6) nicht zerlegungsgleich seien.
Abb. 22.6 Diese Tetraeder m¨ussen nicht zerlegungsgleich sein.
Der Ursprung dieser Frage geh¨ort zu den Grundlagen der Geometrie. Die gesamte Theorie der Volumina fester K¨orper basiert auf dem Lemma, das besagt, dass die Volumina der Tetraeder aus Abbildung 22.6 gleich sind. Das analoge Lemma in der Ebene (in dem es um Fl¨acheninhalte von Dreiecken geht) hat einen direkten geometrischen Beweis, der auf Zerschneiden und Zusammensetzen beruht. Der dreidimensionale Fall erfordert dagegen eine Grenzwertbildung, die Treppenkon” struktion“, in der Darstellungen wie aus Abbildung 22.7 vorkommen (Sie k¨onnen solche Abbildungen in Lehrb¨uchern u¨ ber sph¨arische Geometrie finden). Es stellt sich die Frage, ob dies wirklich notwendig ist, und die Antwort lautet Ja“: Aus ” dem Satz von Dehn folgt leicht, dass Tetraeder wie die aus Abbildung 22.6 im Allgemeinen nicht zerlegungsgleich sind.
Abb. 22.7 Berechnung des Volumens eines Polyeders durch eine Grenwertbildung.
362
22 Kann man aus einem W¨urfel ein Tetraeder machen?
Mehr als 60 Jahre nach Dehns Arbeit bewies Sydler, dass Polyeder mit gleichen Volumina und gleichen Dehn-Invarianten zerlegunsgleich sind [76]. Es gibt a¨ hnliche Resultate in der sph¨arischen und hyperbolischen Geometrie. Dehns Invariante kann auf Polyeder jeder Dimension verallgemeinert werden: F¨ur ein n-dimensionales Polyeder P ist RaumDehn(P) = Volumen(s) ⊗ ∈ R ⊗Q (R/π Q) ∑ winkel bei s (n − 2)-dimensionale Fl¨achen s von P
c American Mathematical Society
(der Winkel wird von den beiden (n − 1)-dimensionalen Fl¨achen von P gebildet, die an s angrenzen). In vier Dimensionen wie in drei Dimensionen sind Polyeder genau dann zerlegungsgleich, wenn ihre Volumina und ihre Dehn-Invarianten gleich sind. In f¨unf Dimensionen gilt das allerdings nicht mehr: Es taucht eine neue Invariante auf, eine zweite Dehn-Invariante“, in der eine Summation u¨ ber die Kanten von ” P vorkommt (bei n-dimensionalen Polyedern u¨ ber (n − 4)-dimensionale Fl¨achen). Es gibt eine Vermutung, dass eine zerlegungsgleiche Form“ eines n-dimensionalen ” n+1 Invarianten charakterisiert ist: das VoluPolyeders durch eine Folge von 2 men, die Dehn-Invariante, die zweite Dehn-Invariante usw., wobei die Werte in immer komplizierteren Tensorprodukten bestimmt werden (die k-te Dehn-Invariante beinhaltet eine Summation u¨ ber (n − 2k)-dimensionale Fl¨achen; insbesondere f¨ur ein- und zweidimensionale Polyeder (Segmente und Polygone) spielt nur das Vo” lumen“ (die L¨ange und der Fl¨acheninhalt) eine Rolle; in drei und vier Dimensionen haben wir noch die Dehn-Invariante usw.). F¨ur weitere Informationen u¨ ber dieses Thema empfehlen wir das popul¨arwissenschaftliche Buch von Boltianskii [9], den Vortrag von Cartier beim BourbakiSeminar [13] und die B¨ucher [25, 67, 91].
Max Dehn 1878–1952
David Hilbert 1862–1943
¨ 22.6 Ubungen
363
¨ 22.6 Ubungen ¨ Ubung 22.1. Beweisen Sie, dass die Dehn-Invariante jedes rechteckigen Prismas mit polygonaler Grundfl¨ache null ist. ¨ Ubungen 22.2–22.4 sind Spezialf¨alle des Satzes von Sydler (siehe Abschnitt 22.5). ¨ Da wir diesen Satz nicht bewiesen haben, empfehlen wir, diese Ubungen durch direkte Konstruktion zu beweisen. ¨ Ubung 22.2. Beweisen Sie, dass zwei Mengen von Parallelepipeden mit gleichen Gesamtvolumina zerlegungsgleich sind. ¨ Ubung 22.3. Ein regelm¨aßiges Oktaeder O mit der Kantenl¨ange 1 kann man aus einem regelm¨aßigen Tetraeder T' mit der Kantenl¨ange 2 erhalten, indem man vier regelm¨aßige Tetraeder T mit der Kantenl¨ange 1 von T' abschneidet, die die vier Ecken von T' enthalten. Da offensichtlich Dehn(T') = 2 Dehn(T ) ist, gilt Dehn(O) = Dehn(T') − 4 Dehn(T ) = −2 Dehn(T ). Beweisen Sie, dass die Menge aus dem Oktaeder O und zwei Tetraedern T zerlegungsgleich zu einem W¨urfel mit dem passenden Volumen (6 Vol(T )) ist. ¨ ¨ 22.3 beschrieben. Beweisen Sie, dass Ubung 22.4. (a) Seien T' und T wie in Ubung T' zerlegungsgleich zu einer Menge von zwei Kopien von T und einem W¨urfel ist. (b) Verallgemeinerung: Sei P ein beliebiges Polyeder und P' seine Doppelvergr¨oßerung (mit dem Volumen 8 Vol(P)). Beweisen Sie, dass P' zerlegungsgleich zu einer Menge von zwei Kopien von P und einem W¨urfel mit dem Volumen 6 Vol(P) ist. ¨ Hinweis: (a) folgt aus Ubung 22.3; um (b) zu beweisen, stellen Sie fest, ob (a) f¨ur jedes (nicht notwendigerweise regelm¨aßiges) Tetraeder gilt, und dann zerlegen Sie P in die Vereinigung der Tetraeder. ¨ Ubung 22.5. Ein Polyeder P heißt Kristall, wenn eine Kachelung des gesamten Raumes durch Polyeder existiert, die kongruent zu P sind. Beweisen Sie, dass die Dehn-Invariante eines Kristalls null ist.
Vorlesung 23
Unm¨ogliche Kachelungen
¨ 23.1 Einfuhrung In dieser Vorlesung geht es um Kachelungen ebener Polygone durch andere ebene Polygone. Ein Beispiel f¨ur ein solches Problem ist Ihnen vermutlich vertraut: Zwei diagonal gegen¨uberliegende Quadrate (die Quadrate A1 und H8) werden aus einem Schachbrett geschnitten. Kann man dieses beschnittene Brett mit 2 × 1- Domino” steinen“ kacheln (siehe Abbildung 23.1)?
Abb. 23.1 Kann man dieses beschnittene Brett mit Dominosteinen kacheln?
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 23,
365
366
23 Unm¨ogliche Kachelungen
Abb. 23.2 Ein Ausschnitt einer Kachelung.
In Abbildung 23.2 ist ein typischer Ausschnitt einer Kachelung mit Dominosteinen dargestellt. Die Kacheln u¨ berlappen einander nicht (sie ber¨uhren einander entlang von Teilen ihrer R¨ander), und jeder Punkt des Bretts geh¨ort zu einer Kachel. Vergegenw¨artigen Sie sich zwei Dinge: Wir lassen sowohl horizontale als auch vertikale Positionen der Kacheln zu, und wir nehmen nicht an, dass benachbarte Kacheln eine ganze Seite teilen. Im Allgemeinen ist ein Kachelungsproblem wie folgt formuliert: Gegeben sei ein Polygon P und eine Menge von Polygonen Q1 , Q2 , . . . . Ist es m¨oglich, P mit isometrischen Kopien der Kacheln Qi zu u¨ berdecken? Sollte es Ihnen nicht gelingen, das Problem mit dem beschnittenen Schachbrett zu l¨osen, finden Sie seine (negative) L¨osung im n¨achsten Abschnitt. Im Folgenden werden wir viele weitere Beispiele f¨ur unm¨ogliche Kachelungen kennenlernen, die Beweise werden allerdings immer komplizierter werden.
23.2 F¨arbung Um das Problem mit dem beschnittenen Schachbrett zu l¨osen, erinnern wir uns daran, dass das Schachbrett eine Schwarz-Weiß-F¨arbung hat. Die diagonal gegen¨uberliegenden Quadrate sind beide schwarz, und das beschnittene Brett hat demnach dreißig schwarze und zweiunddreißig weiße Quadrate. Andererseits u¨ berdeckt jeder 2 × 1-Dominostein ein schwarzes und ein weißes Quadrat. Folglich ist die Kachelung unm¨oglich (siehe Abbildung 23.3).
Abb. 23.3 Das Farbargument.
23.3 Was ein Farbargument nicht kann
367
Es gibt eine alternative Variante f¨ur die Darstellung des Schwarz-Weiß-Farbarguments. Schreiben Sie dazu in jedes weiße Quadrat eine 0 und in jedes schwarze Quadrat eine 1. Die Summe aller Zahlen auf dem beschnittenen Brett ist 30. Auf jedem Dominostein steht aber eine 0 und eine 1, und die Summe auf den einunddreißig Dominosteinen ist 31 und nicht 30. Somit existiert keine Kachelung. Hier ist eine Variante dieses Arguments. Kann man ein 10 × 10-Quadrat mit Lf¨ormigen Kacheln wie in Abbildung 23.4 u¨ berdecken? Vergegenw¨artigen Sie sich, dass eine Kachel nun acht verschiedene Orientierungen haben kann!
Abb. 23.4 F¨arbung modulo 8.
Wieder f¨allt die Antwort negativ aus. Schreiben wir in die Quadrate die Zahlen 1 und 5, wie in Abbildung 23.4 dargestellt. Jede Kachel u¨ berdeckt entweder drei Einsen und eine F¨unf oder drei F¨unfen und eine Eins. In beiden F¨allen ist die Summe u¨ ber eine Kachel ein Vielfaches von 8. Auf der anderen Seite ist die Summe aller Zahlen auf dem Brett 300, was nicht durch 8 teilbar ist. Folglich existiert die Kachelung nicht.
23.3 Was ein Farbargument nicht kann Stellen Sie sich vor, dass wir zwei Arten von Kacheln zur Verf¨ugung haben: die u¨ blichen positiven Kacheln und die negativen Kacheln, die aus Anti-Materie“ be” stehen. Wir d¨urfen Kacheln u¨ berlagern, sodass sich die gemeinsamen Teile der positiven und negativen Kacheln gegenseitig aufheben (siehe Abbildung 23.5). Es ist
Abb. 23.5 Kacheln und Anti-Kacheln.
368
23 Unm¨ogliche Kachelungen
zweckm¨aßig, auf jede positive Kachel eine Eins und auf jede Anti-Kachel eine minus Eins zu schreiben. Die Vielfachheit eines Punktes ist die Summe dieser Zahlen ±1 u¨ ber alle Kacheln, die diesen Punkt u¨ berdecken. Wir sagen, dass ein Polygon P eine vorzeichenbehaftete Kachelung zul¨asst, wenn man negative und positive Kacheln so u¨ berlagern kann, dass die Vielfachheit jedes Punktes in P gleich 1 ist. Offensichtlich ist: Beweist ein Farbargument, wie das in Abschnitt 23.2 diskutierte, dass ein Polygon nicht durch eine bestimmte Menge von Kacheln u¨ berdeckt werden kann, so impliziert dieser Beweis, dass auch keine vorzeichenbehaftete Kachelung existiert. Es gibt aber Kachelungsprobleme, die mit vorzeichenbehafteten Kacheln gel¨ost werden k¨onnen, die jedoch mit ausschließlich positiven Kacheln keine L¨osung haben.
Abb. 23.6 Kann man ein Dreieck mit Dreilochb¨andern u¨ berdecken?
Betrachten wir ein dreieckiges Feld wie in Abbildung 23.6. Wir wollen dieses Dreieck mit Dreilochb¨andern“ u¨ berdecken, die aus drei L¨ochern bestehen; ein ” Dreilochband kann die drei dargestellten Orientierungen haben. F¨ur welche Werte von n existiert eine solche Kachelung? Zun¨achst muss, damit ein Kachelung existieren kann, die Anzahl der L¨ocher ein Vielfaches von 3 sein. Diese Anzahl ist n(n + 1)/2, und folglich ist n ≡ 0 oder 2 mod 3.
Abb. 23.7 Farben modulo 3.
23.3 Was ein Farbargument nicht kann
369
Wir wollen nun die L¨ocher wie in Abbildung 23.7 auf der vorherigen Seite f¨arben“. Die Summe der Zahlen, die von jeder Kachel u¨ berdeckt werden, ist durch ” 3 teilbar. Die Gesamtsumme h¨angt periodisch mit der Periode 9 von n ab, und ihre Werte sind mod 3 wie folgt: 0, 2, 2, 2, 1, 1, 1, 0, 0 . Deshalb muss n mod 9 entweder 1 oder 8 oder 0 sein. Wir wissen bereits, dass n ≡ 0 oder 2 mod 3 ist, sodass nur die beiden letzten F¨alle weiter zur Debatte stehen“. ”
Abb. 23.8 Eine vorzeichenbehaftete Kachelung f¨ur n = 8.
Wir wollen zeigen, dass f¨ur n ≡ 8 oder 0 mod 9 eine vorzeichenbehaftete Kachelung des dreieckigen Feldes durch Dreilochb¨ander existiert. Abbildung 23.8 zeigt eine solche Kachelung f¨ur n = 8, und Abbildung 23.9 zeigt, wie man gr¨oßere Felder aus Dreiecken der Gr¨oße 8 und Zeilen von Dreilochb¨andern zusammensetzt.
Abb. 23.9 Wie man gr¨oßere vorzeichenbehaftete Kachelungen aus kleineren zusammensetzt.
370
23 Unm¨ogliche Kachelungen
Wir kommen zu dem Schluss, dass der folgende, u¨ berraschende Satz außer Reichweite jedes Farbarguments ist. Satz 23.1. F¨ur alle n kann ein dreieckiges Feld der Gr¨oße n nicht durch Dreilochb¨ander u¨ berdeckt werden.
23.4 Conways Kachelgruppe Um Satz 23.1 zu beweisen, m¨ussen wir ein paar Vorbereitungen treffen. F¨ur den Moment wollen wir annehmen, dass alle Polygone, das zu u¨ berdeckende Gebiet und die Kacheln auf kariertem Papier gezeichnet sind. Wir nehmen an, dass alle vorkommenden Polygone keine L¨ocher haben: Ihre R¨ander bestehen aus einer einzigen geschlossenen Kurve. Ein Weg auf dem Quadratgitter wird durch ein Wort mit vier Symbolen x, x−1 , y und y−1 beschrieben: Ein Schritt nach rechts wird mit x bezeichnet, ein Schritt nach links wird mit x−1 bezeichnet, ein Schritt nach oben wird mit y bezeichnet und ein Schritt nach unten wird mit y−1 bezeichnet. Ein Beispiel zeigt Abbildung 23.10. Wir schreiben k aufeinanderfolgende Symbole x oder x−1 als x±k und verfahren genauso f¨ur y. Einen trivialen Weg bezeichnen wir mit e. Außerdem k¨urzen wir aufeinanderfolgende x und x−1 oder y und y−1 ; zum Beispiel ist xyy−1 x−1 = e.
Abb. 23.10 Ein Weg und das zugeh¨orige Wort.
Um zwei W¨orter a und b zu verkn¨upfen, betrachten wir ihre Verkettung und reduzieren sie, indem wir alle aufeinanderfolgenden Paare von x und x−1 oder y und y−1 k¨urzen. Das resultierende Wort wird mit ab bezeichnet. Die Verkn¨upfung erf¨ullt das Assoziativgesetz: (ab)c = a(bc), wobei a, b und c f¨ur beliebige W¨orter stehen. Gegeben sei ein Wort w. Das Wort w−1 erh¨alt man aus dem Wort w, indem man seine Buchstaben von rechts nach links liest und ihre Exponenten umkehrt. Es ist zum Beispiel (xy−1 )−1 = yx−1 . Offenbar ist ww−1 = e. Sei T1 , . . . , Tn eine vollst¨andige Liste von Kacheln, die auf dem Gitter in allen m¨oglichen Orientierungen platziert sind (sodass ein Dominostein zwei und eine Lf¨ormige Kachel acht verschiedene Orientierungen hat). Wir w¨ahlen einen Startpunkt auf dem Rand von Ti und durchlaufen diesen Rand entgegen dem Uhrzeigersinn. Dieser geschlossene Weg ist durch ein Wort Wi in x, x−1 , y und y−1 codiert. Dieses Wort h¨angt nat¨urlich von der Wahl des Startpunktes ab.
23.4 Conways Kachelgruppe
371
Bis jetzt war die einzige Regel f¨ur die Manipulation von W¨ortern xx−1 = x−1 x = e = yy−1 = y−1 y . Nehmen wir zu dieser Regel die neuen Regeln hinzu: W1 = W2 = · · · = e. Diese Regeln bedeuten, dass wir jedes Mal, wenn eines der W¨orter Wi in einem l¨angeren Wort vorkommt, dieses durch e ersetzen k¨onnen, und dass wir umgekehrt jedes der W¨orter Wi irgendwo einf¨ugen k¨onnen. Kann man ein Wort V1 aus einem anderen Wort V2 durch aufeinanderfolgende Anwendungen dieser Regeln erhalten, so nennen wir die W¨orter a¨ quivalent und schreiben einfach V1 = V2 . Wir m¨ussen uns mit einer Unklarheit bei der Wahl der W¨orter Wi befassen, n¨amlich ihrer Abh¨angigkeit vom Startpunkt. Sei p ein anderer Startpunkt auf dem Rand der Kachel Ti , und sei Wi das Wort, das man erh¨alt, wenn man den Rand von p aus durchl¨auft. Lemma 23.1. Man erh¨alt Wi = e.
Abb. 23.11 Beweis von Lemma 23.1.
Beweis. Sei u der Weg (der Code des Weges) von p nach p , und sei v der Weg von p nach p (siehe Abbildung 23.11). Dann ist Wi = uv und Wi = vu. Wegen Wi = e haben wir uv = e. Dann ist vu = (u−1 u)(vu) = u−1 (uv)u = u−1 u = e, wie wir behauptet hatten. 2 Sei P ein Polygon. Wir durchlaufen seinen Rand, um ein Wort U zu erhalten (das wieder vom Startpunkt abh¨angt). Die folgende Proposition liefert eine notwendige Bedingung f¨ur die Kachelung. Proposition 23.1. Ist P durch T1 , . . . , Tn u¨ berdeckt, dann ist U = e. Beweis. Induktion u¨ ber die Anzahl der Kacheln. Ist diese Anzahl eins, so ist P selbst eine Kachel, etwa Ti . Das Wort U ist dann, was wir oben mit Wi bezeichnet haben, und die Behauptung folgt aus Lemma 23.1. Nun nehmen wir an, dass es mehrere Kacheln gibt. Dann k¨onnen wir das Polygon P durch einen Weg in P in zwei Polygone P1 und P2 zerlegen. Der Weg verl¨auft von einem Randpunkt p zu einem Randpunkt p und bewegt sich nur auf den R¨andern der Kacheln (siehe Abbildung 23.12 auf der n¨achsten Seite). Sei w das Wort, das zu diesem Weg pp in P geh¨ort, und seien v1 und v2 die Randw¨orter des Polygons P von p nach p und von p nach p. Ein entgegen dem Uhrzeigersinn gerichteter Weg entlang des Randes von P, der im Punkt p startet, ist durch das Wort v1 v2 codiert. Es gilt v1 v2 = (v1 w−1 )(wv2 ).
372
23 Unm¨ogliche Kachelungen
Abb. 23.12 Induktionsschritt im Beweis von Proposition 23.1 auf der vorherigen Seite.
Die in Klammern gesetzten W¨orter sind die Randw¨orter der Polygone P1 und P2 . Aufgrund unserer Wahl des Schneideweges pp werden diese Polygone durch eine kleinere Anzahl von Kacheln u¨ berdeckt. Nach der Induktionsannahme ist v1 w−1 = e und wv2 = e. Deshalb ist auch v1 v2 = e.1 Schließlich kann sich das Randwort U durch die Wahl des Startpunktes von v1 v2 unterscheiden. Aus Lemma 23.1 auf der vorherigen Seite wissen wir bereits: Wenn eines dieser W¨orter a¨ quivalent zu e ist, so ist es auch das andere. Damit ist der Beweis abgeschlossen. 2 Es ist zweckm¨aßig, die Konstruktionen dieses Abschnitts in Form von Gruppen zusammenzufassen. Die Kachelmengen T1 , . . . , Tn bestimmen eine Gruppe mit zwei erzeugenden Elementen x und y und den Relationen W1 , . . . ,Wn . Diese Gruppe nennt man Conways Kachelgruppe. Das Randwort des Polygons P ist ein Element von Conways Kachelgruppe, und wird P durch T1 , . . . , Tn gekachelt, so ist dies das Einselement. Beispiel 23.1. Greifen wir das Problem des beschnittenen Schachbretts vom Anfang dieser Vorlesung erneut auf.
Abb. 23.13 Das beschnittene Schachbrett neu u¨ berdacht.
Die beiden Positionen der 2 × 1-Dominosteine haben die Randw¨orter W1 = x2 yx−2 y−1 und W2 = xy2 x−1 y−2 , und das beschnittene Schachbrett hat das Randwort U = x7 y7 x−1 yx−7 y−7 xy−1 (siehe Abbildung 23.13). Wir wollen zeigen, dass 1 Beachten Sie die Ahnlichkeit ¨ dieses Arguments mit dem Argument im Beweis des Satzes von Gauß-Bonnet f¨ur Polyeder auf Seite 332.
23.5 Beweis von Satz 23.1
373
die Gleichungen W1 = W2 = e nicht implizieren, dass U = e ist; dann kann das Schachbrett nach Proposition 23.1 nicht gekachelt werden. Ersetzen wir x durch die Permutation (213) und y durch (132). Das macht aus x2 und y2 die triviale Permutation (123), und folglich werden die beiden W¨orter W1 und W2 ebenfalls trivial. Daraus folgt, dass wir im Fall U = e, nachdem x und y durch die Permutationen (213) und (132) ersetzt wurden, eine triviale Permutation erhalten m¨ussen. Aber das ist nicht der Fall! Sie als Leser werden sich leicht davon u¨ berzeugen k¨onnen, dass U = (312) ist. Das ist also eine nicht triviale Permutation.2
23.5 Beweis von Satz 23.1 Es sollte uns nicht u¨ berraschen, dass der Beweis von Satz 23.1 im Vergleich zur Betrachtung des Beispiels 23.1 auf der vorherigen Seite mehr Aufwand erfordert: Letzten Endes hat das Problem des beschnittenen Schachbretts eine einfache Farbl¨osung. Zun¨achst wissen wir aus Abschnitt 23.3, dass eine notwendige Bedingung f¨ur eine Kachelung darin besteht, dass n ≡ 8 oder 0 mod 9 ist. Existiert eine Kachelung f¨ur n ≡ 8 mod 9, so existiert sie auch f¨ur n ≡ 0 mod 9, wie Abbildung 23.9 auf Seite 369 zeigt. Somit brauchen wir nur zu beweisen, dass die Kachelungen in den F¨allen, in denen n ein Vielfaches von 9 ist, nicht existiert. Zeichnen wir die dreieckigen Punktfelder noch einmal auf kariertem Papier als ein treppenstufenartiges Polygon: Wir haben ein Quadrat in der ersten Zeile, zwei Quadrate in der zweiten Zeile usw. Dann werden die Dreilochb¨ander zu solchen Kacheln, wie in Abbildung 23.14 dargestellt. Die Abbildung zeigt auch die Randw¨orter dieser Polygone. Wir wollen beweisen, dass f¨ur alle n aus den Gleichungen W1 = W2 = W3 = e nicht Un = e folgt. Betrachten wir drei Scharen orientierter paralleler Geraden mit gleichem Abstand (siehe Abbildung 23.15 auf der n¨achsten Seite). Diese Geraden schneiden sich unter Winkeln von 60◦ und bilden eine Kachelung der Ebene durch gleichseitige Dreie-
Abb. 23.14 Kacheln und die zugeh¨origen W¨orter. 2
In den Begriffen der Gruppentheorie haben wir einen Homomorphismus von Conwyas Kachelgruppe zur Gruppe der Permutationen von drei Elementen konstruiert; dieser Homomorphismus u¨ berf¨uhrt das Randwort des beschnittenen Schachbretts in eine nicht triviale Permutation.
374
23 Unm¨ogliche Kachelungen
Abb. 23.15 Das hexagonale Gitter: Die Nachbildungen der drei Kacheln.
cke und regelm¨aßige Sechsecke. In die Dreiecke schreiben wir x und y, wie in Abbildung 23.15 dargestellt. Wir werden dieses Muster aus Geraden und Buchstaben k¨unftig als hexagonales Gitter bezeichnen. Das hexagonale Gitter ist sehr symmetrisch. F¨ur jeweils zwei seiner Ecken existiert eine Bewegung der Ebene, die die eine in die andere u¨ berf¨uhrt und das Gitter erh¨alt. Beispielsweise u¨ berf¨uhrt eine Parallelverschiebung die Ecke B in die Ecke D aus Abbildung 23.16, und die 120◦ -Drehung um den Punkt A (das ist der Mittelpunkt des Dreiecks mit der Markierung x) u¨ berf¨uhrt die Ecke B in die Ecke C.
Abb. 23.16 Symmetrien des hexagonalen Gitters.
23.5 Beweis von Satz 23.1
375
Ein Weg auf dem Quadratgitter kann auf dem hexagonalen Gitter nachgebildet werden. Ein Weg auf dem Quadratgitter ist durch ein Wort in den Buchstaben x, x−1 , y, y−1 codiert. An jedem Punkt des hexagonalen Gitters treffen sich zwei orientierte Geraden, und zwei der vier Winkel sind mit x und y gekennzeichnet (siehe Abbildung 23.15 auf der vorherigen Seite). Wir interpretieren die Symbole x, x−1 , y, y−1 als Anweisung f¨ur die Konstruktion des nachgebildeten Weges: x±1 bedeutet ziehe einen Schritt auf dem Rand des mit x gekennzeichneten Dreiecks, ” abh¨angig vom Vorzeichen in oder entgegen der Orientierung“, genauso verh¨alt es sich mit y±1 . Hat man also einmal einen Startpunkt gew¨ahlt, so bestimmt ein Weg auf dem Quadratgitter einen Weg auf dem hexagonalen Gitter. Abbildung 23.15 auf der vorherigen Seite zeigt Nachbildungen der Randwege von drei Kacheln aus Abbildung 23.14 auf Seite 373. Vergegenw¨artigen Sie sich, dass alle drei nachgebildeten Wege geschlossen sind; diese Tatsache gilt f¨ur jede Wahl des Startpunktes aufgrund der Symmetrien des hexagonalen Gitters. Im Gegensatz dazu hat der Weg xyx−1 y−1 , das ist der Rand eines einzelnen Quadrats, eine nicht geschlossene Nachbildung. Wir wollen nur die Wege auf dem Quadratgitter betrachten, deren Nachbildungen auf dem hexagonalen Gitter geschlossen sind. Die Randwege der drei Kacheln erf¨ullen diese Bedingung, und somit auch die Randwege des Treppenbereiches aus Abbildung 23.14 auf Seite 373; seine Nachbildung ist in Abbildung 23.17 dargestellt (wir verwenden die Annahme, dass n ein Vielfaches von 3 ist).
Abb. 23.17 Eine Nachbildung des Treppenbereiches.
Eine orientierte, geschlossene Kurve zerlegt die Ebene in eine Reihe von Komponenten. Zu jeder Komponente geh¨ort eine Umlaufzahl der Kurve um einen beliebigen Punkt dieser Komponente. Wir haben diesen Begriff in Vorlesung 12 auf Seite 197 diskutiert (siehe Abbildung 12.20 auf Seite 209). Der vorzeichenbehaftete
376
23 Unm¨ogliche Kachelungen
Fl¨acheninhalt, der von einer geschlossenen Kurve begrenzt wird, ist die Summe der Fl¨acheninhalte der Komponenten, mit ihren entsprechenden Umlaufzahlen multipliziert. Beispielsweise ist der vorzeichenbehaftete Fl¨acheninhalt eines entgegen dem Uhrzeigersinn orientierten Einheitskreises π , und der eines im Uhrzeigersinn orientieren ist −π . In der Analysis ist der vorzeichenbehaftete Fl¨acheninhalt als Integral der Differentialform xdy u¨ ber die Kurve definiert. Weisen wir einem Weg auf dem Quadratgitter die vorzeichenbehaftete Fl¨ache zu, die von seiner Nachbildung auf dem hexagonalen Gitter eingeschlossen wird. F¨ur die Randwege der drei Kacheln ist dieser vorzeichenbehaftete Fl¨acheninhalt null (siehe Abbildung 23.15 auf Seite 374), und f¨ur den Randweg des Treppenbereichs ist dieser vorzeichenbehaftete Fl¨acheninhalt negativ (siehe Abbildung 23.17 auf der vorherigen Seite). Dies impliziert Un = e. Tatsache ist: Ersetzen wir eines der W¨orter W1 ,W2 oder W3 durch e oder umgekehrt, so wird der vorzeichenbehaftete Fl¨acheninhalt des nachgebildeten Weges davon nicht ber¨uhrt. Dieser Fl¨acheninhalt ist f¨ur das triviale Wort e null, f¨ur das Wort Un ist er aber nicht null. Dies schließt den Beweis von Satz 23.1 ab. 2 Am Ende dieses Abschnitts f¨uhren wir einen weiteren Satz an, der a¨ hnlich wie Satz 23.1 auf Seite 370 bewiesen werden kann. Wir beginnen mit demselben dreieckigen Punktefeld, nun wollen wir es aber mit Dreiecken aus drei Punkten u¨ berdecken (siehe Abbildung 23.18).
Abb. 23.18 Kann man das große Dreieck mit kleinen u¨ berdecken?
Satz 23.2. Eine solche Kachelung existiert genau dann, wenn n ≡ 0, 2, 9 oder 11 mod 12 ist. Mehr Informationen u¨ ber Conways Kachelgruppe finden Sie in [17, 65, 85].
23.6 Kommen wir auf Max Dehn zur¨uck
377
¨ 23.6 Kommen wir auf Max Dehn zuruck Nachdem er Hilberts drittes Problem gel¨ost hatte, bewies Max Dehn [21] im Jahr 1903 den folgenden Satz. Satz 23.3. Kann ein Rechteck durch Quadrate u¨ berdeckt werden, so ist das Verh¨altnis seiner Seitenl¨angen eine rationale Zahl.
Abb. 23.19 Ist das Verh¨altnis der Seitenl¨angen eines Rechtecks rational, so kann es durch Quadrate u¨ berdeckt werden.
Die Umkehrung ist offensichtlich richtig (siehe Abbildung 23.19). Der folgende Beweis erinnert ziemlich an das, was wir in Abschnitt 22.3 auf Seite 353 getan haben.3 Beweis. Wir wollen den Beweis durch Widerspruch f¨uhren. Wir k¨onnen das Rechteck so skalieren, dass seine Breite 1 ist; sei x seine H¨ohe und eine irrationale Zahl.
Abb. 23.20 Fortsetzung der Kachelseiten.
Nehmen wir an, dass eine Kachelung durch Quadrate existiert. Wir setzen die Seiten der Quadrate u¨ ber die volle Breite oder H¨ohe des Rechtecks fort (siehe Abbildung 23.20). Nun haben wir eine Kachelung unseres x × 1-Rechtecks und aller Quadrate durch eine Anzahl kleinerer Rechtecke; seien a1 , . . . , aN ihre Seitenl¨angen (in beliebiger Reihenfolge). Wir betrachten die Folge 1, x, a1 , . . . , aN ;
(23.1)
¨ Diese Ahnlichkeit ist der Grund daf¨ur, dass eine Vorlesung u¨ ber Kachelungsprobleme in einem Kapitel vorkommt, das sich Polyedern widmet.
3
378
23 Unm¨ogliche Kachelungen
wir streichen einen Term, wenn er eine Linearkombination der vorherigen Terme mit rationalen Koeffizienten ist. Da die H¨ohe x irrational ist, verbleibt sie in der Folge. Seien b1 = 1, b2 = x, b3 , . . . , bm die verbleibenden Zahlen. Wie in Abschnitt 22.3 auf Seite 353 ist jede der Zahlen (23.1) eine eindeutige, rationale Linearkombination der b1 , . . . , bm . Sei f die folgende Funktion u¨ ber den Zahlen b1 , . . . , bm : f (1) = 1, f (x) = −1, f (b3 ) = · · · = f (bm ) = 0; wir setzen f durch die Linearit¨at zu einer rationalen Linearkombination der Zahlen b1 , . . . , bm fort: f (r1 b1 + · · · + rm bm ) = r1 f (b1 ) + · · · + rm f (bm ) . Sind u und v rationale Linearkombinationen der Zahlen b1 , . . . , bm , so ist demzufolge dann f (u + v) = f (u) + f (v) ,
(23.2)
die Funktion f ist also additiv. Betrachten wir ein Rechteck mit den Seitenl¨angen u und v, die beide rationale Linearkombinationen der Zahlen b1 , . . . , bm sind. Wir definieren den Fl¨acheninhalt“ ” dieses Rechtecks als f (u) f (v). Haben zwei solcher Rechtecke entweder eine horizontale oder eine vertikale Seite gemeinsam, so k¨onnen sie zu einem gr¨oßeren Rechteck zusammengef¨ugt werden. Aufgrund der Additivit¨at der Funktion f , also Gleichung (23.2), ist der Fl¨acheninhalt“ des gr¨oßeren Rechtecks die Summe der ” Fl¨acheninhalte“ der beiden kleineren Rechtecke. ” Daraus folgt, dass der Fl¨acheninhalt“ des x × 1-Rechtecks die Summe der ” Fl¨acheninhalte“ der Quadrate ist, die es u¨ berdecken. Ersterer ist f (x) f (1) = −1, ” w¨ahrend der Fl¨acheninhalt eines u × u-Quadrats f (u)2 ist, also eine nicht negative Zahl. Dies ist ein Widerspruch. 2
23.7 Kachelungen durch Quadrate und elektrische Schaltkreise Betrachten wir eine Kachelung eines Rechtecks durch Quadrate, wie in Abbildung 23.21 auf der n¨achsten Seite. Seien x1 , . . . , x9 die Seitenl¨angen der Quadrate. F¨ur jedes Segment dieser Abbildung, horizontal oder vertikal, haben wir eine lineare Relation zwischen den Variablen xi : Diese Relationen dr¨ucken die L¨ange eines Segments als die Summe der Seiten der Quadrate aus, die an seinen beiden Seiten an das Segment angrenzen. F¨ur die Kachelung aus Abbildung 23.21 auf der n¨achsten Seite lauten diese Relationen x2 = x4 + x5 , x3 + x5 = x6 , x1 + x4 = x7 + x8 , x6 + x8 = x9
(23.3)
23.7 Kachelungen durch Quadrate und elektrische Schaltkreise
379
Abb. 23.21 Kachelung durch Quadrate.
(horizontale Segmente) und x1 = x2 + x4 , x7 = x8 + x9 , x4 + x8 = x5 + x6
(23.4)
(vertikale Segmente). Damit eine Kachelung existiert, muss dieses lineare Gleichungssystem eine L¨osung aus positiven Zahlen haben. Die Kachelung aus Abbildung 23.21 geh¨ort zu folgender L¨osung: x1 = 15, x2 = 8, x3 = 9, x4 = 7, x5 = 1, x6 = 10, x7 = 18, x8 = 4, x9 = 14 ; nat¨urlich kann man diese Zahlen mit einem Faktor multiplizieren. Die Gleichungen (23.3) und (23.4) k¨onnen als kirchhoffsche Gesetze f¨ur elektrische Schaltkreise interpretiert werden. Ein Beispiel eines Schaltkreises ist in Abbildung 23.22 auf der n¨achsten Seite dargestellt. Wir nehmen an, dass alle Widerst¨ande Einheitswiderst¨ande sind und alle Str¨ome durch die Zahlen xi gegeben sind. Es gibt zwei kirchhoffsche Gesetze: Die Knotenregel besagt, dass der Stromzufluss in jeden Knoten gleich dem Abfluss an diesem Knoten ist, und die Maschenregel besagt, dass der Spannungsabfall um jeden geschlossenen Weg null ist. Da die Widerst¨ande Einheitswiderst¨ande sind, ist der Zahlenwert des Spannungsabfalls am i-ten Widerstand nach dem ohmschen Gesetz xi , also zahlenm¨aßig so groß wie der Strom. Die Knotengleichungen f¨ur den Strom aus Abbildung 23.22 auf der n¨achsten Seite sind die Gleichungen (23.3), und die Maschengleichungen sind die Gleichungen (23.4).
380
23 Unm¨ogliche Kachelungen
Abb. 23.22 Der Schaltkreis, welcher der Kachelung aus Abbildung 23.21 entspricht.
Der Schaltkreis aus Abbildung 23.22 wurde wie folgt aus der Kachelung aus Abbildung 23.21 auf der vorherigen Seite konstruiert: Jedem horizontalen Segment entspricht ein Knoten im elektrischen Schaltkreis, und jedem Quadrat in der Kachelung entspricht ein Widerstand. Ein Widerstand verbindet zwei Knoten, wenn das jeweilige Quadrat an die beiden entsprechenden horizontalen Geraden angrenzt. Diese Konstruktion funktioniert f¨ur jede Kachelung eines Rechtecks durch Quadrate und liefert einen elektrischen Schaltkreis. Eine Wahl des Spannungsabfalls zwischen dem oberen und dem unteren Knoten bestimmt die Str¨ome in allen Wiederst¨anden eindeutig, und wir erhalten eine L¨osung des Systems (23.3)–(23.4). Insbesondere hat das System (23.3)–(23.4) bis auf einen gemeinsamen Faktor eine eindeutige L¨osung. Derselbe Schluss gilt f¨ur jede Kachelung eines Rechtecks durch Quadrate. Die Kehrseite dieser Methode ist, dass wir die Vorzeichen der Str¨ome nicht steuern k¨onnen: Einige von ihnen k¨onnen null oder negativ sein, und dann entspricht der Schaltkreis keiner Kachelung durch Quadrate.
23.8 Kachelung durch Rechtecke mit einer ganzzahligen Seite Satz 23.4. Ein Rechteck R sei von Rechtecken u¨ berdeckt, die alle eine ganzzahlige Seite haben. Dann hat R eine ganzzahlige Seite. Dieser Kachelungssatz h¨alt einen Rekord, was die Anzahl der verschiedenen Beweise betrifft (vierzehn werden in [87] angegeben und weitere sind bekannt). Wir w¨ahlen einen der elegantesten. &
Beweis. Das Integral sin 2π x dx u¨ ber ein Intervall mit ganzzahliger L¨ange ist null. Daraus folgt, dass das Doppelintegral # #
sin 2π x sin 2π y dxdy
23.9 Kurz erw¨ahnt: Kachelung von Dreiecken mit gleichem Fl¨acheninhalt
381
u¨ ber jede Kachel null ist. Folglich verschwindet dieses, u¨ ber R berechnete Doppelintegral ebenso. Wir nehmen an, dass die untere linke Ecke von R der Ursprung ist, und seine Seiten die L¨angen a und b haben. Dann ist 0=
# a# b 0
0
sin 2π x sin 2π y dxdy =
1 (1 − cos 2π a)(1 − cos 2π b) . (2π )2
Daraus folgt, dass entweder cos 2π a = 1 oder cos 2π b = 1 ist, also ist entweder a oder b eine ganze Zahl. 2 Satz 23.4 auf der vorherigen Seite hat eine interessante Konsequenz. Angenommen, ein m × n-Rechteck ist mit p × q-Rechtecken u¨ berdeckt (die Zahlen m, n, p und q sind ganze Zahlen). Nat¨urlich impliziert dies, dass pq ein Teiler von mn ist. Das k¨onnen wir noch pr¨azisieren: Korollar 23.1. Die Zahl p ist entweder ein Teiler von m oder n, Gleiches gilt f¨ur q.
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
Beweis. Wir reskalieren mit dem Faktor 1/p: Nun ist ein (m/p) × (n/p)-Rechteck von 1 × (q/p)-Rechtecken u¨ berdeckt. Nach Satz 23.4 auf der vorherigen Seite ist entweder m/p oder n/p eine ganze Zahl, also ist p entweder ein Teiler von m oder n. Das gilt ebenso f¨ur q. 2
John Conway geboren 1942
Max Dehn 1878–1952
23.9 Kurz erw¨ahnt: Kachelung von Dreiecken mit gleichem Fl¨acheninhalt Zum Schluss kommen wir nicht umhin, ein weiteres, a¨ ußerst verbl¨uffendes Resultat u¨ ber unm¨ogliche Kachelungen“ zu erw¨ahnen: Man kann ein Quadrat nicht durch ” eine ungerade Anzahl von Dreiecken mit gleichem Fl¨acheninhalt u¨ berdecken (ein
382
23 Unm¨ogliche Kachelungen
Abb. 23.23 Kachelung durch Dreiecke mit gleichem Fl¨acheninhalt.
Beispiel f¨ur eine gerade Anzahl von Kacheln zeigt Abbildung 23.23). Dieser Satz ist relativ neu (aus dem Jahr 1970) und hat einen sehr u¨ berraschenden Beweis. Noch u¨ berraschender ist vielleicht, dass es gleichseitige Dreiecke gibt, die durch keine Anzahl von Dreiecken mit gleichem Fl¨acheninhalt u¨ berdeckt werden k¨onnen. Wir verweisen auf Kapitel 5 in [75] f¨ur eine Darstellung.
¨ 23.10 Ubungen ¨ Ubung 23.1. Kann man das Polygon aus Abbildung 23.24 mit Dominosteinen kacheln?
Abb. 23.24 Variation u¨ ber das Farbargument.
¨ Ubung 23.2. Schneiden Sie aus dem Schachbrett ein schwarzes und ein weißes Quadrat. Beweisen Sie, dass das beschnittene Schachbrett mit Dominosteinen gekachelt werden kann. Hinweis: Betrachten Sie einen geschlossenen Weg, der alle Quadrate des Schachbretts u¨ berstreicht und platzieren Sie die Dominosteine entlang dieses Weges.
¨ 23.10 Ubungen
383
Abb. 23.25 Dieses Gebiet kann nicht durch Quadrate gekachelt werden.
¨ Ubung 23.3. Zeigen Sie, dass ein 10 × 10-Quadrat nicht durch 1 × 4-Rechtecke gekachelt werden kann. Hinweis: Verwenden Sie eine Vierf¨arbung. ¨ Ubung 23.4. ** Beweisen Sie Satz 23.2 auf Seite 376. ¨ Ubung 23.5. Beweisen Sie, dass das Polygon aus Abbildung 23.25 nicht durch Quadrate gekachelt werden kann (anders verh¨alt es sich offenbar, wenn Anti-Kacheln zul¨assig sind!). √ ¨ Ubung 23.6. Sei x = 2 − 3 5. Kacheln Sie ein Quadrat durch drei Rechtecke, die dem 1 × x-Rechteck a¨ hnlich sind. Kommentar: Ein Quadrat kann genau dann durch Rechtecke gekachelt werden, die dem 1 × x-Rechteck a¨ hnlich sind, wenn x eine Nullstelle eines Polynoms mit ganzzahligen Koeffizienten ist und, f¨ur ein Polynom mit dem niedrigsten Grad, das durch x erf¨ullt wird, jede Nullstelle a + ib die Ungleichung a > 0 erf¨ullt (siehe [30]). ¨ Ubung 23.7. Zeigen Sie, dass Satz 23.3 auf Seite 377 auch dann noch gilt, wenn man Kacheln aus Anti-Materie“ verwenden kann. ” Hinweis: Definieren Sie den Fl¨acheninhalt“ eines u × v-Rechtecks hier als u f (v) − ” v f (u). Dieser Fl¨acheninhalt ist wieder additiv, und er verschwindet f¨ur alle Quadrate. ¨ Ubung 23.8. Geben Sie einen Farbbeweis von Satz 23.4 auf Seite 380 an, in dem Sie ein unendliches Schachbrett mit (1/2) × (1/2)-Quadraten betrachten. Kommentar: Dies ist dasselbe, wie die Funktion sin 2π x sin 2π y durch die Funktion (−1)[2x] (−1)[2y] zu ersetzen.
Vorlesung 24
Die Starrheit der Polyeder
!
24.1 Satz von Cauchy Ein Pappmodell eines konvexen Polyeders P wird entlang seiner Kanten in etliche Polygone zerschnitten. Das sind die Fl¨achen von P. Es liegt eine vollst¨andige Adjazenzliste (Liste der Nachbarn) vor: Die Fl¨achen Fi und Fj haben eine gemeinsame Kante Ek . Nach dieser Liste setzt man ein Polyeder P zusammen, indem man die Fl¨achen entlang derselben Kanten wie in P aneinander klebt. Ist P notwendigerweise kongruent zu P?
Abb. 24.1 Diese Polyeder sind aus kombinatorischer Sicht gleich und haben kongruente Fl¨achen. D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 24,
385
386
24 Die Starrheit der Polyeder
Die Antwort h¨angt davon ab, ob P ein konvexes Polyeder ist. Ohne die Annahme der Konvexit¨at ist das Polyeder nicht eindeutig bestimmt (siehe Abbildung 24.1 auf der vorherigen Seite). F¨ur konvexe Polyeder gibt es jedoch den folgenden Satz von Cauchy (1813). Satz 24.1. Sind die zugeh¨origen Fl¨achen zweier konvexer Polyeder kongruent und in gleicher Weise benachbart, so sind auch die Polyeder kongruent. In der Ebene ist eine a¨ hnliche Behauptung offensichtlich falsch: Jedes Polygon, abgesehen von einem Dreieck, l¨asst Verformungen zu, bei denen die Kantenl¨angen dieselben bleiben, die Winkel sich aber a¨ ndern (siehe Abbildung 24.2).
Abb. 24.2 Ebene Polygone sind flexibel.
Eine Folgerung aus Satz 24.1 ist der Starrheitssatz von Cauchy: Ein konvexes Polyeder kann nicht verformt werden. Eine pr¨azisere Formulierung lautet wie folgt. Korollar 24.1. Wird ein konvexes Polyeder stetig so verformt, dass alle Seiten zu sich selbst kongruent bleiben, so bleibt auch das Polyeder zu sich kongruent. Dieses Resultat steht im krassen Widerspruch zu den Konstruktionen flexibler (nicht konvexer!) Polyeder, die in Vorlesung 25 beschrieben werden. Eine stetige Version des Satzes von Cauchy nach Cohn-Vossen besagt, dass glatte, geschlossene, konvexe Fl¨achen (Ellipsoide) starr sind: Eine isometrische Verformung ist eine starre Bewegung. Es ist nicht bekannt, ob glatte, geschlossene Fl¨achen nicht triviale isometrische Verformungen zulassen.
24.2 Beweis des Satzes von Cauchy Der Beweis st¨utzt sich auf zwei Lemmata. Das erste ist kombinatorisch (man k¨onnte auch sagen topologisch). Nehmen wir an, dass einige der Kanten, die an eine Ecke eines konvexen Polyeders angrenzen mit + oder − bezeichnet sind (und einige Kanten sind u¨ berhaupt nicht bezeichnet). Wir wollen die Ecke1 ein Mal vollst¨andig umlaufen, wobei wir die Vorzeichen der Kanten verfolgen. Wir sagen, dass ein Vorzeichenwechsel stattfindet, wenn eine positive Kante auf eine negative Kante oder eine negative Kante 1
In der Graphentheorie sind dies Knoten.
24.2 Beweis des Satzes von Cauchy
387
Abb. 24.3 Vier Vorzeichenwechsel.
auf eine positive Kante folgt; die nicht bezeichneten Kanten werden ignoriert. In Abbildung 24.3 gibt es zum Beispiel vier Vorzeichenwechsel. Lemma 24.1. Nehmen wir an, dass einige Kanten eines konvexen Polyeders mit + oder − bezeichnet sind. Wir wollen die Ecken, die an mindestens eine bezeichnete Kante grenzen, markieren. Dann existiert eine markierte Ecke, sodass man bei einem Umlauf dieser Ecke h¨ochsten zwei Vorzeichenwechsel verzeichnet. Das zweite Lemma ist geometrisch. Betrachten wir zwei konvexe sph¨arische (oder ebene) n-Ecke P1 und P2 , deren einander entsprechende Seiten gleiche L¨angen haben. Wir markieren die Ecken von P1 mit + oder −, abh¨angig davon, ob der entsprechende Winkel von P1 gr¨oßer oder kleiner als der von P2 ist; sind die Winkel gleich, wird die Ecke nicht markiert. Lemma 24.2. Gibt es u¨ berhaupt markierte Ecken, sind die Polygone also nicht kongruent, so verzeichnet man bei einem Umlauf des Polygons P1 mindestens vier Vorzeichenwechsel. Hier ist eine Erkl¨arung angebracht. In der sph¨arischen Geometrie wird die Rolle der Geraden von Großkreisen u¨ bernommen. Die k¨urzeste Entfernung zwischen zwei Punkten ist der kleinere Kreisbogen des Großkreises durch diese Punkte. Mit dieser Konvention ist die Definition der Konvexit¨at genau wie in der Ebene. Vermutlich ist Lemma 24.2 historisch betrachtet der erste Satz in einer langen Reihe geometrischer S¨atze, in denen die Zahl vier vorkommt (Vierscheitelsatz); etliche davon werden in Vorlesung 10 diskutiert. Der u¨ brige Teil dieser Vorlesung widmet sich den Beweisen der Lemmata 24.1 und 24.2. Zuerst leiten wir aber den Satz von Cauchy aus ihnen ab. Beweis des Satzes von Cauchy. Nehmen wir an, dass die Fl¨achen zweier konvexer Polyeder S1 und S2 kongruent und in gleicher Weise benachbart sind. Sind die Polyeder nicht kongruent, so sind einige ihrer einander entsprechenden Raumwinkel nicht gleich. Wir bezeichnen die Kanten von S1 mit dem Vorzeichen + oder −, abh¨angig davon, ob der entsprechende Raumwinkel von S1 gr¨oßer oder kleiner als der des Polyeders S2 ist; sind die Winkel gleich, wird die Kante nicht bezeichnet.
388
24 Die Starrheit der Polyeder
Nach Lemma 24.1 auf der vorherigen Seite gibt es eine Ecke V1 des Polyeders S1 , die an einige bezeichnete Kanten angrenzt, und bei deren Umlauf wir nicht mehr als zwei Vorzeichenwechsel verzeichnen. Sei V2 die entsprechende Ecke von S2 . Wir betrachten Einheitsph¨aren um V1 und V2 . Die Fl¨achen der Polyeder S1 und S2 , die an V1 und V2 angrenzen, schneiden die Sph¨aren entlang konvexer sph¨arischer Polygone P1 und P2 . Die Seitenl¨angen dieser Polygone sind gleich den Winkeln der entsprechenden Fl¨achen der Polyeder S1 und S2 . Deshalb sind die einander entsprechenden Kanten von P1 und P2 gleich. Die Ecken der sph¨arischen Polygone P1 und P2 sind die Schnittpunkte der jeweiligen Kanten von S1 und S2 mit den Sph¨aren, und die Winkel von P1 und P2 sind gleich den jeweiligen Raumwinkeln von S1 und S2 . Folglich stimmt die Markierung der Ecken des Polygons P1 , wie in Lemma 24.2 auf der vorherigen Seite beschrieben, mit den Bezeichnungen der Kanten des Polyeders S1 entsprechend der Raumwinkel u¨ berein. Insbesondere ist die Anzahl der Vorzeichenwechsel um P1 nicht gr¨oßer als zwei. Nach Lemma 24.2 auf der vorherigen Seite ist diese Anzahl aber mindestens vier. Dies ist ein Widerspruch. 2
24.3 Der Satz von Euler und der Beweis von Lemma 24.1 Der klassische Satz von Euler verkn¨upft die Anzahl der Ecken v, der Kanten e und der Fl¨achen f eines konvexen Polyeders: v − e + f = 2. Der Dodekaeder hat beispielsweise 20 Ecken, 30 Kanten und 12 Fl¨achen: 20 − 30 + 12 = 2. Wir brauchen noch ein etwas allgemeineres Resultat u¨ ber Graphen auf der Sph¨are (die Zentralprojektion eines konvexen Polyeders auf eine Sph¨are, deren Mittelpunkt im Innern des Polyeders liegt, liefert einen solchen Graphen). Wir bezeichnen mit v die Anzahl der Ecken (Knoten), mit e die Anzahl der Kanten, mit f die Anzahl der Fl¨achen und mit c die Anzahl der Komponenten des Graphen. Satz 24.2. Es gilt v−e+ f = c+1.
(24.1)
Beweis. Wir argumentieren durch Induktion u¨ ber die Anzahl der Kanten. Nehmen wir an, dass der Graph eine Ecke V mit Valenz 1 hat, die Ecke grenzt also an genau eine Kante, etwa die Kante E. Wir entfernen V und E (aber nicht den anderen Endpunkt von E). Dann verringern sich die Zahlen v und e um 1. Da die Kante E keine Fl¨achen trennt, bleibt die Anzahl f unver¨andert, und Gleiches gilt f¨ur c, die Anzahl der Komponenten des Graphen. Deshalb a¨ ndert sich die Anzahl v − e + f − c nicht. Als n¨achstes nehmen wir an, dass alle Eckpunkte Valenzen 2 oder h¨oher haben. Dann existiert ein geschlossener Weg ohne Selbst¨uberschneidungen im Graphen. Und zwar w¨ahlen wir eine Ecke, etwa die Ecke V1 . Es gibt eine Kante, die von dieser Ecke ausgeht. Wir bewegen uns zum anderen Eckpunkt dieser Kante, n¨amlich V2 . Die Valenz von V2 ist nicht kleiner als 2, sodass es eine andere Kante gibt, die von V2
24.3 Der Satz von Euler und der Beweis von Lemma 24.1
389
ausgeht. Sei V3 der andere Endpunkt dieser Kante usw. Damit machen wir solange weiter, bis wir zum ersten Mal bei einer bereits besuchten Ecke ankommen. Dies liefert einen geschlossenen Weg ohne Selbst¨uberschneidungen. Dieser Weg unterteilt die Sph¨are in zwei Komponenten (siehe Vorlesung 26 f¨ur eine Diskussion des Satzes von Jordan). Wir entfernen eine Kante aus diesem Weg (entfernen aber ihre Endpunkte nicht). Dann verringert sich die Anzahl f um 1, und Gleiches gilt f¨ur e, w¨ahrend v und c gleich bleiben. Wieder a¨ ndert sich v − e + f − c nicht. Wir setzen in dieser Weise so lange fort, bis alle Kanten entfernt wurden. Dann besteht der Graph aus v isolierten Ecken und hat f = 1 Fl¨achen und c = v Komponenten und die Relation (24.1) gilt. 2 Nun setzen wir mit dem Beweis von Lemma 24.1 fort. Die bezeichneten Kanten eines konvexen Polyeders bilden einen Graphen, den wir uns auf die Sph¨are gezeichnet vorstellen. Die Zahlen v, e, f und c sollen dieselben Bedeutungen haben wie vorhin, und sei s die Summe der Vorzeichenwechsel aller Anzahlen u¨ ber alle Ecken (Knoten) des Graphen. Die Anzahl der Vorzeichenwechsel um eine Ecke (einen Knoten) ist gerade. Folglich ergibt sich daraus Lemma 24.1, wenn wir zeigen, dass die mittlere Anzahl der Vorzeichenwechsel pro Ecke kleiner als 4 ist, also s < 4v. Nach Cauchy gibt es eine sch¨arfere Absch¨atzung. Proposition 24.1. Es gilt s ≤ 4v − 8 .
(24.2)
Beweis. Anstatt die Ecken des Graphen zu umlaufen, wollen wir die R¨ander aller Fl¨achen durchlaufen. Die Gesamtzahl der Vorzeichenwechsel s bleibt gleich: Und zwar sind zwei Kanten beim Umlaufen einer Ecke genau dann benachbart, wenn sie beim Durchlaufen der R¨ander einer Fl¨ache benachbart sind (siehe Abbildung 24.4). Beim Durchlaufen der R¨ander treffen wir folgende Abmachungen: a) Hat der Rand einer Fl¨ache viele Komponenten, so durchlaufen wir sie alle und addieren die Anzahl der Vorzeichenwechsel. b) Grenzt ein Segment auf beiden Seiten an die Fl¨ache an, so behandeln wie dieses Segment als zweiseitig, wobei beide Seiten dasselbe Vorzeichen tragen; ein solches Segment wird zwei Mal durchlaufen, n¨amlich ein Mal von jeder Seite.
Abb. 24.4 Zwei Wege zum Z¨ahlen der Vorzeichenwechsel.
390
24 Die Starrheit der Polyeder
Abb. 24.5 Es gibt acht Vorzeichenwechsel auf der einen Randkomponente und auf der anderen zwei.
Dies ist in Abbildung 24.5 illustriert: Der Beitrag der viereckigen Fl¨ache zur Gesamtzahl der Vorzeichenwechsel ist 8. Mit f i bezeichnen wir die Anzahl der Fl¨achen, deren Rand aus i Kanten besteht. Hier ist i ≥ 3, und eine Kante wird doppelt gez¨ahlt, wenn sie auf beiden Seiten an die Fl¨ache angrenzt. Zum Beispiel hat der Rand der Fl¨ache aus Abbildung 24.5 dreizehn Kanten. Somit ist f = f3 + f 4 + f 5 + . . . .
(24.3)
Durchl¨auft man den Rand eines Gebietes mit i Kanten, so verzeichnet man h¨ochstens i Vorzeichenwechsel, und ist i ungerade, so sind es h¨ochstens i − 1 Vorzeichenwechsel. Deshalb ist (24.4) s ≤ 2 f3 + 4 f 4 + 4 f5 + 6 f6 + 6 f7 + . . . . Jede Kante geh¨ort entweder zum Rand zweier Fl¨achen oder wird im Rand einer Fl¨ache doppelt gez¨ahlt; folglich ist 2e = 3 f3 + 4 f4 + 5 f5 + . . . .
(24.5)
Aus der Euler-Formel (24.1) folgt, dass v − e + f ≥ 2 oder 4v − 8 ≥ 4e − 4 f ist. Einsetzen von f und e aus (24.3) und (24.5) liefert: 4v − 8 ≥ (6 f 3 + 8 f 4 + 10 f5 + . . . ) − (4 f3 + 4 f4 + 4 f5 + . . . ) = 2 f3 + 4 f4 + 6 f5 + 8 f6 + . . . , und die rechte Seite dieser Gleichung ist nicht kleiner als die von (24.4). Damit ist der Beweis abgeschlossen. 2
24.4 Das Arm-Lemma und der Beweis von Lemma 24.2
391
24.4 Das Arm-Lemma und der Beweis von Lemma 24.2 Die folgende Aussage ist unter dem Namen Arm-Lemma von Cauchy bekannt.2 Lemma 24.3. Seien P1 . . . Pn und P1 . . . Pn zwei konvexe sph¨arische oder ebene Po | f¨ lygone. Nehmen wir an, dass |Pi Pi+1 | = |Pi Pi+1 ur i = 1, 2, . . . , n − 1 ist und P f¨ u r i = 1, . . . , n − 2 ist. Dann gilt das Gleichheitszei∠Pi Pi+1 Pi+2 ≤ ∠Pi Pi+1 i+2 chen in |P1 Pn | ≤ |P1 Pn | nur dann, wenn die einander entsprechenden Winkel alle gleich sind (siehe Abbildung 24.6).
Abb. 24.6 Das Arm-Lemma von Cauchy.
Man kann P1 . . . Pn als die Arme eines Roboters betrachten: Wenn sich die Arme o¨ ffnen, so vergr¨oßert sich der Abstand zwischen der Schulter“ und den Finger” ” spitzen“. Diese Tatsache ist, intuitiv betrachtet, ziemlich klar; es ist interessant, dass Cauchys Beweis einen Fehler enthielt, der etwa 100 Jahre unentdeckt blieb. Der unten angegebene Beweis stammt von I. Schoenberg. Beweis des Arm-Lemmas. Induktion u¨ ber n. Im Fall n = 3 ist das Resultat offensichtlich: Haben zwei Dreiecke zwei Paare kongruenter einander entsprechender Seiten, so ist die dritte Seite, die dem gr¨oßeren Winkel gegen¨uberliegt, gr¨oßer (siehe Abbildung 24.7).
Abb. 24.7 Die Seite, die dem gr¨oßeren Winkel gegen¨uberliegt, ist gr¨oßer. 2 Dieses Lemma wurde in anderen Begriffen von Legendre im Jahr 1794 aufgestellt und bewiesen. Legendre vermutete auch, dass konvexe Polyeder starr seien.
392
24 Die Starrheit der Polyeder
Sei n ≥ 4. Haben die beiden Polygone gleiche Winkel, etwa an den Ecken Pi und Pi , so kann man diese Ecken durch die Diagonalen Pi−1 Pi+1 und Pi−1 Pi+1 abschneiden. Da diese Diagonalen gleich sind, kommen wir auf dieselbe Aussage zur¨uck, wobei aber n um eins kleiner ist. Somit nehmen wir an, dass jeder Winkel des ersten Polygons kleiner als der entsprechende Winkel des zweiten Polygons ist. Wir wollen beginnen, die Winkel Pn−2 Pn−1 Pn zu vergr¨oßern, indem wir die Seite Pn−1 Pn um die Ecke Pn−1 drehen, wobei wir das Polygon konvex halten, bis eines von zwei Ereignissen eintritt: Ent P P oder wir erreichen die Situation, in weder wird ∠Pn−2 Pn−1 Pn gleich ∠Pn−2 n−1 n der die Ecken P1 , P2 und Pn auf einer Geraden liegen (siehe Abbildung 24.8). Wir erhalten ein neues Polygon P1 . . . Pn , und in beiden F¨allen hat sich die Seite P1 Pn vergr¨oßert – siehe erster Abschnitt des Beweises, angewandt auf das Dreieck P1 Pn−1 Pn .
Abb. 24.8 Beweis des Arm-Lemmas von Cauchy durch Induktion.
Im ersten Fall erhalten wir zwei n-Ecke, welche die Bedingungen des ArmLemmas insofern erf¨ullen, als dass sie ein Paar gleicher einander entsprechender Winkel haben. Mit diesem Fall haben wir uns bereits im zweiten Abschnitt des Beweises besch¨aftigt. Im zweiten Fall ignorieren wir die ersten Ecken in beiden Polygonen und wenden die Induktionsannahme auf die Polygone P2 . . . Pn und P2 . . . Pn an, um |P2 Pn | ≥ |P2 Pn | zu schlussfolgern. Dann ist |P1 Pn | ≥ |P2 Pn | − |P1 P2 | ≥ |P2 Pn | − |P1 P2 | = |P1 Pn | , wobei die erste Ungleichung die Dreiecksungleichung ist. Dies schließt den Beweis an. 2 Uns bleibt, Lemma 24.2 zu beweisen. Dies ist nicht schwer, wenn wir auf das Arm-Lemma zur¨uckgreifen k¨onnen. Beweis von Lemma 24.2. Unter der Voraussetzung, dass die Anzahl der Vorzeichenwechsel gerade ist, nehmen wir zun¨achst an, dass es zwei Vorzeichenwechsel gibt. Dann nummerieren wir die Ecken des Polygons P nacheinander, sodass die ersten k Ecken A1 , . . . , Ak alle positiv oder unmarkiert sind und die u¨ brigen n − k Ecken Ak+1 , . . . , An alle negativ oder unmarkiert sind. Seien B1 , . . . , Bn die entsprechenden Ecken von P2 .
24.4 Das Arm-Lemma und der Beweis von Lemma 24.2
393
Wir w¨ahlen Punkte C und D auf den Seiten Ak Ak+1 und An A1 , und seien E und F Punkte auf den Seiten Bk Bk+1 und Bn B1 , sodass |AkC| = |Bk E| und |An D| = |Bn F| ist (siehe Abbildung 24.9).
Abb. 24.9 Beweis von Lemma 24.2.
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
Wir wenden das Arm-Lemma auf die Polygone DA1 . . . AkC und FB1 . . . Bk E an, um zu schlussfolgern, dass |CD| > |FE| ist. Analog dazu liefert die Anwendung des Arm-Lemmas auf die Polygone CAk+1 . . . An D und EBk+1 . . . Bn F die Ungleichung |CD| < |FE|, dies ist ein Widerspruch. Gibt es schließlich gar keine Vorzeichenwechsel, so wollen wir annehmen, dass alle Vorzeichen positiv sind. Dann gilt nach dem Arm-Lemma |A1 An | > |B1 Bn |, was wiederum ein Widerspruch ist. 2
Augustin-Louis Cauchy 1789–1857
Leonard Euler 1707–1783
Isaac Jacob Schoenberg 1903–1990
394
24 Die Starrheit der Polyeder
¨ 24.5 Ubungen ¨ Ubung 24.1. Beweisen Sie, dass jedes konvexe Polygon entweder eine dreieckige Fl¨ache oder eine Ecke besitzt, die an drei Fl¨achen angrenzt, oder beides. ¨ Ubung 24.2. * Beweisen Sie das folgende kontinuierliche Analogon zu Lemma 24.2: Gegeben seien zwei ebene Eikurven. Seien ds und ds1 die Bogenl¨angenelemente an den Punkten mit parallelen und gleich orientierten a¨ ußeren Normalen. Dann hat der Quotient ds1 /ds mindestens vier Extrema. ¨ Ubung 24.3. * Seien P und P ebene konvexe n-Ecke mit n ≥ 4, deren Seitenl¨angen 1 , . . . , n und 1 , . . . , n sind. Nehmen wir an, dass die entsprechenden Seiten der Polygone parallel zueinander verlaufen. Betrachten wir die zyklische Folge i−1 i i+1 i . − − ai = i+1 i i−1 i Beweisen Sie, dass entweder ai = 0 f¨ur alle i gilt oder f¨ur mindestens vier Werte von i das Glied ai > 0 ist. ¨ Ubung 24.4. * Beweisen Sie ein kontinuierliches Analogon des Arm-Lemmas: Gegeben seien zwei glatte konvexe Bogenl¨angen γ1 (s) und γ2 (s) gleicher L¨angen, die nach der Bogenl¨ange parametrisiert sind. Erf¨ullt ihre Kr¨ummung die Ungleichung k1 (s) ≥ k2 (s) f¨ur alle s, so ist die Sehne unter γ2 nicht k¨urzer als die Sehne unter γ1 .
Vorlesung 25
Flexible Polyeder
¨ 25.1 Einfuhrung Diese Vorlesung h¨angt eng mit der vorherigen Vorlesung (Vorlesung 24) zusammen. Man kann die beiden Vorlesungen aber auch unabh¨angig voneinander lesen, insbesondere in beliebiger Reihenfolge. Wieder betrachten wir Polyeder aus starren (zum Beispiel metallischen) Fl¨achen, die jeweils entlang von Kanten mit gleicher ¨ L¨ange durch Scharniere miteinander verbunden sind, die eine Anderung der Winkel zwischen den Fl¨achen zulassen. Abgesehen von einigen klar spezifizierten F¨allen, werden Polyeder als vollst¨andig“ betrachtet, was bedeutet, dass jede Kante zu ge” nau zwei Fl¨achen geh¨ort. Unser Problem lautet: Kann man das Polyeder kr¨ummen, ohne seine Fl¨achen zu verformen (siehe Abbildung 25.1 auf der n¨achsten Seite)? Wenn Sie die vorherige Vorlesung bereits gelesen haben, ist Ihnen der folgende Satz vertraut. Satz 25.1 (Cauchy, 1813). Jedes konvexe Polyeder ist starr (kann nicht gekr¨ummt werden). Hier werden wir das folgende, recht unerwartete Resultat beweisen. Satz 25.2 (Connelly, 1978). Es existiert ein (nicht-konvexes) flexibles Polyeder. Anders als der Satz von Cauchy kann man den Satz von Connelly beweisen, indem man ein einziges Beispiel eines flexiblen Polyeders liefert. Wir werden ein D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 25,
395
396
25 Flexible Polyeder
Abb. 25.1 Gibt es flexible Polyeder?
solches Polyeder ziemlich explizit konstruieren, und wenn Sie geeignete Materialien zur Hand haben (feste Pappe und Klebeband), k¨onnen Sie ein Modell eines solchen Polyeders basteln und seine Flexibilit¨at mit ihren eigenen Fingern sp¨uren.
25.2 Bricards Oktaeder Man kann sich fragen, warum es nach dem Satz von Cauchy so lange gedauert hat (mehr als 150 Jahre), bis das Connelly-Beispiel gefunden wurde. Nat¨urlich k¨onnen solche Fragen nie mit Gewissheit beantwortet werden, wir k¨onnen aber versuchen, die Antwort zu erraten. Das Starrheitsproblem war unter den Geometern wohlbekannt und geachtet, aber fast alle von Ihnen glaubten und versuchten zu beweisen, ¨ dass die Antwort positiv ist. (Ubrigens waren die Anstrengungen dieser Geometer nicht vollkommen fruchtlos: Die Starrheit der Polyeder wurde auf Bedingungen begr¨undet, die wesentlich schw¨acher als Konvexit¨at sind). Connelly hatte dagegen den Mut zu zweifeln, und er stellte dann fest, dass nahezu die gesamte notwendige mathematische Arbeit in den 1890er Jahren von dem franz¨osischen Mathematiker und Architekten Raoul Bricard erledigt wurde. Bricard gelang es, ein flexibles Polyeder zu konstruieren, das aber nicht nur nicht-konvex war, sondern auch Selbst¨uberschneidungen besaß. Also suchte Connelly nach einem Werkzeug, mit dem er das Bricard-Polyeder frei von Selbst¨uberschneidungen machen konnte, und er fand solche Werkzeuge – wieder in Bricards Konstruktion. Bricards Polyeder ist insofern ein Oktaeder, als dass es aus acht Dreiecksfl¨achen besteht, die genau in derselben Weise miteinander verbunden sind wie die Fl¨achen in Platons regelm¨aßigem Oktaeder. Um das Bricard-Oktaeder zu konstruieren, brauchen wir zwei einfache Beobachtungen. Die Erste ist, dass eine Pyramide ohne Boden (das ist ein unvollst¨andiges“ Polyeder) genau dann flexibel ist, wenn die ” Anzahl seiner (dreieckigen) Fl¨achen gr¨oßer als 3 ist (siehe Abbildung 25.2 auf der 1 Vergegenw¨ artigen Sie sich, dass der (fehlende) Boden dieser Pyran¨achsten Seite). 1
Diese Beobachtung haben wir auch in Vorlesung 20 gemacht.
25.2 Bricards Oktaeder
starr
397
flexibel
Abb. 25.2 Starre und flexible Pyramiden.
mide nicht als flach vorausgesetzt wird (es wird bei keiner der Pyramiden aus Abbildung 25.2 davon ausgegangen, dass die Punkte A, B,C, D zu einer Ebene geh¨oren). Die zweite Beobachtung erfasst das folgende Lemma. Lemma 25.1. Sei ABCD ein nicht-ebenes r¨aumliches Viereck, sodass AB = CD und BC = AD ist. Seien E und F die Mittelpunkte der Diagonalen“ AC und BD. Dann ” ist EF ⊥ AC und EF ⊥ BD.
Abb. 25.3 Beweis von Lemma 25.1.
Beweis (siehe Abbildung 25.3). Zeichnen wir die Segmente AF und CF. Wegen ABD = CBD (die Seiten der beiden Dreiecke sind gleich) ist ∠ADB = ∠CBD. Folglich ist ADF = CBF (die beiden Dreiecke haben zwei Paare gleicher Seiten, die gleiche Winkel bilden). Somit ist AF = CF; folglich ist das Dreieck ACF gleichschenklig und seine Seitenhalbierende FE ist gleichzeitig seine H¨ohe. Also ist EF ⊥ AC, und in gleicher Weise k¨onnen wir feststellen, dass EF ⊥ BD ist. 2 Lemma 25.1 kann wie folgt umformuliert werden: Ein r¨aumliches Viereck mit gleich langen gegen¨uberliegenden Seiten ist symmetrisch bez¨uglich der Geraden, die die Mittelpunkte seiner Diagonalen verbindet. In dieser Form kann man das Lemma als eine r¨aumliche Version des wohlbekannten Satzes auffassen, der besagt, dass sich die Diagonalen eines Parallelogramms halbieren.
398
25 Flexible Polyeder
Abb. 25.4 Bricards Oktaeder.
Nun sind wir auf Bricards Konstruktion vorbereitet. Gehen wir von einem r¨aumlichen Viereck ABCD mit gleich langen gegen¨uberliegenden Seiten aus, also ist AB = CD und BC = AD. Lemma 25.1 auf der vorherigen Seite liefert uns f¨ur dieses Viereck eine Symmetrieachse; wir bezeichnen sie mit . Wir w¨ahlen zwei Punkte M und N, die sich voneinander und von den Punkten A, B,C, D unterscheiden und auch symmetrisch bez¨uglich sind. (Um sich die Konstruktion besser vorstellen zu k¨onnen, k¨onnen Sie die Punkte M und N hinreichend weit vom Viereck ABCD entfernt w¨ahlen.) Bricards Oktaeder ist die Vereinigung von acht Dreiecken: ABM, BCM,CDM, DAM, ABN, BCN,CDN, DAN (siehe Abbildung 25.4). Einige Fl¨achen schneiden einander: In Abbildung 25.4 ist EF die Schnittgerade der Fl¨achen ABN und CDM, die Fl¨achen ABN und BCM schneiden sich in BE, und die Fl¨achen CDM und ADN schneiden sich in FD. Satz 25.3 (Bricard, 1897). Das Bricard-Oktaeder ist flexibel. Beweis. Wir werden das Bricard-Oktaeder als Vereinigung zweier viereckiger Pyramiden betrachten: ABCDM und ABCDN. Nach der ersten Beobachtung von vorhin ist die (bodenlose) Pyramide ABCDM flexibel. Ihre Verformung erh¨alt die Relationen AB = CD und BC = AD; somit hat die Grundfl¨ache“ ABCD der Pyrami” de zu jedem Zeitpunkt der Verformung eine Symmetrielinie. Spiegeln wir die sich ver¨andernde Pyramide ABCDM an dieser Geraden, so erhalten wir eine Verformung der Pyramide ABCDN, und zusammen bilden diese beiden Verformungen eine Verformung des Bricard-Oktaeders. 2
25.3 Die Geometrie des Bricard-Oktaeders
399
25.3 Die Geometrie des Bricard-Oktaeders Von den geometrischen Beobachtungen, die wir in diesem Abschnitt anstellen werden, brauchen wir sp¨ater nur die Letzte. Dennoch verdienen die faszinierenden Eigenschaften des Bricard-Oktaeders eine detaillierte Betrachtung. Erstens ist das Bricard-Oktaeder axialsymmetrisch: Die Mittelpunkte der Dia” gonalen“ AC, BD und MN liegen auf einer Geraden, und das ganze Oktaeder ist bez¨uglich dieser Geraden symmetrisch. Dies liefert die einfachste Konstruktion des Bricard-Oktaeders: Wir w¨ahlen eine Gerade im Raum und drei Punktepaare, die bez¨uglich dieser Geraden symmetrisch sind (es d¨urfen keine vier Punkte in einer Ebene liegen), diese Paare bezeichnen wir mit A und C, B und D sowie M und N. Damit sind wir fertig. Da das Bricard-Oktaeder immer Selbst¨uberschneidungen hat, k¨onnen Sie von ihm nicht gut ein Modell anfertigen. Man kann aber ein Modell anfertigen, das sechs der acht Fl¨achen des Oktaeders enth¨alt. (Vergegenw¨artigen Sie sich, dass das Oktaeder aus Abbildung 25.4 auf der vorherigen Seite keine Selbst¨uberschneidungen mehr hat, wenn Sie die Fl¨achen ABN und CDN entfernen.) Zum Anfertigen des Modells k¨onnen Sie die Entfaltung aus 6 Dreiecken verwenden, wie sie in Abbildung 25.5 dargestellt ist.
Abb. 25.5 Eine Entfaltung des Bricard-Oktaeders mit zwei fehlenden Fl¨achen.
Sie m¨ussen aus einem d¨unnen und starren Pappkarton ein Polygon ABMCBAKD ausschneiden und es dann entlang der Segmente AM, MB, BC,CN und ND so falten, dass die beiden Segmente AD zusammenkommen (A auf A und D auf D); verbinden Sie beide mit Klebeband. Der ganze Streifen“ muss zwei Mal gedreht werden ” (doppelt so oft wie beim Basteln eines M¨obiusbands). Sie k¨onnen sich eine eigene Entfaltung anfertigen, wichtig ist aber, dass dabei folgende Relationen eingehalten werden: AB = CD,
BC = AD,
AM = CN,
AN = CM,
BM = DN,
BN = DM;
(∗)
400
25 Flexible Polyeder
insbesondere sind die beiden F¨unfecke ADMCB und CBNAD (mit ihren Zerlegungen in jeweils drei Dreiecke) identisch, die Orientierung ist aber entgegengesetzt. Die resultierende Figur ist von zwei Dreiecken, n¨amlich den Dreiecken NAB und MCD, begrenzt, die zusammenh¨angen (wie sie in Abbildung 25.4 auf Seite 398 zusammenh¨angen). Sie werden u¨ ber die Flexibilit¨at ihres Modells u¨ berrascht sein (w¨ahrend die Dreiecksfl¨achen starr bleiben!). Das Modell kann so verformt werden, dass es wie in Abbildung 25.6 links oder rechts aussieht.
Abb. 25.6 Wie ein flexibles Modell aussehen kann.
Es ist interessant, dass das Bricard-Oktaeder, um flexibel sein zu k¨onnen, symmetrisch sein muss. Wenn Sie die Dreiecke aus Abbildung 25.5 etwas verzerren, sodass die Gleichungen (∗) nicht mehr gelten (die beiden Segmente AD sollten weiter gleich sein), k¨onnen Sie ein Modell anfertigen, das auf den ersten Blick nicht vom alten Modell zu unterscheiden ist, es wird aber starr sein, und Sie werden den Unterschied mit Ihren Fingern sp¨uren k¨onnen. (Wie stark die Gr¨oßen ver¨andert werden m¨ussen, h¨angt von der Qualit¨at Ihres Ausgangsmaterials ab, n¨amlich dem Pappkarton und dem Klebeband.) Eine andere M¨oglichkeit, ein unvollst¨andiges Bricard-Oktaeder ohne Selbst¨uberschneidungen anzufertigen, besteht darin, zwei Fl¨achen mit einer gemeinsamen Kante zu entfernen, etwa die Fl¨achen AMB und ANB. Sie k¨onnen die Entfaltung in 6 Dreiecke aus Abbildung 25.7, links zerschneiden und dann die beiden Segmente AD u¨ ber der Ebene CMDN und die beiden Segmente BC unter dieser Ebene
Abb. 25.7 Ein anderes Modell f¨ur ein Bricard-Oktaeder.
25.4 Connellys Konstruktion
401
verbinden. (In Wirklichkeit ist diese Figur zu symmetrisch. Was wir brauchen, sind lediglich die Gleichungen (∗), es ist aber bequemer, mit einem a¨ ußerst symmetrischen Oktaeder zu arbeiten.) Sie erhalten eine flexible, polyedrische Fl¨ache mit einer viereckigen Kante (AMBN) wie in Abbildung 25.7, rechts dargestellt. Vergegenw¨artigen Sie sich, dass sich der Abstand AB w¨ahrend des Verformungsprozesses nicht a¨ ndert.
Abb. 25.8 Ein Ersatz f¨ur eine Fl¨ache.
In das Modell k¨onnen Sie aufgrund der Selbst¨uberschneidungen weder die fehlende Fl¨ache AMB noch die Fl¨ache ANB einsetzen. Dennoch k¨onnen Sie Ihr Polyeder vervollst¨andigen, wenn auch im Unendlichen. Und zwar ersetzen Sie die Fl¨ache AMB durch ihr Komplement in der von AB begrenzten Halbebene (siehe Abbildung 25.8) und verfahren Sie mit der Fl¨ache ANB ebenso.
Abb. 25.9 Bricard-Oktaeder als ein offenes Buch.
Sie erhalten ein vollkommen flexibles Polyeder (das an ein Buch erinnert) mit sechs endlichen Fl¨achen und zwei unendlichen Fl¨achen. Es ist in Abbildung 25.9, links dargestellt, und seine Seitenansicht, wesentlich f¨ur den n¨achsten Abschnitt, ist in Abbildung 25.9, rechts dargestellt. (Auch die Bedeutung des Pfeils in dieser Abbildung wird im n¨achsten Abschnitt gekl¨art).
25.4 Connellys Konstruktion Wir gehen von einem sehr entarteten Bricard-Oktaeder aus. Wir betrachten ein (ebenes) Rechteck ABCD (AB < BC) und w¨ahlen einen Punkt im Innern dieses
402
25 Flexible Polyeder
Rechtecks so, dass MA = MB < MC = MD ist. Wir zerlegen das Rechteck in vier Dreiecke: AMB, BMC, CMD und DMA. Wir betrachten eine weitere Kopie dieses Rechtecks und w¨ahlen einen Punkt N, der bez¨uglich des Mittelpunkts des Rechtecks symmetrisch zu M ist. Dann zerlegen wir das zweite Rechteck in die Dreiecke ANB, BNC,CND, DNA. Danach setzen wir, wie in Abbildung 25.10 dargestellt, die erste Kopie des Rechtecks in die zweite ein.
Abb. 25.10 Ausgangspunkt der Konstruktion: Ein entartetes Bricard-Oktaeder.
Obwohl sie alle in einer Ebene liegen, bilden die acht Dreiecke AMB, . . . , DNA ein Bricard-Oktaeder, das in der Klasse der Polyeder mit Selbst¨uberschneidungen flexibel ist. (Der rechte Teil von Abbildung 25.6 auf Seite 400 kann als ein korrektes Bild dieser Verformung dienen.) Wir k¨onnen die Selbst¨uberschneidungen weniger dramatisch gestalten, wenn wir Pyramiden auf einigen Fl¨achen dieses Oktaeders errichten. Es sei erw¨ahnt, dass wir die Flexibilit¨at eines Polyeders nicht zerst¨oren, wenn wir einige Fl¨achen durch Pyramiden mit dieser Fl¨ache als Grundfl¨ache ersetzen (siehe Abbildung 25.11); die Pyramide bleibt bei der Verformung starr. Wir f¨ugen an die Fl¨achen des flachen Oktaeders aus Abbildung 25.10 Pyramiden an (tats¨achlich brauchen wir nur sechs, weil die kleinen Dreiecke AMB und CND keine anderen Fl¨achen ber¨uhren). Wir erhalten ein flexibles Polyeder mit zwanzig Fl¨achen und einer sehr leichten Selbst¨uberschneidung: Es gibt zwei Paare von Kanten, die einander schneiden. (Die beiden H¨alften dieses Polyeders sind in Abbil-
Abb. 25.11 Anheften von Pyramiden an Fl¨achen.
25.4 Connellys Konstruktion
403
Abb. 25.12 Zwei H¨alften eines fast fertigen Connelly-Polyeders.
dung 25.12 dargestellt und die Schnittpunkte der Kanten sind in dieser Abbildung mit E und F markiert). Die Raumwinkel an den Schnittpunkten haben keinen anderen gemeinsamen Punkt; sie ber¨uhren einander nur wie in Abbildung 25.13, links dargestellt. W¨ahrend des Verformungsprozesses k¨onnen sich diese Paare einander ber¨uhrender Raumwinkel verhalten wie in Abbildung 25.13, rechts: Entweder trennen sie sich oder sie durchdringen einander. Tats¨achlich verh¨alt sich von den beiden Raumwinkelpaaren eines in der einen Weise und das andere in der anderen Weise (zwar spielt dieses Resultat f¨ur uns keine Rolle, man kann es aber leicht durch eine Rechnung oder sogar durch ein
oder
Abb. 25.13 Verformung sich ber¨uhrender Raumwinkel.
404
25 Flexible Polyeder
Abb. 25.14 Eine letzte Modifikation eines Raumwinkels.
Experiment best¨atigen). Trotzdem kann dieses Polyeder immer noch nicht ohne Selbst¨uberschneidungen verformt werden. Was k¨onnen wir tun? Uns geht es darum, eine kleine Umgebung des Ber¨uhrungspunktes an (mindestens) einem der beiden sich ber¨uhrenden Raumwinkel zu entfernen (siehe Abbildung 25.14, links). Dies muss in einer polyedrischen“ Weise geschehen. Wir wissen aber, wie wir vorge” hen m¨ussen: Der rechte Teil von Abbildung 25.9 auf Seite 401 zeigt es! Der Pfeil zeigt auf eine kleine Vertiefung, und alles, was wir tun m¨ussen, ist, diese Vertiefung bei und um E anzuordnen (siehe auch Abbildung 25.14, rechts). Dies schließt Connellys Konstruktion und den Beweis von Satz 25.2 auf Seite 395 ab. Es sei erw¨ahnt, dass die eben gezeigte Konstruktion f¨ur den Beweis von Satz 25.2 auf Seite 395 zwar sehr gut geeignet ist, zur Modellierung und zur Demonstration aber ungeeignet ist. Das konstruierte Polyeder besteht aus 26 Fl¨achen, von denen 24 Dreiecke und zwei nicht-konvexe Sechsecke sind. Selbst wenn Sie es schaffen, ein Modell dieses Polyeders anzufertigen, wird es (im Vergleich zu seiner Gr¨oße) nur eine sehr kleine Verformung zulassen, und Sie werden nie herausfinden, ob diese Verformbarkeit auf die mathematischen Eigenschaften des Polyeders oder eher auf M¨angel des verwendeten Materials (der Pappe oder des Klebebands) zur¨uckzuf¨uhren ist. Es gibt allerdings Modifikationen von Connellys Konstruktion, die ein recht zufriedenstellendes Modell ergeben. Diese Modifikationen werden wir im n¨achsten Abschnitt diskutieren.
25.5 Bessere Konstruktionen Nach der atemberaubenden Entdeckung Connellys versuchten viele Geometer, seine Konstruktion zu verbessern. Eine Verbesserungsm¨oglichkeit liegt auf der Hand: Der Einsatz aus Abbildung 25.14 kann gr¨oßer gemacht werden, sodass er die beiden Fl¨achen, die den Raumwinkel bilden, vollst¨andig einnimmt. Das reduziert die Anzahl der Fl¨achen auf vierundzwanzig, und alle davon sind dreieckig. Dann kann man feststellen, dass nicht alle Pyramiden wirklich gebraucht werden, und das f¨uhrt schließlich auf ein Modell mit nur achtzehn Fl¨achen, von denen alle dreieckig sind. Es war ein junger deutscher Mathematiker, Klaus Steffen, der vielleicht die bestm¨ogliche Konstruktion fand. Sein Polyeder besteht aus vierzehn Dreiecksfl¨achen und hat nur neun Ecken. Sie k¨onnen aus der Entfaltung aus Abbildung 25.15 auf der n¨achsten Seite ein Modell fertigen.
25.5 Bessere Konstruktionen
405
Abb. 25.15 Schneiden Sie diese Figur aus Pappe aus und fertigen Sie ein Modell von Steffens Polyeder an.
Eine Zeichnung dieses Polyeders sieht man in Abbildung 25.16 (um sie leichter verst¨andlich zu machen, weisen wir darauf hin, dass die Ecke G in einer Senke liegt, die von der Kante BDKH umgeben ist).2 Zum Schluss stellen wir fest, dass Steffens Polyeder, wie aus Abbildung 25.15 ersichtlich, zwei identische 6-fl¨achige Teile des Bricard-Oktaeders enth¨alt, die de-
Abb. 25.16 Das Steffens-Polyeder. 2
Eine Animation eines Steffen-Polyeders, die seine Verformung zeigt, ist im Internet verf¨ugbar, etwa unter www.mathematik.com/Steffen/.
406
25 Flexible Polyeder
Abb. 25.17 Das auseinandergenommene Steffens-Polyeder.
nen aus Abbildung 25.8 (den beiden Fl¨ugeln aus Abbildung 25.15 auf der vorherigen Seite) a¨ hneln, sowie zwei weitere Dreiecksfl¨achen (der Mittelteil aus Abbildung 25.15 auf der vorherigen Seite), die an beiden oktaedrischen Teilen angebracht sind. Diese drei Teile des Steffen-Polyeders sind in Abbildung 25.17 einzeln dargestellt. Diese Anmerkungen machen die Flexibilit¨at von Steffens Polyeder weniger u¨ berraschend. Wir wissen bereits, dass die beiden oktaedrischen St¨ucke verformbar sind, und so k¨onnen wir sie nat¨urlich auch verformen, wenn sie aneinander angeheftet sind; somit ist das Steffen-Polyeder ohne zwei Fl¨achen (ABC und ABD) verformbar. Es ist nicht schwer, sich davon zu u¨ berzeugen, dass diese Verformung den Abstand CD nicht ber¨uhrt, der das gesamte Polyeder verformbar macht (und der Dieterwinkel, den diese beiden Fl¨achen bilden, bleibt w¨ahrend des gesamten Verformungsprozesses starr).
25.6 Die Blasebalg-Vermutung
407
25.6 Die Blasebalg-Vermutung Es gibt ein weiteres nat¨urliches Problem: Variiert das Volumen im Innern eines flexiblen Polyeders w¨ahrend des Verformungsprozesses? Es gibt Hinweise darauf, dass dem nicht so ist. Es ist nicht schwer zu beweisen, dass die Modifikation eines Raumwinkels, wie in Abbildung 25.14, rechts dargestellt, das Volumen des Polyeders nicht ber¨uhrt.3 Daraus l¨asst sich leicht schließen, dass das Volumen im Innern des Connelly-Polyeders gleich der Summe der Volumina von sechs Pyramiden ist, die im ersten Schritt der Konstruktion angeheftet wurden, und w¨ahrend des Verformungsprozesses nicht variiert. Genauso ist das Volumen des Steffen-Polyeders (siehe Abbildung 25.16 auf Seite 405) gleich dem Volumen des Tetraeders ABCD und ebenfalls konstant. Es k¨onnte aber trotzdem m¨oglich sein, ein flexibles Polyeder mit ver¨anderlichem Volumen zu konstruieren. Allerdings bewies I. Sabitov im Jahr 1995, dass eine solche Konstruktion unm¨oglich ist; d. h. Sabitov bewies eine Behauptung, die Blasebalg-Vermutung“ getauft wurde. Tats¨achlich besagt Sabitovs ” Satz: Ist eine Menge (starrer) Fl¨achen eines Polyeders gegeben, kann das Volumen des Polyeders nur abz¨ahlbar viele Werte annehmen [66]. Dies schließt nat¨urlich jeg¨ liche Anderung des Volumens aus. Zum Abschluss wollen wir eine etwas paradoxe Konstruktion erw¨ahnen. Wir gehen von einem Tetraeder aus und verformen es, wie in Abbildung 25.18 dargestellt. Und zwar unterteilt man jede Kante des Tetraeders in zwei Segmente und jede Fl¨ache in zehn Dreiecke, und dann dr¨uckt man die neuen Ecken an den Kanten nach innen. Das ist eine isometrische Verformung des urspr¨unglichen Tetraeders.
Abb. 25.18 Eine isometrische, volumenerh¨ohende Verformung eines Tetraeders.
Die Mittelteile der Kanten werden nach innen gedr¨uckt, sodass man erwarten w¨urde, dass sich das Volumen verringert. Jedoch bewegen sich die Mittelteile der Fl¨achen nach außen, und das Gesamtvolumen erh¨oht sich in Wirklichkeit um mehr 3 Mit einer richtigen Definition des Volumens im Innern“ eines Polyeders mit Selbst¨ uberschnei” dungen (die Details u¨ berlassen wir Ihnen als Leser) kann man beweisen, dass das Volumen im Innern jedes Bricard-Oktaeders null ist.
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25 Flexible Polyeder
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
¨ als ein Drittel! Ahnliche, volumenerh¨ohende Verformungen sind bei allen platonischen K¨orpern [7, 12] und sogar bei allen polyedrischen Fl¨achen [58] m¨oglich. Auf den ersten Blick scheint diese Konstruktion der Blasebalg-Vermutung zu widersprechen. Dies ist aber nicht der Fall: Die in Abbildung 25.18 auf der vorherigen Seite dargestellte Verformung eines Tetraeders ist keine stetige isometrische Verformung (die Gr¨oßen der kleinen Dreiecke, die die Fl¨achen des urspr¨unglichen Tetraeders unterteilen, a¨ ndern sich w¨ahrend des Prozesses).
Robert Connelly geboren 1942
Klaus Steffen geboren 1945
¨ 25.7 Ubungen ¨ Ubung 25.1. Sei ABCD ein Viereck ohne Selbst¨uberschneidungen in der Ebene. Wir d¨urfen es so verformen, dass die Seitenl¨angen konstant bleiben, die Winkel d¨urfen sich aber a¨ ndern. (a) Beweisen Sie, dass man das Viereck ABCD immer zu einem Dreieck verformen kann. (b) Beweisen Sie, dass man das Viereck ABCD immer zu einem Trapezoid verformen kann. (c) Ist es immer m¨oglich, ein Viereck ABCD zu einem Trapezoid zu verformen, wobei AB eine der parallelen Seiten ist? ¨ ¨ Ubung 25.2. Sei ABCD ein Trapezoid. Wir wollen es wie in Ubung 25.1 so verformen, dass es w¨ahrend des Verformungsprozesses ein Trapezoid bleibt. Beweisen Sie, dass dies genau dann m¨oglich ist, wenn das Trapezoid ein Parallelogramm ist. ¨ Ubung 25.3. Sei A1 A2 . . . An ein n-Eck in der Ebene. Eine zul¨assige Verformung dieses n-Ecks besteht aus einer stetigen Bewegung von Punkten A1 , A2 , . . . , An , die die Abst¨ande |A1 A2 |, . . . , |An−1 An |, |An A1 | nicht ber¨uhrt.
¨ 25.7 Ubungen
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(a) Sei n = 4. Finden Sie im Hinblick auf die vier Zahlen |A1 A2 |, |A2 A3 |, |A3 A4 |, |A4 A1 | eine hinreichende und notwendige Bedingung f¨ur die Existenz einer zurl¨assigen Verformung, die das Viereck A1 A2 A3 A4 mit seinem Spiegelbild A1 A2 A3 A4 verbindet (Letzteres bedeutet, dass ein Gerade existiert, sodass Ai f¨ur alle i symmetrisch zu Ai ist). Hinweis: Siehe Kommentar unten. (b) Finden Sie eine entsprechende Verformung f¨ur den Fall n = 5 mit den Zahlen |A1 A2 |, . . . , |A4 A5 |, |A5 A1 |. Hinweis: Siehe Kommentar unten. Kommentar: Von Kapovich und Millson [43] stammt ein allgemeines Resultat, demzufolge f¨ur jedes n-Eck A1 A2 . . . An die folgenden Aussagen a¨ quivalent sind. (1) F¨ur jedes n-Eck A1 A2 . . . An mit |A1 A2 | = |A1 A2 |, . . . , |An−1 An | = |An−1 An |, |An A1 | = |An A1 | existiert eine zul¨assige Verformung des n-Ecks A1 A2 . . . An in A1 A2 . . . An . (2) Seien a1 , a2 , . . . , an die Zahlen |A1 A2 |, . . . , |An−1 An |, |An A1 | in nicht-wachsender Reihenfolge, also a1 ≥ a2 ≥ · · · ≥ an . Dann ist a2 + a3 ≤ a1 + a4 + · · · + an . ¨ Ubung 25.4. Sei ABCD ein Viereck ohne Selbst¨uberschneidungen in der Ebene, und sei M ein Punkt, der nicht in dieser Ebene liegt. Die Pyramide MABCD wird flexibel, wenn man die Grundfl¨ache ABCD entfernt (siehe Abschnitt 25.2). Beweisen Sie, dass w¨ahrend des Verformungsprozesses die Punkte A, B,C, D nicht koplanar bleiben k¨onnen. ¨ Ubung 25.5. Ein Polyeder, das auch Selbst¨uberschneidungen haben kann, heißt zweiseitig, wenn man die beiden Seiten jeder Fl¨ache so schwarz und weiß f¨arben kann, dass die Farben an einer Kante u¨ bereinstimmen. Anderenfalls nennt man das Polyeder einseitig. (a) Beweisen Sie, dass ein Polyeder ohne Selbst¨uberschneidungen zweiseitig ist.
Abb. 25.19 Ein einseitiges Polyeder aus einem Oktaeder.
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25 Flexible Polyeder
(b) Betrachten Sie ein regelm¨aßiges (platonsches) Polyeder, wie in Abbildung 25.19 auf der vorherigen Seite dargestellt. Entfernen Sie die Dreiecksfl¨achen AMB, BNC, CMD, DNA und f¨ugen Sie die quadratischen Fl¨achen ABCD, AMCN und BMDN ein. Beweisen Sie, dass diese Konstruktion ein vollst¨andiges (jede Kante geh¨ort genau zu zwei Fl¨achen) einseitiges Polyeder erzeugt. (c) Beweisen Sie, dass das Bricard-Oktaeder zweiseitig ist. Beweisen Sie auch, dass die Spiegelung an der Symmetrieachse weiße in schwarze und schwarze in weiße Fl¨achen u¨ berf¨uhrt. ¨ Ubung 25.6. Sei P ein vollst¨andiges zweiseitiges Polyeder. W¨ahlen Sie eine solche ¨ Schwarz-Weiß-F¨arbung der Fl¨achen wie in Ubung 25.5, und w¨ahlen Sie eine Ebene Π , die nicht senkrecht auf einer Fl¨ache von P steht und P nicht kreuzt. Zu einer Fl¨ache F definieren wir ihr darunterliegendes Volumen als das Volumen des Prismas zwischen F und ihrer orthogonalen Projektion auf Π (siehe Abbildung 25.20), das mit −1 multipliziert wird, wenn die obere Fl¨ache des Prismas weiß ist. Wir definieren das vorzeichenbehaftete Volumen von P als die Summe der darunterliegenden Volumina aller Fl¨achen.
Abb. 25.20 Vorzeichenbehaftetes Volumen.
(a) Beweisen Sie, dass das vorzeichenbehaftete Volumen nicht von Π abh¨angt. (b) Beweisen Sie folgende Aussage: Hat P keine Selbst¨uberschneidungen und ist ¨ sein Außeres weiß gef¨arbt, so ist das vorzeichenbehaftete Volumen das gew¨ohnliche Volumen. (c) Beweisen Sie, dass das (vorzeichenbehaftete) Volumen des Bricard-Oktaeders null ist. ¨ Hinweis: Verwenden Sie die Symmetrieeigenschaft aus Ubung 25.5(c). Insbesondere zeigt das, dass die Blasebalg-Vermutung f¨ur das Bricard-Oktaeder gilt.
¨ 25.7 Ubungen
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(d) Beweisen Sie, dass das vorzeichenbehaftete Volumen des Steffen-Polyeders (siehe Abschnitt 25.5) gleich dem Volumen des Tetraeders ABCD ist. Leiten Sie die Blasebalg-Vermutung f¨ur dieses Polyeder ab. ¨ Ubung 25.7. (a) Betrachten Sie eine glatte Schar konvexer Polyeder Pt , wobei t ein Parameter ist, und bezeichnen Sie mit l j (t) seine Kantenl¨angen und mit ϕ j (t) die zugeh¨origen Raumwinkel. Beweisen Sie
∑ l j (t) j
d ϕ j (t) = 0. dt
(b) Die totale mittlere Kr¨ummung eines Polyeders ist als ∑ j l j ϕ j definiert. Beweisen Sie, dass die totale mittlere Kr¨ummung eines flexiblen Polyeders w¨ahrend des Verformungsprozesses gleich bleibt.
Geometrie und Topologie
Teil VII ZWEI ¨ FFENDE VERBLU TOPOLOGISCHE KONSTRUKTIONEN
Vorlesung 26
Die geh¨ornte Sph¨are von Alexander
Zwei Eigenschaften der geh¨ornten Sph¨are“ qualifizieren sie daf¨ur, in diesem ” Buch beschrieben zu werden. Erstens liefert sie eine L¨osung eines bedeutenden und schweren Problems. Zweitens ist sie wirklich sch¨on.
26.1 S¨atze von C. Jordan und A. Schoenflies Eine Kurve in der Ebene ist eine Spur eines sich bewegenden Punktes. Stimmt der Ausgangspunkt der Bewegung mit dem Endpunkt u¨ berein, so nennt man die Kurve geschlossen, und fallen die Orte des sich bewegenden Punktes zu zwei verschiedenen Zeiten nicht zusammen, so nennt man die Kurve einfach oder nicht selbst¨uberschneidend. Der Satz von Jordan besagt, dass eine einfache, geschlossene ¨ Kurve C die Ebene in zwei Gebiete, n¨amlich das Innere“ und das Außere“, inso” ” fern unterteilt, als dass jeweils zwei Punkte aus demselben Gebiet durch einen Polygonzug verbunden werden k¨onnen, der von der Kurve C disjunkt ist, w¨ahrend ein Polygonzug, der Punkte aus verschiedenen Gebieten verbindet, die Kurve schneidet (siehe Abbildung 26.1 auf der n¨achsten Seite). Dieser Satz ist in der Analysis von Bedeutung, etwa bei der Integralrechnung, wo wir Gebiete betrachten m¨ussen, die von einer gegebenen, einfachen, geschlossenen Kurve begrenzt sind; er l¨asst aber eine Frage unbeantwortet, die nicht zur Analysis, sondern zur Topologie geh¨ort: Wie sehen die Teile aus, in die die Ebene durch eine einfache geschlossene Kurve unterteilt wird? D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 26,
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416
26 Die geh¨ornte Sph¨are von Alexander
Abb. 26.1 Eine geschlossene Kurve unterteilt die Ebene in zwei Gebiete.
In der Mathematik wird die lockere Formulierung aussehen“ u¨ blicherweise ” durch das strengere Wort hom¨oomorph“ ersetzt: Zwei Gebiete sind hom¨oomorph, ” wenn eine bijektive Abbildung von einem Gebiet auf das andere existiert, sodass sowohl diese Abbildung als auch ihre Inverse stetig sind. Zum Beispiel sind die Innengebiete eines Kreises und eines Quadrats hom¨oomorph (obwohl man durchaus sagen kann, dass sie unterschiedlich aussehen), w¨ahrend ein Kreisring (das Gebiet zwischen zwei konzentrischen Kreisen) zu keinem von beiden hom¨oomorph ist.
¨ Abb. 26.2 Inneres und Außeres.
Im Jahr 1908 bewies A. Schoenflies, dass unabh¨angig davon, welche einfa¨ che geschlossene Kurve man in der Ebene betrachtet, ihr Inneres und Außeres ¨ hom¨oomorph ist zum Inneren und Außeren eines gew¨ohnlichen Kreises: Das ist eine offene Kreisscheibe und eine Ebene mit einem runden Loch (siehe Abbildung 26.2). Analog dazu kann man beweisen, dass ein Gebiet zwischen zwei disjunkten einfachen geschlossenen Kurven, von denen eine im Innern der anderen enthalten ist, hom¨oomorph zu einer Kreisscheibe ist.
26.2 R¨aumliche Verallgemeinerungen Man k¨onnte erwarten, dass es in der r¨aumlichen Geometrie S¨atze geben sollte, die denen von Jordan und Schoenflies a¨ hneln – man muss nur die richtigen Aussagen finden. Geschlossene Kurven m¨ussen nat¨urlich durch geschlossene Fl¨achen ersetzt
26.3 Sie ist sehr sch¨on
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Abb. 26.3 Verschiedene Arten von Fl¨achen.
werden. Hier treffen wir auf unsere erste Schwierigkeit: W¨ahrend geschlossene Kurven alle gleich aussehen (hom¨oomorph sind), k¨onnen geschlossene Fl¨achen wesentlich verschieden sein: Es gibt Sph¨aren, Tori, Sph¨aren mit Henkeln, usw. (siehe Abbildung 26.3). Wir werden diese Schwierigkeit gewaltsam aufl¨osen: Wir werden diese ganze Vielfalt einfach ignorieren, indem wir unsere Aufmerksamkeit auf Fl¨achen beschr¨anken, die aus einer stetigen Verformung der gew¨ohnlichen Sph¨are ohne Selbst¨uberschneidungen hervorgegangen sind. F¨ur solche Fl¨achen k¨onnen wir hoffen, Resultate aufstellen zu k¨onnen, die denen der S¨atze von Jordan und Schoenflies a¨ hneln. Was den Satz von Jordan betrifft, so stellt sich heraus, dass sein r¨aumliches Analogon gilt: Die Fl¨ache unterteilt den Raum in zwei Teile, n¨amlich ein Inneres und ¨ ein Außeres. Und die Aussage des Satzes von Jordan in der Ebene u¨ ber diese beiden Teile gilt im r¨aumlichen Fall unver¨andert. Dasselbe trifft auf die Sph¨are mit Henkeln zu, und es gibt nat¨urliche Verallgemeinerungen in beliebigen Dimensionen. Wie sieht es aber mit dem Satz von Schoenflies aus? Sein r¨aumliches Gegenst¨uck m¨usste besagen, dass die inneren und a¨ ußeren Gebiete hom¨oomorph zu denen einer gew¨ohnlichen Sph¨are sind, das heißt zu einer offenen Kugel und dem Komplement zu einer geschlossenen Kugel. Es war der amerikanische Topologe James Alexander, damals noch sehr jung, der im Jahr 1924 bewies, dass diese Vermutung, wie plausibel sie auch erscheinen mochte, tats¨achlich falsch war. Alexanders Arbeit war sehr u¨ berzeugend: Er pr¨asentierte eine explizite Konstruktion einer verformten Sph¨are im Raum, die den Raum in un¨ubliche Teile zerlegt. Die Details dieser Konstruktion werden unten beschrieben.
26.3 Sie ist sehr sch¨on Sie ist auch sehr einfach. Die Hauptzutat der Konstruktion ist in Abbildung 26.4 auf der n¨achsten Seite dargestellt: Wir nehmen zwei kleine disjunkte Kreisscheiben im Innern einer gr¨oßeren ebenen Kreisscheibe und ziehen aus ihnen zwei Finger“ ” derart heraus, dass sich ihre Enden zwar ann¨ahern, aber nicht ber¨uhren.
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26 Die geh¨ornte Sph¨are von Alexander
Abb. 26.4 Herausziehen von Fingern.
Abb. 26.5 Das Schloss.
Abb. 26.6 Erster Schritt: Zwei Finger werden aus der Sph¨are gezogen.
Die Enden selbst bleiben ebene Kreisscheiben. Wir werden dieses Herausziehen von Fingern in der Regel aus zwei parallelen Scheiben gleichzeitig vornehmen, und die vier Finger werden ein Schloss“ bilden, wie in Abbildung 26.5 dargestellt. ”
26.4 Sie ist eine echte Sph¨are
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Nun k¨onnen wir die gesamte Konstruktion beschreiben. Wir nehmen eine runde Sph¨are. Dann ziehen wir aus zwei Kreisscheiben dieser Sph¨are zwei Finger, die sich wie in Abbildung 26.4 auf der vorherigen Seite fast ber¨uhren (siehe Abbildung 26.6 auf der vorherigen Seite). Die Enden der Finger sind zwei parallele ebene Kreisscheiben, die nah beieinander liegen; aus diesen beiden Kreisscheiben ziehen wir vier Finger, zwei aus jeder Scheibe, und verhaken sie wie in Abbildung 26.5 auf der vorherigen Seite (siehe Abbildung 26.7).
Abb. 26.7 Zweiter Schritt: Ein Schloss wird zwischen den Fingern eingef¨ugt.
Nun haben wir zwei Paare noch kleinerer und noch enger beieinander liegender Kreisscheiben. Wir setzen kleine Kopien von Abbildung 26.5 auf der vorherigen Seite zwischen die Kreisscheiben jedes Paares, und so machen wir unendlich oft weiter. Was wir nach diesem und so weiter“ erhalten, ist ein Objekt, das Alexan” ” ders geh¨ornte Sph¨are“ heißt. Es ist schwer m¨oglich, eine befriedigende Zeichnung dieser Sph¨are anzufertigen (weil die beteiligten Finger immer kleiner werden); dennoch liefert Abbildung 26.7 eine vern¨unftige visuelle N¨aherung.
26.4 Sie ist eine echte Sph¨are Auf den ersten Blick wirft diese Aussage einige Zweifel auf. Alexanders Sph¨are sieht aus wie das Gewicht eines Gewichthebers, aus dessen Henkel ein Spalt ausgeschnitten ist und in den eine komplizierte Kombination von Drahtst¨ucken verschiedener Gr¨oße eingesetzt ist. Stimmt es wirklich, dass sich die Enden der Henkelst¨ucke nicht treffen? Es scheint, als k¨onnten sie sich unendlich nah kommen und im Limes verschmelzen, weil wir in jedem Konstruktionsschritt einige Teile der Fl¨achen zusammenziehen.
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26 Die geh¨ornte Sph¨are von Alexander
Aber nein, diese Gefahr ist rein imagin¨ar. Wir k¨onnen die vorherige Konstruktion so ausf¨uhren, dass f¨ur zwei beliebige Punkte der Sph¨are der Abstand zwischen ihren Endpositionen nicht kleiner als, sagen wir, 1% ihres urspr¨unglichen Abstands ist. (Wir sagen sagen wir“, weil alle Gr¨oßen – die L¨angen der Finger, die Breite des ” Spalts usw. – in den Abbildungen 26.4 und 26.5 auf Seite 418 nicht spezifiziert sind und wir sie nach eigenem Belieben w¨ahlen k¨onnen.) Untersuchen wir unsere Konstruktionen Schritt f¨ur Schritt. Am ersten Herausziehen der Finger sind zwei Kreisscheiben auf einer runden Sph¨are beteiligt. Der u¨ brige Teil der Sph¨are bleibt w¨ahrend der gesamten Konstruktion unber¨uhrt. Am zweiten Schritt sind vier kleinere Kreisscheiben beteiligt, jeweils zwei innerhalb der beiden vorherigen Kreisscheiben (siehe Abbildung 26.8). Der Teil der Sph¨are außerhalb dieser vier Kreisscheiben bleibt von allen Schritten nach dem ersten Konstruktionsschritt unber¨uhrt. Analog dazu gibt es acht Kreisscheiben, die am dritten Schritt beteiligt sind (siehe wiederum Abbildung 26.8), sechszehn Kreisscheiben, die am vierten Schritt beteiligt sind (nicht in Abbildung 26.8 dargestellt), usw. Wir werden diese Kreisscheiben als Kreisscheiben der Gr¨oßen 1, 2, 3, 4, . . . bezeichnen; somit gibt es 2n Kreisscheiben der Gr¨oße n, und jede Kreisscheibe der Gr¨oße n enth¨alt genau zwei Kreisscheiben der Gr¨oße n + 1. Punkte der Sph¨are, die nicht in einer der Kreisscheiben der Gr¨oße n enthalten sind, bleiben von allen Schritten ab dem n-ten Schritt unserer Konstruktion unber¨uhrt.
Abb. 26.8 Die an der Konstruktion beteiligten Kreisscheiben.
Untersuchen wir nun das Verhalten des Abstands zwischen zwei Punkten. Wir betrachten zwei verschiedene Punkte auf der Sph¨are, nennen wir die Punkte A und B. Geh¨ort weder A noch B zu einer der beiden Kreisscheiben der Gr¨oße 1, so bleiben diese beiden Punkte unver¨andert, und dasselbe gilt f¨ur den Abstand zwischen ihnen. Ist einer der beiden Punkte in einer der Kreisscheiben der Gr¨oße 1 enthalten und der andere nicht, so a¨ ndert sich der Abstand zwischen ihnen nicht signifikant. Selbst wenn er sich verringert, so k¨onnen wir doch davon ausgehen, dass er sich nicht mehr als drittelt. Geh¨oren A und B zu verschiedenen Kreisscheiben der Gr¨oße 1, so kommen sich die beiden Punkte nach dem ersten Schritt signifikant n¨aher, aber wir k¨onnen annehmen, dass sich der Abstand zwischen ihnen nicht mehr als zehntelt. Geh¨oren die beiden Punkte zus¨atzlich zu Kreisscheiben der Gr¨oße 2, so kommen
26.4 Sie ist eine echte Sph¨are
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Abb. 26.9 Die Punkte A und B erreichen einander nicht.
sie sich im n¨achsten Schritt noch n¨aher; aber sagen wir nicht mehr als zehn Mal so nah (siehe Abbildung 26.9). Selbst wenn diese Punkte zu Kreisscheiben der Gr¨oße 2 oder h¨oher geh¨oren, werden sie sich in allen nachfolgenden Schritten unserer Konstruktion nicht signifikant n¨aher kommen (siehe wiederum Abbildung 26.9). Der Grund daf¨ur liegt in der folgenden fundamentalen Eigenschaft der Konstruktion: Im n-ten Schritt der Konstruktion ziehen wir nur Punkte aus derselben Kreisscheibe der Gr¨oße n − 1 zusammen. Nun k¨onnen wir das allgemeine Abstandsprinzip formulieren. Sei n die gr¨oßte Zahl, sodass die Punkte A und B zu derselben Kreisscheibe der Gr¨oße n geh¨oren. Dann bleibt der Abstand zwischen den Punkten unter den Schritten 1 bis n unver¨andert. Geh¨ort keiner der beiden zu einer Kreisscheibe der Gr¨oße n + 1, so bleibt der Abstand zwischen ihnen auch unter allen nachfolgenden Konstruktionsschritten unver¨andert. Geh¨ort nur einer der Punkte A, B zu einer Kreisscheibe der Gr¨oße n+1, dann drittelt sich der Abstand nach allen nachfolgenden Schritten maximal. Geh¨oren beide Punkte zu Kreisscheiben der Gr¨oße n + 1, so zehntelt sich der Abstand im n + 1-ten Schritt maximal. Geh¨ort keiner der beiden Punkte zu Kreisscheiben der Gr¨oße n + 2, so bleibt der Abstand zwischen ihnen nach dem n + 1-ten Schritt unver¨andert. Geh¨ort genau einer der beiden Punkte zu einer Kreisscheibe der Gr¨oße n + 2, so kann sich der Abstand zwischen ihnen im n + 2-ten Schritt dritteln und danach nicht mehr signifikant a¨ ndern. Geh¨oren schließlich sowohl A als auch B zu
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26 Die geh¨ornte Sph¨are von Alexander
Kreisscheiben der Gr¨oße n + 2, so zehntelt sich der Abstand zwischen ihnen im n + 2-Schritt maximal und a¨ ndert sich danach nicht mehr signifikant. In allen F¨allen verringert sich der Abstand zwischen A und B nicht mehr als auf ein hundertstel. Somit ist Alexanders geh¨ornte Sph¨are tats¨achlich eine Sph¨are, d. h. sie ist ho” m¨oomorph“ zur Sph¨are, wie wir oben behauptet hatten.
¨ 26.5 Das Außere der geh¨ornten Sph¨are Das Innere der geh¨ornten Sph¨are ist hom¨oomorph zur gew¨ohnlichen Kugel (ohne Rand); das ist nicht schwer zu beweisen, aber wir werden es nicht brauchen. ¨ Wichtiger ist, dass das Außere der geh¨ornten Sph¨are nicht dasselbe wie das der gew¨ohnlichen Sph¨are ist (nicht hom¨oomorph dazu). Der Beweis dessen ist einfach ¨ aber interessant, da er ein Beispiel f¨ur einen topologischen Beweis gibt. Das Außere der gew¨ohnlichen Sph¨are (und auch das Innere) verf¨ugen u¨ ber eine Eigenschaft, die Topologen als einfach zusammenh¨angend bezeichnen: Jede geschlossene Kurve kann stetig auf einen Punkt zusammengezogen werden. Das scheint auf der Hand zu liegen (siehe Abbildung 26.10), obwohl ein strenger Beweis einige technische Feinheiten beinhaltet.
¨ Abb. 26.10 Das Außere der gew¨ohnlichen Sph¨are ist einfach zusammenh¨angend.
Hom¨oomorphe Gebiete sind gleichzeitig einfach zusammenh¨angend: Ist eines der Gebiete einfach zusammenh¨angend, so sollte das andere auch einfach zusam¨ menh¨angend sein. Jedoch ist das Außere der geh¨ornten Sph¨are nicht einfach zusammenh¨angend: Eine Kurve, die den Henkel des Gewichts (siehe Abbildung 26.11 auf der n¨achsten Seite) umschließt, kann nicht stetig aus dem Henkel gezogen werden. (Um sie herauszuziehen, m¨ussten wir sie u¨ ber ein Paar eng beieinander liegen-
26.6 Was gibt es sonst?
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¨ Abb. 26.11 Das Außere von Alexanders geh¨ornter Sph¨are ist nicht einfach zusammenh¨angend.
der, paralleler Kreisscheiben beliebiger Gr¨oße bringen; folglich kommt die Kurve w¨ahrend des Verformungsprozesses der geh¨ornten Sph¨are beliebig nahe, was bedeutet, dass sie die Sph¨are zu irgendeinem Zeitpunkt ber¨uhrt, was wiederum verboten ¨ ist: Unsere Verformung sollte im Außeren der Sph¨are ausgef¨uhrt werden.) ¨ Somit ist das Außere der geh¨ornten Sph¨are nicht einfach zusammenh¨angend und ¨ folglich nicht hom¨oomorph zum Außeren der gew¨ohnlichen Sph¨are. Dies zeigt, dass die vermutete r¨aumliche Version des Satzes von Schoenflies falsch ist.
26.6 Was gibt es sonst? ¨ Nun ist es leicht, klug zu sein. Wir k¨onnten die H¨orner nicht ins Außere, sondern ins Innere der Sph¨are ziehen; dann erhalten wir eine Sph¨are, f¨ur die das Innere anstelle ¨ des Außeren nicht hom¨oomorph zum Inneren der gew¨ohnlichen runden Sph¨are ist. ¨ Oder wir k¨onnten zwei H¨ornerpaare ziehen, eines im Inneren und eines im Außeren ¨ der Sph¨are; dann unterscheiden sich sowohl das Innere als auch das Außere der ¨ ¨ Sph¨are vom Inneren und Außeren der gew¨ohnlichen Sph¨are (Inneres und Außeres sind nicht einfach zusammenh¨angend). Oder wir k¨onnen nicht nur zwei, sondern etwa zweiundzwanzig (oder zweihundertzweiundzwanzig) H¨ornerpaare ziehen, ei¨ nige im Inneren und einige im Außeren der Sph¨are, und sie in irgendeiner Weise ineinander verschlingen. Diese Vielfalt von M¨oglichkeiten u¨ berrascht uns nicht mehr.
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26 Die geh¨ornte Sph¨are von Alexander
26.7 Zusammenfassung: Weitere Entwicklungen
c Familie Alexander
Jahre und Jahrzehnte sind seit Alexanders Entdeckung vergangen. Dennoch hofften Topologen, dass eine r¨aumliche Version des Satzes von Schoenflies existieren w¨urde: Man muss nur allzu komplizierte Formen ausschließen. Wie verh¨alt es sich, wenn wir polyedrische Sph¨aren verwenden, also eine Sph¨are, die aus endlich vielen polygonalen St¨ucken einer Ebene zusammengesetzt ist? Selbst in diesem Fall stellte sich das Problem als sehr hart heraus. Trotzdem bewies Morton Brown im Jahr 1960 die polyedrische Version des Satzes von Schoenflies (in Wirklichkeit gilt ¨ Browns Resultat f¨ur eine umfassendere Klasse von Fl¨achen; siehe Ubung 26.1 auf der n¨achsten Seite). Der Satz von Brown gilt auch in h¨oheren Dimensionen. Jedoch halten in h¨oheren ¨ Dimensionen mitunter auch polyedrische Sph¨aren unerwartete Uberraschungen bereit. Zum Beispiel zeigten R. Kirby und L. Siebenmann in den 1970er Jahren, dass zwei polyedrische Sph¨aren im vierdimensionalen Raum, von denen eine im Inneren der anderen enthalten ist, ein Gebiet kobeschr¨anken k¨onnen, das sich von dem gew¨ohnlichen Gebiet, das durch zwei konzentrische runde Sph¨aren kobeschr¨ankt wird, unterscheidet. All dies u¨ bersteigt aber unsere technischen M¨oglichkeiten.
James Alexander 1888–1971
Camille Jordan 1838–1922
¨ 26.8 Ubungen Eine Fl¨ache S heißt lokal-eben in einem Punkt P ∈ S, wenn ein Homomorphismus einer kleinen Kugel B um P auf eine andere Kugel B existiert, die die Schnittmenge B ∩ S auf die Schnittmenge von B mit einer Ebene abbildet. Der Satz von Brown (siehe Abschnitt 26.7) besagt: Ist eine Fl¨ache im Raum zu einer Sph¨are
¨ 26.8 Ubungen
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hom¨oomorph und an allen diesen Punkten lokal-eben, so zerlegt sie den Raum in zwei gew¨ohnliche Teile. ¨ Ubung 26.1. An welchen Punkten ist Alexanders Sph¨are nicht lokal-eben (beschreiben Sie diese Menge auf der Fl¨ache sowohl vor als auch nach der Verformung)? Ist diese Menge abz¨ahlbar oder u¨ berabz¨ahlbar? ¨ Die weiteren Ubungen haben keinen direkten Bezug zu Alexanders Sph¨are, sondern betreffen Konstruktionen, die in eine a¨ hnliche Richtung gehen. Wir beginnen mit der klassischen Cantor-Menge. wir das Intervall [0, 1]. Wir streichen Betrachten 1 2 . Dann streichen wir das mittlere Drittel aus , daraus das mittlere Drittel, also 3 3 1 2 7 8 jedem der beiden verbleibenden Intervalle, wir streichen also und . , , 9 9 9 9 Dann streichen wir das mittlere Drittel jedes der vier verbleibenden Intervalle usw. Die Menge, die aus diesem unendlichen Prozess resultiert, heißt Cantor-Menge. Wir bezeichnen sie mit C, ihr Komplement bezeichnen wir mit D. 1 10 19 ¨ Ubung 26.2. (a) Beweisen Sie, dass , , ∈ C ist. 4 13 27 (b) Sei allgemeiner x = [0.d1 d2 d3 . . . ]3 eine Darstellung von x im Zahlensystem mit der Basis 3; dr¨ucken Sie die Bedingung, dass x zu C geh¨ort, durch die Ziffern di aus. Als chstes werden wir die Cantor-Funktion γ : [0, 1] → [0, 1] definieren. F¨ur N¨a 1 2 1 ¨ x∈ setzen wir γ (x) = . Uber , den beiden Intervallen, die im zweiten Schritt 3 3 2 3 ¨ 1 den vier Ingestrichen wurden, setzen wir unsere Funktion gleich bzw. . Uber 4 4 tervallen, die im dritten Schritt gestrichen wurden, setzen wir die Funktion gleich 1 3 5 7 , , und usw. Dieser Prozess bestimmt unsere Funktion auf D. 8 8 8 8 ¨ Ubung 26.3. (a) Beweisen Sie, dass f¨ur jedes x ∈ C ein eindeutiges y ∈ [0, 1] existiert, sodass γ (z) ≤ y f¨ur alle z ∈ [0, x) ∩ D und γ (z) ≥ y f¨ur alle z ∈ (x, 1] ∩ D gilt. Wir setzen γ (x) = y. Man sieht leicht, dass γ eine stetige monotone Funktion ist. 1 5 (b) Berechnen Sie γ ,γ . 4 13 (c) Noch allgemeiner sei x = [0.d1 d2 d2 . . . ]3 . Finden Sie eine Darstellung von γ (x) im Zahlensystem mit der Basis 2. (d) Beweisen Sie: Ist x rational, so ist γ (x) rational. Nun werden wir die Peano-Kurve im Quadrat [0, 1]2 = {(x, y) | 0 ≤ x ≤ 1, 0 ≤ y ≤ 1} definieren. Sei F : [0, 1] → [0, 1]2 eine stetige Kurve mit F(0) = (0, 0), F(1) = (0, 1). Die Koordinaten von F(t) werden mit ( f (t), g(t)) bezeichnet. Wir definieren eine Kurve F' : [0, 1] → [0, 1]2 durch die Formel
426
26 Die geh¨ornte Sph¨are von Alexander
⎧ 1 1 1 ⎪ ⎪ g(4t), f (4t) f¨ur 0 ≤ t ≤ , ⎪ ⎪ ⎪ 2 2 4 ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ 1 1 1 1 ⎪ ⎪ ⎪ f¨ur ≤t ≤ , ⎨ 2 ( f (4t − 1) + 1), 2 g(4t − 1) 4 2 ' = F(t) ⎪ 1 1 3 1 ⎪ ⎪ ( f (3 − 4t) + 1), 1 − g(3 − 4t) f¨ur ≤t ≤ , ⎪ ⎪ 2 2 2 4 ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ ⎪ 1 3 1 ⎪ ⎪ f¨ur ≤ t ≤ 1. ⎩ g(4 − 4t), 1 − f (4 − 4t) 2 2 4 In Worten: Wir komprimieren die Kurve F im Maßstab 1 : 2 und setzen dann die neue Kurve aus vier Kopien der reskalierten alten Kurve durch geeignete Verschiebungen, Drehungen und Spiegelungen zusammen (siehe Abbildung 26.12). Mit der beliebigen Kurve F wie oben beginnend, wenden wir die eben beschriebene Transformation unendlich oft an, und wir bezeichnen die Grenzkurve als P : [0, 1] → [0, 1]2 ; das ist die Peano-Kurve.
Abb. 26.12 Die Peano-Kurve.
¨ Ubung 26.4. (a) Beweisen Sie, dass die Grenzkurve existiert und stetig ist. (b) Beweisen Sie, dass P nicht von der Anfangskurve F abh¨angt (vorausgesetzt, sie ist stetig und sie verbindet den Punkt (0, 0) mit dem Punkt (0, 1)). (c) Beweisen Sie, dass f¨ur jedes (x, y) ∈ [0, 1]2 ein (m¨oglicherweise nicht eindeutiges) t ∈ [0, 1] existiert, sodass P(t) = (x, y) ist (mit anderen Worten: Die PeanoKurve f¨ullt das gesamte Quadrat). 1 1 ,P . (d) Bestimmen Sie P 3 5 (e) Bestimmen Sie f¨ur t = [0.d1 d2 d3 . . . ]2 (im Zahlensystem mit der Basis 9) die Koordinaten von F(t). (f) Beweisen Sie: Ist t rational, so sind die Koordinaten von F(t) rational.
Vorlesung 27
¨ Kegel umstulpen
27.1 Das Problem In der Ebene, wurde, betrachten wir zwei Funktionen: aus der der Ursprung entfernt f0 (x, y) = x2 + y2 und f1 (x, y) = − x2 + y2 . Ihre Gradienten sind die konstanten radialen Vektorfelder, die vom Ursprung ausgehen und in den Ursprung eingehen (siehe Abbildung 27.1). Man kann das erste Feld leicht in das zweite verformen, sodass kein Vektor irgendeines Zwischenfeldes verschwindet: Drehen Sie einfach jeden Vektor um 180◦ .
Abb. 27.1 Zwei Radialfelder vom und zum Ursprung.
Kann man eine solche Verformung aber auch in der Klasse nicht-entarteter Gradientenfelder ausf¨uhren? Mit anderen Worten: Kann man die Funktionen f0 (x, y) und f1 (x, y) in eine einparametrige Schar glatter Funktionen ft (x, y) einschließen, D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 27,
427
428
27 Kegel umst¨ulpen
Abb. 27.2 Dies ist kein Gradientenfeld.
ohne dass es in der punktierten Ebene kritische Punkte gibt, die stetig vom Parameter t abh¨angen? Dies ist das Problem, das wir in dieser Vorlesung diskutieren werden. Das Problem ist weniger harmlos als es auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn man einfach nur auf die Flusslinien eines Vektorfeldes schaut, ist es schwierig zu entscheiden, ob es sich dabei um ein Gradientenfeld einer Funktion handelt. Zum Beispiel ist das Feld aus Abbildung 27.2 kein Gradientenfeld: Entlang von Kreisen um den Ursprung verrichtet es eine von null verschiedene Arbeit. (Erinnern Sie sich daran, dass in der Physik die von einer Kraft F entlang einer Kurve γ verrichtete & Arbeit das Kurvenintegral γ F · ds ist. Die von einer konservativen Kraft verrichtete Arbeit, also der Gradient einer Potenzialfunktion, entlang einer geschlossenen Kurve ist immer null.) Wir k¨onnen das Problem geometrischer formulieren. Sei St der Graph der Funktion ft (x, y). Die Fl¨achen S0 und S1 sind Kegel (siehe Abbildung 27.3). Man m¨ochte den einen Kegel so in den anderen Kegel verformen (in der Klasse der Fl¨achen, deren Projektion auf die punktierte Ebene eineindeutig ist, also die Graphen von Funktionen sind, die in der punktierten Ebene definiert sind), dass keine Zwischenfl¨ache St in irgendeinem Punkt eine horizontale Tangentialebene besitzt. Und zwar ist die Tangentialebene genau dann horizontal, wenn die Funktion einen kritischen Punkt hat und ihr Gradient verschwindet. Im n¨achsten Abschnitt werden wir eine solche Kegelumst¨ulpung konstruieren.
Abb. 27.3 Kann der linke Kegel in den rechten Kegel umgest¨ulpt werden, ohne dass er zu irgendeiner Zeit an irgendeiner Stelle horizontal ist?
27.2 Eine L¨osung
429
27.2 Eine L¨osung Erstens ist es zweckm¨aßiger, sich mit einem Kreisring, etwa 1 < x2 + y2 < 3, zu besch¨aftigen anstatt mit der punktierten Ebene. Die glatte Abbildung, die in Polarkoordinaten durch die Formel r−1 (α , r) → α , 3−r gegeben ist, identifiziert die Kreisscheibe und die punktierte Ebene, und eine L¨osung unseres Problems in einem Gebiet liefert auch eine L¨osung im anderen. Hier ist eine explizite Verformung. Die Fl¨ache St ist durch die Gleichung zt (α , r) = gt (α ) + 0.25(r − 2) ht (α ) in Zylinderkoordinaten (α , r, z) gegeben; hier ist 0 ≤ α ≤ 2π , 1 < r < 3, und t l¨auft von 0 bis 1. Die Funktionen gt und ht sind wie folgt: gt = 4t sin α , ht = (1 − 2t) + 4t cos α gt = 2(1 − 2t) sin α + (4t − 1) sin 2α , ht = cos α + (1 − 2t) gt = −2(2t − 1) sin α + (3 − 4t) sin 2α , ht = cos α − (2t − 1) gt = −4(1 − t) sin α , ht = −(2t − 1) + 4(1 − t) cos α
f¨ur t ∈ [0, 0.25]; f¨ur t ∈ [0.25, 0.5]; f¨ur t ∈ [0.5, 0.75]; f¨ur t ∈ [0.75, 1].
Man k¨onnte hier aufh¨oren: Die Formeln sind aufgeschrieben, und ein fleißiger Leser ist eingeladen zu u¨ berpr¨ufen, dass die Fl¨achen St an keiner Stelle horizontale Tangentialebenen haben (die Funktionen zt also keine kritischen Punkte haben). Aber nat¨urlich schulden wir Ihnen als Leser eine Erkl¨arung. Wir wollen den Ursprung dieser Formeln erkl¨aren. Da die Ausgangs- und die Endfunktionen linear in r sind, ist es naheliegend, nach Funktionen zt in der Form zt (α , r) = gt (α ) + ε (r − 2) ht (α ) zu suchen, wobei g und h periodische Funktionen sind und ε ein hinreichend kleiner Parameter ist (sein tats¨achlicher Wert in unserer Formel ist 0.25). Der Ausgangskegel entspricht g0 (α ) = 0 und h0 (α ) = konst. > 0; der Endkegel entspricht g1 (α ) = 0 und h1 (α ) = konst. < 0. Es k¨onnte aufschlussreich sein, sich die Fl¨ache St als eine geschlossene Strickleiter im Raum vorzustellen, deren Achse die geschlossene Kurve z = gt (α ), 0 ≤ α ≤ 2π , r = 2 ist und deren Sprossen die Radialsegmente z = gt (α ) + ε (r − 2) ht (α ), α = konst., 1 < r < 3 mit dem Anstieg ε ht (α ) sind. Somit ist die Achse am Anfang ein horizontaler Kreis, und die Anstiege aller Sprossen sind positiv. Am Ende ist die Achse wieder ein horizontaler Kreis, aber die Anstiege aller Sprossen sind negativ.
430
27 Kegel umst¨ulpen
Abb. 27.4 Die Verformung: Die Geometrie hinter den Formeln.
Was wir w¨ahrend der Verformung vermeiden wollen, sind die F¨alle, in denen die Achse und die Sprossen gleichzeitig horizontal sind. Folglich sollen die Funktionen dgt (α ) dht (α ) + ε (r − 2) dα dα
und
ht (α )
keine gemeinsamen Nullstellen haben. Wenn f¨ur ein t die Nullstellen von dgt (α ) dα
und
ht (α )
disjunkt sind, so gilt das auch f¨ur die Nullstellen von dht (α ) dgt (α ) + ε (r − 2) dα dα f¨ur ein hinreichend kleines ε .
und
ht (α )
27.2 Eine L¨osung
431
Abb. 27.5 Niveaulinien der Funktionen zt f¨ur t = 1/8, 1/4, 3/8 und 1/2.
Die Strategie ist nun klar. Zuerst machen wir aus der Achse der Strickleiter (d. h. aus dem Graphen von g(α )) eine nicht-horizontale Kurve, wonach man gefahrlos den Anstieg der Sprossen (das Vorzeichen von h(α )) auf ihren nicht-horizontalen Segmenten von positiv nach negativ a¨ ndern kann. Die Graphen von gt (α ) sind in Abbildung 27.4 auf der vorherigen Seite links skizziert. Sie sind durchgezogen oder gestrichelt; Ersteres bedeutet, dass ht (α ) positiv ist, und Letzteres bedeutet, dass die Funktion an den zugeh¨origen Punkten α negativ ist. Das Bild bei t = 1/2 auf halbem Wege ist symmetrisch bez¨uglich der Zeitumkehrung: t → 1 − t; ab diesem Zeitpunkt wiederholt man den Prozess nur r¨uckw¨arts. Abbildung 27.4 auf der vorherigen Seite rechts zeigt die zugeh¨orige Ver¨anderung des Gradientenfeldes, was die urspr¨ungliche Frage beantwortet. Abbildung 27.5 zeigt Niveaulinien der Funktionen zt f¨ur t = 1/8, 1/4, 3/8 und 1/2, und Abbildung 27.6 auf der n¨achsten Seite zeigt die gesamte Verformung von Anfang bis Ende.
432
Abb. 27.6 Das Umst¨ulpen eines Kegels von Anfang bis Ende.
27 Kegel umst¨ulpen
27.3 Kommentare
433
27.3 Kommentare
Misha Gromov geboren 1943
Morris Hirsch geboren 1933
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
Die Existenz einer Verformung, die wir in Abschnitt 27.2 explizit konstruiert haben, folgt aus der Theorie zum h-Prinzip (Homotopieprinzip), das ist ein sich aktiv entwickelndes Kapitel der Differentialtopologie. In der Tat ist die Existenz einer solchen Verformung die erste Anwendung von Gromovs h-Prinzip, das im Buch [27] (Abschnitt 4.1) diskutiert wird. Die Konstruktion einer expliziten Verformung ¨ ist in diesem Buch eine Ubung. Unsere Konstruktion basiert auf dem Artikel [80]. Unseres Wissen wurde das Problem, das in dieser Vorlesung diskutiert wird, von M. Krasnoselskii in seiner Vorlesung mit dem Titel Mathematische Unterhaltung“ ” in den 1970er Jahren gestellt. Einer der fr¨uhen Vorg¨anger der Theorie u¨ ber das h-Prinzip war der Satz von Whitney, den wir in Vorlesung 12 diskutiert haben; das Umst¨ulpen einer Sph¨are, das in derselben Vorlesung erw¨ahnt wurde, ist eine weitere Erscheinungsform dieser Theorie (genauer der Immersionstheorie von Smale und Hirsch). Wir wollen ein weiteres ber¨uhmtes Resultat erw¨ahnen, den Satz von Nash-Kuiper, der sich auf differenzierbare, aber nicht zweimal differenzierbare Abbildungen bezieht. Wir werden den allgemeinen Satz nicht formulieren, sondern stattdessen eine der bemerkenswertesten Konsequenzen erw¨ahnen: Man kann eine Einheitssph¨are differenzierbar und isometrisch in eine beliebig kleine Kugel einbetten (dies w¨are unm¨oglich, wenn die isometrische Einbettung zweimal differenzierbar w¨are)!
M. A. Krasnoselskii 1920–1997
27 Kegel umst¨ulpen
Nicolaas Kuiper 1920–1994
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
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John Nash geboren 1928
Stephen Smale geboren 1930
¨ 27.4 Ubungen ¨ Ubung 27.1. (a) Konstruieren Sie eine Funktion zweier Variablen, die zwei lokale Maxima und keine lokalen Minima oder Sattelpunkte besitzt. Zeichnen Sie Niveaulinien und Gradientenlinien dieser Funktion. (b) * Kann man als eine solche Funktion ein Polynom verwenden? ¨ Ubung 27.2. (a) Konstruieren Sie eine Funktion zweier Variablen, die nur ein lokales Minimum und keine anderen kritischen Punkte enth¨alt, sodass dieses lokale Minimum kein globales Minimum ist. Zeichnen Sie Niveaulinien und Gradientenlinien dieser Funktion. (b) * Kann man als eine solche Funktion ein Polynom verwenden? ¨ Ubung 27.3. ** Sei f (x, y) = cos x cos y. Die kritischen Punkte der Funktion f bilden das Gitter (π k/2, π l/2) mit geradem k + l. Betrachten Sie zwei nicht-entartete Vektorfelder in das Komplement des Gitters: Den Gradienten von f (x, y) und den Gradienten von − f (x, y). Konstruieren Sie in der Klasse der nicht-entarteten Gradientenfelder eine stetige Verformung des einen Feldes in das andere. ¨ Kommentar: Etwas Ahnliches gilt f¨ur jede glatte Funktion mit isolierten lokalen Maxima, Minima und Sattelpunkten. ¨ Ubung 27.4. Konstruieren Sie ein Polynom zweier Variablen, dessen Bereich das Intervall (0, ∞) ist. Kommentar: Diese Aufgabe wurde im Jahr 1969 tats¨achlich beim Putnam-Wettbewerb gestellt. Nur 1% der Teilnehmer erhielten f¨ur diese Aufgabe 8, 9 oder 10 Punkte. Als die Pr¨ufung gedruckt wurde, glaubte man, dass ein solches Polynom nicht existieren w¨urde.
Geometrie und Topologie
Teil VIII ¨ BER ELLIPSEN U UND ELLIPSOIDE
Vorlesung 28
Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
28.1 Ebenes Billard Das Billardsystem beschreibt die Bewegung eines freien Punktes innerhalb eines ebenen Gebietes: Der Punkt bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit entlang einer Geraden, bis er auf den Rand trifft. Dort wird er entsprechend dem bekannten Gesetz der geometrischen Optik Der Einfallswinkel ist gleich dem Reflexionswin” kel“ gespiegelt. Genauso gut kann man sich Lichtstrahlen vorstellen, die von einem Rand reflektiert werden, der ein perfekter Spiegel ist. Wir werden Billardtische betrachten, die von glatten, konvexen, geschlossenen Kurven γ begrenzt sind. Die Billardspiegelung ist eine Abbildung, welche die eingehende Billardtrajektorie in die ausgehende Billardtrajektorie u¨ berf¨uhrt. Wir werden diese Billardku” gelabbildung“ mit T bezeichnen. Die Abbildung T wirkt auf orientierte Geraden, die den Billardtisch schneiden; ist eine Gerade tangential zum Rand, so l¨asst T sie unber¨uhrt. Eine orientierte Gerade l¨asst sich durch ihre beiden Schnittpunkte mit der Randkurve γ beschreiben. Die Abbildung T u¨ berf¨uhrt xy in yz (siehe Abbildung 28.1 auf der n¨achsten Seite). Das Reflexionsgesetz kann als L¨osung eines Extremalproblems interpretiert werden.1 Wir halten die Punkte x und z fest und lassen y variieren. 1
Wie viele andere Gesetze der Physik. Das Gesetz, das die Lichtausbreitung beschreibt, wird als Fermatsches Prinzip bezeichnet: Licht w¨ahlt“ die Trajektorie, auf der man die geringste Zeitspan” ne ben¨otigt, um von einem Punkt zum anderen zu gelangen. D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 28,
437
438
28 Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
Abb. 28.1 Billardkugelabbildung.
Lemma 28.1. Die von den Geraden xy und yz mit γ gebildeten Winkel sind genau dann gleich, wenn y ein Extremum der Funktion |xy| + |yz| ist:
∂ (|xy| + |yz|) = 0. ∂y
(28.1)
Beweis. Nehmen wir zuerst an, dass y ein freier Punkt ist, der nicht auf γ beschr¨ankt ist. Der Gradient der Funktion |xy| ist der Einheitsvektor von x nach y, und der Gradient von |yz| ist der Einheitsvektor von z nach y. Ist xy zum Beispiel ein an einem Endpunkt x befestigter elastischer Faden, so bewegt sich der andere Endpunkt y tats¨achlich mit Einheitsgeschwindigkeit direkt auf x zu. Der auf γ beschr¨ankte Punkt y ist genau dann ein kritischer Punkt der Funktion |xy| + |yz|, wenn die Summe der beiden Gradienten orthogonal zu γ ist. (Das ist das Prinzip der Lagrange-Multiplikatoren, das uns aus der Analysis vertraut ist.) Dies entspricht der Tatsache, dass xy und yz gleiche Winkel mit γ bilden. 2 In der Mechanik sagt man, dass auf den Punkt (oder besser die Kugel) y auf der Bahn“ γ zwei Einheitskr¨afte wirken, die u¨ ber den elastischen Faden vermit” telt werden: N¨amlich von y auf x und von y auf z. Der Punkt y befindet sich im Gleichgewicht, wenn die Gesamtkraft senkrecht auf γ steht. In Vorlesung 19 wird erw¨ahnt, dass die Billardkugelabbildung ein invariantes Fl¨achenelement erlaubt; das ist die Fl¨ache auf dem Raum orientierter Geraden in der Ebene, was das Hauptthema von Vorlesung 19 ist. Nun werden wir diese Tatsache aus dem Variationsprinzip aus Lemma 28.1 herleiten. Betrachten wir eine Parametrisierung von γ nach der Bogenl¨ange. Seien x und y die beiden Werte des Parameters, also zwei Punkte auf der Kurve. Dann ist (x, y) eine Koordinate im Raum der orientierten Geraden, die den Billardtisch schneiden.
28.2 Die optischen Eigenschaften von Kegelschnitten
439
Satz 28.1. Das Fl¨achenelement
ω (x, y) =
∂ 2 |xy| dxdy ∂ x∂ y
(28.2)
ist unter der Billardkugelabbildung T invariant. Vor dem Beweis sei unbedingt etwas gekl¨art: dxdy ist die orientierte Fl¨ache einer infinitesimalen Volumenform, deren Seiten parallel zu den Koordinatenachsen sind und die L¨angen dx und dy haben. In diesem Sinne gelten dydy = 0 und dxdy = −dydx.2 Beweis Differenzieren wir Gleichung (28.1):
∂ 2 |xy| ∂ 2 |xy| ∂ 2 |yz| ∂ 2 |yz| dx + dz = 0, dy + dy + 2 2 ∂ x∂ y ∂y ∂y ∂ y∂ z und multiplizieren wir mit dy. Unter Ber¨ucksichtigung von dydy = 0 und dzdy = −dydz erhalten wir ∂ 2 |xy| ∂ 2 |yz| dxdy = dydz. ∂ x∂ y ∂ y∂ z Die letzte Gleichung bedeutet ω (x, y) = ω (y, z), wie wir behauptet hatten. 2
28.2 Die optischen Eigenschaften von Kegelschnitten Geometrisch ist eine Ellipse als Ortslinie von Punkten definiert, deren Abstandssumme zu zwei gegebenen Punkten, F1 und F2 , konstant ist; diese beiden Punkte werden als Brennpunkte bezeichnet. Eine Ellipse kann mithilfe eines Fadens, dessen Enden an den Brennpunkten befestigt sind, konstruiert werden (siehe Abbildung 28.2). Diese Konstruktion wird manchmal als G¨artner-“ oder Fadenkon” ” struktion“ einer Ellipse bezeichnet. Eine Hyperbel wird a¨ hnlich definiert, wobei die Abstandssumme durch den Betrag ihrer Differenz ersetzt wird; und eine Parabel ist
Abb. 28.2 Fadenkonstruktion einer Ellipse: |F1 X| + |F2 X| = konstant. 2 Die technisch korrekte Bezeichnung lautet dx ∧ dy; das Keilprodukt (¨ außere Produkt) ist schiefsymmetrisch.
440
28 Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
Abb. 28.3 Optische Eigenschaft einer Parabel.
die Ortslinie von Punkten, die von einem Punkt (Brennpunkt) und einer Geraden denselben Abstand haben. Die folgende optische Eigenschaft von Kegelschnitten war schon den alten Griechen bekannt. Lemma 28.2. Ein Strahl durch einen Brennpunkt einer Ellipse wird als Strahl durch den anderen Brennpunkt reflektiert. Beweis. Wir wollen beweisen, dass die von F1 X und F2 X mit der Ellipse aus Abbildung 28.2 auf der vorherigen Seite gebildeten Winkel gleich sind. Nehmen wir an, dass X in der Ebene frei variieren kann. Die Ellipse ist eine Niveaulinie der Funktion f (X) = |F1 X| + |F2 X|, und der Gradient dieser Funktion im Punkt X ist orthogonal zur Kurve. Wie im Beweis von Lemma 28.1 auf Seite 438 ist der Gradient von f (X) die Summe der beiden Einheitsvektoren mit den Richtungen F1 X und F2 X. Diese Summe ist genau dann orthogonal zur Kurve, wenn die Vektoren mit ihr gleiche Winkel bilden, wie wir behauptet hatten. 2 Ebenso wird ein vom Brennpunkt einer Parabel ausgehender Strahl als Parallel¨ strahl reflektiert, wie in Abbildung 28.3 dargestellt (siehe Ubung 28.3 auf Seite 456). Diese optische Eigenschaft von Parabeln findet zahlreiche Anwendungen im Design von Projektoren, Taschenlampen und anderen optischen Ger¨aten, und wir haben sie schon in Vorlesung 15 verwendet. Betrachten wir eine Ellipse und eine Hyperbel mit den gleichen Brennpunkten, die durch den Punkt X verlaufen. Lemma 28.3. Die Ellipse und die Hyperbel sind orthogonal zueinander. Beweis. Die Hyperbel ist eine Niveaulinie der Funktion g(X) = |F1 X| − |F2 X|, deren Gradient im Punkt X die Differenz der beiden Einheitsvektoren mit den Richtungen F1 X und F2 X ist. Die Differenz aus zwei Einheitsvektoren ist orthogonal zu deren Summe; somit stehen die Kurven senkrecht aufeinander. 2 Bei der Konstruktion einer Ellipse mit gegebenen Brennpunkten gibt es einen Parameter, die Fadenl¨ange. Die Kegelschar mit festgelegten Brennpunkten heißt konfokal. Die Gleichung einer konfokalen Schar, die Ellipsen und Hyperbeln einschließt, lautet y2 x2 + 2 = 1, (28.3) 2 a +λ b +λ wobei λ ein Parameter ist.
28.2 Die optischen Eigenschaften von Kegelschnitten
441
Das n¨achste Resultat verallgemeinert Lemma 28.2 auf der vorherigen Seite auf Billardtrajektorien, die nicht durch die Brennpunkte verlaufen. Satz 28.2. Eine Billardtrajektorie im Innern einer Ellipse bleibt immer tangential zu einem festen konfokalen Kegelschnitt. Genauer gesagt: Schneidet ein Segment einer Billardtrajektorie das Segment F1 F2 nicht, so schneiden alle Segmente dieser Trajektorie das Segment F1 F2 nicht und alle sind zu derselben Ellipse mit den Brennpunkten F1 und F2 tangential. Schneidet ein Segment der Trajektorie das Segment F1 F2 , so schneiden alle Segmente dieser Trajektorie das Segment F1 F2 und alle sind zu derselben Hyperbel mit den Brennpunkten F1 und F2 tangential. Beweis. Seien A0 A1 und A1 A2 aufeinanderfolgende Segmente einer Billardtrajektorie (siehe Abbildung 28.4). Nehmen wir an, dass A0 A1 das Segment F1 F2 nicht schneidet (mit dem anderen Fall wird a¨ hnlich verfahren). Aus der optischen Eigenschaft einer Ellipse folgt, dass die von den Segmenten F1 A1 und F2 A1 mit der Ellipse gebildeten Winkel gleich sind. Ebenso bilden die Segmente A0 A1 und A2 A1 gleiche Winkel mit der Ellipse. Somit sind die Winkel A0 A1 F1 und A2 A1 F2 gleich.
Abb. 28.4 Beweis des Satzes 28.2.
Spiegeln wir F1 an A0 A1 in Punkt F1 , und spiegeln wir F2 an A1 A2 in F2 . Sei B der Schnittpunkt der Geraden F1 F2 und A0 A1 , und sei C der Schnittpunkt der Geraden F2 F1 und A1 A2 . Betrachten wir die Ellipse Γ1 mit den Brennpunkten F1 und F2 , die tangential zur Gerade A0 A1 ist. Da die Winkel F2 BA1 und F1 BA0 gleich sind, und auch die Winkel F1 BA0 und F1 BA0 gleich sind, sind die Winkel F2 BA1 und F1 BA0 gleich. Aufgrund der optischen Eigenschaft von Ellipsen ber¨uhrt die Ellipse Γ1 die Gerade A0 A1 im Punkt B. Ebenso ber¨uhrt die Ellipse Γ2 mit den Brennpunkten F1 und F2 die Gerade A1 A2 im Punkt C. Wir wollen zeigen, dass diese beiden Ellipsen zusammenfallen oder, a¨ quivalent dazu, dass F1 B + BF2 = F1C + CF2 gilt, was auf F1 F2 = F1 F2 hinausl¨auft. Wir behaupten, dass die Dreiecke F1 A1 F2 und F1 A1 F2 kongruent sind. Tats¨achlich ist aufgrund der Symmetrie F1 A1 = F1 A1 und F2 A1 = F2 A1 . Außerdem sind die Winkel F1 A1 F2 und F1 A1 F2 gleich: Die Winkel A0 A1 F1 und A2 A1 F2 sind gleich und somit auch die Winkel F1 A1 F1 und F2 A1 F2 , und nehmen wir den gemeinsamen Winkel F1 A1 F2 hinzu, bedeutet das ∠F1 A1 F2 = ∠F1 A1 F2 .
442
28 Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
Abb. 28.5 Dieser Raum kann nicht von einem einzigen Punkt aus voll beleuchtet werden.
Die Gleichheit der Dreiecke F1 A1 F2 und F1 A1 F2 bedeutet, dass F1 F2 = F1 F2 ist, und damit sind wir fertig. 2 Als eine Anwendung folgt hier eine Konstruktion eines Raumes mit reflektierenden W¨anden, der von keinem seiner Punkte aus voll beleuchtet werden kann. Diese Konstruktion geht auf L. und R. Penrose [60] zur¨uck (siehe Abbildung 28.5).3 Die oberen und unteren Kurven sind Halbellipsen mit den Brennpunkten F1 , F2 und G1 , G2 . Da ein zwischen den Brennpunkten verlaufender Strahl zwischen die Brennpunkte zur¨uck gespiegelt wird, kann kein Strahl aus der Fl¨ache zwischen den Geraden F1 F2 und G1 G2 in die vier Ohrl¨appchen“ eindringen, und umgekehrt. Somit ” sind, wenn sich die Lichtquelle oberhalb der Geraden G1 G2 befindet, die unteren L¨appchen nicht beleuchtet; und wenn sich die Lichtquelle unterhalb der Geraden F1 F2 befindet, trifft dasselbe auf die oberen L¨appchen zu.
28.3 Kaustiken, Fadenkonstruktion und der Satz von Graves Eine Kaustik4 ist eine Kurve innerhalb eines Billardtisches mit folgender Eigenschaft: Ist ein Segment der Billardtrajektorie tangential zu dieser Kurve, so gilt das auch f¨ur jedes gespiegelte Segment. Wir nehmen an, dass Kaustiken glatt und konvex sind. Es gibt eine Fadenkonstruktion, a¨ hnlich der Fadenkonstruktion von Ellipsen (siehe Abbildung 28.2 auf Seite 439), die einen Billardtisch aus seiner Kaustik rekonstruiert: Wickeln Sie einen geschlossenen, nicht dehnbaren Faden um die Kaustik, ziehen Sie ihn an einem Punkt straff und bewegen Sie diesen Punkt, um den Rand eines Billardtischs zu erhalten (siehe Abbildung 28.6 auf der n¨achsten Seite). 3
Roger Penrose ist ein f¨uhrender zeitgen¨ossischer mathematischer Physiker. Lionel Penrose, sein Vater, war ein ber¨uhmter Psychiater und Genetiker. 4 Kaustik hat auch eine andere Bedeutung: Die Einh¨ ullende der Normalen an eine Kurve; wir haben sie in Vorlesung 10 verwendet.
28.4 Geometrische Konsequenzen
443
Abb. 28.6 Fadenkonstruktion: Rekonstruktion eines Billardtisches aus einer Kaustik.
Satz 28.3. Das Billard im Innern von γ hat Γ als seine Kaustik. Beweis. Wir w¨ahlen einen Bezugspunkt Y auf Γ . F¨ur einen Punkt X seien f (X) und g(X) die Abst¨ande von X zu Y , wenn wir Γ rechts beziehungsweise links herum umlaufen. Dann ist γ eine Niveaulinie der Funktion f (X) + g(X). Wir wollen beweisen, dass die von den Segmenten AX und BX mit γ gebildeten Winkel gleich sind. Wir behaupten, dass der Gradient von f in X der Einheitsvektor in Richtung AX ist. Tats¨achlich bewegt sich das freie Ende X des sich straffenden Fadens YAX direkt mit Einheitsgeschwindigkeit auf den Punkt A zu (vergleichen Sie mit den Beweisen der Lemmata 28.1 auf Seite 438 und 28.2 auf Seite 440). Es folgt, dass der Gradient von f + g den Winkel AXB halbiert. Da der Gradient einer Funktion senkrecht auf ihrer Niveaulinie steht, bilden AX und BX gleiche Winkel mit γ . 2 Bedenken Sie, dass die Fadenkonstruktion eine einparametrige Schar von Billardtischen liefert: Der Parameter ist dabei die L¨ange des Fadens. Aus Satz 28.2 auf Seite 441 erh¨alt man den folgenden Satz von Graves: Indem man eine Ellipse mit einem geschlossenen, nicht dehnbaren Faden umwickelt, erzeugt man eine konfokale Ellipse (siehe [63] f¨ur andere Beweise).
28.4 Geometrische Konsequenzen Der Raum orientierter Geraden, die eine Ellipse schneiden, ist topologisch ein Zylinder. Dieser Zylinder ist durch invariante Kurven der Billardkugelabbildung gebl¨attert (siehe Abbildung 28.7 auf der n¨achsten Seite). Jede Kurve repr¨asentiert die Strahlenschar, die zu einem festgelegten konfokalen Kegelschnitt tangential ist. Die ∞-f¨ormige Kurve geh¨ort zur Strahlenschar durch die beiden Brennpunkte. Die beiden singul¨aren Punkte dieser Kurve stellen die Hauptachse mit den beiden entgegengesetzten Orientierungen dar, eine 2-periodische, Hin-und-Her-Billardtrajektorie. Eine weitere 2-periodische Trajektorie ist die Nebenachse, die durch die beiden Mittelpunkte der Gebiete innerhalb der ∞-f¨ormigen Kurve dargestellt wird.
444
28 Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
Abb. 28.7 Phasenportr¨at der Billardkugelabbildung in einer Ellipse.
Betrachten wir die invarianten Kurven, die den Zylinder umlaufen; sie repr¨asentieren die Strahlen, die tangential zu konfokalen Ellipsen sind (andere invariante Kurven innerhalb der ∞-f¨ormigen Kurve stellen die Strahlen dar, die tangential zu konfokalen Hyperbeln sind). Satz 28.4. Man kann auf jeder invarianten Kurve eine zyklische Koordinate, x mod 1, so w¨ahlen, dass die Billardkugelabbildung durch die Formel T (x) = x+c gegeben ist (der Wert der Konstante c h¨angt von der invarianten Kurve ab). Beweis. Die Konstruktion der gew¨unschten Koordinate x h¨angt von den beiden uns zur Verf¨ugung stehenden Strukturen ab: Das sind die Schar invarianter Kurven und das Fl¨achenelement ω (siehe (28.2) auf Seite 439) auf dem Zylinder. Wir w¨ahlen auf dem Zylinder eine Funktion f , deren Niveaulinien die invarianten Kurven der Billardkugelabbildung sind. Sei γ eine Niveaulinie f = a. Betrachten wir die eng benachbarte Niveaulinie γε , die durch f = a + ε gegeben ist. Wir betrachten f¨ur ein Intervall I ⊂ γ die Fl¨ache ω (I, ε ) zwischen γ und γε u¨ ber I. Es ist klar, dass diese Fl¨ache f¨ur ε → 0 gegen null geht. Die L¨ange“ von I definieren wir als ” ω (I, ε ) lim . ε →0 ε W¨ahlt man eine andere Funktion f , so wird das infinitesimale ε durch eine andere infinitesimale Gr¨oße ersetzt, sagen wir δ ; die L¨ange jedes Segments wird dann mit demselben Faktor δ /ε multipliziert. Wir w¨ahlen eine Koordinate x so, dass das L¨angenelement dx ist, und normieren x so, dass die Gesamtl¨ange 1 ist. Damit ist x bis auf eine Verschiebung x → x + konstant bestimmt. Die Billardkugelabbildung T erh¨alt das Fl¨achenelement ω und die invarianten Kurven. Daher erh¨alt sie das L¨angenelement auf den invarianten Kurven, und folglich ist sie durch die Formel x → x+c auf jeder invarianten Kurve gegeben (nat¨urlich h¨angt der Wert der Konstante c von der invarianten Kurve ab). 2
28.4 Geometrische Konsequenzen
445
Abb. 28.8 Kommutierende Billardkugelabbildungen in konfokalen Ellipsen.
Die erste Konsequenz ist ein Schließungssatz f¨ur Billardtrajektorien in einer Ellipse (siehe Vorlesung 29). Korollar 28.1. Nehmen wir an, eine Billardtrajektorie in einer Ellipse γ , die tangential zu einer konfokalen Ellipse Γ ist, sei n-periodisch. Dann ist jede Billardtrajektorie in γ , die tangential zu Γ ist, n-periodisch. Beweis. Wir betrachten die invariante Kurve, die aus den Tangentialstrahlen an Γ besteht. In der Koordinate x aus Satz 28.4 auf der vorherigen Seite ist die Billardkugelabbildung x → x + c. Ein Punkt ist genau dann n-periodisch, wenn nc eine ganze Zahl ist. Diese Bedingung h¨angt nicht von x ab, und es folgt das Resultat. 2 Seien γ1 , γ2 und Γ konfokale Ellipsen (siehe Abbildung 28.8). Es gibt zwei Billardkugelabbildungen T1 und T2 , die zu den Spiegelungen an γ1 und γ2 geh¨oren. Beide Abbildungen wirken auf den gleichen Raum orientierter Geraden, die beide Ellipsen schneiden. Ihnen gemeinsam ist die Kaustik Γ . Die Wahl des Parameters x auf der invarianten Kurve, die zu dieser Kaustik geh¨ort, hing nur vom Fl¨achenelement im Raum der orientierten Geraden und von der Schar konfokaler Ellipsen ab, die f¨ur beide Bahnen gleich sind. Wir kommen zur n¨achsten logischen Folgerung. Korollar 28.2. Die Abbildungen T1 und T2 kommutieren: T1 ◦ T2 = T2 ◦ T1 (siehe Abbildung 28.9 auf der n¨achsten Seite f¨ur einen resultierenden Konfigurationssatz). Beweis. Die Parallelverschiebungen x → x + c1 und x → x + c2 kommutieren. 2 Im entarteten Fall, in dem Γ das Segment ist, das die Brennpunkte verbindet, erh¨alt man den folgenden elementarsten Satz der euklidischen Geometrie“:5 ” 5
Entdeckt wurde er von M. Urquhart, 1902–1966, einem australischen mathematischen Physiker; sp¨ater stellte sich heraus, dass dieser Satz viel fr¨uher, n¨amlich bereits 1841, von De Morgan
446
28 Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
Abb. 28.9 Der elementarste Satz der Euklidischen Geometrie.
AB + BF = AD + DF
genau dann, wenn
AC +CF = AE + EF
(siehe Abbildung 28.9). In der Tat liegen die Punkte B und D genau dann auf einer Ellipse mit den Brennpunkten A und F, wenn auch die Punkte C und E darauf liegen.
28.5 Elliptische Koordinaten Kehren wir zur konfokalen Schar von Kegelschnitten (28.3) auf Seite 440 zur¨uck. Eine Ellipse und eine Hyperbel aus dieser Schar verlaufen durch einen allgemeinen Punkt P(x, y) (der Punkt P sollte nicht auf dem Segment liegen, das die Brennpunkte verbindet; das ist in diesem Fall die allgemeine Lagebedingung). Seien λ1 und λ2 die zugeh¨origen Werte des Parameters λ . Dann wird (λ1 , λ2 ) als elliptische Koordinate des Punktes P bezeichnet. Die Ellipsen und Hyperbeln der konfokalen Schar (28.3) spielen die Rolle von Koordinatenkurven dieses Koordinatensystems; sie sind wechselseitig orthogonal (siehe Abbildung 28.10). Betrachten wir nun ein Ellipsoid M im Raum x2 y2 z2 + + = 1, a2 b2 c2
Abb. 28.10 Konfokale Ellipsen und Hyperbeln. ver¨offentlicht worden war. Das ist eine weitere Erscheinungsform des Satzes von M. Berry, der in Vorlesung 15 erw¨ahnt wird.
28.5 Elliptische Koordinaten
447
und nehmen wir an, dass alle Halbachsen a, b, c verschieden sind: 0 < a < b < c. Die konfokale Schar quadratischer Fl¨achen Mλ wird durch die Gleichung x2 a2 + λ
+
y2 b2 + λ
+
z2 c2 + λ
=1
(28.4)
definiert, wobei λ ein reeller Parameter ist. Der Typ der Fl¨ache Mλ a¨ ndert sich, wenn λ die Werte −b2 und −a2 durchl¨auft: F¨ur −c2 < λ < −b2 ist sie ein zweischaliges Hyperboloid; f¨ur −b2 < λ < −a2 ist sie ein einschaliges Hyperboloid, und f¨ur −a2 < λ ist sie ein Ellipsoid (siehe Abbildung 28.11).
Abb. 28.11 Konfokale quadratische Fl¨achen.
Wie in der Ebene f¨uhren wir die elliptischen Koordinaten eines Punktes (x, y, z) als die drei Werte von λ ein, f¨ur die Gleichung (28.4) gilt. Eine Begr¨undung liefert der folgende Satz. Satz 28.5. Ein allgemeiner Punkt P = (x, y, z) ist in exakt drei quadratischen Fl¨achen enthalten, die konfokal zum gegebenen Ellipsoid sind. Diese Fl¨achen zweiter Ordnung stehen im Punkt P paarweise senkrecht aufeinander (siehe Abbildung 28.12).
Abb. 28.12 Drei paarweise senkrechte aufeinander stehende, konfokale quadratische Fl¨achen (links transparent).
448
28 Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
Abb. 28.13 Der Graph der Gleichung einer konfokalen Schar.
Beweis. Ist ein Punkt P gegeben, so kann Gleichung (28.4) als kubische Gleichung in λ geschrieben werden. Wir wollen zeigen, dass sie drei reelle Nullstellen hat. Tats¨achlich sieht der Graph der linken Seite als Funktion von λ wie in Abbildung 28.13 aus. Deshalb nimmt diese Funktion drei Mal den Wert 1 an (vorausgesetzt xyz = 0: Das reicht f¨ur die vorliegende Beweisf¨uhrung aus; im Allgemeinen m¨ussen wir voraussetzen, dass die Diskriminante der kubischen Gleichung in λ nicht verschwindet). Seien (λ1 , λ2 , λ3 ) die Nullstellen. Nun wollen wir zeigen, dass die Fl¨achen zweiter Ordnung im Punkt P paarweise orthogonal sind (senkrecht aufeinander stehen). Betrachten wir zum Beispiel Mλ1 und Mλ2 . Ein Normalenvektor an Mλ1 im Punkt P ist der Gradient der Funktion auf der rechten Seite von (28.4) (wir dividieren der Einfachheit halber durch 2): x y z , , , N1 = a2 + λ1 b2 + λ1 c2 + λ1 genauso verh¨alt es sich mit N2 . Folglich ist N1 · N2 =
(a2 + λ
x2 y2 z2 + 2 + 2 . (28.5) 2 2 (b + λ1 )(b + λ2 ) (c + λ1 )(c2 + λ2 ) 1 )(a + λ2 )
Wir betrachten die Gleichungen (28.4) f¨ur λ1 und λ2 . Die Differenz ihrer linken Seiten ist gleich der rechten Seite von (28.5) mal (λ1 − λ2 ). Folglich ist diese rechte Seite gleich null, und es gilt N1 · N2 = 0, wie wir behauptet hatten. 2
28.6 Scheinbare Umrisse und der Satz von Chasles In diesem Abschnitt wollen wir den folgenden Satz beweisen, der auf Chasles zur¨uckgeht.
28.6 Scheinbare Umrisse und der Satz von Chasles
449
Satz 28.6. Eine allgemeine Gerade im Raum ist tangential zu zwei verschiedenen quadratischen Fl¨achen einer gegebenen konfokalen Schar. Die Tangentialebenen zu diesen Fl¨achen zweiter Ordnung an den Ber¨uhrungspunkten mit der Gerade sind orthogonal zueinander. Sei die Gerade. Die Beweisstrategie besteht darin, den Raum entlang auf die orthogonale Ebene zu projizieren. Eine allgemeine orthogonale Projektion einer Fl¨ache auf die Ebene (den Schirm) ist ein Gebiet, das von einer Kurve begrenzt wird. Diese Kurve ist der scheinbare Umriss (oder einfach der Schatten) der Fl¨ache. Der scheinbare Umriss ist die Ortslinie der Schnittpunkte der Projektionsfl¨ache mit den Geraden, die parallel zu und tangential zur Fl¨ache sind. Der scheinbare Umriss einer konvexen Fl¨ache ist zum Beispiel eine Eikurve. Die Projektion der Schar konfokaler Fl¨achen zweiter Ordnung liefert eine einparametrige Schar scheinbarer Umrisse. Proposition 28.1. Die scheinbaren Umrisse von konfokalen Fl¨achen zweiter Ordnung sind eine Schar konfokaler Kegelschnitte. Diese Proposition impliziert den Satz von Chasles. Beweis von Satz 28.6 auf der vorherigen Seite. Die Projektion der Geraden ist ein Punkt. Durch diesen Punkt verlaufen eine Ellipse und eine Hyperbel einer konfokalen Schar, und beide sind orthogonal zueinander. Jede der beiden Kurven ist der scheinbare Umriss einer quadratischen Fl¨ache aus der gegebenen konfokalen Schar. Daher sind diese beiden Fl¨achen tangential zu und orthogonal an den Ber¨uhrungspunkten. 2 Beweis von Proposition 28.1. Zun¨achst ist es einfach zu zeigen, dass der scheinbare Umriss einer einzelnen quadratischen Fl¨ache ein Kegelschnitt ist. Nehmen wir an, dass der Schirm die horizontale (x, y)-Ebene ist und die Gerade vertikal ist. Unsere quadratische Fl¨ache M ist durch eine quadratische Gleichung in x, y, z gegeben; ihre spezifische Form hat f¨ur uns keine Bedeutung (diese Gleichung ist eine Kombination von zehn Termen: x2 , y2 , z2 , xy, yz, zx, x, y, z und Konstanten). F¨ur einen gegebenen Punkt des Schirms (x, y) hat die Vertikale durch diesen Punkt die parametrische Gleichung (x, y,t). Setzen wir diese in die Gleichung von M ein, so erhalten wir eine quadratische Gleichung in t: p2 (x, y)t 2 + p1 (x, y)t + p0 (x, y) = 0 ,
(28.6)
wobei p2 eine Konstante, p1 eine lineare Funktion und p2 (x, y) eine quadratische Funktion von x, y ist. Der scheinbare Umriss von M besteht aus den Punkten (x, y), f¨ur die die Vertikale durch diesen Punkt tangential zu M ist, Gleichung (28.6) hat dann also eine mehrfache Nullstelle. Das passiert, wenn die Diskriminante null ist: p1 (x, y)2 − 4p2 (x, y)p0 (x, y) = 0 . Dies ist eine quadratische Gleichung in x und y, und sie beschreibt einen Kegelschnitt auf dem Schirm.
450
28 Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
Abb. 28.14 Eine Fl¨ache und ihr scheinbarer Umriss.
Es erfordert zus¨atzlichen Aufwand zu beweisen, dass die scheinbaren Umrisse einer konfokalen Schar von Fl¨achen zweiter Ordnung eine konfokale Schar von Kegelschnitten bilden. Wie wir wissen, ist der Normalenvektor an die Fl¨ache zweiter Ordnung Mλ im Punkt P(x, y, z) y z x . , , N(P) = (x, ¯ y, ¯ z¯) = a2 + λ b2 + λ c 2 + λ Wir haben den Betrag des Normalenvektors so gew¨ahlt, dass N(P) · P = 1 ist; diese Gleichung gilt wegen (28.4). W¨ahrend P u¨ ber Mλ l¨auft, beschreibt der Punkt N(P) die Fl¨ache zweiter Ordnung M λ , die durch die Gleichung (a2 + λ )x¯2 + (b2 + λ )y¯2 + (c2 + λ )¯z2 = 1
(28.7)
gegeben ist. Die letzte Gleichung ist lediglich eine andere Form von (28.4). Eine solche Schar quadratischer Fl¨achen heißt linear: Die linke Seite kann als Q1 + λ Q2 geschrieben werden, wobei Q1 und Q2 quadratische Formen sind: a2 x¯2 + b2 y¯2 + c2 z¯2
und
x¯2 + y¯2 + z¯2 .
Bezeichnen wir den Schirm mit W . Eine Gerade, die parallel zu verl¨auft, ist genau dann tangential zu Mλ im Punkt P, wenn die Normale N(P) orthogonal zu ist, wenn also N(P) parallel zu W ist. Bedenken Sie, dass diese Vektoren N(P) die Normalen an die scheinbaren Umrisse der Fl¨ache Mλ sind (siehe Abbildung 28.14). Die Menge solcher Vektoren N ist die Schnittkurve der quadratischen Fl¨ache M λ mit der Ebene W . Diese Kurve ist ein Kegelschnitt, der in geeigneten kartesischen Koordinaten (ξ , η ) auf W durch eine Formel a¨ hnlich (28.7) gegeben ist: (α 2 + λ )ξ 2 + (β 2 + λ )η 2 = 1.
(28.8)
Somit bilden die Normalen an die scheinbaren Umrisse der Fl¨achen Mλ eine lineare Schar von Kegelschnitten in der Ebene W .
28.7 Geod¨aten auf Ellipsoiden
451
In der Ebene gilt aus dem gleichen Grund auch, dass die Normalen an eine konfokale Schar von Kegelschnitten eine lineare Schar von Kegelschnitten erzeugen. Daraus folgt, dass diese scheinbaren Umrisse eine konfokale Schar auf dem Schirm bilden. 2
28.7 Geod¨aten auf Ellipsoiden Sei M eine Fl¨ache. Eine geod¨atische Kurve auf M ist die Trajektorie eines freien Teilchens, das auf M verhaftet ist. Ist γ (t) eine Parametrisierung einer Geod¨ate nach der Bogenl¨ange, so ist der Beschleunigungsvektor γ (t) orthogonal zu M (physikalisch bedeutet dies, dass auf den Punkt als einzige Kraft die Normalkraft wirkt, die den Punkt auf M festh¨alt). Geod¨aten minimieren den Abstand zwischen ihren Punkten lokal. Zum Beispiel wird eine Geod¨ate auf einer abwickelbaren Fl¨ache zu einer Geraden, wenn die Fl¨ache auf eine Ebene entfaltet wird. Die Geod¨aten auf einer Sph¨are sind ihre Großkreise. Wir verweisen auf Vorlesung 20 f¨ur eine ausf¨uhrlichere Diskussion. Sei M ein Ellipsoid. Das Verhalten von Geod¨aten ist sehr regul¨ar; es wird durch den folgenden, auf Chasles und Jacobi zur¨uckgehenden Satz beschrieben. Dieses Resultat ist eine der großen Errungenschaften der Mathematik des 19. Jahrhunderts. Wir nehmen an, dass das Ellipsoid verschiedene Achsen hat, sodass die konfokale Schar quadratischer Fl¨achen definiert ist.6 Satz 28.7. Die Tangenten an eine Geod¨ate auf M sind tangential zu einer anderen festen quadratischen Fl¨ache, die mit M konfokal ist. Beweis. Betrachten wir eine nach der Bogenl¨ange parametrisierte geod¨atische Kurve γ (t) auf M, und sei (t) die Tangente dieser Geod¨ate im Punkt γ (t). Nach Satz 28.6 auf Seite 448 ist (t) tangential zu einer anderen quadratischen Fl¨ache, Mλ (t) , die konfokal zu M ist und zum Parameter λ (t) in Gleichung (28.4) geh¨ort. Wir wollen beweisen, dass λ (t) nicht von t abh¨angt, also d λ (t) = 0. dt
(28.9)
Halten wir einen Wert von t fest, etwa t = 0. Sei N ein Normalenvektor an M im Punkt γ (0), und sei π die vom Vektor N und der Geraden (0) aufgespannte Ebene. Betrachten wir einen benachbarten Punkt γ (ε ). Da der Beschleunigungsvektor der Geod¨ate γ orthogonal zu M ist, liegt die Gerade (ε ) bis auf einen Fehler der Ordnung ε 2 in der Ebene π . Mit der Groß O“-Notation heißt das: ”
γ (ε ) = γ (0) + εγ (0) + O(ε 2 ), γ (ε ) = γ (0) + εγ (0) + O(ε 2 ). 6
Nat¨urlich l¨asst sich das regul¨are Verhalten von Geod¨aten, das im Satz 28.7 beschrieben wird, auf Ellipsoide mit zusammenfallenden Achsen, also auf Rotationsellipsoide, u¨ bertragen.
452
28 Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
Abb. 28.15 Beweis von Satz 28.7.
Der Punkt γ (0) und die Vektoren γ (0), γ (0) liegen in der Ebene π . Somit liegen ein Punkt γ (ε ) der Geraden (ε ) und sein Richtungsvektor γ (ε ) bis auf einen Fehler der Ordnung ε 2 in π . Sei y der Ber¨uhrungspunkt der Geraden (0) mit Mλ (0) . Nach Satz 28.6 auf Seite 448 liegt der Normalenvektor N in der Tangentialebene zu Mλ (0) in y, diese Tangentialebene ist also die Ebene π (siehe Abbildung 28.15). Mit m(ε ) bezeichnen wir die orthogonale Projektion von (ε ) auf die Ebene π . Bedenken Sie, dass m(ε ) und (ε ) von der Ordnung ε 2 benachbart sind. Somit k¨onnen wir, was die Gleichheit (28.9) betrifft, (ε ) durch m(ε ) ersetzen, wir d¨urfen also annehmen, dass die Gerade (ε ) in der Ebene π liegt. Wir wollen λ (ε ) − λ (0) = O(ε 2 ) beweisen. Intuitiv ist klar: Die Gerade (ε ) liegt auf der Tangentialebene zur Fl¨ache Mλ (0) und ist ε 2 -benachbart. Um dieses Argument exakt zu formulieren, brauchen wir ein technisches Lemma. Sei f (x, ε ) eine glatte Funktion zweier Variablen; wir stellen sie uns als eine Funktionenschar in der Variablen x vor, wobei ε der Parameter ist, und wir verwenden die suggestive Notation fε (x). Nehmen wir an, dass die Funktion f0 (x) einen kritischen Punkt in x = 0 hat und dass dieser kritische Punkt nicht entartet ist: f 0 (0) = 0. Nehmen wir außerdem an, dass der zugeh¨orige kritische Wert null ist: f0 (0) = 0. Dann hat die Funktion fε (x) f¨ur jedes hinreichend kleine ε einen kritischen Punkt in der N¨ahe von x = 0; sei c(ε ) der zugeh¨orige kritische Wert (siehe Abbildung 28.16 auf der n¨achsten Seite). Lemma 28.4.
c(ε ) − fε (0) = 0. ε →0 ε lim
Beweis des Lemmas. Entwickeln wir fε (x) in eine Reihe in ε :
(28.10)
28.7 Geod¨aten auf Ellipsoiden
453
Abb. 28.16 Lemma 28.4 auf der vorherigen Seite.
fε (x) = f0 (x) + ε g(x) + O(ε 2 ).
(28.11)
Sei t(ε ) der kritische Punkt der Funktion fε (x) bei null. Wegen t(0) = 0 gilt t(ε ) = O(ε ). Aus (28.11) folgt, dass c(ε ) = fε (t(ε )) = f 0 (t(ε )) + ε g(t(ε )) + O(ε 2 ) ist. Da f0 einen kritischen Punkt bei x = 0 mit dem kritischen Wert null hat, gilt f0 (x) = O(x2 ) und somit: f 0 (t(ε )) = O(ε 2 ). Außerdem gilt: g(t(ε )) = g(0) + O(ε ). Es folgt, dass c(ε ) = ε g(0) + O(ε 2 ) ist. Gleichung (28.11) impliziert aber fε (0) = ε g(0) + O(ε 2 ). Folglich ist c(ε ) − fε (0) = O(ε 2 ), und es ergibt sich (28.10) (siehe Abbildung 28.17). 2
Abb. 28.17 Beweis von Lemma 28.4.
Nun k¨onnen wir den Beweis von Satz 28.7 auf Seite 451 abschließen. Nehmen wir an, dass der Ber¨uhrungspunkt der Geraden (0) mit der Fl¨ache Mλ (0) nicht entartet ist: F¨ur eine quadratische Fl¨ache bedeutet dies, dass die Gerade nicht auf der Fl¨ache liegt (vgl. Vorlesung 16). Wir werden die Behauptung des Satzes f¨ur eine solche allgemeine Gerade beweisen, und (28.9) l¨asst sich dann auf alle Geraden u¨ bertragen. Rufen wir uns ins Ged¨achtnis, dass die Fl¨ache Mλ (0) aus der konfokalen Schar (28.4) durch den Punkt y verl¨auft. Dann verl¨auft durch jeden Punkt in der Umgebung von y eine quadratische Fl¨ache aus dieser konfokalen Schar, und wir betrachten die
454
28 Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
zugeh¨orige elliptische Koordinate λ als eine Funktion, die in der Umgebung von y definiert ist. Insbesondere ist der Wert von λ im Punkt y gleich λ (0). Wir k¨onnen die Funktion λ auf eine Gerade beschr¨anken. Eine Gerade ist tangential zu einer quadratischen Fl¨ache Mc , wenn die Einschr¨ankung der Funktion λ auf diese Gerade einen kritischen Punkt mit dem kritischen Wert c hat. Identifizieren wir alle Geraden, die hinreichend nah an (0) liegen, mit der reellen Achse, wobei wir annehmen, dass der Ursprung auf (0) im Punkt y liegt. Sei x die Variable auf R. Subtrahieren wir λ (0) von der Funktion λ , und bezeichnen wir ihre Beschr¨ankung auf die Gerade (ε ) mit f ε (x). Nun wenden wir Lemma 28.4 an. Da die Gerade (0) tangential zu Mλ (0) ist, hat die Funktion f 0 (x) einen nicht entarteten kritischen Punkt bei x = 0 mit dem kritischen Wert null. Der Abstand der Urspr¨unge auf den Geraden (0) und (ε ) ist von der Ordnung ε (oder h¨oher). Da die Gerade (ε ) in der Tangentialebene π zur Niveaufl¨ache {λ = λ (0)} liegt, ist der Abstand vom Ursprung auf dieser Geraden zu dieser Fl¨ache von der Ordnung ε 2 oder h¨oher. Also ist f ε (0) = O(ε 2 ). Nach Lemma 28.4 gilt: limε →0 c(ε )/ε = 0, wobei c(ε ) = λ (ε ) − λ (0) ist, und es folgt (28.9). 2 Satz 28.7 schr¨ankt das Verhalten von Geod¨aten auf Ellipsoiden stark ein. Die Geraden, die zu einer festen Geod¨ate γ auf M tangential sind, sind zu einer anderen Quadrik Q tangential, die konfokal zu M ist. Sei x ein Punkt von γ . Die Tangentialebene zu M in x schneidet Q entlang eines Kegelschnitts (der von x abh¨angt). Die Anzahl der Tangenten an diesen Kegelschnitt von x aus kann 2, 1 oder 0 sein (der Fall einer einzigen Tangente mit Vielfachheit 2 tritt auf, wenn x zum Kegelschnitt geh¨ort). Nach der Anzahl gemeinsamer Tangenten von M und Q, die durch einen festen Punkt auf M verlaufen, n¨amlich 2 oder 0, zerf¨allt die Fl¨ache M in zwei Teile. Die Geod¨ate ist auf den ersten Teil beschr¨ankt und kann in jedem Punkt nur eine der beiden m¨oglichen Richtungen haben, n¨amlich die Richtungen der gemeinsamen Tangenten von M und Q (siehe Abbildung 28.18).
Abb. 28.18 Eine Geod¨ate auf einem Ellipsoiden: Die zu der Geod¨aten tangentialen Geraden sind tangential zu einem konfokalen Hyperboloid (links transparent).
Zum Schluss wollen wir zwei Anmerkungen machen. Erstens: Die meisten Resultate u¨ ber Billard im Innern eines Ellipsoiden und Geod¨aten auf dem Ellipsoiden
28.7 Geod¨aten auf Ellipsoiden
455
c Smith. Inst. Libraries, Washington, DC
haben mehrdimensionale Gegenst¨ucke. Zum Beispiel sind die Tangenten an eine Geod¨ate auf einem Ellipsoiden im n-dimensionalen Raum zu n − 2 anderen festen quadratischen konfokalen Hyperfl¨achen tangential. Zweitens: Geht die kleinste Halbachse eines Ellipsoiden gegen null, so entartet das Ellipsoid zu einer zweifach bedeckten Ellipse. Die Geod¨aten auf dem Ellipsoiden werden zu Billardtrajektorien im Innern dieser Ellipse, und Satz 28.7 auf Seite 451 impliziert als Grenzfall Satz 28.2 auf Seite 441. F¨ur weitere Informationen u¨ ber Billard im Allgemeinen und insbesondere Billard im Innern von Ellipsoiden und Geod¨aten auf Ellipsoiden, verweisen wir zum Beispiel auf [78, 83].
Augustus De Morgan 1806–1871
Carl Gustav Jacob Jacobi 1804–1851
c Math. Forschungsinstitut Oberwolfach
c Smith. Inst. Libraries, Washington, DC
Michel Chasles 1793–1880
Roger Penrose geboren 1931
456
28 Billard in Ellipsen und Geod¨aten an Ellipsoiden
¨ 28.8 Ubungen ¨ Ubung 28.1. Beweisen Sie, dass das Fl¨achenelement (28.2) mit den Winkeln aus Abbildung 28.19 als ω = sin α d α dx ausgedr¨uckt werden kann.
Abb. 28.19 Die einer Sehne zugeordneten Winkel.
¨ Ubung 28.2. (a) Beweisen Sie, dass die durch die G¨artnerkonstruktion“ aus Ab” schnitt 28.2 gegebenen Ellipsen, Hyperbeln und Parabeln tats¨achlich uns gel¨aufige Gleichungen zweiten Grades haben. (b) Leiten Sie die Formel f¨ur eine konfokale Kegelschar (28.3) her. ¨ Ubung 28.3. Beweisen Sie die optische Eigenschaft der Parabel. ¨ Ubung 28.4. Beweisen Sie, dass eine Billardtrajektorie in einer Ellipse, die von einem Brennpunkt ausgeht, gegen die Hauptachse der Ellipse strebt. ¨ Ubung 28.5. (a) Betrachten Sie eine Scheibe mit dem Mittelpunkt O. Sei A ein Punkt im Innern der Scheibe. Falten Sie f¨ur jeden Punkt X des Kreises den Kreis so, dass der Punkt X mit dem Punkt A zusammenf¨allt. Beweisen Sie, dass die Einh¨ullende der Faltkurven die Ellipse mit den Brennpunkten A und O ist. Was geschieht, wenn A außerhalb der Scheibe liegt? (b)* Gegeben seien eine glatte Kurve γ und ein Punkt A. Spiegeln Sie die von A ausgehenden Geraden an γ . Sei W der geometrische Ort von Punkten, die aus A durch Spiegelung an der Tangente von γ hervorgegangen sind. Beweisen Sie, dass W eine Kurve ist, die orthogonal zu den gespiegelten Geraden ist. Hiweis: N¨ahern Sie γ durch eine Ellipse, und verwenden Sie (a). ¨ Ubung 28.6. Nach der optischen Eigenschaft der Ellipse verlaufen die Strahlen aus einer Punktlichtquelle L, die sich in einem Brennpunkt eines elliptischen Spiegels befindet, nach der Spiegelung durch den anderen Brennpunkt. Befindet sich L jedoch nicht im Brennpunkt, so laufen die reflektierten Strahlen nicht durch einen
¨ 28.8 Ubungen
457
Punkt, sondern sie werden eine Einh¨ullende haben, die wiederum als Kaustik bezeichnet wird. Zeichnen Sie ein Bild, anhand dessen sich diese Kaustiken visualisieren lassen; betrachten Sie dabei drei F¨alle: L ist in der N¨ahe des Brennpunkts, L ist nicht in der N¨ahe des Brennpunkts aber noch im Innern der Ellipse, L befindet sich außerhalb der Ellipse. Im letzten Fall m¨ussen wir annehmen, dass die Ellipse sowohl transparent als auch reflektierend ist. ¨ Ubung 28.7. Geod¨aten, die von einem Punkt der Kugel ausgehen, kommen alle im gegen¨uberliegenden Punkt an. Das trifft jedoch nicht zu, wenn man die Kugel durch ein Ellipsoid ersetzt. Zeichnen Sie die Schar der Geod¨aten, die von einem Punkt eines Ellipsoids in die N¨ahe des gegen¨uberliegenden Punktes ausgehen (am besten nehmen Sie ein Ellipsoid, das fast eine Kugel ist). Wie sieht die Einh¨ullende dieser Schar aus? (Warnung: Ihre Zeichnung sollte nicht der Tatsache widersprechen, dass zwei beliebige Punkte des Ellipsoids durch eine Geod¨ate verbunden werden k¨onnen.) ¨ Ubung 28.8. * Konstruieren Sie eine Falle f¨ur einen parallelen Lichtstrahl (mit Falle meinen wir eine nicht-geschlossene Kurve mit der Eigenschaft, dass, wenn ein Strahlenb¨undel beispielsweise mit vertikaler Richtung in die Kurve eintritt und dann an der Kurve nach dem Gesetz der geometrischen Optik reflektiert wird, kein Strahl den unendlich fernen Punkt erreicht). Hinweis: Verwenden Sie die optischen Eigenschaften der Ellipse und der Parabel. ¨ Ubung 28.9. Finden Sie einen elementaren geometrischen Beweis des elementars” ten Satzes der euklidischen Geometrie“. ¨ Ubung 28.10. Zeigen Sie, dass die kartesischen Koordinaten durch elliptische Koordinaten wie folgt ausgedr¨uckt werden: x2 = −
(a2 + λ1 )(a2 + λ2 ) 2 (b2 + λ1 )(b2 + λ2 ) ,y = . b2 − a 2 b2 − a2
¨ Ubung 28.11. Der scheinbare Umriss einer algebraischen Fl¨ache, die durch eine Gleichung n-ten Grades gegeben ist, ist eine durch die Gleichung N gegebene algebraische ebene Kurve. Beweisen Sie dies, und bestimmen Sie die Beziehung zwischen n und N.
Vorlesung 29
Der Schließungssatz von Poncelet und andere Schließungss¨atze
29.1 Der Schließungssatz Wir betrachten zwei verschachtelte Ellipsen γ und Γ , w¨ahlen einen Punkt X auf der a¨ ußeren Ellipse, legen an die innere eine Tangente und verl¨angern die Tangente, bis sie die a¨ ußere im Punkt Y schneidet. Wir wiederholen die Konstruktion von Y ausgehend usw. Wir erhalten ein Polygon, das in Γ eingeschrieben und γ umschrieben ist. Nehmen wir an, dieser Prozess ist periodisch: Der n-te Punkt f¨allt mit dem Ausgangspunkt zusammen. Nun beginnen wir an einem anderen Punkt, etwa X1 . Der Schließungssatz von Poncelet besagt, dass sich das Polygon wiederum nach n Schritten schließt (siehe Abbildung 29.1 auf der n¨achsten Seite). Der Schließungssatz von Poncelet1 ist ein klassisches Resultat der projektiven Geometrie. Er wurde von Jean-Victor Poncelet entdeckt, als er w¨ahrend der Napoleonischen Kriege von 1813 bis 1814 in der russischen Stadt Saratow Gefangener war. Publiziert wurde der Satz 1822 in Poncelets Werk Trait´e sur les propri´et´es ” projectives des figures“. Wir k¨onnen unseren eigenen Schließungssatz wie folgt erarbeiten. Beginnen wir mit einer parametrisierten Eikurve Γ (t), wobei t von 0 bis 1 variiert. Wir w¨ahlen ein konstantes c und betrachten die einparametrige Sehnenschar Γ (t)Γ (t + c). Diese Sehnen haben eine Einh¨ullende γ . Diese Einh¨ullende kann Spitzen haben (aber kei1
Im Englischen heißt dieser Satz Poncelet’s porism. Das griechische Wort Porisma“ bedeutet im ” Grunde genommen Satz“. Eines der verschollenen B¨ucher von Euklid hieß Porismen“. ” ” D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 29,
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29 Der Schließungssatz von Poncelet und andere Schließungss¨atze
Abb. 29.1 Der Schließungssatz von Poncelet.
ne Wendepunkte (siehe Vorlesung 8)); nehmen wir an, sie ist glatt, was immer dann der Fall ist, wenn c hinreichend klein ist. Dann erhalten wir ein Paar verschachtelter Eikurven, Γ und γ , f¨ur das die Aussage des Schließungssatzes gilt. Tats¨achlich ist die Korrespondenz X → Y im Parameter t durch die Formel t → t + c gegeben. Ein Punkt kehrt nach n Iterationen genau dann wieder (zum Ausgangspunkt) zur¨uck, wenn nc eine ganze Zahl ist. Diese Bedingung h¨angt nur von c, also dem Eikurvenpaar ab, jedoch nicht von der Wahl des Ausgangspunktes X, woraus sich der Schließungssatz ergibt. Die Frage ist: Wie m¨ussen wir bei einem gegebenen Paar verschachtelter Ellipsen den Parameter t auf der a¨ ußeren Ellipse w¨ahlen, damit die Entsprechung T : X → Y durch die Formel t → t + c gegeben ist?
29.2 Beweis Dehnen wir zuerst die Ebene so, dass Γ ein Kreis wird (in der Fachsprache ist Dehnen eine affine Transformation). Da der Schließungssatz von Poncelet nur Geraden (aber keine Abst¨ande oder Winkel) betrifft, verletzen Transformationen der Ebene, die Geraden auf Geraden abbilden, den Satz nicht (solche Transformationen heißen projektiv). Betrachten wir den Kreis Γ in seinem Bogenl¨angenparameter x. Die L¨angen der rechtsseitigen und linksseitigen Tangentensegmente vom Punkt x an die Kurve γ bezeichnen wir mit Rγ (x) und Lγ (x) (siehe Abbildung 29.2 auf der n¨achsten Seite). Wir betrachten einen Punkt x1 , der infinitesimal nah an x liegt. Sei O der Schnittpunkt der Geraden xy und x1 y1 , und sei ε der Winkel zwischen diesen Geraden. Die Gerade x1 y1 bildet, wie jede Gerade, gleiche Winkel mit dem Kreis Γ ; bezeichnen wir diesen Winkel mit α (siehe Abbildung 29.3 auf der n¨achsten Seite).
29.2 Beweis
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Abb. 29.2 Linksseitige und rechtsseitige Tangentensegmente.
Abb. 29.3 Verzerrung der Bogenl¨ange.
Was daraus folgt, ist im Wesentlichen das Argument aus Satz XXX, Abbildung 102, in I. Newtons Principia“ [55] (siehe auch Vorlesung 30). Nach dem Sinussatz ” gilt sin ε |xx1 | |yy1 | = = Lγ (y) sin α Rγ (x) oder
dy dx = . Lγ (y) Rγ (x)
(29.1)
Setzen wir f¨ur den Moment voraus, dass auch γ ein Kreis ist. Dann sind die linksseitigen und rechtsseitigen Tangentensegmente gleich: Rγ (x) = Lγ (x). Bezeichnen wir diesen allgemeinen Wert mit Dγ (x). Aus (29.1) folgt, dass das L¨angenelement dx/Dγ (x) unter der Transformation T invariant ist. Es bleibt, einen Parameter t so zu w¨ahlen, dass dieses L¨angenelement dt ist; das geschieht durch Integration: t=
#
dx , Dγ (x)
und die Transformation T wird zu einer Verschiebung t → t + c.
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29 Der Schließungssatz von Poncelet und andere Schließungss¨atze
Schließlich, falls γ kein Kreis ist, sei A eine Dehnung der Ebene, die γ in einen Kreis u¨ berf¨uhrt. Eine affine Transformation a¨ ndert das Verh¨altnis paralleler Strecken nicht. Unter Ber¨ucksichtigung von (29.1) haben wir dx Rγ (x) RAγ (Ax) DAγ (Ax) = = = . dy Lγ (y) LAγ (Ay) DAγ (Ay) Wir erhalten wiederum ein L¨angenelement dx/DAγ (Ax), das invariant unter der Transformation T ist. Wie zuvor w¨ahlen wir einen Parameter t so, dass T (t) = t + c ist, und es ergibt sich der Schließungssatz von Poncelet. 2 Anmerkung 29.1. Man kann den Schließungssatz von Poncelet aus der vollst¨andigen Integrierbarkeit des Billards im Innern einer Ellipse herleiten. Siehe dazu Korollar 28.1 auf Seite 445, das den Schließungssatz f¨ur ein Paar konfokaler Ellipsen ¨ aufstellt (siehe Ubung 29.1 auf Seite 471).
29.3 Verzweigungen Ein Kegelschnitt wird durch f¨unf seiner Punkte definiert. Ein Kegelschnittb¨uschel ist eine einparametrige Schar von Kegelschnitten, die vier festgelegte Punkte gemeinsam haben. Diese Punkte k¨onnen komplex sein, sie sind dann in der reellen Ebene unsichtbar“. Algebraisch seien P(x, y) = 0 und Q(x, y) = 0 quadratische Gleichun” gen zweier Kegelschnitte. Diese Kegelschnitte definieren das durch die Gleichung P(x, y)+tQ(x, y) = 0 gegebene B¨uschel P(x, y)+tQ(x, y) = 0, wobei t ein Parameter ist.2 Die algebraische Definition eines B¨uschels schließt die F¨alle, bei denen einige der vier Punkte u¨ bereinstimmen oder im Unendlichen liegen, nicht aus. Zum Beispiel ist die Schar konzentrischer Kreise ein B¨uschel. In der Tat ist ein Kegelschnitt genau dann ein Kreis, wenn er durch zwei sehr spezielle unendlich ferne Kreis“” punkte verl¨auft, n¨amlich (1 : i : 0) und (−1 : i : 0). Die konzentrischen Kreise sind in diesen Punkten alle tangential zueinander, sodass in diesem Fall die vier Punkte zu zwei Doppelpunkten“ verschmelzen. ” Wir betrachten einige verschachtelte Kegelschnitte desselben B¨uschels γ1 , γ2 , · · · , γk , Γ , wobei Γ der a¨ ußerste Kegelschnitt ist. Modifizieren wir das Spiel: W¨ahlen wir einen Punkt X auf Γ , legen eine Tangente an γ1 , um in Y wieder auf Γ zu treffen; dann legen wir eine Tangente von Y an γ2 , ..., schließlich legen wir eine Tangente an γk , um Γ in Z zu treffen (siehe Abbildung 29.4 auf der n¨achsten Seite). Die Korrespondenz X → Z besitzt die gleiche Eigenschaft: Bildet ihre n-te Iteration einen Punkt X auf sich selbst ab, so kehrt jeder andere Punkt nach n Schritten zu seinem Ausgangspunkt zur¨uck. Das ist eine Verallgemeinerung des Schließungssatzes von Poncelet. (Eine andere, projektiv duale Verallgemeinerung wird in Korollar 28.2 auf Seite 445 gegeben.) 2
In Vorlesung 28 haben wir ein B¨uschel als lineares System von Kegelschnitten“ bezeichnet. ”
29.3 Verzweigungen
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Abb. 29.4 Verallgemeinerter oder großer“ Schließungssatz von Poncelet. ”
Wir wollen bei zwei gegebenen verschachtelten Ellipsen γ und Γ bestimmen, ob sich das eingeschriebene-umschriebene Poncelet-Polygon nach n Schritten schließt. F¨ur den Fall, dass beide Kegelschnitte Kreise (nicht notwendigerweise konzentrisch!) sind und n = 3, 4 ist, waren explizite Antworten bekannt, bevor Poncelet ¨ seinen Satz entdeckte (siehe Ubung 29.2 auf Seite 471). Eine allgemeine Antwort wurde von Cayley gefunden (siehe [38]). Wir werden diese Antwort (ohne Beweis) f¨ur einen besonderen Fall beschreiben, in dem der a¨ ußere Kegelschnitt der Einheitskreis x2 + y2 = 1 und der innere Kegelschnitt eine konzentrische Ellipse a2 x2 + b2 y2 = 1 ist. Betrachten wir die Taylorreihe (a2 + t)(b2 + t)(1 + t) = c0 + c1t + c2 t 2 + · · · , wobei jedes ci eine Funktion von a und b ist (zum Beispiel, c0 = ab). Das PonceletPolygon schließt sich nach n Schritten genau dann, wenn c2 · · · cm+1 det · · · · · = 0 cm+1 · · · c2m f¨ur n = 2m + 1 und
f¨ur n = 2m ist.
c3 · · · cm+1 det · · · · · = 0 cm+1 · · · c2m
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29 Der Schließungssatz von Poncelet und andere Schließungss¨atze
29.4 Das Ponceletsche Gitter Seien γ und Γ zwei verschachtelte Ellipsen. R. Schwartz entdeckte vor Kurzem eine interessante Eigenschaft von Poncelet-Polygonen, also von Γ eingeschriebenen und γ umschriebenen Polygonen [70]. Seien L1 , . . . , Ln die Geraden, die die Seiten des Polygons enthalten, aufgef¨uhrt in der zyklischen Reihenfolge ihrer Ber¨uhrungspunkte mit γ . Wir betrachten die Menge der Schnittpunkte dieser Geraden: Ai j = Li ∩ L j . Wir nehmen an, dass Aii der Ber¨uhrungspunkt von Li mit γ ist. Nehmen wir ebenfalls an, dass n ungerade ist (die Formulierung f¨ur gerade n ist etwas anders). Die Punkte Ai j bilden eine endliche Menge, die wir als Ponceletsches Gitter bezeichnen. Zerlegen wir dieses Gitter auf zwei verschiedenen Wegen in Teilmengen. F¨ur jedes j = 0, 1, . . . , n − 1 besteht die zirkulare“ Menge Pj aus den Punkten Ai,i+ j ” (nat¨urlich verstehen wir die Indizes zyklisch, so dass n + 1 = 1 ist, usw.) und die radiale“ Menge Q j aus den Punkten A j−i, j+i . Bedenken Sie, dass Pj = Pn− j ist, ” sodass es (n + 1)/2 zirkulare Mengen Pj gibt, die jeweils n Punkte enthalten. Es gibt n radiale Mengen Q j , von denen jede (n + 1)/2 Punkte enth¨alt. All dies ist in Abbildung 29.5 dargestellt, wo n = 7 ist. Nach dem Satz von Schwartz liegt jede zirkulare Menge Pj auf einer Ellipse,3 etwa γ j , und Pj besteht aus den Eckpunkten eines Poncelet-Polygons, das γi eingeschrieben und γ umschrieben ist. Ebenso liegt jede radiale Menge Q j auf einer Hyperbel. Außerdem sind alle zirkularen Mengen Pj projektiv a¨ quivalent: F¨ur alle j, j existiert eine projektive Transformation, die Pj in Pj u¨ berf¨uhrt. Die gleiche ¨ projektive Aquivalenz gilt f¨ur die radialen Mengen Q j .
Abb. 29.5 Ponceletsches Gitter. 3
Diese Aussage war Darboux bekannt [19].
29.5 Satz von Money-Coutts
465
Analoge Resultate gelten f¨ur gerade n. R. Schwartz bewies seinen Satz mithilfe komplexer algebraischer Geometrie. Man kann den Satz von Schwartz auch aus Eigenschaften von Billards in Ellipsen herleiten (siehe [52]).
29.5 Satz von Money-Coutts Es gibt eine Reihe anderer Schließungss¨atze, die dem Schließungssatz von Poncelet a¨ hneln. Einer ist der Satz von Steiner u¨ ber eine Kette von Kreisen, die tangential zu zwei gegebenen Kreisen γ und Γ sind (siehe Abbildung 29.6). Seine Aussage ist: Schließt sich eine solche Kette nach n Schritten, ausgehend von einem Punkt, so wird das auch f¨ur jeden anderen Ausgangspunkt der Fall sein. Der Satz von Steiner wird offensichtlich, wenn man eine geeignete geometrische Transformation ausf¨uhrt: Es gibt eine Inversion, die γ und Γ in konzentrische Kreise u¨ berf¨uhrt. (Bedenken Sie jedoch, dass es keinen solchen Beweis des Schließungssatzes von Poncelet gibt, der demzufolge ein viel h¨arteres Resultat darstellt.)
Abb. 29.6 Satz von Steiner.
Ein anderer kurioser Satz betrifft wechselseitig tangentiale Kreise, die in Polygone eingeschrieben sind. Hier ist der einfachste Fall. Dazu betrachten wir ein Dreieck A1 A2 A3 . Wir schreiben einen Kreis C1 in den Winkel A3 A1 A2 , danach den Kreis C2 in den Winkel A1 A2 A3 , tangential zu C1 , danach den Kreis C3 in den Winkel A2 A3 A1 , tangential zu C2 , und zyklisch so weiter (siehe Abbildung 29.7 auf der n¨achsten Seite). Satz 29.1. Die Folge dieser Kreise ist 6-periodisch: C7 = C1 (siehe Abbildung 29.8 auf der n¨achsten Seite).
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29 Der Schließungssatz von Poncelet und andere Schließungss¨atze
Abb. 29.7 Einschreiben aufeinanderfolgender Kreise in ein Dreieck.
Beweis. Der Beweis besteht aus einem cleveren Variablenwechsel, der fast wie ein Wunder erscheint. Seien die Winkel des Dreiecks 2α1 , 2α2 und 2α3 . Betrachten wir die ersten beiden Kreise; seien r1 und r2 ihre Radien. Wir behaupten, dass √ r1 cot α1 + 2 r1 r2 + r2 cot α2 = |A1 A2 |
(29.2)
ist. Tats¨achlich ergibt sich aus Abbildung 29.9 auf der n¨achsten Seite √ und |P1 P2 | = 2 r1 r2 . √ Setzen wir r1 cot α1 = u21 , r2 cot α2 = u22 und tan α1 tan α2 = e. Dann kann die Gleichung (29.2) umgeschrieben werden als |A1 P1 | = r1 cot α1 , |A2 P2 | = r2 cot α2
u21 + 2eu1 u2 + u22 = |A1 A2 |. Gleichung (29.3) impliziert 2 2 u1 + eu2 = |A1 A2 | − (1 − e )u2 , u2 + eu1 = |A1 A2 | − (1 − e2 )u21 .
Abb. 29.8 6-Periodizit¨at des Prozesses.
(29.3)
(29.4)
29.5 Satz von Money-Coutts
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Abb. 29.9 Relation zwischen zwei eingeschriebenen Kreisen.
Schreiben wir (29.3) als u1 (u1 + eu2 ) + u2 (u2 + eu1 ) = |A1 A2 | oder in Anbetracht von (29.4) als u1 |A1 A2 | − (1 − e2 )u22 + u2 |A1 A2 | − (1 − e2 )u21 = |A1 A2 |.
(29.5)
Schreiben wir unserem Dreieck einen Kreis ein; sein Radius sei r und a1 , a2 , a3 seien die Tangentensegmente von den Ecken zum Kreis (siehe Abbildung 29.10). Sei p = a1 + a2 + a3 der halbe Umfang und S der Fl¨acheninhalt. Einerseits ist S = √ rp, und andererseits ist S = pa1 a2 a3 nach dem Satz von Heron. Daher ist r2 = a1 a2 a3 /p. Wir wollen e bestimmen. Wir haben tan α1 = r/a1 , tan α2 = r/a2 , und somit gilt e2 =
Abb. 29.10 Beweis der 6-Periodizit¨at.
r2 a3 = . a1 a2 p
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29 Der Schließungssatz von Poncelet und andere Schließungss¨atze
Insbesondere ist e < 1. Es folgt auch, dass 1 − e2 =
|A1 A2 | p − a3 = p p
ist. Wir schreiben nun Gleichung (29.5) als u22 u21 |A1 A2 | u2 u1 = . 1− + √ 1− √ p p p p p
(29.6)
Ein kurzer Blick auf diese Gleichung macht die letzte Substitution deutlich: u1 u2 √ = sin φ1 , √ = sin φ2 , p p und wir schreiben (29.6) schließlich als sin(φ1 + φ2 ) =
oder −1
φ1 + φ2 = sin
|A1 A2 | p
|A1 A2 | p
:= β3
(29.7)
(die letzte Gleichung ist nur eine zweckdienliche Notation). Halten wir nun kurz inne und denken wir dar¨uber nach, was wir erreicht haben. Urspr¨unglich haben wir die in zwei Winkel des Dreiecks eingeschriebenen Kreise durch ihre Radien r1 and r2 charakterisiert, und die Tangentialbedingung war eine komplizierte Gleichung (29.2). Dann sind wir zu den Variablen φ1 und φ2 u¨ bergegangen, und die Tangentialbedingung vereinfachte sich zu (29.7). F¨uhren wir die dritte Klasse von Kreisen ein, das sind diejenigen, die in den Winkel A2 A3 A1 eingeschrieben sind; sie werden durch ihren Radius r3 und durch die Variable φ3 charakterisiert, die sich zu r3 genauso verh¨alt wie φ1 und φ2 zu r1 und r2 . Nun der letzte Schritt. F¨ur die ersten sieben Kreise haben wir
φ1 + φ2 = β3 , φ2 + φ3 = β1 , φ3 + φ4 = β2 , φ4 + φ5 = β3 , φ5 + φ6 = β1 , φ6 + φ7 = β2 . Nehmen wir die erste Gleichung, subtrahieren wir die zweite, addieren die dritte, subtrahieren die vierte, usw. Das Ergebnis ist φ1 − φ7 = 0; der siebente Kreis stimmt also mit dem ersten u¨ berein. 2 Satz 29.1 auf Seite 465 ist eng mit dem malfattischen Problem der elementaren Geometrie verkn¨upft, bei dem drei paarweise tangentiale Kreise konstruiert werden sollen, die in die drei Innenwinkel eines Dreiecks eingeschrieben sind. Das Problem wurde 1803 von G. Malfatti gel¨ost, es zog aber weiterhin die Aufmerksamkeit ber¨uhmter Geometer des 19. Jahrhunderts auf sich, darunter Steiner, Pl¨ucker und
29.5 Satz von Money-Coutts
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Cayley. Eine L¨osung des malfattischen Problems ergibt sich direkt aus unseren Formeln: F¨ur Malfatti-Kreise gilt φ4 = φ1 , φ5 = φ2 , φ6 = φ3 und
φ1 =
β3 + β2 − β1 β1 + β3 − β2 β2 + β1 − β3 , φ2 = , φ3 = , 2 2 2
was die Kreise eindeutig beschreibt. Eine verbl¨uffende Tatsache ist, dass die Aussage von Satz 29.1 auf Seite 465 auch gilt, wenn man das Dreieck mit geraden Seiten durch eines aus Kreisb¨ogen ersetzt! Das wurde von den Amateur-Mathematikern G. B. Money-Coutts und C. J. Evelyn durch sorgf¨altiges Zeichnen entdeckt,4 und 1971 von Tyrrell und Powell bewiesen (siehe [86]). Der Beweis a¨ hnelte unserem Beweis von Satz 29.1, die Rolle der geometrischen Funktionen wurde dort aber von den (komplizierteren) elliptischen Funktionen u¨ bernommen. (Zuf¨allig l¨asst sich die invariante Funktion f¨ur die Billardkugelabbildung in einer Ellipse auch durch elliptische Funktionen ausdr¨ucken.) Wie sieht es mit anderen Polygonen aus? Das Spiel besteht darin, Kreise in aufeinanderfolgende Winkel einzuschreiben, wobei jeder Kreis tangential zum vorigen ist. Abbildung 29.11 zeigt ein allgemeines F¨unfeck und ein allgemeines Sechseck: Wir sehen, dass die eingeschriebenen Kreise keinerlei Periodizit¨at aufweisen. F¨ur ein allgemeines Viereck ist das Verhalten der Kreise ziemlich chaotisch [84]. Die Periodizit¨at stellt sich jedoch wieder ein, wenn das n-Eck eine spezielle Bedingung erf¨ullt, die Abbildung 29.12 auf der n¨achsten Seite veranschaulicht. Nehmen wir an, dass n ≥ 5 ist. Seien die Ecken eines Polygons A1 , A2 , · · · , und die Innenwinkel 2α1 , 2α2 , · · · . Nehmen wir an, dass f¨ur alle i gilt: αi + αi+1 > π /2. Bezeichnen wir den Schnittpunkt der Geraden Ai−1 Ai und Ai+1 Ai+2 mit Di . Betrachten wir die Ankreise der Dreiecke Ai−1 Ai Di−1 und Ai Ai+1 Di , die tangential zu den jeweiligen Seiten Ai Di−1 und Ai Di sind. Die Bedingung lautet, dass diese beiden Ankreise f¨ur alle i u¨ bereinstimmen.
Abb. 29.11 Keine Periodizit¨at f¨ur ein allgemeines Polygon. 4
Das war noch vor dem Zeitalter des PCs.
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29 Der Schließungssatz von Poncelet und andere Schließungss¨atze
Abb. 29.12 Eine Bedingung, unter der sich die Periodizit¨at wieder einstellt.
Dann ist f¨ur ungerade n, die Folge der eingeschriebenen Kreise 2n-periodisch. F¨ur gerade n muss eine zus¨atzliche Bedingung erf¨ullt sein: (√ ) n Πi=1, 1 − cot αi cot αi+1 + 1 i odd ) = 1, (√ n Πi=1, 1 − cot αi cot αi+1 + 1 i even
c Richard Schwartz
und wenn sie erf¨ullt ist, dann ist die Folge eingeschriebener Kreise n-periodisch. Das Resultat wird a¨ hnlich wie Satz 29.1 bewiesen, und wie dieser besitzt es auch eine Version f¨ur Polygone aus Kreisb¨ogen (siehe [81]). Mehr zum Schließungssatz von Poncelet, seine Geschichte und Verallgemeinerungen erfahren Sie in [5, 10].
Jean-Victor Poncelet 1788–1867
Richard Schwartz geboren 1966
Jacob Steiner 1821–1895
¨ 29.6 Ubungen
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¨ 29.6 Ubungen ¨ Ubung 29.1. Zeigen Sie, dass ein beliebiges Paar verschachtelter Ellipsen durch eine projektive Transformation in konfokale Ellipsen u¨ berf¨uhrt werden kann. Leiten Sie den Schließungssatz von Poncelet aus dem Korollar 28.1 auf Seite 445 her. ¨ Ubung 29.2. Seien Γ und γ Kreise mit den Radien R und r, und sei a der Abstand zwischen ihren Mittelpunkten. Nehmen Sie an, dass γ im Innern von Γ liegt. (a) Beweisen Sie, dass ein in Γ eingeschriebenes und γ umschriebenes Dreieck genau dann existiert, wenn a2 = R2 − 2rR ist (Formel von Chapple). (b) Beweisen Sie, dass ein in Γ eingeschriebenes und γ umschriebenes Viereck genau dann existiert, wenn (R2 − a2 )2 = 2r2 (R2 + a2 ) ist (Formel von Fuss). ¨ Ubung 29.3. (a) Beweisen Sie den in Abbildung 29.6 auf Seite 465 dargestellten Satz von Steiner. (b) Zeigen Sie, dass die Mittelpunkte von Kreisen, die tangential zu Γ und γ sind, auf einer Ellipse liegen, deren Brennpunkte die Mittelpunkte von Γ und γ sind. ¨ Ubung 29.4. * Gegeben sei ein allgemeines Geradentripel 1 , 2 , 3 . Wie viele Kreistripel C1 ,C2 ,C3 gibt es mit der Eigenschaft, dass jeweils zwei Kreise sich gegenseitig von außen ber¨uhren und dass C1 tangential zu 2 und 3 ist, C2 tangential zu 3 und 1 ist und C3 tangential zu 1 und 2 ist? ¨ Ubung 29.5. Beim urspr¨unglichen malfattischen Problem ging es darum, drei nicht u¨ berlappende Kreise in ein gegebenes Dreieck so einzuschreiben, dass die Summe ihrer Fl¨achen maximal wird. Malfatti nahm an, dass dieses Maximum erreicht wird, wenn jeder Kreis die anderen beiden ber¨uhrt. Beweisen Sie, dass diese Annahme falsch ist. Hinweis: Betrachten Sie ein gleichseitiges Dreieck. Kommentar: Eine vollst¨andige L¨osung dieses Extremalproblems wurde erst 1992 ver¨offentlicht [92].
Vorlesung 30
Gravitationsanziehung von Ellipsoiden
In dieser letzten Vorlesung greifen wir frei auf physikalische Fachterminologie zur¨uck, wobei wir seitens des Lesers ein physikalisches Grundwissen gepaart mit gesundem Menschenverstand voraussetzen. Zum Beispiel wird eine Funktion als das Potenzial eines Kraftfelds bezeichnet, wenn der Kraftvektor der Gradient dieser ¨ Funktion ist; eine Aquipotenzialfl¨ ache ist eine Niveaufl¨ache einer Potenzialfunktion usw. Nat¨urlich ist die Gravitationsanziehung proportional zu den Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands zwischen den K¨orpern. Gleiches gilt f¨ur die Anziehung und Abstoßung elektrischer Ladungen nach Coulomb.
30.1 Keine Gravitation in einem Hohlraum I. Newton, einer der Sch¨opfer der Analysis, war ein großer Meister der geometrischen Beweisf¨uhrung. Sein Hauptwerk, Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie) [55], ist voller geometrischer Abbildungen und fast g¨anzlich frei von Formeln. Satz 30 (Proposition 70) von ¨ Abschnitt 12 Uber die Anziehungskr¨afte sph¨arischer K¨orper“ aus Principia besagt: ” Wenn zu den einzelnen Punkten einer Kugelfl¨ache hin gleiche Zentripedalkr¨afte ” gerichtet sind, die im zweifachen Verh¨altnis zu den Abst¨anden von den Punkten abnehmen, so behaupte ich, dass ein kleiner, sich innerhalb der Fl¨ache befindlicher K¨orper von diesen Kr¨aften nach keiner Seite hin angezogen wird.“ 1 1
Die mathematischen Prnizipien der Physik, herausgegeben und u¨ bersetzt von Volkmar Sch¨uller.
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5 30,
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30 Gravitationsanziehung von Ellipsoiden
Mit anderen Worten: Es gibt keine Gravitation im Innern einer gleichf¨ormigen Kugel (oder besser einer infinitesimal d¨unnen Kugelschale). Hier (leicht modifiziert) Newtons Beweis (vgl. Vorlesung 29). Sei P ein Punkt im Innern einer Kugel. Wir betrachten einen infinitesimalen Kegel mit der Spitze P. Die Schnittmenge von Kugel und Kegel besteht aus zwei infinitesimalen Gebieten A und B (siehe Abbildung 30.1). Wir wollen zeigen, dass sich die von diesen beiden Gebieten auf P wirkenden Gravitationskr¨afte gegenseitig aufheben.
Abb. 30.1 Die Anziehungskr¨afte auf Punkt P heben sich gegenseitig auf.
Die Anziehungskr¨afte von P auf die Gebiete A und B sind proportional zu ihren Massen, also ihrem Fl¨acheninhalt, und umgekehrt proportional zu den Quadraten ihrer Abst¨ande zu P. Die Achse des Kegels bildet gleiche Winkel mit der Kugel. Daher sind die beiden infinitesimalen Kegel mit der gemeinsamen Spitze in P a¨ hnlich, und die Verh¨altnisse ihrer Grundfl¨achen zum Quadrat ihrer Abst¨ande zu P sind gleich. Somit sind die Anziehungskr¨afte auf P gleich und haben entgegengesetzte Richtungen. Wir wollen Newton nochmals zitieren: Daher wird der K¨orper P von diesen Anziehungen zu keiner Seite hin gestoßen. ” w. z. b. w.“ Zwei Anmerkungen: Erstens beweist das gleiche Argument, dass es keine Anziehungskraft im Innern einer Kugelschale beliebiger Dicke gibt: Sie setzt sich aus infinitesimal d¨unnen Schalen zusammen und f¨ur jede davon verschwindet die Anziehungskraft. Zweitens verschwindet auch die elektrische Kraft im Innern einer gleichf¨ormig geladenen Kugel: Auch die coulombsche Kraft unterliegt dem Abstandsgesetz.
30.3 Freie Ladungsverteilung
475
30.2 Anziehung außerhalb einer Kugel Als N¨achstes betrachtet Newton die Anziehungskraft außerhalb einer homogenen Kugel. Satz 31 (Proposition 71) besagt: Unter den gleichen Voraussetzungen behaupte ich, dass ein kleiner, sich außer” halb der Kugelfl¨ache befindlicher K¨orper mit einer Kraft zum Kugelmittelpunkt hin angezogen wird, die umgekehrt proportional dem Quadrat seines Abstandes von diesem Mittelpunkt ist.“ 2 Die Anziehung einer gleichf¨ormigen Kugel ist also wie die eines Massepunktes mit gleicher Gesamtmasse, der im Mittelpunkt der Kugel sitzt. Newtons Beweis ist wieder geometrisch, aber ziemlich kompliziert; wir werden einen anderen transparenteren und konzeptionelleren Beweis geben. Wir betrachten die Bewegung einer nichtkomprimierbaren Fl¨ussigkeit zu einer Senke, die sich am Ursprung O befindet. Die Flusslinien sind radial, und der Fluss durch jede Kugel um O ist gleich. Der Oberfl¨acheninhalt einer Kugel mit dem Radius r ist 4π r2 . Somit ist die Abflussgeschwindigkeit als Funktion des Abstands vom Ursprung proportional zu r−2 . Schlussfolgerung: Das Geschwindigkeitsfeld einer sph¨arisch symmetrischen nichtkomprimierbaren Fl¨ussigkeit zu einer Senke ist wie das Gravitationskraftfeld eines Massepunktes. Das Gravitationskraftfeld jeder Massenverteilung ist die Summe der von den einzelnen Massen ausge¨ubten Kr¨afte. Daraus folgt, dass das Gravitationskraftfeld jeder Massenverteilung die gleiche Eigenschaft der Nichtkomprimierbarkeit aufweist: Der Fluss durch den Rand jedes Gebietes, das keine Massen enth¨alt, ist null.3 Zur¨uck zur Gravitationsanziehung einer gleichf¨ormigen Kugel um O. Aufgrund der Kugelsymmetrie h¨angt die Kraft in einem Testpunkt P nur vom Abstand PO ab und ist radial. Außerdem ist das Kraftfeld nicht komprimierbar. Das einzige nichtkomprimierbare sph¨arisch symmetrische Radialfeld ist das Feld der Gravitationsanziehung eines Massepunktes in O. Um zu erkennen, dass die Masse dieses Punktes gleich der Gesamtmasse der Kugel ist, reicht es aus, die Fl¨usse der beiden Felder durch eine hinreichend große Kugel um O zu vergleichen. Beide Resultate, Newtons S¨atze 30 und 31, gelten in R¨aumen jeder Dimension n unter der Bedingung, dass die Anziehungskraft von Punkten mit dem Abstand r proportional zu r1−n ist.
30.3 Freie Ladungsverteilung Bringen wir eine geladene Fl¨ussigkeit auf eine abgeschlossene leitende Oberfl¨ache, so verteilt sich die Ladung frei auf der Oberfl¨ache. Bei einer Kugel ist diese freie Ladungsverteilung zum Beispiel gleichf¨ormig. 2 3
Die mathematischen Prnizipien der Physik, herausgegeben und u¨ bersetzt von Volkmar Sch¨uller. Mit anderen Worten: Das Feld ist divergenzfrei.
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30 Gravitationsanziehung von Ellipsoiden
Eine freie Ladungsverteilung besitzt zwei Eigenschaften. Erstens ist das Potenzial auf der Oberfl¨ache selbst konstant. Das ist offensichtlich: Ein Potenzialunterschied zwischen zwei Punkten w¨urde die Bewegung der Fl¨ussigkeit von einem Punkt zum anderen nach sich ziehen. Zweitens verschwindet die elektrische Kraft im Innern der Fl¨ache, was a¨ quivalent zu der Tatsache ist, dass das Potenzial konstant ist. Nehmen wir tats¨achlich an, dass das Potenzial nicht konstant ist. Da es auf der Oberfl¨ache konstant ist, muss es sein Minimum oder Maximum an einem inneren Punkt annehmen, etwa P. Wir betrach¨ ten eine kleine Aquipotenzialfl¨ ache, die P umgibt. Dann tritt das elektrische Kraftfeld in diese Fl¨ache ein (oder tritt aus), was im Widerspruch zu der Tatsache steht, dass das Kraftfeld nicht komprimierbar ist. Dieses Argument liefert einen alternativen Beweis f¨ur Newtons Satz, der besagt, dass die Anziehungskraft im Innern einer gleichf¨ormigen Kugel verschwindet. Nat¨urlich st¨utzen wir uns hier ganz auf den physikalischen Sachverstand (die Existenz einer einzelnen freien Ladungsverteilung ist eine mathematisch komplizierte Angelegenheit!).
30.4 Hom¨ooide Ein Hom¨ooid ist ein Gebiet zwischen zwei homothetischen Ellipsoiden mit einem gemeinsamen Mittelpunkt. Satz 30.1. Die Gravitationskraft im Innern eines unendlich d¨unnen Hom¨ooids ist null. Beweis. Betrachten wir zuerst eine unendlich d¨unne Kugelschale. Wir wissen aus Abschnitt 30.1, dass die Anziehungskraft in einem Testpunkt P null ist (siehe Abbildung 30.2). Die durch den Schnitt eines infinitesimalen Kegels mit der Spitze P
Abb. 30.2 Die Anziehungskraft im Innern eines Hom¨ooids ist null.
30.5 Satz von Arnold
477
und der Schale erhaltenen Volumina bezeichnen wir mit v und V . Und die Abst¨ande entlang der Kegelachse von P zur Kugel bezeichnen wir mit r und R. Da die Anziehungskraft verschwindet, muss v/r2 = V /R2 gelten. Ein Hom¨ooid erh¨alt man aus einer Kugelschale durch affine Transformation, eine Dehnung in drei paarweise orthogonale Richtungen mit verschiedenen Koeffizienten (siehe Abbildung 30.2 auf der vorherigen Seite). Die jeweiligen Volumina und Abst¨ande bezeichnen wir mit v ,V , r , R . Eine affine Transformation erh¨alt das Verh¨altnis der Volumina und das Verh¨altnis kollinearer Segmente: V /v = V /v, R /r = R/r. Daraus folgt, dass v /(r )2 = V /(R )2 ist, sich die Anziehungskr¨afte im Punkt P also aufheben. 2 Somit ist das Potenzial im Innern eines unendlich d¨unnen (und daher auch endlich d¨unnen) Hom¨ooids konstant. Betrachten wir die Ladungsverteilung auf einem Ellipsoid, dessen Dichte proportional zur Dicke des unendlich d¨unnen Hom¨ooids ist. Bei dieser Verteilung ist das Potenzial im Innern des Ellipsoids und auf dem Ellipsoid konstant. Folglich ist das die freie Ladungsverteilung.
30.5 Satz von Arnold Wir betrachten eine glatte geschlossene Fl¨ache M, die durch ein Polynom f (x, y, z) = 0 vom Grad n gegeben ist. Zum Beispiel ist ax4 + by4 + cz4 = 1 die Gleichung einer Fl¨ache vierter Ordnung. Ein Punkt P wird als innerer Punkt bezogen auf die Fl¨ache M bezeichnet, wenn jede Gerade durch P die Fl¨ache M genau n Mal schneidet (die Anzahl der Schnitte kann nat¨urlich n nicht u¨ bersteigen). Abbildung 30.3 zeigt zwei Kurven vierter Ordnung; die inneren Punkte der ersten Kurve liegen im Innern der innersten Eikurve, und die zweite Kurve hat gar keine inneren Punkte.
Abb. 30.3 Zwei Kurven vierter Ordnung: Eine besitzt innere Punkte, die andere nicht.
478
30 Gravitationsanziehung von Ellipsoiden
Abb. 30.4 Berechnung der vom Gebiet Q auf Punkt P ausge¨ubten Kraft.
Betrachten wir die Ladungsverteilung auf der Fl¨ache M, deren Dichte proportional zur Breite der infinitesimalen Schale zwischen M und der Fl¨ache Mε = { f (x, y, z) = ε } ist. Das ist eine Verallgemeinerung der in Abschnitt 30.4 diskutierten hom¨ooiden Dichte. Sei P ein innerer Punkt. Das Vorzeichen der Ladung alterniert: An der P am n¨achsten gelegenen Komponente von M ist es positiv, an der folgenden negativ, an der n¨achsten positiv, usw. Satz 30.2. Die von M im Punkt P ausge¨ubte Kraft ist null. Beweis. Betrachten wir wie zuvor einen infinitesimalen Kegel mit der Spitze in P und der Achse . Der Schnitt des Kegels mit der Schale zwischen M und Mε besteht aus n Gebieten, und wir werden beweisen, dass sich ihre Anziehungskr¨afte auf Punkt P gegenseitig aufheben. Betrachten wir eines dieser Gebiete, und sei Q sein Punkt. Sei h die L¨ange des (infinitesimalen) Segments von im Innern des Gebietes, und setzen wir r = PQ (siehe Abbildung 30.4). Das Volumen dieses Gebietes ist h mal dem Fl¨acheninhalt des orthogonalen Schnitts des Kegels im Punkt Q. Letzterer Fl¨acheninhalt ist proportional zu r2 . Daher u¨ bt das Gebiet eine Anziehungskraft auf P aus, die proportional zu r2 h/r2 = h ist. Somit m¨ussen wir beweisen, dass die Summe der vorzeichenbehafteten L¨angen der (infinitesimalen) Segmente der Gerade zwischen M und Mε null ist. Letztere ist eine eindimensionale Aussage: Wir k¨onnen den umgebenden Raum vernachl¨assigen und das Polynom f auf die Gerade beschr¨anken. Wir erhalten ein Polynom f (x) in einer Variablen. Dr¨ucken wir h als Funktion von f aus. Dazu betrachten wir Abbildung 30.5: f (q) = 0, f (q + h) = ε . Es gilt f (q + h) = f (q) + h f (q) (wir vernachl¨assigen Glie-
Abb. 30.5 Berechnung der Breite der infinitesimalen Schale.
30.5 Satz von Arnold
479
Abb. 30.6 Buchf¨uhrung u¨ ber die Vorzeichen.
der der Ordnung h2 und h¨oher), und somit ist h = ε /| f (q)|. Wir m¨ussen jedoch mit den korrekten Vorzeichen rechnen. Wir behaupten, dass wir, unter Ber¨ucksichtigung der Vorzeichen, die folgende Identit¨at beweisen m¨ussen: 1 f (q
1)
+
1 f (q2 )
+···+
1 f (qn )
= 0,
(30.1)
wobei die Summe u¨ ber alle Nullstellen eines Polynoms f (x) vom Grad n gebildet wird. Tats¨achlich alternieren die Vorzeichen der Ableitungen aufeinanderfolgender Nullstellen (siehe Abbildung 30.6), und dasselbe gilt f¨ur die Vorzeichen der Ladungen. Seien q1 < · · · < qk die Nullstellen links von P und qk+1 < · · · < qn die Nullstellen rechts von P. Nehmen wir im konkreten Fall an, dass f (qk+1 ) > 0 ist. Dann ist die von den Punkten qk+1 , · · · , qn ausge¨ubte (positive) Gesamtanziehungskraft 1/ f (qk+1 ) + · · · + 1/ f (qn ). Ebenso verh¨alt es sich f¨ur f (qk ) < 0. Die von den Punkten q1 , · · · , qk ausge¨ubte (negative) Gesamtanziehungskraft ist 1/ f (q1 ) + · · · + f (qk ). Die Summe aus beiden ergibt (30.1). Wir wollen die Identit¨at (30.1) beweisen. Rufen wir uns ins Ged¨achtnis, dass alle Nullstellen von f reell sind: f (x) = (x − q1 ) · · · (x − qn ). Es folgt, dass f (x) = (x − q2 ) · · · (x − qn ) + (x − q1 )(x − q3 ) · · · (x − qn ) + · · · + (x − q1 )(x − q2 ) · · · (x − qn−1 ) f
ist, und somit (qi ) = (qi − q1 )(qi − q2 ) · · · (qi − qn ) gilt (nat¨urlich lassen wir das Glied qi − qi weg). Dann ist (30.1) a¨ quivalent zur Identit¨at 1 1 + (q1 − q2 )(q1 − q3 ) · · · (q1 − qn ) (q2 − q1 )(q2 − q3 ) · · · + (q2 − qn ) +···+
1 = 0. (qn − q1 ) · · · (qn − qn−1 )
(30.2)
Bleibt (30.2) zu beweisen. Betrachten wir das Polynom vom Grad n − 1: g(x) =
(x − q1 )(x − q3 ) · · · (x − qn ) (x − q2 )(x − q3 ) · · · (x − qn ) + (q1 − q2 )(q1 − q3 ) · · · (q1 − qn ) (q2 − q1 )(q2 − q3 ) · · · + (q2 − qn )
480
30 Gravitationsanziehung von Ellipsoiden
+···+
(x − q1 )(x − q2 ) · · · (x − qn−1 ) . (qn − q1 ) · · · (qn − qn−1 )
Es gilt g(q1 ) = g(q2 ) = · · · = g(qn ) = 1. Hat ein Polynom vom Grad n − 1 sogar n Nullstellen, so muss dieses Polynom identisch null sein. Daher ist g(x) ≡ 1. Insbesondere ist der f¨uhrende Term g(x) null, und das ist genau Identit¨at (30.2). 2
30.6 Anziehung außerhalb eines Hom¨ooids: Satz von Ivory Wir haben bewiesen, dass die Anziehungskraft im Innern eines homogenen Hom¨ooids null ist. Wie sieht es aber außerhalb aus? Die Antwort fand James Ivory Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein Ellipsoid M0 x2 y2 z2 + + =1 a2 b2 c2 geh¨ort zu einer einparametrigen Schar quadratischer Fl¨achen Mλ x2 a2 + λ
+
y2 b2 + λ
+
z2 c2 + λ
= 1,
die als konfokale Quadriken bezeichnet werden (siehe Vorlesung 28). Abh¨angig vom Wert des Parameters λ , kann das ein Ellipsoid, ein einschaliges Hyperboloid oder ein zweischaliges Hyperboloid sein. ¨ Satz 30.3. Die Aquipotenzialfl¨ achen der freien Ladungsverteilung auf einem Ellipsoid sind die konfokalen Ellipsoide. Beweis. Der Beweis beruht auf einem Lemma von Ivory. Betrachten wir zwei konfokale Ellipsoide M0 und Mλ . Letzterer geht aus Ersterem durch eine affine Transformation hervor, die eine Streckung entlang der drei Koordinatenachsen bewirkt: a b c x, y z (30.3) A : (x, y, z) → (X,Y, Z) = a b c mit
a =
a2 + λ , b = b2 + λ , c = c2 + λ .
Wir werden (x, y, z) und (X,Y, Z) als die einander entsprechenden Punkte bezeichnen. Lemma 30.1. Seien P, Q zwei Punkte auf einem Ellipsoid M0 , und seien P , Q die entsprechenden Punkte auf Mλ . Dann gilt: |PQ | = |P Q| (siehe Abbildung 30.7 auf der n¨achsten Seite). Beweis des Lemmas. Der Beweis ist rechnerisch. Seien P = (x, y, z), Q = (u, v, w) und P = (X,Y, Z), Q = (U,V,W ). Dann gilt |PQ |2 = |P|2 + |Q |2 − 2P · Q ,
|P Q|2 = |P |2 + |Q|2 − 2P · Q.
30.6 Anziehung außerhalb eines Hom¨ooids: Satz von Ivory
481
Abb. 30.7 Lemma von Ivory.
Bedenken Sie, dass P · Q = P · Q ist, was direkt aus (30.3) folgt. Es bleibt |P |2 − |P|2 = |Q |2 − |Q|2 zu beweisen. Tats¨achlich ist die linke Seite gleich 2 a 2 x b 2 c 2 y2 z2 2 2 2 = λ, −1 x + −1 y + −1 z = λ + + a b c a2 b2 c2 und ebenso die rechte Seite. 2 Wir k¨onnen nun den Beweis des Satzes von Ivory abschließen. Betrachten wir zwei infinitesimal d¨unne konfokale Hom¨ooide gleichen Volumens M0 und Mλ . Seien P und P einander entsprechende Punkte auf ihnen. Dann ist das von M0 im Punkt P hervorgerufene Potenzial gleich dem von Mλ im Punkt P hervorgerufenen. Seien Q und Q wirklich einander entsprechende Punkte. Wir betrachten ein infinitesimales Volumen an Q und ein gleiches Volumen an Q . Nach Lemma 30.1 ist der Beitrag des ersten Volumens zum Potenzial im Punkt P gleich dem Beitrag des zweiten Volumens zum Potenzial im Punkt P. Da dies f¨ur alle Paare einander entsprechender Punkte Q, Q gilt, folgt daraus die Behauptung. Somit ist das von M0 an jedem Punkt P von Mλ hervorgerufene Potenzial gleich dem von Mλ im entsprechenden Punkt P von M0 hervorgerufenen. Das Potenzial in einem gleichf¨ormigen Hom¨ooid Mλ ist aber konstant. Somit ist das von M0 an jedem Punkt von Mλ hervorgerufene Potenzial gleich. 2 Bemerken wir abschließend, dass die S¨atze von Newton und Ivory u¨ ber Gravitationsanziehung quadratischer Fl¨achen elegante Entsprechungen in der Magnetostatik haben, die von V. Arnold entdeckt wurden (siehe [4]). Betrachten wir ein einschaliges Hyperboloid und nehmen wir an, dass es zwischen seinen Enden im Unendlichen einen Spannungsabfall gibt. Dieser Spannungsabfall induziert einen elektrischen Strom entlang der Meridiane des Hyperboloids. Die Behauptung ist, dass das Magnetfeld dieses Stroms im Hyperboloid null ist, und außerhalb des Hyperboloids das Magnetfeld entlang seiner Parallelen gerichtet ist.
482
30 Gravitationsanziehung von Ellipsoiden
Vladimir Arnold 1937–2010
Isaac Newton 1643–1727
¨ 30.7 Ubungen ¨ Ubung 30.1. Seien x1 , . . . , xn+1 und a1 , . . . , an+1 zwei Mengen verschiedener reeller Zahlen. Konstruieren Sie ein Polynom vom maximalen Grad n, das im Punkt xi den Wert ai annimmt. Wie viele solcher Polynome gibt es? ¨ Ubung 30.2. Sei f (x) ein normiertes Polynom vom Grad n mit n verschiedenen reellen Nullstellen q1 , . . . , qn . Beweisen Sie qk1 qkn + · · · + =0 f (q1 ) f (qn ) f¨ur k = 0, 1, . . . , n − 2 und qn−1 qn−1 n 1 + · · · + = 1. f (q1 ) f (qn ) ¨ Ubung 30.3. Beweisen Sie, dass die Schlussfolgerung aus Satz 30.2 auf Seite 478 auch dann noch gilt, wenn die Ladungsdichte mit einem beliebigen Polynom φ (x, y, z) vom maximalen Grad n − 2 multipliziert wird. Kommentar: Eine auf A. Givental [36] zur¨uckgehende Verallgemeinerung besagt: Wird die Ladungsdichte mit einem Polynom vom Grad m multipliziert, so ist das Potenzial an den inneren Punkten durch ein Polynom vom maximalen Grad m + 2 − n gegeben. ¨ Ubung 30.4. Eine harmonische Funktion f (x, y) ist eine Funktion, die die Gleichung ∂2 f ∂2 f + =0 ∂ x2 ∂ y2
¨ 30.7 Ubungen
483
erf¨ullt (etwa x2 − y2 oder ln (x2 + y2 )). (a) Beweisen Sie, dass eine harmonische Funktion weder lokale Maxima noch lokale Minima hat. (b) Beweisen Sie, dass eine Niveaulinie einer glatten harmonischen Funktion keine einfache geschlossene Kurve sein kann. (c) Beweisen Sie, dass die folgenden Polynome vom Grad n harmonisch sind: n−k n 2 Pn (x, y) = ∑ (−1) k xk yn−k k≡n(mod 2) und Qn (x, y) =
∑
k+1≡n(mod 2)
(−1)
n−k−1 2
n k n−k xy . k
Diese Polynome sind die Real- und Imagin¨arteile von (x + iy)n . (d) Beweisen Sie, dass jedes homogene harmonische Polynom vom Grad n die Form aPn (x, y) + bQn (x, y) hat, wobei a und b reelle Zahlen sind. ¨ Ubung 30.5. Beweisen Sie, dass jede endliche Konfiguration positiver und negativer Ladungen nicht stabil sein kann. Hinweis: Das Coulomb-Potenzial ist eine harmonische Funktion. ¨ Ubung 30.6. Ein Polynom p(x, y) = 0 definiert eine algebraische Kurve; eine Eikurve der algebraischen Kurve ist eine einfache geschlossene glatte Kurve, die diese Gleichung erf¨ullt (siehe Vorlesung 10 f¨ur Eikurven kubischer Kurven). (a) Wir haben in Vorlesung 17 gesehen, dass eine Kurve vierter Ordnung vier Eikurven haben kann. Beweisen Sie, dass sie nicht f¨unf Eikurven haben kann. Hinweis: Eine Kurve vierter Ordnung hat h¨ochstens acht Schnittpunkte mit einem allgemeinen Kegelschnitt. (b) Zeigen Sie, dass h¨ochstens zwei Eikurven einer Kurve vierter oder f¨unfter Ordnung verschachtelt sind. Und zeigen Sie, dass es, wenn es zwei verschachtelte Eikurven gibt, keine weiteren Eikurven gibt. Hinweis: Betrachten Sie den Schnittpunkt mit einer Geraden. (c) Was ist die gr¨oßte Anzahl paarweise verschachtelter Eikurven, die eine Kurve der Ordnung n haben kann? Kommentar: Die maximale Anzahl von Komponenten einer algebraischen Kurve der Ordnung n in der projektiven Ebene ist (n2 − 3n + 4)/2 (Satz von Harnack). In Hilberts sechzehntem Problem sollen wir m¨ogliche gegenseitige Lagen der Eikurven algebraischer Kurven klassifizieren. ¨ Ubung 30.7. Gegeben seien zwei konfokale Ellipsen. Sei A eine affine Transformation wie in (30.3), die die erste Ellipse in die zweite u¨ berf¨uhrt. Beweisen Sie, dass jeder Punkt P und sein Bild A(P) auf einer Hyperbel liegen, die konfokal zu den Ellipsen ist.
484
30 Gravitationsanziehung von Ellipsoiden
¨ Ubung 30.8. Gegeben sei ein konvexes Polyeder. Betrachten Sie die Vektoren, die orthogonal zu seinen Seitenfl¨achen sind und deren Betrag gleich dem Fl¨acheninhalt seiner Seiten ist. Beweisen Sie, dass die Summe dieser Vektoren null ist. Hinweis: Bei einer orthogonalen Projektion von einer Ebene auf die andere wird der Fl¨acheninhalt mit dem Kosinus des Winkels zwischen den Ebenen multipliziert. Kommentar: Die Behauptung ist physikalisch einleuchtend: Die betreffenden Vektoren sind die Dr¨ucke, die die Luft im Innern des Polyeders auf dessen Seitenfl¨achen aus¨ubt.
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
Vorlesung 1 ¨ L¨osung zu Ubung 1.4 Im Fall r = 0 gilt
α = [a0 ; a1 , . . . , ad−1 , α ] , was wie folgt geschrieben werden kann:
α=
Aα + B , Cα + D
Cα 2 + (D − A)α − B = 0 .
Um den allgemeinen Fall zu betrachten, rufen Sie sich Folgendes ins Ged¨achtnis: Ist γ eine Wurzel (Nullstelle) der quadratischen Gleichung Kx2 + Lx + M = 0, so ist 1 a + eine Wurzel der quadratischen Gleichung Mx2 + (L − 2aM)x + (Ma2 − La + γ K) = 0. Wenn α ein periodischer Kettenbruch mit r = 0 ist, so gilt
α = [a0 ; a1 , . . . , ar−1 , β ] , wobei β ein periodischer Kettenbruch mit r = 0 ist. Folglich ist β eine Wurzel einer quadratischen Gleichung mit ganzzahligen Koeffizienten. Und βr−1 = 1 1 1 1 , . . . , β1 = a1 + , α = a0 + sind allesamt Wurar−1 + , βr−2 = ar−2 + β βr−1 β2 β1 zeln quadratischer Gleichungen mit ganzzahligen Koeffizienten. ¨ L¨osung zu Ubung 1.5 Siehe [56], Kapitel 4. ¨ L¨osung zu Ubung 1.6 √ 3 = [1; 1, 2, 1, 2, 1, 2, . . . ], √ 5 = [2; 4, 4, 4, 4, . . . ], n2 + 1 = [n; 2n, 2n, 2n, 2n, . . . ], n2 − 1 = [n − 1; 1, 2(n − 1), 1, 2(n − 1), 1, 2(n − 1), 1, . . . ].
D. Fuchs, S. Tabachnikov, Ein Schaubild der Mathematik, c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 DOI 10.1007/978-3-642-12960-5,
485
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
486
¨ L¨osung zu Ubung 1.9 Bedenken Sie zun¨achst, dass f¨ur jede reelle Zahl γ = 0 und 1 jede ganze Zahl a die Zahlen γ und a + verwandt sind: γ a+
1 aγ + 1 , = γ γ +0
a · 0 − 1 · 1 = −1 .
Sind die Kettenbr¨uche α und β fast identisch, so gilt
α = [a0 ; a1 , . . . , am−1 , γ ],
β = [b0 ; b1 , . . . , bn−1 , γ ] .
1 1 1 1 , α1 = a1 + , α = Folglich ist γ mit αm−1 = am−1 + , αm−2 = am−2 + γ αm−1 α2 α1 1 1 1 1 und auch mit βn−1 = bn−1 + , βn−2 = bn−2 + , . . . , β1 = b1 + , β = b0 + γ βn−1 β2 β1 verwandt. Somit sind α und β verwandt. (Dabei haben wir implizit immer wieder ¨ Ubung 1.8 verwendet.) ¨ L¨osung zu Ubung 1.10 Lemma L.2. Sind α und β verwandt, so kann β durch eine Folge von Operationen 1 γ → −γ , γ → γ + 1, γ → aus α gewonnen werden. γ aβ + b , ad − bc = ±1. Indem wir, falls n¨otig, das cα + d Vorzeichen von α wechseln, k¨onnen wir a ≥ 0, c ≥ 0 annehmen. Dann folgen wir dem euklidischen Algorithmus f¨ur (a, c): Im Fall a = pc + q, 0 ≤ q < c gehen wir von α zu α − p u¨ ber (also α → −α → −α + 1 → . . . → −α + p → α − p), und wir qβ + r erhalten mit r = b− pd; offenbar ist qd −rc = ad −bc = ±1. Das u¨ berf¨uhren cβ + d kβ + cβ + d usw. Schließlich kommen wir zu mit km − 0 · = ±1, was wir in qβ + r 0·β +m k = ±1, m = ±1 impliziert. Somit wurde α durch unsere Operationen auf ±β ± reduziert, was durch unsere Operationen offensichtlich auf β reduziert werden kann.2 Beweis des Lemmas. Sei α =
¨ Um den Beweis der Aussage aus Ubung 1.10 abzuschließen, m¨ussen wir nur 1 noch feststellen, dass der Kettenbruch f¨ur jedes der −α , α + 1, fast identisch zum α ¨ Kettenbruch von α ist (siehe Ubung 1.2 f¨ur −α ). ¨ L¨osung zu Ubung 1.11 Sei α = [a0 ; a1 , a2 , . . . ] nicht mit dem Goldenen Schnitt verwandt. Das bedeutet, dass es unendlich viele an ≥ 2 gibt. Fall 1: Es gibt unendlich viele an ≥ 3. Dann sind die G¨uteindikatoren der zu√ geh¨origen N¨aherungsbr¨uche an + · · · > 3 > 8. Sei an ≤ 2 f¨ur große n.
Vorlesung 1
487
Fall 2: Es gibt unendlich viele an = 1. Dann gibt es unendlich viele n mit an = 2, an+1 = 1. Die G¨uteindikatoren der zugeh¨origen N¨aherungsbr¨uche sind 1 1 1 17 √ 1 + > 2+ + = 2+ > 8. 2 3 6 .. .. 1 + . an−1 + . ¨ Ubrig bleibt Fall 3: Sei an = 2 f¨ur große n. Dann ist der Grenzwert der G¨uteindikatoren der √ √ 1 √ = 2+1+ N¨aherungsbr¨uche [2; 2, 2, 2, . . . ] + [0; 2, 2, 2, . . . ] = 1 + 2 + 1+ 2 √ √ √ ( 2 − 1) = 2 2 = 8. ¨ L¨osung zu Ubung 1.12 Wir verwenden dieselbe Notation wie in der vorherigen L¨osung. Fall 1: Es gibt unendlich viele an ≥ 3. Die G¨uteindikatoren der zugeh¨origen 221 N¨aherungsbr¨uche sind > 3 > . 25 √ Da α weder mit dem Goldenen Schnitt noch mit 2 verwandt ist, k¨onnen wir f¨ur große n an ≤ 2 annehmen, und es gibt unendlich viele Fragmente {1, 2} in {an }. Fall 2: Es gibt unendlich viele Fragmente {1, 2, 1} in der Folge {an }. Die G¨uteindikatoren der zugeh¨origen N¨aherungsbr¨uche sind gr¨oßer als 1 221 1 + >3> 2+ . 25 .. .. . . 1+ 1+ Angenommen, es gibt nur endlich viele Fragmente {1, 2, 1}. Fall 3: Es gibt unendlich viele Fragmente {2, 1, 2}. Dann gibt es unendlich viele Fragmente {2, 2, 1, 2, 2}. Folglich haben unendlich viele N¨aherungsbr¨uche G¨uteindikatoren 1 7 1 1 1 1 221 >3> . > 2+ + = 2+ + + 2+ 1 1 3 3 10 25 .. 1 + 1 + . 2+ 1 1 2+ 2+ 3 .. 2+ . Angenommen, es gibt auch nur endlich viele Fragmente {2, 1, 2}. Fall 4: Es gibt unendlich viele Fragmente {2, 2, 2}. Dann gibt es unendlich viele Fragmente {a, 1, 1, 2, 2, 2, 2, b} mit a ≤ 2, b ≤ 2. Folglich gibt es unendlich viele N¨aherungsbr¨uche mit G¨uteindikatoren der Form 2+
1 1+
+
1 1+
1 ..
a+ .
1 2+
> 2+
1 2+
1 ..
b+ .
1 1+
1 1 1+ 3
7 4 > = 2+ + 7 17
+
1 2+
1 2+
221 . 25
1 3
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
488
Angenommen, es gibt auch nur endlich viele Fragmente {2, 2, 2}. Fall 5: Es gibt unendlich viele Fragmente {1, 1, 1}. Dann gibt es unendlich viele Fragmente {1, 1, 1, 2, 2, 1, 1} und folglich unendlich viele N¨aherungsbr¨uche mit G¨uteindikatoren, die gr¨oßer sind als 1 3 3 221 1 + = 2+ + > 2+ . 1 1 8 5 25 1+ 2+ 1 1 1+ 1+ 2 2 √ 9 + 221 verwandt. In diesem Fall ist α mit [2; 2, 1, 1, 2, 2, 1, 1, . . . ] = 10 ¨ Ubrig bleibt Fall 6: Der Kettenbruch ist periodisch und hat die Periode {1, 1, 2, 2}. In diesem Fall sind die G¨uteindikatoren der N¨aherungsbr¨uche, die zu den unvollst¨andigen Br¨uchen 1 geh¨oren, zu klein, um sie zu betrachten, und die G¨uteindikatoren der N¨aherungsbr¨uche, die zu den unvollst¨andigen Br¨uchen 2 geh¨oren, haben den Grenzwert [2; 2, 1, 1, 2, 2, 1, 1, . . . ] +[0; 1,√ 1, 2, 2, 1, 1, 2, 2,√. . . ] 221 9 + 221 −9 + 221 = + = . 10 10 25 ¨ L¨osung zu Ubung 1.13 F¨ur die im Hinweis angegebenen Zahlen ist der Grenzwert der G¨uteindikatoren der N¨aherungsbr¨uche, die zu den√unvollst¨andigen √ Br¨uchen 2 5−1 3− 5 + = 3. geh¨oren, 2 + [0; 1, 1, 1, 1, . . . ] + [0; 2, 1, 1, 1, . . . ] = 2 + 2 2 ¨ L¨osung zu Ubung 1.15 Die gr¨oßte Zahl, deren unvollst¨andige Br¨uche allesamt ≤ n sind, ist offensichtlich √ n + n2 + 4n . [n; 1, n, 1, n, 1, n, . . . ] = 2 Der gr¨oßtm¨ogliche Grenzwert von G¨uteindikatoren einer unendlichen Folge von √ 2 N¨aherungsbr¨uchen √ ist folglich [n; 1, n, 1, n, . . . ] + [0; 1, n, 1, n, 1, n, . . . ] = n + 4n. Daher ist λn = n2 + 4n.
Vorlesung 2 ¨ L¨osung zu Ubung 2.3 Seien m99 , m98 , . . . , m1 , m0 und n99 , n98 , . . . , n1 , n0 die Ziffernvon mund n im Zahlensystem mit der Basis 2. Nach dem Satz von Kummer m+n genau dann gerade, wenn es bei der Addition m + n mindestens einen ist n ¨ Ubertrag gibt, wenn also mindestens eines der Paare (mi , ni ) gleich (1, 1) ist. Also
Vorlesung 2
489
gibt es f¨ur jedes Paar (mi , ni ) drei M¨oglichkeiten, was zeigt, dass die Gesamtzahl der m + n ungerade ist, gleich Paare (m, n) mit 0 ≤ m < 2100 , 0 ≤ n < 2100 , f¨ur die n 3100 ist. Das sind
aller Zahlen
m+n . n
3100 ≈ 3.21 · 10−13 4100
¨ L¨osung zu Ubung 2.4 Wir verwenden die Notation mi , ni aus der vorherigen m+n genau dann nicht durch 4 teilbar, L¨osung. Nach dem Satz von Kummer ist n ¨ wenn es bei der Addition m + n h¨ochstens einen Ubertrag gibt. Mit anderen Worten: Es sollte entweder u¨ berhaupt keine Paare (1, 1) geben, und wir wissen bereits, dass es 3100 solcher Paare gibt, oder das einzige derartige Paar ist (m99 , n99 ) oder es muss (mk+1 , nk+1 ) = (0, 0), (mk , nk ) = (1, 1) f¨ur ein k ≤ 98 gelten, wobei alle anderen (mi , ni ) von (1, 1) verschieden sind. Daher ist die Gesamtzahl der Zahlen Paare m+n , die nicht durch 4 teilbar sind, 3100 + 399 + 99 · 398 = 111 · 398 = 37 · 399 . n Das sind
m+n . aller Zahlen n
37 · 399 ≈ 3.96 · 10−12 4100
2n(2n − 1) n 2n = − − n = 2n(n − 1). Diese Zahl 1 2 2 n n(n − 1) gerade ist. = ist genau dann durch 8 teilbar, wenn 2 2 n 2n = − (b) 2 4 ¨ L¨osung zu Ubung 2.6 (a)
2n(2n − 1)(2n − 2)(2n − 3) n(n − 1) 2n2 (n − 1)(n − 2) − = . 24 2 3 Diese Zahl ist genau dann nicht durch 8 teilbar, wenn n ungerade und n − 1 nicht durch 4 teilbar ist, also n ≡ 3 mod 4. n 3n ¨ = − L¨osung zu Ubung 2.7 (a) 1 3 3n(3n − 1)(3n − 2) n 9n2 (n − 1) − n = [(3n − 1)(3n − 2) − 2] = . 6 2 2
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
490
Diese Zahl ist genau dann nicht durch 27 teilbar, wenn weder n noch n − 1 durch 3 teilbar ist, also n≡2 mod 3. n 3n − (b) 2 6 3n(3n − 1)(3n − 2)(3n − 3)(3n − 4)(3n − 5) n(n − 1) − , 720 2 n(n − 1) [(3n − 1)(3n − 2)(3n − 4)(3n − 5) − 40] , = 80 9n2 (n − 1)(n − 2)(9n2 − 18n + 13) . = 80 =
Diese Zahl ist immer durch 27 teilbar. ¨ L¨osung zu Ubung 2.8 (a) Das ergibt sich aus der Formel von Newton (1 + y)r = 1 + ry +
r(r − 1) 2 r(r − 1)(r − 2) 3 y + y +... 2! 3!
1 (die f¨ur jedes reelle r und jedes y mit |y| < 1 gilt). Setzen wir y = −4x, r = − . Wir 2 1 erhalten √ = 1 − 4x 1 1 3 3 5 − − − − − 1 2 2 2 2 2 (−4x)2 + (−4x)3 + . . . . 1 − (−4x) + 2 2! 3! Der Term mit (−4x)n ist 1 3 2n − 1 − − ... − 1 · 3 · 5 . . . (2n − 1) 2 2 2 (−4x)n = (−1)n (−4x)n n! 2n n! 1 · 2 · 3 · · · · · 2n n n (2n)! 2n n x . = 4 x = n 4n xn = n 2 · 4 · · · · · 2n · 2n n! 2 n! · 2n n! Folglich gilt √
∞ 2n n 1 x . =∑ 1 − 4x n=0 n
(b) Aus Teil (a) ergibt sich ∞ ∞ 1 2n 2n ∑ n xn ∑ n xn = 4x − 1 = 1 + 4x + (4x)2 + (4x)3 + . . . n=0 n=0
Vorlesung 2
491
Wir setzen die Terme mit xn gleich: 2p 2q ∑ p x p · q xq = (4x)n, p+q=n also ist
∑
p+q=n
2p p
2q = 4n . q
¨ L¨osung zu Ubung 2.9 (a) Einer der vielen m¨oglichen Beweise ist (2n)! (2n)! 1 (2n)! 1 1 Cn = · = · = − n!(n + 1)! n(n + 1) (n −1)!n! n n + 1 (n − 1)!n! 2n (2n)! 2n (2n)! . − − = = n+1 n n!n! (n − 1)!(n + 1)! ∞ 1 2n n x = (1 − 4x)− 2 . Folglich gilt (c) Nach (b) gilt (xC(x)) = ∑ n=0 n xC(x) =
#
(1 − 4x)
− 12
√ 1 1 (1 − 4x) 2 1 − 4x +C , dx = − · +C = − 1 4 2 2
1 und aus 0 ·C(0) = 0 ergibt sich C(0) = . Also ist 2 √ √ 1 1 − 4x 1 − 1 − 4x xC(x) = − und C(x) = . 2 2 2x √ 1 − 1 − 4x (d) Aus der in Teil (c) bewiesenen Formel C(x) = schließen wir 2x xC(x)2 −C(x) + 1 = 0. Wegen C(x)2 =
∞
∑
n=0
∞
∑
∑
p+q=n
n=0
also 0= =
∞
∑
∑
CpCq xn impliziert dies
p+q=n ∞
C pCq xn+1 − ∑ Cn xn + 1 = 0, n=0
∞
C pCq xn − 1 − ∑ Cn xn + 1 n=1 p+q=n−1 n=1 ∞
∑
n=1
∑
∑
p+q=n−1
CpCq −Cn xn .
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
492
Somit gilt Cn =
∑
CpCq f¨ur n ≥ 1 .
p+q=n−1
(e) Wir wenden Induktion u¨ ber n an. Im Fall n = 0 lautet unser Ausdruck nur a1 , was keine Multiplikation beinhaltet und nur 1 = C0 bedeutet. Nehmen wir an, dass unsere Aussage f¨ur alle Produkte a1 ∗ · · · ∗ ak+1 mit k < n gilt. Sei A eine der Bedeutungen des Produkts a1 ∗ · · · ∗ an+1 . Wir zerlegen A nach der zuletzt ausgef¨uhrten Multiplikation: A = B∗C, wobei sich B und C aus a1 ∗· · ·∗ak (die zuletzt ausgef¨uhrte Multiplikation) und ak+1 ∗ · · · ∗ an+1 (1 ≤ k ≤ n) durch Spezifikation der Reihenfolge der Multiplikation ergeben. F¨ur die Anzahl der Bedeutungen von a1 ∗ · · · ∗ an+1 gilt demnach n
∑ Ck−1Cn−k = ∑
k=1
CpCq = Cn .
p+q=n−1
(f) Wir wenden Induktion u¨ ber n an. Im Fall n = 3 ist die Anzahl der Triangulationen 1 = C1 . Wir nehmen an, dass unsere Aussage f¨ur alle konvexen k-Ecke mit k < n gilt. Sei P = A1 A2 . . . An . Wir betrachten eine Triangulation von P. Sei A1 A2 Ak (3 ≤ k ≤ n) das Dreieck der Triangulation, das A1 A2 enth¨alt. Dann ist unser Triangulation durch Triangulationen des (k − 1)-Ecks A2 A3 . . . Ak (was im Fall k = 3 keine ist) und des (n − k + 2)-Ecks A1 Ak Ak+1 . . . An bestimmt. Folglich ist die Anzahl der Triangulationen von P n−1
Cn−3 + ∑ Ck−3Cn−k +Cn−3 = k=4
∑
C pCq = Cn−2 .
p+q=n−3
Vorlesung 3 ¨ L¨osung zu Ubung 3.1 Sei n = n1 + · · · + nk eine Partition aus dem linken Kasten, und sei ni = mi · 2di , wobei mi ungerade ist. Wir ersetzen ni durch mi + · · · + mi 2di
und bringen die Summanden in eine nicht fallende Reihenfolge. Wir erhalten eine Partition von n aus dem rechten Kasten. Sei n = n1 + · · · + nk eine Partition aus dem rechten Kasten. F¨ur eine ungerade Zahl m sei rm die Anzahl der m in der Partition. Sei rm = 2dm,1 + · · · + 2dm,s , dm,1 > · · · > dm,s ≥ 0 (dies ist a¨ quivalent zur Darstellung von rm in einem Zahlensystem mit der Basis 2). F¨ur jedes m ersetzen wir die Gruppe m + · · · + m durch m · 2dm,1 + · · · + rm
m · 2dm,s und ordnen dann die Summanden in steigender Reihenfolge. Wir erhalten eine Partition von n aus dem linken Kasten.
Vorlesung 3
493
Diese beiden Transformationen zwischen Partitionen im linken Kasten und Partitionen im rechten Kasten sind zueinander invers. ¨ L¨osung zu Ubung 3.2 1 −1 1 1 1 ps = 1 − = 1 + s + 2s + 3s + . . . . s s p −1 p p p p Somit gilt
∏
ps ps − 1
1 1 = ∏ 1 + s + 2s + . . . p p ∞ 1 1 = . = ∑ ∑ k k k s s 2 3 5 n=1 n k ,k ,k ,... (2 3 5 . . . ) 2 3 5
¨ L¨osung zu Ubung 3.3 d(2k2 3k3 5k5 . . . ) = ∑0≤ p ≤k p (22 33 55 . . . ) =
∏
(1 + p + p2 + · · · + pk p ) =
p∈{Primzahlen}
∏
p∈{Primzahlen}
pk p +1 − 1 . p−1
¨ L¨osung zu Ubung 3.5 Erstens gilt −(kl + km + lm) =
k2 + l 2 + m2 − (k + l + m)2 k 2 + l 2 + m2 − 1 = ≥ 0. 2 2
Zweitens sind die Reste der Quadrate modulo 8 gleich 0, 1 oder 4, und k2 + l 2 + m2 − 1 kann nicht 6 modulo 8 sein. ¨ L¨osung zu Ubung 3.8 Wir beschr¨anken uns auf die Teile (a)–(d); wir hoffen, dass Sie die L¨osungen der u¨ brigen Teile rekonstruieren k¨onnen. Lemma L.3. F¨ur jedes k gilt F1 + F2 + · · · + Fk = Fk+2 − 2. Beweis. Induktion u¨ ber k. Im Fall k = 1 ist die Aussage (1 = 3 − 2) wahr. Im Fall F1 + F2 + · · · + Fk = Fk+2 − 2 ist dann F1 + F2 + · · · + Fk+1 = (F1 + F2 + · · · + Fk ) + Fk+1 = Fk+2 − 2 + Fk+1 = Fk+3 − 2. Lemma L.4. F¨ur jedes k gilt F1 + F3 + · · · + F2k−1 = F2k − 1, F2 + F4 + · · · + F2k = F2k+1 − 1. Beweis. Induktion u¨ ber k. Im Fall k = 1 ist die Aussage (1 = 2 − 1, 2 = 3 − 1) wahr. Im Fall F1 + F3 + · · · + F2k−1 = F2k − 1 ist dann F1 + F3 + · · · + F2k+1 = (F1 + F3 + · · · + F2k−1 ) + F2k+1 = F2k − 1 + F2k+1 = F2k+2 − 1. Im Fall F2 + F4 + · · · + F2k =
494
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
F2k+1 − 1 ist dann F2 + F4 + · · · + F2k+2 = (F2 + F4 + · · · + F2k ) + F2k+2 = F2k+1 − 1 + F2k+2 = F2k+3 − 1. (a) Induktion u¨ ber k. Im Fall n = 1 ist die Aussage (1 = F1 ) wahr. Sie gelte f¨ur alle Zahlen, die kleiner als n sind. Sei Fk die gr¨oßte Fibonacci-Zahl ≤ n. Im Fall Fk = n ist dann n = Fk unsere Partition; sei Fk < n. Nach der Induktionsannahme ist n − Fk = Fk1 + · · · + Fks , k1 < · · · < ks . Aber n < Fk+1 impliziert n − Fk < Fk+1 − Fk = Fk−1 ; folglich ist ks < k − 1, und n = Fk1 + · · · + Fks + Fk erf¨ullt unsere Forderungen. (b) Die Existenz einer Partition n = Fk1 + · · · + Fks mit ki − ki−1 ≥ 2 wurde eigentlich schon in Teil (a) bewiesen: Es reicht aus, die Bedingung ki − ki−1 ≥ 2 in die Induktionsannahme aufzunehmen. Wir wollen nun die Eindeutigkeit beweisen. Seien Fk1 + · · · + Fks = F1 + · · · + Ft zwei verschiedene Partitionen derselben Zahl mit ki −ki−1 ≥ 2 f¨ur 1 < i ≤ s und j − j−1 ≥ 2 f¨ur 1 < j ≤ t. Im Fall Fks = Ft streichen wir die Glieder und setzen diese Verfahrensweise so lange fort, bis sich die gr¨oßten Teile der Partition voneinander unterscheiden. Somit k¨onnen wir ks < t annehmen. Außerdem gilt Fk1 + · · · + Fks ≤ Fks + Fks −2 + · · · + (F2 oder F1 ) = Fks +1 − 1 < Fks +1 ≤ Ft ≤ F1 + · · · + Ft (wir haben Lemma L.4 verwendet). Das ist ein Widerspruch. (c) Sei n = Fk1 + · · ·+ Fks eine Partition wie in Teil (a). Gilt f¨ur ein i i > 1 und ki > ki−1 + 2 oder i = 1 und k1 > 2, so ersetzen wir Fki durch Fki −2 + Fki −1 . Wir erhalten eine andere Partition als in (a). Die Anzahl ihrer Glieder ist gr¨oßer. Ist die Bedingung in (c) noch nicht erf¨ullt, wenden wir wieder denselben Trick an, und der Prozess muss irgendwann stoppen, da die Anzahl der Summanden nicht unendlich wachsen kann. Dies beweist die Existenz einer Partition mit der geforderten Eigenschaft; wir wollen ihre Eindeutigkeit beweisen. Seien Fk1 + · · · + Fks = F1 + · · · + Ft zwei verschiedene Partitionen derselben Zahl mit k1 ≤ 2, 1 ≤ 2, ki − ki−1 ≤ 2 f¨ur 1 < i ≤ s und j − j−1 ≤ 2 f¨ur 1 < j ≤ t. Wie in der L¨osung von (b) k¨onnen wir ks < t annehmen. Außerdem gilt Fk1 + · · · + Fks ≤ F1 + F2 + · · · + Fks = Fks +2 − 2 < Fks +2 − 1 = Fks +1 + Fks −1 + · · · + (F2 oder F1 ) ≤ Ft + Ft −2 + · · · + (F2 oder F1 ) ≤ F1 + · · · + Ft (wir haben Lemma L.3 und Lemma L.4 verwendet). Das ist ein Widerspruch.
Vorlesung 3
495
(d) In der L¨osung zu Teil (c) wurde gezeigt, dass jede Partition n = Fk1 + · · · + Fks , 1 ≤ k1 < · · · < ks auf die in (c) beschriebene Partition reduziert werden kann. Das geschieht u¨ ber eine endliche Folge von Ersetzungen Fk → Fk−1 + Fk−2 , die auf k = ki angewendet werden, sodass ki > ki−1 +2 oder i = 1 und k1 > 2 ist. Umgekehrt kann jede Partition wie in Teil (a) auf eine Partition wie in Teil (c) durch endlich viele Ersetzungen Fk + Fk+1 → Fk+2 zur¨uckgef¨uhrt werden, die angewendet werden, wenn ki = k, ki+1 = k + 1 und ki+2 > k + 2 (oder i + 2 > s) ist. F¨ur positive ganze Zahlen j1 , j2 , . . . , jq setzen wir S( j1 , j2 , . . . , jq ) = (F1 + · · · + Fj1 ) + (Fj1 +2 + · · · + Fj1 + j2 +1 ) j1
j2
+ · · · + (Fj1 +···+ jq−1 +q + · · · + Fj1 +···+ jq +q−1 ), jq
T ( j1 , j2 , . . . , jq ) = (F2 + · · · + Fj1 +1 ) + (Fj1 +3 + · · · + Fj1 + j2 +2 ) j1
j2
+ · · · + (Fj1 +···+ jq−1 +q+1 + · · · + Fj1 +···+ jq +q ) . jq
Nach Teil (c) ist jedes n entweder S( j1 , . . . , jq ) oder T ( j1 , . . . , jq ). Wir werden den Fall n = S( j1 , . . . , jq ) betrachten (der Beweis f¨ur n = T ( j1 , . . . , jq ) ist analog, ¨ abgesehen von der offensichtlichen Anderung der Notation und einer Verschiebung der Indizes). F¨ur n = S( j1 , . . . , jq ) setzen wir Kn = K( j1 , . . . , jq ), Hn = H( j1 , . . . , jq ) und Kn − Hn = M( j1 , . . . , jq ). Wir beginnen mit dem Fall q = 1, also n = S( j) (was gleich Fj+2 −2, aber nicht wesentlich f¨ur uns ist). In diesem Fall sind alle Partitionen von n in voneinander verschiedene Fibonacci-Zahlen n = F1 + · · · + Fj = F1 + · · · + Fj−2 + Fj+1 = F1 + · · · + Fj−4 + Fj−1 + Fj+1 F3 + F5 + F7 + · · · + Fj+1 , wenn j gerade ist, = ··· = F1 + F4 + F6 + · · · + Fj+1 , wenn j ungerade ist. Wir stellen fest, dass Kn die Anzahl der geraden Zahlen und Hn die Anzahl der j+1 ungeraden Zahlen unter den Zahlen j, j − 1, . . . , ist. Daraus erhalten wir 2 m f¨ur n = 4m + 1, Kn = m + 1 f¨ur n = 4m, 4m + 2 oder 4m + 3, m f¨ur n = 4m, Hn = m + 1 f¨ur n = 4m + 1, 4m + 2 oder 4m + 3 und folglich ⎧ f¨ur n ≡ 0 mod 4, ⎨1 M( j) = Kn − Hn = −1 f¨ur n ≡ 1 mod 4, ⎩ 0 f¨ur n ≡ 2 oder 3 mod 4.
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
496
Sei nun n = S( j1 , . . . , jq ), q ≥ 2; wir k¨onnen annehmen, dass |M(h1 , . . . , hr )| ≤ 1 ist, wenn r < q ist. Jede Partition von n in voneinander verschiedene FibonacciZahlen kann auf eine der oben genannten Partitionen von S( j1 , . . . , jq ) durch eine Folge von Schritten Fk +Fk+1 → Fk+2 zur¨uckgef¨uhrt werden. Entweder enth¨alt diese Folge den Schritt Fj1 −1 + Fj1 → Fj1 +1 oder nicht. Je nachdem zerlegen wir alle Kn und Hn in zwei Teile: Kn + Kn und Hn + Hn . Wird dieser Schritt nicht angewandt, so entsprechen die sich ergebenden Partitionen eineindeutig denen von S( j2 , . . . , jq ), und die Parit¨at der Anzahl der Summanden unterscheidet sich von der f¨ur n um die Parit¨at von j1 . Mit anderen Worten: Kn − Hn = (−1) j1 M( j2 , . . . , jq ). Ist Fj1 −1 + Fj1 → Fj1 +1 einer unserer Schritte, so k¨onnen wir mit diesem Schritt beginnen. Weitere Schritte f¨ur F1 + · · · + Fj1 −2 und (Fj1 + · · · + Fj1 + j2 ) + . . . werden unabh¨angig voneinander ausgef¨uhrt. Daher ist Kn = K( j1 − 2)K( j2 + 1, j3 , . . . , jq ) + H( j1 − 2)H( j2 + 1, j3 , . . . , jq ), Hn = K( j1 − 2)H( j2 + 1, j3 , . . . , jq ) + H( j1 − 2)K( j2 + 1, j3 , . . . , jq ), und Kn − Hn = M( j1 − 2)M( j2 + 1, j3 , . . . , jq ). Folglich gilt M( j1 , . . . , jq ) = (−1) j1 M( j2 , . . . , jq ) + M( j1 − 2)M( j2 + 1, . . . , jq ). F¨ur j1 ≡ 0 oder 1 mod 4 ist M( j1 − 2) = 0 und M( j1 , . . . , jq ) = (−1) j1 M( j2 , . . . , jq ) = 0 oder ± 1. F¨ur j1 ≡ 2 oder 3 mod 4 ist M( j1 − 2) = (−1) j1 und M( j1 , . . . , jq ) = (−1) j1 (M( ( j2 , . . . , jq ) + M()j2 + 1, j3 , . . . , jq )) = (−1) j1 (−1) j2 + (−1) j2 +1 M( j3 , . . . , jq ) +(−1) j1 (M( j2 − 2) + M( j2 − 1)) M( j3 + 1, j4 , . . . , jq ). Wegen (−1) j2 + (−1) j2 +1 = 0 und M( j2 − 2) + M( j2 − 1) = 0 oder ±1 (f¨ur jedes j2 ) haben wir M( j1 , . . . , jq ) = 0 oder ± 1, was zu beweisen war.
Vorlesung 4
497
Vorlesung 4 ¨ L¨osung zu Ubung 4.1 Man kann Gleichung x3 + 3rx + (r3 − 1) = 0 mit ungeradzahligem r verwenden (ist r gerade, so funktioniert die Formel genauso gut, die Nullstellen werden aber halbzahlig anstatt ganzzahlig sein). Es gibt andere L¨osungen. ¨ L¨osung zu Ubung 4.4 Die Formel lautet √ 1 3q 3 4p −1 . sinh sinh x= − √ 3 3 20 p −1 ¨ Sie √ funktioniert f¨ur p > 0 und liefert eine L¨osung. Ubrigens ist sinh = ln(x + 1 + x2 ).
¨ L¨osung zu Ubung 4.5 (a) Die kubische Hilfsgleichung ist y3 − 12y + 16 = 0; ihre Nullstellen sind −4, 2, 2 (man kann sie entweder u¨ ber die Formel oder durch Raten Die √ bestimmen). √ ±2 ± i 2 ± i 2 Plus-Minus-Wurzeln der gegebenen Gleichung sind = ±1, ±1± 2 √ i 2. Die Nullstellen unserer Gleichung sind √ √ −1, −1, 1 + i 2, 1 − i 2 . (b) Die kubische Hilfsgleichung ist y3 − 4y2 − 4y + 16 = 0, und die Wurzeln sind −2, 2, 4 (geraten). Die Plus-Minus-Wurzeln der gegebenen Gleichung sind √ √ √ √ ± 2 ± i 2 ± 2i 2 2 i. =± ± 1± 2 2 2 Es l¨asst sich direkt u¨ berpr¨ufen, dass √ 2 2 i + 1+ 2 2
√
eine Nullstelle ist. Folglich ist ihre konjugiert komplexe √ √ 2 2 i − 1+ 2 2 ebenfalls eine Nullstelle. Die u¨ brigen Nullstellen sind nicht die bereits bestimmten Nullstellen mit negativem Vorzeichen, und die Summe aller Nullstellen ist 0. Daraus folgt, dass
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
498
√ √ √ 2 2 2 2 i, − i + 1− − 1− − 2 2 2 2 √
die Nullstellen sind. (c) Die kubische Hilfsgleichung ist y3 − 7696y + 230400 = 0, und ihre Nullstellen sind 36, 64, −100. Die Plus-Minus-Wurzeln der gegebenen Gleichung sind ±10 ± 6i ± 8i ±5 ± i, = ±5 ± 3i ± 4i = ±5 ± 7i. 2 Ein leichtes Einsetzen zeigt, dass −5 + i eine Nullstelle unserer Gleichung ist. Und mit demselben Argument wie in (b) zeigen wir, dass alle vier Nullstellen der gegebenen Gleichung −5 ± i, 5 ± 7i sind. ¨ L¨osung zu Ubung 4.6 Als kubische Hilfsgleichung wird sich y3 − py2 − 4ry + (q2 − 4pr) = 0 ergeben. Sind y1 , y2 , y3 die Nullstellen dieser Gleichung, so sind die acht Zahlen ±xi (wobei x1 , x2 , x3 , x4 die Nullstellen der gegebenen Gleichung sind) √ √ √ ± −y1 − y2 ± y1 − y3 ± −y2 − y3 . 2
Vorlesung 5 ¨ L¨osung zu Ubung 5.1 Die Wurzell¨osung der Gleichung x4 + qx + r = 0 ist √ im −1 + i 3 ). Folgenden durch sieben Gleichungen dargestellt (wie u¨ blich ist ε gleich 2 x12 = −
64r3 q2 + , 27 4
q2 + x1 , 2 q2 x33 = − − x1 , 2 x23 = −
x42 = −x2 − x3 , x52 = −ε x2 − ε x3 , x62 = −ε x2 − ε x3 , x4 + x 5 + x 6 x7 = . 2
Die Anzahl der L¨osungen ist vierundzwanzig. (Warum ist sie nicht 2 · 3 · 3 · 2 · 2 · 2 = 144? Eine andere Wahl von x1 f¨uhrt nur zum Vertauschen von x2 und x3 ; auch wenn man x2 , x3 durch ε x2 , ε x3 oder durch ε x2 , ε x3 ersetzt, f¨uhrt das nur zu einer
Vorlesung 6
499
Permutation von x4 , x5 , x6 .) Die vierundzwanzig L¨osungen sind L¨osungen von sechs Gleichungen x4 ± qx + r = 0, x4 ± qx + ε r = 0, x4 ± qx + ε r = 0. ¨ L¨osung zu Ubung 5.2 Sei S die Menge der Partitionen einer vierelementigen Menge in zwei Paare: {12/34}, {13/24}, {14/23}. Es l¨asst sich leicht u¨ berpr¨ufen, dass jede gerade Permutation der Menge {1, 2, 3, 4} eine gerade (zyklische) Permutation in S zur Folge hat. Da zyklische Permutationen kommutieren, muss ein Kommutator von geraden Permutationen eine Identit¨at auf S sein. Es gibt vier derartige Permutationen: die Identit¨at und (2, 1, 4, 3), (3, 4, 1, 2), (4, 3, 2, 1). Alle sind Kommutatoren von geraden Permutationen: (2, 1, 4, 3) = [3, 1, 2, 4), (4, 1, 3, 2)], (3, 4, 1, 2) = [(3, 1, 2, 4), (1, 3, 4, 2)], (4, 3, 2, 1) = [(3, 1, 2, 4), (1, 4, 2, 3)].
Vorlesung 6 ¨ L¨osung zu Ubung 6.5 Sei fn (x) = 1 +
xn x x2 + +···+ . 1! 2! n!
Dann ist fn = fn−1 = fn − xn /n! Deshalb gilt ( fn e−x ) = ( fn − fn )e−x = −e−x
xn . n!
Ist n gerade, so ist die letzte Funktion u¨ berall negativ (außer an der Stelle x = 0, wo sie null ist). Daraus folgt, dass fn e−x eine fallende Funktion ist. Wegen limx→+∞ ( fn e−x ) = 0 gilt fn e−x > 0 f¨ur alle x, und folglich hat fn keine Nullstellen. Ist n ungerade, so ist fn (x) f¨ur sehr kleine x negativ und f¨ur sehr große x positiv; folglich hat fn eine Nullstelle. Hat fn mehr als eine Nullstelle, so hat fn nach dem Satz von Rolle eine Nullstelle. Es gilt aber fn = fn−1 , und wir haben bereits bewiesen, dass fn−1 keine Nullstellen hat. Alternativ reicht es aus zu beweisen, dass f n nicht zwei aufeinanderfolgende negative Nullstellen haben kann. Nehmen wir an, dass a und b negative Nullstellen sind. Dann gilt fn (a) = fn (a) +
an bn = 0, f n (b) = fn (b) + = 0, n! n!
und folglich sind f n (a) und f n (b) entweder beide positiv (wenn n ungerade ist) oder beide negativ (wenn n gerade ist). Die Vorzeichen der Ableitungen an aufeinanderfolgenden Nullstellen sind aber entgegengesetzt.
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
500
¨ L¨osung zu Ubung 6.7 Wir bezeichnen die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge a1 , . . . , an mit S und die Anzahl der Nullstellen von f (x) mit Z. Wir argumentieren mithilfe der Induktion u¨ ber S. Ist S = 0, so ist offensichtlich Z = 0. Sei k derart, dass ak ak+1 < 0 ist, und w¨ahlen wir λ ∈ (λk , λk+1 ). Wir setzen
g(x) = eλ x e−λ x f (x) = ∑ ai (λi − λ )eλi x . s und z sollen dieselben Bedeutungen f¨ur g haben wie S und Z f¨ur f . Nach dem Satz von Rolle ist z ≥ Z − 1. Die Koeffizienten von g sind −a1 (λ − λ1 ), . . . , −ak (λ − λk ), ak+1 (λk+1 − λ ), . . . , an (λn − λ ) , und folglich ist s = S − 1. Nach der Induktionsannahme ist s ≥ z; deshalb ist S ≥ Z. ¨ L¨osung zu Ubung 6.9 Wir nehmen an, dass f (x) eine allgemeine Lage hat: kein Paar von Ableitungen f (i) (x) und f ( j) (x) hat gemeinsame Nullstellen; insbesondere hat keine Ableitung eine mehrfache Nullstelle (das Argument im allgemeinen Fall ist a¨ hnlich; siehe [64]). Wir lassen x von a bis b variieren. Passiert x eine Nullstelle von f , etwa c, so sind die Vorzeichen der Folge f (x), f (x), f (x), . . . , f (n) (x) in der N¨ahe von c die von (x − c)g(c), g(c), g (c), g (c) . . . , wobei f (x) = (x − c)g(x) ist. W¨ahrend x den Wert c passiert, verringert sich die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der letzten Folge um 1. Nehmen wir nun an, dass x eine Nullstelle von f (i) mit i ≥ 1 passiert, die wir wieder mit c bezeichnen. Wir m¨ussen zeigen, dass sich die Anzahl der Vorzeichenwechsel in der Folge f (i−1) (x), f (i) (x), f (i+1) (x) um einen gerade, nicht negative Zahl a¨ ndert. Wie vorhin gibt es links von c einen Vorzeichenwechsel in ( f (i) (x), f (i+1) (x)) und rechts von c keinen. Wie f¨ur ( f (i−1) (x), f (i) (x)) sind die Vorzeichenwechsel hier dieselben wie in ( f (i−1) (c), (x − c)g(c)), wobei f (i) (x) = (x − c)g(x) ist. Stimmen die Vorzeichen von f (i−1) (c) und g(c) u¨ berein, so verringert sich die Anzahl der Vorzeichenwechsel um 1, wenn x den Wert c passiert, und sind diese Vorzeichen entgegengesetzt, so erh¨oht sich die Anzahl der Vorzeichenwechsel um 1. Dies impliziert die Behauptung.
Vorlesung 7 ¨ L¨osung zu Ubung 7.3 Argumentiert man wie im Beweis von Satz 7.1 auf Seite 123, reicht es aus, eine Funktion ax + b zu bestimmen, sodass f (x) = ex − ax − b an den Endpunkten 0 und 1 gleiche Maximalwerte hat und einen Minimalwert hat, der zu diesem Maximum entgegengesetzt ist. Folglich ist 1 − b = f (0) = f (1) = e − a − b, und deshalb gilt a = e − 1. Um das Minimum zu bestimmen, setzen wir f (x) = 0, und folglich ist ex = a. Somit ist der Minimalwert a − a ln a − b. Deshalb ist a − a ln a − b = b − 1, und die kleinste Abweichung von f (x) von null ist 2 − e + (e − 1) ln(e − 1) ≈ 0.1 . 2
Vorlesung 10
501
¨ L¨osung zu Ubung 7.8 (L¨osungsskizze.) Eine lineare Substitution φ (x) = ax + b u¨ berf¨uhrt ein Polynom f (x) in f¯(x) = φ −1 ◦ f ◦ φ = ( f (ax + b) − b)/a. Gilt f ◦ g = g ◦ f , so ist auch f¯ ◦ g¯ = g¯ ◦ f¯. Sei fn eine Folge kommutierender Polynome mit deg fn = n. Mit einer linearen Substitution kann man f2 (x) in x2 + γ u¨ berf¨uhren. Sei f3 (x) = ax3 + bx2 + cx + d. Die Gleichung f 2 ◦ f3 = f3 ◦ f2 ist a¨ quivalent zu folgendem Gleichungssystem a2 = a, ab = 0, b2 + 2ac = 3aγ + b, ad + bc = 0, 2 c + 2bd = 3aγ 2 + 2bγ + c, cd = 0, d 2 + γ = aγ 3 + bγ 2 + cγ + d. Dieses System hat nur zwei L¨osungen: γ = 0 oder γ = −2. Im ersten Fall ist f2 (x) = x2 ; folglich ist fn (x2 ) = fn2 (x). Allgemeiner ausgek k k dr¨uckt: fn (x2 ) = fn2 (x) f¨ur alle n, k. Deshalb ist jede Nullstelle von fn (x2 ) eine Nullstelle von fn (x). Hat fn (x) eine andere Nullstelle als 0, so ist die Menge der vonk einander verschiedenen (komplexen) Nullstellen der Polynome fn (x2 ), k = 1, 2, . . . unendlich. Aber fn (x) hat endlich viele Nullstellen und somit auch fn (x) = axn . Wegen fn (x2 ) = fn2 (x) erh¨alt man a = 1. Ist f2 (x) = x2 − 2, so gilt fn (x2 − 2) = fn2 (x) − 2 f¨ur alle n. Wir leiten ab, um x fn (x2 − 2) = fn (x) fn (x) zu erhalten. Wir setzen gn (x) = (4 − x2 ) fn (x) + n2 ( fn2 (x) − 4). Einerseits ist der f¨uhrende Koeffizient von gn (x) null, sodass der Grad von gn kleiner als 2n ist. Anderseits kann man pr¨ufen, dass gn (x2 − 2) = gn (x) fn2 (x) ist, und folglich deg gn gleich 2n ist. Daraus folgt gn (x) ≡ 0. Deshalb erf¨ullt fn die Differentialgleichung (4 − x2 ) fn (x) + n2 ( fn2 (x) − 4) = 0, die explizit gel¨ost werden kann: fn (x) = 2 cos (n arccos(x/2) + c). Um die Konstante zu bestimmen, verwenden wir die Gleichung fn (x2 − 2) = fn2 (x) − 2, die fn (2) = 2 impliziert, und folglich ist c = 0.
Vorlesung 10 ¨ L¨osung zu Ubung 10.1 (a) Siehe Abbildung L.1.
¨ Abb. L.1 L¨osung zu Ubung 10.1(a).
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
502
(b) Siehe Abbildung L.2.
¨ Abb. L.2 L¨osung zu Ubung 10.1(b)
¨ L¨osung zu Ubung 10.4 (a) L¨osung: L=
# 2π 0
p(φ ) d φ , A =
1 2
# 2π 0
p(φ )(p(φ ) + p (φ )) d φ .
¨ L¨osung zu Ubung 10.5 Wir nehmen an, dass f (n+1) (t) > 0 auf I ist. Sei a < b. Wir setzen voraus, dass ga (x) = gb (x) f¨ur ein x gilt. Es ergibt sich n n f (n+1) (t) ∂ gt f (i+1) (t) f (i) (t) (x) = ∑ (x − t)i − ∑ (x − t)i−1 = (x − t)n , ∂t i! (i − 1)! n! i=0 i=0
und folglich ist (∂ gt /∂ t)(x) > 0 (außer f¨ur t = x). Daraus folgt, dass gt (x) als Funktion von t w¨achst; deshalb gilt ga (x) < gb (x). Dies ist ein Widerspruch. ¨ L¨osung zu Ubung 10.6 Wir betrachten die Funktionenfolge fq = (−1)q (kI)2q ( f ), also
k fq (x) = ak cos kx + bk sin kx + k+1
2q (ak+1 cos(k + 1)x + bk+1 sin(k + 1)x) +···+
2q k (an cos nx + bn sin nx). n
Nach dem Satz von Rolle erh¨alt man Z( f ) ≥ Z( fq ) f¨ur jedes q. F¨ur große q liegt die Funktion fq (x) beliebig nah an ak cos kx + bk sin kx; deshalb hat fq genau 2k Vorzeichenwechsel. Somit ist Z( f ) ≥ 2k.
Vorlesung 12
503
Vorlesung 11 ¨ L¨osung zu Ubung 11.6 In beiden F¨allen ist die gesuchte Anzahl gleich der Anzahl der Tangenten von einem gegebenen Punkt an die Einh¨ullende der Schar der Geraden, welche die Fl¨ache des Polygons halbieren. Diese Einh¨ullende ist ein konkaves Dreieck, das aus Hyperbelb¨ogen aufgebaut ist, und die Antwort lautet entweder eins oder drei, wenn der Punkt nicht auf der Einh¨ullenden liegt, und sie lautet zwei, wenn er auf der Einh¨ullenden liegt. ¨ L¨osung zu Ubung 11.7 Wir ordnen die Ecken zyklisch V1 ,V2 , . . . ,Vn und nehmen an, dass die Korrespondenz Seite → gegen¨uberliegende Ecke eineindeutig ist. Die Seite Vi−1Vi soll dem Eckpunkt V j gegen¨uberliegen. Dann liegt die Seite ViVi+1 dem n¨achsten Eckpunkt gegen¨uber; anderenfalls kann die Korrespondenz zwischen den Seiten und den ihnen gegen¨uberliegenden Ecken nicht eineindeutig sein. Daraus folgt, dass ein k existiert, sodass f¨ur alle i die Seite ViVi+1 dem Eckpunkt Vi+k gegen¨uberliegt (nat¨urlich fassen wir die Indizes zyklisch mod n auf.) Es ist klar, dass die Seite Vi+k−1Vi+k dem Eckpunkt Vi gegen¨uberliegt, und folglich ist (i + k − 1) + k = i mod n. Daraus folgt, dass n ungerade ist.
Vorlesung 12 ¨ L¨osung zu Ubung 12.3 Wir orientieren eine Kurve und betrachten die Anzahl der Schnittpunkte der positiven Halbtangente mit der anderen Kurve. W¨ahrend der Ber¨uhrungspunkt die erste Kurve durchl¨auft, a¨ ndert sich diese Anzahl wie in Abschnitt 12.2 auf Seite 199 beschrieben. F¨ur beide Orientierungen der ersten Kurve berechnet, ist der Gesamtbeitrag jeder a¨ ußeren Doppeltangente 2, f¨ur jede innere Doppeltangente ist er −2, und f¨ur jeden Schnittpunkt ist er −2. Somit ist t+ = t− +d. ¨ L¨osung zu Ubung 12.5 Die L¨osung st¨utzt sich auf [40]. Sei I eine positive gerade Zahl, und sei T+ − T− − I/2 = D. Wir brauchen drei Vorkonstruktionen. Erstens seien I = 2 und D = 2, und T− sei beliebig. Eine entsprechende Kurve ist in Abbildung L.3 links oder rechts, abh¨angig von der Parit¨at von T− , dargestellt.
Abb. L.3 Der Fall I = 2, D = 2.
504
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
Zweitens seien T− = 0 und D = 0, und I sei eine beliebige gerade Zahl. Eine entsprechende Kurve ist in Abbildung L.4 dargestellt.
Abb. L.4 Der Fall T− = 0, D = 0.
Drittens kann man zwei nahezu parallele Kreisb¨ogen so ausrichten, dass sich zus¨atzliche Selbst¨uberschneidungen ergeben, ohne I oder T− zu beeinflussen wie in Abbildung L.5 dargestellt.
Abb. L.5 Erzeugen zus¨atzlicher Selbst¨uberschneidungen.
Nun gehen wir von der ersten Konstruktion mit dem gew¨unschten T− aus und passen die Konstruktion durch die zweite und dritte Konstruktion wie in Abbildung L.6 auf der n¨achsten Seite an. Dies l¨ost (a). Wir wollen nun (b) beweisen. Dazu sei γ (α ) eine Parametrisierung der gegebenen Kurve durch den Winkel, den ihre Tangentenrichtung mit einer festen Richtung in der Ebene einschließt. Mit w bezeichnen wir die Windungszahl; der Parameter
Vorlesung 12
505
zweite Konstruktion
erste Konstruktion
Abb. L.6 Kombination der vorherigen Konstruktionen in einer Kurve.
α variiert zwischen 0 und 2π w. Es gibt genau dann eine Doppeltangente in den Punkten γ (α ) und γ (β ), wenn die Vektoren γ (α ) und γ (β ) − γ (α ) parallel sind. Dies impliziert, dass β = α + π k ist, und es handelt sich genau dann um eine innere Doppeltangente, wenn k ungerade ist. F¨ur ein festes k sei A± k = {α | γ (α ) = t(γ (α + π k) − γ (α ))} ,
(L.4)
wobei t positiv oder negativ ist. Wir stellen drei Behauptungen auf, deren Beweis wir Ihnen als Leser u¨ berlassen: − (1) Die Punkte von A+ k und Ak alternieren. + (2) Sind α , β ∈ Ak voneinander verschieden, so gilt |β − α | > π . + (3) A+ 1 und A2w−1 sind leer.
Es gilt 2T− =
∑
− |A+ k | + |Ak | .
1≤k≤2w−1; k ungerade − + Nach Behauptung (1) ist |A+ k | = |Ak |; nach Behauptung (2) ist |Ak | ≤ 2w − 1 f¨ur jedes k; und schließlich ist nach Behauptung (3) T− ≤ (w − 2)(2w − 1). Nach ¨ Ubung 12.11 auf Seite 213 ist w ≤ D + 1, daraus folgt T− ≤ (2D + 1)(D − 1). Schließlich spaltet sich T− entsprechend t > 0 oder t < 0 in (L.4) in zwei Summanden auf. Diese Summanden sind
1 |A± ∑ k |. 2 1≤k≤2w−1; k ungerade Nach Behauptung (1) sind die beiden Summanden gleich, und folglich ist T− gerade. Zur Betrachtung ( ) von (c) sei(nT)− gerade und T− ≤(nD(D ) − 1). Dann existiert ein n ≤ D, sodass n−1 ≤ T /2 ≤ ist. Wir setzen k = − 2 2 2 −T− /2. Dann ist k ≤ n−1. Wir setzen q = D − n. Eine gesuchte Kurve wird in drei Schritten konstruiert. Zuerst
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
506
¨ Abb. L.7 L¨osung zu Ubung 12.5(c).
betrachten wir eine geschlossene Kurve ohne Wendepunkte, die q + 1 Schleifen hat, dann f¨ugen wir n − k kleine Schleifen in die innere große Schleife der Kurve ein, und anschließend f¨ugen wir k sehr kleine Schleifen in einer der kleinen Schleifen ein. Betrachten Sie dazu Abbildung L.7 mit q = 2, n = 8, k = 3. Diese Kurve hat q + n = D Doppelpunkte. Abgesehen von den Paaren kleine Schleife, eine der sehr ” kleinen Schleifen in dieser kleinen Schleife“ liefert jedes Paar von kleinen oder sehr kleinen Schleifen ) innere Tangenten. Somit ist die Anzahl der inneren (( ) zwei Doppeltangenten 2 n2 − k = T− . ¨ L¨osung zu Ubung 12.7 Siehe [89]. ¨ L¨osung zu Ubung 12.8 Siehe [29].
Vorlesung 13 ¨ L¨osung zu Ubung 13.1 Die Gleichung der Ebene Π hat die Form A(x − x(t0 )) + B(y − y(t0 )) +C(z − z(t0 )) = 0 . Die Ebene Π enth¨alt genau dann die Tangente x = x(t0 ) + ux (t0 ), y = y(t0 ) + uy (t0 ), z = z(t0 ) + uz (t0 )
Vorlesung 13
507
(u ist ein Parameter auf der Tangente), wenn Ax (t0 ) + By (t0 ) +Cz (t0 ) = 0 ist. Wir betrachten die Funktion h(t) = A(x(t) − x(t0 )) + B(y(t) − y(t0 )) +C(z(t) − z(t0 )) (auf der Kurve). Offensichtlich ist h(t0 ) = h (t0 ) = 0, und weil die Kurve den Punkt P von einer Seite der Ebene zur anderen Seite der Ebene durchl¨auft, a¨ ndert sie ihr Vorzeichen an der Stelle t = t0 . Folglich ist auch die zweite Ableitung von h an der Stelle t = t0 null. Somit ist Ax (t0 ) + By (t0 ) +Cz (t0 ) = 0; die Ebene enth¨alt also nicht nur den Geschwindigkeitsvektor, sondern auch den Beschleunigungsvektor. Sie ist die Schmiegeebene. ¨ L¨osung zu Ubung 13.2 Sind x = x(t), y = y(t), z = z(t) parametrische Gleichungen der R¨uckkehrkante, so sind die parametrischen Gleichungen der abwickelbaren Fl¨ache (aus den Tangenten an die Kurve aufgebaut) x = x(t) + ux (t), y = y(t) + uy (t), z = z(t) + uz (t) . Die Tangentialebene an die Fl¨ache im Punkt (t, u) wird von den Vektoren (xt , yt , zt ) = (x (t) + ux (t), y (t) + uy (t), z (t) + uz (t)), (xu , yu , zu ) = (x (t), y (t), z (t)) aufgespannt. Es ist dieselbe wie die Schmiegeebene der R¨uckkehrkante. ¨ L¨osung zu Ubung 13.3 (Eine Skizze.) Sei Π (t) unsere Schar. Die Schnittgerade der Ebenen Π (t), Π (t + ε ) (ε = 0) hat f¨ur ε → 0 eine Grenzgerade (t) ⊂ Π (t). Der Schnittpunkt der drei Ebenen Π (t), Π (t + ε1 ), Π (t + ε2 ) (ε1 = ε2 , ε1 = 0, ε2 = 0) hat f¨ur ε1 → 0, ε2 → 0 einen Grenzpunkt γ (t) ∈ (t). Die Vereinigung der Geraden (t) ist eine abwickelbare Fl¨ache, deren Tangentialebenen Π (t) sind; die Vereinigung der Punkte γ (t) ist eine Kurve, deren Schmiegeebenen Π (t) sind. ¨ L¨osung zu Ubung 13.5 Die parametrische Gleichung der Fl¨ache, die aus den Tangenten an die gegebene Kurve aufgebaut ist, lautet x = t + u, y = t 3 + 3t 2 u, z = t 4 + 4t 3 u . Die Schnittmenge dieser Fl¨ache mit der Ebene x = c (im Koordinatensystem y, z) ist y = t 3 + 3t 2 = t 2 (3c − 2t), 4 3 z = t + 4t (c − t) = t 3 (4c − 3t).
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
508
Die Ableitungen y = 6t(c − t), z = 12t 2 (c − t) haben zwei gemeinsame Nullstellen: t = 0 und t = c; somit hat die Kurve zwei Spitzen, n¨amlich (0, 0) und (c3 , c4 ). Demzufolge hat die Fl¨ache zwei R¨uckkehrkanten: Die gegebene Kurve x = t, y = t 3 , z = t 4 und, was u¨ berraschender ist, die x-Achse x = t, y = z = 0. Neben den beiden Spitzen hat unsere Kurve auch eine Selbst¨uberschneidung. Und zwar hat das System 2 t1 (3c − 2t1 ) = t22 (3c − 2t2 ) ⇐⇒ 3(t14 − t24 ) = 4c(t13 − t23 ) = 6c2 (t12 − t22 ) t13 (4c − 3t1 ) = t23 (4c − 3t2 ) neben der offensichtlichen L¨osung t1 = t2 die L¨osungen √ √ √ √ 1+ 3 1− 3 1− 3 1+ 3 t1 = c,t2 = c und t1 = c,t1 = c, 2 2 2 2 √ 1± 3 c die Werte der Koordinawas bedeutet, dass bei den Parameterwerten 2 ten y, z dieselben sind. Eine einfache Berechnung zeigt, dass diese Werte y = c4 c3 ,z = − sind. Somit hat die Fl¨ache neben den beiden R¨uckkehrkanten eine 2 4 Selbst¨uberschneidung entlang der Kurve x = t, y =
t3 t4 , z=− . 2 4
Die angenehme Aufgabe, diese Ergebnisse darzustellen, u¨ berlassen wir Ihnen als Leser. ¨ L¨osung zu Ubung 13.6 Die L¨osung wird in [82] beschrieben. F¨ur Teil (a) entfalten wir die Scheibe in die Ebene, sodass wir eine ebene Scheibe erhalten, die von geradlinigen Segmenten u¨ berzogen ist, n¨amlich den Regelgeraden der abwickelbaren Fl¨ache, und auf der eine Kurve γ verl¨auft. Wir m¨ussen beweisen, dass es zwei Schnittpunkte von γ mit einer Regelgeraden gibt, an denen die Tangenten an γ parallel sind. Da die Tangentialebenen entlang einer Lineatur einer abwickelbaren Fl¨ache dieselben sind, werden auch die zugeh¨origen Tangenten an γ im Raum parallel sein.
Abb. L.8 Kurve und Regelgeraden.
Vorlesung 13
509
Sei lt , t ∈ [0, 1] die Geradenschar, die das Gebiet u¨ berzieht; wir stellen uns die Geraden von links nach rechts orientiert vor. Nehmen wir an, dass γ zwischen l0 und l1 liegt und dass diese Geraden die Kurve ber¨uhren (siehe Abbildung L.8 auf der vorherigen Seite). Seien C+ (t) und C− (t) die am weitesten rechts und am weitesten links liegenden Punkte von γ ∩ lt . Die Kurven C± (t) sind st¨uckweise glatt. Sei α± (t) ∈ [0, π ] der Winkel zwischen C± (t) und lt . Die Funktionen α± (t) sind nicht stetig, ihre Unstetigkeiten lassen sich aber leicht beschreiben. Die drei Arten von Unst¨atigkeiten von α− (t) sind in Abbildung L.9 dargestellt: In jedem Fall hat der Graph von α− (t) ein fallendes vertikales Segment. Genauso gibt es drei Arten von Unstetigkeiten von α+ (t), und in jedem Fall hat der Graph ein aufsteigendes, vertikales Segment. Vergegenw¨artigen Sie sich, dass f¨ur t nahe null auch α− (t) nahe null ist, w¨ahrend α+ (t) nahe π ist. Ebenso ist f¨ur t nahe eins α− (t) nahe π und α+ (t) ist nahe null.
Abb. L.9 Unstetigkeiten der Funktionen α± (t).
Wir behaupten, dass die Graphen von α− (t) und α+ (t) einen gemeinsamen Punkt haben, der sich auf keinem der beiden vertikalen Segmente der beiden Graphen befindet. Wir n¨ahern beide Funktionen durch glatte Funktionen, sodass die vertikalen Segmente der Graphen sehr steil werden: α− (t) 0 und α+ (t) 0 u¨ ber den zugeh¨origen Intervallen. Betrachten wir die Funktion β (t) = α+ (t)− α− (t). F¨ur t nahe 0 ist β (t) > 0, und f¨ur t nahe 1 ist β (t) < 0. Sei t0 die kleinste Nullstelle von β (t). Da β das Vorzeichen von positiv zu negativ wechselt, ist β (t0 ) ≤ 0. Deshalb liegt t0 nicht auf den Segmenten, auf denen α− (t) 0 oder α+ (t) 0 gilt. Somit ist t0 der gesuchte gemeinsame Wert der beiden Winkel. F¨ur (b) verwenden wir ein gleichseitiges Dreieck in der Ebene und zeichnen drei Geraden in der N¨ahe jeder Ecke, die schr¨ag und nicht parallel zu den gegen¨uberliegenden Seiten verlaufen. Falten Sie entlang dieser Geraden glatt (n¨ahern Sie also die Falzlinie durch einen Zylinder mit einem kleinen Radius), sodass die sich ergebende Fl¨ache aus einem flachen Sechseck mit drei dreieckigen Fl¨ugeln besteht, die mehr oder weniger vertikal stehen. Die Kurve γ ist eine einfache, glatte,
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
510
Abb. L.10 Eine Kurve ohne parallele Tangenten.
konvexe Kurve, die den Umfang des urspr¨unglichen Dreiecks n¨ahert. Nachdem die Fl¨ugel gefaltet wurden, hat die Kurve keine parallelen Tangenten im Raum (siehe Abbildung L.10).
Vorlesung 15 ¨ L¨osung zu Ubung 15.3 Gegeben sei die nach dem Bogenl¨angenparameter parametrisierte Kurve γ (t). Bezeichnen wir ihre Einheitstangente mit T (t), ihre Einheitsnormale mit N(t) und ihre Binormalenvektoren mit B(t). Wir haben die FrenetFormeln: T (t) = κ (t)N(t), N (t) = −κ (t) − τ (t)B(t), B (t) = τ (t)N(t). Sei v(t) ein Vektor entlang der Regelgeraden im Punkt γ (t). Die von den Regelgeraden erzeugte Fl¨ache hat eine Parametrisierung r(t, s) = γ (t) + sv(t). Dann sind rt = γ + sv , rs = v Tangentialvektoren an die Fl¨ache. Da die Fl¨ache abwickelbar ist, bleibt die Normale ν (t) entlang einer Regelgeraden dieselbe. Dann ist ν (t) orthogonal zu v und zu γ + sv f¨ur alle s, und folglich zu γ und v . Deshalb sind die Vektoren v, v und γ koplanar. Es ist leicht, v in Abh¨angigkeit von T (t), N(t) und B(t) auszudr¨ucken: v = T cot β + N cos α + B sin α . Wir leiten mithilfe der Frenet-Formeln ab: v = −T (κ cos α + β cosec2 β ) + N(κ cot β + (τ − α ) sin α ) + B(α − τ ) cos α . Es ist nun unkompliziert, die Determinante der Vektoren v , v, T zu berechnen, die gleich κ sin α cot β + τ − α ist. Nullsetzen liefert Formel (15.2). ¨ L¨osung zu Ubung 15.6 Gibt es ein Loch im Innern der Faltkurve, so haben die in sie eingehenden Regelgeraden ihre anderen Endpunkte auf dem Rand des Lochs. G¨abe es kein Loch, dann m¨ussten die anderen Endpunkte der Regelgeraden ebenfalls auf der Faltkurve liegen. Da die Schar der Regelgeraden stetig ist, g¨abe es Regelgeraden, die tangential zur Faltkurve w¨aren, und dies widerspricht der Tatsache, dass die Regelgeraden von null verschiedene Winkel mit der Faltkurve bilden.
Vorlesung 17
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Vorlesung 16 ¨ L¨osung zu Ubung 16.1 Antwort: Es ist ein hyperbolisches Paraboloid. ¨ L¨osung zu Ubung 16.2 Sei ABCD das gegebene Viereck. Bilden Sie f¨ur alle Ebenen Π , die parallel zu den Geraden AB und CD sind, die Vereinigung der Geraden KM, wobei K und M Schnittpunkte von Π mit den Geraden BC und DA sind. ¨ L¨osung zu Ubung 16.6 (a) Die gew¨ahlte Regelgerade wird auf einen Punkt projiziert; bezeichnen wir ihn mit P. Die Schar, zu der diese Regelgerade geh¨ort, wird auf eine Schar paralleler Geraden projiziert, die nicht durch P verlaufen. Die andere Schar wird auf eine Schar von Geraden projiziert, die durch P verlaufen, abgesehen von der Gerade, die parallel zu den Bildern der Regelgeraden der ersten Schar ist. (b) Die Projektionen bilden zwei Scharen paralleler Geraden.
Vorlesung 17 ¨ L¨osung zu Ubung 17.1 Die zw¨olf Geraden, die durch die Punkte (0, 0, 0), (1, 0, 0), (0, 1, 0) und (0, 0, 1) verlaufen, sind x = 0, y = −z; x = 1, y = 0; y = 1, x = 0; z = 1, x = 0; y = 0, x = −z; x = 1, z = 0;
y = 1, z = 0;
z = 1, y = 0;
z = 0, x = −y; x = 1, y = −z; y = 1, x = −z; z = 1, x = −y. Um die u¨ brigen Geraden zu bestimmen, verwenden wir die Tatsache, dass jede der siebenundzwanzig Geraden zehn andere Geraden schneidet. Dies zeigt, dass jede bekannte Gerade einige unbekannte Geraden schneidet. Betrachten wir etwa die Gerade x = 0, y = z. Ihr allgemeiner Punkt ist (0,t, −t). Folglich muss f¨ur bestimmte Werte von t und von p, q und r der Punkt x = pu, y = t + qu, z = −t + ru f¨ur alle u zur Fl¨ache geh¨oren. Wir setzen den Punkt in die Gleichung der Fl¨ache ein. Daraus erhalten wir ein Polynom dritten Grades in u ohne den konstanten Term (f¨ur u = 0 liegt der Punkt f¨ur alle t auf der Fl¨ache) Wir setzen die Koeffizienten von u, u2 und u3 null, um zu bestimmen, f¨ur welche Werte von t das System eine von null verschiedene L¨osung in p, q und r hat. Auf diese Weise bestimmen wir eine weitere Gerade auf der Fl¨ache; sie ist durch die parametrischen Gleichungen √ √ √ 5+1 5−1 1− 5 + t, y = t, z = 1 + t x= 2 2 2 gegeben. Die u¨ brigen elf Geraden k¨onnen wir aus√der letzten√Geraden erhalten, indem wir Permutationen von x, y und z bilden und 5 durch − 5 ersetzen.
512
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
¨ L¨osung zu Ubung 17.2 Es ist einfach, zw¨olf Geraden auf unserer Fl¨ache zu bestimmen. Eine von ihnen ist durch die Gleichungen y = ax, z = b gegeben, wobei γ b2 = , β a2 + ba + β = 0 ist; die u¨ brigen elf k¨onnen wir uns verschaffen, indem β wir die Werte von a und b variieren und Permutationen von x, y und z bilden. Eine weitere Gerade k¨onnen wir bestimmen, indem wir die Methode aus der vorherigen 2β + b, y = −2β . Daraus k¨onnen wir L¨osung anwenden. Das Ergebnis ist z = x + a wieder elf weitere L¨osungen erhalten, indem wir die Werte von a und b variieren und Permutationen der Koordinaten bilden. Drei Geraden liegen im Unendlichen (das ergibt sich aus der Tatsache, dass sich unsere Fl¨ache f¨ur große x, y und z wie xyz = 0 verh¨alt, das ist die Vereinigung dreier Ebenen). Die Schnittmenge mit der unendlichen Ebene besteht aus drei Geraden.
Vorlesung 18 ¨ L¨osung zu Ubung 18.6 Sei das Nullelement E einer der Wendepunkte der kubischen Kurve. Zu einem gegebenen Punkt A der kubischen Kurve sei B der dritte Schnittpunkt der Geraden AE mit der Kurve. Wir behaupten, dass A + B = E gilt. In der Tat ist, weil E ein Wendepunkt ist, der dritte Schnittpunkt der Tangente an E mit der kubischen Kurve E. (Das bedeutet, dass die Punkte A, B und C genau dann kollinear sind, wenn A + B +C = E ist.) Sei A ein Wendepunkt. Dann impliziert die Konstruktion zur Addition von Punkten A + A = −A, also 3A = E. Umgekehrt ergibt sich: Gilt 2A = −A, so ist der dritte Schnittpunkt der Tangente an die kubische Kurve im Punkt A wieder A; folglich hat diese Tangente einen Ber¨uhrungspunkt dritter Ordnung mit der Kurve und A ist ein Wendepunkt. Somit sind die Wendepunkte genau die Punkte dritter Ordnung, die 3A = E erf¨ullen. Schließlich ergibt sich: Ist A ein Wendepunkt, so ist 3A = E und folglich 3(−A) = E. Deshalb ist auch −A ein Wendepunkt, und die drei Wendepunkte A, E und −A sind kollinear.
Vorlesung 19 ¨ L¨osung zu Ubung 19.7 (c) Wir w¨ahlen eine Richtung, zum Beispiel α , und betrachten die St¨utzgeraden zur gegebenen Kurve γ konstanter Breite mit den Richtungen α , α + π /3, α + 2π /3, α + π , α + 4π /3 und α + 5π /3. Die Geraden bilden ein Sechseck, dessen Winkel alle 2π /3 sind. Sei d der Abstand zwischen parallelen, gegen¨uber liegenden Seiten des Sechsecks (der gleich dem Durchmesser von γ ist), und seien a und b die beiden angrenzenden Seiten. Dann ist d = (a + b) cos π /6. Deshalb ist die Summe zweier beliebiger angrenzender Seiten immer dieselbe.
Vorlesung 19
513
Folglich haben die ungeradzahligen Seiten gleiche L¨ange, was damit auch f¨ur die geradzahligen Seiten gilt. Sei c(α ) die Differenz zwischen beiden L¨angen. Wir lassen α stetig um π /3 wachsen. Dann a¨ ndert c(α ) sein Vorzeichen. Deshalb muss f¨ur einen Zwischenwert des Winkels c(α ) = 0 gelten, und das Sechseck ist regelm¨aßig. (c) Sei γ eine Kurve mit konstanter Breite d, und sei ABCDEF ein ihm umschriebenes regelm¨aßiges Sechseck. Sei γ1 ein Reuleaux-Dreieck, das ABCDEF eingeschrieben ist und das Sechseck in den Punkten B, D und F ber¨uhrt. Wir w¨ahlen den Ursprung im Mittelpunkt des Sechsecks, und die horizontale Achse soll parallel zu AB liegen. Die St¨utzfunktion, den Kr¨ummungsradius und den Fl¨acheninhalt von γ bezeichnen wir mit p(φ ), ρ (φ ) und A. Seien p1 (φ ), ρ1 (φ ) ¨ und A1 die entsprechenden Gr¨oßen f¨ur γ1 . Dann gilt nach Ubung 10.4 auf Sei& te 180 ρ (φ ) = p (φ ) + p(φ ) und A = (1/2) p(φ )ρ (φ ) d φ . Wenn wir den Bogen BD des Reuleaux-Dreiecks γ1 betrachten, so wird klar, dass p(φ ) ≥ p1 (φ ) f¨ur π /3 ≤ φ ≤ 2π /3 und genauso f¨ur π ≤ φ ≤ 4π /3 und 5π /3 ≤ φ ≤ 2π gilt. Aus der Betrachtung des zentralsymmetrischen ReuleauxDreiecks schließen wir, dass p(φ + π ) ≥ p1 (φ + π ) f¨ur π /3 ≤ φ ≤ 2π /3, π ≤ φ ≤ 4π /3 und 5π /3 ≤ φ ≤ 2π ist. Deshalb gilt # 2π 0
p(φ )ρ (φ ) d φ # 2π /3 # 4π /3 # 2π = + + (p(φ )ρ (φ ) + p(φ + π )ρ (φ + π )) d φ π /3 π 5π /3 # 2π /3 # 4π /3 # 2π (ρ (φ ) + ρ (φ + π ))p1 (φ ) d φ . ≥ + + π /3
π
5π /3
Wegen p(φ ) + p(φ + π ) = d haben wir ρ (φ ) + ρ (φ + π ) = d, und deshalb ist das letzte Integral # 2π /3 # 4π /3 # 2π # 2π p1 (φ ) d φ = d + + ρ1 (φ )p1 (φ ) d φ = 2A1 , π /3
π
5π /3
0
wie gew¨unscht. ¨ L¨osung zu Ubung 19.9 Sei γ (t) die Parametrisierung der Kurve nach der Bogenl¨ange. Dann ist |γ (t)| ≤ 1, |γ (t)| = 1 und |γ (t)| = |k(t)| f¨ur alle t. Wir haben L=
# L 0
# L # L L # L γ · γ dt = γ · γ 0 − γ · γ dt ≤ 2 + |γ ||γ |dt ≤ 2 + |k|dt = 2 +C , 0
0
0
wie wir behauptet hatten. ¨ L¨osung zu Ubung 19.10 Die Formulierung ist genau wie in der Ebene (f¨ur eine geschlossene Kurve im Innern einer Einheitssph¨are), und der in der L¨osung zu ¨ Ubung 19.9 angegebene Beweis gilt.
514
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
¨ L¨osung zu Ubung 19.11 Durch die N¨aherung einer glatten Kurve durch eine polygonale Kurve reicht es aus, die Aussage f¨ur einen einzelnen Keil zu beweisen. Sei α der Außenwinkel eines&Keils. Da das Maß dv unter Isometrien des Raumes invariant ist, h¨angt I(α ) = Cv dv nicht von der Lage des Keils ab, sondern nur vom Wert von α . Es ist klar, dass I(α ) eine stetige Funktion von α ist und dass I(α + β ) = I(α ) + I(β ) gilt (da die Additivit¨at f¨ur jede Projektion gilt). Eine stetige additive Funktion ist linear: I(α ) = Cα . Um die Konstante C zu bestimmen, betrachten wir den Fall α = π . Fast jede Projektion eines solchen Keils hat auch die Kr¨ummung π , und folglich ist C gleich dem Fl¨acheninhalt der Einheitssph¨are, n¨amlich 4π . Dies impliziert das Resultat. ¨ L¨osung zu Ubung 19.12 Sei ABC ein gegebenes Dreieck. Wir verl¨angern seine Seiten bis zu ihrem Schnittpunkt mit dem Rand des konvexen Gebietes. Diese Schnittpunkte bezeichnen wir mit P, P1 , Q, Q1 , R, R1 (siehe Abbildung L.11). Wir wollen zeigen [P, A, B, Q1 ][Q, B,C, R1 ] ≥ [P1 , A,C, R] .
Abb. L.11 Beweis der Dreiecksungleichung in der Hilbert-Metrik.
Seien X,Y, Z die Schnittpunkte der Geraden P1 R mit den Geraden PR1 , PQ beziehungsweise Q1 R1 . Das Doppelverh¨altnis ist unter einer Zentralprojektion invariant. Die Projektion der Geraden PQ1 auf die Gerade P1 R vom Punkt R1 aus liefert [P, A, B, Q1 ] = [X, A,C, Z]. Genauso liefert die Projektion von QR1 auf P1 R vom Punkt P aus [Q, B,C, R1 ] = [Y, A,C, X]. Wegen [X, A,C, Z][Y, A,C, X] = [Y, A,C, Z] m¨ussen wir [Y, A,C, Z] ≥ [P1 , A,C, R] zeigen. Doch diese Ungleichung gilt, weil Y und Z n¨aher an A und C liegen als P1 und R.
Vorlesung 20 ¨ L¨osung zu Ubung 20.4 Wird die Schlinge heruntergezogen, minimiert sich ihre L¨ange und sie wird zu einer Geod¨aten auf dem Kegel. Schneiden Sie den Kegel
Vorlesung 20
515
entlang der Linie durch den Punkt der Schlinge, der nach unten gezogen wird, und breiten Sie den Kegel in die Ebene aus. Man erh¨alt einen ebenen Keil, und die Geod¨ate entfaltet sich zu einem geradlinigen Segment. Ist das Winkelmaß des Keils kleiner als π , so liegt das Segment im Innern des Keils und die Schlinge bleibt auf dem Kegel, ist dieses Winkelmaß aber gr¨oßer als π , rutscht die Schlinge vom Kegel. Wir betrachten die Schnittebene des Kegels durch seine Achse. Sei 2α sein Winkel. Schneidet man den Kegel entlang seiner Lineatur und breitet ihn in die Ebene aus, so erh¨alt man einen Sektor mit dem Umfang 2π l sin α , wobei l die L¨ange einer Linie ist. Im Grenzfall ist dieser Sektor ein Halbkreis; dann ist 2π l sin α = π l und folglich α = π /6. ¨ L¨osung zu Ubung 20.6 (a) Das Resultat ergibt sich, wenn wir beweisen, dass γε orthogonal zu den Norma¨ 20.6(c) eingef¨uhrt). len an γ ist (die Notation wird in Ubung Diese Behauptung ist offensichtlich, wenn γ ein Kreis ist – dann ist jedes γε ein konzentrischer Kreis. Im allgemeinen Fall n¨ahert man die Kurve γ in jedem Punkt durch ihren Kr¨ummungskreis, und dann sind die konzentrischen Kreise tangential an γε am jeweiligen Punkt. (b) Sei C(γ ) die totale geod¨atische Kr¨ummung von γ . Wenn man beweist, dass (γ ∗ ) = C(γ ) ist, so ergibt sich das Resultat aus dem Satz von Gauß-Bonnet f¨ur sph¨arische Kurven. Um (γ ∗ ) = C(γ ) zu beweisen, n¨ahern wir die Kurve durch ein sph¨arisches Polygon. So nehmen wir an, dass γ ein konvexes Polygon ist. Sei C der Polyederkegel, dessen Schnittmenge mit der Einheitssph¨are γ ist, und sei C∗ der duale Kegel, dessen Schnittmenge mit der Einheitssph¨are γ ∗ ist. Dann ist (γ ∗ ) die Summe der Winkel zwischen den Kanten von C∗ , und C(γ ) ist die Summe der Komplement¨arwinkel zu π der Raumwinkel von C. Es bleibt, Lemma 20.2 auf Seite 327 anzuwenden. (c) Wir nehmen an, dass γ ein konvexes sph¨arisches n-Eck ist (wenn γ glatt ist, erh¨alt man das Resultat durch N¨aherung). Seien l1 , . . . , ln die Seitenl¨angen, α1 , . . . , αn die Winkel und β1 , . . . , βn die Außenwinkel von γ . Das von γε eingeschlossene Gebiet besteht aus • n Gebieten, begrenzt durch die Seiten von γ und die Kreisb¨ogen der Großkreise, die man aus diesen Seiten erh¨alt, indem man sich ein St¨uck π /2 in die orthogonale Richtung bewegt, und • n sph¨arischen, gleichschenkligen Dreiecken mit den gleichlangen Seiten ε und den Eckwinkeln π − αi = βi . Die Umf¨ange der a¨ ußeren R¨ander der eben genannten Gebiete sind f¨ur Erstere li cos ε und f¨ur Letztere βi sin ε . Deshalb ist (γε ) = (∑ li ) cos ε + (∑ βi ) sin ε = (γ ) cos ε + (2π − A(γ )) sin ε (die letzte Gleichung ergibt sich aus dem Satz von Gauß-Bonnet). Wegen γε +π /2 = γε∗ folgt aus dem Satz von Gauß-Bonnet
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
516
A(γε ) = 2π − (γε +π /2 ) = 2π + (γ ) sin ε − (2π − A(γ )) cos ε . Alternativ argumentiert man, dass d(γε ) dA(γε ) = (γε ), = 2π − A(γε ) dε dε ist (die zweite Gleichung folgt aus dem Satz von Gauß-Bonnet), und deshalb ist d 2 A(γε ) d 2 (γε ) = 2 π − A( γ ), = −(γε ) . ε dε 2 dε 2 Diese Differentialgleichungen zweiter Ordnung sind leicht zu l¨osen, und die Anfangsbedingungen sind eindeutig gew¨ahlt, woraus sich das Resultat ergibt. (d) Wieder nehmen wir an, dass γ ein konvexes, sph¨arisches n-Eck ist. Seien α1 , . . . , αn seine Außenwinkel. Dann ist die totale Kr¨ummung C(γ ) = ∑ αi . Das Gebiet im Innern von γ ist die Vereinigung des Inneren von γ und n sph¨arischen, gleichschenkligen Dreiecken mit gleichlangen Seiten π /2 und dem Eckwinkel αi . Der Fl¨acheninhalt des Ersteren ist αi ; deshalb ist die Fl¨ache im Innern von γ nach dem Satz von Gauß-Bonnet ∑ αi + A(γ ) = C(γ ) + A(γ ) = 2π . ¨ L¨osungen zu den Ubungen 20.9 und 20.10 Siehe [31].
Vorlesung 21 ¨ L¨osung zu Ubung 21.2 Sei (x, y, z) ein Punkt der Einheitssph¨are x2 + y2 + z2 = 1, und sei (X,Y ) seine stereographische Projektion auf die Ebene. Die explizite Formel l¨asst sich leicht aus a¨ hnlichen Dreiecken herleiten: x=
2Y R2 − 1 2X , y = , z = , R2 + 1 R2 + 1 R2 + 1
wobei R2 = X 2 +Y 2 ist. Betrachten wir einen ebenen Kreis (X +a)2 +(Y +b)2 = c2 . Diese Gleichung kann mit d = c2 − a2 − b2 zu R2 + 2aX + 2bY = d umgeschrieben werden. Wir formen die Gleichung weiter zu 2aX 2bY (d + 1)(R2 − 1) d − 1 + + = R2 + 1 R2 + 1 2(R2 + 1) 2 um, also zu 2ax + 2by + (d + 1)z = (d − 1). Dies ist eine Ebenengleichung (nicht durch den Nordpol (0, 0, 1)), und die Schnittmenge dieser Ebene mit der Sph¨are ist ein Kreis. Folglich ist das Urbild eines ebenen Kreises unter der stereographischen Projektion ein sph¨arischer Kreis. Durch Fortsetzung kann man schließen, dass das Urbild einer Geraden ein Kreis auf der Sph¨are ist, der durch den Nordpol verl¨auft. Um zu beweisen, dass die stereographische Projektion Winkel zwischen Kreisen erh¨alt, brauchen wir nur anzunehmen, dass einer der Kreise, etwa der Kreis C1 , ein
Vorlesung 21
517
Meridian ist. Sei C2 ein anderer Kreis auf der Sph¨are, und sei X ein Schnittpunkt von C1 mit C2 . Wir ersetzen C2 durch den Kreis C3 , der durch X verl¨auft, zu C2 in diesem Punkt tangential ist und durch den Nordpol verl¨auft. Sei C0 der Meridian, der im Nordpol tangential zu C3 ist. Seien L0 , L1 und L3 Bilder von C0 ,C1 und C3 unter der stereographischen Projektion; dies sind Geraden in der Ebene, und sei L0 parallel zu L3 . Es reicht aus zu beweisen, dass der Winkel zwischen C1 und C3 gleich dem Winkel zwischen L1 und L3 ist. Tats¨achlich ist der Winkel zwischen L1 und L3 gleich dem zwischen L1 und L0 (Eigenschaft paralleler Geraden); Letzterer ist gleich dem Winkel zwischen C1 und C0 (offensichtlich); und dieser Winkel ist gleich dem Winkel zwischen C1 und C3 (die von zwei Kreisen gebildeten zwei Winkel sind gleich). ¨ L¨osung zu Ubung 21.3 Die Idee ist a¨ hnlich wie der Beweis von Satz 21.1 auf Seite 346 (und in gewissem Sinne dual). Nehmen wir an, dass das Polyeder P umschrieben ist. Wir betrachten eine Fl¨ache A1 , A2 , · · · , An , und O sei ihr Ber¨uhrungspunkt mit der Sph¨are. Offensichtlich ist die Summe der Winkel Ai OAi+1 gleich 2π . Wie vorhin werden wir alle diese Winkel u¨ ber alle Fl¨achen summieren, wobei wir die Winkel an den weißen Fl¨achen mit positivem Vorzeichen und die Winkel an den schwarzen Fl¨achen mit negativem Vorzeichen ber¨ucksichtigen. Da es mehr schwarze Fl¨achen gibt, ist diese Summe Σ negativ. Daneben betrachten wir zwei benachbarte Fl¨achen mit einer gemeinsamen Kante AB (siehe Abbildung L.12). Die Winkel AOB und AO B sind gleich. Und zwar drehen Sie die Ebene AOB um die Gerade AB (so als w¨are sie ein Scharnier), bis sie mit der Ebene AO B zusammenf¨allt. Diese Drehung u¨ berf¨uhrt den Punkt O in O (siehe Abbildung L.12), und folglich sind die Dreiecke AOB und AO B kongruent.
¨ Abb. L.12 L¨osung zu Ubung 21.3.
Es gibt zwei Arten benachbarter Fl¨achen: schwarz-weiß und weiß-weiß; die Beitr¨age der Ersteren zu Σ heben sich gegenseitig auf, und Letztere ergeben insgesamt einen positiven Beitrag. Somit muss Σ ≥ 0 sein. Das ist ein Widerspruch. ¨ L¨osung zu Ubung 21.4 Sei k die Anzahl der Fl¨achen, die an jede Ecke angrenzen, sei e die Anzahl der Kanten, und sei b die Anzahl der schwarzen und w die Anzahl der weißen Ecken. Wir wollen die Anzahl der Kanten auf zwei Wegen z¨ahlen. Ei-
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
518
nerseits grenzen an jede schwarze Ecke k Kanten, sodass e = bk ist. Aus demselben Grund ist e = wk, und folglich muss b = w sein.
Vorlesung 22 ¨ L¨osung zu Ubung 22.5 Sei P unser Polyeder. Sei Dehn(P) = 0; spezieller sei der Koeffizient von ai ⊗ α j in Dehn(P) c = 0 (siehe die Definition von Dehn(P) in Abschnitt 22.4). Sei V das Volumen des Polyeders P, und sei d der Durchmesser von P. Weiter sei C die Summe der Betr¨age der Koeffizienten von ai ⊗ α j , die von allen Kanten von P in Dehn(P) beigetragen werden. Betrachten wir eine Kachelung des Raumes durch Polyeder, die kongruent zu P sind. Halten wir im Raum eine Kugel B vom Radius R fest, und sei Q die Vereinigung von Kacheln, deren Schnittmenge mit B nicht leer ist. Sei N die Anzahl der Kacheln in Q. Wegen Q ⊃ B ist N≥
Volumen(B) 4π R3 = . Volumen(P) 3V
Der Betrag des Koeffizienten von ai ⊗ α j in Dehn(Q) ist N|c|. Andererseits geh¨oren die Kanten von Q alle zu den Kopien von P, die im Gebiet zwischen zwei konzentrischen Sph¨aren mit den Radien R + d und R − d liegen (siehe Abbildung L.13).
¨ Abb. L.13 Ubung 22.5: Die a¨ ußere durchgezogene Kontur symbolisiert das Polyeder Q; die Kacheln zwischen den beiden durchgezogenen Konturen tragen zur Dehn-Invariante von Q bei.
Das Volumen dieses Gebiets ist 4 8 4 π ((R + d)3 − (R − d)3 ) = π (6R2 d + 2d 3 ) = π d(3R2 + d 2 ). 3 3 3
Vorlesung 23
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Folglich u¨ bersteigt die Anzahl der Kacheln innerhalb dieses Gebiets den Wert 8π d(3R2 + d 2 ) nicht, und der Betrag des Beitrags der Kanten dieser Kopien von 3V 2 8π d(3R + d 2 ) P kann ·C nicht u¨ bersteigen. Somit ist 3V 8π d(3R2 + d 2 ) 2d(3R2 + d 2 ) 4π R3 · |c| ≤ ·C, |c| ≤ ·C, 3V 3V R3 und weil R beliebig groß gew¨ahlt werden kann, bedeutet dies, dass |c| kleiner als jede positive Zahl ist. Dies widerspricht der Positivit¨at von |c|. Siehe [48] und die dort angegebenen Verweise.
Vorlesung 23 ¨ L¨osung zu Ubung 23.1 Es gibt hier genauso viele schwarze wie weiße Quadrate. Jedoch enth¨alt die linke H¨alfte der Abbildung mehr schwarze Quadrate und die rechte H¨alfte enth¨alt mehr weiße Quadrate (16 zu 9 in jeder H¨alfte). Nehmen wir an, dass eine Kachelung existiert. Dann schneidet h¨ochstens eine Kachel die Wellenlinie in der Mitte der Abbildung 23.24 auf Seite 382, und der linke Teil des Polygons (vielleicht abgesehen von dem am weitesten rechts liegenden Quadrat, das an die Wellenlinie grenzt) ist mit Dominosteinen gekachelt. Dies ist aber wegen der ungleichen Anzahl von schwarzen und weißen Quadraten unm¨oglich. ¨ L¨osung zu Ubung 23.4 Wir argumentieren wie im Beweis von Satz 23.1 auf Seite 370. Dass eine Kachelung f¨ur n ≡ 0, 2, 9 oder 11 mod 12 existiert, wurde durch explizite Konstruktionen f¨ur n ≤ 12 gezeigt, und dann erweitern wir eine Kachelung f¨ur n = 12k auf n = 12k + l, wobei l = 2, 9, 11 oder 12 ist. Um zu beweisen, dass f¨ur andere Werte von n keine Kachelung existiert, vergegenw¨artigen wir uns zun¨achst, dass eine notwendige Bedingung f¨ur die Existenz einer Kachelung darin besteht, dass die Anzahl von Punkten durch 3 teilbar ist: n(n + 1)/2 ≡ 0 mod 3, und folglich ist n ≡ 0 oder 2 mod 3. Somit m¨ussen wir n ≡ 3, 5, 6 oder 8 mod 12 betrachten. Die Randw¨orter der Kacheln sind x2 yx−1 yx−1 y−2 und xy2 x−2 y−1 xy−1 . Ihre Nachbildungen auf dem hexagonalen Gitter sind geschlossen. Weisen wir einem orientierten, geschlossenen Weg auf dem hexagonalen Gitter die Summe seiner Umlaufzahlen um die hexagonalen Gebiete zu. Diese Zahlen sind f¨ur die Randwege der Kacheln ±1 und f¨ur den Randweg des Gebiets [(n + 1)/3]. Ist das Gebiet durch m Kacheln u¨ berdeckt, so folgt daraus, dass [(n + 1)/3] ≡ m mod 2 ist. Andererseits ist n(n + 1)/2 = 3m; folglich ist n(n + 1)/2 ≡ m mod 2. Deshalb ist [(n + 1)/3] ≡ n(n + 1)/2 mod 2, und es ist leicht zu erkennen, dass die Kongruenz f¨ur n ≡ 3, 5, 6 oder 8 mod 12 nicht gilt. ¨ L¨osung zu Ubung 23.5 Wir argumentieren wie im Beweis von Satz 23.3 auf √ Seite 377. Definieren wir eine additive Funktion f (x), sodass f (1) = 1 und f (√ 2) = −0.5 ist und f (x) = 0 ist, wenn x keine rationale Kombination von 1 und 2 ist.
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
520
Definieren wir den Fl¨acheninhalt“ eines u × v-Rechtecks als f (u) f (v). Dann ist ” der Fl¨acheninhalt“ des Polygons aus Abbildung 23.25 auf Seite 383 gleich −0.75. ” Ist ein Polygon durch Quadrate gekachelt, so ist sein Fl¨acheninhalt“ nicht-negativ, ” woraus sich das Resultat ergibt.
Vorlesung 24 ¨ L¨osung zu Ubung 24.2 Das folgende Argument erinnert an den Beweis von Satz 10.2 auf Seite 172. Seien γ (φ ) und γ1 (φ ) die beiden Ellipsoide, die nach den Richtungen ihrer Tangenten parametrisiert sind. Dann ist γ1 (φ ) = h(φ )γ (φ ), wobei die Funktion h der Quotient ds1 /ds ist. Wir wollen zeigen, dass h mindestens vier Extrema hat. Seien f1 (φ ) und f2 (φ ) die Komponenten der vektorwertigen Funktion γ (φ ). Da γ1 eine geschlossene Kurve ist, gilt 0= &
# 2π 0
γ1 (φ ) d φ =
# 2π 0
h(φ )( f1 (φ ), f2 (φ )) d φ ;
&
&
h f1 d φ = h f2 d φ = 0. Nach partieller Integration ergibt sich h f 1 d φ = & h f2 d φ = 0. Offensichtlich ist auch h d φ = 0. Wir nehmen an, dass h nur zwei Vorzeichenwechsel besitzt. Wir k¨onnen eine Kombination der Funktionen f1 und f 2 bestimmen, etwa die Funktion a f 1 + b f2 + c, die das Vorzeichen an denselben Stellen wie h wechselt. Die Funktion hat keine anderen Nullstellen – anderenfalls w¨urde die Gerade ax + by + c = 0 die Eikurve γ in mehr als zwei Punkten schneiden. Deshalb hat&a f1 + b f 2 + c dieselben Intervalle mit konstantem Vorzeichen wie h , und es gilt h (a f1 + b f 2 + c) d φ = 0. Dies widerspricht dem vorherigen Abschnitt. ist &folglich
¨ ¨ L¨osung zu Ubung 24.3 Dies ist ein direktes Analogon zur vorherigen Ubung. Die Ortsvektoren der Ecken von P bezeichnen wir mit V1 , . . . ,Vn , und sei i = |Vi+1 − Vi |. Wir setzen hi = i /i . Da P ein geschlossenes Polygon ist, gilt ∑ hi (Vi+1 − Vi ) = 0. Daraus folgt, dass ∑(hi+1 − hi )Vi = 0 ist (diskrete partielle Integration). Wir setzen gi = hi+1 − hi . Wir behaupten, dass die zyklische Folge gi entweder identisch null ist oder ihr Vorzeichen mindestens vier Mal wechselt. Wegen ∑ gi = 0 gibt es mindestens zwei Vorzeichenwechsel, oder es ist gi = 0 f¨ur alle i. Wir nehmen an, dass es genau zwei Vorzeichenwechsel gibt. Dann existiert eine Gerade m, sodass f¨ur die Ecken von P auf einer Seite von m die Ungleichung gi ≥ 0 gilt und auf der anderen Seite gi ≤ 0 und dass es mindestens einen positiven und einen negativen Wert gibt. Wir w¨ahlen den Ursprung auf der Geraden m. Dann liegt der Punkt ∑ giVi auf der Seite von m, wobei gi > 0 ist, und folglich ist der Vektor ∑ giVi nicht null. Dies ist ein Widerspruch. Im Fall gi−1 < 0 < gi ist schließlich hi+1 > hi < hi−1 , und folglich ist i+1 /i+1 > i /i < i−1 /i−1 . Deshalb ist ai > 0, und Gleiches gilt f¨ur gi−1 > 0 > gi . ¨ L¨osung zu Ubung 24.4 Siehe [39], Theorem 2.19.
Vorlesung 26
521
Vorlesung 25 ¨ L¨osung zu Ubung 25.7 (a) Wir betrachten eine Kante E des Polyeders Pt der L¨ange l(t) mit dem Raumwinkel ϕ (t). Seien n(t) und n1 (t) die a¨ ußeren Einheitsnormalenvektoren an die Fl¨achen F und F1 , welche die Kante E gemeinsam haben, und seien w(t) und w1 (t) die inneren Normalenvektoren an E in F und F1 mit dem Betrag l(t). Wir behaupten, dass −l(t)ϕ (t) = n (t) · w(t) + n1 (t) · w1 (t)
(L.5)
gilt, wobei der Strich f¨ur d/dt steht. Und zwar w¨ahlen wir ein kartesisches Koordinatensystem in der Ebene, die orthogonal zu E ist, und seien θ und θ1 die Winkel, die n(t) und n1 (t) mit der x-Achse einschließen. Dann sind die beteiligten Vektoren n = (cos θ , sin θ ), w = l(sin θ , − cos θ ),
n1 = (cos θ1 , sin θ1 ), w1 = l(sin θ1 , − cos θ1 ).
Deshalb ist 1 1 n = θ (− sin θ , cos θ ) = − θ w, n1 = θ1 (− sin θ1 , cos θ1 ) = θ1 w1 , l l und folglich gilt n · w + n1 · w1 = l(θ1 − θ ). Es bleibt festzustellen, dass θ1 (t) − θ (t) = π − ϕ (t) ist. F¨ur jede Fl¨ache F von P ist die Summe der inneren Normalenvektoren an die Kanten in dieser Fl¨ache, deren Betr¨age gleich den L¨angen dieser Kanten sind, ¨ gleich null. (Vergleichen Sie das mit Ubung 30.8 auf Seite 484.) Multiplizieren Sie diese Summe mit den Ableitungen der a¨ ußeren Einheitsnormalenvektoren an F und summieren Sie u¨ ber alle Fl¨achen. Die resultierende Summe ist null und gleich der Summe der rechten Seite von (L.5) u¨ ber alle Kanten. Daraus folgt das Resultat.
Vorlesung 26 ¨ L¨osung zu Ubung 26.2 1 2 (b) Das Intervall besteht aus den Zahlen [0.1 . . . ]3 außer der Zahl [0.1]3 . , 3 3 7 8 1 2 und bestehen aus den Zahlen [0.01 . . . ]3 und , , Die Intervalle 9 9 9 9 [0.21 . . . ]3 außer den Zahlen [0.01]3 und [0.21]3 usw. Somit besteht C aus allen Zahlen [0.d1 d2 d3 . . . ]3 mit di = 1 f¨ur alle i und den Zahlen [0.d1 d2 . . . dn−1 1]3 mit di = 1 f¨ur 1 ≤ i < n.
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
522
(a) 1 1 1 1 1 = 2· = 2· + 2 + 3 + . . . = [0.020202 . . . ]3 , 4 8 9 9 9 1 1 1 10 = 20 · = [202]3 + 2 + . . . = [0.202202202 . . . ]3 , 13 26 27 27 1 19 2 = + = [0.201]3 . 27 3 27 Die Zahlen geh¨oren nach dem Resultat aus Teil (b) zu C. ¨ L¨osung zu Ubung 26.3 (a) Die Definition von γ zeigt
γ [0.1 . . . ]3 = [0.1]2 , γ [0.01 . . . ]3 = [0.01]2 , γ [0.21 . . . ]3 = [0.11]2 ,
γ [0.001 . . . ]3 = [0.001]2 , γ [0.021 . . . ]3 = [0.011]2 , γ [0.201 . . . ]3 = [0.101]2 , γ [0.221 . . . ]3 = [0.111]2 .
Das offenkundige Bildungsgesetz von γ (x) ist Folgendes: Ist x = [0.d1 d2 d3 . . . ]3 und gibt es unter den Zahlen di Einsen, so sollte man das erste n mit dn = 1 nehmen und
γ [0.d1 d2 d3 . . . ]3 = [0.e1 . . . en−1 1]2 , ei =
di 2
setzen. Es ist klar, dass man, um γ zu einer stetigen Funktion auf dem gesamten Intervall [0, 1] fortzusetzen,
γ [0.d1 d2 d3 . . . ]3 = [0.e1 e2 e3 . . . ]2 , ei =
di falls di = 1 f¨ur alle i 2
setzen muss. 1 1 1 1 1 = [0.010101 . . . ]2 = + 2 + · · · = . (b) Wegen = [0.020202 . . . ]3 ist γ 4 4 4 4 3 5 5 1 1 = [0.1]2 = . Wegen = 10 · = [0.101101101 . . . ]3 ist γ 13 26 13 2 (c) In (a) gel¨ost. (d) Folgt offensichtlich aus (a). ¨ L¨osung zu Ubung 26.4 ' ' (a) Bezeichnen wir die Ausgangskurve F mit F0 und setzen dann F1 = F0, F2 = F1 k k+1 usw. Aus der Konstruktion ist klar, dass Fn jedes Intervall n , n auf ein 4 4 2 2 + 1 1 1 + 1 × n, n abbildet; dar¨uber hinaus bildet Quadrat der Form n , n 2 2 2 2 sie 4n verschiedene Intervalle der angegebenen Form auf 4n verschiedene Qua-
Vorlesung 26
523
drate der angegebenen Form ab, und sie bildet benachbarte Intervalle auf angrenzende Quadrate ab. Zudem ist im Fall k k+1 1 1 + 1 2 2 + 1 Fn n , n ⊂ n , n × n, n 4 4 2 2 2 2 dann
Fp
k k+1 1 1 + 1 2 2 + 1 , , , ⊂ × 4n 4n 2n 2n 2n 2n
f¨ur alle p > n. Dies zeigt, dass f¨ur jedes √ t ∈ [0, 1] und jedes p, q ≥ n der Ab2 stand zwischen Fp (t) und Fq (t) den Wert n nicht u¨ bersteigen kann. Es bleibt, 2 Standards¨atze aus der Analysis anzuwenden; das Cauchy-Kriterium“ legt fest, ” dass die Folge Fn gleichm¨aßig gegen eine bestimmte Abbildung [0, 1] → [0, 1]2 konvergiert, die wir P nennen, und es gibt einen anderen Satz, der besagt, dass ein gleichm¨aßiger Grenzwert einer stetigen Funktion stetig ist, also ist P stetig. k (b) Offenbar h¨angt Fn n nicht von der Ausgangsabbildung F ab, und es gilt 4 k k k Fn = Fn+1 = ··· = P n . n n 4 4 4 Somit h¨angen die Werte von P an Br¨uchen mit Nennern der Form 4n nicht von F ab. Und weil diese Br¨uche eine dichte Teilmenge des Intervalls [0, 1] bilden, h¨angt P u¨ berhaupt nicht von F ab. (c) In der L¨osung zu Teil (a) wurde gezeigt, dass das Bild von P f¨ur alle n Punkte in 2 2 + 1 1 1 + 1 × n, n enth¨alt. Dies zeigt, dass das Bild jedem Quadrat n , n 2 2 2 2 von P dicht in [0, 1]2 ist. Jedoch ist das Bild von [0, 1] hinsichtlich jeder stetigen Abbildung geschlossen; also muss es das gesamte Quadrat [0, 1]2 sein. (e) Jedes t ∈ [0, 1] kann als [0.A]2 dargestellt werden, wobei A eine unendliche Folge von Nullen und Einsen ist (sie kann nach einer gewissen Zeit ausschließlich aus Nullen oder Einsen bestehen). F¨ur eine Folge A bezeichnen wir mit A die entgegengesetzte“ Folge: Nullen werden durch Einsen und Einsen ” werden durch Nullen ersetzt. Angenommen, es sei F[0.A]2 = ([0.B]2 , [0.C]2 ). Nach Teil (b) k¨onnen wir annehmen, dass F symmetrisch“ ist, also F[0.A]2 = ' die vor ”Ubung ¨ ([0.B]2 , [0.C]2 ). Die Definition von F, 26.4 auf Seite 426 gegeben wurde, kann in folgender Weise umformuliert werden: ' F[0.00A] 2 = ([0.0C]2 , [0.0B]2 ),F[0.01A]2 = ([0.1B]2 , [0.0C]2 ), ' F[0.10A] 2 = ([0.1B]2 , [0.1C]2 ),F[0.11A]2 = ([0.0C]2 , [0.1B]2 ) . Es ist erlaubt, in all diesen Formeln F und F' durch P zu ersetzen. (f) Die obigen Formeln zeigen, dass f¨ur jede 2n-termige Folge a der Ziffern Null und Eins Fn [0.aA]2 = ([0.bB ]2 , [0.cC ]2 ) oder ([0.cC ]2 , [0.bB ]2 ) ist, wobei b
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
524
und c n-termige Folgen sind, die nur von a, B = B oder B, C = C oder C abh¨angen. Wiederholen wir diese Prozedur vier Mal, so erhalten wir das folgende Resultat: Ist P[0.A]2 = ([0.B]2 , [0.C]2 ), so gilt f¨ur jedes Wort a mit gerader L¨ange P[0.aaaaA]2 = ([0.bB]2 , [0.cC]2 ), wobei b und c nur von a abh¨angen. Dies impliziert: Ist A periodisch, so sind auch B und C periodisch. (Ist A periodisch ab einer bestimmten Stelle, so gilt A = aA1 , wobei A1 (rein) periodisch ist und a gerade L¨ange hat. Die obigen Formeln zeigen, dass in diesem Fall auch B und C ab einer bestimmten Stelle periodisch sein werden.) 1 = [0.010101 . . . ]2 . Sei A = 010101 . . . , und sei P[0.A]2 = ([0.B]2 , [0.C]2 ). (d) 3 Dann ist 1 P = P[0.01A]2 = ([0.1B]2 , [0.0C]2 ) = ([0.B]2 , [0.C]2 ). 3 Somit ist B = 1B, C = 0C; folglich ist B = 11111 . . . , C = 00000 . . . ; und folglich ist 1 P = (1, 0) . 3 1 = [0.001100110011 . . . ]2 . Sei A = 001100110011 . . . , und sei P[0.A] = ([0.b]2 , 5 [0.C]2 ). Dann ist P[0.11A]2 = ([0.0C]2 , [0.1B]2 ), P[0.0011A] = ([0.01B]2 , [0.00C]2 ), und folglich ist P[0.00110011A]2 = ([0.0110B]2 , [0.0000C]2 ) . Somit ist B = 0110B, C = 0000C; folglich ist B = 011001100110 . . . ,C = 000000 . . . und 2 1 = ([0.B]2 , [0.C]2 ) = ,0 . P 5 5 (Der Leser, eine anspruchsvollere Berechnung anstellen m¨ochte, kann ver der 29 28 1 zu berechnen. Nach unseren Berechnungen ist das .) , suchen, P 7 65 65
Vorlesung 27 ¨ L¨osung zu Ubung 27.1 (b) Antwort: −(x2 y − x − 1)2 − (x2 − 1)2 . ¨ L¨osung zu Ubung 27.2 (b) Antwort: x2 (1 + y)3 + y2 . ¨ L¨osung zu Ubung 27.3 Siehe [27].
Vorlesung 29
525
Vorlesung 28 ¨ L¨osung zu Ubung 28.8 Siehe Abbildung L.14: Der Brennpunkt der Parabel ist auch ein Brennpunkt der Ellipse; die beiden Kegelschnitte sind durch beliebige Kur¨ ven glatt verbunden. Die Konstruktion verwendet Ubung 28.4 auf Seite 456.
Abb. L.14 Falle f¨ur einen Parallelstrahl.
¨ L¨osung zu Ubung 28.9 Siehe [59, 88].
Vorlesung 29 ¨ L¨osung zu Ubung 29.5 Wir wollen die Fl¨acheninhalte dreier Tripel von Kreisen im Innern eines gleichseitigen Dreiecks mit Einheitsseiten vergleichen. Die erste Konfiguration besteht aus drei gleichen Kreisen, die jeweils in die Ecken des Dreiecks eingeschrieben sind und zu den beiden anderen√Kreisen tangential sind. Sei r der Radius √ eines solchen Kreises. Dann ist 2r + 2 3r = 1, und folglich √ ist r = 1/(2(1 + 3)). Der Fl¨acheninhalt der drei Kreise ist A1 = 3π /(4(1 + 3)2 ) und A1 /π ≈ 0.1005. Die zweite Konfiguration besteht aus dem Kreis, der dem Dreieck eingeschrieben ist und zwei gleichen kleineren Kreisen, die in die beiden Winkel des Dreiecks eingeschrieben sind, und von denen jeder tangential zum gr¨oßeren Kreis ist (aber nicht tangential zueinander). Sei R der Radius des √ gr¨oßeren Kreises und r der Radius der beiden kleineren Kreise. Dann gilt R = 3/6. Der andere Radius √ = (R + r)2√bestimmt. Die quawird durch die Gleichung (0.5 − 3r)2 + (R − r)2 √ dratische Gleichung hat zwei Nullstellen, n¨amlich 3/2 und 3/18, und r ist die Letztere von beiden. Die Gesamtfl¨ache der dreier Kreise ist A2 = π /12 + π /54 und A2 /π ≈ 0.1018. Somit hat die zweite Konfiguration einen gr¨oßeren Fl¨acheninhalt. Eine weitere Rechenkonfiguration besteht aus drei Kreisen, die eine Kette bilden und in einen Winkel des Dreiecks eingeschrieben sind. Ist das Dreieck gleichschenklig und sehr lang und sehr schmal, so ist der Gesamtfl¨acheninhalt einer solchen Kette von Kreisen fast doppelt so groß wie der Gesamtfl¨acheninhalt der MalfattiKonfiguration drei Kreise, von denen jeder tangential zu den beiden anderen ist.
¨ L¨osungen zu ausgew¨ahlten Ubungen
526
Vorlesung 30 ¨ L¨osung zu Ubung 30.1 Antwort: (x − x1 )(x − x2 ) . . . (x − xk−1 )(x − xk+1 ) . . . (x − xn+1 )
n+1
∑ ak (xk − x1 )(xk − x2 ) . . . (xk − xk−1 )(xk − xk+1 ) . . . (xk − xn+1) .
k=1
Das Polynom ist eindeutig bestimmt. ¨ ¨ L¨osung zu Ubung 30.2 Verwenden wir die L¨osung zur vorherigen Ubung. Wir haben gesehen: Sind beliebige Zahlen b1 , . . . , bn gegeben, so ist das Polynom g(x) vom Grad ≤ n − 1, das im Punkt qi , i, . . . , n den Wert bi besitzt, eindeutig bestimmt und hat die Form n
∑ bk
k=1
(x − q1 )(x − q2 ) . . . (x − qk−1 )(x − qk+1 . . . (x − qn )) , f (qk )
wobei f (x) = (x − q1 ) . . . (x − qn ) ist. Folglich ist der f¨uhrende Koeffizient von g(x) bk gleich ∑ . Daraus folgt: Sind b1 . . . bn die Werte eines Polynoms vom Grad f (gk ) ≤ n − 1 in den Punkten q1 , . . . , qn , so ist diese Summe null, und sind b1 . . . bn die Werte eines Polynoms vom Grad n − 1 in diesen Punkten, so ist die Summe gleich dem f¨uhrenden Koeffizienten dieses Polynoms. ¨ L¨osung zu Ubung 30.3 Die Behauptung folgt, wenn wir beweisen, dass h(q2 ) h(qn ) h(q1 ) + +···+ =0 f (q1 ) f (q2 ) f (qn ) gilt, wobei die Summe u¨ ber alle Wurzeln eines hyperbolischen Polynoms f (x) vom Grad n l¨auft, und h(x) ein Polynom vom maximalen Grad n − 2 ist. Da ein Polynom h(x) eine Linearkombination der Monome 1, x, . . . , xn−2 ist, folgt das Resultat aus ¨ Ubung 30.2 auf Seite 482. ¨ L¨osung zu Ubung 30.7 Erinnern wir uns an die Notation f¨ur elliptische Koordinaten aus Vorlesung 28. Ist eine konfokale Schar von Kegelschnitten x2 a2 + λ
+
y2 b2 + λ
=1
gegeben, sind die elliptischen Koordinaten eines Punktes (x, y) die beiden Werte von λ , f¨ur die diese Gleichung gilt. Festhalten einer elliptischen Koordinate beschreibt eine Ellipse, Festhalten der anderen Koordinate beschreibt eine konfokale Hyperbel. Es ist leicht zu berechnen, dass wenn (λ , μ ) die elliptische Koordinate eines Punktes (x, y) ist, dann
Vorlesung 30
527
x2 =
(a2 + λ )(a2 + μ ) 2 (b2 + λ )(b2 + μ ) ,y = a2 − b2 b2 − a2
gilt. Sei P = (x, y) ein Punkt der Ellipse x2 y2 + = 1, a2 b2 und sei Q = (X,Y ) = A(x, y) der entsprechende Punkt auf der Ellipse y2 x2 + = 1, a2 + λ b2 + λ √ √ wobei X = x a2 + λ /a,Y = y b2 + λ /b ist. Die elliptischen Koordinaten von P seien (0, μ ); und die von Q seien (λ , η ). Wir wollen beweisen, dass μ = η ist. Dr¨ucken wir die kartesischen Koordinaten durch die elliptischen Koordinaten aus, so erhalten wir x2 =
a2 (a2 + μ ) 2 (a2 + λ ) a2 (a2 + μ ) (a2 + λ )(a2 + η ) ,X = = . a2 − b 2 a2 a2 − b2 a2 − b2
Folglich ist μ = η , wie ben¨otigt.
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Namensverzeichnis
A
F
Abel, Niels Henrik (1802–1829) 108 Alexander, James (1888–1971) 424 Archimedes, c. 287–212 v. Chr. 319 Arnold, Vladimir (1937–2010) 179, 482
F´ary, Istv´an (1922–1984) 319 Ferrand, Emmanuel (geboren 1969) 211 Foucault, Jean Bernard L´eon (1819–1892) 340
B
G
Beltrami, Eugenio (1835–1900) 319 Blaschke, Wilhelm (1885–1962) 304 Bonnet, Pierre (1819–1892) 340 Borel, Emil (1871–1956) 26 Buffon, George, Comte de (1707–1788)
Galois, Evarist (1811–1832) 108 Gauß, Carl Friedrich (1777–1855) 70, 340 ´ Ghys, Etienne (geboren 1954) 179 Gromov, Misha (geboren 1943) 433 319 H
C Cardano, Girolamo (1501–1576) 90 Cauchy, Augustin-Louis (1789–1857) 393 Cayley, Arthur (1821–1895) 287 Chasles, Michel (1793–1880) 455 Chern, Shiing-Shen (1911–2004) 304 Connelly, Robert (geboren 1942) 408 Conway, John (geboren 1942) 381 Crofton, Morgan (1826–1915) 319
Hamel, George (1877–1954) 319 Hardy, Godfrey Harold (1877–1947) 71 Hilbert, David (1862–1943) 320, 362 Hirsch, Morris (geboren 1933) 433 Hurwitz, Adolf (1859–1919) 26 J Jacobi, Carl Gustav Jacob (1804–1851) Jordan, Camille (1838–1922) 424
455
D K De Morgan, Augustus (1806–1871) 455 Dehn, Max (1878–1952) 362, 381 Descartes, Ren´e (1596–1650) 118 Dyson, Freeman (geboren 1923) 70 E Euler, Leonard (1707–1783)
70, 230, 393
Khovanskii, Askold (geboren 1947) 118 Klein, Felix (1849–1925) 71 Kneser, Adolf (1862–1930) 179 Krasnoselskii, M. A. (1920–1997) 433 Kuiper, Nicolaas (1920–1994) 434 Kummer, Ernst (1810–1893) 47 Kuperberg, Greg (geboren 1967) 47
533
534
Namensverzeichnis
L
S
Lucas, Edouard, (1842–1891) 47 Lyusternik, L. A. (1899–1981) 341
Schnirelman, L. G. (1905–1938) 341 Schoenberg, Isaac Jacob (1903–1990) 393 Schramm, Oded (1961–2008) 349 Schwartz, Richard (geboren 1966) 470 Schwarz, Albert (geboren 1934) 47 Segre, Beniamino (1903–1977) 179 Smale, Stephen (geboren 1930) 434 Steffen, Klaus (geboren 1945) 408 Steiner, Jacob (1821–1895) 470 Steinitz, Ernst (1871–1928) 349
M M¨obius, A. Ferdinand (1790–1868) 242 MacDonald, Ian (geboren 1928) 71 Milnor, John (geboren 1931) 320 Minkowski, Hermann (1864–1909) 320 Mukhopadhyaya, Syamadas (1866–1937) 179
T N Tait, Peter Guthrie (1831–1901) 179 Tarski, Alfred (1902–1983) 320 Tartaglia, Niccol`o (1500–1557) 90 Thom, Ren´e (1923–2002) 179, 230 Tschebyschow, P. Lwowitsch (1821–1894) 128
Nash, John (geboren 1928) 434 Newton, Isaac (1643–1727) 482 P Pascal, Blaise (1623–1662) 304 Penrose, Roger (geboren 1931) 455 Pl¨ucker, Julius (1801–1868) 211 Poincar´e, Henri (1899–1981) 341 Poncelet, Jean-Victor (1788–1867) 470 R Ramanujan, Srinivasa (1887–1920)
W Welschinger, Jean-Yves (1923–2002) Whitney, Hassler (1907–1989) 211 Z
71
Zieve, Michael (geboren 1971)
47
287
Sachverzeichnis
A
D
Abweichung von null 121 Addition von Punkten auf kubischer Kurve 297 affine Karte 139 Scheitel 175 Transformation 460 Alexanders geh¨ornte Sph¨are 419 ¨ Aquipotenzialfl¨ ache 473 Außenbillard 186
d-Gewebe 290 Dehn-Invariante 357 Diskriminante 81, 142 Doppel Punkte 197 Tangente 198, 275 Doppelverh¨altnis von vier Punkten 3-Gewebe geradliniges 293 hexagonales 293 triviales 290 duale Ebenen 136 Kurve 136 Polyederkegel 327
B Beltrami-Klein-Modell 317 Berry-Gesetz 253, 446 Billardkugelabbildung 437 Binomialkoeffizienten 31 Binormalenvektor 247 Blasebalg-Vermutung 407 Breite einer Figur 312 Bricards Oktaeder 396 buffonsches Nadelproblem 312 C Cantor-Menge 425 Cardano-Formel 78 Catalan-Zahlen 49 Connelly-Polyeder 404 Conways Kachelgruppe 372 Corioliskraft 340 Coulombsches Gesetz 473 Crofton-Formel 317
317
E einfach zusammenh¨angend 422 Einh¨ullende 131 einschaliges Hyperboloid 258 elektrische Schaltkreise 379 elementarster Satz der euklidischen Geometrie 445 elliptische Koordinaten 446 euklidischer Algorithmus 14 Euler Charakteristik 327 Formel 326 Funktion 52 Identit¨at 51 Evolute 149, 165 Evolvente 165 extaktische Punkte 176
535
536
Sachverzeichnis
F
homogene Koordinaten 139 Homotopieprinzip 433 Hom¨ooid 476 hyperbolische Geometrie 316 Paraboloide 260 Polynome 118
Fadenkonstruktion 167, 439, 442 Faltkante 245 Faltkurve 245 Fermatsches Prinzip 437 Fibonacci-Zahl 73 Figur konstanter Breite 312 Finsler-Geometrie 316 flexible Polyeder 395 Fl¨ache 258 abwickelbare 218 doppelt linierte 261 dreifach linierte 261 geradlinige 219, 235, 258 kubische 273 lokal-ebene 424 Formel von Chapple 471 Formel von de Moivre 83 Formel von Fabricius-Bjerre 199 Formel von Ferrand 202 Formel von Fuss 471 Formel von Heron 467 Formel von Pick 26 Formel von Weiner 201 foucaultsches Pendel 339 Fourier-Reihe 173 freie Ladungsverteilung 475 Frenet-Formeln 510 Front 152 Fundamentalsatz der Algebra 116 gew¨ohnlichen Differentialgleichungen 300 F¨unfeckzahlen 53
I immersierte Scheibe 213 Indikatrix 316 innerer Punkt der algebraischen Fl¨ache J Jacobi-Identit¨at K
G Gauß-Identit¨at 62 Geod¨ate 316, 330, 338, 451 geod¨atische Kr¨ummung 247, 338 geometrische DNA-Ungleichung 314 geometrische Optik 309, 437 Gitter 6 Gleichung durch Wurzelausdr¨ucke l¨osbar Gromovs h-Prinzip 433
62
95
Kachelung durch gleiche Fl¨achen Kardioide 148 Kaustik 165, 442, 456 Kegelschnittb¨uschel 462 Kettenbruch 10 kirchhoffsche Gesetze 379 Klein-Identit¨at 67 Kommutator von Schleifen 106 konfokale Schar Kegelschar 440 quadratischer Fl¨achen 447 Quadriken 480 Kontaktstruktur 300 konvergent 16 Kreisscheibenmodell 317 Kr¨ummung einer Fl¨ache 336 einer Kurve 164, 246, 325 eines Polyederkegels 326 eines Polygonzuges 325 ˜ sebene 247 ˜ skegel 175 ˜ skreis 164 ˜ smittelpunkt 164 ˜ sradius 164 L
H Hilbert drittes Problem 351 Metrik 317 sechzehntes Problem 483 viertes Problem 316
Lagrange-Funktion 318 lange Kurven 204 Lemma von Cauchy 178 Lemma von Ivory 480 lineare Schar von Quadriken lokal-ebene Fl¨ache 424
450
381
477
Sachverzeichnis
537
M
Riemann Metrik 316 Vermutung 72 ζ -Funktion 72 R¨uckkehrkante 223
MacDonald-Identit¨aten 69 malfattisches Problem 468 Methode von Sturm 113 Minkowski-Geometrie 317 mittlere Absolutkr¨ummung 314 M¨obiusband 233, 308
S
N newtonsches Polygon N¨aherungbruch 12
18
O optische Eigenschaft von Kegelschnitten 440 von Parabeln 251 P Pappus Anordnung 294 Satz von 296 Parallelverschiebung 330 Partition einer Zahl 56 Pascal Dreieck 32 rekursive Formel von 31 Satz von 296 Peano-Kurve 425 Permutationen 97 gerade 99 ungerade 99 Pl¨ucker-Formeln 201 Poncelet Gitter 464 Schließungssatz 459 Potenzial 473 Prinzip der Lagrange-Multiplikatoren privilegierte Exponenten 67 projektive Dualit¨at 140 Ebene 139 Transformation 460 R reelle projektive Gerade 177 Regel von Descartes 112 Regelfl¨ache 258 regul¨are Homotopie 204 Reuleaux-Dreieck 321
438
Satz von Arnold 478 Satz von Beltrami 317 Satz von Berry 446 Satz von B´ezout 274 Satz von Brown 424 Satz von Chasles 448 Satz von Fary-Milnor 313 Satz von Fourier-Budan 119 Satz von Gauß 213 Satz von Gauß-Bonnet 332, 338 Satz von Ghys 177 Satz von Gram 342 Satz von Graves 443 Satz von Hamel 319 Satz von Harnack 483 Satz von Heron 467 Satz von Hurwitz-Borel 9 Satz von Jacobsthal 41 Satz von Jordan 415 Satz von Kirby-Siebenmann 424 Satz von Kummer 40 Satz von Lucas 37 Satz von M¨obius 176 Satz von Nash-Kuiper 433 Satz von Pappus 296 Satz von Pascal 296 Satz von Rolle 112, 315 Satz von Schoenflies 416 Satz von Steiner 465 Satz von Sturm-Hurwitz 173 Satz von Tait-Kneser 168 Satz von Whitney 204 scharfe Kante 223 scheinbarer Umriss 159, 449 Scheitel einer Kurve 163 Schmiegeebene 230, 247 Schmiegekegel 175 Schmiegekreis 164 Schwalbenschwanz 141, 227 schwarzsche Ableitung 177 semikubische Parabel 135, 147 sextaktischer Punkt 175 Sierpinski-Sieb 36 Spitze 147 Starrheitssatz 386 Steffen-Polyeder 404
538
Sachverzeichnis
sturmsche Kette 114 St¨utzfunktion 171, 312 Symmetriemenge 174 symmetrische Polynome 88 elementare 88 T tangentiale Indikatrix 313 Tantrix 313 Tarkis Plankenproblem 309 Tennisballsatz 176 Theorema Egregium 337 Theorie von Smale und Hirsch 207, 433 Torsion 247 totale Absolutkr¨ummung 314 totale mittlere Kr¨ummung 411 Tschebyschow Gewebe 301 Polynome 125 U Umlaufzahl
209
unvollst¨andige Quotienten
12
V Verschiebungsfl¨ache 303 Vierscheitelsatz 149, 163 vollst¨andige Nicht-Integrabilit¨at 299 vorzeichenbehaftete Kachelung 368 Vorzeichenregel von Descartes 112 W Wendepunkte 154, 198, 246 Windungszahl 203 Z zentrale Symmetriemenge 195 zerlegungsgleiche Polyeder 361 Zykloide 147
Grafik- und Bildnachweise
Der Springer-Verlag bedankt sich bei folgenden Institutionen und Personen herzlich f¨ur die freundliche Erteilung der Genehmigungen. Gerald Alexanderson Die Fotografien von Emil Borel und David Hilbert in Vorlesung 19 wurden mit freundlicher Genehmigung von Gerald Alexanderson verwendet. Archive des Mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach Die Fotografien von Wilhelm Blaschke, Shiing-Shen Chern, Robert Connelly, John Conway, Istv´an F´ary, Carl Friedrich Gauß in Vorlesung 3, Misha Gromov, George Hamel, Godfrey Harold Hardy, Morris Hirsch, Adolf Kneser, M. A. Krasnoselskii, Nicolaas Kuiper, Ian MacDonald, Roger Penrose, Srinivasa Ramanujan, Isaac Jacob Schoenberg, Beniamino Segre, Stephen Smale, Klaus Steffen, Alfred Tarski, R´en´e Thom wurden mit freundlicher Genehmigung der Archive des Mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach verwendet. Calcutta Mathematical Society Die Fotografie von Syamadas Mukhopadhyaya wurde mit freundlicher Genehmigung der Calcutta Mathematical Society verwendet. Anatoly Dverin Die Zeichnungen von Max Dehn in Vorlesung 22 und Morgan Crofton in Vorc American Mathematical Society. lesung 19 stammen von Anatoly Dverin. Freeman Dyson Die Fotografie von Freeman Dyson wurde mit freundlicher Genehmigung von Freeman Dyson verwendet.
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Grafik- und Bildnachweise
Emmanuel Ferrand Die Fotografie von Emmanuel Ferrand wurde mit freundlicher Genehmigung von Emmanuel Ferrand verwendet. ´ Etienne Ghys ´ Die Fotografie von Etienne Ghys wurde mit freundlicher Genehmigung von ´ Etienne Ghys verwendet. Institute for Advanced Study, Princeton, NJ, USA Die Fotografie von James Alexander wurde mit freundlicher Genehmigung der Familie Alexander verwendet. Fotograf unbekannt. Vom Shelby White and Leon Levy Archives Center, Institute for Advanced Study, NJ, USA. Sergey Ivanov Die Zeichnungen auf den ersten Seiten der Kapitel 1–8 und der Vorlesungen 1–30 stammen von Sergey Ivanov. Askold Khovanskii Die Fotografie von Askold Khovanskii wurde mit freundlicher Genehmigung von Askold Khovanskii verwendet. Aufgenommen wurde sie von T. Belokrinitskaia. Greg Kuperberg Die Fotografie von Greg Kuperberg wurde mit freundlicher Genehmigung von Greg Kuperberg verwendet. Mathematical Association of America Eine leicht bearbeitete Version des Artikels Spitzen“ aus dem Buch Mathe” matical Adventures der Spectrum-Reihe, ver¨offentlicht von der Mathematical Association of America im Jahr 2004 (Hayes und Shubina, Eds.) wurde mit Genehmigung verwendet. Media Services, State University von New York in Stony Brook c Media Services, State University von New York Fotografie von John Milnor, in Stony Brook. Oded Schramm c Oded Schramm. Fotografie von Oded Schramm, Richard Schwartz Die Fotografie von Richard Schwartz wurde mit freundlicher Genehmigung von Richard Schwartz verwendet.
Grafik- und Bildnachweise
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Albert Schwarz Die Fotografie von Albert Schwarz wurde mit freundlicher Genehmigung von Albert Schwarz verwendet. Smithsonian Institution Libraries (SIL) Die Fotografien von Michel Chasles, Ren´e Descartes, Carl Gustav Jacob Jacobi und Niccol`o Tartaglia wurden mit freundlicher Genehmigung der Smithsonian Institution Libraries, Washington, DC verwendet. Svetlana Tretyakova Die Fotografien von Vladimir Arnold auf der Widmungsseite und in Vorlesung 10 wurden mit freundlicher Genehmigung von Svetlana Tretyakova verc Svetlana Tretyakova. wendet. Fotos VG Bild-Kunst c SucPablo Picasso, Portr¨at von Igor Strawinski“, 1920, Bleistift und Kohle. ” cession Picasso, VG Bild-Kunst, Bonn 2008. Jean-Yves Welschinger Die Fotografie von Jean-Yves Welschinger wurde mit freundlicher Genehmigung von Jean-Yves Welschinger verwendet. Alle anderen Fotografien stammen aus o¨ ffentlich verf¨ugbaren Quellen.