3.119 Baader: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen Baader-Erinnerungen
Ottilie Baader
Ein steiniger Weg
Lebenserinn...
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3.119 Baader: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen Baader-Erinnerungen
Ottilie Baader
Ein steiniger Weg
Lebenserinnerungen einer Sozialistin
Deutsche Autobiographien
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Mein hohes Alter läßt es nicht mehr zu, so wie ich es früher oft und gern getan habe, zu meinen Genossin nen zu sprechen. Die fortschreitende Entwicklung hat den Frauen neue Aufgaben zugewiesen, an deren Erfüllung ich mich nicht mehr beteiligen kann, obwohl mein Seh nen und Wünschen mich noch immer dazu drängt. So will ich durch dieses Buch noch einmal zu den älteren und jungen Genossinnen sprechen. Ich will denen, die in jenen Zeiten mit mir für unser großes, heiliges Ziel gekämpft, die in zähem, gemeinsamem Ringen man ches Stück Freiheit erobert haben, aus vollem Herzen danken, den jüngeren aber zurufen: »Haltet die Rech te, die euch die neue Zeit gebracht hat, fest und ge braucht sie wie eine heilige Pflicht für die Zukunft, für den Sozialismus!« Es ist mir aber auch ein Herzensbedürfnis, an dieser Stelle der Genossin Johanna Heymann, die mir bei der Bearbeitung des Materials so hilfreich zur Hand gegangen ist und mir so viele Stunden geopfert hat, laut und herzlich meinen Dank zu sagen. Ottilie Baader
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Erstes Kapitel
Kindheit und erste Arbeitsjahre Es war nicht meine Absicht, in diesen Erinnerungen auch von mir selbst, von meinem eigenen Leben zu sprechen. Aber mein Leben ist von kleinauf Arbeit gewesen, und all das, wovon ich hier erzählen will, baut sich auf diesem Arbeitsleben auf und ist von die ser Grundlage aus erst recht zu verstehen. Es ist auch kein besonderes Leben; so wie ich lebte und schaffte, haben Tausende von Arbeitermädchen meiner Zeit ge lebt und geschafft. Meine Eltern lebten in Frankfurt an der Oder, wo der Vater in einer Zuckerfabrik als Zuckerscheider ar beitete. Zu dieser Arbeit waren chemische Kenntnisse nötig, die der Vater, der eine bessere Schule hatte be suchen können, sich angeeignet hatte. Seine bessere Schulbildung ist mir schon in den Kinderjahren und dann noch mehr in sehr viel späteren Jahren gut zu statten gekommen. Er hat für sich selbst nie großen Nutzen daraus gezogen und sich auch nie recht zur Geltung bringen können. Ich bin als zweites Kind meiner Eltern 1847 geboren. Nach mir kamen noch zwei Geschwister. Mir waren nur wenige sorglose Kinderjahre beschieden, und es sind liebe und freund-
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liche Bilder, die aus jenen ersten sieben Jahren meines Lebens aufleuchten. Die Mutter war eine fleißige Frau mit einem sanften Gesicht, und wir Kinder haben kein scharfes Wort von ihr gehört. Aber sie hat manches Wort gesagt, das die vielen Jahre meines Lebens nicht aus der Erinnerung haben wegwischen können, und ich habe oft gedacht, daß ich das Beste doch von ihr gelernt habe. Mir ist, als sähe ich sie noch am Fenster unserer Stube sitzen und nähen. Sie arbeitete auch mit, soweit es irgend ging, und nähte dann für die Zuckerfabrik Preßtücher. Manchmal kamen wir zu ihr gesprungen, hatten uns kleine, purpurrote Spinnen, die wir »Liebgotteskühe« nannten, auf die Hand ge setzt und zeigten sie ihr. Sie freute sich darüber, sagte aber dann: »Nun trag schnell das Tierchen wieder dahin, wo du es gefunden hast, sonst stirbt es.« Wir haben nie Maikäfer gefangen und in Schachteln ge sperrt, und auch mein älterer Bruder hat nie ein Tier gequält. Ich weiß, daß ich einmal einen Schmetter ling, einen ganz einfachen Kohlweißling, gefangen hatte, und es gefiel mir so, die Flügelchen zwischen den Fingern zu reiben. Auf einmal merkte ich, daß der zarte Schimmer von den Flügeln fort war, und ich ging ganz erstaunt zur Mutter und zeigte es ihr. »Ja«, sagte sie, »weißt du auch, was du gemacht hast? Du hast ihm weh getan, und er muß wahrscheinlich früher sterben. Das ist so, als wenn man dir die Kleider aus-
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ziehen würde und du müßtest nackt herumlaufen. Du könntest dir dann schon noch wieder andere Kleider anziehen, aber solchem armen Schmetterling wächst kein neues Kleid mehr.« Ich habe sicher keinem Schmetterling wieder den Staub von den Flügeln ge streift. Als ich dann schon etwas älter war, hat sie und auch der Vater mir und meinem Bruder die ersten Schulkenntnisse beigebracht. Wir wohnten etwa eine Meile außerhalb der Stadt und gingen nicht regelmä ßig in die Schule. Aber wir durften, wenn wir wollten, mit den anderen Kindern in die Dorfschule gehen und dort zuhören. Großen Wert legte die Mutter auf die Gewöhnung ihrer Kinder an Ordnung. So mußten wir jeden Abend, wenn wir uns auszogen, unsere Sachen nach sehen, und wenn irgendein Schaden an Strümpfen oder Kleidern war, mußten wir es ihr bringen, damit sie es, wenn wir im Bett waren, wieder heilmachen konnte. Eines Abends hatte ich meinen Strumpf, an dem, wie ich ganz genau wußte, ein Loch war, aus Müdigkeit oder Nachlässigkeit nicht gebracht. Viel leicht hat sie dann, als ich schlief, selber nachgesehen. Ich zog am andern Morgen den Strumpf mit dem Loch wieder an und sprang vergnügt mit den andern Kindern in die Schule. Als ich aber dann nach Hause kam, sagte die Mutter: »Du hast ja ein Loch im
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Strumpf!« Sprachlos schaute ich sie einen Augenblick an und sagte dann rasch: »Aber das sieht man doch nicht!« – »Doch«, sagte sie, »das sieht man ganz genau, wenn jemand ein Loch im Strumpf hat!« Sie meinte, man sähe es dem Menschen an, wenn er an sich selbst und seiner Kleidung nachlässig wird. Der Vater hatte seine Arbeit in der Zuckerfabrik aufgegeben und war nach Berlin gegangen. Hier ar beitete er bei Borsig. Er hatte die Absicht, uns nach kommen zu lassen, wenn er erst eingerichtet und eine Wohnung gefunden hatte. Drei Taler verdiente er in der Woche, davon schickte er regelmäßig zwei Taler an die Mutter, und für uns Kinder wurde immer ein Groschen mit eingesiegelt. Heute fahren die Familien väter, die auswärts arbeiten, jeden Sonnabend nach Hause. Das ging damals nicht. Mit der Post war es teuer oder es mußte eine Gelegenheit abgewartet wer den. So kam es, daß der Vater eine ganze Zeitlang nicht zu Hause war. Als er dann wiederkam, erschrak er über das Aussehen unserer Mutter und ließ den Arzt kommen. Dieser ging nach der Untersuchung mit ihm heraus und sagte, er wollte etwas verschreiben und nach zwei Tagen wiederkommen und sehen, ob noch zu helfen wäre. Aber es war zu spät, und sie starb dann sehr bald an der galoppierenden Schwind sucht. Von uns Kindern war das älteste acht und das jüngste drei Jahre alt. Aber selbst solch ein Unglück
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muß noch einen Gefährten haben! Es waren schlimme Wintertage und draußen war Glatteis. Mein Vater fiel und verstauchte sich die rechte Hand. So fiel mir sie benjährigem Ding gleich die ganze Arbeit zu. Das erste aber war, daß ich die tote Mutter waschen und ihr die Haube aufsetzen mußte. Die Leute kamen und lobten mich und nannten mich ein »gutes Kind«, und niemand wußte, welches Grauen in mir war vor der Unbegreiflichkeit des Todes. Der Verdienst des Va ters reichte kaum zum dürftigsten Leben. Wir wußten deshalb nicht, woher das Geld nehmen für die Beerdi gung der Mutter. Da kamen als Retter in der Not die Borsigschen Arbeiter und brachten uns eine Summe Geldes, die sie unter sich gesammelt hatten. Der Vater hat sich nicht wieder verheiratet. Wäh rend der Kinderzeit und bis in meine späteren Jahre hinein wurde bei vielen Gelegenheiten immer wieder gefragt: Was würde die Mutter dazu sagen, und was würde sie tun? Das wuchs sich fast zu einem Kultus aus, der für die freie Entwicklung sicher hemmend war. Durch die Verhältnisse gezwungen, mußte mein Vater nun wieder in Frankfurt arbeiten. Aber sein Verdienst reichte nie so weit, daß er hätte für den Haushalt eine ordentliche Wirtschafterin neh men können. So waren wir Kinder uns meist selbst überlassen und wuchsen ohne mütterliche, ja ohne
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weibliche Fürsorge auf. Arbeiten und Sorgen haben wir aber von früh- auf kennengelernt. Ich kam erst etwa im zehnten Jahre in die Schule. Lesen, Schreiben und Rechnen hatte ich von meinem Vater gelernt. Bei der Prüfung wurde ich für die dritte Klasse reif befunden. Es war eine Mittelschule, in einem alten Kloster untergebracht, und sie galt für die damalige Zeit als eine gute Schule. Es hieß, daß die Mädchen dort vor allem zu »guten Sitten« erzogen wurden. Leise, zart und sanft sein war das Frauenide al dieser Zeit, und der Vater hatte gerade an der Mut ter ihre Sanftheit geliebt und wollte, daß auch seine Töchter so wurden. Lange bin ich nicht in die Schule gegangen. Als ich dreizehn Jahre alt wurde, zog der Vater mit uns nach Berlin, und hier war es mit meinem Schulbesuch vor bei. Ich mußte arbeiten und mußte mitverdienen. Es brauchte kein großer Familienrat abgehalten zu wer den, um den richtigen Beruf zu wählen, denn groß war die Auswahl für Mädchen damals nicht. In der Schule war ich immer gelobt worden, weil ich gut nähen und vor allem gute Knopflöcher machen konn te. Ich sollte also Wäsche nähen. Die Frau eines Satt lergesellen hatte in der Neanderstraße eine Nähstube für Oberhemden. Es wurde noch alles mit der Hand genäht. Nähmaschinen waren noch recht wenig im Gebrauch. Einen Monat lernte ich unentgeltlich, dann
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gab es monatlich drei Taler. Zwei Jahre später ver diente ich schon fünf Taler jeden Monat. Dabei aber blieb es dann auch einige Jahre. Um noch etwas ne benbei zu verdienen, nahm ich abends Manschetten zum Durchsteppen mit nach Hause. Durchsteppen – das hieß: mit der Hand immer über zwei Fäden. Einen Groschen gab es für das Paar. Wie oft mögen mir jun gem Ding da wohl die Augen zugefallen sein, wie mag mir der Rücken geschmerzt haben! Zwölf Stun den Arbeitszeit hatte man immer schon hinter sich, von morgens acht bis abends acht, mit kurzer Mit tagspause. Freundlich ist die Erinnerung an meine erste Mei sterin nicht. Ich habe nie wieder in so schamloser Weise von den intimsten Vorgängen reden hören wie von dieser Frau. Es war noch eine andere Näherin da, ein Mädchen, die in der Art zu der Frau paßte, und die beiden legten sich denn auch vor mir keinen Zwang auf. Ich habe wohl manchmal große Augen ge macht, wenn mir das alles böhmische Dörfer waren, und dann hieß es: »Na, Kleine, du brauchst ja deine Ohren nicht überall dabei zu haben!« Diese Gemein heiten blieben aber an mir nicht haften. Nur einzelnes Unverständliches blieb mir im Gedächtnis, und nach dem ich durch das Leben schon so manches erfahren hatte, kam hier und da ganz plötzlich das Verständnis für so ein unbewußt im Gedächtnis gebliebenes Wort.
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So habe ich mir nicht denken können, was das hieß: Die Näherinnen gehen ja doch alle auf den Strich! Da ich selbst Näherin war, ging es mich doch wohl auch an. Zum Fragen aber war ich zu schüchtern, und so haben mir erst viel spätere Jahre auch hierfür ein grel les Licht des Verstehens angesteckt. Und auch dar über habe ich oft nachdenken müssen, wie so ein jun ges Ding, wenn es empfänglich dafür ist, durch die Leichtfertigkeit solcher Frau schon frühzeitig in Grund und Boden verdorben werden kann. Ich blieb einige Jahre beim Wäschenähen und ar beitete dann auch mit meiner Schwester, die nun her angewachsen war, zusammen. Sie war dreister als ich, und sie hat dann auch dafür gesorgt, daß wir uns an dere Arbeit suchten. Wir fanden sie in der Wollfabrik von Schwendy in der Gitschiner Straße, aber wir kamen in verschiedene Arbeitssäle. Etwas mehr verdienten wir wohl hier, zwei Taler in der Woche, dafür aber waren die Zustände in dieser Fabrik ganz furchtbar, und es hieß, wer ein paar Jahre dort arbeitet, hat die Schwindsucht. Unser Meister war gut, aber Macht hatte auch er nicht. Organisatio nen, die unser Interesse wahrnahmen, gab es nicht, ebensowenig gab es eine Gewerbeaufsicht. So mußten wir diese Zustände eben hinnehmen. Wir hatten von dicken Wolltupfen dünnere Stränge zu spinnen. Wenn nun die Wolle schleuderte und
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Schlingen warf, die wieder in Ordnung gebracht wer den mußten, durfte nicht etwa die Maschine angehal ten werden, sondern wir mußten in das laufende Ge triebe hineinfassen, in aller Geschwindigkeit die dik ken Stellen herausnehmen, die Fäden wieder zusam menwirbeln und -knoten, damit sie durch die Öse gin gen. Das gab zerschundene Hände und Knie. Schlimm war hier so manches. Die Aborte lagen neben dem Arbeitssaal. Da noch alle Kanalisation fehlte, kam es nicht eben selten vor, daß sie überliefen und im Arbeitssaal eine kaum zu ertragende Luft ver breiteten. In dieser Luft mußten junge Menschen Tag für Tag arbeiten. Dann mußte sehr oft nachts gearbei tet werden. Das geschah in der Weise, daß gewöhn lich die Nacht vom Freitag auf den Sonnabend einge legt wurde. Der Sonnabend war dann aber nicht etwa frei, sondern mußte ebenso durchgearbeitet werden wie alle anderen Tage. Das heißt also, es waren drei Tagesschichten hintereinander, ohne nennenswerte Pausen dazwischen. In der Nacht gab es eine Tasse Kaffee, d.h. dicke Zichorienbrühe, die ich nicht herun terbringen konnte. Ich war damals so elend, daß ich wohl wie eine halbe Leiche an der Maschine stand. Das fiel sogar dem Chef auf. Ich höre noch, wie er zu dem Werkführer sagte: »Wie sieht denn die aus? Die ist wohl krank?« – »Ja«, sagte der Werkführer, »die kann das Nachtarbeiten eben nicht vertragen. Das ist
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auch zuviel für ein ordentliches Mädchen« Es ist spä ter hier nicht mehr nachts gearbeitet worden. Dieser Chef führte dann auch eine neue Lohnme thode ein, wie es hieß, zu unserm Vorteil. Wir sollten die vollgesponnenen Rollen abwiegen, und was wir mehr als ein bestimmtes Quantum hatten, sollte uns extra bezahlt werden. Wir waren natürlich, verlockt durch die Aussicht, mehr zu verdienen, dazu bereit und arbeiteten nun um die Wette. Da hatte eine der Arbeiterinnen ein für die damalige Zeit merkwürdig richtiges Einsehen. Ich sehe sie noch, wie sie eines Tages mitten unter uns stand, ein hübsches, rotblondes Mädchen aus Rixdorf, und uns sagte: »Kinder, seid doch nicht dumm! Der will doch bloß sehen, wieviel wir arbeiten können. Wenn wir wirklich ein paar Wochen lang ein paar Groschen mehr dabei haben, das ziehen sie uns doch nachher wieder ab.« Ich bin zwei Jahre in dieser Fabrik gewesen. Dann habe ich verschiedenes gearbeitet, auch Mäntel ge näht. Man mußte eben allerlei versuchen, wenn man keine regelrechte Lehre durchgemacht hatte. Eine eigentliche Lehrzeit, wenn auch nur eine sehr kurze, habe ich erst später gehabt.
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Zweites Kapitel
Nähmaschine und Heimarbeit Die Nähmaschinenindustrie hat sich in Deutschland erst in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts so entwickelt, daß die Nähmaschine auch hier zu all gemeinerer Verwendung kam. Das rief vor allem in der Frauenerwerbsarbeit, und namentlich in der Wä scheherstellung, eine große Umwälzung hervor. Als besondere Branche entstand die Herstellung von Kra gen und Manschetten, die vorher feste Bestandteile des Herrenoberhemdes gewesen waren. In Berlin waren es damals vier oder fünf Firmen, die ihre Her stellung im großen betrieben. Ich hatte inzwischen, wie schon gesagt, allerlei ver sucht. Jetzt aber lernte ich auf der Maschine nähen und kam in eine dieser Fabriken in der Spandauer Straße. Dort wurden etwa fünfzig Maschinennäherin nen und ebensoviele Vorrichterinnen beschäftigt. Je eine Arbeiterin dieser beiden Gruppen mußten sich immer zusammentun und gemeinsam arbeiten, und auch der Lohn wurde gemeinsam berechnet. Von mor gens acht bis abends sieben Uhr dauerte die Arbeits zeit, ohne namhafte Pause. Mittags verzehrte man das mitgebrachte Brot oder lief zum »Budiker« nebenan,
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um für einige Groschen etwas Warmes zu sich zu nehmen. Sieben, höchstens zehn Taler die Woche war der von Vorrichterin und Maschinennäherin gemein sam verdiente Lohn. Da das Maschinennähen körper lich anstrengender als das Vorrichten war, so bestand die Gepflogenheit, daß die Maschinennäherin vom Taler 171/2 und die Vorrichterin 121/2 Groschen er hielt. Vor der Teilung wurden aber von dem gemein sam verdienten Lohn die Kosten für das vernähte Garn und etwa zerbrochene Maschinennadeln abgezo gen, was durchschnittlich auf den Taler 21/2 Gro schen betrug. Den ersten Anstoß, eine Änderung dieser ganzen Verhältnisse selbst in die Hand zu nehmen, brachte uns erst der Deutsch-Französische Krieg. Unmittelbar nach seinem Ausbruch gab es auch in der Wäschein dustrie einen Stillstand des Absatzes. Arbeiterinnen wurden entlassen und standen mittellos da, denn von dem Verdienst konnte niemand etwas erübrigen. Un sere Firma wollte das »Risiko« auf sich nehmen, uns auch bei dem eingeschränkten Absatz voll zu beschäf tigen, wenn wir für den »halben« Lohn arbeiten woll ten. Von Organisation hatten wir keine Ahnung – und wir waren in einer Notlage, denn die meisten Arbeite rinnen waren auf sich selbst angewiesen; sie lebten, wie man sagt, von der Hand in den Mund. So sagten wir zu, es einmal eine Woche zu versuchen.
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Nun wurde drauflosgeschuftet. Das Resultat aber war kläglich; von dem um die Hälfte gekürzten Lohn wurden uns die vollen Kosten für Garn und Nadeln in Abzug gebracht. Das brutale Vorgehen des Unterneh mers brachte uns zur Besinnung. Wir beschlossen einmütig, lieber zu feiern, als für einen solchen Schundlohn zu arbeiten, von dem zu existieren nicht möglich war. Drei Arbeiterinnen, zu denen auch ich gehörte, wurden bestimmt, dies dem Chef mitzuteilen. Als die Deputation ihm nun den Gesamtbeschluß vor trug, wollte er uns damit beschwichtigen, daß er er zählte, sobald Siegesnachrichten eingingen, würde das Geschäft sich sofort wieder heben und die Löhne steigen. Er hatte wohlweislich vermieden zu sagen, »die alte Höhe erreichen«. Wir waren glücklicherwei se in dem Moment schlagfertig genug zu antworten, der Lohn steige nie so schnell, wie er herabgesetzt würde und zudem habe dann das Geschäft ein volles, zu den niedrigen Löhnen hergestelltes Lager. Als der Chef merkte, daß wir uns nicht so leicht unterkriegen ließen, wurde er so wütend, daß er uns rot vor Ärger anschrie: »Na, dann werde ich euch den vollen Preis wieder zahlen! Wollt ihr nun wieder arbeiten?« Da antworteten wir ihm kurz: »Jawohl, nun werden wir wieder arbeiten.« Wir waren durch unsern Erfolg selbst überrascht. Dem Unternehmer aber war es ebenso neu, daß Arbei-
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terinnen sich zusammenfanden und geschlossen ihre Forderungen stellten. Er war überrumpelt worden, zudem waren die Kragennäherinnen damals auch sehr gesucht. Mich ließ der Chef dann bald nachdem ein mal in sein Kontor rufen und sagte mir, ich brauchte nicht zu befürchten, daß mir mein Eintreten in dieser Sache bei meiner Arbeit etwa schaden würde. Solange er Arbeit hätte, würde ich auch bei ihm zu tun finden. Das hörte sich zwar ganz gut an, stimmte aber nicht. Es wurde hier und da an meiner Arbeit herumgetadelt, und es dauerte nicht lange, da gefiel mir diese Art nicht mehr, und ich ging von selbst fort. Die Einmü tigkeit der Arbeiterinnen, die uns diesen Erfolg ge bracht hatte, war nicht von Dauer. Es stellte sich auch nach den Siegesnachrichten der geschäftliche Auf schwung nicht so schnell wieder ein. Die Unterneh mer hatten aber gelernt. Sie griffen eben nicht wieder so brutal ein, sondern gingen behutsamer vor. Es wur den mit einzelnen Arbeiterinnen, die in besonderer Notlage waren, Lohnabzüge vereinbart. Statt des Zu sammenhalts entstand dadurch natürlich Mißtrauen unter den Arbeiterinnen, und es dauerte noch manches Jahr, bis die Arbeiterinnen die Absicht erkannt, und dem Unternehmertum in geschlossener Organisation entgegentraten. Das war für viele ein langer Leidens weg. Ich kaufte mir dann eine eigene Maschine und ar-
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beitete zu Hause. Dabei habe ich das Los der Heimar beiterin zur Genüge kennengelernt. Von morgens um sechs bis nachts um zwölf, mit einer Stunde Mittags pause, wurde in einer Tour »getrampelt«. Um vier Uhr aber wurde aufgestanden, die Wohnung in Ord nung gebracht und das Essen vorbereitet. Beim Arbei ten stand dann eine kleine Uhr vor mir und es wurde sorgfältig aufgepaßt, daß ein Dutzend Kragen nicht länger dauerte wie das andere, und nichts konnte einem mehr Freude machen, als wenn man ein paar Minuten sparen konnte. So ging das zunächst fünf Jahre lang. Und die Jahre vergingen, ohne daß man merkte, daß man jung war und ohne daß das Leben einem etwas gegeben hätte. Um mich herum hatte sich auch so manches ge ändert. Meine Schwester und dann auch mein Bruder hatten geheiratet, meine jüngste Schwester war bei einer Kahnpartie ertrunken. Der Vater konnte schon lange nicht mehr arbeiten, und so war es mir gegan gen, wie es sooft alleingebliebenen Töchtern in einer Familie geht, die nicht rechtzeitig ein eigenes Lebensglück fanden: sie müssen das Ganze zusammenhalten und schließlich nicht nur Mutter, sondern auch noch Vater sein, das heißt Ernährer der Familienmitglieder, die sich nicht selbst erhalten können. So habe ich meinen Vater über zwanzig Jahre erhalten, und ich habe immer so viel arbeiten können, daß es mir ge-
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lang, eine Wohnung von Stube und Küche zu halten. Meinem Bruder starb die Frau, als das erste Kind, ein Mädchen, noch ganz klein war. Ich habe dieses Kind zu mir genommen, und es hat mir in dem Jahr viel Freude gemacht. Es hat dann bei mir laufen ge lernt. Aber als mein Bruder sich wieder verheiratete, mußte ich es zurückgeben. Mein Bruder starb selber nach einigen Jahren, und ich habe dann häufig auch noch die beiden Jungens aus der zweiten Ehe bei mir gehabt, weil die Mutter verdienen mußte. Ich kann nicht sagen, daß ich immer sehr froh war. Schließlich hatte auch ich etwas anderes vom Leben erhofft. Ich habe manchmal das Leben so satt gehabt, so Jahr um Jahr immer an der Nähmaschine, immer nur Kragen und Manschetten vor sich, ein Dutzend nach dem anderen, das Leben hatte gar keinen Wert, man war nur eine Arbeitsmaschine und hatte keine Zukunftsaussichten. Und von dem Schönen in der Welt sah und hörte man nichts, davon war man ein fach ausgeschlossen. Es ging mir dann eine Zeitlang wenig gut. Ich war bei meiner anhaltenden Arbeit krank geworden, und der Arzt sagte, ich müßte dieses dauernde Maschinennähen aufgeben. Da fing ich an, Schürzen zu nähen, bei denen doch etwas Handarbeit zwischendurch zu machen war. Ich bekam dann auch einen Halbtagspo sten zum Abnehmen fertiger Ware. Das war wohl
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etwas Abwechslung, aber im ganzen ging die Arbeit weiter wie bisher. Als junges Mädchen gehörte ich auch eine Zeitlang dem Arbeiterinnenverein an, den Lina Morgenstern gegründet hatte. Es wurde Unterricht im Rechnen, Schreiben und Deutsch gegeben, und zwar vollständig unentgeltlich. Aber nicht alle Lehrer waren pünktlich zur Stelle, und so haben wir die für uns so kostbaren Sonntagvormittagsstunden öfter unnütz warten müs sen. Wir erklärten dann Frau Morgenstern, den Unter richt lieber bezahlen zu wollen, als unsere Zeit so nutzlos zu vergeuden. Es war damals die Not groß, viel Arbeitslosigkeit, die Lebensmittel sehr teuer. Von den bürgerlichen Vereinen wurde eine Verkaufsstelle für Handarbeiten an der Stechbahn eingerichtet, und in einer Arbeiterin nenversammlung wurde gesagt, daß auch wir dort un sere Arbeiten anbringen könnten. Eine Arbeiterin fragte, was man da verdiene. Die Summe, die genannt wurde, war so klein, daß sie sagte: »Dann bleibe ich lieber Bogenfängerin in meiner Druckerei, da weiß ich wenigstens, was ich sicher habe.« Einmal wurde von den Mitgliedern des Morgen sternschen Arbeiterinnenvereins gesagt: »Diese Wei ber, diese Sozialdemokraten, Frau Staegemann, Frau Cantius und wie sie alle heißen mögen, die sollen ja wahre Hyänen sein.« Da hatten doch ein paar andere
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den vernünftigen Gedanken: »Wir können doch aber erst einmal hören, was sie zu sagen haben.« Es fand sich dann auch bald eine Gelegenheit, eine Versammlung zu besuchen, in der sozialdemokrati sche Frauen sprachen; ich habe sie nicht gehört, aber der Eindruck, von dem mir erzählt wurde, war ein sol cher, daß die Arbeiterinnen sagten: »Das ist richtig, das kann man doch vertreten.« Als ich dann zum erstenmal in eine sozialdemokra tische Versammlung kam, habe ich zuerst aufge horcht. Hier sprachen die Menschen alle so von der Leber weg, so ruhig und selbstverständlich, daß es mir wie eine Erlösung war. Es dauerte aber noch ge raume Zeit, bis ich zur Sozialdemokratie kam.
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Drittes Kapitel
Unter dem Sozialistengesetz
Politische Anfänge
Die Arbeiterbewegung stand zahlenmäßig trotz man cher schönen Anfänge doch noch aufrecht schwachen Füßen. Die großen Massen kannten nur die Tretmühle der Arbeit und kümmerten sich nicht um Gesetzge bung und andere öffentliche Angelegenheiten. Die so genannten Gründerjahre, die dem Krieg gegen Frank reich folgten, entfesselten eine wüste Spekulation. Der Schwindel stand in Blüte. Millionenunternehmungen entstanden. Der Reichtum wuchs, und auch die Löhne stiegen. Aber noch viel mehr stiegen die Wohnungs mieten und die Lebensmittelpreise. Die Wohnungsnot spottete jeder Beschreibung. Massen proletarischer Familien waren obdachlos; sie kampierten mit ihren Habseligkeiten auf dem freien Gelände in der Umge bung Berlins. Unter dem Druck der Verhältnisse öffneten sich nun doch auch den Gleichgültigsten die Augen. Noch aber hatten weder die Partei noch die Gewerkschaften eine feste Form. Die Führer, Bebel und Liebknecht, traten wohl für Arbeiterschutz, höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit u.a. ein, aber die kapitalistische Entwick-
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lung der Zeit nach dem Kriege verhinderte jeden Er folg dieser Forderungen für die Arbeiter. Daraus ent standen Streiks über Streiks, und die ganze Hetze po lizeilicher Verfolgungen setzte ein. Aber unter all die sen Kämpfen wuchs das Klassenbewußtsein der Ar beiter. 1875 kam es dann auch zu einer Vereinigung der beiden bestehenden Parteirichtungen. Als dann 1878 das Sozialistengesetz erlassen wurde, wandte sich das Interesse immer weiterer Krei se des Proletariats politischen Fragen zu. Die Auswei sungen von Familienvätern, die Unterdrückung der sozialistischen Agitation überhaupt bewirkte, daß viele Proletarier erst von dieser Partei und ihrer Tätig keit Kenntnis erhielten. Eine Partei, deren Angehörige heldenmütig solche Leiden ertrugen, mußte von hohen Idealen erfüllt sein. Es war fast wie bei den ersten Christenverfolgungen. Je mehr Sozialisten ausgewie sen wurden, um so stärker wuchs im geheimen die Schar der Anhänger. Das ist die werbende Kraft der reinen Ideale. Die wirtschaftliche Entwicklung brachte es mit sich, daß immer mehr Frauen aus der Familie gerissen und in die Fabriken, Werkstätten, auf die Bauten, in die Landarbeit, die Kohlengruben gedrängt wurden. Sie fanden auch in Berufen Arbeit, die sonst aus schließlich von Männern ausgeübt wurden. Diese Frauen aber, deren Tätigkeitsfeld bisher nur die Fami-
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lie war, verstanden es nicht, die Erwerbsarbeit in Geld zu bewerten, sie betrachteten ihren Lohn meist nur als Zubuße zu dem des Mannes. Sie arbeiteten für viel geringeren Lohn als die Männer und beeinflußten so die Lebenshaltung der Arbeiterklasse auf das aller schlimmste. Das Unternehmertum begriff aber sehr schnell, daß trotz der niedrigen Löhne die weibliche Arbeitsleistung meist nicht geringer als die der männ lichen Arbeiter war, der Profit dadurch also bedeutend erhöht wurde. Zudem nahm die Hausindustrie, die elendste aller Betriebsweisen, einen immer größeren Umfang an. Hand in Hand damit ging die Verlotte rung des Hauswesens und die Vernachlässigung der Kinder des Proletariats. Das Interesse der gesamten Arbeiterschaft erforderte es daher, zu versuchen, diese Zustände zu ändern, die Schmutzkonkurrentin in eine Kampfgenossin zu wandeln und eine Arbeitszeitver kürzung vorerst für die Frau und Mutter herbeizufüh ren. Ferner sollten von Staat und Reich sanitäre Maß nahmen gefordert werden. Auch den Frauen erstand in dieser Zeit ein Wecker und Rufer zum Kampf. August Bebel gab sein Buch »Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« heraus. Für mich war dieses Buch aber nicht das erste an sozialistischen Schriften, die ich in die Hand bekam, sondern Marx' »Kapital«, das ebenfalls in dieser Zeit erschien. In welchem Abhängigkeitsver-
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hältnis die Frauen, auch die arbeitenden Frauen, da mals noch zu ihren männlichen Familienangehörigen standen, habe ich am eigenen Leibe erfahren. Trotz dem ich nun schon lange die alleinige Erhalterin unse res kleinen Haushaltes war, blieb ich für meinen Vater die Tochter, die keine eigene Meinung zu haben brauchte, die sich in allem unbedingt nach ihm zu richten hatte. Ich war von Natur nachgiebig und fügte mich, konnte aber schließlich, als die Zeiten auch für uns immer ernster wurden, meine Gedanken nicht ganz unterdrücken. Da wir den ganzen Tag aufeinan der angewiesen waren, ergab es sich von selbst, das wir auch über die Tagesereignisse sprachen. Der Vater hatte, wie ich schon erzählte, eine gute Schul bildung gehabt, und er hat mir dadurch das Verständ nis für manche Zusammenhänge geöffnet, das ich mir sonst wohl mühsamer hätte suchen müssen. Er fing dann auch an, mir bei der Arbeit vorzulesen, und es war im ganzen doch eine schöne Zeit bei allem Ernst und bei allem Streit, den wir manchmal miteinander hatten. Aus der Landeskirche sind wir 1877 ausgeschie den, von da an gehörten wir der Freien Gemeinde an. Hier sind wir dann öfter mit Menschen zusammenge kommen, die sich schon Sozialdemokraten nannten. Aber erst ein Zufall hat uns in die Bewegung hinein gebracht. Es sollte eine neue Wohnung gesucht wer-
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den, und der Vater sah sich danach um. Er fand eine, aus der die bisherigen Mieter sehr schnell ausziehen mußten, weil der Mann als Sozialist ausgewiesen wurde. Der Vater kam mit diesen Leuten näher in Be rührung und lernte dabei erst die Bedeutung des So zialistengesetzes für die Arbeiterklasse verstehen. Denn es handelte sich hier um ordentliche Leute, die absolut nichts getan hatten, als daß sie eben Sozialde mokraten waren und kein Hehl daraus machten. Von da an interessierten wir uns für alle die Fragen, die damit zusammenhingen, und kauften uns häufig so zialistische Zeitungen. Es kam schließlich so weit, daß der Vater auch ab und zu Artikel für das »Volks blatt« schrieb, trotzdem wir uns noch lange nicht zur Partei rechneten. Auch von Bebel hatten wir öfter gelesen, und eines Tages war eine Versammlung, in der er sprechen solle, angekündigt. Mein Vater ging hin. Diese Ver sammlung wurde aufgelöst, der Vater kam sehr em pört nach Hause. Bebel aber hatte ihm gefallen. »Das ist ja so ein ganz einfacher Mann, ein schlichter Handwerker.« Als ich dann selbst auch mitzugehen verlangte in solche Versammlungen, war mein Vater zuerst nicht dafür zu haben und suchte es mir auszure den: es wären keine Frauen da, und man würde gar nicht hereingelassen. Ich erreichte es dann aber doch, daß er mich mitnahm.
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Die beiden Bücher, die ich schon nannte, August Bebels »Frau« und Karl Marx' »Kapital«, erregten gerade in der Zeit des Sozialistengesetzes das aller größte Aufsehen. Beide Werke wurden sofort als staatsgefährlich verboten, aber trotzdem recht viel und eifrig gelesen und diskutiert. Da harte Strafe auf die Verbreitung der Werke angedroht war, mußte man bei der heimlichen Beschaffung recht vorsichtig sein. In dieser Zeit, in der das öffentliche Leben so in Fesseln geschlagen war, haben sich viele durch das Studium dieser Bücher in der Stille zu Sozialisten herangebil det. Auch wir mußten diese Bücher haben. Und wir verschafften uns zuerst das »Kapital« von Marx. Be kannte aus der Freien Gemeinde, die schon Sozialde mokraten waren, besorgten es uns. Wir gingen dabei ganz vorsichtig zu Werke, die Frau trug das Buch, den ersten Band, unter das Kleid geknöpft auf dem Körper. Heimlich gingen wir beide an einen stillen Ort, und als wir den stillschweigend wieder verließen, da war das Buch unter mein Kleid geknöpft. Auf diese Weise haben wir dann noch öfter Bücher ge kauft. Nun ging zu Hause das Lesen an. Der Vater las vor, und wir sprachen darüber, während ich nähte. An Marx' »Kapital« haben wir im ganzen ein Jahr gele sen. Bebels »Frau« habe ich dann später aber allein gelesen. Das Interesse weiter Kreise der bisher indifferente-
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sten Arbeiterinnen, der Näherinnen, wurde geweckt, als die Regierung im Jahre 1885 beabsichtigte, einen Nähgarnzoll einzuführen, der eine starke Belastung gerade dieser Ärmsten zur Folge haben mußte. Die sozialdemokratische Partei lenkte die öffentliche Auf merksamkeit auf den geplanten Raubzug auf die Tas chen der Ärmsten. Eine von den Näherinnen sehr stark besuchte Versammlung wurde abgehalten. Auch mir war eine Einladung zugegangen. Wenn ich nicht irre, war es Frau Marie Hofmann, die das Referat hielt. Sie hatte genaue Berechnungen über die Höhe der Belastungen durch den Nähgarnzoll angestellt, was mit dem, was ich selbst als Näherin bereits er rechnet hatte, genau übereinstimmte. Das beabsichtig te Gesetz kam nicht zustande. Die sogenannte »stille Zeit« bedeutete gerade für die Näherinnen eine weitere, sehr erhebliche Erschwe rung ihres Lebenskampfes. Wer könnte da einen Stein werfen auf diejenigen, die in dem Elend versanken. Die sozialistische Partei aber wurde geknebelt, und doch ist die geringe Besserung, zu der die Regierung und die Arbeitgeber sich gezwungen sahen, nur dem Wirken dieser Partei zuzuschreiben. Als 1889 die Not einen hohen Grad erreicht hatte, gab es viele Frauen, die auf die Erfüllung der Bot schaft des »Arbeiterkaisers« gläubig harrten. Sie wur den gar bald enttäuscht und verloren den Glauben,
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denn es half ihnen niemand, sie mußten erst zu der Er kenntnis kommen, daß die Arbeiterschaft sich selbst erlösen muß. Die Verelendung der Arbeiterkreise nahm zu. Die Prostitution, die öffentliche wie die geheime, breitete sich mehr und mehr aus. Die Löhne waren so niedrig, daß weite Schichten der Arbeiterinnen, namentlich in der Wäschefabrikation und Konfektion trotz fleißig ster Arbeit kaum genug verdienten, um nur das dürf tigste Leben fristen zu können. Die Regierung sah sich schließlich gezwungen, etwas gegen das Elend zu tun. So veranstaltete sie im Jahre 1887 eine Enquete über die Lohnverhältnisse in der Wäschefabrikation und Konfektion. Elende Verhältnisse, Wochenlöhne von 8 bis 9 Mark, für Ungeübtere gar nur von 4 bis 5 Mark, wurden festgestellt. Die meisten Arbeiterinnen lebten tagsüber von Kaffee und Brot, und es ging denen gut, die noch eine Mutter oder Schwester zu Hause hatten, so daß sie wenigstens abends eine warme Suppe bekamen. Ein ordentlich zubereitetes Mittagessen war nur am Sonntag möglich. Die wachsende Not der Arbeiterkreise hatte die Kräfte zu ihrer Bekämpfung wachgerufen. Ebenso war es auch bei den Frauen. Auch die Arbeiterinnen erkannten endlich die Notwendigkeit des Zusammen schlusses. Die bürgerliche Frauenbewegung war auf den Plan getreten mit ihrem Kampf für das »Recht auf
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Arbeit«, für die Ausgestaltung der Mädchenschulen, für die Zulassung zu höheren Berufen. Hier und da fing man auch von dieser Seite an, sich um die Arbei terinnen zu kümmern, es wurden Sonntags- und Haus haltungsschulen gegründet, Vereine zur Hebung der Sittlichkeit. Für die Arbeiterinnen aber war die He bung ihrer wirtschaftlichen Lage das Wesentliche. Ihre Befreiung mußte auch aus ihren eigenen Reihen kommen. Solche Kämpferinnen gegen die Ausbeutung durch die Unternehmer waren in der weiblichen Arbeiter klasse erstanden, Namen tauchen auf, die ein Leuch ten auf den Gesichtern derer wecken, die noch mit ihnen lebten und kämpften. Schon 1872 wurde von den Genossinnen Hahn und Pauline Staegemann der erste Berliner Arbeiterfrau en- und -mädchenverein gegründet, mit Johanna Schackow als Schriftführerin. Zum erstenmal stellten sich hier die Frauen auf den Boden der klassenbewuß ten Sozialdemokratie. Fünf Jahre später gelang es dann der Polizei, ihn mit dem berühmten Paragraphen 8 des preußischen Vereinsgesetzes abzuwürgen. Die ser Paragraph lautete: »Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erör tern, dürfen keine Frauenspersonen, Schüler oder Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen.« Der Verein hatte sich als besonders »staatsgefährlich« dadurch
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verdächtig gemacht, daß die Genossinnen Cantius und Staegemann, die als seine Führerinnen allgemein bekannt waren, eine öffentliche Versammlung einbe riefen, in der sie scharfen Protest erhoben gegen die höchst unchristliche Herzenshärte und Intoleranz, welche ein Geistlicher in Rixdorf am Grabe eines Selbstmörders bekundet hatte. Der Verdacht wurde bestärkt durch den regen Anteil, den seine Führerin nen und Mitglieder an der Wahlbewegung nahmen. Die Vorstandsmitglieder wurden wegen Vergehens gegen das Vereinsgesetz bestraft, »weil nicht zu be zweifeln gewesen, daß der Verein die Tendenz verfol ge, durch die Frauen auf die Männer und die Kinder erziehung sozialistischen Einfluß auszuüben«. Pauline Staegemann, eine Frau mit klarem Blick und großem Herzen, ist eine der bekanntesten unter den ersten führenden Genossinnen gewesen. Sie stand da mals noch so recht tatkräftig mitten im Leben, und ihre Familie hat nicht unter ihrer Arbeit für die Allge meinheit gelitten. Noch bis kurz vor ihrem Tode hat sie sich auch der Kleinarbeit, die unsere Bewegung erfordert, nicht entzogen. Wie hätte ihr feines, von der Not des Lebens und dem Kampf um die Frauensache gefurchtes Gesicht wohl geleuchtet, wenn sie es noch hätte erleben können, wie ihre älteste Tochter, Elfrie de Ryneck, mit unter den Abgeordneten des ersten
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Parlaments der deutschen Republik stand! Zu der Arbeiterinnenbewegung kam damals auch Frau Gertrud Guilleaume, eine geborene Gräfin Schack. Sie war in Paris mit den Bestrebungen um die Aufhe bung der Reglementierung der Prostitution bekannt geworden, sie hatte die ungeheure Gefahr für die Frauen und für die Arbeiterinnen im besonderen er kannt, und sie trug dann die Aufklärung über diese Zustände und den Kampf dagegen auch nach Deutsch land. Bei der bürgerlichen Frauenbewegung hatte sie einen schweren Stand. Man hatte hier die Scheu, von diesen heiklen Dingen auch öffentlich unverblümt zu sprechen, noch nicht überwunden. Sie hatte schließ lich erkannt, daß die Verbesserung der wirtschaftli chen Lage der Arbeiterin das beste Mittel ist, diese von der Prostitution fernzuhalten, und sie schloß sich dann ganz der Arbeiterinnenbewegung an. In ihrer Zeitschrift »Die Staatsbürgerin« führte sie eine offene und rückhaltlose Sprache. Das machte sie bei den Be hörden nicht gerade beliebt. Ihre Zeitschrift wurde verboten, und sie selbst mußte als lästige Ausländerin Deutschland verlassen. Durch ihre Heirat mit einem Schweizer, von dem sie später geschieden wurde, hatte sie das Heimatrecht verloren. In England ist sie 1903 gestorben. Agnes Wabnitz, die den Verein der Arbeiterinnen
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Berlins (Nord) und den Verein der Mäntelnäherinnen mit gründen half, hat alle Not und Sorge der Heimar beiterinnen in ihrem Leben kennengelernt. Begabt und lernfreudig, wie sie war, hat sie manche Nacht an der Nähmaschine zubringen müssen, um die Mutter und die Familie des Bruders zu erhalten. Aus ihr hätte eine Kämpferin ersten Ranges werden können, wenn sie Zeit gehabt hätte, sich die geistigen Waffen zu schmieden. Aber auch so hat sie nicht geruht, hat agi tatorisch mit Mut und Begeisterung gewirkt, bis sie, von Schikanen der Polizei und der Behörden verfolgt, mit ihren Nerven zusammenbrach. Einmal hatte man sie schon ins Irrenhaus gesperrt, und als man ihr jetzt wieder zehn Monate Gefängnisstrafe auferlegte, nahm sie auf dem Friedhof der Märzgefallenen von 1848 im Friedrichshain zu Berlin das tödliche Gift. Nicht die Furcht vor der Gefängnisstrafe trieb sie in den Tod, aber den Gedanken, noch einmal als Gesunde ins Ir renhaus gebracht zu werden, wie es ihr nach dem Vor hergegangenen sicher bevorstand, konnte sie nicht er tragen. So ging sie. Zu den besten und unvergessenen der ersten Führe rinnen gehört vor allem auch Emma Ihrer. Sie ist 1857 als Kind einer kleinbürgerlichen Familie in Glatz in Schlesien geboren. Über die bürgerliche Frauenbewegung kam sie zur Arbeiterbewegung, und sie erzählt in ihrer 1898 erschienenen Schrift »Die
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Arbeiterin im Klassenkampf« sowohl von den ver fehlten Versuchen bürgerlicher Frauen, sich der Ar beiterinnen anzunehmen, als auch von der rastlosen Arbeit einer kleinen Schar mutiger Arbeiterfrauen, die Arbeiterinnen zu organisieren und für den Klassen kampf zu gewinnen. Eine ganze Reihe von Vereinen sind noch zur Zeit des Sozialistengesetzes mit ihrer Hilfe gegründet worden. Gelegenheiten zur Auflösung von Arbeiterinnenvereinen fanden sich natürlich ge nügend. So wurde der Berliner Verein zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen nach einjährigem Be stehen wegen »Beschäftigung mit Politik« aufgelöst. Er hatte sich nämlich an den Berliner Magistrat mit einer Petition wegen Zulassung der Frauen zu den Ge werbegerichten gewandt. 1891 gründete Emma Ihrer, zum Teil mit eigenen Mitteln, die erste Wochenschrift der sozialdemokratischen Frauen, »Die Arbeiterin«, die aber in ihrem zweiten Jahrgang den Namen »Die Gleichheit« annahm. Genosse Dietz, Stuttgart, über nahm die Zeitschrift 1892, und auch die Redaktion wurde nach dorthin verlegt. Da Emma Ihrer, deren Mann in Velten bei Berlin eine Apotheke besaß, nicht nach Stuttgart übersiedeln konnte, übernahm Clara Zetkin, die nach dem Fall des Sozialistengesetzes aus Paris nach Deutschland zurückgekehrt war, die Re daktion. Aber noch einige Jahre blieb Emma Ihrers Name als Herausgeberin am Kopf der Zeitschrift ste-
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hen. Sie hat neben ihrer politischen Agitation sich sehr eifrig an gewerkschaftlicher Arbeit beteiligt, und sie ist als erste Frau in die 1890 gegründete General kommission der Gewerkschaften Deutschlands ge wählt worden. »Wirken für andere war ihres Glückes ergiebigster Quell«, lautet ihr Grabspruch. Ich werde noch oft in meinen Erinnerungen von ihr zu sprechen haben. Auch der Frau soll hier gedacht werden, die zwar keine Parteigenossin, sondern Anarchistin war, die aber einen beispiellosen Opfermut gezeigt hatte. Es war Frau Agnes Reinhold, die wegen Verbreitung an archistischer Flugblätter am 10. Juli 1890 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Diese Frau hat alle Schuld auf sich genommen, damit ihre Genos sen frei ausgingen, und die Strafe hat sie restlos ab machen müssen. Es ist noch eine große Reihe anderer Genossinnen, die mit zu jenen ersten gehörten, die in dem Kampf um die Besserung der Lage der Arbeite rinnen die Fahne vorantrugen: Marie Hofmann, Frau Hahn, Johanna Schackow, Johanna Jagert, Frau Cantius, Frau von Hofstetten, die noch heute mit ihren 73 Jahren in ihrer Abteilung mitarbeitet, Mar garete Wengels, Clara Zetkin, Wilhelmine Kähler, Martha Rohrlack-Tietz und viele andere. Aber wenn auch die Namen vergessen sind, ihre Taten leben, und der gute und kräftige Samen, den sie säten, der ging
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auf und trug Früchte. Ich selbst hatte mich allmählich auch von meinem Vater etwas freier gemacht. Das war nicht ganz leicht. Ich hatte durch das Lesen nun gelernt, mir meine Mei nung zu bilden, in eine Versammlung durfte ich aber immer noch nicht allein gehen. Das gefiel mir auf die Dauer nicht mehr. Da hörte ich eines Tages, daß die Schäftearbeiter im Englischen Hof in der Alexander straße eine Versammlung angesetzt hatten. Ich hatte plötzlich einen energischen Augenblick und erklärte: »Ich gehe heute abend in die Versammlung der Schäf tearbeiter!« Diese Energie muß meinen Vater voll kommen überrascht haben. Er schwieg ganz still und ließ mich auch allein gehen. In dieser Versammlung habe ich zum erstenmal ge sprochen. Als Redner trat ein Vertreter der HirschDunckerschen Gewerkvereine auf, der offenbar zwi schen den Standpunkten stand. Er war nicht Fisch, nicht Vogel, und seine Rede befriedigte weder die einen noch die andern. Ich saß an einem Tisch mit mehreren Frauen zusammen, und eine von ihnen meinte: »Schade, daß Ihr Vater nicht hier ist. Der könnte dem mal unsere Meinung sagen.« »Ach«, sagte ich, »das kann ich auch. Ich weiß mit den Hirsch-Dunckerschen ganz genau Bescheid.« Ich hatte gar nicht weiter darauf geachtet, daß die eine der Frauen aufstand, nach vorn ging und wieder zurück-
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kam. Aber auf einmal höre ich von dem Leiter der Versammlung meinen Namen nennen und mich zum Wort auffordern. Ich dachte in dem Augenblick, ich müßte in die Erde sinken, hatte aber nur den einen klaren Gedanken, wenn du jetzt nicht sprichst, dann lachen sie alle über dich. Als ich dann auf dem Podi um stand und die vielen Köpfe unter mir sah, habe ich mit Zittern und Zagen angefangen zu sprechen. Das Zittern verlor sich dann, ich wurde sicherer und hatte auf einmal das Gefühl: Nun hast du gesagt, was du sagen wolltest. Damit ging ich dann wieder auf mei nen Platz und hörte, wie der Vorsitzende sagte: »Die Frau, die jetzt gesprochen hat, hat das einzige Ver nünftige vorgebracht, was zu dieser Sache hier zu sagen ist.« Ich wurde noch an demselben Abend in eine Kommission gewählt, und am nächsten Tag stand etwas von meiner Rede in der Zeitung. Damit ging ich nun doch stolz zu meinem Vater, dem ich am Abend vorher nichts mehr davon erzählt hatte, und nun freute er sich und meinte: »Ich habe ja schon manchmal gesagt, du könntest das, was du mir immer hier allein erzählst, ganz gut auch mal in einer Ver sammlung vorbringen.« Noch unter dem Sozialistengesetz getrauten sich die Arbeiterinnen schon Vereinigungen zu bilden. Wir hatten z.B. eine Lokalorganisation der Schäftear beiter und -arbeiterinnen gegründet. Die erste Ver-
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sammlung, die von dieser Organisation veranstaltet wurde, hatten wir Frauen sowohl einzuberufen wie zu leiten. Das war uns noch etwas Ungewohntes und erschien uns als ein ganz besonderes feierliches Ereignis. Die einleitenden Worte, die uns vor allem wichtig erschie nen, wurden zu Hause sorgfältig eingeübt, und zu der Versammlung hatten wir uns unsere besten Kleider angezogen, und um es besonders gutzumachen, uns sogar frisieren lassen. Es hat dann aber doch noch verschiedene Jahre ge dauert, bis ich selbständig in Versammlungen als Re ferentin auftrat. Lange habe ich ein unangenehmes Gefühl nicht überwinden können, wenn ich in der lautlosen Stille meine eigene Stimme hörte. Ich habe auch noch immer Lampenfieber gehabt. Aber das ging ja wohl auch Größeren so, wie man oft erzählen hört. Mit der eben genannten Organisation der Schäfte arbeiter und -arbeiterinnen habe ich auch die erste Maifeier erlebt. Es war am Donnerstag, den 1. Mai 1890. Man sah bereits in den frühen Vormittagsstun den sonntäglich gekleidete Gruppen von Arbeiterfa milien hinausziehen ins Freie. Wie war das nur mög lich? An einem Arbeitstage wagten die Proletarierscharen nicht zu arbeiten, dem Unternehmer damit den Profit zu kürzen? Sie wagten zu feiern an einem Tage, der nicht von Staat oder Kirche als Feiertag
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festgelegt worden war? Jawohl, die Arbeiter hatten es gewagt, sich selbst nach eigenem Willen einen Feiertag zu schaffen, und nicht nur die Arbeiter Berlins waren so vermessen, sondern die der ganzen Welt. Auf dem Internationalen Sozialistenkongreß zu Paris im Juli 1889, dem Hun dertjahrstage der großen Französischen Revolution, war der 1. Mai als Weltfeiertag der Arbeit eingesetzt worden. Dieser Feiertag war dazu angetan, in gleichem Empfinden und Denken das Proletariat der ganzen Welt zu einigen. Auf dem Pariser Kongresse war man zu dem Ergebnis gelangt, daß auf dem ganzen Erden rund das Proletariat zwar graduell verschieden, doch überall gleich unterdrückt und schutzlos ausgebeutet wurde. Es war daher vereinbart worden, daß in allen Ländern an die Regierungen und gesetzgebenden Kör perschaften Forderungen zum Schutze der Arbeiter gestellt und mit Nachdruck vertreten werden müssen. Die Arbeitszeit sollte verkürzt, Kinderarbeit verboten werden und anderes mehr. Dann erst würde der Arbei ter sich seiner Familie widmen können und dann end lich einmal auch Zeit finden, an seiner geistigen Fort bildung zu arbeiten. Ferner sollte dieser Feiertag dazu dienen, in der ganzen Welt einmütig gegen den immer mehr überhandnehmenden Militarismus Front zu ma chen.
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Welch herrlicher Gedanke, zu wissen, daß die Aus gebeuteten, die Unterdrückten der ganzen Welt an diesem Tage seelisch miteinander verbunden sind, daß sie mit allen zu Gebote stehenden Mitteln ihre Forderungen an die Regierenden stellen. Welchen Schrecken dieser erste Weltfeiertag aber der herrschenden Klasse bereitete, zeigt die Tatsache, daß an diesem Tage das Militär in den Kasernen ge halten wurde, damit es gegebenenfalls einschreiten könne. Auch wurden viele Bahnhöfe durch Militär »gesichert«! Einige vernünftige Bahnhofsvorsteher hatten aber auf Anfragen das Militär abgelehnt, da sie keine Gefahr erblickten und den Arbeitern vertrauten. Die Arbeiterbevölkerung Deutschlands, befreit vom Druck des Sozialistengesetzes, jubelte diesem Tag entgegen. Und der Himmel selbst schien im Bunde mit ihnen zu sein, denn einen so wunderbar herrlichen ersten Maitag hatten wir seitdem nicht wie der. Warmer Sonnenschein, klarer, wolkenloser Him mel, zartes Maigrün an Baum und Strauch, leben schwellende Knospen, sprießende Saaten, Vogelge sang, kurz, die wie Leben, Kraft und Schönheit wir kende Natur mußte auch den Menschen neuen Le bensgenuß und Kraft einflößen, mußte sie lehren, alles daranzusetzen, die Schönheiten der Welt auch für sich und die Ihren zu gewinnen. Als ich an diesem ersten Maitag im Kreise lieber
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Menschen hinauswanderte nach Grünau, war es herz bewegend für uns alle, als wir unsere geliebte Mar seillaise von einem Leierkasten ertönen hörten. Die Gaben flossen reichlich, und erfreut darüber sagte der Drehorgelspieler zu seiner alten Lebensgefährtin: »Siehste, Mutterken, daß ich recht hatte.« Er hatte das Stück zu diesem Tage auf den Leierkasten bringen lassen. Nur wer weiß, daß bis zur Aufhebung des So zialistengesetzes unsere Lieder verboten waren und daß wir Liederbücher oder einzelne Blätter mit ge druckten Liedern nur heimlich vertreiben konnten, wird unsere Freude über das Spiel des Leiermannes begreifen. An den Bestimmungsort angelangt, wurden nun nach Herzenslust unsere Arbeiterlieder gesungen, wenn auch von ungeschulten, so doch von begeister ten Sängern; revolutionäre Gedichte von Heinrich Heine, Freiligrath u.a. wurden vorgetragen. Wohl jeder der mit uns Feiernden gelobte, eifriger noch als bisher für die Erlösung der Menschheit aus Not und Unterdrückung wirken zu wollen, sein Leben in den Dienst unserer großen heiligen Sache zu stellen. Im ganzen Reiche, ja in der ganzen Welt hat wohl dieser erste Weltfeiertag wie eine Erlösung gewirkt und Kampfesmut und Entschlossenheit ausgelöst.
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Neue Wege, neue Aufgaben Am 1. Oktober 1890 fiel endlich das Schandgesetz, das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebun gen der Sozialdemokratie«, wie es amtlich hieß. Zwölf Jahre lang bot es den Vorwand zu unerhörten Verfolgungen, zahlreiche Familien waren mit seiner Hilfe auseinandergerissen und unglücklich gemacht worden. Aber das Zusammengehörigkeitsgefühl unter denen, die sich trotz aller Drangsalierungen zum So zialismus bekannten, war vielleicht gerade dadurch auf das stärkste befestigt worden. In der Nacht zum 1. Oktober wimmelte der Frie drichshain in Berlin von Menschen. Sie strömten zu Lips, wo man gemeinsam den historischen Augen blick erleben wollte. Viele blieben im Friedrichshain, weil im Saal kein Apfel mehr zur Erde konnte. Viele der Ausgewiesenen waren bereits zurückgekehrt und befanden sich unter uns. Wie alle unsere Veranstal tungen wurde auch diese von einem Polizeileutnant und einem Schutzmann überwacht. Als dann um 12 Uhr der Fall des Ausnahmegesetzes verkündet wurde, da erhob sich der Leutnant und verließ mit dem Schutzmann den Saal. Die bis dahin verstecktgehalte-
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nen roten Banner wurden entrollt, und eine ungeheure Bewegung hatte die Massen ergriffen. Unsere Führer, die Zurückgekehrten, die Heimat und Familien hatten verlassen müssen, sprachen zu uns. In jener Nacht hat manch einer den Treuschwur zur Sozialdemokratie er neuert, mancher, der bis dahin noch beiseite stand, ist gewonnen worden. Es zeigte sich, daß die Sozialde mokratie in diesen zwölf Jahren nicht zugrunde ge gangen war, sondern an Mitgliedern zahlreicher, in nerlich gekräftigt und kampfesfroh der Zukunft entge gensah. Mit dem Sozialistengesetz war das Koalitionsver bot aufgehoben worden. Um eine Versammlungser laubnis brauchte nicht mehr nachgesucht zu werden, man hatte die Versammlungen nur 24 Stunden vorher anzumelden. Aber die Behörden waren ebenfalls durch die Schule des Sozialistengesetzes gegangen, sie hatten gelernt, die Gesetze auszulegen und zu un terlegen. Die Frauenbewegung nahm einen frischen Auf schwung. Bald nach dem Parteitag in Halle, im Herbst 1890, wurde, wie schon erzählt, durch Emma Ihrer die Vorgängerin der »Gleichheit«, die »Arbeite rin«, ins Leben gerufen. Alle Mitarbeit daran war un entgeltlich. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Arbeits tag meistens zwölf und oft mehr Stunden hatte, so
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wird man begreifen, welch großen Entschluß und auch welches Opfer es für die Frau bedeutete, wollte sie eine Versammlung besuchen. Man wird aber auch verstehen können, daß mancher schwere Konflikt in der Familie entstehen mußte durch die Notwendigkeit, die Arbeiterin aufzuklären und für den Klassenkampf zu schulen, während sie auf der anderen Seite auch als Mutter und Hausfrau in der Familie nicht entbehrt werden konnte. Denn jede Stunde, die die Frau in einer Versammlung zu ihrer geistigen Weiterbildung verwandte, mußte sie ihrer Familie entziehen. Aber es wurde dabei manches Samenkorn ausgestreut, das aufgegangen ist und Früchte getragen hat. In den Kämpfen der Arbeiterschaft zur Verbesserung ihrer Lage konnte es nicht gleichgültig sein, wie die Haus frau und Mutter sich dazu stellte. Das zeigt sich deut lich, als im Jahre 1892 die Arbeiter der Königlich preußischen Kohlenwerke des Saarreviers in den Streik traten, zu dem die Brutalität der Bergherren die Veranlassung gegeben hatte. Die Vergewaltigung durch eine neue Arbeitsordnung, die ohne Befragen der Arbeiter zustande gekommen war (Herabsetzung der Zeit- und Stücklöhne, Erhebung von Strafgeldern, Einlegung von Feierschichten), hatte den Kampf ent facht. Dieser Zusammenstoß zwischen Arbeit und Ka pital brachte eine für Deutschland ganz neue Erschei nung. Während die Frauen bis dahin vielfach durch
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ihre Klagen den Männern den Kampf erschwert hat ten, traten sie jetzt in Massen an die Seite der Kämp fenden und feuerten sie zum Ausharren an. Viele der Frauen traten sogar öffentlich in den Versammlungen auf und schilderten in ergreifender Weise ihr Elend. Familienväter mit sechs und sieben Kindern, die in der ersten Hälfte des Monats 40 Mark als Abschlag erhalten hatten, bekamen am Ende des Monats 20 bis höchstens 40 Mark. Ein Vater mit neun Kindern er hielt sogar nur 18 Mark. Selbstverständlich halfen auch unsere Genossinnen; sie hielten Referate, sam melten Gelder und dergleichen. Der nun einmal geweckte Drang nach Erkenntnis der sozialen und politischen Zusammenhänge, der unter dem Sozialistengesetz nur unter den größten Schwierigkeiten hatte befriedigt werden können, machte sich jetzt ungestüm geltend. Frauenbildungs vereine wurden an vielen Orten ins Leben gerufen, für die politische Aufklärung schuf man Frauenagitati onskommissionen. Aber die Frauen durften sich bekanntlich sowohl nach dem preußischen wie den Vereinsgesetzen ande rer deutscher Staaten in Vereinen nicht mit Politik be schäftigen, durften auch nicht Mitglieder politischer Vereine sein. Und trotz all dieser Beschränkungen verstanden es die Genossinnen, sich Einrichtungen zu schaffen, um unter den Frauen politisches Wissen und
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Aufklärung über die sozialen Zusammenhänge zu ver breiten. Das war nicht so ganz leicht. Es fehlte ja den Frauen in der Hauptsache noch an den allereinfach sten Begriffen über allgemeine Wirtschaftsfragen. Es kostete z.B. viel Mühe, den Frauen klarzumachen, daß eine verkürzte Arbeitszeit neben dem Zeitgewinn für Hauswesen und Familie nicht nur keine Lohnkür zung, sondern eher eine Aufbesserung für sie bedeu ten würde. Als dann im Jahre 1893 der elfstündige Arbeitstag für die erwachsenen Fabrikarbeiterinnen eingeführt wurde, erkannten sie erst die Richtigkeit dieser Forderung und empfanden schon die nur um eine Stunde gekürzte Arbeitszeit als eine Wohltat für sich und ihre Angehörigen. Für spätere weitere Ver kürzung der Arbeitszeit erleichterte dies die Agitation unter den Arbeiterinnen sehr. Der Agitationsstoff aber war so vielgestaltig, die ganzen Lebensbedürfnisse so verbesserungsbedürftig, daß es nie an Themen für Versammlungen fehlte. Nur mußten wir in den meisten Fällen sehr vorsichtig sein und nach außen hin ein unverfänglich aussehendes Vortragsthema wählen. Wenn man heute die alten Jahrgänge der »Arbeiterin«, der »Gleichheit« durch blättert, so staunt man, auf welche Gebiete sich die geistig so ungeschulten Frauen der Arbeiterschaft wagten. Vorträge über: »Das Christentum der ersten Jahrhunderte«, »Geschichte der Ehe und Stellung der
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Frau in der Vergangenheit«, »Die Zeit vor der Refor mation«, »Die Ärmsten der Armen oder der fünfte Stand«, »Die kulturelle Bedeutung des Mohammeda nismus« sind dort angekündigt. Hinter diesen hochtö nenden Titeln verbarg sich die einfache Aufklärung der Frauen über ihre wirtschaftliche und soziale Lage. Und die Frauen kamen in Scharen, wenn Martha Rohrlack über »Volksaberglauben«, oder Agnes Wabnitz über »Sitte und Scham« oder »Königs- und Gottesidee« sprechen wollte. Daß der Genosse Dr. Weyl einen vollen Saal hatte, wenn er über »Die Kunst, nicht krank zu werden« einen Vortrag hielt, oder über andere ganz besondere Gesundheitsfragen, war nicht zu verwundern. Aber auch das waren häufig nur vorgeschobene Themen, hinter denen die »verbo tene« politische Aufklärung der Frauen immer als Hauptsache stand. Dazu kam der erbitterte Kampf mit der Polizei. Wie oft wurden Versammlungen angesagt, die dann kurz vor ihrer Abhaltung verboten wurden. Wir berie fen sie wieder ein, bis es uns glückte. Und dieses »Wieder nach Hause gehen müssen« verärgerte die Frauen nicht etwa, sondern stachelte sie an, das näch ste Mal in noch größerer Anzahl zu erscheinen. In der Arbeiterschaft lebte immer ein ungeheurer Drang nach Wissen. Bald nach dem Fall des Soziali stengesetzes war nach einem Vortrag unseres Genos-
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sen Wilhelm Liebknecht die Berliner Arbeiterbil dungsschule ins Leben gerufen worden. Auguste Schneider, jetzige Frau Zucht, und ich gehörten als weibliche Personen dem ersten Vorstand an. Die Schule war in sehr großem Maßstabe errichtet wor den, das Schulgeld aber mußte sehr gering bemessen sein. Die Lehrer mußten zum Teil aus bürgerlichen Kreisen entnommen werden. Aber allen Schwierigkei ten trotzend, bestand die Arbeiterbildungsschule bis vor dem Kriege. An den Lehrabenden nahmen auch zahlreiche Frauen und Mädchen teil. Broschüren, wie sie heute in Massen in Parteikrei sen verbreitet werden, gab es nur sehr wenige. Wir mußten uns mühsam zusammensuchen, was wir brau chen konnten. Sehr viel Material bot uns Bebels Buch »Die Frau«. Die Schriften von Marx und Engels haben wir tüchtig durchstudiert, in kleinen Zirkeln ge lesen und darüber diskutiert. Man hört heute so oft, Marx' »Kapital« sei zu schwer für die Frauen. Uns hat es viel geboten, und wir haben immer gefunden, daß die Tatsachen, die Marx anführt, die Schlüsse, die er zieht, auch von den Frauen verstanden wurden. Das »Kommunistische Manifest«, das »Erfurter Pro gramm«, die Schriften von Kautsky, das alles war unser Rüstzeug. 1892 war das Gewerbegerichtsgesetz ins Leben ge treten, jedoch ohne den Frauen irgendwelche Rechte
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als Mitwirkende einzuräumen. Die Genossinnen aber wußten, daß »Rom nicht in einem Tage erbaut wurde«, und so mußte die Agitation fleißig fortge führt werden. Zu den Beisitzerwahlen für die Gewer begerichte hatte die Berliner Frauenagitationskom mission eine Anzahl öffentlicher Versammlungen ein berufen, in denen gemeinsam mit den Genossen die Aufstellung der Kandidaten stattfinden sollte. Die Ge nossinnen konnten bei dieser Gelegenheit eifrige Hilf sarbeit leisten. Sie halfen beim Austragen der Einla dungszettel und veranlaßten Säumige, sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen. Sie nahmen an allen Aktionen des Proletariats lebhaften tätigen Anteil. Und auch bei Streiks und Boykotts unterstützten die Genossinnen die Arbeitsbrüder nach Kräften. Wo die Vereinsgesetze es gestatteten, suchten die Genossin nen auch praktische Einrichtungen zu veranlassen. So hatte im Jahre 1892 der sozialdemokratische Frauenund Mädchenverein Mannheims an die Stadtverwal tung folgende Forderung gestellt: »Durch die Arbeitslosenstatistik ist die wachsende Arbeitslosigkeit alleinstehender Mädchen, deren trau rige Lage sie oft der Prostitution in die Arme treibt, ans Tageslicht gezogen. Der Verein fordert vom Stadtrat die Beschaffung eines Lokals, in dem arbeits und mittellosen Arbeiterinnen ein Unterkommen ge währt werde, und einen Arbeitsnachweis für Arbeite-
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rinnen. An der Verwaltung beider Einrichtungen sol len die Arbeiterinnen selbst Anteil haben.« Ein anderer Antrag desselben Vereins auf »Aus dehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung und der Ge werbeinspektion auf die Hausindustrie« sollte auf Be schluß der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gelegentlich der zweiten Lesung des Etats zur Sprache gebracht werden. Für die öffentliche Agitation unter den Genossen bestand für die Wahlkreise das Vertrauensmännersy stem. Frauen gehörten aber noch nicht dazu. Die Ge nossen hielten das den Behörden gegenüber für ge fährlich, weil diese zu der politischen Frauenbewe gung sehr feindlich standen. Alle Machtmittel, die sie rechtmäßig und unrechtmäßig anwenden konnten, be nutzten sie, um die politische Frauenbewegung zu un terdrücken. Außerdem hatten aber auch die männlichen und weiblichen Parteigenossen noch nicht gelernt, poli tisch miteinander zu arbeiten. Sie waren sich hierin noch zu wesensfremd. Das gegenseitige kamerad schaftliche Zusammenarbeiten konnte sich erst nach und nach entwickeln. Auf dem Berliner Parteitag 1892 stellten die Genossinnen, um diesen Übelstand zu beseitigen, folgenden Antrag, den ich zu begrün den hatte: »Das sozialdemokratische Parteiprogramm enthält
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einen Passus, welcher die Abschaffung aller Gesetze, welche die Frauen in öffentlicher und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen, for dert. Es erscheint daher nicht mehr wie gerecht, wenn dieser Forderung zunächst innerhalb der Parteiorgani sation praktische Folge gegeben wird; deshalb bean tragen wir folgende Änderungen im Organisations plan: 1. Sprachliche Änderung der §§ 3, 4, 5, soweit die Rede von ›Vertrauensmännern‹ ist, die Worte ›Ver trauenspersonen‹ zu setzen. 2. Streichung des folgenden im § 9 vorkommenden Satzes: ›insoweit nicht unter den gewählten Vertretern des Wahlkreises Frauen sich befinden, können weibli che Vertreter in besonderen Frauenversammlungen gewählt werden‹.« Dieser Antrag wurde zwar mit großer Mehrheit an genommen, aus Zweckmäßigkeitsgründen aber auf dem Parteitag zu Frankfurt a.M. 1894 wieder aufge hoben und nach Darlegungen der Genossin Zetkin und des Genossen Auer der frühere Wortlaut wieder hergestellt. Als im Jahre 1893 der Reichstag wegen Ablehnung der neuen Militärvorlage aufgelöst wurde (es waren 80000 Soldaten mehr gefordert worden, und das be deutete eine Belastung des Volkes mit Millionen
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neuer Steuern), erließ die Berliner Frauenagitations kommission den folgenden Aufruf: »Parteigenossinnen! Wegen Ablehnung der Mili tärvorlage, dieser unberechtigten Mehrbelastung des Volkes, wurde der Reichstag aufgelöst, die sogenann ten Volksvertreter nach Hause geschickt. Das Volk soll durch die Neuwahl zum Reichstag seiner Gesin nung Ausdruck geben und entscheiden, ob es die Mehrbelastung, die ungeheure Mehreinstellung von Soldaten und die hierzu notwendige Aufbringung der Mittel durch Besteuerung der bereits bis zum Über maß versteuerten und verteuerten Lebensmittel gut heißt und tragen will. Parteigenossinnen, uns, die wir zur breiten Masse des Volkes gehören und wissen, daß nur auf dessen Schultern die gesamten erdrücken den Lasten gewälzt werden, uns kann es nicht schwer fallen, die richtige Antwort zu geben. Wir sagen, es ist genug des grausamen Spiels mit des Volkes Gut und Blut, wir sagen nein! und nochmals nein! In wenigen Wochen finden die Wahlen der Vertre ter des Volkes statt. Genossinnen, leider ist uns das Wahlrecht versagt, aber in den Versammlungen kön nen wir unserer Meinung Ausdruck geben. Helft bei jeder Agitation, beim Verteilen von Flugblättern und Stimmzetteln, beim Abschreiben von Wählerlisten usw.« In ganz Deutschland fand der Aufruf Widerhall.
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Versammlungen über Versammlungen fanden statt. Auf den Parteitag zu Köln 1893 wurde von Düssel dorfer Parteigenossen und der Genossin Rohrlack ein Antrag gestellt: »Die sozialdemokratische Fraktion möge im Reichstag einen Gesetzentwurf einbringen, welcher die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren verlangt. Es dürfe dadurch keinesfalls die Zahl der bereits an gestellten männlichen Inspektoren vermindert werden. Es soll in dem Entwurf vielmehr gleichzeitig eine er hebliche, den Anforderungen der industriellen Ent wicklung und der besseren Beaufsichtigung der Fabri ken entsprechende Vermehrung dieser Beamten vor gesehen werden; die Tätigkeit derselben hat sich nicht nur auf die Kontrolle der Fabriken in bezug auf die Ausführung der Arbeiterschutzbestimmungen, son dern auch auf die durch die Revision sich ergebenden notwendigen Erweiterungen derselben, zum besseren Schutz der Arbeiter als bisher, zu erstrecken. Auch ist den Beamten die Exekutivgewalt zu verleihen.« Dieser Antrag wurde von der Genossin Rohrlack sehr wirksam begründet und vom Parteitag der Frakti on zur Erwägung überwiesen. So suchen die Genossinnen, wo sich nur eine Gele genheit bot, zu wirken. Um aber die Agitation für die Gesamtbewegung fruchtbringender zu gestalten, fand nach Schluß des Kölner Parteitages eine private Be-
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sprechung von führenden Genossen und Genossinnen statt, die folgendes Ergebnis hatte: Von allen Seiten wurde betont, daß eine planmäßig geregelte Agitation unter den Frauen dringend not wendig sei und angestrebt werden müsse. Zu diesem Zwecke seien folgende Gesichtspunkte zur Beachtung zu empfehlen: 1. Die Form der Organisation der proletarischen Frauen ist wie jede Organisationsform eine Zweckmä ßigkeits- und keine Prinzipienfrage. Ob sich die Frau en in eigenen Vereinen oder zusammen mit den Män nern gruppieren, hängt von den lokalen Verhältnissen ab, ganz besonders von der an einem Orte geltenden Vereinsgesetzgebung. 2. Wo die Vereinsgesetzgebung es gestattet, ist vorzuziehen, daß die Frauen in die bestehenden politi schen und gewerkschaftlichen Organisationen der Männer eintreten und sich nicht in besonderen Verei nen zusammenschließen. 3. Bei Gründung von Arbeiterinnen- und Frauen bildungsvereinen ist sorgfältig zu prüfen, ob am Orte die erforderlichen leitenden Persönlichkeiten vorhan den sind sowie die geistigen Kräfte, welche eine ge deihliche Entwicklung der Organisation verbürgen. 4. Die Frauenorganisationen haben in ganz ande rem Umfange als bisher sich praktischen Arbeiten zu widmen. Sie sollen Erhebungen anstellen über die Ar-
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beits- und Lebensverhältnisse der als Berufsarbeite rinnen tätigen Proletarierinnen ihres Ortes; sie sollen Material sammeln über deren Löhne, Arbeitszeit, Ar beitsordnung, Behandlung, Lebensweise usw. Hierbei sind nicht nur die Verhältnisse der in Fabrik und Werkstatt tätigen Frauen und Mädchen zu berücksich tigen, sondern auch diejenigen der Verkäuferinnen, Kontoristinnen, Hausarbeiterinnen, Dienstmädchen und anderen Berufsarten. Das gesamte Material ist agitatorisch in öffentlichen Versammlungen auszunut zen. Es ist außerdem an die Redaktion der »Gleich heit« zu senden, die es zu Agitationsartikeln verarbei tet. 5. Überall, wo die sozialistische Agitation unter die proletarische Frauenwelt getragen werden soll, emp fiehlt sich die Gründung von Frauenagitationskom missionen. Diese bilden das Vermittlungsglied zwi schen der Masse der in den Klassenkampf einzurei henden Proletarierinnen und den bereits im Kampfe stehenden Männern. Sie sorgen dafür, daß die Genos sen bei ihrer Aktion die Frauen des Proletariats be rücksichtigen und daß diese letzteren durch mündliche und schriftliche Agitation, durch Versammlungen, Flugblätter, Broschüren usw. über die brennenden Zeit- und Streitfragen aufgeklärt, zum Verständnis des Klassenkampfes geschult werden, daß sie sich an der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung ener-
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gisch beteiligen. Frauenagitationskommissionen, wenn sie auch nur aus drei Personen bestehen, können ungeachtet der reaktionären Vereinsgesetzgebung eine politische Tätigkeit entfalten. Nicht einmal den säch sischen Behörden, deren Findigkeit im Auslegen der Vereinsgesetzgebung berühmt ist, gelang es, eine dreigliedrige Kommission zu einem »Verein« zu stempeln und ihre Tätigkeit lahmzulegen, wie sie es gerne getan hätten. 6. Es würde sich empfehlen, die Berliner Frauen agitationskommission als Zentralstelle zu betrachten, durch deren Vermittlung die Agitation unter den Frau en betrieben und geregelt wird. Genossinnen und Ge nossen, welche eine Agitation unter der Frauenwelt bestimmter Orte und Gegenden für notwendig erach ten, sollten sich an die Berliner Frauenagitationskom mission wenden. Diese sendet Referentinnen und ord net die Agitationstouren mit Rücksicht auf eine Er sparnis an Zeit, Kräften und Mitteln. Ratsam wäre ferner, daß die von der Kommission gesendeten Refe rentinnen ausnahmslos die gleiche Entschädigung er halten. 7. Damit der sozialistische Gedanke unter die Pro letarierinnen auch solcher Gegenden getragen werden kann, wo die Genossen und Genossinnen nicht aus ei gener Kraft für die Kosten der Agitation aufkommen können, müßte für das Vorhandensein eines Agitati-
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onsfonds gesorgt werden. Behufs Schaffung eines sol chen wäre zu empfehlen, daß Organisationen, Kom missionen, Genossinnen und Genossen der Berliner Frauenagitationskommission ab und zu, je öfter je besser, Mittel zukommen ließen, welche diese in obi gem Sinne verwendet, und über deren Gebrauch sie öffentlich in der »Gleichheit« und anderwärts Rech nung legt. 8. Die »Gleichheit« ist das Organ der klassenbe wußten deutschen Proletarierinnen. Die Redaktion der »Gleichheit« ist durch kurze Berichte auf dem laufen den zu halten über Arbeiten und Entwicklung der Frauenorganisationen, über die entfaltete Agitation und deren Erfolge, kurz, über die Bestrebungen und Fortschritte der proletarischen Frauenbewegung. Die Genossinnen und Genossen haben für die weitere Verbreitung der »Gleichheit« in den Kreisen der Ar beiterinnen und Arbeiterfrauen zu sorgen, besonders ist in den Versammlungen auf das Blatt hinzuweisen. Die Berliner Frauenagitationskommission und die Redaktion der »Gleichheit« sind jederzeit bereit, so weit es möglich ist, Genossen und Genossinnen bei der Agitation unter der proletarischen Frauenwelt mit Rat und Tat zu unterstützen. »Genossen und Genossinnen! Die obigen Punkte stellen nicht formell bindende Beschlüsse einer Kon ferenz dar, sie sind vielmehr nur die Ratschläge von
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Leuten, welche seit Jahren dafür wirken, das weibli che Proletariat aufzuklären und zum zielbewußten Klassenkampf zu rufen. Nichtsdestoweniger ist es dringend wünschenswert, daß diese Vorschläge beachtet werden und daß damit der erste Versuch zu einer einheitlich geregelten Agi tation unter der Masse der Proletarierinnen gemacht wird. Gelingt dieser erste Versuch, so ist ein weiterer, vollkommenerer Ausbau des begonnenen Werkes nur eine Frage der nächsten Zeit. Genossinnen und Ge nossen, konzentrieren wir unsere Kräfte, um durch planmäßige Arbeit die Frauen und Töchter des werk tätigen Volkes in Massen dem Heere des für seine Be freiung kämpfenden Proletariats zuzuführen, um sie zum Ansturm gegen die widersinnig gewordene kapi talistische Gesellschaft zu rufen.« Unterzeichnet war dieser Beschluß, der als Aufruf hinausging, mit Margarete Wengels für die Berliner Frauenagitationskommission und von Clara Zetkin für die Redaktion der »Gleichheit«. Diese Kundgebung fand überall im Lande einen guten Boden. Wer die Jahrgänge der »Gleichheit« durchliest, wird finden, daß die in der Bewegung ste henden Genossinnen, namentlich die Referentinnen, sich mühten, einwandfreies Material über die Arbeits bedingungen in den verschiedenen Gegenden und Ge werben zu sammeln, zu Artikeln zu verarbeiten und
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der »Gleichheit« einzusenden. Viele Genossinnen waren auch in den Gewerkschaften tätig, halfen hier in mühseliger Arbeit, auf Grund ihrer Feststellungen die Möglichkeit zur Stellung höherer Forderungen vorzubereiten und Unterstützung dafür zu werben. Sie halfen z.B. im Verband der Wäsche- und Krawatten arbeiter und -arbeiterinnen, sie waren in der Fünfer kommission der Schneider und der Konfektionsarbei ter und -arbeiterinnen u.a. vertreten. Aber diese Mitar beit geschah ohne Entgelt, an eine Bezahlung der Hilfskräfte konnte die Partei nicht denken. Ehe eine allgemeine Regelung auch in dieser Frage eintrat, ver ging noch geraume Zeit. Vielfach war es so, daß an dem Versammlungsort der Referentin Wohnung und Lebensunterhalt von anderen Genossinnen zur Verfü gung gestellt wurden, und man war froh, wenn das er haltene Geld wenigstens für die Eisenbahnfahrt aus reichte. Keine Kommission ist mir aus damaliger Zeit in Erinnerung, die je Geldentschädigungen erhalten hätte. Wir alle arbeiteten restlos der Sache wegen. Aber die Anforderungen an die einzelnen, die ja eben falls Proletarierinnen waren, wuchsen von Tag zu Tag; wollten sie nicht zugrunde gehen, dann mußten mit der Zeit andere Maßnahmen getroffen werden.
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Fünftes Kapitel
Polizeiliche Schikanen Langsam, aber stetig nahm die Bewegung unter den Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse zu. Je größer aber die Fortschritte waren, die der Sozialismus durch unsere Arbeit machte, um so gefährlicher erschien er den herrschenden Klassen. Die Behörden suchten uns mit allen Mitteln, die ihnen zu Gebote standen, zu hemmen. Es gibt wenige unter den Frauen, die in den neunziger Jahren als Rednerinnen auftraten, die nicht auf die Anklagebank gezerrt wurden. Aber aller Druck von oben hat nur unseren Widerstand gestärkt. Erinnert sei hier an das Verfahren gegen Johanna Jagert. Der Vorsitzende des Gerichtshofes, Brause wetter, der später im Irrenhause endete, machte da mals schon den Eindruck eines Geistesgestörten. Er innert sei weiter an die Prozesse, in die Agnes Wab nitz verwickelt wurde. Ihre Kraft ist schließlich an den Strafen und Verfolgungen zerbrochen. Auf dem Märzfriedhof im Friedrichshain hat sie, wie schon er zählt wurde, ihrem Leben ein Ende gemacht. Nicht immer verlief die Sache so tragisch. Andere Genossinnen bestanden die Strafen und kehrten »un gebessert« in die preußisch-deutsche Freiheit zurück.
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So die Genossin Rohrlack, die im Jahre 1895 wegen Beleidigung eines sächsischen Gewerbeinspektors zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden war, die sie auch in einem sächsischen Gefängnis verbüßte. Wegen Beleidigung des deutschen Offizierskorps und der Fähnriche wurde Emma Ihrer zu 200 Mark Geld strafe verurteilt. Im Dezember 1893 hatte ich in Rei nickendorf einen Vortrag über den eben mit einem Siege der Arbeiterschaft beendeten englischen Koh lenarbeiterstreik gehalten. Ich erhielt eine Anklage und wurde zu 100 Mark Geldstrafe verurteilt, weil ich nach Angabe des überwachenden Beamten zur Ge waltanwendung aufgefordert habe. In der Urteilsbe gründung heißt es: »Die Angeklagte mag wohl ›geistige Waffen‹ ge meint und bei denjenigen ihrer Zuhörer, welche ihr folgen konnten, eine gleiche Auffassung erzeugt haben, aber die große Menge der Zuhörer steht auf dem gleichen Bildungsniveau wie der Gendarm, bei welchem sie die andere Auffassung hervorgehoben hat. Bei der großen Menge der Zuhörer hat also die An geklagte eine Aufreizung der arbeitenden Klasse gegen die arbeitgebende Klasse zu Gewalttätigkeit bewirkt, sie hat diese auch beabsichtigt und war daher zu verurteilen.« Das Reichsgericht bestätigte das Urteil.
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Immer schärfer ging man gegen die Frauen vor. Waren schon die allgemeinen Bestimmungen für die Arbeiterbewegung schlimm genug, so wurden die Frauen noch besonders drangsaliert. Jeder und jede, die in öffentlichen Versammlungen oder in Vereins versammlungen, sei es auch nur in der Diskussion, das Wort ergriff, mußte dem überwachenden Beamten Namen und Adresse mitteilen. Von den Vereinen wurde ein Mitgliederverzeichnis verlangt, das immer wieder ergänzt werden mußte. Die Polizei bestimmte, ob der Saal gefüllt sei usw. Vom Vorstand des Sozi aldemokratischen Volksvereins in Elberfeld verlangte die Polizei ein Verzeichnis der Mitglieder mit ausge schriebenen Vornamen, weil sonst die Geschlechtsei genschaft nicht zu unterscheiden sei. Die Frauen soll ten vor dem sozialistischen Gift bewahrt werden. In Elmshorn wurde im Jahre 1891 die Teilnahme an einem allgemeinen Fest verboten. Die Männer mußten unter sich tanzen, die Frauen waren im Nebensaal und sangen revolutionäre Lieder. Frau Dr. Wettstein-Adelt wollte in Chemnitz einen Vortrag halten über »die Arbeiterinnenfrage«. Die Polizei verbot diese Ver sammlung, denn die Rednerin wollte doch nur unter der Arbeiterschaft aufreizend und entsittlichend wir ken. Dabei stand Frau Dr. Wettstein-Adelt durchaus auf bürgerlichem Boden. Der Genosse Gerisch wollte in Aschersleben in einer Volksversammlung über die
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neue Militärvorlage sprechen. Die Frauen wurden von dem Überwachenden hinausgewiesen. Auf den Protest des Genossen Gerisch, es sei keine Vereins-, sondern eine öffentliche Versammlung, die Frauen hätten das Recht, ihr beizuwohnen, betraten sie wieder den Saal. Da löste der Beamte kurzerhand die Versammlung auf. Jahraus, jahrein wurden Versammlungen aufgelöst nur aus dem Grunde, weil Frauen daran teilnahmen. Im Jahre 1893 wollte er Wahlverein in Königsberg in der Neumark sein Stiftungsfest feiern. Zwei Tage vor her verbot der Amtsvorsteher das Fest mit der Be gründung, es würden Frauen an dem Fest teilnehmen und deren Beteiligung an Versammlungen politischer Vereine sei verboten. Auch in Schweidnitz ordnete der Polizeibeamte die Entfernung der Frauen aus der öffentlichen Versammlung an. In Halle, Luckenwalde, Zeitz, Gera, Düsseldorf, Köln a. Rh. und anderen Orten wurden die Organisationen der Frauen als an geblich politische Vereine von der Behörde aufgelöst. Bei der Auflösung des Ronsdorfer Frauenbildungs vereins wurde als Begründung angegeben, der Verein habe bezweckt, politische Gegenstände zu behandeln. Diese Absicht sei ausreichend, um sich strafbar zu machen. Es sollte nämlich im Verein über das Thema »Die Rechtlosigkeit der Frauen und die bevorstehen den Reichstagswahlen« gesprochen werden. Derartige
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politische Erörterungen, wie sie der fragliche Verein seiner ausgesprochen politischen Tendenz nach be zweckte, sind in hohem Grade geeignet, die weibliche Bevölkerung gegen die gesetzliche Ordnung, gegen »bewährte« staatliche Einrichtungen aufzustacheln und sie ihren naturgemäßen Pflichten zu entziehen. In Hannover und Hildesheim wurden nicht nur die Zahl stellen gewerkschaftlicher Verbände als politische Vereine, sondern auch öffentliche Branchenversamm lungen, wie die der Buchbinder, als öffentliche Ver sammlungen eines politischen Vereins angesehen. Als die geforderte Entfernung der Frauen nicht erfolgte, wurde die Versammlung aufgelöst. Bis dahin konnten wenigstens Frauenausschüsse und Agitationskommissionen politische Agitation be treiben. Unter dem preußischen Minister v. Köller wurden aber gegen die sozialistische Werbetätigkeit der Frauen immer schärfere Seiten aufgezogen; die Agitationskommissionen, die jahrelang ungehindert hatten arbeiten können, wurden als politische Vereine erklärt, und es wurde ihnen jede weitere Beschäfti gung mit Politik untersagt. So wurde u.a. auch die Düsseldorfer Frauenagitati onskommission zu einem politischen Verein gestem pelt. Das Kammergericht gab in diesem Falle eine merkwürdige Erklärung: »Ein Verein im Sinne des preußischen Vereinsgesetzes werde schon durch das
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Inverbindungtreten mehrerer Personen zur Erreichung eines gemeinschaftlichen Zweckes gebildet.« Bis dahin galt nur eine Personengemeinschaft dann als Verein, wenn sie eine Leitung, einen Vorsitzenden und einen Kassierer hatte. Ebenso wie in Preußen war auch in Bayern und an deren deutschen Staaten die Reaktion Trumpf. Sagte doch der bayerische Minister von Feilitsch: »Wenn es eine Handhabe gäbe, Frauen und Min derjährige von den Versammlungen auszuschließen, so werde die Regierung ihr Recht, dies zu tun, auf rechterhalten. Denn wozu würde es führen, wenn sie die in den Versammlungen üblichen Aufreizungen unter Frauen und Minderjährige hineinwerfen ließe. Die Staatsregierung werde in der Sache ihren eigenen Standpunkt behaupten und vertreten, sei es im Petiti ons-, sei es im Beschwerdeausschuß.« Eine häufige Begründung der Ausweisung von Frauen aus Volksversammlungen war die: die von So zialdemokraten einberufenen politischen Versamm lungen sind Vereinsversammlungen gleichzuachten, denn diese Partei sei an sich ein großer Verein. Zudem witterten die Behörden immer noch geheime Verschwörungen, denn fast allen Verboten von Frau envereinen und -kommissionen gingen Haussuchun gen voran. Man mußte deshalb Adressenverzeichnis se, Bons und Listen für Geldsammlungen sehr vor-
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sichtig verstecken, damit den Behörden kein neues Material in die Hände geliefert wurde zu Beschlag nahmen und weiteren Anklagen. Häufig mußte man die Versammlungsbesucher öffentlich vor den Agen ten der politischen Polizei warnen (im Volksmunde »Achtgroschenjungen« genannt), denn sie waren oft zahlreich in den Versammlungen anwesend und such ten durch Gespräche die Anwesenden zu unbedachten Äußerungen zu veranlassen. All das, was hier geschildert wird, sind nur Stich proben aus der Fülle von Schikanen, denen unsere Frauenbewegung von Polizei und Staatsgewalt ausge setzt war. Man mußte andere Wege finden. So wurde 1894 auf dem Parteitag zu Frankfurt am Main in einer Besprechung von bewährten Parteigenossen und -ge nossinnen beschlossen, die Frauenagitationskommis sionen aufzulösen und statt dessen einzelne Vertrau enspersonen zu wählen. Folgende Richtlinien wurden festgelegt: 1. Die Vertrauensperson soll dafür sorgen, daß die Genossen des Orts in ihrer politischen und gewerk schaftlichen Aktion die Frauen des Proletariats be rücksichtigen. Von den Genossinnen ist zu erwarten, daß sie die Vertrauensperson in ihren schwierigen ar beitsreichen Aufgaben unterstützen. 2. Es ist allerorten dahin zu wirken, daß die Arbei terinnen ihren Gewerkschaften zugeführt werden und
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daß sie zu dem Zwecke weibliche Agitatoren verwen den; ferner sollen zu den Verwaltungsposten weibli che Mitglieder herangezogen werden. 3. Die Form der nichtgewerkschaftlichen Organisa tion der Frauen ist eine Zweckmäßigkeitsfrage, aber keine Prinzipienfrage. 4. Ob die Frauen den politischen und Bildungsver einen der Männer beitreten oder eigene Organisatio nen bilden, hängt von den lokalen Verhältnissen, na mentlich vom Vereinsgesetz ab. 5. Die Frauenbildungsvereine sollen neben der Bil dungsarbeit auch praktische Arbeit leisten, Tatsachen über die Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen sam meln und zu agitatorischer Benutzung der Öffentlich keit übergeben; sie sollten eine Art Beschwerdekom mission bilden, denen die Arbeiterinnen vertrauens voll – in Ermangelung von Fabrikinspektorinnen – besondere Mißstände ihrer Lage mitteilen, und nach Kräften für Abstellung derselben wirken. Behufs Forderung der Aufklärung und Organisie rung des weiblichen Proletariats sind von Zeit zu Zeit besondere Flugblätter herauszugeben. 6. Die sozialistische Frauenbewegung ist in größe rem Umfange als bisher seitens der Arbeiterpresse zu unterstützen. Die Berliner Frauenagitationskommission, an deren Spitze bis 1894 Margarete Wengels stand, löste sich
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nicht auf, sondern arbeitete in gewohnter Weise wei ter, denn sie meinte, der Aufgaben, die sie zu erfüllen hatte, seien zu viele, als daß eine Person sie zu bewäl tigen imstande wäre. Um nun die Agitation für das Frauenwahlrecht recht wirkungsvoll betreiben zu kön nen, sandte die Berliner Frauenagitationskommission zu Anfang des Jahres 1895 an die sozialdemokrati sche Reichstagsfraktion folgendes Schreiben: »Um eine starke und einheitliche Bewegung für das Frauenwahlrecht in ganz Deutschland einzuleiten, stellen wir an alle Vertreter der sozialdemokratischen Partei das höfliche Ersuchen, in ihren Wahlkreisen wenigstens eine öffentliche Versammlung abzuhalten, in der die Notwendigkeit der Forderung des Frauen wahlrechts besonders betont und die im ›Vorwärts‹ am 6. und 7. Februar veröffentlichte diesbezügliche Resolution zur Annahme gebracht wird. Da wir beab sichtigen, dem Reichstage Kenntnis zu geben, in wel chen Orten die Resolution angenommen wurde, so er suchen wir die Herren Abgeordneten, in deren Wahl kreisen solche Versammlungen veranstaltet wurden, uns mitteilen zu wollen, wo dieselben stattfanden und wie groß die Zahl der Teilnehmer zu denselben war.« Die Resolution, die in den Versammlungen zur Ab stimmung gebracht werden sollte, lautet: »In Erwägung, daß es keinen sichtbaren Grund gibt, der ein mündig gewordenes menschliches Wesen
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von Bürgerrechten und Freiheiten ausschließt, wie das dem weiblichen Geschlecht geschieht; in Erwägung, daß die Frauen nicht gewillt sind, diesen Zustand der Entrechtung, in welchen sie im Laufe der Zeiten ver setzt wurden, ferner zu ertragen; in weiterer Erwä gung, daß namentlich die täglich sich immer mehr zu spitzenden Gegensätze innerhalb der bürgerlichen Ge sellschaft auch die sehr große Mehrzahl der Frauen in immer schlimmere soziale und wirtschaftliche Ver hältnisse versetzt und eine Hebung und Verbesserung dieser Verhältnisse ein Gebot der dringendsten Not wendigkeit ist, aber ohne den Besitz politischer Rech te und Freiheiten nicht herbeigeführt werden kann, fordern die Frauen nachdrücklichst die gleichen bür gerlichen und politischen Rechte wie die Männer und besonders die Gewährung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts.« Am 5. und 6. Februar 1895 wurden in Berlin als Beginn dieser Agitation vier stark überfüllte Volks versammlungen abgehalten, Bebel und Liebknecht, Emma Ihrer und ich hielten die Referate. Aber auch eine kräftige Agitation für Abschaffung der Gesindeordnung leitete die Berliner Frauenagitati onskommission ein. Sie veranstaltete im Januar 1895 zwei sehr gut besuchte öffentliche Volksversammlun gen, in denen Reichstagsabgeordneter Molkenbuhr das Referat hielt. Es wurde die Abschaffung der Ge-
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sindeordnung und die Unterstellung aller Arbeiter und Arbeiterinnen unter die Gewerbeordnung verlangt. Die Behörde wurde nicht müde im Auflösen und Verbieten, aber auch wir waren hartnäckig und ließen uns nicht unterkriegen. Im Januar 1895 wurde von der Behörde der Leipzi ger Frauen- und Mädchenbildungsverein aufgelöst, weil er seinerzeit an die Berliner Frauenagitations kommission 30 Mark gesandt hatte und nach den sächsischen Vereinsgesetz damit in nicht erlaubte Verbindung mit einem auswärtigen Verein trat. In Ottensen wurden die vier Vorstandsmitglieder der dortigen Zahlstelle des Zentralverbandes für Frau en und Mädchen Deutschlands zu je 20 Mark Geld strafe oder vier Tagen Gefängnis verurteilt, weil sie im Verein Politik getrieben und in diesen Verein neue Mitglieder aufgenommen hatten. Der große Frauen- und Mädchenbildungsverein für Berlin sowie seine Filialen wurden durch Gerichtsur teil vom 20. März 1895 geschlossen. 21 Genossinnen erschienen als Angeklagte vor dem Schöffengericht zu Berlin. Vom 2. April 1892 bis zum Frühjahr 1895 sollen sie in Berlin, Charlottenburg, Weißensee als Vorsteher, Ordner und Leiter eines politischen Ver eins Frauenspersonen als Mitglieder aufgenommen haben. 30 Polizeibeamte waren als Belastungszeugen geladen. Die sogenannten »Kriminalstudenten«, unbe-
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schäftigtes, sensationslüsternes Publikum, hatten bei diesem großen Zeugenaufgebot in Schutzmannsuni form gedacht, es handele sich um einen Zuhälter- und Dirnenprozeß, und waren in Scharen gekommen. Sie kamen nicht auf ihre Kosten und zogen enttäuscht ab. Die Dinge, die hier verhandelt wurden, waren keine Sensation in ihrem Sinne. Der Gerichtsvorsitzende erklärte im Laufe des Pro zesses: »Politik ist alles, was nicht eine einzelne Per son, sondern die gesamte Öffentlichkeit angeht.« Es hatte nämlich ein Arzt in dem Verein über Säuglings ernährung gesprochen und dabei gefordert, daß, wenn die einzelne Familie nicht imstande ist, die teure Kin dermilch zu beschaffen, dies die Pflicht der Kommune sei. Genossin Mesch als Vorsitzende wurde zu 25 Mark Geldstrafe, die übrigen 20 Frauen zu je 15 Mark verurteilt. Nun ereilte auch die Berliner Frauenagitationskom mission ihr Schicksal, sie wurde im Februar 1895 vorläufig polizeilich geschlossen. Die interessante Verfügung, welche die Auflösung ausspricht, lautet wörtlich: »Es wird Ihnen hiermit eröffnet, daß die Berliner Frauenagitationskommission auf Grund des § 8 des Vereinsgesetzes vom 11. März 1850 vorläufig ge schlossen ist, weil dieselbe nach ihrer bisherigen Tä tigkeit, insbesondere wegen der noch in letzter Zeit in
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Versammlungen betriebenen Agitation für das Wahl recht der Frauen, als politischer Verein im Sinne des genannten Gesetzes erscheint, politische Vereine aber Frauen nicht als Mitglieder aufnehmen dürfen. Jede fernere Beteiligung an diesem Vereine oder eine Neubildung, welche sachlich als Fortsetzung des geschlossenen Vereins erscheint, ist nach § 16 des Vereinsgesetzes strafbar. Der Polizeipräsident.« Im Zusammenhang mit der Auflösung der Frauenagi tationskommission in Berlin wurde bei den Genossin nen Fahrenwald, Jung, Klotzsch, Ihrer, Frohmann und mir Haussuchung abgehalten, jedoch ohne das gering ste Resultat. Auch bei der Genossin Wengels, die seit Ende des Jahres 1894 der Kommission nicht mehr an gehörte, erschien dieser Besuch, aber auch dort wurde nicht das geringste Belastungsmaterial gefunden. Genossin Ihrer erhob gegen die Auflösung der Ber liner Agitationskommission Widerspruch: »Gegen die mir am 22. d. zugestellte Verfügung des Polizeipräsidenten zu Berlin lege ich hiermit Be schwerde ein und beantrage: die Verfügung aufzuhe ben. Begründung: Sowohl nach dem Sinne des Ver einsgesetzes vom 11. März 1850 als auch nach dem Entscheide des Obertribunals für Strafsachen und des
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Reichsgerichts vom 10. April 1891 kann die Frauen agitationskommission, der ich bisher angehörte, weder als ein Verein im Sinne des Gesetzes angese hen werden, noch ist die Tätigkeit der Kommission als eine politische zu bezeichnen.« – Das Obertribunal entschied, daß ein Verein eine dau ernde Vereinigung von Personen zu gemeinsamen Zwecken sei. Die genannte Kommission kann als eine dauernde Vereinigung nicht angesehen werden, da deren Mitglieder nicht aus eigenem Antriebe, sondern durch die Wahl in einer Volksversammlung zum Zu sammentritt bewegt wurden, und jede gleiche Volks versammlung, deren Einberufung an keine Frist ge bunden ist, kann die Kommissionsmitglieder ihres Mandats verlustig erklären. Das Reichsgericht ent schied, daß zu den Kriterien eines Vereins eine Lei tung gehöre. Eine solche ist bei der Frauenagitations kommission aber nicht vorhanden gewesen, da sie weder Vorsitzende noch Kassiererin noch sonst ir gendeine Leitung hatte, auch keinem der Mitglieder bestimmte Funktionen oblagen. Ebensowenig waren weitere oder gar Beitrag zahlende Mitglieder vorhan den, ohne solche ist aber die Bildung eines Vereins unmöglich. Auch war ein Statut nicht vorhanden, ohne solches könnte aber ein Verein unmöglich ein heitlich arbeiten. Außerdem hat sich die Frauenagita-
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tionskommission noch nicht mit politischen Angele genheiten beschäftigt, denn es kann unmöglich als einheitliche Beschäftigung mit politischen Angelegen heiten im Sinne des Gesetzes gelten, wenn einzelne Mitglieder auf eigene Hand die Vorbereitungen für Volksversammlungen, in denen die Frauen interessie rende Angelegenheiten besprochen werden sollen, treffen, oder in solchen Versammlungen Vorträge hal ten. Aus den angegebenen Gründen ergibt sich von selbst, daß die Verfügung des Herrn Polizeipräsiden ten zu Berlin dem Sinne des Gesetzes widerspricht, und bitte ich, meinem Antrag gemäß entscheiden und diese Verfügung aufheben zu wollen. Das Gericht stellte sich auf einen anderen Boden. Die Mitglieder der Kommission wurden zu Geldstra fen verurteilt und die Kommission geschlossen. Auch die durch die Genossin Ihrer beim Reichsgericht ein gelegte Revision wurde verworfen. Selbst bei der Verhandlung ging man von seiten des Gerichtes gegen uns Frauen in besonderer Weise vor. Man verlangte, daß wir sechs Frauen während der ganzen Verhandlung stehen sollten. Auf unseren energischen Protest wurde uns entgegengehalten, daß wir doch in Versammlungen den ganzen Abend ste hen könnten. Wir bemerkten aber, daß wir dort immer die Möglichkeit hätten, uns zu setzen. Es wurde uns
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dann das Sitzen gestattet, aber hinzugefügt, daß wir aufzustehen hätten, wenn wir gefragt würden, was wir für eine Selbstverständlichkeit hielten. Die Herren Richter konnten sich eben keine Gele genheit entgehen lassen, uns ihre Herrenrechte so deutlich wie möglich fühlen zu lassen.
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Sechstes Kapitel
Das System der weiblichen Vertrauenspersonen
Neue Forderungen
Der Parteitag in Frankfurt a.M. von 1894 hatte den Beschluß gefaßt, die Frauenagitationskommission aufzulösen und statt dessen einzelne weibliche Ver trauenspersonen zu wählen, die auch die spitzfindig ste Polizeibehörde nicht zu einem »politischen Ver ein« stempeln konnte. Die Berliner Frauenagitations kommission, die mit der proletarischen Frauenbewe gung im ganzen Reich in Verbindung stand und die vor allem die Agitationstouren zusammenzustellen hatte, wollte zunächst abwarten. Nun war auch sie mit Hilfe des Vereinsgesetzes, wie bereits erzählt, der Auflösung verfallen. Es wurde in einer öffentlichen Versammlung die Genossin Ottilie Gerndt als Ver trauensperson gewählt. Sie hatte die Korrespondenz mit den Trägerinnen der proletarischen Frauenbewe gung zu führen und die planmäßige Agitation unter den Frauen in ganz Deutschland anzuregen und zu fördern. Später, im Herbst 1895, wurden dann auch in zwei Berliner Kreisen in öffentlicher Versammlung weibli che Vertrauenspersonen gewählt, und zwar im zwei-
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ten Wahlkreis die Genossin Emma Scholz und im vierten Wahlkreis ich. Wir hatten die Aufgabe, die Agitation unter den Frauen Berlins zu fördern. Als dann am 30. November 1895 durch eine Verfü gung des Berliner Polizeipräsidiums elf Organisatio nen bzw. Organe der sozialdemokratischen Partei als Vereine »vorläufig geschlossen« wurden, da war auch unsere Tätigkeit wieder einmal lahmgelegt. Begründet wurde diese Maßnahme mit den §§ 8 und 16 des Preußischen Vereinsgesetzes, die »das Inverbindungtreten politischer Vereine« untersagten. Dieser Poli zeiverfügung gingen Haussuchungen bei etwa hundert der bekanntesten Parteigenossen voraus. Auch wir wurden nicht verschont, und gewissenhaft untersuch ten die Hüter der Ordnung bei Emma Scholz auch Wichskasten und Kammkasten. Wo Kinder im Hause waren, wurden auch die Puppenstuben gründlich durchsucht. Von den 47 Angeklagten wurden 32 frei gesprochen, die übrigen zu geringen Geldstrafen ver urteilt, im Jahr darauf aber durch eine höhere Instanz alle freigesprochen, unter denen auch wir beiden weiblichen Vertrauenspersonen uns befanden. Wir konnten unsere Tätigkeit wiederaufnehmen und Ver sammlungen einberufen. Schon im Mai 1895 hatte die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag die folgenden Anträge gestellt: »1. Für alle Reichsangehörigen ohne Unterschied
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des Geschlechts das Recht, sich zu versammeln ohne vorherige Anmeldung bei einer Behörde und ohne deren Erlaubnis einzuholen: 2. Das Recht, auf öffentlichen Plätzen und Straßen Versammlungen und Umzüge abzuhalten, vorausge setzt, daß diese sechs Stunden vor ihrem Beginn bei der mit der Ordnung des öffentlichen Verkehrs betrau ten Ortsbehörde angemeldet werden; 3. für alle Reichsangehörigen das Recht, Vereine jeder Art zu bilden, ferner alle einzelstaatlichen, den vorstehenden Bestimmungen widersprechenden Ge setze und Verordnungen aufzuheben und ebenso alle Gesetze und Verordnungen, welche die Verabredung und Vereinigung zum Zwecke der Erlangung besserer Lohn- und Beschäftigungsbedingungen untersagen oder unter Strafe stellen.« Das waren Forderungen, deren Erfüllung auch den Frauen einen Teil des ihnen vorenthaltenen Rechts ge geben hätte. Aber es sollte noch manches Jahr ins Land gehen, bis wir soweit waren. Nach den letzten Drangsalierungen durch die Behörden, nach den zahl losen Haussuchungen vom November 1895 wurden diese Anträge noch einmal in der »Gleichheit« veröf fentlicht, um auch weiteren Frauenkreisen zu zeigen, daß unsere Partei auch an der richtigen Stelle für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts ein trat.
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Aber noch eine andere Forderung, die höchste, die wir erheben mußten, war in diesen Anträgen unserer Fraktion enthalten: die Forderung des Frauenwahl rechts. Zum erstenmal wurde sie im Reichstag gestellt und durch unsern Bebel vertreten. Er betonte dabei beson ders: es sei zum erstenmal, daß in einem deutschen Parlament diese Forderung gestellt wird, aber sicher nicht zum letztenmal. An den Parteitag, der im Oktober 1895 in Breslau tagte, stellte Ottilie Gerndt als Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands den Antrag, daß die Reichstagsfraktion durch den Parteitag beauftragt würde, bei den Beratungen über den Entwurf des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches für die Beseitigung aller Bestimmungen einzutreten, die die Frau dem Manne gegenüber benachteiligen, vor allem auch für die Rechte der unverheirateten Mutter und ihrer Kin der. Dieser Antrag ist angenommen und an die Frakti on im Reichstag weitergegeben worden. Noch zu Ende des Jahres 1895 haben unsere Par teigenossen die Vorbereitung von Gesetzentwürfen gefordert, deren erster den achtstündigen Arbeitstag herbeiführen sollte, während der andere die Aufhe bung der Sonderbestimmungen für die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter sowie die Aufhebung der Gesindeordnung bringen sollte.
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So schnell aber sollten derartige Forderungen noch nicht erfüllt werden. Vorläufig ging aller Fortschritt nur in der Art der Springprozession: zwei Schritte vorwärts, einen Schritt zurück; vor allem, wenn es sich um die Frauen handelte. Während das Heer der im Lebenskampf stehenden Frauen ständig wuchs und die politische und wirt schaftliche Gleichstellung mit dem Mann mehr und mehr eine Lebensnotwendigkeit wurde, suchte eine verblendete reaktionäre Regierung die Entwicklung durch reaktionäre Maßnahmen zu hemmen. So ging der eingebrachte Regierungsentwurf auch noch auf Einengung der wenigen Rechte aus. Er ver langte zum preußischen Vereins- und Versammlungs recht den Ausschluß der Minderjährigen von politi schen Versammlungen. Ferner sollten von den Vertre tern der Polizei Versammlungen aufgelöst, Vereine von der Landespolizeibehörde geschlossen werden können, sofern ihr Zweck und ihre Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderläuft oder die öffentliche Sicher heit – insbesondere die Sicherheit des Staates – oder den öffentlichen Frieden gefährdet. Die Genossinnen ließen sich trotz aller bösen Ab sichten der herrschenden Klassen von ihrem Tun nicht abbringen, obwohl die Polizei es fast toller trieb als unter dem Sozialistengesetz. Auch im Jahre 1896 wurde, wie im vorhergehenden
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Jahre, die Polizeipraxis des Hinausweisens von Frau en aus Versammlungen, die Auflösung von solchen und dergleichen in rücksichtsloser Weise weiter fort geführt. Ein Versammlungsverbot der sächsischen Polizei verdient der Nachwelt erhalten zu werden. Die Genossin Steinbach (Hamburg) sollte im Jahre 1896 in öffentlichen Versammlungen von Arbeitern und Arbeiterinnen in Hartmannsdorf und Limbach über das Thema »Wem nützt die Frauenarbeit in der Textilindustrie und in den verwandten Berufen« spre chen. Diese Versammlungen wurden auf Grund des § 5 des sächsischen Vereinsgesetzes verboten. Der Wortlaut des Versammlungsverbotes für Limbach ist so charakteristisch für die amtseifrige, zielbewußte Helligkeit der sächsischen Behörden, daß es ein Feh ler wäre, ihn nicht bekanntzugeben. Er lautet: »Wir teilen Ihnen hierdurch ergebenst mit, daß wir auf Grund des § 5 des klg. sächs. Gesetzes, das Ver eins- und Versammlungsrecht betreffend, vom 22. November 1850, die heute abend von 81/2 Uhr ab im Hotel Johannisbad' abzuhaltende öffentliche Arbeiterund Arbeiterinnenversammlung, in welcher als Refe rentin Frau H. Steinbach aus Hamburg über das Thema: ›Wem nützt die Frauenarbeit in der Textilin dustrie und den verwandten Berufen?‹ auftreten will, wie hiermit geschieht, verbieten, und zwar aus folgen-
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den Gründen: Wenn man das gestern in der Stadt verbreitete, von der Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch lands unterzeichnete, im Verlage von C. Legien in Hamburg verlegte, in der Hamburger Buchdruckerei und Verlagsanstalt Auer u. Komp. in Hamburg ge druckte, als Einladung zu jener Versammlung offen bar dienende Flugblatt, welches die Überschrift trägt: ›An die werktätigen Frauen und Mädchen Deutsch lands‹ liest und sieht, daß es als Motto die folgenden Verse von Herwegh an der Spitze trägt: Und du ackerst und du sä'st,
Und du nietest und du nähst,
Und du hämmerst und du spinnst,
Sag' o Volk, was du gewinnst?
Was ihr kleidet und beschuht,
Tritt auf euch voll Übermut.
Seht die Drohnen um euch her,
Habt ihr keinen Stachel mehr?
so kann es nicht zweifelhaft erscheinen, wie die Ant wort auf die von der Referentin gestellte Frage: ›Wem nützt die Frauenarbeit in der Textilindustrie?‹ lauten wird. Sie ist für jeden Tieferblickenden gegeben, in jenen
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Versen Herweghs wird also zweifelos in einem Ap pell an das ›werktätige Volk‹, die gegen die ›Droh nen‹ sich richten, zu denen nach der Anschauung der Sozialdemokratie die Besitzenden und vor allem die Arbeitgeber, im Gegensatz zu den Arbeitnehmern, ge hören. Es mag nun dahingestellt bleiben, ob in der geplan ten Versammlung die Referentin soweit gehen würde, in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung, die Arbeit nehmer gegen die Arbeitgeber, zu Gewalttätigkeiten gegeneinander öffentlich anzureizen, mithin gegen den § 130 des Reichsstrafgesetzbuches sich zu verge hen, obschon das oben angeführte Motto (›Habt ihr keinen Stachel mehr?‹) einen Schluß darauf zulassen würde. Immerhin wäre es aber nicht ausgeschlossen, daß durch die Ausführungen der Referentin zu der von ihr gestellten Frage ihre Zuhörer aus dem Arbeitnehmer stande dazu geneigt machen würden, nach Befinden unter Kontraktbruch die Arbeit niederzulegen, um von ihren Arbeitgebern irgendwelche Zugeständnisse in bezug auf Löhne und Arbeitsbedingungen zu erzwin gen. Da nun aber, wie bekannt, die eigenmächtige Auf lösung des Arbeitsverhältnisses – wenn auch die Be strafung des Kontraktbruches gewerblicher Arbeiter
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aufgehoben ist – gegen eine gesetzliche Bestimmung, diejenige des § 124 der Gewerbeordnung verstößt, mithin eine Gesetzesübertretung involviert, und Ver sammlungen, deren Zweck es ist, zu Gesetzesübertre tungen geneigt zu machen, nach § 5 des eingangs an gezogenen Gesetzes verboten sind, so ist der unter zeichnete Stadtrat geradezu verpflichtet, die in Rede stehende Versammlung zu verbieten.«
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Siebentes Kapitel
Drei internationale Tagungen
Frauenbewegung
Im Juli 1895 ging durch unsere Parteipresse der Auf ruf zu einem internationalen Sozialisten- und Gewerk schaftskongreß, der im folgenden Jahre in London stattfinden sollte. Auch die »Gleichheit« brachte die sen Aufruf. Noch ehe wir uns aber mit diesem Kon greß beschäftigen konnten, wurden unsere Gedanken durch ein Ereignis, das für unsere gesamte Arbeiter bewegung große Trauer bedeutete, nach London ge lenkt: einer unserer Führer, Friedrich Engels, hatte dort in seinem 75. Lebensjahre die Augen geschlos sen. Das war ein harter Schlag. Hatte Engels auch fern von den Genossen, fern von seiner Heimat gelebt, so war er uns in seinen Schriften ein stets naher, hilfs bereiter Freund und Lehrer gewesen, dessen Scheiden wir schmerzlich bedauerten. Aber mit dem, was wir immer von ihm hatten, mit seinen Aufsätzen, mit sei nen Briefen blieb er uns doch nahe, und so ist er noch manchem, auch unter den Frauen, ein Freund und Lehrer geworden. Im neuen Jahre erging dann bald die Mahnung auch an die Frauen, rechtzeitig Stellung zu dem Kon-
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greß zu nehmen. Es wurden als Vertreterinnen der deutschen proletarischen Frauen die Genossinnen Clara Zetkin, Emma Ihrer und ich gewählt. Mein früher so eingeengtes Leben war nun schon seit einigen Jahren durch die Teilnahme an den politi schen Aufgaben ein sehr viel reicheres geworden, ich hatte auch so manche Gegend, so manche schöne Stadt in Deutschland kennengelernt, diese erste Aus landsreise aber war doch ein besonderes Ereignis. Für uns waren solche Reisen keine Vergnügungsreisen. Neben der inneren Bereicherung, die sie brachten, be deuteten sie auch schwere Arbeit. Es hieß scharf die Augen offenhalten, nicht nur, um bei den Verhandlun gen die Interessen derer, die uns schickten, zu vertre ten, sondern um ihnen auch von dem fremden Lande, von den anderen Verhältnissen, unter denen die prole tarischen Brüder und Schwestern lebten, soviel mit bringen zu können, als es nur anging. Ganz von selbst ergab es sich, daß wir dabei Vergleiche auch über die äußeren Lebensformen des Proletariats, vor allem die der Frauen anstellten. Und die ersten Eindrücke in London waren keine sehr erfreulichen. So sahen wir gleich am ersten Abend unserer Ankunft, als wir mit dem Wagen durch die Stadt fuhren, wie eine betrun kene Frau aus einem Lokal herausgeworfen wurde. Sieht man in Deutschland die Fabrikarbeiterin auch bei der Arbeit in möglichst ordentlichen Kleidern, so
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ging die englische Arbeiterin in jener Zeit einfach in Lumpen. Ein Kleid, dessen unterer Rand gesäumt war, sah man kaum. Er war einfach glattgeschnitten, und franste er im Laufe der Zeit zu sehr aus, so wurde eben wieder die Schere genommen. Auch in den pro letarischen Wohnungen machte sich diese Gleichgül tigkeit bemerkbar. Die ärmste Arbeiterfrau setzte bei uns ihre Ehre darein, ihre Wohnung, soweit es irgend geht, in Ordnung zu haben. In den Londoner Arbeiter wohnungen, die wir gesehen haben, war der Schmutz zu Hause. Da diese Unordnung und Unsauberkeit nicht Einzel-, sondern Allgemeinerscheinung war, so waren die Ursachen in den sozialen Verhältnissen zu suchen, und eine lag wohl darin, daß in den Schulen weder Handarbeits- noch hauswirtschaftlicher Unter richt erteilt wurde, die kaum herangewachsenen jun gen Mädchen aber zu einem Lebenserwerb greifen mußten. Engels Buch »Die Lage der arbeitenden Klassen in England« zeigt in klarer Weise die Ursa chen und auch deren traurige Wirkungen. Sehr angenehm dagegen empfanden wir das höfli che, zuvorkommende Benehmen der dortigen Police men im Vergleich zu dem unserer preußischen Polizi sten, die gewöhnlich den Unteroffizierton dem Publi kum gegenüber anschlugen. Es herrschte eine viel größere öffentliche Freiheit. Auch der Ärmste hatte ein Anrecht auf die Straße. Als die organisierte engli-
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sche Arbeiterschaft zu Ehren des Internationalen Kon gresses einen Demonstrationszug durch den Hydepark veranstaltete, sorgten die Policemen dafür, daß der Zug ungehindert passieren konnte. Die Kutschen mußten solange halten, bis sich eine Lücke zum Durchfahren bot. Manches interessante Straßenbild haben wir gese hen. Arme Künstler, die Schiffbruch erlitten hatten, zeichneten mit bunter Kreide hübsche Bilder auf die breiten Trottoirs, die Vorübergehenden blieben ste hen, sahen es an und gaben dem Künstler ein großes Kupferstück (4 Pfennig). Überall auf den Straßen ist für Vergnügen, Unterhaltung oder auch für religiöse Erhebung gesorgt. In einer Nebenstraße stellte sich eine Gruppe von Tänzern, junge Mädchen und Bur schen, auf und führen die damals so beliebten Serpen tintänze vor. Auch sie bekommen von den Umstehen den ihre Kupferstücke. Dann wieder steht irgendwo an einer Ecke ein Redner, der an das religiöse Gefühl der Straßenpassanten appelliert. Neben ihm steht ein Harmonium, und ein Lied wird gesungen. Wir sahen bei einer solchen Gelegenheit nach unserer Gewohn heit dem Redner aufmerksam ins Gesicht, trotzdem die meisten von uns ihn nicht verstanden; das muß ihn wohl aus dem Konzept gebracht haben, denn wir merkten an seinen Mienen, daß er von uns, und nicht gerade freundlich, sprach. Unsere Anwesenheit in
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London war ja auch bekannt, und der ganze Kongreß war doch vielen ein Dorn im Auge. Schließlich fing Genosse Wurm, der auch bei uns war, an zu lachen und sagte: »Wenn ihr wüßtet, was der alles von euch sagt!« Uneingeschränkte Versammlungsfreiheit herrschte hier. Irgend jemand stellte sich an einer Straßenecke auf und fing an zu reden, und bald hatte er einen Zuhörerkreis um sich versammelt. Allabendlich fanden sich auf den öffentlichen Plät zen Londons oft zu Tausenden Obdachlose ein, die dort ihr hartes Nachtlager aufschlugen. Der Policeman bewachte sie, damit niemand ihnen ihr Eigentum, das armselige Bündelchen, unter dem Kopf hervorstahl. Der englische Arbeiter hatte die Freiheit, auf der Straße zu verkommen, aber er hatte nicht, wie auch wir nicht, das Recht auf menschenwürdige Existenz. Ungeheurer Reichtum und entsetzliche Armut und damit Verwahrlosung stehen sich in London gegen über, die sauberen breiten Straßen mit den riesigen Kaufhäusern, dem flanierenden eleganten Publikum und der Whitechapel, das Elendsviertel Londons. Wir fuhren am Sonntagmorgen hinaus, um einen Einblick zu gewinnen. Da war der sogenannte Judenmarkt. In den engen, schmutzigen Straßen waren Tische aufge stellt, auf denen das Warenlager aufgebaut und feilge boten wurde. Hungrige, aufgedunsene Gestalten in schmutziger, verlumpter Kleidung boten ihre Waren,
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Heringe, Limonaden, Seife, alte Hosen, Eßwaren u. dgl. an. Das Viertel wurde auch das Verbrecherviertel genannt, weil sich dort Verbrecher, oft genug durch die Not gezüchtet, verbargen. Ein Fremder hätte nicht wagen dürfen, in einen der Keller hineinzugehen, ohne einen Policeman zu verständigen. Alles in allem machte mir London einen großartigen Eindruck. Ber lin kam mir dagegen wie ein Dorf vor. Auch das Klima sagte mir zu. Den Londoner Nebel habe ich al lerdings nicht kennengelernt. Aus aller Herren Länder waren neben den Männern auch Vertreterinnen der Frauen nach London gekommen. Die Tochter unseres Karl Marx, Eleanor Marx-Aveling, Frau Pankhurst, Amie Hicks, Beatrice Webb und viele andere der eng lischen Parteigenossinnen lernten wir kennen. Frank reich, Italien, Holland, Belgien, Rußland, Amerika hatten Frauen gesandt. Zu einer besonderen Besprechung hatten sich die weiblichen Teilnehmerinnen im langen, schmalen Balkonzimmer der Queens Hall zusammengefunden, und es war ein buntes Sprachengewirr, in dem sich die Menschen aber doch nahe kamen. Frau Amie Hicks, eine englische Seilmacherin, erzählte von ihrer Arbeit unter den Frauen, von den Schwierigkeiten, die Frauen in die Gewerkschaften zu bringen. Sie forderte vor allem ausgedehnten gesetzlichen Schutz und bes sere Arbeitsbedingungen für die Frauen. Eine Reihe
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wichtiger Anträge, die von den Frauen gestellt waren, wurden auf dem Kongreß verhandelt und auch in den Beschlüssen festgelegt. So hatten die Genossinnen Zetkin, Ihrer, Marx-Aveling, Adelheid Popp den fol genden Antrag auf eine Erklärung des Kongresses eingereicht. 1. Der Platz der proletarischen Frauen, welche ihre Befreiung erringen wollen, ist in Reih und Glied des kämpfenden Proletariats und nicht in den Reihen der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen. 2. Zum Zwecke ihrer Beteiligung am proletarischen Klassenkampf auf politischem Gebiete sind die Prole tarierinnen einzubeziehen in die politischen Organisa tionen der Arbeiterklasse, wo die Vereinsgesetze dies gestatten. Dort, wo diese Gesetze die gemeinsame po litische Organisation von Männern und Frauen un möglich machen, ist kräftig für die nötige Reform der einschlägigen Bestimmungen einzutreten. 3. Zum Zweck der Beteiligung am proletarischen Klassenkampfe auf wirtschaftlichem Gebiete, die durch die Rolle der Frau in der modernen Industrie täglich nötiger wird, sind die Proletarierinnen einzu beziehen in die Gewerkschaftsorganisationen ihrer männlichen Berufsgenossen, wo Männer und Frauen in dem gleichen Gewerbe tätig sind. Wo dies nicht der Fall ist, sind die selbständigen Gewerkschaftsvereine der Arbeiterinnen der Organisationen der verwandten
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Berufsgenossen anzugliedern. Der Internationale Sozialisten- und Gewerkschafts kongreß zu London erklärt ferner: daß es sowohl im Interesse der männlichen wie der weiblichen Proletari er liegt, mit aller Energie für die Verwirklichung der obigen Forderungen einzutreten, sowie für die volle politische Gleichberechtigung des weiblichen Ge schlechts als für eine Reform, welche dem weiblichen Proletariat die unbehinderte Beteiligung am Kampfe seiner Klasse ermöglicht. Wir haben uns, wie auch aus diesem Antrag zu er sehen ist, in London auch mit der bürgerlichen Frau enbewegung auseinandergesetzt und auf die grund sätzliche Verschiedenheit, die vor allem in den Aus gangspunkten liegt, hingewiesen. Für den Herbst des gleichen Jahres 1896 hatten die Frauenrechtlerinnen einen internationalen Frauenkongreß nach Berlin ein berufen, zu dem auch Emma Ihrer, Clara Zetkin und ich selbst eingeladen wurden. Die Teilnahme an einer solchen rein bürgerlichen Veranstaltung haben wir abgelehnt, weil unsere besonderen Arbeiterinnenfragen dort niemals die Behandlung finden konnten, die wir hätten fordern müssen. Wir haben aber diese Frauentagung zum Anlaß genommen, drei eigene große Volksversammlungen einzuberufen, zu denen wir die Kongreßteilnehmerinnen, vor allem die aus ländischen, besonders einluden. Wir hatten auch, ent-
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gegen den Kongreßverhandlungen, die sofortige Übersetzung ausländischer Reden zugesagt. Gespro chen hat außer einer Österreicherin und einer Polin bei uns nur die italienische Ärztin Dr. Montessori, die besonders Grüße der italienischen Genossen über brachte. Eine große Freude war es, daß unsere drei Ver sammlungen zu ganz gewaltigen Kundgebungen wur den. Alle waren gedrängt voll, die eine derartig, daß der überwachende Beamte nur eine halbe Stunde für die ganze Versammlung gestattete. Mit diesen wirkungsvollen Veranstaltungen des weiblichen Proletariats schloß unsere erste Vertrau ensperson Ottilie Gerndt ihre Wahlperiode ab. Sie waren auch ein schöner Auftakt zu unserem Parteitag in Gotha im Oktober 1896, auf dem zum ersten Male ein Referat über die Frauenagitation auf die Tagesord nung gesetzt worden war. In erster Linie stand hier die Teilnahme am politischen Leben der Partei, die Heranziehung und Aufklärung der Frauen zur Ver handlung. Aber notwendig mußten wir uns auch bei dieser Gelegenheit wieder mit der bürgerlichen Frau enbewegung auseinandersetzen. Diese kämpfte für die Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die sie für die beste hielt. Sie glaubte, durch einige Pflästerchen deren Schäden zu beseitigen und sie uns annehmbar zu machen. All unser Tun war jedoch dar-
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auf gerichtet, dem Proletariat den Sozialismus zu pre digen, es für diese höhere und bessere Gesellschafts form vorzubereiten, es zu gesunden und willensstar ken Persönlichkeiten werden zu lassen. Alle Refor men, die wir erstrebten, waren auf dieses Ziel gerich tet. Es wurde denn auch auf dem Parteitag gegen eine einzige Stimme ein Zusammenarbeiten mit den Frau enrechtlerinnen zur Erkämpfung »praktischer Refor men« abgelehnt. In den Beschlüssen des Parteitages wurde den Frauen, die sich infolge der bestehenden Vereinsge setze nicht so, wie sie wollten, am politischen Leben beteiligen konnten, empfohlen, sich mehr der gewerk schaftlichen Agitation zuzuwenden. Auch die Wahl weiblicher Vertrauenspersonen in allen Orten, wo es irgend möglich war, zu fördern, und neben der Auf klärungsarbeit die Erziehung und Stärkung des Klas senbewußtseins bei den Frauen wurden hier als Hauptaufgaben bezeichnet. Ein dritter, auch für die proletarischen Frauen wichtiger internationaler Kongreß fand im August 1897 in Zürich statt. Es kam hier der gesetzliche Ar beiterschutz zur Verhandlung. Die Genossinnen Deutschlands hatten mit ihrer Vertretung Clara Zetkin beauftragt. Das Ergebnis wurde in einer Reihe von bedeutsamen Forderungen festgelegt, und zwar für alle Arbeiterinnen und Angestellte. Die Grundlage für
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dieses Schutzgesetz sollte der Achtstundentag und der Zwölfuhrschluß am Sonnabend bilden. Verbot der ge werkschaftlichen Frauenarbeit mindestens zwei Wo chen vor und sechs Wochen nach der Niederkunft, der Beschäftigung schwangerer Frauen bei besonderen, ihren Zustand gefährdenden Arbeiten wurde gefordert. Eine Wochenhilfe mindestens in der Höhe ihres Loh nes, die Aufhebung der Sondergesetze für Dienstbo ten und landwirtschaftliche Arbeiterinnen, Verbot der Hausindustrie, gleicher Lohn für gleiche Arbeit bei Männern und Frauen, alle diese Forderungen wurden den gesetzgebenden Körperschaften der verschieden sten Länder vorgelegt. Dazu kamen die allgemeinen Arbeiterschutzbestimmungen, an denen die Frau das gleiche Interesse hat wie der Mann: die Regelung der Sonntagsarbeit, der Nachtarbeit, Verbot der Arbeit in gesundheitsgefährlichen Betrieben, das Verbot der Kinderarbeit bis zu 16 Jahren und die allgemeine For derung des Achtstundentages. Die Zusammenfassung der gesamten Beschlüsse ist ein interessantes Doku ment, und man erkennt daran deutlich, wie sehr die Frage des Arbeiterschutzes noch im argen lag.
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Achtes Kapitel
Die Lage der Frauenarbeit Im Anschluß an den Parteitag in Gotha habe ich eine Reihe von Versammlungen in kleinen Thüringer Städtchen abgehalten, die mir einen ganz besonderen Eindruck machten. So kam ich auch nach Waltershau sen, wo die Herstellung von Spielwaren als Hausin dustrie betrieben wird. Tagsüber scheinen die Straßen des hübschen Städtchens wie ausgestorben, nur hin und wieder sieht man einzelne Frauen, ein Kleines im faltenreichen bunten Kattunmantel auf dem Arm, rasch über die Straße laufen, oder die Hucke auf dem Rücken, um fertige Arbeit abzuliefern. Spielende Kin der sind nicht zu sehen. Die Allerkleinsten sind in der Kinderbewahranstalt, wo sie für 10 Pfennig den Tag über versorgt werden. Aber schon ein, zwei Jahre vor der Schulpflicht beginnt ihre Arbeitszeit. Sie müssen bei der Herstellung von Puppen für glücklichere Kin der helfen. Es war ein trauriger Anblick, eine Anzahl Kinder so still bei der Arbeit sitzen zu sehen. Die Leute haben eine Arbeitsteilung bis ins kleinste hin ein vorgenommen, damit eben jedes Kind mithelfen kann, denn das ist einfache Notwendigkeit. Die Frau en, die mich nach der Versammlung baten, sie zu be-
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suchen, haben mir sowohl ihre Arbeit wie ihre Lohn bücher gezeigt. Ich war ja an Löhne gewöhnt, bei denen man knapp das Leben hat, aber hier sträubten sich mir doch die Haare. Das Nähen von 35 Zentime ter langen Hemdchen, an Halsausschnitt und Ärmeln gekraust und mit Spitze besetzt, wurde pro Dutzend mit 30 Pfennig bezahlt. Waren sie nur 20 Zentimeter lang und an Hals und Ärmeln glatt umgesäumt, so gab es 10 Pfennig für das Dutzend. Zur Ablieferung mußten sie sauber geplättet, in bestimmter Weise ge legt und dutzendweise zusammengebunden werden. Wenn eine fleißige Arbeiterin in 5 Tagen 25 Dutzend von der größeren Sorte schaffen wollte, so mußte sie die halbe Nacht zur Hilfe nehmen. Den sechsten Tag hatte sie dann vollständig mit Plätten und Zurechtle gen zu tun. Rechnet sie Garn, Nadeln, Öl, Plättfeuer ab, dann hatte sie etwa 6 Mark verdient. In einer anderen Familie beobachtete ich die Her stellung von Nippsachen, Tierfiguren, Rehköpfen als Wandschmuck. Man hatte gerade damals als beliebtes Muster zwei kämpfende Hirsche, aus einem Gemenge von Brotmehl, Gips und Leim; die aus Blei gegosse nen Beine und Geweihe lieferte die Fabrik, alles übri ge: Ocker, Bleiweiß, Firniß, Englisch Rot, Terra Sienna usw., Steine und Moos für das Postament mußte der Arbeiter selbst beschaffen. Die ganze Fa milie arbeitete mit. Der Mann setzte Augen, Beine
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und Geweihe ein und färbte den Tierleib, indem er die Farbe aus dem harten Pinsel spritzte. Eine ungesunde Arbeit, deren häufige Folge Bleikolik ist. Die Frau streicht dann mit einem feinen Pinsel Hufe, Augen und Maul an. Die Kinder sammeln Steine und Moos, helfen beim Färben und stellen den Felsen zusammen. Wenn alle Familienmitglieder sich so in die Hand ar beiten und genügend Arbeit vorhanden war, so schaff te bei einer Arbeitszeit bis spät in die Nacht hinein eine Familie in einer Woche etwa zwanzig Dutzend Hirsche, das Dutzend zu 90 Pfennig. Rechnete man für die Auslagen etwa 3 Mark, dann blieben 19 Mark Arbeitsverdienst für die Woche, die aber nicht etwa aufgebraucht werden durften, denn es mußte mit der arbeitslosen Zeit gerechnet werden. Das »Gothaische Volksblatt« hatte festgestellt, daß im Jahre für etwa 225 Tage mit Arbeit und Verdienst zu rechnen war. In den Fabriken waren die Löhne für die Männer etwa 7 bis 11 Mark in der Woche, für die Frauen und ju gendlichen Arbeiter 3 bis 6 Mark. Natürlich versuch ten die Fabrikarbeiter dieses schmale Einkommen durch Hausarbeit zu erhöhen und merkten nicht, wie sie dadurch ihre Lage keineswegs verbesserten, son dern die Verhältnisse immer noch mehr drückten. Die Frau hat neben der Erwerbsarbeit die Sorge für den Haushalt, und wenn sie abends die Kinder ins Bett geschickt hat, oder Sonntags, steht sie noch am
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Waschfaß oder flickt und stopft. Die »Gleichheit« hat damals einen ausführlichen Bericht mit allen den Zah lenangaben über Verdienst und Arbeitsmöglichkeit gebracht, wie ich sie den Lohnbüchern entnommen hatte. Das hatte zu Nachforschungen Anlaß gegeben, und eine geringe Besserung in der Lage der Heimar beit in Waltershausen war die Folge. Ähnliche Verhältnisse habe ich bei den Geraer Textilarbeiterinnen gefunden. Die Frauenarbeit war in den dortigen Fabriken so vorherrschend, daß man es schon glauben konnte, wie es damals hieß, daß die Männer zum größten Teil arbeitslos daheim saßen und den Haushalt besorgten, während Frauen und Mädchen in der Fabrik den Lebensunterhalt verdien ten. Konnte in Zeiten guten Geschäftsganges eine ge schickte Arbeiterin gleichzeitig zwei Webstühle be dienen, so war mit einem Wochenlohn von 18 Mark zu rechnen, dafür mußte sie aber für schlechte Zeiten mit 5 bis 7 Mark in der Woche sich begnügen. Dazu kamen aber fast immer noch Abzüge für kleine Ver säumnisse, für fehlerhafte Stellen im Gewebe. Den Lohn allzu stark zu drücken, wagten die Geraer Fabri kanten nicht, denn die Arbeiterschaft hatte dort schon bewiesen, daß sie zusammenzuhalten verstand. Aber die Herren hatten einen anderen Ausweg gefunden, um ihre Gewinne zu erhöhen; sie schickten Ketten und Garne in das benachbarte Vogtland, wo das
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Weben unter einer Art Schwitzsystem zu den billig sten Preisen geschah. Dort verdienten Frauen, die oft stundenweite Wege bis zur Arbeitsstätte hatten, 4 bis 5 Mark in der Woche. Aber auch die Verhältnisse bei den Berliner Weiß näherinnen waren keineswegs besser geworden. Die Herstellung der einfacheren Damenwäsche geschah unter den denkbar elendsten Bedingungen. Hunger löhne in des Wortes vollster Bedeutung wurden auch hier gezahlt. Das »Schwitzsystem« war hier ebenso im Gange, wie z.B. in der Mäntelkonfektion. Nur sind hier die »Schwitzer« häufig die Frauen kleiner Beam ten gewesen, die durch das geringe Gehalt des Man nes auf Erwerb angewiesen waren. Sie hatten keine Arbeitsstube, verstanden selten selbst zu nähen, lern ten aber meistens sehr rasch den Geschäftsbetrieb. Auf die Arbeiterin wurden nicht nur die Arbeit, son dern auch die Kosten für den Betrieb abgewälzt: Näh maschine, Garn, Nadeln, Wohnung, Beleuchtung, vor allem aber auch das Risiko für den Ausfall der Arbeit. Und diese Arbeiterin, die so »aus zweiter Hand« ar beitete, gehörte meist zu den ärmsten ihrer Klasse. Das »Du sollst und mußt etwas verdienen, oder du verhungerst« war ihr von dem verkümmerten Gesicht abzulesen. Ich habe einmal nach einem Arbeitsbuch berechnet, daß eine Arbeiterin in 34 Wochen insge samt 364,95 Mark verdient hat. Nach Abzug aller
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Unkosten behielt sie für die Woche 8,46 Mark bei etwa 14stündiger Arbeitszeit täglich, d.h. also bei un ermüdlicher Arbeit die Stunde 10 Pfennig. Man irrt sich aber, wenn man meint, daß eine Person diese paar Pfennige in der Stunde erarbeitet; fast immer müssen Familienangehörige helfen, in diesem Falle mußte die alte Mutter Knopflöcher machen, Knöpfe annähen, Stickerei beschneiden u.a. Dabei kommt auch hier hinzu, daß das nur für die Zeit des flotten Geschäftsganges gilt. In einem Prozeß ist einige Jahre vorher für den notwendigsten Lebensunterhalt einer Arbeiterin 12 bis 13 Mark in der Woche festgestellt worden. Die Wäschenäherin verdiente aber im Durch schnitt kaum die Hälfte, dabei war sie durch das Elend und die Arbeitshast so gedrückt, daß es schwer hielt, Auskunft über ihre Verhältnisse zu bekommen. Und die Mutter, von der Sorge um die Nahrung der Kinder angespornt, mußte sie auf der anderen Seite verkümmern sehen, aus Mangel an Pflege und Auf sicht. Betritt man des Vormittags eine Wohnung und glaubt die Näherin beim Kochen, so sitzt sie an ihrer Maschine und näht in fieberhafter Hast. Die Betten sind noch nicht gemacht, ein kleines, ungewaschenes Kind liegt in dem einen und schreit, ein älteres spielt an der Erde. Die Mutter kann sich nicht darum küm mern, denn es ist Liefertag, und die Arbeit muß unbe dingt fertig werden. Zum Sprechen ist keine Zeit,
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denn es lenkt die Gedanken von der Arbeit ab. Über die vom Arbeitgeber festgesetzte Zeit hinaus wird die Arbeit nicht abgenommen. Denn dann gibt es für die Woche keine Lohnzahlung. Das Leben dieser Frauen war zu einer stumpfsinnigen Fronarbeit geworden. Es war schwer, sie daraus wachzurütteln. Die Verhältnisse waren so in der gesamten Wä scheindustrie, hier und da um ein geringes besser, kümmerlich aber überall da, wo Frauen um ihrer und ihrer Familie Lebensunterhalt arbeiten mußten. Zur Kenntnis der Allgemeinheit sind die Dinge durch den großen Konfektionsarbeiterstreik gekommen, der An fang Februar 1896 in Hamburg, Stettin und Breslau ausbrach, und dem dann Berlin, Halle, Erfurt und Dresden folgten. Eine Fünferkommission stellte 7 Forderungen auf: 1. Anerkennung von Lohntarifen. 2. Errichtung von Betriebswerkstätten. 3. Einsetzung einer Kommission, bestehend zu glei chen Teilen aus Geschäftsinhabern oder deren Ver tretern und aus Schneidern zur Austragung etwai ger Streitigkeiten. 4. Anständige, menschenwürdige Behandlung. Rohe Redensarten oder gar Handgreiflichkeiten müssen unterbleiben. 5. Schnelle Abfertigung bei Empfangnahme und Ab lieferung der Arbeit. Bei länger als einstündigem
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Warten wird pro Stunde 40 Pf. vergütet. 6. Mindestens wöchentliche Lohnzahlung am Schluß jeder Woche. 7. Anerkennung der Arbeitsnachweise in Händen der Arbeiter. Die Forderung der Betriebswerkstätten wurde bei den Verhandlungen von den Vertretern der Arbeiterschaft für später zurückgestellt, dagegen konnte die Forde rung fester Tarife nicht preisgegeben werden, wenn man nicht zahllose Arbeiterinnen weiterhin der schlimmsten Ausbeutung durch Unternehmer und Zwischenmeister aussetzen wollte. Wenn man jetzt die geforderten Lohnsätze liest, so lassen sich die jammervollen Zustände, unter denen die Konfektions arbeiter und -arbeiterinnen bis dahin gelebt haben, denken. Gefordert sollte für die Anfertigung einer zweirei higen, gefütterten Joppe mit 4 Taschen 2,50 Mk. wer den, für die eines gefütterten Lüsterjacketts 1,50 Mk. Die Arbeiterinnen wollen 3 Mk. für einen gefütterten Knabenanzug aus Plüsch oder Samt, 1 Mk. für einen Waschanzug, 1,25 Mk. für einen Trikotanzug oder weißen Waschanzug, 2,25 Mk. für einen Knabenpele rinenpaletot, 4 Mk. für einen Damenregenmantel mit abnehmbarer Pelerine, 1,75 Mk. für einen glatten Re genmantel, 2,50 Mk. für einen Damenmantel mit ab nehmbarer Pelerine, 1,75 Mk. für einen glatten Re-
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genmantel, 2,50 Mk. für einen wattierten Radmantel usw. Unsere Genossinnen taten ihr möglichstes, um den kämpfenden Schwestern und Brüdern beizustehen. Wir sprachen in den Versammlungen, sammelten Gel der, halfen in den Streikbüros, standen Streikposten, kurzum: wir halfen unermüdlich bei allen Arbeiten. Das gesamte Volk war aufgerührt, der Kampf hatte die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gelenkt. In Breslau trat das Unternehmertum in Verhandlungen mit der Arbeiterschaft, und der Streik erreichte hier bald sein Ende. Die Unternehmer bewilligten namhaf te Forderungen. Auch weite Kreise des Bürgertums erklärten ihre Sympathie mit den Kämpfenden, ver sprachen sowohl moralische wie materielle Unterstüt zung und leisteten auch manches. Noch im Februar fanden Verhandlungen statt, die in Breslau, Dresden, Erfurt und Berlin zu einer Einigung führten. Der Er folg des Streikes war eine entschiedene Besserung der Lage, und er war um so bedeutungsvoller, weil er unter ungünstigsten Verhältnissen errungen war und weil er als ein Anfang den Kampfeswillen der Arbei ter stärkte. Über ein Jahr verging aber noch, ehe durch eine Verordnung des Bundesrates Schutzbestimmun gen auch für die Konfektions- und Wäschearbeiter ge schaffen wurden. Auf dem im Juli 1897 in Eisenach abgehaltenen
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Kongreß der deutschen Schneider und Schneiderinnen war es hauptsächlich das Elend in der Konfektionsin dustrie, in dessen Zeichen die Verhandlungen standen. Die große Mehrzahl der Delegierten konstatierte den zwar geringen materiellen, aber doch sehr bedeuten den moralischen Erfolg des Streikes. Breite, bis dahin stumpfsinnig dahinlebende Proletarierkreise waren zum Klassenbewußtsein erwacht; es galt nun, in aus dauernder Arbeit diese Massen zu organisieren und zu schulen. Nur eine energische Fortführung des Kamp fes konnte Linderung der elenden Lage schaffen. Kurz vorher waren auch die Wäscherinnen in Isen burg in Hessen in den Streik getreten. Die Verhältnis se in diesen Betrieben waren so erbärmlich, daß man sich wundern muß, wie Menschen diese Quälerei er tragen haben. Der allgemeine Frauen- und Mädchen verein in diesem Orte, dem bei seiner Gründung An fang 1897 gleich 69 Frauen beitraten, zählte zur Zeit des Streikes bereits 178 Mitglieder. Der Genossen Gustav Freitag, der ihn leitete, hat für die Aufklärung und Schulung der Arbeiterinnen für ihren Kampf sehr viel getan, und dieser Kampf war bitter notwendig, denn es kam dort vor, daß Arbeiterinnen bis 20 Stun den von morgens früh 7 Uhr bis zum anderen Morgen 3 Uhr arbeiten mußten. Sechzehn Stunden Arbeitszeit war gar nichts Seltenes. Die Entlohnung und die Kost, die sie erhielten, waren aber ganz ungenügend.
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Nun forderten die Streikenden einen Normalarbeitstag von 10 Stunden, und zwar an den Waschtagen von 7 Uhr morgens bis abends 7 Uhr und an den Bügeltagen von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends. Eine Verbesse rung der Kost wurde gefordert. Die Behandlung soll eine menschenwürdigere sein. Der Lohn soll für erste Arbeiterinnen auf 15 Pfg., für mittelmäßige auf 14 Pfg. und für die jüngeren Arbeiterinnen auf 10 Pfg. die Stunde erhöht werden. Bereits nach der ersten Streikversammlung hatten 13 Wäschereien, darunter 5 große, diese Forderungen bewilligt. Nach siebenwö chiger Dauer wurde der Streik beigelegt und die For derungen der Wäscherinnen im wesentlichen erfüllt. Die Arbeitszeit wurde geregelt, und zwar im Sommer auf 13, im Winter auf 12 Stunden, einschließlich der Pausen. Über Kost und Lohn wurden ebenfalls Zuge ständnisse gemacht. Die Streikenden hatten sich mu sterhaft gehalten. Der Opfermut der Genossinnen, die die Hälfte der Unterstützungsgelder aufgebracht hat ten (1300 Mark), hat wesentlich zum Sieg beigetra gen. Die Isenburger Wäscherinnen haben Nachah mung gefunden, ihr Erfolg hat ermutigend auf die Ar beiterinnen der Branche um ganz Frankfurt gewirkt. Es wurde Mitte der neunziger Jahre eine große Reihe von Erhebungen über die Lage der weiblichen Arbei terinnen in den verschiedensten Industrien angestellt, deren Ergebnis dann für Artikel in der »Gleichheit«
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verarbeitet wurde. Es ist das große Verdienst Clara Zetkins, den Genossinnen immer wieder Anregungen gegeben und sie zu Mitarbeiterinnen herangezogen zu haben. Sie war auch hier, wie auf so manchem ande ren Gebiet, unsere geistige Führerin. Martha Rohrlack-Tietz hat sich damals in Wort und Schrift vor allem den Fabrikarbeiterinnen gewid met. In den Fabriken mit stark weiblicher Arbeiter schaft gab es nur selten weibliche Aufsichtspersonen, meist führten Männer die Aufsicht. Häufig genug be handelten sie die Arbeiterinnen als ihnen auf Gnade oder Ungnade ergebene Geschöpfe. Es gab Betriebe, die geradezu als Harem der Aufsichtspersonen anzu sehen waren. Für weibliche Aufsicht galt es also Pro paganda zu machen, ebenso für die Anstellung weib licher Gewerbeinspektoren. Und nachdrücklich wurde diese Forderung immer wieder hervorgehoben. Emma Ihrer hat sich ein unvergängliches Verdienst erworben durch ihre eifrige und wirksame Arbeit unter den im kaufmännischen Beruf stehenden Frauen. In der Hauptsache handelte es sich dabei zunächst um Ver käuferinnen, deren Lage ganz besonders schlecht war. Die erste Handlungsgehilfenversammlung, die im Fe bruar 1893 in Berlin stattfand, war im ganzen von 500 Personen besucht, darunter 400 Handlungsgehil finnen. Es wurde beschlossen, sich der allgemeinen Arbeiterinnenbewegung anzugliedern. Die Verhältnis-
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se waren aber auch unerträgliche. Fast unbegrenzte Arbeitszeit und Mangel an sanitären Einrichtungen gingen mit niedrigen Löhnen Hand in Hand. Es fehlte an Sitzgelegenheiten für Verkäuferinnen, ja es be stand sogar vielfach das direkte Verbot des Sitzens. Es war kein Wunder, daß Krankheiten aller Art die Folge waren. Diesen so besonders Ausgebeuteten galt auch fernerhin die allgemeine Aufklärungsarbeit. Ar beiterinnen trugen die Einladungszettel für die Ver sammlungen in die Warenhäuser und steckten sie heimlich den Angestellten zu oder gaben sie ihnen beim Verlassen der Geschäftsräume. Auch dieses mußte sehr vorsichtig geschehen. Im April 1896 tagte in Berlin der erste Kongreß aller auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehenden Handlungsgehilfen und -gehilfinnen Deutschlands. Ein Teil der 26 Delegierten war der Ansicht, daß die Handlungsgehilfenbewegung frei von Politik bleiben solle und abseits der Arbeiterbe wegung zu stehen habe. Es wurde aber dann doch, entgegen dieser Ansicht, beschlossen, daß diese Be wegung sich der allgemeinen Arbeiterbewegung anzu schließen und sich als sozialdemokratische zu beken nen habe. Es wurden Forderungen auf Einführung des Achtstundentages, Schutzbestimmungen und Ausdeh nung der Versicherungsgesetze und der Gewerbeord nung auf die Handlungsangestellten aufgestellt. In
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einer besonderen Resolution wurde gleicher Lohn bei gleichen Leistungen für Männer und Frauen gefordert. Im Mai desselben Jahres entschloß sich endlich der Bundesrat zur gesetzlichen Festlegung des zwölfstün digen Arbeitstages, allerdings mit vielen Ausnahmen. Es rief diese karge Verbesserung für die im Handels gewerbe Beschäftigten seitens der Unternehmer einen Sturm der Entrüstung hervor, desgleichen auch gegen den beabsichtigten 8-Uhr-Ladenschluß.
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Neuntes Kapitel
Organisationsfragen
Beschwerdekommission für Arbeiterinnen
Die Genossin Lily Braun-Gizycki veröffentlichte in der »Gleichheit« vom 17. März 1897 Vorschläge, die nach ihrer Meinung die Arbeiterinnenbewegung ein gutes Stück vorwärts treiben würden. Sie meint, die Proletarierinnen seien nicht in der Lage, sich die nöti ge Bildung zu verschaffen, die notwendig wäre, um gut mit Wissen ausgerüstet die Agitation zu betrei ben. Wir brauchen Frauen, welche die Zeit, die Fähig keit und die Kenntnisse haben, um nicht nur alle poli tischen Tagesereignisse mit selbständigem Urteil zu verfolgen, sondern auch um die soziale Gesetzgebung des In- und Auslandes, die soziale Entwicklung der Kulturstaaten gründlich kennenzulernen. Genossin Braun unterscheidet zwischen der Wirk lichkeit nach innen und der Wirksamkeit nach außen. Für die erstere schlägt sie die Bildung von vier Grup pen mit ganz besonderen Aufgabengebieten vor. Die erste Gruppe soll sich – wie bisher schon für die Ge werkschaften – mit der Anstellung von Erhebungen über die verschiedenen Frauenarbeitsgebiete befassen; die zweite – die bibliographische Gruppe, wie sie sie
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nennt – soll Material aus Büchern, Zeitungen, Zeit schriften sammeln und diese Sammlung in einer Aus kunftsstelle nutzbar machen; die dritte, die juristische Gruppe, soll Gerichtsurteile, Entscheidungen, Erlasse u.a. sammeln, das Ergebnis könnte dann zu einer Art Rechtsberatung für Arbeiterinnen dienen. Der vierten Gruppe wird die publizistische Arbeit, Herausgabe von Flugblättern und anderem Material, zugewiesen. Die Arbeit der vierten Gruppe faßt sie mit der agitato rischen Arbeit zusammen als »Wirksamkeit nach außen«. Nach und nach sollte in jeder Stadt eine ähn liche Organisation gebildet werden, natürlich ohne daß sich die einzelnen des fluchwürdigen Verbrechens schuldig machen, miteinander in Verbindung zu tre ten! Denn das Beispiel des Bundes deutscher Frauen vereine dürfte vor den gestrengen Blicken der Polizei auf uns keine Anwendung finden. Nach ausgiebiger Diskussion in der »Gleichheit« wurden die Vorschläge abgelehnt. Ein großer Teil dieser Arbeiten werde jetzt bereits durch die Gewerk schaften gelöst. Die soziale Gesetzgebung des In- und Auslandes aber lasse sich, soweit es für die Agitation nötig ist, im allgemeinen auch in dem »Archiv für so ziale Gesetzgebung und Statistik« und der »Sozialen Praxis« verfolgen. Die meisten der vorgeschlagenen praktischen Arbeiten seien hilfswissenschaftlicher Natur und hätten keineswegs sozialistische Überzeu-
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gung zur Voraussetzung, deshalb könne man die Er gebnisse der vielfach von bürgerlichen Sozialökono men geleisteten Arbeit verwenden und im Interesse unserer Bewegung ausnutzen. Wir ersparen damit Kräfte für unsere Hauptaufgaben. Wie nötig wir dieses Haushalten mit den Kräften hatten, zeigt ein Blick in die Versammlungstätigkeit von 1897, die von den Behörden wieder mit beson ders liebevoller Aufmerksamkeit beobachtet wurde. Versammlungsauflösungen, Verbote, Kampf mit Schwierigkeiten aller Art, die überwunden werden mußten, koste es was es wolle, das war das übliche. Bestärkt wurden die behördlichen Organe in dieser Tätigkeit durch den in jenen Frühlingstagen des Jah res 1897 veröffentlichten Regierungsentwurf zum preußischen Vereins- und Versammlungsrecht, den wir als den »Umsturz von oben« bezeichneten. Im Jahre vorher hatte der Reichskanzler Hohenlohe im Reichstag die Aufhebung des »Verbotes des Inverbin dungtretens politischer Vereine« feierlich zugesagt. Formell ist diese Zusage gehalten worden. Der Ent wurf brachte aber eine Reihe neuer Bestimmungen, die das Vereins- und Versammlungsleben vollständig dem Belieben der Polizei auslieferte. Die politische Rechtlosigkeit der Frauen blieb in vollem Umfange bestehen. Das alles forderte den energischen Protest des gesamten Proletariats, vor allem der Frauen, her-
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aus. Margarete Wengels, unsere damalige Vertrauens person, berief eine Reihe von Versammlungen ein, die eine einheitliche scharfe Kundgebung gegen den Ent wurf bedeuteten. Wir mußten aber noch lange warten, ehe den Frauen eine andere Stellung im Vereinsrecht eingeräumt wurde. Zur Teilnahme an dem in diesem Jahre in Hamburg stattfindenden Parteitag wurden die Genossin Greifen berg und ich von den Berliner Genossinnen delegiert. Ich zögerte zunächst, das Mandat anzunehmen, weil mein alter 85jähriger Vater im Krankenhause lag. Als er aber von meinen Bedenken hörte, erklärte er mit seiner alten Energie: »Wenn du nicht fährst, dann sterbe ich sofort! Ich werde schon noch munter sein, wenn du zurückkommst.« So nahm ich denn nach Verständigung mit der pflegenden Schwester das Mandat an. Eine Reihe äußerer Eindrücke aus Hamburg, zum Teil sehr trüber Art, sind mir aus diesen Tagen ge blieben. Was mir zunächst in die Augen fiel, war der Gegensatz zwischen den engen Gassen, in denen die arme Bevölkerung hausen mußte und wo dann später die Cholera so günstigen Boden fand, und der soliden Pracht Hamburger Patrizierhäuser. Traurig war der Eindruck in dem Teil Hamburgs, in dem die Prostitu tion sich breit machte. Wir gingen untergefaßt mitten durch die Gassen, an deren beiden Enden ein paar Po-
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lizisten Wache standen. Junge, ganz zarte Mädchen neben reifen, üppigen, teilweise auch vollkommen verwelkten Gestalten, fast unverhüllt werbend ihre Reize zeigend, sah man durch die weit offenen Fen ster in den Stuben, und man sah auch häufig genug durch die Schminke hindurch deutlich die Angst um die paar Mark Verdienst. Schön war eine Hafenrundfahrt auf rot beflaggten Schiffen, bei der wir den damaligen größten Wör manndampfer vom Stapel laufen sahen. Es war ein unvergeßlicher Eindruck, als die Keile weggezogen wurden und das Schiff langsam wie ein riesengroßer Schwan ins Wasser glitt. Wir haben dieses Schiff dann auch in seinem inneren Bau bewundern können. Gerade uns Binnenländern bot die Eigenart Hamburgs ja besonders viel. Auch an der geraden treuherzigen Art der Hamburger hate ich meine Freude. Ich lernte in diesen Tagen auch Luise Zietz persönlich kennen, mit der ich später lange Jahre gemeinsam arbeiten sollte. Die Verhandlungen des Parteitages brachten keine besonderen Frauenfragen, sie zeigten aber deutlich, daß wir in der ganzen Bewegung nicht mehr rein als Frauen, sondern vor allem als gleichberechtigte Ge nossinnen neben den Genossen standen, die an allen Fragen in gleicher Weise beteiligt sind. Die an den Parteitag sich gewöhnlich anschließen-
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de Agitationstour mußte ich absagen, weil mich nun doch der Ruf, zurückzukommen, erreichte. Zwei Wo chen später ist mein Vater dann an Altersschwäche gestorben. In einem gewissen stetigen Fortschreiten bewegte sich die Arbeit während der folgenden Jahre. Die in der Agitation tätigen Genossinnen hatten allmählich eine Art Übung erlangt, die gewöhnlichen Hindernisse, die ihnen dauernd durch Polizei und Behörden in den Weg gelegt wurden, zu überwinden. Daß wir nicht er müdeten, dafür sorgten neben unserem inneren Drang, für den Sozialismus zu arbeiten, immer aufs neue die sich besonders in den Vordergrund schiebenden Miß stände. So war es die Rechtlosigkeit der gewerblichen Ar beiterinnen, die unsere Reichstagsfraktion veranlaßte, in ihrem Antrage auf Einführung obligatorischer Ge werbegerichte auch für die Arbeiterinnen aktives und passives Wahlrecht zu verlangen. – In einem Abände rungsantrage für die Gewerbeordnung wird nicht nur für die männlichen, sondern auch für die weiblichen jugendlichen Arbeiter unter 18 Jahren der Besuch der Fortbildungsschule verlangt. Die mit größeren Kennt nissen ausgerüstete Arbeiterin ist zwar oft für den Ka pitalisten ein besseres Ausbeutungsobjekt, sie wird aber auch wehrhafter gegen die Ausbeutung. – Eine
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Umfrage der Regierung über die Kinderarbeit ergab mit den gleichzeitigen Erhebungen des Deutschen Lehrervereins ein wahrhaft erschreckendes Bild, das uns freilich bekannt genug war. Die Berliner Genos sinnen erhoben den Ruf: »Rettet die Kinder!« und be auftragten die Reichstagsfraktion, bei der nächsten ge eigneten Gelegenheit ein Reichsgesetz zu verlangen, das die Erwerbsarbeit schulpflichtiger Kinder verbie tet. So gering und mangelhaft die Schutzbestimmungen für Arbeiterinnen bisher auch waren, so fühlten die Arbeitgeber sich in ihrer Ausbeuterfreiheit doch be engt; sie ignorierten daher oft diese Bestimmungen zum Nachteil der Arbeiterinnen, denen selbst meist die Kenntnis ihres Rechts fehlte, deren Abhängigkeit sie aber auch behinderte, sich diese geringen Rechte zu erringen. Beschwerte sich einmal eine Arbeiterin bei der Gewerbeinspektion, so wurde die Person der Sünderin dem Arbeitgeber bald bekannt, und sie flog hinaus aus dem Betrieb, d.h. sie erhielt dann wohl überhaupt noch schwerlich Arbeit, denn sie wurde auf die schwarzen Listen der Arbeitgeber gesetzt. Zur Be seitigung dieser Übelstände beabsichtigten die in Par tei und Gewerkschaft tätigen Genossinnen im Einver nehmen mit der Berliner Gewerkschaftskommission eine Beschwerdekommission zu bilden. Um aber die ser erst neu zu wählenden Kommission selbst die nö-
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tigen Kenntnisse zu verschaffen, wurde der Genosse Stadthagen veranlaßt, vor den Genossinnen eine Reihe von Vorträgen über Arbeiterschutzgesetze und Arbeiterrecht zu halten. Acht Genossinnen wurden darauf gewählt, die mit Hilfe eines sorgfältig ausgear beiteten Fragebogens Beschwerden über Mißstände in den Betrieben entgegenzunehmen und sie der Gewer beinspektion zu übermitteln hatten. Die Gewerk schaftskommission übernahm für die Kommissions mitglieder die Beschaffung der Gewerbeordnung und anderer für dieses Amt nötigen Bücher und Drucksa chen. Diese Einrichtung wurde in einem Flugblatt, das bei der Maifeier verbreitet wurde, bekanntgege ben. Es galt hierbei aber auch die Kenntnis der beste henden Schutzbestimmungen zu verbreiten. Geklagt wurde vor allem über mangelhafte sanitäre Einrichtungen, fehlende Sicherheitsvorrichtungen, gänzlich unzureichende Wasch- und Ankleideräume und ähnliches. Diese Beschwerden wurden dann, na türlich ohne Nennung des Beschwerdeführers, von den gewählten Vertrauenspersonen der Gewerbein spektion eingereicht. Untersuchungen wurden zuge sagt, eine Auskunft über die Revision durfte uns aller dings von den Gewerbeinspektoren nicht gegeben werden, das ging »über ihre Befugnisse«. Wir mußten uns also diese Auskunft auf andere Weise zu ver schaffen suchen. Jeden Mittwochabend von 7 bis 9
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Uhr hielten wir in unseren Wohnungen Sprechstunde ab. Die Arbeiterinnenbewegung hatte naturgemäß ihre Hauptstützpunkte in den großen Städten. Jetzt wurden auch bei den Provinzialparteitagen, auf denen hier und da schon eine weibliche Delegierte auftauchte, Anträge auf Förderung der Frauenagitation gestellt und verlangt, daß in jedem Kreis im Jahr mindestens zwei Frauenversammlungen veranstaltet werden soll ten. Eine besondere Aktion wurde gegen die unerhörte Art des Vorgehens der Berliner Sittenpolizei eingelei tet, die anständige Mädchen und Frauen, die spät abends zum Teil von der Arbeit, zum Teil aus Ver sammlungen nach Hause gingen, aufgriff und sie den empörendsten Untersuchungen aussetzte. Die Polizei stützte sich dabei auf den § 361 des Strafgesetzbuchs, der sich auf die Registrierung und Organisierung der Prostitution bezieht. Versammlungen wurden einberu fen, die einen ungeheuren Zulauf hatten, und Protest resolutionen an die zuständigen Stellen geschickt. Mit einer besonderen Petition wurde dieser Protest dem Preußischen Landtag eingereicht, der für die Berliner Polizei zuständig war. Es wurde darin für die Minde rung der Schutzlosigkeit des weiblichen Geschlechts eingetreten und die Ausübung der Polizeibefugnisse durch städtische Selbstverwaltungskörper unter Zu-
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ziehung von Frauen verlangt, außerdem die Beseiti gung des Spitzelwesens. Daß der Preußische Landtag über diesen Antrag glatt zur Tagesordnung überging, kann bei seiner damaligen Zusammensetzung kaum groß wundernehmen. Der Parteitag in Hannover 1899 hatte in seinen Be schlüssen Anregungen für die Frauenagitation gege ben, die zwar keine neuen Gesichtspunkte brachten, die aber für die Belebung der Arbeit sehr bedeutungs voll waren. Erinnert wurde zunächst an einen früheren Parteitagsbeschluß, daß überall dort, wo es für eine planmäßige Agitation unter den Frauen nötig er scheint, weibliche Vertrauenspersonen der Genossin nen gewählt werden sollten. Für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz wurde eine Reihe von Forderungen aufgestellt, die in der Winteragitation besonders im Vordergrunde stehen sollten und die sich eng an die auf dem internationa len Kongreß in Zürich aufgestellten Forderungen an lehnten. Eine wichtige Forderung, die schon während der letzten Jahre dauernd im Vordergrund der Agitati on gestanden hatte, war die nach Anstellung weibli cher Fabrikinspektoren. Darüber hinaus wurde ver langt die Sicherung völliger Koalitionsfreiheit für die Arbeiterinnen, sowie aktives und passives Wahlrecht zu den Gewerbegerichten. An den Parteivorstand wurde das Ersuchen gerich-
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tet, für die baldige Herausgabe einer kurzen, mög lichst billigen Broschüre zu sorgen, die sich beson ders zur Agitation unter den Frauen eignet. Im we sentlichen sollte sie, unter Hinweis auf die Zuchthaus vorlage, die Frauen über die ihnen drohende Beein trächtigung ihrer schon so geringen Rechte aufklären und sie auffordern, nicht nur kräftig dagegen zu prote stieren, sondern auch mit allem Nachdruck für die Er weiterung des Vereins- und Versammlungsrechts ein zutreten. Der Kampf für dieses Ziel lag im Interesse des gesamten Proletariats. Durch diesen Antrag der Genossinnen wurde der Agitation für die nächste Zeit ein einheitliches, bestimmtes Ziel gesetzt. Nachdem am 15. November 1899 Margarete Wen gels ihren Jahresbericht erstattet hatte, übertrugen mir die Genossinnen einstimmig das Amt der Vertrauens person.
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Zehntes Kapitel
Um die Jahrhundertwende »Unser Alter« Wollten wir die Aufgaben, vor die uns der Parteitag in Hannover gestellt hatte, vor allem die Agitation für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, wirksam aus führen, so mußten wir trotz der vereinsgesetzlichen Beschränkungen zu einem gut vorbereiteten, einheitli chen Handeln kommen, bei dem die vorhandenen gei stigen und materiellen Kräfte mit möglichstem Nutzen verwendet werden konnten. Wir hatten bisher in den meisten Orten keine Organisation, die Trägerin dieser Agitation hätte sein können. Die Arbeiterinnenverei ne, die in einigen Städten existierten, durften sich nir gends erkühnen, für den gesetzlichen Arbeiterinnen schutz zu agitieren, wollten sie nicht wegen Beschäf tigung mit den verpönten »politischen Angelegenhei ten« der Auflösung verfallen. Die Genossinnen waren also im allgemeinen auf die Tätigkeit ihrer Vertrau enspersonen angewiesen. Diese hatten sich die tat kräftige und fördernde Sympathie der politisch und gewerkschaftlich organisierten Genossen zu sichern. Wo die Wahl einer weiblichen Vertrauensperson bis her noch nicht möglich war, wurden die Genossen ge beten, die Agitation selbst in die Wege zu leiten. Eine
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große Anzahl von Versammlungen wurde in allen Teilen des Reiches abgehalten und der außerordent lich zahlreiche Besuch bewies, wie stark das Interesse für diese Forderungen in der Arbeiterschaft war. Die im Juni 1900 angenommene Novelle zur Gewerbeord nung brachte von allen Forderungen, die für einen verbesserten Arbeiterinnenschutz erhoben wurden, so gut wie nichts. Es mußte also weiter in dieser Rich tung gearbeitet werden. Vor allem wurden die Erhe bungen über die einzelnen Arbeitsarten fortgesetzt und dauernd in der »Gleichheit« veröffentlicht. Für Preußen war nun endlich, nachdem andere Län der, auch deutsche Einzelstaaten, seit langem damit vorangegangen waren, die Anstellung zweier Assi stentinnen bei der Gewerbeinspektion beschlossen worden. Damit sich die Regierung aber noch ein Hin tertürchen offen behielt, sollte diese Anstellung zu nächst nur versuchsweise erfolgen. Die von den Berli ner Genossinnen eingesetzte sogenannte Beschwerde kommission nahm das zum Anlaß, in einer Eingabe an die Regierung auf diesen Beschluß hinzuweisen und zu sagen: »Da es für die Arbeiterinnen von größter Wichtig keit ist, daß die Assistentin aus den Reihen der ge werblich Tätigen hervorgeht, und die Mitglieder der Beschwerdekommission über die Kenntnisse verfü gen, welche für dieses Amt erforderlich sind, so ersu-
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chen wir, bei der Besetzung des betreffenden Amtes eine Frau aus der Kommission zu wählen. Wir sind gern bereit, geeignete Vorschläge zu machen.« Die echt »preußisch« ausgefallene Antwort erfolgte sehr bald, »daß die im Staatshaushaltsetat für 1900 vorgesehene Stellen für weibliche Hilfskräfte des Ge werbeaufsichtsdienstes bereits vergeben sind«. Daß diese Beschwerdekommission den behördli chen Stellen keine sehr angenehme Einrichtung war, darauf wies Emma Ihrer in ihrem gleichzeitigen Jah resbericht hin. Sie sagte dort: »Bekanntlich hat es die Fabrikinspektion abge lehnt, eine geregelte Verbindung mit den Vertrauens personen der Arbeiterinnen zu unterhalten und ihnen Auskunft darüber zu geben, ob die übermittelten Be schwerden als begründet befunden wurden und wel che Folge ihnen seitens der zuständigen Behörden zum Zwecke der Abhilfe gegeben worden war.« 33 Fälle wurden in dem Jahre der Kommission ge meldet, geprüft und dem Gewerkschaftsbüro überwie sen. Ich kann von diesem Jahr, das für die Arbeiterin nenbewegung und auch für mich selbst ein so bedeu tendes war, nicht sprechen, ohne »unseres Alten«, Wilhelm Liebknechts, zu gedenken, dieses herrlichen, guten Menschen, den ein schneller Tod im August 1900 von uns nahm. Ihm und seiner Familie bin ich
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gerade in den letzten Monaten noch nahegetreten. Ich stand damals schon recht allein und habe häufig den Sonntag mit Liebknechts verbracht. Da wurde dann ein großer Pompadour mit Stullen gepackt und nach dem Grunewald gewandert. Liebknecht verstand ebenso herzlich gemütlich zu plaudern, wie anregend zu erzählen. Auch in Frauenveranstaltungen hat Lieb knecht oft gesprochen. Wenn er es irgend machen konnte, ließ er uns sicher nicht umsonst bitten. Zu sei nem 70. Geburtstag hatten ihm die Berliner Genossen und Genossinnen eine schöne Feier bereitet. Mir hat Liebknecht zuletzt noch eine besondere Freude gemacht. In Paris war in dem Sommer die große Weltausstellung und im September, nach unse rem Parteitag, sollte dort ein internationaler Soziali sten- und Gewerkschaftskongreß stattfinden. Auf mei nen Aufruf in der »Gleichheit« waren die Genossin nen Zetkin, Ihrer, Zietz und Luxemburg zur Teilnah me delegiert worden. Zur Weltausstellung hatte die Stadt Berlin auf ihre Kosten einige Handwerker und Arbeiter nach Paris entsandt, jedoch keine Sozialde mokraten. Wilhelm Liebknecht bekam nun von einem reichen Parteifreund Geld für drei Personen, ganz gleich ob Mann oder Frau, zum Besuch der Weltaus stellung; er bedachte zu meiner großen Freude darun ter auch mich. Als ich dann, wie verabredet, das Geld mir von Paul Singer abholen wollte, fand ich ihn ganz
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verstört. Auf meine Frage, was denn passiert sei, sagte er: »Unser Alter ist tot!« Ich ging gleich in die Wohnung und fand ihn noch wie lebend, nur ruhig eingeschlafen. Am Abend vorher war er sehr angeregt und lebhaft nach Hause gekommen, hatte seiner Frau von mancherlei Arbeitsplänen, von Aufträgen der Reichstagsfraktion, die ihm Freude machten und von denen er sich viel versprach, erzählt. Mit dieser Freu de im Herzen ist er ganz kurze Zeit nachher gestor ben. Einigen seiner Kinder fiel auf ihrer Ferientour plötzlich ein Zeitungsblatt in die Hände mit der Nach richt: Wilhelm Liebknecht ist gestorben! Da sie tags zuvor noch Nachricht von daheim hatten, wollten sie es nicht glauben. Auch uns allen fiel es schwer, daran zu glauben. Mir war die Freude auf meine Reise nach Paris weg und ich wollte das Geld zurückweisen, aber Singer sagte: nun erst gerade müßte ich es nehmen; die Freu de, die der Alte mir damit hätte machen wollen, dürfte ich ihm und mir nicht verderben. Und der Gedanke an »unseren Alten« hat mich denn auch auf meiner gan zen schönen Reise, später im Herbst, nicht verlassen. Vorher aber galt es, alle Gedanken für die Vorbe reitung zu unserer ersten sozialdemokratischen Frau entagung zusammenzuhalten.
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Elftes Kapitel
Die erste sozialdemokratische Frauenkonferenz in Mainz Trotz der eifrigen Agitationsarbeit der Genossinnen entsprach der Erfolg in vieler Hinsicht nicht der auf gewendeten Kraft und Mühe. Die Versammlungen waren oft überfüllt – und man ging wieder auseinan der. Die Sonderpflichten der Frau in der Familie, Kin dererziehung und Erwerbsarbeit, der sehr lange Ar beitstag – elf Stunden und darüber – erklären vieles. Aber es mußten doch Mittel und Wege gefunden wer den, um die Agitation zu einer dauernd fruchtbringen den zu gestalten. Eine größere Einheitlichkeit und Planmäßigkeit sowohl als eine engere Verbindung zwischen den Genossinnen der einzelnen Orte und Bezirke, wie auch mit der Vertrauensperson in Berlin, aber auch mit der allgemeinen Parteibewegung mußte erstrebt werden. Zu diesem Zweck hielten die Berliner Genossinnen gelegentlich der Anwesenheit der Genossin Zetkin mit dieser eine Besprechung ab, deren Ergebnis der Plan war, vor dem Mainzer Parteitag im September eine Konferenz der Genossinnen Deutschlands im größe ren Rahmen zu veranstalten.
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Dieser Plan wurde in der »Gleichheit« zur Diskus sion gestellt und fand überall Zustimmung. Von der für die Vorarbeiten eingesetzten Kommission wurde dann als Termin für diese erste sozialdemokratische Frauenkonferenz der 15. September 1900 – also un mittelbar vor dem Parteitag – festgesetzt, damit etwai ge Beschlüsse dem Parteitag noch als Anträge vorge legt werden konnten. Ich hatte dann, als Vertrauens person der Genossinnen Deutschlands, die Konferenz einzuberufen und zur Stellung von Anträgen aufzufor dern. Es liefen denn auch eine ganze Reihe von Anträ gen zu den verschiedenen Punkten der Tagesordnung ein. Delegiert waren 16 Genossinnen und 4 Genossen. Außerdem nahmen etwa 12 Genossen, auch aus dem Auslande, an den Beratungen teil. Die hessische Re gierung hatte die Assistentin der Fabrikinspektion in Mainz, ein Fräulein Schumann, zur Teilnahme be auftragt. In drei erfolgreich und gut verlaufenen Sitzungen erledigte die Konferenz ihre Tagesordnung. Diese war in der folgenden, von der vorbereiteten kleinen Kom mission vorgeschlagenen Fassung angenommen wor den: 1. Der Ausbau des Systems der Vertrauenspersonen. 2. a) Die Agitation unter dem weiblichen Proletariat.
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b) Die Agitation für den gesetzlichen Arbeiterin nenschutz. 3. Bildungsvereine für Frauen und Mädchen. 4. Allgemeines. Das Ergebnis ist in einer Reihe von Beschlüssen und Resolutionen festgelegt, die wichtig genug sind, im Wortlaut festgehalten zu werden. Zu dem ersten Punkt der Tagesordnung wurden für die örtlichen, die Kreis vertrauenspersonen sowie für die Zentralvertrauens person der Genossinnen Deutschlands die folgenden Regulative beschlossen, die ganz klar ihre Pflichten und ihre Befugnisse festlegen: 1. Für die örtlichen Vertrauenspersonen: § 1. In jeder größeren Stadt haben die Genossinnen nach voraufgegangener Besprechung mit den Genos sen eine weibliche Vertreterin zu wählen, welche am Ort die Agitation und die Heranziehung des weibli chen Proletariats zur modernen Arbeiterbewegung planmäßig betreibt. § 2. Die Wahl muß in öffentlicher Frauenversamm lung stattfinden. Die Vertrauenspersonen werden auf die Dauer eines Jahres gewählt und sind wieder wähl bar. § 3. Die Vertrauenspersonen der einzelnen Orte eines Bezirks haben miteinander, mit der Vertrauens-
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person des Hauptortes und der Vertrauensperson für ganz Deutschland stets Fühlung zu halten und jähr lich mindestens einmal zu einer gemeinsamen Bespre chung zusammenzutreten. § 4. Des weiteren haben sie dafür zu sorgen, daß die Forderungen der proletarischen Frauen und Mäd chen auf allen Gebieten des sozialen Lebens mit Nachdruck vertreten werden. Sie müssen darauf hin wirken, daß das weibliche Proletariat an allen Kämp fen und Aufgaben seiner Klasse teilnimmt, und daß den Interessen und Bestrebungen der Proletarierinnen moralische und materielle Unterstützung seitens der organisierten Arbeiterschaft zuteil wird. Das soll erreicht werden, indem die Vertrauensperso nen a) Versammlungen veranstalten, in denen allgemein wirtschaftliche und politische Fragen behandelt werden. Versammlungen, in denen die proletari schen Frauen vom Standpunkt ihrer Interessen aus Stellung zu den auftauchenden Tagesfragen sowie zu allen Kämpfen der Arbeiterklasse nehmen; Ver sammlungen, die dem Kampf für die Forderungen dienen, welche die Proletarierinnen stellen in ihrer Eigenschaft als Glieder der ausgebeuteten und un terdrückten Arbeiterklasse und als Angehörige des sozial unfreien weiblichen Geschlechts;
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b) für die Herausgabe und Verbreitung zweckentspre chender, leichtfaßlicher Broschüren und Flugblätter sorgen; c) darauf hinwirken, daß die lokale Arbeiterpresse die Aufklärung des weiblichen Proletariats mit dem ge bührenden Nachdruck fördert und mit aller Energie für seine Interessen sowie für die Bestrebungen der Genossinnen eintritt; d) Anknüpfungspunkte suchen für die Agitation und Organisation unter den Massen der Industriearbei terinnen durch solche Mittel und Wege, welche nach den lokalen Umständen als praktisch erschei nen; e) Material über die Lage der Arbeiterinnen sammeln; f) für die Aufbringung materieller Mittel sorgen, wel che für vorstehende Zwecke verwendet werden. 2. Für die Kreisvertrauenspersonen: Die Kreisvertrauensperson muß alle Jahre einen Si tuations- und Tätigkeitsbericht für den ganzen Kreis einsenden. Die Vertrauensperson des Hauptortes eines Bezirks hat die Beziehungen zwischend den Vertrauensperso nen der einzelnen Orte in die Wege zu leiten und eventuell zu vermitteln, sowie eine stete Verbindung mit der Vertrauensperson der Genossinnen für ganz Deutschland zu unterhalten. Letzterer muß sie alle
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sechs Monate einen Situations- und Tätigkeitsbericht für den ganzen Bezirk einsenden, der in der »Gleich heit« veröffentlicht wird. 3. Für die Zentralvertrauensperson: § 1. Der Sitz der Zentralvertrauensperson ist Ber lin. Die Wahl derselben findet auf der Konferenz statt. Die Berliner Genossinnen wählen eine Revisions kommission, bestehend aus drei Genossinnen. Vierteljährlich muß ein Revisionsbericht in der »Gleichheit« veröffentlicht werden. § 2. Die Zentralvertrauensperson hat dafür zu sor gen, daß die auf der Konferenz gefaßten Beschlüsse zur Ausführung kommen. Sie hat im Sinne der oben angeführten Gesichts punkte dafür zu wirken, daß die Agitation in ganz Deutschland einheitlich und kräftig betrieben wird. Ihr liegt es ob, durch Wort und Schrift eine syste matische Agitations- und Organisationsarbeit der Ge nossinnen in Orten und Gegenden anzubahnen und zu sichern, wo bisher die proletarischen Frauen und Mädchen dem Kampf für die Befreiung ihrer Klasse und ihres Geschlechtes verständnislos gegenüberstan den. Sie hat des weiteren für die Einheitlichkeit der Aktionen zu sorgen, durch welche die Genossinnen im ganzen Reiche den Kampf für diejenigen ihrer For-
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derungen führen, welche jeweilig in den Vordergrund geschoben werden. Ein Hauptaugenmerk hat sie der Herausgabe geeig neter Flugblätter zuzuwenden, die der allgemeinen Agitation oder der Aufklärung über besondere Forde rungen und Fragen dienen. Was Inhalt, Fassung und Ausgestaltung der Flugblätter anbetrifft, so hat sie tunlichst die Anforderungen und Wünsche zu berück sichtigen, welche von den Vertrauensleuten im Lande geäußert werden. Die Vertrauensperson der Genossinnen in ganz Deutschland hat auf Grund der ihr zugehenden Ein zelberichte jährlich einen Gesamtbericht auszuarbei ten, welcher in der »Gleichheit« veröffentlicht und in den Tätigkeitsbericht des Vorstandes der Sozialdemo kratischen Partei aufgenommen wird. § 3. Publikationsorgan ist die »Gleichheit«. Diesel be wird den Vertrauenspersonen gratis zur Verfügung gestellt. § 4. Das beschlossene Regulativ ist in Druck zu geben und allen Vertrauenspersonen zur besseren Ori entierung zu übersenden. Die Stellungnahme der Frauenkonferenz zu den weiteren Punkten der Tagesordnung ist in den folgen den Beschlüssen gekennzeichnet: 1. Zur Agitation unter den Arbeiterinnen sind, wie es schon der Parteitag zu Gotha beschlossen, in be-
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stimmten Zwischenräumen kurze, populär gehaltene Flugblätter herauszugeben, welche in knapper, kräfti ger Darstellung einzelne Seiten der Arbeiterinnenin teressen und der Frauenfrage behandeln (Lohnfrage, Arbeitszeit, Überstundenarbeit, sanitäre Bedingun gen, gesetzlicher Schutz, Gewerkschaftsorganisation, Gewerbegerichte, Krankenversicherung usw.). Diese Flugblätter sollen die Form kleiner Broschüren erhal ten, auf gutem Papier gedruckt und geschmackvoll ausgestattet werden. Mit ihrer Herausgabe wird eine Kommission betraut, die aus 5 Gliedern besteht und die von den Berliner Genossinnen gewählt wird. 2. Der Parteitag möge aussprechen, daß den Lei tern der Arbeiterblätter aufgegeben wird, mehr wie bisher in den Ausführungen auf die Interessen der Ar beiterinnen Rücksicht zu nehmen, wie es von einigen Blättern bereits geschieht. 3. Als Mindestmaß an gesetzlichem Schutz für die proletarische Frau als Mutter ist zu fordern: Aufrecht erhaltung der bereits gesetzlich festgelegten Schutzzeit für erwerbstätige Schwangere und Wöchnerinnen von 4 Wochen vor und 6 Wochen nach der Geburt; Beseitigung der Ausnahmebewilligungen zu früherer Wiederaufnahme der Arbeit auf Grund eines ärztli chen Zeugnisses; Erhöhung des Krankengeldes auf die volle Höhe des durchschnittlichen Tagelohnes; obligatorische Ausdehnung der Krankenunterstützung
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der Wöchnerinnen auf die Frauen der Mitglieder. 4. Die Konferenz spricht ihre Sympathie aus für die Gründung von Frauenbildungsvereinen an solchen Orten, wo die Kräfte für die Leitung vorhanden sind. Wenn solche Vereine durch Belehrung erreichen, daß die Hausfrauen besser aufgeklärte Kindererzieherin nen werden, wenn sie das Solidaritätsgefühl der Frau en wecken, so haben sie ihre Aufgabe voll erfüllt. 5. Die ebenso notwendige als schwierige gewerk schaftliche Organisation der Arbeiterinnen ist mit allem Nachdruck zu fördern. In Verbindung mit der Generalkommission und den Gewerkschaften haben die Genossinnen nach praktischen Mitteln und Wegen zu suchen, um die weiblichen Mitglieder der Gewerk schaften zu regerer Mitarbeit innerhalb der Organisa tion, insbesondere aber zur Leistung der erforderli chen, so hochbedeutsamen Kleinarbeit heranzuziehen. 6. In Erwägung, daß in Anhalt, Bayern, Braun schweig, Lippe, Preußen und den beiden Reuß nach den Bestimmungen der Vereinsgesetze den Frauen die Teilnahme an den politischen Vereinen untersagt ist und deshalb die Frauen in diesen Bundesstaaten von der Teilnahme an der politischen Tätigkeit ausge schlossen sind, sofern sich diese, nach Aufhebung der bisherigen Parteiorganisationen auf Grund des Sy stems der Vertrauenspersonen, auf die politischen Vereine allein erstreckt, beschließt der Parteitag: 1. in
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den Bundesstaaten, in welchen den Frauen die Teil nahme an den politischen Vereinen verboten ist, die bisherige Organisation der Vertrauenspersonen auf rechtzuerhalten; 2. die sozialdemokratische Reichs tagsfraktion zu beauftragen, energisch und forgesetzt dahin zu wirken, daß die der gegenwärtigen Entwick lung des politischen und wirtschaftlichen Lebens nicht mehr entsprechenden, die Frauen rechtlos ma chenden Bestimmungen dieser Vereinsgesetze durch Reichsgesetz aufgehoben werden. 7. Die Vertrauenspersonen der Genossinnen sind überall, wo die Vereinsgesetze dem nicht entgegenste hen, von den Organen der allgemeinen Bewegung zu allen Arbeiten und Sitzungen als gleichberechtigte Mitarbeiterinnen heranzuziehen. 8. Die Wahl der Delegierten zum Parteitag hat in öffentlichen Versammlungen überall dort stattzufin den, wo die Vereinsgesetze dies nicht hindern. Die unter 2, 6, 7 und 8 aufgeführten Resolutionen und Beschlüsse wurden dem Parteitag als Anträge der Frauenkonferenz eingereicht. Von diesen wurde die das System der Vertrauenspersonen und die Beseiti gung des Vereinsunrechts gegen die Frauen betreffen de Resolution einstimmig angenommen. Der andere Antrag: die Vertrauenspersonen der Ge nossinnen überall, wo das Vereinsgesetz nicht hin dernd im Wege steht, als Gleichberechtigte zu den in-
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ternen Beratungen und Arbeiten der Gesamtpartei her anzuziehen, wurde abgelehnt, weil durch die zwingen de Macht der tatsächlichen Verhältnisse dies bereits verwirklicht ist dort, wo Genossinnen und Genossen in richtiger Fühlung miteinander arbeiten. Zum Schluß ihrer Tagung hatten die Frauen die Wahl der Zentralvertrauensperson der Genossinnen Deutschlands vorzunehmen. Einstimmig wurde mir dieses Amt übertragen. Die Fülle der Aufgaben ließ es fast vermessen er scheinen, diesen wichtigen Posten zu übernehmen, denn die Agitations- und Organisationsarbeit mußte neben der recht anstrengenden Erwerbsarbeit geleistet werden, allein die Liebe zur Sache und das Verspre chen der Genossin Zetkin, mir hilfreich zur Seite zu stehen, sowie die Zuversicht, daß die Berliner Genos sinnen meine getreuen Mitarbeiterinnen sein würden, gab mir den Mut, das Amt zu übernehmen. Nun hieß es, an die Arbeit herangehen.
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Zwölftes Kapitel
Und wieder vor neuen Aufgaben Ein Aufruf, den ich in der »Gleichheit« erließ, leitete die Arbeit ein. Ich mußte, um den festen organisatori schen Halt zu gewinnen, der für eine einheitliche, planmäßige Regelung der Agitation notwendig war, mit den Frauen im ganzen Reich, die in unserem Sinne arbeiteten, in Verbindung stehen, in diesem Netz von Vertrauenspersonen der proletarischen Frau en mußte sich Masche an Masche knüpfen und alle Fäden mußten in meine Hand laufen. Die erste Aufgabe bestand darin, die Wahl weibli cher Vertrauenspersonen zu veranlassen. An alle Orte, aus denen mir Adressen von Genossinnen oder Ge nossen bekannt waren, sandte ich das inzwischen ge druckte Regulativ mit einem Anschreiben. Bereits Ende Januar 1901 waren daraufhin in 25 Orten weib liche Vertrauenspersonen gewählt worden. Nach dem ersten Vierteljahr konnte berichtet werden, daß zur Einleitung der Agitation für den gesetzlichen Arbei terinnenschutz außer unseren Forderungen von der in zwischen gewählten Flugblattkommission ein allge mein verständliches, den Arbeiterinnenschutz behan delndes Flugblatt ausgearbeitet und in einer Auflage
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von Tausenden von Exemplaren verbreitet worden war. Die Forderungen, die wir bei unserer Agitation immer wieder in den Vordergrund stellten, waren die folgenden: 1. Absolutes Verbot der Nachtarbeit für Arbeiterin nen. 2. Verbot der Verwendung von Arbeiterinnen bei allen Beschäftigungsarten, welche dem weiblichen Organismus besonders schädlich sind. 3. Einführung des gesetzlichen Achtstundentags für Arbeiterinnen. 4. Freigabe des Sonnabendnachmittag für Arbeiterin nen. 5. Aufrechterhaltung der gesetzlich festgelegten Schutzzeit für erwerbstätige Schwangere und Wöchnerinnen vier Wochen vor und sechs Wochen nach der Niederkunft. Beseitigung der Ausnahme bewilligungen zu früherer Wiederaufnahme der Ar beit auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses. Erhö hung des Krankengeldes für Schwangere bzw. Wöchnerinnen auf die volle Höhe des durchschnitt lichen Tagelohnes. Obligatorische Ausdehnung der Krankenunterstützung der Wöchnerinnen auf die Frauen der Krankenkassenmitglieder. 6. Ausdehnung der gesetzlichen Schutzbestimmungen auf die Hausindustrie.
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7. Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren. 8. Sicherung völliger Koalitionsfreiheit für die Arbei terinnen. 9. Aktives und passives Wahlrecht der Arbeiterinnen zu den Gewerbegerichten. In der Resolution, mit der die Forderungen veröffent licht wurden, ist jede einzelne ausführlich begründet worden. Mehr als 150 Briefe, teils Antworten auf Anfragen, teils Anregungen für die Agitation zugunsten des Ar beiterinnenschutzes, wurden versandt. In Form einer Petition wurden unsere Forderungen auch zur Kennt nis der bürgerlichen Parteien des Reichstags gebracht. Wo die Frauen noch nicht zur Mitarbeit imstande waren, da suchten die Genossen das Interesse für den Arbeiterinnenschutz zu wecken und führten eine leb hafte Agitation zur Aufklärung der Frauen. Neben vielen Einzelversammlungen, in denen Frauen spra chen, haben Agitationstouren stattgefunden, so in Sachsen, in den Hamburger Kreisen, im Vogtland, auch im Thüringer Wald, in den elenden Zentren der Spielwaren-, Glasperlen- und Griffelindustrie und unter den armen schlesischen Arbeiterinnen wurde das Werk der Aufklärung betrieben. Erhöhte Aufmerk samkeit wurde der Mitarbeit der Frauen in den Ge werkschaften zugewendet. Eine bedeutende Anzahl neuer Mitglieder konnte durch Frauenvorträge den
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Gewerkschaften zugeführt werden. Auch an Fabrikund Werkstattsitzungen nahmen die Genossinnen teil, um die weiblichen Arbeiter für die Organisation zu gewinnen. Neben dieser uns durch den Parteitag gestellten Aufgabe waren es wirtschaftliche Nöte, die die Frauen auf den Plan riefen. Die Kohlennot, die Wohnungsfra ge, später der Milchwucher brachten in den Winter monaten Tausende von Arbeiterfrauen in die schwer ste Bedrängnis. Dazu kam die Erhöhung der Getreide zölle sowie der Zölle auf alle übrigen landwirtschaft lichen Erzeugnisse, die eine ungeheure Preissteige rung auf alle Lebensmittel mit sich bringen mußte. Das bedeutete Hunger und Entbehrung für die breiten Massen des arbeitenden Volkes; die Reichstagsfrak tion forderte daher zu energischer Protestaktion gegen dieses Treiben der Junker auf. Auch wir mußten mit allen Kräften in die Agitation hinein, um den Frauen die Augen über die Ursachen ihrer wirtschaftlichen Notlage zu öffnen. Auf dem nächsten Parteitag in Lübeck beantragten wir die Herausgabe eines besonders für die Frauen ge eigneten Flugblatts, das in leichtfaßlicher Darstellung über den Zollwucher und seine gemeingefährlichen Folgen belehrt. Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit angenommen. Lebhafte Anteilnahme in der gesamten deutschen
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Arbeiterschaft erweckte 1901 ein Lohnkampf der Weber und Weberinnen im Cunewalder Tal in der Sächsischen Oberlausitz. Hier herrschten fast mittel alterliche Zustände. Geduldig, ohne Murren trugen sie ihr Hungerleben, bis die Abzüge, um die die Fabri kanten die bettelhaften Löhne noch kürzen wollten, auch diese Lohnsklaven zum Widerstand aufstachel ten. 580 Arbeiter waren von den Unternehmern in den Streik getrieben worden, darunter 450 Frauen und Mädchen. Die Arbeiter warteten in Schnee und Regen des Morgens vor 6 Uhr auf dem Fabrikhof auf die Entscheidung. »Wenn ihr zu den neuen Löhnen arbeiten wollt, so schließe ich auf und lasse Dampf«, lautete die Erklä rung des Fabrikanten. »Für die paar Pfennige arbeiten wir nicht mehr«, klang ruhig und bestimmt die Antwort der Weber und Weberinnen. In der ersten Versammlung erschienen viele Arbei terinnen mit dem Gesangbuch in der Hand. Die Strei kenden waren bis dahin ohne Fühlung mit der Arbei terbewegung gewesen. Nun aber wendeten sie sich an die organisierten Arbeitsbrüder in Dresden. Entsetzt rief darob der Amtsblattredakteur von Cunewalde: »Man hat dem Sozialismus Tor und Tür geöffnet.« Amtshauptmann und Gewerbeinspektor suchten zu vermitteln, doch die Unternehmer in ihrem Protzen-
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hochmut wiesen den Beamten die Tür. Die kleinen Geschäftsleute des Cunewalder Tales litten schwer, manch eine Existenz ging zugrunde. Die Kreishaupt mannschaft von Bautzen, die Handelskammer von Zittau, hohe Geistliche, die adligen Rittergutsbesitzer der Gegend, die Fabrikanten der übrigen Lausitz, die unter der Cunewalder Schmutzkonkurrenz litten, be mühten sich, die Fabrikanten zu einem Friedens schluß zu bewegen, den die Arbeiter annehmen konn ten. Alles erfolglos. Die Solidarität der Arbeiterklasse hat im Bunde mit der bewundernswürdigen Haltung der Streikenden die Hoffnung der Unternehmer zu schanden gemacht. Die Kriegsmunition ging anfangs spärlich ein. So konnte in den ersten zwei Wochen für die Person nur 1,50 Mark Unterstützung gezahlt wer den, nach weiteren zehn Tagen 2,50 Mark, dann 3,50 Mark. Als am Himmelfahrtstage 4,50 Mark ausge zahlt werden konnten, schoben manche die 50 Pfg. zurück, weil sie meinten, es sei zuviel. Später konnten dann 5, – und 6, – Mark ausgezahlt werden und für jedes Kind 50 Pfg. Es fanden sich keine Streikbre cher. 19 Wochen dauerte der Kampf, der für die Ar beiter mit einem ganzen Siege endete. Allerdings hat ten sich während der Dauer des Streiks die Reihen der Kämpfenden gelichtet, weil viele den Ort verlassen hatten, um entweder in der Landwirtschaft oder an derswo Beschäftigung zu finden.
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Neben dem materiellen Siege der Arbeiterschaft war der moralische von größter Bedeutung, er hat sie in lebendigen Zusammenhang mit der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung gebracht. Aber er hat auch gezeigt, daß das Weib wohl imstande ist, auszu harren und das größte Elend zu ertragen, wenn es um einen gerechten Kampf geht. Auch auf anderen Gebieten zeigten sich jetzt für die Frauen Erfolge. Zur Armen- und Waisenpflege sollten Frauen herangezogen werden. Rixdorf wollte mit der Anstellung von Waisenpflegerinnen einen An fang machen, auch unbesoldete Kommunalämter soll ten Frauen übertragen werden. Der deutsche Städtetag sprach sich in seiner Tagung dafür aus, und Stadtrat Münsterberg erklärte die Tätigkeit der Frauen auf die sem Gebiete nicht nur für notwendig, sondern für un ersetzlich. Daß das noch nicht bedeutete, daß auch Arbeiterfrauen hier herangezogen werden sollten, lag auf der Hand. Die Berliner Genossinnen entfalteten aber eine lebhafte Agitation für die Kommunalwah len. In einer Versammlung sprach Genosse Bebel über das Interesse der Frauen an den Gemeindewah len.
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Dreizehntes Kapitel
Heranbildung von Agitatorinnen
Der Streik in Crimmitschau
Nach zwei Jahren eifriger Arbeit machte sich eine neue Frauenkonferenz notwendig, die wir wieder vor dem Parteitag, der im September 1902 in München stattfand, einberiefen. Hatten wir in Mainz nur erst ganz vereinzelt weibliche Vertrauenspersonen, so waren es jetzt schon mehr als fünfzig. Bedeutsam war es, daß die Frauen sich seitdem in den deutschen Staaten, wo die Vereinsgesetze das zuließen, auch po litisch organisiert hatten. So hatten die Wahlvereine in den drei Hamburger Wahlkreisen die stattliche Zahl von über 900 weiblichen Mitgliedern. In zwei sächsischen Wahlkreisen zählte man nahezu an 600 politisch organisierte Frauen. Und so war der Auf schwung auch noch in anderen Wahlkreisen bemerk bar. Das Vereins- und Versammlungswesen hatte in zwischen für die Frauen eine gewisse Veränderung er fahren. Wo es anging, arbeiteten die behördlichen Or gane noch immer mit den rigorosesten Mitteln gegen die proletarischen Frauen, und es ließen sich noch manch böse Stücklein polizeilicher Willkür erzählen.
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Mit ganz anderem Maß wurde aber beim Bund der Landwirte gemessen, der in seiner Zirkus-Busch-Ver sammlung ungehindert mit Frauen tagte. Das erregte in der Arbeiterschaft helle Empörung; es kam darauf hin die Verfügung, daß Frauen als Zuhörerinnen im abgesonderten Teil, im sogenannten »Segment«, an politischen Vereinsversammlungen teilnehmen dür fen. Diese kleine Verbesserung wurde natürlich gehö rig ausgenutzt. Noch immer waren unsere alten Forderungen nach Umgestaltung des Vereinsrechts trotz dieser geringen Verbesserung nicht erfüllt, noch immer waren die ge setzlichen Schutzbestimmungen lückenhaft. Es galt also auf dieser Konferenz aufs neue dazu Stellung zu nehmen und sie immer wieder in den Vordergrund zu rücken. Der zweite Punkt der Tagesordnung brachte aber eine neue Frage, die uns sehr ernsthaft beschäf tigte: »Wie bilden wir Agitatorinnen heran?« Im An fange der Bewegung waren eine Anzahl von Agitatorinnen auf den Plan getreten, neue agitatorische Kräfte sind dann aber nicht in gleichem Maße herangereift. Die Konferenz mußte sich allerdings mit Fingerzeigen und Anregungen begnügen. Unser alter Wilhelm Liebknecht sagte einmal, wer agitieren will, muß vor allen Dingen Wissen besitzen. Das ist es. Das politi sche Wissen, die Kenntnis der sozialen Zusammen hänge den Genossinnen zu übermitteln, das war die
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schwierige Frage. Unsere Genossinnen sollten ja so zialistische Agitation treiben. Luise Zietz sprach von methodisch geleiteten Vortrags- und Diskussionsab enden in kleinem Kreise. Auch die Genossin Dunker hat in Leipzig mit derartigen Abenden gute Erfolge gehabt. Andere Genossinnen empfahlen zur Schulung vor allem die Kleinarbeit für die Gewerkschaften, in Werkstubensitzungen und durch die mündliche Pro paganda unter den Arbeitsschwestern. Ein allgemein anzuwendendes Rezept konnte die Konferenz nicht beschließen. Die Genossinnen mußten sich eben die Anregungen zunutze machen und sie ausproben, und die Aussprache hat manchen guten Gedanken ge bracht. Auch diese Konferenz hat den Zusammenhalt und das Solidaritätsgefühl der proletarischen Klassen kämpferinnen gefestigt, sie in lebendigere, engere Fühlung miteinander gebracht. Sie hat ihrer Arbeit, ihrem Ringen bestimmte Ziele gesetzt und auf Mittel und Wege hingewiesen, die Leistungen zu erhöhen. Nun galt es, für die Durchführung der gefaßten Be schlüsse zu wirken und die gegebenen Anregungen zu erproben. Das Amt der Vertrauensperson wurde mir aufs neue einstimmig übertragen. Große Lohnkämpfe standen in dem folgenden Winter
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und im kommenden Jahre lange Zeit auch für die Frauen im Vordergrund des Interesses. Der im Winter 1902 ausgebrochene Streik der Weber und Weberinnen in Meerane endete nach 13 Wochen mit einem Sieg der Arbeiter, trotz der Hart näckigkeit der Fabrikanten, von denen einer protzig erklärte, er werde lieber die Räder seiner Maschinen vergolden lassen, als den Ausständigen irgendwelche Zugeständnisse machen. Ungleich bedeutender und weitgreifender war der Kampf der Crimmitschauer Textilarbeiter um die Ein führung des Zehnstundentages. Jahrelang war auf güt lichem Wege versucht worden, zu diesem Ziele zu kommen, immer aber vergebens. Selbst die durch eine Verordnung festgelegte Mittagszeit von 11/2 Stunden für die Frauen, die nebenher auch noch einen Haus halt zu besorgen hatten, wurde nicht gewährt. Fiel es den Frauen ein, dieses Recht zu fordern, so wurden sie glatt entlassen. Die einstündige Mittagszeit reichte nur für sehr wenige, um zum Essen nach Hause zu gehen. Einrichtungen zum Kochen oder Wärmen waren aber in den Fabriken nicht vorhanden. Die ge sundheitlichen Schäden waren nicht nur für die Arbei terinnen selbst, sondern vor allem auch für die Kinder ganz ungeheuer. Starben doch vor Vollendung des er sten Lebensjahres 27,3 Prozent der Kinder, und von den anderen konnten sich nur wenige zu kräftigen
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Menschen entwickeln. Der Streik brachte vielen zum erstenmal in ihrem Leben eine Art Ferien. Mütter konnten mit ihren Kin dern einige Stunden frische Luft schöpfen. Die Bänke im Bismarckhain waren mit den typischen Weberge stalten, hüstelnden, abgezehrten Frauen und Mäd chen, mit Häkel- und Strickzeug in der Hand, besetzt. 3126 Männer und 3434 Frauen waren ausgesperrt. Der Zehnstundentag bedeutete nicht nur für die Tex tilarbeiter in Crimmitschau ein Stück Lebensmöglich keit, Gesundheit, Familienleben, Bildungsmöglich keit. Er war für die gesamte Arbeiterschaft von unge heurer Bedeutung. Nur wenige besuchten das Wirtshaus. Aber aus Sympathie für die Kämpfenden gaben die Wirte gern ihre Lokale zu Kontrollversammlungen her. Die feste, besonnene Haltung der Arbeiterinnen, die doch zum erstenmal in diesem Kampf standen, war bewunderns wert. »Sie sind schlimmer wie die Männer«, meinte ein Fabrikant. Eifrig und zuverlässig waren sie bei ihren Pflichten: Kontrollisten führen, Streikposten be ziehen. Manche Arbeiterin brachte dabei den Kinder wagen mit. »Streikpostenstehen sollen wir nicht, aber unsere Kinder dürfen wir doch spazierenfahren«, er klärte eine Frau. Die Behörden standen natürlich auf seiten der Fa brikanten. Männer und Frauen wurden als Streikpo-
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sten verhaftet und empfindlich bestraft. 30 Mann Gendarmerie waren in Crimmitschau eingerückt und sorgten mit übergehängtem Gewehr für verstärkten Schutz der Ordnung. Der Kampf dauerte lange. Anfang August hatte er begonnen, er ging in den Winter hinein und im De zember war noch kein Ende zu sehen. Aber die Teil nahme der organisierten deutschen Arbeiterschaft an diesem Kampf war sehr stark. Durch Sammlungen wurden die Streikenden vor der bittersten Not ge schützt. Ein Weihnachtsfest wurde ihnen von den Ar beitsbrüdern und -schwestern des ganzen Reiches ausgerichtet, das die helfenden Leipziger Genossinnen in einem ergreifenden Bericht festgehalten haben. Im Januar 1904 kam dann aus dem Streikgebiet die erschütternde Nachricht, daß die Streikleitung zur Verhütung schwerer wirtschaftlicher Schäden, die doch letzten Endes die Arbeiter am empfindlichsten treffen würden, die Ausgesperrten zum Abbrechen des Streiks und zur bedingungslosen Aufnahme der Ar beit auffordern mußte. Schöne Beispiele von Solidaritätsgefühl gaben bei der Wiederaufnahme der Arbeit die Frauen. Lange nicht alle Arbeiter wurden bei ihrer Nachfrage wieder eingestellt, zum Teil war es wirklich nicht gleich möglich, zum Teil ließ man aber auch diejenigen, deren Führerrolle im Streik bekannt war, die Kapitali-
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stenmacht fühlen und erklärte: »Für Sie habe ich keine Arbeit!« Häufig genug aber traten Frauen zu gunsten von Familienvätern zurück. In einem Falle verlangten eine Anzahl Arbeiterinnen die Wiederein stellung eines Spinners, dem man die Arbeit verwei gert hatte. Als man auch ihre Forderung nicht gleich erfüllte, erklärten sie: »Dann bleiben wir auch drau ßen!« Der Fabrikant, der diese hochwertigen Arbeite rinnen nicht entbehren wollte, rief: »Verfluchtes Wei berpack, holt Euren Spinner, damit endlich Ruhe wird!« Unterlegen, aber nicht besiegt war die tapfere Ar beiterschaft. Der Crimmitschauer Kampf um den Zehnstundentag war zu Ende, nun aber stand der Kampf um den gesetzlichen Zehnstundentag auf der Tagesordnung.
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Vierzehntes Kapitel
Frauenwahlvereine
Ein Heimarbeiterkongreß
Der im Jahre 1898 gewählte Reichstag hatte 1903 sein Ende erreicht. Wir standen vor Neuwahlen. Hat ten wir Frauen auch selbst kein Wahlrecht, so fühlten wir uns doch verpflichtet, dafür sorgen zu helfen, daß die Wahlen einen Sieg der Sozialdemokratischen Par tei herbeiführten. Durch unsere Parteipresse wurden wir darauf aufmerksam gemacht, daß vom Tage der Ausschreibung der Wahlen ab bis zur Beendigung der Stichwahlen der § 8 des preußischen Vereinsgesetzes außer Kraft gesetzt wird, der den Frauen die Möglich keit nimmt, Mitglied politischer Vereine zu werden und sich in ihnen zu betätigen. Der § 21 desselben Gesetzes sagt nämlich in seinem zweiten Absatz: Wahlvereine unterliegen der Beschränkung des § 8 nicht. Jedes, auch das kleinste Recht suchten wir aus zunutzen. Und hier zeigte sich ein Weg, wenn auch nur auf wenige Wochen, einen politischen Frauenver ein zu gründen, weibliche Mitglieder zu werben und politische Agitation zu treiben. Am 20. April 1903 haben die Berliner Genossin nen den ersten Frauenwahlverein gegründet. Er führte
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den Namen »Sozialdemokratischer Wahlverein der Frauen für Berlin und Umgegend«, und seine Statuten wurden in einfacher Kärtchenform gedruckt: Sein Zweck ist Agitation für die Reichstagswahl 1903. Jede erwachsene weibliche Person kann Mitglied werden. Der Vorstand besteht aus drei Personen. Nach Beendigung der Reichstagswahlen löst der Verein sich wieder auf. Etwa noch vorhandenes Vermögen wird im Inte resse der Arbeiterbewegung verwendet. Monatlich werden 20 Pf. Beitrag erhoben. Der Erfolg dieser Gründung, die zugleich eine De monstration für die Forderung politischer Frauenrech te bedeutete, übertraf alle Erwartungen. In der kurzen Zeit seines Bestehens hatte der Ver ein fast tausend Mitglieder und seine neun Versamm lungen waren von Frauen überaus zahlreich besucht. Sicher hat die durch den Verein betriebene Aufklä rungsarbeit ihr Scherflein zu dem großen Wahlsieg der Arbeiterklasse beigetragen. Aber auch in pekuniä rer Beziehung war der Erfolg ein guter. 300 Mark konnten zu den Kosten der Reichstagswahl dem Par teivorstand übergeben werden. Wie bescheiden mutet uns heute diese Summe an! Damals aber war sie etwas Großes.
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Während dieser Berliner Wahlverein, unbehindert von den Behörden, seine Tätigkeit entfalten konnte, hatte der für den Wahlbezirk Teltow-Beeskow-Char lottenburg erhebliche Schwierigkeiten. Die Berechti gung seiner Bildung wurde den Genossinnen bestrit ten mit der Begründung, daß nur »Wahlberechtigte« dazu befugt sind, daß die Frauen aber nicht zu ihnen gehörten. Natürlich wurde gegen diese Entscheidung eine Beschwerde beim Oberpräsidenten eingelegt, die Antwort, die die Entscheidung des Amtsvorstehers für richtig erklärte, kam aber erst lange nach dem Tage der Stichwahl, als der Verein den gesetzlichen Be stimmungen entsprechend sich ganz von selbst schon wieder aufgelöst hatte. Der in Altona gebildete Wahlverein hatte es auf 104 Mitglieder gebracht. In Ausnutzung dieses kurzen Rechtes der Frauen wurden sie auch vielfach in die Wahlkomitees ge wählt und arbeiteten dort Seite an Seite mit den Ge nossen. Unsere rednerisch tätigen Genossinnen kannten keine Ermüdung; wochen- und monatelang hielten sie Tag für Tag, häufig in überfüllten Räumen, Ver sammlungen ab, Sonntags gewöhnlich zwei und auch drei Versammlungen. Oft mußten sie stundenweite Wege zu Fuß bis zum Versammlungsort zurücklegen, in Schnee und Regenwetter, oft bis auf die Haut
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durchnäßt und durchfroren, mußten sie aufs Podium. Am Wahltage selbst waren sie natürlich vom frühen Morgen an zur Stelle. Sie verteilten Flugblätter und Stimmzettel vor den Wahllokalen, halfen beim Li stenführen und ließen sich durch keine noch so gehäs sige Anrempelung von ihrem Platze verdrängen. Häu fig genug aber führten sie die Angreifer mit schlagfer tigem Mutterwitz ab und hatten dann die Lacher auf ihrer Seite. Der Genossin Matschke, die vor einem Wahllokal den Namen unseres Kandidaten ausrief und Stimmzettel verteilte, rief ein vorübergehender Schutzmann mit giftigem Blick zu: »Soll sich lieber nach Hause scheren und ihre Strümpfe stopfen!« Sie blickte ihn mit ihren lustigen Augen an: »Ach, meine Strümpfe sind ganz. Wenn Ihre aber zerrissen sind, ziehen Sie sie man aus, die stopfe ich Ihnen gleich hier noch nebenbei!« Der Schutzmann aber drückte sich unter allgemeinem Gelächter. Aufsehen hat aber diese öffentliche Wahlbeteiligung der Frauen auch sonst gemacht und bei einfachen Gemütern zu ver kehrten Deutungen Anlaß gegeben. So geriet im Di strikt Hamm ein Wähler in komische, kaum zu beru higende Aufregung über »die verkehrt Tüd, wo die Fruhnlüt wählen«. Nach Schluß der Wahlhandlung gings dann nicht etwa nach Hause, sondern in die Versammlungen, um das Wahlresultat zu hören. Die frohe Aufgeregtheit
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der Genossen und Genossinnen machte sich in man chem Scherz und Spottwort gegen die anderen Partei en Luft. Der Sieg, den die Sozialdemokratie damals errungen, löste ungeheure Freude aus und war auch uns Frauen eine Hoffnung für die Zukunft. Die Wahl arbeit hatte uns gezeigt, wie wichtig und fördernd die neue Einrichtung der Lese- und Diskussionsabende für die Heranbildung von politisch geschulten Genos sinnen und Agitatorinnen war. Sie sind an vielen Orten ins Leben gerufen worden und haben sich vor züglich bewährt. Neben der Übermittlung und Klä rung sozialer und politischer Kenntnisse, der Einfüh rung in das Verständnis unseres Programms sollten hier die Proletarierinnen auch an das Lesen ernster so zialpolitischer Schriften und das logische Durchden ken derselben gewöhnt werden, aber auch an das klare Aussprechen ihrer Gedanken. Eine große Anzahl ern ster, strebsamer und zuverlässiger Frauen wurden bei diesen Abenden einander nähergebracht und sie ver banden sich zum gemeinsamen Wirken. Das Amt der Vertrauensperson der Genossinnen war inzwischen, um die Agitation immer durchgrei fender und einheitlicher zu gestalten, zu einem besol deten geworden. Ich war deshalb in der Lage, mich ganz der Arbeit für die Förderung unserer Arbeiterin nenbewegung zu widmen.
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Für den März 1904 war von der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands ein Heimarbeiter kongreß nach Berlin einberufen worden, der endlich einmal auch in dieses schreckliche Kapitel von Frau ennot und Kinderelend weiten Kreisen sichtbar hin einleuchten sollte. Eine Ausstellung war mit diesem Kongreß verbunden, die eine Reihe von Fabrikanten der Hausindustrie zeigte, mit genauer Zeitangabe der Frauen- und Kinderarbeit, der von den Arbeitern zu liefernden Zutaten und des Lohnes. Es gingen so man chem die Augen auf bei dieser Ausstellung des Elends. Aber auch mancher naive Ausspruch wurde laut, der die ganze Unkenntnis dieser Verhältnisse zeigte. So rief eine junge Gräfin, die Tochter eines be kannten Parlamentariers, ganz entsetzt: »Aber warum arbeiten denn diese Leute so billig?« Bitterkeit im Herzen, trat man wohl stillschweigend zurück und dachte: »Warum!« Aufgedeckt wurden auch so man che Schäden der Hausindustrie für die Volksgesund heit. Die Arbeitsstuben der Heimarbeiterinnen in ihrer engen Verbindung von Küche, Wohn- und Schlaf raum bilden häufig genug einen Herd ansteckender Krankheiten sowohl für die Arbeitenden wie für die Verbraucher. Der Kongreß forderte die unverzügliche Schaffung eines Heimarbeiterschutzgesetzes und stellte dafür eine Reihe ganz bestimmt formulierter Forderungen
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auf. So sollte das Gesetz Bestimmungen enthalten über Größe, Einrichtung und sonstige Beschaffenheit der Heimwerkstätten. Die Benutzung der Räume soll te nur auf die Arbeit beschränkt sein, ferner sollte die Heimarbeit der Kontrolle der Gewerbeaufsicht unter stehen. Auch eine Kennzeichnung der auf hausindu striellem Wege hergestellten Waren wurde verlangt. Zur Sicherstellung der bisher jedem Zufalle preisgege benen Heimarbeiter wurde auch die Ausdehnung der Versicherungsgesetze, der Bestimmungen der Gewer beordnung über Arbeitszeit, Nachtarbeit, Sonntagsru he, Wöchnerinnen- und Kinderschutz auf die gesamte Hausindustrie als Forderung aufgestellt. Die Frauen haben an diesem Kongreß in ganz be sonderer Weise mitgearbeitet. Sie waren gerade auf diesem Gebiet die Hauptleidtragenden.
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Fünfzehntes Kapitel
Kinderschutz
Die dritte Frauenkonferenz in Bremen
Ein erster Schritt, Schutzbestimmungen für die Heim arbeit zu schaffen, war mit dem neuen Kinderschutz gesetz von 1903, das am 1. Januar 1904 in Kraft trat, getan worden. Es ergab sich für uns die Notwendig keit, die Frage des Kinderschutzes überhaupt, sowie die Mitwirkung der Genossinnen zur Sicherung und Ausgestaltung des Gesetzes eingehend zu beraten. Wir setzten deshalb auf die Tagesordnung der nach zwei Jahren wieder nötig gewordenen Frauenkonfe renz die Frage des Kinderschutzes, und Luise Zietz sprach über dieses Gebiet in einem kurzen, aber allge mein als Musterleistung anerkannten Referat. Durch weg wurde das neue Kinderschutzgesetz als ungenü gend bezeichnet und es wurden in einer Resolution weitergehende Forderungen aufgestellt. Vor allem aber sollte das Verbot jeglicher Erwerbsarbeit schuloder gar vorschulpflichtiger Kinder ausgesprochen werden. Gefordert wurde aber auch die Durchführung einer wirksamen Kontrolle des Kinderschutzes und die Heranziehung von Aufsichtsbeamten aus den Kreisen der Arbeiter und Arbeiterinnen. Den Genos-
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sinnen aber wurde hier zur Pflicht gemacht, mit ihrer ganzen Kraft und Ausdauer für die Durchführung die ser Forderungen einzutreten, und sich selbst in wei tem Umfange an der Kontrolle zu beteiligen. Diese dritte Frauenkonferenz, die im September 1904 in Bremen stattfand, nahm einen prächtigen Verlauf. Bebel selbst hob rühmend hervor, sie habe auf einem sehr hohen geistigen Niveau gestanden. Der ansehnliche Fortschritt unserer Bewegung gelangte sowohl in der Beteiligung an der Konferenz, wie in der geleisteten Arbeit zum Ausdruck. 33 Delegierte, darunter sechs Genossen, nahmen diesmal an der Konferenz teil. Bedeutsam für die Entwicklung war es, daß auch aus Gegenden, wo der Aufklärung und Organisierung proletarischer Kämpferinnen die größ ten Schwierigkeiten entgegenstanden, Vertreterinnen anwesend waren. Noch vor wenigen Jahren hätte kaum jemand zu hoffen gewagt, daß sich dort Genos sinnen zu planmäßiger Arbeit im proletarischen Be freiungskampf zusammenfinden würden. Für die feste innere Zusammengehörigkeit zwischen der proletari schen Frauenbewegung und der Sozialdemokratie war die Beteiligung des Genossen Molkenbuhr als Vertre ter des Parteivorstandes an der Konferenz und seine warmempfundene Begrüßungsrede ein besonderer Ausdruck. Der Rückblick, der wie immer auch auf dieser Konferenz zu geben war, zeigte deutlich, wie
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gut sich die Einsetzung einer Vertrauensperson für das ganze Reich bewährt hat. Die ganze Tätigkeit der Genossinnen hat dadurch bedeutend an Einheitlichkeit und Kraft gewonnen, die Anregungen von einer Zen tralstelle aus wirkten anspornend, die Arbeitsfreudig keit herausfordernd und leitend auf die ganze Bewe gung in vielen Bezirken. Ganz besonders aber galt dies von der aufklärenden Agitation, die zu den Reichstagswahlen, für die Umgestaltung des Vereins und Versammlungsrechts entfaltet worden ist. Zweck dienliche Zirkulare wurden den Vertrauenspersonen zugesandt, mit praktischen Fingerzeigen für die Ar beit auf den einzelnen Gebieten. Auf die Bedeutung der politischen und gewerkschaftlichen Kleinarbeit, auf den Wert der unpolitischen Bildungsvereine, auf die Errichtung von Lese- und Diskussionsabenden wurde immer aufs neue hingewiesen. Von den Referaten auf der Konferenz konnte man sagen: »In der Beschränkung zeigt sich erst der Mei ster.« In der einen Stunde, die für jedes Referat festge setzt war, wurde das Notwendige klar und deutlich gesagt. Die Teilnehmer aber waren nicht ermüdet vom Zuhören und frisch und lebendig setzte die Diskussi on ein, die nützliche Winke und Ratschläge zutage förderte. Die Bremer Frauenkonferenz steht allen Teilneh mern, soweit sie noch unter den Lebenden weilen,
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wohl heute noch in besonderer Erinnerung. Sie zeigte deutlich die politische und organisatorische Arbeitsfä higkeit der Frauen, und das Lob unseres Genossen Bebel hat anfeuernd gewirkt.
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Sechzehntes Kapitel
Ruhiges und stetes Weiterschreiten
Kleinarbeit
Wie in jeder Bewegung eine Zeit ruhigen und steten Fortschritts kommen muß, so waren auch wir jetzt da angelangt, wo die Formen der Arbeit schon zur Ge wohnheit geworden waren. Viele Bewegungen gehen an solcher Zeit der Ruhe zugrunde. Die innere Kraft unserer Bewegung war aber zu stark, und die äußeren Hemmnisse entfachten den Widerstand stets aufs neue. Auch die Zahlen, die aus jenen Jahren vorlie gen, erzählen von tüchtiger gemeinsamer Arbeit. So hatten wir es in den wenigen Jahren auf 190 weibliche Vertrauenspersonen im ganzen Reiche ge bracht. In den deutschen Staaten, in denen die Ver einsgesetze es gestatteten, waren schon etwa 4000 Genossinnen politisch organisiert. An anderen Orten, wo das nicht möglich war, hatten die Frauen unpoliti sche Bildungsvereine geschaffen, und es waren etwa 3000 Frauen und Mädchen, die sich hier zusammen gefunden haben. Diese Zahlen geben aber bei weitem nicht die ganze Zahl der Frauen wieder, die zur Partei gehörten und für sie tätig waren. Es sind nicht allein die Bestimmungen der verschiedenen einzelstaatli-
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chen Vereinsgesetze, welche der einheitlichen festen Organisation der Genossinnen entgegenwirkten, auch die Handhabung der Gesetze tat dies. Nach den Erfah rungen, welche die Genossinnen in dieser Hinsicht ge macht haben, würden die Behörden jedem Frauenver ein rasch das Lebenslicht ausgeblasen haben, der nur entfernt sozialdemokratische Tendenzen gezeigt hätte. Um die nötigen Gelder für die Agitation aufzubrin gen, wurden von der Zentralstelle 5-Pfg.-Bons an die einzelnen Vertrauenspersonen gesandt, von deren Erlös der Kasse der Vertrauenspersonen Deutschlands 2 Pfg. zuflossen, während für die örtliche Agitation 3 Pfg. verblieben. Auch der Ärmsten war es damit er möglicht, ab und zu ein Scherflein für die gemeinsa me Sache zu opfern. Um unsere Parteizugehörigkeit aber auch äußerlich zu dokumentieren, hatten wir, gemäß dem § 1 unseres damaligen Parteistatuts: »Zur Partei gehörig wird jede Person betrachtet, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms be kennt und die Partei dauernd durch Geldmittel unter stützt.« Quittungskarten über freiwillig geleistete Beiträge eingeführt (monatlich 10 Pfg.). Diese Einrichtung wurde von den Genossinnen freudig aufgenommen. Anfang 1905 wurden durch den Beirat für Arbei-
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terstatistik Erhebungen angestellt über die Arbeitszeit der in Wäschereien und Plättereien beschäftigten Ar beiterinnen, ebenso über die Arbeitsbedingungen in den Fischräuchereien und Konservenfabriken. In die sen Betrieben sind überwiegend Frauen beschäftigt. Das Verfahren bei dieser Erhebung war so, daß Fra gebogen verteilt wurden, und zwar in der Hälfte der befragten Betriebe nur an die Arbeitgeber, in der an deren Hälfte nur an die Arbeitnehmer. Es kam also für den Betrieb nur eine Partei zu Wort. Eine Beeinflus sung bei der Beantwortung war natürlich sowohl von seiten der Behörden, die die Erhebung leiteten, wie auch von Privatpersonen ausgeschlossen. Es unterlag aber keinem Bedenken, daß sachverständige Frauen den Plätterinnen und Wäscherinnen bei der Beantwor tung der Fragen behilflich waren. Wie dringlich die Arbeiterinnen gerade in diesen Betrieben einer Rege lung der Arbeitszeit und weitergehender gesetzlicher Schutzbestimmungen bedurften, das war uns ja zur Genüge bekannt, und es kamen durch unsere Mitar beit schlimme Zustände ans Tageslicht, deren Kennt nis für die Agitation von großem Werte war. Jahrelang hatten unsere Genossinnen sich für einen geregelten Mutter- und Säuglingsschutz als Aufgabe der Kommunen eingesetzt, wie er auf unseren Frauen konferenzen gefordert worden ist, bis endlich in Ber lin ein Anfang gemacht wurde. Zur Bekämpfung der
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Säuglingssterblichkeit wurden vier städtische Fürsor gestellen errichtet, in denen den Müttern ärztlicher Rat über die Pflege und Wartung der Säuglinge erteilt wurde, in denen auch sachgemäß zubereitete Milch unentgeltlich ausgegeben wurde. Auch stillende Müt ter erhielten Unterstützung. Das war durchaus keine Armenunterstützung, sondern ein Recht, welches aus genutzt werden mußte, um noch viel mehr zu errei chen. Die Berliner Genossinnen verbreiteten auf ihre Kosten ein Flugblatt, durch welches die Arbeiterfrau en zu starker Inanspruchnahme dieser Fürsorgeein richtung veranlaßt werden sollten. Eines unserer wichtigsten Propagandamittel war neben dem gesprochenen das gedruckte Wort. So wurde die »Gleichheit« vom Verlag jeder Vertrauens person unentgeltlich zugestellt. Meine Aufgabe war es, die leitenden Genossinnen laufend mit Agitations material zu versorgen. Ich sandte ihnen z.B. »Grund sätze und Forderungen der Sozialdemokratie« von Kautsky und Schönlank, Parteitagsprotokolle, Führer durch Kranken-, Unfall-, Invalidenversicherungsge setze, die preußische Gesindeordnung, das Vereins und Versammlungsrecht, die Reichs- und Staatsver fassung, dann das »Kommunistische Manifest«, »Lohnarbeit und Kapital« von Karl Marx, »Zum Frauenwahlrecht« von Clara Zetkin, sodann das für die Kinderschutzkommission so wertvolle, von dem
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Rixdorfer Lehrer Agahd verfaßte Buch über die Er werbsarbeit schulpflichtiger Kinder, ferner eine Reihe von Heften aus der sozialdemokratischen Gesund heitsbibliothek und viele andere Schriften. Über be sonders wichtige Frauenfragen wurden Merkblätter herausgegeben, so z.B. das von unserem Genossen, dem Frauenarzt Dr. Kurt Freudenberg kurz vor sei nem Tode erschienene: »Zur Verhütung und Heilung des Gebärmutterkrebses«, welches in vielen Tausen den von Exemplaren in Deutschland verbreitet wurde. Für die »Gleichheit« wurde in jeder Versammlung Propaganda gemacht, in zahlreichen Orten in mühe voller Hausagitation Abonnenten geworben, den Ge nossinnen aber wurde zur Pflicht gemacht, mit den neuen Abonnentinnen über den Inhalt der »Gleich heit« zu sprechen und etwa nicht Verstandenes zu er läutern. Diese Arbeit trug reiche Früchte, denn im Laufe von zwei Jahren hatte sich die Abonnentenzahl von 23000 auf 46000 erhöht. Die Ausgestaltung der »Gleichheit« ohne Preiserhöhung mit einer vierseiti gen Beilage, welche den Interessen der Mutter und Hausfrau und deren Allgemeinbildung gewidmet war, hat natürlich auch auf die Verbreitung günstig einge wirkt, sie bot jetzt auch den abseits vom politischen Kampf stehenden Frauen viel Belehrendes. Als mit dem Ende des Jahres 1905 die Ausnahme bestimmungen des Kinderschutzgesetzes von 1903
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aufgehoben wurden, gingen wir daran, Kinderschutz kommissionen zu gründen. So manches arme Kind wurde durch die nachgehende Arbeit unserer Genos sinnen der Ausbeutung entzogen, mancher Fall von Mißhandlung und anderem Kinderelend wurde dabei entdeckt und konnte abgestellt werden. So gab es für unsere Frauen Arbeit an allen Ecken, und meistens ist es die oft unbeachtete, aber doch so sehr notwendige Kleinarbeit gewesen. Aber auch in der Gesamtheit tauchten immer noch Fragen auf, die der Klärung bedurften, auf immer neuen Gebieten harrten der Frauen zahllose Aufga ben. Die Frauenkonferenzen waren die Marksteine in unserer Bewegung. Hier wurden Schlaglichter gewor fen auf die bisher gegangene Wegstrecke, aber auch auf den Weg, der vor uns lag. Hier wurden wir uns klar darüber: was ist von unserem Wollen erreicht worden – was bleibt uns zu tun –, welches sind die nächsten, aber auch die neuen Aufgaben, die unserer warten! Hier wurde unseren weiteren Schritten die Richtung gewiesen. In Mannheim tagte im September 1906 vor dem Parteitag unsere vierte Frauenkonferenz, die für eine Reihe solcher neu auftauchender Fragen uns Weisun gen geben sollte. Auf unserer Tagesordnung stand zu nächst hinter den notwendigen Berichten mit ihrem Rückblick geleisteter Arbeit die Frage des Frauen-
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wahlrechtes. Waren wir uns auch bewußt, daß die Er füllung dieser Forderung noch weit in der Zukunft lag, so durften wir doch die Agitation für diese alte Forderung unseres Programms nicht vernachlässigen. Wir mußten den breiten Massen der Arbeiterkreise, Frauen und Männer, zeigen, daß die politische Gleichberechtigung eine soziale Notwendigkeit für die Frauen ist, und wir hatten auch in dieser Frage die Rolle der treibenden Kräfte zu übernehmen. Zur Agitation unter den Landarbeiterinnen sprach auf der Mannheimer Frauenkonferenz Luise Zietz und über die Dienstbotenbewegung Helene Grünberg. Die Arbeiterinnen auf diesen Arbeitsgebieten waren für unsere Bewegung besonders schwer zu erfassen. Die Agitation unter ihnen, vor allem für den gewerk schaftlichen Zusammenschluß, war aber um so not wendiger, als gerade sie nicht nur wirtschaftlich und sozial am schlechtesten gestellt waren, sondern auch am rechtlosesten waren. Zu der Schwangeren- und Wöchnerinnenfürsorge sprach die Genossin Käte Dunker. Hatten wir bei un seren Forderungen für gesetzlichen Schutz der Arbei terinnen immer schon den Schutz der Mutterschaft be sonders betont, so erkannten wir doch immer wieder, daß gerade hier noch viel weitergehende Forderungen für eine durchgreifende Mutterschaftsfürsorge zu stel len waren. Für die proletarischen Frauen kam es ein-
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mal darauf an, die Frauenarbeit so zu gestalten, daß sie die Frauen nicht daran hindert, gesunde Mütter ge sunder Kinder zu werden. Zum anderen aber galt es, Einrichtungen zu schaffen, die den Frauen die Last der Mutterschaft erleichterten. Zu diesen beiden Grundfragen wurde eine Reihe direkter Forderungen aufgestellt. Als nun zur Neuwahl der Zentralvertrauensperson der Genossinnen Deutschlands geschritten werden sollte und meine Person allein wieder vorgeschlagen war, erhob eine Genossin aus Essen dagegen Wider spruch, indem sie sagte: »Nicht als Vertrauensperson, sondern als Parteimutter wollen wir sie wählen, denn sie hat uns geleitet und uns mit Rat und Tat beige standen, wie es nur eine Mutter kann.« Das war der schönste Lohn, den man sich für die aufgewandte Mühe und Arbeit nur denken konnte. Die immer umfangreicher werdende Arbeit der Zentralvertrauensperson machte jetzt auch die Ein richtung eines Büros sowie die Einstellung einer be sonderen Hilfskraft notwendig. Bald darauf setzte die Auflösung des Reichstages die politischen Kreise in Bewegung. Es kam die Win terwahl in Eis und Schnee. Wegen der Kürze der Zeit haben wir dieses Mal von dem Recht, Wahlvereine der Frauen zu gründen, keinen Gebrauch gemacht. Daß wir aber trotz der Ungunst des Wetters uns von
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der helfenden Arbeit nicht zurückhalten ließen, ver steht sich von selbst.
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Wichtige Tagungen – Endlich mündig!
Neue Organisationsform
Eine Reihe wichtiger Tagungen, an denen auch die sozialdemokratischen Frauen hervorragend beteiligt waren, fielen in die letzten beiden Jahre meiner Tätig keit. Eine der bedeutsamsten war die erste internatio nale sozialistische Frauenkonferenz, die im August 1907 nach Stuttgart einberufen wurde. Diese Konfe renz war ein erster Versuch, die sozialistische Frauen bewegung aller Länder zusammenzufassen und sie ge schlossen in Reih und Glied der großen sozialisti schen Internationale zu stellen. Um das Gelingen der Tagung waren die Einberuferinnen in Sorge. Liefen doch erst kurz vor der Tagung die meisten Anmeldun gen ausländischer Delegierter ein. Es war aber schließlich doch ein ungemein buntes und interessan tes Bild internationaler Frauentypen. 15 verschiedene Nationalitäten waren vertreten, außerden nahmen als Gäste Vertreterinnen des jüdischen Frauenbundes in Rußland, der Petersburger Sozialdemokratie, der or ganisierten Weberinnen von Lodz und eine indische Frau aus Bombay an den Beratungen teil. Die Konferenz hat die sozialistische Frauenbewe-
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gung aller Länder in der Frage der Erkämpfung des Frauenstimmrechts auf den Boden einer scharf abge grenzten grundsätzlichen Auffassung gestellt und feste Richtlinien gegeben. Die Wahlrechtskämpfe waren in allen Ländern immer mehr in den Mittel punkt des politischen Lebens gerückt, und damit bekam auch das Frauenwahlrecht zunehmende prakti sche Bedeutung für die sozialistischen Parteien. Als weiteres Ergebnis der Konferenz wurde eine in ternationale Zentralstelle geschaffen, in der die Korre spondenzen der auswärtigen Genossinnen sowie die Berichte zusammenlaufen und veröffentlicht werden sollten. Als diese Zentralstelle ist die Redaktion der »Gleichheit« ausersehen worden. Der Internationale Sozialistenkongreß, der im An schluß an die Frauentagung stattfand, hat der Wahl rechtsresolution, die wir vorgeschlagen haben, zuge stimmt. So hatten wir in allen Ländern die erfreuliche Tatsache zu verzeichnen, daß die Parteigenossen überall zu der Frage des Frauenwahlrechts grundsätz liche Stellung zu nehmen hatten. Vielleicht ist bei dieser ersten internationalen Kon ferenz mancher Fehler gemacht worden, wie es ja auch bei einer solchen Veranstaltung, die einen ersten Versuch zu einer prinzipiellen Verständigung zwi schen den sozialdemokratischen Frauen der verschie denen Länder anstrebte, nicht anders zu erwarten war.
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Wenn man aber bedenkt, welche Sprachschwierigkei ten allein zu überwinden waren, so konnte man wohl, wie allgemein geäußert wurde, mit den Ergebnissen dieser Konferenz zufrieden sein. Das Hauptverdienst an dem guten Gelingen hatte entschieden die Genos sin Clara Zetkin. Eine andere wichtige Tagung war von der Zentral vertrauensperson als außerordentliche Frauenkonfe renz im November 1907 nach Berlin einberufen wor den. Sie betraf die noch junge Bewegung der Dienst boten. Dank der Agitation der Nürnberger Arbeiterse kretärin Helene Grünberg und mit Unterstützung des Gewerkschaftskartells hatte im Jahre 1906 in Nürn berg eine Dienstbotenbewegung eingesetzt, die einen klassenbewußten Charakter trug und zur Gründung eines Vereins führte, der von vornherein, den moder nen Gewerkschaften gleich, sich auf den Boden des Klassenkampfes stellte. Das Nürnberger Beispiel hatte bahnbrechend gewirkt. Es mehrten sich rasch die Städte, in denen Dienstbotenvereine entstanden. Überall waren es die Genossinnen, die den Hauptteil der Arbeit leisteten, die die Agitation unter den Dienstboten und ihre Zusammenschlüsse in Organisa tionen erforderte. Häufig wurden sie dabei von den Gewerkschaftskartellen unterstützt. Mit dem Wachsen der Bewegung unter dieser ganz besonders rechtlosen Arbeiterkategorie machte sich
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aber eine gemeinsame Aussprache derjenigen notwen dig, welche die Agitation im Fluß hielten. Fragen waren aktuell geworden, die eine Verständigung über eine einheitliche Behandlung erforderten. So waren es z.B. die Fragen des Dienstvertrages, die Errichtung eines eigenen Stellennachweises, die Beschaffung eines eigenen Organs für die Dienstbotenvereine, vor allem aber die Frage der Anbahnung einer Zentralisa tion aller klassenbewußten Dienstbotenorganisatio nen. 25 Delegierte, meistens Leiterinnen von Dienstbot enorganisationen, waren erschienen. Vertretungen des Parteivorstandes, des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Groß-Berlins und der Gewerkschaften zeigten die Bedeutung der Konferenz. Der Verlauf der Verhandlungen brachte uns noch mehr zum Bewußt sein, wie dringend notwendig die Konferenz für die weitere Entwicklung war. Die Berichte aus den ver schiedenen Gegenden Deutschlands ließen klar erken nen, daß die Dienstbotenbewegung nur dort Aussicht auf Erfolg versprach, wo die allgemeine sozialistische Frauenbewegung bereits eine bestimmte Höhe erreicht hat. Daß die Stellenvermittlung von den Dienstboten selbst in die Hand genommen werden müsse, um ein Rückgrat der Bewegung zu werden, wurde allgemein anerkannt.
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Auch der Dienstvertrag fand seine Würdigung zu nächst als wirksames Agitationsmittel, des weiteren aber auch als Mittel, die Gesindeordnung auszuschal ten und die Lage der Dienenden zu heben. Die Dienstbotenbewegung drängte nach einheitli chem Zusammenschluß, nach einer Zentralisation. Die Konferenz wählte daher eine fünfgliedrige Kommissi on mit dem Sitz in Hamburg, der die Aufgabe zuge wiesen wurde, die Zentralisation sowie den Anschluß an die Generalkommission in die Wege zu leiten. Beschlossen wurde ferner, ein einheitliches Organ für die Dienstbotenbewegung zu schaffen. Schließlich stimmte die Konferenz der Anregung zu, die »Gleich heit« durch Zufügung eines bestimmten Teils so aus zugestalten, daß sie auch den besonderen Ansprüchen der Dienstbotenorganisation Rechnung trage und das so ausgestaltete Blatt als deren Organ einzuführen. Eine immer festere Form nahm allmählich auch die Eingliederung der Frauen in das Gesamtgefüge der Partei an. Für 1907 war keine Frauenkonferenz einberufen worden, aber vor dem Parteitag in Essen fand auf be sonderen Wunsch der Genossinnen des Ruhrgebiets eine Besprechung statt, deren Zweck die bessere Re gelung der Agitations- und Organisationsarbeit des Ruhrgebiets war. Die Bildungsvereine des Ruhrge biets hatten seit Jahren unter dem rigorosen Vorgehen
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der Behörden besonders zu leiden. Auflösungen, An klagen, Geldstrafen folgten in ununterbrochener Reihe. Man beschloß deshalb, diese Bildungsvereine aufzulösen und an ihre Stelle lose Organisationen zu setzen; Diskutier- und Leseabende sollten die nötige geistige Verbindung unter den Frauen erhalten. Die Genossinnen haben den Anregungen gemäß gehan delt, und mit gutem Erfolg. Eine Konferenz der weib lichen Vertrauenspersonen in Bayern führte zur Er nennung der Genossin Greifenberg als Landesvertrau ensperson. Eine Provinzialkonferenz für SchleswigHolstein bestimmte die Genossin Baumann als Pro vinzialvertrauensperson. Für das niederrheinische Agitationsgebiet wurde die Genossin Wilhelmine Kähler mit dem Amt betraut. Die Genossinnen nahmen auch mehr und mehr an den Landes- und Provinzialparteitagen teil. So hielt auf dem Landesparteitage für Sachsen-Meiningen, der in Saalfeld tagte, Genossin Selinger ein Referat über Agitation und Organisation der Frauen. Mit dem Beginn des Jahres 1908 setzten in Preu ßen die scharfen Wahlrechtskämpfe ein, an denen wir Frauen einen besonders regen Anteil nahmen. Als am 10. Januar das Geldsackparlament wieder eröffnet wurde, nahmen Tausende von Männern und Frauen an einer Demonstration für ein allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht teil. Nicht
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nur die Frauen aus dem Berliner Stadtbezirk, auch die Genossinnen aus den Vororten kamen in ganzen Trupps vor das Abgeordnetenhaus. Welche Freude war es, wenn die einzelnen Trupps sich bei mir mel deten: »Wir sind die Rixdorfer; wir die Schöneberger; wir aus Friedrichsberg usw. usw.« Als der Reichs kanzler Bülow aus dem Wagen stieg, riefen wir ihm unsere Forderungen zu. Er ging mit gesenktem Kopf wie ein Schuldbeladener durch unsere Reihen. Auch bei der Demonstration am »Roten Sonntag« waren unsere Genossinnen nicht weniger auf dem Posten. Bei den Wahlen für das preußische Dreiklassenpar lament haben auch die Frauen wieder eifrige Arbeit geleistet. Auch am Tage der Wahlmännerwahlen stan den sie vielfach mit Stimmzetteln vor den Wahlloka len; sie waren in den Wahlbüros der Partei tätig, aber auch in amtlichen Wahlbüros führten sie die Listen. Schlepperdienste leisteten sie und haben manchen Zaghaften, Ängstlichen durch ermutigende Worte an den Wahltisch gebracht. Unsere Arbeit wird sicher ein wenig dazu beigetragen haben, daß es der Sozialde mokratie zum erstenmal gelungen ist, unter einem so korrumpierten Wahlsystem, wie es das Dreiklassen wahlrecht im Preußischen Landtag war, einige Abge ordnete in den Landtag zu bekommen. Das einzige Wahlrecht, welches die Frauen hier be saßen, war das zu den Vertretungen in den Kranken-
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kassen. Es mußte ihnen aber durch immer erneute Hinweise vor Augen geführt werden, wie wichtig die Ausübung dieses Rechtes ist. Vor allem galt es, mehr Fürsorgeeinrichtungen für die weiblichen Kranken kassenmitglieder durchzusetzen. Das Jahr 1908 be deutet einen Wendepunkt in der Geschichte der politi schen Frauenbewegung. Das Reichsvereinsgesetz war endlich im Reichstag durch die letzte Lesung gehetzt und angenommen worden. Der einzige Fortschritt, den dieses Gesetz brachte, war die Gleichstellung der Frau mit dem Mann. Sie war für mündig erklärt wor den. Für uns bedurfte es dessen kaum noch, denn die proletarische Frauenbewegung hatte sich in einem zähen Kleinkrieg eine politische Bewegungsfreiheit erkämpft, mit der sie auch ohne formales Recht aus kam. Wir konnten deshalb auch keine besondere Freude empfinden über ein Gesetz, das auf der ande ren Seite so schwere Schäden aufwies. Wir erinnern nur an den berüchtigten Sprachenparagraphen, der den in Deutschland lebenden polnischen Arbeitern, der aber auch den reichsangehörigen Dänen und Elsaß-Lothringern das Recht nahm, Organisationen zu bilden und in Zusammenkünften ihre Mutterspra che anzuwenden, sowie an die Entrechtung der Ju gendlichen. Das neue Gesetz ließ es uns sozialdemokratischen Frauen aber doch notwendig erscheinen, die Frage zu
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prüfen, ob die veränderte rechtliche Lage nicht auch andere Organisationsformen erfordert. Eine eingehen de Beratung darüber mußte Sache der Frauenkonfe renz sein, die für den September 1908 nach Nürnberg einberufen wurde. Das Resultat der Vorbesprechun gen war ein Vorschlag zur Neuorganisation der Ge nossinnen. Er wurde zunächst den Organisationen, dann aber auch der Frauenkonferenz zu Nürnberg zur Beratung unterbreitet. Das letzte Wort in der Frage hatte natürlich der Parteitag zu sprechen. Der Vor schlag hatte folgenden Wortlaut: 1. Jede Genossin ist verpflichtet, der sozialdemokrati schen Parteiorganisation ihres Ortes beizutreten. Politische Sonderorganisationen der Frauen sind nicht gestattet. Über das Fortbestehen besonderer Frauenbildungsvereine entscheiden die Genossen und Genossinnen der einzelnen Orte. Die Mitgliedschaft in solchen Vereinen enthebt jedoch die Genossinnen nicht der Verpflichtung, den sozialdemokratischen Parteiorganisationen anzugehören. 2. Unabhängig von den Vereinsabenden der Män ner sind für die weiblichen Mitglieder Zusammen künfte einzurichten, welche ihrer theoretischen und praktischen Schulung dienen. 3. Die Festsetzung der Beiträge für die weiblichen Mitglieder bleibt den einzelnen Organisationen über-
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lassen. Empfehlenswert ist, die Beiträge für die weib lichen Mitglieder niedriger zu bemessen wie für die männlichen. 4. Die weiblichen Mitglieder sind im Verhältnis zu ihrer Zahl im Vorstand vertreten. Doch muß diesem mindestens eine Genossin angehören. 5. Den weiblichen Mitgliedern des Vorstandes liegt es ob, die notwendige Agitation unter dem weiblichen Proletariat im Einvernehmen mit dem Gesamtvor stand und unter Mitwirkung der tätigen Genossinnen zu betreiben. 6. Solange betreffs der Beschickung der Parteitage durch die Parteiorganisationen noch das gegenwärtige Provisorium gilt, bleiben auch für die Delegierung der Genossinnen die jetzigen Bestimmungen des Partei statuts in Kraft. Das Zentralbureau der Genossinnen bleibt beste hen. Die Vertreterin der Genossinnen wird dem Par teivorstand angegliedert. Die fünfte Frauenkonferenz zu Nürnberg 1908 war stärker besucht als je eine zuvor. 72 Delegierte, unter denen nur vereinzelte Genossen waren, nahmen teil. Wir erkannten außerdem jetzt auch die Parteitagsdele gierten als Delegierte der Frauenkonferenz an, die kein formales Mandat, sondern nur den Auftrag ihrer örtlichen Genossinnen zur Teilnahme hatten, um spä ter Bericht erstatten zu können.
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Der Punkt der Tagesordnung: »Die sozialistische Erziehung der Jugend; die Erziehung im Hause« wurde in vorzüglichen Darlegungen von der Genossin Dunker behandelt. Der Vortrag gab so viele Anregun gen, daß die Konferenz die Drucklegung beschloß, um ihn für die Agitation zu verwenden. Auch das Referat der Genossin Zetkin über die Ju gendorganisation war ausgezeichnet. Wohl jeder Zu hörer ist dadurch von der Wichtigkeit der Jugendorga nisation überzeugt worden. Das größte Interesse galt dann der Organisation sfrage. Die Darlegungen von Luise Zietz zu diesem Punkt der Tagesordnung waren überzeugend. Unser Organisationsvorschlag wurde angenommen und dem Parteitag überwiesen. Das Amt einer Zentralvertrauensperson war jetzt überflüssig geworden. Die Vertreterin der Frauen mußte dem Parteivorstand eingefügt werden. Ich aber hatte das Empfinden, daß mein Können für die weitere Förderung der Frauenbewegung an lei tender Stelle nicht mehr ausreiche. Und so wurde denn auf meinen Vorschlag Luise Zietz in den Partei vorstand gewählt.
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Achtzehntes Kapitel
Schluß Es ist in diesen Erinnerungen nur möglich gewesen, einige wenige Genossinnen, die in den vorderen Rei hen in unermüdlicher Arbeit die proletarische Frauen bewegung gefördert haben, namentlich anzuführen. Aber neben diesen steht eine große Anzahl lieber, treuer Genossinnen, die zwar ungenannt, oft weiteren Kreisen unbekannt, unter schwierigen Verhältnissen tüchtige Arbeit für die Bewegung geleistet haben. Als ich im Jahre 1908 von der leitenden Stelle zu rücktrat, zählten wir in Deutschland in den Staaten, in denen die Gesetze dem nicht entgegenstanden, unge fähr 11000 politisch organisierte Frauen und in 57 Orten etwa 9000 Zahlerinnen freiwilliger Parteibeiträ ge. Außerdem hatten wir mehr als 400 weibliche Ver trauenspersonen, denen je eine Anzahl Helferinnen zur Seite stand, mit denen sie die Agitation betrieben, Versammlungen veranstalteten, Gelder gesammelt, für die »Gleichheit« Abonnenten gewonnen haben usw. Gedenken wir auch der vielen, die in Werkstu bensitzungen die Arbeiterinnen aufrüttelten, ihnen ihre Rechte und Pflichten klarzumachen suchten, fer ner derer, die Lese- und Diskutierabende leiteten, die
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in einem Kreis von Frauen die Werke unserer Meister lasen und diskutierten, das sozialdemokratische Pro gramm zu verstehen strebten, um dann ihr Wissen und Können weiteren Kreisen zugänglich zu machen! Dann ist des segensreichen Wirkens der Kinder schutzkommission zu gedenken, deren Tätigkeit gar manches Kind vor Brutalität und frühzeitiger Ausnut zung seiner Arbeitskraft geschützt hat. Eine kleine Anzahl Genossinnen wirkte in der Armenverwaltung, andere betätigten sich als Waisenpflegerinnen. Auch die Frauenbildungsvereine, die Jahre hindurch uns die politischen Vereinigungen ersetzen mußten, deren Zahl jetzt 94 mit etwa 10500 Mitgliedern betrug, haben Unschätzbares für die Aufklärung der Frauen geleistet. Erinnert sei an den Bildungsverein der Frau en und Mädchen der Arbeiterklasse Berlins, dessen geschickter Leitung es zu danken war, daß er ohne Fährnisse 25 Jahre bestehen konnte. Es wurden Vor träge über die verschiedensten Wissensgebiete gehal ten, so über die Frauenfrage, die Erziehung der Kin der, Gesundheitslehre, Schulfragen, Wohnungshygie ne, Wohnungseinrichtungen u. dgl. Künstler sprachen über Malerei und Bildhauerei, mit Vorführung von Werken alter und neuer Meister. Führungen durch Museen, den Botanischen Garten wurden veranstaltet, die städtischen Anstalten, z.B. das Altersheim in Buch, die Erziehungsanstalten in Groß-Beeren und
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Zehlendorf wurden besichtigt und anderes mehr. Die Märchenvorlesungen für Kinder und die musikali schen Darbietungen, wie die Feste, die der Verein bei allen sich bietenden Gelegenheiten veranstaltete, waren mustergültig. So hat dieser Berliner Verein den Frauen unendlich viel Belehrung, Gutes und Schönes fürs Leben gebracht. So wie der Berliner Verein haben wohl die meisten dieser Vereine in den Großstädten Deutschlands ihre Aufgabe zu lösen gesucht. In den kleineren Orten, in denen für vieles die belehrenden Kräfte nicht vorhan den waren, mußte man sich mit einfacheren Darbie tungen begnügen. Aber auch sie haben den Zusam menhalt der Frauen ermöglicht und ihnen Belehrung geboten, sie empfänglicher für Gutes und Schönes ge macht. Vieles ist errungen worden. Der Kampf gegen reak tionäre Gesetze, für freieres Recht ist unerschrocken geführt worden. Weder behördliche Schikane noch Anklagen und Verurteilungen haben uns von dem Kampf für unser Menschenrecht abzubringen ver mocht. Wir haben statt des Arbeitstages von 13, 15, ja oft mehr Stunden jetzt den Achtstundentag, um den die Kämpfe vieler Jahre geführt worden sind. Das schmachvolle preußische Vereinsgesetz, das uns Frauen auf gleiche Stufe mit Idioten und Verbrechern stellte, ist einem freieren Reichsvereinsgesetz gewi-
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chen. Das freie Wahlrecht, für das wir in jahrzehnte langem Kampfe gestanden haben, ist errungen wor den, und vieles andere. Möge die jetzige Generation nun auf diesem freieren Boden den Kampf für den So zialismus mutig und zielklar weiterführen, für den manchen Weg zu ebnen der Erfolg der vergangenen Jahre und Kämpfe war.
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