3.119 Baader: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen Baader-Erinnerungen
Ottilie Baader
Ein steiniger Weg Lebenserinner...
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3.119 Baader: Ein steiniger Weg. Lebenserinnerungen Baader-Erinnerungen
Ottilie Baader
Ein steiniger Weg Lebenserinnerungen einer Sozialistin
Deutsche Autobiographien
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Mein hohes Alter läßt es nicht mehr zu, so wie ich es früher oft und gern getan habe, zu meinen Genossinnen zu sprechen. Die fortschreitende Entwicklung hat den Frauen neue Aufgaben zugewiesen, an deren Erfüllung ich mich nicht mehr beteiligen kann, obwohl mein Sehnen und Wünschen mich noch immer dazu drängt. So will ich durch dieses Buch noch einmal zu den älteren und jungen Genossinnen sprechen. Ich will denen, die in jenen Zeiten mit mir für unser großes, heiliges Ziel gekämpft, die in zähem, gemeinsamem Ringen manches Stück Freiheit erobert haben, aus vollem Herzen danken, den jüngeren aber zurufen: »Haltet die Rechte, die euch die neue Zeit gebracht hat, fest und gebraucht sie wie eine heilige Pflicht für die Zukunft, für den Sozialismus!« Es ist mir aber auch ein Herzensbedürfnis, an dieser Stelle der Genossin Johanna Heymann, die mir bei der Bearbeitung des Materials so hilfreich zur Hand gegangen ist und mir so viele Stunden geopfert hat, laut und herzlich meinen Dank zu sagen. Ottilie Baader
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Erstes Kapitel
Kindheit und erste Arbeitsjahre Es war nicht meine Absicht, in diesen Erinnerungen auch von mir selbst, von meinem eigenen Leben zu sprechen. Aber mein Leben ist von kleinauf Arbeit gewesen, und all das, wovon ich hier erzählen will, baut sich auf diesem Arbeitsleben auf und ist von dieser Grundlage aus erst recht zu verstehen. Es ist auch kein besonderes Leben; so wie ich lebte und schaffte, haben Tausende von Arbeitermädchen meiner Zeit gelebt und geschafft. Meine Eltern lebten in Frankfurt an der Oder, wo der Vater in einer Zuckerfabrik als Zuckerscheider arbeitete. Zu dieser Arbeit waren chemische Kenntnisse nötig, die der Vater, der eine bessere Schule hatte besuchen können, sich angeeignet hatte. Seine bessere Schulbildung ist mir schon in den Kinderjahren und dann noch mehr in sehr viel späteren Jahren gut zustatten gekommen. Er hat für sich selbst nie großen Nutzen daraus gezogen und sich auch nie recht zur Geltung bringen können. Ich bin als zweites Kind meiner Eltern 1847 geboren. Nach mir kamen noch zwei Geschwister. Mir waren nur wenige sorglose Kinderjahre beschieden, und es sind liebe und freund-
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liche Bilder, die aus jenen ersten sieben Jahren meines Lebens aufleuchten. Die Mutter war eine fleißige Frau mit einem sanften Gesicht, und wir Kinder haben kein scharfes Wort von ihr gehört. Aber sie hat manches Wort gesagt, das die vielen Jahre meines Lebens nicht aus der Erinnerung haben wegwischen können, und ich habe oft gedacht, daß ich das Beste doch von ihr gelernt habe. Mir ist, als sähe ich sie noch am Fenster unserer Stube sitzen und nähen. Sie arbeitete auch mit, soweit es irgend ging, und nähte dann für die Zuckerfabrik Preßtücher. Manchmal kamen wir zu ihr gesprungen, hatten uns kleine, purpurrote Spinnen, die wir »Liebgotteskühe« nannten, auf die Hand gesetzt und zeigten sie ihr. Sie freute sich darüber, sagte aber dann: »Nun trag schnell das Tierchen wieder dahin, wo du es gefunden hast, sonst stirbt es.« Wir haben nie Maikäfer gefangen und in Schachteln gesperrt, und auch mein älterer Bruder hat nie ein Tier gequält. Ich weiß, daß ich einmal einen Schmetterling, einen ganz einfachen Kohlweißling, gefangen hatte, und es gefiel mir so, die Flügelchen zwischen den Fingern zu reiben. Auf einmal merkte ich, daß der zarte Schimmer von den Flügeln fort war, und ich ging ganz erstaunt zur Mutter und zeigte es ihr. »Ja«, sagte sie, »weißt du auch, was du gemacht hast? Du hast ihm weh getan, und er muß wahrscheinlich früher sterben. Das ist so, als wenn man dir die Kleider aus-
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ziehen würde und du müßtest nackt herumlaufen. Du könntest dir dann schon noch wieder andere Kleider anziehen, aber solchem armen Schmetterling wächst kein neues Kleid mehr.« Ich habe sicher keinem Schmetterling wieder den Staub von den Flügeln gestreift. Als ich dann schon etwas älter war, hat sie und auch der Vater mir und meinem Bruder die ersten Schulkenntnisse beigebracht. Wir wohnten etwa eine Meile außerhalb der Stadt und gingen nicht regelmäßig in die Schule. Aber wir durften, wenn wir wollten, mit den anderen Kindern in die Dorfschule gehen und dort zuhören. Großen Wert legte die Mutter auf die Gewöhnung ihrer Kinder an Ordnung. So mußten wir jeden Abend, wenn wir uns auszogen, unsere Sachen nachsehen, und wenn irgendein Schaden an Strümpfen oder Kleidern war, mußten wir es ihr bringen, damit sie es, wenn wir im Bett waren, wieder heilmachen konnte. Eines Abends hatte ich meinen Strumpf, an dem, wie ich ganz genau wußte, ein Loch war, aus Müdigkeit oder Nachlässigkeit nicht gebracht. Vielleicht hat sie dann, als ich schlief, selber nachgesehen. Ich zog am andern Morgen den Strumpf mit dem Loch wieder an und sprang vergnügt mit den andern Kindern in die Schule. Als ich aber dann nach Hause kam, sagte die Mutter: »Du hast ja ein Loch im
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Strumpf!« Sprachlos schaute ich sie einen Augenblick an und sagte dann rasch: »Aber das sieht man doch nicht!« – »Doch«, sagte sie, »das sieht man ganz genau, wenn jemand ein Loch im Strumpf hat!« Sie meinte, man sähe es dem Menschen an, wenn er an sich selbst und seiner Kleidung nachlässig wird. Der Vater hatte seine Arbeit in der Zuckerfabrik aufgegeben und war nach Berlin gegangen. Hier arbeitete er bei Borsig. Er hatte die Absicht, uns nachkommen zu lassen, wenn er erst eingerichtet und eine Wohnung gefunden hatte. Drei Taler verdiente er in der Woche, davon schickte er regelmäßig zwei Taler an die Mutter, und für uns Kinder wurde immer ein Groschen mit eingesiegelt. Heute fahren die Familienväter, die auswärts arbeiten, jeden Sonnabend nach Hause. Das ging damals nicht. Mit der Post war es teuer oder es mußte eine Gelegenheit abgewartet werden. So kam es, daß der Vater eine ganze Zeitlang nicht zu Hause war. Als er dann wiederkam, erschrak er über das Aussehen unserer Mutter und ließ den Arzt kommen. Dieser ging nach der Untersuchung mit ihm heraus und sagte, er wollte etwas verschreiben und nach zwei Tagen wiederkommen und sehen, ob noch zu helfen wäre. Aber es war zu spät, und sie starb dann sehr bald an der galoppierenden Schwindsucht. Von uns Kindern war das älteste acht und das jüngste drei Jahre alt. Aber selbst solch ein Unglück
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muß noch einen Gefährten haben! Es waren schlimme Wintertage und draußen war Glatteis. Mein Vater fiel und verstauchte sich die rechte Hand. So fiel mir siebenjährigem Ding gleich die ganze Arbeit zu. Das erste aber war, daß ich die tote Mutter waschen und ihr die Haube aufsetzen mußte. Die Leute kamen und lobten mich und nannten mich ein »gutes Kind«, und niemand wußte, welches Grauen in mir war vor der Unbegreiflichkeit des Todes. Der Verdienst des Vaters reichte kaum zum dürftigsten Leben. Wir wußten deshalb nicht, woher das Geld nehmen für die Beerdigung der Mutter. Da kamen als Retter in der Not die Borsigschen Arbeiter und brachten uns eine Summe Geldes, die sie unter sich gesammelt hatten. Der Vater hat sich nicht wieder verheiratet. Während der Kinderzeit und bis in meine späteren Jahre hinein wurde bei vielen Gelegenheiten immer wieder gefragt: Was würde die Mutter dazu sagen, und was würde sie tun? Das wuchs sich fast zu einem Kultus aus, der für die freie Entwicklung sicher hemmend war. Durch die Verhältnisse gezwungen, mußte mein Vater nun wieder in Frankfurt arbeiten. Aber sein Verdienst reichte nie so weit, daß er hätte für den Haushalt eine ordentliche Wirtschafterin nehmen können. So waren wir Kinder uns meist selbst überlassen und wuchsen ohne mütterliche, ja ohne
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weibliche Fürsorge auf. Arbeiten und Sorgen haben wir aber von früh- auf kennengelernt. Ich kam erst etwa im zehnten Jahre in die Schule. Lesen, Schreiben und Rechnen hatte ich von meinem Vater gelernt. Bei der Prüfung wurde ich für die dritte Klasse reif befunden. Es war eine Mittelschule, in einem alten Kloster untergebracht, und sie galt für die damalige Zeit als eine gute Schule. Es hieß, daß die Mädchen dort vor allem zu »guten Sitten« erzogen wurden. Leise, zart und sanft sein war das Frauenideal dieser Zeit, und der Vater hatte gerade an der Mutter ihre Sanftheit geliebt und wollte, daß auch seine Töchter so wurden. Lange bin ich nicht in die Schule gegangen. Als ich dreizehn Jahre alt wurde, zog der Vater mit uns nach Berlin, und hier war es mit meinem Schulbesuch vorbei. Ich mußte arbeiten und mußte mitverdienen. Es brauchte kein großer Familienrat abgehalten zu werden, um den richtigen Beruf zu wählen, denn groß war die Auswahl für Mädchen damals nicht. In der Schule war ich immer gelobt worden, weil ich gut nähen und vor allem gute Knopflöcher machen konnte. Ich sollte also Wäsche nähen. Die Frau eines Sattlergesellen hatte in der Neanderstraße eine Nähstube für Oberhemden. Es wurde noch alles mit der Hand genäht. Nähmaschinen waren noch recht wenig im Gebrauch. Einen Monat lernte ich unentgeltlich, dann
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gab es monatlich drei Taler. Zwei Jahre später verdiente ich schon fünf Taler jeden Monat. Dabei aber blieb es dann auch einige Jahre. Um noch etwas nebenbei zu verdienen, nahm ich abends Manschetten zum Durchsteppen mit nach Hause. Durchsteppen – das hieß: mit der Hand immer über zwei Fäden. Einen Groschen gab es für das Paar. Wie oft mögen mir jungem Ding da wohl die Augen zugefallen sein, wie mag mir der Rücken geschmerzt haben! Zwölf Stunden Arbeitszeit hatte man immer schon hinter sich, von morgens acht bis abends acht, mit kurzer Mittagspause. Freundlich ist die Erinnerung an meine erste Meisterin nicht. Ich habe nie wieder in so schamloser Weise von den intimsten Vorgängen reden hören wie von dieser Frau. Es war noch eine andere Näherin da, ein Mädchen, die in der Art zu der Frau paßte, und die beiden legten sich denn auch vor mir keinen Zwang auf. Ich habe wohl manchmal große Augen gemacht, wenn mir das alles böhmische Dörfer waren, und dann hieß es: »Na, Kleine, du brauchst ja deine Ohren nicht überall dabei zu haben!« Diese Gemeinheiten blieben aber an mir nicht haften. Nur einzelnes Unverständliches blieb mir im Gedächtnis, und nachdem ich durch das Leben schon so manches erfahren hatte, kam hier und da ganz plötzlich das Verständnis für so ein unbewußt im Gedächtnis gebliebenes Wort.
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So habe ich mir nicht denken können, was das hieß: Die Näherinnen gehen ja doch alle auf den Strich! Da ich selbst Näherin war, ging es mich doch wohl auch an. Zum Fragen aber war ich zu schüchtern, und so haben mir erst viel spätere Jahre auch hierfür ein grelles Licht des Verstehens angesteckt. Und auch darüber habe ich oft nachdenken müssen, wie so ein junges Ding, wenn es empfänglich dafür ist, durch die Leichtfertigkeit solcher Frau schon frühzeitig in Grund und Boden verdorben werden kann. Ich blieb einige Jahre beim Wäschenähen und arbeitete dann auch mit meiner Schwester, die nun herangewachsen war, zusammen. Sie war dreister als ich, und sie hat dann auch dafür gesorgt, daß wir uns andere Arbeit suchten. Wir fanden sie in der Wollfabrik von Schwendy in der Gitschiner Straße, aber wir kamen in verschiedene Arbeitssäle. Etwas mehr verdienten wir wohl hier, zwei Taler in der Woche, dafür aber waren die Zustände in dieser Fabrik ganz furchtbar, und es hieß, wer ein paar Jahre dort arbeitet, hat die Schwindsucht. Unser Meister war gut, aber Macht hatte auch er nicht. Organisationen, die unser Interesse wahrnahmen, gab es nicht, ebensowenig gab es eine Gewerbeaufsicht. So mußten wir diese Zustände eben hinnehmen. Wir hatten von dicken Wolltupfen dünnere Stränge zu spinnen. Wenn nun die Wolle schleuderte und
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Schlingen warf, die wieder in Ordnung gebracht werden mußten, durfte nicht etwa die Maschine angehalten werden, sondern wir mußten in das laufende Getriebe hineinfassen, in aller Geschwindigkeit die dikken Stellen herausnehmen, die Fäden wieder zusammenwirbeln und -knoten, damit sie durch die Öse gingen. Das gab zerschundene Hände und Knie. Schlimm war hier so manches. Die Aborte lagen neben dem Arbeitssaal. Da noch alle Kanalisation fehlte, kam es nicht eben selten vor, daß sie überliefen und im Arbeitssaal eine kaum zu ertragende Luft verbreiteten. In dieser Luft mußten junge Menschen Tag für Tag arbeiten. Dann mußte sehr oft nachts gearbeitet werden. Das geschah in der Weise, daß gewöhnlich die Nacht vom Freitag auf den Sonnabend eingelegt wurde. Der Sonnabend war dann aber nicht etwa frei, sondern mußte ebenso durchgearbeitet werden wie alle anderen Tage. Das heißt also, es waren drei Tagesschichten hintereinander, ohne nennenswerte Pausen dazwischen. In der Nacht gab es eine Tasse Kaffee, d.h. dicke Zichorienbrühe, die ich nicht herunterbringen konnte. Ich war damals so elend, daß ich wohl wie eine halbe Leiche an der Maschine stand. Das fiel sogar dem Chef auf. Ich höre noch, wie er zu dem Werkführer sagte: »Wie sieht denn die aus? Die ist wohl krank?« – »Ja«, sagte der Werkführer, »die kann das Nachtarbeiten eben nicht vertragen. Das ist
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auch zuviel für ein ordentliches Mädchen« Es ist später hier nicht mehr nachts gearbeitet worden. Dieser Chef führte dann auch eine neue Lohnmethode ein, wie es hieß, zu unserm Vorteil. Wir sollten die vollgesponnenen Rollen abwiegen, und was wir mehr als ein bestimmtes Quantum hatten, sollte uns extra bezahlt werden. Wir waren natürlich, verlockt durch die Aussicht, mehr zu verdienen, dazu bereit und arbeiteten nun um die Wette. Da hatte eine der Arbeiterinnen ein für die damalige Zeit merkwürdig richtiges Einsehen. Ich sehe sie noch, wie sie eines Tages mitten unter uns stand, ein hübsches, rotblondes Mädchen aus Rixdorf, und uns sagte: »Kinder, seid doch nicht dumm! Der will doch bloß sehen, wieviel wir arbeiten können. Wenn wir wirklich ein paar Wochen lang ein paar Groschen mehr dabei haben, das ziehen sie uns doch nachher wieder ab.« Ich bin zwei Jahre in dieser Fabrik gewesen. Dann habe ich verschiedenes gearbeitet, auch Mäntel genäht. Man mußte eben allerlei versuchen, wenn man keine regelrechte Lehre durchgemacht hatte. Eine eigentliche Lehrzeit, wenn auch nur eine sehr kurze, habe ich erst später gehabt.
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Zweites Kapitel
Nähmaschine und Heimarbeit Die Nähmaschinenindustrie hat sich in Deutschland erst in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts so entwickelt, daß die Nähmaschine auch hier zu allgemeinerer Verwendung kam. Das rief vor allem in der Frauenerwerbsarbeit, und namentlich in der Wäscheherstellung, eine große Umwälzung hervor. Als besondere Branche entstand die Herstellung von Kragen und Manschetten, die vorher feste Bestandteile des Herrenoberhemdes gewesen waren. In Berlin waren es damals vier oder fünf Firmen, die ihre Herstellung im großen betrieben. Ich hatte inzwischen, wie schon gesagt, allerlei versucht. Jetzt aber lernte ich auf der Maschine nähen und kam in eine dieser Fabriken in der Spandauer Straße. Dort wurden etwa fünfzig Maschinennäherinnen und ebensoviele Vorrichterinnen beschäftigt. Je eine Arbeiterin dieser beiden Gruppen mußten sich immer zusammentun und gemeinsam arbeiten, und auch der Lohn wurde gemeinsam berechnet. Von morgens acht bis abends sieben Uhr dauerte die Arbeitszeit, ohne namhafte Pause. Mittags verzehrte man das mitgebrachte Brot oder lief zum »Budiker« nebenan,
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um für einige Groschen etwas Warmes zu sich zu nehmen. Sieben, höchstens zehn Taler die Woche war der von Vorrichterin und Maschinennäherin gemeinsam verdiente Lohn. Da das Maschinennähen körperlich anstrengender als das Vorrichten war, so bestand die Gepflogenheit, daß die Maschinennäherin vom Taler 171/2 und die Vorrichterin 121/2 Groschen erhielt. Vor der Teilung wurden aber von dem gemeinsam verdienten Lohn die Kosten für das vernähte Garn und etwa zerbrochene Maschinennadeln abgezogen, was durchschnittlich auf den Taler 21/2 Groschen betrug. Den ersten Anstoß, eine Änderung dieser ganzen Verhältnisse selbst in die Hand zu nehmen, brachte uns erst der Deutsch-Französische Krieg. Unmittelbar nach seinem Ausbruch gab es auch in der Wäscheindustrie einen Stillstand des Absatzes. Arbeiterinnen wurden entlassen und standen mittellos da, denn von dem Verdienst konnte niemand etwas erübrigen. Unsere Firma wollte das »Risiko« auf sich nehmen, uns auch bei dem eingeschränkten Absatz voll zu beschäftigen, wenn wir für den »halben« Lohn arbeiten wollten. Von Organisation hatten wir keine Ahnung – und wir waren in einer Notlage, denn die meisten Arbeiterinnen waren auf sich selbst angewiesen; sie lebten, wie man sagt, von der Hand in den Mund. So sagten wir zu, es einmal eine Woche zu versuchen.
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Nun wurde drauflosgeschuftet. Das Resultat aber war kläglich; von dem um die Hälfte gekürzten Lohn wurden uns die vollen Kosten für Garn und Nadeln in Abzug gebracht. Das brutale Vorgehen des Unternehmers brachte uns zur Besinnung. Wir beschlossen einmütig, lieber zu feiern, als für einen solchen Schundlohn zu arbeiten, von dem zu existieren nicht möglich war. Drei Arbeiterinnen, zu denen auch ich gehörte, wurden bestimmt, dies dem Chef mitzuteilen. Als die Deputation ihm nun den Gesamtbeschluß vortrug, wollte er uns damit beschwichtigen, daß er erzählte, sobald Siegesnachrichten eingingen, würde das Geschäft sich sofort wieder heben und die Löhne steigen. Er hatte wohlweislich vermieden zu sagen, »die alte Höhe erreichen«. Wir waren glücklicherweise in dem Moment schlagfertig genug zu antworten, der Lohn steige nie so schnell, wie er herabgesetzt würde und zudem habe dann das Geschäft ein volles, zu den niedrigen Löhnen hergestelltes Lager. Als der Chef merkte, daß wir uns nicht so leicht unterkriegen ließen, wurde er so wütend, daß er uns rot vor Ärger anschrie: »Na, dann werde ich euch den vollen Preis wieder zahlen! Wollt ihr nun wieder arbeiten?« Da antworteten wir ihm kurz: »Jawohl, nun werden wir wieder arbeiten.« Wir waren durch unsern Erfolg selbst überrascht. Dem Unternehmer aber war es ebenso neu, daß Arbei-
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terinnen sich zusammenfanden und geschlossen ihre Forderungen stellten. Er war überrumpelt worden, zudem waren die Kragennäherinnen damals auch sehr gesucht. Mich ließ der Chef dann bald nachdem einmal in sein Kontor rufen und sagte mir, ich brauchte nicht zu befürchten, daß mir mein Eintreten in dieser Sache bei meiner Arbeit etwa schaden würde. Solange er Arbeit hätte, würde ich auch bei ihm zu tun finden. Das hörte sich zwar ganz gut an, stimmte aber nicht. Es wurde hier und da an meiner Arbeit herumgetadelt, und es dauerte nicht lange, da gefiel mir diese Art nicht mehr, und ich ging von selbst fort. Die Einmütigkeit der Arbeiterinnen, die uns diesen Erfolg gebracht hatte, war nicht von Dauer. Es stellte sich auch nach den Siegesnachrichten der geschäftliche Aufschwung nicht so schnell wieder ein. Die Unternehmer hatten aber gelernt. Sie griffen eben nicht wieder so brutal ein, sondern gingen behutsamer vor. Es wurden mit einzelnen Arbeiterinnen, die in besonderer Notlage waren, Lohnabzüge vereinbart. Statt des Zusammenhalts entstand dadurch natürlich Mißtrauen unter den Arbeiterinnen, und es dauerte noch manches Jahr, bis die Arbeiterinnen die Absicht erkannt, und dem Unternehmertum in geschlossener Organisation entgegentraten. Das war für viele ein langer Leidensweg. Ich kaufte mir dann eine eigene Maschine und ar-
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beitete zu Hause. Dabei habe ich das Los der Heimarbeiterin zur Genüge kennengelernt. Von morgens um sechs bis nachts um zwölf, mit einer Stunde Mittagspause, wurde in einer Tour »getrampelt«. Um vier Uhr aber wurde aufgestanden, die Wohnung in Ordnung gebracht und das Essen vorbereitet. Beim Arbeiten stand dann eine kleine Uhr vor mir und es wurde sorgfältig aufgepaßt, daß ein Dutzend Kragen nicht länger dauerte wie das andere, und nichts konnte einem mehr Freude machen, als wenn man ein paar Minuten sparen konnte. So ging das zunächst fünf Jahre lang. Und die Jahre vergingen, ohne daß man merkte, daß man jung war und ohne daß das Leben einem etwas gegeben hätte. Um mich herum hatte sich auch so manches geändert. Meine Schwester und dann auch mein Bruder hatten geheiratet, meine jüngste Schwester war bei einer Kahnpartie ertrunken. Der Vater konnte schon lange nicht mehr arbeiten, und so war es mir gegangen, wie es sooft alleingebliebenen Töchtern in einer Familie geht, die nicht rechtzeitig ein eigenes Lebensglück fanden: sie müssen das Ganze zusammenhalten und schließlich nicht nur Mutter, sondern auch noch Vater sein, das heißt Ernährer der Familienmitglieder, die sich nicht selbst erhalten können. So habe ich meinen Vater über zwanzig Jahre erhalten, und ich habe immer so viel arbeiten können, daß es mir ge-
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lang, eine Wohnung von Stube und Küche zu halten. Meinem Bruder starb die Frau, als das erste Kind, ein Mädchen, noch ganz klein war. Ich habe dieses Kind zu mir genommen, und es hat mir in dem Jahr viel Freude gemacht. Es hat dann bei mir laufen gelernt. Aber als mein Bruder sich wieder verheiratete, mußte ich es zurückgeben. Mein Bruder starb selber nach einigen Jahren, und ich habe dann häufig auch noch die beiden Jungens aus der zweiten Ehe bei mir gehabt, weil die Mutter verdienen mußte. Ich kann nicht sagen, daß ich immer sehr froh war. Schließlich hatte auch ich etwas anderes vom Leben erhofft. Ich habe manchmal das Leben so satt gehabt, so Jahr um Jahr immer an der Nähmaschine, immer nur Kragen und Manschetten vor sich, ein Dutzend nach dem anderen, das Leben hatte gar keinen Wert, man war nur eine Arbeitsmaschine und hatte keine Zukunftsaussichten. Und von dem Schönen in der Welt sah und hörte man nichts, davon war man einfach ausgeschlossen. Es ging mir dann eine Zeitlang wenig gut. Ich war bei meiner anhaltenden Arbeit krank geworden, und der Arzt sagte, ich müßte dieses dauernde Maschinennähen aufgeben. Da fing ich an, Schürzen zu nähen, bei denen doch etwas Handarbeit zwischendurch zu machen war. Ich bekam dann auch einen Halbtagsposten zum Abnehmen fertiger Ware. Das war wohl
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etwas Abwechslung, aber im ganzen ging die Arbeit weiter wie bisher. Als junges Mädchen gehörte ich auch eine Zeitlang dem Arbeiterinnenverein an, den Lina Morgenstern gegründet hatte. Es wurde Unterricht im Rechnen, Schreiben und Deutsch gegeben, und zwar vollständig unentgeltlich. Aber nicht alle Lehrer waren pünktlich zur Stelle, und so haben wir die für uns so kostbaren Sonntagvormittagsstunden öfter unnütz warten müssen. Wir erklärten dann Frau Morgenstern, den Unterricht lieber bezahlen zu wollen, als unsere Zeit so nutzlos zu vergeuden. Es war damals die Not groß, viel Arbeitslosigkeit, die Lebensmittel sehr teuer. Von den bürgerlichen Vereinen wurde eine Verkaufsstelle für Handarbeiten an der Stechbahn eingerichtet, und in einer Arbeiterinnenversammlung wurde gesagt, daß auch wir dort unsere Arbeiten anbringen könnten. Eine Arbeiterin fragte, was man da verdiene. Die Summe, die genannt wurde, war so klein, daß sie sagte: »Dann bleibe ich lieber Bogenfängerin in meiner Druckerei, da weiß ich wenigstens, was ich sicher habe.« Einmal wurde von den Mitgliedern des Morgensternschen Arbeiterinnenvereins gesagt: »Diese Weiber, diese Sozialdemokraten, Frau Staegemann, Frau Cantius und wie sie alle heißen mögen, die sollen ja wahre Hyänen sein.« Da hatten doch ein paar andere
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den vernünftigen Gedanken: »Wir können doch aber erst einmal hören, was sie zu sagen haben.« Es fand sich dann auch bald eine Gelegenheit, eine Versammlung zu besuchen, in der sozialdemokratische Frauen sprachen; ich habe sie nicht gehört, aber der Eindruck, von dem mir erzählt wurde, war ein solcher, daß die Arbeiterinnen sagten: »Das ist richtig, das kann man doch vertreten.« Als ich dann zum erstenmal in eine sozialdemokratische Versammlung kam, habe ich zuerst aufgehorcht. Hier sprachen die Menschen alle so von der Leber weg, so ruhig und selbstverständlich, daß es mir wie eine Erlösung war. Es dauerte aber noch geraume Zeit, bis ich zur Sozialdemokratie kam.
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Drittes Kapitel
Unter dem Sozialistengesetz Politische Anfänge Die Arbeiterbewegung stand zahlenmäßig trotz mancher schönen Anfänge doch noch aufrecht schwachen Füßen. Die großen Massen kannten nur die Tretmühle der Arbeit und kümmerten sich nicht um Gesetzgebung und andere öffentliche Angelegenheiten. Die sogenannten Gründerjahre, die dem Krieg gegen Frankreich folgten, entfesselten eine wüste Spekulation. Der Schwindel stand in Blüte. Millionenunternehmungen entstanden. Der Reichtum wuchs, und auch die Löhne stiegen. Aber noch viel mehr stiegen die Wohnungsmieten und die Lebensmittelpreise. Die Wohnungsnot spottete jeder Beschreibung. Massen proletarischer Familien waren obdachlos; sie kampierten mit ihren Habseligkeiten auf dem freien Gelände in der Umgebung Berlins. Unter dem Druck der Verhältnisse öffneten sich nun doch auch den Gleichgültigsten die Augen. Noch aber hatten weder die Partei noch die Gewerkschaften eine feste Form. Die Führer, Bebel und Liebknecht, traten wohl für Arbeiterschutz, höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit u.a. ein, aber die kapitalistische Entwick-
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lung der Zeit nach dem Kriege verhinderte jeden Erfolg dieser Forderungen für die Arbeiter. Daraus entstanden Streiks über Streiks, und die ganze Hetze polizeilicher Verfolgungen setzte ein. Aber unter all diesen Kämpfen wuchs das Klassenbewußtsein der Arbeiter. 1875 kam es dann auch zu einer Vereinigung der beiden bestehenden Parteirichtungen. Als dann 1878 das Sozialistengesetz erlassen wurde, wandte sich das Interesse immer weiterer Kreise des Proletariats politischen Fragen zu. Die Ausweisungen von Familienvätern, die Unterdrückung der sozialistischen Agitation überhaupt bewirkte, daß viele Proletarier erst von dieser Partei und ihrer Tätigkeit Kenntnis erhielten. Eine Partei, deren Angehörige heldenmütig solche Leiden ertrugen, mußte von hohen Idealen erfüllt sein. Es war fast wie bei den ersten Christenverfolgungen. Je mehr Sozialisten ausgewiesen wurden, um so stärker wuchs im geheimen die Schar der Anhänger. Das ist die werbende Kraft der reinen Ideale. Die wirtschaftliche Entwicklung brachte es mit sich, daß immer mehr Frauen aus der Familie gerissen und in die Fabriken, Werkstätten, auf die Bauten, in die Landarbeit, die Kohlengruben gedrängt wurden. Sie fanden auch in Berufen Arbeit, die sonst ausschließlich von Männern ausgeübt wurden. Diese Frauen aber, deren Tätigkeitsfeld bisher nur die Fami-
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lie war, verstanden es nicht, die Erwerbsarbeit in Geld zu bewerten, sie betrachteten ihren Lohn meist nur als Zubuße zu dem des Mannes. Sie arbeiteten für viel geringeren Lohn als die Männer und beeinflußten so die Lebenshaltung der Arbeiterklasse auf das allerschlimmste. Das Unternehmertum begriff aber sehr schnell, daß trotz der niedrigen Löhne die weibliche Arbeitsleistung meist nicht geringer als die der männlichen Arbeiter war, der Profit dadurch also bedeutend erhöht wurde. Zudem nahm die Hausindustrie, die elendste aller Betriebsweisen, einen immer größeren Umfang an. Hand in Hand damit ging die Verlotterung des Hauswesens und die Vernachlässigung der Kinder des Proletariats. Das Interesse der gesamten Arbeiterschaft erforderte es daher, zu versuchen, diese Zustände zu ändern, die Schmutzkonkurrentin in eine Kampfgenossin zu wandeln und eine Arbeitszeitverkürzung vorerst für die Frau und Mutter herbeizuführen. Ferner sollten von Staat und Reich sanitäre Maßnahmen gefordert werden. Auch den Frauen erstand in dieser Zeit ein Wecker und Rufer zum Kampf. August Bebel gab sein Buch »Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« heraus. Für mich war dieses Buch aber nicht das erste an sozialistischen Schriften, die ich in die Hand bekam, sondern Marx' »Kapital«, das ebenfalls in dieser Zeit erschien. In welchem Abhängigkeitsver-
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hältnis die Frauen, auch die arbeitenden Frauen, damals noch zu ihren männlichen Familienangehörigen standen, habe ich am eigenen Leibe erfahren. Trotzdem ich nun schon lange die alleinige Erhalterin unseres kleinen Haushaltes war, blieb ich für meinen Vater die Tochter, die keine eigene Meinung zu haben brauchte, die sich in allem unbedingt nach ihm zu richten hatte. Ich war von Natur nachgiebig und fügte mich, konnte aber schließlich, als die Zeiten auch für uns immer ernster wurden, meine Gedanken nicht ganz unterdrücken. Da wir den ganzen Tag aufeinander angewiesen waren, ergab es sich von selbst, das wir auch über die Tagesereignisse sprachen. Der Vater hatte, wie ich schon erzählte, eine gute Schulbildung gehabt, und er hat mir dadurch das Verständnis für manche Zusammenhänge geöffnet, das ich mir sonst wohl mühsamer hätte suchen müssen. Er fing dann auch an, mir bei der Arbeit vorzulesen, und es war im ganzen doch eine schöne Zeit bei allem Ernst und bei allem Streit, den wir manchmal miteinander hatten. Aus der Landeskirche sind wir 1877 ausgeschieden, von da an gehörten wir der Freien Gemeinde an. Hier sind wir dann öfter mit Menschen zusammengekommen, die sich schon Sozialdemokraten nannten. Aber erst ein Zufall hat uns in die Bewegung hineingebracht. Es sollte eine neue Wohnung gesucht wer-
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den, und der Vater sah sich danach um. Er fand eine, aus der die bisherigen Mieter sehr schnell ausziehen mußten, weil der Mann als Sozialist ausgewiesen wurde. Der Vater kam mit diesen Leuten näher in Berührung und lernte dabei erst die Bedeutung des Sozialistengesetzes für die Arbeiterklasse verstehen. Denn es handelte sich hier um ordentliche Leute, die absolut nichts getan hatten, als daß sie eben Sozialdemokraten waren und kein Hehl daraus machten. Von da an interessierten wir uns für alle die Fragen, die damit zusammenhingen, und kauften uns häufig sozialistische Zeitungen. Es kam schließlich so weit, daß der Vater auch ab und zu Artikel für das »Volksblatt« schrieb, trotzdem wir uns noch lange nicht zur Partei rechneten. Auch von Bebel hatten wir öfter gelesen, und eines Tages war eine Versammlung, in der er sprechen solle, angekündigt. Mein Vater ging hin. Diese Versammlung wurde aufgelöst, der Vater kam sehr empört nach Hause. Bebel aber hatte ihm gefallen. »Das ist ja so ein ganz einfacher Mann, ein schlichter Handwerker.« Als ich dann selbst auch mitzugehen verlangte in solche Versammlungen, war mein Vater zuerst nicht dafür zu haben und suchte es mir auszureden: es wären keine Frauen da, und man würde gar nicht hereingelassen. Ich erreichte es dann aber doch, daß er mich mitnahm.
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Die beiden Bücher, die ich schon nannte, August Bebels »Frau« und Karl Marx' »Kapital«, erregten gerade in der Zeit des Sozialistengesetzes das allergrößte Aufsehen. Beide Werke wurden sofort als staatsgefährlich verboten, aber trotzdem recht viel und eifrig gelesen und diskutiert. Da harte Strafe auf die Verbreitung der Werke angedroht war, mußte man bei der heimlichen Beschaffung recht vorsichtig sein. In dieser Zeit, in der das öffentliche Leben so in Fesseln geschlagen war, haben sich viele durch das Studium dieser Bücher in der Stille zu Sozialisten herangebildet. Auch wir mußten diese Bücher haben. Und wir verschafften uns zuerst das »Kapital« von Marx. Bekannte aus der Freien Gemeinde, die schon Sozialdemokraten waren, besorgten es uns. Wir gingen dabei ganz vorsichtig zu Werke, die Frau trug das Buch, den ersten Band, unter das Kleid geknöpft auf dem Körper. Heimlich gingen wir beide an einen stillen Ort, und als wir den stillschweigend wieder verließen, da war das Buch unter mein Kleid geknöpft. Auf diese Weise haben wir dann noch öfter Bücher gekauft. Nun ging zu Hause das Lesen an. Der Vater las vor, und wir sprachen darüber, während ich nähte. An Marx' »Kapital« haben wir im ganzen ein Jahr gelesen. Bebels »Frau« habe ich dann später aber allein gelesen. Das Interesse weiter Kreise der bisher indifferente-
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sten Arbeiterinnen, der Näherinnen, wurde geweckt, als die Regierung im Jahre 1885 beabsichtigte, einen Nähgarnzoll einzuführen, der eine starke Belastung gerade dieser Ärmsten zur Folge haben mußte. Die sozialdemokratische Partei lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit auf den geplanten Raubzug auf die Taschen der Ärmsten. Eine von den Näherinnen sehr stark besuchte Versammlung wurde abgehalten. Auch mir war eine Einladung zugegangen. Wenn ich nicht irre, war es Frau Marie Hofmann, die das Referat hielt. Sie hatte genaue Berechnungen über die Höhe der Belastungen durch den Nähgarnzoll angestellt, was mit dem, was ich selbst als Näherin bereits errechnet hatte, genau übereinstimmte. Das beabsichtigte Gesetz kam nicht zustande. Die sogenannte »stille Zeit« bedeutete gerade für die Näherinnen eine weitere, sehr erhebliche Erschwerung ihres Lebenskampfes. Wer könnte da einen Stein werfen auf diejenigen, die in dem Elend versanken. Die sozialistische Partei aber wurde geknebelt, und doch ist die geringe Besserung, zu der die Regierung und die Arbeitgeber sich gezwungen sahen, nur dem Wirken dieser Partei zuzuschreiben. Als 1889 die Not einen hohen Grad erreicht hatte, gab es viele Frauen, die auf die Erfüllung der Botschaft des »Arbeiterkaisers« gläubig harrten. Sie wurden gar bald enttäuscht und verloren den Glauben,
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denn es half ihnen niemand, sie mußten erst zu der Erkenntnis kommen, daß die Arbeiterschaft sich selbst erlösen muß. Die Verelendung der Arbeiterkreise nahm zu. Die Prostitution, die öffentliche wie die geheime, breitete sich mehr und mehr aus. Die Löhne waren so niedrig, daß weite Schichten der Arbeiterinnen, namentlich in der Wäschefabrikation und Konfektion trotz fleißigster Arbeit kaum genug verdienten, um nur das dürftigste Leben fristen zu können. Die Regierung sah sich schließlich gezwungen, etwas gegen das Elend zu tun. So veranstaltete sie im Jahre 1887 eine Enquete über die Lohnverhältnisse in der Wäschefabrikation und Konfektion. Elende Verhältnisse, Wochenlöhne von 8 bis 9 Mark, für Ungeübtere gar nur von 4 bis 5 Mark, wurden festgestellt. Die meisten Arbeiterinnen lebten tagsüber von Kaffee und Brot, und es ging denen gut, die noch eine Mutter oder Schwester zu Hause hatten, so daß sie wenigstens abends eine warme Suppe bekamen. Ein ordentlich zubereitetes Mittagessen war nur am Sonntag möglich. Die wachsende Not der Arbeiterkreise hatte die Kräfte zu ihrer Bekämpfung wachgerufen. Ebenso war es auch bei den Frauen. Auch die Arbeiterinnen erkannten endlich die Notwendigkeit des Zusammenschlusses. Die bürgerliche Frauenbewegung war auf den Plan getreten mit ihrem Kampf für das »Recht auf
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Arbeit«, für die Ausgestaltung der Mädchenschulen, für die Zulassung zu höheren Berufen. Hier und da fing man auch von dieser Seite an, sich um die Arbeiterinnen zu kümmern, es wurden Sonntags- und Haushaltungsschulen gegründet, Vereine zur Hebung der Sittlichkeit. Für die Arbeiterinnen aber war die Hebung ihrer wirtschaftlichen Lage das Wesentliche. Ihre Befreiung mußte auch aus ihren eigenen Reihen kommen. Solche Kämpferinnen gegen die Ausbeutung durch die Unternehmer waren in der weiblichen Arbeiterklasse erstanden, Namen tauchen auf, die ein Leuchten auf den Gesichtern derer wecken, die noch mit ihnen lebten und kämpften. Schon 1872 wurde von den Genossinnen Hahn und Pauline Staegemann der erste Berliner Arbeiterfrauen- und -mädchenverein gegründet, mit Johanna Schackow als Schriftführerin. Zum erstenmal stellten sich hier die Frauen auf den Boden der klassenbewußten Sozialdemokratie. Fünf Jahre später gelang es dann der Polizei, ihn mit dem berühmten Paragraphen 8 des preußischen Vereinsgesetzes abzuwürgen. Dieser Paragraph lautete: »Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, dürfen keine Frauenspersonen, Schüler oder Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen.« Der Verein hatte sich als besonders »staatsgefährlich« dadurch
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verdächtig gemacht, daß die Genossinnen Cantius und Staegemann, die als seine Führerinnen allgemein bekannt waren, eine öffentliche Versammlung einberiefen, in der sie scharfen Protest erhoben gegen die höchst unchristliche Herzenshärte und Intoleranz, welche ein Geistlicher in Rixdorf am Grabe eines Selbstmörders bekundet hatte. Der Verdacht wurde bestärkt durch den regen Anteil, den seine Führerinnen und Mitglieder an der Wahlbewegung nahmen. Die Vorstandsmitglieder wurden wegen Vergehens gegen das Vereinsgesetz bestraft, »weil nicht zu bezweifeln gewesen, daß der Verein die Tendenz verfolge, durch die Frauen auf die Männer und die Kindererziehung sozialistischen Einfluß auszuüben«. Pauline Staegemann, eine Frau mit klarem Blick und großem Herzen, ist eine der bekanntesten unter den ersten führenden Genossinnen gewesen. Sie stand damals noch so recht tatkräftig mitten im Leben, und ihre Familie hat nicht unter ihrer Arbeit für die Allgemeinheit gelitten. Noch bis kurz vor ihrem Tode hat sie sich auch der Kleinarbeit, die unsere Bewegung erfordert, nicht entzogen. Wie hätte ihr feines, von der Not des Lebens und dem Kampf um die Frauensache gefurchtes Gesicht wohl geleuchtet, wenn sie es noch hätte erleben können, wie ihre älteste Tochter, Elfriede Ryneck, mit unter den Abgeordneten des ersten
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Parlaments der deutschen Republik stand! Zu der Arbeiterinnenbewegung kam damals auch Frau Gertrud Guilleaume, eine geborene Gräfin Schack. Sie war in Paris mit den Bestrebungen um die Aufhebung der Reglementierung der Prostitution bekannt geworden, sie hatte die ungeheure Gefahr für die Frauen und für die Arbeiterinnen im besonderen erkannt, und sie trug dann die Aufklärung über diese Zustände und den Kampf dagegen auch nach Deutschland. Bei der bürgerlichen Frauenbewegung hatte sie einen schweren Stand. Man hatte hier die Scheu, von diesen heiklen Dingen auch öffentlich unverblümt zu sprechen, noch nicht überwunden. Sie hatte schließlich erkannt, daß die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterin das beste Mittel ist, diese von der Prostitution fernzuhalten, und sie schloß sich dann ganz der Arbeiterinnenbewegung an. In ihrer Zeitschrift »Die Staatsbürgerin« führte sie eine offene und rückhaltlose Sprache. Das machte sie bei den Behörden nicht gerade beliebt. Ihre Zeitschrift wurde verboten, und sie selbst mußte als lästige Ausländerin Deutschland verlassen. Durch ihre Heirat mit einem Schweizer, von dem sie später geschieden wurde, hatte sie das Heimatrecht verloren. In England ist sie 1903 gestorben. Agnes Wabnitz, die den Verein der Arbeiterinnen
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Berlins (Nord) und den Verein der Mäntelnäherinnen mit gründen half, hat alle Not und Sorge der Heimarbeiterinnen in ihrem Leben kennengelernt. Begabt und lernfreudig, wie sie war, hat sie manche Nacht an der Nähmaschine zubringen müssen, um die Mutter und die Familie des Bruders zu erhalten. Aus ihr hätte eine Kämpferin ersten Ranges werden können, wenn sie Zeit gehabt hätte, sich die geistigen Waffen zu schmieden. Aber auch so hat sie nicht geruht, hat agitatorisch mit Mut und Begeisterung gewirkt, bis sie, von Schikanen der Polizei und der Behörden verfolgt, mit ihren Nerven zusammenbrach. Einmal hatte man sie schon ins Irrenhaus gesperrt, und als man ihr jetzt wieder zehn Monate Gefängnisstrafe auferlegte, nahm sie auf dem Friedhof der Märzgefallenen von 1848 im Friedrichshain zu Berlin das tödliche Gift. Nicht die Furcht vor der Gefängnisstrafe trieb sie in den Tod, aber den Gedanken, noch einmal als Gesunde ins Irrenhaus gebracht zu werden, wie es ihr nach dem Vorhergegangenen sicher bevorstand, konnte sie nicht ertragen. So ging sie. Zu den besten und unvergessenen der ersten Führerinnen gehört vor allem auch Emma Ihrer. Sie ist 1857 als Kind einer kleinbürgerlichen Familie in Glatz in Schlesien geboren. Über die bürgerliche Frauenbewegung kam sie zur Arbeiterbewegung, und sie erzählt in ihrer 1898 erschienenen Schrift »Die
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Arbeiterin im Klassenkampf« sowohl von den verfehlten Versuchen bürgerlicher Frauen, sich der Arbeiterinnen anzunehmen, als auch von der rastlosen Arbeit einer kleinen Schar mutiger Arbeiterfrauen, die Arbeiterinnen zu organisieren und für den Klassenkampf zu gewinnen. Eine ganze Reihe von Vereinen sind noch zur Zeit des Sozialistengesetzes mit ihrer Hilfe gegründet worden. Gelegenheiten zur Auflösung von Arbeiterinnenvereinen fanden sich natürlich genügend. So wurde der Berliner Verein zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen nach einjährigem Bestehen wegen »Beschäftigung mit Politik« aufgelöst. Er hatte sich nämlich an den Berliner Magistrat mit einer Petition wegen Zulassung der Frauen zu den Gewerbegerichten gewandt. 1891 gründete Emma Ihrer, zum Teil mit eigenen Mitteln, die erste Wochenschrift der sozialdemokratischen Frauen, »Die Arbeiterin«, die aber in ihrem zweiten Jahrgang den Namen »Die Gleichheit« annahm. Genosse Dietz, Stuttgart, übernahm die Zeitschrift 1892, und auch die Redaktion wurde nach dorthin verlegt. Da Emma Ihrer, deren Mann in Velten bei Berlin eine Apotheke besaß, nicht nach Stuttgart übersiedeln konnte, übernahm Clara Zetkin, die nach dem Fall des Sozialistengesetzes aus Paris nach Deutschland zurückgekehrt war, die Redaktion. Aber noch einige Jahre blieb Emma Ihrers Name als Herausgeberin am Kopf der Zeitschrift ste-
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hen. Sie hat neben ihrer politischen Agitation sich sehr eifrig an gewerkschaftlicher Arbeit beteiligt, und sie ist als erste Frau in die 1890 gegründete Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands gewählt worden. »Wirken für andere war ihres Glückes ergiebigster Quell«, lautet ihr Grabspruch. Ich werde noch oft in meinen Erinnerungen von ihr zu sprechen haben. Auch der Frau soll hier gedacht werden, die zwar keine Parteigenossin, sondern Anarchistin war, die aber einen beispiellosen Opfermut gezeigt hatte. Es war Frau Agnes Reinhold, die wegen Verbreitung anarchistischer Flugblätter am 10. Juli 1890 zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Diese Frau hat alle Schuld auf sich genommen, damit ihre Genossen frei ausgingen, und die Strafe hat sie restlos abmachen müssen. Es ist noch eine große Reihe anderer Genossinnen, die mit zu jenen ersten gehörten, die in dem Kampf um die Besserung der Lage der Arbeiterinnen die Fahne vorantrugen: Marie Hofmann, Frau Hahn, Johanna Schackow, Johanna Jagert, Frau Cantius, Frau von Hofstetten, die noch heute mit ihren 73 Jahren in ihrer Abteilung mitarbeitet, Margarete Wengels, Clara Zetkin, Wilhelmine Kähler, Martha Rohrlack-Tietz und viele andere. Aber wenn auch die Namen vergessen sind, ihre Taten leben, und der gute und kräftige Samen, den sie säten, der ging
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auf und trug Früchte. Ich selbst hatte mich allmählich auch von meinem Vater etwas freier gemacht. Das war nicht ganz leicht. Ich hatte durch das Lesen nun gelernt, mir meine Meinung zu bilden, in eine Versammlung durfte ich aber immer noch nicht allein gehen. Das gefiel mir auf die Dauer nicht mehr. Da hörte ich eines Tages, daß die Schäftearbeiter im Englischen Hof in der Alexanderstraße eine Versammlung angesetzt hatten. Ich hatte plötzlich einen energischen Augenblick und erklärte: »Ich gehe heute abend in die Versammlung der Schäftearbeiter!« Diese Energie muß meinen Vater vollkommen überrascht haben. Er schwieg ganz still und ließ mich auch allein gehen. In dieser Versammlung habe ich zum erstenmal gesprochen. Als Redner trat ein Vertreter der HirschDunckerschen Gewerkvereine auf, der offenbar zwischen den Standpunkten stand. Er war nicht Fisch, nicht Vogel, und seine Rede befriedigte weder die einen noch die andern. Ich saß an einem Tisch mit mehreren Frauen zusammen, und eine von ihnen meinte: »Schade, daß Ihr Vater nicht hier ist. Der könnte dem mal unsere Meinung sagen.« »Ach«, sagte ich, »das kann ich auch. Ich weiß mit den Hirsch-Dunckerschen ganz genau Bescheid.« Ich hatte gar nicht weiter darauf geachtet, daß die eine der Frauen aufstand, nach vorn ging und wieder zurück-
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kam. Aber auf einmal höre ich von dem Leiter der Versammlung meinen Namen nennen und mich zum Wort auffordern. Ich dachte in dem Augenblick, ich müßte in die Erde sinken, hatte aber nur den einen klaren Gedanken, wenn du jetzt nicht sprichst, dann lachen sie alle über dich. Als ich dann auf dem Podium stand und die vielen Köpfe unter mir sah, habe ich mit Zittern und Zagen angefangen zu sprechen. Das Zittern verlor sich dann, ich wurde sicherer und hatte auf einmal das Gefühl: Nun hast du gesagt, was du sagen wolltest. Damit ging ich dann wieder auf meinen Platz und hörte, wie der Vorsitzende sagte: »Die Frau, die jetzt gesprochen hat, hat das einzige Vernünftige vorgebracht, was zu dieser Sache hier zu sagen ist.« Ich wurde noch an demselben Abend in eine Kommission gewählt, und am nächsten Tag stand etwas von meiner Rede in der Zeitung. Damit ging ich nun doch stolz zu meinem Vater, dem ich am Abend vorher nichts mehr davon erzählt hatte, und nun freute er sich und meinte: »Ich habe ja schon manchmal gesagt, du könntest das, was du mir immer hier allein erzählst, ganz gut auch mal in einer Versammlung vorbringen.« Noch unter dem Sozialistengesetz getrauten sich die Arbeiterinnen schon Vereinigungen zu bilden. Wir hatten z.B. eine Lokalorganisation der Schäftearbeiter und -arbeiterinnen gegründet. Die erste Ver-
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sammlung, die von dieser Organisation veranstaltet wurde, hatten wir Frauen sowohl einzuberufen wie zu leiten. Das war uns noch etwas Ungewohntes und erschien uns als ein ganz besonderes feierliches Ereignis. Die einleitenden Worte, die uns vor allem wichtig erschienen, wurden zu Hause sorgfältig eingeübt, und zu der Versammlung hatten wir uns unsere besten Kleider angezogen, und um es besonders gutzumachen, uns sogar frisieren lassen. Es hat dann aber doch noch verschiedene Jahre gedauert, bis ich selbständig in Versammlungen als Referentin auftrat. Lange habe ich ein unangenehmes Gefühl nicht überwinden können, wenn ich in der lautlosen Stille meine eigene Stimme hörte. Ich habe auch noch immer Lampenfieber gehabt. Aber das ging ja wohl auch Größeren so, wie man oft erzählen hört. Mit der eben genannten Organisation der Schäftearbeiter und -arbeiterinnen habe ich auch die erste Maifeier erlebt. Es war am Donnerstag, den 1. Mai 1890. Man sah bereits in den frühen Vormittagsstunden sonntäglich gekleidete Gruppen von Arbeiterfamilien hinausziehen ins Freie. Wie war das nur möglich? An einem Arbeitstage wagten die Proletarierscharen nicht zu arbeiten, dem Unternehmer damit den Profit zu kürzen? Sie wagten zu feiern an einem Tage, der nicht von Staat oder Kirche als Feiertag
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festgelegt worden war? Jawohl, die Arbeiter hatten es gewagt, sich selbst nach eigenem Willen einen Feiertag zu schaffen, und nicht nur die Arbeiter Berlins waren so vermessen, sondern die der ganzen Welt. Auf dem Internationalen Sozialistenkongreß zu Paris im Juli 1889, dem Hundertjahrstage der großen Französischen Revolution, war der 1. Mai als Weltfeiertag der Arbeit eingesetzt worden. Dieser Feiertag war dazu angetan, in gleichem Empfinden und Denken das Proletariat der ganzen Welt zu einigen. Auf dem Pariser Kongresse war man zu dem Ergebnis gelangt, daß auf dem ganzen Erdenrund das Proletariat zwar graduell verschieden, doch überall gleich unterdrückt und schutzlos ausgebeutet wurde. Es war daher vereinbart worden, daß in allen Ländern an die Regierungen und gesetzgebenden Körperschaften Forderungen zum Schutze der Arbeiter gestellt und mit Nachdruck vertreten werden müssen. Die Arbeitszeit sollte verkürzt, Kinderarbeit verboten werden und anderes mehr. Dann erst würde der Arbeiter sich seiner Familie widmen können und dann endlich einmal auch Zeit finden, an seiner geistigen Fortbildung zu arbeiten. Ferner sollte dieser Feiertag dazu dienen, in der ganzen Welt einmütig gegen den immer mehr überhandnehmenden Militarismus Front zu machen.
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Welch herrlicher Gedanke, zu wissen, daß die Ausgebeuteten, die Unterdrückten der ganzen Welt an diesem Tage seelisch miteinander verbunden sind, daß sie mit allen zu Gebote stehenden Mitteln ihre Forderungen an die Regierenden stellen. Welchen Schrecken dieser erste Weltfeiertag aber der herrschenden Klasse bereitete, zeigt die Tatsache, daß an diesem Tage das Militär in den Kasernen gehalten wurde, damit es gegebenenfalls einschreiten könne. Auch wurden viele Bahnhöfe durch Militär »gesichert«! Einige vernünftige Bahnhofsvorsteher hatten aber auf Anfragen das Militär abgelehnt, da sie keine Gefahr erblickten und den Arbeitern vertrauten. Die Arbeiterbevölkerung Deutschlands, befreit vom Druck des Sozialistengesetzes, jubelte diesem Tag entgegen. Und der Himmel selbst schien im Bunde mit ihnen zu sein, denn einen so wunderbar herrlichen ersten Maitag hatten wir seitdem nicht wieder. Warmer Sonnenschein, klarer, wolkenloser Himmel, zartes Maigrün an Baum und Strauch, lebenschwellende Knospen, sprießende Saaten, Vogelgesang, kurz, die wie Leben, Kraft und Schönheit wirkende Natur mußte auch den Menschen neuen Lebensgenuß und Kraft einflößen, mußte sie lehren, alles daranzusetzen, die Schönheiten der Welt auch für sich und die Ihren zu gewinnen. Als ich an diesem ersten Maitag im Kreise lieber
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Menschen hinauswanderte nach Grünau, war es herzbewegend für uns alle, als wir unsere geliebte Marseillaise von einem Leierkasten ertönen hörten. Die Gaben flossen reichlich, und erfreut darüber sagte der Drehorgelspieler zu seiner alten Lebensgefährtin: »Siehste, Mutterken, daß ich recht hatte.« Er hatte das Stück zu diesem Tage auf den Leierkasten bringen lassen. Nur wer weiß, daß bis zur Aufhebung des Sozialistengesetzes unsere Lieder verboten waren und daß wir Liederbücher oder einzelne Blätter mit gedruckten Liedern nur heimlich vertreiben konnten, wird unsere Freude über das Spiel des Leiermannes begreifen. An den Bestimmungsort angelangt, wurden nun nach Herzenslust unsere Arbeiterlieder gesungen, wenn auch von ungeschulten, so doch von begeisterten Sängern; revolutionäre Gedichte von Heinrich Heine, Freiligrath u.a. wurden vorgetragen. Wohl jeder der mit uns Feiernden gelobte, eifriger noch als bisher für die Erlösung der Menschheit aus Not und Unterdrückung wirken zu wollen, sein Leben in den Dienst unserer großen heiligen Sache zu stellen. Im ganzen Reiche, ja in der ganzen Welt hat wohl dieser erste Weltfeiertag wie eine Erlösung gewirkt und Kampfesmut und Entschlossenheit ausgelöst.
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Viertes Kapitel
Neue Wege, neue Aufgaben Am 1. Oktober 1890 fiel endlich das Schandgesetz, das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«, wie es amtlich hieß. Zwölf Jahre lang bot es den Vorwand zu unerhörten Verfolgungen, zahlreiche Familien waren mit seiner Hilfe auseinandergerissen und unglücklich gemacht worden. Aber das Zusammengehörigkeitsgefühl unter denen, die sich trotz aller Drangsalierungen zum Sozialismus bekannten, war vielleicht gerade dadurch auf das stärkste befestigt worden. In der Nacht zum 1. Oktober wimmelte der Friedrichshain in Berlin von Menschen. Sie strömten zu Lips, wo man gemeinsam den historischen Augenblick erleben wollte. Viele blieben im Friedrichshain, weil im Saal kein Apfel mehr zur Erde konnte. Viele der Ausgewiesenen waren bereits zurückgekehrt und befanden sich unter uns. Wie alle unsere Veranstaltungen wurde auch diese von einem Polizeileutnant und einem Schutzmann überwacht. Als dann um 12 Uhr der Fall des Ausnahmegesetzes verkündet wurde, da erhob sich der Leutnant und verließ mit dem Schutzmann den Saal. Die bis dahin verstecktgehalte-
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nen roten Banner wurden entrollt, und eine ungeheure Bewegung hatte die Massen ergriffen. Unsere Führer, die Zurückgekehrten, die Heimat und Familien hatten verlassen müssen, sprachen zu uns. In jener Nacht hat manch einer den Treuschwur zur Sozialdemokratie erneuert, mancher, der bis dahin noch beiseite stand, ist gewonnen worden. Es zeigte sich, daß die Sozialdemokratie in diesen zwölf Jahren nicht zugrunde gegangen war, sondern an Mitgliedern zahlreicher, innerlich gekräftigt und kampfesfroh der Zukunft entgegensah. Mit dem Sozialistengesetz war das Koalitionsverbot aufgehoben worden. Um eine Versammlungserlaubnis brauchte nicht mehr nachgesucht zu werden, man hatte die Versammlungen nur 24 Stunden vorher anzumelden. Aber die Behörden waren ebenfalls durch die Schule des Sozialistengesetzes gegangen, sie hatten gelernt, die Gesetze auszulegen und zu unterlegen. Die Frauenbewegung nahm einen frischen Aufschwung. Bald nach dem Parteitag in Halle, im Herbst 1890, wurde, wie schon erzählt, durch Emma Ihrer die Vorgängerin der »Gleichheit«, die »Arbeiterin«, ins Leben gerufen. Alle Mitarbeit daran war unentgeltlich. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß der Arbeitstag meistens zwölf und oft mehr Stunden hatte, so
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wird man begreifen, welch großen Entschluß und auch welches Opfer es für die Frau bedeutete, wollte sie eine Versammlung besuchen. Man wird aber auch verstehen können, daß mancher schwere Konflikt in der Familie entstehen mußte durch die Notwendigkeit, die Arbeiterin aufzuklären und für den Klassenkampf zu schulen, während sie auf der anderen Seite auch als Mutter und Hausfrau in der Familie nicht entbehrt werden konnte. Denn jede Stunde, die die Frau in einer Versammlung zu ihrer geistigen Weiterbildung verwandte, mußte sie ihrer Familie entziehen. Aber es wurde dabei manches Samenkorn ausgestreut, das aufgegangen ist und Früchte getragen hat. In den Kämpfen der Arbeiterschaft zur Verbesserung ihrer Lage konnte es nicht gleichgültig sein, wie die Hausfrau und Mutter sich dazu stellte. Das zeigt sich deutlich, als im Jahre 1892 die Arbeiter der Königlich preußischen Kohlenwerke des Saarreviers in den Streik traten, zu dem die Brutalität der Bergherren die Veranlassung gegeben hatte. Die Vergewaltigung durch eine neue Arbeitsordnung, die ohne Befragen der Arbeiter zustande gekommen war (Herabsetzung der Zeit- und Stücklöhne, Erhebung von Strafgeldern, Einlegung von Feierschichten), hatte den Kampf entfacht. Dieser Zusammenstoß zwischen Arbeit und Kapital brachte eine für Deutschland ganz neue Erscheinung. Während die Frauen bis dahin vielfach durch
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ihre Klagen den Männern den Kampf erschwert hatten, traten sie jetzt in Massen an die Seite der Kämpfenden und feuerten sie zum Ausharren an. Viele der Frauen traten sogar öffentlich in den Versammlungen auf und schilderten in ergreifender Weise ihr Elend. Familienväter mit sechs und sieben Kindern, die in der ersten Hälfte des Monats 40 Mark als Abschlag erhalten hatten, bekamen am Ende des Monats 20 bis höchstens 40 Mark. Ein Vater mit neun Kindern erhielt sogar nur 18 Mark. Selbstverständlich halfen auch unsere Genossinnen; sie hielten Referate, sammelten Gelder und dergleichen. Der nun einmal geweckte Drang nach Erkenntnis der sozialen und politischen Zusammenhänge, der unter dem Sozialistengesetz nur unter den größten Schwierigkeiten hatte befriedigt werden können, machte sich jetzt ungestüm geltend. Frauenbildungsvereine wurden an vielen Orten ins Leben gerufen, für die politische Aufklärung schuf man Frauenagitationskommissionen. Aber die Frauen durften sich bekanntlich sowohl nach dem preußischen wie den Vereinsgesetzen anderer deutscher Staaten in Vereinen nicht mit Politik beschäftigen, durften auch nicht Mitglieder politischer Vereine sein. Und trotz all dieser Beschränkungen verstanden es die Genossinnen, sich Einrichtungen zu schaffen, um unter den Frauen politisches Wissen und
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Aufklärung über die sozialen Zusammenhänge zu verbreiten. Das war nicht so ganz leicht. Es fehlte ja den Frauen in der Hauptsache noch an den allereinfachsten Begriffen über allgemeine Wirtschaftsfragen. Es kostete z.B. viel Mühe, den Frauen klarzumachen, daß eine verkürzte Arbeitszeit neben dem Zeitgewinn für Hauswesen und Familie nicht nur keine Lohnkürzung, sondern eher eine Aufbesserung für sie bedeuten würde. Als dann im Jahre 1893 der elfstündige Arbeitstag für die erwachsenen Fabrikarbeiterinnen eingeführt wurde, erkannten sie erst die Richtigkeit dieser Forderung und empfanden schon die nur um eine Stunde gekürzte Arbeitszeit als eine Wohltat für sich und ihre Angehörigen. Für spätere weitere Verkürzung der Arbeitszeit erleichterte dies die Agitation unter den Arbeiterinnen sehr. Der Agitationsstoff aber war so vielgestaltig, die ganzen Lebensbedürfnisse so verbesserungsbedürftig, daß es nie an Themen für Versammlungen fehlte. Nur mußten wir in den meisten Fällen sehr vorsichtig sein und nach außen hin ein unverfänglich aussehendes Vortragsthema wählen. Wenn man heute die alten Jahrgänge der »Arbeiterin«, der »Gleichheit« durchblättert, so staunt man, auf welche Gebiete sich die geistig so ungeschulten Frauen der Arbeiterschaft wagten. Vorträge über: »Das Christentum der ersten Jahrhunderte«, »Geschichte der Ehe und Stellung der
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Frau in der Vergangenheit«, »Die Zeit vor der Reformation«, »Die Ärmsten der Armen oder der fünfte Stand«, »Die kulturelle Bedeutung des Mohammedanismus« sind dort angekündigt. Hinter diesen hochtönenden Titeln verbarg sich die einfache Aufklärung der Frauen über ihre wirtschaftliche und soziale Lage. Und die Frauen kamen in Scharen, wenn Martha Rohrlack über »Volksaberglauben«, oder Agnes Wabnitz über »Sitte und Scham« oder »Königs- und Gottesidee« sprechen wollte. Daß der Genosse Dr. Weyl einen vollen Saal hatte, wenn er über »Die Kunst, nicht krank zu werden« einen Vortrag hielt, oder über andere ganz besondere Gesundheitsfragen, war nicht zu verwundern. Aber auch das waren häufig nur vorgeschobene Themen, hinter denen die »verbotene« politische Aufklärung der Frauen immer als Hauptsache stand. Dazu kam der erbitterte Kampf mit der Polizei. Wie oft wurden Versammlungen angesagt, die dann kurz vor ihrer Abhaltung verboten wurden. Wir beriefen sie wieder ein, bis es uns glückte. Und dieses »Wieder nach Hause gehen müssen« verärgerte die Frauen nicht etwa, sondern stachelte sie an, das nächste Mal in noch größerer Anzahl zu erscheinen. In der Arbeiterschaft lebte immer ein ungeheurer Drang nach Wissen. Bald nach dem Fall des Sozialistengesetzes war nach einem Vortrag unseres Genos-
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sen Wilhelm Liebknecht die Berliner Arbeiterbildungsschule ins Leben gerufen worden. Auguste Schneider, jetzige Frau Zucht, und ich gehörten als weibliche Personen dem ersten Vorstand an. Die Schule war in sehr großem Maßstabe errichtet worden, das Schulgeld aber mußte sehr gering bemessen sein. Die Lehrer mußten zum Teil aus bürgerlichen Kreisen entnommen werden. Aber allen Schwierigkeiten trotzend, bestand die Arbeiterbildungsschule bis vor dem Kriege. An den Lehrabenden nahmen auch zahlreiche Frauen und Mädchen teil. Broschüren, wie sie heute in Massen in Parteikreisen verbreitet werden, gab es nur sehr wenige. Wir mußten uns mühsam zusammensuchen, was wir brauchen konnten. Sehr viel Material bot uns Bebels Buch »Die Frau«. Die Schriften von Marx und Engels haben wir tüchtig durchstudiert, in kleinen Zirkeln gelesen und darüber diskutiert. Man hört heute so oft, Marx' »Kapital« sei zu schwer für die Frauen. Uns hat es viel geboten, und wir haben immer gefunden, daß die Tatsachen, die Marx anführt, die Schlüsse, die er zieht, auch von den Frauen verstanden wurden. Das »Kommunistische Manifest«, das »Erfurter Programm«, die Schriften von Kautsky, das alles war unser Rüstzeug. 1892 war das Gewerbegerichtsgesetz ins Leben getreten, jedoch ohne den Frauen irgendwelche Rechte
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als Mitwirkende einzuräumen. Die Genossinnen aber wußten, daß »Rom nicht in einem Tage erbaut wurde«, und so mußte die Agitation fleißig fortgeführt werden. Zu den Beisitzerwahlen für die Gewerbegerichte hatte die Berliner Frauenagitationskommission eine Anzahl öffentlicher Versammlungen einberufen, in denen gemeinsam mit den Genossen die Aufstellung der Kandidaten stattfinden sollte. Die Genossinnen konnten bei dieser Gelegenheit eifrige Hilfsarbeit leisten. Sie halfen beim Austragen der Einladungszettel und veranlaßten Säumige, sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen. Sie nahmen an allen Aktionen des Proletariats lebhaften tätigen Anteil. Und auch bei Streiks und Boykotts unterstützten die Genossinnen die Arbeitsbrüder nach Kräften. Wo die Vereinsgesetze es gestatteten, suchten die Genossinnen auch praktische Einrichtungen zu veranlassen. So hatte im Jahre 1892 der sozialdemokratische Frauenund Mädchenverein Mannheims an die Stadtverwaltung folgende Forderung gestellt: »Durch die Arbeitslosenstatistik ist die wachsende Arbeitslosigkeit alleinstehender Mädchen, deren traurige Lage sie oft der Prostitution in die Arme treibt, ans Tageslicht gezogen. Der Verein fordert vom Stadtrat die Beschaffung eines Lokals, in dem arbeitsund mittellosen Arbeiterinnen ein Unterkommen gewährt werde, und einen Arbeitsnachweis für Arbeite-
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rinnen. An der Verwaltung beider Einrichtungen sollen die Arbeiterinnen selbst Anteil haben.« Ein anderer Antrag desselben Vereins auf »Ausdehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung und der Gewerbeinspektion auf die Hausindustrie« sollte auf Beschluß der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gelegentlich der zweiten Lesung des Etats zur Sprache gebracht werden. Für die öffentliche Agitation unter den Genossen bestand für die Wahlkreise das Vertrauensmännersystem. Frauen gehörten aber noch nicht dazu. Die Genossen hielten das den Behörden gegenüber für gefährlich, weil diese zu der politischen Frauenbewegung sehr feindlich standen. Alle Machtmittel, die sie rechtmäßig und unrechtmäßig anwenden konnten, benutzten sie, um die politische Frauenbewegung zu unterdrücken. Außerdem hatten aber auch die männlichen und weiblichen Parteigenossen noch nicht gelernt, politisch miteinander zu arbeiten. Sie waren sich hierin noch zu wesensfremd. Das gegenseitige kameradschaftliche Zusammenarbeiten konnte sich erst nach und nach entwickeln. Auf dem Berliner Parteitag 1892 stellten die Genossinnen, um diesen Übelstand zu beseitigen, folgenden Antrag, den ich zu begründen hatte: »Das sozialdemokratische Parteiprogramm enthält
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einen Passus, welcher die Abschaffung aller Gesetze, welche die Frauen in öffentlicher und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachteiligen, fordert. Es erscheint daher nicht mehr wie gerecht, wenn dieser Forderung zunächst innerhalb der Parteiorganisation praktische Folge gegeben wird; deshalb beantragen wir folgende Änderungen im Organisationsplan: 1. Sprachliche Änderung der §§ 3, 4, 5, soweit die Rede von ›Vertrauensmännern‹ ist, die Worte ›Vertrauenspersonen‹ zu setzen. 2. Streichung des folgenden im § 9 vorkommenden Satzes: ›insoweit nicht unter den gewählten Vertretern des Wahlkreises Frauen sich befinden, können weibliche Vertreter in besonderen Frauenversammlungen gewählt werden‹.« Dieser Antrag wurde zwar mit großer Mehrheit angenommen, aus Zweckmäßigkeitsgründen aber auf dem Parteitag zu Frankfurt a.M. 1894 wieder aufgehoben und nach Darlegungen der Genossin Zetkin und des Genossen Auer der frühere Wortlaut wiederhergestellt. Als im Jahre 1893 der Reichstag wegen Ablehnung der neuen Militärvorlage aufgelöst wurde (es waren 80000 Soldaten mehr gefordert worden, und das bedeutete eine Belastung des Volkes mit Millionen
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neuer Steuern), erließ die Berliner Frauenagitationskommission den folgenden Aufruf: »Parteigenossinnen! Wegen Ablehnung der Militärvorlage, dieser unberechtigten Mehrbelastung des Volkes, wurde der Reichstag aufgelöst, die sogenannten Volksvertreter nach Hause geschickt. Das Volk soll durch die Neuwahl zum Reichstag seiner Gesinnung Ausdruck geben und entscheiden, ob es die Mehrbelastung, die ungeheure Mehreinstellung von Soldaten und die hierzu notwendige Aufbringung der Mittel durch Besteuerung der bereits bis zum Übermaß versteuerten und verteuerten Lebensmittel gutheißt und tragen will. Parteigenossinnen, uns, die wir zur breiten Masse des Volkes gehören und wissen, daß nur auf dessen Schultern die gesamten erdrückenden Lasten gewälzt werden, uns kann es nicht schwerfallen, die richtige Antwort zu geben. Wir sagen, es ist genug des grausamen Spiels mit des Volkes Gut und Blut, wir sagen nein! und nochmals nein! In wenigen Wochen finden die Wahlen der Vertreter des Volkes statt. Genossinnen, leider ist uns das Wahlrecht versagt, aber in den Versammlungen können wir unserer Meinung Ausdruck geben. Helft bei jeder Agitation, beim Verteilen von Flugblättern und Stimmzetteln, beim Abschreiben von Wählerlisten usw.« In ganz Deutschland fand der Aufruf Widerhall.
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Versammlungen über Versammlungen fanden statt. Auf den Parteitag zu Köln 1893 wurde von Düsseldorfer Parteigenossen und der Genossin Rohrlack ein Antrag gestellt: »Die sozialdemokratische Fraktion möge im Reichstag einen Gesetzentwurf einbringen, welcher die Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren verlangt. Es dürfe dadurch keinesfalls die Zahl der bereits angestellten männlichen Inspektoren vermindert werden. Es soll in dem Entwurf vielmehr gleichzeitig eine erhebliche, den Anforderungen der industriellen Entwicklung und der besseren Beaufsichtigung der Fabriken entsprechende Vermehrung dieser Beamten vorgesehen werden; die Tätigkeit derselben hat sich nicht nur auf die Kontrolle der Fabriken in bezug auf die Ausführung der Arbeiterschutzbestimmungen, sondern auch auf die durch die Revision sich ergebenden notwendigen Erweiterungen derselben, zum besseren Schutz der Arbeiter als bisher, zu erstrecken. Auch ist den Beamten die Exekutivgewalt zu verleihen.« Dieser Antrag wurde von der Genossin Rohrlack sehr wirksam begründet und vom Parteitag der Fraktion zur Erwägung überwiesen. So suchen die Genossinnen, wo sich nur eine Gelegenheit bot, zu wirken. Um aber die Agitation für die Gesamtbewegung fruchtbringender zu gestalten, fand nach Schluß des Kölner Parteitages eine private Be-
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sprechung von führenden Genossen und Genossinnen statt, die folgendes Ergebnis hatte: Von allen Seiten wurde betont, daß eine planmäßig geregelte Agitation unter den Frauen dringend notwendig sei und angestrebt werden müsse. Zu diesem Zwecke seien folgende Gesichtspunkte zur Beachtung zu empfehlen: 1. Die Form der Organisation der proletarischen Frauen ist wie jede Organisationsform eine Zweckmäßigkeits- und keine Prinzipienfrage. Ob sich die Frauen in eigenen Vereinen oder zusammen mit den Männern gruppieren, hängt von den lokalen Verhältnissen ab, ganz besonders von der an einem Orte geltenden Vereinsgesetzgebung. 2. Wo die Vereinsgesetzgebung es gestattet, ist vorzuziehen, daß die Frauen in die bestehenden politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Männer eintreten und sich nicht in besonderen Vereinen zusammenschließen. 3. Bei Gründung von Arbeiterinnen- und Frauenbildungsvereinen ist sorgfältig zu prüfen, ob am Orte die erforderlichen leitenden Persönlichkeiten vorhanden sind sowie die geistigen Kräfte, welche eine gedeihliche Entwicklung der Organisation verbürgen. 4. Die Frauenorganisationen haben in ganz anderem Umfange als bisher sich praktischen Arbeiten zu widmen. Sie sollen Erhebungen anstellen über die Ar-
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beits- und Lebensverhältnisse der als Berufsarbeiterinnen tätigen Proletarierinnen ihres Ortes; sie sollen Material sammeln über deren Löhne, Arbeitszeit, Arbeitsordnung, Behandlung, Lebensweise usw. Hierbei sind nicht nur die Verhältnisse der in Fabrik und Werkstatt tätigen Frauen und Mädchen zu berücksichtigen, sondern auch diejenigen der Verkäuferinnen, Kontoristinnen, Hausarbeiterinnen, Dienstmädchen und anderen Berufsarten. Das gesamte Material ist agitatorisch in öffentlichen Versammlungen auszunutzen. Es ist außerdem an die Redaktion der »Gleichheit« zu senden, die es zu Agitationsartikeln verarbeitet. 5. Überall, wo die sozialistische Agitation unter die proletarische Frauenwelt getragen werden soll, empfiehlt sich die Gründung von Frauenagitationskommissionen. Diese bilden das Vermittlungsglied zwischen der Masse der in den Klassenkampf einzureihenden Proletarierinnen und den bereits im Kampfe stehenden Männern. Sie sorgen dafür, daß die Genossen bei ihrer Aktion die Frauen des Proletariats berücksichtigen und daß diese letzteren durch mündliche und schriftliche Agitation, durch Versammlungen, Flugblätter, Broschüren usw. über die brennenden Zeit- und Streitfragen aufgeklärt, zum Verständnis des Klassenkampfes geschult werden, daß sie sich an der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung ener-
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gisch beteiligen. Frauenagitationskommissionen, wenn sie auch nur aus drei Personen bestehen, können ungeachtet der reaktionären Vereinsgesetzgebung eine politische Tätigkeit entfalten. Nicht einmal den sächsischen Behörden, deren Findigkeit im Auslegen der Vereinsgesetzgebung berühmt ist, gelang es, eine dreigliedrige Kommission zu einem »Verein« zu stempeln und ihre Tätigkeit lahmzulegen, wie sie es gerne getan hätten. 6. Es würde sich empfehlen, die Berliner Frauenagitationskommission als Zentralstelle zu betrachten, durch deren Vermittlung die Agitation unter den Frauen betrieben und geregelt wird. Genossinnen und Genossen, welche eine Agitation unter der Frauenwelt bestimmter Orte und Gegenden für notwendig erachten, sollten sich an die Berliner Frauenagitationskommission wenden. Diese sendet Referentinnen und ordnet die Agitationstouren mit Rücksicht auf eine Ersparnis an Zeit, Kräften und Mitteln. Ratsam wäre ferner, daß die von der Kommission gesendeten Referentinnen ausnahmslos die gleiche Entschädigung erhalten. 7. Damit der sozialistische Gedanke unter die Proletarierinnen auch solcher Gegenden getragen werden kann, wo die Genossen und Genossinnen nicht aus eigener Kraft für die Kosten der Agitation aufkommen können, müßte für das Vorhandensein eines Agitati-
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onsfonds gesorgt werden. Behufs Schaffung eines solchen wäre zu empfehlen, daß Organisationen, Kommissionen, Genossinnen und Genossen der Berliner Frauenagitationskommission ab und zu, je öfter je besser, Mittel zukommen ließen, welche diese in obigem Sinne verwendet, und über deren Gebrauch sie öffentlich in der »Gleichheit« und anderwärts Rechnung legt. 8. Die »Gleichheit« ist das Organ der klassenbewußten deutschen Proletarierinnen. Die Redaktion der »Gleichheit« ist durch kurze Berichte auf dem laufenden zu halten über Arbeiten und Entwicklung der Frauenorganisationen, über die entfaltete Agitation und deren Erfolge, kurz, über die Bestrebungen und Fortschritte der proletarischen Frauenbewegung. Die Genossinnen und Genossen haben für die weitere Verbreitung der »Gleichheit« in den Kreisen der Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen zu sorgen, besonders ist in den Versammlungen auf das Blatt hinzuweisen. Die Berliner Frauenagitationskommission und die Redaktion der »Gleichheit« sind jederzeit bereit, so weit es möglich ist, Genossen und Genossinnen bei der Agitation unter der proletarischen Frauenwelt mit Rat und Tat zu unterstützen. »Genossen und Genossinnen! Die obigen Punkte stellen nicht formell bindende Beschlüsse einer Konferenz dar, sie sind vielmehr nur die Ratschläge von
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Leuten, welche seit Jahren dafür wirken, das weibliche Proletariat aufzuklären und zum zielbewußten Klassenkampf zu rufen. Nichtsdestoweniger ist es dringend wünschenswert, daß diese Vorschläge beachtet werden und daß damit der erste Versuch zu einer einheitlich geregelten Agitation unter der Masse der Proletarierinnen gemacht wird. Gelingt dieser erste Versuch, so ist ein weiterer, vollkommenerer Ausbau des begonnenen Werkes nur eine Frage der nächsten Zeit. Genossinnen und Genossen, konzentrieren wir unsere Kräfte, um durch planmäßige Arbeit die Frauen und Töchter des werktätigen Volkes in Massen dem Heere des für seine Befreiung kämpfenden Proletariats zuzuführen, um sie zum Ansturm gegen die widersinnig gewordene kapitalistische Gesellschaft zu rufen.« Unterzeichnet war dieser Beschluß, der als Aufruf hinausging, mit Margarete Wengels für die Berliner Frauenagitationskommission und von Clara Zetkin für die Redaktion der »Gleichheit«. Diese Kundgebung fand überall im Lande einen guten Boden. Wer die Jahrgänge der »Gleichheit« durchliest, wird finden, daß die in der Bewegung stehenden Genossinnen, namentlich die Referentinnen, sich mühten, einwandfreies Material über die Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Gegenden und Gewerben zu sammeln, zu Artikeln zu verarbeiten und
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der »Gleichheit« einzusenden. Viele Genossinnen waren auch in den Gewerkschaften tätig, halfen hier in mühseliger Arbeit, auf Grund ihrer Feststellungen die Möglichkeit zur Stellung höherer Forderungen vorzubereiten und Unterstützung dafür zu werben. Sie halfen z.B. im Verband der Wäsche- und Krawattenarbeiter und -arbeiterinnen, sie waren in der Fünferkommission der Schneider und der Konfektionsarbeiter und -arbeiterinnen u.a. vertreten. Aber diese Mitarbeit geschah ohne Entgelt, an eine Bezahlung der Hilfskräfte konnte die Partei nicht denken. Ehe eine allgemeine Regelung auch in dieser Frage eintrat, verging noch geraume Zeit. Vielfach war es so, daß an dem Versammlungsort der Referentin Wohnung und Lebensunterhalt von anderen Genossinnen zur Verfügung gestellt wurden, und man war froh, wenn das erhaltene Geld wenigstens für die Eisenbahnfahrt ausreichte. Keine Kommission ist mir aus damaliger Zeit in Erinnerung, die je Geldentschädigungen erhalten hätte. Wir alle arbeiteten restlos der Sache wegen. Aber die Anforderungen an die einzelnen, die ja ebenfalls Proletarierinnen waren, wuchsen von Tag zu Tag; wollten sie nicht zugrunde gehen, dann mußten mit der Zeit andere Maßnahmen getroffen werden.
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Fünftes Kapitel
Polizeiliche Schikanen Langsam, aber stetig nahm die Bewegung unter den Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse zu. Je größer aber die Fortschritte waren, die der Sozialismus durch unsere Arbeit machte, um so gefährlicher erschien er den herrschenden Klassen. Die Behörden suchten uns mit allen Mitteln, die ihnen zu Gebote standen, zu hemmen. Es gibt wenige unter den Frauen, die in den neunziger Jahren als Rednerinnen auftraten, die nicht auf die Anklagebank gezerrt wurden. Aber aller Druck von oben hat nur unseren Widerstand gestärkt. Erinnert sei hier an das Verfahren gegen Johanna Jagert. Der Vorsitzende des Gerichtshofes, Brausewetter, der später im Irrenhause endete, machte damals schon den Eindruck eines Geistesgestörten. Erinnert sei weiter an die Prozesse, in die Agnes Wabnitz verwickelt wurde. Ihre Kraft ist schließlich an den Strafen und Verfolgungen zerbrochen. Auf dem Märzfriedhof im Friedrichshain hat sie, wie schon erzählt wurde, ihrem Leben ein Ende gemacht. Nicht immer verlief die Sache so tragisch. Andere Genossinnen bestanden die Strafen und kehrten »ungebessert« in die preußisch-deutsche Freiheit zurück.
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So die Genossin Rohrlack, die im Jahre 1895 wegen Beleidigung eines sächsischen Gewerbeinspektors zu vier Monaten Gefängnis verurteilt worden war, die sie auch in einem sächsischen Gefängnis verbüßte. Wegen Beleidigung des deutschen Offizierskorps und der Fähnriche wurde Emma Ihrer zu 200 Mark Geldstrafe verurteilt. Im Dezember 1893 hatte ich in Reinickendorf einen Vortrag über den eben mit einem Siege der Arbeiterschaft beendeten englischen Kohlenarbeiterstreik gehalten. Ich erhielt eine Anklage und wurde zu 100 Mark Geldstrafe verurteilt, weil ich nach Angabe des überwachenden Beamten zur Gewaltanwendung aufgefordert habe. In der Urteilsbegründung heißt es: »Die Angeklagte mag wohl ›geistige Waffen‹ gemeint und bei denjenigen ihrer Zuhörer, welche ihr folgen konnten, eine gleiche Auffassung erzeugt haben, aber die große Menge der Zuhörer steht auf dem gleichen Bildungsniveau wie der Gendarm, bei welchem sie die andere Auffassung hervorgehoben hat. Bei der großen Menge der Zuhörer hat also die Angeklagte eine Aufreizung der arbeitenden Klasse gegen die arbeitgebende Klasse zu Gewalttätigkeit bewirkt, sie hat diese auch beabsichtigt und war daher zu verurteilen.« Das Reichsgericht bestätigte das Urteil.
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Immer schärfer ging man gegen die Frauen vor. Waren schon die allgemeinen Bestimmungen für die Arbeiterbewegung schlimm genug, so wurden die Frauen noch besonders drangsaliert. Jeder und jede, die in öffentlichen Versammlungen oder in Vereinsversammlungen, sei es auch nur in der Diskussion, das Wort ergriff, mußte dem überwachenden Beamten Namen und Adresse mitteilen. Von den Vereinen wurde ein Mitgliederverzeichnis verlangt, das immer wieder ergänzt werden mußte. Die Polizei bestimmte, ob der Saal gefüllt sei usw. Vom Vorstand des Sozialdemokratischen Volksvereins in Elberfeld verlangte die Polizei ein Verzeichnis der Mitglieder mit ausgeschriebenen Vornamen, weil sonst die Geschlechtseigenschaft nicht zu unterscheiden sei. Die Frauen sollten vor dem sozialistischen Gift bewahrt werden. In Elmshorn wurde im Jahre 1891 die Teilnahme an einem allgemeinen Fest verboten. Die Männer mußten unter sich tanzen, die Frauen waren im Nebensaal und sangen revolutionäre Lieder. Frau Dr. Wettstein-Adelt wollte in Chemnitz einen Vortrag halten über »die Arbeiterinnenfrage«. Die Polizei verbot diese Versammlung, denn die Rednerin wollte doch nur unter der Arbeiterschaft aufreizend und entsittlichend wirken. Dabei stand Frau Dr. Wettstein-Adelt durchaus auf bürgerlichem Boden. Der Genosse Gerisch wollte in Aschersleben in einer Volksversammlung über die
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neue Militärvorlage sprechen. Die Frauen wurden von dem Überwachenden hinausgewiesen. Auf den Protest des Genossen Gerisch, es sei keine Vereins-, sondern eine öffentliche Versammlung, die Frauen hätten das Recht, ihr beizuwohnen, betraten sie wieder den Saal. Da löste der Beamte kurzerhand die Versammlung auf. Jahraus, jahrein wurden Versammlungen aufgelöst nur aus dem Grunde, weil Frauen daran teilnahmen. Im Jahre 1893 wollte er Wahlverein in Königsberg in der Neumark sein Stiftungsfest feiern. Zwei Tage vorher verbot der Amtsvorsteher das Fest mit der Begründung, es würden Frauen an dem Fest teilnehmen und deren Beteiligung an Versammlungen politischer Vereine sei verboten. Auch in Schweidnitz ordnete der Polizeibeamte die Entfernung der Frauen aus der öffentlichen Versammlung an. In Halle, Luckenwalde, Zeitz, Gera, Düsseldorf, Köln a. Rh. und anderen Orten wurden die Organisationen der Frauen als angeblich politische Vereine von der Behörde aufgelöst. Bei der Auflösung des Ronsdorfer Frauenbildungsvereins wurde als Begründung angegeben, der Verein habe bezweckt, politische Gegenstände zu behandeln. Diese Absicht sei ausreichend, um sich strafbar zu machen. Es sollte nämlich im Verein über das Thema »Die Rechtlosigkeit der Frauen und die bevorstehenden Reichstagswahlen« gesprochen werden. Derartige
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politische Erörterungen, wie sie der fragliche Verein seiner ausgesprochen politischen Tendenz nach bezweckte, sind in hohem Grade geeignet, die weibliche Bevölkerung gegen die gesetzliche Ordnung, gegen »bewährte« staatliche Einrichtungen aufzustacheln und sie ihren naturgemäßen Pflichten zu entziehen. In Hannover und Hildesheim wurden nicht nur die Zahlstellen gewerkschaftlicher Verbände als politische Vereine, sondern auch öffentliche Branchenversammlungen, wie die der Buchbinder, als öffentliche Versammlungen eines politischen Vereins angesehen. Als die geforderte Entfernung der Frauen nicht erfolgte, wurde die Versammlung aufgelöst. Bis dahin konnten wenigstens Frauenausschüsse und Agitationskommissionen politische Agitation betreiben. Unter dem preußischen Minister v. Köller wurden aber gegen die sozialistische Werbetätigkeit der Frauen immer schärfere Seiten aufgezogen; die Agitationskommissionen, die jahrelang ungehindert hatten arbeiten können, wurden als politische Vereine erklärt, und es wurde ihnen jede weitere Beschäftigung mit Politik untersagt. So wurde u.a. auch die Düsseldorfer Frauenagitationskommission zu einem politischen Verein gestempelt. Das Kammergericht gab in diesem Falle eine merkwürdige Erklärung: »Ein Verein im Sinne des preußischen Vereinsgesetzes werde schon durch das
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Inverbindungtreten mehrerer Personen zur Erreichung eines gemeinschaftlichen Zweckes gebildet.« Bis dahin galt nur eine Personengemeinschaft dann als Verein, wenn sie eine Leitung, einen Vorsitzenden und einen Kassierer hatte. Ebenso wie in Preußen war auch in Bayern und anderen deutschen Staaten die Reaktion Trumpf. Sagte doch der bayerische Minister von Feilitsch: »Wenn es eine Handhabe gäbe, Frauen und Minderjährige von den Versammlungen auszuschließen, so werde die Regierung ihr Recht, dies zu tun, aufrechterhalten. Denn wozu würde es führen, wenn sie die in den Versammlungen üblichen Aufreizungen unter Frauen und Minderjährige hineinwerfen ließe. Die Staatsregierung werde in der Sache ihren eigenen Standpunkt behaupten und vertreten, sei es im Petitions-, sei es im Beschwerdeausschuß.« Eine häufige Begründung der Ausweisung von Frauen aus Volksversammlungen war die: die von Sozialdemokraten einberufenen politischen Versammlungen sind Vereinsversammlungen gleichzuachten, denn diese Partei sei an sich ein großer Verein. Zudem witterten die Behörden immer noch geheime Verschwörungen, denn fast allen Verboten von Frauenvereinen und -kommissionen gingen Haussuchungen voran. Man mußte deshalb Adressenverzeichnisse, Bons und Listen für Geldsammlungen sehr vor-
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sichtig verstecken, damit den Behörden kein neues Material in die Hände geliefert wurde zu Beschlagnahmen und weiteren Anklagen. Häufig mußte man die Versammlungsbesucher öffentlich vor den Agenten der politischen Polizei warnen (im Volksmunde »Achtgroschenjungen« genannt), denn sie waren oft zahlreich in den Versammlungen anwesend und suchten durch Gespräche die Anwesenden zu unbedachten Äußerungen zu veranlassen. All das, was hier geschildert wird, sind nur Stichproben aus der Fülle von Schikanen, denen unsere Frauenbewegung von Polizei und Staatsgewalt ausgesetzt war. Man mußte andere Wege finden. So wurde 1894 auf dem Parteitag zu Frankfurt am Main in einer Besprechung von bewährten Parteigenossen und -genossinnen beschlossen, die Frauenagitationskommissionen aufzulösen und statt dessen einzelne Vertrauenspersonen zu wählen. Folgende Richtlinien wurden festgelegt: 1. Die Vertrauensperson soll dafür sorgen, daß die Genossen des Orts in ihrer politischen und gewerkschaftlichen Aktion die Frauen des Proletariats berücksichtigen. Von den Genossinnen ist zu erwarten, daß sie die Vertrauensperson in ihren schwierigen arbeitsreichen Aufgaben unterstützen. 2. Es ist allerorten dahin zu wirken, daß die Arbeiterinnen ihren Gewerkschaften zugeführt werden und
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daß sie zu dem Zwecke weibliche Agitatoren verwenden; ferner sollen zu den Verwaltungsposten weibliche Mitglieder herangezogen werden. 3. Die Form der nichtgewerkschaftlichen Organisation der Frauen ist eine Zweckmäßigkeitsfrage, aber keine Prinzipienfrage. 4. Ob die Frauen den politischen und Bildungsvereinen der Männer beitreten oder eigene Organisationen bilden, hängt von den lokalen Verhältnissen, namentlich vom Vereinsgesetz ab. 5. Die Frauenbildungsvereine sollen neben der Bildungsarbeit auch praktische Arbeit leisten, Tatsachen über die Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen sammeln und zu agitatorischer Benutzung der Öffentlichkeit übergeben; sie sollten eine Art Beschwerdekommission bilden, denen die Arbeiterinnen vertrauensvoll – in Ermangelung von Fabrikinspektorinnen – besondere Mißstände ihrer Lage mitteilen, und nach Kräften für Abstellung derselben wirken. Behufs Forderung der Aufklärung und Organisierung des weiblichen Proletariats sind von Zeit zu Zeit besondere Flugblätter herauszugeben. 6. Die sozialistische Frauenbewegung ist in größerem Umfange als bisher seitens der Arbeiterpresse zu unterstützen. Die Berliner Frauenagitationskommission, an deren Spitze bis 1894 Margarete Wengels stand, löste sich
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nicht auf, sondern arbeitete in gewohnter Weise weiter, denn sie meinte, der Aufgaben, die sie zu erfüllen hatte, seien zu viele, als daß eine Person sie zu bewältigen imstande wäre. Um nun die Agitation für das Frauenwahlrecht recht wirkungsvoll betreiben zu können, sandte die Berliner Frauenagitationskommission zu Anfang des Jahres 1895 an die sozialdemokratische Reichstagsfraktion folgendes Schreiben: »Um eine starke und einheitliche Bewegung für das Frauenwahlrecht in ganz Deutschland einzuleiten, stellen wir an alle Vertreter der sozialdemokratischen Partei das höfliche Ersuchen, in ihren Wahlkreisen wenigstens eine öffentliche Versammlung abzuhalten, in der die Notwendigkeit der Forderung des Frauenwahlrechts besonders betont und die im ›Vorwärts‹ am 6. und 7. Februar veröffentlichte diesbezügliche Resolution zur Annahme gebracht wird. Da wir beabsichtigen, dem Reichstage Kenntnis zu geben, in welchen Orten die Resolution angenommen wurde, so ersuchen wir die Herren Abgeordneten, in deren Wahlkreisen solche Versammlungen veranstaltet wurden, uns mitteilen zu wollen, wo dieselben stattfanden und wie groß die Zahl der Teilnehmer zu denselben war.« Die Resolution, die in den Versammlungen zur Abstimmung gebracht werden sollte, lautet: »In Erwägung, daß es keinen sichtbaren Grund gibt, der ein mündig gewordenes menschliches Wesen
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von Bürgerrechten und Freiheiten ausschließt, wie das dem weiblichen Geschlecht geschieht; in Erwägung, daß die Frauen nicht gewillt sind, diesen Zustand der Entrechtung, in welchen sie im Laufe der Zeiten versetzt wurden, ferner zu ertragen; in weiterer Erwägung, daß namentlich die täglich sich immer mehr zuspitzenden Gegensätze innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auch die sehr große Mehrzahl der Frauen in immer schlimmere soziale und wirtschaftliche Verhältnisse versetzt und eine Hebung und Verbesserung dieser Verhältnisse ein Gebot der dringendsten Notwendigkeit ist, aber ohne den Besitz politischer Rechte und Freiheiten nicht herbeigeführt werden kann, fordern die Frauen nachdrücklichst die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte wie die Männer und besonders die Gewährung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts.« Am 5. und 6. Februar 1895 wurden in Berlin als Beginn dieser Agitation vier stark überfüllte Volksversammlungen abgehalten, Bebel und Liebknecht, Emma Ihrer und ich hielten die Referate. Aber auch eine kräftige Agitation für Abschaffung der Gesindeordnung leitete die Berliner Frauenagitationskommission ein. Sie veranstaltete im Januar 1895 zwei sehr gut besuchte öffentliche Volksversammlungen, in denen Reichstagsabgeordneter Molkenbuhr das Referat hielt. Es wurde die Abschaffung der Ge-
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sindeordnung und die Unterstellung aller Arbeiter und Arbeiterinnen unter die Gewerbeordnung verlangt. Die Behörde wurde nicht müde im Auflösen und Verbieten, aber auch wir waren hartnäckig und ließen uns nicht unterkriegen. Im Januar 1895 wurde von der Behörde der Leipziger Frauen- und Mädchenbildungsverein aufgelöst, weil er seinerzeit an die Berliner Frauenagitationskommission 30 Mark gesandt hatte und nach den sächsischen Vereinsgesetz damit in nicht erlaubte Verbindung mit einem auswärtigen Verein trat. In Ottensen wurden die vier Vorstandsmitglieder der dortigen Zahlstelle des Zentralverbandes für Frauen und Mädchen Deutschlands zu je 20 Mark Geldstrafe oder vier Tagen Gefängnis verurteilt, weil sie im Verein Politik getrieben und in diesen Verein neue Mitglieder aufgenommen hatten. Der große Frauen- und Mädchenbildungsverein für Berlin sowie seine Filialen wurden durch Gerichtsurteil vom 20. März 1895 geschlossen. 21 Genossinnen erschienen als Angeklagte vor dem Schöffengericht zu Berlin. Vom 2. April 1892 bis zum Frühjahr 1895 sollen sie in Berlin, Charlottenburg, Weißensee als Vorsteher, Ordner und Leiter eines politischen Vereins Frauenspersonen als Mitglieder aufgenommen haben. 30 Polizeibeamte waren als Belastungszeugen geladen. Die sogenannten »Kriminalstudenten«, unbe-
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schäftigtes, sensationslüsternes Publikum, hatten bei diesem großen Zeugenaufgebot in Schutzmannsuniform gedacht, es handele sich um einen Zuhälter- und Dirnenprozeß, und waren in Scharen gekommen. Sie kamen nicht auf ihre Kosten und zogen enttäuscht ab. Die Dinge, die hier verhandelt wurden, waren keine Sensation in ihrem Sinne. Der Gerichtsvorsitzende erklärte im Laufe des Prozesses: »Politik ist alles, was nicht eine einzelne Person, sondern die gesamte Öffentlichkeit angeht.« Es hatte nämlich ein Arzt in dem Verein über Säuglingsernährung gesprochen und dabei gefordert, daß, wenn die einzelne Familie nicht imstande ist, die teure Kindermilch zu beschaffen, dies die Pflicht der Kommune sei. Genossin Mesch als Vorsitzende wurde zu 25 Mark Geldstrafe, die übrigen 20 Frauen zu je 15 Mark verurteilt. Nun ereilte auch die Berliner Frauenagitationskommission ihr Schicksal, sie wurde im Februar 1895 vorläufig polizeilich geschlossen. Die interessante Verfügung, welche die Auflösung ausspricht, lautet wörtlich: »Es wird Ihnen hiermit eröffnet, daß die Berliner Frauenagitationskommission auf Grund des § 8 des Vereinsgesetzes vom 11. März 1850 vorläufig geschlossen ist, weil dieselbe nach ihrer bisherigen Tätigkeit, insbesondere wegen der noch in letzter Zeit in
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Versammlungen betriebenen Agitation für das Wahlrecht der Frauen, als politischer Verein im Sinne des genannten Gesetzes erscheint, politische Vereine aber Frauen nicht als Mitglieder aufnehmen dürfen. Jede fernere Beteiligung an diesem Vereine oder eine Neubildung, welche sachlich als Fortsetzung des geschlossenen Vereins erscheint, ist nach § 16 des Vereinsgesetzes strafbar. Der Polizeipräsident.« Im Zusammenhang mit der Auflösung der Frauenagitationskommission in Berlin wurde bei den Genossinnen Fahrenwald, Jung, Klotzsch, Ihrer, Frohmann und mir Haussuchung abgehalten, jedoch ohne das geringste Resultat. Auch bei der Genossin Wengels, die seit Ende des Jahres 1894 der Kommission nicht mehr angehörte, erschien dieser Besuch, aber auch dort wurde nicht das geringste Belastungsmaterial gefunden. Genossin Ihrer erhob gegen die Auflösung der Berliner Agitationskommission Widerspruch: »Gegen die mir am 22. d. zugestellte Verfügung des Polizeipräsidenten zu Berlin lege ich hiermit Beschwerde ein und beantrage: die Verfügung aufzuheben. Begründung: Sowohl nach dem Sinne des Vereinsgesetzes vom 11. März 1850 als auch nach dem Entscheide des Obertribunals für Strafsachen und des
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Reichsgerichts vom 10. April 1891 kann die Frauenagitationskommission, der ich bisher angehörte, weder als ein Verein im Sinne des Gesetzes angesehen werden, noch ist die Tätigkeit der Kommission als eine politische zu bezeichnen.« – Das Obertribunal entschied, daß ein Verein eine dauernde Vereinigung von Personen zu gemeinsamen Zwecken sei. Die genannte Kommission kann als eine dauernde Vereinigung nicht angesehen werden, da deren Mitglieder nicht aus eigenem Antriebe, sondern durch die Wahl in einer Volksversammlung zum Zusammentritt bewegt wurden, und jede gleiche Volksversammlung, deren Einberufung an keine Frist gebunden ist, kann die Kommissionsmitglieder ihres Mandats verlustig erklären. Das Reichsgericht entschied, daß zu den Kriterien eines Vereins eine Leitung gehöre. Eine solche ist bei der Frauenagitationskommission aber nicht vorhanden gewesen, da sie weder Vorsitzende noch Kassiererin noch sonst irgendeine Leitung hatte, auch keinem der Mitglieder bestimmte Funktionen oblagen. Ebensowenig waren weitere oder gar Beitrag zahlende Mitglieder vorhanden, ohne solche ist aber die Bildung eines Vereins unmöglich. Auch war ein Statut nicht vorhanden, ohne solches könnte aber ein Verein unmöglich einheitlich arbeiten. Außerdem hat sich die Frauenagita-
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tionskommission noch nicht mit politischen Angelegenheiten beschäftigt, denn es kann unmöglich als einheitliche Beschäftigung mit politischen Angelegenheiten im Sinne des Gesetzes gelten, wenn einzelne Mitglieder auf eigene Hand die Vorbereitungen für Volksversammlungen, in denen die Frauen interessierende Angelegenheiten besprochen werden sollen, treffen, oder in solchen Versammlungen Vorträge halten. Aus den angegebenen Gründen ergibt sich von selbst, daß die Verfügung des Herrn Polizeipräsidenten zu Berlin dem Sinne des Gesetzes widerspricht, und bitte ich, meinem Antrag gemäß entscheiden und diese Verfügung aufheben zu wollen. Das Gericht stellte sich auf einen anderen Boden. Die Mitglieder der Kommission wurden zu Geldstrafen verurteilt und die Kommission geschlossen. Auch die durch die Genossin Ihrer beim Reichsgericht eingelegte Revision wurde verworfen. Selbst bei der Verhandlung ging man von seiten des Gerichtes gegen uns Frauen in besonderer Weise vor. Man verlangte, daß wir sechs Frauen während der ganzen Verhandlung stehen sollten. Auf unseren energischen Protest wurde uns entgegengehalten, daß wir doch in Versammlungen den ganzen Abend stehen könnten. Wir bemerkten aber, daß wir dort immer die Möglichkeit hätten, uns zu setzen. Es wurde uns
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dann das Sitzen gestattet, aber hinzugefügt, daß wir aufzustehen hätten, wenn wir gefragt würden, was wir für eine Selbstverständlichkeit hielten. Die Herren Richter konnten sich eben keine Gelegenheit entgehen lassen, uns ihre Herrenrechte so deutlich wie möglich fühlen zu lassen.
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Sechstes Kapitel
Das System der weiblichen Vertrauenspersonen Neue Forderungen Der Parteitag in Frankfurt a.M. von 1894 hatte den Beschluß gefaßt, die Frauenagitationskommission aufzulösen und statt dessen einzelne weibliche Vertrauenspersonen zu wählen, die auch die spitzfindigste Polizeibehörde nicht zu einem »politischen Verein« stempeln konnte. Die Berliner Frauenagitationskommission, die mit der proletarischen Frauenbewegung im ganzen Reich in Verbindung stand und die vor allem die Agitationstouren zusammenzustellen hatte, wollte zunächst abwarten. Nun war auch sie mit Hilfe des Vereinsgesetzes, wie bereits erzählt, der Auflösung verfallen. Es wurde in einer öffentlichen Versammlung die Genossin Ottilie Gerndt als Vertrauensperson gewählt. Sie hatte die Korrespondenz mit den Trägerinnen der proletarischen Frauenbewegung zu führen und die planmäßige Agitation unter den Frauen in ganz Deutschland anzuregen und zu fördern. Später, im Herbst 1895, wurden dann auch in zwei Berliner Kreisen in öffentlicher Versammlung weibliche Vertrauenspersonen gewählt, und zwar im zwei-
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ten Wahlkreis die Genossin Emma Scholz und im vierten Wahlkreis ich. Wir hatten die Aufgabe, die Agitation unter den Frauen Berlins zu fördern. Als dann am 30. November 1895 durch eine Verfügung des Berliner Polizeipräsidiums elf Organisationen bzw. Organe der sozialdemokratischen Partei als Vereine »vorläufig geschlossen« wurden, da war auch unsere Tätigkeit wieder einmal lahmgelegt. Begründet wurde diese Maßnahme mit den §§ 8 und 16 des Preußischen Vereinsgesetzes, die »das Inverbindungtreten politischer Vereine« untersagten. Dieser Polizeiverfügung gingen Haussuchungen bei etwa hundert der bekanntesten Parteigenossen voraus. Auch wir wurden nicht verschont, und gewissenhaft untersuchten die Hüter der Ordnung bei Emma Scholz auch Wichskasten und Kammkasten. Wo Kinder im Hause waren, wurden auch die Puppenstuben gründlich durchsucht. Von den 47 Angeklagten wurden 32 freigesprochen, die übrigen zu geringen Geldstrafen verurteilt, im Jahr darauf aber durch eine höhere Instanz alle freigesprochen, unter denen auch wir beiden weiblichen Vertrauenspersonen uns befanden. Wir konnten unsere Tätigkeit wiederaufnehmen und Versammlungen einberufen. Schon im Mai 1895 hatte die sozialdemokratische Fraktion im Reichstag die folgenden Anträge gestellt: »1. Für alle Reichsangehörigen ohne Unterschied
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des Geschlechts das Recht, sich zu versammeln ohne vorherige Anmeldung bei einer Behörde und ohne deren Erlaubnis einzuholen: 2. Das Recht, auf öffentlichen Plätzen und Straßen Versammlungen und Umzüge abzuhalten, vorausgesetzt, daß diese sechs Stunden vor ihrem Beginn bei der mit der Ordnung des öffentlichen Verkehrs betrauten Ortsbehörde angemeldet werden; 3. für alle Reichsangehörigen das Recht, Vereine jeder Art zu bilden, ferner alle einzelstaatlichen, den vorstehenden Bestimmungen widersprechenden Gesetze und Verordnungen aufzuheben und ebenso alle Gesetze und Verordnungen, welche die Verabredung und Vereinigung zum Zwecke der Erlangung besserer Lohn- und Beschäftigungsbedingungen untersagen oder unter Strafe stellen.« Das waren Forderungen, deren Erfüllung auch den Frauen einen Teil des ihnen vorenthaltenen Rechts gegeben hätte. Aber es sollte noch manches Jahr ins Land gehen, bis wir soweit waren. Nach den letzten Drangsalierungen durch die Behörden, nach den zahllosen Haussuchungen vom November 1895 wurden diese Anträge noch einmal in der »Gleichheit« veröffentlicht, um auch weiteren Frauenkreisen zu zeigen, daß unsere Partei auch an der richtigen Stelle für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts eintrat.
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Aber noch eine andere Forderung, die höchste, die wir erheben mußten, war in diesen Anträgen unserer Fraktion enthalten: die Forderung des Frauenwahlrechts. Zum erstenmal wurde sie im Reichstag gestellt und durch unsern Bebel vertreten. Er betonte dabei besonders: es sei zum erstenmal, daß in einem deutschen Parlament diese Forderung gestellt wird, aber sicher nicht zum letztenmal. An den Parteitag, der im Oktober 1895 in Breslau tagte, stellte Ottilie Gerndt als Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands den Antrag, daß die Reichstagsfraktion durch den Parteitag beauftragt würde, bei den Beratungen über den Entwurf des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches für die Beseitigung aller Bestimmungen einzutreten, die die Frau dem Manne gegenüber benachteiligen, vor allem auch für die Rechte der unverheirateten Mutter und ihrer Kinder. Dieser Antrag ist angenommen und an die Fraktion im Reichstag weitergegeben worden. Noch zu Ende des Jahres 1895 haben unsere Parteigenossen die Vorbereitung von Gesetzentwürfen gefordert, deren erster den achtstündigen Arbeitstag herbeiführen sollte, während der andere die Aufhebung der Sonderbestimmungen für die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter sowie die Aufhebung der Gesindeordnung bringen sollte.
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So schnell aber sollten derartige Forderungen noch nicht erfüllt werden. Vorläufig ging aller Fortschritt nur in der Art der Springprozession: zwei Schritte vorwärts, einen Schritt zurück; vor allem, wenn es sich um die Frauen handelte. Während das Heer der im Lebenskampf stehenden Frauen ständig wuchs und die politische und wirtschaftliche Gleichstellung mit dem Mann mehr und mehr eine Lebensnotwendigkeit wurde, suchte eine verblendete reaktionäre Regierung die Entwicklung durch reaktionäre Maßnahmen zu hemmen. So ging der eingebrachte Regierungsentwurf auch noch auf Einengung der wenigen Rechte aus. Er verlangte zum preußischen Vereins- und Versammlungsrecht den Ausschluß der Minderjährigen von politischen Versammlungen. Ferner sollten von den Vertretern der Polizei Versammlungen aufgelöst, Vereine von der Landespolizeibehörde geschlossen werden können, sofern ihr Zweck und ihre Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderläuft oder die öffentliche Sicherheit – insbesondere die Sicherheit des Staates – oder den öffentlichen Frieden gefährdet. Die Genossinnen ließen sich trotz aller bösen Absichten der herrschenden Klassen von ihrem Tun nicht abbringen, obwohl die Polizei es fast toller trieb als unter dem Sozialistengesetz. Auch im Jahre 1896 wurde, wie im vorhergehenden
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Jahre, die Polizeipraxis des Hinausweisens von Frauen aus Versammlungen, die Auflösung von solchen und dergleichen in rücksichtsloser Weise weiter fortgeführt. Ein Versammlungsverbot der sächsischen Polizei verdient der Nachwelt erhalten zu werden. Die Genossin Steinbach (Hamburg) sollte im Jahre 1896 in öffentlichen Versammlungen von Arbeitern und Arbeiterinnen in Hartmannsdorf und Limbach über das Thema »Wem nützt die Frauenarbeit in der Textilindustrie und in den verwandten Berufen« sprechen. Diese Versammlungen wurden auf Grund des § 5 des sächsischen Vereinsgesetzes verboten. Der Wortlaut des Versammlungsverbotes für Limbach ist so charakteristisch für die amtseifrige, zielbewußte Helligkeit der sächsischen Behörden, daß es ein Fehler wäre, ihn nicht bekanntzugeben. Er lautet: »Wir teilen Ihnen hierdurch ergebenst mit, daß wir auf Grund des § 5 des klg. sächs. Gesetzes, das Vereins- und Versammlungsrecht betreffend, vom 22. November 1850, die heute abend von 81/2 Uhr ab im Hotel Johannisbad' abzuhaltende öffentliche Arbeiterund Arbeiterinnenversammlung, in welcher als Referentin Frau H. Steinbach aus Hamburg über das Thema: ›Wem nützt die Frauenarbeit in der Textilindustrie und den verwandten Berufen?‹ auftreten will, wie hiermit geschieht, verbieten, und zwar aus folgen-
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den Gründen: Wenn man das gestern in der Stadt verbreitete, von der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands unterzeichnete, im Verlage von C. Legien in Hamburg verlegte, in der Hamburger Buchdruckerei und Verlagsanstalt Auer u. Komp. in Hamburg gedruckte, als Einladung zu jener Versammlung offenbar dienende Flugblatt, welches die Überschrift trägt: ›An die werktätigen Frauen und Mädchen Deutschlands‹ liest und sieht, daß es als Motto die folgenden Verse von Herwegh an der Spitze trägt: Und du ackerst und du sä'st, Und du nietest und du nähst, Und du hämmerst und du spinnst, Sag' o Volk, was du gewinnst? Was ihr kleidet und beschuht, Tritt auf euch voll Übermut. Seht die Drohnen um euch her, Habt ihr keinen Stachel mehr? so kann es nicht zweifelhaft erscheinen, wie die Antwort auf die von der Referentin gestellte Frage: ›Wem nützt die Frauenarbeit in der Textilindustrie?‹ lauten wird. Sie ist für jeden Tieferblickenden gegeben, in jenen
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Versen Herweghs wird also zweifelos in einem Appell an das ›werktätige Volk‹, die gegen die ›Drohnen‹ sich richten, zu denen nach der Anschauung der Sozialdemokratie die Besitzenden und vor allem die Arbeitgeber, im Gegensatz zu den Arbeitnehmern, gehören. Es mag nun dahingestellt bleiben, ob in der geplanten Versammlung die Referentin soweit gehen würde, in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung, die Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber, zu Gewalttätigkeiten gegeneinander öffentlich anzureizen, mithin gegen den § 130 des Reichsstrafgesetzbuches sich zu vergehen, obschon das oben angeführte Motto (›Habt ihr keinen Stachel mehr?‹) einen Schluß darauf zulassen würde. Immerhin wäre es aber nicht ausgeschlossen, daß durch die Ausführungen der Referentin zu der von ihr gestellten Frage ihre Zuhörer aus dem Arbeitnehmerstande dazu geneigt machen würden, nach Befinden unter Kontraktbruch die Arbeit niederzulegen, um von ihren Arbeitgebern irgendwelche Zugeständnisse in bezug auf Löhne und Arbeitsbedingungen zu erzwingen. Da nun aber, wie bekannt, die eigenmächtige Auflösung des Arbeitsverhältnisses – wenn auch die Bestrafung des Kontraktbruches gewerblicher Arbeiter
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aufgehoben ist – gegen eine gesetzliche Bestimmung, diejenige des § 124 der Gewerbeordnung verstößt, mithin eine Gesetzesübertretung involviert, und Versammlungen, deren Zweck es ist, zu Gesetzesübertretungen geneigt zu machen, nach § 5 des eingangs angezogenen Gesetzes verboten sind, so ist der unterzeichnete Stadtrat geradezu verpflichtet, die in Rede stehende Versammlung zu verbieten.«
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Siebentes Kapitel
Drei internationale Tagungen Frauenbewegung Im Juli 1895 ging durch unsere Parteipresse der Aufruf zu einem internationalen Sozialisten- und Gewerkschaftskongreß, der im folgenden Jahre in London stattfinden sollte. Auch die »Gleichheit« brachte diesen Aufruf. Noch ehe wir uns aber mit diesem Kongreß beschäftigen konnten, wurden unsere Gedanken durch ein Ereignis, das für unsere gesamte Arbeiterbewegung große Trauer bedeutete, nach London gelenkt: einer unserer Führer, Friedrich Engels, hatte dort in seinem 75. Lebensjahre die Augen geschlossen. Das war ein harter Schlag. Hatte Engels auch fern von den Genossen, fern von seiner Heimat gelebt, so war er uns in seinen Schriften ein stets naher, hilfsbereiter Freund und Lehrer gewesen, dessen Scheiden wir schmerzlich bedauerten. Aber mit dem, was wir immer von ihm hatten, mit seinen Aufsätzen, mit seinen Briefen blieb er uns doch nahe, und so ist er noch manchem, auch unter den Frauen, ein Freund und Lehrer geworden. Im neuen Jahre erging dann bald die Mahnung auch an die Frauen, rechtzeitig Stellung zu dem Kon-
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greß zu nehmen. Es wurden als Vertreterinnen der deutschen proletarischen Frauen die Genossinnen Clara Zetkin, Emma Ihrer und ich gewählt. Mein früher so eingeengtes Leben war nun schon seit einigen Jahren durch die Teilnahme an den politischen Aufgaben ein sehr viel reicheres geworden, ich hatte auch so manche Gegend, so manche schöne Stadt in Deutschland kennengelernt, diese erste Auslandsreise aber war doch ein besonderes Ereignis. Für uns waren solche Reisen keine Vergnügungsreisen. Neben der inneren Bereicherung, die sie brachten, bedeuteten sie auch schwere Arbeit. Es hieß scharf die Augen offenhalten, nicht nur, um bei den Verhandlungen die Interessen derer, die uns schickten, zu vertreten, sondern um ihnen auch von dem fremden Lande, von den anderen Verhältnissen, unter denen die proletarischen Brüder und Schwestern lebten, soviel mitbringen zu können, als es nur anging. Ganz von selbst ergab es sich, daß wir dabei Vergleiche auch über die äußeren Lebensformen des Proletariats, vor allem die der Frauen anstellten. Und die ersten Eindrücke in London waren keine sehr erfreulichen. So sahen wir gleich am ersten Abend unserer Ankunft, als wir mit dem Wagen durch die Stadt fuhren, wie eine betrunkene Frau aus einem Lokal herausgeworfen wurde. Sieht man in Deutschland die Fabrikarbeiterin auch bei der Arbeit in möglichst ordentlichen Kleidern, so
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ging die englische Arbeiterin in jener Zeit einfach in Lumpen. Ein Kleid, dessen unterer Rand gesäumt war, sah man kaum. Er war einfach glattgeschnitten, und franste er im Laufe der Zeit zu sehr aus, so wurde eben wieder die Schere genommen. Auch in den proletarischen Wohnungen machte sich diese Gleichgültigkeit bemerkbar. Die ärmste Arbeiterfrau setzte bei uns ihre Ehre darein, ihre Wohnung, soweit es irgend geht, in Ordnung zu haben. In den Londoner Arbeiterwohnungen, die wir gesehen haben, war der Schmutz zu Hause. Da diese Unordnung und Unsauberkeit nicht Einzel-, sondern Allgemeinerscheinung war, so waren die Ursachen in den sozialen Verhältnissen zu suchen, und eine lag wohl darin, daß in den Schulen weder Handarbeits- noch hauswirtschaftlicher Unterricht erteilt wurde, die kaum herangewachsenen jungen Mädchen aber zu einem Lebenserwerb greifen mußten. Engels Buch »Die Lage der arbeitenden Klassen in England« zeigt in klarer Weise die Ursachen und auch deren traurige Wirkungen. Sehr angenehm dagegen empfanden wir das höfliche, zuvorkommende Benehmen der dortigen Policemen im Vergleich zu dem unserer preußischen Polizisten, die gewöhnlich den Unteroffizierton dem Publikum gegenüber anschlugen. Es herrschte eine viel größere öffentliche Freiheit. Auch der Ärmste hatte ein Anrecht auf die Straße. Als die organisierte engli-
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sche Arbeiterschaft zu Ehren des Internationalen Kongresses einen Demonstrationszug durch den Hydepark veranstaltete, sorgten die Policemen dafür, daß der Zug ungehindert passieren konnte. Die Kutschen mußten solange halten, bis sich eine Lücke zum Durchfahren bot. Manches interessante Straßenbild haben wir gesehen. Arme Künstler, die Schiffbruch erlitten hatten, zeichneten mit bunter Kreide hübsche Bilder auf die breiten Trottoirs, die Vorübergehenden blieben stehen, sahen es an und gaben dem Künstler ein großes Kupferstück (4 Pfennig). Überall auf den Straßen ist für Vergnügen, Unterhaltung oder auch für religiöse Erhebung gesorgt. In einer Nebenstraße stellte sich eine Gruppe von Tänzern, junge Mädchen und Burschen, auf und führen die damals so beliebten Serpentintänze vor. Auch sie bekommen von den Umstehenden ihre Kupferstücke. Dann wieder steht irgendwo an einer Ecke ein Redner, der an das religiöse Gefühl der Straßenpassanten appelliert. Neben ihm steht ein Harmonium, und ein Lied wird gesungen. Wir sahen bei einer solchen Gelegenheit nach unserer Gewohnheit dem Redner aufmerksam ins Gesicht, trotzdem die meisten von uns ihn nicht verstanden; das muß ihn wohl aus dem Konzept gebracht haben, denn wir merkten an seinen Mienen, daß er von uns, und nicht gerade freundlich, sprach. Unsere Anwesenheit in
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London war ja auch bekannt, und der ganze Kongreß war doch vielen ein Dorn im Auge. Schließlich fing Genosse Wurm, der auch bei uns war, an zu lachen und sagte: »Wenn ihr wüßtet, was der alles von euch sagt!« Uneingeschränkte Versammlungsfreiheit herrschte hier. Irgend jemand stellte sich an einer Straßenecke auf und fing an zu reden, und bald hatte er einen Zuhörerkreis um sich versammelt. Allabendlich fanden sich auf den öffentlichen Plätzen Londons oft zu Tausenden Obdachlose ein, die dort ihr hartes Nachtlager aufschlugen. Der Policeman bewachte sie, damit niemand ihnen ihr Eigentum, das armselige Bündelchen, unter dem Kopf hervorstahl. Der englische Arbeiter hatte die Freiheit, auf der Straße zu verkommen, aber er hatte nicht, wie auch wir nicht, das Recht auf menschenwürdige Existenz. Ungeheurer Reichtum und entsetzliche Armut und damit Verwahrlosung stehen sich in London gegenüber, die sauberen breiten Straßen mit den riesigen Kaufhäusern, dem flanierenden eleganten Publikum und der Whitechapel, das Elendsviertel Londons. Wir fuhren am Sonntagmorgen hinaus, um einen Einblick zu gewinnen. Da war der sogenannte Judenmarkt. In den engen, schmutzigen Straßen waren Tische aufgestellt, auf denen das Warenlager aufgebaut und feilgeboten wurde. Hungrige, aufgedunsene Gestalten in schmutziger, verlumpter Kleidung boten ihre Waren,
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Heringe, Limonaden, Seife, alte Hosen, Eßwaren u. dgl. an. Das Viertel wurde auch das Verbrecherviertel genannt, weil sich dort Verbrecher, oft genug durch die Not gezüchtet, verbargen. Ein Fremder hätte nicht wagen dürfen, in einen der Keller hineinzugehen, ohne einen Policeman zu verständigen. Alles in allem machte mir London einen großartigen Eindruck. Berlin kam mir dagegen wie ein Dorf vor. Auch das Klima sagte mir zu. Den Londoner Nebel habe ich allerdings nicht kennengelernt. Aus aller Herren Länder waren neben den Männern auch Vertreterinnen der Frauen nach London gekommen. Die Tochter unseres Karl Marx, Eleanor Marx-Aveling, Frau Pankhurst, Amie Hicks, Beatrice Webb und viele andere der englischen Parteigenossinnen lernten wir kennen. Frankreich, Italien, Holland, Belgien, Rußland, Amerika hatten Frauen gesandt. Zu einer besonderen Besprechung hatten sich die weiblichen Teilnehmerinnen im langen, schmalen Balkonzimmer der Queens Hall zusammengefunden, und es war ein buntes Sprachengewirr, in dem sich die Menschen aber doch nahe kamen. Frau Amie Hicks, eine englische Seilmacherin, erzählte von ihrer Arbeit unter den Frauen, von den Schwierigkeiten, die Frauen in die Gewerkschaften zu bringen. Sie forderte vor allem ausgedehnten gesetzlichen Schutz und bessere Arbeitsbedingungen für die Frauen. Eine Reihe
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wichtiger Anträge, die von den Frauen gestellt waren, wurden auf dem Kongreß verhandelt und auch in den Beschlüssen festgelegt. So hatten die Genossinnen Zetkin, Ihrer, Marx-Aveling, Adelheid Popp den folgenden Antrag auf eine Erklärung des Kongresses eingereicht. 1. Der Platz der proletarischen Frauen, welche ihre Befreiung erringen wollen, ist in Reih und Glied des kämpfenden Proletariats und nicht in den Reihen der bürgerlichen Frauenrechtlerinnen. 2. Zum Zwecke ihrer Beteiligung am proletarischen Klassenkampf auf politischem Gebiete sind die Proletarierinnen einzubeziehen in die politischen Organisationen der Arbeiterklasse, wo die Vereinsgesetze dies gestatten. Dort, wo diese Gesetze die gemeinsame politische Organisation von Männern und Frauen unmöglich machen, ist kräftig für die nötige Reform der einschlägigen Bestimmungen einzutreten. 3. Zum Zweck der Beteiligung am proletarischen Klassenkampfe auf wirtschaftlichem Gebiete, die durch die Rolle der Frau in der modernen Industrie täglich nötiger wird, sind die Proletarierinnen einzubeziehen in die Gewerkschaftsorganisationen ihrer männlichen Berufsgenossen, wo Männer und Frauen in dem gleichen Gewerbe tätig sind. Wo dies nicht der Fall ist, sind die selbständigen Gewerkschaftsvereine der Arbeiterinnen der Organisationen der verwandten
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Berufsgenossen anzugliedern. Der Internationale Sozialisten- und Gewerkschaftskongreß zu London erklärt ferner: daß es sowohl im Interesse der männlichen wie der weiblichen Proletarier liegt, mit aller Energie für die Verwirklichung der obigen Forderungen einzutreten, sowie für die volle politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts als für eine Reform, welche dem weiblichen Proletariat die unbehinderte Beteiligung am Kampfe seiner Klasse ermöglicht. Wir haben uns, wie auch aus diesem Antrag zu ersehen ist, in London auch mit der bürgerlichen Frauenbewegung auseinandergesetzt und auf die grundsätzliche Verschiedenheit, die vor allem in den Ausgangspunkten liegt, hingewiesen. Für den Herbst des gleichen Jahres 1896 hatten die Frauenrechtlerinnen einen internationalen Frauenkongreß nach Berlin einberufen, zu dem auch Emma Ihrer, Clara Zetkin und ich selbst eingeladen wurden. Die Teilnahme an einer solchen rein bürgerlichen Veranstaltung haben wir abgelehnt, weil unsere besonderen Arbeiterinnenfragen dort niemals die Behandlung finden konnten, die wir hätten fordern müssen. Wir haben aber diese Frauentagung zum Anlaß genommen, drei eigene große Volksversammlungen einzuberufen, zu denen wir die Kongreßteilnehmerinnen, vor allem die ausländischen, besonders einluden. Wir hatten auch, ent-
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gegen den Kongreßverhandlungen, die sofortige Übersetzung ausländischer Reden zugesagt. Gesprochen hat außer einer Österreicherin und einer Polin bei uns nur die italienische Ärztin Dr. Montessori, die besonders Grüße der italienischen Genossen überbrachte. Eine große Freude war es, daß unsere drei Versammlungen zu ganz gewaltigen Kundgebungen wurden. Alle waren gedrängt voll, die eine derartig, daß der überwachende Beamte nur eine halbe Stunde für die ganze Versammlung gestattete. Mit diesen wirkungsvollen Veranstaltungen des weiblichen Proletariats schloß unsere erste Vertrauensperson Ottilie Gerndt ihre Wahlperiode ab. Sie waren auch ein schöner Auftakt zu unserem Parteitag in Gotha im Oktober 1896, auf dem zum ersten Male ein Referat über die Frauenagitation auf die Tagesordnung gesetzt worden war. In erster Linie stand hier die Teilnahme am politischen Leben der Partei, die Heranziehung und Aufklärung der Frauen zur Verhandlung. Aber notwendig mußten wir uns auch bei dieser Gelegenheit wieder mit der bürgerlichen Frauenbewegung auseinandersetzen. Diese kämpfte für die Erhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die sie für die beste hielt. Sie glaubte, durch einige Pflästerchen deren Schäden zu beseitigen und sie uns annehmbar zu machen. All unser Tun war jedoch dar-
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auf gerichtet, dem Proletariat den Sozialismus zu predigen, es für diese höhere und bessere Gesellschaftsform vorzubereiten, es zu gesunden und willensstarken Persönlichkeiten werden zu lassen. Alle Reformen, die wir erstrebten, waren auf dieses Ziel gerichtet. Es wurde denn auch auf dem Parteitag gegen eine einzige Stimme ein Zusammenarbeiten mit den Frauenrechtlerinnen zur Erkämpfung »praktischer Reformen« abgelehnt. In den Beschlüssen des Parteitages wurde den Frauen, die sich infolge der bestehenden Vereinsgesetze nicht so, wie sie wollten, am politischen Leben beteiligen konnten, empfohlen, sich mehr der gewerkschaftlichen Agitation zuzuwenden. Auch die Wahl weiblicher Vertrauenspersonen in allen Orten, wo es irgend möglich war, zu fördern, und neben der Aufklärungsarbeit die Erziehung und Stärkung des Klassenbewußtseins bei den Frauen wurden hier als Hauptaufgaben bezeichnet. Ein dritter, auch für die proletarischen Frauen wichtiger internationaler Kongreß fand im August 1897 in Zürich statt. Es kam hier der gesetzliche Arbeiterschutz zur Verhandlung. Die Genossinnen Deutschlands hatten mit ihrer Vertretung Clara Zetkin beauftragt. Das Ergebnis wurde in einer Reihe von bedeutsamen Forderungen festgelegt, und zwar für alle Arbeiterinnen und Angestellte. Die Grundlage für
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dieses Schutzgesetz sollte der Achtstundentag und der Zwölfuhrschluß am Sonnabend bilden. Verbot der gewerkschaftlichen Frauenarbeit mindestens zwei Wochen vor und sechs Wochen nach der Niederkunft, der Beschäftigung schwangerer Frauen bei besonderen, ihren Zustand gefährdenden Arbeiten wurde gefordert. Eine Wochenhilfe mindestens in der Höhe ihres Lohnes, die Aufhebung der Sondergesetze für Dienstboten und landwirtschaftliche Arbeiterinnen, Verbot der Hausindustrie, gleicher Lohn für gleiche Arbeit bei Männern und Frauen, alle diese Forderungen wurden den gesetzgebenden Körperschaften der verschiedensten Länder vorgelegt. Dazu kamen die allgemeinen Arbeiterschutzbestimmungen, an denen die Frau das gleiche Interesse hat wie der Mann: die Regelung der Sonntagsarbeit, der Nachtarbeit, Verbot der Arbeit in gesundheitsgefährlichen Betrieben, das Verbot der Kinderarbeit bis zu 16 Jahren und die allgemeine Forderung des Achtstundentages. Die Zusammenfassung der gesamten Beschlüsse ist ein interessantes Dokument, und man erkennt daran deutlich, wie sehr die Frage des Arbeiterschutzes noch im argen lag.
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Die Lage der Frauenarbeit Im Anschluß an den Parteitag in Gotha habe ich eine Reihe von Versammlungen in kleinen Thüringer Städtchen abgehalten, die mir einen ganz besonderen Eindruck machten. So kam ich auch nach Waltershausen, wo die Herstellung von Spielwaren als Hausindustrie betrieben wird. Tagsüber scheinen die Straßen des hübschen Städtchens wie ausgestorben, nur hin und wieder sieht man einzelne Frauen, ein Kleines im faltenreichen bunten Kattunmantel auf dem Arm, rasch über die Straße laufen, oder die Hucke auf dem Rücken, um fertige Arbeit abzuliefern. Spielende Kinder sind nicht zu sehen. Die Allerkleinsten sind in der Kinderbewahranstalt, wo sie für 10 Pfennig den Tag über versorgt werden. Aber schon ein, zwei Jahre vor der Schulpflicht beginnt ihre Arbeitszeit. Sie müssen bei der Herstellung von Puppen für glücklichere Kinder helfen. Es war ein trauriger Anblick, eine Anzahl Kinder so still bei der Arbeit sitzen zu sehen. Die Leute haben eine Arbeitsteilung bis ins kleinste hinein vorgenommen, damit eben jedes Kind mithelfen kann, denn das ist einfache Notwendigkeit. Die Frauen, die mich nach der Versammlung baten, sie zu be-
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suchen, haben mir sowohl ihre Arbeit wie ihre Lohnbücher gezeigt. Ich war ja an Löhne gewöhnt, bei denen man knapp das Leben hat, aber hier sträubten sich mir doch die Haare. Das Nähen von 35 Zentimeter langen Hemdchen, an Halsausschnitt und Ärmeln gekraust und mit Spitze besetzt, wurde pro Dutzend mit 30 Pfennig bezahlt. Waren sie nur 20 Zentimeter lang und an Hals und Ärmeln glatt umgesäumt, so gab es 10 Pfennig für das Dutzend. Zur Ablieferung mußten sie sauber geplättet, in bestimmter Weise gelegt und dutzendweise zusammengebunden werden. Wenn eine fleißige Arbeiterin in 5 Tagen 25 Dutzend von der größeren Sorte schaffen wollte, so mußte sie die halbe Nacht zur Hilfe nehmen. Den sechsten Tag hatte sie dann vollständig mit Plätten und Zurechtlegen zu tun. Rechnet sie Garn, Nadeln, Öl, Plättfeuer ab, dann hatte sie etwa 6 Mark verdient. In einer anderen Familie beobachtete ich die Herstellung von Nippsachen, Tierfiguren, Rehköpfen als Wandschmuck. Man hatte gerade damals als beliebtes Muster zwei kämpfende Hirsche, aus einem Gemenge von Brotmehl, Gips und Leim; die aus Blei gegossenen Beine und Geweihe lieferte die Fabrik, alles übrige: Ocker, Bleiweiß, Firniß, Englisch Rot, Terra Sienna usw., Steine und Moos für das Postament mußte der Arbeiter selbst beschaffen. Die ganze Familie arbeitete mit. Der Mann setzte Augen, Beine
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und Geweihe ein und färbte den Tierleib, indem er die Farbe aus dem harten Pinsel spritzte. Eine ungesunde Arbeit, deren häufige Folge Bleikolik ist. Die Frau streicht dann mit einem feinen Pinsel Hufe, Augen und Maul an. Die Kinder sammeln Steine und Moos, helfen beim Färben und stellen den Felsen zusammen. Wenn alle Familienmitglieder sich so in die Hand arbeiten und genügend Arbeit vorhanden war, so schaffte bei einer Arbeitszeit bis spät in die Nacht hinein eine Familie in einer Woche etwa zwanzig Dutzend Hirsche, das Dutzend zu 90 Pfennig. Rechnete man für die Auslagen etwa 3 Mark, dann blieben 19 Mark Arbeitsverdienst für die Woche, die aber nicht etwa aufgebraucht werden durften, denn es mußte mit der arbeitslosen Zeit gerechnet werden. Das »Gothaische Volksblatt« hatte festgestellt, daß im Jahre für etwa 225 Tage mit Arbeit und Verdienst zu rechnen war. In den Fabriken waren die Löhne für die Männer etwa 7 bis 11 Mark in der Woche, für die Frauen und jugendlichen Arbeiter 3 bis 6 Mark. Natürlich versuchten die Fabrikarbeiter dieses schmale Einkommen durch Hausarbeit zu erhöhen und merkten nicht, wie sie dadurch ihre Lage keineswegs verbesserten, sondern die Verhältnisse immer noch mehr drückten. Die Frau hat neben der Erwerbsarbeit die Sorge für den Haushalt, und wenn sie abends die Kinder ins Bett geschickt hat, oder Sonntags, steht sie noch am
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Waschfaß oder flickt und stopft. Die »Gleichheit« hat damals einen ausführlichen Bericht mit allen den Zahlenangaben über Verdienst und Arbeitsmöglichkeit gebracht, wie ich sie den Lohnbüchern entnommen hatte. Das hatte zu Nachforschungen Anlaß gegeben, und eine geringe Besserung in der Lage der Heimarbeit in Waltershausen war die Folge. Ähnliche Verhältnisse habe ich bei den Geraer Textilarbeiterinnen gefunden. Die Frauenarbeit war in den dortigen Fabriken so vorherrschend, daß man es schon glauben konnte, wie es damals hieß, daß die Männer zum größten Teil arbeitslos daheim saßen und den Haushalt besorgten, während Frauen und Mädchen in der Fabrik den Lebensunterhalt verdienten. Konnte in Zeiten guten Geschäftsganges eine geschickte Arbeiterin gleichzeitig zwei Webstühle bedienen, so war mit einem Wochenlohn von 18 Mark zu rechnen, dafür mußte sie aber für schlechte Zeiten mit 5 bis 7 Mark in der Woche sich begnügen. Dazu kamen aber fast immer noch Abzüge für kleine Versäumnisse, für fehlerhafte Stellen im Gewebe. Den Lohn allzu stark zu drücken, wagten die Geraer Fabrikanten nicht, denn die Arbeiterschaft hatte dort schon bewiesen, daß sie zusammenzuhalten verstand. Aber die Herren hatten einen anderen Ausweg gefunden, um ihre Gewinne zu erhöhen; sie schickten Ketten und Garne in das benachbarte Vogtland, wo das
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Weben unter einer Art Schwitzsystem zu den billigsten Preisen geschah. Dort verdienten Frauen, die oft stundenweite Wege bis zur Arbeitsstätte hatten, 4 bis 5 Mark in der Woche. Aber auch die Verhältnisse bei den Berliner Weißnäherinnen waren keineswegs besser geworden. Die Herstellung der einfacheren Damenwäsche geschah unter den denkbar elendsten Bedingungen. Hungerlöhne in des Wortes vollster Bedeutung wurden auch hier gezahlt. Das »Schwitzsystem« war hier ebenso im Gange, wie z.B. in der Mäntelkonfektion. Nur sind hier die »Schwitzer« häufig die Frauen kleiner Beamten gewesen, die durch das geringe Gehalt des Mannes auf Erwerb angewiesen waren. Sie hatten keine Arbeitsstube, verstanden selten selbst zu nähen, lernten aber meistens sehr rasch den Geschäftsbetrieb. Auf die Arbeiterin wurden nicht nur die Arbeit, sondern auch die Kosten für den Betrieb abgewälzt: Nähmaschine, Garn, Nadeln, Wohnung, Beleuchtung, vor allem aber auch das Risiko für den Ausfall der Arbeit. Und diese Arbeiterin, die so »aus zweiter Hand« arbeitete, gehörte meist zu den ärmsten ihrer Klasse. Das »Du sollst und mußt etwas verdienen, oder du verhungerst« war ihr von dem verkümmerten Gesicht abzulesen. Ich habe einmal nach einem Arbeitsbuch berechnet, daß eine Arbeiterin in 34 Wochen insgesamt 364,95 Mark verdient hat. Nach Abzug aller
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Unkosten behielt sie für die Woche 8,46 Mark bei etwa 14stündiger Arbeitszeit täglich, d.h. also bei unermüdlicher Arbeit die Stunde 10 Pfennig. Man irrt sich aber, wenn man meint, daß eine Person diese paar Pfennige in der Stunde erarbeitet; fast immer müssen Familienangehörige helfen, in diesem Falle mußte die alte Mutter Knopflöcher machen, Knöpfe annähen, Stickerei beschneiden u.a. Dabei kommt auch hier hinzu, daß das nur für die Zeit des flotten Geschäftsganges gilt. In einem Prozeß ist einige Jahre vorher für den notwendigsten Lebensunterhalt einer Arbeiterin 12 bis 13 Mark in der Woche festgestellt worden. Die Wäschenäherin verdiente aber im Durchschnitt kaum die Hälfte, dabei war sie durch das Elend und die Arbeitshast so gedrückt, daß es schwer hielt, Auskunft über ihre Verhältnisse zu bekommen. Und die Mutter, von der Sorge um die Nahrung der Kinder angespornt, mußte sie auf der anderen Seite verkümmern sehen, aus Mangel an Pflege und Aufsicht. Betritt man des Vormittags eine Wohnung und glaubt die Näherin beim Kochen, so sitzt sie an ihrer Maschine und näht in fieberhafter Hast. Die Betten sind noch nicht gemacht, ein kleines, ungewaschenes Kind liegt in dem einen und schreit, ein älteres spielt an der Erde. Die Mutter kann sich nicht darum kümmern, denn es ist Liefertag, und die Arbeit muß unbedingt fertig werden. Zum Sprechen ist keine Zeit,
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denn es lenkt die Gedanken von der Arbeit ab. Über die vom Arbeitgeber festgesetzte Zeit hinaus wird die Arbeit nicht abgenommen. Denn dann gibt es für die Woche keine Lohnzahlung. Das Leben dieser Frauen war zu einer stumpfsinnigen Fronarbeit geworden. Es war schwer, sie daraus wachzurütteln. Die Verhältnisse waren so in der gesamten Wäscheindustrie, hier und da um ein geringes besser, kümmerlich aber überall da, wo Frauen um ihrer und ihrer Familie Lebensunterhalt arbeiten mußten. Zur Kenntnis der Allgemeinheit sind die Dinge durch den großen Konfektionsarbeiterstreik gekommen, der Anfang Februar 1896 in Hamburg, Stettin und Breslau ausbrach, und dem dann Berlin, Halle, Erfurt und Dresden folgten. Eine Fünferkommission stellte 7 Forderungen auf: 1. Anerkennung von Lohntarifen. 2. Errichtung von Betriebswerkstätten. 3. Einsetzung einer Kommission, bestehend zu gleichen Teilen aus Geschäftsinhabern oder deren Vertretern und aus Schneidern zur Austragung etwaiger Streitigkeiten. 4. Anständige, menschenwürdige Behandlung. Rohe Redensarten oder gar Handgreiflichkeiten müssen unterbleiben. 5. Schnelle Abfertigung bei Empfangnahme und Ablieferung der Arbeit. Bei länger als einstündigem
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Warten wird pro Stunde 40 Pf. vergütet. 6. Mindestens wöchentliche Lohnzahlung am Schluß jeder Woche. 7. Anerkennung der Arbeitsnachweise in Händen der Arbeiter. Die Forderung der Betriebswerkstätten wurde bei den Verhandlungen von den Vertretern der Arbeiterschaft für später zurückgestellt, dagegen konnte die Forderung fester Tarife nicht preisgegeben werden, wenn man nicht zahllose Arbeiterinnen weiterhin der schlimmsten Ausbeutung durch Unternehmer und Zwischenmeister aussetzen wollte. Wenn man jetzt die geforderten Lohnsätze liest, so lassen sich die jammervollen Zustände, unter denen die Konfektionsarbeiter und -arbeiterinnen bis dahin gelebt haben, denken. Gefordert sollte für die Anfertigung einer zweireihigen, gefütterten Joppe mit 4 Taschen 2,50 Mk. werden, für die eines gefütterten Lüsterjacketts 1,50 Mk. Die Arbeiterinnen wollen 3 Mk. für einen gefütterten Knabenanzug aus Plüsch oder Samt, 1 Mk. für einen Waschanzug, 1,25 Mk. für einen Trikotanzug oder weißen Waschanzug, 2,25 Mk. für einen Knabenpelerinenpaletot, 4 Mk. für einen Damenregenmantel mit abnehmbarer Pelerine, 1,75 Mk. für einen glatten Regenmantel, 2,50 Mk. für einen Damenmantel mit abnehmbarer Pelerine, 1,75 Mk. für einen glatten Re-
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genmantel, 2,50 Mk. für einen wattierten Radmantel usw. Unsere Genossinnen taten ihr möglichstes, um den kämpfenden Schwestern und Brüdern beizustehen. Wir sprachen in den Versammlungen, sammelten Gelder, halfen in den Streikbüros, standen Streikposten, kurzum: wir halfen unermüdlich bei allen Arbeiten. Das gesamte Volk war aufgerührt, der Kampf hatte die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gelenkt. In Breslau trat das Unternehmertum in Verhandlungen mit der Arbeiterschaft, und der Streik erreichte hier bald sein Ende. Die Unternehmer bewilligten namhafte Forderungen. Auch weite Kreise des Bürgertums erklärten ihre Sympathie mit den Kämpfenden, versprachen sowohl moralische wie materielle Unterstützung und leisteten auch manches. Noch im Februar fanden Verhandlungen statt, die in Breslau, Dresden, Erfurt und Berlin zu einer Einigung führten. Der Erfolg des Streikes war eine entschiedene Besserung der Lage, und er war um so bedeutungsvoller, weil er unter ungünstigsten Verhältnissen errungen war und weil er als ein Anfang den Kampfeswillen der Arbeiter stärkte. Über ein Jahr verging aber noch, ehe durch eine Verordnung des Bundesrates Schutzbestimmungen auch für die Konfektions- und Wäschearbeiter geschaffen wurden. Auf dem im Juli 1897 in Eisenach abgehaltenen
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Kongreß der deutschen Schneider und Schneiderinnen war es hauptsächlich das Elend in der Konfektionsindustrie, in dessen Zeichen die Verhandlungen standen. Die große Mehrzahl der Delegierten konstatierte den zwar geringen materiellen, aber doch sehr bedeutenden moralischen Erfolg des Streikes. Breite, bis dahin stumpfsinnig dahinlebende Proletarierkreise waren zum Klassenbewußtsein erwacht; es galt nun, in ausdauernder Arbeit diese Massen zu organisieren und zu schulen. Nur eine energische Fortführung des Kampfes konnte Linderung der elenden Lage schaffen. Kurz vorher waren auch die Wäscherinnen in Isenburg in Hessen in den Streik getreten. Die Verhältnisse in diesen Betrieben waren so erbärmlich, daß man sich wundern muß, wie Menschen diese Quälerei ertragen haben. Der allgemeine Frauen- und Mädchenverein in diesem Orte, dem bei seiner Gründung Anfang 1897 gleich 69 Frauen beitraten, zählte zur Zeit des Streikes bereits 178 Mitglieder. Der Genossen Gustav Freitag, der ihn leitete, hat für die Aufklärung und Schulung der Arbeiterinnen für ihren Kampf sehr viel getan, und dieser Kampf war bitter notwendig, denn es kam dort vor, daß Arbeiterinnen bis 20 Stunden von morgens früh 7 Uhr bis zum anderen Morgen 3 Uhr arbeiten mußten. Sechzehn Stunden Arbeitszeit war gar nichts Seltenes. Die Entlohnung und die Kost, die sie erhielten, waren aber ganz ungenügend.
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Nun forderten die Streikenden einen Normalarbeitstag von 10 Stunden, und zwar an den Waschtagen von 7 Uhr morgens bis abends 7 Uhr und an den Bügeltagen von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends. Eine Verbesserung der Kost wurde gefordert. Die Behandlung soll eine menschenwürdigere sein. Der Lohn soll für erste Arbeiterinnen auf 15 Pfg., für mittelmäßige auf 14 Pfg. und für die jüngeren Arbeiterinnen auf 10 Pfg. die Stunde erhöht werden. Bereits nach der ersten Streikversammlung hatten 13 Wäschereien, darunter 5 große, diese Forderungen bewilligt. Nach siebenwöchiger Dauer wurde der Streik beigelegt und die Forderungen der Wäscherinnen im wesentlichen erfüllt. Die Arbeitszeit wurde geregelt, und zwar im Sommer auf 13, im Winter auf 12 Stunden, einschließlich der Pausen. Über Kost und Lohn wurden ebenfalls Zugeständnisse gemacht. Die Streikenden hatten sich musterhaft gehalten. Der Opfermut der Genossinnen, die die Hälfte der Unterstützungsgelder aufgebracht hatten (1300 Mark), hat wesentlich zum Sieg beigetragen. Die Isenburger Wäscherinnen haben Nachahmung gefunden, ihr Erfolg hat ermutigend auf die Arbeiterinnen der Branche um ganz Frankfurt gewirkt. Es wurde Mitte der neunziger Jahre eine große Reihe von Erhebungen über die Lage der weiblichen Arbeiterinnen in den verschiedensten Industrien angestellt, deren Ergebnis dann für Artikel in der »Gleichheit«
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verarbeitet wurde. Es ist das große Verdienst Clara Zetkins, den Genossinnen immer wieder Anregungen gegeben und sie zu Mitarbeiterinnen herangezogen zu haben. Sie war auch hier, wie auf so manchem anderen Gebiet, unsere geistige Führerin. Martha Rohrlack-Tietz hat sich damals in Wort und Schrift vor allem den Fabrikarbeiterinnen gewidmet. In den Fabriken mit stark weiblicher Arbeiterschaft gab es nur selten weibliche Aufsichtspersonen, meist führten Männer die Aufsicht. Häufig genug behandelten sie die Arbeiterinnen als ihnen auf Gnade oder Ungnade ergebene Geschöpfe. Es gab Betriebe, die geradezu als Harem der Aufsichtspersonen anzusehen waren. Für weibliche Aufsicht galt es also Propaganda zu machen, ebenso für die Anstellung weiblicher Gewerbeinspektoren. Und nachdrücklich wurde diese Forderung immer wieder hervorgehoben. Emma Ihrer hat sich ein unvergängliches Verdienst erworben durch ihre eifrige und wirksame Arbeit unter den im kaufmännischen Beruf stehenden Frauen. In der Hauptsache handelte es sich dabei zunächst um Verkäuferinnen, deren Lage ganz besonders schlecht war. Die erste Handlungsgehilfenversammlung, die im Februar 1893 in Berlin stattfand, war im ganzen von 500 Personen besucht, darunter 400 Handlungsgehilfinnen. Es wurde beschlossen, sich der allgemeinen Arbeiterinnenbewegung anzugliedern. Die Verhältnis-
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se waren aber auch unerträgliche. Fast unbegrenzte Arbeitszeit und Mangel an sanitären Einrichtungen gingen mit niedrigen Löhnen Hand in Hand. Es fehlte an Sitzgelegenheiten für Verkäuferinnen, ja es bestand sogar vielfach das direkte Verbot des Sitzens. Es war kein Wunder, daß Krankheiten aller Art die Folge waren. Diesen so besonders Ausgebeuteten galt auch fernerhin die allgemeine Aufklärungsarbeit. Arbeiterinnen trugen die Einladungszettel für die Versammlungen in die Warenhäuser und steckten sie heimlich den Angestellten zu oder gaben sie ihnen beim Verlassen der Geschäftsräume. Auch dieses mußte sehr vorsichtig geschehen. Im April 1896 tagte in Berlin der erste Kongreß aller auf dem Boden der modernen Arbeiterbewegung stehenden Handlungsgehilfen und -gehilfinnen Deutschlands. Ein Teil der 26 Delegierten war der Ansicht, daß die Handlungsgehilfenbewegung frei von Politik bleiben solle und abseits der Arbeiterbewegung zu stehen habe. Es wurde aber dann doch, entgegen dieser Ansicht, beschlossen, daß diese Bewegung sich der allgemeinen Arbeiterbewegung anzuschließen und sich als sozialdemokratische zu bekennen habe. Es wurden Forderungen auf Einführung des Achtstundentages, Schutzbestimmungen und Ausdehnung der Versicherungsgesetze und der Gewerbeordnung auf die Handlungsangestellten aufgestellt. In
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einer besonderen Resolution wurde gleicher Lohn bei gleichen Leistungen für Männer und Frauen gefordert. Im Mai desselben Jahres entschloß sich endlich der Bundesrat zur gesetzlichen Festlegung des zwölfstündigen Arbeitstages, allerdings mit vielen Ausnahmen. Es rief diese karge Verbesserung für die im Handelsgewerbe Beschäftigten seitens der Unternehmer einen Sturm der Entrüstung hervor, desgleichen auch gegen den beabsichtigten 8-Uhr-Ladenschluß.
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Neuntes Kapitel
Organisationsfragen Beschwerdekommission für Arbeiterinnen Die Genossin Lily Braun-Gizycki veröffentlichte in der »Gleichheit« vom 17. März 1897 Vorschläge, die nach ihrer Meinung die Arbeiterinnenbewegung ein gutes Stück vorwärts treiben würden. Sie meint, die Proletarierinnen seien nicht in der Lage, sich die nötige Bildung zu verschaffen, die notwendig wäre, um gut mit Wissen ausgerüstet die Agitation zu betreiben. Wir brauchen Frauen, welche die Zeit, die Fähigkeit und die Kenntnisse haben, um nicht nur alle politischen Tagesereignisse mit selbständigem Urteil zu verfolgen, sondern auch um die soziale Gesetzgebung des In- und Auslandes, die soziale Entwicklung der Kulturstaaten gründlich kennenzulernen. Genossin Braun unterscheidet zwischen der Wirklichkeit nach innen und der Wirksamkeit nach außen. Für die erstere schlägt sie die Bildung von vier Gruppen mit ganz besonderen Aufgabengebieten vor. Die erste Gruppe soll sich – wie bisher schon für die Gewerkschaften – mit der Anstellung von Erhebungen über die verschiedenen Frauenarbeitsgebiete befassen; die zweite – die bibliographische Gruppe, wie sie sie
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nennt – soll Material aus Büchern, Zeitungen, Zeitschriften sammeln und diese Sammlung in einer Auskunftsstelle nutzbar machen; die dritte, die juristische Gruppe, soll Gerichtsurteile, Entscheidungen, Erlasse u.a. sammeln, das Ergebnis könnte dann zu einer Art Rechtsberatung für Arbeiterinnen dienen. Der vierten Gruppe wird die publizistische Arbeit, Herausgabe von Flugblättern und anderem Material, zugewiesen. Die Arbeit der vierten Gruppe faßt sie mit der agitatorischen Arbeit zusammen als »Wirksamkeit nach außen«. Nach und nach sollte in jeder Stadt eine ähnliche Organisation gebildet werden, natürlich ohne daß sich die einzelnen des fluchwürdigen Verbrechens schuldig machen, miteinander in Verbindung zu treten! Denn das Beispiel des Bundes deutscher Frauenvereine dürfte vor den gestrengen Blicken der Polizei auf uns keine Anwendung finden. Nach ausgiebiger Diskussion in der »Gleichheit« wurden die Vorschläge abgelehnt. Ein großer Teil dieser Arbeiten werde jetzt bereits durch die Gewerkschaften gelöst. Die soziale Gesetzgebung des In- und Auslandes aber lasse sich, soweit es für die Agitation nötig ist, im allgemeinen auch in dem »Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik« und der »Sozialen Praxis« verfolgen. Die meisten der vorgeschlagenen praktischen Arbeiten seien hilfswissenschaftlicher Natur und hätten keineswegs sozialistische Überzeu-
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gung zur Voraussetzung, deshalb könne man die Ergebnisse der vielfach von bürgerlichen Sozialökonomen geleisteten Arbeit verwenden und im Interesse unserer Bewegung ausnutzen. Wir ersparen damit Kräfte für unsere Hauptaufgaben. Wie nötig wir dieses Haushalten mit den Kräften hatten, zeigt ein Blick in die Versammlungstätigkeit von 1897, die von den Behörden wieder mit besonders liebevoller Aufmerksamkeit beobachtet wurde. Versammlungsauflösungen, Verbote, Kampf mit Schwierigkeiten aller Art, die überwunden werden mußten, koste es was es wolle, das war das übliche. Bestärkt wurden die behördlichen Organe in dieser Tätigkeit durch den in jenen Frühlingstagen des Jahres 1897 veröffentlichten Regierungsentwurf zum preußischen Vereins- und Versammlungsrecht, den wir als den »Umsturz von oben« bezeichneten. Im Jahre vorher hatte der Reichskanzler Hohenlohe im Reichstag die Aufhebung des »Verbotes des Inverbindungtretens politischer Vereine« feierlich zugesagt. Formell ist diese Zusage gehalten worden. Der Entwurf brachte aber eine Reihe neuer Bestimmungen, die das Vereins- und Versammlungsleben vollständig dem Belieben der Polizei auslieferte. Die politische Rechtlosigkeit der Frauen blieb in vollem Umfange bestehen. Das alles forderte den energischen Protest des gesamten Proletariats, vor allem der Frauen, her-
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aus. Margarete Wengels, unsere damalige Vertrauensperson, berief eine Reihe von Versammlungen ein, die eine einheitliche scharfe Kundgebung gegen den Entwurf bedeuteten. Wir mußten aber noch lange warten, ehe den Frauen eine andere Stellung im Vereinsrecht eingeräumt wurde. Zur Teilnahme an dem in diesem Jahre in Hamburg stattfindenden Parteitag wurden die Genossin Greifenberg und ich von den Berliner Genossinnen delegiert. Ich zögerte zunächst, das Mandat anzunehmen, weil mein alter 85jähriger Vater im Krankenhause lag. Als er aber von meinen Bedenken hörte, erklärte er mit seiner alten Energie: »Wenn du nicht fährst, dann sterbe ich sofort! Ich werde schon noch munter sein, wenn du zurückkommst.« So nahm ich denn nach Verständigung mit der pflegenden Schwester das Mandat an. Eine Reihe äußerer Eindrücke aus Hamburg, zum Teil sehr trüber Art, sind mir aus diesen Tagen geblieben. Was mir zunächst in die Augen fiel, war der Gegensatz zwischen den engen Gassen, in denen die arme Bevölkerung hausen mußte und wo dann später die Cholera so günstigen Boden fand, und der soliden Pracht Hamburger Patrizierhäuser. Traurig war der Eindruck in dem Teil Hamburgs, in dem die Prostitution sich breit machte. Wir gingen untergefaßt mitten durch die Gassen, an deren beiden Enden ein paar Po-
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lizisten Wache standen. Junge, ganz zarte Mädchen neben reifen, üppigen, teilweise auch vollkommen verwelkten Gestalten, fast unverhüllt werbend ihre Reize zeigend, sah man durch die weit offenen Fenster in den Stuben, und man sah auch häufig genug durch die Schminke hindurch deutlich die Angst um die paar Mark Verdienst. Schön war eine Hafenrundfahrt auf rot beflaggten Schiffen, bei der wir den damaligen größten Wörmanndampfer vom Stapel laufen sahen. Es war ein unvergeßlicher Eindruck, als die Keile weggezogen wurden und das Schiff langsam wie ein riesengroßer Schwan ins Wasser glitt. Wir haben dieses Schiff dann auch in seinem inneren Bau bewundern können. Gerade uns Binnenländern bot die Eigenart Hamburgs ja besonders viel. Auch an der geraden treuherzigen Art der Hamburger hate ich meine Freude. Ich lernte in diesen Tagen auch Luise Zietz persönlich kennen, mit der ich später lange Jahre gemeinsam arbeiten sollte. Die Verhandlungen des Parteitages brachten keine besonderen Frauenfragen, sie zeigten aber deutlich, daß wir in der ganzen Bewegung nicht mehr rein als Frauen, sondern vor allem als gleichberechtigte Genossinnen neben den Genossen standen, die an allen Fragen in gleicher Weise beteiligt sind. Die an den Parteitag sich gewöhnlich anschließen-
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de Agitationstour mußte ich absagen, weil mich nun doch der Ruf, zurückzukommen, erreichte. Zwei Wochen später ist mein Vater dann an Altersschwäche gestorben. In einem gewissen stetigen Fortschreiten bewegte sich die Arbeit während der folgenden Jahre. Die in der Agitation tätigen Genossinnen hatten allmählich eine Art Übung erlangt, die gewöhnlichen Hindernisse, die ihnen dauernd durch Polizei und Behörden in den Weg gelegt wurden, zu überwinden. Daß wir nicht ermüdeten, dafür sorgten neben unserem inneren Drang, für den Sozialismus zu arbeiten, immer aufs neue die sich besonders in den Vordergrund schiebenden Mißstände. So war es die Rechtlosigkeit der gewerblichen Arbeiterinnen, die unsere Reichstagsfraktion veranlaßte, in ihrem Antrage auf Einführung obligatorischer Gewerbegerichte auch für die Arbeiterinnen aktives und passives Wahlrecht zu verlangen. – In einem Abänderungsantrage für die Gewerbeordnung wird nicht nur für die männlichen, sondern auch für die weiblichen jugendlichen Arbeiter unter 18 Jahren der Besuch der Fortbildungsschule verlangt. Die mit größeren Kenntnissen ausgerüstete Arbeiterin ist zwar oft für den Kapitalisten ein besseres Ausbeutungsobjekt, sie wird aber auch wehrhafter gegen die Ausbeutung. – Eine
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Umfrage der Regierung über die Kinderarbeit ergab mit den gleichzeitigen Erhebungen des Deutschen Lehrervereins ein wahrhaft erschreckendes Bild, das uns freilich bekannt genug war. Die Berliner Genossinnen erhoben den Ruf: »Rettet die Kinder!« und beauftragten die Reichstagsfraktion, bei der nächsten geeigneten Gelegenheit ein Reichsgesetz zu verlangen, das die Erwerbsarbeit schulpflichtiger Kinder verbietet. So gering und mangelhaft die Schutzbestimmungen für Arbeiterinnen bisher auch waren, so fühlten die Arbeitgeber sich in ihrer Ausbeuterfreiheit doch beengt; sie ignorierten daher oft diese Bestimmungen zum Nachteil der Arbeiterinnen, denen selbst meist die Kenntnis ihres Rechts fehlte, deren Abhängigkeit sie aber auch behinderte, sich diese geringen Rechte zu erringen. Beschwerte sich einmal eine Arbeiterin bei der Gewerbeinspektion, so wurde die Person der Sünderin dem Arbeitgeber bald bekannt, und sie flog hinaus aus dem Betrieb, d.h. sie erhielt dann wohl überhaupt noch schwerlich Arbeit, denn sie wurde auf die schwarzen Listen der Arbeitgeber gesetzt. Zur Beseitigung dieser Übelstände beabsichtigten die in Partei und Gewerkschaft tätigen Genossinnen im Einvernehmen mit der Berliner Gewerkschaftskommission eine Beschwerdekommission zu bilden. Um aber dieser erst neu zu wählenden Kommission selbst die nö-
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tigen Kenntnisse zu verschaffen, wurde der Genosse Stadthagen veranlaßt, vor den Genossinnen eine Reihe von Vorträgen über Arbeiterschutzgesetze und Arbeiterrecht zu halten. Acht Genossinnen wurden darauf gewählt, die mit Hilfe eines sorgfältig ausgearbeiteten Fragebogens Beschwerden über Mißstände in den Betrieben entgegenzunehmen und sie der Gewerbeinspektion zu übermitteln hatten. Die Gewerkschaftskommission übernahm für die Kommissionsmitglieder die Beschaffung der Gewerbeordnung und anderer für dieses Amt nötigen Bücher und Drucksachen. Diese Einrichtung wurde in einem Flugblatt, das bei der Maifeier verbreitet wurde, bekanntgegeben. Es galt hierbei aber auch die Kenntnis der bestehenden Schutzbestimmungen zu verbreiten. Geklagt wurde vor allem über mangelhafte sanitäre Einrichtungen, fehlende Sicherheitsvorrichtungen, gänzlich unzureichende Wasch- und Ankleideräume und ähnliches. Diese Beschwerden wurden dann, natürlich ohne Nennung des Beschwerdeführers, von den gewählten Vertrauenspersonen der Gewerbeinspektion eingereicht. Untersuchungen wurden zugesagt, eine Auskunft über die Revision durfte uns allerdings von den Gewerbeinspektoren nicht gegeben werden, das ging »über ihre Befugnisse«. Wir mußten uns also diese Auskunft auf andere Weise zu verschaffen suchen. Jeden Mittwochabend von 7 bis 9
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Uhr hielten wir in unseren Wohnungen Sprechstunde ab. Die Arbeiterinnenbewegung hatte naturgemäß ihre Hauptstützpunkte in den großen Städten. Jetzt wurden auch bei den Provinzialparteitagen, auf denen hier und da schon eine weibliche Delegierte auftauchte, Anträge auf Förderung der Frauenagitation gestellt und verlangt, daß in jedem Kreis im Jahr mindestens zwei Frauenversammlungen veranstaltet werden sollten. Eine besondere Aktion wurde gegen die unerhörte Art des Vorgehens der Berliner Sittenpolizei eingeleitet, die anständige Mädchen und Frauen, die spät abends zum Teil von der Arbeit, zum Teil aus Versammlungen nach Hause gingen, aufgriff und sie den empörendsten Untersuchungen aussetzte. Die Polizei stützte sich dabei auf den § 361 des Strafgesetzbuchs, der sich auf die Registrierung und Organisierung der Prostitution bezieht. Versammlungen wurden einberufen, die einen ungeheuren Zulauf hatten, und Protestresolutionen an die zuständigen Stellen geschickt. Mit einer besonderen Petition wurde dieser Protest dem Preußischen Landtag eingereicht, der für die Berliner Polizei zuständig war. Es wurde darin für die Minderung der Schutzlosigkeit des weiblichen Geschlechts eingetreten und die Ausübung der Polizeibefugnisse durch städtische Selbstverwaltungskörper unter Zu-
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ziehung von Frauen verlangt, außerdem die Beseitigung des Spitzelwesens. Daß der Preußische Landtag über diesen Antrag glatt zur Tagesordnung überging, kann bei seiner damaligen Zusammensetzung kaum groß wundernehmen. Der Parteitag in Hannover 1899 hatte in seinen Beschlüssen Anregungen für die Frauenagitation gegeben, die zwar keine neuen Gesichtspunkte brachten, die aber für die Belebung der Arbeit sehr bedeutungsvoll waren. Erinnert wurde zunächst an einen früheren Parteitagsbeschluß, daß überall dort, wo es für eine planmäßige Agitation unter den Frauen nötig erscheint, weibliche Vertrauenspersonen der Genossinnen gewählt werden sollten. Für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz wurde eine Reihe von Forderungen aufgestellt, die in der Winteragitation besonders im Vordergrunde stehen sollten und die sich eng an die auf dem internationalen Kongreß in Zürich aufgestellten Forderungen anlehnten. Eine wichtige Forderung, die schon während der letzten Jahre dauernd im Vordergrund der Agitation gestanden hatte, war die nach Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren. Darüber hinaus wurde verlangt die Sicherung völliger Koalitionsfreiheit für die Arbeiterinnen, sowie aktives und passives Wahlrecht zu den Gewerbegerichten. An den Parteivorstand wurde das Ersuchen gerich-
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tet, für die baldige Herausgabe einer kurzen, möglichst billigen Broschüre zu sorgen, die sich besonders zur Agitation unter den Frauen eignet. Im wesentlichen sollte sie, unter Hinweis auf die Zuchthausvorlage, die Frauen über die ihnen drohende Beeinträchtigung ihrer schon so geringen Rechte aufklären und sie auffordern, nicht nur kräftig dagegen zu protestieren, sondern auch mit allem Nachdruck für die Erweiterung des Vereins- und Versammlungsrechts einzutreten. Der Kampf für dieses Ziel lag im Interesse des gesamten Proletariats. Durch diesen Antrag der Genossinnen wurde der Agitation für die nächste Zeit ein einheitliches, bestimmtes Ziel gesetzt. Nachdem am 15. November 1899 Margarete Wengels ihren Jahresbericht erstattet hatte, übertrugen mir die Genossinnen einstimmig das Amt der Vertrauensperson.
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Zehntes Kapitel
Um die Jahrhundertwende »Unser Alter« Wollten wir die Aufgaben, vor die uns der Parteitag in Hannover gestellt hatte, vor allem die Agitation für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz, wirksam ausführen, so mußten wir trotz der vereinsgesetzlichen Beschränkungen zu einem gut vorbereiteten, einheitlichen Handeln kommen, bei dem die vorhandenen geistigen und materiellen Kräfte mit möglichstem Nutzen verwendet werden konnten. Wir hatten bisher in den meisten Orten keine Organisation, die Trägerin dieser Agitation hätte sein können. Die Arbeiterinnenvereine, die in einigen Städten existierten, durften sich nirgends erkühnen, für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz zu agitieren, wollten sie nicht wegen Beschäftigung mit den verpönten »politischen Angelegenheiten« der Auflösung verfallen. Die Genossinnen waren also im allgemeinen auf die Tätigkeit ihrer Vertrauenspersonen angewiesen. Diese hatten sich die tatkräftige und fördernde Sympathie der politisch und gewerkschaftlich organisierten Genossen zu sichern. Wo die Wahl einer weiblichen Vertrauensperson bisher noch nicht möglich war, wurden die Genossen gebeten, die Agitation selbst in die Wege zu leiten. Eine
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große Anzahl von Versammlungen wurde in allen Teilen des Reiches abgehalten und der außerordentlich zahlreiche Besuch bewies, wie stark das Interesse für diese Forderungen in der Arbeiterschaft war. Die im Juni 1900 angenommene Novelle zur Gewerbeordnung brachte von allen Forderungen, die für einen verbesserten Arbeiterinnenschutz erhoben wurden, so gut wie nichts. Es mußte also weiter in dieser Richtung gearbeitet werden. Vor allem wurden die Erhebungen über die einzelnen Arbeitsarten fortgesetzt und dauernd in der »Gleichheit« veröffentlicht. Für Preußen war nun endlich, nachdem andere Länder, auch deutsche Einzelstaaten, seit langem damit vorangegangen waren, die Anstellung zweier Assistentinnen bei der Gewerbeinspektion beschlossen worden. Damit sich die Regierung aber noch ein Hintertürchen offen behielt, sollte diese Anstellung zunächst nur versuchsweise erfolgen. Die von den Berliner Genossinnen eingesetzte sogenannte Beschwerdekommission nahm das zum Anlaß, in einer Eingabe an die Regierung auf diesen Beschluß hinzuweisen und zu sagen: »Da es für die Arbeiterinnen von größter Wichtigkeit ist, daß die Assistentin aus den Reihen der gewerblich Tätigen hervorgeht, und die Mitglieder der Beschwerdekommission über die Kenntnisse verfügen, welche für dieses Amt erforderlich sind, so ersu-
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chen wir, bei der Besetzung des betreffenden Amtes eine Frau aus der Kommission zu wählen. Wir sind gern bereit, geeignete Vorschläge zu machen.« Die echt »preußisch« ausgefallene Antwort erfolgte sehr bald, »daß die im Staatshaushaltsetat für 1900 vorgesehene Stellen für weibliche Hilfskräfte des Gewerbeaufsichtsdienstes bereits vergeben sind«. Daß diese Beschwerdekommission den behördlichen Stellen keine sehr angenehme Einrichtung war, darauf wies Emma Ihrer in ihrem gleichzeitigen Jahresbericht hin. Sie sagte dort: »Bekanntlich hat es die Fabrikinspektion abgelehnt, eine geregelte Verbindung mit den Vertrauenspersonen der Arbeiterinnen zu unterhalten und ihnen Auskunft darüber zu geben, ob die übermittelten Beschwerden als begründet befunden wurden und welche Folge ihnen seitens der zuständigen Behörden zum Zwecke der Abhilfe gegeben worden war.« 33 Fälle wurden in dem Jahre der Kommission gemeldet, geprüft und dem Gewerkschaftsbüro überwiesen. Ich kann von diesem Jahr, das für die Arbeiterinnenbewegung und auch für mich selbst ein so bedeutendes war, nicht sprechen, ohne »unseres Alten«, Wilhelm Liebknechts, zu gedenken, dieses herrlichen, guten Menschen, den ein schneller Tod im August 1900 von uns nahm. Ihm und seiner Familie bin ich
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gerade in den letzten Monaten noch nahegetreten. Ich stand damals schon recht allein und habe häufig den Sonntag mit Liebknechts verbracht. Da wurde dann ein großer Pompadour mit Stullen gepackt und nach dem Grunewald gewandert. Liebknecht verstand ebenso herzlich gemütlich zu plaudern, wie anregend zu erzählen. Auch in Frauenveranstaltungen hat Liebknecht oft gesprochen. Wenn er es irgend machen konnte, ließ er uns sicher nicht umsonst bitten. Zu seinem 70. Geburtstag hatten ihm die Berliner Genossen und Genossinnen eine schöne Feier bereitet. Mir hat Liebknecht zuletzt noch eine besondere Freude gemacht. In Paris war in dem Sommer die große Weltausstellung und im September, nach unserem Parteitag, sollte dort ein internationaler Sozialisten- und Gewerkschaftskongreß stattfinden. Auf meinen Aufruf in der »Gleichheit« waren die Genossinnen Zetkin, Ihrer, Zietz und Luxemburg zur Teilnahme delegiert worden. Zur Weltausstellung hatte die Stadt Berlin auf ihre Kosten einige Handwerker und Arbeiter nach Paris entsandt, jedoch keine Sozialdemokraten. Wilhelm Liebknecht bekam nun von einem reichen Parteifreund Geld für drei Personen, ganz gleich ob Mann oder Frau, zum Besuch der Weltausstellung; er bedachte zu meiner großen Freude darunter auch mich. Als ich dann, wie verabredet, das Geld mir von Paul Singer abholen wollte, fand ich ihn ganz
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verstört. Auf meine Frage, was denn passiert sei, sagte er: »Unser Alter ist tot!« Ich ging gleich in die Wohnung und fand ihn noch wie lebend, nur ruhig eingeschlafen. Am Abend vorher war er sehr angeregt und lebhaft nach Hause gekommen, hatte seiner Frau von mancherlei Arbeitsplänen, von Aufträgen der Reichstagsfraktion, die ihm Freude machten und von denen er sich viel versprach, erzählt. Mit dieser Freude im Herzen ist er ganz kurze Zeit nachher gestorben. Einigen seiner Kinder fiel auf ihrer Ferientour plötzlich ein Zeitungsblatt in die Hände mit der Nachricht: Wilhelm Liebknecht ist gestorben! Da sie tags zuvor noch Nachricht von daheim hatten, wollten sie es nicht glauben. Auch uns allen fiel es schwer, daran zu glauben. Mir war die Freude auf meine Reise nach Paris weg und ich wollte das Geld zurückweisen, aber Singer sagte: nun erst gerade müßte ich es nehmen; die Freude, die der Alte mir damit hätte machen wollen, dürfte ich ihm und mir nicht verderben. Und der Gedanke an »unseren Alten« hat mich denn auch auf meiner ganzen schönen Reise, später im Herbst, nicht verlassen. Vorher aber galt es, alle Gedanken für die Vorbereitung zu unserer ersten sozialdemokratischen Frauentagung zusammenzuhalten.
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Elftes Kapitel
Die erste sozialdemokratische Frauenkonferenz in Mainz Trotz der eifrigen Agitationsarbeit der Genossinnen entsprach der Erfolg in vieler Hinsicht nicht der aufgewendeten Kraft und Mühe. Die Versammlungen waren oft überfüllt – und man ging wieder auseinander. Die Sonderpflichten der Frau in der Familie, Kindererziehung und Erwerbsarbeit, der sehr lange Arbeitstag – elf Stunden und darüber – erklären vieles. Aber es mußten doch Mittel und Wege gefunden werden, um die Agitation zu einer dauernd fruchtbringenden zu gestalten. Eine größere Einheitlichkeit und Planmäßigkeit sowohl als eine engere Verbindung zwischen den Genossinnen der einzelnen Orte und Bezirke, wie auch mit der Vertrauensperson in Berlin, aber auch mit der allgemeinen Parteibewegung mußte erstrebt werden. Zu diesem Zweck hielten die Berliner Genossinnen gelegentlich der Anwesenheit der Genossin Zetkin mit dieser eine Besprechung ab, deren Ergebnis der Plan war, vor dem Mainzer Parteitag im September eine Konferenz der Genossinnen Deutschlands im größeren Rahmen zu veranstalten.
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Dieser Plan wurde in der »Gleichheit« zur Diskussion gestellt und fand überall Zustimmung. Von der für die Vorarbeiten eingesetzten Kommission wurde dann als Termin für diese erste sozialdemokratische Frauenkonferenz der 15. September 1900 – also unmittelbar vor dem Parteitag – festgesetzt, damit etwaige Beschlüsse dem Parteitag noch als Anträge vorgelegt werden konnten. Ich hatte dann, als Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands, die Konferenz einzuberufen und zur Stellung von Anträgen aufzufordern. Es liefen denn auch eine ganze Reihe von Anträgen zu den verschiedenen Punkten der Tagesordnung ein. Delegiert waren 16 Genossinnen und 4 Genossen. Außerdem nahmen etwa 12 Genossen, auch aus dem Auslande, an den Beratungen teil. Die hessische Regierung hatte die Assistentin der Fabrikinspektion in Mainz, ein Fräulein Schumann, zur Teilnahme beauftragt. In drei erfolgreich und gut verlaufenen Sitzungen erledigte die Konferenz ihre Tagesordnung. Diese war in der folgenden, von der vorbereiteten kleinen Kommission vorgeschlagenen Fassung angenommen worden: 1. Der Ausbau des Systems der Vertrauenspersonen. 2. a) Die Agitation unter dem weiblichen Proletariat.
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b) Die Agitation für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz. 3. Bildungsvereine für Frauen und Mädchen. 4. Allgemeines. Das Ergebnis ist in einer Reihe von Beschlüssen und Resolutionen festgelegt, die wichtig genug sind, im Wortlaut festgehalten zu werden. Zu dem ersten Punkt der Tagesordnung wurden für die örtlichen, die Kreisvertrauenspersonen sowie für die Zentralvertrauensperson der Genossinnen Deutschlands die folgenden Regulative beschlossen, die ganz klar ihre Pflichten und ihre Befugnisse festlegen: 1. Für die örtlichen Vertrauenspersonen: § 1. In jeder größeren Stadt haben die Genossinnen nach voraufgegangener Besprechung mit den Genossen eine weibliche Vertreterin zu wählen, welche am Ort die Agitation und die Heranziehung des weiblichen Proletariats zur modernen Arbeiterbewegung planmäßig betreibt. § 2. Die Wahl muß in öffentlicher Frauenversammlung stattfinden. Die Vertrauenspersonen werden auf die Dauer eines Jahres gewählt und sind wieder wählbar. § 3. Die Vertrauenspersonen der einzelnen Orte eines Bezirks haben miteinander, mit der Vertrauens-
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person des Hauptortes und der Vertrauensperson für ganz Deutschland stets Fühlung zu halten und jährlich mindestens einmal zu einer gemeinsamen Besprechung zusammenzutreten. § 4. Des weiteren haben sie dafür zu sorgen, daß die Forderungen der proletarischen Frauen und Mädchen auf allen Gebieten des sozialen Lebens mit Nachdruck vertreten werden. Sie müssen darauf hinwirken, daß das weibliche Proletariat an allen Kämpfen und Aufgaben seiner Klasse teilnimmt, und daß den Interessen und Bestrebungen der Proletarierinnen moralische und materielle Unterstützung seitens der organisierten Arbeiterschaft zuteil wird. Das soll erreicht werden, indem die Vertrauenspersonen a) Versammlungen veranstalten, in denen allgemein wirtschaftliche und politische Fragen behandelt werden. Versammlungen, in denen die proletarischen Frauen vom Standpunkt ihrer Interessen aus Stellung zu den auftauchenden Tagesfragen sowie zu allen Kämpfen der Arbeiterklasse nehmen; Versammlungen, die dem Kampf für die Forderungen dienen, welche die Proletarierinnen stellen in ihrer Eigenschaft als Glieder der ausgebeuteten und unterdrückten Arbeiterklasse und als Angehörige des sozial unfreien weiblichen Geschlechts;
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b) für die Herausgabe und Verbreitung zweckentsprechender, leichtfaßlicher Broschüren und Flugblätter sorgen; c) darauf hinwirken, daß die lokale Arbeiterpresse die Aufklärung des weiblichen Proletariats mit dem gebührenden Nachdruck fördert und mit aller Energie für seine Interessen sowie für die Bestrebungen der Genossinnen eintritt; d) Anknüpfungspunkte suchen für die Agitation und Organisation unter den Massen der Industriearbeiterinnen durch solche Mittel und Wege, welche nach den lokalen Umständen als praktisch erscheinen; e) Material über die Lage der Arbeiterinnen sammeln; f) für die Aufbringung materieller Mittel sorgen, welche für vorstehende Zwecke verwendet werden. 2. Für die Kreisvertrauenspersonen: Die Kreisvertrauensperson muß alle Jahre einen Situations- und Tätigkeitsbericht für den ganzen Kreis einsenden. Die Vertrauensperson des Hauptortes eines Bezirks hat die Beziehungen zwischend den Vertrauenspersonen der einzelnen Orte in die Wege zu leiten und eventuell zu vermitteln, sowie eine stete Verbindung mit der Vertrauensperson der Genossinnen für ganz Deutschland zu unterhalten. Letzterer muß sie alle
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sechs Monate einen Situations- und Tätigkeitsbericht für den ganzen Bezirk einsenden, der in der »Gleichheit« veröffentlicht wird. 3. Für die Zentralvertrauensperson: § 1. Der Sitz der Zentralvertrauensperson ist Berlin. Die Wahl derselben findet auf der Konferenz statt. Die Berliner Genossinnen wählen eine Revisionskommission, bestehend aus drei Genossinnen. Vierteljährlich muß ein Revisionsbericht in der »Gleichheit« veröffentlicht werden. § 2. Die Zentralvertrauensperson hat dafür zu sorgen, daß die auf der Konferenz gefaßten Beschlüsse zur Ausführung kommen. Sie hat im Sinne der oben angeführten Gesichtspunkte dafür zu wirken, daß die Agitation in ganz Deutschland einheitlich und kräftig betrieben wird. Ihr liegt es ob, durch Wort und Schrift eine systematische Agitations- und Organisationsarbeit der Genossinnen in Orten und Gegenden anzubahnen und zu sichern, wo bisher die proletarischen Frauen und Mädchen dem Kampf für die Befreiung ihrer Klasse und ihres Geschlechtes verständnislos gegenüberstanden. Sie hat des weiteren für die Einheitlichkeit der Aktionen zu sorgen, durch welche die Genossinnen im ganzen Reiche den Kampf für diejenigen ihrer For-
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derungen führen, welche jeweilig in den Vordergrund geschoben werden. Ein Hauptaugenmerk hat sie der Herausgabe geeigneter Flugblätter zuzuwenden, die der allgemeinen Agitation oder der Aufklärung über besondere Forderungen und Fragen dienen. Was Inhalt, Fassung und Ausgestaltung der Flugblätter anbetrifft, so hat sie tunlichst die Anforderungen und Wünsche zu berücksichtigen, welche von den Vertrauensleuten im Lande geäußert werden. Die Vertrauensperson der Genossinnen in ganz Deutschland hat auf Grund der ihr zugehenden Einzelberichte jährlich einen Gesamtbericht auszuarbeiten, welcher in der »Gleichheit« veröffentlicht und in den Tätigkeitsbericht des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei aufgenommen wird. § 3. Publikationsorgan ist die »Gleichheit«. Dieselbe wird den Vertrauenspersonen gratis zur Verfügung gestellt. § 4. Das beschlossene Regulativ ist in Druck zu geben und allen Vertrauenspersonen zur besseren Orientierung zu übersenden. Die Stellungnahme der Frauenkonferenz zu den weiteren Punkten der Tagesordnung ist in den folgenden Beschlüssen gekennzeichnet: 1. Zur Agitation unter den Arbeiterinnen sind, wie es schon der Parteitag zu Gotha beschlossen, in be-
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stimmten Zwischenräumen kurze, populär gehaltene Flugblätter herauszugeben, welche in knapper, kräftiger Darstellung einzelne Seiten der Arbeiterinneninteressen und der Frauenfrage behandeln (Lohnfrage, Arbeitszeit, Überstundenarbeit, sanitäre Bedingungen, gesetzlicher Schutz, Gewerkschaftsorganisation, Gewerbegerichte, Krankenversicherung usw.). Diese Flugblätter sollen die Form kleiner Broschüren erhalten, auf gutem Papier gedruckt und geschmackvoll ausgestattet werden. Mit ihrer Herausgabe wird eine Kommission betraut, die aus 5 Gliedern besteht und die von den Berliner Genossinnen gewählt wird. 2. Der Parteitag möge aussprechen, daß den Leitern der Arbeiterblätter aufgegeben wird, mehr wie bisher in den Ausführungen auf die Interessen der Arbeiterinnen Rücksicht zu nehmen, wie es von einigen Blättern bereits geschieht. 3. Als Mindestmaß an gesetzlichem Schutz für die proletarische Frau als Mutter ist zu fordern: Aufrechterhaltung der bereits gesetzlich festgelegten Schutzzeit für erwerbstätige Schwangere und Wöchnerinnen von 4 Wochen vor und 6 Wochen nach der Geburt; Beseitigung der Ausnahmebewilligungen zu früherer Wiederaufnahme der Arbeit auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses; Erhöhung des Krankengeldes auf die volle Höhe des durchschnittlichen Tagelohnes; obligatorische Ausdehnung der Krankenunterstützung
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der Wöchnerinnen auf die Frauen der Mitglieder. 4. Die Konferenz spricht ihre Sympathie aus für die Gründung von Frauenbildungsvereinen an solchen Orten, wo die Kräfte für die Leitung vorhanden sind. Wenn solche Vereine durch Belehrung erreichen, daß die Hausfrauen besser aufgeklärte Kindererzieherinnen werden, wenn sie das Solidaritätsgefühl der Frauen wecken, so haben sie ihre Aufgabe voll erfüllt. 5. Die ebenso notwendige als schwierige gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterinnen ist mit allem Nachdruck zu fördern. In Verbindung mit der Generalkommission und den Gewerkschaften haben die Genossinnen nach praktischen Mitteln und Wegen zu suchen, um die weiblichen Mitglieder der Gewerkschaften zu regerer Mitarbeit innerhalb der Organisation, insbesondere aber zur Leistung der erforderlichen, so hochbedeutsamen Kleinarbeit heranzuziehen. 6. In Erwägung, daß in Anhalt, Bayern, Braunschweig, Lippe, Preußen und den beiden Reuß nach den Bestimmungen der Vereinsgesetze den Frauen die Teilnahme an den politischen Vereinen untersagt ist und deshalb die Frauen in diesen Bundesstaaten von der Teilnahme an der politischen Tätigkeit ausgeschlossen sind, sofern sich diese, nach Aufhebung der bisherigen Parteiorganisationen auf Grund des Systems der Vertrauenspersonen, auf die politischen Vereine allein erstreckt, beschließt der Parteitag: 1. in
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den Bundesstaaten, in welchen den Frauen die Teilnahme an den politischen Vereinen verboten ist, die bisherige Organisation der Vertrauenspersonen aufrechtzuerhalten; 2. die sozialdemokratische Reichstagsfraktion zu beauftragen, energisch und forgesetzt dahin zu wirken, daß die der gegenwärtigen Entwicklung des politischen und wirtschaftlichen Lebens nicht mehr entsprechenden, die Frauen rechtlos machenden Bestimmungen dieser Vereinsgesetze durch Reichsgesetz aufgehoben werden. 7. Die Vertrauenspersonen der Genossinnen sind überall, wo die Vereinsgesetze dem nicht entgegenstehen, von den Organen der allgemeinen Bewegung zu allen Arbeiten und Sitzungen als gleichberechtigte Mitarbeiterinnen heranzuziehen. 8. Die Wahl der Delegierten zum Parteitag hat in öffentlichen Versammlungen überall dort stattzufinden, wo die Vereinsgesetze dies nicht hindern. Die unter 2, 6, 7 und 8 aufgeführten Resolutionen und Beschlüsse wurden dem Parteitag als Anträge der Frauenkonferenz eingereicht. Von diesen wurde die das System der Vertrauenspersonen und die Beseitigung des Vereinsunrechts gegen die Frauen betreffende Resolution einstimmig angenommen. Der andere Antrag: die Vertrauenspersonen der Genossinnen überall, wo das Vereinsgesetz nicht hindernd im Wege steht, als Gleichberechtigte zu den in-
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ternen Beratungen und Arbeiten der Gesamtpartei heranzuziehen, wurde abgelehnt, weil durch die zwingende Macht der tatsächlichen Verhältnisse dies bereits verwirklicht ist dort, wo Genossinnen und Genossen in richtiger Fühlung miteinander arbeiten. Zum Schluß ihrer Tagung hatten die Frauen die Wahl der Zentralvertrauensperson der Genossinnen Deutschlands vorzunehmen. Einstimmig wurde mir dieses Amt übertragen. Die Fülle der Aufgaben ließ es fast vermessen erscheinen, diesen wichtigen Posten zu übernehmen, denn die Agitations- und Organisationsarbeit mußte neben der recht anstrengenden Erwerbsarbeit geleistet werden, allein die Liebe zur Sache und das Versprechen der Genossin Zetkin, mir hilfreich zur Seite zu stehen, sowie die Zuversicht, daß die Berliner Genossinnen meine getreuen Mitarbeiterinnen sein würden, gab mir den Mut, das Amt zu übernehmen. Nun hieß es, an die Arbeit herangehen.
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Zwölftes Kapitel
Und wieder vor neuen Aufgaben Ein Aufruf, den ich in der »Gleichheit« erließ, leitete die Arbeit ein. Ich mußte, um den festen organisatorischen Halt zu gewinnen, der für eine einheitliche, planmäßige Regelung der Agitation notwendig war, mit den Frauen im ganzen Reich, die in unserem Sinne arbeiteten, in Verbindung stehen, in diesem Netz von Vertrauenspersonen der proletarischen Frauen mußte sich Masche an Masche knüpfen und alle Fäden mußten in meine Hand laufen. Die erste Aufgabe bestand darin, die Wahl weiblicher Vertrauenspersonen zu veranlassen. An alle Orte, aus denen mir Adressen von Genossinnen oder Genossen bekannt waren, sandte ich das inzwischen gedruckte Regulativ mit einem Anschreiben. Bereits Ende Januar 1901 waren daraufhin in 25 Orten weibliche Vertrauenspersonen gewählt worden. Nach dem ersten Vierteljahr konnte berichtet werden, daß zur Einleitung der Agitation für den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz außer unseren Forderungen von der inzwischen gewählten Flugblattkommission ein allgemein verständliches, den Arbeiterinnenschutz behandelndes Flugblatt ausgearbeitet und in einer Auflage
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von Tausenden von Exemplaren verbreitet worden war. Die Forderungen, die wir bei unserer Agitation immer wieder in den Vordergrund stellten, waren die folgenden: 1. Absolutes Verbot der Nachtarbeit für Arbeiterinnen. 2. Verbot der Verwendung von Arbeiterinnen bei allen Beschäftigungsarten, welche dem weiblichen Organismus besonders schädlich sind. 3. Einführung des gesetzlichen Achtstundentags für Arbeiterinnen. 4. Freigabe des Sonnabendnachmittag für Arbeiterinnen. 5. Aufrechterhaltung der gesetzlich festgelegten Schutzzeit für erwerbstätige Schwangere und Wöchnerinnen vier Wochen vor und sechs Wochen nach der Niederkunft. Beseitigung der Ausnahmebewilligungen zu früherer Wiederaufnahme der Arbeit auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses. Erhöhung des Krankengeldes für Schwangere bzw. Wöchnerinnen auf die volle Höhe des durchschnittlichen Tagelohnes. Obligatorische Ausdehnung der Krankenunterstützung der Wöchnerinnen auf die Frauen der Krankenkassenmitglieder. 6. Ausdehnung der gesetzlichen Schutzbestimmungen auf die Hausindustrie.
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7. Anstellung weiblicher Fabrikinspektoren. 8. Sicherung völliger Koalitionsfreiheit für die Arbeiterinnen. 9. Aktives und passives Wahlrecht der Arbeiterinnen zu den Gewerbegerichten. In der Resolution, mit der die Forderungen veröffentlicht wurden, ist jede einzelne ausführlich begründet worden. Mehr als 150 Briefe, teils Antworten auf Anfragen, teils Anregungen für die Agitation zugunsten des Arbeiterinnenschutzes, wurden versandt. In Form einer Petition wurden unsere Forderungen auch zur Kenntnis der bürgerlichen Parteien des Reichstags gebracht. Wo die Frauen noch nicht zur Mitarbeit imstande waren, da suchten die Genossen das Interesse für den Arbeiterinnenschutz zu wecken und führten eine lebhafte Agitation zur Aufklärung der Frauen. Neben vielen Einzelversammlungen, in denen Frauen sprachen, haben Agitationstouren stattgefunden, so in Sachsen, in den Hamburger Kreisen, im Vogtland, auch im Thüringer Wald, in den elenden Zentren der Spielwaren-, Glasperlen- und Griffelindustrie und unter den armen schlesischen Arbeiterinnen wurde das Werk der Aufklärung betrieben. Erhöhte Aufmerksamkeit wurde der Mitarbeit der Frauen in den Gewerkschaften zugewendet. Eine bedeutende Anzahl neuer Mitglieder konnte durch Frauenvorträge den
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Gewerkschaften zugeführt werden. Auch an Fabrikund Werkstattsitzungen nahmen die Genossinnen teil, um die weiblichen Arbeiter für die Organisation zu gewinnen. Neben dieser uns durch den Parteitag gestellten Aufgabe waren es wirtschaftliche Nöte, die die Frauen auf den Plan riefen. Die Kohlennot, die Wohnungsfrage, später der Milchwucher brachten in den Wintermonaten Tausende von Arbeiterfrauen in die schwerste Bedrängnis. Dazu kam die Erhöhung der Getreidezölle sowie der Zölle auf alle übrigen landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die eine ungeheure Preissteigerung auf alle Lebensmittel mit sich bringen mußte. Das bedeutete Hunger und Entbehrung für die breiten Massen des arbeitenden Volkes; die Reichstagsfraktion forderte daher zu energischer Protestaktion gegen dieses Treiben der Junker auf. Auch wir mußten mit allen Kräften in die Agitation hinein, um den Frauen die Augen über die Ursachen ihrer wirtschaftlichen Notlage zu öffnen. Auf dem nächsten Parteitag in Lübeck beantragten wir die Herausgabe eines besonders für die Frauen geeigneten Flugblatts, das in leichtfaßlicher Darstellung über den Zollwucher und seine gemeingefährlichen Folgen belehrt. Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit angenommen. Lebhafte Anteilnahme in der gesamten deutschen
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Arbeiterschaft erweckte 1901 ein Lohnkampf der Weber und Weberinnen im Cunewalder Tal in der Sächsischen Oberlausitz. Hier herrschten fast mittelalterliche Zustände. Geduldig, ohne Murren trugen sie ihr Hungerleben, bis die Abzüge, um die die Fabrikanten die bettelhaften Löhne noch kürzen wollten, auch diese Lohnsklaven zum Widerstand aufstachelten. 580 Arbeiter waren von den Unternehmern in den Streik getrieben worden, darunter 450 Frauen und Mädchen. Die Arbeiter warteten in Schnee und Regen des Morgens vor 6 Uhr auf dem Fabrikhof auf die Entscheidung. »Wenn ihr zu den neuen Löhnen arbeiten wollt, so schließe ich auf und lasse Dampf«, lautete die Erklärung des Fabrikanten. »Für die paar Pfennige arbeiten wir nicht mehr«, klang ruhig und bestimmt die Antwort der Weber und Weberinnen. In der ersten Versammlung erschienen viele Arbeiterinnen mit dem Gesangbuch in der Hand. Die Streikenden waren bis dahin ohne Fühlung mit der Arbeiterbewegung gewesen. Nun aber wendeten sie sich an die organisierten Arbeitsbrüder in Dresden. Entsetzt rief darob der Amtsblattredakteur von Cunewalde: »Man hat dem Sozialismus Tor und Tür geöffnet.« Amtshauptmann und Gewerbeinspektor suchten zu vermitteln, doch die Unternehmer in ihrem Protzen-
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hochmut wiesen den Beamten die Tür. Die kleinen Geschäftsleute des Cunewalder Tales litten schwer, manch eine Existenz ging zugrunde. Die Kreishauptmannschaft von Bautzen, die Handelskammer von Zittau, hohe Geistliche, die adligen Rittergutsbesitzer der Gegend, die Fabrikanten der übrigen Lausitz, die unter der Cunewalder Schmutzkonkurrenz litten, bemühten sich, die Fabrikanten zu einem Friedensschluß zu bewegen, den die Arbeiter annehmen konnten. Alles erfolglos. Die Solidarität der Arbeiterklasse hat im Bunde mit der bewundernswürdigen Haltung der Streikenden die Hoffnung der Unternehmer zuschanden gemacht. Die Kriegsmunition ging anfangs spärlich ein. So konnte in den ersten zwei Wochen für die Person nur 1,50 Mark Unterstützung gezahlt werden, nach weiteren zehn Tagen 2,50 Mark, dann 3,50 Mark. Als am Himmelfahrtstage 4,50 Mark ausgezahlt werden konnten, schoben manche die 50 Pfg. zurück, weil sie meinten, es sei zuviel. Später konnten dann 5, – und 6, – Mark ausgezahlt werden und für jedes Kind 50 Pfg. Es fanden sich keine Streikbrecher. 19 Wochen dauerte der Kampf, der für die Arbeiter mit einem ganzen Siege endete. Allerdings hatten sich während der Dauer des Streiks die Reihen der Kämpfenden gelichtet, weil viele den Ort verlassen hatten, um entweder in der Landwirtschaft oder anderswo Beschäftigung zu finden.
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Neben dem materiellen Siege der Arbeiterschaft war der moralische von größter Bedeutung, er hat sie in lebendigen Zusammenhang mit der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung gebracht. Aber er hat auch gezeigt, daß das Weib wohl imstande ist, auszuharren und das größte Elend zu ertragen, wenn es um einen gerechten Kampf geht. Auch auf anderen Gebieten zeigten sich jetzt für die Frauen Erfolge. Zur Armen- und Waisenpflege sollten Frauen herangezogen werden. Rixdorf wollte mit der Anstellung von Waisenpflegerinnen einen Anfang machen, auch unbesoldete Kommunalämter sollten Frauen übertragen werden. Der deutsche Städtetag sprach sich in seiner Tagung dafür aus, und Stadtrat Münsterberg erklärte die Tätigkeit der Frauen auf diesem Gebiete nicht nur für notwendig, sondern für unersetzlich. Daß das noch nicht bedeutete, daß auch Arbeiterfrauen hier herangezogen werden sollten, lag auf der Hand. Die Berliner Genossinnen entfalteten aber eine lebhafte Agitation für die Kommunalwahlen. In einer Versammlung sprach Genosse Bebel über das Interesse der Frauen an den Gemeindewahlen.
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Dreizehntes Kapitel
Heranbildung von Agitatorinnen Der Streik in Crimmitschau Nach zwei Jahren eifriger Arbeit machte sich eine neue Frauenkonferenz notwendig, die wir wieder vor dem Parteitag, der im September 1902 in München stattfand, einberiefen. Hatten wir in Mainz nur erst ganz vereinzelt weibliche Vertrauenspersonen, so waren es jetzt schon mehr als fünfzig. Bedeutsam war es, daß die Frauen sich seitdem in den deutschen Staaten, wo die Vereinsgesetze das zuließen, auch politisch organisiert hatten. So hatten die Wahlvereine in den drei Hamburger Wahlkreisen die stattliche Zahl von über 900 weiblichen Mitgliedern. In zwei sächsischen Wahlkreisen zählte man nahezu an 600 politisch organisierte Frauen. Und so war der Aufschwung auch noch in anderen Wahlkreisen bemerkbar. Das Vereins- und Versammlungswesen hatte inzwischen für die Frauen eine gewisse Veränderung erfahren. Wo es anging, arbeiteten die behördlichen Organe noch immer mit den rigorosesten Mitteln gegen die proletarischen Frauen, und es ließen sich noch manch böse Stücklein polizeilicher Willkür erzählen.
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Mit ganz anderem Maß wurde aber beim Bund der Landwirte gemessen, der in seiner Zirkus-Busch-Versammlung ungehindert mit Frauen tagte. Das erregte in der Arbeiterschaft helle Empörung; es kam daraufhin die Verfügung, daß Frauen als Zuhörerinnen im abgesonderten Teil, im sogenannten »Segment«, an politischen Vereinsversammlungen teilnehmen dürfen. Diese kleine Verbesserung wurde natürlich gehörig ausgenutzt. Noch immer waren unsere alten Forderungen nach Umgestaltung des Vereinsrechts trotz dieser geringen Verbesserung nicht erfüllt, noch immer waren die gesetzlichen Schutzbestimmungen lückenhaft. Es galt also auf dieser Konferenz aufs neue dazu Stellung zu nehmen und sie immer wieder in den Vordergrund zu rücken. Der zweite Punkt der Tagesordnung brachte aber eine neue Frage, die uns sehr ernsthaft beschäftigte: »Wie bilden wir Agitatorinnen heran?« Im Anfange der Bewegung waren eine Anzahl von Agitatorinnen auf den Plan getreten, neue agitatorische Kräfte sind dann aber nicht in gleichem Maße herangereift. Die Konferenz mußte sich allerdings mit Fingerzeigen und Anregungen begnügen. Unser alter Wilhelm Liebknecht sagte einmal, wer agitieren will, muß vor allen Dingen Wissen besitzen. Das ist es. Das politische Wissen, die Kenntnis der sozialen Zusammenhänge den Genossinnen zu übermitteln, das war die
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schwierige Frage. Unsere Genossinnen sollten ja sozialistische Agitation treiben. Luise Zietz sprach von methodisch geleiteten Vortrags- und Diskussionsabenden in kleinem Kreise. Auch die Genossin Dunker hat in Leipzig mit derartigen Abenden gute Erfolge gehabt. Andere Genossinnen empfahlen zur Schulung vor allem die Kleinarbeit für die Gewerkschaften, in Werkstubensitzungen und durch die mündliche Propaganda unter den Arbeitsschwestern. Ein allgemein anzuwendendes Rezept konnte die Konferenz nicht beschließen. Die Genossinnen mußten sich eben die Anregungen zunutze machen und sie ausproben, und die Aussprache hat manchen guten Gedanken gebracht. Auch diese Konferenz hat den Zusammenhalt und das Solidaritätsgefühl der proletarischen Klassenkämpferinnen gefestigt, sie in lebendigere, engere Fühlung miteinander gebracht. Sie hat ihrer Arbeit, ihrem Ringen bestimmte Ziele gesetzt und auf Mittel und Wege hingewiesen, die Leistungen zu erhöhen. Nun galt es, für die Durchführung der gefaßten Beschlüsse zu wirken und die gegebenen Anregungen zu erproben. Das Amt der Vertrauensperson wurde mir aufs neue einstimmig übertragen. Große Lohnkämpfe standen in dem folgenden Winter
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und im kommenden Jahre lange Zeit auch für die Frauen im Vordergrund des Interesses. Der im Winter 1902 ausgebrochene Streik der Weber und Weberinnen in Meerane endete nach 13 Wochen mit einem Sieg der Arbeiter, trotz der Hartnäckigkeit der Fabrikanten, von denen einer protzig erklärte, er werde lieber die Räder seiner Maschinen vergolden lassen, als den Ausständigen irgendwelche Zugeständnisse machen. Ungleich bedeutender und weitgreifender war der Kampf der Crimmitschauer Textilarbeiter um die Einführung des Zehnstundentages. Jahrelang war auf gütlichem Wege versucht worden, zu diesem Ziele zu kommen, immer aber vergebens. Selbst die durch eine Verordnung festgelegte Mittagszeit von 11/2 Stunden für die Frauen, die nebenher auch noch einen Haushalt zu besorgen hatten, wurde nicht gewährt. Fiel es den Frauen ein, dieses Recht zu fordern, so wurden sie glatt entlassen. Die einstündige Mittagszeit reichte nur für sehr wenige, um zum Essen nach Hause zu gehen. Einrichtungen zum Kochen oder Wärmen waren aber in den Fabriken nicht vorhanden. Die gesundheitlichen Schäden waren nicht nur für die Arbeiterinnen selbst, sondern vor allem auch für die Kinder ganz ungeheuer. Starben doch vor Vollendung des ersten Lebensjahres 27,3 Prozent der Kinder, und von den anderen konnten sich nur wenige zu kräftigen
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Menschen entwickeln. Der Streik brachte vielen zum erstenmal in ihrem Leben eine Art Ferien. Mütter konnten mit ihren Kindern einige Stunden frische Luft schöpfen. Die Bänke im Bismarckhain waren mit den typischen Webergestalten, hüstelnden, abgezehrten Frauen und Mädchen, mit Häkel- und Strickzeug in der Hand, besetzt. 3126 Männer und 3434 Frauen waren ausgesperrt. Der Zehnstundentag bedeutete nicht nur für die Textilarbeiter in Crimmitschau ein Stück Lebensmöglichkeit, Gesundheit, Familienleben, Bildungsmöglichkeit. Er war für die gesamte Arbeiterschaft von ungeheurer Bedeutung. Nur wenige besuchten das Wirtshaus. Aber aus Sympathie für die Kämpfenden gaben die Wirte gern ihre Lokale zu Kontrollversammlungen her. Die feste, besonnene Haltung der Arbeiterinnen, die doch zum erstenmal in diesem Kampf standen, war bewundernswert. »Sie sind schlimmer wie die Männer«, meinte ein Fabrikant. Eifrig und zuverlässig waren sie bei ihren Pflichten: Kontrollisten führen, Streikposten beziehen. Manche Arbeiterin brachte dabei den Kinderwagen mit. »Streikpostenstehen sollen wir nicht, aber unsere Kinder dürfen wir doch spazierenfahren«, erklärte eine Frau. Die Behörden standen natürlich auf seiten der Fabrikanten. Männer und Frauen wurden als Streikpo-
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sten verhaftet und empfindlich bestraft. 30 Mann Gendarmerie waren in Crimmitschau eingerückt und sorgten mit übergehängtem Gewehr für verstärkten Schutz der Ordnung. Der Kampf dauerte lange. Anfang August hatte er begonnen, er ging in den Winter hinein und im Dezember war noch kein Ende zu sehen. Aber die Teilnahme der organisierten deutschen Arbeiterschaft an diesem Kampf war sehr stark. Durch Sammlungen wurden die Streikenden vor der bittersten Not geschützt. Ein Weihnachtsfest wurde ihnen von den Arbeitsbrüdern und -schwestern des ganzen Reiches ausgerichtet, das die helfenden Leipziger Genossinnen in einem ergreifenden Bericht festgehalten haben. Im Januar 1904 kam dann aus dem Streikgebiet die erschütternde Nachricht, daß die Streikleitung zur Verhütung schwerer wirtschaftlicher Schäden, die doch letzten Endes die Arbeiter am empfindlichsten treffen würden, die Ausgesperrten zum Abbrechen des Streiks und zur bedingungslosen Aufnahme der Arbeit auffordern mußte. Schöne Beispiele von Solidaritätsgefühl gaben bei der Wiederaufnahme der Arbeit die Frauen. Lange nicht alle Arbeiter wurden bei ihrer Nachfrage wieder eingestellt, zum Teil war es wirklich nicht gleich möglich, zum Teil ließ man aber auch diejenigen, deren Führerrolle im Streik bekannt war, die Kapitali-
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stenmacht fühlen und erklärte: »Für Sie habe ich keine Arbeit!« Häufig genug aber traten Frauen zugunsten von Familienvätern zurück. In einem Falle verlangten eine Anzahl Arbeiterinnen die Wiedereinstellung eines Spinners, dem man die Arbeit verweigert hatte. Als man auch ihre Forderung nicht gleich erfüllte, erklärten sie: »Dann bleiben wir auch draußen!« Der Fabrikant, der diese hochwertigen Arbeiterinnen nicht entbehren wollte, rief: »Verfluchtes Weiberpack, holt Euren Spinner, damit endlich Ruhe wird!« Unterlegen, aber nicht besiegt war die tapfere Arbeiterschaft. Der Crimmitschauer Kampf um den Zehnstundentag war zu Ende, nun aber stand der Kampf um den gesetzlichen Zehnstundentag auf der Tagesordnung.
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Frauenwahlvereine Ein Heimarbeiterkongreß Der im Jahre 1898 gewählte Reichstag hatte 1903 sein Ende erreicht. Wir standen vor Neuwahlen. Hatten wir Frauen auch selbst kein Wahlrecht, so fühlten wir uns doch verpflichtet, dafür sorgen zu helfen, daß die Wahlen einen Sieg der Sozialdemokratischen Partei herbeiführten. Durch unsere Parteipresse wurden wir darauf aufmerksam gemacht, daß vom Tage der Ausschreibung der Wahlen ab bis zur Beendigung der Stichwahlen der § 8 des preußischen Vereinsgesetzes außer Kraft gesetzt wird, der den Frauen die Möglichkeit nimmt, Mitglied politischer Vereine zu werden und sich in ihnen zu betätigen. Der § 21 desselben Gesetzes sagt nämlich in seinem zweiten Absatz: Wahlvereine unterliegen der Beschränkung des § 8 nicht. Jedes, auch das kleinste Recht suchten wir auszunutzen. Und hier zeigte sich ein Weg, wenn auch nur auf wenige Wochen, einen politischen Frauenverein zu gründen, weibliche Mitglieder zu werben und politische Agitation zu treiben. Am 20. April 1903 haben die Berliner Genossinnen den ersten Frauenwahlverein gegründet. Er führte
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den Namen »Sozialdemokratischer Wahlverein der Frauen für Berlin und Umgegend«, und seine Statuten wurden in einfacher Kärtchenform gedruckt: Sein Zweck ist Agitation für die Reichstagswahl 1903. Jede erwachsene weibliche Person kann Mitglied werden. Der Vorstand besteht aus drei Personen. Nach Beendigung der Reichstagswahlen löst der Verein sich wieder auf. Etwa noch vorhandenes Vermögen wird im Interesse der Arbeiterbewegung verwendet. Monatlich werden 20 Pf. Beitrag erhoben. Der Erfolg dieser Gründung, die zugleich eine Demonstration für die Forderung politischer Frauenrechte bedeutete, übertraf alle Erwartungen. In der kurzen Zeit seines Bestehens hatte der Verein fast tausend Mitglieder und seine neun Versammlungen waren von Frauen überaus zahlreich besucht. Sicher hat die durch den Verein betriebene Aufklärungsarbeit ihr Scherflein zu dem großen Wahlsieg der Arbeiterklasse beigetragen. Aber auch in pekuniärer Beziehung war der Erfolg ein guter. 300 Mark konnten zu den Kosten der Reichstagswahl dem Parteivorstand übergeben werden. Wie bescheiden mutet uns heute diese Summe an! Damals aber war sie etwas Großes.
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Während dieser Berliner Wahlverein, unbehindert von den Behörden, seine Tätigkeit entfalten konnte, hatte der für den Wahlbezirk Teltow-Beeskow-Charlottenburg erhebliche Schwierigkeiten. Die Berechtigung seiner Bildung wurde den Genossinnen bestritten mit der Begründung, daß nur »Wahlberechtigte« dazu befugt sind, daß die Frauen aber nicht zu ihnen gehörten. Natürlich wurde gegen diese Entscheidung eine Beschwerde beim Oberpräsidenten eingelegt, die Antwort, die die Entscheidung des Amtsvorstehers für richtig erklärte, kam aber erst lange nach dem Tage der Stichwahl, als der Verein den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend sich ganz von selbst schon wieder aufgelöst hatte. Der in Altona gebildete Wahlverein hatte es auf 104 Mitglieder gebracht. In Ausnutzung dieses kurzen Rechtes der Frauen wurden sie auch vielfach in die Wahlkomitees gewählt und arbeiteten dort Seite an Seite mit den Genossen. Unsere rednerisch tätigen Genossinnen kannten keine Ermüdung; wochen- und monatelang hielten sie Tag für Tag, häufig in überfüllten Räumen, Versammlungen ab, Sonntags gewöhnlich zwei und auch drei Versammlungen. Oft mußten sie stundenweite Wege zu Fuß bis zum Versammlungsort zurücklegen, in Schnee und Regenwetter, oft bis auf die Haut
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durchnäßt und durchfroren, mußten sie aufs Podium. Am Wahltage selbst waren sie natürlich vom frühen Morgen an zur Stelle. Sie verteilten Flugblätter und Stimmzettel vor den Wahllokalen, halfen beim Listenführen und ließen sich durch keine noch so gehässige Anrempelung von ihrem Platze verdrängen. Häufig genug aber führten sie die Angreifer mit schlagfertigem Mutterwitz ab und hatten dann die Lacher auf ihrer Seite. Der Genossin Matschke, die vor einem Wahllokal den Namen unseres Kandidaten ausrief und Stimmzettel verteilte, rief ein vorübergehender Schutzmann mit giftigem Blick zu: »Soll sich lieber nach Hause scheren und ihre Strümpfe stopfen!« Sie blickte ihn mit ihren lustigen Augen an: »Ach, meine Strümpfe sind ganz. Wenn Ihre aber zerrissen sind, ziehen Sie sie man aus, die stopfe ich Ihnen gleich hier noch nebenbei!« Der Schutzmann aber drückte sich unter allgemeinem Gelächter. Aufsehen hat aber diese öffentliche Wahlbeteiligung der Frauen auch sonst gemacht und bei einfachen Gemütern zu verkehrten Deutungen Anlaß gegeben. So geriet im Distrikt Hamm ein Wähler in komische, kaum zu beruhigende Aufregung über »die verkehrt Tüd, wo die Fruhnlüt wählen«. Nach Schluß der Wahlhandlung gings dann nicht etwa nach Hause, sondern in die Versammlungen, um das Wahlresultat zu hören. Die frohe Aufgeregtheit
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der Genossen und Genossinnen machte sich in manchem Scherz und Spottwort gegen die anderen Parteien Luft. Der Sieg, den die Sozialdemokratie damals errungen, löste ungeheure Freude aus und war auch uns Frauen eine Hoffnung für die Zukunft. Die Wahlarbeit hatte uns gezeigt, wie wichtig und fördernd die neue Einrichtung der Lese- und Diskussionsabende für die Heranbildung von politisch geschulten Genossinnen und Agitatorinnen war. Sie sind an vielen Orten ins Leben gerufen worden und haben sich vorzüglich bewährt. Neben der Übermittlung und Klärung sozialer und politischer Kenntnisse, der Einführung in das Verständnis unseres Programms sollten hier die Proletarierinnen auch an das Lesen ernster sozialpolitischer Schriften und das logische Durchdenken derselben gewöhnt werden, aber auch an das klare Aussprechen ihrer Gedanken. Eine große Anzahl ernster, strebsamer und zuverlässiger Frauen wurden bei diesen Abenden einander nähergebracht und sie verbanden sich zum gemeinsamen Wirken. Das Amt der Vertrauensperson der Genossinnen war inzwischen, um die Agitation immer durchgreifender und einheitlicher zu gestalten, zu einem besoldeten geworden. Ich war deshalb in der Lage, mich ganz der Arbeit für die Förderung unserer Arbeiterinnenbewegung zu widmen.
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Für den März 1904 war von der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands ein Heimarbeiterkongreß nach Berlin einberufen worden, der endlich einmal auch in dieses schreckliche Kapitel von Frauennot und Kinderelend weiten Kreisen sichtbar hineinleuchten sollte. Eine Ausstellung war mit diesem Kongreß verbunden, die eine Reihe von Fabrikanten der Hausindustrie zeigte, mit genauer Zeitangabe der Frauen- und Kinderarbeit, der von den Arbeitern zu liefernden Zutaten und des Lohnes. Es gingen so manchem die Augen auf bei dieser Ausstellung des Elends. Aber auch mancher naive Ausspruch wurde laut, der die ganze Unkenntnis dieser Verhältnisse zeigte. So rief eine junge Gräfin, die Tochter eines bekannten Parlamentariers, ganz entsetzt: »Aber warum arbeiten denn diese Leute so billig?« Bitterkeit im Herzen, trat man wohl stillschweigend zurück und dachte: »Warum!« Aufgedeckt wurden auch so manche Schäden der Hausindustrie für die Volksgesundheit. Die Arbeitsstuben der Heimarbeiterinnen in ihrer engen Verbindung von Küche, Wohn- und Schlafraum bilden häufig genug einen Herd ansteckender Krankheiten sowohl für die Arbeitenden wie für die Verbraucher. Der Kongreß forderte die unverzügliche Schaffung eines Heimarbeiterschutzgesetzes und stellte dafür eine Reihe ganz bestimmt formulierter Forderungen
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auf. So sollte das Gesetz Bestimmungen enthalten über Größe, Einrichtung und sonstige Beschaffenheit der Heimwerkstätten. Die Benutzung der Räume sollte nur auf die Arbeit beschränkt sein, ferner sollte die Heimarbeit der Kontrolle der Gewerbeaufsicht unterstehen. Auch eine Kennzeichnung der auf hausindustriellem Wege hergestellten Waren wurde verlangt. Zur Sicherstellung der bisher jedem Zufalle preisgegebenen Heimarbeiter wurde auch die Ausdehnung der Versicherungsgesetze, der Bestimmungen der Gewerbeordnung über Arbeitszeit, Nachtarbeit, Sonntagsruhe, Wöchnerinnen- und Kinderschutz auf die gesamte Hausindustrie als Forderung aufgestellt. Die Frauen haben an diesem Kongreß in ganz besonderer Weise mitgearbeitet. Sie waren gerade auf diesem Gebiet die Hauptleidtragenden.
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Kinderschutz Die dritte Frauenkonferenz in Bremen Ein erster Schritt, Schutzbestimmungen für die Heimarbeit zu schaffen, war mit dem neuen Kinderschutzgesetz von 1903, das am 1. Januar 1904 in Kraft trat, getan worden. Es ergab sich für uns die Notwendigkeit, die Frage des Kinderschutzes überhaupt, sowie die Mitwirkung der Genossinnen zur Sicherung und Ausgestaltung des Gesetzes eingehend zu beraten. Wir setzten deshalb auf die Tagesordnung der nach zwei Jahren wieder nötig gewordenen Frauenkonferenz die Frage des Kinderschutzes, und Luise Zietz sprach über dieses Gebiet in einem kurzen, aber allgemein als Musterleistung anerkannten Referat. Durchweg wurde das neue Kinderschutzgesetz als ungenügend bezeichnet und es wurden in einer Resolution weitergehende Forderungen aufgestellt. Vor allem aber sollte das Verbot jeglicher Erwerbsarbeit schuloder gar vorschulpflichtiger Kinder ausgesprochen werden. Gefordert wurde aber auch die Durchführung einer wirksamen Kontrolle des Kinderschutzes und die Heranziehung von Aufsichtsbeamten aus den Kreisen der Arbeiter und Arbeiterinnen. Den Genos-
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sinnen aber wurde hier zur Pflicht gemacht, mit ihrer ganzen Kraft und Ausdauer für die Durchführung dieser Forderungen einzutreten, und sich selbst in weitem Umfange an der Kontrolle zu beteiligen. Diese dritte Frauenkonferenz, die im September 1904 in Bremen stattfand, nahm einen prächtigen Verlauf. Bebel selbst hob rühmend hervor, sie habe auf einem sehr hohen geistigen Niveau gestanden. Der ansehnliche Fortschritt unserer Bewegung gelangte sowohl in der Beteiligung an der Konferenz, wie in der geleisteten Arbeit zum Ausdruck. 33 Delegierte, darunter sechs Genossen, nahmen diesmal an der Konferenz teil. Bedeutsam für die Entwicklung war es, daß auch aus Gegenden, wo der Aufklärung und Organisierung proletarischer Kämpferinnen die größten Schwierigkeiten entgegenstanden, Vertreterinnen anwesend waren. Noch vor wenigen Jahren hätte kaum jemand zu hoffen gewagt, daß sich dort Genossinnen zu planmäßiger Arbeit im proletarischen Befreiungskampf zusammenfinden würden. Für die feste innere Zusammengehörigkeit zwischen der proletarischen Frauenbewegung und der Sozialdemokratie war die Beteiligung des Genossen Molkenbuhr als Vertreter des Parteivorstandes an der Konferenz und seine warmempfundene Begrüßungsrede ein besonderer Ausdruck. Der Rückblick, der wie immer auch auf dieser Konferenz zu geben war, zeigte deutlich, wie
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gut sich die Einsetzung einer Vertrauensperson für das ganze Reich bewährt hat. Die ganze Tätigkeit der Genossinnen hat dadurch bedeutend an Einheitlichkeit und Kraft gewonnen, die Anregungen von einer Zentralstelle aus wirkten anspornend, die Arbeitsfreudigkeit herausfordernd und leitend auf die ganze Bewegung in vielen Bezirken. Ganz besonders aber galt dies von der aufklärenden Agitation, die zu den Reichstagswahlen, für die Umgestaltung des Vereinsund Versammlungsrechts entfaltet worden ist. Zweckdienliche Zirkulare wurden den Vertrauenspersonen zugesandt, mit praktischen Fingerzeigen für die Arbeit auf den einzelnen Gebieten. Auf die Bedeutung der politischen und gewerkschaftlichen Kleinarbeit, auf den Wert der unpolitischen Bildungsvereine, auf die Errichtung von Lese- und Diskussionsabenden wurde immer aufs neue hingewiesen. Von den Referaten auf der Konferenz konnte man sagen: »In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.« In der einen Stunde, die für jedes Referat festgesetzt war, wurde das Notwendige klar und deutlich gesagt. Die Teilnehmer aber waren nicht ermüdet vom Zuhören und frisch und lebendig setzte die Diskussion ein, die nützliche Winke und Ratschläge zutage förderte. Die Bremer Frauenkonferenz steht allen Teilnehmern, soweit sie noch unter den Lebenden weilen,
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wohl heute noch in besonderer Erinnerung. Sie zeigte deutlich die politische und organisatorische Arbeitsfähigkeit der Frauen, und das Lob unseres Genossen Bebel hat anfeuernd gewirkt.
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Sechzehntes Kapitel
Ruhiges und stetes Weiterschreiten Kleinarbeit Wie in jeder Bewegung eine Zeit ruhigen und steten Fortschritts kommen muß, so waren auch wir jetzt da angelangt, wo die Formen der Arbeit schon zur Gewohnheit geworden waren. Viele Bewegungen gehen an solcher Zeit der Ruhe zugrunde. Die innere Kraft unserer Bewegung war aber zu stark, und die äußeren Hemmnisse entfachten den Widerstand stets aufs neue. Auch die Zahlen, die aus jenen Jahren vorliegen, erzählen von tüchtiger gemeinsamer Arbeit. So hatten wir es in den wenigen Jahren auf 190 weibliche Vertrauenspersonen im ganzen Reiche gebracht. In den deutschen Staaten, in denen die Vereinsgesetze es gestatteten, waren schon etwa 4000 Genossinnen politisch organisiert. An anderen Orten, wo das nicht möglich war, hatten die Frauen unpolitische Bildungsvereine geschaffen, und es waren etwa 3000 Frauen und Mädchen, die sich hier zusammengefunden haben. Diese Zahlen geben aber bei weitem nicht die ganze Zahl der Frauen wieder, die zur Partei gehörten und für sie tätig waren. Es sind nicht allein die Bestimmungen der verschiedenen einzelstaatli-
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chen Vereinsgesetze, welche der einheitlichen festen Organisation der Genossinnen entgegenwirkten, auch die Handhabung der Gesetze tat dies. Nach den Erfahrungen, welche die Genossinnen in dieser Hinsicht gemacht haben, würden die Behörden jedem Frauenverein rasch das Lebenslicht ausgeblasen haben, der nur entfernt sozialdemokratische Tendenzen gezeigt hätte. Um die nötigen Gelder für die Agitation aufzubringen, wurden von der Zentralstelle 5-Pfg.-Bons an die einzelnen Vertrauenspersonen gesandt, von deren Erlös der Kasse der Vertrauenspersonen Deutschlands 2 Pfg. zuflossen, während für die örtliche Agitation 3 Pfg. verblieben. Auch der Ärmsten war es damit ermöglicht, ab und zu ein Scherflein für die gemeinsame Sache zu opfern. Um unsere Parteizugehörigkeit aber auch äußerlich zu dokumentieren, hatten wir, gemäß dem § 1 unseres damaligen Parteistatuts: »Zur Partei gehörig wird jede Person betrachtet, die sich zu den Grundsätzen des Parteiprogramms bekennt und die Partei dauernd durch Geldmittel unterstützt.« Quittungskarten über freiwillig geleistete Beiträge eingeführt (monatlich 10 Pfg.). Diese Einrichtung wurde von den Genossinnen freudig aufgenommen. Anfang 1905 wurden durch den Beirat für Arbei-
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terstatistik Erhebungen angestellt über die Arbeitszeit der in Wäschereien und Plättereien beschäftigten Arbeiterinnen, ebenso über die Arbeitsbedingungen in den Fischräuchereien und Konservenfabriken. In diesen Betrieben sind überwiegend Frauen beschäftigt. Das Verfahren bei dieser Erhebung war so, daß Fragebogen verteilt wurden, und zwar in der Hälfte der befragten Betriebe nur an die Arbeitgeber, in der anderen Hälfte nur an die Arbeitnehmer. Es kam also für den Betrieb nur eine Partei zu Wort. Eine Beeinflussung bei der Beantwortung war natürlich sowohl von seiten der Behörden, die die Erhebung leiteten, wie auch von Privatpersonen ausgeschlossen. Es unterlag aber keinem Bedenken, daß sachverständige Frauen den Plätterinnen und Wäscherinnen bei der Beantwortung der Fragen behilflich waren. Wie dringlich die Arbeiterinnen gerade in diesen Betrieben einer Regelung der Arbeitszeit und weitergehender gesetzlicher Schutzbestimmungen bedurften, das war uns ja zur Genüge bekannt, und es kamen durch unsere Mitarbeit schlimme Zustände ans Tageslicht, deren Kenntnis für die Agitation von großem Werte war. Jahrelang hatten unsere Genossinnen sich für einen geregelten Mutter- und Säuglingsschutz als Aufgabe der Kommunen eingesetzt, wie er auf unseren Frauenkonferenzen gefordert worden ist, bis endlich in Berlin ein Anfang gemacht wurde. Zur Bekämpfung der
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Säuglingssterblichkeit wurden vier städtische Fürsorgestellen errichtet, in denen den Müttern ärztlicher Rat über die Pflege und Wartung der Säuglinge erteilt wurde, in denen auch sachgemäß zubereitete Milch unentgeltlich ausgegeben wurde. Auch stillende Mütter erhielten Unterstützung. Das war durchaus keine Armenunterstützung, sondern ein Recht, welches ausgenutzt werden mußte, um noch viel mehr zu erreichen. Die Berliner Genossinnen verbreiteten auf ihre Kosten ein Flugblatt, durch welches die Arbeiterfrauen zu starker Inanspruchnahme dieser Fürsorgeeinrichtung veranlaßt werden sollten. Eines unserer wichtigsten Propagandamittel war neben dem gesprochenen das gedruckte Wort. So wurde die »Gleichheit« vom Verlag jeder Vertrauensperson unentgeltlich zugestellt. Meine Aufgabe war es, die leitenden Genossinnen laufend mit Agitationsmaterial zu versorgen. Ich sandte ihnen z.B. »Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie« von Kautsky und Schönlank, Parteitagsprotokolle, Führer durch Kranken-, Unfall-, Invalidenversicherungsgesetze, die preußische Gesindeordnung, das Vereinsund Versammlungsrecht, die Reichs- und Staatsverfassung, dann das »Kommunistische Manifest«, »Lohnarbeit und Kapital« von Karl Marx, »Zum Frauenwahlrecht« von Clara Zetkin, sodann das für die Kinderschutzkommission so wertvolle, von dem
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Rixdorfer Lehrer Agahd verfaßte Buch über die Erwerbsarbeit schulpflichtiger Kinder, ferner eine Reihe von Heften aus der sozialdemokratischen Gesundheitsbibliothek und viele andere Schriften. Über besonders wichtige Frauenfragen wurden Merkblätter herausgegeben, so z.B. das von unserem Genossen, dem Frauenarzt Dr. Kurt Freudenberg kurz vor seinem Tode erschienene: »Zur Verhütung und Heilung des Gebärmutterkrebses«, welches in vielen Tausenden von Exemplaren in Deutschland verbreitet wurde. Für die »Gleichheit« wurde in jeder Versammlung Propaganda gemacht, in zahlreichen Orten in mühevoller Hausagitation Abonnenten geworben, den Genossinnen aber wurde zur Pflicht gemacht, mit den neuen Abonnentinnen über den Inhalt der »Gleichheit« zu sprechen und etwa nicht Verstandenes zu erläutern. Diese Arbeit trug reiche Früchte, denn im Laufe von zwei Jahren hatte sich die Abonnentenzahl von 23000 auf 46000 erhöht. Die Ausgestaltung der »Gleichheit« ohne Preiserhöhung mit einer vierseitigen Beilage, welche den Interessen der Mutter und Hausfrau und deren Allgemeinbildung gewidmet war, hat natürlich auch auf die Verbreitung günstig eingewirkt, sie bot jetzt auch den abseits vom politischen Kampf stehenden Frauen viel Belehrendes. Als mit dem Ende des Jahres 1905 die Ausnahmebestimmungen des Kinderschutzgesetzes von 1903
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aufgehoben wurden, gingen wir daran, Kinderschutzkommissionen zu gründen. So manches arme Kind wurde durch die nachgehende Arbeit unserer Genossinnen der Ausbeutung entzogen, mancher Fall von Mißhandlung und anderem Kinderelend wurde dabei entdeckt und konnte abgestellt werden. So gab es für unsere Frauen Arbeit an allen Ecken, und meistens ist es die oft unbeachtete, aber doch so sehr notwendige Kleinarbeit gewesen. Aber auch in der Gesamtheit tauchten immer noch Fragen auf, die der Klärung bedurften, auf immer neuen Gebieten harrten der Frauen zahllose Aufgaben. Die Frauenkonferenzen waren die Marksteine in unserer Bewegung. Hier wurden Schlaglichter geworfen auf die bisher gegangene Wegstrecke, aber auch auf den Weg, der vor uns lag. Hier wurden wir uns klar darüber: was ist von unserem Wollen erreicht worden – was bleibt uns zu tun –, welches sind die nächsten, aber auch die neuen Aufgaben, die unserer warten! Hier wurde unseren weiteren Schritten die Richtung gewiesen. In Mannheim tagte im September 1906 vor dem Parteitag unsere vierte Frauenkonferenz, die für eine Reihe solcher neu auftauchender Fragen uns Weisungen geben sollte. Auf unserer Tagesordnung stand zunächst hinter den notwendigen Berichten mit ihrem Rückblick geleisteter Arbeit die Frage des Frauen-
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wahlrechtes. Waren wir uns auch bewußt, daß die Erfüllung dieser Forderung noch weit in der Zukunft lag, so durften wir doch die Agitation für diese alte Forderung unseres Programms nicht vernachlässigen. Wir mußten den breiten Massen der Arbeiterkreise, Frauen und Männer, zeigen, daß die politische Gleichberechtigung eine soziale Notwendigkeit für die Frauen ist, und wir hatten auch in dieser Frage die Rolle der treibenden Kräfte zu übernehmen. Zur Agitation unter den Landarbeiterinnen sprach auf der Mannheimer Frauenkonferenz Luise Zietz und über die Dienstbotenbewegung Helene Grünberg. Die Arbeiterinnen auf diesen Arbeitsgebieten waren für unsere Bewegung besonders schwer zu erfassen. Die Agitation unter ihnen, vor allem für den gewerkschaftlichen Zusammenschluß, war aber um so notwendiger, als gerade sie nicht nur wirtschaftlich und sozial am schlechtesten gestellt waren, sondern auch am rechtlosesten waren. Zu der Schwangeren- und Wöchnerinnenfürsorge sprach die Genossin Käte Dunker. Hatten wir bei unseren Forderungen für gesetzlichen Schutz der Arbeiterinnen immer schon den Schutz der Mutterschaft besonders betont, so erkannten wir doch immer wieder, daß gerade hier noch viel weitergehende Forderungen für eine durchgreifende Mutterschaftsfürsorge zu stellen waren. Für die proletarischen Frauen kam es ein-
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mal darauf an, die Frauenarbeit so zu gestalten, daß sie die Frauen nicht daran hindert, gesunde Mütter gesunder Kinder zu werden. Zum anderen aber galt es, Einrichtungen zu schaffen, die den Frauen die Last der Mutterschaft erleichterten. Zu diesen beiden Grundfragen wurde eine Reihe direkter Forderungen aufgestellt. Als nun zur Neuwahl der Zentralvertrauensperson der Genossinnen Deutschlands geschritten werden sollte und meine Person allein wieder vorgeschlagen war, erhob eine Genossin aus Essen dagegen Widerspruch, indem sie sagte: »Nicht als Vertrauensperson, sondern als Parteimutter wollen wir sie wählen, denn sie hat uns geleitet und uns mit Rat und Tat beigestanden, wie es nur eine Mutter kann.« Das war der schönste Lohn, den man sich für die aufgewandte Mühe und Arbeit nur denken konnte. Die immer umfangreicher werdende Arbeit der Zentralvertrauensperson machte jetzt auch die Einrichtung eines Büros sowie die Einstellung einer besonderen Hilfskraft notwendig. Bald darauf setzte die Auflösung des Reichstages die politischen Kreise in Bewegung. Es kam die Winterwahl in Eis und Schnee. Wegen der Kürze der Zeit haben wir dieses Mal von dem Recht, Wahlvereine der Frauen zu gründen, keinen Gebrauch gemacht. Daß wir aber trotz der Ungunst des Wetters uns von
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der helfenden Arbeit nicht zurückhalten ließen, versteht sich von selbst.
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Siebzehntes Kapitel
Wichtige Tagungen – Endlich mündig! Neue Organisationsform Eine Reihe wichtiger Tagungen, an denen auch die sozialdemokratischen Frauen hervorragend beteiligt waren, fielen in die letzten beiden Jahre meiner Tätigkeit. Eine der bedeutsamsten war die erste internationale sozialistische Frauenkonferenz, die im August 1907 nach Stuttgart einberufen wurde. Diese Konferenz war ein erster Versuch, die sozialistische Frauenbewegung aller Länder zusammenzufassen und sie geschlossen in Reih und Glied der großen sozialistischen Internationale zu stellen. Um das Gelingen der Tagung waren die Einberuferinnen in Sorge. Liefen doch erst kurz vor der Tagung die meisten Anmeldungen ausländischer Delegierter ein. Es war aber schließlich doch ein ungemein buntes und interessantes Bild internationaler Frauentypen. 15 verschiedene Nationalitäten waren vertreten, außerden nahmen als Gäste Vertreterinnen des jüdischen Frauenbundes in Rußland, der Petersburger Sozialdemokratie, der organisierten Weberinnen von Lodz und eine indische Frau aus Bombay an den Beratungen teil. Die Konferenz hat die sozialistische Frauenbewe-
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gung aller Länder in der Frage der Erkämpfung des Frauenstimmrechts auf den Boden einer scharf abgegrenzten grundsätzlichen Auffassung gestellt und feste Richtlinien gegeben. Die Wahlrechtskämpfe waren in allen Ländern immer mehr in den Mittelpunkt des politischen Lebens gerückt, und damit bekam auch das Frauenwahlrecht zunehmende praktische Bedeutung für die sozialistischen Parteien. Als weiteres Ergebnis der Konferenz wurde eine internationale Zentralstelle geschaffen, in der die Korrespondenzen der auswärtigen Genossinnen sowie die Berichte zusammenlaufen und veröffentlicht werden sollten. Als diese Zentralstelle ist die Redaktion der »Gleichheit« ausersehen worden. Der Internationale Sozialistenkongreß, der im Anschluß an die Frauentagung stattfand, hat der Wahlrechtsresolution, die wir vorgeschlagen haben, zugestimmt. So hatten wir in allen Ländern die erfreuliche Tatsache zu verzeichnen, daß die Parteigenossen überall zu der Frage des Frauenwahlrechts grundsätzliche Stellung zu nehmen hatten. Vielleicht ist bei dieser ersten internationalen Konferenz mancher Fehler gemacht worden, wie es ja auch bei einer solchen Veranstaltung, die einen ersten Versuch zu einer prinzipiellen Verständigung zwischen den sozialdemokratischen Frauen der verschiedenen Länder anstrebte, nicht anders zu erwarten war.
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Wenn man aber bedenkt, welche Sprachschwierigkeiten allein zu überwinden waren, so konnte man wohl, wie allgemein geäußert wurde, mit den Ergebnissen dieser Konferenz zufrieden sein. Das Hauptverdienst an dem guten Gelingen hatte entschieden die Genossin Clara Zetkin. Eine andere wichtige Tagung war von der Zentralvertrauensperson als außerordentliche Frauenkonferenz im November 1907 nach Berlin einberufen worden. Sie betraf die noch junge Bewegung der Dienstboten. Dank der Agitation der Nürnberger Arbeitersekretärin Helene Grünberg und mit Unterstützung des Gewerkschaftskartells hatte im Jahre 1906 in Nürnberg eine Dienstbotenbewegung eingesetzt, die einen klassenbewußten Charakter trug und zur Gründung eines Vereins führte, der von vornherein, den modernen Gewerkschaften gleich, sich auf den Boden des Klassenkampfes stellte. Das Nürnberger Beispiel hatte bahnbrechend gewirkt. Es mehrten sich rasch die Städte, in denen Dienstbotenvereine entstanden. Überall waren es die Genossinnen, die den Hauptteil der Arbeit leisteten, die die Agitation unter den Dienstboten und ihre Zusammenschlüsse in Organisationen erforderte. Häufig wurden sie dabei von den Gewerkschaftskartellen unterstützt. Mit dem Wachsen der Bewegung unter dieser ganz besonders rechtlosen Arbeiterkategorie machte sich
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aber eine gemeinsame Aussprache derjenigen notwendig, welche die Agitation im Fluß hielten. Fragen waren aktuell geworden, die eine Verständigung über eine einheitliche Behandlung erforderten. So waren es z.B. die Fragen des Dienstvertrages, die Errichtung eines eigenen Stellennachweises, die Beschaffung eines eigenen Organs für die Dienstbotenvereine, vor allem aber die Frage der Anbahnung einer Zentralisation aller klassenbewußten Dienstbotenorganisationen. 25 Delegierte, meistens Leiterinnen von Dienstbotenorganisationen, waren erschienen. Vertretungen des Parteivorstandes, des Verbandes sozialdemokratischer Wahlvereine Groß-Berlins und der Gewerkschaften zeigten die Bedeutung der Konferenz. Der Verlauf der Verhandlungen brachte uns noch mehr zum Bewußtsein, wie dringend notwendig die Konferenz für die weitere Entwicklung war. Die Berichte aus den verschiedenen Gegenden Deutschlands ließen klar erkennen, daß die Dienstbotenbewegung nur dort Aussicht auf Erfolg versprach, wo die allgemeine sozialistische Frauenbewegung bereits eine bestimmte Höhe erreicht hat. Daß die Stellenvermittlung von den Dienstboten selbst in die Hand genommen werden müsse, um ein Rückgrat der Bewegung zu werden, wurde allgemein anerkannt.
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Auch der Dienstvertrag fand seine Würdigung zunächst als wirksames Agitationsmittel, des weiteren aber auch als Mittel, die Gesindeordnung auszuschalten und die Lage der Dienenden zu heben. Die Dienstbotenbewegung drängte nach einheitlichem Zusammenschluß, nach einer Zentralisation. Die Konferenz wählte daher eine fünfgliedrige Kommission mit dem Sitz in Hamburg, der die Aufgabe zugewiesen wurde, die Zentralisation sowie den Anschluß an die Generalkommission in die Wege zu leiten. Beschlossen wurde ferner, ein einheitliches Organ für die Dienstbotenbewegung zu schaffen. Schließlich stimmte die Konferenz der Anregung zu, die »Gleichheit« durch Zufügung eines bestimmten Teils so auszugestalten, daß sie auch den besonderen Ansprüchen der Dienstbotenorganisation Rechnung trage und das so ausgestaltete Blatt als deren Organ einzuführen. Eine immer festere Form nahm allmählich auch die Eingliederung der Frauen in das Gesamtgefüge der Partei an. Für 1907 war keine Frauenkonferenz einberufen worden, aber vor dem Parteitag in Essen fand auf besonderen Wunsch der Genossinnen des Ruhrgebiets eine Besprechung statt, deren Zweck die bessere Regelung der Agitations- und Organisationsarbeit des Ruhrgebiets war. Die Bildungsvereine des Ruhrgebiets hatten seit Jahren unter dem rigorosen Vorgehen
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der Behörden besonders zu leiden. Auflösungen, Anklagen, Geldstrafen folgten in ununterbrochener Reihe. Man beschloß deshalb, diese Bildungsvereine aufzulösen und an ihre Stelle lose Organisationen zu setzen; Diskutier- und Leseabende sollten die nötige geistige Verbindung unter den Frauen erhalten. Die Genossinnen haben den Anregungen gemäß gehandelt, und mit gutem Erfolg. Eine Konferenz der weiblichen Vertrauenspersonen in Bayern führte zur Ernennung der Genossin Greifenberg als Landesvertrauensperson. Eine Provinzialkonferenz für SchleswigHolstein bestimmte die Genossin Baumann als Provinzialvertrauensperson. Für das niederrheinische Agitationsgebiet wurde die Genossin Wilhelmine Kähler mit dem Amt betraut. Die Genossinnen nahmen auch mehr und mehr an den Landes- und Provinzialparteitagen teil. So hielt auf dem Landesparteitage für Sachsen-Meiningen, der in Saalfeld tagte, Genossin Selinger ein Referat über Agitation und Organisation der Frauen. Mit dem Beginn des Jahres 1908 setzten in Preußen die scharfen Wahlrechtskämpfe ein, an denen wir Frauen einen besonders regen Anteil nahmen. Als am 10. Januar das Geldsackparlament wieder eröffnet wurde, nahmen Tausende von Männern und Frauen an einer Demonstration für ein allgemeines, gleiches, geheimes und direktes Wahlrecht teil. Nicht
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nur die Frauen aus dem Berliner Stadtbezirk, auch die Genossinnen aus den Vororten kamen in ganzen Trupps vor das Abgeordnetenhaus. Welche Freude war es, wenn die einzelnen Trupps sich bei mir meldeten: »Wir sind die Rixdorfer; wir die Schöneberger; wir aus Friedrichsberg usw. usw.« Als der Reichskanzler Bülow aus dem Wagen stieg, riefen wir ihm unsere Forderungen zu. Er ging mit gesenktem Kopf wie ein Schuldbeladener durch unsere Reihen. Auch bei der Demonstration am »Roten Sonntag« waren unsere Genossinnen nicht weniger auf dem Posten. Bei den Wahlen für das preußische Dreiklassenparlament haben auch die Frauen wieder eifrige Arbeit geleistet. Auch am Tage der Wahlmännerwahlen standen sie vielfach mit Stimmzetteln vor den Wahllokalen; sie waren in den Wahlbüros der Partei tätig, aber auch in amtlichen Wahlbüros führten sie die Listen. Schlepperdienste leisteten sie und haben manchen Zaghaften, Ängstlichen durch ermutigende Worte an den Wahltisch gebracht. Unsere Arbeit wird sicher ein wenig dazu beigetragen haben, daß es der Sozialdemokratie zum erstenmal gelungen ist, unter einem so korrumpierten Wahlsystem, wie es das Dreiklassenwahlrecht im Preußischen Landtag war, einige Abgeordnete in den Landtag zu bekommen. Das einzige Wahlrecht, welches die Frauen hier besaßen, war das zu den Vertretungen in den Kranken-
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kassen. Es mußte ihnen aber durch immer erneute Hinweise vor Augen geführt werden, wie wichtig die Ausübung dieses Rechtes ist. Vor allem galt es, mehr Fürsorgeeinrichtungen für die weiblichen Krankenkassenmitglieder durchzusetzen. Das Jahr 1908 bedeutet einen Wendepunkt in der Geschichte der politischen Frauenbewegung. Das Reichsvereinsgesetz war endlich im Reichstag durch die letzte Lesung gehetzt und angenommen worden. Der einzige Fortschritt, den dieses Gesetz brachte, war die Gleichstellung der Frau mit dem Mann. Sie war für mündig erklärt worden. Für uns bedurfte es dessen kaum noch, denn die proletarische Frauenbewegung hatte sich in einem zähen Kleinkrieg eine politische Bewegungsfreiheit erkämpft, mit der sie auch ohne formales Recht auskam. Wir konnten deshalb auch keine besondere Freude empfinden über ein Gesetz, das auf der anderen Seite so schwere Schäden aufwies. Wir erinnern nur an den berüchtigten Sprachenparagraphen, der den in Deutschland lebenden polnischen Arbeitern, der aber auch den reichsangehörigen Dänen und Elsaß-Lothringern das Recht nahm, Organisationen zu bilden und in Zusammenkünften ihre Muttersprache anzuwenden, sowie an die Entrechtung der Jugendlichen. Das neue Gesetz ließ es uns sozialdemokratischen Frauen aber doch notwendig erscheinen, die Frage zu
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prüfen, ob die veränderte rechtliche Lage nicht auch andere Organisationsformen erfordert. Eine eingehende Beratung darüber mußte Sache der Frauenkonferenz sein, die für den September 1908 nach Nürnberg einberufen wurde. Das Resultat der Vorbesprechungen war ein Vorschlag zur Neuorganisation der Genossinnen. Er wurde zunächst den Organisationen, dann aber auch der Frauenkonferenz zu Nürnberg zur Beratung unterbreitet. Das letzte Wort in der Frage hatte natürlich der Parteitag zu sprechen. Der Vorschlag hatte folgenden Wortlaut: 1. Jede Genossin ist verpflichtet, der sozialdemokratischen Parteiorganisation ihres Ortes beizutreten. Politische Sonderorganisationen der Frauen sind nicht gestattet. Über das Fortbestehen besonderer Frauenbildungsvereine entscheiden die Genossen und Genossinnen der einzelnen Orte. Die Mitgliedschaft in solchen Vereinen enthebt jedoch die Genossinnen nicht der Verpflichtung, den sozialdemokratischen Parteiorganisationen anzugehören. 2. Unabhängig von den Vereinsabenden der Männer sind für die weiblichen Mitglieder Zusammenkünfte einzurichten, welche ihrer theoretischen und praktischen Schulung dienen. 3. Die Festsetzung der Beiträge für die weiblichen Mitglieder bleibt den einzelnen Organisationen über-
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lassen. Empfehlenswert ist, die Beiträge für die weiblichen Mitglieder niedriger zu bemessen wie für die männlichen. 4. Die weiblichen Mitglieder sind im Verhältnis zu ihrer Zahl im Vorstand vertreten. Doch muß diesem mindestens eine Genossin angehören. 5. Den weiblichen Mitgliedern des Vorstandes liegt es ob, die notwendige Agitation unter dem weiblichen Proletariat im Einvernehmen mit dem Gesamtvorstand und unter Mitwirkung der tätigen Genossinnen zu betreiben. 6. Solange betreffs der Beschickung der Parteitage durch die Parteiorganisationen noch das gegenwärtige Provisorium gilt, bleiben auch für die Delegierung der Genossinnen die jetzigen Bestimmungen des Parteistatuts in Kraft. Das Zentralbureau der Genossinnen bleibt bestehen. Die Vertreterin der Genossinnen wird dem Parteivorstand angegliedert. Die fünfte Frauenkonferenz zu Nürnberg 1908 war stärker besucht als je eine zuvor. 72 Delegierte, unter denen nur vereinzelte Genossen waren, nahmen teil. Wir erkannten außerdem jetzt auch die Parteitagsdelegierten als Delegierte der Frauenkonferenz an, die kein formales Mandat, sondern nur den Auftrag ihrer örtlichen Genossinnen zur Teilnahme hatten, um später Bericht erstatten zu können.
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Der Punkt der Tagesordnung: »Die sozialistische Erziehung der Jugend; die Erziehung im Hause« wurde in vorzüglichen Darlegungen von der Genossin Dunker behandelt. Der Vortrag gab so viele Anregungen, daß die Konferenz die Drucklegung beschloß, um ihn für die Agitation zu verwenden. Auch das Referat der Genossin Zetkin über die Jugendorganisation war ausgezeichnet. Wohl jeder Zuhörer ist dadurch von der Wichtigkeit der Jugendorganisation überzeugt worden. Das größte Interesse galt dann der Organisationsfrage. Die Darlegungen von Luise Zietz zu diesem Punkt der Tagesordnung waren überzeugend. Unser Organisationsvorschlag wurde angenommen und dem Parteitag überwiesen. Das Amt einer Zentralvertrauensperson war jetzt überflüssig geworden. Die Vertreterin der Frauen mußte dem Parteivorstand eingefügt werden. Ich aber hatte das Empfinden, daß mein Können für die weitere Förderung der Frauenbewegung an leitender Stelle nicht mehr ausreiche. Und so wurde denn auf meinen Vorschlag Luise Zietz in den Parteivorstand gewählt.
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Schluß Es ist in diesen Erinnerungen nur möglich gewesen, einige wenige Genossinnen, die in den vorderen Reihen in unermüdlicher Arbeit die proletarische Frauenbewegung gefördert haben, namentlich anzuführen. Aber neben diesen steht eine große Anzahl lieber, treuer Genossinnen, die zwar ungenannt, oft weiteren Kreisen unbekannt, unter schwierigen Verhältnissen tüchtige Arbeit für die Bewegung geleistet haben. Als ich im Jahre 1908 von der leitenden Stelle zurücktrat, zählten wir in Deutschland in den Staaten, in denen die Gesetze dem nicht entgegenstanden, ungefähr 11000 politisch organisierte Frauen und in 57 Orten etwa 9000 Zahlerinnen freiwilliger Parteibeiträge. Außerdem hatten wir mehr als 400 weibliche Vertrauenspersonen, denen je eine Anzahl Helferinnen zur Seite stand, mit denen sie die Agitation betrieben, Versammlungen veranstalteten, Gelder gesammelt, für die »Gleichheit« Abonnenten gewonnen haben usw. Gedenken wir auch der vielen, die in Werkstubensitzungen die Arbeiterinnen aufrüttelten, ihnen ihre Rechte und Pflichten klarzumachen suchten, ferner derer, die Lese- und Diskutierabende leiteten, die
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in einem Kreis von Frauen die Werke unserer Meister lasen und diskutierten, das sozialdemokratische Programm zu verstehen strebten, um dann ihr Wissen und Können weiteren Kreisen zugänglich zu machen! Dann ist des segensreichen Wirkens der Kinderschutzkommission zu gedenken, deren Tätigkeit gar manches Kind vor Brutalität und frühzeitiger Ausnutzung seiner Arbeitskraft geschützt hat. Eine kleine Anzahl Genossinnen wirkte in der Armenverwaltung, andere betätigten sich als Waisenpflegerinnen. Auch die Frauenbildungsvereine, die Jahre hindurch uns die politischen Vereinigungen ersetzen mußten, deren Zahl jetzt 94 mit etwa 10500 Mitgliedern betrug, haben Unschätzbares für die Aufklärung der Frauen geleistet. Erinnert sei an den Bildungsverein der Frauen und Mädchen der Arbeiterklasse Berlins, dessen geschickter Leitung es zu danken war, daß er ohne Fährnisse 25 Jahre bestehen konnte. Es wurden Vorträge über die verschiedensten Wissensgebiete gehalten, so über die Frauenfrage, die Erziehung der Kinder, Gesundheitslehre, Schulfragen, Wohnungshygiene, Wohnungseinrichtungen u. dgl. Künstler sprachen über Malerei und Bildhauerei, mit Vorführung von Werken alter und neuer Meister. Führungen durch Museen, den Botanischen Garten wurden veranstaltet, die städtischen Anstalten, z.B. das Altersheim in Buch, die Erziehungsanstalten in Groß-Beeren und
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Zehlendorf wurden besichtigt und anderes mehr. Die Märchenvorlesungen für Kinder und die musikalischen Darbietungen, wie die Feste, die der Verein bei allen sich bietenden Gelegenheiten veranstaltete, waren mustergültig. So hat dieser Berliner Verein den Frauen unendlich viel Belehrung, Gutes und Schönes fürs Leben gebracht. So wie der Berliner Verein haben wohl die meisten dieser Vereine in den Großstädten Deutschlands ihre Aufgabe zu lösen gesucht. In den kleineren Orten, in denen für vieles die belehrenden Kräfte nicht vorhanden waren, mußte man sich mit einfacheren Darbietungen begnügen. Aber auch sie haben den Zusammenhalt der Frauen ermöglicht und ihnen Belehrung geboten, sie empfänglicher für Gutes und Schönes gemacht. Vieles ist errungen worden. Der Kampf gegen reaktionäre Gesetze, für freieres Recht ist unerschrocken geführt worden. Weder behördliche Schikane noch Anklagen und Verurteilungen haben uns von dem Kampf für unser Menschenrecht abzubringen vermocht. Wir haben statt des Arbeitstages von 13, 15, ja oft mehr Stunden jetzt den Achtstundentag, um den die Kämpfe vieler Jahre geführt worden sind. Das schmachvolle preußische Vereinsgesetz, das uns Frauen auf gleiche Stufe mit Idioten und Verbrechern stellte, ist einem freieren Reichsvereinsgesetz gewi-
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chen. Das freie Wahlrecht, für das wir in jahrzehntelangem Kampfe gestanden haben, ist errungen worden, und vieles andere. Möge die jetzige Generation nun auf diesem freieren Boden den Kampf für den Sozialismus mutig und zielklar weiterführen, für den manchen Weg zu ebnen der Erfolg der vergangenen Jahre und Kämpfe war.
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