Die Sprache der Gewalt Ein »Steinewerfer« vor Gericht Stefan Aust Was ist los mit ihnen? Haben sie nicht alles, was sie ...
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Die Sprache der Gewalt Ein »Steinewerfer« vor Gericht Stefan Aust Was ist los mit ihnen? Haben sie nicht alles, was sie brauchen? Leben sie nicht von BAföG oder vom Scheck ihrer Eltern? Haben sie nicht die bestmögliche Schulausbildung genossen? Können sie nicht - trotz Numerus clausus - immer noch irgend etwas studieren? Sind nicht die Maschen des sozialen Netzes so eng, daß auch Jugendliche nur schwer durchrutschen können? Leben sie nicht im »freiheitlichsten Staat, den es jemals auf deutschem Boden gab«? Können sie nicht aktiv am »Willensbildungsprozeß der Parteien« teilnehmen? Haben sie nicht sogar ihre eigenen Leute, die »Grünen« oder die »Alternativen« in die Parlamente bringen können? Haben sie es nicht besser als ihre Eltern oder gar ihre Großeltern, die Nationalsozialismus, Krieg und Wiederaufbau erleben mußten? Fehlt ihnen der Krieg, wie ein Landesminister argwöhnte? Steinschlag statt Stahlgewitter? Da entwickeln gestandene Polizeipräsidenten nostalgische Sehnsüchte nach den rebellierenden Studenten der sechziger Jahre, die noch »konkrete politische Ziele« hatten, die sich »artikulieren konnten«', die auf den »langen Marsch durch die Institutionen« gehen wollten. Konnte man mit den 68ern nicht wenigstens noch diskutieren, obwohl ihr soziologisches Kauderwelsch Gespräche oft erschwerte? Und nun die Kinder der achtziger Jahre, die mit den Vertretern des politischen Systems nicht einmal mehr streiten, wenigstens nicht verbal, die für Argumente nur noch Hohn und Spott und Gelächter übrig haben. Die nur von sich reden und deren Gefühle nur in privaten Gesprächen geäußert werden, sich öffentlich allenfalls in Wandparolen manifestieren: »Wir haben nichts zu verlieren als unsere Angst« oder »daß der Tod uns lebendig findet und das Leben uns nicht tot«. Wie soll sich eine technisch und soziologisch fortschrittsgläubige Generation von Älteren mit einer Jugend auseinandersetzen, die mit dem System nur noch via Pflasterstein kommuniziert, oder (danach) über ihre Rechtsanwälte. Die still und stumm auf der Anklagebank sitzt und dem Gericht kein zorniges »Ich klage an« entgegenschleudert. Deren Freunde im Zuschauerraum sitzen - ihre Pässe beim Eintritt ins Gericht fotokopiert und an die zentrale Datenverarbeitung weitergegeben -, das stört sie kaum noch, denn registriert, computerisiert, erkennungsdienstlich behandelt sind sie mehr oder weniger alle. Bei der Urteilsverkündung ein Aufschrei, Tränen, Beleidigungen gegen das Gericht: »Halt die Fresse, du Schwein!« Nicht von der Anklagebank her, sondern aus dem Zuhörerraum. Ordnungsstrafen werden mit stoischer Ruhe kassiert, denn nichts anderes erwartet man von diesem System. So war es bei der Urteilsverkündung im Prozeß gegen Guido W., einen vierundzwanzigjährigen Physikstudenten in Berlin. Es war das erste der vielen Strafverfahren
gegen Steinewerfer oder auch angebliche Steinewerfer. Dieser Prozeß endete, wie es sich für einen Präzedenzfall gehört: mit einer Haftstrafe, 14 Monate ohne Bewährung, obwohl das Beweismaterial sehr dürftig war. Guido W. war kein Hausbesetzer, bevor er in die Maschinen der Justiz geriet, jetzt ist er einer. Das Exempel, das an ihm statuiert werden sollte, hat ihn zu dem gemacht, was die Richter und Staatsanwälte in ihm zu sehen glaubten. Guido W. ist ein schmaler, schüchterner Junge mit halblangen dunklen Haaren. Kein knallharter »Streetfighter«, auch kein redegewandter Intellektueller, eher ein freundlicher Oberschüler, der sich nur im Notfall mit seinen Lehrern anlegt und die an ihn gestellten Ansprüche ohne große Widersprüche erfüllt. Guido W. wurde in Hanau geboren und ging dort auch zur Schule. Nach dem Abitur wurde er zur Bundeswehr eingezogen. Eigentlich wollte er den Kriegsdienst verweigern, aber in der Hoffnung darauf, daß man ihn möglicherweise vergessen könne, wartete er zunächst einmal ab. Man vergaß ihn aber nicht. Bei der Panzer-Artillerie wurde er sogar Gefreiter. Nach seiner Bundeswehrzeit schrieb er sich an der Universität in Frankfurt ein. Er studierte dort fünf Semester lang Physik und machte sein Vordiplom. Weder auf der Schule noch an der Universität zeigte er jemals politische Ambitionen. Zwar nahm er an einigen Demonstrationen zu hochschulpolitischen Fragen teil, aber für weitere politische Aktivitäten reichte sein Engagement nicht aus. »Ich habe wohl irgendwie links gedacht«, sagte er, »aber gemacht habe ich eigentlich nichts.« Auch im Elternhaus, wo er immer noch regelmäßig auftauchte, wurde wenig über Politik gesprochen. Sein Vater ist Angestellter bei der amerikanischen Armee, die Mutter arbeitet als Sekretärin. »Es war sinnlos, mit meinem Vater über Politik zu diskutieren, weil er von seinen Meinungen nicht runtergegangen ist. Wir haben zwar dieselben Dinge am Staat kritisiert, aber wir hatten unterschiedliche Meinungen darüber, woher die Mißstände kamen und was man dagegen tun konnte. Manchmal habe ich mich mit meinem Vater so in die Haare gekriegt, daß ich dann über Politik nicht mehr mit ihm geredet habe.« Doch das persönliche Verhältnis zu seinen Eltern wurde davon kaum getrübt. Das Thema Politik wurde einfach weitgehend ausgespart. Guido wollte Diplom-Physiker werden, dann entweder an der Uni arbeiten oder sich irgendwie selbständig machen. Für die Industrie wollte er nicht arbeiten, allenfalls vorübergehend, um ins Ausland zu kommen. Nach fünf Semestern verließ er die Frankfurter Universität. Der Wissenschaftsapparat erschien ihm zu kalt, zu groß und zu straff geregelt. Er ging nach Berlin, dort hatte er Freunde, außerdem gefiel ihm die Stadt. Berlin erschien ihm altmodischer, aber mit seiner konfliktreichen Sozialstruktur irgendwie ehrlicher und gemütlicher als die von nüchternen Glasfassaden und kaltem Geschäftsgeist geprägte Stadt Frankfurt. In Berlin fand er eine kleine Einzimmerwohnung, die er allein bezog. Während der Semesterferien arbeitete er in einer Zigarettenfabrik, um das Geld für sein Studium zu verdienen. Von zu Hause bekam er nur wenig, BAföG gab es auch nicht. So mußte er dazuverdienen. Der Job an einer Maschine reichte gerade fQr den Kauf eines Motorrades; für das nächste Semester reichte es nicht. Er beschloß, das Studium kurzzeitig zu unterbrechen und weiterzuarbeiten, um sich ein kleines finanzielles Polster zu verschaffen. Außerdem ließen sich Job und Studium nur schwer vereinen: »Das war zwar relativ gut bezahlt, zuletzt
so um die 1600 Mark, aber ich mußte so blöde Schichtarbeit leisten. Da war mit Uni nicht viel drin.« Von den Hausbesetzungen in Berlin hatte Guido nur nebenbei gehört. Er wohnte weiterhin in seiner Einzimmerwohnung, besuchte aber gelegentlich Freunde, die in besetzten Häusern lebten. »Zu der Zeit waren so an die 15 Häuser besetzt, und die Leute, die darin wohnten, kannte ich eigentlich nicht besonders gut. Ich fand das schon in Ordnung, daß die Typen Häuser besetzten, aber selbst habe ich mir nicht zugetraut, in einem besetzten Haus zu wohnen. Ich hatte vor allem mein Studium im Kopf. Außerdem hatte ich Angst, in irgendwelche polizeilichen Ermittlungen zu geraten. Die Polizei stand schließlich immer vor den besetzten Häusern herum. Es gab am laufenden Band Räumungsgerüchte. In so etwas wollte ich nicht hineingeraten. Außerdem habe ich der ganzen Besetzerbewegung nicht viel Aussichten eingeräumt. Das waren damals einfach zu wenig besetzte Häuser. Ich habe damals gedacht, es dauert nur noch ein paar Monate, bis die Polizei alle Häuser räumt. Ich sah einfach keine Zukunft darin, mich dort zu engagieren, obwohl ich ganz gut fand, was die Leute machten.« Was die Leute machten, waren im wesentlichen handwerkliche Arbeiten. Sie waren in leerstehende Gebäude eingezogen und richteten sich darin häuslich ein. Sie räumten das Gerümpel fort, dichteten die Fenster ab oder setzten neue ein, installierten Bäder und Küchen, tapezierten, strichen Wände, legten mehrere kleine zu einer großen Wohnung zusammen, legten neue Fußböden und machten die Öfen funktionsfähig. Und sie sicherten die Eingänge der besetzten Häuser gegen private Räumkommandos der Hausbesitzer und die der Polizei ab. Sie bauten sich eine faszinierende eigene Welt, gegen das bestehende Gesetz, aber im Einklang mit ihren eigenen Empfindungen über das, was Recht ist und was Unrecht. Guido W. bewunderte den Mut der Hausbesetzer, die trotz drohender, gewaltsamer Räumungen, trotz drohender Strafverfahren wegen Hausfriedensbruch, ihre Arbeit und ihr spärliches Geld in fremder Leute Häuser investierten. Dennoch wollte er selbst nicht in einem solchen Haus wohnen. »Irgendwie war mir mein Studium wichtiger. Und beides zusammen ging schlecht. Das sah ich an einem Freund, der kam zu überhaupt nichts mehr, seit der in einem besetzten Haus lebte. Das ist doch ein Fulltimejob. Da mußt du das Haus renovieren, da mußt du um 5 Uhr aufstehen, wenn die Telefonkette ausgelöst wird. Das war einfach zu stressig für mich, um noch nebenher etwas anderes zu machen.« Doch dann kam die Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1980. Am Fraenkelufer in Kreuzberg kam es anläßlich der polizeilichen Räumung eines gerade besetzten Hauses zu einer der härtesten Straßenschlachten der vergangenen Jahre in Berlin. Senat und Polizei erwarteten, daß die Hausbesetzer und ihre Sympathisanten nach inzwischen 20 geduldeten Hausbesetzungen diese Räumung nicht widerstandslos hinnehmen würden. Kurz zuvor war es zu den ersten Verhandlungen zwischen Abgesandten der Hausbesetzer und denen des Senats gekommen. Bausenator Ristock hatte ein leerstehendes Haus in der Admiralstraße, unmittelbar neben dem Fraenkelufer, als Ausweichquartier für die Bewohner eines zur Räumung anstehenden besetzten Gebäudes in Aussicht gestellt. Offizielle Begründung für den Polizeieinsatz in jener Nacht war der vorgebliche Versuch von Hausbesetzern, eben jenes Haus in der Admiralstraße, das für die friedliche »Umsiedlung« vorgesehen war, dennoch zu besetzen. Der Senat wollte sich von seinem Konzept nicht durch eine Besetzung ausgerechnet dieses Hauses abbringen lassen. Ristock: »Chaoten zerstören mir meine Politik nicht!« Doch in Wahrheit hatte niemand Anstalten gemacht, das Haus in der Admiralstraße zu besetzen, statt
dessen waren Leute mit Sack und Pack in ein leerstehendes Haus nebenan gezogen. Ausgangspunkt der Gewalteskalation war also ein von der Polizei mehr oder weniger provoziertes Mißverständnis. Wie auch immer: irgendwann mußte es zur Konfrontation zwischen Staatsmacht und Besetzern kommen. Lange hatte der sozialliberale Berliner Senat Hausbesetzungen stillschweigend hingenommen und war deshalb zunehmend in das Schußfeld der SpringerPresse, der CDU und rechter Kreise in Polizei und Justiz geraten. Auch hatten militante Kreise der Hausbesetzerszene die Stimmung übermütig als revolutionär fehlinterpretiert. Die Konfrontation war unvermeidlich und ließ nicht lange auf sich warten. Auszug aus dem polizeilichen »Verlaufsbericht« über die Ereignisse vom 12. Dezember 1980: Beginn der Ausschreitungen: Am 12. 12. 80 versuchten gegen 17.00 Uhr mehrere Personen, das Grundstück in Berlin 61, Fraenkelufer 48 zu besetzen. Einsatzkräfte der Schutzpolizei verhinderten die Hausbesetzung und nahmen in diesem Zusammenhang sieben Personen vorläufig fest. Bereits 30 Minuten später versammelten sich ca. 30 bis 40 Personen vor dem o. a. Objekt und errichteten davor Barrikaden. 17.45 Uhr Errichten von Barrikaden vor dem Objekt in Höhe Admiralbrücke und Fraenkelufer/Admiralstraße. Einsatzkraftfahrzeuge mit Steinen beworfen. 18.10 Uhr Beseitigung der Barrikaden und Räumung der Admiralstraße in Richtung Kottbusser Tor
unter der Anwendung des Schlagstockes und Tränengas.
Raumschutz im Bereich der besetzten Kreuzberger Objekte.
18.23 Uhr Festnahme von drei Steinwerfern (2 männlich, 1 weiblich) 18.30 Uhr Erneute Ansammlung von Störern am Kottbusser Tor, Räumung in Richtung Admiralbrücke
und Beseitigen von Barrikaden.
Dabei Steinwürfe auf eingesetzte Beamte und Polizeikraftfahrzeuge.
19.07 Uhr ca. 150 - 200 Störer im Bereich zwischen Oranienplatz und Kottbusser Brücke.Einwerfen von Schaufensterscheiben der Firma Kaiser's Kaffee, Geschäften und Banken sowie Sachbeschädigungen an privaten Kraftfahrzeugen. Störer zum Teil mit Schlagwerkzeugen bewaffnet. 19.17 Uhr Umkippen des Fustrw., EB 51/2. Dabei ein Beamter verletzt (durch Ktw mit Beinbruch, links,
dem Krankenhaus Am Urban zugeführt).
Polizeikraftfahrzeug durch Einsatzkräfte aufgerichtet und mit eigener Kraft aus Gefahrenzone
gefahren.
19.40 Uhr Eintreffen und sofortiger Einsatz angeforderter Verstärkungskräfte.
20.15 Uhr Straßensperren Admiralstraße durch TEA beseitigt. Steinhagel gegen eingesetzte Polizeikräfte. 20.58 Uhr Erneutes Errichten von Straßensperren im Bereich Fraenkelufer. 21.01 Uhr Oranienstraße durch 200 - 300 Personen blockiert. Sperren der Oranienstraße und Ableiten des Verkehrs zwischen Moritzplatz und Heinrichplatz durch VKD-Kräfte. 21.26 Uhr Plünderung des Kaiser's Kaffee-Geschäftes am Kottbusser Tor. 21.27 Uhr In Brand gesetzter Bauwagen in der Admiralstraße durchFw gelöscht. 21.30 Uhr Plünderung des Schuhgeschäftes Salamander am Kottbusser Tor. 21.40 Uhr Umgestürzter Bauwagen am Planufer. 21.50 Uhr Umwerfen von Privat-Kraftfahrzeugen in der Adalbert/Oranienstraße. Adalbertstraße durch Sperren verbarrikadiert.4 Straftäter festgenommen. 22.11 Uhr Räumen der Oranienstraße. Steinhagel auf eingesetzte Beamte in Höhe Heinrichplatz. Werfen eines Molotowcocktails. 22.15 Uhr Naunynstr. 70 Umkippen eines Bauwagens. 22.18 Uhr Plünderung bei der Firma »Aldi« am Kottbusser Tor.
Im gesamten Bereich verstärkte Raumstreifen. Eingesetzte Kräfte werden wiederum mit
Steinen beworfen und mit Stahlkugeln beschossen.
Dieses, durch Brutalität und Zerstörungswillen gekennzeichnete Vorgehen (siehe auch
Lichtbildmappe) setzte sich bis in die Morgenstunden fort.
Erst um 4.30 Uhr heißt es dann in dem Verlaufsbericht:
»Lage im gesamten Bereich normal.«
Das Ergebnis dieser langen Kreuzberger Nacht (aus der Sicht der Polizei):
57 Festnahmen wegen Landfriedensbruch, Plünderei und Körperverletzung, 3
Dienstkartenaushändigungen, 66 verletzte Polizeibeamte, davon verbleiben 63 im Dienst, 2
Beamte vom Dienst abgetreten, 1 Dea stationär im Urban-Khs, 35 z. t. erheblich beschädigte
Pol.-einsatzfahrzeuge, abhandengekommene Ausrüstungsgegenstände: 5 Gasschutzbrillen, 3
Antennen fug 10, 1 Kripodienstmarke, 1 Pol.-Melderschlüssel, 2 Anhaltestäbe, 2
Schutzschilde, 4 Handfesseln, 5 Schlagstöcke, 1 Stahlhelm, 1 Schutzhelm, 1 Dienstmütze, 5
Taschenmesser, 6 Kombiwerkzeuge, 17 Taschenlampen, 18 Paar Handschuhe, 1
Schulterklappe.
Es war schon Abend, als Guido W. telefonisch davon erfuhr, daß am Fraenkelufer Häuser
geräumt wurden. Zusammen mit einem Freund beschloß er, sich die Sache anzusehen. »Es
war nicht allein Neugier, sondern wir waren der Ansicht, daß es schon eine Menge bringt,
wenn viele Leute da sind. Wir haben nicht damit gerechnet, daß es dort Randale geben
könnte. Das war relativ neu.«
Gegen halb zehn Uhr setzte sich Guido in die U-Bahn und fuhr zum Kottbusser Tor. Die Eingänge auf der einen Seite der Station waren abgesperrt. Guido machte einen Bogen und verließ den U-Bahnhof auf der anderen Seite. Anfangs schien alles ruhig, er konnte weder Polizei noch Demonstranten entdecken. Doch als er dann die Straße Richtung Fraenkelufer hinunterging, sah er, daß die Scheiben der umliegenden Banken und einiger größerer Geschäfte zerstört waren. Er konnte einige Leute beobachten, die mit Lebensmitteln bepackt durch die zersplitterten Scheiben eines »Aldi«-Supermarktes ins Freie kletterten. Guido schlenderte weiter, bis er auf der Straße einen Freund traf, der in der Nähe wohnte. Beide gingen in dessen Wohnung, von der aus sie die Szenerie überschauen konnten. In der Adalbertstraße war eine »Barrikade« aufgebaut, die allerdings lediglich aus einigen Brettern und Tonnen bestand, die ein geschickter Autofahrer leicht hätte umfahren können. Sie beobachteten, wie die Polizei diese Sperre wegräumte und dabei mit Steinen beworfen wurde. Die Demonstranten hatten sich in kleinen Grüppchen über das ganze Gebiet verteilt, insgesamt, so Guidos Beobachtung, vielleicht hundert Leute, Schaulust von einer Menge Schaulustiger. In diese wollten sich Guido und sein Freund einreihen, außerdem wollten sie in einer Kneipe ein Bier trinken und sich zur Lage informieren. Doch gerade als sie das Haus verlassen wollten, brach das Chaos aus. Ein paar »Wannen«, Mannschaftstransporter der Polizei, bogen um die Ecke und wurden mit Steinen beworfen. Die grünen Kleinbusse stoppten abrupt und Beamte sprangen mit gezogenen Holzknüppeln heraus. Demonstranten, Steinewerfer und Schaulustige rannten davon. Die Polizisten hinterher. Guido W. rannte, so schnell er konnte, doch eine Gruppe von Polizisten blieb ihm dicht auf den Fersen. Da versuchte er, sich in einen Hausflur zu retten. Er stürmte die Treppen hoch, aber zwei Polizisten folgten ihm. Im vierten Stock war die Flucht schließlich zu Ende. Es ging nicht mehr weiter. Die beiden Polizisten holten Guido ein und nahmen ihn fest. »Ich habe keinen Widerstand geleistet, das war auch ziemlich sinnlos, denn die Polizisten waren ziemlich groß und stark. Die haben mich dann gepackt und die Treppen runtergezerrt, und während es treppab ging, haben die Beamten mit ihren Knüppeln auf mich eingeschlagen. So ging das bis iris Erdgeschoß. Da haben sie aufgehört zu knüppeln, weil Leute zusahen. Ich hatte Prellungen und Platzwunden am Kopf. Anschließend haben sie dann gesagt, ich hätte mit Steinen geworfen, aber das haben sie sich voll aus den Fingern gesogen. Sicher, da unten sind Steine geflogen, ich hab das auch gesehen, wie ein Polizist einen Stein an die Schulter bekommen hat. Das muß auch ziemlich wehgetan haben. Ich bin es aber nicht gewesen, der diesen oder einen anderen Stein geworfen hat. Ich sah das so: Nach meiner Festnahme hatten sie einen, und der mußte es dann auch gewesen sein.« »Ich habe auch bei der Festnahme keinen Widerstand geleistet. Aber das scheint irgendwie dazuzugehören. Wer festgenommen wird, leistet auch Widerstand. Das ist schon so richtig eine Floskel wie >Guten Tag< oder so. Ich hab mich einfach auf den Boden gelegt und weder gestrampelt noch sonst irgendwas.« Guido W. wurde also in die Gefangenensammelstelle gebracht, später ging's zum Haftrichter und schließlich nach Moabit ins Gefängnis. »Beim Haftrichter hat es etwa 10 Minuten gedauert, den Haftbefehl hatten sie weitgehend vorgedruckt. Das ging ruck-zuck.« Da saß Guido W. also in seiner Zelle.
»Erst habe ich gedacht, es könnte nicht sehr lange dauern, denn ich habe ja gar nicht gewußt, was die mir nun konkret vorwerfen. Andererseits habe ich dann auch gedacht, das mit dem Studium könnte ich jetzt erst mal vergessen, denn man mußte ja mit dem Schlimmsten rechnen. Ich finde, drinnen ist die Zeit schneller vorangegangen als draußen, weil ja nichts passierte. Ein Tag war wie der andere. Das Gefängnis ist wie ein kleines Leben. Wir haben auch gelacht, die anderen und ich. Man kann ja schließlich nicht die ganze Zeit mit 'ner Wut im Bauch herumlaufen. Oder böse aus der Wäsche gucken, das kann ich eigentlich nicht. Schließlich, einige Wochen später, der Prozeß vor dem Schöffengericht. Das erste Landfriedensbruch-Verfahren gegen einen »Hausbesetzer«, gegen einen »Krawallmacher«, gegen einen »Randalierer«. Guido Weitz fand sich mit seiner Rolle ab, was hätte er auch anderes tun können. Der Zuhörerraum war voll besetzt - ein großes Aufgebot an Journalisten, viele Rechtsanwälte, die sich aus dem Prozeß Anregungen für folgende Strafverfahren dieser Art holen wollten. Es folgte ein Aufmarsch von Zeugen und Polizeibeamten, die vorgaben, Guido W. beim Steinewerfen beobachtet zu haben. Zeuge Nummer eins, Horst R., 20 Jahre alt, Polizeibeamter: »Ich konnte nur sehen, wie er Steine auf das Polizeifahrzeug warf. Ob er den Stein auf mich geworfen hat, habe ich nicht gesehen. Er stand in einer Personengruppe. Er hatte ein blaues Halstuch an. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen. Die Gruppe war etwa zehn Personen stark. Wir saßen im Fahrzeug und waren ca. 15 Meter entfernt. Als ich aus dem Fahrzeug trat, traf mich der Stein von hinten. Ich hatte Prellungen und Schürfwunden. Ich habe nicht gesehen, wie er den Stein geworfen hat. Ich habe Herrn W. erst wieder im Wagen gesehen...« Auf Befragung erklärte der Zeuge: »Ich konnte die Person nur anhand des blauen Halstuches erkennen. Das ist das, was ich weiß.« Und etwas später: »Die Aussagen waren von den Kollegen beeinflußt, möchte ich sagen. Das, was ich vorher sagte, ist das, was ich mitbekommen habe. Ansonsten war ich damals verbittert, weil ich den Stein abbekommen habe.« Zeuge Nummer zwei: Hermann L., 42 Jahre, Polizeibeamter: »Ich habe nicht gesehen, daß er den Beamten mit einem Stein beworfen hat. Er hat nur den Wagen beworfen, das habe ich gesehen. Er trug ein braunes Halstuch. Es war der .Wagen vor mir. Dies war beim Abbiegen von der Adalbertstraße zur Oranienstraße. Er stand dort unter der Laterne an der Straßenecke. Dort stand er mit vier bis fünf Personen in der Gruppe. Dann klatschte der Stein auch schon gegen unser Fahrzeug, vorher bückte er sich. Er hatte ein ' beigebraunes >Palästinensertuch<.« Zeuge Nummer drei: Anton S., 25 Jahre, Polizeibeamter: »Ein Stein flog auf mich zu, verfehlte mich, traf aber den neben mir stehenden Kollegen. Dieser schrie auf. Geworfen wurde ein Mosaikstein. Ich erhielt den Auftrag, den Steinwerfer zu verhaften. Ich verfolgte die Person bis in ein Haus zum vierten Stock, wo ich ihn festnahm. Ich habe mir die Person gut merken können, da die Person ein Tuch, über den Hals geschlungen hatte. An die Farbe des Tuches kann ich mich nicht erinnern...«
Zeuge Nummer vier: Klaus-Dieter S., 27 Jahre alt, Polizeibeamter: »Den Stein auf Herrn R. schmiß er im Stehen. Er war zu diesem Zeitpunkt eine Einzelperson. Die örtliche Trennung von der flüchtenden Gruppe betrug fünf bis zehn Meter. Ich befand mich unmittelbar am Fahrzeug. Ich war gerade ausgestiegen. Da sah ich, wie er den Stein schmiß. Es ist noch eine Frau bzw. ich glaube noch zwei männliche Personen in das Haus gelaufen. Nur Herr W. ist bis zum vierten Stock gelaufen. Mein Kollege bekam Fußtritte und ich einen Tritt gegen das Schienbein. Davon zog ich eine Prellung davon. Herr W. mußte sich hinlegen, und wir führten ihn dann ab. Ich konnte ihn anhand des Tuches, der Lederjacke und der Tatsache heraus erkennen, daß er Bartträger ist... Meines Erachtens war es ein schwarz weißes Tuch.« Welche Farbe hatte das Halstuch, an dem Guido W. »mit Sicherheit erkannt« worden war, nun wirklich? Es war rot-weiß kariert und wurde dem Gericht von Guidos Anwälten vorgelegt. Doch wer erwartet hätte, daß damit die Anklage ins Wanken geraten würde, hatte sich getäuscht. Ob blau, schwarz, braun oder rot-weiß: Als Halstuchträger wurde weiterhin Guido W. identifiziert. Das Urteil in der ersten Instanz lautete: Guido W. wird wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vierzehn Monaten verurteilt. Weder die möglichen Farbvariationen sogenannter Palästinensertücher, noch die Halstuchmode in der Szene überhaupt und schon gar nicht das Eingeständnis des Zeugen R., seine Aussage sei von Kollegen beeinflußt worden, führten dazu, das Gericht nachdenklich zu machen. Der Gedanke, daß möglicherweise die gesamten, zum Teil recht detaillierten Aussagen der übrigen Beamten auf ähnliche Weise zustandegekommen und zumindest anzweifelbar seien, kam denen, die sich der objektiven Wahrheitsfindung verpflichtet haben, offenbar nicht. Zum Problem des buntschillernden Halstuches nahm das Gericht denn auch'mit bemerkenswerter Folgerichtigkeit Stellung: »Zwar konnte keiner der angegebenen Zeugen eine genaue Beschreibung des Halstuches, insbesondere der Farbe des Halstuches, das der Angeklagte getragen hatte, geben. Es ist auch offenkundig, daß Palästinensertücher von einer großen Anzahl gerade auch junger Menschen getragen werden. Allen drei Zeugen ist jedoch die Person, die sie beobachtet hatten, gerade deshalb aufgefallen, weil sie überhaupt ein Halstuch trug.« Nachdem das Gericht Guido W. auf diese Weise eindeutig als Steinwerfer identifiziert'hatte, konnte es zur Begründung des hohen, nicht auf Bewährung ausgesetzten Strafmaßes schreiten: »Zu Lasten des Angeklagten wertet das Gericht jedoch, daß dieser mit einer erheblichen Intensität vorgegangen ist. Der Angeklagte hat nicht nur einmal, sondern zweimal mit Steinen geworfen. Zu Lasten des Angeklagten würdigt das Gericht auch, daß dieser es nicht bei der Gewalt gegen Sachen hat bewenden lassen. Vielmehr hat er auch die Gewalt gegen Menschen billigend in Kauf genommen. Wenn auch das Gericht dem Angeklagten zugute hält, daß er die Wohnungspolitik in Berlin als verfehlt angesehen haben mag und dagegen protestieren
wollte, so muß dem Angeklagten doch deutlich vor Augen geführt werden, daß die Art seines Vorgehens Straftatbestände erheblichen Gewichtes erfüllt.« Nach fünfeinhalb Monaten Haft wurde Guido W. auf freien Fuß gesetzt. Seinen Job hatte er inzwischen verloren. Doch plötzlich gestaltete sich das Verhältnis zu seinen Eltern besser als je zuvor. Seine Mutter, die bis dahin noch niemals in Berlin gewesen war, hatte ihn an die zehnmal im Gefängnis besucht. Selbst sein Vater war zweimal dort gewesen. Vor allem hatte sich sein Verhältnis zur Besetzerszene grundlegend geändert. Sein Name war plötzlich bekannt,er war plötzlich zu einer Symbolfigur der Hausbesetzer geworden. Ein besetztes Haus wurde nach ihm benannt. Guido W.: »Das Haus, das nach mir benannt wurde, ist nur ein kleines Hinterhaus. Ich bin auch nicht danach gefragt worden, oh ich damit einverstanden bin. Aber ich fand das echt lustig.« Und nun erst fühlte er sich wirklich der Hausbesetzerszene zugehörig: »Durch meine Prozeßgeschichte habe ich jetzt einen ganz guten Kontakt zu den Leuten gefunden. Ich bin näher an die herangerückt. Ich bin halt ziemlich bekannt geworden, dafür kann ich nichts. Und irgendwie haben mir die Leute, die wissen, wer ich bin, viel Solidarität entgegengebracht. Es gibt kein Mißtrauen. Wenn ich in irgendein Haus rein komme, um einen Bekannten zu besuchen, dann freuen sich die Leute, mich zu sehen. Ich hab dadurch unheimlich viel Solidarität gespürt. Das hat mir viel gebracht. Es gibt sicher Leute, die das nicht ausgehalten hätten in dem Prozeß, daß da so die Unwahrheit gesagt wird. Aber ich, ich bin da ganz ruhig sitzengeblieben, es wäre von minderer Bedeutung gewesen, wenn ich da aufgestanden wäre. Die Wut der Polizisten kann ich vielleicht verstehen, aber nicht das mit den Aussagen. Das kann ich echt nicht begreifen. Und dafür kann ich auch keine Entschuldigungen gelten lassen. Auf deren Aussagen hin mußte ich ja in den Knast gehen. Das kann ich nicht akzeptieren, wenn die sich vielleicht nicht sicher sind, jemanden aber trotzdem belasten. Möglich, daß die auch unter irgendeinem Erfolgszwang stehen, aber das ist mir scheißegal, dafür will ich nicht in den Knast. Verändert hat sich bei mir, daß ich für diesen Staat nichts mehr tun werde. Was hier abläuft ist eine derart repressive Geschichte gegen Andersdenkende, immer hinter dem vorgehaltenen heuchelnden Wort von der Meinungsfreiheit. Die gibt es nicht mehr. Das ist mir irgendwie klar geworden. Im nachhinein hab ich mich schon richtig geärgert, daß ich nicht tatsächlich mit Steinen geworfen habe, dann hätte es wenigstens einen Grund für meine Festnahme gegeben. Aber so habe ich fünfeinhalb Monate für nichts eingesessen und muß möglicherweise auch noch wieder zurück ins Gefängnis. Das alles hat dazu geführt, daß ich mich erst wirklich dazugehörig fühle. Erst jetzt fühle ich mich wirklich als Teil der Hausbesetzerbewegung. Vorher war ich so ein Außenstehender.« Sechs Monate nach der Krawallnacht am Fraenkelufer wurde in zweiter Instanz, vor dem Landgericht, gegen Guido W. verhandelt. Das Urteil von 14 Monaten ohne Bewährung blieb bestehen. Nur die Begründung hatte sich geändert. Der Richter glaubte all jenen Zeugen nicht mehr, die gesehen haben wollten, wie Guido W. den Stein auf einen Polizisten warf. Dieser Vorgang wurde schlicht unter den Teppich gekehrt. Dennoch wurde das harte Strafmaß, das in erster Instanz ja vor allem damit begründet wurde, daß W. sich nicht mit »Gewalt gegen Sachen« begnügt hatte, sondern auch »Gewalt gegen Personen« ausgeübt hatte, nicht reduziert.
In der mündlichen Urteilsbegründung sagte der vorsitzende Richter; besonders schwerwiegend sei beim Landfriedensbruch das gewaltsame Vorgehen einer Menschenmenge gegen Sachen und Menschen. Mit seinen Steinwürfen hätte sich der Angeklagte mit dieser Menge identifiziert. Nicht nur das Unrechtsverhalten des einzelnen stünde vor Gericht, sondern auch dessen Mitverantwortung für die gesamte Gruppe. Im übrigen seien die Ereignisse vom 12. Dezember kein einmaliges Ereignis, sie hätten sich seitdem wiederholt. Dieser Entwicklung solle Einhalt geboten werden. In den Medien seien diese Vorfälle mit Sympathie beurteilt worden, aber sie seien in Wirklichkeit nichts anderes als die Verwirklichung eines Aggressiohsbedürfnisses. Wenngleich man dieses dem Angeklagten nicht vorwerfen könne, so gälte es hier dennoch strafverschärfend. Im Klartext: Bei dem Delikt Landfriedensbruch wird kein individuelles Verhalten bestraft. Es bedeutet Kollektivschuld, nach dem alten »rechtsstaatlichen« Prinzip »Mitgefangen mitgehangen«. Wolfgang Panka, einer von Guido W.s' Verteidigern, sagte nach der Urteilsverkündung: »Dies ist kein Urteil, das sich mit der individuellen Hauptverhandlung gegen Guido W. beschäftigt. Das ist ein Urteil über Demonstrationen, Hausbesetzungen, Steinwürfe, Krawalle insgesamt.« So werden Straftäter produziert.
Diese Gesellschaft ist ein riesengroßer Knast Göttinger Hausbesetzer über sich selbst Wenn sich die Öffentlichkeit für uns interessiert, dann nicht deshalb, weil wir sie als Menschen interessieren, sondern deshalb, weil wir Krawalle machen. Wir sind interessant, weil das als Skandal zu verbraten ist. Unsere wirklichen Interessen, was Wohnung und so weiter angeht, die haben wir schon vor Jahren formuliert in Bittbriefen und Resolutionen, haben damals noch Gespräche mit der Stadtverwaltung und irgendwelchen Parteifunktionären geführt, und das hat die Öffentlichkeit nicht interessiert, sondern wir sind immer wieder eingemacht worden. Und dann haben wir eben angefangen, Häuser zu besetzen und haben das im letzten Jahr noch ganz friedlich gemacht. Es gab eine irrsinnige Sympathiewelle aus der Bevölkerung, und wir sind trotzdem rausgeräumt worden. Und irgendwann heißt es dann für uns: Jetzt ist Schluß. Jetzt müssen wir uns wehren, jetzt müssen wir auch zurückschlagen. Nicht weil wir Spaß dran hätten, sondern weil sich gezeigt hat, daß offensichtlich nur der Pflasterstein ein Argument ist, das in dieser komischen bundesrepublikanischen Gesellschaft noch Beachtung findet. Wir sehen uns vor der Situation, daß diese vielbeschworenen demokratischen Regelmechanismen, mit denen man also größere oder kleinere Gruppen von Interessen vertreten kann, nur durchgesetzt werden können nach dem Motto »Jeder kann ja hier seine Meinung sagen« - das ist auch richtig, man kann sie vielleicht grade noch sagen -, aber es zeigt sich eben für uns, daß wir gar keine andere Wahl haben als entweder aufzustecken, oder uns mit härteren Methoden unserer Haut, das heißt in diesem Falle unserer Lebensbedingungen, zu wehren. Mal weg von den Krawallen möchte ich mal sagen, warum wir überhaupt hier wohnen und nicht woanders: In Göttingen sieht es so aus, daß es sehr viele neue Wohnungen gibt, also es werden überall Betonklötze aus dem Boden gestampft, die man wirklich nur als Wohngaragen bezeichnen kann. Unserer Meinung nach ist das Leben in solchen Häusern einfach nicht menschenwürdig. Wir sind nicht bereit, die Situation hinzunehmen und uns mit frommen Sprüchen und Hinweisen auf die demokratischen Spielregeln noch weitere zwanzig, dreißig Jahre hinhalten zu lassen, bis das Leben dann endlich an uns vorbeigegangen ist. Wir sitzen hier und machen diese ganzen Aktionen, weil wir uns nicht abfinden wollen mit einer Welt, die aus Beton besteht und Städten, aus denen das Leben weicht. Wir haben auch keine Lust, uns alle heimlich, still und leise aufs Land zu verpissen. Wir wollen in solchen Häusern wie diesem hier, in selbstverwalteten Kommunikationszentren leben, wir wollen unser Leben leben, unsere Werkstätten aufziehen und unsere selbstverwalteten LebensmittelKooperativen. Wir wollen zusammenleben und nicht jeder einzeln im Wohnklo um seine Existenz kämpfen, beim Chef ducken. Wir wollen versuchen, aus diesen besetzten Häusern heraus anders zu leben als es uns von dieser ach so tollen Industriegesellschaft geboten wird. Wir sind vor anderthalb Wochen rausgeräumt worden aus zwei Häusern, und zwar mit einem riesigen Polizeiaufgebot. Und unter dem Schutz dieses Polizeiaufgebots sind dann die Häuser völlig zerstört worden, obwohl das eine unter Denkmalschutz steht, sinnlos kaputtgeschlagen. Die Häuser sind also für uns verloren. Und deshalb sind wir hier in die Innere Medizin, in den Mitteltrakt rein, weil die Leute, die da gewohnt haben, irgendwo wohnen müssen. Das sind
nicht nur Studenten, sondern das sind Leute aus allen Schichten, die da versucht haben, zusammen in Gruppen zu leben: nicht vereinzelt, nicht isoliert. Das gleiche mit den Häuserzerstörungen hat stattgefunden bei einem andern Haus, was besetzt worden ist, was ausgerechnet einer Baugesellschaft hier in Göttingen gehört, einem Ratsmitglied, dem FDP-Chef. Der hatte tatsächlich keine Hemmungen, aus dem Haus, kurz nachdem es geräumt worden ist, die Fußbodenbretter rauszureißen und vor die Fenster zu nageln und das Haus konsequent zu zerstören. Außerdem werden die Mieter quasi unter Druck gesetzt, daß sie rausziehen sollen, obwohl das Haus im Prinzip in Ordnung ist. Bei solchen Dingen ist es für uns einfach unmöglich, den Politikern noch irgendwas zu glauben. Der Mann steht hier in Göttingen in der Politik zentral drin. Wohnungskampf ist für uns eine Möglichkeit, gegen die gesamtgesellschaftliche Situation anzukämpfen, wo Politiker dabei sind, gegen jegliche Vernunft unsere Zukunft zu zerstören, wo Atomkraftwerke gebaut werden, wo Hochsicherheitstrakte gebaut werden, Neutronenbomben angeschafft werden. Es geht eben wirklich um unsere Zukunft. Und da ist Wohnungskampf eine Möglichkeit, aktiv Widerstand zu leisten. Für mich ist diese Gesellschaft hier ein riesengroßer Knast. Wenn ich in einen Betrieb geh, dann werde ich in dem Betrieb von meinem Chef unterdrückt und muß vierzig Jahre die verblödetste Arbeit machen, daheim die Frauen müssen idiotische Hausarbeit machen, ich soll mich von dem idiotischen Fernsehprogramm jeden Abend vollabern lassen und soll mich nur passiv dieser Konsumscheiße hingeben. Und wenn dann mal jemand aufsteht, dann kommt er eben in den richtigen Knast. Und wenn er im richtigen Knast immer noch nicht die Schnauze zumacht, dann kommt er in den Hochsicherheitstrakt. Ich hab die Nase gestrichen voll von diesem Land hier, und da gibt's nur Kampf, mit dem Rücken gegen die Wand. Die einzelnen Gruppen hier haben sich aber nicht nur aus politischen Motiven zusammengefunden, sondern deshalb, weil wirklich hier von Leuten, die tagsüber arbeiten gehen, über Leute, die keine Lehrstelle bekommen, bis hin zu politisch Engagierten und Studenten eine unheimlich gute Kommunikation stattfindet. Man bekommt wirklich Kontakt zu Leuten, an denen man draußen vorbeiläuft. Es geht vielen hier nicht um politische Hintergründe, sondern um die totale Vereinsamung in unserer Gesellschaft, die wir als Jugend auf jeden Fall aufzuheben versuchen. Aber selbst wenn uns im Schutze der Dunkelheit und der Polizei das Dach überm Kopf abgerissen wird, dann bleibt trotzdem das, was wir aufgebaut haben, lebendig. Denn Ideen sind stärker. Und diese Ideen haben Strukturen gebildet. Und diese Strukturen sind geographisch unabhängig, mobil und transportabel.
Die »Legalos« von Kreuzberg. Sabine Rosenbladt Vom U-Bahnhof Kottbusser Tor ist die Dresdner Straße in Berlin-Kreuzberg gar nicht so leicht zu finden. Davor sperrt sich über drei Häuserblocks hinweg ein Bauwerk, das wie ein quergelegtes Hochhaus aussieht: Das »Neue Einkaufszentrum Kreuzberg« oder NKZ, wie das mürrische Behörden-Kürzel lautet. Dieses Produkt einer Stadtteilsanierung strahlt alle Tristesse aus, zu der moderner Sozialer Wohnungsbau heutzutage imstande ist. Seit zwischen den Beton-Blumenkübeln immer wieder blutige, sich Stunden oder sogar Tage hinziehende Straßenschlachten ausbrechen, haben »Aldi« und sogar der Spielsalon vorsorglich auch noch ihre Schaufenster zugemauert: In die Spanplatten sind kleine, kreisrunde Gucklöcher geschnitten, die - vergittert - den Blick auf Flipperautomaten freigeben. Durch diese Zitadelle muß jeder, der in die Dresdner Straße will. Sie, ehemals eine der Hauptverkehrs- und Geschäftsstraßen in diesem Teil Kreuzbergs, ist jetzt tot: Auf den herabgelassenen Rolläden der Geschäfte liegt zentimeterdicker Staub. Nur drei Eigenwillige haben trotzig versucht, die Betonbarrikade zu überleben, die Blumenfrau, der Möbelladen an der Ecke und der Drogist, Werner Orlowsky. Orlowskys Drogerie ist zum Kristallisationspunkt des Widerstandes im Kreuzberger »Kiez« geworden. Hier wird schon lange gekämpft: gegen Sanierungsvertreibung und Wohnungsspekulation, gegen Behörden und Wohnungsbaugesellschaften; aber erst die Hausbesetzungen und, mehr noch, klirrende Fensterscheiben haben das Augenmerk auf die vielen kleinen Mieterinitiativen gelenkt - was Orlowsky zu dem grimmigen Resümee veranlaßt: »Ein einziger Pflasterstein hat doch mehr gebracht als zwei Jahre Sanierungsbeirat!« Denn auf dem Stühlchen in seinem winzigen Laden hocken immer häufiger Journalisten, die wissen wollen, was es mit der Sanierung im »Planquadrat P IIIIX« rund um das Kottbusser Tor auf sich hat. Orlowsky, beredt und freundlich, erteilt Auskunft und bedient zwischendurch unablässig kleine staubige Türkenkinder, die für fünf Pfennig Kaugummi möchten. Der Drogist, eigentlich ein abgebrochener Student und »bis zum 30. Lebensjahr Wanderbursche«, wie er selbst sagt, hat sein Lädchen in Kreuzberg seit 22 Jahren. Jetzt ist er 53 Jahre alt, thront behäbig, graubärtig hinter seiner Ladentheke. Um ihn herum stapeln sich Parfümflakons, sind in den Regalen Seifen, Sonnenöle, Waschmittel und Toilettenartikel aller Art bis zur Decke aufgetürmt. Mitglied einer politischen Partei ist er nicht. Als Orlowsky hier herzog, gab es in der Dresdner Straße noch mehr als 30 florierende Geschäfte. In den mehrstöckigen Mietblöcken - gebaut um die Jahrhundertwende für die »erste Welle« von Gastarbeitern aus Oberschlesien und Polen wohnten immer noch vorübergehend Arbeiter - die typischen Berliner Hinterhöfe waren ideal für kleine Handwerksbetriebe. Das Viertel zwischen der Mauer und dem Kottbusser Tor war kein vornehmes, aber ein sehr lebendiges Quartier mit vielen Eckkneipen. Wer keinen großen Komfort suchte konnte hier eine billige Wohnung finden.
Doch dann begann, was Kreuzberger heute als den »Krieg der Baugesellschaften gegen die Bewohner« bezeichnen: 1963 wurde der Stadtteil K 36 (so genannt nach der postalischen Numerierung) zum »förmlich festgelegten Sanierungsgebiet« nach dem Städtebauförderungsgesetz erklärt. Wegen »einer Fülle von Mißständen«, so der damalige SPD-Senat, sollte die Gebäudesubstanz innerhalb der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre grundlegend erneuert werden. Sanierung bedeutete jedoch nicht behutsame Stadterneuerung und Reparatur, sondern Kahlschlag. Mit öffentlichen Geldern subventioniert, kauften gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften ganze Häuserblocks im Sanierungsgebiet auf, um sie, ebenfalls staatlich gefördert, abzureißen und an ihre Stelle Neubauten zu setzen. Auch private Sanierungsträger entdeckten lukrative Verdienstmöglichkeiten in Kreuzberg: Mit Subventionen für Kauf und Abriß und Steuervorteilen für Kapitalanleger durch Abschreibung und Berlin-Förderung ließen sich hier saftige Gewinne erwirtschaften. Folge dieser Sanierungspolitik: Billiger Wohnraum wurde hemmungslos vernichtet. Zum Beispiel waren von den 16000 Wohneinheiten, die 1963 als sanierungsbedürftig ausgewiesen worden waren, zehn Jahre später 2400 abgerissen, aber nur 1400 neu errichtet und ganze vierzehn renoviert. Die »Blockentkernung«, der Abriß der Hinterhöfe, bedeutete das Ende für zahllose kleine Gewerbebetriebe. Und von den angestammten Bewohnern, die vor der Sanierung Quadratmetermieten um zwei Mark bezahlt hatten, waren die neu gebauten oder aufwendig modernisierten Wohnungen nicht mehr zu bezahlen. Ein Massenexodus begann. Wer durch die Baumaßnahmen nicht sowieso schon seine Wohnung verloren hatte, der zog aus Furcht vor der drohenden »Umsetzung« in andere Stadtteile - wie etwa die neuerbauten Betonslums Märkisches Viertel oder Gropiysstadt - in dieser Zeit aus Kreuzberg weg. Auch die kleinen privaten Hauseigentümer wurden verdrängt: Heute ist im Sanierungsgebiet 96 Prozent der Gebäudesubstanz im Besitz von städtischen oder privaten Wohnungsbaugesellschaften. »Eigentum?« sagt Orlowsky zu der. Finanzierung dieser Käufe aus Steuermitteln, »ich habe ernste Schwierigkeiten, auch nur im Kreise meiner Familie zu vermitteln, daß von >Eigentum< und >Eigentümern< gesprochen wird im Zusammenhang mit der Begründung dieses Eigentums aus mindestens 70 Prozent Geldmitteln, die von uns allen stammen.« Als Kreuzberger hat er jahrelang erlebt, wie mit dem Eigentum von seiten der Gesellschaften umgegangen wurde. Denn bei den vom Kahlschlag vorerst verschonten Häusern wirkte sich noch eine andere Senatsentscheidung verheerend aus: »Zur Verhütung volkswirtschaftlicher Verluste« war den Eigentümern und zuständigen Behörden überlassen worden, »welche baulichen Maßnahmen (insbesondere Instandsetzungen und Modernisierungen) noch vorgenommen werden können« bis zur anstehenden Sanierung beziehungsweise »unterbleiben sollen«. Das war der Freibrief dafür, den noch intakten Wohnraum gezielt verkommen zu lassen. Entgegen der gesetzlich bestehenden Instandsetzungspflicht wurde, so Orlowsky, »einfach zehn Jahre lang überhaupt nichts mehr gemacht an den Häusern«. Von den Fassaden blätterte der Putz, kaputte Toiletten wurden nicht mehr repariert, durchgequollene Fenster blies der Wind, es gab keine Treppenhausbeleuchtung mehr, in den Hinterhöfen tummelten sich Ratten. Die Schäden, die in ganz Berlin durch die jahrzehntelang unterlassene Instandhaltung an Altbauten entstanden sind, beziffert ein Vertreter der Senatsbauverwaltung heute auf rund drei Milliarden Mark.
Die Behörden sahen dieser Praxis tatenlos zu. »Wenn ein Mieter«, berichtet Orlowsky, »beim Wohnungsaufsichtsamt eine Mängelrüge aufgeben wollte, dann kamen die meistens noch und sperrten die Wohnung wegen Unbewohnbarkeit.« So wurden die Mieter zu Störfaktoren einer Stadtplanung vom Reißbrett, zu lästigen Hindernissen für eine Städtebaupolitik, die sich nicht nach den Bedürfnissen der Bewohner, sondern eher nach den Interessen von Spekulanten und Bürokraten ausrichtete. Dabei geriet denn auch der Versuch einer »Bürgerbeteiligung« rasch zur Farce. Das »Berliner Modell der Betroffenen-Beteiligung« an der Sanierung war unter solchen Umständen zum Scheitern verurteilt. Nach diesem Modell war im Sanierungsgebiet Kreuzberg ein »Sanierungsbeirat gebildet worden, in dem vier Vertreter der Mieter (ein Arbeitnehmer, ein Gewerbetreibender, ein Mieter und einer der wenigen noch übriggebliebenen privaten Hausbesitzer), je ein Vertreter der vier Parteien (CDU, SPD, FDP und Alternative Liste), der Bezirksstadtrat für Bauwesen, Vertreter der Sanierungsträgergesellschaften und des Senators für Bau und Wohnungswesen saßen. »Weil die Mehrheitsverhältnisse in diesem zwölfköpfigen Ausschuß von Anfang an immer klar waren«, so Orlowsky, »nämlich 7: 5 zugunsten der Betroffenen, entsprachen die Ergebnisse der Beratungen nicht den Erwartungen der Verwaltung. Und man hat dann versucht, das Ganze leerlaufen zu lassen. Diese bittere Erfahrung hat dazu geführt, daß der Sanierungsbeirat von der Vorsitzenden, einer Mietervertreterin, nicht mehr einberufen wurde. Denn das war dann nichts anderes mehr als die Zusammenkunft zum Palaver, da ja auch nach dem Städtebauförderungsgesetz nur angehört wird, aber keine Mitbestimmung oder schon gar keine Selbstbestimmung herrscht.« Vor der offenen Tür der Drogerie hält, während Orlowsky das erzählt, ein schwarzer BMW. Der Fahrer steigt aus, fragt: »Sind Sie Werner Orlowsky?«und übergibt einbraunes DIN-A-4-Kuvert. Vom Bausenator der Stadt Berlin. Der Briefumschlag enthält einen Verhandlungsvorschlag für eine Treuhandverwaltung der besetzten Häuser, Indiz, daß sich einiges verändert hat in Kreuzberg: Seit die von der Kahlschlagsanierung betroffene Bevölkerung sich nicht mehr damit zufrieden gibt, angehört zu werden, seit es Widerstand gibt gegen die verfehlte Sanierungspolitik, sind die Politiker gezwungen, mit einem Drogisten zu verhandeln wie mit dem Repräsentanten einer fremden Macht. Das war noch nicht so, als das »Neue Kreuzberger Zentrum« entstand, das die Dresdner Straße zur Sackgasse machte. »Ausgerechnet der erste Bau, der ein Signal setzen sollte«, sagt Orlowsky, »hat den Verfall und die Verelendung beschleunigt. Dieses Spekulationsobjekt, das dann mit 100 Millionen Mark Subventionen in sozialen Wohnungsbau umfunktioniert wurde, hat die Straße kaputt gemacht, Existenzen vernichtet, es sind Leute darüber krank geworden und sogar gestorben.« »Harnröhre« nennt er verächtlich den engen, nach Urin riechenden und mit wuterfüllten Wandparolen vollgeschmierten Durchgang, der den Bewohnern der Dresdner Straße als Zugang zum Kottbusser Tor noch geblieben ist. Orlowsky selbst ist durch diese Erfahrung mit der Sanierung »konkret stutzig« geworden. Er hat viele nach dem Städtebauförderungsgesetz vorgeschriebenen Erörterungsveranstaltungen miterlebt, in denen die Betroffenen zu den geplanten Maßnahmen gehört werden sollen, und er hat sie als Farce erlebt: »Da thronten dann immer die Experten oben auf dem Podium, und es hieß: Vertraut uns, wir kennen eure Probleme besser als ihr.« Irgendwann hat der Drogist erkannt, »daß es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder man steigt aus und zieht weg, oder man bleibt und nimmt die Dinge in die eigene Hand«. Vor zwei Jahren hat sich im »Mieterladen Dresdner Straße« eine Betroffenen-Vertretung zusammengetan. Orlowsky hat sich zum Sprecher der Gewerbetreibenden wählen lassen. Die Vertreter der Mieter haben ihr Mandat in Hausversammlungen erhalten. Und obwohl solche
Vertretungen nach dem Berliner Modell für die Sanierungsgebiete vorgesehen sind, »hatte die Gruppe große Schwierigkeiten, als Betroffenen-Vertretung anerkannt zu werden. Die Entstehungsweise so ganz von unten war den Herren wohl nicht genehm«. Im Gebiet zwischen Mauer und Kottbusser Tor hatte sich die Bevölkerung inzwischen völlig umstrukturiert. Nach dem Auszug der Wohlhabenderen waren die sozial Schwächsten zurückgeblieben: Arbeitslose, Rentner, kleine Gewerbetreibende, für die der Aufbau einer neuen Existenz anderswo nicht mehr lohnte. Nicht umsonst erreicht das Pro-KopfEinkommen in Kreuzberg heute mit rund 600 Mark nur die Hälfte des sonstigen Berliner Durchschnitts. Außerdem rückten in den freiwerdenden Wohnraum nun »Unterprivilegierte aller Schattierungen« nach, wie ein Kreuzberger Rechtsanwalt es formuliert. Es kamen Studenten, die sich keine hohe Miete leisten konnten, aber auch junge Arbeitslose, Drogenabhängige und Alkoholiker, es kamen Freaks und Punks, deren Lebensgefühl sich in zwei Worten ausdrückte: »No Future«. Keine Zukunft. Und es kam die »zweite Welle« von Gastarbeitern: Türken. Kreuzberg wurde zu KleinAnatolien. Im Sanierungsgebiet machten die Südländer mit ihren vielköpfigen Familien bald mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus. Alle diese Gruppen waren auf billigen Wohnraum angewiesen. »Die, die hier wohnen, können sich keine Sozialbaumieten von fünf Mark pro Quadratmeter leisten«, sagt Orlowsky. Deshalb hatten die Kreuzberger Mieterinitiativen jahrelang immer wieder als wichtigste Maßnahme die Instandhaltung der Gebäude gefordert. Nicht durch aufwendige Wohnungsmodernisierung, bei denen Mieter umgesetzt und die Mieten erhöht werden, sondern durch die Instandsetzung des vorhandenen Wohnraums wäre die Stadtverwaltung den Interessen der Bewohner Kreuzbergs gerecht geworden. Doch das Gegenteil geschah. An einer solchen Verbesserung zeigten weder die Wohnungsbaugesellschaften noch die Behörden großes Interesse. Im April 1980 wurden bei den Bau-Wohnungsaufsichtsämtern Berlins insgesamt 8751 unerledigte Beschwerden von Mietern registriert. Statt Instandsetzung war die »Entmietung« an der Tagesordnung: Da leerstehende Gebäude bekanntlich leichter abzureißen sind als noch bewohnte, wurden immer mehr Wohnungen einfach nicht mehr vermietet oder von den Behörden für unbewohnbar erklärt. Ergebnis: Nach offiziellen Angaben standen Ende 1980 in Berlin 7000 Wohnungen leer, der Berliner Mieterverein schätzt die Zahl sogar auf 20000. Demgegenüber waren 80000 Berliner bei den Ämtern als Wohnungssuchende registriert. Im Sanierungsgebiet Kreuzberg zählte die IBA (Internationale Bauausstellung) bei insgesamt 4612 Wohneinheiten 1957 leerstehende Wohnungen. »He, Chef, du keine Wohnung?« fragt ein älterer Türke in Orlowskys Laden. »Hier« er zieht einen Packen Geldscheine aus seiner Brusttasche, »dir geben dreihundert Mark für Wohnung!« - »Nix Wohnung, nichts zu machen«, radebrecht Orlowsky zurück. Seit die Anatolier das Viertel bevölkern, ist ihm neben dem Verkauf von Toilettenartikeln noch eine Art ehrenamtliche Sozialarbeiterfunktion zugefallen: Türken erscheinen mit behördlichen Benachrichtigungen, Briefen und Schriftstücken, deren Inhalt er ihnen mühsam erklärt. Besonders gut zu sprechen ist Orlowsky nicht auf die Türken. Er hält sie für nicht integrierbar, weil ihre Kultur zu andersartig ist. »Aber«, fährt er auf, »man kann sie nicht zu
Sündenböcken einer verfehlten Stadtpolitik machen. Das sind Sanierungsbetroffene wie wir auch.« Denn der eigentliche Skandal sei doch, »wenn sie auf ihre unwürdige Situation aufmerksam machen würden, dann käme nicht etwa die zuständige Bauaufsicht oder wer immer und würde sagen: Also die müssen ja dringend die Nachbarwohnung, die nun schon ein halbes Jahr leer steht, dazuhaben, die sie wollen und auch selbst in Ordnung bringen würden. Nicht das wäre die Folge, sondern daß man sie aus der Wohnung, in der sie überbelegt wohnen, noch rausschmeißen würde, um den Leerstand zu haben.« Solche Erfahrungen haben in Kreuzberg zu den ersten Instandbesetzungen geführt. Die Wortschöpfung stammt von der Bürgerinitiative »SO 36«, die im benachbarten Stadtteil Südost 36, der noch kein Sanierungsgebiet ist, seit vier Jahren Mieterarbeit macht. Die Probleme waren hier wie dort dieselben. »Mitte der siebziger Jahre fing die Sanierung an, sich bis hierher auszudehnen«, sagt Volker Härtig von der Bürgerinitiative, »daraufhin zogen die Leute weg, weil über kurz oder lang saniert werden sollte und an den Wohnungen nichts mehr getan wurde.« Die Bürgerinitiative SO 36 ist eine von rund 50 Gruppen, die sich zum »Kiez-Bündnis zum Erhalt billigen Wohnraums« zusammengeschlossen haben. Entwickelt hat sie sich aus dem Versuch einer Bürgerbeteiligung. Volker Härtig: »1976 wurde ein Projekt mit dem Titel >Strategien für Kreuzberg< gestartet. Da sollte gemeinsam überlegt werden, was man machen kann, bevor dieser Stadtteil genauso kaputtgeht wie das Sanierungsgebiet.« In der Projektkommission, die unter anderem über einen Ideenwettbewerb entscheiden sollten, saßen auch »Bürger«. Doch auch dieser Versuch scheiterte, weil die Betroffenen sich von der Verwaltung übervorteilt fühlten. Den Ausschlag zur Gründung der Bürgerinitiative gab die Räumung der »Feuerwache« am 14. Juni 1977. Dieses ungenutzte und leerstehende Gebäude hatten Jugendliche in Besitz genommen und in ein Kommunikationszentrum umgestaltet. Gleichzeitig war gegen den geplanten Abriß geklagt worden: Aber fünf Stunden, bevor das Verwaltungsgericht über die Rechtmäßigkeit eines solchen Eingriffs entscheiden konnte, rückten Räumungstrupps an und rissen die Feuerwache ab. Was den zuständigen Richter immerhin zu dem Ausspruch veranlaßte, man werde der Kreuzberger Verwaltung wohl in Zukunft nicht mehr trauen können. Die Bürgerinitiative SO 36 begann nun, eine eigene Zeitung, den »Südost-Expreß«, herauszugeben. Im Mieterladen in der Sorauer Straße finden regelmäßig Mieterberatungen statt. Und mit Mängellisten-Aktionen versuchten die Mitglieder gegen Verwahrlosung und drohenden Leerstand anzugehen: ohne Erfolg. »Wir haben Briefe an die Eigentümer geschrieben, zum Beispiel an die städtische Gesellschaft BeWoGe, die hier allein über 300 Wohnungen leer stehen läßt«, berichtet BIMitglied Kuno Haberbusch. »Das Ergebnis war gleich Null. Wir haben Pressekonferenzen gemacht - keine Reaktion. Wir haben Abgeordnete angesprochen und über die Gerichte versucht, Mieter in leerstehende wohnungen einzuklagen - aussichtslos.« Nachdem »alles, was dieser Rechtsstaat hergibt«, ausgeschöpft war, griff die Bürgerinitiative zu einem neuen Mittel: Am 2. Februar 1979 besetzten rund 50 Mitglieder eine leerstehende Wohnung in der Görlitzer Straße 74. Auf einer Pressekonferenz in.dieser Wohnung wurde die Aktion als »Instandbesetzung« bezeichnet.
»Damit wollten wir in erster Linie zeigen, daß Wohnungen billig herzurichten sind«, erzählt Kuno. »Wir haben in Zusammenarbeit entrümpelt, gestrichen, Fenster repariert. An dem Haus war seit Jahren nichts mehr getan worden, das war total vergammelt.« Verblüffender Anfangserfolg: Nun mochte sich auch der Eigentümer nicht lumpen lassen. Am Morgen vor der Pressekonferenz erschien eine Putzkolonne, die das Gebäude eilig und zumindest oberflächlich auf Vordermann brachte. Die ersten Kreuzberger Instandbesetzer forderten einen Mietvertrag, den sie auch bekamen. Aber während ihr Beispiel Schule machte - bis Dezember 1980 waren in Kreuzberg schon 21 Häuser besetzt, griffen Eigentümer und Behörden ihrerseits zu schärferen Maßnahmen. Da wurden leerstehende Gebäude schon mal einfach zugemauert. In Kellern und Dachstühlen brachen auf gänzlich ungeklärte Weise Brände aus. Oder die Behörden gaben das Quartier der US-Army für ein Manöver frei: Bewohner fanden sich ohne Vorankündigung plötzlich schwerbewaffneten GIs gegenüber, die dort ihre Straßenkampfübungen abhielten. Unter solchen Umständen wandte sich die Sympathie der Kreuzberger Bevölkerung entschieden den Hausbesetzern zu. Denn die holten in Selbsthilfe jetzt nach, was jahrelang versäumt worden war. Sie kauften Farbe und strichen die Fassaden neu. Sie reparierten Türen, Treppenhäuser und Toiletten. »Und das verstehen die Leute, wenn die dann sagen, wir rechnen unsere Arbeitsleistung und die auf eigene Kosten gekauften Materialien gegen die Miete auf und sagen plus minus null«, meint Orlowsky. Auch sein eigenes Rechtsverständnis hat sich seither gewandelt: »Da ist ja immer gesagt worden, das sind Rechtsbrecher, Hausfrieden gebrochen - wie das? Der Hausfrieden ist durch die Entmietung gebrochen worden! Auf dem Friedhof herrscht auch ein Friede, wenn keiner mehr da ist. Das klafft ja mitunter wirklich erstaunlich auseinander, legal und legitim.« Sagt's und wendet sich einem Kunden zu, der Gewinne für die Tombola in einem nahen Männerwohnheim sucht. Schließlich ersteht der verschiedene Seifen und Rasierzeug sowie zwanzig Präservative. Während Orlowsky alles liebevoll in rosenbedrucktes Geschenkpapier einwickelt, erläutert er, daß man die Besetzungen »vor dem Hintergrund wirklicher Wohnungsnot« sehen müsse. Dabei habe zweifellos auch die Herabsetzung des Volljährigkeitsalters eine Rolle gespielt: »Heute ist einfach der Drang bei den jungen Leuten da, viel früher ihr Elternhaus zu verlassen. Die hätten da vielleicht noch ihr Zimmerchen, aber die wollen früher selbständig werden. Das kann man verstehen, und das ist eben eine Tatsache, der muß Rechnung getragen werden.« Bis in den Dezember hinein bot die Kreuzberger Szene noch ein eher friedliches Bild. Zwar flogen, so Orlowsky, »manchmal so ein paar Steinchen« aus den Häusern auf die zahlreich vorbeifahrenden grünweißen Polizei-»Wannen«, weil die Besetzer eine Räumung befürchteten. Gleichzeitig aber liefen Verhandlungen mit dem Senat, dem über die städtischen Gesellschaften rund die Hälfte der 21 besetzten Häuser gehörte: Angestrebt wurden »legale« Mietverträge. In ihre »zweite Phase« traten die Beziehungen oder auch Nicht-Beziehungen zwischen Hausbesetzern und Staat am 12. Dezember 1980: Als ein großes Polizeiaufgebot die Besetzung eines Hauses am Fraenkelufer verhinderte, kam es zur ersten heftigen Straßenschlacht in Kreuzberg. Zwölf Stunden lang tobte der Kampf rund um das Kottbusser Tor,rund 150 Demonstranten und 70 Polizisten mußten mit teils schweren Verletzungen in
Krankenhäuser eingeliefert werden, Geschäfte wurden verwüstet und geplündert. In dieser Nacht versuchten Vertreter der Bürgerinitiative SO 36 und des Mieterladens Dresdner Straße zwischen Polizei und Demonstranten zu vermitteln. Hier ein Auszug aus dem Protokoll der BI SO 36: »Gegen 22.30 Uhr versuchten ein Mitglied der Bürgerinitiative SO 36 und zwei vom Mieterladen Dresdner Straße, den Einsatzleiter zu bewegen, daß nur ein vorübergehender Abzug der Polizeikräfte die sinnlose Situation entspannen könne. Er werde sich zusammen mit anderen dafür einsetzen,daß sich die Leute am Mieterladen Dresdner Str. treffen, um die Situation zu überdenken...« »Ca. 0.30 Uhr: ... Der Laden war mit ca. 150 Leuten völlig überfüllt. Panik brach aus, als weitere Mannschaftswagen auftauchten. Die Beamten verlangten unter wüsten Beschimpfungen, einen angeblichen Steinwerfer herausholen zu können. Ihnen wurde gesagt, sie sollen eine sinnlose Konfrontation vermeiden. Jetzt griffen sie sich vor Augenzeugen einen völlig Unbeteiligten vor dem Laden und führten ihn ab...« »Ca. 0.45 Uhr: Daraufhin fuhren vier Vertreter der BI SO 36 hinterher, wurden bei einer weiteren Kontaktaufnahme von Beamten angerempelt und mit Prügel bedroht. Sie suchten zum drittenmal den Einsatzleiter am Carl-Herz-Ufer auf. Hier wurde vereinbart, nachdem eine Freilassung des Verhafteten nicht erreicht werden konnte, daß die Polizei von 1 Uhr 15 bis 1 Uhr 45 sämtliche Kräfte abzieht, um eine Beruhigung zu ermöglichen. Statt dessen begann um 1 Uhr 15 die schwerste Konfrontation am Oranienplatz, als Einsatztruppen in die diskutierende Menschenmenge hineinrasten und knüppelten und mit Steinen empfangen wurden.« »Ca. 1.15 Uhr: Damit waren jegliche Vermittlungsversuche gescheitert. Wut, Panik und Zorn kennzeichneten nach diesen Täuschungsmanövern der Polizei und der Verhaftung vor dem Mieterladen alle Beteiligten... Steinhagel... Barrikaden...« »Ca. 1.45 Uhr: ... kennt die Brutalität der Polizisten keine Grenzen mehr. Zwei VW-Busse fahren zwischen Barrikade und Ampel am Oranienplatz voll in die Menschenmenge. Dabei gibt es viele Verletzte, unter anderen einen Sechsunddreißigjährigen, dem beide Beine gebrochen und ein Oberschenkel zerquetscht werden. Vor Schmerzen, aber auch vor Wut schreiende Menschen bleiben zurück...« Anfang des Jahres werden zwei der Verhafteten, beide nicht vorbestraft, zu Haftstrafen von 14 und 18 Monaten ohne Bewährung verurteilt. Daraufhin sind die Besetzer zu keinerlei Verhandlungen mehr bereit. »Eins, zwei, drei, laßt die Leute frei!« ist der Schlachtruf der Szene geworden. »Bambule« ist an der Tagesordnung, nicht nur in Kreuzberg, sondern auch auf dem Kudamm klirren jetzt Scheiben. »Bis zum 12. Dezember hatte es ja eigentlich recht brave Forderungen gegeben«, meint ein Mitglied der Bürgerinitiative SO 36, »danach sind die Leute radikalisiert und politisiert worden.« In rascher Folge wird nun ein Haus nach dem anderen besetzt, bis Mitte 1981 sind es etwa 170. Ein Kreuzberger Rechtsanwalt schätzt die Szene auf mittlerweile 1000 bis 2000 aktive Besetzer, dazu rechnet er rund 15000, »die bereit sind, auf die Straße zu gehen«, und eine ungeklärte, aber weit höhere Zahl von »Sympathisanten«. Auf einem Flugblatt erklärt der »vorläufige Rat« der »Autonomen Republiken Neukölln/Kreuzberg«. »Der Parlamentarismus ist gescheitert! Wir pfeifen auf Neuwahlen! Wir brauchen keinen Senat, keinen Parteienfilz,
keine Postenjäger! Wir brauchen niemanden, der meint, sich auf unsere Kosten die Taschen füllen zu können! Wir nehmen unsere Sache jetzt selbst in die Hände!« Der Kampf um Instandsetzung und billigen Wohnraum hat eine neue Stoßrichtung bekommen: »Viele Besetzer wollen jetzt nicht mehr legalisiert werden. Denen geht es um neue Strukturen, Freiräume, eine Gegenkultur. Und dann haben sie ja auch gesehen, daß Steine offenbar die besten Argumente sind: Denn was wir heute angeboten bekommen vom Senat, hätten wir damals nicht mal zu fordern gewagt«, kommentiert ein Mitglied der Bürgerinitiative SO 36 die radikale Wandlung der Hausbesetzerszene. Die BI SO 36 und die Betroffenen-Vertretung im Sanierungsgebiet werden nun zu Vermittlern zwischen dem »Besetzerrat« auf der einen und dem Senat auf der anderen Seite. Obwohl offiziell nicht mehr verhandelt wird, entsteht auf inoffizieller Ebene ein neuer Dialog. Die Besetzer sprechen drei Kreuzberger »Legalos«, wie es im Slang der Szene heißt, ihr Vertrauen aus und machen sie quasi zu Emissären: Mietervertreterin Ilse Mock aus dem Mieterladen Waldemarstraße, Volker Härtig von der BI SO 36 und Werner Orlowsky. Berührungsängste gegenüber der militant gewordenen Szene hat der Drogist nicht, denn »im Grunde wollen die Besetzer keine Auseinandersetzungen. Sie reagieren nur auf Gewalt, die zunächst vom Staat ausgeht. Die kann ja ganz subtile Formen haben, es muß ja nicht immer der Polizeiknüppel sein, der da wahllos auf die Köpfe von Leuten niedersaust, sondern wenn ein olles Muttchen dauernd bedrängt wird, sie soll endlich ausziehen ins Altersheim, damit die Wohnung leer wird. Oder dauernd Briefe >hier wird demnächst saniert<, das ist ja auch schon eine Art von Gewaltausübung«. Seine Einschätzung der Bewegung unterscheidet sich erheblich etwa von der des RCDS, der eine Spendenbitte an eine Mieterin in der Dresdner Straße mit dem Satz einleitete: »Von kommunistischer Hand zentral gesteuert finden in diesen Tagen über ganz Deutschland verteilt Hausbesetzungen statt...« »Kommunisten«, sagt Werner Orlowsky, »sind das nun allemal nicht. Wenn die überhaupt ein reflektiertes politisches Bewußtsein haben, dann sind sie eher im Ursprungssinn des Wortes Anarchisten, denn sie wollen nicht die Diktatur eines Polit-Büros errichten, um die Staatsmaschinerie zu übernehmen, sondern sie wollen keinen Staat: >null Bock< auf den Staat. Die wollen einfach in Ruhe gelassen werden und ihre utopischen Vorstellungen realisieren, und dazu brauchen sie halt auch die Häuser. Und das ist neben der Wohnungsnot auch ein weiteres Motiv gewesen.« Einzelne Gruppen haben allerdings schon »Bock« auf weitere Auseinandersetzungen, etwa der vorläufige Rat der Autonomen Republiken Neukölln-Kreuzberg: »Macht es teuer für sie! Die einzige Ebene, auf der sie was kapieren können, ist Geld! Jeder Tag, den unsere Genossen sitzen, soll 1 Million Sachschaden kosten! Randale, was das Zeug hält! « heißt es in einem Kommunique Nummer eins. Inzwischen sucht der Interims-Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Hans-Jochen Vogel fieberhaft nach einer politischen Lösung für den Konflikt. Am 27. Januar wird unter dem Vorsitz des FDP-Bürgermeisters Brunner eine Kommission »zur Überwindung von Fehlentwicklungen in der Sanierungs- und Modernisierungspolitik und zur Sicherung des Rechts- und Gemeinschaftsfriedens« eingesetzt, der die Senatoren Anke Brunn (Jugend), Peter Ulrich (Bau), Gerhard Meyer (Justiz) und Frank Dahrendorf (Inneres) angehören. Eine Woche später legt der Senat ein Sofortprogramm zur Beseitigung der gröbsten Mißstände in den Berliner Sanierungsvierteln vor: Mit 20 Millionen Mark sollen rund 2000 leerstehende Wohnungen schnellstens instandgesetzt werden. Die Stadtregierung räumt ein, daß »Fehler
gemacht« worden sind in der Berliner Sanierungspolitik, etwa daß das »Erneuern von Baumaßnahmen« wichtiger genommen worden sei als die »Erhaltung sozialer Verflechtungen«. Nun soll also alles anders werden. Die Sanierungsgesellschaften werden aufgefordert, das Entmieten von Häusern einzustellen und bereits leerstehende Wohnungen wieder zu vermieten. Für den Kauf von Sanierungsgrundstücken gibt es vorerst kein Geld mehr. Außerdem soll ein Konzept zur Förderung von Wohnungsmodernisierungen erarbeitet werden, und Selbsthilfegruppen sollen, betreut vom Sozialpädagogischen Institut der Arbeiterwohlfahrt, sich nunmehr legal als Instandsetzer von eigens ausgewiesenen Objekten betätigen. Die »Hausbesetzer«-Kommission des Senats macht in der gleichen Woche weitere Vorschläge: Fortan sollen bei der Sanierungspolitik »die Bedürfnisse der Menschen dieser Stadt im Mittelpunkt stehen«. Dem »spekulativ bedingten Wohnungsleerstand« soll durch die gesetzlich vorgesehenen Sanktionen (!) und der Ablehnung öffentlicher Förderung begegnet werden. Leerstehende Wohnungen sollen Sanierungsbetroffenen, aber auch Jugendlichen und »Wohngruppen mit alternativen Wohnbedürfnissen« angeboten werden. Bereits geräumte Wohnungen sollen bis zur Modernisierung genutzt werden können. Mieter, die ihre Wohnung selbst modernisieren, sollen dafür Fördergelder im Rahmen des Landesmodernisierungsprogramms bekommen. Eigenhilfe und Eigengestaltung sollen unterstützt und die »friedliche Erprobung alternativer Lebens- und Gestaltungsmöglichkeiten« soll gefördert werden. Damit ist der erste Schritt in Richtung auf eine Politik getan, die sich, so die Kommission, »in Zukunft durch eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Mieter« auszeichnen soll. In einem Zehn-Punkte-Programm werden die Vorschläge festgehalten. Wie große Wohnungsbaugesellschaften sich die Lösung des Problems vorstellen, macht allerdings zur selben Zeit Albert Vietor, Chef der gewerkschaftseigenen »Neuen Heimat«, in einem Interview mit der »Bild«-Zeitung deutlich. Unter der Überschrift »Mein großer Plan gegen die Wohnungsnot« tönt Vietor: »Mehr Marktwirtschaft muß eingeführt werden« und »Der Weg zu höheren Mieten muß frei werden«. Denn: »Es geht nicht, daß ähnliche Wohnungen hier 3,50 Mark je Quadratmeter kosten, dort 10,50 Mark. Eine Anpassung nach oben ist unumgänglich.« »Die Anforderungen sind zu hoch geworden«, hat der »leidenschaftliche Golfspieler« laut »Bild« erkannt, »Wohnungen müssen nicht mehr 90 bis 100 Quadratmeter groß sein. 70 bis 75 tun's auch. Und eine Wohnung muß nicht zwei Bäder haben, so gut wie das auch ist. Irgendwo müssen Grenzen sein.« Wo hat die Neue Heimat wohl jemals Wohnungen von 100 qm und mit zwei Bädern gebaut? Grenzen werdender Befriedungspolitik des Berliner Senates auch von anderer Seite gesetzt. Die Justiz hat ihre eigenen Vorstellungen vom Umgang mit Hausbesetzern. Zwar gibt es nach den ersten, extrem harten Urteilen nun auch milde: So stellt Anfang Februar das Amtsgericht Moabit das Verfahren gegen 11 Hausbesetzer, die wegen Hausfriedensbruchs angeklagt sind, wegen Geringfügigkeit ein und erkennt in seiner Begründung die politischen Motive der Hausbesetzer ausdrücklich an. Aber die Staatsanwaltschaft will nicht so wie der Justizsenator: Ende Februar kommt es zum offenen Konßikt zwischen Senator Meyer und den Strafverfolgern. Denn trotz Weisung des
Senators, gegen die Haftverschonung für einen 23jährigen Studenten keine Beschwerde einzulegen, wird der nach zwei Tagen auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft hin wieder in Haft genommen. »Staatsanwälte machen Vogels Milde gegen Hausbesetzer nicht mit«, schreibt die »Welt« triumphierend. Als Meyer es wagt, einen 23jährigen Jungdemokraten, der an einer Hausbesetzung teilgenommen hat, für den FDP-Parteivorstand vorzuschlagen, fordern die 1600 Mitgliederdes Verbands Berliner Justizbeamter seinen Rücktritt. Meyers Stellvertreter Senatsdirektor Alexander von Stahl kommt um seine Versetzung ein. Und die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Polizeipräsident Hübner wegen Verdachts der Strafvereitelung, weil die Polizei einer richterlichen Durchsuchungsanordnung für ein besetztes Haus nicht sofort nachkommt, sondern auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel verweist. Unter solchen Umständen wandelt der Senat mit seiner Suche nach Lösungen auf einem schmalen Grat. Und die Fehler aus mehr als zwei Jahrzehnten SPDPolitik sind so schnell nicht ungeschehen zu machen. Bei den Wahlen am 10. Mai erleiden SPD und FDP in Kreuzberg erhebliche Stimmenverluste. Die SPD sackt von 46,6 Prozent (1979) auf 38,9, die FDP von 6,2 auf 4,5. Dafür holen sich die »Igel« von der Alternativen Liste (AL) beachtliche 14,7 Prozeß der Wählerstimmen. In SO 36, also zwischen Wassertorplatz, Oranienplatz, Spree und Landwehrkanal wählen sogar 18,6 Prozent alternativ, so daß ins Bezirksparlament neben jeweils 19 CDU- und SPD-Abgeordneten sieben »Igel«, einrücken. Und die haben ihre Wahl wohl kaum den Besetzern zu verdanken, denn die, schätzt ein Kenner der Szene, »wählen zu 80 Prozent überhaupt nicht«. Auch das »20-Millionen-Ding« des Vogel-Senats wird von, den Mieterinitiativen rund ums Kottbusser Tor nicht gerade begeistert aufgenommen. Die »wunderschönen neuen Pläne«, so Orlowsky, sind gar nicht so neu, sondern »die Quintessenz dessen, was wir seit Jahren vorgetragen haben«. Vor allem eine Kernforderung der Mietervertretungen, wirkliche Mitbestimmungüberdie Verwendungder Instandsetzungsgelder, fehlt jedoch. Bis Ende Februar ist bereits ein Drittel der 20 Millionen vergeben an dieselben Sanierungsträger, die sich durch ihre Entmietungspraktiken bei der Bevölkerung verhaßt gemacht haben und die nun Baufirmen mit den jahrelang versäumten Instandsetzungsarbeiten beauftragen. »Da steht dann acht Tage ein Gerüst am Haus, und es wird gar nicht gearbeitet«, sagt Orlowsky, »eine neue Fassade kostet, wenn eine Firma das macht, Zehntausende von Mark, dabei könnte man sie in Selbsthilfe für einen schlappen Tausender streichen.« Zu gleicher Zeit haben Mieterräte und der Verein zum Schutz der Blockstruktur aus dem Mieterladen Dresdner Straße einen »Selbsthilfefonds für Instandsetzung« gegründet. Im Gründungsaufruf heißt es: »Wir haben nicht die Absicht, durch unsere Spenden dem Senat und den Wohnungsbaugesellschaften die Steuergelder zu ersetzen, die sie in Abschreibungsund Spekulationsgeschäften verschleudern. Mit unserer direkten Unterstützung verbinden wir die Forderung, den Betroffenen selbst ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, anstatt diese gegen sie einzusetzen.« Mehr als 75000 Mark werden gespendet, die von den Betroffenen-Vertretungen und dem Besetzerrat verwaltet und verteilt werden. Orlowsky: »Schon mit zwei Prozent der 20 Millionen an den Selbsthilfefonds wäre mehr bewirkt worden als so.« Auch Experten kritisieren die Vergabepraxis des Senats. Denn anstatt die Mittel gezielt dort einzusetzen, wo Reparaturen dringend erforderlich sind, können die Trägergesellschaften pro Wohnung bis zu 10000 Mark beantragen, das heißt zum Beispiel für ein einziges Haus mit 30 Wohnungen runde 300 000 Mark. Aber, so Wulf Eichstädt von der
IBA (Internationale Bauausstellung), die in Kreuzberg neue Sanierungsmodelle zu entwickeln versucht: »Wenn man ein Haus vor dem Verfall schützen will, dann reicht ein Drittel bis ein Viertel von der Summe, die da jetzt verausgabt wird, nämlich eine Jahresmiete.« Und: »Dies sollte mit den Bewohnern besprochen werden, damit die sagen, wo es bei ihnen brennt und nicht mit Hauseigentümern, die sagen, wir wissen schon, wie das Geld auszugeben ist.« »Ein soziales Windei«, nennt der »Südost-Expreß« auch die geplante Förderung von Mietermodernisierungen. Denn gefördert werden nur Maßnahmen von mindestens 2000 Mark pro Wohnung an, und auch die nur, wenn der Vermieter zustimmt, Ersetzt werden dem Mieter 35 Prozent der Kosten (bzw. 70 Prozent der Materialkosten, wenn er die Arbeiten selbst macht). Der Vermieter aber soll, wenn er die Wohnung gleichzeitig instandsetzen läßt, dafür 45 Prozent Zuschuß erhalten. Der »Südost-Expreß« fragt denn auch: »Warum heißen die Richtlinien >Mietermodernisierungsrichtlinien<, wenn der Vermieter mehr bekommt als der Mieter?« Dagegen fordert die Stadtteil-Zeitung: Zuschüsse von 70 Prozent der Gesamtkosten (als ein »bei der umfassenden Modernisierung bisher übliches Maß«), Gewährung zinsgünstiger Darlehen, die Veränderung der Förderungsbeträge entsprechend den Einkommenshöhen der Mieter, die steuerrechtliche Gleichstellung von Mietern und Eigentümern und ein einklagbares Recht auf Mietermodernisierung. Viele Kreuzberger halten es darüber hinaus für falsch, mit dem 20-Millionen-Programm Hauseigentümer zu subventionieren, die die gesetzlich bestehende Instandhaltungspflicht an deg Gebäuden jahrelang sträflich vernachlässigt haben und dafür jetzt in Form weiterer Subventionen nachträglich »belohnt« werden. Die Maßnahmen, ohnehin erst auf massiven politischen Druck durch Hausbesetzungen zustandegekommen." sind für sie ein verspäteter und völlig unzureichender Versuch, begangene Fehler mit bloßen kosmetischen Korrekturen wiedergutzumachen. Außerdem ist'das Problem der besetzten Häuser durch das Senatsprogramm noch keineswegs gelöst. Instandbesetzungen bleiben illegal, Räumungsfurcht beherrscht die Szene., Und als im Frühjahr am Fraenkelufer ein besetztes Haus »mit: Räumungsfolge, wie es so schön heißt« (Orlowsky) durchsucht wird, drohen auch die Verhandlungsbemühungen des »Vermittlerkreises« mit dem Senat zu scheitern. Am Tag dieser Durchsuchung nehmen Kreuzberger Mietervertreter und Berlins Bausenator Peter Ulrich in Mainz an einer Fernsehdiskussion über Hausbesetzungen teil. Die Kreuzberger machen keinen Hehl daraus, daß nun weitere Gespräche über eine friedliche Beilegung des Konflikts wohl keine Chance mehr haben werden. Werner Orlowsky und Bausenator Ulrich fahren am nächsten Morgen gemeinsam im Taxi zum Flughafen. »Er wußte keinen Rat mehr, keiner wußte mehr Rat«, erinnert sich Orlowsky, »und da fiel mir ein, daß man vielleicht einen ersten Schritt machen könnte mit einer selbstbestimmten Treuhand-Verwaltung. Ich hab das kurz umrissen, so wie es mir grade in dem Moment einfiel.« Kurz darauf teilt der Bausenator in einem Brief an Orlowsky mit, er sei bereit, seinen Vorschlag aufzugreifen, »Wege für eine treuhänderische Verwaltung für die besetzten Häuser - soweit sie im Einflußbereich des Landes Berlin liegen - zu suchen. Auf diese Weise könnte eine rechtliche Basis geschaffen werden, die mittelfristig durch weitere Verhandlungen zu befriedigenden Lösungen führen kann«, schreibt Ulrich. Im Mieterladen Dresdner Straße wird daraufhin ein Treuhandmodell konzipiert, das nach langwierigen Diskussionen auch der Besetzerrat akzeptiert. Danach sollen die besetzten
Häuser ausgeklammert werden aus der bisherigen Verwaltung der jeweiligen Eigentümer und einer Treuhandgesellschaft unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden, die sie verwaltet, instandhält und die Interessen der »Nutzer« nach außen hin vertritt. »Das wurde dann in vier Verträge gegossen, so schön mit Paragraphen und so«, erzählt Orlowsky, »und die wurden dem Senat zugestellt, der seine Anmerkungen dazu machen wollte. Die Anmerkungen wuchsen sich zu einem Gegenvertrag aus. Wir haben uns von Professor Gerlach von der FU -Berlin beraten lassen, und der meinte, die Unterschiede seien nichtso gravierend, man könnte den wie den Vertrag annehmen.« - Zur Entwicklung und Vermittlung von betroffenengerechten Instandsetzungs- und Instandhaltungsmaßnahmen« heißt es im Senatsentwurf, »sowie als Beitrag zur Beseitigung des aktuellen Wohnungsleerstandes wird der Treuhänder vorübergehend die Verwaltung und Nutzung von Grundstücken übernehmen und zur Vorbereitung einer einvernehmlichen Regelung über die endgültige Nutzung der verwalteten Gebäude tätig werden«. Der Besetzerrat beschließt am 3. Mai, unter welchen Voraussetzungen er das Zustandekommen des Treuhandmodells für »grundsätzlich möglich« hält: 1. Keine Strafverfolgung wegen Hausfriedensbruch, Paragraph 129 und keine Ubergriffe auf besetzte Häuser 2. Jedes alte und neue voll- und teilbesetzte Haus muß Mitglied werden können. Direkter Druck auf die privaten Hausbesitzer zur Übergabe an die Treuhandverwaltung: durch Nichtbewilligung bzw. Streichung von Sanierungs geldern, denn das Modell gilt für alle besetzten Häuser oder keine 3. Wir, die besetzten Häuser, führen bis zur Freilassung der Inhaftierten weiterhin keine Verhandlungen 4. Die Treuhandgesellschaft nimmt ihre Arbeit erst auf Beschluß des Besetzerrats auf und stellt ihre Arbeit auch auf Beschluß des Besetzerrats ein. Die Besetzer behalten sich in allen anstehenden Fragen den direkten Eingriff in Verhandlungen zwischen der Treuhandgesellschaft und deren Verhandlungspartner vor.« Das Treuhandmodell selbst wird zwischen den Mietervertretern und Besetzern abgestimmt. Die Geschäftsführung der Gesellschaft soll vom neunköpfigen »Vermittlerkreis« übernommen werden: Dazu gehören neben Orlowsky der Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Kreuzberg, Gustav Roth, Volker Härtig von der Bürgerinitiative SO 36, Ilse Mock und Mieterräte aus Kreuzberg, Neukölln, Wedding und Schöneberg. Nach außen soll die Treuhandverwaltung die angeschlossenen Häuser gegenüber den Institutionen vertreten, sie soll gich um die erforderliche Instandsetzung kümmern beziehungsweise die Selbsthilfe-Konzepte der Bewohner zusammenfassen und weitergeben. »Die Frage der Finanzierung der notwendigsten Instandsetzungsarbeiten wird zum gegebenen Zeitpunkt geklärt«, heißt es im Modell-Entwurf. Nach innen soll die Gesellschaft sich auf die »Weitergabe und Koordination der aus der Tätigkeit im Außenverhältnis erzielten Ergebnisse« beschränken: »Die eigentliche Verwaltung der Häuser und Projekte wird, vor allem in allen praktischen Fragen, von de»Nutzern selbstbestimmt vorgenommen. Um den Austausch von Erfahrungen und (Selbsthilfe)-Kapazitäten untereinander sicherzustellen, werden Bewohnergruppen benachbarter besetzter Häuser sich block- bzw. kiezweise zu einem auf dieser Grundlage beruhenden Blockrat zusammenschließen, der Gemeinsamkeiten auch mit allen anderen
Blockbewohnern zu entwickeln, darzustellen, zu vertreten und durchzusetzen ermöglicht, ohne die Überschaubarkeit zu verlieren. Der Blockrat setzt sich zusammen aus: Mietern und Mietervertretern, Instandbesetzern bzw. Vertretern der einzelnen Häuser, beteiligten Projekten und Initiativen. Der Blockrat fungiert unter anderem als Kontrollgremium für die Treuhandverwaltung.« Ausgearbeitet hat dieses Konzept eine Arbeitsgruppe »Selbstbestimmte Treuhandverwaltung« des Vereins zum Schutz der Blockstruktur im Mieterladen Dresdner Straße. »Wir meinen, daß mit dieser Konstruktiori ein erster, entscheidender Schritt auf eine friedliche Regelung der Gesamtproblematik getan ist«, erklären die Verfasser; denn •
die Eigentumsverhältnisse an den besetzten Häusern bleiben unberührt; die Herausnahme dieser Häuser aus den bisherigen Verwaltungen trägt dem durch die Besetzungenselbst de facto bereits geschaffenen Sachverhalt - lediglich (noch) juristisch Rechnung; • die sofortige Entkriminalisierung der Hausbesetzer wird erzielt: Aus Instandbesetzern werden Instandbewohner mit anerkanntem Status; • die Option für mittel- und langfristige Definitivlösungen, je nach Wunsch der
Betroffenen und Erfordernissen, bleibt gewahrt, da in dieser Hinsicht nichts
präjudiziert wird;
• eine spürbare Entspannung der Atmosphäre und eine - deutliche Klimaverbesserung tritt ein, ist allen nützlich und schafft weitere Voraussetzungen dafür, die noch ungelösten Probleme (Inhaftierungen, Anklagen, Verurteilungen) energisch anzugehen mit dem Ziel, den >Rechts- und Gemeinschaftsfrieden< auf solche Weise wiederherzustellen. Gleichzeitig fordert die Arbeitsgruppe die »förmliche Rücknahme aller Strafanträge/Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs«. Solange die Nutzer die Instandbesetzung in Selbsthilfe vornehmen, sollen keine Mietforderungen erhoben werden. »Kiezinitiativen« sollen finanziell gefördert und kein besetztes Haus mehr geräumt werden: »Keine Räumung - keine Räumungsfurcht. Das wird dazu führen, daß die Sicherungsmaßnahmen in den >besetzten< Häusern schrittweise auf das zur Abwehr von ständig wiederholten Angriffsdrohungen seitens rechtsradikaler Kreise unbedingt notwendige Maß reduziert und die dafür aufgewendete Zeit und Energie zusätzlich in die Arbeit in und an den Häusern investiert werden kann.« Auf solche Formulierungen läßt sich der Senat in seinem »Gegenvertrag« nicht ein. Allerdings soll dem Treuhänder laut Rahmenvertragsentwurf eine jährliche Kostenpauschale in noch zu benennender Höhe gewährt werden. Und in: dem Musterentwurf für einen Nutzungsvertrag heißt es in Paragraph 3: »Der Eigentümer überläßt dem Treuhänder die in der Anklage aufgeführten Grundstücke nach Maßgabe folgender Bestimmungen: 1. Durch bauliche Sicherungsmaßnahmen soll die weitere Beschädigung der Bausubstanz verhindert werden. Zu diesem Zweck werden die oben genannten Gebäude den Treuhändern unentgeltlich zur Nutzung, Substanzsicherung sowie zur Vorbereitung und Durchführung einschließlich der Abstimmung der notwendigen baulichen und organisatorischen Maßnahmen mit den künftigen Nutzern der Gebäude überlassen.
2. Die für erforderlich gehaltenen baulichen Sicherungsmaßnahmen werden zwischen dem Eigentümer und dem Treuhänder abgestimmt. Der Treuhänder trägt nach Maßgabe dieser Abstimmung Sorge für die Behebung der festgestellten Mängel und Schäden. Die hierfür erforderlichen Aufwendungen werden dem Treuhänder vom Eigentümer bis zu einem Höchstbetrag von/ pauschal mit/... DM/Wohneinheit erstattet.« Außerdem soll der Treuhänder laut Rahmenvertrag darauf hinwirken, »daß nach einer Übergangsphase Mietverträge abgeschlossen werden«, während das Land Berlin sich verpflichtet, »darauf hinzuwirken, daß dem Treuhänder entsprechende Grundstücke zur Verwaltung dem Gesellschaftszweck entsprechend übertragen werden«. Konkret heißt das, daß den jahrelangen Forderungen der Sanierungsbetroffenen mit dem Treuhandmodell tatsächlich Rechnung getragen werden soll: Die Verwaltung städtischer Gebäude wäre damit praktisch in die Hand der Bewohner selbst gelegt worden. Sie, nicht die Gesellschaften, hätten über den Einsatz der Modernisierungs- und Instandsetzungsmittel zu entscheiden gehabt. Orlowsky: »Denn daß die Betroffenen hier die besten Experten sind, das hat sich doch schon lange herausgestellt.« Zu einer Ratifizierung des Vertrages kommt es allerdings nicht mehr. Am 11. Juni übernimmt Weizsäckers CDU-Minderheiten-Senat die Regierung in Berlin. Und obwohl der neue Senat erklärt, die behutsame »Berliner Linie« gegenüber den Hausbesetzern fortsetzen zu wollen, wird bereits elf Tage später das erste besetzte Haus geräumt. Die Zeit der Straßenschlachten ist noch nicht vorbei.
»Wir wollten eine Hütte« Das Gespräch mit Kreuzberger Rockern führte Stefan Aust Was seid ihr für ein Club? Also zu verbreiten, Phönix, was das ist, und tralala, dazu haben wir überhaupt keinen Nerv.
Normalerweise haben wir was gegen Schreiberlinge, Fotografen und Filmreporter. Wir haben
einfach schlechte Erfahrungen gemacht.
Na, man kann schon sagen, wir sind Rocker. Ein Club, den es, schon ziemlich lange gibt. Wir
legen aber keinen Wert drauf, daß bekannt wird, wo wir zu erwischen sind.
Wieso ist denn das so interessant für dein Schriftstück da, daß da mal Rocker ein Haus besetzt haben? Na ja, wir sind ja auch anders. Inwiefern? Weißte, wir sind ja nicht hierhergezogen, weil wir die dicke Politik machen wollten. Wir wollten 'ne Hütte haben. Wo wir zusammen wohnen können, 'ne Werkstatt zusammen machen können. Weil das hier langsamen gwird. Wird unheimlich schwierig, Wohnungen zu finden, und ein großer Teil von, uns kommt hier aus Kreuzberg, ist hier auch aufgewachsen. Irgendwo haben wir uns dann halt an die ganze Geschichte rangehängt, und dann haben wir halt ein Haus gesucht, und:: haben uns auch extra ein Haus ausgesucht, was nascht so 'ne Luxushöhle ist, sondern ein Haus, das sowieso nicht interessant ist. Also 'ne halbe Ruine. Wie seid ihr denn auf den Gedanken gekommen? Na, wir sind praktisch gleichzeitig draufgekommen. Ist bloß keiner mit rausgekommen am Anfang. Das hat man dann so erst mal in persönlichen Gesprächen mitgekriegt. Wir wollten halt was gemeinsam machen. Irgendwas, was uns auch nützt. Hat 'ne Weile gedauert, bis wir dann auf den ' Trichter gekommen sind. Ursprünglich haben wir auch darüber debattiert, ein Haus eventuell zu kaufen. Aber zum einen ist das sehr schwierig. Und dann haste ein Haus, und, dann haste da Mieter drin, die kannst du doch nicht alle an die oft setzen. Und es wär auch eine Frage der Finanzen gewegen. Zwei Jahre hätten wir gebraucht. Dann hätten wir vielleicht 80- bis 100000 Mark gehabt. Dann hätten wir aber ganz schön schuften müssen. Und der Ausgangspunkt dabei war, daß ihr nicht unbedingt was zum Wohnen braucht, sondern daß ihr gemeinsam irgendwo wohnen wolltet? Zum Wohnen brauchten wir auch was. Also einige brauchten unbedingt was zum Wohnen, andere hatten auch keinen Bock, alleine irgendwo in 'ner Ein-Zimmer-Bude zu hausen und morgens ackern zu gehen. Und dann laufend Streß mit den Nachbarn, ich meine, hier in Kreuzberg, da geht das ja noch, aber in anderen Gegenden, wenn du bekannt bist als Rocker, haste auch Schwierigkeiten im Haus. Du kriegst auch irgendwo das kalte Kotzen. Wenn du hier oben aufs Dach gehst und kiekst dir die Gegend an und siehst dann hier schon überall die Neubauten, die sich hier so langsam
reingebuddelt haben - das geht ja nicht nur um die Häuser. Das geht ja zum Beispiel auch um die Lokale. Zum Beispiel kommen wir kaum in Kneipen oder Discos oder so, in anderen Bezirken. Und wenn uns jetzt hier noch der letzte Kiez, wo wir noch überall reingehen können, auch noch kaputtgemacht wird, dann können wir uns eines Tages nur noch im Freien besaufen. Dann pennen wir nur noch auf der Parkbank, oder was weiß ich. Glaubst du, daß sich das mit den Kneipen sehr stark verändert, wenn die Neubauten hier reingesetzt werden? Ja, natürlich. Dann gibt's nur noch moderne Betonkneipen, so Schickeriakneipen, wo du drei Mark fuffzig für einen Halben bezahlst, und dann sind das alles Zugereiste aus anderen Bezirken und aus Westdeutschland. Und da kannste sowieso nicht hin, mit denen hast du nichts zu tun. Wenn du dann da reinkommst mit deinen ölverschmutzten Jeans und dreckigen Pfoten, dann dauert es schon mal 'ne halbe Stunde, bis du dein Bier kriegst, und irgendwann flippst du wahrscheinlich aus. Dann knallt es. Das sind ja nicht nur die Kneipen, das sind ja die ganzen Zusammenhänge. Also ich geh hier die Straße rauf und runter, und dann dauert das 'ne halbe Stunde, dann hab ich lauter Leute getroffen, die ich kenne, und überall ein bißchen rumgehört, dann brauch ich mir schon gar keine Zeitung mehr zu ' kaufen. Die Kneipen gehören dazu: Die Leute, die man kennt, die Sachen, die die Leute machen, das ist wichtig. Du brauchst hier nicht tausend Jahre zu suchen, bis du mal irgendeine Werkstatt findest oder irgend jemand, der was kann. Da kennste halt irgend jemanden, der mauern kann, irgend jemand, der schrauben kann. Da brauchste nicht im Branchenbuch nachzusuchen. Wenn man woanders wohnt, dann fällt einem auf, daß einem da was fehlt. Und ich würd auch sagen, Rocker hin und her, daß das einfach so am wichtigsten ist, daß wir hier lange wohnen. Daß wir keinen Bock haben, daß hier Haus für Haus abgerissen wird und uns ne fremde Lebensweise aufgezwungen wird. Weil, das ist für mich fremd, so Neubau und zwei Meter hohe Decken, da komm ich mir immer als Riese vor. Die sind meistens bloß einen Meter fünfundsiebzig! Und hier haste drei fuffzig. Genau. Bei meine Mutter ist zwei Meter. Wenn du dich streckst, dann kannste an die Decke fassen, jedenfalls bei meine Olle zu Hause. Die wohnt in der Gropiusstadt. Und ich . hab da auch sieben Jahre gewohnt. Als ich fünfzehn war, bin ich ausgezogen. Erst nach Neukölln, und dann hierher nach Kreuzberg. Wie besetzt man denn nun so ein Haus? träuft man rum und sucht sich eins aus? Zum einen, wenn du hier eine Wohnung gesucht hast vor einem dreiviertel Jahr, war schmale Kelle. Weil, es wurde überall entmietet. Es gab keine Wohnungen, es gab wirklich keine Wohnungen. Fabriketagen hättste noch kriegen können, aber dazahlste 3000 Mark Miete. Ich bin grad erst ausgezogen aus einer Fabriketage, darauf hatt ich keinen Bock mehr. Und dann kiek dir die Schlangen an, die am Zoo stehen und auf die Zeitung warten. So einer wie icke ist nicht so sonderlich solide, verstehste, wenn du antrabst zum Vermieter und sagst, die Wohnung, dann kotzt der, sucht sich lieber 'nen andern. Vor drei Jahren war ich schon am Heinrichplatz, wo jetzt das Besetzereck drin ist. Da waren zwei Etagen leer. Ich hab versucht, da eine Wohnung zu kriegen - nichts zu machen. Wie hast du denn das gemacht? Na, erstmal sieht man ja, wenn was frei ist. Keine Gardinen mehr, gehst mal hoch und klingelst, machst das ein paarmal, und dann rufste bei der Gesellschaft an, sagst Straße, Hausnummer und Stockwerk: Nein, wir vermieten nicht mehr. Damit ist der Fall dann erledigt.
Na ja, dann haben wir uns also überlegt: Haus besetzen, das wär 'ne Möglichkeit. Dann haben wir rumgehorcht und uns auch ein anderes Haus angekiekt, das haben wir dann nicht genommen, weil der Dachstuhl nicht in Ordnung war. Für das Haus hier haben wir einen Tip gekriegt. Da hatten viele Leute Interesse, daß ein Haus besetzt wird, weil, die drei Häuser sollten abgerissen werden, dieses und die Nebenhäuser rechts und links. Da wohnten noch Leute drin. Dieses Haus ist seit fast anderthalb Jahren entmietet, obwohl zum Beispiel der Typ, der hier diesen Laden hatte, wo wir jetzt drin sitzen, nie gekündigt worden ist. Aber er hat auch keine Miete bezahlt, von daher war's ziemlich egal. Der Laden stand bloß voller Gerümpel, da war x-mal eingebrochen worden, da war kaum noch was von zu gebrauchen. Der kam dann hier noch mal an und hat sich ein paar von seinen Sachen abgeholt. Da haben wir echt 'n Anfall gekriegt, als der uns sagte, er hat noch einen Vertrag und ist noch nicht mal gekündigt. Aber sie hatten das Haus schon lange zugemacht, verstehste, und hinten alles in Arsch gemacht, die ganzen Leitungen kaputtgemacht, unten im Keller war mit so 'ner Quetsche das Wasser abgeklemmt, Fenster rausgerissen, damit schön die Feuchtigkeit reinkommt und das Haus möglichst schnell verrottet. Die Häuser nebenan waren bloß teilweise entmietet, da wohnten noch ein paar Familien, aber nur Türken. Und dann sind wir hier eingezogen: reingekommen übers ' Dach, vom Nebenhaus rübergetigert und haben uns die Hütte erst mal angeguckt. Mit sechs oder sieben Mann sind wir da rin. Bißchen hin und her überlegt, und dann gesagt, o. k., wir ' machen das. Das ist zwar sehr kaputt, aber die Ofen waren . zum Beispiel fast alle noch in Ordnung, und das war im Winter unheimlich wichtig. Ein Zimmer haben wir ja schnell warm gekriegt, was? Ich hab nämlich am ersten Tag gleich einen Zimmerbrand veranstaltet. Ich hab 'nen heißen Ziegelstein ins Bett gepackt, bloß der war zu heiß. Dann bin ich in 'ne Kneipe gegangen, als ich wiederkam, war das Zimmer gleich verräuchert. Vor allem hier kannste doch nicht die Feuerwehr rufen, und, wir hatten zu der Zeit keinen Wasseranschluß. Und dann habt ihr euch jeder einen Raum gesucht? Ne, alle erstmal oben rin, da war noch am meisten heil. Denn die ganzen alten Möbel zusammengesucht und zerkloppt, daß wir Holz hatten, und dann erst mal zwei Räume klargemacht. Da haben wir denn so ein Heerlager aufgemacht: Nur Bettgestelle rin, die haben wir mitgebracht, und da erst mal, gepennt. War ein bißchen muffig hier. Und die ganze Bude lag voller Gerümpel: alles, was die Vormieter hier dringelassen hatten, die ganzen Möbel, Abfall, Hausmüll, der ganze Dreck. Das waren 60 Kubikmeter, ach noch mehr, denn einen Teil haben wir ja verheizt. 60 Kubikmeter haben wir noch über Sperrmüllabfuhr vom Hof gekriegt. Das haben die dann auch geholt? Da haben wir mit der Stadtreinigung verhandelt, und die haben das gemacht. Spenmüll holen sie ja sowieso kostenlos ' ab, mußte bloß anmelden einfach aus Hygienegründen, weil, sonst sich überall in den Höfen hier der Müll türmen würde., Das haben wir gemacht, klar. Und wie lange habt ihr da dran gearbeitet, das alles rauszukriegen? Weiß ich nicht, ich hab hier irgendwo ein Stundenbuch, da; könnt ich's dir genau sagen. Wir waren jedenfalls reichlich beschäftigt. Habt ihr immer eingetragen, wer wieviele Stunden gearbeitet hat?
Nicht wer wieviel Stunden, aber wir haben so übern Daumen die Stunden, die wir hier verwendet haben für solche Geschichten, aufgeschrieben. Fünfzehn Mann haben ungefähr mitgearbeitet. In drei, vier Tagen hatten wir die Hütte soweit klar. Und dann haben wir die Fenster vernagelt. Die Scheiben waren alle kaputt. Hinten im Treppenhaus waren die Fensterrahmen fein säuberlich rausgenommen und danebengestellt. Die haben wir wieder reingesetzt. Verglast haben wir auch, zwei Drittel haben wir schon geschafft. Wo holt ihr das Glas her? Altglas. Wir haben alte Rahmen vom Glaser geholt, Glas raus, zugeschnitten, eingeglast, und solche Sachen. Im Moment haben wir dummerweise bloß ganz dickes Glas, das hab ich auf Arbeit besorgt, so kaputte, große Schaufensterglasscheiben. Und das kriegt man umsonst? Das kriegste so, klar. Was soll er damit, einglasen kann er das nicht mehr, weil das Glas nicht mehr die Qualität hat, und das ist auch schon zerkratzt. Was hat es denn mit diesem Materialtelefon auf sich? Das ist vom Mieterladen, die haben das angeleiert, und zwar haben sie ein Flugblatt geschrieben, wer Instandbesetzer unterstützen will, der kann Material spenden, und dann haben die einen Telefondienst gemacht, da konnte man also anrufen, wenn man was abzugeben hatte. Und dann wurde 'ne . Kartei angelegt, und die Instandbesetzer können da hingehen, sich die Karteikarten durchgucken, gucken, was sie brauchen können, und dann da anrufen und das abholen. Wir haben auf die Weise zum Beispiel vier'Herde abgestaubt, 'ne ganze Menge Holz, Türen und tausend Kleinigkeiten, die man halt so braucht. Die haben alles gespendet: Kabel, Farbe, Betten, Matratzen - zum Teil haben wir sogar Sachen gekriegt aus Buden, wo modernisiert wird: Badewannen zum Beispiel, die sind da rausgerissen worden und standen auf dem Hof rum, da konnten wir sie uns abholen. Haben denn auch die gemeinnützigen Gesellschaften Bescheid gesagt? Ne, die natürlich nicht. Bei uns waren es die Bauarbeiter, und ansonsten auch über Mieter in den Häusern, wo modernisiert wird. Was wir nicht gekriegt haben? Badeöfen zum Beispiel, da waren wir sehr hinterher. Das hat nicht geklappt. Also schreib in dein Buch, wir brauchen mindestens vierzehn Badeöfen. Braucht ihr denn nicht erst mal Wasser? Ne, Wasser haben wir ja. Wir könnten das aus dem Laden hochlegen, aber der Querschnitt von der Zuleitung ist so dünne, daßwirkeinenvernünftigenWasserdruckhinkriegen. Und wenn wir dann wirklich offiziell einen neuen Wasseranschluß kriegen, müssen wir alles wieder rausreißen. Deswegen haben wir uns davor gedrückt. Wir haben sogar die Rohre schon da, die haben wir gekriegt über 'ne Netzwerk-Spende. Warum habt ihr euch denn nun für dieses Haus entschieden? Zum einen, weil es halt ziemlich kaputt war. Das ist ein Haus, was im Grunde für keinen interessant ist, außer für uns. Wir sind ja davon ausgegangen, daß wir nicht ewig hier in so einem illegalen Zustand leben, sondern daß das irgendwann mal was läuft mit Legalisierung. Und wir wollten das Haus auch machen, aber eben alleine, und so, daß du das dann mit der Miete verrechnest oder weiß der Geier wie, spielt ja keine Rolle. Das Haus kann nicht saniert werden, weil es zu kaputt ist. Von daher ist es für jeden offiziellen
Sanierungsträger uninteressant, weil die Sanierung nicht 70 Prozent der Neubaukosten übersteigen darf. Aber wir kämen lange mit der Knete hin. Also ihr habt euch gedacht, ihr fliegt nicht so schnell wieder raus, wenn das sonst für niemanden von Interesse ist? Richtig. Habt ihr denn irgendwelche Gespräche geführt, um das zu legalisieren? Ja, dann war das ja so, daß erst mal vom Besetzerrat die Forderung da war: keine Verhandlungen, bevor nicht die, Leute aus dem Knast raus sind. Das lief ne ganze Zeit lang, und im Prinzip haben wir das auch erst mal unterstützt, haben gesagt o. k., wenn damit was zu erreichen ist, stehen wir dahinter. Aber denn war klar: Damit ist nichts zu erreichen, da läßt sich kein Druck mehr ausüben, und da haben wir denn angefangen zu meckern. Da sind wir zum Besetzerrat und haben gesagt, wir haben die Schnauze voll. Das bringt uns nichts, das ist uns zu doof, Neuwahlen stehen auch noch vor der Tür, jetzt muß was passieren. Dann haben wir versucht, erst mal so 'ne Zwischenlösung auf die Beine zu kriegen, so daß den Gesellschaften erst mal die Verwaltung der Häuser abgenommen wird, damit wir erstmal so einen quasi legalen Status haben und die Häuser gesichert sind, und daß schon mal kleinere Beträge in die Häuser fließen, wie bei jeder normalen Hausverwaltung, die sich um Instandhaltung kümmern muß. Na, das Ding ist nun geplatzt. Als dann einigermaßen absehbar war, daß das nicht mehr zu Potte kommt, weil die Zeit zu knapp ist vor der Wahl, haben wir uns noch um einen Sanierungsträger bemüht. Wir haben auch einen, der aber wahrscheinlich das Geld gar nicht dafür kriegt, das Haus zu kaufen. Das ist so ein Ableger von der Arbeiterwohlfahrt. Da hat es eigentlich noch viel Hin und Her gegeben in den Häusern, weil im Prinzip fanden wir das auch an mancher Stelle nicht so richtig: Eigentlich mußt du ja erst mal das eine fordern und dahinterstehen und das machen. Da sind wir aber insofern etwas übler dran als die andern Häuser, denn wir brauchen viel mehr Geld. Und über andere Finanzierungsmöglichkeiten außer einem Sanierungsträger - dazu reicht das Geld nicht. Ich hab inzwischen ne Schätzung gemacht über rund 100000 Mark Materialkosten. Das ist alles hier im Blockraf. beredet worden: Blockrat, das ist hier aus den drei Blöcken so im wesentlichen aus den besetzten Häusern, aber auch andere Leute sind dabei, von den Initiativen, vom Kinder-Bauernhof und auch normale Mieter - so ein Gremium, was eben solche Sachen klärt. Da wurde dann gesagt, o. k., unser Haus und die 52, weil die auf Abriß steht, weil die sind dann erst mal gesichert.
Nürnberg: »Die großen Lumpen schwer aufs Hirn hauen« Sabine Rosenbladt Sie haben ihre Stadtmauer wiederaufgebaut, die Nürnberger. Eine komplette, mittelalterliche Stadtmauer mit Türmen, Torbögen, Schießscharten, Wehrgängen. Meterdicke Mauern aus rötlichen Steinquadern. Im Krieg so gut wie total zerstört, wieder aufgebaut 1953, so erklärt ein Schild es den Touristen. Ich kenne keine andere deutsche Großstadt, die sich Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eine neue Stadtmauer zulegt. Warum? Wurde hier in eine angenehmere Vergangenheit zurückgebaut als die unmittelbare, die tausendjährige, deren Prunkbauten rings um den Stadtkern vor sich hin rotten? Nürnberg ist nicht freiwillig zur Stadt der NSDAP-Parteitage, der »Nürnberger Gesetze«, des »Stürmers«, der »Nürnberger Prozesse« geworden. Nicht so ganz jedenfalls: »Dabei«, so heißt es in einer Broschüre des städtischen Presseamtes zu diesem heiklen Thema, »spielte die Haltung der Polizei seit ihrer Verstaatlichung 1923 (es war das erklärte Ziel der bayerischen Regierung, der >roten Stadtverwaltung (die wichtige Polizeiexekutive aus der Hand zu schlagen!) eine besondere Rolle.« »Im Widerspruch zum politischen Bewußtsein der Bevölkerungsmehrheit trat die Polizei den Nationalsozialisten ausgesprochen >tolerant< gegenüber, ja arbeitete sogar mit ihnen offen oder verdeckt zusammen. Dies erfüllte die NS-Führungskräfte mit Genugtuung und ließ ihre Sympathie zur Stadt wachsen.« Eine Stadtmauer gegen unerwünschte Sympathien? Nach 1945 ist Nürnberg wieder »rot«, roter Fleck im CSU-beherrschten Bayern. Sozialdemokrat Andreas Urschlechter, Oberbürgermeister, regiert die Stadt seit 24 Jahren. Und wieder, 1974, wird die städtische Polizei verstaatlicht, kommt ein eifriger Polizeipräsident, der dem bayrischen Innenminister untersteht, nicht dem Bürgermeister. Und dann der 6. März 1981. Ein Paukenschlag. Wie mit Hausbesetzern, Krawallbrüdern, Chaoten umzugehen sei, das zeigt der Republik jetzt ein bayerischer Polizeipräsident, assistiert von fünf bayerischen Ermittlungsrichtern. Nürnberg, diese bedauernswerte Stadt unwillkommener Massenveranstaltungen, ist Schauplatz der größten Massenverhaftung in der Geschichte der Bundesrepublik. 141 auf einen Streich: Da tut sich sogar die Justiz ein wenig schwer, auf einen solchen Batzen ist die ehrwürdige Gerichtsbarkeit nicht eingerichtet. Entlastungszeugen können nicht gehört, Haftbefehle nicht einzeln ausgestellt, Angehörige nicht sofort benachrichtigt werden...Für die Verhafteten andererseits ist es nicht gerade leicht, einen Anwalt ihrer Wahl zu finden: Seit den Terroristenprozessen gilt das Verbot des Doppelmandats, § 146 StPO. Also müssen 141 Verteidiger her. »Sind Sie noch frei?« werden Rechtsanwälte von verschüchterten Müttern angesprochen. Ein gigantisches, nie gesehenes Schauspiel muß demnach auch der Prozeß selbst werden. Ob Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes wieder einmal umgebaut werden muß? Als dort nämlich vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 das Internationale
Militärtribunal gegen 24 Hauptkriegsverbrecher des Dritten Reiches stattfand, waren bauliche Veränderungen nötig, um Gericht, Angeklagte, Verteidiger und rund 250 Journalisten aus aller Welt überhaupt unterzubringen. Die Vergangenheit drängt sich ständig auf in dieser Stadt. Sie wird von beiden Lagern zitiert, in die Nürnberg nach dem 6. März zerfallen ist, dem kleineren, das über die Polizeiaktion entsetzt ist, dem größeren, das sich vor Chaos und Anarchie fürchtet. Leserbriefschreiber A. Müller aus der Schweiggerstraße 14a: »Ein Tip gegen Hausbesetzungen: Blockwarte. Aus eigener Erfahrung weiß ich: Dies ist das probateste Mittel, um Ausschreitungen zu verhindern.« Da sind sie wieder, die ewig Unverbesserlichen: »Ich danke unserer Bayerischen Staatsregierung in München, die unser, schönes Nürnberg und unser schönes Land mit eisernem Besen sauberhält«, schreibt Babette Schillinger aus 8504 Stein. Sogar das Vokabular ist dasselbe geblieben. Von solchen angsterregendsauberen Deutschen fühlen sich in Nürnberg die Kinder der letzten Nazigeneration verfolgt., »Waren es unter Wahnsinnsvorstellungen bisher Juden, Zigeuner usw., so sind heute Jugendliche und Instandbesetzer. dran«, schreibt einer von ihnen. Am 4. Februar 1981 erhält Bayerns Innenminister Gerold Tandler einen Brief von Ministerpräsident Franz Josef Strauß. Darin heißt es: »Die schweren Ausschreitungen randalierender, brutaler Chaoten in Berlin, Frankfurt, Göttingen und Hamburg sind, Anlaß zu ernster Sorge. Wir haben keinen Grund zu glauben, daß ähnliche Vorgänge in Bayern völlig ausgeschlossen sind. Wie nahe wir ähnlichen Zuständen schon sind, zeigen die kürzlich erfolgten Hausbesetzungen in Erlangen und Nürnberg. Wir müssen uns darauf gefaßt machen, daß die Welle der Gewalttätigkeiten auch bei uns spürbar werden kann. Ich * halte es daher für notwendig, daß Sie schon jetzt alle Maßnahmen ergreifen, damit sich solche Vorgänge hier nicht ereignen können. Die Erklärungen der Berliner Polizei, sie komme zu spät oder sie werde vom taktischen Vorgehen der Randalierer überrascht, enttäuscht tief das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat. In Bayern daß es nicht dazu kommen, daß der Pöbel die Straße regiert. Dazu gehört die rechtzeitige Aufklärung im Vorraum der anarchistischen Szene ebenso wie die Verhinderung und notfalls die Unterbindung derartiger, Gewaltakte. Die Vermeidung solcher bürgerkriegsähnliehen Zustände gehört zur Friedenspflicht des Staates. Ich bitte Sie, hier höchste Aufmerksamkeit walten zu lassen.« Zu diesem Strauß-Brief meint der bayerische FDP-Sprecher, Gyger, es scheine den Ministerpräsidenten »schrecklich zu wurmen, daß er bei den Krawallen in Berlin und Hamburg keine Möglichkeiten des eigenen Eingreifens sieht«. Darauf antwortet die bayerische Staatskanzlei in einer Presseerklärung zwei Tage später: »Es gibt leider sehr ernsten Anlaß zu der Befürchtung, daß die Welle der Gewalt auch nach Bayern rollen könnte, weshalb größte Aufmerksamkeit der Ordnungsbehörden geboten ist.« Und in der Tat kommt es drei Wochen später, am 28. Februar, in Nürnberg zu schweren Ausschreitungen. Ort der Handlung: Das Fußballstadion. Nach einem Bundesligaspiel liefern
sich jugendliche Fans des 1. FC Nürnberg und des TSC 1860 München stundenlange, wüste Schlägereien. Mit abgeschlagenen Flaschenhälsen, Ketten, Steinen und Stöcken mit Eisenspitzen gehen sie aufeinander los. »Tod und Haß dem TSC« skandiert ein Transparent. Ein Münchner wird schwer verletzt, ein Polizeibeamter von einem Stein getroffen, nach Schätzung des Notarztes haben 200 bis 250 Besucher des Spiels etwas abbekommen. Blut fließt reichlich. »Während der ganzen Zeit«, berichtet ein Sportreporter der «Nürnberger Nachrichten», »sind die gegnerischen Fan-Blöcke unter sich. Erst als die Schlägerei schon auf den Bahnhof Dutzendteich zutreibt, rückt die Bereitschaftspolizei mit ihren Schutzschilden an. Sie versucht, einen Kordon um die 60er-Fans zu bilden, damit sie unbeschadet zu ihrem Sonderzug kommen. Allerdings vergeblich. Die Bepos werden von einem Steinhagel empfangen, die Münchner an den Flanken wieder verprügelt und einmal rund um die Steintribüne getrieben.« Ein ganz beachtenswerter, ein gefährlicher Krawall also. ' Doch scheint es sich kaum um die richtige Art von Ausschreitung gehandelt zu haben, die, vor der der Ministerpräsident seinen Innenminister so dringlich gewarnt hatte. »Nürnberger Nachrichten«. »Eine Reihe der Täter - die meisten von ihnen waren betrunken - kamen vorübergehend in Polizeigewahrsam.« Insgesamt werden 13 Rowdies festgenommen und nach erkennungsdienstlicher Behandlung wieder freigelassen. Die Polizei hat mittlerweile Wichtigeres zu tun. Weihnachten und Sylvester sind in Nürnberg tatsächlich zwei Häuser besetzt worden. In der Johannisstraße 70 haben rund 30 junge Leute ein Gebäude bezogen, das seit sechs Monaten leer steht und in gutem Zustand ist. Nach Berliner Vorbild wollen sie auf Wohnungsnot aufmerksam machen und den Erhalt billigen Wohnraums fordern. Denn auch in Nürnberg, sind Wohnungen knapp. Einerseits wurde der soziale Wohnungsbau drastisch gedrosselt, andererseits drängen auch hier Spekulanten ins lukrative Geschäft mit dem Altbaubestand. Ehemalige Wohngebäude werden aufwendig modernisiert und in Büros umgewandelt. Beim städtischen Wohnungsamt sind 14000 Wohnungssuchende registriert. Von der Bevölkerung werden die »Instandbesetzer« in der Johannisstraße freundlich aufgenommen. Nachbarn bringen heißen Tee und belegte Brötchen. Einen Vertreter der DKP, die in Nürnberg einen Sitz im Stadtrat hat, empfangen die Besetzer allerdings kühl: Sie wollen sich nicht von einer Partei vereinnahmen lassen, betonen, sie seien eine »unpolitische« Gruppe. Bereits am 5. Januar wird das zweite besetzte Haus in der Veillodter Straße 33 von der Polizei wieder geräumt. Als Grund gibt die Polizeiführung einen Überfall auf den Hausbesitzer, einen Architekten, an. Der hatte Strafantrag gegen die Besetzer gestellt. Eine Nacht vor der Räumung war er in seiner Wohnung von vier maskierten Männern zusammengeschlagen, seiner Frau die Handtasche geraubt worden. »Nürnberger Nachrichten«. »Die Polizei ist überzeugt, daß es sich bei der Tat um einen Racheakt der Hausbesetzer gehandelt hat.« Obwohl die Besetzer beider Häuser sich in aller Form von dem Überfall distanzieren und in einer Presseerklärung den Verdacht äußern, »daß diese Aktion gegen den Hausbesitzer auch eine Aktion gegen uns ist«, werden bei der Räumung des Hauses 69 Besetzer samt ihrem Anwalt Hans Graf verhaftet. Vorgeworfen wird ihnen zunächst nicht etwa: Hausfriedensbruch, sondern »Körperverletzung und schwe (Dieser Satzfehler befindet sich auch im Original)
Gyger, es scheine den Ministerpräsidenten »schrecklich zu wurmen, daß er bei den Krawallen in Berlin und Hamburg keine Möglichkeiten des eigenen Eingreifens sieht«. Darauf antwortet die bayerische Staatskanzlei in einer Presseerklärung zwei Tage später: »Es gibt leider sehr ernsten Anlaß zu der Befürchtung, daß die Welle der Gewalt auch nach Bayern rollen könnte, weshalb größte Aufmerksamkeit der Ordnungsbehörden geboten ist.« Und in der Tat kommt es drei Wochen später, am 28. Februar, in Nürnberg zu schweren Ausschreitungen. Ort der Handlung: Das Fußballstadion. Nach einem Bundesligaspiel liefern sich jugendliche Fans des 1. FC Nürnberg und des TSC 1860 München stundenlange, wüste Schlägereien. Mit abgeschlagenen Flaschenhälsen, Ketten, Steinen und Stöcken mit Eisenspitzen gehen sie aufeinander los. »Tod und Haß dem TSC« skandiert ein Transparent. Ein Münchner wird schwer verletzt, ein Polizeibeamter von einem Stein getroffen, nach Schätzung des Notarztes haben 200 bis 250 Besucher des Spiels etwas abbekommen. Blut fließt reichlich. »Während der ganzen Zeit«, berichtet ein Sportreporter der «Nürnberger Nachrichten», »sind die gegnerischen Fan-Blöcke unter sich. Erst als die Schlägerei schon auf den Bahnhof Dutzendteich zutreibt, rückt die Bereitschaftspolizei mit ihren Schutzschilden an. Sie versucht, einen Kordon um die 60er-Fans zu bilden, damit sie unbeschadet zu ihrem Sonderzug kommen. Allerdings vergeblich. Die Bepos werden von einem Steinhagel empfangen, die Münchner an den Flanken wieder verprügelt und einmal rund um die Steintribüne getrieben.« Ein ganz beachtenswerter, ein gefährlicher Krawall also. Doch scheint es sich kaum um die richtige Art von Ausschreitung gehandelt zu haben, die, vor der der Ministerpräsident seinen Innenminister so dringlich gewarnt hatte. »Nürnberger Nachrichten«. »Eine Reihe der Täter die meisten von ihnen waren betrunken - kamen vorübergehend in Polizeigewahrsam.« Insgesamt werden 13 Rowdies festgenommen und nach erkennungsdienstlicher Behandlung wieder freigelassen. Polizeipräsident Kraus dagegen plädiert in einem Zeitungsinterview am 20. Februar für eine Verschärfung des Hausfriedensbruch-Paragraphen: »Um aber auch dann, wenn Strafanträge nicht gestellt werden, vorgehen zu können, wäre es notwendig, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch der Körperverletzung gleichzusetzen.« Damit liegt Kraus voll auf der Linie seines Dienstherren, des Innenministers Tandler. Einen Tag zuvor nämlich hatte Tandler in München »einen harten Kurs gegenüber Hausbesetzern und gewalttätigen Demonstranten« angekündigt. Der Innenminister laut »Nürnberger Nachrichten«. »In Zukunft wird Bayerns Polizei, wie das bei der Räumung des besetzten Nürnberger Hauses in der Johannisstraße 70 bereits geschehen ist, nicht erst einen Strafantrag der Besitzer abwarten, sondern von sich aus aktiv werden. Bayerns Polizeipräsidenten hätten, so erklärte Tandler weiter, angesichts der >Eskalation des Straßenterrors< beschlossen, >Flagge zu zeigen<...« Bayerns Ministerpräsident wird noch deutlicher. Am 4. März, Aschermittwoch, gibt Franz Josef Strauß laut »Spiegel« in Passau die Parole aus: »Die großen Lumpen muß man schwer aufs Hirn hauen.« In Nürnberg ist es schon am nächsten Tag soweit. Das »Komm« liegt gleich hinter der Stadtmauer. Eine lange Schachtel mit vorgeklebter Jugendstil-Fassade in fleischfarbenem Rosa. Von innen wirkt es wie eine große, bunte, vollgekritzelte Spielstube. An den Wänden ebenso wilde wie sprachlich verwegene Parolen: Tanzt alles kaputt. Onaniert zärtlicher!
Mit diesem Kommunikationszentrum, in der Fußgängerzone, in der Nähe von Mc'Donald's und dem Kaufhof, macht die Nürnberger SPD unter ihrem Kulturdezernenten Dr. Hermann Glaser seit acht Jahren progressive Jugendpolitik. Was Züricher Jugendliche vergeblich forderten - ein selbstverwaltetes Zentrum -, das ist hier, soweit dies bei einern städtischen Projekt überhaupt möglich ist, verwirklicht: Aus dem »Komm«-Etat von jährlich über 600000 Mark stehen der Selbstverwaltung 210000 Mark zu, für vier angestellte Sekretäre, für Gruppen, Werbung, Programme und Anschaffungen. Die CSU allerdings gebärdete sich von Anfang an so, als sei das »Komm« ein vergifteter Stachel im Fleische des Freistaats, der nur Verfall und Verderben bewirken könne. Das »Agitationszentrum«, der »Kristallisationspunkt linker Krawallmacher«, die »berüchtigte Stätte« ist beliebtestes Wahlkampfthema jeder Kommunalwahl: Denn Wählerstimmen von dieser Jugend versprechen sich die Christsozialen ohnehin nicht. Dieses »Komm« ist die »Schaltzentrale«, die die CSU-Opposition im Nürnberger Rathaus »sofort liquidieren« würde, hielte sie nur erst die Macht in ihren Händen. Hier wird nach den Erkenntnissen der wackeren Streiter für Sauberkeit und Ordnung »geistige Kindesaussetzung« praktiziert: »Aufwiegelung statt Zuspruch, Zerstörung statt humaner Ziele und exklusive Problembeschaffung.« Wie wollte bayerischer Biedersinn auch anders urteilen, als daß alles Böse in dieser Stadt just von diesem Punkt seinen Anfang nehmen müsse. Weil Jugendliche hier Gelegenheit haben, über Drogen und Hausbesetzungen zu reden, ist das »Komm« in den Augen der CSU Brutherd für Drogen- und Hausbesetzerprobleme. Wenn also nun »Flagge gezeigt« werden soll, wo anders als hier? Schon vor dem 5. März müssen sich »Komm«-Besucher an eine Art Belagerungszustand gewöhnen: Polizeieinheiten beziehen bei Veranstaltungen Stellung, »wie sie es bei jeder Vollversammlung machen«, so Polizeipräsident Kraus. (Vollversammlungen sind das Beschlußorgan der Selbstverwaltung.) Zivilstreifen observieren das Gebäude. »Komm« Mitarbeiter sind davon überzeugt, daß mit Hilfe einer Verkehrsüberwachungskamera, die gegenüber in der Stadtmauer eingelassen ist, der »Komm«-Eingang ständig beobachtet wird. Da kommt Wut hoch. Die Polizei ist hier nicht sehr beliebt, seit sie im September 1980 Teilnehmer einer NPD-Kundgebung so erfolgreich vor Demonstranten schützte, daß die Nazis einen festgenommenen Protestierer unter den Augen der Ordnungshüter sogar verprügeln durften. Die Drohgesten aus München, die Räumung des Hauses Johannisstraße 70 tun ein übriges. Der Showdown kann beginnen. Am Donnerstag, den 5. März, wird im »Komm« um 20 Uhr ein Film über die Amsterdamer Kraker gezeigt. Über den Verlauf des Abends existiert bei der Polizei ein Vermerk vom 30. März mit dem Zusatz: »Der hier bekannte Mitteiler ist ein dem bayerischen Staatsministerium des Innern unterstellter Beamter.« Aus diesem Vermerk geht hervor, daß der anonyme V-Mann sowohl an der Veranstaltung im »Komm« als auch an der späteren Demonstration in der Innenstadt teilgenommen hat. In der Kriminalpolizeiinspektion Nürnberg gibt er einen detaillierten Bericht über beide Ereignisse zu Protokoll.
»Unter den ca. 300 Besuchern«, so der Vermerk, »befanden sich auch Hausbesetzer aus Nürnberg, Fürth, Erlangen, Berlin.« In dem Film seien »verschiedene Hausbesetzungen sowie Räumungen durch Sicherheitskräfte in Amsterdam« gezeigt worden. »Filmszenen, die sich gegen die Sicherheitskräfte richteten (Werfen von Steinen, Umkippen von PKW u. a.) wurden von den ca. 300 Personen im >Komm< mit großem Beifall bedacht.« An den Film habe sich eine Diskussion angeschlossen. »Dabei forderte eine Minderheit der Diskussionsteilnehmer dazu auf, bei weiteren Demonstrationen und Hausbesetzungen nicht mehr so friedfertig zu sein, sondern mit Gewalt gegen den Staat vorzugehen. Dies wurde jedoch von der:, Mehrheit abgelehnt, da Gewalt ja doch nichts bringen würde. Plötzlich wurden aus der >gewalttätigen Minderheit< Rufe laut, die nicht näher lokalisiert werden konnten: >Laßt uns spazieren gehen, wir wollen Jogging.< Fazit: Wer Gewalt bei Demonstrationen anwenden wolle, der könne dies tun.« Die Staatsanwaltschaft legt, auf diesen Bericht des V-Manns gestützt, die Diskussion später als Beschlußfassung für eine Demonstration aus, deren gewalttätiger Ausgang allen Teilnehmern vorher bekannt gewesen sei. Überraschenderweise zieht jedoch die Polizei nach dem Ende der Veranstaltung gegen 22 Uhr ihre »zusätzlichen Kräfte« vor dem »Komm« ab. Als sollten gewalttätige Demonstranten nicht von ihrem schlagzeilenträchtigen Tun abgebracht werden, steht vor dem »Komm« nur noch ein einsames Zivilfahrzeug mit zwei Polizisten, das nun »geschüttelt« wird. Polizeipräsident Kraus erklärt diese seltsame Panne hinterher mit der Begründung, die Demonstranten hätten die Polizei »irregeführt«, indem sie »so getan hätten, als gingen sie nach Hause«. »Allmählich«, so der Bericht des V-Manns, »formierte sich dann ein Demonstrationszug mit ca. 150 Personen, von denen die meisten vermummt waren. In der Breiten Gasse flogen dann die ersten Steine und Flaschen. Hierzu ist zu sagen, daß diese Werfer aus der Mitte des Zuges kamen, sich nach außen drängten, die Steine und Flaschen warfen, um sich dann wieder in die Mitte des Zuges, d. h. in den Schutz der übrigen Demonstranten zurückzubegeben.« Der V-Mann identifiziert sodann zwei Steinewerfer und mehrere andere Demonstrationsteilnehmer nach ihm vorgelegten Fotos und teilt mit: »Als sich der Demonstrationszug wieder in Richtung >Komm< bewegte, war er bereits auf ca. 100 Personen zusammengeschrumpft.« Ein »Protokoll über die Demo« aus Demonstrantenkreisen beschreibt die Sachlage genauer. Danach stehen nach der Veranstaltung »ca. 200 Anwesende« vor dem »Komm« in kleinen Gruppen und diskutieren. »Um ca. 22.10 rufen einige wenige unbekannte Personen zu einer Demo auf (»Kommt, wir machen einen Spaziergang«). Etwa 150 bis 180 Leute schließen sich dem Zug an, der sich »in langsamer Geschwindigkeit« und verfolgt von Zivilfahrzeugen der Polizei durch die Fußgängerzone bewegt. Dabei werden in der Breiten Gasse mehrere >Bild<-Zeitungskästen umgekippt. Weitere Sachschäden gibt es vorerst nicht. Die Seitenstraßen der Breiten Gasse sind dem DemoProtokoll zufolge bereits »von jeweils 2 - 3 Streifenwagen der Polizei abgeriegelt, die nach dem Passieren des Zuges ihm folgen, teilweise auch nebenherfahren«. Die Demonstration biegt nun in die Färberstraße ein. »In der Färberstraße fährt ein Teil der inzwischen ca. 20 - 25 Streifenwagen links und rechts am Zug vor und beginnt einen Einkesselungsversuch.«
»Die Stimmung« ist laut Papier-»bei den meisten Teilnehmern inzwischen panisch. Wie schon in der Breiten Gasse fallen ca. 10 - 15 männliche Personen auf, die einzeln dauernd ihren Standort wechseln und die Schäden verursachen. In mehreren Fällen begeben sie sich einzeln aus dem Zug heraus zwischen die Streifenwagen und beschädigen die Fassaden (Sprühdosen, Steinwürfe auf Fensterscheiben), ohne von der Polizei behindert oder festgehalten zu werden.« Hier die Schäden bis zu diesem Zeitpunkt: »Raiffeisenbank, Färberstr. 45, eine Scheibe gesprungen (DM 1206,05), WKV Kreditbank, Färberstr. 41, zwei Schaufensterscheiben eingeschlagen (DM 3924,83).« »An der Einmündung zum Frauentorgraben macht die Polizei einen Einkesselungsversuch, der nach Aussagen Beteiligter halbherzig durchgeführt wird und eventuell hätte gelingen können. (Durch die panische Stimmung unter den meisten Demonstranten ist eine Fehleinschätzung eventuell möglich.) Darauf macht der Zug kehrt und läuft die Färberstraße zurück.« Weitere Schäden: »Stadtsparkasse, Färberstr. 19, eine Scheibe eingeschlagen, eine Scheibe mit Farbe besprüht, ein Türgriff abgebrochen (ca. DM 1900,-), Möbelgeschäft Beck, Färberstr. 19, Kratzspuren an zwei Scheiben, Commerzbank, Dr. Kurt-Schumacher-Str. 1 - 7, Fenster und Wände mit Farbe besprüht, ein Mercedes, Antenne und Lack beschädigt, Mülltonnen auf die Straße gestellt. Nach Angaben der Kaufhof AG wurden am Parkhaus in der Frauengasse 12a/12b und am Geschäftshaus Pfannenschmiedsgasse/An der Mauthalle Scheiben eingeworfen. Die genauen Schäden konnten nicht in Erfahrung gebracht werden, auch ist der Zeitpunkt der Beschädigungen nicht sicher.« Mit den Streifenwagen im Rücken und zur Seite schiebt sich der Zug laut Protokoll, stetig schneller werdend, in Richtung »Komm«. »Ein Großteil der Demoteilnehmer trifft nach und nach beim >Komm< ein (ca. 22.45 Uhr). Ein Teil entfernt sich durch den Fußgängertunnel ungehindert, obwohl vor dem >Komm< starke Polizeikräfte zusammengezogen sind. Ca. 50 - 70 Teilnehmer der Demo ziehen sich ins >Komm< zurück, die allgemeine Meinung ist, die Sache wäre ausgestanden. Direkt darauf heißt es, das >Komm< sei umstellt, um 22.58 Uhr verläßt der letzte das >Komm< durch den Vorderausgang, ohne festgenommen zu werden. Kurz danach heißt es, jeder der das >Komm< verließe, werde als Flüchtling behandelt.« »Kurz darauf ist das Telefon des >Komm< abgeschaltet, es kommen nur noch Anrufe von draußen durch. Einige der Personen, die während der Demo auffielen, sind noch anwesend und rufen, obwohl die allgemeine Stimmung verängstigt ist, vom Fenster aus der Polizei Beleidigungen zu, wobei sie gefilmt werden. In den folgenden Stunden verlassen sie nach und nach das >Komm< durch einen Notausgang am Baumeisterhaus (Peuntgasse/Königstormauer), an dem keinerlei Polizei postiert ist.« Soweit der Bericht. Er ist von einem Studenten verfaßt, der an der Demonstration selbst nicht teilgenommen hat, als Quelle jedoch »mündliche Information von einigen Beteiligten« angibt. Seine Darstellung wird von anderen Demonstranten weitgehend bestätigt. Die Schäden sind nach einer Aufstellung der »Frankfurter Rundschau« zitiert. (Die Polizei hatte die Schadenshöhe mit 30000 Mark beziffert.) Jetzt hat auch der Freistaat Bayern seinen Krawall. Was nun folgt, ist die atemlose Durchführung eines Plans, der sich in den Köpfen der bayerischen Ordnungshüter schon festgesetzt haben muß, bevor der Feind überhaupt Gelegenheit hatte, ihrem Feindbild zu entsprechen.
Polizei und Justiz arbeiten reibungslos, im Rücken eine Staatsregierung, die eifrig zum Halali geblasen hat. Und die sich jetzt tummeln muß, um gutzuheißen, was sie für die angemessene Antwort des Rechtsstaates auf die herbeigeredete »Welle der Gewalt« hält. Um 3.30 Uhr in dieser Nacht werden sämtliche 164 »Komm-Insassen« (PolizeiWortschöpfung) festgenommen. Sie haben das Gebäude freiwillig und in kleinen Gruppen verlassen, nachdem der von einer privaten Feier herbeigeeilte SPD-Bundestagsabgeordnete Egon Lutz sie »zusammen mit dem Einsatzleiter«, wie er später sagt, dazu bewegt hat. Lutz' 17jährige Tochter Petra ist auch dabei. Im Polizeipräsidium wird Lutz mit der Begründung, er sei »alkoholisiert«, weggeschickt. Fünf Ermittlungsrichter füllen rund um die Uhr Haftbefehle aus. Pro Haftbefehl benötigen sie dazu im Schnitt 4 Minuten. 141 Jugendliche werden wegen »schweren Landfriedensbruchs« verhaftet. Der inneren Logik des Ereignisses folgend - je mehr Festnahmen, desto schlimmer müssen die Ausschreitungen gewesen sein - berichtet die Presse zunächst über »schwerste Verwüstungen« in Nürnbergs Innenstadt. Die Rechnung scheint aufzugehen. Auch die SPD-Stadtratsfraktion äußert sich am nächsten Tag »bestürzt darüber, daß sich nun offenbar auch in Nürnberg innerhalb der Jugendlichen Kräfte durchgesetzt hätten, die vor der Anwendung von Gewalt nicht zurückgeschreckt hätten«. Der Kulturdezernent und »Komm«-Hausherr Dr. Hermann Glaser lobt »die Sorge der Polizei um Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit«. Egon Lutz bescheinigt den Polizeibeamten »tadelsfreies Verhalten«. Ein kleiner, eigentlich eher zufälliger Schönheitsfehler läßt aber dann die öffentliche Meinung umkippen: Es stellt sich nämlich heraus, daß, während draußen die Demonstration läuft, im »Komm« eine Gruppe, wahrscheinlich etwa 70 junge Leute, sitzt und Tee trinkt, Schach spielt, Musik hört. Auch sie sind wegen »schweren Landfriedensbruchs« verhaftet worden. Nun werden die Ereignisse gründlicher unter die Lupe genommen. Während Innenminister Tandler noch jubelt: »Krawallmacher wissen jedenfalls, woran sie in Bayern sind«, formiert sich ein Protest, der ganz neue Fronten schafft: Über 300 Eltern und Verwandte versammeln sich im »Komm«, gutbürgerliche Leute, die die Sorge um ihre Kinder jetzt an deren Seite treibt. »Wenn nicht Bonzenkinder eingeknastet worden wären, hätte sich doch niemand über die Kriminalisierung von Hausbesetzern aufgeregt!« murrt ein Mitglied der Szene später - und vermutlich nicht zu Unrecht. So aber, mit der Empörung von erwachsenen und unverdächtigen Bürgern im Rücken, hakt die Lokalpresse kritischer nach. Überregionale Zeitungen werden aufmerksam. Die SPD, nachdem sie sich sorgfältig von Gewalttätern distanziert hat, protestiert heftig. Die Kirche öffn'et ihre Türen für eine Kundgebung zorniger Bürger. Was ist in Nürnberg passiert? Die Nürnberger Justiz hat wortgleiche, hektographierte Haftbefehle ausgestellt. Danach trifft auf alle Festgenommenen zum Beispiel zu: »Fluchtgefahr. D. Beschuldigte hat eine Strafe zu erwarten, angesichts derer die vorhandenen Bindungen nicht ausreichen.« Weiter: »Außerdem besteht Verdunkelungsgefahr, da die Mittäter sich in Freiheit miteinander absprechen würden. Tatverdacht und Haftgründe ergeben sich aus den Ermittlungen, insbesondere daraus, daß d. Beschuldigte in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tat festgenommen wurde.«
Kühner war wohl noch die ebenfalls 141 mal aufgestellte Behauptung: »D. Beschuldigte gehört zur Hausbesetzerszene oder sympathisiert mit ihr.« Wer sich etwa fragen sollte, wieso fünf Ermittlungsrichter alle Verhafteten derartig über einen Kamm scheren konnten, erhält eine ebenso schlichte wie entwaffnende Antwort: Aus Zeitgründen. Denn nach dem Gesetz muß jeder Festgenommene innerhalb von 24 Stunden einem Haftrichter vorgeführt werden. »Bei den Vorgängen in Nürnberg sind die Gesetze, soweit das überhaupt möglich gewesen ist, von der Justiz eingehalten worden«, sagt der Erste Staatsanwalt Gerulf Schmidt treuherzig. Bei solchem Rechtsverständnis war es denn auch nicht möglich, Entlastungszeugen zu vernehmen, die aussagen wollten, daß der oder die Beschuldigte zur Tatzeit im »Komm« saßen. Selbst wenn er gewollt hätte, so Ermittlungsrichter Gerold Wahl zum »Zeit«-Reporter Gunter Hoffmann, »das ging nicht in der Eile«. Rechtsstaat im Akkord. Immerhin gibt Richter Wahl zu, wohl etwas reichlich gutgläubig gewesen zu sein, was die Verhaftung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tat betrifft. Die »Zeit« schreibt: »Die Polizei hatte jedenfalls als >Ermittlungsergebnis< mitgeteilt, daß alle in irgendeiner Form beim Steinewerfen dabei waren.« Bisher, so der Richter, habe man sich »immer auf die Angaben der Polizei verlassen können«. Da habe es diesmal aber mit so manchem »gehapert«. Weniger Skrupel scheint da Ermittlungsrichter Günther Meyerhöfer zu haben, auf dessen Konto 50 der 141 Haftbefehle gehen. »Und wenn ich mal wieder für eine solche Aktion eingeteilt werde, dann werde ich wieder so handeln«, erklärt er gegenüber dem »Stern«. Richter Meyerhöfer stand an diesem Tag gar nicht auf dem Dienstverteilungsplan. Aber Kollegen sollen ihn (laut »Stern«) am 6. März schon mittags in der Gerichtskantine tönen gehört haben »Wenn heute Not am Mann ist, bin ich dabei.« Eine Aussage, die er inzwischen bestreitet. Die Presseerklärung des Polizeipräsidenten Kraus klingt nicht minder schwungvoll. Schon am nächsten Tag sieht er, wie er den »Nürnberger Nachrichten« mitteilt, »durch die Ausschreitungen in der Nacht zum Freitag seine Skepsis gegenüber der Verhandlungsbereitschaft der Stadt mit Hausbesetzern bestätigt«. Und daß Unbeteiligte verhaftet wurden, hält er »nicht für möglich«. Denn: »Da wurde vorher festgestellt, daß das >Komm< beim Eintreffen der Demonstranten leer war.« Mysteriöse Andeutungen macht Kraus auch über den »harten Kern der Krawallmacher«. In der »Nürnberger Zeitung« vom 7. März wird der Polizeipräsident zitiert: »Allein die Tatsache, daß drei Leute da waren, die mit Nürnberg nichts zu tun haben und Flugblätter der >RoteArmee-Fraktion< (RAF) verteilten, spricht eine eigene Sprache.« Und zwar welche? Der Polizeipräsident klassifizierte diese Personen als »Top-Leute, die dem Umfeld der Terrorszene zugerechnet werden müssen«, denen es »nicht mehr darum geht, auf Wohnungsprobleme aufmerksam zu machen. Schäden sind kein Argument, um mehr Wohnraum zu bekommen«. Hausbesetzer gleich Terroristen, Hausbesetzer-Sympathisanten gleich TerroristenSympathisanten - hier scheint sich also zu bestätigen, was Ministerpräsident Strauß warnend vorausgesagt hatte: In der Hausbesetzerszene sei »der Kern einer neuen terroristischen Bewegung« zu sehen. Innenminister Tandler antwortete am 9. März auf die Frage der »AZ«. »Sie haben im Zusammenhang mit Hausbesetzungen von >terroristischem Umfeld< gesprochen. Gilt das
auch für die Nürnberger Vorkommnisse?« - »Leider ja, unter den in Nürnberg Festgenommenen befinden sich auch einige, die nach den Erkenntnissen der deutschen Sicherheitsbehörden dem terroristischen Umfeld zuzurechnen sind.« CSU-Chef Strauß gegenüber »Bild am Sonntag«. »Wir haben festgestellt, daß davon drei aus dem Umfeld des Terrorismus stammen. Nach unseren Erkenntnissen bin ich sicher: Die gewalttätigen Hausbesetzer sind der Kern einer neuen terroristischen Bewegung.« Wie, wann und wo sind die angeblichen Terroristen festgenommen worden? Polizeipräsident Kraus präzisiert das in einer Gegendarstellung in Nürnbergs Stadtblatt »plärrer« vom 23. April: »Richtig ist, daß bereits in der ersten Pressekonferenz am 6. 3. 1981 darauf hingewiesen wurde, daß im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang, aber deutlich abgesetzt von der randalierenden Gruppe, drei dem Umfeld des Terrorismus zuzurechnende Personen festgenommen worden sind.« »Der Junge ist vollkommen runter, er flüstert nur noch«, erzählt die Mutter eines 18jährigen Lehrlings. »Meine 16 Jahre alte Tochter ist jetzt - nach den Gesprächen, die sie in der Justizvollzugsanstalt Aichach mit Häftlingen führen konnte - der Meinung, daß alle dort Einsitzenden insgesamt unschuldig sind.« »Meine Freundin, die ist am Freitag dreimal leibesvisitiert worden. Wo sie dich nackt ausziehen, wo sie in sämtlichen Körperöffnungen rumstochern und dich wirklich demütigen bis zum letzten ... Die ist gestern nimmer aus der Badewanne rausgekommen. Die hat fünf Kilo abgenommen seit Freitag. Alles, was sie ißt, erbricht sie bloß noch.« Unter den Verhafteten ist ein 26jähriger Türke, der ein paar Minuten vor der Polizei-Razzia das »Komm« betreten hat, um seine Freundin abzuholen. Eine 19jährige Mutter aus Nürnberg kommt in die Justizvollzugsanstalt Regensburg und wird erst nach zehn Tagen freigelassen. Ihr Sohn David ist zehn Monate alt. Nürnbergs CSU-Chef Holzbauer weiß, wie junge Frauen solche Erfahrungen meiden können: »Wäre sie in Regensburg geblieben und hätte auf ihr Kind aufgepaßt, anstatt sich im Komm< rumzutreiben - es wäre besser gewesen.« Ähnliche Vorwürfe werden auch gegen die Eltern der verhafteten Jugendlichen laut: Was machen 15jährige nachts um 3 Uhr noch im »Komm«? Wieso kümmern sich Eltern nicht um ihre Kinder? »Meine Eltern kümmern sich sehr wohl um mich und würden ihr Leben für ihre Kinder riskieren«, schreibt die jüngste Verhaftete in einem Leserbrief an die »Nürnberger Nachrichten«. »Von ihnen habe ich das Denken gelernt. Sie schieben mich nicht ins >Komm< ab, sondern wenn ich dort hingehe, dann tue ich das, weil es mir dort gefällt ... Ich komme dann jedoch trotzdem abends heim, sofern das >Komm< nicht von Polizisten umstellt ist und allen Leuten, die es verlassen, mit Knast gedroht wird.« Auch Pressemeldungen über eigens angereiste »Randalierer« aus Berlin, Braunschweig, Osnabrück und Schweinfurt 76 bedürfen einer Korrektur. Ein Berliner etwa ist bei einer befreundeten Nürnberger Familie zu Gast und wird nach einem Stadtbummel zusammen mit der Tochter des Hauses im »Komm« verhaftet. Ein Schweinfurter Geschwisterpaar lebt in Nürnberg, weil beide dort in die Lehre gehen. So bricht auch die Verschwörertheorie nach und nach in sich zusammen. Zwar lassen sich Verdachtsmomente, daß die Massenverhaftung von Justiz- und Polizeibehörden schon vor der Demonstration geplant wurde, ebenfalls nicht recht erhärten: Berichte von Gefängnisinsassen aus Bayreuth und Hinweise aus der Justizvollzugsanstalt in
Nürnberg, daß schon am Donnerstag Zellen für eine größere Zahl von Verhafteten freigemacht worden seien, werden von den Anstaltsleitungen dementiert. Dennoch wird die Aktion inzwischen selbst innerhalb der CSU unterschiedlich beurteilt. Während Innenminister Tandler auf dem Höhepunkt der öffentlichen Erregung über die Nürnberger Vorfälle eine Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts (»Vermummungsverbot«) verlangt und die zusätzliche Bewaffnung der Polizei mit Gummigeschossen und Brechgas-Beimischung für Wasserwerfer ankündigt, rückt die Münchner Fraktionsspitze von den Scharfmachern in ihrer Partei etwas ab. Eine Woche nach der Massenverhaftung läßt Fraktionschef Gustl Lang seinen Pressesprecher Karl Gietl erklären, die Fraktion werde sich »mit Gewißheit nicht scheuen, Pannen als solche zu bezeichnen, wenn es tatsächlich in der Hektik des Geschehens zu solchen gekommen sein sollte«. Dies erbost zwar den Ministerpräsidenten. Strauß poltert etwas von »politischem Unfug« und läßt seinen Pressesprecher Hans Tross verkünden, er sei »nicht glücklich«, daß »über mögliche Pannen spekuliert wird«. Aber auch er redet nicht mehr von »141 Gewalttätern«, sondern immerhin von »Personen«. Und Justizminister Hillermeier gibt in einem »Spiegel« Interview zu, daß auch Unschuldige verhaftet worden seien. Allerdings meint er, daß so was »leider immer wieder mal« »Der Junge ist vollkommen runter, er flüstert nur noch«, erzählt die Mutter eines 18jährigen Lehrlings. »Meine 16 Jahre alte Tochter ist jetzt - nach den Gesprächen, die sie in der Justizvollzugsanstalt Aichach mit Häftlingen führen konnte - der Meinung, daß alle dort Einsitzenden insgesamt unschuldig sind.« »Meine Freundin, die ist am Freitag dreimal leibesvisitiert worden. Wo sie dich nackt ausziehen, wo sie in sämtlichen Körperöffnungen rumstochern und dich wirklich demütigen bis zum letzten ... Die ist gestern nimmer aus der Badewanne rausgekommen. Die hat fünf Kilo abgenommen seit Freitag. Alles, was sie ißt, erbricht sie bloß noch.« Unter den Verhafteten ist ein 26jähriger Türke, der ein paar Minuten vor der Polizei-Razzia das »Komm« betreten hat, um seine Freundin abzuholen. Eine 19jährige Mutter aus Nürnberg kommt in die Justizvollzugsanstalt Regensburg und wird erst nach zehn Tagen freigelassen. Ihr Sohn David ist zehn Monate alt. Nürnbergs CSU-Chef Holzbauer weiß, wie junge Frauen solche Erfahrungen meiden können: »Wäre sie in Regensburg geblieben und hätte auf ihr Kind aufgepaßt, anstatt sich im Komm< rumzutreiben - es wäre besser gewesen.« Ähnliche Vorwürfe werden auch gegen die Eltern der verhafteten Jugendlichen laut: Was machen 15jährige nachts um 3 Uhr noch im »Komm«? Wieso kümmern sich Eltern nicht um ihre Kinder? »Meine Eltern kümmern sich sehr wohl um mich und würden ihr Leben für ihre Kinder riskieren«, schreibt die jüngste Verhaftete in einem Leserbrief an die »Nürnberger Nachrichten«. »Von ihnen habe ich das Denken gelernt. Sie schieben mich nicht ins >Komm< ab, sondern wenn ich dort hingehe, dann tue ich das, weil es mir dort gefällt ... Ich komme dann jedoch trotzdem abends heim, sofern das >Komm< nicht von Polizisten umstellt ist und allen Leuten, die es verlassen, mit Knast gedroht wird.« Auch Pressemeldungen über eigens angereiste »Randalierer« aus Berlin, Braunschweig, Osnabrück und Schweinfurt
78 bedürfen einer Korrektur. Ein Berliner etwa ist bei einer befreundeten Nürnberger Familie zu Gast und wird nach einem Stadtbummel zusammen mit der Tochter des Hauses im »Komm« verhaftet. Ein Schweinfurter Geschwisterpaar lebt in Nürnberg, weil beide dort in die Lehre gehen. So bricht auch die Verschwörertheorie nach und nach in sich zusammen. Zwar lassen sich Verdachtsmomente, daß die Massenverhaftung von Justiz- und Polizeibehörden schon vor der Demonstration geplant wurde, ebenfalls nicht recht erhärten: Berichte von Gefängnisinsassen aus Bayreuth und Hinweise aus der Justizvollzugsanstalt in Nürnberg, daß schon am Donnerstag Zellen für eine größere Zahl von Verhafteten freigemacht worden seien, werden von den Anstaltsleitungen dementiert. Dennoch wird die Aktion inzwischen selbst innerhalb der CSU unterschiedlich beurteilt. Während Innenminister Tandler auf dem Höhepunkt der öffentlichen Erregung über die Nürnberger Vorfälle eine Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts (»Vermummungsverbot«) verlangt und die zusätzliche Bewaffnung der Polizei mit Gummigeschossen und Brechgas-Beimischung für Wasserwerfer ankündigt, rückt die Münchner Fraktionsspitze von den Scharfmachern in ihrer Partei etwas ab. Eine Woche nach der Massenverhaftung läßt Fraktionschef Gustl Lang seinen Pressesprecher Karl Gietl erklären, die Fraktion werde sich »mit Gewißheit nicht scheuen, Pannen als solche zu bezeichnen, wenn es tatsächlich in der Hektik des Geschehens zu solchen gekommen sein sollte«. Dies erbost zwar den Ministerpräsidenten. Strauß poltert etwas von »politischem Unfug« und läßt seinen Pressesprecher Hans Tross verkünden, er sei »nicht glücklich«, daß »über mögliche Pannen spekuliert wird«. Aber auch er redet nicht mehr von »141 Gewalttätern«, sondern immerhin von »Personen«. Und Justizminister Hillermeier gibt in einem »Spiegel«-Interview zu, daß auch Unschuldige verhaftet worden seien. Allerdings meint er, daß so was »leider immer wieder mal« vorkäme. Und für unschuldige U-Häftlinge gäbe es ja auch ' eine Haftentschädigung: »Zehn Mark pro Tag.« Der Versuch, an Nürnbergs Schulen Diskussionen über die Verhaftungen zu verbieten, endet ebenfalls mit einem Rückzugsgefecht. So hatte etwa der Ministerialdirigent für Gymnasien in Mittelfranken, Dr. Wilhelm Wolf, den Leiter des Scharrer-Gymnasiums, Hans Georg Müller, angerufen. (An dieser Schule war eine Protestresolution verfaßt und von mehreren Lehrern unterschrieben worden.) Wolf fragte an, wieviele Schüler des Gymnasiums einsäßen und »ob sich Lehrer im Schulbereich im Rahmen der Demonstrationsszene aktiv beteiligt haben, und wenn ja, welche«. Außerdem, so Rektor Müller, habe er die »dringende Empfehlung« gegeben, allen Kolleginnen und Kollegen zu untersagen, »im Unterricht und sonstwie im Schulbereich über die Verhaftungsaktion mit Schülern zu diskutieren oder sonstige Aktivitäten zu betreiben«. Als die SPD wegen dieses Maulkorb-Erlasses eine Dringlichkeits-Anfrage im Bayerischen Landtag stellt, macht Wolf einen Rückzieher: Es habe sich lediglich um ein »kollegiales Gespräch« gehandelt. Oberstudiendirektor Müller, so die »Nürnberger Nachrichten«, »zeigte sich in seiner Stellungnahme sehr verwundert, daß Dr. Wolf nicht mehr zu seinen Worten steht«.
Trotz dieses Zurückweichens beweist die bayerische Staatsregierung aber auch, daß sie in der Sache nichts dazugelernt hat und die »harte Linie« gegenüber den Hausbesetzern und allem, was sie dafür hält, durchzusetzen gewillt ist. Strauß bagatellisiert die Verhaftung Unschuldiger ausgerechnet mit dem Hinweis auf die rechtsradikale Wehrsportgruppe:: Hoffmann, die nach dem Blutbad auf dem Münchener Oktoberfest ja schließlich auch festgenommen worden sei. Und Justizminister Hillermeier verteidigt hartnäckig die »unabhängige Justiz.« Dabei wird immer deutlicher, daß schon die Teilnahme an der Demonstration ausreichen soll, um die Beschuldigten wegen »schweren Landfriedensbruchs« zu verurteilen. PolizeiPressesprecher Willi Peter (Spitzname in Nürnberg: »der schwarze Peter«) spricht von »Hausbesetzer- und Demonstranten-Szene«. Polizeipräsident Kraus erläutert, »beim Landfriedensbruch mache sich jeder strafbar, der daran teilnimmt. Dabei sei nicht gesagt, daß er unbedingt einen Stein geworfen haben muß«. Das Trommelfeuer bewirkt, daß auch die Kritiker der Massenverhaftung nach und nach eine Trennung machen zwischen »Unschuldigen« im »Komm« und »schuldigen« Demonstrationsteilnehmern. »Demonstrationen als Unruhe und Unordnung zu empfinden«, sagt der Staatsrechtler Prof. Küchenhoff in Nürnberg, »das ist eine Geistes- und Bewußtseinslage, die sich noch im Stadium des Preußischen Allgemeinen Landrechts befindet.« Dieses Stadium scheint die Nürnberger Justiz des Jahres 1981 keineswegs überwunden zu haben. Mit extremen Reaktionen wird der »Szene« deutlich gemacht, was sie von ihren Richtern zu erwarten hat. So sagt am 11. März die 21jährige »Komm«-Mitarbeiterin Angela Gitterer vor dem Ermittlungsrichter aus, daß sie zwei der Inhaftierten zwischen 22und23 Uhr am Abend des5. März in der »Komm«-Teestube gesehen hat. Sie macht diese Aussage vielleicht ein wenig ungenau, denn nach anderen Angaben sollen sich diese beiden in der fraglichen Zeit auch in der »Spielothek« des »Komm« aufgehalten haben - also nicht unbedingt zwischen 22 und 23 Uhr in der Teestube. Angela Gitterer wird auf ihre Aussage vereidigt - und am 1. April verhaftet: Verdacht auf Meineid. Weil zwei Polizeibeamte die Betreffenden auf der Demonstration gesehen haben wollen, wird Untersuchungshaft angeordnet. Angela Gitterer wird außerdem wegen »Strafvereitelung« angeklagt und bleibt acht Wochen, bis zum Beginn des ungewöhnlich schnell angesetzten Verfahrens, in Haft. Ende Mai verurteilt eine Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth die 21jährige, die nicht vorbestraft ist, wegen Meineids zu einem Jahr und sechs Monaten Haft mit Bewährung. Begründung: Sie habe fünf Tage freiwillig im »Komm« Telefondienst gemacht und sich aus eigenem Antrieb zur Beschaffung von Alibis zur Verfügung gestellt, die falsch gewesen seien. Dabei stützt sich die Kammer auf die Aussage eines Polizeibeamten, der einen der Inhaftierten während der Demonstration an seinem auffallenden Tirolerhut erkannt haben will, und auf die Angaben eines V-Manns, der allerdings keine Aussagegenehmigung erhielt. Denn mit dem Hinweis, das mit seiner Preisgabe »das Wohl der Bundesrepublik und des Landes Schaden leiden und künftige Verbrechensbekämpfung erschwert würde«, verweigerte die Behörde seinen Auftritt vor Gericht. Der V-Mann, kommentierte der Gerichtsvorsitzende
diesen absonderlichen Vorgang, sei als zuverlässig bekannt, weshalb das Gericht keine Bedenken gegen seine Aussage habe. Bedenken hat es dagegen sehr wohl gegen zwei jugendliche Zeugen, die angeben, die beiden Verhafteten ebenfalls zwischen 22 und 23 Uhr im »Komm« gesehen zu haben. Sie sollen eigentlich wegen Falschaussage noch im Gerichtssaal verhaftet werden: Der Staatsanwalt sieht davon nur aufgrund ihres Alters (16 und 18 Jahre) ab. Ein Ermittlungsverfahren, kündigt er an, »werden die Aussagen in jedem Fall nach sich ziehen.« Unter solchen Umständen werden Zeugen schon im Vorfeld der Landfriedensbruch-Prozesse nachhaltig verschreckt Um außer den Aussagen der Polizisten und des V-Manns weiteres belastendes Material zu sammeln und so die Verhaftungsaktion wenigstens nachträglich zu rechtfertigen, greifen die Nürnberger Strafverfolger außerdem zu einem weiteren ungewöhnlichen Verfahren: Sie laden Beschuldigte als »Zeugen« in einer »Strafsache gegen Unbekannt u. a.« vor. Mit diesem Trick sollen die Vorgeladenen, die als Beschuldigte nicht aussagen müssen und nach der Strafprozeßordnung nicht zugleich Zeugen in eigener Sache sein können, doch noch zu einer Aussage über die Demonstration gebracht werden. Denn als Zeugen dürfen sie die Aussage nicht grundsätzlich verweigern, wie das Beschuldigten erlaubt ist. Sie müssen sogar unter Strafandrohung wahrheitsgemäß aussagen und dürfen nichts verschweigen. Obwohl diese Praxis eindeutig rechtswidrig ist - nach der einschlägigen Rechtssprechung ist die sogenannte »manipulierte Rollenvertauschung« nur zulässig, »wenn sich die Ausage auf eine Tat bezieht, die nicht auch der Auskunftsperson vorgeworfen wird« -, ordnet der Ermittlungsrichter gegen eine auf diese Art gewonnene »Zeugin« sogar Erzwingungshaft an, weil sie die Aussage verweigert. In weiteren Fällen werden Ordnungsgelder verhängt. In diesem Klima können Denunziationen nicht ausbleiben. So gelangt ein Schülerreferat zum Thema »Meinungs- und Pressefreiheit« auf ungeklärtem Wege aus dem Scharrer-Gymnasium in die Hände des forschen CSU-Abgeordneten Sieghard Rost, der daraus auf einer öffentlichen Sitzung des kulturpolitischen Landtagsausschusses zitiert. Der erstaunte Verfasser des Textes sitzt zufällig unter den Zuhörern, weil er sich über eine geplante »Absenzenregelung« informieren will. Und am 26. März erscheint im Gymnasium Oberasbach der stellvertretende Leiter der Kriminalpolizei von Fürth, Walter Müller, um die 16jährige Schülerin Christine R. zu vernehmen. Christine hatte zwei Wochen vorher in einer Diskussionsstunde berichtet, was sie über die Verhaftung der drei angeblichen Terroristen im U-Bahnhof Lorenzkirche gehört hatte: unter anderem, daß die verhaftete Inge P. auf der Polizeiwache zusammengeschlagen worden sein sollte und ihre Anwältin daraufhin Anzeige erstattet hätte. Der Beamte zeigt sich über den Inhalt dieser Stunde informiert und droht dem Mädchen mit einer Anzeige wegen »Verleumdung«, falls sie ihre Angaben nicht widerruft. Christine in einem Gedächtnisprotokoll über das Verhör in dei Schule: »Er redete dann über die Hausbesetzer und das >Komm<, über den Kommunismus und über die unkritische linke Jugend. Er erklärte mir, was Landfriedensbruch ist, sprach von den Züricher und Berliner Chaoten. Er zeigte mir das Flugblatt von Frau P. und fragte mich, was der schwarze Stern daraufbedeute; daß das alles Kommunismus sei und daß sie sich mit diesem Blatt strafbar mache.« Die Schülerin will daraufhin mit einem Anwalt sprechen. Müller: »Ja, wenn Sie einen Rechtsanwalt einschalten, dann erstatten wir gleich Anzeige.«
Eine Woche später holt der Beamte das Mädchen von der Schule ab. Christine: »Er hat mir dann gesagt, daß die Anklage fallengelassen wäre, weil ich mich >gut verhalten< hätte bisher. Jetzt wollte er sich nur noch mal mit mir unterhalten.« Die Sechzehnjährige fährt mit Müller auf die Polizeiwache Zirndorf und wird dort von ihm und einem zweiten Mann noch einmal ausgiebig verhört. Christine: »Weil er mir die Anzeige gnädigerweise erlassen hatte, wollte er nun weitere Informationen über die Szene von mir.« Sie wird gefragt nach dem Ermittlungsausschuß, dem »Komm«, der Frauengruppe, in der sie Mitglied ist, und an welchen Demonstrationen sie teilgenommen hat. Außerdem soll sie ein »Alibi« für die Nacht vom 5. auf den 6. März vorweisen. Das Gespräch gipfelt in einem Anwerbeversuch: »Der andere Mann wollte dann, daß ich mit ihm ins >Komm< gehe. Ich sagte, da könnte er doch allein hingehen. Aber er meinte, er käme da nicht rein. Ich: Wieso das denn nicht?« Nach diesem Verhör wird Christine entlassen und bekommt später noch einen Anruf: Jetzt soll sie die genauen Adressen der Leute angeben, die ihr »Alibi« für die Nacht vom 5. auf den 6. März bestätigen können. Diese Vorgänge gehören zu den gezielten Einschüchterungsversuchen gegenüber kritischen Schülern - und Lehrern - an Nürnbergs Schulen. Bei der CSU gebärdet sich der Landtagsabgeordnete Sieghart Rost wiederum als Kämpfer an vorderster Front. In einer »Dokumentation zu den Krawallen am 5. 3. 81 in Nürnberg« veröffentlicht er seine Erkenntnisse über »Agitation in (städtischen) Schulen Nürnbergs«. Da soll zum Beispiel Direktor Müller vom Scharrer-Gymnasium am 9. März die »dienstliche Anweisung« an die Lehrer gegeben haben, sich in der ersten Pause zu einer Sondersitzung im Lehrerzimmer einzufinden. Rost: »In der tumultuarisch ablaufenden Lehrerratssitzung verlangt der harte linke GEW-Kern, daß sich alle Lehrer in vorbereitete Unterschriftenlisten eintragen. Hierin entrüstet man sich >über die offensichtliche Mißachtung des Elternrechts< und zweifelt am >Vertrauen zu dem Rechtsstaat<.« Gleichwohl: »Trotz des psychischen Drucks der SPD/GEW-Gruppe verweigern rd. 70% ihre Unterschrift.« Tatsächlich hatte Schulleiter Müller an diesem Tag die Kollegen zu einer »kurzen Information« zusammengerufen und bekanntgegeben, daß drei Schüler verhaftet worden waren. Ein Lehrer, der am Tag zuvor an einer Versammlung der Eltern teilgenommen hatte, berichtete über Einzelheiten der Verhaftungsaktion und legte ein Schreiben aus, in dem »rasche Aufklärung der Vorkommnisse« gefordert wurde. Er stellte »den Kollegen frei, es zu unterzeichnen«, notiert das städtische Schulreferat. Rost behauptet jedoch unverdrossen: »GEW-Lehrer versuchen auch an anderen Schulen - mit wechselnden Erfolgen - durch Agitation Lehrer und Schüler für ihre politischen Absichten zu mobilisieren.« Rost weiß auch, wie die linken Unterwanderer das anstellen: »Als Mittel, sich bei Schülern beliebt zu machen und in ein Vertrauensverhältnis einzuschleichen, wird zwischen GEW-Lehrern und Schülern der Oberstufe an Gymnasien das vertrauliche >du< benutzt.« Vorgänge dieser und anderer Art in Nürnberger Schulen - (»hängen an verschiedenen Stellen - auch am schwarzen Brett - ab 10. 3. tagelang unbeanstandet sozialistisch-kommunistische Flugblätter«...) - veranlassen den Nürnberger CSU-Abgeordneten, in einem Dringlichkeitsantrag von der Staatsregierung zu fordern, »zu überprüfen, ob an städtischen
Schulen in Nürnberg... im Zusammenhang mit den Vorgängen nach dem 5. März 1981 Ereignisse vorgefallen sind - und ggf. welche -, die ein schulaufsichtliches Einschreiten erfordern«. »Hierbei«, so der Antrag, »ist auch darzulegen, ob verantwortliche städtische Bedienstete zur Rechenschaft gezogen werden können, falls Verstöße vorliegen.« Diese Politik zeigt schon bald den gewünschten Erfolg: An den Schulen herrscht Panik. »Mein Deutschlehrer«, berichtet die Schülerin Christine, »hat dann eben gesagt, daß er innerhalb der Klasse überhaupt nichts mehr sagen wird, was irgendwie politisch oder sonst was ist und auch keine solchen Diskussionen mehr führen wird, weil er ja sieht, wozu so was führt: daß er dann ewig Angst haben muß, daß die Schüler irgendwas sagen und er dann den Verfassungsschutz draufgehetzt kriegt.« Seither, so Christine, »wird das Aufhängen von Anti-Kriegs- oder antifaschistischen Plakaten in unserer Schule grundsätzlich nicht mehr genehmigt. Der Direktor gibt dafür eigentlich überhaupt keine Begründung, sondern er unterhält sich dann mit mir eine halbe Stunde lang über seine Sorgen und Ängste. Das ist die totale Schlittertour: daß er ständig seine Liberalität betont, aber dann darf man in der Schule noch nicht mal mehr ein Friedensplakat aufhängen.« Auch die sogenannte Szene ist laut Christine nahezu verstummt: »In Nürnberg wird zu den einzelnen Ungeheuerlichkeiten schon gar nichts mehr gemacht, neben den Massenverhaftungen ist alles andere wie ein Klacks dagegen. Da empört sich keiner mehr darüber, weil schon so viel schlimmere Sachen passiert sind. Wenn's nicht gleich hundertundnochwas sind, dann ist es hier nicht mehr so schlimm. Solche Aktionen etwa wie die Walpurgisnacht in anderen Städten, das ist bei uns gar nicht mehr denkbar.« Nach dem 6. März hat es in Nürnberg zwar noch zwei weitere Hausbesetzungen gegeben. Die eine, in der Wielandstraße 19, verläuft nur deshalb glimpflich, weil der Hausbesitzer, BRRedakteur Helge Kramer, sich das Eingreifen der sofort angerückten Polizei verbittet und statt dessen mit den Besetzern einen befristeten Mietvertrag abschließt. Ein weiteres besetztes Gebäude in der Roritzerstraße 5 wird dagegen geräumt: Zum ersten Mal geht die Räumung nicht gewaltfrei ab, sondern die Besetzer werfen Dachziegel und Flaschen auf die Straße und drohen mit einem selbstmörderischen Sprung vom Dach. 13 werden verhaftet, mit ihnen mehrere Zuschauer von der Straße, denen ein Ermittlungsverfahren wegen »Unterstützung einer kriminellen Vereinigung« (§ 129) angehängt wird. Vier Monate später sitzen acht der Verhafteten immer noch in Einzelhaft. Seither ist Ruhe in Nürnberg. Zwei Monate später. »Gehen Sie doch am Donnerstagabend ins Jugendzentrum in Langenzenn, da soll eine Veranstaltung über Hausbesetzer stattfinden«, rät mir der SPDLandtagsabgeordnete Rolf Langenberg, der nach einer zweitägigen Anhörung der Inhaftierten an einer großen Dokumentation arbeitet. »Der Polizeipräsident Kraus soll auch dran teilnehmen, ebenso der Erste Staatsanwalt Schmidt. Das kann interessant werden.« In Nürnberg selbst hat es bisher noch keiner der für die Massenverhaftungen Verantwortlichen gewagt, sich den Jugendlichen und ihren Eltern in einer direkten Diskussion zu stellen. Justizminister Hillermeier etwa traut sich höchstens in die Provinz, nach Neustadt an der Aisch etwa, und auch das nur auf Einladung der Jungen Union. Das Jugendzentrum in Langenzenn gehört der Katholischen Kirche.
Vor der Abfahrt in das Dörfchen ist Treff am »Komm«. Mitfahrgelegenheiten werden angeboten. »Ob wir überhaupt hinkommen? Vielleicht haben die eine Polizeisperre aufgebaut«, überlegt jemand. Aber die Anreise von rund 100 Nürnberger Jugendlichen verläuft ohne größere Zwischenfälle, wenn man von den zwei Männern im Fußgängertunnel vor dem »Komm« absieht, die uns filmen, als wir zum Auto g'ehen. Aufregen tut das niemanden hier. Das Jugendzentrum entpuppt sich als winziger Raum, in dem wohl noch keine Veranstaltung soviel Zulauf gehabt hat wie diese. Das Publikum setzt sich auf den Fußboden, weil Stühle zuviel Platz wegnehmen würden, sitzt in den geöffneten Fenstern. An der Stirnseite, vor einer nach dem Pink-Floyd-Plattencover »The Wall« bemalten weißen Wand, nehmen nach und nach die Diskutanten Platz: Der Bürgermeister von Langenzenn, drei Landtagsabgeordnete (zwei von der SPD, einer von der CSU), Professor Küchenhoff aus Münster, der Nürnberger Rechtsanwalt Peter Doll, der einige Inhaftierte verteidigt. Statt des Polizeipräsidenten Kraus, der sich angeblich den Fuß verstaucht hat, ist sein Pressesprecher Willi Peter erschienen. Außerdem drängelt sich in letzter Minute noch ein jüngerer, smarter Robert-Redford-Typ in Lederjacke und offenem Hemd durch die Menge: Das ist der Erste Staatsanwalt Gerulf Schmidt, einer der an den Verhaftungen beteiligten Staatsanwälte. SPD-Mitglied. Der angesichts des Andrangs sichtlich erschrockene Moderator des Abends, Pfarrer Steiner, überreicht Schmidt zur Begrüßung einen eingewickelten Blumenstrauß: »Das sind keine roten Rosen, sondern Frühlingsblumen. Und Herr Schmidt kriegt die, weil er sich ja schließlich in die Höhle des Löwen gewagt hat!« (Die »Löwen« sind wohl die jungen Leute.) Der junge Pfarrer nennt das Thema des Abends: »Wieso kommt es zu Hausbesetzungen?« und bittet deshalb darum, »daß sich ein Hausbesetzer hier auch aufs Podium setzt« - mit einem Seitenblick zum Podium -, »das geht ja straffrei aus, oder?« Rechtsanwalt Doll fährt sofort warnend dazwischen: »Wer sich meldet, der soll sich das genau überlegen! Ich verweise nur auf den § 129 A, kriminelle Vereinigung! « Da geht dann lieber keiner nach vorn. Aber ein junger Mann im Auditorium beginnt dennoch geduldig, die Ziele der Hausbesetzer zu erläutern: Da solle wertvolle alte Bausubstanz geschützt werden, »damit nicht überall Betonsiedlungen gebaut werden«, da solle gegen Spekulanten protestiert werden, und im übrigen sei es für Studenten unendlich: schwer, überhaupt eine Wohnung zu finden. »Wir nehmen keine langhaarigen Affen und Studenten auch nicht«, habe er oft genug zu hören bekommen. Der SPD-Landtagsabgeordnete Manfred Schnell stimmt diesen Worten eilfertig zu: Solche Demonstrationen müßten offenbar sein, damit die Politiker überhaupt spüren, daß etwas nicht in Ordnung ist! Schnell: »Die Sensibilität setzt oft erst dann ein, wenn Pflastersteine fliegen.« Wie denn seine eigene Sensibilität konkret geweckt worden sei, will daraufhin ein junger Zuhörer wissen. Das kann der Abgeordente nun so konkret auch Wieder nicht sagen: »Das ist eine abwegige Frage, darauf kann ich so nicht antworten. Aber Demonstrationen sind ein legitimes Recht des Bürgers.« Dies alles wiederum versteht der CSU-Landtagsabgeordnete Tauber überhaupt nicht. »Ich denke, hier soll Wohnungsnot und Wohnungsbau im Vordergrund stehen«, ruft er und zitiert ausführlich den »SPIEGEL«, wonach die sozialliberale Koalition mit ihrem überzogenen Mieterschutz an der ganzen Misere Schuld ist. Als niemand darauf eingeht, versinkt in mürrischem Schweigen.
Nun aber ergreift der Erste Staatsanwalt Schmidt das Wort und erklärt, daß die Justiz schließlich zwischen allen Stühlen sitze, »denn die Gesetze, an die wir uns zu halten haben, werden von den Politikern geprägt«. Mit bekümmerter Miene nennt er einen Grund dafür, warum manchmal auch Unschuldige eingesperrt werden müssen: »Das ist doch so: Wenn Sie in einem Raum sieben Personen haben, von denen Sie wissen, daß sechs an einem Mord beteiligt waren. Dann ist beim dringenden Tatverdacht eben das Verhältnis eins zu sechs ~< »Nach dieser Logik müßten Sie im Fußballstadion ja 60000 Zuschauer festnehmen, wenn 10000 Krawall gemacht haben!« ruft ein Junge empört dazwischen. Der Pfarrer, der das Publikum duzt, konstatiert besorgt, »daß zwischen Ihnen ja wohl gar kein Vertrauen besteht« und bittet um Ruhe. Mehrere anwesende Anwälte widersprechen nun der Behauptung des Staatsanwalts Schmidt, alles sei rechtstaatlich zugegangen bei der Inhaftierung. Rechtsanwalt Graf: »Sie haben mich rausgeworfen, als ich mit Entlastungszeugen ins Gericht kam. Sie haben mich gefragt, oh ich einen Mandanten hätte, dabei sind Sie als Ermittlungsbehörde gezwungen, auch alle entlastenden Momente zu ermitteln. Sie hätten die Zeugen in jedem Fall anhören müssen!« »Ich war vierzehn Tage im Knast«, berichtet ein dunkelhaariger junger Mann und wirft dem abwesend lächelnden Polizeisprecher Peter ein »Sie können ruhig grinsen! « zu. »Ich will hier mal erzählen, wie es mir ergangen ist in diesen vierzehn Tagen. Erst mal wurde mir drei Stunden lang verweigert zu pissen - zu Staatsanwalt Schmidt - »ist das vielleicht gesetzlich?« Schmidt: »Eine Frage, auf die sich nicht zu antworten lohnt.« - »Dann mußte ich vier Leibesvisitationen über mich ergehen lassen. Nackt ausziehen, Beine spreizen.« Schmidt: »Wenn das zutrifft, was Sie behaupten, ist das nicht gesetzlich.« - »Nach vierzig Stunden werde ich endlich einem Ermittlungsrichter vorgeführt und frage den, warum ich als Geisel behandelt werde. Der antwortet: Sie wollen sicher auch sagen, daß Sie nicht dabeiwaren. Aber das nützt Ihnen gar nichts, Sie kommen auch in den Knast! « Auf diesen Bericht wird nicht weiter eingegangen. Statt dessen entspinnt sich zwischen den anwesenden Vertretern der Obrigkeit ein Geplänkel, wie der Landfriedensbruch-Paragraph denn nun anzuwenden sei, ob 20, 30 oder 70 Leute während der Demonstration im »Komm« gesessen hätten, ob die Eltern rechtzeitig benachrichtigt worden wären oder nicht. Die Opfer dieser Obrigkeit halten sich an die demokratischen Spielregeln und hören zu. Da meldet sich ein Vater, dessen Sohn im Gefängnis war, und sagt, er könne einfach nicht verstehen, warum denn die Behörden nicht zugeben könnten, »daß man hier irgendwie zu weit gegangen ist«. Seine Frau möchte zum Landfriedensbruch eine Frage stellen: »Also wenn das jetzt bedeutet, daß die jungen Leute bei gewalttätigen Demonstrationen mitverantwortlich sind, auch wenn sie selbst nichts machen, dürfen die denn nun überhaupt nicht mehr demonstrieren? Man kann doch nicht vorher wissen, ob einer einen . Stein schmeißt?« Auf eine solche Frage aus dem Munde einer Erwachsenen reagiert Staatsanwalt Schmidt geradezu betroffen: »Aber natürlich bin ich der Auffassung, die Jugend soll demonstrieren! Mein Sohn demonstriert auch, der (zu einem jungen Mann im Publikum) sieht ganz ähnlich aus wie du!« Und: »Mir persönlich zum Beispiel gefallen diese Gummigeschosse gar nicht.« Von der Last befreit, mit Jugendlichen reden zu müssen, wenden die Repräsentanten des Staates auf dem Podium sich nun lebhaft immer wieder an die anwesenden Eltern. Gespannt lauscht man dem Bericht einer Mutter, die nach den Verhaftungen zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Demonstrationszug mitgelaufen ist, die es als schrecklich empfunden hat, »alle zehn Meter von Verfassungsschützern gefilmt und fotografiert zu werden«. So ist das also? »Ich habe mit Interesse gehört, daß Sie eine Gruppe gebildet haben«, strahlt
Polizeisprecher Peter, als die Mutter sagt, daß sie auch zur Betroffenengruppe der Eltern gehört, »ja, nehmen Sie doch einmal Kontakt auf mit uns!« Die Gruppe ist bundesweit bekannt, sie tagt seit dem 6. März regelmäßig im »Komm«, hat gegen die fünf Ermittlungsrichter Strafantrag wegen Rechtsbeugung, Freiheitsberaubung und Verfolgung Unschuldiger gestellt. Doch offenbar hat sich die Existenz dieser Gruppe nicht bis ins Polizeipräsidium herumgesprochen. Watteweich und scheinheilig wird im Partyplauderton um Tatsachen herumgeredet. Daß im Saal Jugendliche anwesend sind, die ein Verfahren wegen schweren Landfriedensbruchs mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren erwartet, gerät irgendwie in Vergessenheit. Sie werden ermahnt, doch »friedlich« zu sein. »Zum Frieden gehören zwoa!« sagt ein Mädchen, »aber hier haben die einen die Macht, und die andern harn gar nix.« Sie bleiben friedlich bis zum Ende der Veranstaltung. Gegen den Jungen, der mit mir im Auto nach Nürnberg zurückfährt, wird wegen »Unterstützung einer kriminellen Vereinigung« (§ 129) ermittelt, weil er bei der Räumung des Hauses Roritzer Straße 5 auf dem Bürgersteig gestanden und zugeschaut hat. Strafmaß laut Strafgesetzbuch: Fünf Monate bis fünf Jahre Freiheitsentzug. Das Ehepaar Gietl* wohnt in einem Vorort von Nürnberg. Die Neubausiedlung liegt inmitten von Spargelfeldern. Buchenhecken säumen die Wege, in den gepflegten Vorgärten blühen Rosen, ein Nachbar wäscht auf deg Straße sein Auto. An Gietls Küchenfenster klebt knallgelb eine Anti-Atom-kraft-Plakette. Gietls einziger Sohn Matthias ist im »Komm« verhaftet worden. Er ist 20 Jahre alt, stand kurz vor dem Abitur. Vater Karl Gietl, bis zu seiner Pensionierung leitender Angestellter in der Industrie, versucht das Ereignis zu bewältigen, indem er alle Presseberichte ausschneidet und in Aktenordnern sammelt. »Bei Demonstrationen«, sagt Frau Gietl, »gehen wir immer außen, damit die Leut sehen, es sind auch normale Bürger dabei.« Seit dem 6. März gibt es in Nürnberg Eltern, denen das Wort »Bullen« mit verblüffender Selbstverständlichkeit über die Lippen kommt. Die Gietls gehören nicht dazu. Aber sie haben auch vor dem Frauengefängnis Aichach demonstriert, als der Sohn schon wieder frei war. Der Matthias, versichern sie ungefragt, sei nicht ausgeflippt, sei kein Wohlstandsgammler. Sie haben ihn so erzogen, meinen sie, daß er kritisch ist, daß er sich engagiert, in der christlichen Jugendgruppe zum Beispiel. »Trotzdem«, sagt Karl Gietl, »weiß ich nicht, wie wir über die Sache denken würden, wenn wir nicht den Sohn hätten.« Die Gietls sind parteilos. »Für uns waren nach dem Krieg die C-Parteien einfach die Partei, weil wir dachten, das christliche Menschenbild könnte da verwirklicht werden.« In dieser Vorstellung haben sie als praktizierende Katholiken sich enttäuscht gesehen. Frau Gietl: »Ich drück das immer so aus: Die christlichen Parteien kümmern sich zwar drum, daß nicht abgetrieben wird, daß das Leben kommt, aber wenn's da ist, da hört die Sorge auf.« * Der Name wurde geändert Zehn Jahre lang haben sie die Politik mit wachsendem Unbehagen verfolgt. Dann sind sie auf die Straße gegangen: gegen die Aufrüstung, gegen Atomkraftwerke. Denn »im Dritten Reich, da waren wir nicht im Widerstand. Da haben wir uns einfach nicht verantwortlich gefühlt für die Dinge im Staat. Zunächst hat es uns sogar gefallen. Das hat uns hinterher erschreckt«. Mit dem Sohn hat vor allem die Mutter viel über solche Dinge geredet. Karl Gietl: »Ich war Fachidiot, als biederer Staatsbürger zwar skeptisch, aber unvollständig informiert.« Der
Matthias, meint Frau Gietl, habe die Verfassung ihres Mannes mitgekriegt und sich gesagt, so will er mal nicht leben. Erst nach der Pensionierung waren wieder Zeit und Ruhe da, um zu lesen und nachzudenken. Und dann hat Karl Gietl die Erfahrung gemacht, daß man als Erwachsener sehr wohl eine abweichende Meinung äußern darf, »wenn man nur schön bürgerlich aussieht wie ich«. Karl Gietl ist nun 63, seine Frau 60 Jahre alt. Seit dem 6. März gehen sie auf jede Veranstaltung, sie äußern sich zu den Verhaftungen, und man hört ihnen höflich zu. Frau Gietl: »Und die jungen Leute, die dürfen überhaupt nicht sagen, was sie für Vorstellungen haben. Ich habe keinen Ausdruck dafür, daß man die, um deren Zukunft es geht, einfach unterbuttern will. Die müssen nun den ganzen Zimt, der ihnen aufoktroyiert wird, übernehmen.« Von der Verhaftung ihres Sohnes haben sie noch am selben Abend erfahren. Einer seiner Freunde, der ebenfalls im »Komm« gewesen, aber früher gegangen war, rief gegen halb ein Uhr nachts an, im »Komm« sei eine Razzia gewesen, Matthias werde wohl später kommen. »Er hatte unser Auto dabei, und ich hab ihm noch viel Vergnügen gewünscht«, erinnert sich Frau Gietl, »das kommt mir heute entsetzlich makaber vor.« Immerhin weiß sie nun, wo ihr Sohn bleibt. »Ich hab mir erst hinterher klar gemacht, was das für die Eltern war, die ja nichts wußten, denn was weiß man denn, was in der Stadt vorgeht!« Der Freund sagt ihr, daß eine Demonstration stattgefunden und die Polizei das »Komm« umstellt hat und kontrolliert. Matthias sei nicht dabeigewesen, »und wenn halt die Kontrollen rum sind, dann kommt er«. Matthias kommt aber nicht. Gegen 3 Uhr ruft sie im Polizeipräsidium an. »Das dauert noch ein paar Stunden, dann kommt Ihr Sohn heim«, vertröstet sie ein Beamter. Als Matthias gegen Morgen immer noch nicht da ist, ruft sie wieder an. »Da war schon eine andere Stimmung.« Sie bekommt keine Auskunft, aber eine Telefonnummer, wo sie gegen zehn Uhr anrufen soll: »Da liegen dann die Listen aus.« Vorher meldet sich die Kripo Schwabach und teilt mit, daß Matthias Gietl dort zur Überprüfung festgehalten werde. Matthias darf selbst mit seinen Eltern sprechen und ihnen sagen, wo das Auto steht. Er soll nach Altdorf in Polizeigewahrsam überstellt werden. Gietls wenden sich jetzt an einen Anwalt und fragen, was sie unternehmen sollen. Der rät ihnen, nichts zu tun, ihr Sohn müsse freikommen, denn es läge ja keine Verdunkelungs- und Fluchtgefahr vor. Bis Samstagfrüh »war dann Funkstille«. Jetzt rufen die Eltern in Altdorf an und erfahren, Matthias sei nach Nürnberg überstellt. In der Justizvollzugsanstalt Nürnberg wird ihnen gesagt, ihr Sohn sei noch am Freitag in die Justizvollzugsanstalt Würzburg überstellt worden. »Wenn ich das jetzt so bieder erzähle«, sagt Karl Gietl, »dann hört sich das so selbstverständlich an. Aber wir haben natürlich gedacht, er wird jetzt verlegt nach Würzburg, da ist was passiert! Entweder er hat durchgedreht und hat sich an einem Beamten vergriffen, oder er hockt in einer Nervenabteilung in Würzburg, Würzburg ist bekannt als Terroristentrakt, da sitzen RAF-Leute ein. Ich war außer mir!« Der Vater ruft in Würzburg an und bittet um Bestätigung, daß Matthias da ist: »Keine Auskunft«. Ein Ermittlungsrichter ist nicht zu errreichen. »Das«, sagt Frau Gietl, »war für uns zunächst mal der Höhepunkt, da waren wir wirklich in Panik, weil wir uns überhaupt nicht vorstellen konnten, warum der jetzt in Würzburg ist.«
Das Ehepaar fährt zum Gerichtsgebäude, um irgendwie mehr über den Verbleib seines Sohnes zu erfahren. »Wir kamen in die Nähe des Gerichtsgebäudes«, erzählt Karl Gietl, » da - also ich war Kriegsteilnehmer im Westen und im Osten - eine Armee von Bereitschaftspolizei, das Gerichtsgebäude hermetisch abgeriegelt! Wir wollen zum Ermittlungsrichter. >Da müssen Sie zum anderen Eingang.< Wir gehen zum anderen Eingang: Nein, hier geht's nicht zum Ermittlungsrichter, da müssen Sie da vorn hin<, wo wir vorher waren. Aber offiziell ist nichts in Erfahrung zu bringen. »Der Anblick dort«, erzählt Frau Gietl, »der hat mich an die Kriegsverbrecherprozesse erinnert. Ich hab damals in der Nähe gewohnt, 1946, also die strenge Bewachung und die Posten und die Kontrollgänge - ich hab gesagt, es fehlen bloß noch die Panzer. Selber hat man sich überhaupt nichts vorstellen können, man hat ja nur gewußt, unser Sohn ist ins >Komm< und hat sich einen Film ansehen wollen. Also als was ist er jetzt eingestuft - diese Unsicherheit« »Für das Gefühl«, sagt Karl Gietl, »hab ich in meinem ganzen bewußten Leben keinen Vergleich. Auch nicht im Krieg, auch nicht die Gefangenschaft. Also dieser Einbruch mitten im Frieden -. Ich merke jetzt: Über alle Erlebnisse, beruflich oder privat, ist immer Gras gewachsen, schneller oder langsamer. Aber dies nimmt nicht nur ab, sondern je mehr Abstand ich gewinne, desto ungeheuerlicher erscheint mir dieser Vorgang! Es ist ganz seltsam, ich hab das noch nie an mir beobachtet.« Matthias wird nach einer Woche freigelassen. Gietls haben ihn einmal in Würzburg besucht. Sie haben die Prozedur »Besuch eines U-Häftlings« erlebt und sind sich dabei selbst wie Angeklagte vorgekommen. Der Sohn, berichtet Frau Gietl, hat die Haft scheinbar gelassen überstanden. »Er gibt sich gerne kühl. Aber wie er da stand, hatte er eiskalte, patschnasse Hände.« Zu den Eltern hat er gesagt: »Jetzt seht ihr mal, wie das läuft.« Für das Ehepaar Gietl allerdings ist der »Fall Matthias Gietl« mit der Entlassung nicht beigelegt. Für sie ist dies ein »Fall Nürnberg« geworden, der ihnen keine Ruhe läßt. »Für uns«, sagt Karl Gietl, »hat die ganze Geschichte eine fürchterliche Nebenerscheinung. Denn wir als geborene Nürnberger mit Elternhaus, Schule und so weiter haben hier einen sehr großen Bekanntenkreis. Und da mußte einfach jetzt jeder Farbe bekennen.« In stundenlangen Unterhaltungen kommt ans Tageslicht, »was bisher unter der Wohlstandsdecke gut verborgen war«. »Wir hatten Gespräche, daraus haben wir entnommen, daß Bekannte von uns das Dritte Reich nicht nur gebilligt haben, sondern auch jetzt noch billigen. Da kamen Äußerungen wie: >wir war'n doch auch gefügig< - Lebensalter so 60, 70 Jahre - >und harn's zu was gebracht« »Man hätt' in Ruhe damals auf die Straße gehen können, wenn's dunkel war«, unterbricht Frau Gietl, »und Arbeitslose hätt's auch nicht gegeben. Der Ruf nach dem starken Mann, der ist wieder da. Man sehnt sich wieder nach dieser Zeit zurück.« In diesem Sommer 1981 sitzen die Gietls auf ihrer Terrasse bei selbstgebackenem Streuselkuchen, das Haus, in dem sie einen beschaulichen Lebensabend verbringen wollten, im Rücken und fühlen sich doch nicht mehr zu Hause. Sie müssen reden: Über den bayerischen Staat, der »diesen Rechtsbruch, diese Rechtsbeugung« in ihre~ugen zu verantworten hat. Darüber, daß sie sich »völlig verunsichert fühlen, wenn im Frieden so etwas passieren kann«. Und viele ihrer Freunde können ihre Unruhe nicht verstehen. »Ich könnte ebensogut. als Missionar ins Amazonasgebiet gehen«, sagt Karl Gietl.
Bullenparanoia und das Gefühl vom Paradies Michael Wieczorek sprach mit Vertretern des »Kukuk« Vorgestern ist euer Haus, das »Kukuk« (Kreuzberger Kultur-und Kommunikationszentrum) von einer Hundertschaft Polizisten durchsucht worden. Weitere 2 Häuser wurden ebenfalls durchsucht, ein besetztes Haus - das in der Mittenwalder Straße - sogar geräumt. Als Reaktion auf diese Aktionen tobten gestern erbitterte Straßenschlachten in Schöneberg und Kreuzberg. Die Bilder und Eindrücke sind noch frisch in Erinnerung. Mich würde interessieren, oh die Motive, dieses Haus besetzt zu halten, mit den anfänglichen übereinstimmen, oder haben sie sich mit der Zeit verändert? Die ursprüngliche Idee war, in diesem Haus ein Zentrum für Besetzer zu schaffen. Dort sollten die Besetzer die Möglichkeit erhalten, Tagungen sowie Besetzerräte abzuhalten, weil sie bisher kaum einen Raum hatten, in dem sie sich treffen konnten. Auch für andere freie Kulturgruppen sollten Räume zur Verfügung stehen. In der Vergangenheit war es unheimlich schwer, solche großen Räume billig zu mieten. Wir wollten den Raum haben, um etwas zu arbeiten, um endlich etwas auf die Beine zu stellen. Das war ein wesentlicher Grund für die Besetzung. Wir brauchten ein Haus, das relativ schnell bewohnbar gemacht werden konnte. Dieses Haus hat eine sehr sehr gesunde Bausubstanz, und trotzdem stand es dreieinhalb Jahre leer. In dieser Zeit sind die leerstehenden Etagen durchgehend beheizt worden. Bis auf das Dach und den Keller war das Haus erstklassig in Ordnung. Nur einige Stromzähler waren abmontiert. Es war leicht, das Haus schnell bewohnbar zu machen. Das ist eine Riesenschweinerei, so ein Gebäude so lange leerstehen zu lassen und damit Wucher zu betreiben. Der Hausbesitzer wollte das Haus verkaufen. Dazu hat er erst einmal die Mieter, hauptsächlich Gewerbebetriebe, herrausgeklagt. Bei zwei WGs, die hier auch noch wohnten, hat er es bisher nicht geschafft. Er will das Haus leer verkaufen, denn das bringt mehr Geld. Angeblich soll das Haus für 5 Mill. DM verkauft werden. Der Anwalt des Eigentümers hat uns gesagt, daß die Besetzung des Hauses durch uns 500000 Mark verursacht hat, allein dadurch, daß er das Haus jetzt nicht verkaufen kann. In diesem Zusammenhang hat er auch damit gedroht, daß eine private Schlägertruppe das Haus räumen könnte, wenn das mit der Polizei nicht klappt. Wir wollten aber auch durch eine neue Besetzung den Senat unter Druck setzen, daß er die am 12. Dezember Festgenommenen freilassen würde. Damals sind massenweise Besetzungen durchgeführt worden, um den Senat unter Druck zu setzen, die Gefangenen freizulassen. Solange wir so stark sind, daß wir das Haus halten können, gibt es im Senat ziemlichen Druck. Was wir selber hier machen wollten hat sich mit den Bedingungen verändert. Am Anfang gab es ziemlich feste Gruppen, die hierhergekommen sind, um etwas zu machen. Aber durch dieses ständige Auf und Ab, diesen Streß, sind viele Gruppen auseinandergebrochen, haben sich neu formiert für Kurzprojekte. Für die meisten hat sich verändert, wie sie arbeiten wollen. Die meisten arbeiten unmittelbar für eine politische Situation. Wenn zum Beispiel irgendwo ein Straßenfest ist, dann machen sie dazu ein Theaterstück oder sie beteiligen sich direkt über etwas Geschriebenes an den politischen Aktionen. Machen einen Film oder spielen Theater. Irgendwie soll die künstlerische Tätigkeit in die politische Arbeit einfließen.
Wir sind 30 Leute hier. Wir wollen nicht nur für die Bewegung arbeiten und das, was wir an Träumen haben, vergessen und links liegen lassen. Das ist vielleicht ein bißchen hart ausgedrückt. Es ist schon so, daß wir etwas für die Bewegung tun wollen. Aber vor allem möchten wir, daß sich Eigeninitiative entwickelt, daß die Leute aus der Szene selbst etwas tun. Wir wollen hier nicht den Hausmeister spielen oder Putzfrauen sein. Das ist in der letzten Zeit auch wieder besser geworden. Wir sind zu wenig Leute. Die ganze Kraft und Energie werden hier auch irgendwie verschlissen. Aber obwohl ich kaum noch dazu komme, was ich eigentlich machen wollte, Theater etwa, werde ich hier nicht rausgehen. Denn das ganze Haus hier und die Arbeit und der Nerv sind doch letztendlich das einzige, was ich im Augenblick machen will. Ich sehe im Augenblick keine Alternative, obwohl man sich manchmal ganz schön ausgebeutet vorkommt. Wenn man hinter dem Thresen steht und die Leute bedient, die eigenen Leute. Ich meine die, die hierherkommen und rummotzen, wenn das und das soundsoviel kostet und wir ihnen tausendmal erklären müssen, wie schwierig es ist, gerade mal die Unkosten zu decken. Dabei sagen sie immer, sie sind gegen Konsumverhalten und gegen das und gegen das. Und im Endeffekt praktizieren sie das selbst. Und wie geht ihr gegen das Konsumverhalten eurer eigenen Leute vor? Irgendwie wollen wir insgesamt so ein Kulturverhalten aufknacken und auch so eine Beteiligung der Leute an den Projekten erreichen. Sie sollen in die Veranstaltungen mit einbezogen werden. Dann entwickeln sich schon gute Ansätze. Aber an manchen Tagen laufen hier schon Tausende durchs Haus, und das sind die Tage, an denen es für uns eben stressig wird. Dann werden die Leute zu einer unpersönlichen Masse, und sie verhalten sich eben auch wie eine unpersönliche Masse. Aber es gibt schon gute Ansätze, vor allem in den Veranstaltungen, die überschaubar sind, wo soviel kommen, daß es echt Spaß macht, daß man untereinander noch eine Beziehung aufbauen kann und daß die Leute selbst etwas vortragen, sich wirklich beteiligen. Dieser Ansatz, daß mal Leute aus anderen Häusern kommen und hier eine Veranstaltung schmeißen oder im Cafe vorbeikommen und sagen: »Eh, kann ich euch mal helfen« oder so, das sind echt schon dolle Ansätze. Das ist das, was wir weiterentwickeln wollen. Es soll bei uns nicht sein wie etwa auf dem UFA-Gelände, wo eine feste Gruppe von Leuten sitzt, die etwas anbietet. Dieses soll ein Haus für die Bewegung sein. Alle sollen hier etwas machen können. Das ist schon schwer, denn hier im Haus ist auch eine Streß-Grenze erreicht, wenn wir zum Beispiel schon den dritten Tag Punk-Musiker hier haben oder vier Theaterveranstaltungen und die entsprechenden Menschen und dann vielleicht noch ein paar Besetzerräte. Dann ist so eine Grenze der Aufnahmefähigkeit erreicht. Dann kommt von uns aus auch manchmal so eine saure Reaktion, wenn die Leute durch unsere Zimmer rasen. Aber insgesamt hat sich dieses Haus, glaube ich, schon zu einer Art Zentrum der Bewegung entwickelt. Wie schafft ihr das physisch, einerseits für Hunderte von Besetzern ein Zentrum aufzubauen und dennoch eure Träume verwirklichen zu wollen? Deswegen haben viele von uns den Job oder ihr Studium geschmissen. Einige, die hier wohnen, arbeiten aber immer noch, das heißt, sie fallen für die Arbeit hier aus. Die arbeiten z. B. als Krankengymnast, Altenpflegerin, Tischler, bei der Post usw. Die müssen früh aufstehen, und man kann nicht von ihnen verlangen, daß sie dann auch noch die Nacht dranhängen. Bei mir ist es so, daß meine Sensibilitätsgrenze immer niedriger sinkt. Es gibt aber auch eine Menge positiver Sachen. Wenn es zum Beispiel in der Gruppe tolle Erfolgserlebnisse gibt oder einfach wahnsinnig gute Feelings. Wenn du dir zum Beispiel vorstellst, daß da unten irgendwo ein Lagerfeuer brennt auf dem Hof, und die Leute kommen
aus Veranstaltungen raus und fühlen sich wahnsinnig gut, und das Kino läuft und das Cafb ist nett, und in der Gruppe ist auch eine tolle Atmosphäre. Wenn das so läuft, gibt es echt so Zeiten, da kann eigentlich alles passieren, da kannst du die ganze Nacht auf der Straße sein und morgens irgend etwas vorbereiten oder so, und da fühlst du dich eigentlich gut. Wenn du also in der Gruppe so ein Gefühl hast: »wir«. In dem Zusammenleben mit Menschen kannst du ein wahnsinnig tolles Gefühl kriegen, das gibt auch enorme Kraft. Umgekehrt: Je stärker die Spannungen in der Gruppe sind, umso stärker nervt dich auch, was draußen auf dich noch einbricht. Das ist ja das Verrückte, daß solche Situationen, wie er sie eben beschrieben hat, total schnell wechseln mit dem absoluten Down. Es gibt Tage, da hab ich 10 Hoch- und 10 Tiefpunkte. Wie 'ne Achterbahn. Ich war jetzt vier Tage weg, und als ich zurückkam, dachte ich, hier sei die totale Paranoia ausgebrochen, mit den Durchsuchungen in den anderen besetzten Häusern. Ich dachte, hier sei alles total zerstört, und alle überlegen: »Halten wir das überhaupt noch aus?« Und vielleicht zerstreuen sich die Leute in alle vier Winde. Aber als ich gestern abend ankam, war eine riesige Freßtafel aufgebaut, in der Ecke saß jemand, und es gab eine liebevolle Begrüßung und ruhige Stimmung: »Hallo, wir sind noch da, ist alles ganz toll, es geht weiter.« Da hatte ich richtig das Gefühl, nach Hause zu kommen. Also wirklich, so ein Paradiesgefühl. So schwierig das teilweise ist, es ist unser Bereich. Manchmal sind immer noch Möglichkeiten da, das zu tun, wozu wir Lust haben. Das ist schon toll. Für die anderen war das Gefühl sicherlich nicht so toll. Ein paar Stunden vorher habt ihr in der Zelle gesessen. Wie seid ihr dahin gekommen? Ich hab das erst mitgekriegt, als sie tatsächlich da waren. Da waren wir unten zu zweit im Info-Laden drin, und einer sagte: »He, da draußen stehen die Bullen.« Das war erstmal ein Mordsschreck, und dann hat alles irgendwie ausgesetzt, Gedanken und so. Ich hab nur noch Aktion gemacht und bin hinten durch den Hof gerast und hab überall rumgeschrien: »Aufwachen, die Bullen kommen«, und hab versucht, die ganzen Leute mobil zu machen, was auch teilweise gelungen ist, ein paar andere haben sie aus dem Bett rausgeholt. Und dann waren sie auch schon drin. Wir haben uns alle in Gruppen versammelt, weil wir uns an dem zentralen Treffpunkt nicht mehr treffen konnten, das war schon zu spät. Die Leute aus der WG haben die »Scherben« aufgelegt und das Stück »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran« gespielt. Hat richtig reingepaßt in diesem Moment. Wir haben uns gegenseitig zugerufen und Radau gemacht, um uns selber ein bißchen Mut zu machen. Und dann sind wir einer nach dem anderen abgeführt worden nach draußen. Da standen schon die Knastwagen, und vorm Knastwagen wurde von jedem ein Polaroidfoto gemacht. Dann sind wir reingekommen in die Dinger und abtransportiert worden. Unter den Leuten waren auch ein Haufen Besucher, bei uns pennen halt viele. Wart ihr denn vorgewarnt? Am Abend vorher war jemand vorbeigekommen und hatte gesagt, daß die Bullen sich um ein Uhr nachts und um drei Uhr sammeln müßten und daß zwischen vier und fünf was abgehen soll, aber weil wir halt mit solchen Infos in der letzten Zeit überhäuft wurden, waren wir einfach nicht mehr bereit, das ernst zu nehmen und uns darauf einzustellen, gerade beim Kukuk, immer soviel Hektik zu machen, Leute zu mobilisieren, und dann erlebste halt zum x
tenmal, daß die Leute alle hier sind, und es wird ein anderes Haus geräumt irgendwo ein paar Kilometer entfernt. Meinst du, Fehlalarme werden, von wem auch immer, bewußt ausgelöst, um euch zu zermürben? Ja, glaub ich schon. Die haben auch schon die Telefonkette ausgelöst, und über Funk kamen falsche Auslöser. Und wie lief es dann weiter? Wohin seid ihr gebracht worden? Wie seid ihr behandelt worden? Da sind wir in die Zellen reingekommen. Bei den Frauen war das so, daß sie zu zweit beziehungsweise auch einzeln in die Zellen gekommen sind, und die Männer in größeren Gruppen. Da haben wir dann eine Weile gehockt, teilweise durften die Leute eine Stunde lang nicht aufs Klo gehen. Wir haben ganz schön Radau gemacht, damit die uns endlich mal pinkeln gehen lassen. Die haben uns ganz schön übel angemacht, da kamen ein paar Bullen vorbei und meinten: »Euch Ratten sollte man gleich in die Löcher stecken.« Und so miese Sachen: »Du stinkst total nach Fotze, du alte Ficksau«, und solche Scherze. Dann kamen wir so nach und nach zur erkennungsdienstlichen Behandlung, mit Foto und Fingerabdrücken und Personenbeschreibung und ähnlichem Blabla und wollten uns dann vernehmen. Und zum Teil sind wir nach vier bis fünf Stunden rausgekommen, einen anderen Teil von den Leuten haben sie erst mal nach Neukölln verlegt. Die kamen so gegen halb acht wieder raus. Dann waren also etwa vierzehn Stunden vergangen seit der Verhaftung. Stimmt es, daß die Frauen ganz besonderen Schikanen ausgesetzt waren? Das war bei uns nicht, das war in der Mittenwalder Straße, da mußten sich die Frauen ausziehen, zwei- oder dreimal komplett ausziehen. Die sind total gefilzt worden. Und die haben erzählt, die Bullen hätten vor den Gucklöchern gestanden und hätten sich da ihren privaten Porno reingezogen. Also das muß ziemlich übel gewesen sein. Wie habt ihr das Haus nach der Durchsuchung vorgefunden? Die hatten etliche Spielchen gemacht, zum Beispiel im vierten und fünften Stock sämtliche Türen aufgebrochen, obwohl wir ihnen gesagt hatten, sie können die Schlüssel haben, da brauchen sie nicht rumzurandalieren. Das hatten sie aber nicht nötig und haben teilweise Türen mitsamt Türrahmen rausgerissen. Dann haben sie unten im Cafb einen Kühlschrank aufgemacht und die Milchtüten und Safttüten angestochen und das ganze Zeug auf den Boden laufen lassen, ein paar Eier hinterhergeklatscht. In einem Zimmer haben sie ein Loch in die Wand gehauen und eine Blockflöte in Lackfarbe getaucht und die Lackfarbe quer übern Schreibtisch geschmiert und Blumentöpfe umgeschmissen. Mit den Blumentöpfen hatten sie es besonders, die haben keinen heil gelassen, und Müll über irgendwelche Klamotten und auf den Boden gekippt, also total, ja ich würd schon sagen, faschistische Methoden, nur um uns was reinzuwürgen. Also es ging nicht um die Sache selber, wie man bei einer Durchsuchung erwarten würde, Ausweise zum Beispiel haben sie unbeachtet liegenlassen. Während des Verhörs haben sie gesagt: »Am besten machen Sie keine Aussagen, weil wir sowieso nicht wissen, wonach wir fragen sollen.« Das hat so ausgesehen, als ob sie da ein Würfelspiel machen, dem einen haben sie Nötigung dazugegeben, dem andern eben Sachbeschädigung, aber im Endeffekt wußten sie überhaupt nicht, was sie hier sollten.
Bei mir hat der Kriminalbeamte auch gefragt, als ich reinkam, ob ich aus der Mittenwalder wäre. Ich hab nein gesagt. Wo ich denn herkäme, meinte er. Ich: Wüßte ich nicht, er müßte es ja wissen. Und dann ist er rausgegangen und hat sich erkundigt, warum ich überhaupt da sitze. Dann hat er erfahren, daß ich aus dem »Kukuk« bin, und da wollte er mich auf Hausfriedensbruch verhören, ich hatte aber Nötigung angehängt bekommen. Da meinte er: »Tut mir leid, Fräulein, ich weiß nicht, warum ich Sie verhören soll, verweigern Sie am besten die Aussage.« Und damit war die Sache vom Tisch. Der eine Kriminalbeamte hat mir erzählt, er wär um fünf Uhr hierherbestellt worden und hätte nicht gesagt bekommen, warum, hätte sich nur dahin setzen müssen und auf uns warten. Also mein Kriminalbeamter war ein echt freundlicher Mensch, muß ich sagen. Also ich hab so ziemlich das Gegenteil von dem erlebt. Der Beamte wußte wohl Bescheid, um was es ging, und hat zwanzig Minuten lang versucht, mich zu Äußerungen zu provozieren, die mich irgendwie festnageln sollten. Das fing also damit an, ich wäre wohl nur nach Berlin gekommen, um mich vorm Bund zu drücken, würde Bafög einstreichen und auf die Straße gehen, Randale machen. Das setzte sich dann fort, daß er sagte, es würden wohl bald wieder Arbeitslager eingeführt werden, und endete dann damit, daß er sagte, wenn er mir mal privat auf der Straße begegnen würde, dann würde das ganz anders ablaufen. Dann käme ich nicht so leicht davon. Als ich gar nicht reagierte, hat er nach 20 Minuten abgelassen und nur noch mal, kurz bevor ich ging, gesagt: »Wir sehen uns wieder.« Bei uns haben sie auch so angefangen: »Ihr Schweine, jetzt kriegt ihr mal eine saubere Zelle und was Warmes zu fressen. Die nächsten drei Jahre habt ihr das dann.« Sie wollten richtig Angst machen. Das war eigentlich ein sehr gutes Feeling unter den Leuten im Knast, wir haben ganz gut gekontert, daß wir nach drei Jahren wieder frei sind und sie ein Leben lang in der Kacke drinsitzen. Und die vierzehn Stunden in der Zelle, das war immer so, daß wir Kontakt gehalten und gesungen haben. Nach vierzehn Stunden haben wir erst erfahren, daß wir wieder zurückgehen können. Vorher dachten wir, das Haus ist geräumt. Da waren wir auch dementsprechend sauer die vierzehn Stunden über. Hat die politische Situation durch den Senatswechsel eure Befürchtungen verstärkt, daß geräumt wird? Oder spielt das weniger eine Rolle bei euch, was sich im Rathaus Schöneberg abspielt? Ja, ich hab gedacht, jetzt geht es erst richtig los und wahrscheinlich auch ein bißchen brutaler als unter diesem doch irgendwo noch taktierenden SPD-Senat. Aber Fakt ist ganz einfach: Dies Haus ist ein Privathaus, und es wird sich kein Senat leisten können gegenüber der sogenannten Öffentlichkeit - den Wählern -, das Recht auf Privatbesitz antasten zu lassen von »chaotischen Besetzern«, wie es immer so schön heißt. Von daher war für mich klar, daß auf jeden Fall geräumt wird. Es ist eine andere Kiste mit den Häusern, die in städtischem Besitz sind oder städtischen Sanierungsgesellschaften gehören, da ist der Mißstand vielleicht auch offenkundiger und auch für die Politiker leichter einzugestehen, als das bei Privathäusern def Fall ist. Da müßten sie die Kritik an ihren eigenen Besitzverhältnissen dann auch als gerechtfertigt anerkennen, und das würde eine fundamentale Säule unseres Staates zum Einsturz bringen. Diese ganzen Möchtegern-Volksvertreter sind eigentlich für mich so der gleiche Brei. Nur daß jetzt unter so einem Weizsäcker der Terror gegen uns schon offener geführt wird. Also was dieser Vogel-Senat immer so wollte, oberflächlich einem von 'ner politischen Lösung erzählen und nachts auf den Straßen die Leute zusammenknüppeln und in den Knast fahren lassen und damit Angst und Spaltung fördern, indem er etwa solche Angebote macht, um die ganze Sache zu trennen: Gewalttäter, die im Knast vergammeln sollen oder irgendwann mal auf offener Straße erschossen werden, wie wir's halt schon mal
hatten, und die, die eben die engagierten jungen Bürger innerhalb des Systems sind, die Häuser herrichten und auf einen sozialen Mißstand aufmerksam machen. Trennung in Idealisten und Krawallmacher? Ja. Obwohl - ich halte die Krawallmacher eigentlich für die ernster zu nehmenden Idealisten. Aber ich seh diese Trennung auch nicht. Die versuchen, sie durch solche Horror-Urteile wie zweieinhalb Jahre in den Knast einfahren oder so in die Köpfe der Leute reinzukriegen. Daß halt die Leute, die noch nicht so einen Punkt von Verzweiflung erreicht haben, da irgendwo doch Angst bekommen und drauf warten: Vielleicht gibt es in diesem Staatssystem doch noch irgendwo eine helfende Hand, wo wir nicht nur der letzte Dreck sind oder so. Aber diese Illusion zerbricht laufend mehr. Das ist das, was vielleicht der Weizsäcker-Senat durch den offeneren Terror jetzt an Lernprozessen vermitteln kann: daß dieses Anbiedern bei denen da oben, die den ganzen Mist gemacht haben, überhaupt nichts bringt. Das klingt so, als oh ihr an eine politische Lösung nicht glaubt. Wie wird der neue CDUSenat denn konkret in der Frage der Hausbesetzungen und allgemein in der Sanierungspolitik verfahren? Wie sind eure Prognosen für die Zukunft? Ich kann mir vorstellen, daß man wenige Häuser stehen lassen und den Leuten Mietverträge geben wird. Dann hat man irgendwo eine politische Lösung geschaffen, die kann man vorzeigen. Und Mietverträge, das weiß ja jeder, sind auch irgendwann wieder kündbar, das haben ja auch die Mieter gemerkt, die vorher in den Häusern gewohnt haben - und man verschiebt das Problem einfach um zwei, drei Jahre. Bis wieder Ruhe im Land herrscht. Und der Senat kann sich auf die Fahnen schreiben, daß er das geschafft hat, und gleichzeitig kann er auch fürs Kapital weiterarbeiten und dafür sorgen, daß doch durchgezogen wird, was durchgezogen werden soll. Das geht auch nicht. Die müssen, wenn sie räumen, in ganz, ganz langen Zeitabständen räumen. Denn die Leute müssen ja irgendwo bleiben. Das war nach der Räumung Fraenkelufer so. Die Leute sind ja immer noch da. Solange es noch andere Häuser gibt - o. k., dann tauchen die da irgendwo wieder auf, das heißt, daß sie immer noch oder sogar verstärkt die Unruhestifter sind. Und wenn sie sehr viele Häuser auf einmal räumen, heißt das, daß die Leute ständig irgendwo rumrennen werden - wo sollen die hin? Die können nur entweder in andere besetzte Häuser, wo noch Platz ist, oder die müssen auswandern oder auf dem Kudamm kampieren. Ich glaub auch, daß die damit rechnen, daß die Leute nicht Ruhe halten werden und daß gerade, wenn sie aus den Häusern draußen sind und auf der Straße stehen, sie sich weiterhin wehren müssen und was erkämpfen müssen. Für mich sind die ganzen Durchsuchungen, die jetzt laufen, gar keine Durchsuchungen, sondern vorbeugende Maßnahmen. Was läuft denn da ab: Personalienfeststellung, Registrierung der Leute, damit in dem Fall des Falles, wo hier wirklich noch viel stärker die Bambule losgehen wird, die Leute leichter identifiziert werden können und mit dem entsprechenden Vorstrafenregister für längere Zeit erst mal mundtot gemacht werden. Ich glaube, daß sie das bewußt einplanen. Mich würde wirklich nicht wundern, wenn hier jeden Tag zwei oder drei Häuser geräumt würden. Und bei 160 Häusern wären das dann 50 Tage oder anderthalb Monate, wo hier alles durchgezogen wird, und dann landen vielleicht 1000 Leute im Knast, und der Rest gibt vielleicht auf. Das könnte ich mir genausogut vorstellen, daß sie den Weg gehen. Das schlimme ist einfach für mich, wo ich jetzt schon seit einem Jahr dabei bin und quasi jede Woche eine neue Theorie oder neue logische Gedankengänge produziere, um in den Griff zu bekommen, was die da oben eigentlich jetzt denken: Jedesmal fall ich damit auf die Schnauze. Jedesmal passiert etwas, das
ich mir nicht erklären kann. Einmal hab ich das Gefühl, wir sind total stark, das nächste Mal hab ich das Gefühl, wir sind wirklich so schwach, daß es besser ist, man schenkt Berlin der DDR und wandert aus. Das ist sehr vertrackt. Ich glaube, im Moment bestimmen die total unser Handeln und nicht mehr so, wie das vor ein paar Monaten war, wir deren Handeln. Im Moment läuft das ja so ab: Die durchsuchen oder räumen, und abends machen wir dann das, was die 'von uns erwarten, wir gehen auf die Straße. Und das immer zu Zeitpunkten, die man sich vorher ausrechnen kann, wenn nämlich die Dunkelheit einbricht. Ich würde sagen: Sie bestimmen insofern unser Handeln, als wir gezwungen werden, immer wieder auf deren Repression zu reagieren, und auch in der Art, wie sie uns gegenübertreten. Irgendwie folgt auf den Bullenknüppel zwangsläufig der Pflasterstein. Auf Pflastersteine haben die meisten überhaupt keinen Bock, ich würde zum Beispiel viel lieber meine Phantasie und meinen Ideenreichtum dazu benutzen, hier wirklich mal ein paar Aktionsformen zu finden, die irgendwie lustig sind und viel mehr vermitteln können den Leuten auf der Straße, als hier nachts über die Straßen zu ziehen und Krawall zu machen. Aber das ist ganz klar eine Sache, die uns aufgezwungen wird. Konkret heißt das für mich, wenn ich ein Haus besetze, dann will ich mir einen Raum schaffen, in dem ich eine Lebensform praktiziere, die nicht so festgefügt ist, wie das in dieser Gesellschaft aussieht, mit morgens sechs Uhr Wecker und Frühstück und in die U-Bahn setzen, arbeiten gehen, abends nach Hause kommen und das Geld, das ich verdient habe, in der Form zu verleben, daß ich es ausgebe und fernsehe, also diese Ersatzbefriedigungen konsumiere. Es geht mir darum, daß ich mir selbst als Mensch mit anderen Menschen zusammen irgendwie näherkomme und meine wahren Bedürfnisse und Fähigkeiten entwickeln und auch finden kann. Aber was hier im Augenblick wirklich läuft, das ist Nachtwache, das ist auf der Straße sein und Öffentlichkeitsarbeit machen. Die Angriffe gegen uns sind eigentlich auch ganz verständlich. Unsere Aktionen sind ein Angriff auf ihr System. Das wird an diesem Häuserkampf ganz deutlich. Wir haben in ein Wespennest gestochen. An diesem ganzen Bau- und Abriß- und Sanierungsgeschäft wird einfach deutlich, wie unmenschlich dieses System funktioniert. Auch unsere neuen Lebensformen und die Tatsache, daß wir uns aus ihrem Arbeitsprozeß ausgliedern, sind allein schon eine Gefährdung für das System. Denn das, was wir machen, reizt zur Nachahmung. Andere sehen das und sagen sich: Eh, die leben ja ganz toll, leben auch deswegen ganz toll, weil sie Rechtsübertretungen ganz bewußt in Kauf nehmen. Es wird jeden Tag klarer, daß es um mehr geht, als bloß ein Haus zu halten. Darum sind auch die Ängste in den Häusern nicht so groß, wenn eine Räumung droht. Es ist eben kaum Angst vor dem »Besitzverlust« des Hauses vorhanden. Wir betrachten die Häuser eben nicht als unseren Besitz, vor dessen Verlust wir Angst haben müßten. Denn wenn wir so ein Besitzdenken entwickelten, dann wären wir schon wieder in derselben Kiste wie unsere Gegner. Zumindest wir, die Leute hier, hätten auch nach einer Räumung noch genug Power, um weiterzumachen. Wir wissen eben, daß es um mehr als um ein Haus geht. Wir haben hier so viele gute Erfahrungen gemacht, so ein gutes Gefühl bekommen, nicht nur immer von der
Revolution gelabert, sondern konkret etwas in die Hand genommen, was erprobt und praktiziert. Das hat mit der ganzen Alternativbewegung angefangen. Wir haben versucht, einfach ein Stück von den Sachen zu realisieren, die wir im Kopf hatten, so Ideale oder so. Wie man gern leben würde, und daß man nicht darauf wartet, daß es irgendwann sein kann, wenn man genug agitiert hat, sondern daß man es einfach selber tut, nach dem Motto: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Und wir haben gesehen, daß es geht. Wir können so ein Haus instandhalten, wir können einen Betrieb aufrechterhalten, wir können zusammen leben, wir können unsere Arbeitsplätze selber schaffen. Das gibt ein Gefühl der Stärke. Während dieses System die Leute vereinzelt und isoliert und verwaltet und entmündigt, den Leuten immer zeigt, wie klein und ohnmächtig sie sind. Und wir zeigen, daß wir doch etwas auf die Beine kriegen, daß wir ganz schön stark sein können, wenn ein paar Leute wirklich wollen. Und manchmal denk ich mir: Von mir aus können die sich ihre Scheiß-Häuser an den Hut stecken, dann sollen sie uns die doch wegnehmen, wenn das weiter so geht und wir uns im Endeffekt nur aufreiben, nur noch am Hin- und Herrennen sind und uns nur noch wehren aus Prinzip, dann können sie ihre Häuser haben. Das ist mir dann schnuppe. Ist doch klar: Ich hab vorher irgendwas gemacht, und ich werde hinterher irgendwas machen. Es gibt genug Mißstände, die mir eigentlich fürchterlich stinken und gegen die ich auch weiter irgendwas machen werde. Auf der anderen Seite wird natürlich die Zusammenarbeit wieder irrsinnig schwierig, wenn dann die Leute alle vereinzelt in Wohnungen hocken. Ich sag mir auch: Wenn das so weitergeht, sollen sie sich die Häuser nehmen. Die Perspektive, die ich hatte, bevor ich hier in das Haus kam, und die ich jetzt hab, ist eine grundverschiedene. Ich hatte vorher im Kopf »Friede, Freude, Eierkuchen« und Landleben, Happiness. Das ist jetzt nicht mehr meine Perspektive, weil ich dadurch, daß ich das Haus mit besetzt habe und hier lebe, irgendwo Mißstände mitgekriegt hab: Ob das jetzt Leute im Knast sind, wovon ich vorher nie betroffen war. Aber seit ich in das Haus gekommen bin, muß ich damit rechnen, daß ich irgendwann selber mal in den Knast kommen werde. Dadurch war für mich eine Notwendigkeit da, mich mit dem Leben von Leuten im Knast auseinanderzusetzen, Informationen drüber zu bekommen und auch ein gewisses Wissen zu sammeln, um selbst damit klarzukommen, wie das für mich mal sein wird. Und egal was ich machen werde in Zukunft: Ich weiß, daß für mich eine Idylle nicht mehr drin ist. Ich will jetzt kämpfen, um zu leben. Und vorher wollte ich nur leben, um zu leben. Aber das geht halt nicht. Ich muß mir meine Freiräume erkämpfen. Und das kann ich auch. Für mich wär es nicht mehr drin, alleine zu leben oder mit jemandem zu zweit. Aber für mich,ist das nicht hier an das Haus gebunden. Ich kann auch politische Arbeit machen, wenn ich legal wohne. Zur Repression: Wenn du also fünf Monate hier gelebt hast und weißt, daß du ständig von ein paar Leuten mit Ferngläsern und Kameras beobachtet wirst, daß du mit Richtmikrofonen abgehört wirst, und wenn du mit dem Auto losfährst, gleich in die nächste Kontrolle rein und kriegst da wieder eins abgedrückt, weil irgendwo ein Reifen nicht sauber ist, denkst, du gehst auf eine Demo, und plötzlich stürmen von allen Seiten Bullen auf dich ein und prügeln dich total zusammen - mal voll zusammengeprügelt worden zu sein, ist schon eine ganz schöne Erfahrung. Ja, und jeder Linke redet wahnsinnig viel von dieser Überwachung und von diesem ganzen Computersystem und von der CIA und was da alles drinsteckt - und plötzlich ist es nicht mehr so ein Gelaber davon, sondern du spürst es jeden Tag. Du gehst irgendwo hin, und du weißt, du wirst überwacht, und plötzlich kennst du auch mal ein paar Leute, die dich überwachen, denn die siehst du immer wieder. Das sind so Gefühle. Oder auch, daß hier plötzlich CIA-Beamte eingeflogen werden, um mit der Sache klarzukommen, daß ZusatzStaatsanwälte eingesetzt werden, daß Leute aus dem Knast von Berlin rausgeflogen werden,
damit Platz für uns ist. Wenn du das alles so durchlebst - also ich hab wahnsinnige Angst vor Knast, und ich hab auch keinen Bock auf Prügel. Aber auch dann zu merken, man kommt mit der Angst klar. Du lebst mit der Angst, aber du lebst bewußt mit der Angst. Und du weißt eigentlich ziemlich, was dich erwartet. Seit wir jetzt im Knast vierzehn Stunden waren, wissen wir wieder ein Stück mehr, was uns erwartet. Und du kannst es irgendwo kalkulieren. Das geht dann bis in deine Träume rein, du träumst auch davon. Ich glaub, wenn ich diese ganzen Erfahrungen; allein gemacht hätte, dann hätte ich mir schon längst eine Kugel in den Kopf geschossen. Oder ich wär ausgewandert. Aber wenn du es mit Leuten mitkriegst, manchmal init;, 40000 auf der Straße oder eben nur mit 30 hier im Haus, dann kann es einen alles nicht mehr so bedrohen, weil es eben Sachen gibt, die einem viel wichtiger sind. Dafür riskiert man dann auch, den Schädel eingeschlagen zu bekommen oder zwei, drei Jahre im Knast zu sitzen. Dieses Gefühl, was so auf der Straße rüberkommt, wenn da viele sind, eben sich stark und nicht mehr ohnmächtig fühlen, das ist wahnsinnig toll. Und irgendwas von der Verwirklichung seiner Träume auch konkret zu erfahren, das gibt einem schon wahnsinnig Kraft. Wir haben soviel Phantasie und soviel gelernt, daß wir andere Möglichkeiten finden werden, auch wenn wir das Haus nicht mehr haben. Aber irgendwie möchte ich es nun doch an diesem Haus festmachen. Denn ich brauche einfach einen Raum oder ein Haus, wo ich all die Dinge machen kann, die ich machen will. Ich krieg am besten den Bezug zu den Dingen, wenn ich die selbst produziere. Und dazu brauch ich auch eine Werkstatt, um mit Holz arbeiten zu können, oder eine Töpferscheibe. Was wir hier machen, ist ja eine Art von Verweigerung und eine Art von Ausstieg aus der Gesellschaft, aus den Lebensformen, die die Gesellschaft uns eigentlich aufzwingen will. Wir versuchen hier schon, unsere eigene Welt aufzubauen, und die kann von mir aus gerne auch mal ein bißchen illusorisch sein oder an der Realität vorbeigehen, dagegen hab ich gar nichts. In meiner Einzimmerwohnung hab ich auch meine eigene Welt gehabt, nur der Unterschied war, daß ich dort immer hineingeflüchtet bin und eigentlich mehr so auf den Plattenspieler und das Dope abgefahren bin, aber diesen kleinen Freiraum nicht genutzt habe, um für mich produktiv was aufzubauen, so daß ich Stück für Stück die Leiter erklimmen kann bis hin zu dem von mir erträumten Paradieszustand oder so. Ich hab zwei Jahre vorher in einem Cafe-Kollektiv gearbeitet, und da konntest du gewisse Freiräume erkämpfen, das ging ganz gut, ohne Chef zu arbeiten und die Kohle so zu verteilen, wie man es braucht, und soviel zu arbeiten, wie man eigentlich Lust hat oder Geld einfach braucht. Aber da hast du auch ziemlich schnell klargekriegt, wo die Grenzen deiner Freiräume sind - eben durch diese tausend Gesetze und tausend Ämter, die da reinschneien, und die Strafen, die du kriegst, die dir echt dein Projekt kaputtmachen können. Und da leben dann 13 Leute teilweise mit Kindern davon, und das setzt du nicht so schnell aufs Spiel. Für mich war schon ein Schluß daraus: Um weitere Freiräume zu haben, muß ich eigentlich ein Stück illegal werden, muß einfach bewußt gegen Gesetze verstoßen, auch auf die Gefahr hin, daß ich dafür bestraft werde. Und das war dieser Schritt Hausbesetzung, wo ich wirklich bewußt einen illegalen Schritt gemacht habe, um mir meinen Lebensraum zu erkämpfen, weil es für mich ein Wahnsinn ist, daß jedes Stück Wiese jemandem gehört, jedes Stück Wald, sogar das Meer jetzt aufgeteilt wird. Und daß das alles Leuten gehört, die da nicht leben und die trotzdem drüber bestimmen, wie das ausschaut. Das hier ist für mich eine Zurückeroberung von Lebensraum. Wir müssen also gegen Regeln verstoßen. Ich kann mich nicht so einfach in meine Privatwelt - auch mit 30 Leuten - zurückziehen und verpissen und sagen, ich hab mit den anderen Leuten nichts zu tun: Wenn die die Preise hochsetzen oder einen Krieg machen, oder wenn die Atombomben hier reinstellen oder Atomkraftwerke hier aufbauen, hab ich damit was zu tun. Also gibt es eine Einlösung unserer Vorstellungen nur im Angriff gegen das, was läuft. Und das wird eigentlich ein ewiger Kampf, weil das Dimensionen annimmt, das geht in die weltweiten Kisten rein. Ich hab auch keinen Bock, mir eine Bombe auf den Kopf schmeißen
zu lassen, wenn die Nato oder der olle Reagan jetzt irgendeinen Mist anzetteln, muß ich das ausbaden. Also ist das auch was, wogegen ich kämpfen muß. Aber was du sagst, das betrifft eigentlich immer nur die Ebene des Kampfes gegen den Staat. Wie ist denn das eigentlich mit dem Kampf »für uns«? Also das kann ich eigentlich überhaupt nicht so nachvollziehen, da hab ich überhaupt nicht das Gefühl, daß ich da viel auf die Reihe kriege, weil ich denke, daß dieser Raum oder diese Welt, die wir jetzt hier haben, irgendwie in Korrespondenz zu der Welt draußen steht, aber in einer dermaßen verzerrten Weise: Bullenknüppel oder halt diese Auseinandersetzung mit den Bullen - ich bin einfach nicht fähig dazu, mich jetzt hier mit dir hinzusetzen und unsere Feelings oder so rüberkommen zu lassen und Wärme und so, wenn wir die Nacht durchgemacht haben und laufend Kaffee gesoffen und Zigaretten geraucht haben und der Körper eigentlich sowieso schon total im Arsch ist bis zum Scheintod, dann also noch was zu entwickeln so für mich. Für mich heißt weiterkommen zu einem neuen Leben, auch tiefer in mich selbst hineinzukommen und mal zu wissen, was eigentlich mit mir los ist: dieser ganze Müll, der sich so aufgetürmt hat jetzt auf mich zum Beispiel als Mann. Was meine Sensibilität zu meinem Körper anbetrifft und so. Das kann ich hier in den Verhältnissen, in denen wir zur Zeit leben, überhaupt nicht aufbauen, sondern im Gegenteil, das wird noch zugeschüttet. Vor gut einem Jahr gab es hier in Westberlin kaum 30 besetzte Häuser. Heute sind es schon über 150. Worauf führt ihr diese Entwicklung zurück/ Liegt es an der Stärke der Hausbesetzerbewegung, und wenn - wodurch zeichnet die sich aus? Ich weiß nicht, woran ich die Bewegung messen soll. Ich will sie nicht daran messen, daß sie funktioniert, indem mal wieder eine gute Straßenschlacht gelaufen ist. Ich bin allmählich soweit, daß ich mir sag, die Bewegung besteht darin, daß das gemeinsame Ziel erstmal das ist, daß es so nicht weiterlaufen kann. Irgendwas muß sich verändern. Ich würd schon sagen, daß jedes Haus sein eigenes Charakteristikum hat. Da gibt es Häuser, die sich hauptsächlich um Knastarbeit kümmern, oder andere, die sich nur um das Haus kümmern und halt das Leben innerhalb des Hauses auf die Reihe zu kriegen versuchen. Andere Häuser kümmern sich nur um Instandsetzung und so weiter. Das ist ein sehr breites Spektrum. Ich würde sagen: Die Bewegung zeigt sich darin, daß eine ganze Menge Leute da sind, denen irgendwas stinkt, die keinen Bock drauf haben, wie das bürgerliche Leben funktioniert. Und egal, wie weit die in ihren Entwicklungsschritten sind, wie weit sie sich gegen Repression von außen wehren - das will ich nicht beurteilen. Ich hab im Kopf, daß eine Zeitlang immer von der Hausbesetzer-Bewegung geredet wurde. Und jetzt hört man eher resignative Töne. Also ich glaub, die Euphorie kam daher, daß das gemeinsame Ziel da war: Die Leute müssen aus dem Knast. Ich spreche jetzt nur für mich. Aber das gemeinsame Ziel hat meines Erachtens auch eine ziemliche Stärke gegeben unter den Leuten und einen gewissen Zusammenhalt. Das gemeinsame Ziel »die Leute müssen aus dem Knast« ist nicht verwirklicht worden, weil die Leute halt nicht raus sind. Das hat man auch an den einzelnen Sachen gesehen, wie zum Beispiel, als das Papier »Treuhand-Vertrag« aufkam: was da doch für eine Spaltung durch die Reihen ging. Da kam raus, daß der gemeinsame Konsens, solange nicht zu verhandeln, bis die Leute aus dem Knast sind, weg war, weil einige Leute echt nicht mehr daran glaubten, daß diese Forderung durchsetzbar sei. Und dann sind halt auch ziemlich viele Durchsuchungen gelaufen zu der Zeit, als das Treuhandmodell rauskam, und einige Leute hatten echt Angst um ihre Häuser. Und sie haben versucht, die zu sichern, indem sie meinten, sie müßten auf das Treuhandpapier eingehen. Ich würd nicht sagen: einen Schritt zurückgehen, aber für sich klarzumachen, bis hierher konnten wir gehen und nicht weiter.
Es gab einige in der Bewegung, die sprachen von Verrat? Ja, das hört sich so an wie ein Fußballverein. Ich würd nicht von Verrat reden, weil wir alle Individuen sind, und das möchte ich auch klarhaben, daß wir Leute sind, die alle verschiedene Ideen haben. Und das, was zum Beispiel uns im Haus hier zusammengeführt hat, war eigentlich, daß wir zusammen Kulturarbeit machen wollten. Wir kannten uns vorher nicht und wollten zusammen was auf die Reihe kriegen. Manchmal finde ich das ganz gut, wenn ein gemeinsamer Konsens ist, wenn's darum geht, gegenüber Politikern gemeinsam aufzutreten. Aber wenn wir immer auf einer gemeinsamen Linie wären, wie bei den etablierten Parteien, käme auch keine Veränderung zustande. Dann würde ich sagen: Die Bewegung ist kaputt. Weil sich nichts mehr bewegt. Aber wenn ich so an die Jusos oder die Jungdemokraten denke, die besetzen auch leerstehende Häuser? Wäre eine Mitarbeit in einer solchen Organisation denkbar? Für mich ist eine Mitarbeit in so einer Schwachsinnsgruppe wie beispielsweise den lusos überhaupt nicht drin. Ich kann nicht auf der einen Seite gegen Berufsverbote sein und auf der anderen Seite gezwungen sein, dem Schmidt nicht ans Bein zu pinkeln. Das ist ein Unsinn, ein Widerspruch in sich. Für mich ist es sehr wichtig, damit ich überhaupt politisch arbeiten kann, daß ich mir bestimmte Leute aussuchen kann, zum Beispiel auch gegen andere Leute in der Bewegung was sagen darf. Und das ist sehr angenehm, daß man sich da nicht nur politische Leute aussucht, sondern auch Leute, mit denen man zusammenleben möchte. Also, wenn einem das Lebensziel in dem einen Haus nicht gefällt, daß man sich durchaus nach einem anderen umsehen kann, ohne irgendwo einen Rückhalt zu verlassen, und daß man auch politisch in dem Haus, in das man reinkommt, auf einer Linie ist, die irgendwo nicht ganz der Linie entspricht, die ein anderes Haus hat, und daß man sich in der Fraktion auch mit anderen Ideen auseinandersetzen kann, aber daß auf jeden Fall die Diskussion zwischen einzelnen Gruppen nicht abgewürgt wird. Also durch eine mächtige Partei oder so. Das ist ja auch so eine Sache wie Minderheitenschutz. Wenn so eine Pression käme, wenn andere Leute andere Entscheidungen träfen, wäre das ja schon wieder eine Form von Staat: wo eine Mehrheit was machen will, und wenn die Minderheit nicht mitzieht, kriegt sie Druck. Und zu unseren Vorstellungen gehört eben auch ein Minderheitenschutz. Wir machen zum Beispiel auch keine Abstimmungen, sondern reden so lang, bis ein Konsens da ist oder nicht da ist, und dann fällt halt das Ding flach. Also, wenn jetzt so eine Direktive käme, daß ein paar sagen: Wir wollen verhandeln, und die anderen wollen nicht Verhandeln, daß die dann Repressionen kriegen, das nicht. Da muß ich dir aber ganz schön widersprechen. Ich meine, wir sagen zwar immer, wir wollen Minderheitenschutz, aber wenn irgendwo Diskussionen sind, kommt es oft so raus, daß die, die am lautesten schreien, durchkommen. Das sind so Sachen, die wir gerade aufarbeiten, aber die bei uns noch längst nicht o. k. sind. Für die rebellierende 68er-Generation hatten Theoretiker wie Marx, Reich, Marcuse eine wesentliche Bedeutung. Sind die für euch tot und wenn ja, gibt es andere Leitbilder, an denen ihr euch orientiert? Die haben in unserer eigenen Geschichte und Entwicklung vielleicht eine Bedeutung gehabt. Im Moment haben sie für mich zum Beispiel keine Bedeutung mehr. Es gibt auch ganz wenig Sachen an Büchern oder auch Theater und Musik, die das ausdrücken, was ich im Moment fühle oder wo ich so Hilfen krieg. Und das ist auch so ein Punkt, den wir immer im Auge
hatten: das, was jetzt da ist, auch selbst auszudrücken, also eben zu versuchen, ein anderes Theater oder neue Lieder zu machen und auch selbst was zu schreiben. Wir kommen im Moment kaum dazu. Aber ich glaub, daß da von uns noch viel kommen wird zu dem, was uns so in den Köpfen rumgeht. Denn entweder es gibt dazu nichts, oder du kriegst so was eben kaum. Nur so kleine illegale Raubdrucke oder so. Man kann ja eigentlich auch vom Staat nicht erwarten, daß er uns die Literatur gibt, wie man ihn bekämpft. Also bei uns im Haus ist schon so eine Entwicklung da. Wenn ich so seh, was wir zu Anfang gemacht haben: Sehr viel im Haus, wir haben uns sehr drauf spezialisiert, das Kulturzentrum zu machen. Und das hat sich mit der Zeit verlagert, daß wir mehr politische Sachen machen. Politisch mein ich jetzt: Straßenkampf, Öffentlichkeitsarbeit, Knastarbeit, Demos in Westdeutschland, die wichtig sind - da gibts tausend Sachen. Das hat sich also verlagert. Ich würd nicht sagen, daß bei uns oder bei mir der militante Weg vorgeschrieben ist. Das ist er nämlich nicht bei mir, denn ich weiß immer noch, was ich will, ich hab meine Träume, und ich weiß, wie weit ich gehe. Wo meine Ängste halt größer werden als mein Mut. Für mich ist das ganz wichtig, daß ich immer weiß, was will ich, was hab ich im Kopf, wofür bin ich hier. Manchmal muß ich mich auch hinsetzen und mir das noch mal zurückrufen, damit ich mich nicht verliere in dem ganzen Wust an Arbeit, der da ist, in der ganzen Hektik. Mir ist mal bei einer Straßenschlacht passiert, daß sie da Leute zusammengeprügelt haben, und ich stand hinter den Bullen. Und auf einmal rasen ein paar Leute los, es stehen vier Bullen allein, und da rasen ein paar Leute los und ich mit. Da haben wir die vier Bullen zusammengewichst. Aber ich hab nicht mehr überlegt, ich hab nur noch gehandelt. Und nachher zu Hause hab ich mir überlegt: Was hast du denn eigentlich gemacht, ist das noch das, was du willst? Also ich hatte echte Gewissenskonflikte, was ich eigentlich nicht gedacht hätte. Ich weiß da echt nicht, wie ich vorgehen soll, denn bei mir ist immer noch im Kopf: Ich brauch einem Schwein nicht auch als Schwein zu begegnen. Irgendwo denk ich immer, ich brauch mich nicht auf dieselbe Stufe zu setzen wie jemand anders. Aber ich weiß nicht, wie ich den Konflikt geregelt krieg Wenn ich mich nämlich nicht auf dieselbe Stufe setze wie die, dann muß ich andere Aktionsformen finden. Aber die hab ich noch nicht gefunden. Das ist immer so: Knüppel Pflasterstein, immer dasselbe Raster. Da möcht ich gern rauskommen. Also ich glaub nicht, daß wir auf derselben Stufe stehen. Auch wenn wir gezwungen werden, ähnlich zu handeln und auch wenn so ein Weg in eine militantere Richtung gehen, würde, das wär immer noch ein Handeln aus Bewußtsein und Überzeugung, und nicht, um jemandem weh zu tun. polizisten sind eben Leute, die den Auftrag haben, jemandem weh zu tun, die das teilweise ungern machen, teilweise aber auch wahnsinnig gern. Sie wollen uns in das kriminelle Raster reinhaben, wo wir ganz aktiv irgendwelche - ich sag jetzt mal kriminelle Aktion machen. Da können sie uns bekämpfen. Aber ich weiß nicht, wie ich das regeln soll. Ich hab manchmal total Angst, weil ich denke, daß Schaufenster einschmeißen überhaupt nicht soviel nützt, daß man wesentlich konsequenter vorgehen müßte, um wirklich was kaputtzumachen und was klarzumachen auch. Da reicht das echt nicht, nur Schaufensterscheiben einzuschmeißen. Auf der anderen Seite wird mir schon schwummrig, wenn ich nur dran denke, wirklich Scheiben einzuschmeißen. Weil ich das Ding irgendwo auch noch drinhab, ich mach echt was kaputt. Das ist mir so anerzogen worden. Wenn es klirrt, dann stehen mir echt die Haare zu Berge. Da gibt es viele Leute, die sagen, warum schmeißt ihr denn Scheiben ein und prügelt euch mit den Bullen, ihr müßt die richtigen erwischen. Das denk ich mir auch manchmal. Ich mein, bei den Bullen sind echt auch Schweine, wo ich keine Gewissensbisse hab, aber ich denk mir auch, vielleicht erwischst du absolut den falschen. Du müßtest die richtigen treffen. Aber erst mal ist schon mal ganz schwer klar zu kriegen: Wer sind die richtigen? Das ist so ein Wust
von Verwaltung und Abhängigkeiten und austauschbaren Stellen, die da eigentlich nur noch so Marionetten sind. Und dann die richtigen zu erwischen - das geht in eine Richtung, wo ich nicht unbedingt Bock hab im Moment, die einzuschlagen. Da müßte ich einfach anders leben, und ich weiß nicht, ob ich das Leben noch vermitteln kann. Und ich will eben auch mein Leben vermitteln können, ich will nicht nur vermitteln, daß die Leute in der Zeitung lesen, daß irgendwas hochgesprengt wird und daß irgendwo Scheiben eingeschlagen werden. Ich will, daß die auch sehen, wie ich leb. Daß nicht wie aus der RAF so Monster gemacht werden, die man gar nicht mehr beerdigen darf. Ich möcht einfach vermeiden, daß die aus uns so Monster machen. Aber du wirst teilweise einfach zum Monster gemacht, du kannst mit niemand mehr reden, weil du immer Angst haben mußt, daß der dich irgendwo kascht oder so. Und ich möcht so leben können, daß die Leute sehen, daß ich leb, und sich mein Leben angucken können. Was wir hier machen mit dem öffentlichen Haus: daß die Leute reinkommen können. Und daß das nicht irgendwo hinter Tüchern und Masken verhüllte Monster sind, die nur Bock haben, irgendwas kleinzuschlagen. Das sind wir einfach nicht. Wobei ja auch irre ist, daß die glauben, daß wir wegen der Masken nicht dahinterstehen, daß wir die Masken deswegen aufhaben, damit wir nicht erkannt werden, weil wir hinter den Sachen, die wir machen, nicht stehen, daß den Bürgern nicht vermittelt wird, daß das Schutz ist. Da hab ich wirklich Schwierigkeiten, das meiner Mutter mal zu erklären. Diskutiert ihr eigentlich in der Gruppe, wieweit die Militanz in der aktuellen Auseinandersetzung gehen kann, oder macht das jeder für sich selbst klar. Wo sind da überhaupt Grenzen oder verändern die sich sogar mit der Zeit? Angefangen hat bei mir die Politisierung vor anderthalb Jahren, als ich nach Berlin gekommen bin. Vorher hab ich in Westdeutschland eifrig Kunstgeschichte und Philosophie studiert. - In meiner Wohngemeinschaft, da ging es grad um die Chamisso-3-Besetzung, da sitzen die um den Tisch, total konspirativ. Ich hatte richtige Angst: Das ist doch illegal und so. Also ich war total unpolitisch. Ich wollte bloß meine Kunst machen und sonst überhaupt nichts wissen. Und dann waren das gute Freunde, wo ich auch meine Bedenken äußern konnte, ohne verarscht zu werden. Wir haben drüber geredet, ich bin mit rein in die Chamisso 3, und wir haben Unterstützer gemacht und sind von den Bullis rausgeworfen worden nach ein paar Tagen. Der nächste Punkt war, daß ich aktiv eine Besetzung vorbereitet hab, die dann in die Hosen gegangen ist, weil sie einen Tag zuvor Umsetzmieter reingesetzt haben. Und dann hat sich unheimlich viel auf politischem Niveau abgespielt, in der Gruppe - ich war bei einer freien Theatergruppe -, wir haben ziemlich viele Diskussionen geführt auch wegen der Stücke, wo der anarchistische Grundgedanke eben auch drin war. Und wir haben als Gruppe beschlossen, ein Kulturzentrum zu besetzen. Die erste Debatte ging dabei ums Kerngehäuse, wo wir gesagt haben, das können wir beides nicht schaffen, die nächste war dann die Anhalter Straße, wo wir als Gruppe reingegangen sind und wo ich mir über die Konsequenzen auch noch nicht so klar war. Da waren vorher die Auseinandersetzungen am 12. Dezember, wir sind von einer Tournee zurückgekommen und gleich auf die Straße gegangen, und das war ein echt einschneidendes Erlebnis. Vorher hab ich das alles bloß in der Zeitung gelesen. Als wir dort hingegangen sind, sind wir auch tierisch zusammengeknüppelt worden, sind wirklich fünf Stunden rumgetrieben worden, wir sind nur noch gelaufen. Und was ich da erlebt hab, das hat sich bei mir eigentlich unheimlich festgesetzt. Das ist die entscheidende Wende gewesen, was die Konsequenz anbelangt bei mir selbst, was ich mache, ab ich jetzt ein Haus besetze oder das als Betrachter mitvollziehe. Und dann bin ich hier reingekommen und hab die Entwicklung in dem Haus mit durchgemacht. Was bei uns im Haus unheimlich toll ist: daß es militantere gibt und weniger militante, aber daß die Leute total offen sagen können, sie können noch keine Fensterscheiben einschmeißen. Oder wenn sie wisseri, es gibt Krawall, sie
können da noch nicht hingehen. Daß das total akzeptiert wird, wenn jemand einfach nicht hingehen kann, weil er zuviel Schiß hat, und weil er noch nicht soweit ist. Du machst eine Entwicklung durch: von der Wut und wie du diese Wut umsetzt, ob du dich jetzt mehr in den Öffentlichkeitsbereich begibst, indem du sagst, ich mach die Öffentlichkeitsarbeit und die andern gehen mehr auf die Straße. Und da hab ich auch die Entwicklung durchgemacht, daß ich zuerst nur auf die friedlichen Demos gegangen bin. Und dann wußte ich aber, jetzt ist das und das angesagt, und bin mit Leuten gegangen, wo ich echt ein total gutes Gefühl hatte. Wo ich auch wußte, daß ich getragen und nicht im Stich gelassen werde. Da hab ich das erste Mal in meinem Leben einen Pflasterstein geworfen. Und wir sind unheimlich gewetzt. Und ich hab das bis jetzt noch nicht wieder auf die Reihe gekriegt, weil ich unheimlich Angst hab, obwohl ich mich ständig in die Gefahr begebe. Es ist nicht so, daß ich nicht mehr auf Straßenschlachten gehe. Bloß will ich mir halt zugestehen, daß ich das schrittweise mache und daß diese Militanz mir eben schon aufgezwungen wird. Daß ich so eine Wut entwickeln kann, daß ich dann eben auch so komische Sachen mach wie Schaufenster einschmeißen, wo ich mir nicht so im klaren bin, ob sie überhaupt Konsequenzen haben. So eine Weiterentwicklung in die Militanz liegt auch an der politischen Situation. Wenn die jetzt weiter so machen, sobald du dich auf der Straße triffst, daß die dich zusammenknüppeln, dann gibt es halt zwei Möglichkeiten: Entweder du machst nichts mehr oder du machst andere Aktionsformen, die eine Weiterentwicklung in die Militanz sind. Also ich möchte das bewußt machen, ich möchte da nicht so reinrutschen. Ich möchte nicht in so Zwangsläufigkeiten reingeraten wie die RAF-Geschichte. Daß da Aktionen gezielt gegen Computer gegangen sind, um den Krieg in Vietnam zu stören, das ist eine Sache, wo ich vom Gefühl voll dahinterstehen würde. Dann fahren deine Leute ein, mit denen du zusammen bist, und dann wird noch viel stärker als jetzt schon Gefangenenbefreiung ins Spiel kommen. Und die Gefangenen rauszuholen, da hast du ganz wenig Möglichkeiten; es bietet sich halt an, Gegengefangene zu nehmen, und dann kommst du irgendwo darein, wo dich keiner mehr versteht, wo du einfach nicht mehr vermittelbar bist. Dann bist du irgendso ein Monster, das sich jetzt so einen Typen krallt, und da kommen soviel Zwangsläufigkeiten, in die ich einfach nicht reingeraten will. Und bei solchen Sachen möchte ich mir den Raum nehmen, so was ganz bewußt zu machen oder eben nicht zu machen. Zum Beispiel Straßenschlachten, das betrachte ich auch als Öffentlichkeitsarbeit. Denn die ganzen lieben Leute, die hier wohnen, die kriegen das ja voll mit, was hier an Aufgebot herrscht. Wenn so 50 Hanseln auf der Straße rumhüpfen, und da kommen so 15 Wannen angefahren und die machen den totalen Aufmisch. Da haben die auch mal mitgekriegt, mit was für Methoden vorgegangen wird. Da kommen die schon ein bißchen ins Nachdenken, was das bedeutet mit der Polizeigewalt, wie die angewendet wird. Und daß sie sich Fragen stellen, in welchem Verhältnis das eigentlich steht. Da sind ein paar Leute, die besetzen Häuser und die werden mit solchen Mitteln unterdrückt und kleinzukriegen versucht. Ich glaub, ohne die bürgerliche Öffentlichkeit wären wir überhaupt nicht so weit, wie wir sind. Als wir damals die vier Bullen zusammengewichst haben, sind wir gelaufen, weil eine Hundertschaft hinter uns herkam, und auf einmal ging ein großes Tor auf: »Hier rein, hier rein!« Da standen Oma und Opa, Kinder, Eltern, und die meinten zur Polizei: »Da oben sind sie lang.« Und zu uns: »Stellt euch hinter uns.« Und dann: »Macht so weiter« und haben uns wieder entlassen, als die Bullen vorbei waren. So Sachen passieren. Oder daß Leute oben am Fenster stehen und ganz cool meinen: »Es kommt alles wieder.« Also ich glaub, ohne das wären wir echt nicht so weit. Und damals hat mir das schon Kraft gegeben, weiter dazubleiben. Ich wollte nach dem Gewichse echt nach Hause gehen, denn für mich war das eine Nummer zu groß, für mich, die ich noch nie
einen Stein in die Hand genommen habe, und das erste, was ich mache, ich wichs Bullen zusammen. Da hatte ich so einen leichten Nervenknacks. Aber dadurch, daß die Leute so eine moralische Unterstützung gegeben haben, dadurch, daß sie die Tür aufgemacht haben, bin ich weiter dageblieben. Und das hat mir echt was gebracht. Diese Unterstützung bei den Leuten versteh ich so: Wenn eine militante Aktion ist, soll das eine Ausführung von dem sein, was eigentlich an Gefühl bei den Leuten, die da leben, da ist, also zum Beispiel hier bei den Betroffenen in Kreuzberg. Wo eigentlich wir, dadurch daß wir aus so Familienkisten raus sind, aus verschiedenen Zwängen draußen sind, damit so einen unausgesprochenen Wunsch auszuführen. Also irgendwo mit dem Rückhalt der Bevölkerung. Das ist ziemlich unterschiedlich, aber grade in den Betroffenenbezirken ist der einfach da. Das äußert sich auch darin, daß von den Fenstern Blumentöpfe auf die Bullen geschmissen werden, wenn die angreifen. Oder daß einfach Türen aufgehen und dich die Leute reinzerren und unter ihren Betten verstecken. Oder daß Opa einfach nachts um vier aufsteht, sich in seinen Diesel setzt, und wenn die Wannen kommen, den vor denen absterben läßt, daß die nicht an uns rankommen. Das sind Sachen, da merkst du, du bist jetzt nicht im Leerlauf, du bist nicht in einer Blase, sondern der Bezug ist noch da. Und der ist wahnsinnig wichtig. Also mich überrascht das. Bei 75 Prozent Springer-Presse in dieser Stadt sprecht ihr von einer moralischen oder konkreten Unterstützung der bürgerlichen Öffentlichkeit? Das kriegst du in den Betroffenengebieten ganz stark zu spüren. Das sind die Leute, die von der Sanierung in Kreuzberg betroffen sind oder am Winterfeldplatz in Schöneberg. Da war auch eine unwahrscheinliche Unterstützung. Da war's ganz toll. Und da sind wir wieder bei den Minderheiten: Das sind eben Minderheiten, die Betroffenen. Die Leute, die in Zehlendorf oder in der City sitzen, die von dem ganzen Mist eigentlich nichts mitbekommen, die würden uns auch schlecht verstehen, und da ist es wahnsinnig schwierig, das Ding zu vermitteln. Aber die Leute, die wirklich in den Häusern sitzen, um die es geht, oder um die Häuser rum, ich glaub da versteht uns der größte Teil und steht auch dahinter. Den Leuten auf dem Kudamm, denen kannst du das überhaupt nicht vermitteln. Ich hab den Anspruch schon gar nicht mehr, daß ich denen vermitteln möchte, daß die Scheiße leben. Ich möchte denen nur vermitteln, daß die akzeptieren, daß es auch andere Lebensformen gibt. Wenn die Leute so leben wollen, sollen sie das, aber sie sollen nicht versuchen, mich auf ihren Trichter zu bringen. Soweit kannst du sie aber nicht bringen, daß sie das akzeptieren. Weil du nämlich mit der Form, wie du jetzt leben willst, genau deren Interessen entgegenstehst. Und da wehren sie sich mit Händen und Füßen, mit der ganzen Staatsmacht. Und das ist für mich der Grund, daß ich jetzt klar gekriegt hab, daß ich nicht mehr durch »Love and Peace« und durch Blabla und Demos und Schreien was erreiche, sondern daß ich auch wirklich mal handgreiflich werden muß. Das geht einfach nicht in deren Köpfe rein, daß sie dich akzeptieren und dich leben lassen. Das Leben, das wir führen wollen, das müssen wir uns wirklich erkämpfen. Also meine Eltern zum Beispiel, die waren auch total dagegen: Hausbesetzungen, das kannst du doch nicht machen, Illegalität und so weiter! Ich hab mich mit denen sehr lange auseinandergesetzt. Aber gestern haben sie angerufen, und als ich erzählt hab, daß ich im Knast gesessen hab, haben sie gemeint: »Jetzt können wir dich verstehen.« Meine Mutter war total entsetzt und meinte: »Ja, vielleicht hast du recht.« Aber im gleichen Atemzug meinte sie dann, sie würde nicht verstehen, warum wir die Bullen angreifen. Dann sollten wir zu den Leuten gehen, die die Staatsmacht direkt auf uns ausüben. Also ich glaub, dadurch daß ich mich mit denen sehr oft auseinandergesetzt hab über das, was mir im Kopf rumschwebt, wie ich leben will und daß ich eben nicht meine Füße unter meines Vaters Tisch haben will,
verstehen die mich schon. Ich kann sagen, daß meine Eltern mich jetzt aktiv unterstützen, damit ich leben kann, wie ich will, und daß sie nicht immer versuchen, mich in ihre Lebensform reinzupressen, wie das die ganze Zeit war, als ich zu Hause gewohnt habe. Aber so sind deine Eltern auch direkt Betroffene, weil du jetzt drinsteckst. Mein Vater hat auch wahnsinnig viel kapiert, der bezeichnet uns jetzt als Freiheitskämpfer. Ich hab ihm ein ganzes Paket mit Büchern geschickt, die er lesen wollte, aber da ist eben so eine Betroffenenseite da, weil ich irgendwo drinsteck. Also meinem Vater kann ich's vermitteln, aber am Kudamm einfach nicht, die würden mir auch nicht zuhören. Ich sehe einfach, daß wir die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz nie haben werden. Ich hab den Leuten schon noch was zu sagen. Soll mir einer mal:, jemanden zeigen, der sagt, er ist zufrieden, er lebt gern so, wie er lebt, er geht gern in sein Büro und sitzt da seine zehn Stunden drin und geht dann heim, hockt sich vor den Fernseher und kauft sich dafür einen Sessel für 3000 Mark. Ich hab länger in der Fabrik gearbeitet, da war kein einziger, der gesagt hat, er lebt gern so. Das war eine totale Unzufriedenheit. Und wenn ich glaub, eine Ahnung davon zu haben, wie man besser leben kann, wie man echt zufrieden leben kann, und ich fühl mich gut - trotz allem Mist fühl ich mich wahnsinnig gut - dann hab ich schon irgendwo das Bedürfnis, das auch zu vermitteln.
Rechtsfreie Räume Der Verfasser ist Strafverteidiger in Berlin »Der Angeschuldigten wird zur Last gelegt, am 12. Dezember 1980 in Berlin-Kreuzberg anläßlich einer nicht genehmigten Demonstration aus einer etwa 150 Personen umfassenden Menschenmenge, die mit Steinwürfen auf die zur Räumung der Straße eingesetzten Polizeikräfte eindrang, einen Mosaikpflasterstein gegen die Polizeibeamten geworfen und später bei ihrer Festnahme durch die Polizeibeamten H. und M. um sich geschlagen und getreten zu haben, wobei M. von einem Fußtritt getroffen wurde... Die Angeschuldigte hat eine hohe Freiheitsstrafe zu erwarten. Diese Straferwartung bestimmt sich nicht nur nach dem erheblichen Ausmaß der Gewalttätigkeiten, die die Angeschuldigte gegenüber den zur Räumung eingesetzten Polizeikräften und anläßlich ihrer Festnahme begangen haben soll. Von maßgeblicher Bedeutung ist auch, daß, nach dem Ergebnis der Ermittlungen und für die Angeschuldigte erkennbar, die Menschenmenge von vornherein das Ziel verfolgte, schwere Ausschreitungen zu begehen... Es liegt daher nahe, daß gegen die Angeschuldigte auf eine Freiheitsstrafe erkannt werden wird, die schon wegen ihrer Höhe nicht nach § 56 Abs. 1, Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Sollte die Angeschuldigte, was der Senat für wenig wahrscheinlich hält, zu einer geringeren Freiheitsstrafe verurteilt werden, so wird voraussichtlich die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung der Strafe gebieten (§ 56 Abs. 3 StGB)... Der Angeschuldigten wird nachzuweisen sein, daß sie die bewaffnete Auseinandersetzung mit der Polizei gesucht hat. Würde unter diesen Umständen eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt, so müßte das den Eindruck erwecken, daß die Gerichte gegenüber Straftätern, die in besonders schwerer Weise die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt haben, ungerechtfertigte Nachsicht üben. Eine solche Einschätzung strafbaren Verhaltens würde in der Bevölkerung auf Unverständnis stoßen und deren Vertrauen in eine wirksame Strafrechtspflege nachhaltig erschüttern... Kammergericht (Berlin), Beschluß vom 22. 1. 1981 - 4 Ws 15/81 -, in der Strafsache gegen Rita M. Drei Richter haben diesen Beschluß abgefaßt: • • • • •
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der Vorsitzende Meyer, Mitverfasser des berühmten Großkommentars zur
Strafprozeßordnung von Löwe-Rosenberg;
die Beisitzerin Heyland, Mitglied des Ehrengerichtshofes gegen Rechtsanwälte in Berlin; der Beisitzer Kubsch, weiland Vorsitzender der Staats schutzkammer beim
Landgericht Berlin. Ihr Beschluß heißt im Klartext:
Wer Steine schmeißt, bekommt aller Voraussicht nach mindestens zwei Jahre
Freiheitsstrafe; da gibt's keine Bewährung mehr.
Sollte sojemand unverständlicherweise weniger als zwei Jahre bekommen, so gibt es dennoch keine Bewährung: die Strafe muß dann vollstreckt werden, um die Rechtsordnung zu verteidigen; denn: Bewährung - das würde die Bevölkerung nicht verstehen; ihr Vertrauen zur (Straf-) Justiz würde erschüttert.
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Und die Motive eines Steinwerfers hat man wie folgt einzuschätzen, damit nicht etwa mildernde Gedanken auf kommen: Sein Ziel ist es grundsätzlich, schwere Ausschreitungen zu begehen, er sucht die bewaffnete Auseinandersetzung mit der Polizei.
Das unmittelbare Ergebnis dieses Beschlusses war: Rita M. mußte wieder in die Haftanstalt. In der Vorstellung von Polizei und Justiz hat sich die Geschichte wahrscheinlich so abgespielt: Am Abend des 12. Dezember 1980, gegen 18.00: Uhr, begab sich Rita M. auf die Suche nach der bewaffneten Auseinandersetzung mit der Polizei. Die Voraussetzungen waren günstig. Sie hatte gehört, solche Auseinandersetzungen seien rund um das Kot tbusser Tor in Kreuzberg zu finden. In der Tat - so war es. Dennoch gestaltete sich die Suche der Rita M. zunächst schwierig: Ihr Ziel, schwere Ausschreitungen zu begehen, konnte sie zunächst nicht erreichen, weil sie stundenlang vor Polizeibeamten fliehen mußte. Endlich, kurz nach halb zehn am Heinrichplatz, gelang es ihr, vor erneut anrückenden Beamten, nicht rechtzeitig zu fliehen und sich festnehmen zu lassen. Zuvor hatten sich ebenfalls fliehende, aber offenbar rechtstreue Bürger sich geweigert, sie mit in eine Wohnung in der Oranienstraße zu nehmen. Am 13. Dezember verkündete man ihr den Haftbefehl, ein Vordruck, in dem das meiste schon geschrieben stand. Auch »die Tat« war vorgedruckt: »Der/Die Beschuldigte warf aus einer Gruppe von Demonstranten im Bereich der ... einen Stein gegen die zur Räumung eingesetzten Polizeibeamten und konnte unmittelbar darauf festgenommen werden.« Rita M. hatte noch Glück: Sie konnte wenigstens lesen, was ihr vorgeworfen wurde. Andere, die am selben Tag den gleichen Vordruck erhielten, hatten weniger Glück. In der Eile waren die individuell einzusetzenden Kurzangaben zu Zeit, Ort, Zeugen und Haftgrund über den vorgedruckten Text getippt worden, man durfte raten, was wohin gehören sollte. Rita M. hatte auch in anderer Hinsicht Glück: Noch vor Weihnachten, am 23. Dezember 1980, gewährte ihr ein anderer Richter Haftverschonung, sie sollte aus der Haft entlassen werden und sich zweimal wöchentlich bei der Polizei melden. Der Staatsanwalt legte sofort Beschwerde ein und beantragte, dieser Beschwerde eine aufschiebende Wirkung zu geben, also Rita M. in Haft zu lassen, bis über die Beschwerde entschieden sein würde. Rita M. hatte immer noch Glück: Der Richter wies diesen Antrag des Staatsanwalts zurück, sie wurde entlassen. Andere hatten dieses Glück nicht. Insgesamt gab es in jener »ersten« Nacht - 12./13. Dezember 1980 - 58 Festnahmen. Es waren 18 Frauen und 40 Männer. 19 Festgenommene waren unter 21 Jahre alt, 32 Personen waren zwischen 21 und 30, die übrigen 7 waren über 30 Jahre. alt. 36 Festgenommene wurden dem Haftrichter vorgeführt, 25 erhielten Haftbefehle, davon saßen Ende 1980 noch 5 und bis Ende Juni 1981 noch 2 in Untersuchungshaft. Das Glück der Rita M. dauerte bis zum 22. 1. 1981. Am 12. Januar verwarf die 4. Strafkammer des Landgerichts Berlin die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen ihre Haftverschonung im wesentlichen mit folgender Begründung: »Einerseits ist die konkrete Straferwartung eher im unteren als mittleren oder gar oberen Bereich des gesetzlichen Strafrahmens zu suchen, andererseits hat die Angeschuldigte jedenfalls bisher durch prompte Erfüllung ihrer Meldepflicht Anzeichen dafür geschaffen, daß sie sich unter der Drohung sonstiger Wiederverhaftung dem Verfahren nicht zu entziehen gedenkt.«
Dagegen legte der führende Sachbearbeiter für die »Kreuzberger Krawalle« bei der Staatsanwaltschaft, Staatsanwalt Müllenbrock, umgehend weiterp Beschwerde ein und begründete diese damit, daß »Anhaltspunkte dafür, daß die >konkrete Straferwartung eher im unteren als mittleren Bereich< des Strafrahmens liegt... angesichts des widersetzlichen Verhaltens der Angeschuldigten entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts m. E. nicht erkennbar« seien. Hierzu kommentierte der Vorsitzende der 4. Strafkammer kurz und bündig in der Akte: die Auffassung der Staatsanwaltschaft lasse sich »nach hiesiger Ansicht kaum mit der Tatsache der AnkIageerhebung vor dem Schöffengericht vereinbaren«. Weitere Beispiele für die überzeugende Logik im Verhalten der Staatsanwaltschaft: •
Elisabeth R., nicht vorbestraft, festgenommen 12. 12 1980. Vorwurf: mindestens 1 Steinwurf gegen ein Polizeifahrzeug. Am 13. 12. 1980 auf Anordnung des Staatsanwalts Müllenbrock ohne Vorführung beim Haftrichter entlassen; • Hans S., vorbestraft, festgenommen 12. 12. 1980. Vorwurf: mehrere Steinwürfe gegen Polizeibeamte. Am 13. 12. 1980 auf Antrag des Staatsanwalts Blombach Haftbefehl, jedoch Haftverschonung, ausdrücklich kein Widerspruch des Staatsanwalts dagegen. • Antje B., nicht vorbestraft, festgenommen 12. 12. 1980. Vorwurf: ein Steinwurf gegen Polizeibeamte. Am 13. 12. 1980 Haftbefehl ohne Haftverschonung. Am 22. 12. 1980 Haftverschonung ohne Widerspruch des Staatsanwalts Müllenbrock. • Peter F., nicht vorbestraft, festgenommen 12. 12. 1980. Vorwurf: ein Steinwurf gegen Polizeibeamte. Am 13. 12. 1980 Haftbefehl ohne Haftverschonung, am 23. 12. 1980 Haftverschonung, jedoch Entlassung durch Beschwerde der Staatsanwaltschaft verhindert. Inhaftiert geblieben bis 26. 2. 1981, an diesem Tage zu 9 Monaten Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt und entlassen. Diesen Beispielen könnten Dutzende hinzugefügt werden. Sie belegen, daß völlig unberechenbar war, ab und unter welchen Kriterien die Staatsanwaltschaft auf Inhaftierung bestehen oder einer Entlassung zustimmen würde. Der Versuch der 4. Großen Strafkammer im Fall von Rita M., ein wenig Logik, ein wenig Strafprozeßordnung, ein wenig Auf-den-Menschen-Sehen, in die richterliche Behandlung der »Krawalle« einfließen zu lassen, schlug vorerst fehl. Ihr Beschluß, es bei der Haftverschonung für Rita M. zu belassen, wurde vom Kammergericht mit jener eingangs zitierten Entscheidung vom 22. 1. 1981 aufgehoben. Rita M. hatte diese Entscheidung noch nicht zugestellt bekommen. Da erfuhr sie, daß das Kammergericht in einem ähnlichen Fall die Haftverschonung aufgehoben hatte. Sie beschloß, ihre »Gefährlichkeit« dadurch unter Beweis zustellen, daß sie sich freiwillig stellte. Rita M. erschien mit ihrem Verteidiger auf dem Polizeirevier und wurde verhaftet. Der Haftbefehl wurde ihr am nächsten Tag von demselben Richter verkündet, der ihr am 23. Dezember Haftverschonung gewährt hatte. Vor dem Kammergericht kapitulierte er. Die Frage des Verteidigers, wie er nun die Fluchtgefahr - die Voraussetzung für einen Haftbefehl ist - begründen wolle, nachdem Rita M. sich freiwillig gestellt hatte, ließ er unbeantwortet. Statt dessen nur die Bemerkung, es habe ja doch keinen Sinn, Rita M. freizulassen. Drei Tage später würde sie ja doch wieder inhaftiert werden. Also blieb sie gleich drin.
Wer hier die Frage stellt, wie denn jemand noch eindeutiger beweisen soll, daß er nicht zu fliehen gedenkt, als dadurch, daß er freiwillig zu seiner Verhaftung geht, der ist naiv. Er erhält ganz einfach keine Antwort. Denn darum geht es nicht. Es geht allein darum, »das Vertrauen der Bevölkerung in eine wirksame Strafrechtspflege nicht zu erschüttern«. Auch wenn dabei Haftbefehle wegen Fluchtgefahr dort erlassen werden, wo offensichtlich keine Flucht beabsichtigt ist. Wer wird sich denn von irgendeinem dummen Paragraphen aufhalten lassen, in dem steht, daß ein Haftbefehl Fluchtgefahr voraussetzt, wenn das Kammergericht dazu aufruft, die Rechtstreue der Bevölkerung zu verteidigen?
Rechtsfreie Räume. Am 2. Februar 1981 unterwarf sich auch die 4. Strafkammer des Landgerichts Berlin den Anweisungen des Kammergerichts und bestätigte ohne weitere Begründung, ausschließlich mit dem Hinweis auf die Entscheidung des Kammergerichts, die Haftfortdauer gegen Rita M. Erst als Rita M. sich einer Sprache bediente, die auch die Kammerrichter verstehen: erst als sie über ihre Eltern DM 50000,- Kaution anbot, erst, als ihre Eltern eidesstattlich versichert hatten, daß sie dieses Geld auch tatsächlich selbst aufgebracht hatten - was das heißt: in einem kleinen Dorf auf dem Lande, wo jeder auf jeden mit dem Finger zeigt, dort zum Bankdirektor gehen zu müssen, erzählen zu müssen, daß die Tochter in Haft sitzt, daß man Kredit braucht für eine Kaution. Eltern können sehr tapfer werden, wenn man ihre Kinder schlägt -, erst da beschloß das Kammergericht am 9. März 1981, Rita M. auf freien Fuß zu setzen. Das geschah am 10. März. Aber das Gericht hatte sich gründlich abgesichert: einmal die Woche bei der Polizei melden, 50000,- DM Kaution, Personalausweis und Reisepaß eingezogen. Am 21. April 1981 wurde Rita M. wegen schweren und einfachen Widerstandes zu zehn Monaten Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt, der Haftbefehl wurde aufgehoben. Sie hat Berufung eingelegt. Rita M., damals 21 Jahre alt, Studentin der Germanistik und Sozialkunde, damals im 6. Semester, nicht vorbestraft. Wenn dieser Staat diese Frau nicht schon im Dezember 1980 verloren hatte, so hat er es jetzt. Er hat sie auch nicht verdient. Das Beispiel der Rita M. zeigt, welche Wirkung der Beschluß des Kammergerichts vom 22. Januar 1981 von Anfang an hatte. Es zeigt aber auch, welche Grenzen diese Wirkung bisher hatte. Rita M. hat Bewährung bekommen, obwohl das Kammergericht gerade zu ihr gesagt hatte, Bewährung - das dürfe nicht sein. Schon die Staatsanwaltschaft hat von jenem Kammergerichtsbeschluß keineswegs auf breiter Linie Gebrauch gemacht. Sie hat durchweg niedrigere Strafen beantragt, als in jenem Beschluß »vorgesehen« waren. Sie hat auch nicht etwa sofort nach Erlaß dieses Beschlusses die umgehende Verhaftung all derer beantragt, die man zuvor zwar festgenommen hatte, aber dann wieder laufen ließ. Die Staatsanwaltschaft hat sich vielmehr an einigen auserwählten Fällen »festgebissen« und nur in diesen Fällen mit allen Mitteln die Inhaftierung durchgesetzt. Man hat niemals eine Erklärung dafür gehört, warum gerade in diesen Fällen und in anderen nicht. Gerade dies hat schon im Dezember 1980 kaum eine andere Schlußfolgerung zugelassen als die, daß es der Staatsanwaltschaft eben nicht um juristische Abwägung, Interpretationen und Konsequenzen ging. Es ging ihr offenbar um etwas ganz anderes, darum nämlich, Politik zu machen, eine Politik der Nadelstiche und Provokationen, eine Politik, die Unruhe schaffen und erhalten sollte - gegen die Politik des damaligen »sozial-liberalen« Senats von Berlin. Der nämlich war im Dezember 1980 gerade so weit gekommen, daß er glaubte, sich Hoffnungen machen zu dürfen, das »Hausbesetzer-Problem« friedlich lösen und beilegen zu
können. Von Anfang 1980 an waren - nach vereinzelten Vorläufern - immer wieder Häuser in Berlin besetzt worden, damals fast alle in Kreuzberg. Zwischen 20 und 25 Häuser waren es bis Dezember 1980. Häuser, die zuvor, teils seit Jahren, leer gestanden hatten, weil es für ihre Eigentümer profitabler war, sie verrotten zu lassen, als sie instand zu setzen und bewohnbar zu erhalten. So wurden sie »instandbesetzt«. Der Senat stand diesem Problem zunächst recht zögernd und unentschlossen gegenüber. Zwar erhob er mahnend den Zeigefinger und wies darauf hin, daß Instandbesetzung Hausfriedensbruch und damit rechtswidrig sei - aber schon das Wort »kriminell« kam ihm nicht so recht überzeugend von den Lippen. Die Sympathie für die Instandbesetzer in der gesamten Bevölkerung war zu breit und zu offenkundig, und ihre Gründe lagen zu deutlich auf dem Tisch. Immerhin gab es mindestens 80000 Wohnungssuchende in Berlin, immerhin gab es Hunderttausende in Berlin, die schon in den Genuß der offiziellen Wohnungsbau- und Sanierungspolitik gekommen waren. Kaum noch bezahlbare Mieten in neuerbauten, sogenannten »Sozial«-Wohnungen, kaum noch bewohnbare Räume in den relativ billigen Altbauten, die Zerschlagung gesellschaftlichen Zusammenlebens im alten Kreuzberger »Kiez« durch das Plattwalzen ganzer Wohnblöcke und das Dazwischenhämmern schauerlicher Betonkästen und Abschreibungsruinen - das wog für die Menschen in Kreuzberg weitaus schwerer als der gesetzlich geschützte Frieden in gähnend leeren feuchten, verschimmelten, entmieteten Häusern. Daß gegen diese Zustände etwas unternommen werden mußte - und daß man jahrelang zugesehen und nichts unternommen hatte -, das konnte der Senat schlecht abstreiten. Und da er andererseits auch kein Konzept in der Hand hatte, wie der Wohnungsnot nun ganz schnell Einhalt geboten werden konnte, blieb nichts übrig als zu verkünden, daß man ein gewisses: Verständnis für die Hausbesetzer habe und sich bemühen werde, eine angemessene Lösung zu finden. Bis dahin, so hieß es mehr oder weniger offen, und so wurde es praktiziert, sollten die Besetzer in den Häusern bleiben dürfen. So ließ man im Jahre 1980 rund 20 Hausbesetzungen mehr oder weniger kommentarlos »durchgehen«. Es war Anfang Dezember 1980, als der Senat meinte, endlich einen gangbaren Weg zur Lösung des Instandbesetzerproblems gefunden zu haben. Eine »Konzeption« war ausgehandelt worden, die im wesentlichen folgende Punkte umfaßte: • •
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Alle Instandbesetzer sollten in denjenigen Häusern bleiben dürfen, in denen nicht sofort modernisiert werden sollte. Es sollte sichergestellt werden, daß unmittelbar Gelder für erste Instandsetzungsmaßnahmen, wie Herstellung der Winterfestigkeit, Inbetriebnahme der Heizungen und Brennstofflieferungen, an die einzelnen besetzten Häuser vergeben werden würden; als Sofortmaßnahme sollten dafür 20 Millionen Mark zur Verfügung gestellt werden. Für die betreffenden Häuser sollten mit den Besetzern Verträge ausgehandelt werden, welche den weiteren Aufenthalt der Besetzer in diesen Häusern legalisieren würden. Für alle diejenigen Instandbesetzer, welche durch ihre Besetzungen den Beginn schon geplanter Modernisierungen und Instandbesetzungen verhindert hätten, sollten Ersatzhäuser gefunden und bereitgestellt werden. Als Sofortmaßnahme sollten sogleich zwei Häuser als derartige Ersatzobjekte zur Verfügung gestellt werden: die Häuser Admiralstraße 18b und 18d in Kreuzberg. Dort sollte den dahin umziehenden Besetzern ermöglicht werden, die von diesen gewünschten Wohn- und Lebensformen - »insbesondere Instandsetzung und Modernisierung« - zu praktizieren. Je nach Bedarf sollten weitere Ersatzhäuser, auch z. B. für ein Jugendzentrum,
gefunden und ausgehandelt werden.
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Die Ausführungsvorschriften zur Zweckentfremdungsverordnung - also gegen den Mißbrauch von Wohnraum zu anderen Zwecken - sollten verschärft werden. • Schließlich sollten ab 1981 Entmietungen von Wohnhäusern nur noch dann zulässig sein, wenn zuvor die Modernisierung finanziell gesichert wäre. Bezeichnenderweise traute sich der Senat mit diesen Vorschlägen nun nicht etwa selbst an die Instandbesetzer heran. Das hätte ja bedeutet, auf höchster staatlicher Ebene mit Rechts-, nämlich Hausfriedensbrechern in Verhandlungen einzutreten, und so was tut man eben nicht, auch wenn man dazu gezwungen ist. Also fand man einen Ausweg: Die Verhandlungen mit den Besetzern sollten vom Sozialpädagogischen Institut der Arbeiterwohlfahrt in Berlin geführt werden; dieses Institut sollte sogleich auch neuer Besitzer der als Ersatzobjekte ausgewählten Häuser werden, ausgestattet mit einem Erbpachtvertrag. Am Donnerstag, den 11. Dezember 1980 war es so weit: Höchste Senatsvertreter setzten sich mit den Spitzen jenes Sozialpädagogischen Instituts zusammen und vereinbarten, daß dieses Institut sich nunmehr an die Instandbesetzer wenden und diesen die Angebote des Senats quasi als eigene Vorschläge - unterbreiten und die Verhandlungen darüber aufnehmen und führen sollte. Bis dahin wußten von,diesem Plan nur wenige auserwählte Leute in Senat und Arbeiterwohlfahrt; die Öffentlichkeit war ebensowenig informiert wie vor allem die Instandbesetzer selbst. Und bevor es zu solchen Informationen an die Besetzer und an die Öffentlichkeit kam, begann der Krieg in Kreuzberg. Am Freitag, dem 12. Dezember 1980, gegen 17 Uhr fuhren ungefähr zehn junge Leute mit einem Möbelwagen vor dem Haus Fraenkelufer 48 in Kreuzberg vor und machten Anstalten, dieses Haus zu besetzen. (»Fraenkelufer 48: Eigentümer ist die GSW - »Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft mbH.« Ihre Gemeinnützigkeit hat diese Gesellschaft - wie in anderen Fällen auch - am Fraenkelufer 48 dadurch bewiesen, daß sie dieses Haus seit Jahren systematisch verfallen ließ, damit es endlich einen unbewohnbaren Zustand erreichen sollte, in dessen Folge man eine Abrißgenehmigung zu erhalten hoffte, um schließlich mit dem Neubau teurer Wohnungen und der Erzielung hoher Profite beginnen zu können. Ein ganz durchschnittlicher Fall. Vorsitzender des Aufsichtsrats der GSW: Horst Lekutat, Senatsrat.) Eine »ganz normale« Besetzung stand an. Wie in anderen Fällen zuvor auch, rief irgend jemand die Polizei an - niemand von der GSW übrigens. Von denen war noch Stunden später keiner erreichbar. Die GSW hatte auch weder einen Strafantrag gegen die Besetzer gestellt noch die Polizei um Verhinderung der Besetzung gebeten. Auch bei früheren Besetzungen war die Polizei erschienen. Aber anders als in früheren Fällen griff sie diesmal ein. Sie verhinderte die Besetzung und nahm sieben der verhinderten Hausbesetzer vorläufig fest. Das war um 17.05 Uhr. Um 17..30 Uhr hatten sich - nach Polizeiangaben - 30 bis 40 Personen vor dem Haus Fraenkelufer 48 versammelt. Um 17.45 Uhr wurden in den Straßen rund um dieses Haus die ersten Barrikaden gebaut, flogen die ersten Steine gegen Polizeifahrzeuge. Um 18.10 Uhr begann die Polizei, die Barrikaden zu beseitigen und die »Störer« vom Fraenkelufer weg durch die Admiralstraße in Richtung Kottbusser Tor abzudrängen, »unter Anwendung des Schlagstockes und von Tränengas«, wie es im polizeilichen Verlaufsbericht heißt. Gegen 19.00 Uhr war die Zahl der »Störer« auf einige Hundert angewachsen.
Der weitere Verlauf des Abends war gesichert. Horst Schattner, 60 Mietervertreter im Bereich Fraenkelufer, auf einer Pressekonferenz am 15. 12. 1980: »... Ich habe an der Admiralstraße nach sieben Uhr erlebt, wie die Polizei die Brücke gestürmt hat. Das war so eine Bastion, sie hatte wohl Angst, daß Steine ins Wasser fallen. Ich habe niemals gehört, daß die Polizei gesagt hat, >räumen Sie bitte die Straße<. Ich habe aber öfter gehört: >Marsch, Marsch! <, und dann zogen sie los mit ihren Schildern wie die alten Römer, den Knüppel hoch, und daneben solche, die die Gasgranaten aufgeputzt haben, und dann scheuchten sie die Leute die Admiralbrücke runter, Admiralstraße rein... Ich habe gesehen, daß man sie nach sieben Uhr in Richtung Kottbusser Tor trieb, offensichtlich meinte die Polizei, dort sind die Scheiben zum Zerschlagen, und sie haben ja recht gehabt... Ich habe heute gelesen, daß die Polizeiführung sagt, man habe schon seit Anfang des Jahres gewußt, daß so etwas passiert, man wußte nur nicht wann. Ja schläft denn dieser Hübner (der Polizeipräsident, Anmerkung des Verfassers)? Wir haben ihm oftmals gesagt, was passiert, wenn ein Haus geräumt wird. Ich war ungefähr um halb acht am Kottbusser Tor. Da war man gerade dabei - die Leute waren ja alle da hingescheucht worden und die Polizei war ja an der Admiralbrücke stark vertreten -, da war man also dabei, eine Scheibe nach der anderen zu knacken bei den Banken. Kein Polizist zu sehen. Ja, und dann hat wohl die Einsatzleitung am Carl-Herz-Ufer das mitbekommen, wie bedrohlich die Sache ist, und dann hat sie ihre Polizeimacht hingeschickt: Ein Funkwagen mit zwei Beamten drin! Und die stellten sich dann auf. Ich find, das war eine Provokation der Polizei gewesen, genau vor das Hochhaus an der Kottbusser Straße Nr. 1, vor einer kaputten Scheibe, da, wo es am hellsten war, wo alle Demonstranten waren. Und der stellte sich also dort hin, wo es am hellsten war, dann stiegen die beiden Beamten aus, diese Hirnis, und haben den Wagen leer stehen lassen. Ja warum denn - damit man ihn umkippt. Da hatte die Polizei ihr umgekipptes Fahrzeug...« Polizeifunk - im Kreuzberger Jargon »Radio Krawall« -, Zeitraum ca. 19.00 Uhr bis 21.00 Uhr; Ausschnitte: •
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Sinus 4 von Sudan 1. Ich schlage vor, bei dieser Lage, daß wir uns in keine Konfrontation mit den Leuten begeben. Sollen die Anhänger, die da auf der Straße liegen, erstmal von mir aus eine Stunde liegen bleiben. Wenn die keinen Gegner haben, das heißt also wir, dann werden die sich auch irgendwann wieder beruhigen. Sudan 2 von Sinus 4 Sudan 2 Wie ist die Lage mit den 80 Personen unten Skalitzer/Ecke Admiralstraße? Also, zu der Lage kann ich überhaupt nichts sagen, alldies weil ich mich hüten werde, mit uniformierten Kräften im Blickpunkt dieses Personenkreises zu sein. Die Aufklärung sollen bitte Zivilleute machen. Gut. Iltis 180 ist dafür richtig. Ja, das ist richtig, hier Iltis 180, das ist auch gar nicht zu empfehlen, daß hier Polizeikräfte, uniformierte, ankommen. Bei denen, die durchgefahren sind, vor wenigen Minuten, da wurden sie schon aggressiv ... Die Stimmung dort ist, ja, wie soll ich sagen, Krisenherd, es kann also jeden Moment knallen, die warten nur drauf... Iltis 181: vor der Commerzbank steht ein Funkwagen, es ist sehr unvorteilhaft, daß der da steht. Die seh'n das bereits, das is 'n Funkwagen.
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Jetzt mal kurz Funkdisziplin. Süd von Sinus 4. Die Lage ist die: Wir brauchen unbedingt Kräfte. Sie informieren den großen Lagedienst, teilen Sie mit, die Sache eskaliert ... Versuchen Sie über den großen Lagedienst so viel Kräfte wie möglich zusammenzukriegen, teilen Sie dem großen Lagedienst mit, die Sache eskaliert. Sudan 2 von Iltis 181. Sudan 2. Die Störer verteilen sich bereits wieder Richtung Kottbusser Tor. Die Scheiben sind doch alle im Arsch, was können die da noch kaputtmachen...«
Polizeifunk, etwa 1.30 Uhr: »53121. Außerdem ist das Ding doch leer, da sind doch gar keine Schuhe mehr drin. Salamander macht doch sowieso Geschäftsaufgabe, und was soll denn da noch gesichert werden? ... es geht hier nicht um irgendwelche Verhältnismäßigkeit! « Pressekonferenz am 15. 12. 1980; Werner Orlowsky, Drogeriebesitzer am Oranienplatz/Kreuzberg, Mietervertreter und SpWcher der Gewerbetreibenden im Sanierungsgebiet, über Plünderungen: »... Ich war zwar kein Augenzeuge, aber nach alldem, was ich gehört habe - ich habe mit ca. 100 Leuten gesprochen -, was sich durch meine berufliche Tätigkeit zwangsläufig ergibt... war es der berühmte repräsentative Querschnitt der Kreuzberger Bevölkerung, darunter auch solche Leute, z. B. völlig unpolitische, gerade aus dem Kino gekommen, nach Hause gegangen, aus der U-Bahn gekommen, der eine hat die Hemmschwelle, der andere sagt: Möönsch, kiek mal, da bei >Aldi< ist ja kein Fenster mehr drin. Da 'ne Stange Zigaretten rausgeholt, das tut denen nicht weh, und mir hilft's bis zum Monatsende weiter. Womit ich nicht sagen will, daß ich so was auch tun würde. Aber es ist wie in allem, ob man etwas kausal erklären kann oder ob man das billigt oder nicht. In so einer Situation ist so etwas wie eine Eigendynamik mit im Spiel. Ich will damit sagen, die einseitige Darstellung, die alleinige Schuld an dem Abend hätten die Instandbesetzer, die hätten geplündert, und nur die, so die, berühmte Einteilung, hier Engel, da Teufel, das stimmt nicht.« Gegen 1.30 Uhr fährt am Oranienplatz eine »Wanne«, ein Mannschaftswagen der Polizei, mit Vollgas auf eine Barrikade los, die unter anderem aus großen, runden Blumenkübeln aus Beton besteht. Vor einem dieser Kübel steht Rüdiger H. Die Wanne fährt mit hohem Tempo gegen ihn, er klappt nach hinten um, liegt mit dem Oberkörper im Blumenkübel, seine Beine sind zwischen Wanne und Kübel zerquetscht. Die Wanne setzt zurück, steht, gibt Gas, fährt noch einmal gegen Rüdiger H. Als später der Notarztwagen der Feuerwehr eintrifft und Rüdiger H. in das Krankenhaus bringen will - wo er heute noch liegt -, werfen Polizeibeamte Tränengas zwischen die Feuerwehrleute. Polizeifunk, ca. 2.00 Uhr: »... da ist ein Demonstrant von Polizeiwagen angefahren worden... verbuchen wir das ganze Ding unter Verkehrsunfall, oder erstmal einfach: verletzte Person. Uns is det eijentlich relativ egal...« Wer am 13. Dezember 1980 und an den Tagen danach die Berliner Tageszeitungen einigermaßen aufmerksam las, mußte verblüfft sein - nicht so sehr über die Art der Berichterstattung; daß da nur von Randalierern, Plünderern, Chaoten, Kommunisten, Kriminellen die Rede war, gegen die die Polizeisichnurgewehrthabe daskonntenichtüberraschen. Was überraschte, war eine offensichtliche Falschmeldung: Anlaß
der Straßenschlachten sei nämlich, so meldeten fast alle Zeitungen am 13. 12. 1980 unter Berufung auf einen Polizeibericht, die Verhinderung der Besetzung eines Hauses durch die Polizei gewesen - des Hauses Admiralstraße 18. Erstam14. und15. Dezember1980begannensichdie Zeitungen auf eine neue Version zu einigen: die Besetzung des Hauses Fraenkelufer 48 sei verhindert worden, aber zugleich sei das Haus Admiralstraße 18, erst wenige Stunden zuvor besetzt, geräumt worden. »Tagesspiegel« und »Spandauer Volksblatt« vom 14. 12. 1980: Die Auseinandersetzungen hätten »nach Darstellung der Polizei am Freitag gegen 17 Uhr begonnen, als die Polizei ein besetztes Haus in der Admiralstraße geräumt und die Besetzung eines Hauses am Fraenkelufer verhindert hatte«. Merkwürdig war nur: Bis zu diesem Zeitpunkt war das Haus Admiralstraße 18 noch nicht besetzt worden, niemand hatte das versucht, auch nicht am 12. Dezember, und - natürlich kein Polizist hatte versucht, dieses Haus zu räumen. Da war nichts zu räumen. Ein paar Polizeibeamte hatten lediglich am Abend des 12. 12. 1980 vor diesem Haus Wache gestanden, niemand wußte, warum. Und niemand wußte auch, zunächst, warum die Polizei nun behauptete, es sei um die Admiralstraße 18 gegangen. Anfangs konnte man das für einen belanglosen Irrtum halten. Erst am 15. 12. 1980 stellte sich heraus, daß es kein Irrtum war, sondern eine gezielte Falschmeldung: Der »Abend« brachte an diesem Tag ein Interview mit dem Polizeipräsidenten Hübner. Der sagte: »Die Folgen dieses Einsatzes vom Freitag haben wir nicht absehen können. Wir haben nur den Auftrag geben müssen, die Besetzung dieser zwei Häuser zu verhindern... Ich mußte dabei auch ins Kalkül ziehen, was mir vom Senator Bau-Wohnen und vom Bezirksamt gesagt wurde; daß nämlich genau dieses ein Objekt sein sollte, das man in Verhandlungen solchen Leuten anbietet, die ihrerseits zeigen wollen, daß man mit eigenen Mitteln ein solches Haus durchaus wieder instand setzen und bewohnen kann. Und das ist absurd: Ein solches Haus diesen Möglichkeiten zu entziehen...« Die Erklärung für den Polizeieinsatz war gefunden. Senatssprecher Meyn am 15. 12. 1980, laut »Morgenpost« vom nächsten Tag: Bei den Auseinandersetzungen habe es sich um einen »möglicherweise gezielten Angriff« gehandelt, der das Ziel gehabt habe, »eine Aktion des Bausenators zur friedlichen Regelung des Problems der >Instandbesetzer< zu vereiteln«. Der Bausenator habe nämlich schon eine Woche zuvor vom Senat die Genehmigung bekommen, zwei leerstehende Kreuzberger Häuser - eben die Admiralstraße 18b und 18d - den Instandbesetzern anzubieten. Ebenso am 15. 12. 1980 der Sanierungsbeauftragte des Bausenators Kujath, gegenüber dem »Tagesspiegel«. Gerade eines der beiden vom Senat zunächst vorgesehenen Häuser mit Ersatzwohnungen sei Anlaß für die Straßenschlachten in der Nacht vom Freitag zum Samstag gewesen. Er - Kujath - könne nicht ausschließen, »daß möglicherweise einige Tage vor dem geplanten Gesprächsbeginn zwischen der Arbeiterwohlfahrt und einem Teil der Besetzer militante Gruppen aus deren Reihen von den Senatsplänen erfahren hätten und diese mit der versuchten Besetzung am Freitagabend verhindern wollten«. Schließlich stieß der Bausenator persönlich - Harry Ristock, früherer Exponent des »linken« Flügels der SPD, Anti-Vietnamkriegs-Demonstrant 1968 - in das gleiche Horn. Am 16. 12. 1980 gab er dem »Abend« ein Interview, das dieser am 17. 12. unter der Überschrift »Ristock: Chaoten zerstören mir meine Politik nicht« veröffentlichte: »Nach einem Modell des Senats und der Arbeiterwohlfahrt sollte das Problem >Instandbesetzer< dadurch gelöst
werden, daß gewisse Häuser gezielt für >Instandbesetzer< - als Ersatzprojekte - angeboten werden sollten. Und genau dies war ein solches Haus. Es sollte in der provokatorischen Absicht besetzt werden, ganz gezielt Kompromisse kaputtzumachen. Progressive Politik werde ich mir nicht durch einen Haufen Chaoten zerstören lassen... Aber wer ein Haus besetzt, das wir gerade als Ersatz für Besetzer bereitgestellt haben, ist halt ein finsterer Heuchler und schamloser Provokateur.« Am Anfang war also die Lüge. Denn die ganz offiziell verbreitete Theorie, wonach militante Instandbesetzer die Straßenschlachten vom 12. Dezember provoziert hatten, um die friedlichen Konzeptionen des Senats zu durchkreuzen, steht und fällt mit der Behauptung, das Haus in der Admiralstraße 18 hätte besetzt werden sollen. Und eben das stimmt nicht. Stein des Anstoßes war das Haus Fraenkelufer 48, und das war für den Senat bis dato ebenso uninteressant, wie es die Admiralstraße 18 am Abend des 12. Dezember für die Besetzer war. Alle Augenzeugen, alle Polizeibeamten in den bisherigen Verfahren, alle Akten belegen, daß es ausschließlich um das Fraenkelufer 48 ging. Es wäre eine Hausbesetzung geworden, die den Zeitungen am nächsten Tag allenfalls einen Fünfzeiler wert gewesen wäre, wie schon viele Male zuvor: »Gestern nachmittag besetzten etwa 10, vorwiegend jugendliche, Personen, ein leerstehendes Haus am Fraenkelufer in Kreuzberg. Es war die soundsovielste Hausbesetzung in Berlin. Die Polizei war am Ort, griff aber nicht ein. Eigentümerin des Hauses ist die GSW, die bisher keinen Strafantrag gestellt hat.«
Warum also griff die Polizei ein? Der Senat hat seinen Erklärungsversuch dafür an die falsche Anschrift, Admiralstraße 18 geknüpft und gemeint, seine friedliche Lösungskonzeption für die Instandbesetzerprobleme sei durch militante Besetzer bedroht gewesen. Dagegen ist nur eine These denkbar, die sich zwanglos ergibt, wenn man die falsche Anschrift korrigiert und das Datum berücksichtigt, den 12. Dezember 1980, einen Tag nach jenem 11. Dezember, an dem der Senat seine Konzeption mit der Arbeiterwohlfahrt abgesprochen und beschlossen hatte. Dann lautet die einzig logische Erklärung: Militante Kreise innerhalb der Polizei haben offenbar von den Senatsplänen, sich friedlich mit den Hausbesetzern zu einigen, frühzeitig erfahren und sich entschlossen, solche Kompromisse ganz gezielt bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit kaputtzumachen. Friedliche Lösungen brauchen Ruhe, Handlungsspielraum auf beiden Seiten. Straßenschlachten bringen die Notwendigkeit von Polizeieinsätzen, bringen Handlungszwänge für die Politiker, die Verhandlungsbereitschaft beiseitedrängen. Und sie bringen Verletzte, Verhaftete, Verurteilte auf seiten der Instandbesetzer und ihrer Freunde, auch auf dieser Seite also eine Atmosphäre, die kaum für das besonnene Sitzen am Verhandlungstisch geeignet ist. Diese Mechanismen waren im voraus berechenbar, sie lagen fest, sie waren bekannt, sie würden so ablaufen und nicht anders. Jeder hat es gewußt, auf beiden Seiten: der Krieg wird da sein, wenn ein Haus geräumt, eine Besetzung verhindert wird. Die Polizei, alle, die daran interessiert waren, konnten sich darauf verlassen. Es gab, und es gibt genügend Leute in Berlin, die an diesem Krieg interessiert waren und sind: allen voran die CDU, die Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund, die politische Abteilung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin - mit einem Wort die
Reaktion. Das Stichwort, um das ihre Politik kreiste, war und ist: »rechtsfreie Räume«, die es nach ihrer Ansicht in Kreuzberg - ganz besonders dort - gab, die dort wuchsen, und die es nicht geben durfte. Darin waren sie sich noch mit der anderen Fraktion einig: auch der Senat, die SPD und FDP, die Gewerkschaft der Polizei im DGB und die übrigen Vertreter der »Berliner Linie« gegenüber den Hausbesetzern - auch sie sahen die »Gefahr« daß »rechtsfreie Räume«, entstehen könnten, auch sie wollten das verhindern. Die Frage war nur wie? Das Ausmaß ihres Engagements dabei wird kaum verständlich, wenn man als Anlaß dieser Auseinandersetzung nur die Instandbesetzungen in Berlin sieht. Ganz offensichtlich sehen beide »Fraktionen«, die »Falken« wie die »Tauben«, das Problem sehr viel breiter und grundsätzlicher. Und damit haben sie recht. Denn in der Tat markieren die Hausbesetzungen nur eine - allerdings wesentliche - der Fronten, an denen das hierzulande herrschende wirtschaftliche und politische System gegen seinen Untergang zu kämpfen hat. Um eine der wesentlichen Fronten handelt es sich deshalb, weil hier der auf private Profite und Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft orientierten Gesellschaftsordnung Menschen gegenübertreten, die sich nicht mehr nur wehren, sondern die ihre eigenen, oft noch unbeholfenen, aber in Ansatz und Richtung dennoch klar erkennbaren Ideen von Inhalten und Organisation ihres eigenen Lebens entwickeln. So werden zumindest in Umrissen und Ansätzen Alternativen zur etablierten »Ordnung« sichtbar, und nicht nur der Wille zu ihrer Vernichtung. Stünde am Ende der gegenwärtigen Auseinandersetzungen in dieser Gesellschaft nichts anderes als die Aussicht auf deren Zusammenbrechen, Chaos und Perspektivelosigkeit, dann hätten es »die da oben« leicht, diejenigen in Schach zu halten, die unter den obwaltenden gesellschaftlichen Strukturen immer mehr und immer fühlbarer zu leiden haben. Wo aber in den Handlungen dieser Menschen, in ihren Kämpfen und in ihrem Leben zugleich die Möglichkeit anders zu leben, deutlich wird, da wird es in der Tat gefährlich für diejenigen, welche von der etablierten Ordnung profitieren. Gefährlich wird es dort, wo Menschen nicht mehr bereit sind, ihre Wünsche nach Veränderung zu delegieren, i anderen, wie politischen Parteien und Parlamenten, anzuvertrauen, auf Besserung durch Wahlen zu hoffen. Noch gefährlicher wird es dort, wo Menschen nicht mehr die vorgegebenen »legalen« Wege beschreiten, sondern sich auf ihre eigene Kraft besinnen und diese unmittelbar einsetzen. Das, was so gern als »neue Jugendbewegung« bezeichnet und verharmlost wird, hat in wichtigen und breiten Bereichen diesen Weg längst beschritten. Zum Beispiel dort, wo es um die Verhinderung von Atomkraftwerken geht und wo von diesem Ansatzpunkt aus eine breite und wirkungsvolle Ökologiebewegung noch ganz andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu durchdringen beginnt. Dazu zählen auch die neue Friedensbewegung, deren Ausgangspunkt die »Nachrüstungs-Beschlüsse« der NATO sind oder die Instandbesetzerbewegung, die offenbar eine besondere Kraft zu entwickeln vermag. Sie muß sich nicht auf Reisen begeben, um ihren Widerstand zu artikulieren, denn dort, wo sie kämpft ist sie auch zu Hause. Und sie hat »etwas in der Hand«, besetzte Häuser nämlich. Instandbesetzungen sind auch Protest gegen die Wohnraumvernichtungspolitik der letzten 20 Jahre. Aber sie sind noch viel mehr: nämlich Folge der Notwendigkeit, geeigneten Wohnraum zu haben, um die eigenen Vorstellungen von Leben entwickeln und erproben zu können. Das Zusammenleben größerer Lebensgemeinschaften ist in der Zwei-Zimmer-NeubauSozialwohnung ebensowenig vorstellbar wie die Entwicklung kommunikativen Zusammenlebens zwischen den Betonklötzen der Trabantenstädte. Die besetzten Häuser - in Kreuzberg kann man schon fast von besetzten Stadtteilen sprechen - sind deshalb sehr wohl Stützpunkte, Bastionen einer neuen Gesellschaftsordnung, die im Schoße der alten »Ordnung« heranwächst und schon sehr kräftig darin herumstrampelt. Diejenigen, die ihre Aufgabe darin sehen, die bestehenden Gesellschaftsstrukturen zu erhalten, haben das
Problem, sehr wohl erkannt. Ihre Führungskräfte wissen ja auch noch! besser als der Durchschnittsbürger, was die Zukunft in ihrem Staat bringen wird. Sie haben die Institute, die Statistiken, die Zahlen, die Prognosen. Sie wissen, daß der Fortschritt der Automation im Produktionsprozeß nicht aufgehalten werden darf, wenn das System erhalten, die Konzerne »konkurrenzfähig«, die Profite hoch bleiben sollen. Sie wissen, daß damit zwangsläufig eine Vergrößerung des Arbeitslosenheers verbunden ist. Sie wissen, daß dieses System zwar darauf eingerichtet ist, eine gewisse Zahl von Arbeitslosen am Leben zu erhalten und zu finanzieren, daß aber die Regeln, nach denen gesellschaftlich erarbeiteter Reichtum hierzulande verteilt wird, es ausschließen, den Massen, die jetzt schon arbeitslos sind und es in den nächsten Jahren noch werden, einen auch nur halbwegs annehmbaren Lebensstandard zu garantieren. Profite werden privat eingestrichen, Verluste werden sozialisiert und von allen gemeinsam bezahlt. Aber das Interesse an Arbeitskräften sinkt, Computer und Walzstraßen werden nicht krank, und die Steuergelder braucht die Industrie jetzt direkt, um den Profit zu steigern: sie braucht Rüstungsaufträge, sie braucht Straßenbau-Aufträge (nicht weil die Straße, sondern weil der Gewinn gebraucht wird), und sie braucht Subventionen (gerade in Berlin). In Berlin sind der Steglitzer Kreisel, das Kudamm-Karree, das Neue Kreuzberger Zentrum, die Garski-Pleite Landmarken dieser Entwicklung. Und manchem staunenden Bürger werden diese Zusammenhänge plötzlich deutlich. Er begreift, daß es auf ihn und seine Bedürfnisse ganz offenbar nicht ankommt, daß dieses System auf ihn keine Rücksicht mehr nehmen kann, wenn es überleben will. Das ist die »Gefahr«, mit der sich Politiker und Unternehmer konfrontiert sehen. Daß die Menschen in diesem Land, je näher ihnen die Krise des Systems unmittelbar auf die Haut rückt, immer mehr vom Funktionieren dieses Systems begreifen. Wem seine alte Wohnung in Kreuzberg gewissermaßen unter dem Hintern abgerissen wird, wer aus seiner vertrauten Umgebung mit den Nachbarn gegenüber, der Stammkneipe an der Ecke, dem Tante-EmmaLaden gleich daneben herausgerissen und in die Betonsilos und Konservendosen-Wohnfächer der Trabantenstädte hineingestopft wird und dafür die doppelte und dreifache Miete zahlen darf, dann noch seinen Job verliert, weil der Chef genug Subventionen eingestrichen hat oder weil eine neue Maschine angeschafft wurde, und wer dabei noch zusehen muß, wie der 15 jährige Sohn einen Arbeitsplatz, eine Lehrstelle gar nicht erst findet und seine Zeit mit Alkohol, Heroin und Kraftfahrzeugdiebstahl verbringt - wer dann die Politiker und die »Bild«-Zeitung sagen hört, wer Arbeit suche, werde sie auch finden, wer keine habe, sei arbeitsscheu - der wird irgendwann wie von selbst begreifen, was der neue amerikanische Außenminister meint, wenn er sagt, es gebe wichtigere Dinge als den Frieden. Schon heute ist nicht mehr auf jede Lüge der Politiker Verlaß. Der Druck, den diese Gesellschaftsordnung auf den sogenannten »Freizeitbereich« der Menschen legt, ist gewaltig - er muß es sein, weil gerade hier die Menschen nicht ohnehin so stark unter Kontrolle und Druck stehen wie im Arbeits- und Produktionsprozeß. Kein Wunder also, daß gerade in diesem Bereich sich die ersten alternativen Kulturformen entwickelt haben, daß sie gerade hier kaum zu bändigen sind. Die Gammler, die Tramper, die Happenings, die Theater- und Filmemacher, der Blues-Rock der sechziger Jahre, die ÖkoFreaks, die Sonnenenergie-Bastler, die Straßentheater- und Kabarett-Gruppen, die Hunderte von Punk- und New-Wave- oder Blues- und Folkmusic-Bands allein in Berlin, die Funks in den Straßen - lebende Happening-Kunstwerke von eigener Hand -, die Hauswand-Bemaler in Kreuzberg, die alternativen Schulen und die Kinderläden, die Schraubkollektive für Auto- und
Motorrad- Reparaturen auf den Hinterhöfen, alternative Sprachenschulen, Lebensmittel- und Fahrradgeschäfte, Off-Ku-damm-Kinos - sie alle sind Bestandteil einer wild und phantasievoll wuchernden neuen, eigenständigen Kultur, deren Vertreter es egal ist, ob andere sie schön finden, die es oft schön findet, häßlich zu erscheinen, weil für sie allein wichtig ist, daß die Menschen sich in ihrer Arbeit artikulieren. Wenn der Typ aus dem besetzten Haus um die Ecke sich im Punkschuppen »SO 36« in der Oranienstraße an seiner Gitarre abarbeitet, sich in Schweiß spielt, die Technik seines Instruments bändigt und umformt in ein Sprachrohr für das, was er zu sagen hat und wofür die herrschende Sprache keine Worte bereithält, dann trifft er im Saal auf das gleiche hitzige Bedürfnis, sich zu verständigen, rauszuhämmern, rauszuschreien, was Sache ist. Sicher, es gibt auch Unterdrückung von Starken gegenüber Schwachen innerhalb der »scene«, von Männern gegen Frauen - und umgekehrt -, es gibt Schlägereien, Diebstähle, Denunziationen und Verrat, Rückzüge und Irrsinnsaktionen, Enttäuschungen und Unfähigkeit. Aber die »scene« holt nicht die Polizei, wenn einer durchdreht und um sich schlägt oder in der Wohngemeinschaft die Kasse klaut. Sie verläßt sich auf ihre eigenen Kräfte. Wenn die Grenze erreicht ist und alles nichts nützt, dann fliegt derjenige, der nicht lernen will, sich nicht mehr verändern kann, wenn er aktiv Schaden stiftet, raus aus der »scene«, das ist mehr als genug »Strafe«. Kämpfen, lernen, leben - das war die Parole des ersten besetzten Hauses in Berlin, des Georg von-Rauch-Hauses 1971, benannt nach dem kurz zuvor erschossenen Genossen, der zu den zentralen Figuren des »Blues« im Berlin der späten sechziger Jahre gehört hatte. Die Lernprozesse in der »scene« mögen langsam voranschreiten und Rückschläge einschließen; aber sie werden von den Menschen selbst gemacht, von ihnen selbst entwickelt, auf ihren eigenen Erfahrungen, Erfolgen, Niederlagen und Fehlern aufgebaut, laufen in eigener Regie, sind nicht von anderer Seite vorgezeichnet. Vor allem werden sie von Leuten gemacht, die, anders als die Studenten von 1968, keine Alternative mehr haben: Das Rückgrat, den »harten Kern« der Bewegung bilden nicht mehr Studenten, sondern arbeitslose Jugendliche, ältere Arbeitslose, Jungarbeiter, »Entwurzelte« aller Art; Leute, denen die herrschende Ordnung nichts bieten kann und nichts bieten will - und die sich selbst nichts bieten lassen. Auch die Situation der Studenten hat sich geändert seit 1968, auch sie sind kaum noch mit dem Angebot eines guten Platzes in dieser Gesellschaft - beim »Marsch durch die Institutionen« zu korrumpieren, weil diese Plätze ohnehin rar werden; auch sie sehen in der Regel jahrelange Arbeitslosigkeit, ausgefüllt mit Nebentätigkeiten eher proletarischer Natur, vor sich, auch ihnen fällt es zunehmend leichter, mit der Bestimmung, die ihnen ihre Eltern und Lehrer ursprünglich zugedacht hatten, radikal zu brechen. Ganz allgemein kann man beobachten, daß immer mehr Leute erkennen, daß ihr Risiko unvergleichlich größer ist, wenn sie sich den herrschenden Lebensbedingungen anpassen, als wenn sie sich dagegen wehren. Mit dem Strom schwimmen heißt - und das wird immer leichter einsehbar, sehenden Auges in die radioaktive und sonstige Verseuchung, den atomaren und sonstigen Krieg, in die materielle und seelische Verarmung hineinzutreiben. Sich wehren heißt: riskieren, daß man zusammengeschlagen wird, riskieren, daß man verhaftet wird, riskieren, daß man seinen Job verliert (aber was verliert man da schon...), riskieren, daß man weniger Geld hat (aber man kann lernen, weniger zu brauchen), riskieren, daß man an sich und an den Bedingungen ringsherum scheitert (aber das riskierst du auf der anderen Seite der Barrikade genauso), riskieren, daß die »gute Gesellschaft« dich ausschließt
und beschimpft (aber es ist nicht wichtig, sich einen Platz in dieser Gesellschaft zu erobern, sondern diese Gesellschaft so zu gestalten, daß man auch einen Platz in ihr haben will). Tendenzen, gewiß - aber davon, daß es sie gibt, daß man an ihnen arbeiten kann, lebt die »scene«. Eine Freundin, eher im Bereich althergebrachter kommunistischer Vorstellungen angesiedelt, fragte neulich, wie man denn behaupten könne, die Freaks seien staatsfeindlich eingestellt-sie nähmen schließlich die »Kohle« vom Sozialamt, sie erwarteten schließlich ihr Arbeitslosengeld, es gebe schließlich Bereiche, in denen sie die »Wohltaten« der herrschenden Gesellschaftsordnung in Anspruch nähmen. Ein grundlegendes Mißverständnis. Die Menschen in dieser Gesellschaft, ihre Väter und Mütter und Vorfahren, haben einen gesellschaftlichen Reichtum erarbeitet, der es - bei anderer Verteilung, anderer Organisation, anderer Wertung - längst möglich machen müßte, künftig das Maß an noch notwendiger Lohnarbeit - nicht Arbeit, sondern Lohnarbeit! - zu reduzieren und alle von diesem Reichtum leben zu lassen, ohne daß sie dafür bezahlen mußten. Wenn die »scene« Geld vom Sozialamt oder vom Arbeitsamt nimmt, so holt sie sich, was ihr nach ihrem Verständnis zusteht. Sie holt es sich gegen den Widerstand derer, die es ihr verweigern wollen, sie erkämpft es sich, wenn es sein muß. Das Sich-begleiten-Lassen zum Sozialamt durch jemanden, der energischer auftreten kann und sich mit den Rechten des Sozialhilfeempfängers auskennt, und auch schon das gemeinschaftliche Go-in im Amt gehören zum Leben in Kreuzberg. Das Bewußtsein von der Größe des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums - dessen gerechte Verteilung an alle nur dieses System verhindert führt zu der Konsequenz: Wir nehmen uns, was wir brauchen, wir nehmen uns, was uns zusteht, wir nehmen es uns, wenn man es uns nicht freiwillig gibt. Der gemeinschaftliche Ladendiebstahl der Wohngemeinschaften am Wochenende bei Karstadt oder Hertie ist ebenso Ergebnis dieser Einstellung wie das selbstverständliche Schwarzfahren mit U-Bahn und Bus, wie die Besetzung leerstehender Häuser. Niemand hat dabei das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun. Etwas Verbotenes - ja. Aber wer verbietet denn da? Wer nimmt sich das »Recht« dazu? Doch dieselben, die sich das »Recht« nehmen, den gesellschaftlich erarbeiteten Reichtum nach ihrem Gutdünken zu verwalten, zu verbrauchen und zu verteilen. Aber Verbote dieser Art sind moralisch uninteressant. Sie sind unmoralisch. Sie sichern eine Welt, die sich überlebt hat, in der immer mehr Kräfte der Zerstörung wirken: Verarmung, Umweltzerstörung, Aufrüstung, Krieg. Wenn selbst gutwillige Eltern meinen, diese Haltung sei Schmarotzertum, sei unsozial, sei Auf-Kosten-Anderer-Leben, dann gibt es darauf viele Antworten: neben derjenigen, daß die größten Schmarotzer in dieser Gesellschaft stets die »Upperten«, die am besten angesehenen Mitglieder derselben sind, entwaffnet vor allem die Gegenfrage: Ihr haltet uns ständig vor, ihr hättet Euer ganzes Leben geschuftet, damit es euren Kindern einmal besser geht. Warum seid ihr dann so gereizt, verärgert, verbittert, wenn eure Kinder euch beim Wort nehmen, wenn sie darauf bestehen, daß es ihnen besser gehen kann und besser gehen soll? Warum besteht ihr dann gerade in diesem Augenblick darauf, daß eure Kinder durch den gleichen Dreck waten so)len, der euer Leben kaputtgemacht hat? Warum steht ihr nicht zu eurem Wort, warum steht ihr nicht dazu, daß eure Leistungen euren Kindern zugutekommen sollen, warum steht ihr nicht an der Seite eurer Kinder, wenn diese versuchen, sich die Ergebnisse eurer Arbeit von denen zurückzuholen, die sie euch weggenommen und sich angeeignet haben? Ich habe versucht, in Ansätzen begreifbar zu machen, womit die Politiker, die Polizei, die Justiz es in Kreuzberg zu tun haben - was das ist, die »scene« rund um die Instandbesetzer in
Kreuzberg. In diesem Stadtteil sammelt sie sich, in diesem Kreuzberg, das vor 20 Jahren die erste Sanierungswelle über sich ergehen lassen mußte, deren betongewordenes Denkmal das Märkische Viertel und die Wunden im Stadtbild des alten Kreuzberg sind - eine Sanierung, deren: Sinn nicht nur in den hohen Profiten der Bauwirtschaft lag, sondern zugleich auch in der Zerschlagung eines alten Arbeiterviertels, eines »Kiezes«, in dem es noch Reste von Zusammengehörigkeit gab. Dort gab es Strukturen, welche die Beherrschbarkeit von Menschen nicht gerade erleichtern, welche verschwinden müssen in einem System, das, angesichts gegenwärtiger und zu erwartender Krisen, auf solche Beherrschbarkeit angewiesen ist. Es ist sicher kein Zufall, daß Expertisen zur Städteplanung auch im Bundeskriminalamt erarbeitet werden. Das schon halb zerstörte und leergeräumte Kreuzberg hat damals neue Bevölkerungskreise angezogen, die auf die verbliebenen billigen Wohnungen angewiesen waren. Es waren Leute, die mit dem Gefühl leben konnten, hier nicht auf Dauer bleiben zu können, hier erst einmal provisorisch Quartier zu nehmen, mobil bleiben zu müssen. Es waren ausländische Arbeiter, Studenten, Lehrlinge und Jungarbeiter auf der Suche nach Freiheit vom Elternhaus, nach eigenem Wohn- und Lebensraum, resignierte Menschen verschiedenster Herkunft dazu, die ihre Ohnmacht in Alkohol und Drogen zu ersticken versuchten. Sie alle mischten sich mit der »Urbevölkerung«, mit denjenigen, die sich im Kiez noch gehalten hatten, die seit Jahrzehnten hier lebten und an diesen Vierteln hingen. Aus dieser Mischung entstand neues Leben im Stadtteil. Es ist nicht zu übersehen, wenn man durch die Straßen geht: Kaum irgendwo wird so extensiv auf der Straße gelebt wie hier, kaum irgendwo ist das Leben - zwischen trostlosen Häuserfassaden, Dreck und Ratten - so bunt und quirlig wie hier. Der alte Kiez, dessen Zerstörung schon begonnen hatte, ist neu aufgewacht, breiter und vielfältiger als zuvor. Kein Wunder, daß Touristenbusse hier durchfahren. Und doch ist es nicht leicht, das so darzustellen, daß man es begreifen kann. Begreifen - das ist ein sinnlicher Vorgang, das heißt eigentlich: anfassen, spüren, sehen; das ist durch Worte, Argumente, Denkvorgänge kaum zu bewerkstelligen. Hinzu kommt, daß die Reste der 68er Generation, zu der ich gehöre, nicht so leben, wie die »scene« hier lebt, nicht so fühlt und denkt, wie die Punks denken und fühlen, die Freaks, die Ausgeflippten, oder die alten Kreuzberger, oder gar wie die Ausländer, die Türken, von denen 30000 hier wohnen, die das Bild dieses Bezirks ganz wesentlich mitbestimmen. Auch die »scene« hat Schwierigkeiten mit ihrem Verhältnis zu ihnen. Zu oft haben »Graue Wölfe«, mit Messern bewaffnet, die Kneipen der »scene« überfallen. Sie wollten in die Versorgung der Freaks mit »shit«, mit Haschisch, eindringen - das zu ihrem Leben gehört wie Tabak und Alkohol, um ihr Heroin abzusetzen, gegen das die »scene« sich wehrt und auf das doch immer wieder welche hereinfallen. Zu oft haben sich Fixerinnen auf dem Strich von denen ausbeuten lassen müssen, die sie jetzt nur noch als »Kanaken« zu bezeichnen vermögen. Aber als »Graue Wölfe« am Kottbusser Tor den türkischen Lehrer und Gewerkschafter Celalettin Kesim abstachen, da wurde in den Kneipen der »scene« für seine Familie gesammelt, da gingen viele mit im Trauerzug der 10000. Und umgekehrt sind in der Nacht vom 12. Dezember 1980 Türken festgenommen, Türken schwer verletzt worden an der Seite der deutschen Freaks. Man wird die Beschreibung der »scene«, die ich versucht habe, überprüfen, vielleicht relativieren müssen, weil auch ich nicht frei davon bin, meine alten Träume über Aktivitäten zu projizieren. Aber mindestens die Intelligenteren auf der Gegenseite, ein Peter Glotz bei der SPD oder ein Norbert Blüm bei der CDU etwa, werden die »scene« als Problem nicht viel anders sehen, als sie hier geschildert ist. Nicht mit der Hoffnung verbunden, natürlich, sie werde weiter wachsen, sondern mit der Frage, was man dagegen tun kann, ob und wie man das noch in den Griff bekommen, wie man die Faszination brechen kann, die diese »scene« auf immer mehr Menschen ganz offensichtlich ausübt. Die
herrschende Gesellschaftsordnung, dieser Staat sieht sich herausgefordert, und er ist gezwungen, diese Herausforderung ernster zu nehmen, als die von 1968. Damals sah er seine Gegner weitgehend auf sich fixiert, gegen den Staat anrennend, ihn zu Reaktionen zwingend, von ihm etwas fordernd. Heute ist es schlimmer: Eine nicht mehr gering zu achtende Anzahl von Menschen, die sich aus viel mehr sozialen und geographischen Gruppen zusammensetzt als die Studentenbewegung von 1968, interessiert sich nicht mehr für diesen Staat. Sie interessiert sich für diesen Staat nur noch insoweit, wie er sich einmischt, wie, er stört, wie er sich anmaßt, dort einzugreifen, wo die wirklichen Interessen dieser Menschen liegen: in der Gestaltung ihres eigenen Lebens. Diese Menschen haben keine Fragen mehr an diesen Staat, sie erwarten keine Antworten von ihm. Die Beamten dieses Staates und die anderen, die ihn stützen und vertreten, werden als dumme Auguste ausgelacht, wenn sie nur ihre Pflicht tun und auswendig gelernte Formeln der Rechtfertigung aufsagen, sie werden mit eiskalter Verachtung bedacht, wenn sie bewußt lügen und mehr als ihre Pflicht tun. Und man ist bereit zuzuschlagen, wenn sie direkt angreifen und man eine Chance zur Verteidigung sieht. Soweit der Staat sich nicht einmischt, solange er das nicht tut, kümmert man sich nicht um ihn, arbeitet man an seinem eigenen Leben. Soll der Staat doch machen, was er will, man ist nicht dafür verantwortlich. Noch sind die Freaks der »scene« eine Minderheit. Aber Peter Glotz hat schon vor Jahren gesagt, es sind 100000 allein in Berlin. Vielleicht hat er da übertrieben, vielleicht hat er alles gemeint, was links von der SPD ist, und nicht alle, die links davon sind, gehören zu denen, von denen hier die Rede ist. Richtig aber ist: Sie sind es, die faszinieren, sie geben ganz offenbar Beispiele, die andere anziehen. Und sie sind kaum kontrollierbar, sie sind kaum organisiert, sie hocken zu Hause wie andere auch und arbeiten irgendwo. Sie haben keine Mitgliederlisten, keine Führer, keine politischen oder militärischen Einheiten, sie erhalten keine Mark aus Moskau, und ihre Theoretiker heißen Gerhard Seyfried und die Drei Tornados, und die machen Comics und Kabarett. »Gemeinsam sind wir unfaßbar!« »Gemeinsam sind wir unerträglich!« In der Tat. Daß diese Menschen, wie jener Peter Glotz früh erkannt hat, für diesen Staat verloren sind, das wäre ja noch nicht einmal so schlimm. Aber sie wirken anziehend, ansteckend. Ein Staat, der immer weniger in der Lage ist, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, ein Staat, der als Sachwalter der Konzerne gezwungen ist, Hunderte von Milliarden in die Rüstung zu stecken und zugleich den Mensehen zu verkünden, der Gürtel müsse enger geschnallt werden - ein solcher Staat kann nicht zulassen, daß in seinem Schoß auf breiter Ebene die Aussicht auf eine Alternative zu wachsen beginnt. Die Sozialliberalen versuchen - von Ausnahmen in der eigenen Fraktion einmal abgesehen -, vorsichtig an das Problem heranzugehen. Sie wissen, daß sie irgendwann gezwungen sein werden, hart durchzugreifen. Aber sie wissen auch, daß zu harte Konfrontation mit so vielen Menschen, und vor dem Hintergrund unstreitig existierender »sozialer Konflikte« und »Mängel«, gefährlich ist. Also versuchen sie zu spalten, reden von Selbstkritik, von vielen jungen Menschen, denen es ja wirklich um die Sache ginge, was man ernst nehmen müsse, junge Menschen, mit denen man ins Gespräch kommen müsse, die wertvolle Ideen und Potenzen hätten, die man in den Dienst der Sache stellen müsse. Sie müßten allerdings von den Krawallmachern, den Kriminellen, die sich unter sie gemischt hätten, sich distanzieren, erkennen, daß sie mißbraucht werden sollen. Man habe ja sogar Verständnis für die
Sympathien, welche jene jungen Leute noch mit den Chaoten verbinden würden, schließlich habe der Staat in der Vergangenheit tatsächlich vieles falsch gemacht und versäumt. Deshalb wolle man den jungen Leuten auch ruhig Zeit geben, sich zu besinnen, wolle man sich dieses Konzept auch nicht durch den nächsten Krawall kaputtmachen lassen, wolle vielmehr den jungen Idealisten unter die Arme greifen, mit ihnen reden, verhandeln, gar ihnen Ersatzhäuser und 20 Millionen Mark für Instandsetzungen anbieten (die dann allerdings die großen Sanierungsgesellschaften erhielten). Wer aber verhandelt, wer gegen Steinwürfe ist, wer Verträge abschließt, der hat deshalb noch nicht die Seite gewechseolt. Es gibt Bündnisse, in denen die Partner verschiedene Vorstellungen haben, aber durchaus eine gemeinsame Vorstellung vom Ziel und vom Gegner. Nichts spricht bisher dafür, daß die Solidarität innerhalb der Hausbesetzerszene gebrochen ist. Die »scene« hat sich vergrößert, sogar die Zahl der Militanten ist gewachsen: Aus den üblichen 300 in den Polizeiberichten vom Dezember '80 bis März '81 sind im Juni 1000 geworden. Hätten sich die Sozialliberalen durchsetzen können, dann wäre vielleicht alles für eine Weile ein wenig ruhiger verlaufen. Das Leitmotiv der anderen Seite, der CDU, der Springer-Presse, der Polizeigewerkschaft, der Staatsanwaltschaft mit ihrer politischen Abteilung dagegen war: den Alternativen keine Zeit geben, sich zu entwickeln, keine Luft lassen, sich zu artikulieren; auf breiter Front zuschlagen, solange noch Zeit ist, solange man darauf rechnen durfte, die Knüppelei, die ungerechtfertigten Haftbefehle würden beim Publikum eher Ohnmachtsgefühle als Empörung auslösen, mehr Resignation als Widerstand. Das ist der Sinn der Truppenaufmärsche in Grohnde, Gorleben und Brokdorf wie in Kreuzberg. Das ist zugleich das Eingeständnis, daß man überzeugende Argumente letztlich nicht hat, und die Demonstration, daß man sie auch nicht braucht. Man hat ja die Macht. Diese Politik stellt die Menschen ganz offen vor die Alternative, entweder zu resignieren, oder zu anderen, weitergehenden Mitteln zu greifen. Diese Politik riskiert ganz offen, daß der Gedanke auftaucht, sich ebenfalls zu bewaffnen. Hast du das noch nie gehört, noch nie gedacht: »Da war ich soweit, da hab ich mir gewünscht, 'ne MP zu haben und dazwischen zu ballern!«? In der Nacht vom 25. zum 26. Juni 1981, in Kreuzberg, am Rande der Straßenschlacht, sagt ein erst kürzlich gewählter, erst kürzlich abgewählter, junger, ehemaliger SPD-Senator, gerade von Polizeibeamten mehrfach beiseite gedrängt, nach Hinweis auf seine Persönlichkeit verspottet und erneut weggeschubst, zu seinen Begleitern gewandt, es habe nicht mehr viel gefehlt eben, und er hätte den ersten Stein seines Lebens geworfen. Ob er den Mut hätte, dazu zu stehen, das gesagt zu haben... Doch gleichzeitig vertraut die Staatsmacht darauf, daß jeder Mensch Hemmungen hat, Gewalt auszuüben, und daß jeder Angst davor hat, Gewalt ausgesetzt zu sein, daß nur wenige, mit denen man fertig werden wird - und die man sogar braucht als Vorwand für die Härte dieser Politik -, diese Hemmschwelle und diese Angstbarriere überwinden werden. Getreu diesen vorgenannten Erwägungen haben die »Falken« Politik gemacht, seit es die Instandbesetzer gibt und natürlich auch schon früher.
Kurz nach der Schlacht in der Adalbertstraße schritten Polizeibeamte machtvoll gegen ein nächtliches Lagerfeuer mit Wein und Gesang auf dem Oranienplatz ein. Ergebnis: Straßenschlacht - ein andres Mal gegen eine Radfahrerin, die abends ohne Licht angetroffen wurde - Ergebnis: Straßenschlacht. Die Zivilstreifen rund um die besetzten Häuser wurden verstärkt, Funkwagen auf Funkwagen fuhr Tag und Nacht langsam an den Häusern vorbei. Wenn dann irgendwann ein Stein oder ein Farbei gegen den Wagen flog, wurde die Presse ihrer Informationspflicht am nächsten Tag auf eigene Weise gerecht: Straftaten aus den besetzten Häusern heraus, und der Senat tut nichts. Die tollsten Greuelgeschichten waren zu lesen; aus einer Schlägerei unter Betrunkenen in der Oranienstraße wurde ein bewaffneter Raubüberfall gegen harmlose Passanten, ausgeführt von Hausbesetzern. Und der im ganzen in seinen Äußerungen noch recht zurückhaltende, weil eher zur SPD stehende Polizeipräsident Hübner ließ immerhin wissen, in den Kreisen der Hausbesetzer werde »eindeutige Werbung für den Terror« betrieben. An einigen besetzten Häusern hingen nämlich, Transparente, mit denen zur Solidarität mit hungerstreikenden politischen Gefangenen aufgerufen wurde, zur Solidarität gegen die Haftbedingungen in den Hochsicherheitstrakten, zu denen Leute wie der Rechtsprofessor Ulrich Klug, ehemals Justizsenator in Hamburg, gesagt haben: schnellstens wieder abschaffen. Im Herbst 1980 erhielten die damaligen »legalen« Ansprechstellen auf seiten der Hausbesetzer, vor allem die Leute aus der Bürgerinitiative SO 36, vermehrt dringliche Warnungen von Kontaktleuten aus Senatskreisen: Die »Tauben« in Senat und Behörden gerieten unter zunehmenden Druck der »Falken«, mit den rechtswidrigen Zuständen in Kreuzberg endlich Schluß zu machen, endlich wenigstens einige Häuser, in denen der »harte Kern« zu vermuten sei, zu räumen. Mit jeder neuen Hausbesetzung in Kreuzberg, besonders nach den Besetzungen des »Kerngehäuses« in der Cuvrystraße und der »Villa Kunterbunt« in der Görlitzer Straße, wurden die Warnungen aus dem Senat dringender: Man sehe immer weniger Möglichkeiten, auf dem Verhandlungswege noch weiterzukommen. Die Stimmen, die kompromißlos für Räumungen einträten, würden immer mehr die Oberhand gewinnen. Später stellte sich heraus, was vor allem gemeint war: Die politische Abteilung der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin hatte Durchsuchungsbeschlüsse des Amtsgerichts erwirkt, vor allen anderen gegen das besetzte Haus in der Luckauer.Straße 3, wegen des Verdachts einer Vielzahl von Straftaten, gegründet meist auf bis heute nicht bekanntgegebene angebliche Anzeigen von Nachbarn, wegen Sachbeschädigungen, Diebstählen, Verstoß gegen das Fernmeldegesetz (Antenne auf dem Dach), Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung - man munkelte von elektrisch aufgeladenen Drähten als Hindernis gegen eine Räumung, und von ähnlichem mehr. Und die Staatsanwaltschaft drängte auf die Durchführung dieser Durchsuchungsbefehle. Die Polizeiführung und der Senat weigerten sich: Sie wußten, daß die Durchsuchung aller Voraussicht nach zum Krieg mit der »scene« führen würde, und sie sahen, daß diese Folge in keinem vernünftigen Verhältnis zu den tatsächlichen Ereignissen stand. Sie versuchten, die Staatsanwaltschaft hinzuhalten. Aber die begann, recht unverblümt mit der Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen Senatoren und Polizeiführung zu drohen, wegen des Verdachts der Strafvereitelung. Inzwischen, 1981, sind diese Verfahren auch tatsächlich eingeleitet worden. Und daneben gärte es in der Polizei. Die Polizeigewerkschaft machte Stimmung gegen Senat und Polizeiführung. Polizeipräsident Hübner hatte alle Hände voll zu tun, seinen Untergebenen zu erklären, weshalb sie nicht eingreifen, nicht räumen, nicht festnehmen sollten. Die Polizisten folgten ihm nicht, schon gar nicht die in Kreuzberg stationierten. Gerade die - nicht alle, aber doch ein erheblicher Teil der Beamten - hatten schon lange ihr eigenes Verhältnis zu deri Menschen in Kreuzberg.
Am 13. Februar 1978 soll Werner N. in der Reichenberger Straße in Kreuzberg Polizeibeamte, die wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit seine Personalien feststellen wollten, mit Worten wie »Arschlöcher, kleine Schweinchen, Drecksäcke« beleidigt haben. Die Beamten erstatteten Strafanzeige. In der Anzeige stand, etwa 8 bis 10 Passanten hätten die Schimpfwörter gehört. Werner N. bestritt, derartiges gesagt zu haben. In der Hauptverhandlung am 24. Oktober 1978 fragte sein Verteidiger die Beamten, warum sie nicht die Personalien jener 8 bis 10 Passanten festgestellt hätten, die angeblich alles gehört hätten: das seien doch dann wichtige Zeugen gewesen. Ein Beamter: »Die Personalien konnten wir nicht feststellen.« Verteidiger: »Warum denn nicht?« Der Beamte: »Ja, wissen Sie, die nahmen eine feindselige Haltung ein. Wissen Sie, wir sind in Kreuzberg nicht sehr beliebt...« O ja, das trifft wohl zu. Daß die Polizei in Kreuzberg nicht sehr beliebt ist - eine eher freundliche Formulierung - liegt nicht einmal allein, vielleicht nicht einmal ursprünglich daran, daß Kreuzberg ein altes Arbeiterviertel ist, daß jetzt dort wieder eine Menge Leute wohnen, die den Staat, dessen Gewalt die Polizei ausübt, »nicht so sehr lieben«. Es liegt mindestens ebenso sehr an der Polizei selbst. Es gibt nette Polizeibeamte auch in Kreuzberg. Aber dennoch scheint es immer wieder zu bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten regelrechte Zusammenballungen von Schlägertypen zu geben. Wer in Kreuzberg, weshalb auch immer, festgenommen wird, der wundert sich im allgemeinen nur dann, noch, wenn er nicht.verprügelt wird, entweder gleich in der: »Wanne«, im Mannschaftswagen, oder im Revier, meist von mehreren Beamten zugleich. Strafanzeigen dagegen sind sinnlos: Es gibt ja keine Zeugen. Die Beamten haben in solchen Fällen eine stereotype Aussage parat: Der Betreffende hat Widerstand geleistet, es mußte »einfache körperliche Gewalt« angewendet werden, um ihn zu bändigen. Verletzungen? Da ist der Mann halt ausgerutscht und mit dem Kopf gegen die Wand gefallen, nicht wahr, oder er ist auf der Treppe zum Revier gestolpert und dabei auf die Stufen geschlagen. Man hat in Kreuzberg seine Erfahrungen mit der Polizei. Man weiß in Kreuzberg, was die Polizei von einem hält: »Ratte« wird man genannt, »Fotze«, wenn man eine Frau ist. Verbrochen hat man immer etwas, wenn man festgenommen worden ist. Man kennt das: eingeliefert in die Zelle, die Tür geht auf, sechs Beamte stehen davor, »was machen wir nun mit dem?«, und einigen sich offenbar darauf: Wir sagen, der hat einen Stein geworfen. 16. Juni 1981, Prozeß gegen Peter R., Vorwurf: Steinwürfe am Fraenkelufer in Kreuzberg am 19. und 31. 1. 1981. Drei Zivilfahnder hatten früher ausgesagt, sie hätten Peter R. als Steinwerfer genau erkannt. Jetzt, in der Hauptverhandlung, sagen zwei von ihnen, sie hätten niemanden erkennen können. Eine Rentnerin, Augenzeugin: Nein, der Angeklagte sei es nicht gewesen, der Steinwerfer habe anders ausgesehen. Drei Bekannte von Peter R. sagen aus, zumindest an einem der fraglichen Tage sei Peter R. anderswo gewesen. Der dritte Zivilfahnder, Herr Sch., eine bekannte Persönlichkeit in Kreuzberg inzwischen, bleibt dabei: Er sei ganz sicher, es war Peter, R. In einer Verhandlungspause auf dem Flur vor dem Gerichtssaal sagt Sch. zu seinen beiden Kollegen: »Das war ja nicht wie abgesprochen!« Peter R. wurde freigesprochen; der Vorsitzende: »Die sehr forsche, beinahe verdächtig forsche Art des Zeugen Sch. hat Bedenken nahegelegt.« Am 28. 4. und am 3. 6. 1981 sind zwei andere angebliche Steinwerfer bereits aufgrund der Aussagen dieses Zeugen Sch. verurteilt worden. Weitere Auftritte des Herrn Sch. stehen bevor.
Eine Kette von Provokationen, eine Kette von Versuchen, die Instandbesetzer zu reizen, kennzeichneten das Verhalten der Polizei im Jahre 1980. Stets waren Springer-Presse, Polizeigewerkschaft und CDU zur Stelle, um jeden kleinsten Vorfall aufzublasen zur Bedrohung des Rechtsstaats, um jede auch nur halbwegs gelungene Provokation als Druckmittel gegen den Senat einzusetzen, ihn aufzufordern, endlich »Maßnahmen« zu ergreifen. Und was tat der Senat? Er beschloß am 11. Dezember 1980, mit den Besetzern, wenn auch über Mittelsmänner, zu verhandeln und ihnen Angebote zu machen - in den Augen der »Falken« so etwas wie eine diplomatische Anerkennung. Mußten sie das nicht verhindern? War nicht dies der Punkt, an dem sich entscheiden mußte, ob die »scene« die Chance erhielt, sich zu stabilisieren, ja womöglich noch zu wachsen, oder ob es nicht höchste Zeit war, sich mit allen Mitteln zu wehren - bevor die allgemeine Empörung die erhofften Resignationserscheinungen beiseite fegen würde? Konnte es nicht bald zu spät sein, namlich wenn sich die Besetzer auf Verhandlungen erst eingelassen hätten? Im Klartext: Wäre es nicht besser loszuschlagen, bevor die Verhandlungspläne des Senats öffentlich bekannt würden? Der Polizeieinsatz am Fraenkelufer 48 am Nachmittag des 12. Dezember 1980 - und die polizeiliche Falschmeldung, es sei um die Admiralstraße 18 gegangen - lassen diese Vermutung nicht so absurd erscheinen, wie sie zunächst klingen mag. Auch das Verhalten der Staatsanwaltschaft in den Tagen danach ist nicht gerade geeignet, einen solchen Verdacht zu entkräften. Wenn der Sinn des Polizeieinsatzes vom 12. 12. 1980 war, die Verhandlungsabsichten des Senats zu torpedieren, dann mußte diese Konzeption einschließen, daß das Ganze nicht mit einer größeren Straßenschlacht verpuffte. Der Druck auf die Situation mußte erhalten bleiben. Man wußte: Die Besetzer konnten eine Räumung, einen Einsatz gegen eine Besetzung nicht widerstandslos hinnehmen. Sie konnten einer »SalamiTaktik«, in deren Verlauf ihnen ein Haus nach dem anderen wieder abgeknöpft worden wäre, nicht ruhig zusehen. Sie mußten auf die Straße. Und man wußte: ebensowenig konnten die Besetzer zusehen, wie viele von ihnen und viele Freunde und viele Unschuldige in den Haftanstalten verschwanden, nachdem die erste große Schlacht gelaufen war. Die Besetzer mußten auf der Freilassung der Inhaftierten bestehen; sie mußten sie zur Vorbedingung jeder Verhandlungsbereitschaft machen. Es war im voraus berechenbar, daß sie so handeln würden. Der Senat wußte das auch. Und so setzte sich der damalige Justizsenator Meyer an sein Telefon und rief den zuständigen Sachbearbeiter bei der Staatsanwaltschaft, Herrn Staatsanwalt Müllenbrock, an und legte ihm ausdrücklich - und mehrmals, von drei Gesprächen wissen wir - nahe, sich bei Haftverschonungsanträgen der Verteidiger in den vor Weihnachten 1980 stattfindenden Haftprüfungsterminen mit Gegenanträgen und Beschwerden zurückzuhalten. Staatsanwalt Müllenbrock tat nichts dergleichen. Er beantragte Haftbefehle, er widersprach Haftverschonungen, er legte Beschwerden dagegen ein, und er beantragte, diesen Beschwerden aufschiebende Wirkung zu geben. Er holte sich Hilfe bei einigen Strafkammern des Landgerichts und zuletzt beim Kammergericht. Inwieweit sich Staatsanwalt Müllenbrock noch auf die Gesetze berufen kann, wenn er - wie eingangs erwähnt - sie gegen den einen so und gegen den anderen anders anwendet, muß hier wohl nicht weiter diskutiert werden. Wenn schon Staatsanwalt Müllenbrock - wie vor ihm die Polizei - objektiv die Verhandlungen zwischen Instandbesetzern und Senat blockiert, mindestens um Monate hinausgezögert hat, wenn schon sein Verhalten mit Ursache war für die nächsten »Krawalle« von Weihnachten '80 bis in das neue Jahr hinein und wenn ihn selbst der Justizsenator
persönlich nicht zu einem anderen Verhalten bewegen konnte, erzwingt das nicht gerade den Verdacht, daß dieser Mann, seine Behörde Interessen vertreten, die wenig mit der Strafprozeßordnung, aber viel mit dem Boykott der Senatspolitik zu tun haben? Die Lobbyisten der »Falken« hatten ihr erstes Etappenziel erreicht! Wieder rückten Verhandlungen in unübersehbare Ferne, was nicht gerade dazu beitrug, die Stimmung zu beruhigen. Symptomatisch war der Fall des besetzten Hauses in der Luckauer Straß 3: In der zweiten Februarhälfte 1981 meinte der Senat, dem Druck der Staatsanwaltschaft, die auf der Durchsuchung des Hauses bestand, nicht mehr standhalten zu können. Der Innensenator nahm daraufhin Kontakt zu drei Rechtsanwälten auf, die als Verteidiger im einschlägigen Zusammenhang bekannt waren, und bat diese um Vermittlung: Sie sollten erreichen, daß die Besetzer in der Luckauer Straße einer »Begehung« des Hauses durch zwei Beamte des Innensenators zustimmten. Ziel dieser »Begehung« sollte sein, die Verdachtsmomente der Staatsanwaltschaft nach Möglichkeit zu entkräften: Die »Begeher« sollten einen Bericht schreiben und bei der Staatsanwaltschaft als Zeugen aussagen. Möglicherweise, so hieß es, würde ja dann die Staatsanwaltschaft von der Durchsuchung absehen. Zumindest aber könne so gewährleistet werden, daß eine spätere Durchsuchung friedlicher verlaufen würde; zur Zeit rechne nämlich die Polizei damit, daß es Tote geben würde, ginge sie in dieses Haus. Diese Einstellung, und damit die Methoden der Polizei, könnten sich durch eine vorherige »Begehung« ändern, die Gefahr gewalttätiger Auseinandersetzungen vermindert werden. Noch während diese Verhandlungen liefen, berichtete die Presse schon über die bevorstehende Durchsuchung - grotesk eigentlich, denn bei welcher Durchsuchung sollte denn noch etwas zu finden sein, wenn sie schon vorher bekannt war? Aber das Büro des Innensenators teilte den Anwälten mit, daß man ja gerade froh sei, wenn nichts gefunden würde. Und ein Beamter des Innensenators meinte: »Wir stehen nicht mehr nur mit dem Rücken zur Wand - wir stehen; schon in der Wand.« Man einigte sich darauf, daß eine »Begehung« durch einen »neutralen«, der Kirche verbundenen Rechtsanwalt und einen Richter - der später mangels Genehmigung seines Dienstherren durch einen Pfarrer ersetzt wurde - sollte. Aber die Besetzer der Luckauer Straße 3 tricksten den Senat und die Staatsanwaltschaft aus: Eiqe Stunde vor dem geplanten Begehungstermin öffneten sie ihr Haus zu einer Pressekonferenz und erklärten, daß sie angesichts der akuten Bedrohung das Haus verlassen, in andere Häuser umziehen und die Luckauer Straße der Bewegung, anderen Besetzern übergeben würden. So geschah es. Und die Staatsanwaltschaft konterte mit Ermittlungsverfahren gegen Innensenator Dahrendorf und Polizeipräsident Hübner wegen Strafvereitelung. Indessen arbeitete sich die Staatsanwaltschaft zum nächsten Etappenziel vor: Sie versuchten, die Instandbesetzer der »kriminellen Vereinigung« zu beschuldigen. Zweimal, bei der Obentrautstraße 44 und beim Fraenkelufer, scheiterten diese Versuche allerdings: die Richter verweigerten entsprechende Haftbefehle. Erst beim Herrnhuter Weg klappte es, mit Hilfe eines befangenen Haftrichters, aber inzwischen mit der Bestätigung des Landgerichts abgesegnet. Die nächste Stufe ist eingeleitet: Nachdem die CDU Senat und Regierenden Bürgermeister stellte, war ihre erste Aktion die Räumung des Hauses Mittenwalder Straße 45 in Kreuzberg, eines klassischen Spekulationsobjektes, das tadellos in Ordnung ist, in dem aber eine »Luxusmodernisierung« jener Art geplant ist, die so modernisierte Wohnungen für normale Menschen unerschwinglich werden läßt. Die Eigentümer dieses Hauses hatten schon gleich nach seiner Besetzung auf Räumung bestanden, aber der damalige SPD/FDP Senat hatte das verhindert: Er ließ sich vom Verwaltungsgericht bescheinigen, daß er nicht gezwungen sei, zu einem bestimmten Zeitpunkt zu räumen, sondern diesen Zeitpunkt unter Abwägung der Verhältnismäßigkeit selbst bestimmen dürfe. Er räumte nicht. Vom neuen CDU-Senat hatte jedermann Räumungen erwartet; aber daß er als erstes ausgerechnet dieses Haus räumen ließ, ein jedem einsichtiges und weithin schon bekanntes, geradezu
symbolisches Spekulationsobjekt war eine Kriegserklärung an die »scene«, wie sie deutlicher '., nicht ausfallen konnte. Sie zeigte noch in den ersten Stunden: nach der Räumung ihre Wirkung. 10000 Menschen versammelten sich am 25. Juni 1981 zu einer Demonstration, aus der sich bis zum Morgen des nächsten Tages Straßenschlachten in mehreren Bezirken, Verletzungen, Sachschäden in Millionenhöhe entwickelten. Was bei alledem auf den ersten Blick verwundert, ist, daß sich jedenfalls bislang die harte Linie, die Staatsanwaltschaft und Kammergericht den mit den »Krawall-Prozessen« befaßten Richtern hatte vorschreiben wollen, nicht in der gewünschten Form durchgesetzt hat. Ein Blick auf die Statistik, Stand Ende Juni 1981: 45 Menschen haben seit Januar 1981 in der ersten Instanz unmittelbar wegen ihrer angeblichen Beteiligung an den »Krawallen« vom Dezember 1980 bis heute vor Gericht gestanden und haben ihre Urteile gehört. 5 von ihnen waren wegen Diebstahls, Plünderung angeklagt, einer wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung, die übrigen 39 wegen besonders schweren Landfriedensbruchs. Das Ergebnis - wobei nur die wichtigsten Gruppen genannt sind: bisher 28,9% Freisprüche, 33,3% Freiheitsstrafen mit Bewährung und nur 11,1% Freiheitsstrafen ohne Bewährung. Gerade letztere sollten aber, wenn es nach dem Kammergericht gegangen wäre, die Regel sein. Das Kammergericht wollte Abweichungen von dieser Regel sogar ausschließen. Die Urteilsbegründungen sind in den meisten Fällen eher banal und gehen kaum auf die Ursachen der Krawalle ein. Nur ein Richter hat offenbar etwas weiter gedacht. Jugendrichter F. verurteilte Robert V., der einen Steinwurf zugegeben hatte. Richter F. hielt noch einen weiteren Steinwurf für erwiesen, nachdem er von vier als Zeugen aufgetretenen Polizeibeamten drei als mehr oder weniger unglaubwürdig aussortiert, dem vierten aber geglaubt hatte. Richter F. beschäftigte sich sodann mit der Frage, oh er Erwachsenen- oder Jugendstrafrecht anzuwenden habe, und entschied sich für das erstere, nicht ohne zu erwähnen, paß höchst zweifelhaft sei, ob die »Solidarisierung mit der Hausbesetzerbewegung auf sogenannte >jugendtümliche< ]Vlotivationen schließen lasse«. Sodann wandte sich Richter F. der Frage des Strafmaßes zu und führte aus, der Angeklagte habe sich ein persönliches Widerstandsrecht »in einem im wesentlichen geordneten Staat« angemaßt; wer dies tue, setze »unzulässigerweise die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin mit den Zuständen in einem verbrecherisch geführten Staat gleich, in dem Widerstand gewiß moralisch legitimiert wäre, was indes ebenso grotesk wie gefährlich und gefährdend ist. Es müßte - dies mag dem Angeklagten gar nicht einmal unlieb sein - zur Anarchie führen, einem Zustand, dem in einem Rechtsstaat die Gerichte energisch einen Riegel vorzuschieben haben ...« Und so weiter. Immerhin - man ist als Verteidiger schon positiv überrascht, so etwas überhaupt in einem Urteil zu lesen, zu sehen, daß es ein Richter der Mühe wert gefunden hat, ein paar Gedanken einzubringen. Besonders, wenn es wie folgt noch weiter geht. Richter F. wendet sich gegen die »insoweit nicht spezifizierte Ansicht des Vertreters der Staatsanwaltschaft«, es lägen noch besonders strafschärfende Merkmale vor, sieht im Gegenteil eine ganze Reihe von Strafmilderungsgründen, als deren ersten er nennt: »Einmal ist es immer unerfreulich für ein Gericht, einen einzigen Angeklagten von Hunderten wegen dessen relativ zufälliger Festnahme durch Bestrafung zum >Sündenbock< für alle zu machen...« Weiter stellt Richter F. fest, es sei auch zu berücksichtigen, daß der Angeklagte sich subjektiv gerechtfertigt gefühlt habe, und im übrigen sei er ja, soweit er Hausbesetzungen für moralisch zu rechtfertigen halte, »bei Erkenntnis der einschlägigen Mißstände ... im Recht«. Richter F. gab ein Jahr Freiheitsstrafe mit Bewährung, und wegen der Bewährung sah er sich genötigt, auf das Argument der Staatsanwaltschaft einzugehen, wonach es Bewährung
wegen der notwendigen »Verteidigung der Rechtsordnung« keinesfalls geben dürfe; was Richter F. hierzu zu sagen hatte, ist nun allerdings wirklich bemerkenswert - nämlich: »Eine Strafaussetzung hätte demgemäß dem Angeklagten nur verwehrt werden können, hätte es die Verteidigung der Rechtsordnung unabdingbar gefordert. Das Gegenteil ist indes der Fall, und insofern seien einmal im weiteren Sinne politische Gesichtspunkte legitimerweise erwähnt: Schafft man mit dem Angeklagten einen Märtyrer für die >scene<, stünden eher gewalttätige neue Unruhen bevor, als wenn man ihn persönlichkeitsangemessen wie jeden anderen Straftäter auch behandelt: wer sich für ein Abrißhaus >solidarisiert<, dürfte dies weit eher für einen eingesperrten Freund tun.« Das ist, soweit ersichtlich, der bislang einzige Versuch eines mit der Problematik befaßten Richters, sich wenigstens im Ansatz eine Vorstellung davon zu machen, was in jener »scene« los ist und für welche Argumente sie vielleicht noch ansprechbar sein könnte, und am Ende eine offene Stellungnahme gegen das Provozieren weiterer Unruhen. Die Staatsanwaltschaft hat sofort Berufung eingelegt. Es bleibt die Erfahrung, daß in den Moabiter Gerichtssälen zwei Welten aufeinanderstoßen, zwischen denen Sprachlosigkeit und Verständnislosigkeit herrscht. Wo die Richter zwischen der Erwähnung »angeblicher« oder tatsächlicher »politischer Forderungen« der Angeklagten schwanken, wissen diese nur, daß sie für das Recht kämpfen, ihr Leben nach Grundsätzen zu gestalten, die mit den Prinzipien jedes relativ humanen Staatswesens vereinbar sein sollten. Wo die Richter sich mehr oder minder mühsam abringen, das Bestehen einer Wohnungsnot zuzugeben, sieht der Angeklagte die »Scheißkolonnen« vor sich, Trupps, die von den Hauseigentümern angeheuert werden, um die leerstehenden Häuser dadurch unbewohnbar und möglichst unbesetzbar zu halten, daß sie, diese Trupps, Treppenhäuser, Flure und Zimmer vollkoten (und natürlich die Scheiben einschlagen, die Türen offenstehen lassen und sogar festbinden, damit: nur ja genug Feuchtigkeit und Schimmel in die Wände zieht). Wo die Richter sich mehr oder minder ehrlich über die Gefahren aufregen, welche Steinwürfe mit sich bringen, sieht der Angeklagte nur riesige Haufen behelmter Polizisten vor sich, die brutal auf die »Fotzen« und die »Ratten« einknüppeln, zu sechst auf am Boden liegende Menschen einschlagen und eintreten. Er hört dazwischen den Richter sagen, er, der Angeklagte, habe auch Widerstand bei der Festnahme geleistet, und das von einem Richter, der nicht die geringste Ahnung davon hat, wie diese Beamten sein können, wenn sie losgelassen werden. Der Angeklagte hört den Richter von der Verwerflichkeit der Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele reden und erinnert sich doch nur an das Gefühl der Befreiung, als er seinen ersten Stein warf, endlich einmal zurückschlug, die Ohnmachtsgefühle abschüttelte (die meisten allerdings haben noch keine Steine geworfen; sie sind auf dem Wege, es zu lernen, just in diesen Verhandlungen, in denen man es ihnen vorwirft, sie dafür verurteilt). Recht - das suchen diese Menschen nicht im Gerichtssaal, sie wissen, daß es ihr Recht dort nicht gibt. Wenn sie den Saal verlassen, sind sie nicht beeindruckt, sie sind wütend, wenn »die Bullen« - und das sind für sie auch die Richter - zugeschlagen haben, und sie freuen sich, wenn einer rausgekommen, davongekommen ist. Ihre Vorstellungen, ihr Feeling, ihr Leben wird durch die Gerichte nicht in Frage gestellt. Die da oben, wir hier unten - das geht nie mehr zusammen.
Im Fadenkreuz Drei Mitglieder der Sanitäter-Gruppe über sich selbst Wenn Pflastersteine fliegen und Polizeiknüppel tanzen, dann sind sie dabei: die Sanitäter der Hausbesetzerszene, Sie tragen feste Kleidung: Motorradhelme, Lederjacket und eine Sanitasche mit Verbandszeug und Zitronen. Weißße Lätzchen auf Brust und Rücken mit rotem Kreuz und geballter Faust kennzeichnen sie als »Sanis«. Heide: Früher hat es hier schon einmal so etwas wie »Schwarzkreuz« und »Blaukreuz« gegeben. Das war um 68 herum und später, als das Georg-von-Rauch-Haus besetzt wurde. Von damals sind einige übriggeblieben. Wiedergegründet hat sich die Sani-Gruppe vor etwa vier Jahren bei Demonstrationen in Westdeutschland, in Brokdorf zum Beispiel. In Berlin hat es damals so gut wie gar nicht geknallt. Wir haben uns um alles, was bei Demonstrationen anfällt, gekümmert, um Fußblasen, um alles. Inti: Wir waren zum Beispiel beim Gorleben-Treck dabei und haben wirklich hauptsächlich Fußblasen verarztet. Wir wollten damals prinzipiell auf jeder Demonstration sein, soweit wir das kräftemäßig packen konnten. Das gab anfangs eine Menge Schwierigkeiten, weil wir so eine Art Uniform trugen und man uns deshalb so eine Art Ordnerfunktion geben wollte. Das konnten und wollten wir natürlich nicht. Aber ein Sani mußte halt wissen, wo die Demonstration hingeht und was noch alles passiert. Heide: Inzwischen gibt es in Westberlin an die 70 bis 80 Sanis, die mehr oder weniger regelmäßig mitmachen. Die meisten davon sind entsprechend ausgebildet: als Sanitäter, als. Krankenschwestern, Ärzte oder Medizinstudenten. Inti: Wir wollten uns von Anfang an so ausrüsten, daß wir auf alle denkbaren Situationen eingestellt sind. Das geht mit, Verbandszeug los, dann Zitronensaft, schon für einen selbst, damit man wenigstens noch Luft kriegt, wenn man durch Tränengas latscht. Zusätzlich sterile Instrumente, um Wunden zu säubern, Kompressen. Ich renn inzwischen weniger mit Verbandszeug rum als mit sterilen Kompressen, die ich den Leuten dann in die Hand drücke und sag: Hier, nimm das Ding in die Hand und drück es auf die Wunde und sich zu, daß du wegkommst. Die Leute von uns, die etwas mehr von Medizin verstehen, haben auch noch Medikamene dabei oder alle möglichen Utensilien, um Augenverletzungen behandeln zu können. Das heißt: Eine Augen-Spülflasche haben wir prinzipiell alle dabei. Hinzu kommt die Ausrüstung für uns selber. Wir haben von vornherein gesagt: Wir haben keinen Bock, uns die Schädel einschlagen zu lassen, und deshalb gehen wir nur mit Helm. Das hat anfangs einigen Zoff gegeben. Es hieß, wir seien ein Stirrlmungsbarometer und wir würden durch unsere Helme ein völlig verkehrtes Bild von der Demonstration vermitteln. Es hat da Demonstrationen gegeben, auf denen die Leute mit T-Shirts und Söckchen und Kleidchen spazierengegangen sind, und wir sind da mit unseren Helmen und Lederjacken aufgetreten. Aber aus gutem Grund macht uns deshalb heute kaum noch einer an.
Christian: Das hat sich neulich in Berlin am Winterfeldplatz ganz deutlich gezeigt, wie nötig ein Helm ist. Da hat es einen Schwerverletzten gegeben, mit mehreren Platzwunden am Kopf, und später hat sich herausgestellt, daß er auch noch eine Gehirnblutung hatte. Das war das Ergebnis eines Schlagstockeinsatzes der Polizei. Ich bin sicher: Wenn der Typ einen Helm aufgehabt hätte, dann wäre er glimpflicher davongekommen. So hat er lange in Lebensgefahr auf der Intensivstation gelegen, man hat ihm durch eine Operation ein Blutgerinnsel aus dem Gehirn entfernen müssen. Inzwischen geht es ihm wieder etwas besser. Heide: Der wird aber noch satte Folgen davon haben. Er ist seitdem epilepsiegefährdet, darf sich nicht mehr anstrengen. Kopfverletzungen sind sowieso im Augenblick die gängigen Verletzungen bei Demonstrationen. Am Winterfeldplatz, da bin ich zum Beispiel selbst mit drei anderen Sanitätern von der Polizei zusammengewichst worden. Wir haben d kleine oder größere Blutergüsse davongetragen, mehrere zumeist, Striemen am ganzen Körper. Aber wir haben Helme getragen und zum Teil Nierenschutzgurte. Ich lag auf dem Boden und hab gedacht: So, jetzt zerspringt der Helm, und wenn der'kaputt ist, dann kriegst du den Schädel eingehauen. Aber der Helm hat gehalten, und ich war hinterher vollkommen benebelt. Also, Sanitätsdienst zu machen ohne Helm, das ist reiner Selbstmord. Inti: Die Sani-Gruppe in dieser Form gibt es etwa seit dem 12. Dezember 1980, als es im Anschluß an die Räumung des besetzten Hauses am Fraenkelufer zu einer Straßenschlacht kam. Seitdem gibt es diesen großen Bedarf an Sanitätern. Vorher haben wir mit ungefähr 15 bis 20 Sanitätern die zumeist friedlichen Demonstrationen abgedeckt. Aber im Augenblick haben wir einen richtigen Boom. Die 70 bis 80 Sanitäter, die es im Augenblick gibt, sind natürlich nicht alle draußen. Viele von ihnen arbeiten in Krankenhäusern im Schichtdienst. Aber bei größeren Demonstrationen haben wir im Durchschnitt etwa 30 bis 50 Sanitäter im Einsatz, und die werden auch gebraucht. Es gibt in Berlin mehrere Sanitäter-Gruppen, die in Kontakt miteinander stehen, damit man immer weiß, wer an einem Abend Zeit hat und einsatzbereit ist und wer nicht. Wir sind zum Teil auch in den Telefonketten drin, die nach dem Schneeballsystem ablaufen, wenn etwas los ist. Wir sind dann nicht die ersten am Ort, aber doch ziemlich frühzeitig. Das ist nicht ganz exakt organisiert, aber man macht so seine Erfahrungen und kann ganz gut abschätzen, wieviele Sanitäter bei einer Demonstration gebraucht werden. Wenn es zum Beispiel zu einer Aktion der »grünen Radler« kommt, dann wird es vermutlich ruhig bleiben, und, es reicht, wenn fünf Sanis sich aufs Fahrrad schwingen und mitfahren. Bei einer solchen Fahrrad-Demo ist im letzten Jahr ein betrunkener Autofahrer in ein paar Radler reingefahren. Dabei hat es mehrere Schwerverletzte und einen Toten gegeben. Meistens dauert es sehr lange, bis die offiziellen Rettungsdienste kommen. Unsere Aufgabe ist es dann, die Leute erst einmal vor Ort zu versorgen. Diese offiziellen Rettungsdienste, etwa der Malteser-Hilfsdienst oder der Arbeiter-SamariterBund, schicken ihre Wagen nur zu größeren angemeldeten Demonstrationen. Aber sie halten sich zumeist abseits und greifen nur ein, wenn sie gerufen werden. Genauso ist es mit dem Unfallwagen der Feuerwehr oder dem Notarzt-Wagen. Die haben, etwa bei einer Straßenschlacht, die Anweisung, erst einzugreifen, wenn sich die Lage beruhigt hat. In Kreuzberg, wo sich die Auseinandersetzungen manchmal vier bis fünf Stunden hinziehen und wo sich die Lage eben zwischendurch nicht beruhigt, kann man damit rechnen, daß ein
Verletzter manchmal vier bis fünf Stunden in einem Hauseingang läge, wenn wir nicht eingreifen würden. Wir müssen also mitten im Getümmel Erste Hilfe leisten. Das ist vor allem bei Augenverletzungen wichtig. Und die offiziellen Rettungsdienste werden oft von der Polizei überhaupt nicht durchgelassen. Christian: Am Ku-Damm hat neulich, am 15. Dezember, die Polizei nicht einmal den Unfallwagen der Feuerwehr durchgelassen. Da lag eine Frau mit Schock in so einem Hamburger-Laden. Davor standen Bullen-Ketten, und die haben die Feuerwehr nicht durchgelassen. Inti: Ich hab das am 12. Dezember auch erlebt. Da fuhr ein Polizeiwagen in eine Gruppe rein. Und einem Typ, der gerade vor einem Betonkübel stand, wurden von dem Einsatzwagen die Beine zerquetscht. Ein paar Leute haben ihn daraufhin erst einmal notdürftig versorgt. Schließlich kam die Feuerwehr und hat ihn auf die Trage gepackt. Gerade als die Feuerwehrleute ihn wegtragen wollten, hat die Polizei Tränengas in ihre Richtung geschossen. Ich hab mit einem Typen gesprochen, der direkt daneben stand, und der sagte, daß die Feuerwehrmänner tierisch sauer waren, weil sie nichts mehr sehen konnten. Die waren durch das Tränengas halb blind und mußten den Verletzten wegbringen. Dabei gibt es eine Dienstanweisung innerhalb der Polizei, daß die Beamten sich nach dem Schlagstockeinsatz um Verletzte zu kümmern haben. Aber in Wirklichkeit läuft das natürlich nicht. Die knüppeln, und entweder springen sie dann gleich wieder in ihre Mannschaftswagen und fahren weiter, oder sie räumen die Straße und riegeln ab. Wer verletzt ist wird meistens liegengelassen oder festgenommen Der liegt dann praktisch im Niemandsland, in einem von Menschen geräumten Gebiet. Die Polizei schickt fast nie jemanden dorthin, der sich um den Verletzten kümmert. Und auch wir haben oft Schwierigkeiten, durchgelassen zu werden. (Das sprechen manche Polizisten ganz offen aus.) Es gibt zum Beispiel eine Gruppe »Junge Polizei«, von denen hat neulich jemand gesagt: »Wir verhaften nicht mehr. Wenn wir jemanden festnehmen, dann kommt der ja sowieso bald wieder raus. Für uns ist die Devise: draufknüppeln, damit sie ihre Quittung kriegen.« Das haben die in einem ganz offiziellen Interview gesagt. Christian: Und so machen die das auch. Ich hab neulich aus einem Haus, in dem wir praktisch eingeschlossen waren, beobachtet, wie ein Polizist eine Frau zusammengeschlagen hat. Der hat bestimmt 20- bis 30mal mit seinem Knüppel auf die eingeschlagen. Das dauerte ewig lang, und ich hatte das Gefühl, er schlägt die tot. Inti: Die Taktik der Polizei in den letzten Monaten ist so: Wo Leute rumstehen, da fahren Mannschaftswagen vor, die Polizisten springen raus und dreschen ohne Warnung auf die Leute ein. Wer nicht mehr schnell genug wegrennen kann, wer eingekeilt ist, der bekommt eine mörderische Senge. Wenn die Arbeit erledigt ist, springen die Polizisten wieder in ihre Wannen und brausen ab. (Und die Verletzten bleiben liegen.) In diesem Fall hatte die Polizei die Straße nach zwei Seiten hin abgeriegelt, so daß man nicht mehr wegkam. Die Frau hat sich an eine Hauswand gestellt und ihre Hände hochgehalten. Ein einzelner Polizist ist dann auf sie zugegangen und hat auf sie eingeschlagen, endlos, mehrere Minuten, es schien, als wolle er überhaupt nicht wieder aufhören.
Die Frau hat ungeheuer viel Glück gehabt, daß sie keine schwereren Verletzungen davongetragen hat. Der Polizist hatte nämlich noch so einen alten Gummiknüppel und nicht den neuen Holzknüppel, mit dem die Polizei heute fast durchgehend ausgerüstet ist. Deshalb hatte sie »nur« schwere Prellungen und einen Schock. Wir haben später das Mädchen befragt, und da hat sich herausgestellt, daß sie noch nicht einmal zu den Demonstranten oder den Hausbesetzern gehörte. Sie wollte nur einen Freund besuchen, der zufällig in der Straße wohnte. Neulich gab es einen Schwerverletzten, der hatte eine Gehirnblutung. Auch er war völlig unbeteiligt, er hatte nur einen Bekannten besuchen wollen, als er in die Auseinandersetzung geriet. Das ist nicht untypisch. Wir haben in der letzten Zeit sehr oft Leute versorgt, die eigentlich unbeteiligt waren. Etwa Passanten, oder Leute, die aus Kneipen kamen, sich irgendwo in der Drehe aufhielten und noch nicht einmal gecheckt hatten, was lief. Die Leute, die wirklich an den Sachen beteiligt sind, die sich gegen die Polizei zur Wehr setzen, die wissen inzwischen, wie sie mit der Polizei umzugehen haben. Die wissen nämlich: Wenn jetzt die Mannschaftswagen, also die »Wannen« um die Ecke biegen, dann stoppen die gleich, und die Polizisten springen raus und prügeln auf alles ein. Da hält man besser Distanz, haut also schnellstens ab. Und die Leute, die keine Ahnung haben, bleiben stehen. Und die trifft es dann meistens. Daher kommt es auch, daß die Leute, die heute auf Demonstrationen zusammengeschlagen werden, allzuoft völlig Unbeteiligte sind. Heide: Neulich gab es so einen Fall, ein etwa 50jähriger Mann, den ich aus der Arztpraxis kenne, in der ich gearbeitet habe. Der Mann ist Bluter. Auf dem Weg nach Hause ist er zusammen mit seiner Frau in eine Auseinandersetzung zwischen Demonstranten und Polizei hineingeraten und ist von der Polizei zusammengeprügelt worden. Er hat dabei eine ziemlich große Platzwunde am Kopf davongetragen, die war so groß, daß sie fast über den ganzen Schädel reichte. Kopfplatzwunden aber bluten unheimlich stark. Der Mann hat das Bewußtsein verloren, und die Frau ist natürlich völlig ausgeflippt. Sie hat herumgebrüllt: »Ihr macht ihn tot, ihr Schweine. Mein Mann ist Bluter.« Da ist der Bulle kreideweiß geworden und ist weggerannt, weil er wahrscheinlich in dem Moment auch dachte, der Mann verreckt auf dem Pflaster. Christian: Ich glaube, die Polizisten werden in ihrer Ausbildung dazu angehalten, möglichst hart zuzuschlagen. Das hat sich ja auch in Brokdorf gezeigt. Da werden erst einmal Horrormärchen verbreitet, um die Polizisten stimmungsmäßig vorzubereiten. In Brokdorf ist, soweit ich weiß, einer Hundertschaft erzählt worden, einer ihrer Kameraden sei mit einer Axt erschlagen worden. Man kann sich vorstellen, daß Polizisten dann wie Berserker dreinschlagen. Ich hab das einmal an eigenem Leib erfahren. Ich war auf der Gegendemonstration gegen die türkische Faschisten-Demo. Diese Gegendemonstration ist am Kurfürstendamm/ Ecke Uhlandstraße aufgelöst worden. Das lief so ab: Die Demonstranten, vielleicht 150, sind von Polizisten eingekreist worden, ganz blitzschnell. Wir waren in dem Kessel und haben uns den Polizisten deutlich als Sanitäter zu erkennen gegeben. Wir hatten uns sogar vorher beim Einsatzleiter der Polizei angemeldet und trugen unsere weißen Lätzchen mit dem schwarzen Kreuz. Bei der Anmeldung hatte uns die Polizei noch zugesichert, wenn wir uns neutral verhielten, dann würde sich auch die Polizei neutral verhalten; In dem Bewußtsein sind wir in den Kessel reingegangen. Dann kam über Megaphon die Durchsage: »Dies ist eine verbotene Versammlung, bitte lösen Sie sich auf.« Unmittelbar darauf haben die Polizisten losgeprügelt. Es gab gar keine Möglichkeit, rauszukommen. Wir waren völlig eingekesselt. Da haben wir
dann die Fresse vollbekommen und zwar reichlich. Ich hab ein dickes Auge davongetragen und eine angebrochene Nase. Anschließend habe ich Strafanzeige erstattet und Schadenersatz verlangt. Aber es ist völlig klar, daß nichts dabei herauskommt. Das Ganze ist jetzt über einen Monat her, und ich habe noch nicht einmal ein Aktenzeichen. Es waren damals unheimlich junge Polizisten, die erst aufgehört haben zu prügeln, als ein älterer Polizeioffizier sie zurückgedrängt hat. Diese Polizisten haben so auf die Leute eingeprügelt, daß dabei zwei Fahrräder zerdrückt worden, daß ein paar weibliche Touristen ohnmächtig geworden sind, als sie diese Knüppeleien beobachteten. Sie sind umgekippt, einfach vom Zusehen. Das waren ganz, ganz junge Bullen, die hatten so richtig ihr Prügelfest, ihre Einweihung. Heide: Was die auch für ein Bild von uns haben! Als ich neulich festgenommen wurde, haben sich die Beamten noch ziemlich korrekt benommen, sie haben mich also nicht zusammengeschlagen und in der Wanne auch nicht auf den Boden geschmissen, was sie sonst gern tun. Ich durfte mich in der Wanne richtig hinsetzen. Als ich meinen Helm absetzte, hat einer mit seinem Knüppel auf den Helm gehauen, wohl um meine Reaktionsweise zu testen. Nachdem die erste Anspannung vorbei war, entwickelten die Polizisten eine unheimliche Neugier. »Hat die einen Ausweis dabei? Gib mal her. Hat die Kinder? Tatsächlich? Gibt's denn sowas?« Da wurde mir plötzlich klar, warum die so prügeln. Die wissen überhaupt nicht, mit wem sie es zu tun haben. Man könnte die auch auf Marsmenschen loslassen. Ich möchte aber noch auf einen anderen Punkt eingehen. Wir machen den Sani-Dienst auch, um den Leuten eine Verhaftung zu ersparen. Wir bringen Verletzte weg und sehen zu, daß sie nicht der nächsten Zivilstreife vor oder im Krankenhaus in die Hände fallen. Wir wissen von dem Krankenhaus hier in der Nähe, daß dort ständig Polizisten drinnen oder draußen Posten bezogen haben. Bei Augenverletzungen, Kopfplatzwunden, Knochenbrüchen usw. leichterer Art bringen wir die Leute meistens in Krankenhäuser, die etwas weiter entfernt liegen. Das hat die Polizei natürlich nicht so gerne. Die Feuerwehr dagegen ist verpflichtet, grundsätzlich die Personalien von Verletzten an die Polizei herauszugeben. Deshalb hat die Polizei natürlich die Feuerwehr als Transporteur am liebsten. Bei den Rettungsdiensten ist es verschieden. Wir wissen von einigen Rettungsdiensten, daß sie schon denunziert haben. Wir wissen aber auch von einzelnen offiziellen Sanitätern, daß sie selbst nicht denunzieren wollen. Es ist also völlig klar, warum die Polizei etwas gegen uns hat. Wir nehmen ihnen einfach eine ganze Reihe von Strafverfahren weg. Das Ganze hat natürlich auch zur Folge, daß immer große Zahlen von verletzten Polizisten bekanntgegeben werden, während die Zahl der verletzten Demonstranten nicht oder jedenfalls nicht so schnell bekannt wird. Wir versuchen dem zu begegnen, indem wir den Ermittlungsausschuß über die Zahl der verletzten Demonstranten informieren. Wir sagen auch immer, Verletzte sollen sich dort melden. Bei der Schlacht am Winterfeldplatz haben sich ungefähr 50 Verletzte beim Ermittlungsausschuß gemeldet. Aber ein großer Teil von den
Leuten, die wir versorgt haben, ist gar nicht erst hingegangen. Die sagen dann oft: »Was soll das? Wenn ich mich irgendwo melde, dann kriege ich doch nur ein Ermittlungsverfahren. « Christian: Im Grunde haben wir überhaupt keine Öffentlichkeit, wenn wir die Zahlen von verletzten Demonstranten bekanntgeben. Wer glaubt schon den autonomen Sanitätern? Inti: Auf der anderen Seite kann man auch den »offiziellen« Sanitätern von irgendwelchen Rettungsdiensten nicht immer trauen. Ich hab das zum Beispiel auf einer friedlichen Demonstration erlebt. Da lief ein Sanitäter mit einer Armbinde des Roten Kreuzes herum. Ich hab ihn gefragt: »Bist du wirklich vom Roten Kreuz?« Er schlug daraufhin seine Brieftasche auf und zeigte mir seinen Rotkreuz-Ausweis. Auf der anderen Seite hatte er aber einen Ausweis von der Freiwilligen Polizeireserve, die es in Berlin gibt. Der Typ war so Mitte Zwanzig, und er hatte - als Rettungssanitäter - einen Gummiknüppel dabei. Ich hab ihn dann gefragt, was er mit dem Gummiknüppel will. Er antwortete: »Falls ich angegriffen werde.« Das ist natürlich totaler Quatsch. Mir ist bis jetzt nicht bekanntgeworden, daß irgend jemand, der beim Roten Kreuz ist, von Demonstranten angegriffen wurde. Vielleicht hatte er den Gummiknüppel ja auch dabei, um bei einem verletzten Demonstranten eine örtliche Betäubung vorzunehmen. Umgekehrt werden wir, obwohl wir als Sanitäter gekennzeichnet sind, oft von der Polizei besonders aufs Korn genommen. Mir ist es einmal bei einer Demonstration passiert, daß mir ein Polizist einen Gummiknüppel ins Gesicht schlug, als ich mich gerade um einen Verletzten kümmerte. Das hat mich zwei Schneidezähne gekostet. Der Polizist hat sich damit entschuldigt, daß er sagte: »Ich hab nicht gesehen, daß du Sanitäter bist.« Das war natürlich eine lächerliche Ausrede, denn ich war ganz deutlich als Sanitäter gekennzeichnet. Neulich war ich auch als Sanitäter dabei, als einige Leute das Cafe Kranzler »besetzt« hatten. Das war diese Tortenschlacht. Draußen auf dem Kurfürstendamm hat die Polizei Leute gejagt. Mit ein paar anderen Sanitätern zusammen habe ich einen Verletzten weggebracht. Plötzlich kam eine Gruppe von Polizisten auf uns zu, und mit den Worten »ihr treibt euch ja immer noch hier rum« hat mir der ältere seinen Knüppel über den Oberschenkel gezogen, was eine ziemlich üble Prellung hervorgerufen hat. Ich hab aber auch schon andere Sprüche gehört. Bei einer friedlichen Demonstration wollte ich zum Einsatzleiter gehen, um mich darüber zu beschweren, daß wir bei unserer Arbeit behindert wurden. Dazu mußte ich an einer langen Polizeikette vorbei. Ich habe einen Polizisten gefragt, wo ich den Einsatzleiter finden könnte. Darauf er: »Das sage ich dir nicht. Und außerdem, mach mal lieber dein Fadenkreuz ab.« Ich hab natürlich gesehen, daß ich wegkam. Früher haben wir versucht, mit der Polizei ins Gespräch zu:, kommen. Als ich noch beim »Schwarzkreuz« war, vor einigen Jahren, da gab es bei der Polizei die sogenannte »Gruppe 47«. Das war eine Einheit, die mit den Demonstranten diskutieren sollte. Es waren extra ausgebildete Polizisten, die sich auch mit Marxismus beschäftigt hatten, um mit den Demonstranten zu reden. Wir haben bei denen angerufen und uns als die Sanitätsgruppe »Schwarzkreuz« gemeldet. Sie waren auch bereit, sich mit uns an einem neutralen Ort zu treffen.
Drei Mann kamen dann in die »Kleine Weltlaterne« in der Leibnizstraße. Aber die ganze Gegend wimmelte von Zivilbeamten. In der Kneipe haben wir mit den Leuten von der »Gruppe 47« geredet, Getränke auf Spesen, und sind so mit ihnen verblieben, daß wir in Ruhe gelassen werden, wenn wir uns bei Demonstrationen vorher anmelden. Das lief eine Zeitlang auch ganz gut. Es wurden keine Sanitäter mehr festgenommen oder zusammengeschlagen. Als zum Beispiel 1971 das Bethanienhaus besetzt wurde, bin ich zusammen mit ein paar anderen Sanitätern zum polizeilichen Einsatzleiter gegangen und habe gesagt: »Guten Tag, Schwarzkreuz. Wir möchten gern ins Haus, um helfen zu können, falls es bei der Besetzung zu irgendwelchen Verletzungen gekommen ist oder es zu einer Räumung kommt.« Da haben uns die Polizisten sogar eine Leiter besorgt, so daß wir ins Haus klettern konnten. Drinnen haben wir zwei Räume als Sanitätsräume deklariert. So lief das damals. Die Beamten, mit denen wir gesprochen haben, waren meistens vom Staatsschutz; von denen ist immer die Koordination des Polizeieinsatzes gemacht worden. Das ging eigentlich ganz gut. Die wußten, wer wir waren, und wir wußten auch, an wen wir uns zu wenden hatten. In der letzten Zeit aber sieht es so aus, daß wir uns nicht mehr anmelden. Das ist ein Beschluß der verschiedenen Gruppen. Der Grund dafür ist, daß es immer wieder zu Übergriffen gegen Sanitäter, ähnlich wie am Winterfeldplatz, gekommen ist. Als wir es doch noch einmal versucht haben, uns anzumelden, hat ein leitender Beamter zu einer Sani-Frau gesagt: »Ihr kriegt heute eure Quittung. Wenn ihr noch hierbleibt, dann kriegt ihr es genauso wie die anderen.« Christian: Uns haben sie gesagt: »Ihr seid heute nacht dran.« Das war auch am Winterfeldplatz. Da haben wir so eine Wannenbesatzung gefragt, wo der Einsatzleiter ist. Darauf haben die uns geantwortet: »Es gibt keinen Einsatzleiter, denn es gibt ja auch keinen Einsatz.« Einer der Beamten hat noch gesagt: »Da könnte ja jeder kommen. Und von dir würde ich mich sowieso nicht behandeln lassen. Du hast ja Salmonellen an den Fingern.« Und dann hat er mir noch erklärt, wir seien ja sowieso die Rädelsführer, und wir würden heute nacht ganz besonders die Fresse vollkriegen. Da haben wir gesagt: »Gut, danke schön«, und sind wieder gegangen. Heide: Anderen gegenüber haben sie das noch in soweit präzisiert, daß sie mit ihren Holzknüppeln zuschlagen würden. Das ist dann auch genauso eingetreten. Wir sind später zu viert zusammengewichst worden. Ein anderer Sanitäter ist noch auf die Polizisten zugegangen, aber der ist dann mit den Worten »du bist auch so ein Rot-Kreuz-Schwein« zusammengehauen worden. Das läuft eigentlich immer ganz unterschiedlich ab. Manchmal, vor allem bei angemeldeten Demonstrationen, haben wir uns bei der Polizei doch noch gemeldet. Dann ließ man uns auch manchmal höchst freundlich mit »bitte sehr« und so durch. Dann wieder, trotz Anmeldung, überhaupt nicht. Im Getümmel haben sie nie Rücksicht genommen, aber damit haben wir auch nicht gerechnet. Die Tendenz geht aber eindeutig in Richtung auf eine Verschärfung. Inzwischen ist es Jacke wie Hose, ob wir uns anmelden oder nicht. Prügel kriegen wir allemal, ich hab sogar den Eindruck, daß sie es besonders auf uns abgesehen haben.
Es gibt ja auch kaum noch eine Koordination der Polizeieinsätze. Irgendwie liegt es an jedem kleinen Polizisten selbst, ob er nun losprügelt oder nicht, je nach seiner individuellen Hemmschwelle. Und die wird immer niedriger. Offenbar wollen die Bullen von möglichst vielen Sanis die Personalien feststellen, möglichst viele Sanis verprügeln, möglichst viele Sanis festsetzen. Inti: Dabei gibt es so etwas wie eine Proforma-Zusage der Polizeiführung, daß Sanitäter nicht behindert werden sollen. Aber das ist offenbar nicht bis zu den einzelnen Gruppenführern, geschweige denn zu den einzelnen Polizisten durchgesickert. Für die stellen wir ein ganz klares Feindbild dar, weil wir uns um diejenigen Leute kümmern, die demonstrieren. Wir sind natürlich auch keine Hilfsorganisation im klassischen Sinne. Das wollen wir auch nicht sein. Wir begreifen uns genauso als Demonstranten. Aber wir beteiligen uns nicht am Steineschmeißen und am Barrikadenbauen. Wir leisten keinen aktiven Widerstand, und wir wehren uns auch nicht gegen Festnahmen. Es müßte der Polizei dabei eigentlich klar sein, daß wir nichts machen, daß wir darüber hinaus jedem Verletzten helfen: jedem Demonstranten und auch jedem Polizisten. Das kommt nämlich vor. Nach der Durchsuchung des besetzten Hauses in der Adalbertstraße zum Beispiel war abends wieder Auseinandersetzung in der SO 36. Dabei ist ein Polizist von einem Steinwurf verletzt worden, und zwei unserer Leute haben versucht, diesen Polizisten zu versorgen. Daraufhin sind sie von zwei anderen Polizisten verprügelt worden. Da war nichts von wegen »danke schön« oder »ist ja korrekt«, sondern da war ein ganz klares Feindbild. Heide: Wobei der verletzte Polizist sich sogar helfen lassen wollte. Er hatte einen Stein gegen das Bein bekommen. Unser Typ hat gefragt: »Eh, soll ich dir helfen?« Und der Polizist hat geantwortet: »Ja, ja, da und da tut es weh«. Das tut auch wirklich sehr weh. Einen Stein ans Schienbein zu kriegen. Der Sanitäter beugt sich runter, und da kriegt er auch schon von hinten was mit dem Knüppel. Da haben die natürlich gemacht, daß sie wegkamen. Das ist doch Wahnwitz. Grundsätzlich haben wir beschlossen, daß wir verletzten Bullen natürlich auch helfen. Inti: Nun hat die Polizei auch ihre eigenen Sanitäter, die mit einer Armbinde mit einem grünen Kreuz gekennzeichnet sind. Die müßten eigentlich nach der gesetzlichen Lage auch verletzte Demonstranten versorgen. Das tun sie aber in Wahrheit nie. Diese Polizeisanitäter sind auch mit Schlagstock usw. ausgerüstet, und die prügeln auch munter mit. Christian: Ich hab manchmal auch schon Bock, meine SaniZeichen hinzuschmeißen. Ich hab nämlich keine Lust, mir die Fresse vollhauen zu lassen, bloß für mein Sani-Zeichen. Das ist aber meine persönliche Meinung, nicht die der Gruppe. In manchen Situationen ist es nämlich so, daß wir erstens nicht an die Verletzten herangelassen werden, und zweitens kriegen wir als Sanitäter erst recht die Fresse voll. Wir haben wirklich so etwas wie ein Fadenkreuz auf dem Rücken. Und deshalb habe ich manchmal solch eine Wut, daß ich selbst mit zulangen möchte. Mittlerweile ist das so schlimm geworden, und wir sind so zur Zielscheibe geworden, daß ich manchmal ausßippen könnte. Bei dieser Türken-Demo sind wir so zusammengeprügelt worden, ohne daß es irgendeinen Grund dafür gab, daß ich, wenn die anderen Sanis nicht dabeigewesen wären, meine Abzeichen hingeschmissen hätte und hinter den Bullen
hergelaufen wäre. Das war richtig so ein Übungsprügeln. Die waren nicht cool, die Bullen, sondern denen lief der Geifer, denen hat das Spaß gemacht. Heide: Man muß das ganz klar sagen: Die Sanigruppen haben eine Absprache, daß sich Sanitäter grundsätzlich nicht an militanten Auseinandersetzungen beteiligen. Das ist auch ganz logisch. Wir haben keinen Bock, denen einen Vorwand zu liefern, daß sie uns angreifen können. Das tun die sowieso, da wollen wir ihnen nicht auch noch die Rechtfertigung dafür liefern. Inti: Der Haß der Polizisten auf uns hat einen ganz klaren Grund. Die haben Angst, daß wir ihnen ihre Verhaftungen vermiesen. Deswegen nehmen sie jetzt auch ihre eigenen SaniFahrzeuge mit Arzt und so mit. Die wollen die Verletzten selbst einsacken, also festnehmen. Daß verletzte Demonstranten sich nicht gern von denen helfen lassen, ist auch ganz klar. Wenn ich von einem Polizisten was über die Rübe kriege, im Schock daliege, und ein Uniformierter kommt, ein mit Schlagstock bewaffneter Polizist, und sagt: »Ich will dich jetzt ärztlich versorgen«, dann ist doch logisch, daß ich mich erstmal mit Händen und Füßen dagegen wehre. Heide: Das muß auch ganz klar sein: Wir sind nicht neutral, so wie das Rote Kreuz zu irgendwelchen linken Demonstrationen geht, und vielleicht schon etwas lieber zu irgendwelchen rechten Demonstrationen. Wir sind Demonstranten. Wir gehen dahin, weil wir die Sache unterstützen, um die es da geht. Wir stecken ziemlich dick z. B. in der ganzen Hausbesetzerszene drin. Wir haben in verschiedenen anderen politischen Auseinandersetzungen gesteckt oder stecken da drin. Aus dem Grunde machen wir das. Wir haben nicht nur so einen humanitären Anspruch, so »helfen-lieben-heilen«, so FlorenceNightingale-Geschichten oder so. Inti: Und wir machen auch nicht die Verletzten für die Polizei transportfähig. Wir versuchen, die Verletzten von der Straße herunterzubringen, damit sie nicht noch was über die Rübe kriegen, und außerdem wollen wir verhindern, daß die Verletzten dann auch noch ein Strafverfahren kriegen. Jeder, den sie irgendwo auf der Straße packen, kriegt sein Strafverfahren. Inti: Neulich gab es auch wieder so eine tolle Geschichte. In der Naunynstraße sollte ein Haus geräumt werden, und einige Sanitäter sind dorthin gefahren. In der Nähe des Springer-Hauses sind sie in ihrem Auto von einer Zivilstreife angehalten worden. Aber irgendwie wußten die Polizisten gar, nicht so recht, was sie mit den Leuten anfangen sollten. Sie standen etwas verlegen herum, bis einer von ihnen auf den: Gedanken kam, das Radio anzuschalten. Er drehte an der Skala herum und bekam plötzlich den Polizeifunk zu hören. Daraufhin rückten immer mehr Polizeiwagen an, und es, hieß, das Fahrzeug sei beschlagnahmt und alle vier Sanitäter im Wagen seien vorübergehend festgenommen. Sie wurden zur Gefangenensammelstelle gebracht, und bei dreien von ihnen, die noch nicht erkennungsdienstlich behandelt waren, wurde das jetzt nachgeholt. Dann kam glücklicherweise ein Bediensteter der Post, der das Radio untersuchen sollte. Der Postbeamte stellte fest, daß am Radio nicht herummanipuliert worden war, um den Polizeifunk abhören zu können. Es war ein ganz normales Autoradio, an dem nichts verstellt war. Dadurch, daß der Wagen aber von mehreren Polizeifahrzeugen umgeben war, hatte sich eine Art Funkbrücke gebildet, die dazu führte, daß aus dem stinknormalen Radio plötzlich der Polizeifunk ertönte. Daraufhin wurde die Anschuldigung des illegalen Abhörens des Polizeifunks fallengelassen,
und die Sanis wurden auf freien Fuß gesetzt. Aber durch diese Aktion sind wieder drei weitere Sanitäter erkennungsdienstlich behandelt worden. Heide: Mir kommt das immer wie eine Machtdemonstration vor, wenn die Polizisten uns ohne irgendeinen Grund festnehmen, durchsuchen, erkennungsdienstlich behandeln. Irgendwie scheint das für die Typen eine sehr genüßliche Geschichte zu sein. Wenn sie dir die Arme abgrabbeln, dann behalten sie ihre Handschuhe an, aber wenn sie dir die Brust abgrabbeln, dann ziehen sie die Handschuhe vorher aus. Schlimm geht es auch bei den Durchsuchungen besetzter Häuser zu. Da wütet die Polizei richtig. Neulich haben sie bei einer Durchsuchung in den Wohnungen, vorzugsweise in den besonders ordentlichen Zimmern, alles durcheinandergeworfen. Da haben sie zum Beispiel Zahnpasta in die Haarbürsten geschmiert und Tampons in die Hydrokulturen geworfen, Farbe an die frisch gestrichenen Fenster gekippt, Wasser auslaufen lassen, Aschenbecher in den Betten ausgeleert und so weiter. Ein paar Zimmer, die völlig chaotisch waren, die haben sie nicht angerührt. Dann haben sie z. B. in der Reuterstraße die legalen Stromzähler au'sgebaut; die hat die Bewag dann nachmittags wieder eingesetzt. In einigen Wohnungen hat die Polizei die Stromkabel zu handlichen Stücken zerschnitten, so, daß man sie nicht mehr benutzen konnte. Stereoanlagen werden bei solchen Einsätzen besonders gern demoliert. Und in der Reuterstraße 45 haben sie in einer Wohnung einen Topf Stecknadeln ins Müsli geschüttet und umgerührt. Insgesamt scheint die Taktik der Polizei im Augenblick darin zu bestehen, daß sie die gesamte Szene auflisten will. Die haben bestimmt schon Hunderte von Leuten erkennungsdienstlich behandelt. Das alles steht niemals irgendwo in der Presse, höchstens noch mal in der »Taz«. Und auch die Hausbesetzer selbst haben sich schon fast daran gewöhnt, das gehört irgendwie inzwischen dazu. Auch an das, was die Polizisten so ablassen, wenn sie in den Wohnungen herumlaufen. In einem Haus haben sie sich die dort wohnenden Mädchen angeguckt und dann Sprüche losgelassen, mit welchen sie es nun am liebsten treiben würden und auf welche Weise. Dazu kam dann wieder so eine Neugierde: Wie sind die denn überhaupt und wie sehen die denn aus? Die ist doch ganz hübsch, wenn sie bloß nicht die Haare lila hätte. Inti: Das Dollste, was ich bisher erlebt habe, das war diese Schlacht am Winterfeldplatz. Es sollte ein besetztes Haus in der Goltzstraße geräumt werden. Das ging mittags los. Einige Mannschaftswagen fuhren vor das Haus, die Polizisten stiegen aus und kriegten sofort ziemliche Senge. Christian: Da gab es auch schon Barrikaden. Als die etwa dreißig Polizisten ausstiegen, gab es einen solchen Steinhagel, daß sie an das Haus nicht herangekommen sind. Sie haben noch nicht einmal geschafft, die Barrikaden abzubauen. Dabei mußte das Haus an diesem Tag geräumt werden, weil am nächsten Tag Markttag war, an dem man ja nur schlecht räumen konnte, und am folgenden Tag lief die Abrißgenehmigung für das Haus ab. Heide: Die Abrißgenehmigung ist aber inzwischen verlängert worden. Es war praktisch das erste Mal seit langer Zeit, daß direkter Widerstand gegen eine Räumung geleistet wurde, und nicht erst einige Stunden später, mitten in der Nacht, Randale gemacht wurde.
Am selben Tag war schon ein anderes Haus geräumt und sofort abgerissen worden. Die Polizisten haben gesagt: »Spätestens um 18 Uhr ist hier sowieso alles leer.« Aber die Leute haben Barrikaden gebaut, so fest und dick und ordentlich hab ich die noch nie gesehen. Autos, Autoreifen, Plakatwände wurden da mannshoch aufgetürmt. Inti: Da war ein Auto, ein Schrottauto. Nicht, daß das Gerücht auftaucht, es sei ein Privatwagen gewesen. Das Auto war abgemeldet und schon völlig kaputt. Heide: Die Situation war so: Das ist ein riesiger Platz mit einer Kirche. Das besetzte Haus liegt praktisch gegenüber. Man braucht also die Straße nur rechts und links abzusperren, dann kommt niemand mehr an das Haus heran. Und das ist dann auch passiert. Die haben rechts und links Barrikaden errichtet. Alle Plakatwände, die in der Nähe herumstanden, wurden dafür benutzt, Wahlplakate, Marlboro-Plakate, was weiß ich. Dann sind Unmengen Steine, also schöne große von den Gehwegen, und aller mögliche Müll aufgeschichtet worden. Christian: Müllcontainer auch. Die haben einen zwei Tonnen schweren Müllcontainer quer über die Straße gestellt. Mir ist schleierhaft, wie sie das gemacht haben. Das war wirklich stabil. Und dann haben die Bullen absolut nicht damit gerechnet, daß da abends 1000 Leute rumlaufen würden. In der Nacht hat es so eine Randale gegeben, und die Leute haben sich so gewehrt, daß die Polizisten kein Land gesehen haben. Die haben über Funk immer nach Polizeireserve gerufen, aber es gab keine. Heide: Die Leute haben sich einfach gesagt, dieses Haus schützen wir jetzt. Wir wollen nicht immer nur auf eine Räumung reagieren, wir wollen die Räumung verhindern. Und das ist im Endeffekt auch geschafft worden. Am Nachmittag war die Situation noch etwas unübersichtlich. Kurz nach sechs Uhr hat ein Vertreter der »Alternativen Liste« den gutgemeinten Versuch unternommen, mit der Polizei zu verhandeln. Die Polizei hat ihm gesagt: »Wenn Sie jetzt eine Demonstration anmelden, dann werden wir die auch genehmigen. Wir räumen das Haus auch nicht. Verlassen Sie bloß die Barrikaden.« Das hat der AL-Vertreter auch mitgeteilt. Da waren die Leute schon etwas sauer, so wegdirigiert zu werden. Aber die Bewohner des besetzten Hauses waren dafür, sich darauf einzulassen. Die wollten eine Räumung des Hauses nicht provozieren. Die Leute haben dann gesagt: Gut, dann machen wir eben eine Demonstration, und sind sofort losgerannt, ohne darauf zu warten, daß die AL die Demonstration anmeldete. Wir haben darum gewettet, daß die Demonstration es nicht vier Blöcke weit schafft. In Wahrheit hat sie es auch nur drei Blöcke geschafft. In der Potsdamer Straße fing das Geknüppel an. Es ging dann Richtung Winterfeldplatz zurück, und dort begann eine stundenlange Schlägerei. Die Polizei war offenbar nur aufs Draufhauen aus, ich glaube, die haben an diesem Abend nur fünf Leute festgenommen. Inti: Am nächsten Tag gab es eine große Schlagzeile: »105 Polizisten verletzt.« Davon waren 10 dienstunfähig und einer im Krankenhaus. Heide: Bei den Demonstranten gab es ca. 100 Verletzte, darunter, wie schon gesagt, einen mit Gehirnblutung und einen mit Lungenriß. Insgesamt war das eine Auseinandersetzung, die sehr
heftig geführt wurde. Die Leute, die Bescheid wußten, haben sich gesagt: Wir lassen die Polizei nicht an uns herankommen. Deshalb sind da viele Steine geworfen worden. Von der Polizeiseite aus wurde nur drauflos geknüppelt, wo immer es ging. Es war für uns unheimlich schwer, überhaupt an Verletzte heranzukommen. Sonst war es manchmal möglich, irgendwo durch die Reihen durch oder hintenrum oder so an Verletzte heranzukommen. Das, war am Winterfeldplatz fast unmöglich. Man mußte sich so, in Deckung halten, daß man möglichst überhaupt nicht gesehen wurde. Unser Sani-Zeichen war an diesem Abend, wirklich das Fadenkreuz, die Zielscheibe. Christian: Das war wirklich Bürgerkrieg. Wir hatten gehört, daß es in der Kneipe »Ruine« Verletzte geben sollte. Wir sind gelaufen wie die Hasen, um überhaupt in die Kneipe zu kommen. Es stellte sich heraus, daß in der Kneipe ein Zuckerkranker war, der dringend eine Insulinspritze brauchte. Nun krieg mal jemanden bei so einer Art Bürgerkrieg aus der Kneipe raus. Wir haben dann ein Motorrad organisiert. Der Fahrer hat den Typen durch die Reihen durchgebracht. Wir mußten den Weg aus der Kneipe zurückgehen zu dem Haus, aus dem wir gekommen waren. Ich hab noch nie so Angst gehabt wie da. Wir waren auch noch nie so kaputt anschließend. Wir saßen dann zusammen, mehr oder weniger eingeschlossen in einem Haus, und haben zugeguckt, wie die Bullen die Leute zusammengehauen haben. Inti: Über Stunden haben die Leute Gegenwehr geleistet. Überall, wo die Polizeifahrzeuge auftauchten, haben unheimlich viele Leute mit Steinen geworfen. Jeder wußte eben: Wenn ich mir hier jetzt nicht mit Steinen Luft verschaffe, dann kann ich nicht einmal mehr die Kurve kratzen. Christian: Da sind Sondereinsatzkommandos der polizei gerannt wie die Hasen. BullenEinsatzkommandos, SEK, die sind gerannt. Und ich hab zum ersten Mal gesehen, wie die Leute auf die Polizisten zugegangen sind. Heide: Aber wir sind auch lange nicht so gerannt. Auch Journalisten, vom »Tagesspiegel« und von der »Taz« haben an dem Abend was auf die Fresse gekriegt von der Polizei. Christian: Deshalb hatten wir auch eine ganz gute Presse. Wenn die Journalisten selbst etwas auf die Fresse kriegen, dann schreiben sie positiv. Inti: Ich bin da auch mit ein paar anderen Sanitätern zusammen in so eine Situation geraten. Wir hatten eine verletzte Frau aufgesammelt, sozusagen zwischen den Fronten. Und wir standen da: auf der einen Seite die brennende Barrikade und auf der anderen Seite die Polizeikette. Auf die Polizei konnten wir nicht zugehen, weil wir mit Sicherheit Prügel bezogen hätten, auch die Frau, die eine ziemlich blutende Platzwunde am Kopf hatte. Wir sind zurückgegangen und haben uns vorsichtig durch eine Lücke in der brennenden Barrikade abgesetzt. Die Polizei hat versucht, mit etwa zwei Hundertschaften die brennende Barrikade zu stürmen, was ihr auch teilweise gelang. Und eine Gruppe von etwa 30 Polizisten ist auf die andere Seite der Barrikade gelangt, und als sich ihre Kollegen dann wieder zurückzogen, waren diese 30 Mann völlig abgeschnitten zwischen den Fronten. Die standen plötzlich im Vakuum. Und es war reiner Zufall und viel Glück, daß sie da wieder rausgekommen sind.
Die Polizei hatte am Winterfeldplatz auch zum ersten Mal seit dem 12. Dezember wieder Wasserwerfer eingesetzt. Aber es ist ihnen nicht einmal gelungen, mit ihren Wasserwerfern die brennenden Barrikaden zu löschen. Christian: Das war das erste Mal, daß die Polizisten richtig die Muffe gekriegt haben. Augenzeugen haben mitgekriegt, wie Einsatzleiter der Polizei ihre Leute aufgefordert haben, aus den Wannen auszusteigen, und die Polizisten haben sich einfach geweigert, die sind einfach nicht ausgestiegen, weil sie Angst hatten. Und später gab es eine Szene, da sind die Bullen von der einen Seite der Straße anmarschiert gekommen, mehrere Reihen stark. Mit ihren Helmen und Schildern und Schlagstöcken sahen sie aus wie die alten Römer bei einer Feldschlacht. Sie haben dann langsam und gleichmäßig mit ihren Knüppeln auf die Schilde getrommelt: tack, tack. Und von der anderen Seite her sind die Demonstranten gekommen, auch in mehreren Reihen, Und die hatten Pflastersteine in den Händen und haben die aneinander geschlagen: tack, tack, tack. Aus einem der Häuser tönte laute Rock- und PunkMusik. Und fast automatisch sind die Polizisten in den Takt der Musik verfallen und haben im Rhythmus ihre Knüppel auf die Schilde gehauen. Und die Demonstranten sind auch in den Takt eingefallen und haben im selben Rhythmus ihre Steine aneinander gehauen. Das war, als würden zwei feindliche Heere aufeinander zumarschieren... Und wir waren mitten drin. Heide: Das verändert Leute, die an solchen Auseinandersetzungen teilnehmen, natürlich ziemlich. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die ursprünglich Gewalt abgelehnt haben, sich zumindest selbst nicht daran beteiligen wollten. Und dann haben sie plötzlich den ersten Knüppel abgekriegt, und dann sieht das alles ganz anders aus. Daraus haben viele die Konsequenzen gezogen. Nun sagen sie: Jetzt wehr ich mich auch. Oder andere, die sich an militanten Auseinandersetzungen nicht aktiv beteiligen wollen, sind auf diese Weise zum Sanidienst gestoßen. Aus der Auseinandersetzung mit der Polizei hat sich für viele auch ein völlig neues Verhältnis zum Staat ergeben. Manch einer fragt sich: Was willst du eigentlich mit dem Verein zu tun haben? Du kannst dich natürlich nicht in ein Getto zurückziehen, aber es stellt sich doch die Frage, ob du noch weiterhin Bafög kassierst oder Sozialhilfe. Ich kenne eine ganze Reihe von Leuten, die sagen, das machen sie nicht mehr mit. Die verdienen sich halt ihren minimalen Lebensunterhalt, indem sie soviel wie gerade nötig arbeiten gehen, aber diese ganzen staatlichen Geschichten wollen sie nicht mehr. Aber das ist natürlich die Minderheit. Die Mehrheit holt sich schon das, was zu holen ist. Insgesamt geht es im Augenblick darum, daß bestimmte Freiräume verteidigt werden. Für viele, die in besetzten Häusern leben, ist das fast eine Existenzfrage. Was sollen die machen, wo sollen die wohnen, wenn die Häuser geräumt werden? Vor allem können sie in den besetzten Häusern so wohnen, etwa mit anderen zusammen, wie sie es bisher getan haben. Das ist schon irgendwie eine soziale Bewegung, wobei niemand so recht weiß, wie es im Augenblick weitergehen soll. Die Bewegung hat halt auch ihre Grenzen. Welche von den jetzt eroberten Freiräumen auf längere Sicht zu erhalten sind, ist unklar. Auf jeden Fall glaube ich nicht, daß sich diese Hausbesetzerbewegung auf Jahre hinaus halten wird. Ich befürchte, daß der Staat einen kleinen Teil der Leute einlullen wird, dadurch daß man ihnen Mietverträge gibt, ihre Wohnverhältnisse legalisiert, sie an bestimmten Modernisierungen beteiligt, in einzelnen Fragen auf sie eingeht. Aber andere werden nicht wissen, wohin sie sollen. Darüber hinaus wird ein großer Teil der Szene kriminalisiert, die Leute werden noch über Jahre mit ihren Prozessen zu tun haben.
Man kann auch nicht jeden Abend Randale machen. Letztlich ist der Staat stärker. Meiner Ansicht nach ist es wichtig, sich mit den Nachbarn, den normalen Mietern, zusammenzutun, mit denen z. B. gemeinsam etwas gegen den drohenden Abriß zu tun. Auf diese Weise müssen wir unsere Basis verbreitern.
Spontis, Schlaffis und Chaoten Psychologische und politische Perspektiven der neuen Jugendbewegung Karl-Michael Kuntz Hausbesetzungen verunsichern und provozieren das politische Establishment und die mehr oder minder konservative Mehrheit älterer Westdeutscher. Kein Zweifel: Hausbesetzungen sind keineswegs isolierte Aktionen wohnungssuchender Vagabunden, sondern konkrete Demonstrationsversuche und Kristallisationspunkte einer handlungsorientierten Alternativbewegung, die nicht in papierenen Programmen und Postulaten stecken bleiben will. Kein Zweifel: Die überwiegend von Jungwählern getragenen Erfolge der Grünen bzw. Bunten Listen erschüttern die Selbstsicherheit der drei Bundestagsparteien. Kein Zweifel: Hausbesetzungen erzwingen Diskussion und Stellungnahme zu Vorstellungen über Leben, Gesellschaft, Demokratie und Zukunft. Soweit die Situation. Sie wirft mehrere Fragen auf: Wieso besetzen die lange Zeit als Schlaffis belächelten Jugendlichen Häuser, starten alle möglichen Alternativprojekte, nehmen als Kriegsdienstverweigerer eine negative Stigmatisierung auf sich? Warum erweisen sich gerade Hausbesetzungen als konkrete Ansatzpunkte für eine neue Praxis alternativen Lebens? Sind die politischen Bewegungen, die mit Hausbesetzungen teils parallel, teils verknüpft einhergehen, nur ein Strohfeuer? Brauchen die etablierten Parteien nur ausdauernd zu warten oder hinhaltend zu taktieren, bis die »Bewegung« erlahmt und schließlich im Sande verläuft? Wie tiefgreifend, wie grundsätzlich, wie verfestigt sind die weltanschaulichen Unterschiede zwischen der konservativen und konformen Mehrheit einerseits und den innovationsfreudigen Alternativlern andererseits - welche Probleme und Möglichkeiten gibt es für Verständigung und Zusammenleben? Kurz: Welche Ursachen, Bedeutung und Zukunftsperspektiven hat die alternative Bewegung? Hier soll der Versuch unternommen werden, den spezifischen Charakter der alternativen Bewegung zu skizzieren, ihre Motivationslage mit der Bedürfnishierarchie von Abraham H. Maslow zu deuten und verschiedene Möglichkeiten der künftigen Entwicklung zu skizzieren. In die alternative Bewegung münden viele Strömungen und; Projektgruppen ein: die Friedensbewegung, die Anti-Kernkraftbewegung, Frauenbewegungen, Instandbesetzer, .
Stadtteilgruppen, selbstverwaltete Jugendzentren, therapeutische Gruppen, Bürgerrechtsbewegungen, Kinderläden... Zugleich sammeln sich sehr unterschiedliche soziale, politische und weltanschauliche Strömungen, die ihre brodelnde , Dynamik ausmachen. Es gibt gemeinsame Aktionen, Treffpunkte, gemeinsame Presse, daneben aber auch viel nuancierende Abgrenzung, inhaltliche Auseinandersetzung untereinander, in manchen Gruppen - etwa den Bürgerinitiativen - auch fließende Grenzen zu etablierten gesellschaftlichen Einrichtungen. Ungeachtet der unterschiedlichen Stoßrichtungen und: Schwerpunkte all der vielen Gruppen, ihrer Nuancen und Schattierungen sind ihnen einige zentrale Wertvorstellungen gemeinsam. Einig sind sie in der Ablehung des Wachstums-Fetischismus, des übertriebenen Konsums, der zur Ausbeutung der Natur, zur Entfremdung der Menschen führt, der Ablehnung hochgezüchteter Technologie, der bürokratischen Bevormundung. Sie bejahen soziale und individuelle Selbstverwirklichung, Entfaltung geistig-seelischer und schöpferischer Kräfte. In der Diktion Erich Fromms ist für die Alternativen das »Sein« wichtiger als das »Haben«. Diese Grundstimmung manifestiert sich besonders deutlich in Hausbesetzungen. Durch die Erhaltung baulicher Substanz wird sinnlose Vergeudung von Materialien und Arbeit vermieden. Im Zuge der Instandbesetzung wird selbstbestätigende, die eigenen Kräfte und Fertigkeiten entwickelnde Arbeit geleistet. Anstelle von protzigem und kostspieligem Luxus kann pfiffige Kreativität treten. Selbstbestimmte Eigenleistungen ersparen fremdbestimmte Arbeit. Gleichzeitig drücken Hausbesetzungen Distanz oder Verachtung gegenüber Eigentumsregelungen aus, die dem Grundbedürfnis des Menschen, schlichtweg ein Dach über dem Kopf, einen physisch geschützten Lebensraum zu haben, zuwiderlaufen. Schließlich sind Hausbesetzungen eine der wenigen Möglichkeiten sichtbar konstruktiven Protests. Gegen die vielen anderen Mißstände und Bedrohungen, die im Alltag, in der konkret erfahrenen Erlebniswelt unsichtbar bleiben - Rüstung, Atomenergie, Folter, Zensur -, sind nur Demonstrationsmärsche möglich. Hingegen kann die Zerstörung von Wohnraum durch Instandbesetzungen anschaulich ad absurdum geführt werden. Gerade Hausbesetzungen bzw. die Räumung besetzter Häuser brandmarken die widersinnige und menschenfeindliche Haltung eines Systems, das Polizisten zum Schutz unbebauten Geländes (für Atomkraftwerke), einsetzt, die mutwillige Zerstörung von Wohnraum aber duldet. Die vielbeschworenen Sachzwänge sind ein Trugbild. Die Gesetze und Steuerregelungen, die zu diesen Absurditäten führen, sind von Politikern gemacht und können auch von ihnen wieder geändert werden - wenn nur der politische Wille vorhanden ist. Ohnehin haben Juristen noch immer Wege und Begründungen gefunden, wenn es galt, die normative Kraft des Faktischen durchzusetzen. Die praktische Durchschlagskraft, die Möglichkeit, Theorie anschaulich in Praxis umzusetzen, führt zum politischen Erfolg der Hausbesetzungen, der in der breiten Sympathie für diese unkonventionellen Aktionen besteht. Jeder zweite Bundesbürger (geanz genau 51 %) äußerte in einer demoskopischen Umfrage Verständnis für Hausbesetzungen. Die Befragung führte das Institut für Demoskopie Allensbach Anfang 1981 durch, welches von der
konservativen Professorin Elisabeth Noelle-Neumann geleitet wird. 31 Prozent des befragten repräsentativen Bevölkerungsquerschnittes verneinte Verständnis. 18 Prozent nannten ihre Haltung unentschieden. Gerade die hohe Zahl der Unentschiedenen weist darauf hin, daß das Thema immer noch kontrovers ist, daß die Meinungsbildung noch im Fluß ist. Verständnis äußerten von den Unions-Wählern 40 %, von SPD-Wählern 54 %, von FDPWählern 63 % und von Anhängern der >Grünen< 87 %. Daß die Sympathisanten der Hausbesetzer grün, lange ausgebildet und vor allem jung sind, spiegelt sich auch in anderen sozialstatistischen Daten. Von den Absolventen höherer Schulen äußerten 63 % Verständnis, von den 16 - 29jährigen 70 Prozent. Endlich hat auch eine eher obrigkeitsstaatlich gestimmte Bevölkerung zumindest toleriert, daß Neuerer auch den Rasen betreten, vordem ein Schild steht: »Betreten verboten!« Zur Euphorie besteht dennoch kein Anlaß. Ob Hausbesetzungen bei den Älteren Lernprozesse auch für andere Lebensbereiche in Gang setzen, daran zu zweifeln gibt es - leider - einige Gründe. Die Popularität der Hausbesetzungen läßt die heterogene Zusammensetzung der Akteure erahnen. So wie unterschiedliche Generationen ihre unterschiedlichen Bedürfnisse in einer Hausbesetzung ausgedrückt sehen, so manifestieren sich in dieser Aktion weitgefächerte Ziele auch innerhalb der jungen Generation. Einen Versuch, die Vielfalt der Erscheinungen und Motive zu ordnen, stellt die folgende Beschreibung der Berliner »Hausbesetzerszene« dar, die in einem internen Arbeitspapier des Bundesministeriums für Jugend und Familie enthalten ist: » 1. Die stadtpolitische Fraktion: Sie handelt wesentlich aus städteplanerischen und aus sozialpädagogischen Gesichtspunkten heraus. Sie besteht vor allem aus Anhängern von Bürgerinitiativen, darunter viele Architekturstudenten. 2. Die Anhänger der Anarchoszene: Ihr Slogan: >legal - illegal - scheißegal<. 3. Die existenziellen Hausbesetzer: schätzungsweise 1000 bis 1500 junge Trebegänger und Wohnungslose (einschließlich der Drogenabhängigen vielleicht auch 3000). 4. Modische Hausbesetzer: überwiegend Schüler, Studenten und Angehörige der sozialpädagogischen Berufe, die am Image der Hausbesetzungen partizipieren wollen.« Um Entstehung und Konsequenzen der unterschiedlichen Motivations-Schwerpunkte der vorherrschenden konformistischen Mehrheitsgesellschaft einerseits und der nonkon formistischen Minderheit andererseits zu interpretieren, möchte ich zunächst die Motivationstheorie des humanistischen Pyschologen Abraham H. Maslow heranziehen. Maslow geht - wie auch die humanistischen Psychologen Charlotte Bühler oder Carl R. Rogers - davon aus, daß der Mensch eine starke Wachstumsmotivation, einen Drang zur Selbstverwirklichung hat. Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung stehen an der Spitze einer Rangfolge bzw. Hierarchie der menschlichen Bedürfnisse. Die erste Stufe bilden physiologische Bedürfnisse, die für das nackte Überleben der Menschen entscheidend sind: die Befriedigung von Hunger, Durst, Sauerstoffbedarf, Wärme und Schlaf. Diese Bedürfnisse stehen vor allem am Anfang der individuellen Entwicklung
ganz im Vordergrund und bestimmen weitgehend die Motivation des Säuglings. Sie behalten jedoch über das gesamte Leben des Menschen ihre fundamentale Bedeutung bei. Die zweite Stufe bilden die Sicherheitsbedürfnisse: Schutz vor körperlicher Gewalt und Gefahr (durch Kriminalität, Katastrophen, Krieg), wirtschaftliche Sicherheit. Die dritte Stufe bilden soziale Bedürfnisse: das Bedürfnis nach menschlichem Kontakt, Geselligkeit und vor allem - Liebe Die vierte Stufe bilden Wertschätzungsbedürfnisse: Wunsch nach Selbstachtung und Ansehen bei anderen aufgrund von Leistung und Kompetenz. Die fünfte Stufe bildet den Gipfel der Bedürfnishierarchie: Streben nach Entfaltung der Kreativität, nach autonomer Selbstverwirklichung. Praktikabel vereinfacht ist Maslows Bedürfniskatalog in die sozialwissenschaftliche und politische Diskussion eingegangen. Die Bedürfnisse der unteren Stufen werden als »materiell« bezeichnet, die Bedürfnisse der obersten Stufen als »post materiell«. Zum Verständnis der unterschiedlichen Bedürfnisschwerpunkte sind Maslows Annahmen über die Entwicklung menschlicher Motivationen wichtig: Die motivationale Entwicklung eines Menschen läuft idealtypisch über Stufen. Zunächst bestimmen eindeutig die physiologischen Bedürfnisse das Verhalten. Je nachhaltiger diese befriedigt werden, desto mehr verlieren sie von ihrer verhaltenssteuernden Kraft und desto stärker verlangt die nächsthöhere, vorher noch kaum als dringlich empfundene Kategorie der Sicherheitsbedürfnisse nach ihrem Recht. Dieser Prozeß setzt sich nach demselben Grundmuster dann auch im Hinblick auf die sozialen und die Wertschätzungsbedürfnisse fort, bis schließlich das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung im Mittelpunkt der persönlichen Motivation steht. Diese Entwicklung der Motivbildung ist jedoch ziemlich störungsanfällig. Die Motivordnung darf keineswegs als starr festgelegt betrachtet werden. So kann das Individuum einmal auf bereits überwundene Bedürfnisklassen zurückgeworfen werden; zum anderen zeigen sich mitunter dauerhafte Fixierungen auf untere Motivationsstufen. Die Generationen unterscheiden sich, so meine These, grundlegend hinsichtlich der Bedürfnisse und Motivationen. Die ältere Generation hat erst für den Wiederaufbau geschuftet, sich dann am Wirtschaftswunder berauscht. Auf die Erfüllung elementarer Bedürfnisse folgte luxurierender und demonstrativer Konsum. Man arbeitete für das erste Radio mit UKW-Teil, für den ersten Kühlschrank, für den ersten Schwarzweiß-Fernseher, für ein erstes Auto, für eine neue Wohnungseinrichtung, für das nächste Auto, für Farbfernseher, für ein Haus, für HiFiStereoanlage, für Geschirrspüler, für das x-te Auto, für eine neue Wohnungseinrichtung. Getrieben von der Jagd nach immer neuen technischen Innovationen, die von der Werbung clever, raffiniert, glamourös und lustbetont mit Glücksversprechen aufgeladen wurden, entwickelte sich das Leben zu einer Konsumkarriere. Das Selbst, aber auch Ehepartner und Kinder, blieben oft auf der Strecke. Weil Eigentum gegen Kommunismus immun machen soll, haben erst die CDU-Regierungen den Hausbesitz mit aller Kraft gefördert; weil der private Wohnungsbau, wie jeglicher Bau, als der wirksamste Konjunktur-Motor gilt, haben auch die sozialliberalen Regierungen den Bauboom immer wieder angeheizt.
Unbekannt blieb indes die medizinische und soziologische Forschung über die psychosomatischen Folgen des Eigenheimbauens: Nach dem Bezug ihres eigenen Hauses erkranken viele Menschen schwer und für längere Zeit. Viele Ehepaare lassen sich scheiden. Die Gründe: Die Menschen haben sich für den Hausbau aufgerieben. Die Hoffnungen, daß das Leben - die Ehe, das Familienklima - mit dem Einzug in das neue Haus endlich schön werde, daß man nur bis dahin durchzuhalten brauche - diese menschlich verständliche Hoffnung wird oft nicht erfüllt. Hingegen sieht die Statistik über Hausbesitz rosig aus: Im Vergleich zur Mehrzahl der Nachbarländer weist die Bundesrepublik die meisten Eigenheime auf. Ob die Alternativen den Zusammenhang mit zerrütteten Ehen und psychosomatischen Erkrankungen spüren, ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall lehnen sie den physischen und psychischen Aufwand, die »Häusle«-Ideologie, die Isolierung in der vor dem Fernseher dahindämmernden Kleinfamilie ab. Sie suchen mitmenschliche Wärme, Verwirkli chung mit und in der Gruppe. Dazu werden jene größeren Wohneinheiten gebraucht, die um die Jahrhundertwende entstanden und die jetzt abgerissen werden sollen. Die alternativen Projektgruppen ergreifen, statt zu lamentieren oder auf diffuse Systemveränderungen zu setzen, hier und heute die Initiative. Und statt den langen Marsch durch die Institutionen anzutreten, errichten sie ihre eigenen unbürokratischen Einrichtungen. Die Ausbreitung des Postmaterialismus beobachtet der Sozialwissenschaftler Ronald Inglehart (amerikanischer Gastprofessor in Mannheim) in mehreren europäischen Ländern schon seit 1970. Die Befragungen, zum Teil von der Europäischen Gemeinschaft finanziert, fanden 1970, 1973, 1976 und 1978 statt. Im Durchschnitt bekannte sich jeder zehnte befragte Bundesbürger zu postmateriellen Werten; vor allem 15- bis 24-jährige, die heute das Wählerreservoir der Grünen bilden. Inglehart erwartet, sofern keine »dramatischen« wirtschaftlichen Einbrüche passieren, daß die Postmaterialisten die Materialisten nach und nach ablösen. » 1. Materialisten sind hauptsächlich damit beschäftigt, ihre unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen. Postmaterialisten brauchen hier keine Energien mehr zu investieren und können sich >entfernteren< Dingen zuwenden. 2. Als historisch relativ neue Gruppe, die noch eine Minderheit darstellt und deren Ziele und Werte in der gegebenen Ordnung kaum repräsentiert sind, sind die Postmaterialisten in der Regel unzufrieden mit bestehenden Verhältnissen und unterstützten sozialen Wandel. 3. Die Unruhe und der materielle Schaden, der von manchen unkonventionellen politischen Handlungen erzeugt wird (wie Mieterstreik oder Hausbesetzung; d. Verf.), ist für Postmaterialisten weniger negativ und weniger bedrohlich als für Materialisten. 4. Zusammengefaßt also: Postmaterialisten verfügen über eine größere Menge psychischer Energie, die in Politik investiert werden kann. Sie stehen der etablierten sozialen Ordnung kritisch gegenüber und haben - subjektiv gesehen - durch unkonventionelle politische Aktivitäten weniger zu verlieren als Materialisten. Politischer Protest und unkonventionelle politische Aktivität sind also Merkmale einer postmaterialistischen Gruppe.«
Inglehart stützt sich auf folgende Befragungs-Ergebnisse: »Einen Mietstreik mitzumachen, illegale Besetzungen von Gebäuden zu unterstützten oder den Verkehr lahmzulegen«, dazu sind 74% der Postmaterialisten bereit, aber nur 24% der Materialisten. Das Reformengagement schlägt sich in der Einstellung zum sozialen Wandel nieder: »Unsere Gesellschaftsordnung muß radikal und revolutionär verändert werden«, erklärten 16% der Postmaterialisten, 4% der Materialisten. »Unsere Gesellschaft muß schrittweise durch Reformen verbessert werden«, erklärten 72% der Postmaterialisten, 59% der Materialisten. »Unsere jetzige Gesellschaft muß mutig gegen alle umstürzlerischen Kräfte verteidigt werden«, erklärten 13% der Postmaterialisten, 38% der Materialisten. Sicherlich bedeuten Ingleharts Umfrageergebnisse keineswegs mehr als grobe Indikatoren, zumal es eine breite Mitte Unentschlossener bzw. Schwankender gibt. Aber immerhin belegen sie mit positivistischer empirischer Soziologie, die von Technokraten eher akzeptiert wird als »verstehende« Methoden der Humanwissenschaften, daß die Postmaterialisten weder eine Minderheit sind, noch ein Strohfeuer entfachen. Auch sind sie nur zum geringsten Teil radikal. Ohnehin entziehen sich viele Nonkonformisten der konventionellen demoskopischen Erforschung teils durch Verstellung, teils durch Verweigerung von Interviews. Für diese Reserve gibt es verschiedene Gründe: Sie verweigern sich einer voyeuristischen bürgerlichen Intellektuellen-Schickeria. Sie fürchten, daß hinter Umfragen der Verfassungsschutz steckt und sie erfaßt und kriminalisiert werden. Sie wollen keine Informationen für soziatechnische Manipulations-Instrumente liefern. Aus solchen Überlegungen haben in Zürich Angehörige der alternativen Bewegung dem 30jährigen Soziologen Hanspeter Kriesi, der sich selbst als Teil der Bewegung versteht, die Interviews, die sie ihm gegeben hatten, nachträglich wieder aus dem Soziologischen Institut der Universität Zürich entwendet. Kriesi, der seit Jahren an einer umfassenden Studie über politische und soziale Bewegungen in der Schweiz arbeitet, verzichtet nun auf eine empirisch-systematische Erhebung über die Bewegung, weil er sie nicht gegen den Willen der Betroffenen durchführen will. Die Hoffnung konservativer Politiker, die Alternativbewegung sei eine pubertäre Protestgebärde, die bald an Reiz verlieren werde, gehört in den Bereich der Stammtischpsychologie. Die tröstliche Vermutung, hier seien die »üblichen« Generationskonflikte verantwortlich, die wie Kinderkrankheiten überstanden werden müßten, verkennt die Motive der neuen Jugendrevolte. Gleichgültigkeit gegenüber den Älteren sowie die radikal neue Suche nach einem eigenen Lebensstil hat der Göttinger Pädagoge Gerd Wartenberg einfühlsam reflektiert. Die konventionellen Begriffe »Identitätskrise« und »Generationenkonflikt« gehen davon aus, daß die Auseinandersetzung des Heranwachsenden mit seinen Eltern zu einer Rebellion gegen die bestehende Gesellschaft ausgedehnt wird. Das aber ist - bemerken heute aufmerksame Eltern und Erzieher verdutzt - heute kaum noch der Fall. Die Jugendlichen rebellieren nicht mehr gegen die Eltern bzw. die ältere Generation. Deren Lebensstil ist heute so wenig attraktiv, daß sich die Jugendlichen von ihm zurückziehen. Statt dessen suchen sie nach einem eigenen Stil, nach Lebensqualität, ohne die Auseinandersetzung mit Eltern und Älteren noch
ernstzunehmen. Jugendliche stellen sich die Frage: »Wie kann ich mein Leben gestalten?« So, als müßten sie für sich ganz neu und ganz anders beginnen. In der extremsten Form tritt dieses Phänomen so auf, daß auch nicht mehr erwogen wird, ob die ältere Generation in ihrem Leben Lösungen fand, Werte und Ideale vertritt, die es verdienen, daß man sich mit ihnen auseinandersetzt. Die Jugendlichen beginnen gleichsam »ohne Geschichte« (oder im Rückgriff auf Modelle vorgeschichtlicher, tribaler Gesellschaften) ihr Leben zu gestalten. Da es jedoch unmöglich ist, den traditionellen Kontext ganz zu ignorieren, gewinnt ihr Leben für andere gleichsam »demonstrative« Züge: Die Jugendlichen wollen sich selbst und anderen beweisen, daß ein »alternativer« Lebensstil möglich ist. Was heißt es, sein Leben ohne Vorbilder und Tradition zu gestalten? Eine unmittelbare Auswirkung dieser Einstellung bei Jugendlichen findet sich zunächst im Bereich der Selbstdarstellung. Der Jugendliche will ein Individuum sein, das • • •
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ganz im Hier und Jetzt lebt, es also nicht schätzt, Befriedigung und Freude allzu lange aufzuschieben und allzu viel zu planen, sich in seiner natürlichen Körperlichkeit wohlfühlt (nicht steif und verklemmt ist), seine Haare trägt, wie sie wachsen (anstatt sauber gescheitelt), sich mit lässiger Saloppheit kleidet und natürlich ernährt (anstatt »chemisches Zeugs« in sich hineinzufressen). In der Selbstdarstellung zählen »Feeling« und »action« beweisen sie doch, daß man »da« ist, »dabei« ist, »mitmacht«. Wichtig für den Aktionshunger ist weiterhin: die eigene Wohnung und das eigene Fahrzeug, schließlich das Trampen und Reisen, oft ohne festes Ziel, die »Ausfahrt«, die nicht mehr die Züge eines »Urlaubs« hat, sondern oft direkt einer Suche nach Lebensstil dient (wie z. B. die spirituelle Reise nach Indien oder die politischen Ferien in Portugal).
Alle diese Verhaltensformen haben wiederum neue Formen der Geselligkeit zur Folge, einen jugendspezifischen Jargon, der über den Sprachstil auch eigene Ideale setzt (wie »Peace« oder »Power«). Daß die psychischen Ursachen der Alternativbewegung keineswegs in der Auseinandersetzung mit den Eltern liegen, wird besonders an der Sexualmoral deutlich. War für die klassische Identitätskrise der »Kampf gegen die überholte Sexualmoral der verklemmten Eltern« typisch, so herrscht heute - nach Wartenberg - ein neues Experimentierungsverhalten vor. Verliebtsein ist nicht mehr der Ausgangspunkt von Verlobung, Ehe, Familie. Verliebtsein ist immer noch ein »traumhaftes« und »berauschendes Erlebnis«, aber, zugleich auch ein Zustand, der schnell wieder nachläßt. Sexuelle Kontakte werden zwar unkomplizierter, treten früher und etwas häufiger auf, sind aber oft losgelöst von tiefergehenden persönlichen Beziehungen. Die angestrebte Lust: kann auch eine fast spirituelle Bedeutung haben, etwa kosmische Erlebnisse bringen. Entsprechend wird auch die sexuelle Betätigung experimenteller: sei es, daß man vielfältigste Partner »ausprobieren« möchte, sei es, daß man die vielfältigsten Formen des sexuellen Kontakts erprobt, z. B. neugierig auf homosexuelle Kontakte ist oder die Masturbation wie eine Art Selbstbehauptung braucht (es geht eben auch ohne Partner!). Die Suche nach dem Lebensstil schlägt schließlich in der Einstellung zur Arbeit durch. Falls man einen Job hat, gewinnen Blaumachen und Wegbleiben eine wichtige Funktion: Die traditionelle Arbeitsmoral verliert an Bedeutung. Nur im subkulturellen Kontext vermag man der Arbeit noch einen, Sinn abzugewinnen: So gibt es »neue Handwerker«, die töpfern, Schmuck herstellen, und es gibt eine neue Landwirtschaft, biodynamisch, verbunden mit
neuen Wohnformen wie den Landkommunen. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, die etablierten Berufe im eigenen Sinne umzugestalten. Aber im Arbeitsbereich sind die sozialen Erwartungen, besonders rigide strukturiert. Der Versuch, sich selbst den, Job »passend« zu zimmern, trifft hier auf den härtesten Widerstand und führt langfristig meistens doch in die Anpassung oder aber zum endgültigen »Aussteigen«. Am Ende der von Gerd Wartenberg beobachteten Entwicklung steht also der Ausstieg aus der konformistischen Mehrheitsgesellschaft und der Einstieg in »Lebensstil-Subkulturen«, die vielfältige, komplexe Leitlinien politischer, religiöser oder auch psychologischer Art in Entwürfe für ein lebenswertes Leben umzusetzen suchen. Ähnlich wie Gerd Wartenberg, aber ohne dessen entwicklungspsychologische Analyse, entdeckt das Familienministerium in seiner Alternativ-Studie die neuen Werte der »Selbstdarstellung und Ausdrucksfähigkeit«. Aus dem Bedürfnis nach ganzheitlichem Erleben, neuer Sinnlichkeit, Selbsterfahrung ist eine »neue >Psychokultur< mit eigenen Umgangsformen, Sprache und Gebärden« entstanden. Diese Spielart der alternativen Bewegung steht »im scharfen Gegensatz zu den lustfeindlichen, asketischen und dogmatischen Ideologien der K-Gruppen«. Gleichzeitig entwickelt sich seit Beginn der 70er Jahre »ein regelrechter Boom« von mehr oder weniger qualifizierten Psycho-Angeboten, ein breiter grauer Markt, der das Bedürfnis nach Hilfe in psychischen Krisen und nach ganzheitlichem Erleben aufgegriffen hat. Dazu gehören auch die Betonung des sogenannten subjektiven Faktors sowie die »neue Innerlichkeit« und der neue Spiritualismus religiöser Gemeinschaften. In verschiedenen,Meditationsformen, Yoga, vegetarischer Ernährung und Askese werden religiöse Ausdrucksformen und Erfahrungen gesucht. Die Neuentdeckung Hermann Hesses und der Philosophie Rudolf Steiners gehören ebenfalls zur psychedelischen Welle. Alte Mythen und Kulte werden ausgegraben, insbesondere aus der Indianerkultur. Stark beachtete »Thesen zu den Jugendunruhen 1980« hat die Eidgenössische Kommission für Jugendfragen, ein Beratungsorgan des Schweizer Bundesrates (der dem Bonner Bundeskabinett entspricht), aufgestellt. Die Thesen stützen sich auf eine »Bestandsaufnahme der sozialen und psychologischen Hintergründe der neuen Zürcher Jugendbewegung«. Dani Nordmann, sozialpsychologisch und journalistisch ausgebildet, mit einem »direkten Draht« zur Jugendszene, führte die Bestandsaufnahme durch. Die Jugendkommission betont, daß sie »selbstverständlich auf dem Boden unserer Rechtsordnung steht, und ebenso selbstverständlich verurteilt sie Gewaltanwendung in jeder Form. Sie ist aber auch der Überzeugung, daß die erfolgte Anwendung von Gewalt und die Verletzung der Rechtsordnung mit Problemen zusammenhängen, die erkannt und verstanden werden müssen und die mit einer Argumentation ausschließlich auf der formalen Ebene nicht gelöst werden können.« Als Auslöser der Unruhen wird zwar eine radikale Minderheit genannt, doch werden deren Probleme als Probleme einer Mehrheit »und zwar einer Mehrheit nicht nur der Jugendlichen« betrachtet. Das Schweigen der Mehrheit der Jugendlichen zu den Unruhenwirdinder TendenzalsZustimmungzudenZielen - nicht aber der Gewaltanwendung - gewertet, weil sich »erfahrungsgemäß... eher zu Wort (meldet), wer gegen als wer für etwas ist«. Als Ursache sieht die Jugendkommission das Gefühl menschlicher Isolation inder Gesellschaft. Grund für die Radikalisierung seien die als unerträglich empfundenen Ungerechtigkeiten: »Die radikalen Minderheiten rekrutieren sich also aus besonders exponierten, besonders belasteten und
gleichzeitig besonders wenig belastbaren Mitgliedern unserer Gesellschaft.« »Besonders exponiert« bedeutet hier, »sich als die Geschlagenen« fühlen, die nun zurückschlagen und zwar mit der eigenen Körperkraft als Form natürlicher körperlicher Abreaktion, die daneben auch friedfertig konstruktive Aktionen wie z. B. die Renovierung eines Jugendzentrums zuläßt. Extreme Formen von Gewalt wie Brandstiftung und Waffenanwendung seien lediglich Ausdrucksmittel einer verschwindenden Minderheit. Die Thesen widersprechen der von konservativen Politikern propagierten »Rädelsführertheorie«, wonach die Jugendlichen als Handlanger eines »harten Kerns« von professionellen Krawallmachern sind. Die Studie der Jugendkommission bestreitet zwar nicht, daß es besonders militante Gruppen an der Peripherie der Bewegung gibt, diese als Drahtzieher zu, betrachten, hieße aber die Bewegung falsch interpretieren. Andererseits unterschätzt die Jugendkommission die gesellschaftspolitischen Ziele der neuen Bewegung. Sie meint, daß die »Jugendlichem, die heute auf die Straße gehen... sehr direkt konkrete Probleme erlebt (haben), und was sie wollen, ist die Abschaffung von Mißständen aus ihrer Sicht, ohne daß sie sich um weitere Zusammenhänge kümmern. An die Stelle ideologischer Ziele sind pragmatische Forderungen getreten...« In der Tat verwendet die Bewegung heute weniger ideologische Schlagworte. Daß sie keine gesamtgesellschaftlichen Ziele anstrebt, ist jedoch ein Irrtum. Zwei Fehlinterpretationen könnten die Jugendkommission zu dieser Fehleinschätzung verleiten haben: Einmal die stark ausgeprägte Emotionalität der Bewegung und andererseits das Abrücken von starren Ideologien. Die neue Generation will nicht mehr auf die politische Zukunft warten, die den neuen Menschen schafft, sie will mehr Menschlichkeit heute und jetzt; es sind die Umstände, die sich anzupassen haben. Das heißt aber nicht, daß gesamtgesellschaftlich nichts verändert werden soll. Die Aktionen der Bewegung richten sich - wie die Studie selbst erwähnt - gegen Objekte, die ihnen als Symbole der Unterdrückung und der abgelehnten materialistischen Welt erscheinen. Die gesellschaftskritischen Thesen der Jugendkommission setzen bei dem Stichwort »Toleranz« an. An ihm wird die Widersprüchlichkeit und Inkonsequenz der Gesellschaft, an der die Jugendlichen leiden, exemplifiziert: »Gewährenlassen«, das zu »Vernachlässigen« wird. Aus diesem Laisser-faire-Stil, der in Erziehung und Ausbildung zum ständigen Begleiter der Jugendlichen als Ausdruck falsch verstandener Liberalität wird, entwickelte sich, so die Schweizer Thesen, das große Einsamkeitsgefühl. Dazu tragen auch das fehlende Geborgenheitsgefühl in der Kleinfamilie, das vergiftete soziale Klima in Wohnblöcken, die unpersönlichen Lebensverhältnisse, die überbeanspruchten Eltern bei, kurz, die Leiden in der Massengesellschaft. Als weitere Widersprüche werden die scheinbar unbegrenzten individuellen Möglichkeiten erwähnt, denen, Normdenken, ausgerichtet auf materiellen Wohlstand, auf Effizienz und auf Anpassung gegenübersteht. Oder: »Die Toleranz ist Schein, der Druck ist echt.« Die Kommission berichtet, daß die Jugendlichen die Rezession besonders schmerzhaft erfahren. Zu dem »Gefühl, um berechtigte Hoffnungen und Utopien betrogen worden zu sein«, gesellt sich die Verbitterung der Jugendlichen, daß die Wohlstandsgesellschaft für andere gemacht ist, sie selbst aber die ökologischen Kosten der Wohlstandsproduktion zu tragen haben. Die Schweizer These: »Dies auch nur dumpf zu empfinden, kann den einzelnen in eine innere Situation führen, in der nur noch Auflehnung als angemessene Reaktion erscheint.«
Die Kommission sieht in der »amtlichen« Reaktion auf die Jugendrevolte die Gefahr der Vereinfachung, die Gefahr der Bagatellisierung, der Repression, der Gettoisierung, die Gefahr der parteipolitischen Vermarktung und der Verdrängung von Zukunftsängsten. Diese Gefahren lassen sich in zwei Reaktionskategorien verallgemeinern: Überheblichkeit und Verdrängung. Bagatellisierung sieht die Kommission hauptsächlich in der »Drahtziehertheorie« oder der Verharmlosung der Bewegung als Ausdruck pubertären Protestes. Ähnlich gefährlich ist die parteipolitische Ausbeutung des Protestes durch konservative Kreise, die mit Gewalt reagieren wollen. Dazu die Jugendkommission: »Damit wird den Jugendlichen im nachhinein bestätigt, was sie zum Griff zur Gewalt, veranlaßte: Der Eindruck, daß Neuerungen nicht möglich, sind, daß das Recht veränderten Bedürfnissen nicht angepaßt, sondern vielmehr zur Unterdrückung neuer Vorstellungen und Bedürfnisse verwendet wird. Damit wird auch der Verdacht genähert, daß sich hinter den formalen Argumentationen ein Beharren auf den Inhalten und persönlichen Vorteilen der geltenden Ordnung verbirgt, über das dann nicht diskutiert werden kann.« Unter der Beteuerung, auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit zu stehen, verlangt die Kommission, auf die Gewalt der Jugendlichen mit Dialog und nicht mit noch mehr Gewalt zu reagieren. Die Gefahr der Vereinfachung kann die Gefahr der Gettoisierung bedingen: Ein Teilaspekt der Bewegung wird aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst, wie z. B. »autonomes Jugendzentrum«, und in der Erfüllung dieses Teilaspektes wird die Gesamtlösung gesehen. Diese Art des »Nicht-Dialogs hat seine Wurzeln auch in der Verdrängung von Zukunftsangst. Diese soll mit vereinfachenden Scheinlösungen überwunden werden. Damit wird die Angst aber nur verdrängt, denn sie wird als Jugendproblem ausgesondert und dadurch verstärkt. Es bleibt die Angst, die die Schweizer so umschreiben: »Die Angst der Jugend macht Angst, weil sie auch unsere Angst ist.« Soweit die Schweizer Darstellung und Interpretation, die auch im Bundestag - so von dem SPD-Abgeordneten Hauck - zitiert wurde. Die Frage, wie hierzulande die Materialisten auf den Postmaterialismus der Alternativen reagieren, zwingt zu einer differenzierten Betrachtung. Mit Hausbesetzungen können Materialisten sympathisieren, mit alternativer Lebensführung jedoch keineswegs. Materialisten verstehen, daß auch andere Menschen ein Dach über dem Kopf haben wollen. Die Instandsetzung von Wohnraum nötigt ihnen Respekt ab. Aber das Desinteresse an Karriere und Luxuskonsum ist ihnen fremd. Plötzlich sollen alle Mühen für den sogenannten Lebensstandard vergeblich oder gar lächerlich sein - das ist ein irritierender Schock, dem man besser ausweicht. Um die Ahnungen verpaßter Lebenschancen zu unterdrücken, entwickelt man eine vorbeugende Abwehrstrategie: man wertet die Exponenten der »post materiellen« Alternativen ab, indem man sie als Spinner bezeichnet, oder man verteufelt sie als Feinde der Gesellschaft. Durch Aggressionen gegen die Gesellschaftsveränderer vermeidet man auch Selbstzweifel ein zusätzlicher psychischer Gewinn. Die unterschiedlichen Wertorientierungen der Altersgrup, pen finden bereits in den Wahlergebnissen der letzten Landtagswahl und der Bundestagswahl 1980 ihren Niederschlag, wenn man SPD, CDU/CSU sowie FDP insgesamt als Parteien der Materialisten betrachtet und die Grünen als Partei der alternativen Postmaterialisten. Mehr als zwei Drittel aller Stimmen für die Grünen kommen aus der Altersgruppe der 18- bis 35jährigen. Hätten auch
die Älteren so gestimmt, wären die Grünen 1980 durch Überspringen der Fünf-ProzentKlausel in den Bundestag gekommen. Gleichzeitig zeigt sich eine kontinuierlich wachsende Tendenz zur Wahlenthaltung bei den jüngeren Wählergruppen. Grund dafür dürfte einerseits die politische Apathie ziemlich entpolitisierter junger Leute sein, andererseits aber auch der stumme Protest von Jugendlichen, die mit diesem »System« nichts mehr zu tun haben wollen. Der Wertkonflikt zwischen den Altersgruppen bringt die etablierten Bundestagsparteien in eine schwierige Lage, die an der Kernkraftfrage besonders deutlich wird. Stellen sich die Parteien auf die Jugend ein, so laufen sie Gefahr, die älteren Wähler zu vergrämen. Behalten sie ihren technokratischen Kurs, bei, verlieren sie die Jungwähler weiterhin an die Grünen. In einem nüchternen Arbeitspapier mit dem Titel »Jugend, und Union« stellt die CSU (im Mai 1981) fest: Der Trend im Jungwählerbereich läuft gegen die CDU. Das Interesse an Politik ist stark zurückgegangen. Von den 14- bis 24 jährigen neigen zur CDU 2%, zur SPD 17% - die übrigen sind ein: »offenes Potential«. Das Defizit gegenüber der SPD wird so erklärt: »Die erste nachweisliche Änderung im Verhalten der Jungwähler fiel zusammen mit den Studentenunruhen der Jahre 1967/68. In dieser Zeit erfolgte eine intensive Politisierung der Jugendlichen durch vorwiegend neomarxistisches Gedankengut. Für diese geistige Auseinandersetzung war die CDU damals nicht hinreichend gerüstet. Sie hatte die Herausforderung des Wiederaufbaus angenommen und sie auch gemeistert. Die Jugendlichen der 60er Jahre gehörten zur nun mündigewordenen ersten Nachkriegsgeneration, welcher der erreichte Standard selbstverständlich geworden war und die nun ganz neue Fragen aufwarfen. Sie erhielten damals Antworten vor allem aus dem linken Spektrum. SPD und FDP nutzten die Situation; sie versprachen >Reformen< und >wir schneiden die alten Zöpfe ab!<. Das politische Geschehen fand statt auf der Basis einer Revolution bis dahin auch von der Jugend akzeptierter bürgerlicher Wertvorstellungen. Arbeit und Leistung wurden in Frage gestellt und diskriminiert. Egalität wurde zum beherrschenden Prinzip und zur fast ausschließlichen Form, in der sich gesellschaftliche Gerechtigkeit manifestieren durfte. Kurzfristige Befriedigung von Bedürfnissen galt mehr als langfristige Lebenszielplanung. Mit dieser säkularen Einstellungsänderung innerhalb der Jugendgeneration erfolgte eine fast galoppierende Aufgabe religiöser Bindungen gerade durch junge Leute und vor allem aus dem studentischen Milieu, durch Leute also, die sich artikulieren können. Die SPD nutzte ihre Möglichkeit zu öffentlicher Darstellung und empfahl sich der jungen Generation als politische Kraft, bei der die neuen Anliegen gut aufgehoben seien.« In zehn Thesen fordern die Autoren des Arbeitspapieres die CDU auf, sich aufrichtig auf die Jugend einzustellen. 1. These: Gegenwärtig sind keine Fakten erkennbar, welche den berechtigten Schluß zuließen, der für die Union negative Trend im Jungwählerbereich sei gebrochen. 2. These: Der Entscheidungsprozeß für eine Partei wird bei den Jungwählern wesentlich beeinflußt von dem emotionalen, atmosphärisch-attraktiven Klima, das eine Partei ausstrahlt. Die deutlich sichtbaren Eigenschaften einer Partei, wie Offenheit, Meinungspluralität, Diskussionsbereitschaft und Innovationsfähigkeit, bestimmen den Prozeß der Präferenzfindung stärker als inhaltliche Details der Parteiprogramme. 3. These: Die Präferenz für eine bestimmte Partei entscheidet sich für Jugendliche zwischen
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dem 14. und 18. Lebensjahr und kann . danach nur schwer wieder verändert werden. Die Einflußfaktoren in diesem Lebensabschnitt zu ergründen sollte zu den zentralen Aufgaben weiterer Untersuchungen zählen. These: Die politische Ansprache der Jugendgeneration kann nicht in dem einseitig verlaufenden Prozeß bestehen, das vorhandene Angebot der Partei an die Jugend heranzutragen. Bevor eine Partei an Jugendliche herantritt, um sie über ihre Politik zu informieren, muß sich die Partei zunächst über den Bedingungsrahmen informieren, innerhalb dessen Jugendliche von Politik betroffen sind bzw. betroffen gemacht werden können. These: Massive Informationsstrategien von seiten einer Partei laufen der Interessenlage der Jugendlichen entgegen. Sie werden nicht als einladend, sondern als lästig empfunden. Zugang zur Politik und Zustimmung für ein politisches Programm wird bei Jugendlichen nur erreicht werden können auf dem indirekten Weg der erfahrbar gemachten Anteilnahme einer Partei an ihrem persönlichen Lebensraum und der dort auftretenden Probleme. These: Da die Parteien als Institution auf die politische Meinungsbildung der Jugendlichen einen nur geringen Einfluß haben, wird die Partei versuchen müssen, auf dem Umweg über die als wesentlich belegten Einflußträger Zugang zu den Jugendlichen zu gewinnen. These: Das politische Desinteresse der Jugendlichen ist auch eine Folge des politischen Kommunikationsstiles, der durch seine Sprachbarrieren einen großen Teil dieser Generation von der Beschäftigung mit Politik abhält. These: Entscheidend für Jugendliche ist vor allem die im persönlichen Erlebnisfeld wahrgenommene und als sympathisch oder unsympathisch empfundene Aktivität einer Partei. Der ortsbezogenen Politik kommt damit eine besondere Bedeutung zu, vor allem, wenn von hier aus ein Transfer auf bundespolitische Gegebenheiten möglich ist.
9. These: Sogenannte »postmaterielle« Werte müssen einen hervorragenden Rang in der inhaltlichen Jugendansprache haben. In allen inhaltlichen Aussagen der Politik sollte eine werthafte Dimension in ihrer Auswirkung auf Jugendliche bedacht und deutlich herausgestellt werden. 10. These:
Vorrangig sind Maßnahmen im vorpolitischen Raum.
Soweit die Thesen der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Für die CDU gibt es m. E. einen bequemen, aber für die Demokratie höchst bedenklichen Weg, der in diesen Thesen (4, 6 und 10) schwach anklingt: Die CDU kann die Entpolitisierung - beispielsweise durch Forcierung des Privatfernsehens - vorantreiben und die demagogischen Methoden, mit denen sie oft - aber besonders in Wahlkämpfen - operiert, weitertreiben und durch subtilere Werbung ergänzen.
Antje Huber, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit, hat sich aufgrund ihres Regierungsamtes und aufgrund ihrer SPD-Mitgliedschaft mit der Entwicklung eingehend beschäftigt. In ihrem Ministerium ließ sie die Studie »Zur alternativen Kultur in der BRD« für Bundeskanzler Helmut Schmidt erarbeiten, eine Auswertung vorliegender Jugendstudien ähnlich dem Bericht der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen. Die Studie ist in die Rede der Regierungspolitikerin über »die aktuelle Situation der Jugend« sowie das Parteipapier »SPD und Jugendprotest« eingegangen, das unter Antje Hubers Federführung entstand. Sie erkennt, daß die Jugend gesamtgesellschaftliche Probleme thematisiert, die sie »in ihrer ungesicherten und offenen Lebenssituation stärker betreffen und von ihnen daher mehr empfunden und deutlicher artikuliert werden«. Dies gilt für Schüler, Studenten und jugendliche Arbeiter, auch wenn die Probleme zumeist von älteren, besser gebildeten, zur Selbstreflexion fähigen Jugendlichen formuliert werden. »Das Lebensgefühl vieler Jugendlicher ist geprägt durch Krisenerfahrungen, die subjektiv stärker empfunden werden: Der Arbeitsmarkt vermittelt ihnen das Gefühl, überflüssig zu sein; sie erhalten keinen Ausbildungsplatz oder keine Arbeitsstelle in dem Beruf, den sie ergreifen möchten, oder sehen keine Möglichkeit, sich im Beruf zu verwirklichen, •
die sozialen Beziehungen sind oft wenig tragfähig, nicht selten grundlegend gestört; Eltern und Kinder gehen sich aus dem Weg, • in der Umgebung ist alles zugebaut, fertig, nicht veränderbar; ihr Lebensraum wird zubetoniert, • es ist schwer, die eigene Identität zu finden und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Bei Mädchen ist die Orientierung auf die Familie hin schwächer, auf den Beruf hin stärker, aber zugleich problematischer geworden • politisch und sozial fühlen sich Jugendliche immer stärker reglementiert. Viele Jugendliche empfinden ein unspezifisches >es wird immer schlimmer<. Dabei spielt eine Rolle, daß der heutigen Jugend die Erfahrung von Krieg und Nachkriegszeit fehlt und Krisenerfahrungen erstmals in der Pubertät gemacht wurden. Materielle Werte haben für Jugendliche tendenziell geringere Bedeutung als früher. Das zum Leben Notwendige war für die Mehrzahl der Jugendlichen nie in Frage gestellt, es wird als selbstverständlich vorausgesetzt bzw. auf einem hohen Erwartungsniveau ähnlich wie bei Erwachsenen eingefordert. Erfahrungen mit der Politik sind für Jugendliche im wesentlichen Erfahrungen mit der eigenen Ohnmacht - man verweist sie auf >Sachzwänge< - und weitgehend auch Erfahrungen mit Reglementierung und >Repression<. Sie scheitern in der Regel, gerade wenn sie ihr eigenes Lebensgefühl ausdrücken wollen, z. B. bei der Zensur von Schülerzeitungen. Sie verstehen die Sprache der Politik nicht. Die Art, wie Politiker und auch Verwaltung mit ihnen umgehen, empfinden sie oft als destruktiv. Sie erleben, daß jugendpolitische Fragen zum Spielball kommunalpolitischer Auseinandersetzungen werden, in denen es nicht um ihre Probleme geht.
Fast alle staatsverdrossenen Jugendlichen haben aber zunächst versucht, >sich einzubringen<. Nach langen Mißerfolgserlebnissen (z. B. mit Jugendzentren) wandten sie sich dann ab: >Ich mache keine Kompromisse mehr.<... Die Einschätzung der Gewaltbereitschaft ist schwierig. Jugendliche haben - z. T. schon in der Familie - erlebt, daß der Einsatz von Gewalt zu anders nicht erreichbaren Erfolgen führt. Im politischen Bewußtsein ist Gewalt eher moralisch als gesetzlich definiert; Jugendliche begreifen ihre Aktionen als letztes Mittel gegen die erfahrene >strukturelle< Gewalt des Staates im Ausbau der Kernenergie, in der Arbeitslosigkeit, in einer schlechten Wohnsituation. Gegen einen Staat, der ein Tornado-Projekt finanziert und gleichzeitig die Kürzung bei Sozial- und Jugendprogrammen mit Sachzwängen begründet, gegen eine anonyme Gesellschaft, die von Solidarität mit Schwachen spricht, aber Randexistenzen ins Abseits drängt, die alles und nicht zuletzt ihn selbst nach Effizienz beurteilt, seinen Lebensraum langsam aber sicher zubaut, glaubt mancher Jugendliche sich nur noch mit Pflastersteinen wehren zu können. Es gibt ein diffuses Oppositionspotential, auch ein diffuses Gewaltpotential von beträchtlichem Umfang. Es gibt allerdings - auch als Folge des Einsatzes von Gewalt gegen den Staat - die eindeutige Ablehnung von Gewalt auch bei Staatsverdrossenen. Da der Gewaltbegriff ein anderer ist, wirken Appelle zur Legalität nicht glaubhaft. Die jugendliche Minderheitskultur hat eine oder auch mehrere Gegensprachen entwickelt (verbal oder nichtverbal); die Anwendung von Gewalt hat z. T. auch die Funktion einer Gegensprache. Es gibt die Gewalt auch in einer ironisehen, nicht ernstgemeinten Spielart, die Staat und Gesellschaft lächerlich machen will. Gegensprachen sind unter den Jugendlichen verbreitet und beliebt. Einen hohen Stellenwert haben Symbole, positiv wie negativ besetzte. Wer ihre Bedeutung mißachtet, mobilisiert Widerstand und senkt gegebenenfalls die Gewaltschwelle... Die alternative Kultur hat Signale gesetzt zu anspruchsloserer Lebensweise, durchschaubaren Produktionsvorgängen, zu mehr Spontaneität und Echtheit im mitmenschlichen Umgang. Es sollte bedacht werden, wieweit bestimmte Äußerungen der Jugendkultur eine utopistische Antizipation unserer Zukunft sind. Wenn durch die Einführung neuer Technologien so viele Arbeitsplätze wegrationalisiert werden und ein Teil der sich abzeichnenden strukturellen Arbeitslosigkeit eintritt, wie sollen die Betroffenen dies in ihrer Lebensgestaltung auffangen? Kann man dann noch negativ urteilen, wenn jemand >ein Jahr auf Stütze (Arbeitslosenunterstützung) geht?< Dies gilt auch für als parasitär empfundene Verhaltensweisen aus der studentischen oder der alternativen Szene.« Die Schilderung der Politikerin endet mit 13 »möglichen Folgerungen für die Politik«. Die Politiker sollen moralisch standhafter bleiben und den Dialog mit jungen Menschen unvoreingenommen aufnehmen. Die Demokratie soll toleranter sein und mehr praktische Partizipation, insbesondere auf der örtlichen Ebene in Parteien und Gemeindepolitik, eröffnen. Die Gesellschaft soll alternative Subkulturen tolerieren. Die Bürokratie sollte vermindert werden: »In neu zu schaffenden Rechtsvorschriften sollten der Ermessenspielraum der unteren Verwaltungsebene und der freie Gestaltungsraum des Bürgers weitgehend erhalten bleiben. Es sollte mehr Raum für individuelles, persönliches, freies und spontanes Handeln geschaffen werden, auch mehr Freiraum für individuelle Lebensentwürfe, die stark von Durchschnittsnormen abweichen.« Politik und Verwaltung sollten sich stärker an
kleinräumigen Strukturen orientieren, Gleichförmigkeit vermeiden und mehr Orte, Treffpunkte mit emotionaler Ausstrahlung schaffen bzw. dort, wo sie entstanden sind, unterstützen. Schließlich fordert die Ministerin Freiräume bzw. Schutz gegen Eingriffe der Verwaltung für kleine soziale Gruppen und nachbarschaftliche Beziehungen, für Kinder und Jugendliche. Die Familie soll wieder zum Ort der geistigen Auseinandersetzung zwischen Eltern und Kindern werden. Schließlich wird eine Fülle von Verbesserungen in Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitk, aber auch im Verhältnis zwischen Behörden und Bürgern gefordert: menschlichere Schulen, weniger Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot, »Sensibilität« der Behörden für Ängste und Unsicherheiten der Ausländer oder junger Arbeitsloser. Im Parteipapier der SPD wird die Reihe moralischer Appelle fortgesetzt: »Es muß darauf gedrungen werden, daß Sozialdemokraten in ihrem politischen Handeln und ihrer privaten Lebensführung die von ihnen theoretisch vertretenen Prinzipien auch praktisch einlösen.« Zur Wiedergewinnung von Glaubwürdigkeit wird der Partei und damit den Jungsozialisten empfohlen, gerade in den Kommunen sozialdemokratische Beschlüsse zu realisieren: Wohnungen bauen, Energiesparen mit Vorrang für Fußgänger, Radfahrer und Personennahverkehr, rigoroses Vorgehen gegen Umweltschädiger, Wiederbelebung früherer Beschlüsse zum Bodenrecht, eine Besinnung auf mehr Selbstverwaltung der Jugendarbeit in Jugendzentren, sozialen Projekten, Selbsthilfegruppen, Berufsgenossenschaften, Kultur zum Selbermachen, Abbau von Heimerziehung zugunsten dezentraler Selbsthilfegruppen, neue Lebensformen wie Wohngemeinschaften, wobei man zu dem Schluß kommt: »Wenn für viele Junge die Kleinfamilie nicht mehr die von ihnen angestrebte Form des Zusammenlebens ist, dann kann es nicht Aufgabe der Politik sein, sie immer noch als Norm des Zusammenlebens zu konservieren und anderen Lebensformen Schwierigkeiten in den Weg zu legen.« Die moralischen Appelle der Antje Huber, ihr breitgefächertes »Verbesserungsprogramm« mögen subjektiv aufrichtig gemeint sein, aber es fehlt die Überzeugungskraft. Viele der Fehlentwicklungen sind seit Jahren bekannt. Die Hoffnung, daß die sozial-liberale Regierung offenkundige Mißstände korrigieren werde, ist geschwunden. Nur ein paar Beispiele: Die Unwirtlichkeit der Wohnmaschinen wird seit 1960 beklagt, aber die kommunikationsfeindlichen Blöcke wurden - unter Beteiligung der gewerkschaftseigenen »Neuen Heimat« - zügig weitergebaut. Die Inhumanität großer Krankenhäuser für Patienten und Personal ist seit Jahren bekannt, aber immer größere Kliniken wurden gebaut. Gegen den Willen zermürbter und verbitterter Bürger wurden sowohl die Notstandsgesetze als auch die Gemeindereform durchgesetzt. Mit der Atomenergie bahnt sich dasselbe Überroll-Manöver an. Treibende Kraft der Vergewaltigung des Bürgerwillens sind in der Regel Technokratie und Verwaltung. Sie überfahren auch die Politiker mit sogenannten Sachzwängen, die oft nur das Ergebnis armselig eingleisigen Denkens sind und mehr oder minder subtiler Korrumpierung. Die Erfahrungsbereiche gewählter Politiker und der Wahlberechtigten sind unterschiedlich, aber in der Grunderfahrung der Ohnmacht stimmen sie überein. Wenn es zwischen Eltern und Kindern zum Gespräch über Politik und Demokratie kommt, dann sagen viele Ältere: die da oben tun, was sie wollen; der kleine Mann hat keinen Einfluß, er kann nur das kleinere Übel wählen. Lassen sich die Jugendlichen nicht entmutigen, ergreifen sie doch die Initiative, beispielsweise für selbstverwaltete Jugendzentren, so werden sie von Kommunalbehörden schikaniert, blockiert und oft sogar durch die Polizei kriminalisiert.
Die Wahlkämpfe sind - bar inhaltlicher Aussagen - zu Ritualen verkommen. Welche Gründe sollen skeptische Zeitgenossen haben, den etablierten Parteien ihre guten Vorsätze, die sie auch in der Jugenddebatte des Bundestages deklamierten, zu glauben? Mag sein, daß die vom Bundestag in Auftrag gegebene Jugenduntersuchung ein detailliertes Bild hervorbringt; prinzipiell Neues wird sie nicht entdecken können. Wichtiger wären Untersuchungen darüber, wie Politiker und Bürger sich gegenüber der Technokratie behaupten können, wie die Partizipation der Bürger in Gang gesetzt werden könnte, wie eine Fülle von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften, für die sich immer eine scheinbar rationale Begründung konstruieren läßt und die im Effekt schikanös gegen Bürger eingesetzt werden, wieder abgeschafft werden können. Die Bundestagsdebatte über die Einsetzung der Enquete-Kommission »Jugendprotest im demokratischen Staat« (am 10. 4. 1981) nutzten die etablierten Parteien, um Verständnis für die Jugend, »Dialog«-Bereitschaft und Offenheit für neue Werte zu demonstrieren. Darüber hinaus steuerte die CDU eine kurze, oberflächliche Attacke auf die emanzipatorische Pädagogik bei - und bemängelte, daß der SPD-Abgeordnete Schröder/Hannover ohne Krawatte am Rednerpult stand. Die Probleme, welche die protestierende Jugend bewegt, wurde mit der Beteuerung, man wolle sie ernst nehmen, summarisch aufgelistet, aber nicht behandelt. Während auf den Straßen die Polizei knüppelt, fällt im Bundestag der Protest auf Watte. Das erstickende Almagam von Wohlwollen, technokratischem Realismus und Blindheit für alternatives Potential demonstrierte Antje Huber: »Es kann gar kein Zweifel sein, meine Damen und Herren, daß sich ein 60-Millionen-Volk nicht auf alternative Weise ernähren kann. Die allermeisten Projekte leben von zumindest indirekter staatlicher oder privater Unterstützung. Man kann die Probleme der Nation auch nicht in kleinen Gruppen lösen, die jede Delegation von Entscheidungsbefugnissen ablehnen. Und wir können nicht alle im Grünen sein und die Industrie abschaffen. Aber vielleicht können und sollten wir im Tagesgeschäft innehalten und in Gesprächen herausfinden, was man - besonders vor Ort besser machen kann... Wenn junge Leute den Wunsch haben, Wachstumszwänge aufzulösen, die Produktion in die, wie sie sagen, Naturwelt zu reintegrieren, wenn wirtschaftliche Entflechtung stattfinden soll Dezentralisierung der Produktion, Entwicklung von Mittel- und Kleintechnolagien, Verselbständigung zu kleinen Einheiten -, kurz, wenn die Idee, auf einem niedrigen Niveau besser zu leben, sich dort ausbreitet, dann können wir nicht sagen: Dies alles läßt sich für uns alle machen, und ihr habt alle recht. Aber wir müssen die Signale beachten, daß es Menschen in unserem Lande gibt, die so nicht mehr weiterleben wollen, und wir müssen uns fragen, ob wir nicht Formen finden müssen, die humaner sind als das, was wir jetzt haben.« Auf den ersten Blick läßt diese Passage der Politikerin Bemühen um Verständnis sowie Nüchternheit erkennen. Die Maßstäbe für die Beurteilung alternativer Projekte müssen jedoch erheblich gründlicher durchdacht werden. Daß die persönliche Befriedigung der Beteiligten ein wichtiges, nicht zu vernachlässigendes Element darstellt, hat die Ministerin zwar angedeutet. Die ökonomische Beurteilung hat sie sich aber zu leicht gemacht. Der Eindruck, daß viele Alternativ-Projekte ökonomisch schwach sind, entsteht vermutlich oft durch eine gewisse Unbeholfenheit, durch Mangel an technischer Brillanz und professioneller Routine. Da kommen Kapitalmangel für eine rationelle Ausstattung und Anfängerschwierigkeiten
zusammen. Für die ökonomische Bewertung müssen Vergleichs-Konzepte entwickelt werden, die alle Kosten (wie Belastung der Umwelt, Beanspruchung der Infrastruktur) erfassen. Gerade der Agrarmarkt, den die Ministerin erwähnt hat, ist, (ähnlich wie der Wohnungsmarkt) ein Beispiel für ein Versagen des bürokratischen Managements, unter dem alle Be teiligten leiden: Landwirte, Natur, Steuerzahler und vor allem der auf Ernährung angewiesene Mensch. Die Produktsubvention führt zu Überschüssen, die nur mit einer rücksichtslosen, Natur und Menschen gefährdenden Technologie (Dünger für Pflanzen, Hormone für Tiere) erreicht werden können. Die Überschüsse - Rind-, Schweinefleischberge, Milch, Butter, Wein... müssen kostspielig subventioniert, gehortet und schließlich oft auch vernichtet werden. Der Alarmruf, der EG-Agrarmarkt sei nicht mehr zu finanzieren, ist seit Jahren von Politikern zu hören. Angesichts dieser altbekannten Schwierigkeiten zeigen alternative Anbaumethoden Problemlösungen auf. Daß sanfte Landwirtschaft weniger Erträge bringt, ist unbestritten. Aber dadurch entfallen Kosten für Überschuß-Subventionierung, Lagerung, Vernichtung. Gleichzeitig entfallen Folgekosten für Erkrankungen, die auf chemische Rückstände in den Lebensmitteln zurückzuführen sind. Daß sanfte Methoden mehr menschliche Arbeitskraft beanspruchen, ist auch kein Manko angesichts steigender »struktureller« Arbeitslosigkeit. So wie.sich die wohlwollende Skepsis Antje Hubers auf dem Gebiet alternativer Ernährung bei näherer Betrachtung als unkritische Fixierung auf eine falsche Agrarpolitik erweist, die von allen als schwachsinniger Mißstand beklagt wird, so könnte eine genauere Betrachtung anderer Probleme (Verkehr) ergeben, daß die alternativen Modelle entweder ebenso gut sind wie die vorherrschenden oder sogar besser. Statt die Jugend untersuchen zu lassen, sollten die Politiker die Kritik an ihrer Politik ernst nehmen und ihre Ohnmacht gegenüber Bürokratie und Technokratie entschlossen bekämpfen.
»Befreit Grönland vom Packeis.« Paul Parin
Zur Züricher Unruhe 1980 »Mached us em Staat Gurkesalat«, »Lieber blutt (= nackt) als kaputt«, »Ohne Polizei kein Krawall«, oder, wenn eine verbotene Demonstration an Polizisten vorbeizieht, die auf ihren Einsatz warten: »Gebt der Polizei Samstag/Sonntag frei«. Das sind Parolen der »Zürcher Unruhe« im Frühsommer 1980. Die Protestbewegung ging auf die Straße, als die traditionellen Theaterfestspiele am 30. Mai mit einer Galavorstellung im Opernhaus eröffnet wurden. Eine Woche später sollte eine Volksabstimmung darüber entscheiden, ob die Stadt einen Kredit von mehr als 60 Millionen Schweizer Franken für die Renovation des Opernhauses bewilligen dürfe. Vor der Vorstellung versammelten sich etwa 200 Jugendliche in ausgelassener Stimmung, versehen mit Spruchbändern, vor dem Eingang der Kunststätte, hinderten die Besucher hineinzugehen und wollten mit ihnen, angeblich etwa eine halbe Stunde lang, darüber diskutieren, warum die Stadt ein seit zehn Jahren versprochenes »autonomes Jugendhaus« als Treffpunkt und Kulturzentrum noch immer nicht bereitgestellt habe. Geeignete Gebäude (die »Rote Fabrik«, die »Fabrik Limmatstraße 18/20«) stehen leer, und es sind ungleich bescheidenere Geldmittel nötig, um sie instand zu setzen. Ein Kontingent Polizisten, mit Helmen und Schilden bewehrt, war im Innern des Opernhauses verborgen. Die Polizisten stürmten heraus, kämpften den Eingang frei und trieben die Jugendlichen, die bald zu fliehen anfingen, gegen die innere Stadt. Pflastersteine flogen in die Scheiben der Oper und in die Schaufenster etlicher Geschäfte und Gaststätten. Die Polizei rückte mit Verstärkung an, schnitt Fluchtwege ab, setzte Tränengas und Hartgummigeschosse ein. Es tobte ein regelrechter Kampf. Es gab mehrere Leichtverletzte auf beiden Seiten. Später in der Nacht wurden Läden mit HiFiGeräten, Pelz- und Modegeschäfte, ein Spirituosenladen geplündert, wurden Waren vielleicht auch gestohlen, jedenfalls aber öffentlich vernichtet: Schnapsflaschen wurden zerschlagen, Pelze und Kleider zerschnitten, teure Plattenspieler in Abfallkübel und in die Limmat geworfen. Die Polizei konnte das nicht verhindern. Die Presse spricht noch heute von den »Opernhauskrawallen«, obwohl das Volk den Kredit für den Opernumbau bewilligt hat und die Junifestspiele längst zu Ende sind. Die Jugend hat durch Vermittlung der Sozialdemokratischen Partei endlich die »Fabrik Limmatstraße 18/20« bekommen - mit einem Mietvertrag, der eine viertägige (!) Kündigungsfrist vorsieht, und mit einem unzureichenden Kredit für die Instandsetzung. Aber die Bewegung geht weiter, die Unruhe hat der Ruhe noch nicht Platz gemacht. An den ersten Demonstrationen waren vorwiegend Lehrlinge, Schüler, junge Arbeiter und Arbeitslose und nur wenige Studenten beteiligt. Die Bewegung griff nur für kurze Zeit auf die Universität über, weil in den ersten Tagen der Erziehungsdirektor des Kantons Zürich (der Minister für Unterricht), Dr. Alfred Gilgen, von einem Ethnologieprofessor verlangt hatte, der Regierung einen Videofilm »zuzustellen«, den das Seminar für Medienforschung während der Straßenszenen aufgenommen und den Betroffenen auszugsweise vorgeführt hatte, und Professor Lorenz Löffler sich weigerte, diesen Film abzuliefern. Anscheinend spielen heute in
Zürich die Ethnologiestudenten in den Augen der Öffentlichkeit eine ähnliche Rolle wie 1968 die Soziologen. Die bisher eindrucksvollste Demonstration, die vom 21. Juni, war für »alle Unzufriedenen« angesagt und von der Polizei strikt verboten worden. Der Zug wuchs auf etwa 7000 Teilnehmer an, führte während vieler Stunden durch alle wichtigen Straßen der Stadt und verlief friedlich, nachdem die Polizei ihre bereitgestellten massiven Kräfte im letzten Moment zurückgezogen hatte. Vieles erinnert an die 68er Bewegung, vieles ist jedoch anders. Je näher man hinsieht, desto geringer ist die Ähnlichkeit. Als Zeitereignis ist das, was jetzt »Züricher Unruhe« (Gruppe Olten, 1980) heißt, nicht sehr gewichtig. Die Maßnahmen der Behörden, die erregten Affekte, die öffentlichen Stellungnahmen, Deutungen und Erklärungen charakterisieren die Bewegung als »Kulturkampf«, als Symptom unserer Lebensverhältnisse. Dazu sollten, wie ich meine und betont habe, auch die Psychoanalytiker Stellung nehmen (Parin, 1978). Aber wie? Eine psychoanalytische Deutung könnte nur von einer genauen Schilderung der Ereignisse und einer Analyse von Betroffenen ausgehen. Das ist jetzt nicht möglich. Statt dessen will ich diskutieren, welche Vermutungen, welche Hypothesen man bereits jetzt wagen kann und welche Deutungen in die Irre führen müssen. Wenn ich auf die psychoanalytisch orientierte Literatur über die Bewegung der sechziger Jahre zurückblicke, scheint mir, daß damals viel »wilde« Psychoanalyse (S. Freud, 1910) gerieben worden ist. Freud warnte seinerzeit davor, ungenügend verstandene Einsichten der Psychoanalyse vorschnell anzuwenden und darüber die konkreten Lebensverhältnisse und die bewußte Einstellung von Patienten zu vernachlässigen. Gerade dies ist damals allzu oft passiert. Dafür ein einziges Beispiel, das der Autor selber korrigiert hat. Gerard Mendel hat in einer »soziopsychoanalytischen Studie«, die 1969 erschien, die »Generationskrise auf eine Formel« gebracht. Er geht von der Frage aus, ob und wie der ödipale Konflikt bei der jungen Generation verarbeitet worden ist, dann entwickelt er ein Konzept über die unbewußten Tendenzen, die aus der kollektiv wirksamen Verarbeitung des Familienraums entstehen, und versucht schließlich, diese mit der Wirkung bekannter Zeiterscheinungen (Industrialisierung; Kosumgesellschaft) zu verbinden. Das Ergebnis ist, trotz aller Mühe, die sich der Autor gegeben hat, eine psychologische Erklärung der Protestbewegung: Diese Generation habe bestimmte psychologische Bedürfnisse, die in den Ereignissen ihren Ausdruck finden. 1972 hat er seinen Irrtum bemerkt. Er entwirft eine Theorie der in politischen und ökonomischen Institutionen wirksamen Kräfte, die ganz bestimmte, bewußte und unbewußte Mechanismen in Gang gesetzt haben. Jetzt sucht er die Ursache des Protests in den Machtverhältnissen, wo man sie suchen muß, wenn man nicht annehmen will, daß historische Bewegungen auf »Erfindungen« der aus dem Unbewußten wirkenden Seelenkräfte zurückgehen. Ob man Mendels zweiter Argumentation folgen kann oder will: Sie entspricht der unbestrittenen Regel, daß der Psychoanalytiker von der psychischen Oberfläche, von der Wahrnehmung der Realität, also vom Ich ausgehen muß, wenn sich seine Konstruktionen nicht in der dünnen Luft unüberprüfbarer Spekulationen verlieren sollen. Allerdings muß man dazu jede »Konfliktfreiheit« des Ichs in Frage stellen und auf die ältere Freudsche Lehre zurückgreifen, wonach das Ich die Stätte von Konflikten zwischen Es, Realität und Über-Ich ist. Ich meine, daß man so zu historischen Ereignissen analytisch Stellung nehmen kann, ohne in die Irrtümer »wilder« Psychoanalyse zu verfallen. Geht man von der »psychischen Oberfläche« aus, kann man auch am ehesten der Einsicht Adornos (1946) Rechnung tragen: »In der bestehenden Verfassung des Daseins gehen die Beziehungen zwischen den Menschen weder aus ihrem freien Willen noch aus ihren Trieben hervor, sondern aus sozialen und
ökonomischen Gesetzen, die sich über ihre Köpfe hinweg durchsetzen.« Obzwar die Bewegung der Jugend sich in Zürich an einem nur für die Stadt bedeutsamen Anlaß entzündet hat, steht sie doch in einer Reihe von ähnlichen Ereignissen: Protest gegen die feierliche Vereidigung von Rekuten in Bremen; Demonstration der »Kraaker« anläßlich der Krönung der neuen Königin in Amsterdam; Häuserbesetzungen in Freiburg i. Br. Militärparaden, feierliche Krönungen und festliche Abende in der Oper sind Symbole bürgerlicher Macht-und Prachtentfaltung, die nicht in die heutige Zeit passen, sondern für das 19, Jahrhundert typisch sind. Ein Mangel an billigen Wohnungen herrscht zwar auch in Zürich. Proteste dagegen und Versuche, die Stadtverwaltung zu veranlassen, zum Abbruch bestimmte Häuser zur Miete freizugeben, waren hier die einzigen Vorzeichen sozialer Unruhe. Da gab es z. B. die Aktion »Renovieren statt demolieren«, bei der Jugendliche solche Häuser tatkräftig zu renovieren begannen, worauf die Behörde keine andere Reaktion fand, als die fröhlichen Handwerker verhaften zu lassen. Eine erste Vermutung ist, daß Symbole etablierter Macht, die kraß hervorstechen, weil sie aus einer anderen Zeit stammen, die Artikulation eines bis dahin latenten Protests gestattet haben, während die bürokratisch verbrämte, geschlossene und nicht sichtbare Macht der heute etablierten Strukturen nicht »besetzt«, also nicht ebenso leicht zum Ziel alloplastischer Ichstrebungen genommen werden kann. Während ich diese Zeilen schreibe, überholen mich die Ereignisse. Kann man als Analytiker deuten, solange Aktionen vor sich gehen, deren Hintergründe man erraten will? Am Samstag, den 12. Juli hatte die bewegte Jugend vor, wiederum eine unbewilligte Demonstration zu veranstalten, um die Aussetzung der laufenden Gerichtsverfahren gegen Teilnehmer früherer Proteste zu verlangen. Nur etwa 250 Jugendliche versammelten sich im neuen Jugendhaus; die Ferienzeit war inzwischen angebrochen. Die Polizei löste den sich bildepden Zug nach einminütiger Warnfrist mit Hartgummigeschossen, Wasserwerfern und Tränengas innerhalb von fünf Minuten auf. Dann aber belagerte sie das von den Arbeitsgruppen der Autonomen bereits renovierte Jugendhaus stundenlang, betrat es zwar nicht, schoß aber mit Tränengas hinein, bis es ganz vergast war, beschoß es massiv mit Wasserwerfern, so daß die Innenräume verwüstet wurden, und verfolgte Gruppen von Jugendlichen, die sich in die Innenstadt geflüchtet hatten und dort Ablenkungsmanöver versuchten. In den Gäßchen der Altstadt wurde die Menschenjagd mit brutalen Angriffen bis in die Morgenstunden des Sonr4ag fortgesetzt. Es gab einige schwere und viele leichtere Verletzungen bei Demonstranten; 124 von ihnen wurden verhaftet. Und natürlich flogen, mit der Zeit wieder Steine und Flaschen gegen die Polizei, wurden rudimentäre Barikaden errichtet, Scheiben eingeschlagen und einige Geschäfte verwüstet. Eine erste Deutung dieses Geschehens ist nicht schwer. Sie ist allbekannt. In der BRD fand man dafür die Formel: »Der Stein bestimmt das Bewußtsein.« Aber zurück zu der relativ undramatischen Phase und zu unseren Deutungsansätzen. Wir waren bei den auslösenden Symbolen. »Packeis« ist das Symbol für den Staat, die Arbeitsund Geldwelt mit ihren Banken, Fabriken, Schulen und Bürokratien, die Zürich zudecken wie ein Naturereignis, kalt und unverrückbar, lückenlos. Kann man den Staat zerschlagen? Nein. Aber wenn man ihn zu »Gurkensalat« zerschleißt, ihn mit Salz, Essig und dem Öl des Witzes anrichtet, wird er vielleicht genießbar. Man könnte einwenden: Die unbedarften Massen skandieren Sprüche, die keinen Sinn haben, deren Sinn sie nicht verstehen. Erst meine Deutung unterstelle ihnen den Sinn. Dagegen gibt es Argumente. Während der langen Demonstration am 21. Juni wurden die Slogans für Sprechchöre allmählich langweilig. Als »action research« erfand ich einen neuen: »Autonomie, jetzt oder nie!« Das paßte im manifesten Sinn vorzüglich, es ging ja weniger um das Jugendhaus als um die autonome
Führung durch die Jungen selbst. Vox populi nahm den Spruch auf, skandierte ihn im Rhythmus immer lauter und ließ ihn nach weniger als drei Minuten wieder fallen! Warum? Er enthielt nichts vom tieferen Sinn, der die Bewegung ausmacht. Er vermittelte in Form und Rhythmus etwas, das für die 68er typisch war und hier und heute nicht mehr gilt: zielgerichtete und konkrete, also im engeren Sinn politische Aktion. (Reden von MarxistenLeninisten und ähnlich argumentierenden jungen »Genossen« werden bei den Vollversammlungen regelmäßig ausgelacht und, wenn sie zu lange dauern, zum Schweigen gebracht.) Noch direkter ist an szenischen Darstellungen abzulesen, daß und wie Symbole verstanden werden. Als man Studenten beschimpfte, ihr Vorgehen sei infantil, holten fünfzig von ihnen Sand in den Lichthof der Uni und mimten, mit Schürzchen und bunten Lätzchen angetan, stundenlang lustvoll einen Kindergarten. Einige Professoren, wohl ohne Sinn für Ausdruckskunde, meinten, die seien wirklich blöde wie Vierjährige. An einem Abend zog eine Gruppe von Burschen und Mädchen splitternackt durch die Innenstadt unter dem Slogan: »Nackt gegen die Gewalt«. Die poetische Metapher wurde szenisch dargestellt; auf die Hinterseite, die sie den mehr belustigten als empörten Zuschauern entgegenstreckten, hatten so manche das A der Anarchie gemalt. So mutig, spielerisch und selbstbewußt die jungen Leute auch auftreten, der Humor hat immer einen düsteren Beiklang; die Angst, die sie haben, wird nicht verdrängt, sie reden darüber und tragen sie mit Gesten zur Schau. Jeder neue Einfall, so sehr man darüber lachen muß, erinnert an die lustigen und makabren Nummern trauriger Clowns. So verstehen sie sich untereinander, ohne lange zu reden, und wer will, kann ihre Sprache, die ausdrückt, daß sie nicht ins Gespräch kommen, nachvollziehen. Denn die Verkehrsformen sind andere geworden. In unserer Abstimmungsdemokratie, in der man reden und abstimmen kann, so viel man will, und in der sich seit Generationen am dichten Gefüge anonymer Machtgruppen nichts geändert hat, ist die Form des Gesprächs obsolet geworden. Der Slogan »me muess rede mitenand«, den schon in den fünfziger Jahren eine rechtsstehende Pressuregroup gepachtet hatte, ist nicht nur lächerlich geworden. Gespräch bedeutet für die, die heute protestieren, Korruption, Verrat an der Sache der Freiheit, individuelle Resignation anstelle solidarischer Aktion. Wenn man von einem narzißtischen Rückzug aus der Politik sprechen wollte, könnte man die neue Organisationsform solidarischer Gruppen, die ohne die herkömmliche organisatorische Strukturierung auskommen und sich mit ständig wechselnden und spielerisch austauschbaren Feindbildern ein großes Aktivitätspotential nach außen bewahrt haben, nicht erklären. Auch die »depressive Position« kann hier nicht vorherrschen. Die Gesamtsituation ist zwar düster bis hoffnungslos, die Reaktion darauf aber (bisher) voll von Phantasie, Humor und trotz der gleichbleibenden Gesamtrichtung, von ständig wechselnder Bewegung. Dies muß den Kenner der deutsch-schweizerischen Sozialisationspraktiken, der gehemmt-schwerblütigen Art unserer Bevölkerung aufhorchen lassen. Handelt es sich um einen kompensatorischen Gruppenprozeß? Die wechselseitige Identifikation von Menschen beiderlei Geschlechts, die in der gleichen Lage sind, die sie einschränkt und bedroht, aber doch nicht lähmt, weil sie genügend Freiraum finden, ermöglicht die Kompensation für Frustrationen aber nur, solange die Kommunikation in der Gruppe gewährleistet ist. Es scheint, daß da ein psychologisch echter Anarchismus entstanden ist. Ni dieu, ni roi. Das Über-Ich draußen ist abgebaut; es wird keine Aggression frei. Es gibt kaum Sündenböcke; selbst die Polizei soll sonntags frei haben... Allerdings schlägt man schließlich zurück, ehe man ganz zusammengeschlagen wird, schert sich dann nicht mehr um »Bonzen« und »Bullen« (die in Zürich »Schmier« (!) heißen) und geht wieder seinen eigenen Bedürfnissen nach. Das Ich ist auch von analen Reaktionsbildungen entlastet. Allerdings kann diese solidarisch-identifikatorisch wirksame
Ich-Stärkung ohne jeden Führer und ohne strikte Ideologie nur um den Preis aufrechterhalten werden, daß jeder anal-reaktive Ansatz, jeder Versuch einer inneren Organisation der Gruppe (der erste Schritt zur Bürokratisierung) vermieden wird. Bezeichnend genug, daß die Behörden wochenlang den Konflikt auf eine einzige Frage zuspitzten: »Wir wollen euch ja gerne alles geben und gewähren, nach unseren Möglichkeiten, wenn ihr nur Verantwortliche ernennt, Delegierte wählt, verhandelt und Verträge mit uns abschließt.« Aber gerade das wurde verweigert. Das ist leicht zu verstehen; es widerspricht nicht nur dem anarchistischen Modell, das die jungen Beteiligten historisch wohl kaum kennen, das ihnen aber psychologisch frommt. Was die Behörden wollen, ist ihnen vielmehr zuwider, weil es Leistungsdruck, anal-hierarchische Struktur und die Abwehr von zielgehemmten, spielerisch beweglichen Gratifikationen in ihr Ich zurückbringen würde, denen sie real ohnehin lückenlos und flächendeckend ausgeliefert sind und die Schule, Elternhaus und Berufsleben zudem in ihrem psychischen Apparat verankert haben. Die psychosoziale Organisation der Macht ist der eigentliche Feind, drinnen und draußen. Für Nichtanalytiker ist das kaum zu verstehen. Wie kann man gegen etwas so schwer Definierbares kämpfen, das drinnen und draußen gleichzeitig ist, das sich zwar symbolisch ausdrückt und die Realität strukturiert, selbst aber keine materielle Realität mehr ist oder keine zu sein scheint. Zur Frage, warum denn die Jungen nur alle zusammen mit den Behörden verhandeln wollen und warum sie keinen Delegierten wählen und anerkennen, meinte ein Psychoanalytiker - in »wilder« Analyse -, daß sie einen Mangel an Urvertrauen hätten: Nicht einmal einem der ihren, und sei es einer oder eine der besten, schenkten sie ja genug Vertrauen. Sie seien von paranoischem Mißtrauen geprägt. Schon eine kurze Untersuchung einiger weniger zeigt, daß es sich umgekehrt verhält. Gerade diejenigen, deren gutes Selbstvertrauen, deren haltbare Objektbeziehungen usw. auf ein stabiles Urvertrauen hindeuten, wenden sich gegen die Ernennung von Delegationen und gegen eine hierarchische Strukturierung ihrer Bewegung. Mit Recht vertrauen sie auf die Solidarität in der freien Gemeinschaft. Andere unter den Jungen aber, die ein niedriges Selbstgefühl und weniger gute und vertrauensvolle Beziehungen haben, wollten ihr Anliegen doch lieber durch gewählte Delegierte oder eine der bestehenden Parteien vertreten lassen. Ihr Urvertrauen ist gering, ihr Ich unterliegt Ängsten. Sie sind in ihrer Entwicklung gestört. Sie möchten einem starken Führer folgen. Vielleicht wird man mir zugestehen, daß eine solche Ich- Analyse im Ansatz stimmt. Sie ist ja ohnehin unvollständig und bleibt auf die Aufklärung der psychischen Entwicklung und die Aufdeckung der ausschlaggebenden Konflikte zwischen Es-Strebungen und Abwehr angewiesen. Doch könnte die modernste Form der »wilden« Analyse einwenden: Das gestörte Selbst, der Sprung in der narzißtischen Entwicklung, der »neue Sozialisationstyp« (nach Th. Ziehe u. a.) erkläre das Verhalten einer Jugend, die sich so sehr der Gesellschaft der Erwachsenen und Arrivierten verweigert. Dies seien die traurigen Produkte einer »vaterlosen Gesellschaft«, sie seien einer kalten Welt wie einst ihren unempathischen Mßttern ausgeliefert und darum selbstbezogen, uninteressiert und verführbar. Ich kann diesen Kritiken nicht rechtgeben. Doch habe ich bisher verschwiegen, daß ich viele der unruhigen jungen Menschen kenne, unter ihnen aber keine Person gefunden habe, die nicht an einer Identitätsstörung, wie sie Erik H. Erikson beschrieben hat, litte. Kein Jüngling und kein Mädchen, von den Teens bis weit hinein in die Twenties weiß, was in ihrem Leben geschehen soll, welcher Beruf mit Freude auzuüben, welche Ziele, Ideale, Utopien zu verwirklichen wären. Nichts können sie libidinös besetzen, auch wenn sie schon Lehrer, Bankbeamter, Arbeiter oder Schauspieler geworden sind; keine Ehe verspricht Zufriedenheit,
Kinder- und Alterssegen; kein fertiger Arzt und kein werdender Jurist erlebt sich als Helfer der Leidenden, als Hüter des Rechts. Diese Unmöglichkeit, eine Erwachsenen-Identität zu finden, ist nicht die Folge ungenügender Besetzung des Selbst. Die Identität wird verweigert, weil die angebotene Zukunft, die möglichen sozialen Rollen bewußt abgelehnt werden. Das ist der Grund für die Ratlosigkeit, »wie es jetzt weitergehen soll, wo ich noch jung bin«. ein veralteter, zeitlich verplanter Alltag, die in technische und institutionelle Zwänge gefaßt entfremdete Arbeitswelt, das Dickicht der Städte, die Konsumgesellschaft mit ihrer repressiven Toleranz und den in der Verführung versteckten Zwängen, die Ausbeutung und Unterdrückung der Machtlosen, hier und anderswo, die Schädigung der Umwelt, die drohende Verarmung und endgültige Zerstörung unseres Planeten. Die Zukunft ist nicht mehr attraktiv, bietet keinen Anlaß mehr für libidinöse Besetzung. Für diese bewegte Jugend gibt es keine vernünftig erfüllbaren Wünsche mehr und darum keine richtige Identität. Diese Frage taucht am Problem der »Drogenwelle« immer wieder auf. Sicher zerstören Drogen die Zukunft des Süchtigen. Aber macht nicht eine zerstörte Zukunft, die anzutreten sich nicht lohnt, süchtig? Man kann einwenden, die jungen Leute, selbst Akademiker, blickten doch nicht durch. Sie wüßten noch gar nichts von der Realität. Beim Warten auf die Demonstration stand man lange herum, bis in der Vollversammlung alle Rednerinnen und Redner sich dazu geäußert hatten, ob man ungehorsamerweise marschieren sollte oder nicht, und wenn ja, wohin und wie. In der Zwischenzeit fragte ich ein paar Leute. Ein junger Mann, wohl ein Lehrling, sagte: »Ich bin Feinmechaniker und habe Arbeit.« Ich: »Ein feiner Beruf.« Er: »Bis ich 40 bin, gibt's die Metalle nicht mehr, mit denen ich schaffe.« Ein anderer, sicher noch Lehrling, sagte zu seinem Kollegen: »Wenn wir heute gehen, fliegen wieder Pflastersteine.« Ich: »Was hältst du davon, das ist doch Gewalt?« Er: »Darauf kommt's nicht mehr an.« Und er zog aus der Tasche ein zerknittertes Blatt, einen Ausriß aus dem »Tagesanzeiger«. Ich solle lesen: »Das schwedische Institut für Friedensforschung hat berechnet, daß die in Europa gelagerten Atomwaffen genügen, um jede europäische Stadt x-mal auszuradieren.« - Kommt es da noch auf Pflastersteine an? Auch der Ausweg in eine authentische Kreativität ist nicht offen. Das sagt ein Transparent, das sie herumtragen: »Wir sind die Kulturleichen der Stadt.« Es geht ja vorderhand um ein Kulturzentrum und Jugendhaus. Die sechziger Jahre standen im Zeichen der Emanzipation. Gegen den Vietnamkrieg, den Schah, die Springerpresse, die Notstandsgesetze und für die Utopie. Die Mittel waren Organisation und Aggression. Jetzt in Zürich geht es nur noch um Autonomie, um Ungehorsam gegen die Imperative einer unausweichlichen Zukunft, in einer geschlossenen Gesellschaft, deren Triebkräfte man nicht mehr personifizieren kann. Man kann einen Polizisten oder einen faschistoiden Unterrichtsminister nicht mehr mit Aggression besetzen, sondern nur noch kurz abwehren, ihn auslachen und sich dann eigenen Angelegenheiten zuwenden. Eine anarchistische Gegenwelt, die noch so lange überlebt, wie sie sich einig weiß in der Verweigerung. Grönland ist vom Packeis bedeckt. Wir wärmen uns am Feuerchen unserer Freundschaft und freuen uns an den Funken, die mal draus steigen. Aber glaubt uns, ihr Herren der Welt: »Wir haben Grund genug zum Weinen, auch ohne euer Tränengas«. (Transparentinschrift)
»Die Ausnahme und die Regel« Luc Jochimsen
Die Geschichte des Hauses Schillerstr. 32 in Berlin und ihr Nutzen für die allgemeine Wohnungspolitik Eine Meinung über die Ursache der Wohnungsnot - und eine Frage nach ihrer Lösung: »Wir leiden, nach meiner tiefsten Überzeugung, in der Hauptsache in unserem Volk an der falschen Bodenpolitik der vergangenen Jahrzehnte.(Konrad Adenauer als Kölner Oberbürgermeister in den 20er Jahren, zitiert nach FRANKFURTER RUNDSCHAU, Seite 3, 28. 2. 1981) »Wie ist nun die Wohnungsfrage zu lösen? In der heutigen Gesellschaft gerade wie eine jede andere gesellschaftliche Frage gelöst wird: durch die allmähliche Ausgleichung von Nachfrage und Angebot, eine Lösung, die die Frage selbst immer wieder von neuem erzeugt, also keine Lösung ist.«(Friedrich Engels, ZUR WOHNUNGSFRAGE, MEGA Band 18, Seite 226, 1872 zitiert nach Renate Petzinger/Marlo Riege, DIE NEUE WOHNUNGSNOT, VSAVerlag, Hamburg 1981) Berlin, 13. Februar 1981, ein Freitag. Im Rathaus Charlottenburg findet eine öffentliche Submission statt. Das heißt im 3. Stock und am Ende eines Labyrinthes von vielen Gängen, in der Abteilung Stadtplanung, treffen sich ein paar Männer mit einem Beamten. Die Männer kommen von Abbruchfirmen. Sie haben Angebote dabei. In verschlossenen Umschlägen. Der Beamte sammelt die Umschläge ein, öffnet sie akkurat, ruft einem Protokollanten Zahlen zu, die jener fein säuberlich untereinander aufschreibt: Preise für den Abbruch eines Hauses. Ein Haus soll nämlich »öffentlich abgeräumt« werden. Das Haus Schillerstraße 32. 3 Stockwerke, 8 Dreizimmerwohnungen, ein Laden. Muschelbögen über den Fenstern, Balkons. Bunte Glasfenster im Treppenhaus, Stuck an den Decken, Kachelöfen mit schwungvollen Kronen. Das Haus, Baujahr 1874, in dem eine Wohnung zur Zeit knapp 200 DM kostet (3 Zimmer, Küche, Diele, Ofenheizung, kein Bad), soll abgerissen werden, damit an seine Stelle ein Neubau im öffentlich geförderten Wohnungsbau entstehen kann, in dem der Quadratmeter 13 Mark kosten wird. Nun werden die Zahlen miteinander verglichen. Die Spielregeln sind klar und allen Anwesenden bekannt: Die Firma mit dem niedrigsten Gebot bekommt den Zuschlag. Schließlich muß die öffentliche Hand ja Geld sparen, wie wir alle wissen. Die Entscheidung ist ganz einfach: Das Angebot der Firma M&L ist eindeutig das niedrigste. Der Beamte gibt den Anwesenden die Entscheidung bekannt: Die Firma M&L hat die öffentliche AbrißAusschreibung gewonnen. Der Firmenvertreter guckt auf die Uhr, sagt, dann bekämen die wartenden Arbeiter heute ja noch direkt was zu tun. Da erwidert der Beamte: »Moment mal, so schnell geht das nicht, ihr
müßt ja erstmal die Abrißgenehmigung für das Haus haben. Von mir bekommt ihr nur die Zusage, daß, wenn die Genehmigung vorliegt, die Firma M&L den Abriß durchführen kann.« - »Na, wir werden sehen«, sagt daraufhin der Bauführer der Firma MAL und geht. Und die anderen Abbruchfirmenleute gehen auch. Der Beamte macht eine Notiz über den Ausgang der »Öffentlichen Submission«. Die Akte des Hauses Schillerstraße 32 ist um ein historisches Datum reicher geworden. Die Akte des Hauses Schillerstraße 32 beinhaltet nämlich folgende wohnungspolitische Geschichte: • •
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Von einem Privatmann gebaut in der Boom-Zeit nach 1871 Immer vermietet, überbelegt sogar, wie die Bauaufsichtsprotokolle berichten;
»Schlafstellen in den Fluren, nur mit einem Vorhang abgeteilt in einzelnen
Wohnungen.«
Um die Jahrhundertwende an einen Privatmann weiterverkauft Der läßt das Haus an die öffentliche Kanalisation anschließen und Toiletten in die Wohnungen einbauen - schon 1899 Vererbt und weitervererbt 1955 an das Land Berlin verkauft für 110000 DM Seitdem - und das sind also d i e wohnungsbaupolitischen Jahre der Nachkriegszeit im Besitz der öffentlichen Hand. Mal verwaltet von dieser Behörde, mal von jener staatlichen Gesellschaft.
Ein Haus mit zehn vom Krieg unzerstörten Altbauwohnungen in bester Stadtlage - die Oper 300 m weiter. Keine Kriegsruine. Kein Prachtbau. Ein solides Haus mit mittelgroßen Wohnungen in guter Lage. Das Haus wird verwaltet, und natürlich wird Miete kassiert. Ein Mieter, der diese ganze Zeit miterlebt hat, erinnert sich: »Kein Meter Farbe wurde frisch gestrichen, nichts. Nur, was die Mieter selbst gemacht haben. Allerdings, wenn ein Rohrschaden war, das wurde sofort repariert - und eine Hausreinigung gab es auch.« Das Haus Schillerstraße 32 geistert von Anfang seiner »öffentlichen« Geschichte an als Abbruchhaus durch die verschiedenen Verwaltungsakten. Nie steht so richtig fest, was an seine Stelle kommen soll: mal ein Parkhaus, mal ein anderes öffentliches Gebäude, mal doch vielleicht ein Wohnhaus, dann wieder nichts bestimmtes; aber abgerissen jedenfalls soll es werden. Aber auch nicht sogleich, sondern irgendwann mal - in einer nicht näher durchdachten Zukunft. Das Haus Schillerstraße 32 in Berlin war um diese Zeit ein Beispiel für zehn von insgesamt 9 Millionen Altbauwohnungen, die der Staat zwangsbewirtschaftet hatte und - ab nun in Privathand oder in öffentlichem Besitz - 20 Jahre lang einfach vernachlässigte. Hier ein Abriß der wohnungspolitischen Maßnahmen bis Anfang der siebziger Jahre: 1952: Gesetz über die Gewährung von Prämien für Wohnungsbausparer 1953: Wohnraumbewirtschaftungsgesetz 1955: erstes Bundesmietengesetz
1960: Gesetz über den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft und über ein soziales Mietund Wohnrecht 1965: Wohngeldgesetz und Bundesraumordnungsgesetz 1971: Städtebauförderungsgesetz und Kündigungsschutzgesetz. Diese Zeit markiert den Übergang von einer CDU-Wohnpolitik, die den Altbau vernachlässigte und ein System an öffentlichen Zuwendungen für den Neubau errichtete, welches die Eigenleistung privater Bauherrn (im kleinen den Häuslebauer, im großen die Baugesellschaften) ermutigte (als Folge davon wurden die Städte bis weit in ihr Umland hinein zersiedelt), zu einer SPD/FDP-Wohnpolitik, die die Städte erhalten wollte - und auch ihren alten Baubestand. In dieser Zeit also wurde das Haus Schillerstraße 32 in Berlin durch die Stadt Berlin verwaltet und vermietet. Immer wieder tauchten in Konzepten verschiedenster Art auch Pläne auf, das Haus abzureißen. Irgendwann wurden die Kompetenzen dann wieder einmal von einer Behörde an die andere gegeben. Ein Gewinn von 128000 DM wurde »gutgeschrieben«. Das müssen die ein Jahrzehnt lang gezahlten Mieten gewesen sein - die einfach einkassiert wurden, ohne auch nur eine Mark davon in das Haus zu investieren. Mitte der 70er Jahre: Im Alltag des Hauses Schillerstraße 32 ändert sich nichts. Aber in den Behörden werden neue Pläne entwickelt. Stadt ist ja nun »in« - die Zeit der Märkischen Viertel, Perlach, Steilshoop, Nordweststadt und wie sie alle heißen, gilt als passe, selbst bei den Leuten, die sie in Beton konzipiert und hochgezogen haben. Durch den »Charlottenburger Kiez«, durch dessen Mitte sich die Schillerstraße zieht, wandert ein Architektenteam und überprüft Haus für Haus in öffentlicher Hand - und das sind viele dort. Unter den Kriterien Instandhaltung, Modernisierung, Abbruch wird eine Bestandsaufnahme gemacht. Mit folgendem Ergebnis für die Schillerstr. 32. Instandsetzung würde (nach fast 20 Jahren Runterwirtschaften in öffentlichem Besitz) 25% des Neubaupreises kosten. Das spricht eigentlich für die Substanz des Hauses. Modernisierung mii Kachelbädern, Heizung, Lift würde, wenn mit dem üblichen Aufwand betrieben, 80% des Neubaupreises kosten. Dann eben lieber gleich Neubau, folgert das absolut objektive Architektengutachten; folgert auch die Wohnungsbaukreditkasse, die in Berlin die Finanzierung solcher Bau- oder Umbauvorhaben durchführt. Also fällt die Entscheidung für den Abbruch. Wir schreiben das Jahr 1975. Der Altbau-Boom setzt gerade erst ein. Neubau galt bislang noch als das bessere Geschäft. Es dauert auch noch einige Zeit, bis sich in den Labyrinthen der Behörden etwas tut. Aber dann wird schließlich verkauft. Sie haben richtig gelesen. Die öffentliche Hand, im Besitz eines Innenstadtmiethauses in bester Lage, entschließt sich 1978/79, dasselbe zu verkaufen. An eine Privatfirma, die dieses Haus, wie auch Nachbarhäuser, abreißt, und auf dem Grund und Boden ein neues bauen soll. Und zu welchen Konditionen? Macht der Staat wenigstens ein Geschäft? Aber keineswegs: Das Haus mit den acht Wohnungen verkauft die öffentliche Hand für 200000 DM (!). Die Privatfirma braucht im übrigen nur 61000 DM zu bezahlen, der Rest geht über einen Kredit. Mit ganzen 60000 DM Eigengeld erwirbt die Firma das alte Mietshaus - alle weiteren Zwischenfinanzierungen und Finanzierungen gehen dann später in den Quadratmeterpreis
Kostenmiete im Neubau ein. Wohnen ist halt teuer. Die Leute, die wohnen wollen, müsse sich da mal endlich dran gewöhnen. Wie diese Geschichte beweist. Der neue Besitzer stellt sich den Mietern vor. Wie das Gesetz es vorschreibt. Zusammen mit den Herren aus der Behörde werden Mieterversammlungen abgehalten. Über Besitzerwechsel und bevorstehenden Abbruch werden die Leute informiert. Es gehört nämlich zu den Aufgaben des Privatunternehmers zu »entmieten«. Allerdings läßt ihn der Staat da auch nicht im Stich. Er hilft mit Sozialwohnungen aus. Jeder Mieter des privaten Abbruchhauses Schillerstraße 32 hat ein Anrecht auf eine Sozialwohnung - da er ja »abbruchgeschädigt« ist. Es gibt sogar noch Umzugsgeld vom Staat und Beihilfen für Möbel, die aus der alten großen Altbaumietwohnung nicht in die kleine Neubauwohnung mitgenommen werden können. Auch das übernimmt die öffentliche Hand noch, um den neuen privaten Besitzer und Bauherrn zukünftiger Wohnungen zu unterstützen. Der Privatbesitzer tut übrigens auch einiges - das soll gar nicht verschwiegen werden. Er zahlt denjenigen, die nicht auf eine Sozialwohnung warten sollen, weil die Baumaßnahme drängt und es lange Wartefristen für Sozialwohnungen gibt, eine Abfindung und besorgt seinerseits Ersatzwohnraum - meistens in einem seiner vielen, verschiedenen Neubauten, die er bereits auf diese oder ähnliche Weise in Zusammenarbeit mit uns Steuerzahlern errichtet hat. Einer dieser Abfindungsmieter rechnet vor: Vorige Miete, kalt, 195 DM für 3 Zimmer. Jetzige Miete, warm, 650 DM für 3 Zimmer. Abfindung 10000 DM. Davon: 2000 DM für den Umzug; 3000 DM für Teppichboden und Wasch- und Spülmaschine in der neuen Einbauküche. Bleiben 5000 DM. Damit hat er ein knappes Jahr »Überbrückungsgeld«, um die Differenz zwischen der alten und der neuen Wohnung auszugleichen. Anschließend muß er eben das Dreifache aus der eigenen Tasche zahlen. Natürlich wohnt er komfortabler - mit Teppichboden, Wasch- und Spülmaschine, aber wollte er das auch? Er sagt, er habe keine andere Wahl ... und hat Angst vor den steigenden Nebenkosten für Gas und Strom. Andere Mieter, die die dreifache Miete einfach nicht zahlen können, bekommen Wohngeld - vom Staat, von uns Steuerzahlern. Also: die öffentliche Hand hat 60000 Mark für ein Mietshaus mit acht Wohnungen bekommen. Darin haben Leute billig gewohnt, benötigten dadurch weder Wohngeld noch sonst eine Unterstützung aus Steuergeldern. Das ist die eine Seite. Nun wirft der Staat Kredite aus, räumt kostbare neue Sozialwohnungen für die damaligen Mieter des alten Hauses, zahlt Wohngeldzuschüsse (hilft dem Privatunternehmer und seinen Tochterfirmen dabei, weniger Steuern zu zahlen - aber davon später), um schließlich auch noch den »öffentlichen Abriß« zu besorgen. Womit wir wieder bei der Geschichte vom 13. Februar wären. Der Firmenvertreter von »M&L-Abbruch- und Erdarbeiten« verläßt zwischen 9 und 10 Uhr das Bezirksamt Charlottenburg. Zwischen 10 und 11 Uhr erscheint ein Trupp Arbeiter mit Blauhelm und Spitzhacke in der Schillerstraße 32. Da wohnen zwar noch Leute. Im Parterre links der Besitzer des Friseurgeschäftes, der seit mehr als einem Vierteljahrhundert bereits Mieter in diesem Haus ist. Im ersten und zweiten Stock zwei weitere Mietparteien: zwei Maler, der eine mit Familie. Auch die haben gültige Mietverträge. Nun stürmen die Arbeiter auch nicht die bewohnten Wohnungen. Das nicht. Sie gehen ins Dachgeschoß, das bereits »entmietet« ist, holen Fußbodenbalken heraus und werfen Fensterrahmen auf die Straße.
»Öffentlicher Abriß«. Sie machen das, um in der Sprache ihres Chefs zu bleiben, der das später schriftlich so begründet hat: »... weil durch Hausbesetzungen ein Arbeitsmangel eingetreten ist« - und wie es später mündlich hieß, um einer »Hausbesetzung zuvorzukommen«. Die Mieter telefonieren mit dem neuen Hausbesitzer, mit der Polizei. Der neue Hausbesitzer schickt einen Mitarbeiter; die Polizei rät, eine einstweilige Verfügung zu erlangen, dann könne sie einschreiten - vorher nicht. Die einstweilige Verfüghng wird erlangt. Ist ja auch kein Kunststück, es gibt ja - noch - keine Abrißgenehmigung. Die Bauarbeiter ziehen wieder ab. Die Fensterrahmen liegen unten auf der Straße. Die Fußbodenbalken der Wohnungen im 3. Stock und damit die Deckenbalken der Wohnungen im 2. Stock sind rausgerissen. Die Geschichte des Hauses Schillerstraße 32 scheint ihrem Ende entgegenzugehen. Typisch? Nicht typisch? Es ist eine seltsame Zeit in Berlin. Hundert Häuser sind besetzt in diesem Februar. Jeden Tag kommen neue dazu. Es herrscht politische Unsicherheit - man könnte auch sagen: neue Sensibilität. Es gibt Tausende und nicht nur »meist jugendliche« Bürger, die einen Satz wie jenen, den die »FAZ« in dieser Zeit gleich in einem Leitartikel mahnend, abdruckt, nicht billigen würden: »Damit es nicht in Vergessenheit gerät. Es ist das gute Recht eines Bürgers, sein Haus zu vermieten oder nicht zu vermieten, es leer stehen zu lassen oder abzureißen. Wir billigen jedermann zu, mit seinem Geld ein komfortables Auto zu kaufen oder Urlaub auf den Bahamas zu verleben. Warum sollen Hauseigentümer über ihr in Steinen angelegtes Geld nicht ebenfalls frei verfügen können?« Wie gesagt: Es gibt Tausende, die unter Häusern und Wohnraum einfach nicht nur »in Steinen angelegtes Geld« sehen. Die Beamten im Stadtplanungsamt bestehen darauf, daß sie nur den Zuschlag zum Abbruch durch die Firma M&L zuerkannt haben. - Das Bezirksamt macht deutlich, daß es ohne Abrißgenehmigung keinen Abriß geben kann. Der neue Hausbesitzer legt Wert darauf, daß er die Abbruchfirma nicht veranlaßt habe, mit dem Abriß des Hauses zu beginnen. Der Boß der Abbruchfirma, ein Mann, der diese Arbeit von der Nachkriegspike auf kennt (er hat bei der Trümmerbeseitigung der Gedächtniskirche mitgearbeitet), bekennt sich schuldig. Aus Arbeitsmangel und um einer weiteren Hausbesetzung vorzubeugen, wie gesagt, habe man schon mal mit den Arbeiten in dem nicht mehr bewohnten Teil des Hauses begonnen... Die Wende: Die Geschichte wird von den Zeitungen aufgegriffen. Der Bezirksbürgermeister - es steht eine Wahl bevor - schaltet sich ein. Der Senator - es steht eine Wahl bevor - schaltet sich ein. Es wird verhandelt, geredet. Der Bezirksbürgermeister findet, das Haus sei doch eigentlich in gutem Zustand. Der Senator findet, das Hausseidocheigentlichinrechtgutem Zustand. Die Leute von der Stadtplanung und der Sanierung meinen,vorzehn Jahrenhätteman»sowas«ebenabgerissen heute hielten es alle für schön und erhaltenswert. Was sollten sie schon dazu sagen - mit einer
Beamtenzukunft von 20 Jahren vor sich? Nach vier Wochen wird eine »politische« Entscheidung gefällt: Das Haus soll nicht abgerissen werden. Diese Entscheidung fällt gleich zweimal. Einmal beim zuständigen Senator - dann aber auch bei jener Stelle, die die öffentlichen Mittel vergibt und finanziert, mit denen Privatleute oder -firmen bauen oder modernisieren. Das bedeutet für die Privatfirma: Mit diesem Haus wird sie kaum das große Geschäft machen können. Welches Geschäft? Das Geschäft des »in Steinen angelegten Geldes« wie es in der Sprache der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« heißt. Das Geschäft ist kein Geheimnis. »Auch geht ja alles ganz legal zu, deswegen können die Gewinnspannen auch in den Anzeigenteilen der Zeitungen, Immobilienseiten, offen und fröhlich angepriesen werden: Gewinne 150% - 180% - 195% - ja über 200%!!! Zweimal in der Woche neu, blättern Sie einfach mal durch. Da gibt es den kleinen, den mittleren und den großen Weg - je nachdem wieviel Geld jemand verdient. Die Zauberformeln dabei heißen: Abschreibung und Verlustzuweisung - und in beiden Fällen ist gemeint, daß man, anstelle die Steuern zu zahlen, die man entsprechend seines Einkommens zahlen müßte, eben von der Steuer »Geld in Steinen« abzweigt. Das kann man als sein eigener Bauherr machen. Original-Text aus der »Welt am Sonntag« vom 19. April 1981: »So macht Herr K. mit seinem Haus bis 1983 steuerfreie 100000 DM + ein >halbes< Haus dazu! Wenn Sie von einem jungen Mann hören, der es von Null zu zwei Häusern (steuerfrei) bringt, sind Sie natürlich voller Zweifel. Aber diese Rechnung ist wahr: Herr K. kaufte kürzlich ein älteres Haus. 200000 DM, davon 60000 DM eigene Mittel. Der Umbauplan sieht weitere 200000 DM vor, um das Haus zu modernisieren. Sein Steuerberater machte ihm folgende Rechnungauf,dieaufeinersehr exakten Steuerrechnung beruht. Denn für das Einfamilienhaus (vermietet oder eigengenutzt) gilt: Abschreibung 1981 § 7b = 7500 DM. Nach § 82b = 20000 DM. In der Summe 27500 DM. Das gleiche gilt auch für das Jahr 1982. Macht zusammen 55000 DM. Nach Ablauf des zweites Jahres seit Anschaffung (Spekulationsfrist) sieht die Steuervergünstigung folgendermaßen aus: Abschreibung 1983 nach §7b wiederum 7500 DM und der Rest nach § 82b 160000 DM. Das ergibt zusammen 167500 DM. Bei einem Steuersatz von nur 40% ergibt sich also für 1983 eine Steuerersparnis von 67000 DM, mithin im Extremfall je nach Steuersatz bis zu 100000 DM. Das ist für Herrn K. dann der Grundstock für die Modernisierung eines weiteren Gebäudes.« Das ist das sogenannte Einzelfallbeispiel. Das ist der kleine Weg. Nun geht es aber natürlich auch noch lukrativer. Als Mitglied eines schönen Fonds zum Beispiel. Dann läuft es so wie bei dem schon fast sprichwörtlichen Zahnarzt, der ein zu versteuerndes Einkommen von 500000 DM im Jahr hat. Er müßte eigentlich 280000 DM Steuern zahlen (56% - das ist der Höchstsatz bei uns). Wenn er sich nun entschließt, von seinen ihm verbleibenden 220000 Mark Nettoeinkommen 100000
in den Fonds »Geld in Steine« zu zahlen, erhält er von dort eine Verlustzuweisung von 180% - sprich 180000 DM. Das geht, das heißt, das ist erlaubt, weil der Fonds hohe Werbungskosten geltend machen kann - alle Kosten, die mit der Finanzierung eines Objektes zusammenhängen, mit seiner Zwischenfinanzierung, Vermittlung und Vermietung. Nun sieht der zahnärztliche Steuerbescheid folgendermaßen aus: 500000 DM Einkommen minus 180000 DM für den Fonds »Geld in Steinen« oder Wohnanlage XYZ macht 320000 DM zu versteuerndes Einkommen. Darauf sind aber nun nur noch rund 180000 DM Steuern zu zahlen - statt vorher 280000 DM. Mit anderen Worten, genau jene 100000 DM, die unser Zahnarzt an den Fonds gezahlt hat, bekommt er jetzt von der Steuer zurück oder muß sie gar nicht erst an die Steuer zahlen. Er hat aber einen Immobilienanteil im Wert... ja, und nun kommt es drauf an, wie stark die Preise steigen. Sein Einsatz ist immer drin. Wahrscheinlicher aber ist, daß die Immobilie im Wert steigt -, und eines Tages kann sie mit gutem Gewinn verkauft werden - steuerfrei. Das alles aber setzt voraus, daß, ohne groß auf die Verluste zu schauen, gebaut oder modernisiert werden kann - unterstützt von einem Begünstigungssystem des Staates. Und dies wiederum setzt voraus, daß Nachfrage herrscht nach Wohnraum, dem Begriff aus Mietefsicht - wenn der Begriff »Geld in Steinen« von Eigentümerseite benutzt wird. Nun kann man diesen Weg aber auch noch in ganz großem Stil einschlagen. Dann hat man Firmen, die Häuser kaufen und besitzen, andere, die sie modernisieren oder neu bauen, wieder andere, die sie vermieten, verwalten. Die einen Firmen sind an Verlusten interessiert - wie etwa der Fonds unser'es Zahnarztes -, die anderen wiederum sind auf Gewinne angewiesen - wie es in der Sprache des Marktes heißt. Und was die einen verdienen - und zu versteuern hätten - wird durch den Verlust der anderen ausgeglichen - und von der Steuer »gespart« -, das heißt von uns allen mitgetragen. Das Haus Schillerstraße 32 gehört einer solchen Firmengruppe -, und nun aber - ohne Abrißgenehmigung und ohne Zusicherung des Finanzierungsflusses und all der Subventionsmöglichkeiten durch den Staat bis hin zum Wohngeld für jene Mieter, die einen Quadratmeterpreis von 13,15 oder 18 Mark einfach nicht zahlen können -, ohne alldies war das Haus mit seinen letzten drei Mietern und dem halbdemolierten Dach einfach nicht mehr lukrativ. Der Besitzer bot es dem Staat zum Rückkauf an. Er, der ganze 61000 DM bisher gezahlt hatte -, machte natürlich eine saftige Rechnung auf und wollte so an die 764160 DM haben für in der Zwischenzeit entstandene Kosten und - entgangenen Gewinn. Ist ja klar - ist im übrigen auch einklagbar. Das ist völlig unstrittig. Schließlich ist das große Geschäft keine Geheimsache und völlig legal. Denn, wenn Sie auch nur Klagen über das mickrige Geschäft mit Bauen und Vermieten hören und lesen, das Gegenteil ist richtig. Zitat aus dem Wirtschaftsteil der »Welt am Sonntag« vom 17. Mai 1981 unter der Überschrift: »Die Lage auf dem deutschen Immobilienmarkt«. »Der Göttinger Betriebswirtschaftler Prof. Ernst Gerth hat in einem Gutachten festgestellt, daß eine durchschnittliche Wohnungs-Immobilie zwischen 1962 und 1979 einen jährlichen Zinsertrag des investierten Kapitals von 9 bis 12 Prozent vor Steuern erbrachte.« Und: »Mehr als 8 Milliarden Mark haben deutsche Kapitalanleger allein 1980 in Bauherrenmodelle investiert.« 8 Milliarden DM in einem einzigen Jahr - das spricht für Vertrauen ins Geschäft.
Und das hängt natürlich mit der Nachfrage zusammen. Es gibt so viele Interessenten für Wohnraum, soviel Abnehmer der Ware Wohnung. Und das wiederum hat viele verschiedene Ursachen. Erstens eine statistische, mit der Bevölkerungsstruktur zusammenhängende Ursache: die geburtenstarken Jahrgänge, die bisher die Kindergärten, die Schulen, die Ausbildungsplätze »überschwemmt« haben und nunmehr Arbeit und Wohnung suchen. Zweitens dann eine regionale, mit unseren Ballungszentren zusammenhängende Ursache: Die Städte sind nämlich seit Jahren - im Gegensatz zum Land mit Wohnraum unterversorgt. 32% der Bevölkerung leben hier - aber 21% der Neubautätigkeit fand hier statt. Oder wie Mieterpräsident Jahn einmal gesagt hat: »Wenn man jahrzentelang Eigenheime auf dem Land fördert, braucht man sich nicht zu wundern, wenn >plötzlich< Wohnungen in der Stadt fehlen.« Drittens dann eine strukturpolitische, mit dem Verhalten bestimmter Bevölkerungsschichten zusammenhängende Ursache: Es gab nämlich ein Konzept, das sich Wohnungspolitiker und Stadtplaner ausgedacht hatten: Wer wirtschaftlich gut dran ist leistet sich ein eigenes, modernes Heim. Entweder Bungalow, Reihenhaus oder Eigentumswohnung im Umfeld der Städte. Wem es wirtschaftlich nicht so gut geht, daß er sich was Eigenes leisten kann, aber immerhin eine gute Wohnung, der zieht ebenfalls in eine moderne, eher teure Neubauwohnung. Wer sich das auch nicht leisten kann, der erhält eine moderne Sozialwohnung. Und nur, wem es wirtschaftlich schlecht geht, der bleibt in den Altbauwohnungen der Städte. Und genau diesem Konzept folgend ist jahrzehntelang Wohnpolitik gemacht worden - die Altbauten vernachlässigend wurde jede Art von Neubau gefördert. Und bei der Wirtschaftswunder-Generation und ihren Kindern ist das Konzept ja wohl auch angekommen. Aber danach verhielten sich die Menschen anders als am grünen Tisch geplant. Vielleicht auch, weil der moderne Massenwohnbau, sei es in Form seiner Bungalows von der Stange, seiner Reihenhäuser, seien es die Appartementwohnanlagen und erst recht die Neubauviertel a la Sozialarchitektur, die Leute einfach das Fürchten gelehrt hat. Jedenfalls: Eine sogenannte »Neue Urbanität« setzte ein, ein Hang zum Leben in der Stadt und in alten Häusern. Gerade diejenigen, denen es wirtschaftlich sehr gut oder gut ging, legten ihr Geld lieber in alten Steinen an als in Beton. Allerdings wurde dieser Trend vom Staat gefördert. Ab 1974 war es nicht mehr nötig, in einen Neubau zu investieren, um abschreiben zu können also Geld für Immobilieneigentum von der Steuer zu »sparen«. Und seit 1978 wurden diese Möglichkeiten noch verbessert. Das Modernisierungs- und Energieeinsparungsgesetz zielte genau darauf ab, daß Modernisierungen alter Häuser staatlicherseits gefördert wurden. Es war die Wohnungspolitik der SPD/FDP, die den Prozeß in Gang setzte, daß es bald lukrativer wurde, Altbauten zu modernisieren als neu zu bauen. Im Kern eine völlig richtige und notwendige Politik, wollte man die Städte retten - wollte man der jahrzehntelangen Zersiedelung Einhalt gebieten. Eine richtige Politik sicher auch, was die Lebensqualität angeht - und eine demokratische Politik, denn sie entsprach den Bedürfnissen vieler Bürger. Eine richtige Politik mit einem schlimmen Nebeneffekt allerdings: Sie führte zur Verringerung und Vernichtung des billigen Altbauwohnraums. Hier nur ein paar Zahlen:
Zwischen 1972 und 1980 gingen 600000 Altbauwohnungen verloren - durch Abriß oder auch Zusammenlegung kleinerer Wohnungen in größere. Auch 300000 Sozialwohnungen, die vor 1964 fertig wurden, (also auch die billigsten), gingen durch Umwandlung in Eigentumswohnungen verloren. In den siebziger Jahren gingen also an die 100000 alte Wohnungen verloren - das ist ein Viertel dessen, was notwendigerweise jedes Jahr neu an Wohnraum hinzukommen müßte. Es ist wie mit der Energie - wenn wir allein sparen würden im Bereich des Vorhandenen, müßten wir gar nicht so viel neu haben! So. aber fand Erhaltung, Modernisierung, Sanierung ausschließlich auf Kosten des preisgünstigen Wohnraums statt. Die Anhänger der »neuen Urbanität« kauften sich alte Stadthäuser oder Etageneigentum in alten Mietshäusern - und modernisierten diesen Wohnraum. Oder sie legten zu viert oder sechst die elterlichen Schecks zusammen und zahlten Mietpreise für große Altbauwohnungen, die die Vormieter einfach nicht aufbringen konnten. Ergebnis: Ein Verdrängungsprozeß in den Ballungsräumen fand statt. Und die wirtschaftlich Schwachen gerieten in das, was man die »neue Wohnungsnot« nennt, die - da haben die Kritiker dieses Begriffes schon recht - mehr ein Ergebnis eines bestimmten, weit verbreiteten Wohlstandes ist als eines allgemeinen Mangels. Aber genau das muß beachtet werden dabei: Nicht allgemein aber für bestimmte Gruppen der Bevölkerung herrscht eben Mangel. Und da helfen die Hinweise auf die Notjahre nach dem Krieg auch nicht weiter. Das ist wie der Vergleich mit der Armut, so als hielte man jemandem mit 500 Mark Einkommen in der Bundesrepublik die Lebensverhältnisse in Indien vor. Not, Mangel, Armut sind stets relativ. In einer Gesellschaft bedeutet eine Handvoll Nahrung, in der nächsten ein Paar Schuhe, in der dritten der Besitz eines Fahrrades Reichtum - bei uns, in einem der reichsten Länder, käme dies alles zusammen einem armen Leben gleich. Und die Wohlhabenden in diesem Land, die sich über den Begriff »neue Wohnungsnot« mokieren, lassen sich ja auch nicht auf ihren Status von 1947 verpflichten oder gern daran erinnern, daß ohne Zweithaus, Drittwohnung, Autopark und Gewinnen von 180% und mehr ein Leben möglich ist, das immer noch das Leben eines Reichen wäre - auch bei uns. Aber das nur nebenbei. Zurück zur Geschichte des Hauses Schillerstraße 32 - die zugleich ein Beispiel dafür ist, warum wohnen bei uns so teuer ist und Vermieten ein so prima Geschäft. Also die Mieter des leicht demolierten Hauses bekommen ein staatliches Angebot. Sie können das Haus vom Staat kaufen. Zu den gleichen Konditionen wie der private Abriß- und Bauherr vorher. 60000 DM Eigengeld - der Rest geht über Kredite und wird finanziert. Und die Mieter rechnen und rechnen. 200000 DM für das Haus. 400000 DM für seine Instandsetzung inkl. Einbau von Bädern und Heizung. Da sie aber nicht 60000 DM auf der Hand haben, eben keine Großverdiener sind, die aus Steuergeldern Eigenkapital machen können (sie leben alle von untersten Einkommenssätzen, jobben als Taxifahrer, arbeiten als Künstler), müßten sie alles über teure Kredite finanzieren. Das tun die Fonds, die Bau- und Modernisierungsfirmen schließlich auch, aber die haben ja auch Mieter, an die sie diese Kosten weiter geben können, während die Leute vom Haus Schillerstr. 32, denen eine seltene politische Situation und Sensibilität ausnahmsweise zum Angebot eines alten Mietshauses verhilft, vor allem selbst in dem Haus wohnen wollen, - also diejenigen sind, an die der Eigentümer in anderen Fällen die Verluste weiterreicht. Eine merkwürdige Geschichte.
Die jungen Leute rechnen bzw. man rechnet ihnen vor. Sie können das Haus kaufen und renovieren - wenn sie anschließend zwei von den zehn Wohnungen als Eigentumswohnungen verkaufen - haben sie alle Schulden bezahlt. Aber das wollen sie nicht, darin sehen sie keine Lösung des Problems. Weder für sich - da sind sie verblendet - noch allgemein - das sind sie erst recht verblendet. Sie sagen, das kann doch nicht der Weg sein, daß jeder Mieter seine Wohnung einfach kauft. (Wenn es jeder könnte, wäre dagegen eigentlich nichts einzuwenden. Im klassischen sozialen Wohnungsbau kostet heute eine Neubauwohnung in den Großstädten bis zu 150000 DM Subventionen. Mit anderen Worten, wenn der Staat jedem, der seine Altbauwohnung kaufen und auf eigene Kosten renovieren will, - diese 150000 DM gleich schenken würde - anstelle sie hundert Firmen, Banken, Zwischenfinanzierern, Vermittlern, Anpreisern als Subvention zukommen zu lassen -, wo kämen wir da hin?) Also, die Leute im Haus Schillerstraße 32 wollen weder einen Teil des Hauses kaufen noch ihre Wohnungen, sie wollen sich nicht damit trösten, daß sie als Eigentümer einer renovierten Wohnung monatlich 700 oder 800 Mark Belastung statt Miete zahlen - aber dafür in einigen Jahren über eine wertvolle Immobilie verfügen -, sie wollen das alles nicht. Sie wollen nur in dem Haus wohnen und nicht viel mehr zahlen müssen als bisher. Sie wollen das ganz einfach auch deswegen, weil sie gar nicht sehr viel mehr zahlen können und wiederum keinen Sinn darin sehen, daß sie mehr Miete zahlen, wovon ihnen ein Teil als Wohngeld aus dem Topf der Steuerzahler erstattet wird. Kurz: Sie sind uneinsichtig gegenüber den Gesetzen des Marktes. Stur machen sie die Rechnung auf: Bisher haben wir gut und billig gewohnt warum können wir nicht weiter gut und billig wohnen? Und sie lernen in diesen Verhandlungswochen vor allem eines: Es sind die Finanzierungskosten, die das Wohnen so teuer machen. Klar: die Grundstückspreise sind gestiegen in den letzten Jahren - insbesondere in den Großstädten. Klar: die Baukosten, auch die Modernisierungskosten sind gestiegen. Aber: Was den Preis für die Ware Wohnen wirklich in schwindelnde Höhen treibt sind die Zinsen und die Zinsen für das sogenannte Fremdkapital. Ein Satz wird den jungen Leuten einfach so als selbstverständlich hingestellt: Bei einer Mietkalkulation muß davon ausgegangen werden, daß zwischen 60% bis 80% der Kostenmiete (Kostenmiete ist die vor allem im sozialen Wohnungsbau und bei gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften auf die Deckung der Unkosten begrenzte Miete.) aus Zinsen für das aufgenommene Fremdkapital bestehen. Und der Satz: »Die Zinsen können Sie ja von der Steuer abziehen!«, kann eben die wenig verdienenden Mieter des Hauses Schillerstraße 32 nicht trösten. In dem Buch »Die neue Wohnungsnot« von Renate Petzinger und Marlo Riege finden sich drei Rechenbeispiele. Was kostet ein Quadratmeter Wohnraum bei gängigen Herstellungs- und Finanzierungskosten? Und wie läßt sich dieser exorbitante aber heute übliche Preis auf die Hälfte bzw. ein Viertel drücken, wenn man die beiden Kostenanteile Grundstücks- und Baukosten einerseits Finanzierungskosten anderseits - verringert? Dem wäre noch ein - vielleicht wirklichkeitsnäheres und deshalb sogar noch interessanteres Rechenbeispiel hinzuzufügen. Nicht zinslos wird das Fremdkapital von 180000 DM Hier ein Beispiel: Mietberechnungen
Beispiel 1 Kosten
DM 50000,- Grundstückskosten DM 150000,- Bau- und sonstige Kosten DM 200000,- Gesamtherstellungskosten
Finanzierung
DM 20000,- Eigenkapital 4% Zinsen DM 180000,- Fremdkapital 1% Tilgung, 10% Zinsen
Aufwendungen DM 1800,DM 800,-
Tilgung Zinsen Eigenkapital
DM 18000,- Zinsen Fremdkapital DM 3400,Kostenmiete
Bewirtschaftungskosten etc.
DM 24000,- = DM 20,- /qm/Monat bei 100 qm Wohnfläche
Beispiel 2 (Senkung der Grundstücks- und Baukosten um je die Hälfte, gleichbleibender Zinskosten) Kosten
Finanzierung Aufwendungen
Kostenmiete
DM 25000,-
Grundstückskosten
DM 75000,-
Bau- und sonstige Kosten
DM 100000,-
Gesamtherstellungskosten
DM 20000,-
Eigenkapital 4% Zinsen
DM 80000,-
Fremdkapital 1% Tilgung, 10% Zinsen
DM 800,-
Tilgung
DM 800,-
Zinsen Eigenkapital
DM 8000,-
Zinsen Fremdkapital
DM 3400,-
Bewirtschaftungskosten etc.
DM 13000,-
= DM 10,83/qm/Monat bei 100 qm Wohnfläche
Beispiel 3 (Senkung der Zinskosten, gleichbleibende Bau- und Grundstückskosten) Kosten
DM 50000,-
Grundstückskosten
DM 150000,- Bau- und sonstige Kosten DM 200000,- Gesamtherstellungskosten Finanzierung
DM 20000,-
Eigenkapital 4% Zinsen
DM 180000,- Fremdkapital 1% Tilgung, zinslos Aufwendungen DM 1800,-
Kostenmiete
Tilgung
DM 800,-
Zinsen Eigenkapital
DM 3400,-
Bewirtschaftungskosten etc.
DM 6000,-
= DM 5,- /qm/Monat bei 100 qm Wohnfläche
gewährt, aber der Zinssatz wird gesenkt. Und zwar von 10% auf 4% - das heißt auf die Höhe, die für Eigenkapitalverzin-sung üblich ist. Dann sähe die Geschichte so aus: Gesamtherstellungskosten gleichbleibend: 200000 DM
Finanzierung 20000 DM (Eigenkapital 4% Zinsen) 180000 DM (Fremdkapital 1% Tilgung, 4% Zinsen) 1800 DM Tilgung Aufwendungen 800 DM Zinsen Eigenkapital 7000 DM Zinsen Fremdkapital 3400 DM Bewirtschaftskosten Kostenmiete DM13000 oder DM 10,83/qm/Monat bei 100 qm Wohnfläche. Aber sogar fast 11 Mark pro Quadratmeter ist eben auch ein Preis, den nicht allzu viele Leute bezahlen können. 1100 Mark Miete im Monat für eine 100 qm große Wohnung - also jener Wohnraum, den eine Familie mit 2 Kindern benötigt, 1100 Mark Miete also ohne die Kosten für Strom, Gas, Wasser etc. Welcher normal verdienende Familienvater kann das bezahlen? Das verfügbare Durchschnittseinkommen einer vierköpfigen Arbeiterfamilie lag 1979 bei 2757 Mark im Monat - in diesem Fall wären 1000 Mark schon mehr als 33% des Einkommens. Mit anderen Worten, - es bleibt die Frage: wer - nach dieser Welle der Verteurung alten wie neuen Wohnraums - die Mieten überhaupt noch aufbringen kann? Ein Zitat aus dem »Zeit-Dossier«. »Wohnungsnot - keine Wende in Sicht« vom 27. März 1981: »... daß Mieten zu niedrig seien, versuchen Haus- und Grundeigentümer, allen voran ihr Präsident Theodor Paul, auch mit untauglichen Mitteln zu beweisen. Das Standard-Argument ist der mit durchschnittlich 15,5% vermeintlich zu geringe Anteil der Wohnungsmiete an den Gesamtausgaben der privaten Haushalte. Die ständige Wiederholung macht diese Behauptung weder besser noch gut. Sie ist von ähnlicher Aussagekraft wie die Feststellung, daß Rockefeller und seine Putzfrau im Durchschnitt Milliardäre sind. Durchschnittszahlen wie die ominösen 15,5 Prozent beweisen nichts. Die überwiegende Mehrheit der Normalverdiener in den Großstädten wäre glücklich, wenn dieser Satz für die Miete reichen würde. Mindestens 25% vom Einkommen zahlen fast alle Normalverdiener in den Ballungsgebieten - damit erfüllen sie eigentlich eine wichtige Forderung der Wohnungsbau-Funktionäre. Doch 25% vom Einkommen reichen halt nicht aus. Wesentlich weniger wird in ländlichen Regionen bezahlt - aber dort herrscht trotzdem keine Wohnungsnot.« Frage ist also: wer wird bei Neubaupreisen von 20 Mark und mehr und bei den Preisen für modernisierte Altbauten von 13, 15, 18 Mark und mehr den Erbauern oder Modernisierern über die Gewinnschwelle helfen können? Die jungen Leute von der Schillerstraße 32 jedenfalls hätten das Haus am besten einem Fonds übergeben oder als Bauherrenmodell angepriesen - ein Traumangebot sozusagen. Nur untauglich, wenn jemand bei bescheidenen Ansprüchen billig wohnen möchte. Was sie nun tatsächlich mit dem alten Haus machen - oder auch das Land Berlin - steht in diesem Augenblick noch nicht fest. Am liebsten würden sie nur die Schäden beheben lassen gerechterweise auf Kosten des Verursachers, der ohne Genehmigung mit dem Abriß begonnen hat - und dann in Eigenarbeit an dem Haus das ausbessern, was notwendigerweise zu seiner Instandhaltung gemacht werden muß. Anschließend kann das Haus wahrscheinlich noch Jahrzehnte oder ein weiteres Jahrzehnt zehn Mietparteien Unterkunft bieten, wenn die politischen Verhältnisse es zulassen. Und selbst dann hätte es etwas von einem Denkmal: »Die Ausnahme und die Regel« - denn die Regel ist Geschichte des nicht abgerissenen und bisher nicht luxusmodernisierten Mietshauses Schillerstraße 32 sicher nicht.