Berte Bratt
Ein tüchtiges Mädchen
In ihrem Beruf ist Gerd Elstö ein As. Als ihr Chef im Kran kenhaus liegt, schließt...
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Berte Bratt
Ein tüchtiges Mädchen
In ihrem Beruf ist Gerd Elstö ein As. Als ihr Chef im Kran kenhaus liegt, schließt sie sogar einen wichtigen Exportauftrag ohne ihn ab. Doch als sie sich verliebt, gibt es Probleme, mit denen sie nicht so schnell fertig wird.
Die Deutsche Bibliothek -CIP-Einheitsaufnahme Bratt, Berte: Sylvi macht ihr Glück / Berte Bratt. Bindlach: Loewe, 1992 ISBN 3-7855-2493-5 ISBN 3-7855-2493-5 © by Erika Klopp Verlag GmbH, Berlin für die Einzelbände „Ein tüchtiges Mädchen“, Ein ungewöhnlicher Beruf 1973, 1972 für diese Ausgabe 1992 by Loewes Verlag, Bindlach Umschlagzeichnung: Ulrike Heyne Umschlaggestaltung: Claudia Böhmer Satz: Teamsatz, Neudrossenfeld Gesamtherstellung: Svornost AG, Bratislava Printed in CSFR
1 Als die Mittagspost kam, war der Brief von der Solfoss Holzimport AG das erste, worauf Gerds Augen fielen. Endlich, endlich! Sie war so gespannt, als ob ihr selbst die Firma gehörte, die ganze Holzagentur Myrseth und Sohn. Erst gestern hatte der Seniorchef ihr wieder, und mindestens zum fünftenmal, gesagt, was es für ihn bedeuten würde, wenn die Lieferung zustande käme. Es drehte sich um ein Geschäft größeren Umfangs. Die Tausender spielten eine kleine Rolle in diesen Berechnungen. In Hamburg saß Direktor Busch und hatte sozusagen alle Hände voll Buchenholz, ganze Wälder voll Buchenholz. Und wenn Solfoss wirklich die ganze Partie abnahm, so bedeutete das einen Riesenauf schwung für die Holzagentur Myrseth und Sohn. Gerd streifte den Bürokittel ab und zog den Mantel an. Diesen Brief wollte sie nicht selbst öffnen. Allerdings war sie erst heute morgen im Krankenhaus gewesen, doch nun mußte sie eben den Weg nochmals machen, und zwar sofort. Es war aber auch alles so schwierig wie nur möglich. Zunächst brach sich der Direktor ein Bein, und der Bruch war so kompliziert, daß er wochenlang im Streckverband liegen mußte. Aber Myrseth gehörte nicht zu denen, die sich dadurch außer Gefecht setzen lassen. Er hatte ein Einzelzimmer im Krankenhaus mit Telefon auf dem Nachttisch. Jeden Tag brachte Gerd die Post, saß an seinem Bett und stenografierte abwechselnd norwegisch, deutsch und englisch. „Wenn ich Sie nicht hätte, Fräulein Elstö“, sagte Myrseth häufig. Der Direktor verlangte viel, sparte aber auch nicht mit Lob, wenn er zufrieden war, und das war meistens der Fall. Dieses Krankenlager hatte bewirkt, daß Gerd viel selbständiger arbeiten mußte, als dies bei Antritt ihrer Stellung vorausgesetzt wor den war. Den Juniorchef sah sie selten. Er war ausgebildeter Forst mann und ständig „draußen im Gelände“, wie sich der Senior ausdrückte, das heißt, er besichtigte die Holzbestände, ehe sie gefällt wurden, wenn sie noch frisch und grün in Gottes freier Natur stan den. Also blieb Gerd im Büro ohne wirkliche Hilfe, denn das kleine Fräulein Genz hatte wohl den besten Willen, aber nicht viel mehr. Unmöglich konnte man der Neunzehnjährigen eine selbständige Arbeit überlassen.
„Ich gehe zum Direktor“, erklärte Gerd. „Schreiben Sie die Tele fonanrufe auf, und sagen Sie, daß ich gegen dreizehn Uhr wieder zurück bin.“ „Ja, Fräulein Elstö.“ Fräulein Genz hatte großen Respekt vor der tüchtigen älteren Kollegin. Zwar betrug der Altersunterschied nur fünf Jahre, aber Gerd verfügte über ein solides Fachwissen, denn sie hatte, wohlaus gerüstet durch ihre Handelsschulausbildung, die Stellung bei Myr seth schon vor zwei Jahren angetreten. Gerd legte den Brief von der Solfoss Holzimport AG zusammen mit dem Stenogrammblock und der anderen eingelaufenen Post in ihre Mappe, darunter auch einen Brief aus Hamburg. Es war begreif lich, daß Busch murrte. Er hatte wochenlang warten müssen und wurde nun ungeduldig. Aber hoffentlich – hoffentlich! – lag der Entscheid jetzt in dem weißen Umschlag mit dem Firmenaufdruck „Solfoss Holzimport AG“ in der linken Ecke. Gerd ging rasch durch die Breite Straße, bog in die Lange Straße ein und stieg den Hügel hinauf zum Krankenhaus. Die Breite Straße war nicht breit und die Lange Straße nicht lang, aber nichts war breit oder lang oder groß hier in dieser kleinen südnorwegischen Stadt. Die Häuser waren klein, freundlich und weißgetüncht, mit Begonien auf den Fensterbrettern und blankgeputzten Türklinken. Der Dialekt war freundlich und weich und die Pflastersteine treuherzig gebuk kelt. Die Luft in der Stadt schmeckte nach Salz und Meer. „Sind Sie schon wieder da, Fräulein Elstö?“ fragte Schwester Mathilde. „Ich glaube, Herr Direktor Myrseth schlummert gerade ein bißchen…“ „Er wird rasch wach werden, wenn ich ihm diesen Brief vor die Augen halte“, lächelte Gerd. „Es muß schon außerordentlich wichtig sein, verstehen Sie, wenn ich eine Extratour hierherauf mache.“ Schwester Mathilde nickte. Gerd durfte zu allen Zeiten kommen, denn das kleine, idyllisch gelegene Krankenhaus war nicht mit allzu vielen Regeln und Einschränkungen belastet. Überdies war der Oberarzt ein Freund Myrseths und wußte, daß dieser in ständigem Kontakt mit seinem Geschäft stehen mußte. Myrseth blinzelte etwas verschlafen, als Gerd eintrat. „Na also, was ist denn los? Hat die kleine Genz Unterschlagun gen gemacht oder mein Sohn am Ende das ganze Värmland mit Stumpf und Stiel aufgekauft?“ „Nein, aber da ist ein Brief von Solfoss!“
„Tatsächlich?!“ Myrseth richtete sich spontan im Bett auf, so gut das ging mit seinem im Streckverband hängenden Bein, und riß den Umschlag auf. „Fräulein Elstö! Wir können einander gratulieren. Die Sache geht in Ordnung!“ „Das freut mich sehr, Herr Direktor. Herzlichen Glückwunsch.“ „Wir müssen den Vertrag mit Busch sofort aufsetzen.“ „Der ist fertig, Herr Direktor. Ich habe ihn bei mir. Es fehlt nur noch die Unterschrift.“ „Großartig! Sie sind ein tüchtiges Mädchen. Nehmen Sie jetzt ei nen Brief an Busch auf.“ „Ja. Aber erst lesen Sie vielleicht, was er schreibt. Er ist jetzt wohl ungehalten?“ Wieder wurde ein Brief geöffnet. „Ach du lieber Himmel…!“ „Was ist denn? Annulliert er etwa sein Angebot?“ „Nein, durchaus nicht. Aber – lesen Sie mal: Die Sache muß aus gesetzt werden. Nachdem er so lange gewartet hat, fliegt er nun auf sechs Wochen nach Amerika. Teufel auch…“ Gerd nahm den Brief, den Myrseth ihr reichte. Ja, da stand es schwarz auf weiß: Busch bedauerte sehr, daß das Geschäft noch nicht zustande gekommen war, denn nun mußte es auf unbestimmte Zeit verschoben werden. „Ich muß leider morgen, Donnerstag, den 9. d. M. nach Amerika fliegen.“ Myrseth ließ den Brief sinken. „Donnerstag, den neunten – heute ist Mittwoch. Selbst wenn wir den Brief mit Luftpost und Eilpost senden… halt!“ Er sah auf die Uhr. „Fräulein Elstö. Von Kristiansand geht um halb sechs ein Flug zeug. Das müssen Sie nehmen. Hoffentlich erreichen Sie den An schluß in Kopenhagen. Dann können Sie am Abend in Hamburg sein. Wenn nicht, nehmen Sie in Kopenhagen ein Taxiflugzeug. Die Adresse von Busch haben Sie ja.“ Gerd fühlte ihr Herz bis zum Halse heraufklopfen. Heute noch fliegen? In vier Stunden ins Ausland…? War der Direktor verrückt geworden? Nein, er war nicht verrückt. Gerd wußte ja, wieviel für ihn auf dem Spiel stand. Gewaltsam riß sie sich zusammen und erwiderte
ruhig: „Gut, Herr Direktor. Es ist aber wirklich sehr bedauerlich, daß der Junior nicht daheim ist, denn besser wäre es doch, wenn er…“ „Mein Sohn? Unsinn. Hätten Sie die Noten in Deutsch gesehen, die er von der Schule heimbrachte, so käme Ihnen ein solcher Ge danke nie. Schicken Sie also ein Telegramm an Busch, Fräulein Elstö, ein Blitztelegramm. Fragen Sie ihn, ob er Sie heute abend oder zeitig morgen früh empfangen kann. Setzen Sie das Telegramm auf. Ich werde eine Flugkarte bestellen und mich nach der Anschlußroute erkundigen:“ Myrseth war kein leidender Patient mehr. Er war der tüchtige Ge schäftsmann, der mit Leib und Seele in diesem größten Geschäft aufging, das er jemals für seine Firma getätigt hatte. „Der Platz ist reserviert“, erklärte er nach einem kurzen Telefon gespräch. „Zwischenlandung in Aalborg um 18.20 Uhr, in Kopenha gen 19.50 Uhr, dort drei viertel Stunden Aufenthalt. Dann Weiterflug nach Hamburg und Ankunft um 21.40 Uhr. Telegrafieren Sie an Hotel Reichshof, und bestellen Sie ein Zimmer. Sie haben doch einen Paß?“ „Ja, Herr Direktor.“ „Gut. Ich rufe die Bank an und veranlasse, daß Sie sich Reiseva luta abholen können. Ist Bargeld in der Kasse?“ „Ein paar tausend Kronen.“ „Schön. Sie bekommen Devisen in Höhe von 1500 Kronen.“ „So viel brauche ich doch nicht…“ „Kann man nie wissen. Im Geldschrank liegen übrigens auch noch dänische Kronen, etwa hundert. Die nehmen Sie ebenfalls mit. Das Telegramm an Busch schicken wir gleich ab. Machen Sie das, Sie sprechen besser Deutsch als ich.“ Der Direktor imponierte Gerd. Er dachte wirklich an alles. Lag hier in seinem Krankenhausbett und organisierte, daß es eine Freude war. „Und dann noch ein Telegramm an meinen Sohn. Er soll sofort heimkommen, auch wenn er die Wälder und Mädchen in Värmland noch so verlockend findet.“ „Jawohl.“ Gerd notierte. „Und jetzt auf den Weg mit Ihnen! Zur Bank und heim und die Zahnbürste in den Koffer geworfen. Sie können doch wohl in einer halben Stunde packen?“ „Doch, ja.“
„Und dann wieder ins Büro. Wenn innerhalb einer Stunde keine Antwort von Busch vorliegt, melden Sie ein Ferngespräch an ihn an. Klar?“ „Vollkommen klar.“ „Schön. Sie brauchen nicht noch einmal herzukommen. Sollten noch Fragen vorliegen, telefonieren Sie. Schlimmstenfalls kann wohl das kleine Intelli-Genzchen einen Bescheid entgegennehmen.“ Gerd lächelte. Nach den ersten Schnitzern des Fräulein Genz hat te der Direktor sie auf den Namen Intelli-Genzchen getauft, aber das war ein Geheimnis zwischen ihm und Gerd. „Auf Wiedersehen, Herr Direktor. Nach Unterzeichnung telegra fiere ich sofort.“ „Zuvor bringen Sie aber möglichst viel ins reine betreffs Liefer zeit und Lieferart. Sie sind ja über die Sache wie die Transportmög lichkeiten informiert, und…“ „Gewiß. Wir haben ja Erfahrungen, auf die wir zurückgreifen können.“ „Sie sind ein tüchtiges Mädel. Wenn Sie das gut hinkriegen, sol len Sie wahrhaftig Gehaltszulage bekommen. Lieber Himmel, ja, was hätte ich wohl ohne Sie getan!“
2 Gerd saß in einem Taxi, das sie nach Kristiansand brachte. Zur Seite ihren Koffer, den sie in aller Hast gepackt hatte, und auf dem Schoß die kostbare Aktentasche. Die wollte sie nicht aus der Hand geben, nicht einen einzigen Augenblick. Sie enthielt nämlich den Vertrag, unterzeichnet mit „K. Myrseth“ in des Direktors kräftiger Steilschrift und mit Platz für den so unendlich wichtigen Namen, der morgen darauf gesetzt werden sollte. Sie dachte daran, daß für diesen Na menszug 1400 Kronen für eine Flugreise aufgewandt werden muß ten. Bloß für diese sieben Buchstaben F. J. Busch, zweihundert Kronen für jeden Buchstaben! In der Mappe lag außerdem noch das Telegramm, das nach einer guten Stunde eingetroffen war: „Erwarte Ihren Bevollmächtigten morgen um neun Uhr. Busch.“ Ihren „Bevollmächtigten“! Gerd fühlte sich unwillkürlich von Stolz erfüllt. Vor zwei Jahren war sie als Kontoristin eingestellt und wurde drei Monate später schon zur Sekretärin befördert. Jetzt war sie gleichzeitig Sekretärin und Auslandskorrespondentin. Und wenn sie heimkam, erwartete sie eine Gehaltsaufbesserung! Aber Gerd war nicht ohne ihr Zutun zu ihren Erfolgen gekom men. Sie war fleißig wie eine Biene gewesen. Sie hatte sich ange strengt, zielbewußt und zäh, zuerst im Gymnasium, dann auf der Handelsschule. Und sie hatte das ganze Jahr über gespart, um im Sommer ins Ausland reisen zu können. Sie wollte die erlernten Spra chen hören, mit den Landesbewohnern sprechen, wollte mehr lernen als nur die trockene Handelskorrespondenz. Und sie hatte gelernt. Sie hielt Augen und Ohren offen, war jung und aufnahmefähig. Was sie lernte, blieb auch sitzen. Und dann kam – ja, dann kam die Zeit, an die sie am liebsten nicht denken wollte, die herrliche Zeit in Oslo. Diese herrliche Zeit, die ein so schreckliches Ende nahm… Damals trat sie bei Myrseth und Sohn ein. In einer Panikstim mung hatte sie eine Stellung gesucht, bloß um von Oslo wegzukom men. Es bedeutete in all ihrer Verzweiflung eine gewisse Erleichterung, als sie ihre Sachen packen, in die kleine Küstenstadt fahren und ihr Dasein neu aufbauen konnte. Aufbauen auf den Rui nen.
Die ersten Häuser von Kristiansand tauchten auf. Bald hatte sie die Stadt hinter sich, und das Taxi hielt vor der Rückseite des niedri gen weißen Holzgebäudes am Flughafen. Wenig später hatte sie Zoll und Paßkontrolle erledigt, und es wurde gemeldet, daß das Flugzeug aus Stavanger gleich landen wür de. Jetzt wurde es Ernst. Vor zehn Stunden, als sie heute morgen er wachte, hatte sie keine Ahnung, daß dieser Tag ihr etwas Außerge wöhnliches bringen würde, und nun stand sie hier, sozusagen schon mit einem Bein im Ausland. Wenige Minuten später saß Gerd im Flugzeug, und die Leucht schrift „Nicht rauchen“ und „Bitte festschnallen“ flammte auf. Es gab nicht viele Fluggäste. Der Sitz neben ihr war leer; auf der anderen Seite des Ganges saß ein Mann und las Zeitung. Hinter ihr fummelte jemand mit dem Sicherheitsgurt. Vor ihr hatte eine Mutter Platz gefunden, die sich anstrengte, die wißbegierigen Fragen eines jungen Mannes von sechs Jahren zu beantworten. Dann rollte das Flugzeug über die Startbahn und löste sich nach einigen Sekunden vom Boden. „Jetzt fliegen wir, Mutti!“ Die schrille Kinderstimme durchdrang den Düsenlärm. Gerd wandte lächelnd den Kopf. Dasselbe tat der Mann auf der anderen Seite des Ganges. Blicke und Lächeln begegneten einander, worauf der Mann wieder hinter seiner Zeitung verschwand. Die Leuchtbuchstaben „Nicht rauchen“ erloschen, und Gerd holte eine Zigarette hervor, suchte nach Streichhölzern. Herrje, wo hatte sie die denn nur…? Ein Feuerzeug wurde ihr entgegengehalten. „Tausend Dank!“ Wieder ein Lächeln. Jetzt, da das fremde Gesicht so nahe war, bemerkte Gerd, daß seine Augen außergewöhnlich blau, fast auf dringlich blau waren. Mit halbgeschlossenen Augen lehnte sie sich zurück. Draußen war wenig oder nichts zu sehen. Die Wolkendecke, die sie durchflo gen, hing tief. Gerd hatte vergessen, sich etwas Lektüre mitzunehmen. Die Ste wardeß brachte Zeitungen und Illustrierte. Gerd nahm eine Tageszei tung, aber sie blieb ungelesen in ihrem Schoß liegen. Unablässig beschäftigten sich ihre Gedanken mit dem, woran sie lieber nicht
denken wollte, was aber plötzlich so nahe und lebendig wurde in dieser Umgebung: Ihre letzte Flugreise hatte sie auch nach Kopenhagen geführt. Das war jetzt über zwei Jahre her. Sie hatte daheim bei Mammi gesessen. Servietten gezeichnet und Handtücher gesäumt. Ein goldener Ring steckte an ihrem linken Ringfinger, und sie war so glücklich gewesen, so überglücklich! Jeden Abend kam Trygve. Manchmal gingen sie zusammen aus oder blieben auch zu Hause. Trygve plauderte, machte Pläne und bewunderte die Aussteuer, die unter Gerds fleißigen Händen wuchs. Fast immer brachte er etwas für sie mit, ja, und auch für Mammi: Schokolade, Blumen, ein neues Buch. Niemand konnte so lächeln und munter sein wie Trygve. Niemand war so sprühend schlagfertig, und niemand strahlte so einen Optimismus aus wie er. Dann fuhr Trygve auf eine Geschäftsreise nach Kopenhagen. Jeden Tag kam ein Brief an Gerd, ein Brief voller Sehnsucht und Lie be. „Trygve ist wirklich einmalig“ sagte Mammi. „So viele Briefe habe ich in meiner Verlobungszeit nicht bekommen.“ „Du weißt ja, wie leicht Trygve das Schreiben fällt“, erklärte Gerd. In ihrem Ton lag eine Verteidigung des Vaters, der nicht so häu fig geschrieben hatte. Mammi hatte gelacht. „Glaube nur nicht, daß ich mich beklage, Liebes. Vater hielt nichts von vielen Worten, weder von gesprochenen noch geschriebe nen. Seine Taten sprachen für ihn.“ Ja, das wußte Gerd. Sie wußte, wie der Vater geschuftet hatte, um Frau und Kindern eine gute und sichere Existenz zu schaffen. Nein, er war kein Mann von vielen Worten. Als er starb und Gerd fünf zehn, Solveig siebzehn Jahre alt war, da zeigte es sich, daß Ihre Zu kunft gesichert war. Vater hatte eine Versicherung für ihre Ausbildung abgeschlossen sowie eine erhebliche Lebensversicherung, die Mammi ausbezahlt bekam. Vaters Vorsorge ermöglichte es, daß Solveig in Drontheim Architektur studieren und Gerd sowohl das Gymnasium als auch die Handelsschule besuchen konnte, und es reichte auch für den Aufent halt in England und Deutschland. Der gute, vorsorgliche Vater! So schweigsam, so bescheiden und so erfüllt von Liebe für Frau und Kinder.
Gerds Gedanken waren dieselben Wege gegangen wie die ihrer Mutter. Diese nickte, wie um das Gespräch abzuschließen. „Ja, Gerd, ihr hattet einen guten Vater.“ Aber Trygve war so strahlend, so lebhaft, und seine Briefe waren so wundervoll… Gerds Gesicht überflog ein Schatten, als sie so in dem bequemen Sessel des Flugzeuges lehnte. Die Erinnerungen an jenen Abend stürmten auf sie ein. Ach, diese Briefe von Trygve! Die wärmsten, liebevollsten Brie fe, die sie je bekommen hatte! „Ich sehne mich so unsagbar nach Dir, kleine Miez, mein Hä schen, mein eigenes kleines Mädel. Ich habe tatsächlich keine Lust, in dieser schönen Stadt irgendwohin zu gehen. Ich lasse Tivoli lie gen, wo es liegt, und die Theater stehen, wo sie stehen. Es ist gerade so, als müsse ich alles aufsparen, bis ich es gemeinsam mit Dir erle be. Mein kleiner Schatz, meine Gedanken sind ständig bei Dir, die Zeit schleicht im Schneckentempo dahin. Ich zähle die Tage, ich zähle die Stunden, und es scheint mir eine Ewigkeit bis zu unserem Wiedersehen. Leider werde ich mit meinen blöden Besprechungen nicht vor Mitte nächster Woche fertig. Die Vormittage gehen ja noch, da habe ich genug zu tun, aber die Abende sind lang, und mir graut vor dem Sonntag. Denk mal, wie gut Du und Ich einen langen, herrlichen Sonntag in Kopenhagen ausnützen könnten…“ Da kam Gerd eine Idee: Hatte Sie nicht gerade eine Anzeige ge lesen, die billige Hin- und Rückflüge nach Kopenhagen anbot? Hielt man sich nicht länger als siebzehn Tage im Ausland auf, konnte man die Fahrkarte zu einem ermäßigten Preis bekommen, erheblich er mäßigt sogar. Mammi hatte gelächelt. „Du bist ein leichtsinniges Ding, Gerd. Aber es ist ja dein eigenes Geld, und ich verstehe dich natürlich.“ Am Sonntag morgen saß Gerd klopfenden Herzens im Flugzeug, das Kurs auf Kopenhagen nahm. Ach, wie sie sich freute, wie sehr sie sich freute! Was Trygve wohl für Augen machen würde?! Wenn es ihm so vor einem langen, langweiligen Sonntag graute und nun plötzlich „sein Häschen“ über raschend auftauchte!
Jetzt nur noch eine Stunde, nun nur eine halbe. Und – da lag Ko penhagen unter ihr in glitzernder Sonne! „Bitte festschnallen, nicht rauchen!“ Mit zitternden Händen befestigte Gerd den Gurt. Dalag der Flug platz. Nun gingen sie hinunter in einer eleganten Kurve. Nein, wie komisch, der ganze Flugplatz erhob sich und stand plötzlich schräg. Aber nun richtete er sich wieder auf, und sie rollten über die glatte Zementbahn. Sie nahm sich keine Zeit, auf den Bus zu warten. Sie sprang in ein Taxi und fuhr direkt zum Hotel. Es mußte rasch, sehr rasch ge hen, sie mußte möglichst schnell hinkommen, bevor Trygve ausging. Genau um zehn Uhrstand ein junges Mädchen mit glänzenden Augen und roten Wangen an dem Office des großen Hotels. „Der Abteilungsleiter Brink Larsen aus Oslo? Wir werden nach sehen. Trygve Brink Larsen aus Oslo?“ Gerd nickte eifrig. „Jawohl, wohnen hier, aber weder der Herr Abteilungsleiter noch seine Gattin sind bisher heruntergekommen.“ Gerd öffnete den Mund, aber es kam kein Laut. Ihre Stimme ver sagte plötzlich. Der Portier, ein rundlicher, gemütlicher Kopenhagener, plauderte indessen weiter: „Sie verstehen, Samstagabend wird es leicht etwas spät in unserem munteren Kopenhagen, nicht wahr? Feuerwerk im Tivoli und so weiter.“ Jetzt hörte Gerd sich selbst etwas sagen, mit einer dünnen frem den Stimme. „Gewiß, ich habe nur einen Auftrag für sie, ich meine – für Frau Larsen. Aber ich möchte nicht stören. Es ist ja noch früh.“ „Soll ich vielleicht hinauftelefonieren?“ „Nein, ach nein! Ich möchte nicht stören. Ich kann etwas war ten.“ „Vielleicht nimmt das gnädige Fräulein solange eine Tasse Kaf fee im Speisesaal? Oder in der Halle?“ Kaffee? Jetzt Kaffee? Und essen? Gerd wandte sich steif ab und peilte einen Stuhl in der Halle an. Wie eine aufgezogene Puppe ging sie auf ihn zu und setzte sich. Sie hörte sich selbst Kaffee bestellen und ein Päckchen Zigaretten. Ob die Dame etwas zu speisen wünsche? Nein, danke. Bloß Kaffee. Von ihrem Platz aus konnte sie die Treppe sehen. Dort waren ih re Augen über die Kaffeetasse hinweg wie festgeklebt. Sie wußte nicht, wie lange sie so dagesessen hatte. Es war, als habe sie einen betäubenden Schlag auf den Kopf gekommen. Es
konnte nicht wahr sein. Sie träumte, träumte schrecklich lebendig. Es war gerade, als säße sie in einer Kopenhagener Hotelhalle und tränke Kaffee, und jemand hatte gesagt, daß Trygve hier mit seiner Frau wohne. Seiner Frau! Was man doch für Unsinn träumen konnte! Wenn sie nur bald aus diesem schrecklichen Traum erwachen wür de! Jemand kam die Treppe herunter. Eine Stimme sagte etwas auf englisch, gab Bescheid über ein Gepäckstück. Ein Mann erschien mit einem Koffer, einem großen Koffer mit vielen Hotelzetteln. Ein Telefon klingelte. Ein Kellner ging durch die Halle. Eine Drehtür kam in Bewegung. Gerd sah dies alles. Und da wußte sie, daß es Wirklichkeit war und kein Traum. Ein paar rassige Beine auf der Treppe – eine schlanke junge Da me in einem blauen Kostüm. Rasche Schritte auf hohen Absätzen. Eine Stimme an dem Office beim Portier. „Glauben Sie, daß Sie uns für heute abend noch Karten fürs kö nigliche Theater verschaffen können?“ „Ich werde gleich anrufen, gnädige Frau.“ „Danke. Sie wissen ja den Namen: Brink Larsen.“ Gerds Herz setzte für einige Schläge aus. „Gewiß, gnädige Frau. Und es ist nach Ihnen gefragt worden. Da sitzt eine junge Dame, die auf Sie wartet.“ „Auf mich?“ Die Dame im blauen Kostüm wandte sich unsicher um. Im selben Augenblick erklangen erneut Schritte auf der Treppe. Gerd stand auf. Und da fing sie seinen Blick. Erblieb auf der untersten Stufe stehen. Soeben war sein Gesicht noch bleich gewesen, nun schoß die Röte in dunklen Wellen bis zu den Schläfen empor. „Du – bist du…“ Gerd blieb stehen. Sie stützte sich auf den Tischrand. Er kam ganz zu ihr hin und sprach leise. „Ich – laß mich nachher erklären…“ „Du bist also verheiratet“, sagte Gerd, und ihre Stimme war ein sonderbares trockenes Flüstern. „Nein. Nein, Gerd, das bin ich nicht.“ „Nicht? Nun gut.“
Die andere stand einige Schritte entfernt und sah unentschlossen herüber. Plötzlich warf sie den Kopf zurück und trat auf Gerd und Trygve zu. „Nun, Liebling? Eine geschäftliche Besprechung so früh am Morgen? Störe ich etwa?“ Gerd drehte sich zu ihr herum. Sie fühlte weder Haß noch Wut gegen diese Frau. Es war ein hübsches, fesches dänisches Mädchen, schick gekleidet, mit einem gepflegten, hübschen kleinen Gesicht. „Nein“, erwiderte Gerd, „ich muß wegen der Störung um Ver zeihung bitten.“ „Aber meine Liebe…“ „Doch. Ich werde Ihren Gatten nicht länger aufhalten, Frau Brink Larsen.“ „Aber meine Beste, sprechen Sie doch weiter, bis Sie fertig sind.“ „Wir sind fertig. Ganz fertig.“ Gerd wandte sich ab. Ihre Augen fanden mechanisch die Aus gangstür. Sie schritt auf sie zu und hindurch, und sie tat es korrekt und vernünftig, ohne zu schwanken, ging zu einem Taxi und hörte sich sagen: „Zum Flughafen.“ Um die Mittagszeit war sie daheim bei Mammi. Gerd öffnete die Augen. Es stand jemand vor ihr. Die Stewardeß, in jeder Hand ein Tablett mit Kaffee, lächelte: „Verzeihen Sie. Habe ich Sie geweckt?“ Gerd nahm das Tablett entgegen. „Ach nein, ich döste bloß ein bißchen mit geschlossenen Augen. Tausend Dank, das wird wunderbar schmecken.“ Es schmeckte wirklich wunderbar. In diesem Augenblick fiel Gerd ein, daß sie nicht zu Mittag gegessen hatte. Es war aber eine derartige Hetze gewesen zwischen Büro, Wohnung, der Bank und dem Krankenhaus, daß sie für etwas so Nebensächliches wie Essen keinen Gedanken gehabt hatte. Die delikaten belegten Brötchen waren schnell verzehrt. Gerd richtete sich auf und hielt Umschau. Unter ihr lag eine Schneeland schaft von Wolken, über ihr strahlte die Sonne aus einem klaren blauen Himmel. Der Mann auf der anderen Seite des Ganges drehte den Kopf und sah sie an. Er lächelte. Die Sonne glitzerte im Haar des jungen Mäd chens. Sie wandte sich ihm zu, und ihre Blicke trafen sich erneut.
Der Mann ergriff seine Kaffeetasse, und seine Hand suchte auf der Untertasse nach dem Zucker. Es war keiner da. Er hatte ihn be reits für die erste Tasse verbraucht. Ein kleines Päckchen mit zwei Stücken wurde ihm über den Gang hinübergereicht. „Bitte.“ Er vertauschte seinen Fensterplatz mit einem Sitz in der Nähe von Gerds Platz. „Vielen Dank. Können Sie denn den Zucker entbehren?“ „Ich nehme keinen Zucker.“ „Und ich nehme so eine Menge!“ Er sah beinahe schuldbewußt aus. Er rührte den Zucker im Kaffee um und lächelte Gerd wieder zu. „Sehen Sie nur, wie schön die Sonne scheint.“ „Ja. Es fragt sich nur, wie es unterhalb dieser Milchsuppe aus sieht.“ Gerd deutete auf die dichte wollige Wölkendecke. „Na wennschon. Vorläufig haben wir es hier oben fein. Wie heißt es doch: ,Über den Wolken ist der Himmel immer blau?’ Das können wir nun feststellen.“ „Ja, es ist gut, den sichtbaren Beweis dafür zu erleben.“ – Gerd war sich nicht bewußt, daß in ihrer Stimme ein kleiner bitterer Unter ton mitschwang. Es waren die Erinnerungen, die bösen Erinnerun gen, die sie noch nicht losließen. „Ja? Brauchen Sie Beweise dafür? Um von einem aufs andere zu kommen: Mögen Sie Hefegebäck?“ „Was für eine Frage! Klar tu’ ich das.“ „Also nehmen Sie bitte meines. Ich bin übersatt.“ „Und ich immer noch hungrig. Vielen Dank.“ Gerd hatte im Nu ihre Portion verspeist, die zwei belegten Bröt chen und das Stück Gebäck. Das zweite war nun sehr willkommen. „Ich kam nämlich nicht dazu, Mittag zu essen“, erklärte sie ent schuldigend. „Ich mußte mich in so großer Eile fertigmachen.“ „Ach so. Wollen Sie nach Kopenhagen?“ „Noch weiter. Nach Hamburg.“ „Da haben Sie noch eine dreiviertel Stunde Aufenthalt in Kopen hagen. In der Zeit können Sie eine ganze Menge vertilgen. Es gibt ein sehr gutes Essen dort im Flughafenrestaurant.“ „Daran zweifle ich nicht.“ „Waren Sie nie zuvor dort?“ „In Kastrup? Doch, aber nicht im Restaurant.“ „Wenn Sie einen ortskundigen Führer brauchen sollten…“
Gerd lachte. „Wir wollen sehen. Hoppla! Jetzt müssen wir uns festschnallen.“ Das Flugzeug tauchte in das Nebelmeer hinab, kam durch den Wolkengürtel und rollte dann vor dem Flughafengebäude in Aalborg glatt und elegant aus. Es war kühles, feuchtes Wetter, und die Wol ken hingen wie ein Trauertuch über dem Flugplatz. Gerd stand vor ihrem netten Reisegefährten bei der Paßkontrolle und hörte seine Stimme dicht an ihrem Ohr. „Aha! Jetzt weiß ich also, wie Sie heißen. Sie waren nämlich so liebenswürdig, mir Ihren Paß direkt vor die Nase zu halten. Aber bitte, ich werde mich revanchieren.“ „Helge Jerven. Geboren 29. Juni 1942. Schiffsoffizier.“ Sie saßen nebeneinander und warteten in der kleinen Halle, wäh rend Passagiere von Aalborg zur Fahrkartenkontrolle schritten. Sie hatten 20 Minuten Aufenthalt. „Wie lange das dauert“, sagte Gerd. „Wir sollten doch schon vor fünf Minuten abgeflogen sein.“ Als Antwort dröhnte eine Stimme aus dem Lautsprecher: „Flug zeug nach Kopenhagen, planmäßiger Abflug 18.40, startet erst um 19 Uhr. Grund der Verspätung: schlechte Wetterverhältnisse in Ko penhagen.“ „Ach, zum Kuckuck!“ sagte Gerd und holte den Flugplan aus ih rer Aktenmappe. „Darf ich auch mal hineinschauen?“ Helge Jerven beugte sich über ihre Schulter. „Nun, wir schaffen es trotzdem ganz gut. Das heißt…“ „Ja, aber ich muß unbedingt das Hamburgflugzeug erreichen!“ „Ich auch. Aber das geht ja erst um 20.35 Uhr. Wir brauchen nur knapp eine Stunde nach Kopenhagen. Aber das geplante Essen im Flughafenrestaurant müssen wir schon aufgeben. Sollen wir hinein gehen und sehen, was Aalborg zu bieten hat außer Aquavit?“ „Den trinke ich nicht.“ „Ich auch nicht. Offen gestanden weiß ich nicht viel mehr von Aalborg, als daß hier die Aquavitquelle sprudelt.“ Im Restaurant bekamen sie eine Schinkenomelette und Obst. Gerd beruhigte sich nun, da sie wußte, die Zeit würde ausreichen. Es summte im Lautsprecher. Sie hörten auf zu essen und lauschten. „Wir bedauern, den Start nach Kopenhagen um eine weitere hal be Stunde verschieben zu müssen. Es ist Nebel in Kopenhagen, die
Wettervorhersage ist aber gut, und wir erwarten, daß der Nebel sich bald hebt.“ „Mein Gott“, flüsterte Gerd verstört. „Immer mit der Ruhe!“ beruhigte Helge Jerven. „Ich werde mich gleich mal erkundigen.“ Nach einigen Minuten kam er lächelnd zurück. „Keinerlei Gefahr. Das Hamburgflugzeug steht in Stockholm und wartet auf Aufklärung über Kopenhagen. Es wird also nicht vor uns dort sein. Allerdings kann es spät werden.“ „Macht nichts. Wenn ich nur das Flugzeug erwische und morgen früh zeitig in Hamburg bin.“ „Da haben Sie ja genügend Spielraum. Was sollen wir jetzt tun? Noch etwas essen? Kaffee trinken?“ Sie tranken Kaffee und plauderten. Jerven sollte drei Tage in Hamburg bleiben, dann nach Kiel wei terfahren und dort an Bord eines neuen Schiffes gehen, eines Zwei tausendtonnenfrachters. Und Gerd erzählte, daß sie zu einer geschäftlichen Besprechung nach Hamburg reise, aber mehr sagte sie nicht. Es ging weder Helge Jerven noch sonst jemand etwas an, daß es sich um ein Geschäft von mehreren hunderttausend Kronen drehte. Der kurze Name unter dem Vertrag sollte eine neue Ära für Myr seth und Sohn einleiten und damit auch für Gerd. Das Gespräch mit Helge Jerven wurde etwas sprunghaft, weil sie beide ihr Augenmerk auf die Uhr richteten. Auch um sie herum herrschte Unruhe. Die Leute waren sichtlich nervös. Ein Passagier wollte ein Ferngespräch haben, ein anderer ein Telegramm senden, ein dritter studierte in einem Fahrplan, ob vielleicht der Nachtzug -. Ein Mann aus Aalborg sammelte resolut seine Gepäckstücke zu sammen und nahm sich ein Taxi, um das Nachtschiff nach Kopenha gen zu erreichen. „Da weiß ich wenigstens, daß ich ankomme“, sagte er. Jedesmal, wenn sich ein Flugplatzangestellter zeigte, prasselten von allen Seiten Fragen. Sie wurden mit gleichbleibender Freund lichkeit und mit Optimismus beantwortet. Alle waren höflich, hilfs bereit, liebenswürdig, aber eins konnten sie nicht ändern, weder mit Liebenswürdigkeit noch mit Radar, weder mit gutem Willen noch mit Pferdestärken: das Wetter. Der Chefpilot hatte sich nur kurz im Restaurant blicken lassen. Gerd hörte Bruchstücke eines Gespräches, das er mit einer Stewar
deß führte: „Ich werde noch mal anrufen, aber ich glaube nicht dar an. Um 21 Uhr wollen wir Kaffee servieren.“ Dann nichts mehr. Gerd wartete auf neuen Bescheid aus dem Lautsprecher. Helge Jerven saß zurückgelehnt und rauchte eine Ziga rette. Endlich kam wieder eine Ansage: „Wir bedauern, mitteilen zu müssen, daß der Start infolge des anhaltenden Nebels um eine weite re Stunde verschoben werden muß. Für die Fluggäste wird im Re staurant Kaffee serviert.“ Helge Jerven sah sie teilnahmsvoll an. Er machte sich vielleicht seine eigenen Gedanken. Wenn ein hübsches junges Mädchen so offensichtlich verzweifelt über eine Reiseverzögerung ist, kann es sich nicht nur um trockene Geschäfte handeln. Aber natürlich sagte er nichts. Es wurde neun, und es wurde halb zehn, halb elf. Gerd hatte sich nach einer anderen Verbindung erkundigt und mußte erfahren, daß heute abend nichts mehr zu machen sei. Das Hamburgflugzeug war schließlich von Stockholm ohne Zwischenlandung abgeflogen und schon längst am Ziel. Gerd war nahe daran loszuheulen. „Aber morgen ganz früh startet ja wieder ein Flugzeug“, tröstete der Chefpilot. Gerd blätterte fieberhaft im Flugplan. Das erste Flugzeug verließ um 9 Uhr früh Kopenhagen und war vor 10 Uhr nicht in Hamburg. Aber wenn sie an Busch telegrafierte, daß sie hier im Nebel festsaß? Halt – was hatte Myrseth gesagt? „Nehmen Sie ein Taxiflug zeug?“ Sie fragte den Piloten danach. Ob er glaube - ? Doch ja, meinte er, das könne schon gehen. Er wolle gern An weisung nach Kopenhagen durchgeben, daß man dort ein Taxiflug zeug bereitstellen solle. Natürlich würde das teuer sein. „Macht nichts“, sagte Gerd. „Ich bezahle jeden Preis.“ Sie wurde nun ruhiger. Einmal im Laufe der Nacht oder in den zeitigen Morgenstunden würden sie ja wohl in Kopenhagen landen. Es war herrlich zu wissen, daß dort ein leichter, rascher Silbervogel bereitstehen würde, sie über die Grenze zu fliegen, um sie an einem Ort niederzusetzen, von dem aus sie in wenigen Minuten Taxifahrt zu dem Büro gelangen könnte, in dem sie um 9 Uhr sein mußte, absolut sein mußte!
Helge Jerven holte aus einem Lederetui ein Taschenschachspiel hervor. Spielte Fräulein Elstö Schach? „Na ja – so zum Hausgebrauch.“ „Also kommen Sie, spielen wir“, beschloß Jerven. „Sie müssen etwas zur Gedankenablenkung haben, sonst zerspringen Sie noch vor Nervosität.“ Gerd versuchte sich zu konzentrieren, aber leicht war das nicht. Der Lautsprecher hatte mit seinen Bekanntmachungen zwar Schluß gemacht, aber nun war der Chefpilot nicht mehr eine ferne unifor mierte Gestalt, von den Passagieren getrennt durch zwei Schilder: „Crew only“ und „Eintritt verboten“, nein, er war ein netter, hilfsbe reiter Mensch, wie er so unter den Fahrgästen herumging und mit unveränderlicher Freundlichkeit Fragen beantwortete. Was gesagt werden mußte, wurde nun nicht kühl und unpersönlich bekanntgege ben, sondern direkt, persönlich und ansprechend. Jetzt tauchte er erneut in der Tür zum Restaurant auf. „Wir haben Starterlaubnis bekommen“, verkündete er. „Das Wet ter ist zwar nicht besonders gut, aber in Kopenhagen erwartet man jeden Augenblick so viel Aufklärung, daß wir landen können.“ Ach, wie dieser Bescheid half! Es wurde wieder gelächelt, und die müden, verdrückten Gestalten erhoben sich hastig. Der kleine sechsjährige Junge war eingeschlafen. Helge Jerven hob ihn behutsam empor, trug ihn über den Platz ins Flugzeug und setzte ihn in einen Sessel, ohne daß der Junge erwachte. Gerd lächel te. Sie griff ihr richtig ans Herz, diese zärtliche Behutsamkeit einem fremden Kinde gegenüber. Helge nahm ganz selbstverständlich den freien Sitz neben Gerds Fensterplatz ein. Die Nacht war dunkel, die Luft klamm und neblig, aber es war herrlich, das zuverlässige Geräusch der Triebwerke wieder zu hören, zu merken, wie sich die Fahrt über der Startbahn beschleunigte, die Lichter Aalborgs verschwinden zu sehen und zu wissen, daß sie nun bald, bald in Kopenhagen sein würden. Und konnten sie dort landen, dann war auch der Start des Taxi flugzeugs gesichert. „Ich würde mich ja gern an Ihrem Taxiflugzeug beteiligen“, meinte Jerven. „aber das kann ich mir nicht leisten.“ „Können Sie Ihren Flug bis Hamburg nicht ersetzt bekommen?“ schlug Gerd vor. „Dann fliegen Sie im Taxiflugzeug mit und bezah len nur, was ein gewöhnlicher Flug kostet. Das ist ja auch eine Hilfe
für mich, denn sonst muß ich die vollen Kosten allein tragen. Der Preis ist sicher derselbe, ob nun ein oder zwei Passagiere fliegen.“ „Klar, daß ich das gerne will“, stimmte Jerven erfreut zu. „Tau send Dank!“ Das Flugzeug brummte indessen davon, durch Nacht und Nebel. Nach einer Weile kam die jetzt wohlbekannte Stimme im Laut sprecher: „Wir sind über Kopenhagen, müssen aber eine Weile krei sen und Order vom Boden abwarten.“ Die Passagiere wandten sich an die Stewardessen: „Werden wir landen können?“ „Das wissen wir noch nicht.“ Du lieber Himmel! Wieder Ungewißheit, wieder Angst! Die Minuten vergingen, Gerd war still. Helge Jerven sah sie von der Seite an. Das kleine Gesicht war so blaß, die Augen starrten unausgesetzt ins Dunkle. Vor ihnen schlief der kleine Junge, und die Mutter hatte ebenfalls den Kopf zurückgelehnt. Die Plätze hinter ihnen waren unbesetzt, seitwärts klafften auch zwei leere Sitze. Jerven hatte das sonderbare Gefühl, in einem dunklen, leeren Raum allein mit diesem jungen Mädchen zu sein. Es ergab sich ganz natürlich, daß er seine Hand auf die ihre legte und fragte: „Ist Ihnen bange?“ Seine Stimme war leise und voller Güte. Sie wandte den Kopf und schenkte ihm ein angestrengtes kleines Lächeln. „Sehe ich denn so aus?“ „Ja, als sei Ihnen zum Bewußtsein gekommen, daß wir wie ein Pünktchen in der Luft schweben und nicht wissen, was aus uns wird.“ Gerd nickte. „Und wenn was passieren würde, so könnten wir nicht hinuntergehen.“ „Sie haben also doch Angst?“ Eine feine Röte stieg in ihre Wangen. „Lachen Sie nicht über mich, aber ich habe wirklich ein bißchen Angst. Nein, eigentlich nicht Angst – aber – “ „Ich verstehe. Und ich lache auch nicht über Sie – “ Der Druck seiner Hand wurde fester und nun auch erwidert. Er blickte in das Gesicht unter dem hellen Haar. Es war so klein, schmal und blaß.
Wie allein waren sie. So allein, daß es ganz selbstverständlich und natürlich war, daß er seinen Arm unter ihren Nacken schob. „So – lehnen Sie sich zurück, und entspannen Sie sich.“ Es tat gut, sich an den sicheren Arm zu drücken. Das unheimliche Gefühl verging, und Gerd lächelte. „Jetzt geht’s mir wieder besser. Nein, wie dumm ich doch war!“ „Durchaus nicht!“ Nach etwa 20 spannenden Minuten kam endlich ein Bescheid im Lautsprecher: „Leider ist es unmöglich zu landen. Kastrup ist völlig vernebelt. Wir müssen nach Aalborg zurückfliegen.“ „Ach nein!“ brach es aus Gerd heraus. Sie sah die Stewardeß fle hend an, die gerade vorbeiging. Die Stewardeß hob bedauernd die Schultern. Dann ging sie wei ter. Gerd sah Helge Jerven mit erschrockenen Augen an. „Ist das denn so katastrophal für Sie?“ erkundigte er sich. „Ach, Sie wissen ja nicht! Sie wissen nicht, was davon abhängt! Diese ganze Flugtour ist vergebens, die ganze Reise. Ich muß, muß in Hamburg sein, morgen früh um neun Uhr!“ „Vielleicht können wir morgen ganz frühzeitig starten, und ist Kastrup erst wieder nebelfrei, können Sie sicher ein Taxiflugzeug bekommen.“ Gerd biß sich in die Lippen. Die Triebwerke sangen ihre gleich mäßig dunkle Melodie und trugen die Maschine nordwärts in die pechschwarze Nacht.
3 Gerd warf sich im Bett herum. Sie konnte nicht schlafen. „Start morgen früh, 8 Uhr“, hatte der Chefpilot gesagt. Bis zu dieser Zeit mußte sich doch der Nebel über Kastrup gelichtet haben! Dann wurden die Passagiere nach Aalborg gefahren und auf zwei Hotels verteilt, und Gerd lag nun in dem fremden Hotelbett, in einer fremden Stadt, jetzt, wo sie doch im Hotel Reichshof in Hamburg hätte sein sollen. Jetzt, wo es nur noch ein paar Stunden waren, bis Busch sie erwartete, sie und den Vertrag, diesen unerhört wichtigen Vertrag. Was nun? Er flog nach Amerika, und dorthin mußte man ihm das Schriftstück nachsenden, sobald man die Adresse wußte. Dabei gingen kostbare Tage verloren. Vielleicht würde „Solfoss Holzimport“ es sich inzwischen anders überlegen. Was half es Gerd, daß die Fluggesellschaft ein großartiges Essen bot, was half es, daß sie im Hotel wohnte, ohne daß es sie eine Öre kostete, was half alle tröstende Liebenswürdigkeit? Auch daß Helge Jerven ihre Hand beim Gutenachtsagen so fest gedrückt hatte und seine blauen Augen dabei so warm und intensiv in die ihren blickten, konnte ihr nicht helfen. Helge Jerven… Er war anders als Trygve, ernster, hatte nichts von Trygves strah lender Heiterkeit. Helge Jerven hätte niemals so handeln können, wie Trygve es damals tat: sehnsüchtige Liebesbriefe schreiben und gleichzeitig mit einer Freundin in ein Hotel gehen und sie als seine Frau ausgeben! Gerd wurde fast physisch übel, wenn sie an den Brief dachte, den er hinterher an sie geschrieben hatte, voll hohler Phrasen und Erklä rungen. Hohl und unecht alles! Jetzt las sie seine alten Briefe mit neuen Augen. Diese Liebeserklärungen waren allzuleicht aus der Feder geflossen. Sie waren ebenso hohl wie der letzte Brief. Als einzige Antwort schickte Gerd den Ring zurück. Und als dann noch ein Brief eintraf, verweigerte sie die Annahme. Sie war endgültig fertig mit dieser Episode ihres Lebens. Bitter enttäuscht und um eine teuer erkaufte Erfahrung reicher, war sie abgereist, froh, die Stellung bei Myrseth und Sohn erhalten zu haben. Myrseth! Der schlief jetzt friedlich in seinem Krankenhausbett, sicher, daß Gerd die Aufgabe lösen würde, die sie übernommen hatte. Jawohl, beruhigt und froh, weil der wichtigste Vertrag, den er
jemals in Händen gehalten hatte, morgen früh um 9 Uhr unterzeich net werden sollte. Aber morgen um 9 Uhr würde Gerd im günstigsten Falle unter wegs nach Kopenhagen sein, und Direktor Busch würde vergebens warten. Wann ging wohl sein Flugzeug nach Amerika? Ach, sicher sehr zeitig am Vormittag. Plötzlich setzte sich Gerd mit einem Ruck im Bett auf. Mit zit ternden Händen knipste sie die Nachttischlampe an. Rasch war sie aus dem Bett und holte aus der Aktenmappe den Flugplan. Wenn nun Direktor Busch mit der SAS flog? Sie besaß den Plan für das ganze Liniennetz der SAS. Gesetzt den Fall, er flog über Kopenhagen? Sie blätterte in fieberhafter Eile. Ach – hier war es! HamburgNew York. Abflug täglich 13.10 – ja, tatsächlich! Ankunft Kopenha gen 14.05, Weiterflug 15.20 Uhr. Eine Stunde Aufenthalt! Ach, man konnte einen ganzen Haufen von Verträgen zwischen 14.05 Uhr und 15.20 Uhr unterschreiben! Wenn er doch nur mit SAS flöge! Wenn nur nicht Lufthansa oder eine holländische oder britische Linie eine direkte Route hatten! Das Herz schlug ihr bis zum Halse hinauf. Sie mußte telegrafie ren. Busch mußte das Telegramm spätestens um 9 Uhr haben. Sie mußte eine Zusammenkunft in Kastrup verabreden. Wie sah es doch nur dort aus? Sie schloß die Augen und versuchte, sich das Bild des Flughafens in die Erinnerung zurückzurufen: die Ankunftshalle, die Abflughalle, die Transithalle – die natürlich, ganz klar! In die Tran sithalle kamen sie alle, auch er als Fluggast Deutschland-Amerika, sie als Passagier Norwegen-Deutschland. Sie mußte ihn in der Transithalle treffen. Und sie mußte auch den Treffpunkt vorschlagen, denn es gab keine Möglichkeit, auf eine Antwort zu warten. Gerd warf sich ihren Morgenrock über und lief im Zimmer auf und ab. Die Transithalle war sicher groß, und sie war nie dort gewe sen. In einer großen Halle mit lebhaftem Verkehr konnte man sich so leicht verfehlen. Gerd blieb plötzlich stehen und lauschte! Die Tür des Neben zimmers wurde leise geöffnet. Leise Schritte den Gang entlang Das war doch Helge Jervens Zimmer! Sie lauschte erneut, verhielt sich ganz still. Dann mußte sie lä cheln. Das war nun wirklich das erstemal in ihrem Leben, daß sie
mitten in der Nacht in einem Hotelzimmer stand und auf die Schritte eines Mannes lauschte, der vermutlich auf die Toilette ging. Die Schritte kamen zurück. Da öffnete Gerd ihre Tür einen Spalt. Ja, jetzt sah sie ihn, etwas schläfrig, mit zerzaustem Haar und im Pyjama. Sie stand ihm gegenüber, mit großen, überwachen, brennenden Augen. „Hören Sie mal“, flüsterte sie. „Sie kennen doch Kastrup. Ist da ein Andenkenkiosk in der Transithalle?“ „Was für ein Ding?“ „Nun denken Sie bitte mal nach: Befindet sich ein Andenkenla den in der Transithalle?“ „Da sind, wenn ich nicht irre, zwei.“ „Gibt es da nichts, was nur in einer Ausgabe da ist?“ „Doch. Die Post, zum Beispiel!“ „In der Transithalle?“ „Ja, gewiß.“ „Danke. Das ist fein!“ Die Tür schloß sich hinter Gerd. Helge Jerven starrte die geschlossene Tür mit offenem Mund an. Es war nicht das erstemal, daß er ein hübsches Mädchen in einem Hotelgang traf. Es war auch nicht das erstemal, daß ein Mädchen ihn abfing und mit ihm redete. Ein Mädchen im Morgenrock sah er auch nicht zum erstenmal. Aber es war das erstemal, daß er mitten in der Nacht von einem hübschen Mädchen im Morgenrock angehalten worden war, weil sie Auskunft über Andenkenläden in einer Transit halle haben wollte. Kopfschüttelnd ging Helge Jerven aufsein Zimmer. Indessen saß im Nebenzimmer Gerd an dem kleinen Schreibtisch, bemüht, eine Mitteilung folgenden Inhalts zu übersetzen und zu kürzen: „Sollten Sie über Kopenhagen fliegen, treffen Sie mich in der Transithalle vor dem Postamt. Mußte wegen Nebels in Aalborg übernachten. Antwort erreicht mich nicht, warte auf alle Fälle auf Sie in der Transithalle.“ Es war schwierig, das zu übersetzen und in einen vernünftigen Telegrammstil zu fassen, aber zum Schluß lag das Telegramm in fehlerfreiem Deutsch auf dem Tisch, und Busch hätte ein Idiot sein müssen, um es nicht zu verstehen. Sie würde es ganz früh als Blitztelegramm senden.
Dann ging Gerd wieder zu Bett. Sie hatte nun getan, was getan werden konnte. Jetzt konnte sie nur hoffen und wünschen, daß Di rektor Busch mit der SAS flog. „Haben Sie die Sache mit dem Taxiflugzeug geordnet?“ fragte Helge Jerven. Sie saßen im Speisesaal des Hotels am Frühstücks tisch. „Nein. Tut mir leid, aber das ist nicht mehr aktuell.“ „Können Sie es nun doch einrichten, das Linienflugzeug zu neh men?“ „Vielleicht fliege ich überhaupt nicht nach Hamburg. Es ist mög lich, daß ich unseren Geschäftspartner in Kastrup treffe.“ „Ach darum - !“ sagte Jerven mit jenem Ausdruck der Erleichte rung, den man hat, wenn einem plötzlich ein Licht aufgeht. „Darum - ? Wie meinen Sie das?“ „Das war also der Grund, weshalb Sie sich mitten in der Nacht über die Andenkenläden in der Transithalle orientierten.“ Gerd sah ihn verblüfft an. Dann prustete sie vor Lachen los. „Meine Güte! Wenn ich es mir jetzt überlege, verstehe ich, daß Sie, milde gesagt, erstaunt sein mußten.“ „Nicht wahr? Ich könnte mir denken, daß ich mit Ihnen gern über alles mögliche andere plaudern würde, aber ausgerechnet über Tran sithallen – “ „Das war für mich eben im Augenblick das aktuellste“, erwiderte Gerd ein wenig kurz. Denn sein Tonfall, als er „alles mögliche ande re“ sagte, erzählte etwas zu deutlich von – allem möglichem ande ren! Der Abflug wurde erneut verschoben. „Vor 10 Uhr würde es ganz sinnlos sein zu starten“, erklärte der Pilot. Der Bus sollte sie um 9.30 Uhr abholen. Also würde es unter allen Umständen zu spät für Hamburg sein, selbst wenn ein Düsenjäger bereitstünde, sie in Ko penhagen abzuholen. Aber Gerd hegte die feste Hoffnung, daß Busch vor dem Postamt auftauchen würde. Die Sonne glitzerte über Kopenhagens vielen Türmen, über dem blanken Wasser, den Straßen und Kanälen. „Wir müssen etwas warten, bevor wir landen können“, sagte die Stimme des Piloten. „Da sind noch sechs Flugzeuge vor uns, die auch landen sollen.“ So kreisten sie denn über der Stadt, Helge deutete hinab auf das Rathaus, auf Schloß Rosenborg, die Amalienburg und die Seen. „Kennen Sie Kopenhagen?“
„So ungefähr. Ich war mal hier bei einem Schulausflug, vor vie len Jahren.“ „Sollte es sich so fügen, daß Sie nicht weiterfliegen, so könnten sie sich ja Kopenhagen ansehen.“ „Nein, ich glaube nicht, daß ich weiterfliege. Es wird nicht nötig sein.“ „Ja, aber hören Sie mal, wie wollen Sie dann Zugang zur Transit halle finden, wenn Sie kein Transitpassagier sind?“ „Donnerwetter ja!“ „Ja, das können Sie wohl sagen. Sie müssen nach Hamburg flie gen oder Amerika oder Südafrika oder wohin immer, aber weiter müssen Sie.“ „O. K. Dann fliege ich eben nach Hamburg.“ „Bloß, um Zutritt zu der Halle zu bekommen?“ „Einzig darum.“ „Na, Sie müssen aber viel Geld haben!“ sagte Helge Jerven. „Die Firma hat viel Geld.“ „Ach so!“ Mehr sagte sie nicht. Seine Augen hafteten an dem hellen Mäd chengesicht, während er darüber nachdachte, was für eine Firma das wohl sein mochte, die ein so junges Mädel in die Welt hinausschick te mit einem doch offenbar wichtigen Auftrag. Die Leuchtbuchstaben forderten jetzt endlich dazu auf, sich fest zuschnallen, und einige Minuten später rollte das Flugzeug vor dem großen weißen Gebäude von Kastrup aus. „Sie haben gestern kein Mittagessen bekommen“, erinnerte Hel ge Jerven, „und wir wollten doch ein spätes Mittagsmahl einnehmen. Nun können wir statt dessen einen Lunch essen.“ „Ich kann nichts essen.“ „Sind Sie so nervös?“ „Ich bin wahnsinnig gespannt.“ Mehr brachte er nicht aus ihr heraus. Sie hatte ihrer Mappe einige Schriftstücke entnommen und sich in die vertieft. Helge Jerven zündete sich eine Zigarette an. Im Stuhl zurückge lehnt, betrachtete er Gerd kritisch. Sie erschien ihm ganz neu. Er dachte an das ängstliche kleine Mädchen gestern im Dunkeln, als sie mitten in der Nacht oben im Nebel kreisten. Er erinnerte sich an die kleine Blasse im Morgenrock, die ihn auf dem Hotelgang abgefan gen hatte. Und nun sah er auf das gespannte Gesicht ihm gegenüber. Sie war taub und blind für die Unruhe um sich herum, merkte nichts
von dem ständigen Kommen und Gehen, den Bekanntmachungen, die in drei Sprachen aus den Lautsprechern tönten. Ab und zu nur schaute sie auf die Uhr. Dann vertiefte sie sich wieder in ihre Papie re. Schließlich raffte sie sie zusammen und legte sie in die Mappe zurück. Wieder sah sie auf die Uhr. „Jetzt ist es bald soweit. Leben Sie wohl solange.“ „Sehen wir uns im Hamburgflugzeug wieder?“ „Vielleicht, ich weiß es noch nicht.“ Damit verschwand sie, bahnte sich einen Weg zwischen Tischen und Stühlen, an Menschen vorbei, die aufgeregt fragten und redeten. Hunderte von Passagieren hatten sich angesammelt, und sie alle wollten weiter, Leute, für die eine vierzehnstündige Unterbrechung eine mehr oder minder große Katastrophe bedeutete. Der Lautsprecher dröhnte, und Gerd lauschte: „Die Maschine aus Hamburg landet jetzt. Verbindungen nach New York um 15.20 Uhr, nach Stockholm über Malmö um 15.05 Uhr, nach Oslo…“ Gerd stand regungslos bei dem Postamt. Nun flutete auch der Strom der Passagiere heran. Ein junges Paar, eine Dame mit einem kleinen Jungen, eine ältere Dame mit kurzsichtigen Augen hinter einer Brille. Ein aufrechter älterer Herr mit einem grauen Bart. Erblieb stehen und sah sich um. Dann schlug er die Richtung zum Postamt ein. Gerd trat einen Schritt näher, aber sein Blick glitt gleichgültig an ihr vorbei. Erblieb vor der Post stehen, sah sich uninteressiert einen amtlichen Anschlag an, warf ab und zu einen Blick um sich und blickte auf die Uhr. Gerd biß sich auf die Lippen. Unmöglich konnte dies der Erwar tete sein. Er wußte doch, daß er hier eine Dame treffen sollte, und machte nicht einmal den Versuch, mit ihr zu sprechen, obwohl er ganz augenscheinlich hier wartete. Jetzt zuckte er die Achseln, klemmte seine Aktentasche fester un ter den Arm und wollte gehen. Da fiel Gerds Blick auf die Buchsta ben auf seiner Mappe: F.J.B. Vielleicht war er es doch?! Mit ein paar Schritten war sie an sei ner Seite. „Entschuldigen Sie, aber sind Sie vielleicht Herr Direktor Busch?“ Sie fragte es auf Deutsch.
Er blieb stehen, sah sie erstaunt an und nickte: „Ja, das bin ich.“ Die Erleichterung war so groß, daß Gerd Tränen in die Augen traten. „Entschuldigen Sie, ich bin schon ein sonderbarer Repräsentant für die Firma, aber ich war so sehr gespannt, ob ich Sie wohl treffen würde.“ „Ja – wer sind Sie denn eigentlich?“ „Wer ich bin? Aber Herr Direktor, das müssen Sie doch wissen, wenn Sie hier stehen und auf mich warten.“ Direktor Busch schüttelte den Kopf. „Ich warte auf einen Herrn Elstö aus Norwegen.“ „Nein, Herr Direktor. Sie warten auf Fräulein Elstö, und das bin ich.“ „Sie? Aber Kind, warum haben Sie denn einen Männernamen? Zuerst erhalte ich ein Telegramm von Myrseth, daß Gerd Elstö komme, und dann ein zweites, daß Gerd Elstö mich in der Transit halle erwarten werde.“ Er sprach das Wort „Gerd“ mit einem deutli chen T am Schluß aus. Gerd mußte lachen. „Ach ja, daran habe ich gar nicht gedacht! Bei uns ist Gert ein Männername, aber Gerd der einer Frau.“ „Du liebe Zeit!“ Der Direktor lachte. „Kommen Sie, Kind, wir wollen uns einen Tisch suchen, und dann heraus mit den Papieren. Übrigens mein Kompliment, daß Ihnen die Idee mit diesem Treff punkt hier kam. Nun verstehe ich, warum Myrseth und Sohn Sie als Bevollmächtigten schicken. Sie haben offenbar einen findigen Kopf.“ Bald darauf waren sie in den Vertrag vertieft, und zehn Minuten später hatte Gerd die Unterschrift, diesen kostbaren Namenszug – F. J. Busch. „Fliegen Sie jetzt weiter nach Hamburg, Fräulein Elstö?“ „Ich sitze allerdings hier mit der Flugkarte in der Hand, aber ich habe sie nur behalten, um mir Zutritt in die Transithalle zu verschaf fen. Ich brauche doch jetzt nicht weiterzureisen.“ „Ich finde, das sollten Sie aber tun. Sie könnten in Hamburg mit meinem Bürochef reden. Er weiß über die ganze Angelegenheit Bescheid und kann alles Nötige mit ihnen besprechen. Sie können ja wohl auch alle notwendigen Aufschlüsse geben?“ „Gewiß, denn ich habe die gesamte Korrespondenz geführt, so wohl mit Ihnen als mit Solfoss, also mit unserem Kunden. Direktor
Myrseth liegt nämlich mit einem gebrochenen Bein im Kranken haus.“ „Das tut mir aufrichtig leid. Grüßen Sie ihn von mir, und sagen Sie ihm, daß er in Ihnen einen ausgezeichneten Repräsentanten hat. An seiner Stelle würde ich Sie immer für derartige Reisen und Be sprechungen verwenden. Das werde ich ihm übrigens bei nächster Gelegenheit sagen.“ Gerd lachte. „Das ist mir bestimmt nicht unangenehm.“ „Sie sprechen ein sehr gutes Deutsch.“ „Ja, Deutsch und Englisch sind sozusagen meine Spezialitäten!“ „Myrseth kann sich glücklich preisen. Aber lassen Sie sich einen guten Rat geben. Hängen Sie Ihrem Vornamen in Deutschland ein „a“ an, sonst kann es zu peinlichen Mißverständnissen führen.“ „Ich werde Ihrem Rat folgen, Herr Direktor.“ „So – nun wird es aber höchste Zeit! Also, suchen Sie morgen früh meinen Bürochef auf, besprechen Sie auch eingehend die Lie ferzeiten und Lieferungsmethoden, nicht wahr? Wir wollen die Par tie gern baldmöglichst abstoßen. Und mit Bezug auf Frachtgelegenheiten…“ „Bin im Bilde, Herr Direktor. Ich habe mir alles notiert.“ „Sieh mal an! Und dabei ist der Chef krank.“ „Ach, das habe ich von mir aus untersucht.“ „Meine Güte, was für eine Arbeit für ein junges Mädchen!“ „Das ist eine sehr vergnügliche Arbeit, unterhaltsam und interes sant. Ich hätte nie gedacht, daß eine so prosaische Sache wie Bau holz eine so abwechslungsreiche Tätigkeit bedeuten könnte.“ Durch den Lautsprecher wurden die Passagiere nach New York zum Ausgang gerufen. Gerd begleitete Direktor Busch durch die Halle. „Ich wünsche Ihnen eine angenehme gute Reise, Herr Direktor.“ „Danke, liebes Kind. Es war wirklich sehr nett, Sie zu treffen. Ich hoffe, es ist nicht das letztemal.“ „Darf ich Sie noch etwas fragen, Herr Direktor?“ „Aber selbstverständlich.“ „Haben Sie Ibsens ,Brand’ gelesen?“ „Ibsens ,Brand’? Gewiß. Sowohl gelesen als auch gesehen.“ „Aber dann sollten Sie eigentlich wissen, daß Gerd ein Frauen name ist, Herr Direktor“, sagte Gerd und lachte über das ganze Ge sicht.
Und dieses frohe Jungmädchengesicht war das letzte, was Direk tor Busch sah, bevor er zum Flugzeug ging. Er nahm Platz, schnallte sich fest und lächelte. Er hatte einen ungewöhnlich sympathischen Eindruck von Skan dinavien bekommen. „Jetzt!“ sagte Gerd. „Jetzt – was?“ Helge Jerven blickte auf. „Jetzt will ich endlich was zu essen haben. Ich bin so hungrig, daß ich einen ganzen Ochsen verschlingen könnte.“ „Man kann also gratulieren?“ „Man kann! Mehr noch können Sie meiner Firma gratulieren. Halt - ! Ich muß noch ein Telegramm absenden und einen einge schriebenen Brief. Aber nachher muß ich unbedingt was essen.“ Gerds Finger zitterten, als sie das Telegramm schrieb. „Vertrag unterzeichnet. Stop. Übernachtete Aalborg wegen Ne bels. Stop. Traf Busch Kopenhagen. Stop. Fliege Hamburg Besprechung mit Bürochef auf Buschs Rat. Stop. Vertrag folgt Einschreibebrief. Gruß Elstö.“ „So“, seufzte Gerd befreit. „Nun aber her mit dem Essen!“
4 „Ist es indiskret zu fragen, ob Sie in Hamburg viel zu tun haben werden?“ fragte Helge Jerven. „Wenn nicht, wer geht dort mit Ihnen aus und zeigt Ihnen die Stadt? Mit anderen Worten, wenn Sie absolut nichts Besseres vorhaben, darf dann ich meine Dienste…“ „Aber Sie müssen doch nach Kiel.“ „Nicht vor Montag. Ich reiste so zeitig, um drei Tage für Ham burg zu haben. Und ich würde es schrecklich nett finden, wenn Sie…“ „Aber gewiß.“ Gerd fühlte mit Erschrecken, daß sie rot wurde. „Ich muß nur vor allem morgen um 9 Uhr zu einer Besprechung.“ „Aber heute abend?“ „Heute abend? – Ja – ich weiß nicht…“ „Aber ich weiß. Wo werden Sie wohnen?“ „Im Hotel Reichshof.“ „Ausgezeichnet. Habe ich Glück, so ist auch für mich noch ein Winkel frei. Aber eins sage ich Ihnen: Fangen Sie mich heute nacht wieder im Korridor ab, dann werde ich mich nicht mit Ihnen über Andenkenläden unterhalten.“ „Und ich beabsichtige nicht, mich heute nacht über irgend etwas zu unterhalten, darauf können Sie sich verlassen. Ich habe vor, zwölf Stunden hintereinander zu schlafen und im Bett zu frühstücken.“ „Sehr vernünftig! Kann ich Ihren Zucker haben?“ „Bitte.“ Sie saßen Seite an Seite im Flugzeug, das sie in 35 Minuten nach Hamburg brachte. Soeben hatten sie ihre Tabletts mit dem Kaffee bekommen, und Helges Zucker war bereits aufgebraucht. Gerd genoß diesen Flug mit allen Sinnen. Sie hatte ein so herrlich gutes Gewissen, war so unendlich erleichtert, so gut aufgelegt. Die Sonne schien, der Nebel der Nacht war fort, und sie würde nun eine große Stadt sehen, die sie bloß von der Durchreise her kannte. Die sollte sie nun besser kennenlernen, zusammen mit einem Mann, der… Ihre Gedanken stockten bei diesem „der“. Errötend beugte sie sich über ihre wasserblaue Plastikkaffeetasse. „Wie lange bleiben Sie in Hamburg, Gerd?“ „Weiß ich nicht. Kommt ganz darauf an. Möglich, daß im Hotel ein Telegramm für mich bereitliegt.“
Es war der Fall. Zunächst verursachte ihr Vorname natürlich wieder Wirrwarr. Das Hotelzimmer war für einen Herrn Elstö reserviert worden, und Gerd mußte nun erneut die Geschichte mit Gert und Gerd erklären. „Hier ist auch ein Telegramm für Sie, Fräulein Elstö“, sagte der Portier. Es war von Myrseth. „tuechtiges maedchen stop erwarte sie montag stop junior betreut inzwischen buero stop ab ersten Oktober sind sie bueroleiterin gehalt hundert kronen mehr stop gruss myrseth.“ „Schlechte Nachrichten?“ fragte Helge. „Aber nein, wieso denn?“ „Sie sind so blaß geworden.“ „Das kommt von… Das ist, weil… Sie dürfen es gern lesen.“ Mit zitternder Hand reichte sie ihm das Telegramm. „Nein so was!“ staunte Helge. „Gratuliere, Fräulein Büroleiterin! Herrje, das ist nun Bürochef und sieht aus wie eine minderjährige Gymnasiastin. Sind Sie überhaupt schon zwanzig?“ „Na, erlauben Sie mal – schon vierundzwanzig!“ „Das ist glatt gelogen. Sie müssen sich verrechnet haben. Aber heut gehen wir aus und feiern, ob Sie wollen oder nicht. Das ist ge radezu eine Pflicht. Jetzt aber nach oben mit Ihnen, legen Sie sich flach auf den Rücken, und schließen Sie die Augen. Ich wecke Sie per Telefon um halb acht. Und dann geht’s los mit dem Feiern!“ Also lag Gerd wieder in einem Hotelbett, diesmal aber glückte es ihr, wirklich zu ruhen. Sie fühlte, wie alle Muskeln weich wurden, wie ihr Körper der geistigen Entspannung, die nun einsetzte, folgte. Es war einfach wunderbar, so auszuruhen in der Gewißheit, daß eine wichtige Arbeit ausgeführt, sicher zu sein, daß ihr Chef mit ihr zu frieden war, eine Beförderung und Gehaltserhöhung sie erwarteten. Und dann auch noch, daß sie am Abend mit Helge Zusammensein würde… Sie schloß die Augen. Das Bett war gut und weich, und sie hörte das gleichmäßige Surren und Summen des Großstadtverkehrs tief da unten. Das störte sie nicht. Im Gegenteil, es lullte sie in Schlaf, in einen tiefen, festen und sehr notwendigen Schlaf. Gerd erwachte durch das Schnarren dicht an ihrem Ohr. Verwirrt richtete sie sich im Bett auf, sie wußte nicht, wo sie war. Sie blinzel te mit den Augen und sah sich um. Dann dämmerte es ihr. Sie nahm
den Hörer des Telefons, das auf dem Nachttisch klingelte. Schlaf trunken sagte sie auf norwegisch: „Bitte.“ „Na ja, schon gut“, lachte eine Stimme. „Diesmal macht’s ja nichts aus, aber sonst müssen Sie schon deutsch antworten, wenn sie in Deutschland sind.“ „Rufen Sie mich an, um mir Sprachunterricht zu geben?“ gähnte Gerd. „Nein, ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie jetzt aufstehen müs sen. Ich habe Karten zu einem großartigen Film herbeigezaubert. Das heißt also, großartig für jemand, der musikalisch ist.“ „Nun, ich glaube schon, daß ich das bin.“ „Lieben Sie Beethoven?“ „Sonst hätte ich wohl nicht das Recht, mich musikalisch zu nen nen!“ „Warum so schnippisch, Fräulein Bürochef?! Aber all right. Ich verzeihe Ihnen, wenn Sie in zwanzig Minuten unten in der Halle sind.“ „Höchstwahrscheinlich werde ich das sein.“ „Ich auch. Auf Wiedersehen.“ Gerd rollte sich aus dem Bett und machte schnell eine kalte Ab reibung. Nun flink in die Kleider, Puder auf die Nase, ein paar Stri che mit dem Lippenstift. Pünktlich stand sie in der Halle, wo Helge schon wartete. „Haben Sie geschlafen?“ fragte er. „Wie ein Murmeltier. Hätten Sie nicht angerufen, so würde ich bis morgen früh geschlafen haben. Und Sie?“ „Nein, ich habe nicht geschlafen.“ „Was haben Sie denn gemacht?“ „Ich dachte darüber nach, wie verdammt verwickelt das Leben doch sein kann.“ „Was für trübe Gedanken! Ich finde das Leben ganz einfach und im Augenblick sogar ausgesprochen nett.“ „Naja, Sie schon!“ Gerd warf ihm einen raschen Blick zu. Sie wollte etwas sagen, ließ es dann aber. Sein Tonfall war so – so anders gewesen. Etwas wie Bitterkeit schwang in den wenigen Worten mit. Gewaltsam schien er dann etwas abzuschütteln, aber sein Lächeln war nicht natürlich, sondern wirkte wie angestrengt hervorgeholt und dem Gesicht aufgepflanzt. „Nun, kleiner Bürochef, dann also los!“
Lärm und Lichtreklamen schlugen ihnen draußen entgegen, der Pulsschlag der Millionenstadt umwogte sie mit Tuten, Summen und Knattern. Helge ließ Gerds Arm nicht los. Sicher lotste er sie über verkehrsreiche Straßenkreuzungen und um gefahrenreiche Ecken. Sie gingen über den Rathausplatz, und bald darauf waren sie in einer breiten, belebten Straße mit hohen Geschäftshäusern und strahlenden Schaufenstern auf der einen und blankem Wasser auf der anderen Seite. „Der Jungfernstieg!“ rief Gerd, „und die Alster! Hier kenne ich mich wieder aus.“ Der Herbstabend war still und warm. Hier war es viel wärmer als daheim. Gerd mußte ihre Kostümjacke aufknöpfen. Es war schwierig, an all den Schaufenstern vorbeizukommen. Hier fand man alles, absolut alles, was ein Frauenherz begehrt, von den duftigsten Wäschestücken bis zu eleganten Schuhen, vom Pelz werk bis zur Chinaseide, ganz zu schweigen von Hüten und Hand schuhen, Modellkleidern und Lederwaren. „So was habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen – “, sagte Gerd und blieb vor einem Geschäft mit Lederwaren stehen. „Ja, nicht wahr? Wenn Sie übrigens ein nettes Mädchen sein wol len, dann gehen Sie morgen mit mir hierher und helfen mir, eine schöne Handtasche auszusuchen.“ „Handtasche? Damentasche?“ Gerd warf ihm einen schnellen Blick zu. „Ja, für meine Mutter“, fügte er hinzu. „Natürlich! Das tue ich mehr als gern!“ Schließlich mußte er sie mit Gewalt fortziehen durch andere Straßen, hin zu dem kleinen Kino, in dem der Beethoven-Film als Wiederaufführung lief. Dann erlebte Gerd zwei unvergleichliche Stunden. Sie folgte mit Augen und Ohren der Handlung, vergaß alles um sich herum. Sie biß sich auf die Lippen und merkte, daß ihre Tränen rannen, als sich Beethovens Leben durch seine Taubheit zur Tragö die entwickelte. Ihre Mundwinkel zitterten, so ganz und gar war sie dabei, so erfüllt von dem, was sie sah und hörte,… und dann kam die große, schöne Resignation, als Beethoven die göttliche Absicht sei ner Taubheit begriff: Nichts Äußerliches sollte die Ruhe stören, aus dem Tönereichtum zu schaffen, der in ihm wohnte. Beethovens Antlitz verklärte ein stilles Leuchten. Er wanderte heim, trat durch den weißgekalkten Torbogen in den stillen vierecki
gen Hof. Er ging langsam, immer langsamer, und jetzt ertönte das Allegretto aus seiner siebenten Sinfonie durch sein Herz und Hirn, es tönte den Zuschauern entgegen, und Gerd rannen Tränen über die Wangen. Sie suchte noch nach einem Taschentuch, als ihr eines in die Hand gedrückt wurde. Sie trocknete ihre Augen mit der Rechten, während die Linke sicher und warm in einer großen, festen Männer hand lag. In den Tönen der neunten Sinfonie fand Beethoven dann endlich den letzten großen Frieden. Sein Gesicht wechselte hinüber in die wohlbekannten Züge der Totenmaske, die bei vielen Musikfreunden von der Wand herabgrüßt. So endete der Film. Gerd und Helge sprachen nicht, beeilten sich auch nicht mit dem Hinauskommen, ließen die anderen an sich vorbeigehen. Auf der Straße und schon ein gutes Stück von dem Filmtheater entfernt, gab Helge ihrem Arm einen kleinen Druck und sagte dieses eine Wort: „Nun?“ Es klang still-fragend, beinahe zärtlich. „Ich habe keine Worte“, flüsterte Gerd. „Es war ein Erlebnis, nicht wahr?“ „Es war die ganze Reise wert.“ „Was tun wir jetzt, Gerd? Irgendwo ein Plauderstündchen bei ei nem Glas Wein?“ „Ja. Aber bitte, tun Sie mir den Gefallen: nur kein großes lär mendes Lokal! Es gibt doch sicher eins, wo wir ganz ruhig sitzen können, ohne Musik und Lärm?“ „Gewiß. Ich kenne ein kleines Restaurant an der Alster. Es ist nicht fein oder mondän, es ist sogar billig, aber es ist ruhig.“ „Oh ja, gehen wir dorthin!“ „Wollen wir ein Taxi nehmen?“ „Nein, lieber gehen, wenn es nicht allzuweit ist.“ „Nur etwa eine Viertelstunde.“ Unter hohen Kastanienbäumen schritten sie an der Alster entlang. Der Großstadtlärm klang hier so fern, daß sie das Plätschern der kleinen Wellen hören konnten, wenn die Fährboote vorbeiglitten. Sie sprachen lange nicht. Endlich gab Helge ihrem Arm wieder einen vertraulichen kleinen Druck. „Wir haben es doch nett zusammen, Gerd?“
„Ja“, antwortete Gerd. Dann fügte sie hinzu: „So ein Glück, daß ich Sie getroffen habe. Als einzelne Frau kann man sich sonst in einer fremden Großstadt nicht viel vornehmen.“ „Zugegeben. Insofern ist mein Auftauchen für Sie wirklich vor teilhaft gewesen.“ Seine Stimme hatte wieder einen bitteren Beiklang. „Pfui, schämen Sie sich! So meinte ich es doch nicht.“ „Nein, ich weiß, entschuldigen Sie.“ Gerade erreichten sie das kleine friedliche Restaurant. Sie mußten über einen Steg. Das Häu schen lag schon beinahe in der Alster. Es war klein und primitiv, aber in den kleinen Zimmern mit geblümten Tapeten und Ecksofas herrschte eine eigentümliche stille Gemütlichkeit. Sie bestellten Tee und belegte Brote, und hinterher erschien ein Kühler mit einer Flasche Schaumwein auf dem Tisch. „Nein, aber hören Sie mal…“ wandte Gerd beinahe entrüstet ein. „Nur keine Aufregung! Eine Flasche Sekt in Deutschland ist lan ge nicht so üppig wie eine Flasche Champagner in Norwegen. Ich will Ihnen anvertrauen, daß dieser Schampus weniger kostet als der billigste Südwein zu Hause.“ „Ja, wenn das wirklich wahr ist – “ „Es ist wahr. Hat tatsächlich denselben Preis wie bei uns daheim der Kümmelschnaps.“ „Hoffentlich ist es das einzige, was der Sekt mit so einem Fusel gemeinsam hat“, lächelte Gerd. „Das ist es“, bekräftigte Helge und hob sein Glas. „Prost, kleine Gerd! Ich bin so froh, daß wir uns kennengelernt haben.“ „Ich auch, Helge. Prost!“ Der perlende Wein war kühl und schmeckte wunderbar. Gerd lä chelte glücklich vor sich hin. „Worüber lächelst du, Gerd?“ „Es ist so merkwürdig – “ „Was ist merkwürdig?“ „Ja – gestern morgen erwachte ich daheim in meinem eigenen Bett, stand auf und ging ins Büro wie immer. Und jetzt sitze ich in Hamburg mit einem Mann, den ich bis vorgestern noch nie gesehen hatte.“ „Und das findest du merkwürdig?“ „Allerdings. Und ich glaube nicht, daß ich es meiner Mutter beichten möchte.“
„Aber Liebste, wir benehmen uns doch vorbildlich artig.“ „Ja, aber Mütter, weißt du – Sie ist die beste Mutter der Welt. Aber – sie ist eben Mutter.“ „Ich verstehe. Aber weißt du, ich empfinde es als etwas ganz Na türliches und Richtiges, daß wir hier zusammen sitzen und – “ Er brach plötzlich ab, und ein Schatten glitt über sein Gesicht. „Was ist denn, Helge? Entschuldige, ich will nicht indiskret sein, aber irgend etwas drückt dich doch, und da meine ich, wenn du dich vielleicht aussprechen möchtest – “ Gerd stockte. Er drückte ihr die Hand. „Danke, kleine Gerd. Aber weißt du, es gibt so verworrene Sachen im Leben, die man schon allein ordnen muß. Wenn man selbst Dummheiten gemacht hat, dann – “ „Hast du denn das getan?“ „Früher oder später tun das wohl alle Menschen einmal. Du viel leicht auch?“ Gerd schwieg und errötete. „Doch.“ „Na, siehst du. Und du hast sicher keine Lust, darüber zu spre chen, wie?“ „Nein.“ Sie schwieg, dann aber warf sie den Kopf zurück. „Prost, Helge!“ Sie tranken sich zu. „Übrigens kann ich Dir gern erzählen, worin meine Dummheit bestand. Du glaubst sonst am Ende, daß es etwas ganz Schreckliches war. Ich ließ mir nur einmal von einem Mann Sand in die Augen streuen und verlobte mich mit ihm. Mein Fehler war, daß ich ihn nicht durchschaute, bis ich erst durch einen Zufall erfuhr, wie boden los schofel er wirklich war.“ „Und dann?“ „Dann sandte ich seinen Ring zurück. Schluß damit.“ „Ohne ein Wort?“ „Ja, ohne ein Wort.“ „Ohne Tränen und Aussprachen?“ „Absolut ohne all das.“ „Du bist ein merkwürdiges Mädchen.“ „Weil ich Szenen nicht ausstehen kann?“ „Ja. Also, kleine Gerd, eine Gemeinheit kannst du nicht verzei hen?“ „Nein. Ich könnte eine Beleidigung, eine Nachlässigkeit, eine Unverschämtheit, ja sogar Brutalität vergeben, aber Unehrlichkeit
und Komödienspiel, also das, was ich eben ‚schofel’ nenne, das kann ich nicht verzeihen.“ Helge sah sie lange an. „Kleine Gerd, kleine Gerd – “, flüsterte er. Dann nahm er wieder ihre Hand und drückte sie beinahe krampfhaft. „Kleine Gerd, ich habe dich so unbeschreiblich gern.“ Sie sah ihn an. Ihre blauen Augen waren ruhig und grundehrlich. „Ich dich auch, Helge.“ Behutsam löste er seine Hand aus der ihren und ergriff sein Glas. „Prost, kleine Gerd!“ „Prost, großer Helge!“ Es war so still um sie herum. Im Seitenzimmer ein schwaches Gemurmel von ein paar anderen Gästen. Ein Klirren hinter einer Luke. Und durch das offene Fenster hörte man das leise Plätschern der Alster in der Herbstnacht.
5 Gerd wurde mit Verbeugungen aus der großen Mahagonitür hinaus komplimentiert und lief auf leichten Füßen die Marmortreppe hinun ter. Sie war so strahlend froh. Die Verhandlung mit dem Bürochef von J. F. Busch war ausgezeichnet verlaufen, alles Wesentliche war besprochen worden, sie hatte vernünftige Abmachungen und gute Nachrichten für Myrseth. Jetzt waren ihre Pflichten erledigt, und sie hatte noch eineinhalb Tage in Hamburg, in denen sie Privatmensch und Tourist sein und tun konnte, was sie wollte. Und was Helge wollte. Sie sah ihn sofort, als sie in die strahlende Herbstsonne auf den Gehsteig trat. „Ja, Helge, da bist du ja!“ „Natürlich bin ich da. Na, ist es gut abgelaufen?“ „Fein. Mein Chef wird sich freuen.“ „Hast du sonst noch etwas für ihn zu tun?“ „Nichts mehr, jetzt bin ich frank und frei.“ „Großartig! Also, was tun wir jetzt?“ „Du wolltest doch eine Handtasche für deine Mutter kaufen?“ „Richtig! Vorausgesetzt, du bist so nett und hilfst mir dabei.“ „Schrecklich gern. Aber dazu muß ich etwas über deine Mutter wissen. Ist sie alt und ehrwürdig und schwarz gekleidet, oder ist sie jugendlich und farbenfroh, oder…“ „Sie ist 56 Jahre alt, sieht aber aus wie Anfang Vierzig. Eine Lei stung, muß man schon sagen, wenn man bedenkt, was sie alles durchgemacht hat.“ „Ach, die Ärmste! Wieso?“ „Nun, sie war jung verheiratet, als der Krieg ausbrach. Mein Va ter war Kapitän auf einem Tanker und wurde torpediert. Ich war ein Jahr alt, als er ums Leben kam. Dann mußte Muttchen sich eben allein durchschlagen.“ „Und was sagte deine Mutter dazu, daß du auch den Seemanns beruf wähltest?“ „Nicht viel. Sie verstand wohl, daß es mir im Blut lag. Ich könnte mir keinen anderen Beruf denken.“ „Und jetzt hast du es also bis zum ,Ersten Offizier’ gebracht?“ „Hab’ ich. Und meine Mutter freut sich. Also, sie sieht jung und fesch aus, und wir dürfen ihr auf keinen Fall eine biedere schwarze
Tasche aussuchen. Sie wird sich viel mehr über ein gewagtes Modell in frechen Farben freuen!“ „Wir werden die gewagteste Tasche von ganz Hamburg auftrei ben.“ „Das soll ein Wort sein!“ Dann standen sie in dem großen Lederwarengeschäft. Sie suchten und wählten unter den „gewagten“ Modellen, bis sie sich zum Schluß für ein wahres Wunder in weichem hellbraunem Leder ent schieden, von dem die Verkäuferin versicherte, dies sei der allerletz te Schrei. „Ich brauche übrigens noch eine Tasche“, sagte Helge, „in Dun kelblau.“ Gerd sah ihn fragend an. „Ja, ich habe versprochen, eine für eine – eine Bekannte von mir zu besorgen.“ Diesmal bat er Gerd nicht um Hilfe beim Aussuchen. Er half ihr aber bei der Wahl, als sie eine neue und sehr elegante Aktenmappe erstand. „Das Kriterium deiner neuen Würde“, lächelte er, als Gerd ihre Papiere in die neue Mappe legte und die alte samt den gekauften Handtaschen ins Hotel schicken ließ. Und Gerd lächelte, als die Verkäuferin sie zur Tür begleitete, sie öffnete und „Auf Wiedersehen, gnädige Frau“ sagte. „Wie schmeckt dir das, als ,gnädige Frau’ angeredet zu werden?“ fragte Helge. „Kommt mir komisch vor“, sagte Gerd. „Aber ich nehme an, wenn man eine teure Aktenmappe kauft, avanciert man automatisch und wird ,gnädig’.“ „Nun, es ist eben die gewöhnliche Anredeform hier. Es bedeutet keine Spur mehr, als wenn man daheim einfach Frau sagt.“ „Sehe ich denn aus wie eine würdige Frau?“ „Nee, wie ein Schulmädchen, das die Turnstunde geschwänzt hat, um in der Konditorei naschen zu gehen. Übrigens Konditorei? Bist du nicht hungrig?“ „Ja, aber ich habe noch keine Lust zum Essen. Können wir vor her nicht noch ein bißchen Schaufenster besehen?“ „Klar, können wir.“ Es blieb nicht bloß beim Anschauen. Gerd hätte keine Frau sein müssen, um nicht angesichts einiger verlockender Sachen schwach zu werden. Dann mußte Helge sich jetzt für ihre Hilfe revanchieren
und ihr beistehen, als sie Handschuhe für die Mutter und ein Hals tuch für Solveig kaufte. Helge fragte sie dann ein bißchen nach ihrer Familie aus, und sie erzählte von Solveig, die Innenarchitektin war und bei der Mutter in Oslo wohnte, während sie selbst eine Kleinwohnung in dem idylli schen südnorwegischen Städtchen hatte und mit Leib und Seele in der Arbeit für Myrseth und Sohn aufging. „Du wirkst so… so ener gisch, wenn du von deiner Arbeit sprichst“, sagte Helge, „so gewis sermaßen – erwachsen.“ „Nun, das sollte ich wohl schließlich auch sein“, lächelte Gerd. „Ich bin ja seit drei Jahren mündig.“ Aber einen Augenblick später war es nicht weit her mit dem Er wachsensein, denn da geriet sie vor einem Spielzeuggeschäft in helle Begeisterung. „Nein, Helge, guck doch mal! Hast du schon je so entzückende Stofftiere gesehen? Da sind Elefanten und hier die Giraffe und der kleine Esel – nein, so was Bezauberndes! Und so viele Hunderassen –“ Helge lächelte. „Ja, die Stofftiere sind reizend. Komm, Gerd, so ein Tier will ich dir verehren.“ Er zog sie mit sich in das Geschäft. Gerd umrundete die große Vitrine mit Teddybären und Rehen, Löwen und Tigern, Schäferhun den, Foxterriern, Dackeln und einer Reihe anderer Hunderassen. Zum Schluß landete sie bei den Katzen. „Nun, das ist aber doch wirklich die Höhe! Hier darf man nicht einfach nach einer Spielzeugkatze fragen, hier muß man sagen, ob es eine Angora- oder eine graugestreifte Hauskatze, eine schwarze Langhaarkatze oder eine siamesische sein soll!“ „Und welche möchtest du am liebsten?“ Gerds Augen hingen immer noch an den Katzen. „Die da“, entschied sie zum Schluß und deutete auf eine naturge treue kleine Siamkatze. Sie wurde eingepackt und in der neuen Aktentasche verstaut, zu sammen mit Myrseths wichtigen Verträgen. „Aber jetzt endlich muß ich was zu essen haben“, erklärte Helge energisch, „und ich weiß auch genau, wo wir hingehen sollen.“ „Na – wo denn?“ „Nicht in eines der großen internationalen Restaurants. Wenn ich in einer fremden Stadt bin, suche ich mir immer etwas aus, was ge
rade für diesen Ort charakteristisch ist, kleine versteckte Lokale, am liebsten solche, die besondere Spezialitäten führen.“ „Einverstanden“, stimmte Gerd zu. „Bestimme nur, ich folge dir blind.“ Wieder glitt ein Schatten über Helges Gesicht. Er nahm ihren Arm und lotste sie zur nächsten U-Bahn-Station. Sie fuhren in das Hafenviertel, und hier befand sich Helge auf bekanntem Terrain. In einer richtigen Seemannskneipe bekamen sie ein solides Beefsteak mit einer Unmenge Gemüse und nachher einen ebenso soliden Pudding. Gerd hatte ihre Siamkatze ausgepackt und sie auf den Tisch ge setzt. Mit ihren schrägen orientalischen Glasaugen sah sie aus, als hörte sie aufmerksam auf alles, was gesagt wurde. „Du magst sicher Katzen gern“, sagte Helge. „Ja, ich liebe die Katzennatur, ich liebe ihre Selbständigkeit. Daß sie nicht kriechen, daß sie sich von niemand abhängig machen.“ „Still they are the cats who walk by themselves, and all the world is alike to them“, lächelte Helge. „Abgesehen von der Pluralform ist das richtig“, lachte Gerd. „Auch ich habe Kipling gelesen. Aber ist es nicht wahr?“ „Doch, es ist wahr. Und ich verstehe gut, daß gerade du das fin dest. Du gleichst ihnen in vielem.“ „Ich?“ „Ja du! Ich hoffe, du bist nicht beleidigt, wenn ich behaupte, daß du etwas von einer Katze in dir hast.“ „Nein, beleidigt bin ich keinesfalls. Das Wort ,Katzennatur’ ist so oft mißbraucht worden, und es ist schrecklich ungerecht, es in einer herabsetzenden Bedeutung anzuwenden.“ „Das ist es, was ich meine. Im Grunde habe ich dir nun also ein großes Kompliment gemacht.“ „Darüber bin ich mir völlig klar. Die Katze ist das selbständigste und ehrlichste Tier, das es gibt.“ „Und ich glaube, du bist das selbständigste und ehrlichste Mäd chen, das ich kenne.“ „So gut kennst du mich doch gar nicht! Aber um auf etwas ande res zu kommen: Was wirst du tun, wenn du hier abreist? Ja, richtig, nach Kiel fahren und an Bord eines neuen Schiffes gehen. Wie heißt es denn?“ „Dorette.“ „Dorette? Ein putziger Name.“
„Ja, weißt du, es fing damit an, daß die Frau des Reeders Annette heißt. So wurde das erste Schiff getauft. Das nächste hieß nach der Tochter Babette. Damit hatten sie nun etwas ganz Amüsantes, aber auch Vertracktes angefangen, denn jetzt sollten alle Schiffsnamen auf ,ette’ enden, und sie sollten nach dem Alphabet gehen. Da haben wir also ,Annette’, ,Babette’, ,Colette’ und ,Dorette’, aber ich ahne nicht, wie man Nummer fünf nennen will.“ „Ich werde es sagen, wenn mir eine Idee kommt“, lachte Gerd. Dabei betrachtete sie die kleine Spielzeugkatze nachdenklich. „Du sollst Dorette heißen, Pussy, das paßt genau.“ „Colette paßt besser“, widersprach Helge. „Du kennst doch die Französin Colette, Freundin aller Katzen?“ „Ja, aber ,Dorette’ heißt doch dein Schiff“, antwortete Gerd, und auf einmal war ihre Stimme so jung, vertrauensvoll und rührend kleinmädchenhaft.
6 Die Zeit war allzu rasch vergangen. Ehe sich Gerd umsah, war der Sonntag gekommen, und Helge begleitete sie zum Flugplatz. „Hast du aber Dusel!“ lachte Helge. Es zeigte sich nämlich, daß das Flugzeug, das Gerd eigentlich nehmen sollte, voll besetzt war. „Aber fünf Minuten später hat die Maschine aus New York eine Zwischenlandung hier – allerdings führt sie nur erste Klasse“, erklär te die hilfreiche Dame am Schalter. Also spendierte Gerd einige Mark extra, flog in der Luxusklasse und fühlte sich wie eine Millio närin. Sie hatte die Tour über Oslo gewählt, um ihre Mutter und Solveig besuchen zu können. Sie würde dann den Nachtzug nach Kristian sand und von da den Bus nehmen. Auf diese Weise konnte sie pünkt lich morgen früh im Büro sein. Sie saß bequem in dem großen weichen Lehnstuhl und genoß den Luxus. Mit großen Augen sah sie, daß ein kleiner Tisch vor ihr auf gebaut und für einen delikaten Imbiß hergerichtet wurde. Stewards in weißen Jacken gingen mit Flaschen herum und boten Getränke an. Aber Gerd dankte mit einem lächelnden Kopfschütteln; sie wollte nicht mitten am Tag Alkohol trinken. Sie sah sich um und betrachte te die anderen Passagiere, die aus Amerika kamen. Gerd genoß diese Atmosphäre von langer Reise und großer Welt. Mit einem Male wurde es ihr bewußt, wie innig sie wünschte, daß Helge an ihrer Seite sitzen und sie alles mit ihm gemeinsam genießen könnte. Daß sie zusammen reden und reisen könnten, nicht heim, sondern weit, weit weg, in die große Welt. Was hatte Helge gestern gesagt? „Es ist merkwürdig, wie wir einander gleichen, Gerd. Wir haben denselben Geschmack, dieselben Wünsche, dieselbe Auffassung von allen möglichen Dingen. Fühlst du das nicht auch?“ Doch. Gerd fühlte ebenso. Sie fühlte es so stark, daß es sie fast erschreckte. Gestern waren sie in Hagenbecks Tierpark gewesen, hatten den ganzen Tag da verbracht. Sie konnten sich gar nicht satt sehen an all dem Schönen. Gerd hatte vor Freude gejubelt, als sie vor der großen Grotte ein Löwenpaar mit zwei kleinen molligen Jungen entdeckten. Sie hatte Bären und Affen gefüttert und ein seidenweiches Eselfüllen gestreichelt. Zusammen hatten sie sich über ein Känguruhjunges
amüsiert, das seiner Mutter in den Beutel hinein- und wieder heraus schlüpfte. Und Hand in Hand hatten sie dagestanden und die See hunde und Robben betrachtet, die sich spielerisch in ihren Wasserbecken tummelten. Dazwischen plauderten, fragten und erzählten sie. Die Herbst sonne hatte über die goldenen und roten Farben der Bäume gestrahlt, der ganze Tag trug einen goldenen Glanz. Und jetzt war es vorbei… Aber – da war etwas, was Gerd nicht verstand: Warum hatte Hel ge kein Wort vom Wiedersehen gesagt? Warum hatte er nicht nach ihrer Adresse gefragt? Nun ja, er hatte die Büroadresse, aber trotz dem! Und Gerd kannte auch seine Adresse nicht. Da er auch nichts von einem Briefwechsel erwähnte, wäre Gerd die allerletzte gewe sen, die – nein, eher würde sie sich die Zunge abbeißen, als aufdring lich scheinen. Aber – es war doch merkwürdig. Denn niemand sollte behaupten, daß Helge nicht mehr für sie fühlte als für irgendeine andere xbeliebige nette Reisebekanntschaft. Sollte dies aber doch der Fall sein, so verstand sie überhaupt nichts von Männern. Wenn alles, was er gesagt hatte, die zahlreichen Händedrücke, nur landläufige Galanterie gewesen war, die man einem hübschen jungen Mädchen beinahe schuldete, ja, dann wußte Gerd überhaupt nicht, was sie denken sollte. Alles, was er gesagt hatte - Vielleicht war das gar nicht so viel. Aber hinter den kleinen Worten lag eine zärtliche Wärme, und es lag auch etwas in seinem Blick, diesem festen Blick der blauen Augen. Und doch: Warum hatte er mit keinem Wort angedeutet, daß er sie gern daheim in Norwegen wiedersehen wollte? Nun ja… vielleicht schrieb er bald an sie, und der Brief brachte dann die Erklärung für alles. Auch seine Adresse würde sie dann kriegen. Gerd wußte nur, daß sich seine Reederei in Kristiansand befand, und da wohnte Helge wohl auch, aber damit erschöpften sich ihre Kenntnisse. Aber sie würde schon mehr erfahren. Es war doch ganz klar, daß Helge schreiben würde. Bei diesem Gedanken fand Gerd ihre Ruhe wieder. Sie lächelte so glücklich vor sich hin, sah so jung und froh aus, daß ein Ge schäftsmann in mittleren Jahren aus dem fernen Westen auf der an deren Gangseite darüber sinnierte, wie er wohl mit der „dollen Biene“ da drüben in ein Gespräch kommen könne. Aber es war nicht
so leicht, ein Gespräch anzuknüpfen, denn das Herz der „Biene“ war so voll, daß gar kein Platz mehr für anderes war. Und sie war so ganz in ihre Gedanken versunken, daß sie sich mit nichts beschäftigen konnte, als eben nur mit diesem einen. Gerd hatte ihre Ankunft telegrafiert, und nun waren Mutti und Solveig auf Fornebu. „Nein, weißt du, Gerd“, freute sich Mutti, „du hast aber wirklich einen Mordsdusel. Kind, du siehst ja strahlend aus. Und ich dachte, du hättest ein paar schrecklich anstrengende Tage hinter dir!“ „Ich habe ein paar herrliche Tage hinter mir“, lachte Gerd, „das Ganze war wie ein Märchen!“ Dann erzählte sie von der dramatischen Hinreise mit Telegrafie ren und Nervosität, dem Treffen mit Busch in Kopenhagen, der Be sprechung in Hamburg. Dann schwieg sie plötzlich. „Wie heißt er?“ fragte Solveig aus einem sicheren schwesterli chen Instinkt heraus. „F. J. Busch, wie ich schon sagte.“ „Unsinn! Doch der, mit dem du in Hamburg zusammen warst.“ Gerd wurde glühend rot. „Dacht’ ich es mir doch! Hast ja nie gut Komödie spielen kön nen, Schwesterchen. Wo trafst du ihn denn, und war er nett?“ „Ich traf ihn zwischen Kristiansand und Aalborg, und er war sehr nett.“ „Und er mußte auch nach Hamburg, und da wart ihr bei Hagen beck und am Jungfernstieg.“ Gerd starrte ihre Schwester verblüfft an. „Woher weißt du das?“ „Du bist doch ein normaler Mensch, und so was würden alle normalen Menschen tun. Soso - ! Und wo ist er geblieben?“ Gerd erzählte. Solveig interessierte sich lebhaft dafür, aber die Mutter sah bekümmert aus. „Nun, Gerd, so etwas – “ „- geht doch nicht an“, vollendete Gerd den Satz. „Beruhige dich nur, Mutti. Ich habe mich so brav aufgeführt, daß man mich in Leder binden und einer Konfirmandin auf den Nachttisch legen könnte.“ „Aber Gerd, nach so kurzer Bekanntschaft – “ „Mutti, ich habe ein Gewissen, so rein wie ein neugebleichtes Handtuch. Und Helge hat weder mit mir geflirtet noch mich geküßt.“ „Wie schade!“ sagte Solveig. Gerd sann ihren eigenen Worten nach: Nein, Helge hatte weder mit ihr geflirtet noch sie geküßt. Und – wenn er sie nun geküßt hätte? Gerd mußte sich selbst gestehen,
aber auch nur sich selbst, daß dieser Gedanke ihr gar nicht unsympa thisch war. Auf einmal begriff sie, daß diese kleine Unruhe, emporgestiegen aus ihrem Unterbewußtsein, einen unerfüllten Wunsch bedeutete, der dalag und rumorte. Es war ganz einfach eine schmerzliche Enttäu schung. Wie gemütlich war es, für einige Stunden zu Hause zu sein! Mut ti und Solveig fragten, und Gerd erzählte von ihrer Arbeit, dem Chef, der krank war, und wie es zu der plötzlichen Reise gekommen war, nicht zu vergessen das Telegramm, das sie erhalten hatte, mit ihrer Beförderung zur Büroleiterin. „Ich bin stolz auf dich, meine Kleine“, sagte Mutti und fügte mit etwas unsicherer Stimme hinzu: „Ach, wenn dein Vater das noch erlebt hätte, wie froh wäre er darüber gewesen.“ Das Abendessen bei der Mutter schmeckte ganz herrlich, sogar noch besser als der feine Lunch im Luxusflugzeug. „Aber du bist so dünn, Kind“, meinte die Mutter besorgt. „Es war wohl zu anstrengend in der letzten Zeit.“ „Nun ja, du weißt, der Chef ist krank. Ich muß immer zwischen Büro und Klinik hin- und herpendeln, und das junge Mädchen, das wir im Büro haben, taugt zu nicht viel mehr, als Briefmarken zu kleben und den Papierkorb zu leeren.“ „Richtige Ferien hast du auch nicht gehabt“, sagte die Mutter be kümmert. Das stimmte. Gerd war im August ins Gebirge gereist und sollte drei Wochen Ferien haben, aber nach zehn Tagen kam ein Blitztele gramm für sie: Der Chef habe ein Bein gebrochen und liege im Krankenhaus. Ob sie den Rest ihrer Ferien nicht auf später verschie ben könne? Natürlich war Gerd mit dem nächsten Zug zurückgefahren, und seither war keine Zeit gewesen, an Ferien zu denken. „Ach, das ordnet sich schon mal“, ging Gerd lächelnd darüber hinweg. „Ich fühle mich jedenfalls mächtig wohl bei meiner Arbeit, und es gefällt mir auch in der kleinen Stadt. Sie ist so idyllisch, und alle Menschen sind so friedlich und freundlich.“ Und Umgang - ? Gewiß hatte sie den. Sie war Mitglied des Klubs berufstätiger Frauen und hatte dort einige nette Bekanntschaften gemacht. So eine richtige Herzensfreundin besaß sie allerdings nicht, aber es ging ihr sonst sehr gut, und es bestand gar kein Grund, ihret wegen besorgt zu sein.
Erst als sie zum Zug mußte, strich ihr Mutter sachte über die Wange und fragte mit leiser Stimme: „Und jener andere, Kindchen, du weißt, bist du jetzt ganz darüber hinweggekommen?“ Gerd schaute die Mutter erstaunt an. Sie mußte sich tatsächlich einen Augenblick besinnen, bevor sie wußte, was die Mutter meinte. „Ach das! Aber gewiß doch, Mutti. Ganz und vollkommen. Das war eine außerordentlich nützliche Lehre für mich. Ein andermal werde ich mich vorsehen, darauf kannst du dich verlassen. Doch ja, Mutti, das ist vorüber, und ich denke nie mehr daran – “ „Gott sei Lob und Dank!“ sagte die Mutter. „Es ist wirklich gut, daß Sie kommen, Fräulein Elstö“, freute sich der Junior am Montag morgen. „Ich muß auf eine Tour nach Öster dalen, und Intelli-Genzchen fragte mich neulich, ob sie auf einen Brief nach Narwik In- oder Auslandsporto kleben müsse. Also kön nen Sie wohl verstehen -. Muß Sie übrigens bitten, gleich ins Kran kenhaus zu sausen. Mein Erzeuger hat nämlich an die sechshundertneun Sachen angesammelt, über die er mit Ihnen spre chen muß. Übrigens gratuliere ich zur Beförderung nebst Ge haltsaufbesserung, beides wohlverdient!“ Gerd lächelte erfreut und trabte zum Krankenhaus. Sie fand ihren Chef auf Krücken herumhumpelnd. „Es geht vorwärts, Fräulein Bürochef“, brummte er. „Warten Sie nur, bald sehen Sie mich wieder in der Tretmühle. Herzlich will kommen, und Gott segne Sie. Bekam übrigens einen Luftpostbrief von Busch, abgeschickt von Glasgow. Wollen Sie ihn lesen?“ „Gerne, wenn ich darf.“ „Natürlich dürfen Sie. Aber zerspringen Sie nur nicht vor Einbil dung.“ Gerd ließ ihre Augen über das dünne Papier laufen, OOS mit „SAS On board the plane“ in der oberen Ecke. „Übrigens erlauben Sie mir, Ihnen ein Kompliment über Ihre vortreffliche kleine Reprä sentantin zu machen. Sie versteht ihre Sache aus dem Effeff und hat einen klaren Kopf. Außerdem muß sie ja Ihre ganzen Geschäftsver bindungen um ihren kleinen Finger wickeln können. Es war sehr nett, die junge Dame kennenzulernen. Viele Grüße an sie.“ „Ja, wie gesagt, zerspringen Sie mir jetzt nicht vor Hochmut! Aber sehen Sie, das ist mein Prinzip: Ich brumme und schelte, wenn etwas schiefgeht, das wissen Sie – “
Gerd nickte. O ja, sie hatte da so ein paar Sachen in Erinnerung aus ihrer ersten Zeit bei Myrseth, die - „Aber ich sage auch, wenn es etwas zu loben gibt, nicht wahr?“ Gerd stimmte erneut zu. „Na also. Diesmal sind Sie tüchtig gewesen, ich weiß, daß ich Ihnen selbständige Aufgaben anvertrauen kann, und deshalb habe ich Sie zur Büroleiterin gemacht. Nun hören Sie mal zu: Vor allem müs sen wir jetzt eine Bürohilfe haben, männlich oder weiblich, jemand, der stenografieren kann und sich im Englischen und Deutschen zu rechtfindet. Sie werden also eine Anzeige aufgeben. Außerdem sol len Sie freies Verfügungsrecht über Intelli-Genzchen haben. Ja, da haben Sie eine harte Nuß zu knacken, aber aufrichtig gesagt, das Kind tut mir leid. Sie ist so nett, willig, höflich und ehrlich, wenn sie auch das Pulver nicht erfunden hat.“ „Ach ja, leider!“ seufzte Gerd. „Ich diktierte ihr einen Brief kurz vor meiner Reise und gebrauchte leichtsinnigerweise den Ausdruck ,primär’. Als ich das Produkt vorgelegt bekam, stand da ,prima’!“ „Zugegeben, es ist nicht ganz einfach für Sie, Fräulein Elstö, aber wollen Sie es nicht trotzdem noch mal versuchen?“ „Selbstverständlich will ich das, Herr Direktor. Ich werde alles an Geduld mobilisieren, was ich besitze.“ „Na schön, das war das. Ja, und dies hier müssen wir zusammen durchsehen. Hier – eine Anfrage von einer Maschinenfabrik in New castle, ob wir Kisten für den Export von Maschinenteilen liefern können. Jetzt wollen wir mal sehen – “ Direktor Myrseth nahm den ersten Brief von dem ziemlich gro ßen Packen, der sich bei ihm angesammelt hatte. Gleich darauf ver tiefte er sich gemeinsam mit Gerd in die Geschäftspapiere. Die neue Mappe voller Stenogramme, kehrte Gerd ins Büro zu rück. Als sie in der Frühstückspause in die Zeitung schaute, starrte sie mit großen nachdenklichen Augen auf eine Notiz, die besagte, daß „Dorette“ von Kiel, wo sie für Rechnung der Reederei Langedal gebaut worden war, auf ihre Jungfernfahrt gehen sollte. Ein einziges kleines Wort ließ ihr Herz rascher schlagen, das kleine Wort D-o-r-e-t-t-e… sieben kleine Buchstaben… Ihre Augen wanderten zur Katze Dorette, die fremdartig ostasiatisch auf ihrem Schreibtisch saß, und Gerds Zeigefinger glitt liebkosend über ihren braungoldenen Plüschrücken.
7 Es war gut, daß Gerd viel zu tun hatte. So war sie gründlich müde am Abend und hatte weder Zeit noch Kräfte, an private Sachen zu denken. Ja, sie war oft so todmüde, daß sie trotz der stachelnden Unruhe im Unterbewußtsein einschlief. Warum, warum hörte sie denn nur kein einziges Wort von Helge? War sie also doch ein so schlechter Menschenkenner, hatte er nichts weiter gemeint? Und diese warme, melodische Stimme – ja, war sie ganz einfach immer so? Denn in dem, was er gesagt hatte, war ja nicht ein Wort, das auf etwas anderes als auf Sympathie deuten konnte. „Ich habe dich so unbeschreiblich gern.“ Ja, das hatte er gesagt. Und – „Ich bin so froh, daß ich dich kennengelernt habe.“ Aber kein Wort mehr. Und dann: „Du bist ein merkwürdiges Mäd chen.“ Das war gewiß keine Liebeserklärung. „Du bist so energisch. – Du bist wohl nicht beleidigt, wenn ich sage, daß eine Katze in dir steckt.“ Persönliche Randbemerkungen, gewiß, aber nichts in Richtung einer Liebeserklärung. Aber die Stimme – die Stimme – und die Blicke. Vielleicht kennzeichnete gerade dies die großen Charmeure, daß sie nur die alltäglichsten Dinge zu sagen brauchen, bei denen die Worte nichts bedeuten, aber Stimmenklang und Blicke den Erfolg verbürgen. Wenn es sich so verhielt, ja, dann sollte es dem Kapitän Helge Jerven niemals glücken, dem Bürochef Gerd Elstö den Kopf zu ver drehen. Dafür wollte Bürochef Elstö sorgen! Dann stürzte sich Bürochef Elstö verbissen und energisch auf die Tagespost. Handwerker waren dagewesen und hatten einen kleinen „Käfig“ aus Mattglas für sie errichtet. Jetzt hatte sie ihr eigenes Büro, mit der Aufschrift „Büroleiterin“ an der Tür. Hinter der breiten Mahagonitür befand sich der goldbuchstabierte DIREKTOR, und im äußeren Büro hausten Intelli-Genzchen und ein neuer junger Mann namens Throndsen. Mit dem jungen Throndsen war unter den vielen Bewer bern eine gute Wahl getroffen worden. Er kam frisch vom Handels gymnasium, hatte einen klugen Kopf, war höflich und wohlerzogen. Gerd seufzte neidvoll, wenn der junge Throndsen vom Chef zum
Diktat gerufen wurde, während sie sich mit Intelli-Genzchen plagen mußte. „Hören Sie mal, Fräulein Genz“, sagte Gerd, „wenn ich Ihnen ein Wort diktiere, das Sie nicht verstehen, so fragen Sie doch einfach. Niemand erwartet von Ihnen, daß Sie alle möglichen Fachausdrücke kennen sollen. Also, fragen Sie nur! Damit lernen Sie etwas für die Zukunft.“ „Fräulein Genz, setzen Sie sich hin und lesen Sie die Regeln für den Postverkehr“, sagte Gerd ein andermal. „Sie müssen sich die Unterschiede zwischen Bankscheck, Postanweisung und Postscheck konto einprägen. Haben Sie denn das nicht auf der Handelsschule gelernt?“ „Doch, aber es ist so schwer zu behalten“, murmelte IntelliGenzchen errötend. „Dann müssen Sie es eben jetzt lernen. Das ist dringend notwen dig. Und ebenso müssen Sie lernen, einen Telefonbescheid entge genzunehmen sowie einen zu geben. Sie müssen wissen, wie man ein Ferngespräch anmeldet, ein Telegramm aufgibt, eine telegrafische Anweisung und so weiter. Alles steht da schwarz auf weiß, und Sie können es lernen. Das alles überreiche ich Ihnen jetzt als erste Auf gabe.“ Die arme kleine Genz nahm es ernst. Mehrere Tage hindurch ging sie herum und übte sich die Telegrammtechnik ein. Sie aß nicht mehr Kotelett zu Mittag, sondern Karin, Otto, Theodor, Else, Luise, Erich, Theodor, Theodor. Abends war sie so müde, daß sie ins Betty, Erich, Theodor, Theodor fiel. Der Juniorchef war bald in Österdalen, bald in Nordland, dann folgte eine rasche Tour nach Schweden. Die wenigen Tage, die er daheim zubrachte, saß er an seinem Schreibtisch im Büro des Vaters. Aber es war ganz offenkundig: Er war ein Freiluftmensch und litt unter der sitzenden Lebensweise in einem Büro. Der Direktor hatte seine Arbeit wiederaufgenommen. Er ging mit einem Stock und ließ sich zum Büro und wieder nach Hause fahren, aber hielt den vollen Arbeitstag durch. Die gleichmäßige rhythmische Melodie der Arbeit klang durch die Geschäftsräume von Myrseth und Sohn. Die vier oder fünf Men schen hatten, trotz ungleicher Eigenschaften und Voraussetzungen, doch dies gemeinsam, daß sie sich alle nach Kräften anstrengten, um der Firma zu dienen und sie neuen Erfolgen entgegenzuführen.
„Bitten Sie die Büroleiterin zu mir“, sagte der Direktor zum jun gen Throndsen, als dieser die unterschriebenen Briefe holte. Es war schon spät, kurz vor Büroschluß. Gerd kam. Der Direktor betrachtete sie anerkennend. Sie sah so nett und adrett aus in dem dunkelgrauen Kostüm und der blendend weißen Bluse. Gerade so sollte eine Dame in gehobener Bürostellung aussehen: geschmackvoll, einfach, korrekt, mit einem kleinen Anflug von jener Würde, die mit der Stellung verbunden war. „Setzen Sie sich bitte, Fräulein Elstö.“ Gerd tat es. „Hören Sie mal, ich habe Ihnen gegenüber ein schlechtes Gewis sen.“ „Aber wieso, Herr Direktor?“ „Doch! Sie sind dünn wie ein Faden. So möchte ich Sie um kei nen Preis Ihrer Mutter vorzeigen. Es ist mir plötzlich erschreckend klargeworden, daß ich Sie tatsächlich um die Hälfte Ihrer Ferien betrogen habe.“ „Dafür durfte ich doch aber die Tour nach Hamburg machen.“ „Durfte ist gut. Na, was ich sagen wollte: Ich wünsche, daß Sie sich eine Woche freinehmen, ordentlich und viel essen und sich erholen.“ „Kommt gar nicht in Frage, Herr Direktor! Vielleicht im Winter, aber gerade jetzt, wo wir soviel zu tun haben?“ „Junge Dame, sind Sie es oder ich, der hier zu bestimmen hat?“ „Herr Direktor, ich weiß gut, wer im Büro zu bestimmen hat, aber über mich selbst bestimme ich.“ „Himmel, was für ein Dickkopf! Sie sollten Klapse kriegen, wahrhaftig! Hören Sie, Kind, jetzt mal ganz ernsthaft: Ich fühle so etwas wie Verantwortung Ihnen gegenüber, verstehen Sie. Und ich kann gut beurteilen, welche Arbeit Sie hier leisten. Aber schön, ich will Ihnen auf halbem Weg entgegenkommen: Ich möchte, daß Sie Ferien machen, und Sie wollen für die Firma arbeiten. Wenn wir das nun kombinierten?“ „Ja, wenn sich das machen läßt.“ „Da sind doch diese Kisten mit den Maschinenteilen, Sie wissen ja. Ach, das habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt: Gestern erhielt ich in meiner Wohnung ein Ferngespräch. Es geht also in Ordnung mit der Fracht. Wir bekommen einen kleinen Zwölfhunderttonner, der den ganzen Kram nach Newcastle bringt. Wenn Sie also die See mögen und nicht seekrank werden…“
„Ich liebe die See“, warf Gerd ein. „Schön! Dann hätten Sie vielleicht Lust mitzufahren? Es ist eine gute Kajüte an Bord, eigentlich die des Reeders, aber er hat sicher nicht den Ehrgeiz, eine Tour mit Maschinenteilen nach Newcastle zu machen. Dagegen täte es Ihnen gut, mal eine Woche wegzukommen. In Newcastle könnten Sie dann wohl so gut sein, unseren dortigen Geschäftsfreund aufzusuchen und sich ein bißchen mit ihm zu unter halten? Sie wissen selbst am besten, wie wichtig es in unserem Beruf ist, mit den Kunden in direkten Kontakt zu kommen.“ Natürlich, das wußte Gerd. „Also machen wir es so? Das Schiff lädt Montag in Kristiansand und geht Montag abend in See. Also, ab Montag Ferien, und lassen Sie sich an diesem Tag nicht mehr sehen! Da sollen Sie packen und zum Friseur gehen und – Gott allein weiß, was ihr Frauenzimmer euch alles vor einer Reise noch vornehmt. Und Montag abend dann mit Ihnen an Bord des Luxusschiffes ,Babette’ von Kristiansand.“ „Ba-ba-babette?“ „Ja, allerdings, Babababette. Komischer Name für ein Schiff. Es ist Langedals Reederei, die diese -ette-Namen hat.“ „Ich weiß“, murmelte Gerd. „Ich – ich las neulich in der Zeitung, daß sie nun ein neues Schiff haben, ein neues Langedalsschiff meine ich, und das hieß wohl ,Dorette’.“ „Ach, ist er jetzt bei D angelangt? Ja, das ist ein Mann mit Initia tive. Er kommt noch bis Yvette, ehe wir uns umsehen. Himmel, wie blaß Sie sind, Kind, und Sie behaupten, Sie brauchten keine Ferien!“ Babette. – Annette, Babette, Colette, Dorette. Gerd lag im Bett und konnte nicht einschlafen. Also wieder eine Reise. Sie liebte Reisen. Sie liebte auch die See. Und jetzt sollte sie mit „Babette“ reisen, mit Langedals Babette! „Lieber Gott, warum war es nicht lieber die ,Dorette’?“ flüsterte sie plötzlich in ihr Kissen. Und dann stürzten ihr die Tränen aus den Augen.
8 Es war Montag nachmittag. Wie Myrseth ganz richtig vorausgesehen hatte, war Gerd noch beim Friseur gewesen, aber der Koffer war bereits gepackt, und in der Aktenmappe lagen einige Geschäftspapie re von Myrseth neben der Katze Dorette. Gerd hatte Bescheid erhalten, daß die Ladearbeit gegen achtzehn Uhr beendet sein würde und das Schiff gegen neunzehn Uhr vom Kai losmachen sollte. Sie kam mit dem Autobus eine Stunde vor Fahrtbeginn. Es däm merte, als sie über die schmale, steile Landungsbrücke an Bord ging. „Babette“ war das reine Spielzeugschiff, verglichen mit den an deren großen Dampfern im Hafen. Ein junger Mann kam ihr entgegen. „Fräulein Elstö? Guten Tag und willkommen. Ich bin hier der Er ste Offizier, Andersen. Erlauben Sie.“ Er nahm ihren Handkoffer und führte sie zu dem kleinen Aufbau, der übrigens von innen gar nicht so eng wirkte. Die Wände in dem hufeisenförmigen Gang bestanden hauptsächlich aus einer Reihe heller, blankpolierter Türen. „Erster Offizier“, „Zweiter Offizier“, „Messe“, „Service“, „Toilette“, jede Tür hatte ein zierliches Schild. In der Mitte des Hufeisens trugen zwei Türen die Aufschriften „Kapitän“ und „Reeder“. „Bitte, Fräulein Elstö. Ich hoffe, Sie finden sich hier zurecht. Wenn Sie irgend etwas brauchen oder fragen wollen, so klingeln Sie dem Messeboy. Hier ist die Klingel. Wir essen um neunzehn Uhr. Ich muß mich leider beeilen. Hoffentlich gefällt es Ihnen an Bord. Die Wettermeldungen sind günstig.“ Dann war Gerd allein. Sie blieb stehen und sah sich um. Die Ka bine war blitzsauber. Es gab hier einen ordentlichen Kleiderschrank, einen geräumigen Tisch, ein großes Porzellanwaschbecken mit Warm- und Kaltwasser. Die Schlafkoje, hoch und schmal, hatte in ihrem Unterteil Schubfächer. Auf dem Boden lag ein dicker Teppich, und auf dem Nachttisch stand eine Schale mit Obst. Ja, hier war es gemütlich! Gerd packte aus. Diese Kabine sollte für eine Woche ihre Heim statt sein. In Newcastle könne sie ebenfalls an Bord wohnen, hatte der Reeder freundlich gesagt. So hatte sie keine Schererei mit dem Ein- und Auspacken und sparte außerdem noch Geld.
Behutsam packte sie die Katze Dorette aus und setzte sie neben die Obstschale auf den Nachttisch. Und dann wurden ihr ganz plötzlich die Augen feucht. Zu dumm! Jetzt, nachdem sie ihrer Pflichten für eine Weile ledig war, stiegen aus ihrem Unterbewußtsein wieder alle Probleme em por, und das tat schrecklich weh. Schon wieder rollten ein paar Trop fen über ihre Wangen. „Dumme Gans!“ sagte Gerd nachdrücklich zu sich selbst, ging zum Waschbecken und badete ihre Augen, puderte sich und richtete ihr Haar. Kaum war sie fertig, da klopfte es an die Tür, und ein etwa sechzehnjähriger blondköpfiger Junge stand davor. Er erklärte, das Abendessen stehe bereit und für das Fräulein sei drinnen beim Käp ten gedeckt. „Beim Kapitän?“ „Ja, für die Passagiere decken wir immer drinnen beim Käpten.“ All right! Wenn das hier üblich war, würde sie es natürlich wie die anderen Passagiere halten. Noch ein Tupf mit der Puderquaste auf die Nase – dann klopfte sie beim „Käpten“ an und hörte eine Stimme „Herein“ sagen. Sie sah ein Uniformjacket und eine hohe Gestalt. Als sie den Kopf hob, um auch das Gesicht zu sehen, drehte sich plötzlich alles um sie. „Helge!“ „Gerd!“ Sie riefen es wie aus einem Mund. Standen einander gegenüber, sahen einander in die Augen, Augen, die blitzten, leuchteten vor Glück, Augen, die alles verrieten, was der Mund verschwieg. Er hielt ihre Hände und zog sie an sich heran. „Gerd, du bist also der Passagier?“ „Helge, du bist also der Kapitän?“ Dann lachten sie, befreit, glücklich, blieben voreinander stehen und sahen sich an, bis die Tür aufging und der Messejunge mit dem Essen hereinkam. Als der Blondkopf hinausgegangen war, saßen sie sich am Tisch gegenüber und begannen nun endlich, zu fragen und zu erklären. „Du zuerst!“ sagte Helge. „Nein, du zuerst! Daß du nun plötzlich Kapitän auf der ,Babette’ bist, anstelle des Ersten auf der ,Dorette’, das ist doch viel überra schender, als daß ich hier als Passagier hereinschneie.“
„Gar nicht so merkwürdig, wie du glaubst. Ich wußte, daß ich an der Reihe war aufzurücken, ahnte aber nicht, daß es so rasch gehen würde. Meine Karriere auf der ,Dorette’ war sehr kurz. Als wir nach Norwegen kamen, erfuhr ich, daß der Kapitän der ,Babette’ krank geworden war, und ich mußte einspringen. Es gab so viel zu ordnen und zu bestimmen, daß ich mich nicht um den Namen des Passagiers kümmerte, der mit uns fahren sollte. Es wurde auch nur so im Vor beigehen erwähnt, und ich sagte wohl so was wie ,Also, Erster, den müssen Sie übernehmen’, und dann dachte ich nicht mehr daran. Aber du, Gerd, wie in aller Welt erscheinst du hier auf der Bildflä che?“ „Auf Verlangen meines Chefs mußte ich Ferien machen, und er richtete es so ein, daß ich mit der ,Babette’ fahren konnte. Ihr habt nämlich eine Ladung Kisten für uns, und da konnte man mich als Begleitperson mitschicken.“ „Ach, das sind wohl die für Newcastle? Steht ihr denn als Ab sender darauf?“ „Das weiß ich, offen gestanden, nicht. Der Chef hat dieses Ge schäft persönlich abgeschlossen. Vielleicht steht die Kistenfabrik als Absender. Myrseth ist ja nur ein Zwischenglied, weißt du. Dieses Geschäft wurde abgeschlossen, als ich in Hamburg war.“ Plötzlich wurde Gerd rot. Helge lächelte. „Das waren ein paar ganz reizende Tage, Gerd.“ „Ja, sehr nett“, bestätigte sie. „Du mußt essen, Gerd. Wir reden und vergessen zu essen. – Ver such diese Salami, die ist gut.“ „Danke.“ Es war nicht weit her mit ihrem Appetit. Gerd aß sehr langsam, und ihre Gedanken arbeiteten. Warum hatte Helge in der Zwischen zeit nichts von sich hören lassen? Warum hatte er nicht den kleinsten Versuch gemacht, mit ihr in Verbindung zu treten? Aber Gerd gehörte nicht zu denen, die gern fragen. „Und jetzt fahren wir nun also zusammen nach England, Gerd! Es gibt sicher nicht viele Menschen, die zwei Auslandstouren zu sammen machen, ehe sie…“ Er schwieg plötzlich. „Ehe sie?“ wiederholte Gerd. „Ich meine, die Bekanntschaft dadurch einleiten, daß sie gemein sam Auslandsreisen machen. Willst du wirklich nichts mehr essen, Gerd? Du pickst ja wie ein Spatz. In Kopenhagen hattest du viel besseren Appetit.“
„Ach, der kommt schon noch. Bekanntlich zehrt doch die See luft?“ „Na ja, wollen es hoffen. Kommst du mit auf die Brücke?“ „Wenn ich darf, gern. Ich dachte, die Brücke ist das Allerheilig ste an Bord und für Passagiere streng verboten?“ Helge lachte. „Wenn die Passagiere nur in der Einzahl vorhanden sind, nimmt man es nicht so genau. Außerdem gibt es ja auch da Unterschiede. Der Kapitän ist glücklicherweise in der Lage, bestimmen zu können, wen er als Gast auf der Brücke haben will. Komm nur, aber zieh einen Mantel an, es ist kühl draußen.“ Gerd gehorchte. In ihrer Kabine blieb sie einen Augenblick ste hen und preßte die Hände zusammen. Herrgott, wie ihr Herz schlug! Sie verstand sich selbst nicht. Sie war so glücklich, so unsagbar glücklich, und trotzdem war sie den Tränen nahe; sie konnten jeden Augenblick losbrechen. Denn inmitten des Glücksgefühls drängte sich die ungelöste Frage auf: Bin ich für ihn bloß eine nette Reisebe kanntschaft? Aber kann ich ihm denn mehr bedeuten, da er doch nichts von sich hören ließ? Hätte er mir wohl geschrieben, wenn wir uns jetzt nicht zufällig getroffen hätten? Dann versuchte sie, diese Gedanken abzuschütteln. Sie zog sich ihren molligen Teddymantel an und trat auf den Gang hinaus. Helge wartete schon. „Hast du es behaglich in deiner Kabine? Zufrieden?“ „Sehr zufrieden. Es ist eine schöne, geräumige Kabine.“ „Hat der Messejunge daran gedacht…?“ Helge warf einen prü fenden Blick in die Kabine. „Na, gut, daß er soviel Grips im Schädel hat, dir Obst hinzustellen. Aber was ist denn das? Da haben wir ja – “ Mit ein paar Schritten ging er zum Nachttisch und nahm die Katze Dorette in die Hand. „Bist also auch mitgekommen, Pussy!“ lachte er, und sein Blick flog von der Katze zu Gerd. Sie wurde rot und biß sich auf die Lippen. „Ja – die sollte doch mein Maskottchen sein.“ „Ach ja, selbstverständlich. Trotzdem bin ich gerührt, daß du sie mitschleppst.“ „Man sollte sie jetzt wohl lieber Babette nennen?“ „Ach wo, laß sie nur Dorette bleiben. Ich will dir gestehen, ich werde vielleicht noch auf der ,Dorette’ landen.“ „Als Kapitän?“
„Ja. Der Reeder verhandelt nämlich wegen eines neuen Schiffes. Es befindet sich noch im Bau. Vermutlich wird dann der jetzige Kapitän der ,Dorette’ das neue Schiff bekommen und ich kriege die ,Dorette’.“ „Aber warum bekommst du nicht das neue Schiff?“ „Tja – alles soll gerecht zugehen. Das neue Schiff ist ein Sechs tausender, und ich muß eben die Ochsentour meiner Kapitänslauf bahn auf diesen kleinen Trögen absolvieren. Ungeachtet dessen – ,Babette’ wie ,Dorette’ sind sehr gute kleine Tröge. Also Gerd, wol len wir gehen?“ Ganz natürlich und kameradschaftlich legte er den Arm um sie. Ach, wenn doch nur ihr dummes Herz nicht so idiotisch rasch schla gen wollte! - Nimm dich zusammen, Gerd! Bist du eine würdige Büroleiterin oder ein alberner Teenager, der sich in die ersten blauen Augen verliebt? Die Abendluft schlug ihnen kühl und frisch entgegen. Die See lag vor ihnen, blank und still. An Steuerbord schimmerten vom Land die Lichter herüber. Gerd blieb an der Reling stehen. „Wie schön das ist, Helge.“ „Ja, ein solcher Herbstabend kann wundervoll sein.“ Gerd blickte nachdenklich ins Weite. „Weißt du, Helge, wenn ich an so einer Kette kleiner glimmernder Lichter vorbeifahre, denke ich an die vielen Heime, aus denen sie ins Dunkle strahlen. Wie viele Menschenschicksale, wie viele Sor gen und Freuden, wieviel Gutes und Böses sie beleuchten. Vielleicht fällt das Licht auf ein neugeborenes Kind; ein anderes rührt von einer Nachtlampe in einem Krankenzimmer her. Strahlen die Lichter besonders hell, dann verschönen sie vielleicht eine Festlichkeit. Hier draußen aber ist es so still. Wir gleiten an all dem vorbei, unsere kleine Welt ist durch die Bordwände des Schiffes abgegrenzt, und die übrige Welt geht uns gewissermaßen nichts an. Ach Helge, ver zeih, ich rede wohl Unsinn.“ „Nein, Gerd, du redest gar keinen Unsinn. Du drückst etwas aus, was ich selbst oft empfinde. Dieses Isoliertsein in einer so kleinen Welt, das Bewußtsein, das Gefühl zu haben, daß der Kontakt mit dem Festland unterbrochen ist, das werten wohl viele Menschen als Freiheitsgefühl. Hier sind wir ganz auf uns selbst gestellt, und das gibt uns das Empfinden, mehr oder weniger tun und lassen zu kön nen, was wir wollen. Na, vielleicht ist nun das, was ich daherrede, bloßer Unsinn.“
„Nein, durchaus nicht! Aber im Zeitalter des Fernsehens und des Telefons wird wohl dieses Gefühl des Isoliertseins doch nicht mehr so stark sein wie in alten Tagen, im Zeitalter der Segelschiffe.“ „Da hast du recht. Jene Zeit würde ich übrigens brennend gern erlebt haben.“ „Du bist eben zu spät auf die Welt gekommen“, lächelte Gerd, und damit glitten sie in einen lebensnahen und scherzhaften Ton hinüber nach dem kleinen ernsthaften Intermezzo. Gerd konnte nun das Kartenhaus betrachten, mit den vielen un begreiflichen Instrumenten und Karten und dem kleinen Nebenraum, der des Bordfunkers Domäne war. Auf der Brücke stand der Erste Offizier und am Steuerrad ein Matrose. Helge wechselte einige Wor te mit dem Ersten, gab einen Bescheid, stellte ein paar Fragen. Er warf einen Blick auf das Barometer. „Hm, das sinkt.“ „Ja, es sinkt, Kapitän.“ „Wer hätte das gedacht.“ „Eben, und dabei habe ich Fräulein Elstö schönes Wetter ver sprochen.“ „Ja, jetzt stehen Sie also da mit schlechtem Gewissen. Wir müs sen nur hoffen, daß Fräulein Elstö seefest ist.“ „Doch, das bin ich“, tröstete Gerd. „Sie werden sich nicht mit ei nem seekranken Passagier plagen müssen.“ „Das beruhigt mich“, sagte Helge. „Wir werden ja hören, was die Wettervorhersage um 22 Uhr sagt.“ Jetzt war die See noch ruhig. Helge führte Gerd umher und zeigte ihr alles, was es auf diesem kleinen Dampfer zu sehen gab. In der Offiziersmesse beendeten der Zweite Offizier und der Erste Maschi nist soeben ihre Abendmahlzeit. „Hier kannst du essen, wenn du mich satt hast, verstehst du“, er klärte Helge. „Oder wenn ich zur Essenszeit gerade auf der Brücke bin. Aber du kennst wohl unseren Zweiten noch nicht?“ Er stellte vor. Es wurden einige Worte über das unsichere Wetter gewechselt, dann kehrten sie in Helges Kabine zurück. Die war ge räumig und hübsch ausgestattet. Sie enthielt einen Schreibtisch und außer dem Eßtisch, einer Polsterbank und Stühlen noch einen Schrank und eine Schlafnische mit Koje, Schubladen und Nachttisch. „Wie gemütlich ist es hier!“ lobte Gerd. „Ja, nicht schlecht. Was möchtest du noch, Gerd? Einen Drink? Eine Tasse Kaffee?“
„So spät noch Kaffee? Wie, glaubst du, soll man denn schlafen?“ „Na, für mich wird es wohl sowieso kaum Schlaf geben. Mir ge fällt das sinkende Barometer gar nicht. Am besten ist, man bleibt wach. Aber wie du willst.“ „Leider habe ich eine Schwäche für Kaffee, besonders am Abend.“ Der Messejunge bekam Bescheid, und bald darauf hörten sie das Klappern dicker Kaffeetassen gegen ein Metalltablett. Die See war nun nicht länger ruhig. „Babette“ wiegte sich auf den Wellen, und Helges Fernglas, das an der Wand hing, pendelte hin und her, hin und her. „Wie schade“, bedauerte Gerd, als der Kaffee überfloß und einen Fleck auf das Tischtuch machte. „Halb so schlimm“, beruhigte Helge, „das ist ja nicht das erste mal.“ Er nahm eine Serviette und versuchte, von Gerds Bluse einen kleinen Kaffeefleck wegzutupfen. Plötzlich aber hielt er inne, blieb über sie gebeugt stehen und schaute ihr ins Gesicht. „Du - Gerd, kleine Gerd!“ Ihre Augen trafen sich. Plötzlich nahm Helge ihren Kopf und drückte ihn an seine Brust. „Kleine Gerd.“ Sie ahnte das geflüsterte Wort mehr, als sie es verstand. Dann ließ er sie hastig los und griff nach seiner Mütze. „Ich muß rauf, die Wettermeldung hören.“ Und weg war er. Gerd blieb bewegungslos am Tisch sitzen. Sie sah vor sich hin, gerade vor sich hin, die Hände auf der Tischplatte gefaltet. An der Wand pendelte Helges Fernglas, hin und zurück, hin und zurück.
9 Gerd lag mit offenen Augen in ihrer Koje. Kein Gedanke an Schlaf. Vielleicht war es der starke Kaffee, vielleicht auch der Seegang, der stärker wurde. Vielleicht aber war es auch etwas anderes. Sie erinnerte sich plötzlich an die Nacht in Aalborg, als sie wach gelegen hatte und dann Helge im Hotelgang abfing, weil sie Aus kunft über die Transithalle in Kastrup haben wollte. Jetzt ertappte sie sich dabei, daß sie wie damals lag und auf die Tür nebenan lauschte. Um halb elf Uhr hatte sie noch mal eine Tour hinauf in das Karten haus gemacht und Helge über eine Wetterkarte gebeugt gefunden. „Ich wollte bloß gute Nacht sagen“, hatte Gerd gesagt. „Ich will nicht stören.“ „Unsinn, Deern, du störst doch nicht! Kriech nun aber lieber in deine Koje, Gerd, um nicht Wiege zu sagen. Ich fürchte, du wirst heute nacht gründlich gewiegt werden.“ „Wird es Sturm geben?“ „Na, mach’s nicht gar so wild! Sturm erwarten wir nicht gerade, aber draußen in der Nordsee ist es unruhig, es hat sich ein Tief öst lich von Schottland gebildet, und diese Tiefs haben die unangenehme Gewohnheit, sich gegen Norwegen hin zu bewegen.“ „Nun, wir haben ja Erfahrung darin, daß man nicht gegen den Wettergott kämpfen kann“, lächelte Gerd. „Das war wohl die erste Erfahrung, die wir gemeinsam machten“, sagte Helge. „Arme Kleine, wie nervös du warst, als wir in Aalborg saßen und warteten.“ „Und wie! Aber jetzt bin ich es nicht.“ „Bist ein vernünftiges Mädchen, Gerd. Also gute Nacht und schlafe gut. Und paß auf deine Träume auf. Die erste Nacht an einem neuen Ort – “ „Bist du abergläubisch?“ „Ist das nicht ein Privileg der Seeleute? Also junge Dame, wir nähern uns Lista und Jaeren, da ist es unbedingt besser, eine horizon tale Lage einzunehmen. Soll ich dir die Treppe hinunterhelfen?“ „Glaubst du, ich bin achtzig? Nein, vielen Dank! Gute Nacht, Helge.“ „Gute Nacht, Gerd.“
Gerd warf sich im Schlaf herum. Sie streckte einen Arm aus, und der stieß gegen eine Wand. Eine Wand? Was sollte das in aller Welt bedeuten? Die Wand mußte doch auf der rechten Seite sein, nicht auf der linken? Sie öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf die geblümten Kretonne vorhänge, die hin und her schwangen. Dann erinnerte sie sich. Sie öffnete die Augen vollends und sah auf die Uhr. Sieh mal an, schon neun! Aber wann war sie eingeschlafen? Das mußte spät gewesen sein. Sie richtete sich auf und warf einen Blick durch das Bullauge. Nur Meer und grauer Himmel. Aber der Seegang war nicht mehr so stark wie am Abend zuvor. Sie wusch sich, zog sich an und lauschte dabei unwillkürlich zur Nebenkabine hinüber, ob etwas zu hören war, Geklirr des Geschirrs oder – doch? Jetzt ging die Tür. Plötzlich hatte sie es sehr eilig, fertig zu werden, und eine Viertelstunde später klopfte sie beim Kapitän an. Er saß am Tisch und erhob sich, als sie eintrat. „Guten Morgen, Gerd. Gut geschlafen?“ „O ja! Ich hatte nämlich keine Ahnung, wo ich war, als ich auf wachte. Übrigens weiß ich es immer noch nicht.“ „Du näherst dich in rascher Fahrt Stavanger. Solltest du verges sen haben, Zahncreme, Zeitschriften oder Haarklammern und Brief papier zu kaufen, so bietet sich jetzt die letzte Gelegenheit. Wir bleiben drei bis vier Stunden in Stavanger liegen, dann stechen wir gegen Abend wieder in See. Also du hast fest geschlafen?“ „Ja, als ich endlich einschlief, aber das dauerte lange.“ „Du lagst auch lange wach?“ Es war etwas in seinen Augen, als er „auch“ sagte – etwas, das die Röte in Gerds Wangen trieb. „Und was hast du geträumt? Du weißt, erste Nacht am fremden Ort – “ „Oh, das läßt sich gut an. Demnach werde ich Bereiterin oder so was. Ich habe nämlich die ganze Nacht von Pferden geträumt.“ „Ach herrje, das ist aber schlimm!“ „Schlimm? Findest du nicht, daß Pferde nette Tiere sind?“ „In natura ja, aber nicht, wenn man von ihnen auf See träumt. Das bedeutet nämlich Sturm.“ „Puh! Jetzt hör aber auf!“
„Doch, ernsthaft gesprochen, hätte ich beinahe gesagt. Ein alter Kapitän, mit dem ich einmal fuhr, erzählte, wenn er von Pferden träumte, dann käme Sturm, oder auch wenn man Blut auf Deck sieht. Lang und breit berichtete er über eine Segelschiffahrt in seiner Ju gend. Sie hatten sehr lange Windstille gehabt und schließlich zu fischen angefangen, bloß damit das Blut eines erbeuteten Fisches auf das Deck kommen sollte. Und als dies glückte, begann es tatsächlich zu blasen, und sie konnten wieder segeln.“ Gerd lachte. „So ein Unsinn!“ „Sag das bloß nicht, wenn du mit einem alten, erfahrenen See mann sprichst. Der würde tödlich beleidigt sein. Übrigens entschul dige, daß ich schon gegessen habe, ich wußte ja nicht -. Hatte schon daran gedacht, dir Krauskopf mit Kaffee ans Bett zu schicken.“ „Nein, ich muß um Entschuldigung bitten, weil ich so spät dran bin. Wer ist denn Krauskopf?“ „Na, doch der Messejunge mit seiner blonden Tolle, unsere junge Hoffnung von sechzehn Jahren. Wahrscheinlich hat er den Spitzna men Krauskopf bekommen, weil sein Haar glatter ist als ein Pferde schwanz. Jetzt soll er dir schleunigst frischgebrauten Kaffee bringen.“ Helge klingelte, und etwas später brachte Krauskopf Kaffee und ein weichgekochtes Ei. Helge bewilligte sich noch eine Extratasse zur Gesellschaft, während Gerd frühstückte. Gerd sprach nicht viel. Sie hatte ein sonderbar beklemmendes Gefühl. Ein so vernünftiger, kameradschaftlicher Ton war zwischen Helge und ihr entstanden, aber gerade in diesem Falle hätte Gerd lieber etwas weniger Ruhe und Kameradschaft und dafür vielleicht ein wenig mehr… von etwas anderem. „Willst du rauchen, Gerd?“ „Ja bitte. Hast du übrigens Zeit, hier zu sitzen und Passagiere zu unterhalten? Hast du keine wichtigeren Pflichten?“ „Doch, aber ein gutes Teil davon habe ich heute nacht erledigt und am frühen Morgen. Jetzt kann ich mir etwas Ruhe gönnen. Die gute alte ,Babette’ kennt den Weg, die fährt sozusagen von selber in Stavanger ein.“ Sie rauchten schweigend. Die Schweigsamkeit war voll unausge sprochener Worte. Voll von Fragen, die nicht gestellt wurden, voller Wünsche, die nicht erfüllt wurden. Helges Blick war auf sie gerichtet, aufmerksam, beinahe for schend.
„Du, Gerd… du…“ Seine Stimme war warm, sie hatte wieder diesen seltsamen Un terton. „Ja – ich?“ Gerd sah ihn fragend an. Er zerdrückte die Zigarette im Aschenbecher und stand plötzlich auf. „Ich muß auf die Brücke.“ Und schon war er weg. Gerd trank den Rest ihres Kaffees aus. Sie wollte nach Krauskopf klingeln, aber überlegte es sich anders. Sie hatte ja gar nichts zu tun. Sie ging in die Kombüse, die augenblicklich leer war, holte sich ein großes Tablett und begann, das gebrauchte Geschirr abzuräumen und hinauszutragen. Sie traf Krauskopf im Gang. „Aber nein, das dürfen Sie doch nicht…“ „Laß mich das nur machen, Krauskopf, ich kann doch nicht den ganzen Tag bloß faulenzen. Wirst du jetzt aufwaschen?“ „Sobald ich in der Messe abgeräumt habe.“ Während er das tat, kratzte Gerd die Essensreste von den Tellern und stellte diese zusammen. Als Krauskopf schließlich die notwen digen Höflichkeitsproteste angebracht hatte, war er hoch erfreut, daß ihm jemand beim Abtrocknen half. Er spülte und rasselte, Gerd trocknete und putzte, und dabei wurde geschwatzt. Ehe der Abwasch noch fertig war, kannte Gerd Krauskopfs Familienverhältnisse inund auswendig. Als der letzte Teller auf seinem Platz stand, kam eine rührende kleine Brieftasche zum Vorschein, und aus ihr holte Krauskopf ein Foto hervor, das seine Mutti, fünf jüngere Geschwi ster und eine graue Katze zeigte, alle zusammen aufgenommen vor einem kleinen Haus in Dröbak. „Hast du keinen Vater, Krauskopf?“ „Vater lebt nicht mehr. Voriges Jahr blieb er auf See. Also mußte ich hinaus, weißt du – wissen Sie -.“ Er errötete über das Verspre chen und fummelte das Foto in seine Brieftasche zurück. Und dabei fiel ein anderes heraus. Gerd nahm es auf und Krauskopf errötete bis in seine hellen strähnigen Haarbüschel hinein. „Das – das ist weiter nix.“ „Aber natürlich ist das was. Das ist ja ein hübsches Mädel! Viel leicht eine Schwester von dir?“ Sie blinzelte ihm zu. „Ach – bloß ein Mädel, das ich kenne.“
„Tatsächlich ein wunderhübsches Mädchen, Krauskopf. Du schreibst ihr wohl auch? Und kaufst ihr Geschenke, wenn du im Ausland bist?“ „Naja – ich hab’ auch schon was gekauft. Diesmal wünscht sie sich ausgerechnet ein Perlon-Unterkleid, aber ich habe gesagt, so was kann ich doch nicht kaufen, denn…“ „Vielleicht kann ich dir dabei helfen, Krauskopf? Ich verstehe mich auf so was, weißt du. Für mich ist das viel leichter als für ein Mannsbild.“ Hätte Gerd zu diesem Zeitpunkt nicht schon längst Krauskopfs Herz gewonnen, so würde sie es jetzt bis zum letzten Rest erobert haben, und zwar durch das Wort „Mannsbild“. Mit stolzen, glücklichen und sehr viel sichereren Händen legte Krauskopf das Foto in seine Brieftasche zurück. Er wurde sich be wußt, daß er doch auch ein Mädel daheim hatte. Und warum sollte er eigentlich dieses Foto nicht mit Reißnägeln über seiner Koje anbrin gen? Denn war Berly nicht mindestens ebenso hübsch wie die ande ren Mädchen an den übrigen Mannschaftskojen der „Babette“?! Krauskopf hatte sich eine ihm bisher unbekannte männliche Si cherheit zugelegt. Und in diesem Augenblick wäre Krauskopf für den „Passagier“ durch Wasser und Feuer gegangen. Erst am Mittagstisch sah Gerd Helge wieder. Erwar in Eile, muß te ganz schnell essen. Denn jetzt würden sie gleich in Stavanger einlaufen, da würde eine neue Ladung kommen, die Zöllner wurden erwartet und so weiter. Gerd zog sich in ihre Kabine zurück. Was sollte sie sonst ma chen? Sie wollte Helge nicht damit belästigen, ihm dauernd auf den Fersen zu bleiben. Sie wußte schon, was sie machen würde. In Stavanger würde sie mindestens drei Krimis kaufen, mit Morden gespickt, und außerdem einen Haufen Strickwolle und ein furchtbar kompliziertes Muster. Denn nichts geht über Krimis und Musterstricken für eine Frau, wenn die Liebe ihr Herz mit quälendem Zweifel gefüllt hat.
10 „Da haben wir den Salat“, sagte Helge. Er kam triefend naß zum Frühstück, zog sich die Ölhaut herunter und bat um Entschuldigung, weil er sich in einem gestrickten Sweater zu Tisch setzte, der mehr zweckmäßig als schön war. „Welchen Salat?“ fragte Gerd. „Dieses Wetter! Das Resultat deines Pferdetraums. Zum Teufel auch!“ Die Kaffeekanne rutschte über den Tisch, und Helge bekam sie gerade noch zu fassen, als sie gegen das Schlingerbord stieß. „Wird es noch schlimmer werden?“ fragte Gerd. „Windstärke sieben ist angesagt. Das merkt man dann schon, weißt du. Jetzt haben wir fünf. Und dazu noch Regen. Ja, das ist eine herrliche Ferientour, die du da abgekriegt hast.“ „Jedenfalls bekomme ich genug frische Luft.“ „Ja, aber eins sage ich dir: Auf keinen Fall darfst du allein deine Füße auf Deck setzen.“ „Meine Güte! Was für einen Befehlston du an dir hast!“ „Bin ich vielleicht nicht Kapitän an Bord?“ „Doch, Chef für die Besatzung, aber nicht für mich.“ „Du wirst schon sehen, daß ich auch für dich der Chef bin. Ich habe die Verantwortung, wenn du über Bord kullerst.“ „Ich bin noch nicht achtzig, habe ich dir schon mal gesagt.“ „Nein, aber wenn du nicht tust, was ich dir sage, behandle ich dich, als ob du acht wärest.“ „Das klingt ja reizend.“ Gerd versuchte ein kleines Lachen. „Es ist mir ernst, Gerd. Ohne Begleitung gehst du nicht an Deck. Daß du das weißt!“ Beide hatten gereizte Stimmen. Beide waren nervös. Beide hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Beider Nerven befanden sich in Hochspannung. Sie hatten Stavanger am Abend zuvor verlassen, und nun befan den sie sich mitten in der Nordsee. Hin und wieder überrollte eine Woge das Vorderdeck, und „Babette“ stampfte durch die See. „Ich bin froh, daß ich nicht seekrank bin“, sagte Gerd. „Ich auch. Da hättest du mir leid getan. Du Ärmste, eine sehr vergnügliche Tour ist das nicht für dich, denn du mußt nun in Ein zelhaft in der Kabine sitzen. Wenn du aber nach oben willst, so sage es nur. Du bist stets willkommen.“
„Danke. Aber vorerst bleibe ich in meiner Kabine und schlage hundertzwanzig Maschen auf mit der Landwolle aus Stavanger.“ „Gut, gut. Ich muß wieder hinaufkraxeln. Wenn du etwas brauchst, hast du ja Krauskopf, nicht wahr?“ Gerd seufzte. Sie versuchte „Seebeine“ zu machen und so den Bewegungen des Schiffes zu folgen. Sie hielt sich fest, zielte auf die Tür und konnte in den Gang und in ihre Kabine gelangen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Und nun saß sie da und wickelte seuf zend Wolle auf. Sie hatte zu nichts rechte Ruhe. Sie strickte ein paar Reihen, legte die Arbeit beiseite, las ein Kapitel in einem ihrer Kriminalschmöker, um zu merken, daß sie keine Ahnung von dem Gelesenen hatte. Sie warf einen Blick hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der See gang war stärker geworden, und der Wind heulte richtig im Tau werk. Puh, wie eng und warm es in der Kabine war! Nicht an Deck ge hen, hatte Helge gesagt. Blödsinn! Sie konnte sich doch festhalten. Unbedingt mußte sie frische Luft haben. Konnte doch nicht stur den ganzen Tag in dieser kleinen Mausefalle sitzen. Sie zog einen Regenmantel und Gummistiefel an und band sich ein Tuch um den Kopf. Dann gelangte sie mit viel Mühe durch den Gang bis zur Tür des Vorderdecks. Der Wind schlug ihr entgegen und nahm ihr fast die Puste weg. Aber wie frisch er war! Sie blieb in der Türöffnung stehen und hielt sich fest. Und sie sah auf die weißgekrönten Wogen, die sich vor dem Bug aufrichteten und ihren perlenden Schaum über „Babette“ ergossen. Dieser weißperlende Schaum tat es Gerd an. Herrlich mußte es sein, da vorne zu stehen wie eine lebende Gallionsfigur! Dazustehen, sich an dem dicken Drahtseil festzuhalten und sich von dem perlen den Schaum überspülen zu lassen! Vielleicht hätte Gerd es nicht getan, wäre sie nicht so vollkom men aus ihrem gewohnten Gleichgewicht gebracht worden. Viel leicht hätte sie es nicht getan, würde Helge es nicht verboten haben. Sie fühlte eine Art Trotz, den sie sich selbst nicht erklären konnte. Und dieser Trotz nahm überhand, gewann immer mehr Kraft über sie. Vielleicht war Helge gerade auf der Brücke und würde sie sehen, wenn sie die paar Meter vorwärts sprang, ganz nach vorn, bis
sie in der schäumenden Brause stand. Sie wollte ihm zeigen, daß sie kein Porzellanpüppchen war. Sie wartete, bis „Babette“ in ein Wellental hinabtauchte. Jetzt! Jetzt mußte sie die wenigen Sekunden nützen, ehe die nächste Welle kam. Jetzt! Sie hatte keine Ahnung, daß das Deck so schlüpfrig war. Es war vom Seewasser glitschig. Und da lag Gerd auch schon auf der Nase. Als sie aufstehen wollte, rauschte eine noch viel höhere Woge über „Babettes“ Vorschiff. Das war keine frische Brause, die Gerd nun umsprudelte. Kaskaden kalter grüner Nordsee überschütteten sie und spülten sie gegen die niedrige Bordwand. Sie griff um sich, suchte nach etwas, um sich daran festzuhalten, wurde erneut gegen die Reling geschlagen. In einer Schrecksekunde erkannte sie, wie niedrig die war, so furchtbar niedrig! Das war bestimmt kein Promenaden deck. Und dann schrie sie. Der Schrei erstickte in Wind und Wellengebraus. Aber jetzt rühr te sich da etwas neben ihr. Sie schlug die Arme darum. Dann hörte sie eine Stimme. „Laß mein Bein los, du Idiot!“ Zwei Hände ergriffen ihre Arme, zogen sie empor, und sie wurde hart und unsanft durch die Tür ge schoben. Eine Hand packte sie im Nacken, schleppte sie in die Kabi ne des Kapitäns, und dann standen sie einander gegenüber, er auf seinen geübten Seemannsbeinen, während sie sich an den festge schraubten Tisch klammerte. Beide waren triefend naß, beide feuerrot im Gesicht. „Wenn das noch mal vorkommt“, sagte Helge, und seine Augen blitzten, „dann lege ich dich ganz einfach übers Knie, daß du es weißt, und was ich verspreche, das halte ich auch.“ Gerds Nerven waren am Zerspringen. Es war nicht bloß Seewas ser, was nun an ihren Wangen herunterrann. Sie hob die Hand, um das klatschnasse Kopftuch abzunehmen. Da gab es der „Babette“ einen Ruck, Gerd stolperte vornüber, und Helge fing sie auf. Er blieb in seinem nassen Ölzeug stehen, mit Gerd in den Armen. Dann wurde sie gedrückt, gepreßt gegen den Ölmantel, ein warmes, rotes, nasses Gesicht kam näher – und dann geschah es. Ihr Arm in dem nassen Regenmantel legte sich um seinen Hals, und er küßte sie, küßte sie wieder und wieder, küßte ihren Mund und die Augen und die Stirn und die Wangen, und wieder den Mund. „Gerd – Gerd – Gott im Himmel, Gerd, ich bin auch nur ein Mensch!“
Sie war ganz still in seinen Armen. Ein verklärtes Lächeln leuch tete auf ihrem Gesicht. Sie machte die Augen auf und sah in die seinen. „Wir sind zwei Menschen, Helge“, flüsterte sie. Die nassen Regenmäntel waren zum Trocknen aufgehängt. Jetzt kniete Helge vor ihr und zog ihr die Gummistiefel aus. Er behielt ihre Füße zwischen seinen Händen, drückte sie an seine Wangen. Dann beugte er sich hinab und verbarg sein Gesicht in ihrem Schoß. Sie strich ihm übers Haar. Noch einmal, noch einmal. „Gerd… Meine kleine Gerd… Wenn du wüßtest, wie lieb ich dich habe!“ „Und ich dich, Helge.“ Von dem Augenblick an, wo es geschah, war seine Ruhe hin. Er war gereizt, nervös, hektisch. Sie war ruhig geworden. Die Spannung hatte sich gelöst, und das Glück erfüllte sie so, daß sie sich ganz matt fühlte. „Liebster…“ „Liebste, Geliebteste – mein Mädchen – meine kleine Reiseka meradin – mein kleines geliebtes Mädchen…“ Er riß sich los für einen Augenblick, um ihre Schuhe aus der Nachbarkabine zu holen. Kurz danach saßen sie dicht beieinander auf der Polsterbank; sie merkten den Seegang nicht und dachten nicht an den Wind, der durch das Tauwerk der kleinen „Babette“ heulte. Sie fühlten ihre Nähe und wußten, daß sie sich liebten. Das genügte. Sie sprachen kaum. Sie waren von dem großen, überwältigenden, beinahe scheuen Wunder erfüllt, das seit der Schöpfung der Welt jedes Menschenpaar erfüllt hat, das sich die gegenseitige Liebe gestanden hat. „Ich dachte, du hättest mich nicht lieb“, flüsterte Gerd endlich. Sie saß in seiner Armbeuge und spielte mit einem seiner Jacken knöpfe. „O Gott, und ob ich dich liebhabe – du ahnst es ja nicht, du weißt ja nicht… Von dem Augenblick an, als ich dich in Kristiansand sah, als du ins Flugzeug kamst – und als sich unsere Blicke trafen, weißt du es noch…“ „Ja, es war, als der kleine Junge rief: ,Jetzt fliegen wir, Mutti!’“ „Ja, genau.“ Dann sagte ich mir: „Helge, die ist es! Die ist es, auf die du dein Leben lang gewartet hast!“ „Und trotzdem…“ Gerd schwieg. „Und trotzdem habe ich so viele Tage und Stunden gewartet, meinst du? Kind, ich konnte doch
nicht damals im Flugzeug aufstehen und zu dir hingehen und laut durch den Lärm rufen: Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, aber ich liebe Sie!“ „Nein, aber du hättest es sagen können – ja, zum Beispiel in Hamburg – “ „Und riskieren, dich zu erschrecken? Dich zu verlieren? Ver stehst du nicht, Gerd, dieses Gefühl war so überwältigend, so selt sam, es – ja es war beinahe erschütternd. Ich ahnte ja nicht, daß ich – daß ich…“ „Daß du was, Helge?“ „Daß ich die Fähigkeit hatte, so viel zu empfinden! Liebste, wie soll ich dir das erklären? Ich war mein Leben lang sehr ruhig – und dann entdecke ich plötzlich, daß so ein kleines blondes Lockenköpf chen in mir eine Flamme gezündet hat, eine Flamme, die… ach Gerd, warum sitzen wir hier und reden? Ist das nötig? Ich liebe dich, mein Mädchen, ich liebe dich – das ist ein Wort, das ich nie in mei nem Leben gebraucht habe. Frage nicht, warum ich dich liebe, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich es tu’, und daß du immer, aber auch immer in meinen Gedanken bist!“ Gerd horchte, horchte mit einem zitternden, klopfenden Herz. Nie hatte ein Mann so mit ihr geredet. Es kam aus der Tiefe eines Menschenherzens, aus einem Herzen, das sich bis jetzt niemandem geöffnet hatte. Es kam von einem erwachsenen, reifen Mann. Von dem Mann, dem Gerd bis zum Lebensende gehören würde. Er nahm ihren Arm, schob den Ärmel hoch und küßte ihr Hand gelenk, den Unterarm, die Ellenbeuge. Dann legte er ihre Hand ge gen seine Wange und machte die Augen zu. „Gerd…Wie ist es bloß möglich, einen Menschen so zu lie ben…“
11 „Das ist zum Verrücktwerden“ schimpfte Helge. „Welches das? Das Wetter oder ich oder das Beefsteak?“ „Das Beefsteak sowieso. Unser Koch lernt nie, daß es innen noch roh sein muß, und du bist ja auch zum Verrücktwerden, nebenbei gesagt. Das Wetter ist nicht mehr so gefährlich, das Tief hat sich wohl anders besonnen, es sieht tatsächlich besser aus. Aber daß ich nun die ganze Zeit was zu tun habe, daß ich genötigt bin, Kapitän auf diesem blöden Kahn zu spielen, statt ruhig dazusitzen und stunden lang mit dir zu reden - ! Ach Gerd, ich habe so schrecklich viel mit dir zu reden, Dinge, die ich dir erklären und derentwegen ich dich fragen muß, aber ich bringe es nicht fertig, damit anzufangen, wenn wir doch jeden Augenblick unterbrochen werden.“ Sie saßen am Mittagstisch, den Krauskopf mit einer Sorgfalt ge deckt hatte, die an mütterliche Zärtlichkeit grenzte. „Immer mit der Ruhe, mein Junge. Was tut es denn, wenn wir ei nige Tage warten müssen, ehe wir uns richtig aussprechen können? Ich erlaube es auch nicht, daß du ,Babette’ einen blöden Kahn nennst, denn sie hat uns glücklich durch den Sturm gebracht. Außer dem hast du vielleicht doch etwas mehr Zeit, wenn wir nach New castle kommen.“ „Optimistin“, sagte Helge. „Glaubst du, ein Schiffsführer hat nichts zu tun, wenn er am Kai festmacht? In einem Höllentempo müssen wir aus- und wieder einladen. Morgen abend sollten wir da sein, Freitag löschen, Samstag laden und abends wieder Abfahrt. Glaubst du, daß ich da Zeit habe, mit dir in Ruhe zu sprechen?“ Gerd seufzte. „Nein, vermutlich nicht.“ „Na, warten wir mal Samstag ab, wenn das Laden in Gang ge kommen ist. Eigentlich ist es ja Sache des Ersten, sich darum zu kümmern. Wie gesagt, mal sehen, Gerd. Vielleicht können wir am Samstag zusammen an Land gehen. Wir werden uns schon was ein fallen lassen.“ „Wie ich mich darauf freue!“ „Glaubst du, ich nicht? Aber ich muß mich beeilen, muß für ei nen Turn nach oben. Ich komme aber wieder und trinke Kaffee mit dir, sobald ich kann. Willst du mitkommen oder lieber hierbleiben?“ „Ich bleibe hier und warte. Weißt du, Helge, ich finde, es ist so schön, allein dazusitzen und…“
„Und nachzudenken?“ ergänzte Helge lächelnd. „Nein, beinahe gar nicht zu denken, bloß so dazusitzen und zu wissen, daß du mich liebhast.“ Also saß Gerd allein mit ihrem Strickzeug in der Kapitänskabine. Die Finger liefen flink, denn sie hatte das Begonnene aufgeribbelt und eine viel größere Strickerei angefangen, einen großen, warmen, soliden Sweater. Ein richtig schönes, warmes Kleidungsstück sollte das werden. Warm und gut zum Anziehen in kalten Winternächten auf der Brücke. Es klopfte an der Tür, und Krauskopf zeigte sich. „Ist der Kapitän schon fort?“ „Ja, er mußte nach oben. Aber du kannst einen Kaffee vorberei ten, so stark wie die Hölle, Krauskopf. Der Kapitän will wieder kommen, sobald er kann. Um seinen Kaffee will er sich nicht bringen lassen.“ Krauskopf stellte das Geschirr auf das Tablett. „Das mit dem Kaffee geht in Ordnung. Das Wasser kocht schon.“ Er setzte die Schüsseln geschickt zusammen und räusperte sich ein wenig. Und dann kam es. „Ein prima Kerl, der Käpten.“ „So? Das findest du also?“ „Das meinen sie alle. Am meisten der Reeder.“ „Was du nicht sagst. Hast du mit dem Reeder gesprochen?“ „Bist wohl verrückt! Entschuldigung, das meinte ich nicht. Nein, aber der Zimmermann, der fuhr ja mit dem Käpten auf der, Annette’, damals war der Käpten Zweiter, und dann waren sie in Seenot, und es war mitten im Winter, und sie hatten einen Orkan, und das Schiff, das Hilfe bringen sollte, konnte kein Boot runterlassen, und dann ist der Zweite, also unser Käpten, mit einer Leine ins Wasser gesprun gen und ist geschwomm…“ Krauskopf schwieg plötzlich und setzte eilfertig das letzte Ge schirr aufsein Tablett, um zu flüstern: „Sagen Sie nichts davon zum Käpten, er mag nicht, daß wir darüber reden.“ Da ging auch schon die Tür auf und Krauskopfs „Käpten“ stand höchstpersönlich in ihrem Rahmen. „Na, Krauskopf, wie steht’s mit dem Kaffee?“ „Soll gleich kommen, Käpten.“ Krauskopf verschwand, und Helge lächelte. „Hattest du einen kleinen Flirt mit Krauskopf?“
„Nein, einen großen. Wenn du mich verläßt, habe ich Krauskopf in Reserve. Er frißt mir sozusagen aus der Hand.“ „Das möchte ich mir verbeten haben. Wenn aus deiner Hand ge fressen werden soll, tu’ ich es persönlich! Übrigens kannst du dich freuen: Das Barometer steigt.“ „Herrlich!“ „Na ja, aber die See ist allerdings noch unruhig. Oder merkst du das nicht?“ „Doch, jetzt wo du es sagst.“ Gerd rettete einen Aschenbecher, der über die Tischkante gleiten wollte. „Und das Deck ist glatt wie Eis. Du darfst weiterhin nicht hi naufgehen, außer an meiner Hand.“ „Und wenn ich es trotzdem tue? Gilt immer noch deine Drohung, daß du mich dann verhaust?“ „Sogar doppelt und dreifach. Wage es ja nicht! Denke daran, daß das, was du riskierst, für mich das Liebste auf der Welt bedeutet.“ „Ach – du – “ Gerd lächelte, und Röte überflammte ihre Wangen. Sie lehnte ihren Kopf an Helge. „Könntest du es wirklich übers Herz bringen, mich zu schlagen?“ Er strich ihr über das Haar. „Wenn es nötig wäre, schon. Du weißt“- er schmunzelte – „wer sein Kind liebt, der züchtigt es.“ „Ich bin doch nicht dein Kind!“ „Du – du bist alles. Du bist mein Kind, mein Kamerad, meine Reisegefährte, mein Passagier – und - und – meine Geliebte.“ Einen Augenblick berührte er zärtlich ihr Haar. Dann zog er die Hand rasch zurück, ging hin und setzte sich. Es hatte geklopft. Es war Krauskopf, der den Kaffee brachte. Es war dunkel, als sie in den Hafen von Newcastle einliefen. Gerd war schon früher hier gewesen und wußte, daß sie nichts ver säumte, wenn sie die Einfahrt nicht sah. Von der Seeseite her wirkte Newcastle unendlich schwarz und düster. Füße trampelten auf Deck, es wurde lebendig. Zuerst der Zoll und andere Behörden, dann kam der Repräsentant der Reederei, dann kam ein Vertreter der Firma, der die Ladung aus Stavanger in Empfang nehmen wollte. Gemeinsam war ihnen allen, daß sie den Kapitän persönlich sprechen mußten. Gerd hielt sich in ihrer Kabine auf, und als es an die Tür klopfte, dachte sie, es sei Krauskopf.
Aber nicht er erschien, sondern der Zweite Offizier mit der Nach richt, daß ein Herr sie zu sprechen wünsche. Es war Myrseths Geschäftspartner, Mr. Clement, der die Kisten bestellt hatte. Er war höchst erstaunt, als er Gerd sah. „Verzeihen Sie, ich fragte nach Myrseth und Sohns Bürochef. Man sagte mir, er sei hier.“ „Ja, der bin ich“, lachte Gerd. Diese ewigen Mißverständnisse waren zu komisch. In Deutschland hatte ihr Name, hier der Titel dazu geführt. Mr. Clement erweckte nicht den Eindruck, als ob er diese Über raschung unangenehm fände. Aber es ist so eine Sache, von Kisten und Maschinenteilen zu reden, wenn man unversehens einem jungen Mädchen mit glänzenden Augen und einem vor Glück leuchtenden Gesicht gegenübersteht. „Ich brauche wohl nicht zu fragen, wie die Reise gewesen ist, Miß Elstö. Anscheinend hat das schlechte Wetter Ihnen nichts aus gemacht.“ „Danke, die Reise war fein, sie war einfach wunderbar! Wollen Sie aber nicht Platz nehmen, Mr. Clement? Hier ist kein Salon an Bord, Sie müssen also mit diesem Raum vorliebnehmen.“ Er nahm Platz, öffnete die Aktentasche, blieb aber mit der Hand in der Mappe sitzen und sagte kopfschüttelnd: „Soll ich wirklich von etwas so Langweiligem wie Verpackungskisten mit einer charman ten jungen Dame reden?“ „Wenn Sie mich meinen, muß ich Ihnen die betrübliche Mittei lung machen, daß ich hier an Bord die einzige bin, die darüber Be scheid weiß. Sie müssen also schon mit mir vorliebnehmen.“ Da wurde Mr. Clement ernst und sachlich. Nüchtern und vernünftig sprachen sie über Geschäfte, und Mr. Clement fragte, ob Miß Elstö nicht morgen in sein Büro kommen könne. Er interessiere sich für eine neue Lieferung. Diesmal galt sie etwas kleineren und leichteren Kisten. Er erklärte und zeigte Zeichnungen. Gerd notierte alles und versicherte, Myrseth und Sohn besäßen für die Lieferung die besten Verbindungen. Es endete mit einer Verabredung für den nächsten Vormittag um elf Uhr. Hinterher könnten sie zu einem gemeinsamen Lunch gehen, wenn Miß Elstö ihm dieses Vergnügen machen wolle?
Obwohl Fräulein Elstö mit noch weit größerem Vergnügen mit einem anderen geluncht hätte, lächelte sie doch ihr zuvorkommendes Bürocheflächeln und sagte zu. Aber Gerd war am nächsten Morgen viel zeitiger auf den Beinen, als Mr. Clement ahnte. Um halb zehn saß sie schon mit Helge im Büro des Vertreters der Reederei. Sie durfte sich des Telefons bedie nen und sprach quer über die Nordsee mit ihrem Chef Myrseth. „Ich will das Eisen schmieden, solange es heiß ist“, erklärte Gerd. „Können wir diese Kisten liefern und wann, und können Sie einen Preis nennen?“ Myrseth versprach, ihr im Laufe des Tages ein Telegramm zu senden mit allen gewünschten Aufschlüssen. Zum Schluß des Ge spräches erlaubte er sich zu bemerken, daß Fräulein Elstös Stimme ungewöhnlich aufgeräumt klinge. Bewirkte das ihre Nordseedurch kreuzung bei Sturm? Oder hatte sie etwas Besonderes erlebt? „Ja“, sagte Gerd. „Ich erlebte genau das, was ich nötig hatte. Tausend Dank, daß Sie mir diese Reise ermöglichten.“ Ein Tuten im Hörer verkündete, daß schon neun Sprechminuten vorüber seien, und Gerd legte lächelnd den Hörer auf die Gabel zu rück. „Hol der Teufel die sauren Pflichten eines Schiffsführers“, murrte Helge. „Wie, glaubst du, ist mir zumute, wenn ich an Bord dieses Kahns zurückmuß und weiß, daß du inzwischen mit einem anderen zum Lunch gehst, mit einem charmanten Geschäftsmann, dem ge genüber du verpflichtet bist, ihn zu bezaubern?“ „Alles für die Firma“, lachte Gerd. „Ich sehe jedes Mittel für er laubt an, wenn wir nur diese Kistenbestellung kriegen.“ „Ich werde dich lehren, alle Mittel anzuwenden, du Racker!“ Gerd sah ihn schräg von der Seite an. „Tu das, Helge.“ „Du kleines Biest! Du könntest einen Mann wahrhaftig dazu bringen, seine Pflichten zu vergessen.“ „Ja, du aber kriegst mich nicht dazu, meine zu vernachlässigen. Jetzt kannst du mir ein Taxi beschaffen. Ich gehe aus, um Kisten zu verkaufen, und habe keine Zeit, Geselligkeit zu pflegen.“ „Du bist ein Teufelsmädel“, murmelte Helge halb ärgerlich, halb lachend. Dann winkte er ein Taxi herbei. „Wann kommst du denn wieder an Bord?“
„Wenn ich gegessen, Mr. Clement becirct und Perlonwäsche für Krauskopfs Auserwählte besorgt habe – Sachen, die selbst einzukau fen ihm seine jungenhafte Schüchternheit nicht erlaubt.“ Damit fuhr Gerd davon, und Helge begab sich mit einem schwe ren Seufzer an seine Arbeit. Sie sahen sich erst viel später am Tag wieder. Und da waren sie nicht allein. Der Vertreter der Reederei war an Bord gekommen und blieb bis zum Abend. Er erzählte schmunzelnd, daß er immer dafür sorge, eine Abendeinladung auf den norwegischen Schiffen zu erhal ten, wegen der „lovely Norwegian sandwiches“. Er ließ auch dem norwegischen Brot, der Räucherwurst, dem Ziegenkäse und den Heringsgabelbissen volle Anerkennung widerfahren. Er war nett und unterhaltend und ahnte nicht, wie inbrünstig er dorthin gewünscht wurde, wo der Pfeffer wächst. Nach dem Essen saß er fest bei einem langen Schwatz mit Helge, so lang und lang weilig, daß Gerd sich schließlich zurückzog. Der Abend war ja doch verdorben. Halb lächelnd, halb grollend zog sie sich aus und ging zu Bett, nachdem sie vorher eine schreckliche Menge Ruß von sich abgewa schen hatte. Wie man nur an einem einzigen Tag so schmutzig wer den konnte? Dann lag sie in ihrer Koje mit offenen Augen und genoß es, „nur zu wissen“, wie sie es für sich nannte. Zu wissen, mit jedem Nerv zu fühlen, daß sie geliebt wurde. Von dem Mann geliebt, den sie selbst über alles auf der Welt liebte – geliebt mit einer Stärke, die sie bei nahe erschreckte. Sie machte das Licht aus. Machte einen Versuch zu schlafen. Das Biest da drinnen bei Helge würde bestimmt nicht eher verschwinden, bis er einen Whisky-Soda bekommen hatte – Himmel, wie klebte er doch… Sie war beim Einschlafen, als sie ein Lichtstreifchen bemerkte. Sie richtete sich in der Koje auf. „Hast du geschlafen, mein Schatz?“ „Nein – nur beinahe.“ „Hier ist ein Telegramm für dich.“ Gerd knipste die Nachttischlampe an und riß das Telegramm auf. Sie lächelte. „Prima! Myrseth ist ein Goldschatz. Der hat vielleicht heute was geschafft! Jetzt habe ich ein positives Angebot für meinen Freund Clement, wenn ich ihn morgen treffe.“
„Du bist ein schreckliches Weibsbild. Sogar im Bett denkst du nur an Geschäfte!“ „Nicht nur, Helge!“ Er beugte sich über sie, nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und küßte sie. „Mein kleines Mädchen – du mein einziges, geliebtes Mäd chen…“ Seine Stimme war heiser. Sie legte den Kopf an seine Brust. „Wie dein Herz klopft, Helge.“ Sie blickte auf, in sein Gesicht. Die beiden Augenpaare trafen sich. Es war, als wechselten Helges Augen die Farbe. Sie wurden dunkler, blanker. Er drückte sie an sich, seine Hände liebkosten sie. Wünschende, sehnsuchtsvolle Hände. Zitternde, suchende Hände. „Gerd – o Gerd, wie habe ich mich nach dir gesehnt!“ „Und ich mich nach dir.“ Seine Hände faßten um ihre Schultern, er hielt sie ein Stückchen weg, sah ihr in die Augen. Sein Blick war ohne Boden. Es war eine einzige, sehnsuchtsvolle Frage. „Gerd?“ Es kam wie ein zitterndes Flüstern. Die Röte schoß ihr in die Wangen, und sie lächelte ihn an mit be benden Lippen. Und ihre Antwort kam flüsternd, aber so sicher, so direkt aus dem Herzen: „Ja, Helge.“ Kleine Wellen glucksten gegen „Babettes“ Seiten, und das Schiff lag still in der Herbstnacht, in dem schwachen Lichtschimmer, der vom Kai herüberleuchtete.
12 „Schicksals-Tücke, daß wir nicht eine Minute für uns allein haben können“, seufzte Helge. Gerd lachte ihm ins Gesicht. „Übertreibst du nicht ein bißchen, mein Junge?“ „Du weißt sehr gut, was ich meine: Dieser Tag sollte doch ganz der unsere sein. Und da rennst du nun zuerst zu diesem Verführertyp, diesem Clement – “ „Entschuldigen Sie, Herr Kapitän, ich bin es, die ihn verführt hat. Weißt du, was ich hier habe? Den unterschriebenen Vertrag!“ „Du bist hoffnungslos. So jung, so hübsch und so verdammt un passend geschäftstüchtig.“ Gerd lachte hell auf. „Naja, habe ich nicht recht? Als wir endlich ein paar Stunden für uns allein hätten haben können, da tauchte doch schon wieder dieser ,lovely sandwiches’ auf-“ „Aber wir waren doch wirklich recht gemütlich beisammen“, ver teidigte ihn Gerd. „Und wie! Wenn du wüßtest, wie sehr ich wünschte, ein Hühner knochen möchte ihm im Hals steckenbleiben!“ „Helge, aber Helge!“ „Oder daß ihm der Rotwein in die falsche Kehle gekommen wä re.“ „Jetzt will ich aber nichts mehr davon hören! Du redest, als wäre dieser Tag die einzige Gelegenheit, zusammenzusein. Wir haben doch das ganze Leben vor uns, Liebster!“ Jetzt mußte auch Helge lachen. „Ja, Gott sei Dank! Aber Gerd, ich habe doch recht: Der Tag hät te der unsere sein sollen. Deiner und meiner ganz allein. Grade die ser Tag, der so anfing…“ „Anfing? Aber lieber Junge, er fing damit an, daß Krauskopf die Kaffeekanne runterfallen ließ…“ „O nein, Gerd. Der Tag fängt früher an. Der neue Tag fängt an in dem Augenblick, wo der alte Tag vorbei ist. Nämlich um Mitter nacht. Weißt du das denn nicht?“ „Ach, so meinst du…“ Gerd errötete und schob ihre Hand in Hel ges.
„Sag, habe ich nicht recht? Der Tag, der so anfing, hätte der un sere sein sollen, deiner und meiner, ganz allein.“ „Ja, Helge. Aber – aber…“ Plötzlich schwieg sie. „Nanu, traust du dich nicht, es auszusprechen?“ Sie biß sich auf die Lippe. „Sag mir, was du denkst, Gerd. Weißt du, was ich an dir so liebe? Deine Ehrlichkeit! Daß du keine Komödie spielst, daß du – daß du dich mit offenen und ehrlichen Augen zu deiner Liebe bekennst.“ „Dann weißt du, was ich sagen wollte.“ „Vielleicht. Aber ich möchte es so gern hören.“ „Der Tag kann ja vielleicht so enden, wie er anfing“, sagte Gerd. Ihre Stimme war leise, aber klar und fest. Sie standen nebeneinander an der Reling auf dem Achterdeck. Newcastle hatten sie hinter sich gelassen, und nun ging es wieder ostwärts. Es war eine Enttäuschung für sie gewesen, als „lovely sandwiches“ wieder aufgetaucht war, freundlich, gastfrei, von über strömender Liebenswürdigkeit, und sie zu einer Autotour nebst Lunch eingeladen hatte. Der Ausflug war sehr hübsch gewesen. Stundenlang fuhren sie über hügelige, weite Strecken, durch die sich der Weg wie ein ewiges hellgraues Band schlang. Sie hatten einen erstklassigen Lunch in einer entzückenden alten Jagdhütte bekommen, wo es so exklusiv war, daß Gerd sich ernstlich überlegte, ob sie auch fein genug angezogen wäre. Während der Fahrt hatte sie vorn neben „Mr. L. S.“ gesessen, in des seine Frau im Fond des Wagens Helge nach Kräften zu unterhal ten versuchte. Trotzdem waren beide in der Gesellschaft nicht ganz froh gewesen. Aber jetzt senkte sich der Frieden der Nacht herab. Jetzt war „Babette“ gleich draußen auf hoher See, und dann waren sie wieder in ihrer eigenen friedlichen Welt, dieser wunderbaren kleinen Welt. „Du, Helge, weißt du, was ich möchte?“ „Ja, denn das möchte ich auch.“ Er küßte sie, und sie lachte. „Ja, insofern hast du recht, aber ich dachte an etwas anderes. Ich möchte mit dir zusammen auf einem Schiff fahren, weit, weit weg, auf einer Weltreise, und du dürftest nicht all diese ekligen Pflichten eines Kapitäns haben. Du müßtest Passagier sein, und wir würden reisen und reisen und neue Orte zusammen sehen, und wenn wir an Land gingen – “
„Dürftest du keine Verträge abschließen – “ „Und du dürftest keine Bekannten haben, die dich zum Essen ein laden.“ „Ja, Mädchen, dagegen hätte ich gar nichts. Aber siehst du, dies ist meine erste Fahrt als Kapitän, und da kann ich mich vor nichts drücken. Verstehst du das?“ „Klar tue ich das! Wenn du aber erst mal besser in Schwung ge kommen bist, kannst du dir sicher mehr Freizeit gönnen.“ „Aber gewiß doch! Außerdem war das Wetter ja auch gräßlich wechselhaft auf der Überfahrt. Denk an die Sturzsee, die dich selber erwischte.“ „Das war eine ganz wunderbare Sturzsee, wenn ich an das Er gebnis denke.“ „Das stimmt“, räumte Helge ein. Sie hatten ihre kleinen hektisch glücklichen Stunden, aber sie sehnten sich beide sehr nach größerer Ruhe und Alleinsein. Nicht immer den Blick auf die Uhr gerichtet haben müssen wegen der Wachen und Wettermeldungen und was ein junger Kapitän sonst zu beachten hat. Gerd fühlte, daß viele unbeantwortete Fragen sich ansammelten. Ach, wie sie sich darauf freute, mit Helge in Ruhe beisammenzusein. Vielleicht konnte er von Kristiansand aus eine Spritztour zu ihr ma chen; es war ja nicht weit mit dem Bus. Ihr Herz klopfte, wenn sie daran dachte, wie nett sie alles für ihn herrichten würde, mit gutem Essen und Gemütlichkeit in ihrer Mansarde. Sie würden unendlich viel fragen und erzählen und einander bis auf den Grund kennenler nen. Sie wollte alles wissen von Helge, von seiner Kindheit und der Jugendzeit, von seinen verschiedenen Reisen, sie wollte seine Mei nung über Politik kennenlernen, über Kunst, Musik, seinen Ge schmack, seine Wünsche, seine Ideale. Sie wußte im voraus, daß sie sich verstehen würden. Denn in al lem, was sie bisher miteinander erlebt hatten, paßten sie großartig zusammen. Allein die gemeinsame Liebe zur Musik! Sie vergaß nie den Beethoven-Film in Hamburg. Die Liebe zu den Tieren, die sich beim Besuch des Zoos so deutlich gezeigt hatte. Die Liebe zur See. Und wenn einer von ihnen kleine philosophische Betrachtungen anstellte, so verstand der andere ihn immer. Es war, als ob einer die Gedanken des anderen ausspräche. Daß zwei Menschen so gut zusammenpassen konnten!
Als sie sich Norwegen näherten, wurde Helge immer nervöser. Er war ruhelos, aß wenig, konnte nur schwer stillsitzen, und Gerd fand, daß er magerer geworden war in diesen wenigen Tagen. „Fehlt dir denn etwas, Helge?“ fragte sie besorgt beim Mittags tisch. Die norwegische Küste war wie ein ferner grauer Streifen aufgetaucht, am Abend sollten sie in Stavanger sein. „Ja und nein“, antwortete Helge mit einem blassen kleinen Lä cheln. „Ich bin kurz davor, verrückt zu werden, weil ich nicht in Ruhe mit dir sprechen kann. Aber Gerd, wenn wir von Stavanger wegfahren, werde ich mir eine Weile freinehmen. Ich muß mit dir reden, verstehst du, mein Kleines, ich muß dir schrecklich viel sagen, dich fragen, dir erzählen. Es ist da so vieles, was wir ins reine brin gen müssen. Es ist durchaus nötig, daß wir uns aussprechen, nicht wahr - ?“ „Bestimmt, Helge. Ich kann dich diesmal unmöglich verlassen, ohne – ohne – “ „Ohne eine klare Linie, meinst du?“ „So kannst du es auch nennen. Diesmal muß ich wissen, woran ich mit dir bin.“ „Aber das weißt du doch. Du hältst mich in der hohlen Hand, ganz und gar.“ „Letztesmal, weißt du, als wir uns in Hamburg verabschiedeten, da wartete ich und wartete – Ach, Helge, warum ließest du da nie von dir hören?“ „Auch das werde ich dir heute abend erzählen, Gerd. Aber eines kann ich dir schon jetzt sagen: Wärst du nicht plötzlich hier aufge taucht, so hättest du einen Brief von mir bekommen, und ich hätte – “ Sie wurden wieder unterbrochen durch Krauskopf, der den Nach tisch brachte. Sie lagen bloß kurze Zeit in Stavanger, und Gerd begannen diese Geräusche an Bord wohlbekannt zu werden, das Getrampel an Deck, wo Kisten und Güter geschoben und im Laderaum gestapelt wurden. Da erklangen Kommandos, da war Leben und Geschäftigkeit. Sie stand in Helges Kabine und hielt durch das Bullauge Aus schau nach ihm. Krauskopf hatte zum Abendessen gedeckt, und jetzt wartete sie nur auf Helges Kommen. Die Tür hinter ihr ging auf, und da stand er, groß und blauäugig. Gerade so erinnerte sich Gerd an ihn in vielen kommenden Wochen:
groß, lächelnd, mit diesem warmen, liebevollen Ausdruck in den Augen. „So, jetzt sind wir bald fertig. Hast du noch ein bißchen Geduld, Gerd? Oder stirbst du schon vor Hunger?“ „Ach, ich halte es schon noch eine Weile aus.“ „In einer kleinen halben Stunde machen wir los. Gleich, wenn wir aus dem Hafen heraus sind, lassen wir Andersen und ,Babette’ allein weiterwursteln. Und dann – “ Die Tür hinter ihnen wurde geöffnet. Sie wandten sich um – und plötzlich wurde Helge ganz steif, und alle Farbe verschwand aus seinem Gesicht. Herein kam eine junge Dame, eine auffallend hübsche junge Dame mit lebhaften braunen Augen, mit einem kecken kleinen roten Hut und einem kecken roten Mündchen. „Hallo, Helge! Das hast du nicht erwartet, wie?“ Er befeuchtete die Lippen und blieb steif und stumm stehen. „Na, hat’s dir die Sprache verschlagen? Ganz einfach: Ich bekam vom Reeder die Erlaubnis, hier an Bord zu gehen und bis Kristian sand mitzufahren. Du ahnst ja nicht –! Ich bin bis oben hin vollge pfropft mit Neuigkeiten, die ich durchaus und gleich erzählen muß – Willst du mich übrigens nicht vorstellen, Helge?“ Helge schluckte und schluckte erneut. Als er endlich sprach, erkannte Gerd seine Stimme nicht wieder. „Das ist – das ist unser Passagier, Fräulein Elstö, und dies ist Fräulein Böe – Erna Böe.“ Ein lächelndes Gesicht unter dem roten Hut. Eine schmale kleine Hand, mit Nägeln wie funkelnde Rubine, wurde Gerd gereicht. Sie nahm sie mechanisch. Aber der Blick unter dem roten Hut war nicht auf sie gerichtet. Erna Böe schaute seitwärts zu Helge auf. Und ihm galten auch die Worte, Worte, die mit einem schelmischen Lächeln gesagt wurden, mit heller Stimme, aber mit einem sonderbaren, sehr bestimmten Beiklang: „So heißt das doch nicht, Helge. Meine Verlobte Erna Böe, heißt das.“
13
Wenn man sich in der Phantasie fürchterliche Situationen ausmalt oder wenn man gefragt wird, was würdest du tun, wenn dies oder das passierte, da kann man so leicht sagen: „Gott, da würde ich ohn mächtig werden“ oder „Da würde ich sterben“. Wenn es aber geschieht, so entdeckt man, daß es nicht so leicht ist zu sterben, und eine barmherzige Ohnmacht, die den Schrecken für eine Weile von einem nehmen würde, die findet sich auch nicht ein. Man bleibt stehen, wird rot oder blaß, man fühlt das Herz einen Augenblick aussetzen oder wie wild schlagen, aber man steht und entdeckt zu seiner eigenen unbeschreiblichen Verwunderung, wie schrecklich stark die angelernte Beherrschung und die Wahrneh mung gewöhnlicher Höflichkeit ist, wie fest verankert die Angst, einen Skandal zu provozieren. Erna Böes Worte schlugen gegen Gerds Trommelfelle. Ihnen folgte eine Pause, eine atemlose Pause, in der die Zeit stillzustehen schien, in der die Stille sich wie ein Eispanzer um Gerd legte. Und dann hörte Gerd zu ihrem unbeschreiblichen Erstaunen, wie ihre Zunge von selbst die leeren Worte formte, die als Antwort erwartet wurden, wenn jemand vorgestellt wurde. „Sehr angenehm – “ Und sie wartete, wartete auf Helges Gelächter. Auf eine scherz hafte Bemerkung, wie „Nein, jetzt hör aber auf mit dem Unsinn, Erna.“ Aber die kam nicht. Gerd bemerkte zwar eine Bewegung bei Helge, als ob er etwas sagen wolle, aber es folgte kein Wort. Gerds Augen hatten Erna Böes nette kleine Gestalt in dem weiten blauen Lodenmantel eingefangen. Und dann blieb ihr Blick an der Tasche in Ernas Hand hängen. Die blaue Tasche, die Helge in Hamburg gekauft hatte! Es war Erna, die als erste das Schweigen brach. „Warten Sie mal – Elstö? Elstö! Aber meine Liebe, dann sind Sie ja wohl die kleine Gerd, nicht wahr, die kleine Schwester von Sol veig! Stimmt’s?“ „Ja“, erwiderte Gerds tonlose Stimme. „Kannst du dich denn nicht an mich erinnern, Gerd? Ich ging doch in der Grundschule in dieselbe Klasse mit Solveig. Erinnerst du dich nicht, wie wir bei dir daheim saßen und Papierpuppen aus schnitten? Und du hast mir den feinsten Puppenmann geklaut!“
Mitten in dem wahnsinnigen Wirbel der Gedanken, der in Gerds Kopf kreiste, stieg eine Erinnerung auf: eine kleine, geschwätzige, blondlockige Freundin Solveigs, zwei Jahre älter als Gerd, ein klei nes Mädchen, das plötzlich von der Schule verschwunden war, weil die Familie wegzog. „Ja“, sagte Gerd. „Jetzt erinnere ich mich an dich.“ „Denk mal bloß, wie putzig, daß wir uns wiedertreffen, und dazu noch hier! Wie war denn die Reise? War Helge nett zu dir, und hat er gut auf dich aufgepaßt?“ „Der Herr Kapitän war sehr liebenswürdig“, antwortete Gerd, und sowohl die Worte wie die Stimme schnitten ihr in die Ohren. Der Zweite Offizier kam dazu und verlangte den Kapitän. Helge ging, und die beiden jungen Frauen blieben allein in der Kajüte. „Was für ein glücklicher Zufall, daß ein weiblicher Passagier an Bord ist. Da kann ich in der Extrakoje bei dir drin schlafen. Weißt du, ich mußte einfach kommen, ich bringe nämlich die größte Neu igkeit der Welt. Ich traf doch Langedal, Langedal junior, Klasse, sage ich dir! Und er erzählte mir von dem neuen Schiff. Die Ärm sten, sie haben ihre Köpfe zermartert, um einen Namen dafür zu finden – du kennst doch diesen Blödsinn mit dem Alphabet und so weiter? –, und er sagte, wenn es etwas mit E sein solle, so könnten sie es nach mir benennen, denn ich bin Erna Alette getauft, leider Gottes. Wer hätte geahnt, daß ich noch solche Freude daran haben würde, daß Oma Alette hieß! Er umarmte mich beinahe – das darfst du Helge nicht erzählen! –, und er sagte, man könne Erna Alette in Ernette umwandeln, und das ist wirklich kein übler Name. Und denk mal, vielleicht darf ich das Schiff sogar taufen. Das wäre doch was! Stelle dir vor, einen Sechstausendtonner taufen! Mit einem Diamant schmuck von der Reederei und meinem Bild in den Zeitungen! Himmel, ja, ich zerspringe fast vor Stolz! Tatsächlich sagte Lange dal, das wäre gar nicht so unmöglich. Das Schiff wird in vier Wo chen vom Stapel laufen, also solle ich nur rasch heiraten, weil es besser aussähe, wenn das Schiff von Frau Kapitän Jerven getauft würde als von einem x-beliebigen Fräulein Böe. Verstehst du nun? Und jetzt muß ich also versuchen, diesen meinen Käpten zum Stan desamt zu schleppen, und ich konnte deshalb einfach nicht warten: Ich nahm den Zug nach Stavanger und erreichte es also, ich meine, ich erreichte ,Babette’, und jetzt muß ich Helge ein bißchen auf Fahrt bringen. Denk mal, wenn er Käpten auf der Ernette werden könnte! Wäre doch besser, als mit diesem Kahn herumzugondeln – “
Erna schwatzte und schwatzte und war restlos erfüllt von dieser Schiffstaufe. Dann kam Krauskopf herein und legte ein weiteres Gedeck auf. Gerd stand auf und murmelte etwas von Händewaschen. Dann stand sie in ihrer Kabine. Sie stand da, gerade und still. Ihre Augen fingen den kleinen Raum ein, der während einer Woche ihr Heim gewesen war, dieser kleine Raum, in dem sie das größte Glück ihres Daseins erlebt hatte. Und nun merkte sie, wie der Haß in ihr wuchs. Sie haßte die blanken Mahagoniflächen, sie haßte die Kre tonnevorhänge, das Waschbecken, die Koje und den Nachttisch. Da saß die Katze Dorette und sah sie mit ihren blauen Glasaugen an. Gerd nahm sie und stopfte sie in den Koffer. Darum also war Helge so rastlos gewesen. Darum hatte er nichts von sich hören lassen nach der Hamburgtour. Darum hatte er bisher nicht offen mit ihr geredet, darum – darum - Eine andere Situation stand lebendig in Gerds Erinnerung. Eine Begegnung in einer Hotel halle in Kopenhagen, vor zwei Jahren. Eine junge Dame, die vorge geben hatte, Trygves Frau zu sein. Eine junge Dame, mit der er im Hotel wohnte. Sie war selbst keine Spur besser. Jetzt war sie es, die die Rolle spielte – die Rolle als – als… Gerd ballte die Hände. Und das war also Helge! Derselbe Helge, der heute, am gleichen Tag, zu ihr gesagt hatte: „Was ich an dir besonders liebe, ist deine Ehrlichkeit, daß du nicht Komödie spielst.“ Der Schmerz schnitt wie mit Messern durch Gerds Herz. Zum er stenmal in ihrem Leben wünschte sie sich, sterben zu können. Denn wenn dieses, auch dieses hier Komödienspiel war, dann gab es keine ehrliche Liebe auf der Welt. War das nur so ein kleiner Flirt gewe sen, eine Reiseunterhaltung, so hatte Gerd überhaupt nichts mehr, worauf sie bauen konnte. Ihr ganzer Glaube an die Menschen war in Stücke gegangen… Sie hörte die Tür der Nachbarkabine gehen. Jetzt brachte Kraus kopf ahnungslos das Essen. Jetzt würde Erna schwatzen und erzählen – Ach, warum konnte Gerd nicht allein sein, warum fand sich kein Winkel, in dem sie sich verkriechen durfte, verkriechen wie ein krankes Tier, ein wundgeschossener Vogel. Ja, wenn sie doch nur allein sein könnte, allein im Dunkeln, in einer großen, leeren Stille! „Hallo, Gerd, wir wollen essen.“
Es war Erna, die ihr lächelndes Gesicht zur Tür hereinsteckte.
„Aha, hier wohnen wir also. Mensch, das ist spaßig. Soll ich auf
der Folterbank da schlafen? Nur gut, daß ich schlank bin. Und daß
gutes Wetterist. Himmel ja, ihr müßt ja schön geschaukelt worden sein in den letzten Tagen. Warst du seekrank?“ „Nein.“ „Da hast du Schwein. Ich habe ein einziges Mal einen Sturm auf See erlebt. Wenn ich daran denke, bekomme ich jetzt noch eine Gänsehaut, eine Gänsehaut, an der du Muskatnüsse reiben könntest. Ich lag in einer Koje mit Vorhang, so wie diese hier, und die stand beinahe waagerecht in der Luft. Du bist ja vollkommen plemplem, Erna, sagte ich zu mir selbst. Die Vorhänge hängen schon senkrecht, und du selber bist es, die nicht senkrecht liegt und auch nicht waage recht, und als ich das raus hatte, kam auch alles andere raus. Nein, die See kann mir gestohlen bleiben. Da lobe ich mir ein Auto und einen reellen festen Weg. Naja, das Essen steht also warm auf dem Tisch und dampft da drinnen – “ Gerd biß die Zähne zusammen. Nur keinen Skandal machen, kei nen Skandal machen, nichts Auffallendes sagen, was Erna zu denken geben könnte! O Gott, diese Komödie spielen zu müssen! Am Tisch sitzen zu müssen, nur Passagier zu sein und nichts mehr – und im Inneren zu wissen, daß man betrogen hatte – eine andere Frau betrogen hatte, so bodenlos gemein – wie war das schmutzig, Gerd verabscheute sich selbst. Und Helges heiße Worte, Helges brennende Liebkosungen drängten sich hervor in der Erinnerung und vermischten sich mit dem Schamgefühl. Ach Gott, hätte sie sich doch nur verstecken können, weit, weit entfernt verstecken! - Hatte sie gesagt, daß „Babette“ ein Paradies sei? Nein, „Babette“ war ein Gefängnis, ein schreckliches Gefängnis, an das sie noch einen Tag lang gefesselt war. Ja, einen ganzen Tag mußte sie das noch aushalten. Und nicht einmal in der Nacht durfte sie allein sein! Da würde sie wach in ihrer Koje liegen und das friedliche Schnaufen von Erna hören. „Lang doch zu, Gerd. Bist du denn nicht hungrig?“ Ja, Hunger war das Wort! Dann saßen die drei Menschen in Helges Kabine bei Tisch, Gerd aufrecht, beherrscht und blaß. Sie vermied es, Helges Augen zu begegnen, und sie antwortete kurz, aber freundlich auf Ernas Ge plauder. Natürlich, man war doch ein gebildeter Mensch, man hatte doch gelernt, sich zu benehmen!
Wäre Erna nicht so vollkommen mit sich selbst beschäftigt gewe sen, mit all dem, was der Reeder Langedal gesagt hatte von dem Schiff, das nach ihr benannt werden sollte, so hätte sie die sonderba re Atmosphäre zwischen den beiden anderen merken müssen. So aber plauderte und erzählte sie pausenlos, und nur einmal, als Helge nur einsilbig antwortete, reagierte sie darauf. Aber sie tat es lächelnd, ohne Mißtrauen. „Na, du schweigsamer Mann? Gerd, hast du jemals einen so we nig gesprächigen Menschen getroffen wie diesen Burschen hier?“ „Sie sind vielleicht eine sogenannte ,verschlossene Natur’, Kapi tän Jerven“, sagte Gerd mit derselben höflichen Verbindlichkeit, wie sie sie Myrseths Geschäftspartnern gegenüber anwandte. Es war Nacht geworden. Gerd lag in ihrer Koje auf dem Rücken. Drüben auf der anderen Seite der Kabine schlief Erna friedlich und ahnungslos. Wenn sie gewußt hätte – wenn sie geahnt hätte, wie es vor vierundzwanzig Stunden gewesen war… Gerds Schmerz war so grenzenlos, daß er sie der Fähigkeit zum Denken beraubte. Nur eins war ihr klar: Sie liebte einen Mann und hatte ihm alles gegeben. Und dieser Mann war mit einer anderen verlobt, mit einer, die er heiraten würde. Und seine brennende Liebe war nur eine heiße, plötzliche Flam me, die für ein paar Augenblicke brannte. Das, was für Gerd der tiefste, heiligste Ernst war, war für ihn ein reizendes kleines Inter mezzo an ein paar Tagen, an denen er von der Frau getrennt war, die das Recht auf ihn hatte. Er hatte heute abend mit ihr sprechen wollen, er hatte gesagt, es sei so viel, was sie ins reine bringen mußten. Jetzt war das Gespräch überflüssig. Denn das, was er – bestimmt in schonenden Worten – hätte erzählen wollen, daß er schon verliebt in sie sei, aber eine Ehe könne nicht daraus werden, sie müßten die ses Erlebnis als eine nette Erinnerung behalten – das war alles gesagt worden, viel einfacher, viel brutaler und leicht verständlich von Erna selbst. Gerd hatte einen „Puppenmann“ von Erna gestohlen, als sie Kind war. Wenn Erna gewußt hätte, daß es ihr eine Gewohnheit war! Plötzlich erinnerte sich Gerd an den Brief, den sie damals von Trygve bekommen hatte. Ein Mann habe eben manchmal seine schwachen Augenblicke, alles sei nur ein Abenteuer gewesen, sie müsse versuchen zu verstehen… So verteidigte sich ein Mann hinterher und fand Ausreden seiner Braut gegenüber.
Aber jetzt war sie es, sie selbst, Gerd Elstö, die als Abenteuer und Zufall versteckt und verleugnet werden mußte. Die Demütigung brannte in ihr. Nein! Es sollte nicht notwendig werden, Erklärungen und Ent schuldigungen zu erfinden! Sie wollte diese Komödie Erna gegen über durchführen, sie wollte diese vierundzwanzig Stunden an Bord schaffen! Nicht wegen Helge, nicht wegen Erna, sondern um ihrer selbst willen. Sie wollte sich selbst davor schützen zusammenzubrechen. Gerd fühlte die Kraft in ihrem Inneren – die Kraft in ihrem tod müden Körper und in ihrer kleinen, verzweifelten, gepeinigten Seele. Ihre ehrliche, warme, aufrichtige Liebe hatte den Todesstoß be kommen. Daß sie mit offenen und ehrlichen Augen, bewußt und sicher dem Mann alles gegeben hatte, den sie liebte – dessen schämte sie sich nicht. Denn als sie es tat, wurde sie nur von einem dazu getrieben: einer wirklichen Liebe. Aber daß der Mann, den sie liebte, so etwas Gemeines, so etwas Demütigendes, so etwas Schreckliches tun konnte wie dies – sie dazu zu gebrauchen, seine Verlobte zu betrügen –, das war zu viel für Gerds anständige Gesinnung.
14 „Aber liebes Kind, wie sehen Sie denn aus?“ Myrseth blickte Gerd mit erschrockenen Augen an. „Wie ich aussehe?“ „Kind, Sie sind ja mager wie ein Gespenst! Und ganz weiß im Gesicht. Sind Sie krank? Sie schienen so frisch am Telefon in New castle. Aber jetzt sehen Sie aus, als ob Sie zusammenbrechen woll ten.“ „Das geht schon vorüber, Herr Direktor. Vielleicht ist es die Luftveränderung.“ „Nun ja, vielleicht. Aber wenn Sie in drei Tagen nicht besser aus sehen, telegrafiere ich an Ihre Mutter, damit sie kommt und sich Ihrer annimmt.“ „Arme Mutter! Warum wollen Sie ihr denn bange machen?“ „Nein, Ihnen will ich bange machen. Na, jetzt will ich Sie nicht länger plagen, aber sehen Sie zu, daß Sie ordentlich essen und schla fen. Sie brauchen die ersten Tage nicht vor 10 Uhr ins Büro zu kommen. In der ersten Stunde ist ja im Grunde nichts anderes zu tun, als die Post zu öffnen und zu sortieren, und das liegt wohl im Be reich der Möglichkeiten unseres Intelli-Genzchens? Heute ist Mon tag. In dieser Woche beginnt Ihre Bürozeit also um 10 Uhr. Ist das klar? Gut. Und jetzt muß ich Ihnen noch herzlich für den Vertragsab schluß danken, den Sie zustande gebracht haben. Sie sind wirklich ein Tausendsassa. Jetzt verdanke ich Ihnen schon zwei außerge wöhnlich gute Geschäfte. Leider wird das schreckliche Konsequen zen für Sie haben.“ „Das klingt ja ganz gefährlich!“ „Naja, wenn man so gut mit den Leuten zu reden versteht wie Sie, dann werde ich Sie auf alle unsere schwierigen und unentschlos senen Kunden hetzen. Denken Sie mal, wenn ich diesem Trödelfritzen in Schweden ei ne Injektion mit dem neuen Präparat ,Elstö’ geben könnte, wie das anspornend auf seine Beschlußfassungsdrüsen wirken müßte!“ Gerds blasse Lippen verzogen sich zur Andeutung eines Lä chelns. „Welchen Trödelfritzen haben wir denn in Schweden?“ „Einen adligen Trödelfritzen, sozusagen einen Trödelfritzen mit Wappen dran! Wie sie wissen, war mein Sohn dort, um sich die
Wälder von Baron Silfverkranz anzusehen. Würde er sich endlich schlüssig werden, was er verlangen soll, so könnten wir dort ab schließen. Aber er zögert und bedenkt sich und sendet uns ab und zu einen Brief, in dem er seine Unentschlossenheit in die Watte der Höflichkeit verpackt. Ich wäre wirklich nicht begeistert, käme ein anderer und schnappte uns die Sache vor der Nase weg.“ „Im Ernst, wollen Sie mich wirklich hinschicken, Herr Direk tor?“ „Wären Sie denn dazu bereit?“ „Selbstverständlich, aber…“ „Gut, werden sehen. Bringen wir es nicht auf andere Weise fer tig, so mache ich mit Ihnen den letzten Versuch. Schauen Sie bitte die Korrespondenz mit Silfverkranz durch, dann sind Sie über das ganze Zeug im Bilde.“ „Das werde ich tun.“ Gerd ging in ihr Büro zurück. Der Kopf tat ihr zum Zerspringen weh. Ach, wenn sie doch schlafen könnte, schlafen! Aber diese Nächte, seit das Schreckliche geschah, waren lang gewesen, schlaf los und erfüllt von bitteren und düsteren Gedanken. Dieser schreckliche letzte Tag an Bord! Erna, die ununterbrochen schwatzte, nichtsahnend und nur mit sich selbst beschäftigt, Helges verschlossenes bleiches Gesicht. Und dann der Augenblick, die Sekunden, als sie ihn allein traf. Dieses erstickte, heisere Flüstern: „Gerd, ich schreibe dir. Das ist alles so wahnsinnig! Gerd, du weißt ja nicht…“ Sie hatte nichts erwidert, war nur in ihre Kabine gegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Sie war nicht imstande zu ant worten, sich in eine Diskussion einzulassen. Außerdem konnten sie jeden Augenblick unterbrochen werden. Nein, nein, Schluß mit al lem, mit allem und jedem! So schleppte sie sich durch die Tage und durch die schlaflosen Nächte. Manchmal nahm sie mitten in der Nacht ein Schlafmittel, um wenigstens für den Rest der Stunden noch etwas zu ruhen. Wenn sie dann am Morgen zerschlagen und müde erwachte, war sie Myr seth dankbar, erst um 10 Uhr ins Büro zu müssen. Und im Büro hatte sie den kleinen Ärger mit schwierigen Kun den und dem kleinen Intelli-Genzchen. Es kam zu einem richtigen Krach, als Fräulein Genz eines Tages zwei Briefe in die falschen
Umschläge gesteckt hatte, Briefe für einen Agenten in England und einen Kunden in Nordland. Da explodierte Gerd. Sie hielt der Kleinen eine Standpauke und gebrauchte Worte, deren sie sich noch nie bedient hatte. „Wenn so etwas noch einmal passiert, Fräulein Genz“, schloß sie, „dann sind Sie hier fertig. Wenn Sie nicht mal so eine einfache Ar beit fehlerlos ausführen können, dann sind Sie hier nicht zu gebrau chen. Begreifen Sie denn nicht, daß so ein Versehen katastrophal sein und große Geschäfte für uns verderben kann? Das ist eine letzte Warnung, Fräulein Genz. Kommt so etwas noch einmal vor, können Sie gehen.“ Gerd wußte, daß sie einen derartigen Schnitzer kräftig rügen mußte. Sie machte sich hart und tat nichts, um Intelli-Genzchen zu trösten. Die hatte sich auf die Toilette zurückgezogen und heulte derartig, daß man es bis auf den Gang hinaus hörte. Sollte das Mädel nur heulen, das ließ sich nicht ändern. Daß Gerds Herz im Grunde vor Mitleid blutete, das brauchte IntelliGenzchen nicht zu wissen. Die Tage vergingen. Gerd wartete, wartete, wartete… „Ich werde dir schreiben“, hatte Helge gesagt. Und Gerd stürzte sich jeden Tag auf die Post. Da war ein Brief von Mutter, eine kurze Nachricht von Solveig, da war eine Karte mit einem kleinen persönlichen Gruß von Mr. Clement aus Newcastle. Sonst nichts. Eine große, tote Leere breitete sich in Gerd aus. Sie verrichtete ihre Arbeit automatisch; sie verrichtete sie fehlerfrei, aber ohne Freude. Sie empfand nicht mehr die Spannung und das persönliche Interesse, das sie zuvor für die Geschäfte der Firma gehabt hatte. Sie tat nur ihre Pflicht. Fräulein Genz saß an ihrem Tisch im Büro. Sie schluckte und schluckte. Vor ihr lag die Morgenpost. Nun, da die Büroleiterin nicht vor zehn Uhr kam, war es ihr anvertraut worden, alle Briefe an die Firma zu öffnen und sie nach bestem Ermessen zwischen dem Direk tor und dem Bürochef zu verteilen. Private Briefe wurden selbstver ständlich nicht geöffnet, sondern gleich dem Empfänger überbracht. Und jetzt saß sie mit diesem Brief vor sich da. Zum zehntenmal sah sie auf den Umschlag, den sie aufgerissen hatte. Zum zehntenmal konstatierte sie die schreckliche Tatsache, die sie gleich hätte bemerken müssen, nämlich, daß der Brief zwar
adressiert war an die Büroleiterin Gerd Elstö, außerdem aber noch ein deutliches „Persönlich“ in der einen Ecke trug. Sie versuchte sich damit zu entschuldigen, daß die Adresse mit der Maschine geschrieben war, und solche maschinengeschriebenen Briefe pflegten erfahrungsgemäß Geschäftsbriefe zu sein. Der Inhalt jedoch war alles andere als geschäftsmäßig, denn er war handschrift lich, und selbst Fräulein Genz begriff, daß die Überschrift „Geliebte, geliebte kleine Gerd!“ sozusagen privat sein mußte. Fräulein Genz hatte viele schwache Seiten, begabt war sie nicht, aber sie war doch ein anständiger Mensch. Nie wäre es ihr eingefal len, den Brief eines anderen Menschen zu lesen. Sie hatte auch nur die Überschrift gelesen und dann den Brief in heller Panik wieder zusammengefaltet. Nun saß sie da, mit Tränen im Hals, und ihr Herz war bis in die Kniekehlen abgesackt. Was würde Fräulein Elstö sagen, nein, was würde sie bloß sagen! Ihre Worte von neulich klangen ihr noch immer im Ohr: „Das ist die letzte Warnung. Wenn so etwas noch mal vorkommt, sind sie hier fertig.“ Fräulein Genz legte den Brief, völlig kopflos, in ihre persönliche Schublade zu der Puderdose, den Haarklammern und der Bonbontü te. Was sollte sie nur tun, mein Gott, was sollte sie tun? Sie raffte den Rest der Post zusammen, der ihrer Meinung nach den Direktor anging, und legte die anderen Briefe auf Gerds Schreib tisch, während ihre armen, hilflosen, kleinen grauen Gehirnzellen unter Hochdruck arbeiteten. Was sollte sie bloß tun? Sie betrachtete den Umschlag erneut. Unmöglich, den wieder zu sammenzukleben. Fräulein Genz hatte, unter vielen anderen, den Fehler, Briefe aufzureißen, statt sie hübsch ordentlich mit dem Brieföffner aufzumachen. Aber – aber –, es begann ihr zu dämmern: Konnte sie nicht auf der Maschine einen neuen Umschlag schreiben? Wo war der Brief abgestempelt? Wenn er nur hier aus der Stadt wäre! Ach nein, er kam aus Oslo. Großer Gott! Aber – warte mal! Wenn sie nun den Brief in einem anderen Umschlag an ihre Kusine in Oslo schickte und sie bat, ihn dort aufzugeben? Ja, das konnte sie tun! Es war der einzige Ausweg. Also stürzte sich Fräulein Genz auf die Schreibmaschine und schrieb Gerds Namen samt Adresse auf einen neuen Umschlag. Und „persönlich“ in die eine Ecke. Dann steckte sie den Brief in die Ta sche. Heute abend mußte sie an Kusine Eva schreiben.
Sie fühlte sich nun stark erleichtert. Fräulein Elstö würde ihren Brief bekommen, wenn auch mit einigen Tagen Verspätung. Und sie selbst war gerettet. Jetzt war es zehn Uhr, und Fräulein Elstö trat ins Büro. Gleich darauf saß sie über ihren Schreibtisch gebeugt, blaß und schmal und schweigsam. „Hören Sie mal, Fräulein Elstö.“ „Ja, Herr Direktor?“ „Ich muß Sie wieder um Ihre Hilfe bitten. Ich weiß mir tatsäch lich keinen anderen Rat. Wollen Sie hinfahren und mit Baron Silf verkranz sprechen?“ „Ist das Ihr Ernst, Herr Direktor?“ „Ja, mein voller Ernst. Ich hatte soeben ein Telefongespräch mit meinem Sohn. Er sitzt da oben in Gudbrandsdalen und sagt, wir müssen einfach Silfverkranz als Lieferanten gewinnen und die Sache noch hinkriegen, bevor das Baumfällen im Winter beginnt. Also fahren Sie zu ihm, und reden Sie mit ihm. Sie wissen, wieviel es bedeutet, mit diesen Leuten ins persönliche Gespräch zu kommen. Tun Sie es nicht, so kommt uns vielleicht ein Konkurrent zuvor, und wir sind die Dummen.“ „Aber was ist denn eigentlich unklar, Herr Direktor?“ „Der Preis. Ich finde unser Angebot wirklich gut, aber statt es an zunehmen oder abzulehnen, geht er wie die Katze um den heißen Brei und schreibt über eine Menge nicht dazugehöriger Dinge. Ach ja, Sie haben doch die Korrespondenz durchgesehen. Bitte, hier ist die letzte Zuschrift, heute gekommen.“ Gerd las den höflichen schwedischen Brief auf handgeschöpftem Bütten mit Stahldruck, um bei sich zu entscheiden: Wenn jemals eine persönliche Besprechung am angebrachtesten war, so hier. „Schön, ich werde fahren. Wenn es mir nun aber nicht gelingt, den Baron mürbe zu machen?“ „Sie kriegen das schon fertig! So wie ich Sie kenne, erreichen Sie auf jeden Fall einen Entscheid. Können Sie schon morgen reisen?“ „Ja, natürlich.“ „Fein. Ich werde Throndsen beauftragen, die Fahrkarte zu besor gen. Sie sind ein wirklicher Nothelfer, Fräulein Elstö – “ „Das ist noch nicht ganz raus“, sagte Gerd und lächelte schwach. Wer einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstieß, das war Fräulein Genz. Wenn Fräulein Elstö zurückkam, sollte ihr Brief hübsch und ordentlich auf ihrem Schreibtisch liegen, mit Stempel
von Oslo und mit genau der gleichen Aufschrift wie der Umschlag, den sie in kleine Stücke zerrissen und auf der Toilette dem rauschen den Wasser anvertraut hatte. Von Baron Silfverkranz kam ein Telegramm: Eine Besprechung mit einem Vertreter des Direktors würde ihm sehr angenehm sein. Also packte Gerd wieder ihren Koffer und fuhr nach Schweden. Auf dem Boden des Koffers, in der äußersten Ecke, lag die Katze Dorette.
15 Als Gerd den Busfahrer nach Högalind, dem besitz des Barons Silf verkranz, fragte, betrachtete er sie respektvoll und nickte: Der wäre leicht zu finden, einige Minuten vom Hauptweg, dann rechts und von dort sähe sie schon das Gutshaus Högalind liegen, ein großes weißes Gebäude in einem Park. Gerd dankte und ging ihres Weges. Es war Frost in der Luft. Der Himmel erschien hoch und klar, von einem kalten Blau. Es war ein wundervoller Tag. Der Fahrer hatte recht. Es war kein Kunststück, Högalind zu fin den. Das große Gebäude erstreckte sich lang und weiß in einem Park. Ringsherum dehnten sich Felder, und ein gutes Stück hinter dem Gutshaus lagen eine riesengroße Scheune und andere große, solide Wirtschaftsbauten. Dahinter begann der Wald, der meilenwei te, dunkle, dichte Wald, dieser Wald, der die Ursache von Gerds Reise war. Der Weg schlängelte sich zwischen kleinen Teichen, beschnitte nen Bäumen und Büschen durch den Park. Hier war es schön, auf eine wunderlich altmodische, pompöse Art. Der Buchsbaum war in kunstfertige Figuren geschnitten, und die Putten erzählten vom Ge schmack und den Gebräuchen des vergangenen Jahrhunderts. Auf der Terrasse, die sich vor dem Herrenhaus erstreckte, stand ein junger Mann hinter einer Staffelei. Als er Gerd erblickte, legte er die Palette beiseite. „Guten Tag. Wen suchen Sie, gnädiges Fräulein?“ „Herrn Baron Silfverkranz. Der Herr Baron erwartet mich um halb zwölf.“ Der junge Mann kam näher. Er war schlank und gut aussehend, mit schmalem, etwas zu weichem Gesicht und ungewöhnlich großen, dunklen Augen. „Ich werde Sie zu meinem Vater führen. Ich bin Michael Silfver kranz.“ Er reichte ihr die Hand und sah sie fragend an. „Gerd Elstö von der Firma Myrseth und Sohn“, machte sie sich bekannt. „Wie bitte? Sind Sie etwa der Vertreter für…? Ich weiß, daß mein Vater heute den Bürochef von Myrseth erwartet, aber…“ Er sah äußerst verblüfft aus.
Gerd lächelte. „Es ist nicht das erstemal, daß ich diesem Mißver ständnis begegne. Ich hoffe nur, der Herr Baron wird nicht allzu enttäuscht sein, daß er mit einer Frau verhandeln soll.“ „Mein Vater ist doch ein Mann mit Geschmack“, lachte der junge Silfverkranz. „Diesen Weg bitte, Fräulein Elstö.“ Er führte sie durch die schwere, geschnitzte Eingangstür, durch einen geräumigen, fliesenbelegten Gang und dann in eine mächtige Halle, wo nun auch ein Diener auftauchte und sich entschuldigte: „Verzeihung, ich hörte es nicht läuten.“ „Es wurde auch nicht geläutet, Svensson. Bitte, melden Sie mei nem Vater, daß der Vertreter von Myrseth und Sohn gekommen ist.“ Der junge Michael hängte persönlich Gerds Mantel auf. „Bitte. Der Herr Baron erwarten das gnädige Fräulein im Ar beitszimmer.“ „Was für ein Filmbutler!“ dachte Gerd, als er sie durch die Halle in ein großes Zimmer mit schweren Renaissancemöbeln führte. Ein weißhaariger Herr, der so aussah, wie Gerd sich einen fran zösischen Marquis vorstellte, kam ihr entgegen. „Welch eine angenehme Überraschung!“ sagte er und reichte ihr eine wohlgepflegte Hand. „Ich wußte gar nicht, daß Myrseth und Sohn so charmante Vertreter haben. Nehmen Sie bitte Platz. Wie war die Reise?“ Gerd antwortete höflich, und der Baron plauderte weiter. Von dem schönen Norwegen und wie nett es sei, ein so frisches norwegi sches Mädchen begrüßen zu dürfen. Und wie er sich freue, daß schönes Wetter sei und sie Högalind im Sonnenschein sehen könne. Alles in allem nahm er sich recht viel Zeit und plauderte über alles mögliche, nur nicht über den eigentlichen Zweck von Gerds Erschei nen. Als sie versuchte, das Gespräch auf Holz und Vertrag zu brin gen, fegte er das höflich lächelnd mit einer lässigen Handbewegung fort. „Es eilt doch nicht, von Geschäften zu reden. Jetzt werden wir erst den Lunch nehmen, und nachher kommen Sie mit in den Wald.“ „Aber Herr Baron, ich verstehe nur das Geschäftliche und nichts von Baumstämmen. Diese Seite der Sache nimmt Herr Myrseth junior wahr.“ „Ich weiß, ich weiß. Aber deshalb kann ich doch das Vergnügen haben, Sie in meinem Besitz herumzuführen und Ihnen den Wald zu zeigen?“
„Das wäre natürlich wunderbar, Herr Baron, aber ich bin doch nicht gekommen, um soviel Zeit des Herrn Baron mit Beschlag zu belegen.“ Höfliche Proteste. Es wäre dem Baron eine ausgesuchte Freude, und auch seine Frau würde es so nett finden… Eine halbe Stunde später saß Gerd in einem Speisesaal mit Gold ledertapeten und wurde zum erstenmal in ihrem Leben von einem leibhaftigen Diener bedient. An ihrer linken Seite hatte der Baron Platz genommen und machte in seiner feinen, altmodischen Kava liersart die Honneurs, zu ihrer Rechten saß die Baronin, eine zarte kleine Dame von ungefähr fünfzig Jahren, und gegenüber Michael mit dem dunklen Haar und den etwas schwermütigen Augen. Es war ein phantastisches Erlebnis für Gerd, Einblick in ein sol ches Heim zu bekommen und diese Menschen kennenzulernen, die die verfeinerte Kultur vieler Generationen in ihren Stimmen, ihren Manieren, in ihrem korrekten und dabei doch so angenehm unge zwungenen Wesen spiegelten. „Wir wohnen ja etwas abseits“, erklärte die Baronin, „und freuen uns immer über jeden frischen Windhauch von draußen.“ Ihre Augen weilten oft und wohlwollend auf dem jungen norwe gischen Mädchen. Einen Augenblick traf ihr Blick den ihres Mannes, und sie las Verständnis in ihm. Die Freundlichkeit Gerd gegenüber wurde womöglich noch größer. Erst viel später wurde es Gerd klar, warum sie so herzlich aufge nommen worden war und warum der Baron so lange zögerte, über Geschäfte mit ihr zu reden. Aber als ihr diese Erkenntnis aufging, war schon allerhand geschehen. Gerd war mächtig beeindruckt. Der junge Michael hatte von sei nem Vater den Auftrag bekommen, den Gast überall herumzuführen, „drinnen und draußen“, wie der Baron lächelnd gesagt hatte. Sie hatten nun die Ställe gesehen, die Hunde begrüßt und waren an endlosen Äckern entlanggegangen, die gerade die letzte Herbst pflügung erhielten. „Den Wald besichtigen wir nach dem Tee“, erklärte Michael. „Dorthin ist es so weit, daß wir das Auto nehmen müssen oder Pferd und Dogcart, ganz wie Sie wollen.“ Dann gingen sie durch den Park zurück, und Michael erzählte, daß er das einzige Kind sei und sein Vater es etwas schwierig finde, sich mit Michaels großem Interesse für das Malen zu versöhnen.
„Vater betrachtet das mehr oder weniger als ein unnützes Hob by“, erklärte er mit einem kleinen Lächeln. „Daß ich die Malerei tatsächlich ganz gut beherrsche, macht weiter keinen Eindruck auf ihn. Wenn ich an einer Gemäldeausstellung teilnehme, und Vater liest etwas Lobendes über mich in der Zeitung, sagt er hm und sonst nichts.“ „Der Herr Baron hatte wohl andere Pläne mit seinem einzigen Sohn“, meinte Gerd. „Ja, so ist es. Ich sollte mit Leib und Seele im Gut, dem Wald und dergleichen aufgehen. Eines Tages werde ich das auch tun müs sen, denn ich bin ja der einzige Erbe. Nicht nur der einzige Sohn, sondern auch der einzige meiner Generation. Mit mir steht und fällt die Zukunft der Familie Silfverkranz. Das liegt ein bißchen schwer auf meinen schwachen Schultern.“ Er sagte es lächelnd, aber hinter den munteren Worten lag ein gewisser Ernst. Beim Tee versuchte Gerd erneut, auf die Geschäfte zu kommen, doch wieder schob der Baron dies Thema beiseite. „Wir haben doch genügend Zeit vor uns, kleiner Bürochef“, lä chelte er. „Aber ich verspreche Ihnen bestimmt, daß wir nach dem Essen die Sache in Angriff nehmen werden.“ „Nach dem Essen? Aber Herr Baron…“ Jetzt schaltete sich die Baronin in das Gespräch ein. „Ja, Sie sind natürlich während dieser Tage in Schweden unser Gast, nicht wahr? Sie sehen doch, das Haus ist groß genug, Sie auf zunehmen!“ „Das versteht sich von selbst“, sagte der Baron, bevor Gerd ein Wort äußern konnte. „Wo haben Sie Ihr Gepäck, Fräulein Elstö? Im Gasthaus im Dorf? Meine Güte! Michael, du nimmst den Zweisitzer und fährst Fräulein Elstö dorthin, um den Koffer zu holen und das Zimmer abzubestellen.“ „Mit Freuden“, sagte Michael, und Gerd saß wie gelähmt da. Sie wußte weder aus noch ein. Sie kritzelte einen kurzen Brief an Myrseth, erklärte ihm die selt same Lage der Dinge und fragte, was sie wohl tun solle. Es schien sehr schwierig, den Baron zur Eile anzutreiben. Der Koffer wurde geholt und Gerd in ein Gästezimmer einquar tiert, wie sie es bisher höchstens im Film gesehen hatte. Sie kniff sich selbst in den Arm, stand da, blinzelte und verstand gar nichts.
Die Baronin kam persönlich und erkundigte sich, nett und lie benswürdig, ob Fräulein Elstö auch alles habe. Wenn sie etwas wün sche, solle sie nur – Und vielleicht würde es nun heute doch zu spät für die Fahrt in den Wald. Das könne ja auch gut bis morgen warten, denn vielleicht sei Fräulein Elstö müde von der Reise. Wäre es nicht besser, vor dem Essen noch etwas auszuruhen? Solle nicht eines der Mädchen ihr beim Auspacken helfen? Vielleicht wolle Fräulein Elstö auch ein Bad nehmen? Sie solle nur klingeln, dann würde das Mäd chen Klara kommen - Gerd stammelte einen Dank. Sie sei doch gewöhnt, sich selbst zu bedienen, aber danke, ein Bad würde sie gern nehmen und auch etwas ausruhen. Und wann solle sie dann zum Essen hinunterkommen? Das Abendessen war um halb acht. Die Baronin zog sich zurück, und Gerd kniff sich noch einmal in den Arm. Nein – daß es so etwas gab. Sie packte die Koffer aus. Mit der Katze Dorette in der Hand blieb sie stehen. Dorette. Sieben kleine Buchstaben. - Glückliche Tage in Ham burg. Hamburg. Sieben kleine Buchstaben. – Eine Woche an Bord der „Babette“. Eine Woche erfüllt von Glück und Schönheit. Babette. Sieben kleine Buchstaben. Und dann das Entsetzliche. Dieses Ent setzliche, das über sie hereinbrach, als Erna Böe plötzlich auftauchte. Erna Böe, Erna Böe – Gott, was sollte dies? Was war das für ein Spiel, das das Schicksal mit ihr spielte? Erna Böe. Sieben kleine Buchstaben. Gerd legte die Katze Dorette hart beiseite. Dann zog sie sich aus und ging ins Bad. Das war ebenso modern eingerichtet wie das übrige Haus altmo disch. Himmel, in einem Badezimmer zu baden, das ganz in Schwarz und Rosa gehalten war! Das Wasser lief in die blanke schwarze Porzellanwanne, und Gerd stand auf der rosa Badematte und reckte die Hand aus nach einem großen rosa Seifenstück. Sie wollte diese wenigen Tage genießen, den Luxus genießen, die Schönheit ringsum, das Zusammensein mit diesen reizenden Men schen. Sie sank in das laue Badewasser. Das wirkte so wohltuend und beruhigend. Morgen ging es also in den Wald, im Dogcart, mit dem hüb schen, höflichen Michael.
Michael - ? Gerd sperrte die Augen auf. Was meinte das Schick sal damit? War das ein Fingerzeig? Michael – sieben kleine Buch staben… Unten, in dem kleinen persönlichen Eckzimmer der Baronin mit all den Hängepflanzen, mit den leichten, kleinen Empiremöbeln, den gedämpften Pastellfarben und den Wellensittichen in einem großen Käfig, hatte inzwischen das Ehepaar eine leise Unterredung. „Die ist uns vom Himmel geschickt“, stellte der Baron fest. „Ein bezauberndes Mädchen“, bestätigte die Baronin. „Er muß doch den Unterschied sehen“, meinte der Baron. „Wir müssen sie einige Tage festhalten“, sagte die Baronin. „Du mußt alles dazu tun, was du kannst.“ „Das bedeutet also, daß ich nichts tun darf“, lächelte der Baron. „Ich muß die Sache aufschieben, hinzögern, mich bedenken.“ „Aber du mußt ihr den Vertrag geben“, forderte die Baronin. „Den Vertrag soll sie haben. Auf die paar Tausend weniger, als ich veranschlagte, verzichte ich gern, wenn es um das Glück meines Sohnes geht.“ Die Baronin nickte. Sie war heute so froh gestimmt. Als sie Gerd begegnete, sah sie eine Möglichkeit zur Lösung eines schwierigen Problems, das wie ein Zentnergewicht auf ihr und ihrem Mann lag: Michaels Verliebtheit in eine zweimal geschiedene Malerin, die älter war als er und zudem einen Ruf hatte, den auch der Großzügigste etwas zu lädiert finden mußte. Nun wollte die Baronin nicht etwa eine Intrige spinnen. Kein Ge danke daran! Aber Michael sollte erkennen, daß es doch auch noch eine andere Art weiblichen Charmes gab, als er ihn in dieser vier unddreißigjährigen Malerin mit ihren zwei leibhaftigen Ehemännern gefunden hatte. Und außerdem - Die Baronin schauderte, wenn sie an dieses „au ßerdem“ dachte. Der Baron fühlte, wie eine eisige Hand sein Herz zusammenpreß te, wenn er sich diese Frau als die künftige Herrin auf Högalind vorstellte. Dabei bestand er durchaus nicht darauf, daß Michael eine Adlige heiratete. Das hatte nichts zu bedeuten. Aber Michael sollte ein frisches, gesundes, junges und gebildetes Mädchen aus einem gesunden Milieu als Frau wählen, vielleicht auch ein Mädchen aus Norwegen. Der Baron dachte an Gerd und lächelte. Sehr gern ein Mädchen aus Norwegen.
16 „Liebes Fräulein Elstö! Dank für beide Briefe. Behalten Sie nur die Ruhe. Lassen Sie dem Baron die Zeit, die er glaubt, haben zu müssen. Ich bekam einen kurzen Brief von ihm, gleichzeitig mit dem Ihren. Es scheint, daß er Sie mehr als einen lieben Gast betrachtet als die Vertretung eines Geschäftspartners. Also lassen Sie ihn nur. Hoffentlich verleben Sie recht schöne Ferien auf Högalind; die gönne ich Ihnen. Ich weiß nämlich sehr gut, daß ich Sie um zwölf Tage im Sommer betrogen habe. Die Tour nach Newcastle als Ferien zu betrachten erlaubt mir mein Gewissen nicht. Erstens leisteten Sie dort erstklassige Arbeit, zweitens sahen Sie so elend aus bei Ihrer Rückkehr, daß ich es als eine persönliche Erleichterung empfinden würde, hätten Sie nun wirklich so eine Art von Ferien. Außerdem habe ich auch das Ge fühl, daß der Vertragsabschluß mit unserem lieben Baron in Ordnung kommt. Sagte ich Ihnen nicht, er habe eine Injektion mit dem Präpa rat Elstö nötig? Wenn Sie mit dem kostbaren Papier heimkommen, spielt es keine Rolle, ob Sie dazu eine Woche mehr oder weniger gebraucht haben. Also bleiben Sie, solange der Baron Sie festhält, genießen Sie das Dasein, essen und schlafen Sie gut. Natürlich vermissen wir Sie im Büro, aber Throndsen ist sowohl tüchtig als auch intelligent, und die kleine Genz macht sich allmäh lich auch, also werden wir uns schon behelfen. Ich habe die kleine Genz gebeten, eventuelle Post an Sie nachzuschicken. Mit besten Grüßen Ihr K. Myrseth.“ Gerd lächelte: Sie hatte doch wirklich einen gütigen Chef, und hätte es ein wenig anders in ihrem Herzen ausgesehen, ja, dann wür de sie sich für ein wahres Glückskind gehalten haben. Nie hatte sie von einer derartigen Gastfreundschaft geträumt, wie sie sie hier auf Högalind erlebte. Der Baron war so einfach und na türlich in seinem altmodischen chevaleresken Auftreten und die Baronin geradezu mütterlich in ihrer Fürsorge für den jungen Gast. Und Michael… Gerd war eine Frau. Und sie war sich ganz klar darüber, daß es nicht nur Höflichkeit und Gastlichkeit dem Besuch gegenüber waren,
die Michael bewogen, sie im Auto oder im Dogcart herumzufahren, ihr tausenderlei zu erzählen und ihr sein Atelier zu zeigen, das er sich in der Mansarde des einen Gebäudeflügels eingerichtet hatte. Was aber veranlaßte das Ehepaar, ihr so viel herzenswarme Freundlichkeit zu zeigen? Es war sonnenklar, daß sie restlos begei stert waren, sie hier zu haben, sie, die kleine Gerd, die aus ihrem bescheiden möblierten Zimmer kam. „Möbl. Zi. m. Küch. - Benutz, in ruh. Haus“, wie es in der Zeitungsannonce gestanden hatte. Dann schüttelte Gerd die Probleme ab. Myrseth wollte, daß sie blieb, der Baron und seine Familie wünschten, daß sie ihren Besuch ausdehnte, sie war verpflichtet zu bleiben, bis diese Vertragsangele genheit in Ordnung war – also blieb sie eben und genoß diese Tage, so gut sie nur konnte. Es kam Post für sie. Briefe von Mutter und Solveig und ein Gruß ihrer Wirtin, aber der eine Brief, auf den sie wartete, der kam nicht. Und die Hoffnung, die sie gehegt hatte, die Hoffnung auf eine Erklä rung, diese unwahrscheinliche, allzu optimistische Hoffnung, die wurde geringer und immer geringer, bis sie schließlich in sich zu sammensank und erstarb. In dem äußeren Büro bei Myrseth und Sohn saß Fräulein Genz mit Magenschmerzen vor Angst und Spannung. Das kleine IntelliGenzchen hatte nicht bedacht, daß, überließ man es einem anderen Menschen, einen Brief aufzugeben, das Schicksal dieses Briefes unsicher ist. Sie ahnte nicht, daß Kusine Eva in Oslo den Brief in ihren Regenmantel gesteckt und dabei gedacht hatte, „den werfe ich in den Kasten, wenn ich in die Stadt gehe“, und sie ahnte nicht, daß der Brief vergessen in der Tasche lag, als Kusine Eva ihren Regen mantel aufhängte und ihren Sealkanin anzog. Als Fräulein Genz schließlich einen ängstlichen Fragebrief absandte, da runzelte Kusine Eva die Brauen und dachte, „diesen Brief habe ich doch längst in den Kasten gesteckt!“ Sicherheitshalber sah sie in ihrer braunen Leder handtasche, der roten Schultertasche und in der neuen Plastiktasche noch mal nach, aber kein Brief war zu finden. Also mußte sie ihn fortgeschickt haben, und das schrieb sie auch an ihre Kusine bei Myrseth und Sohn. Das kleine Fräulein Genz konnte nichts anderes tun, als sich zu grämen, zu schweigen und zu versuchen, ihr schwarzes Gewissen zu betäuben. Auf Högalind saß man im Gartenzimmer der Baronin beim Kaf fee. Gerd amüsierte sich über einen der kleinen Wellensittiche, der
deutlich eine Vorliebe für sie hatte. Er kam angeflogen, setzte sich auf ihre Hand und pickte Kuchenkrümel auf. Zwischendurch schwatzte und piepste er leise. Gerd wurde dieses Spiels mit dem schönen blauen Vogel nie mü de, und die Baronin freute sich über Gerds Interesse an ihren zwit schernden Lieblingen. Michael saß etwas vornübergebeugt und starrte Gerd unverwandt an. Er schwieg lange. Endlich fragte er: „Darf ich Sie malen, Fräulein Elstö?“ „Was mich? Mich malen? Das ist doch nicht…“ Der Baron unterbrach lächelnd. „Das dürfen Sie meinem Sohn nicht abschlagen, Fräulein Elstö. Sie können ruhig ja sagen. Michael ist nämlich kein Dilettant, wissen Sie, er kann wirklich malen.“ Michael sah seinen Vater an, und Freude blitzte in seinen Augen auf. Es war das erstemal, daß sich der Vater direkt anerkennend über seine Kunst äußerte. „Papa, ich dachte nicht…“, begann er. „Natürlich weiß ich, daß du malen kannst, mein Junge. Ich war nur bekümmert bei dem Gedanken, daß du ganz in der Kunst aufge hen würdest, anstatt dich um das Gut zu kümmern, wenn es einmal soweit ist.“ „Davor brauchst du keine Angst zu haben. Die Malerei ist und wird nichts anderes als ein Hobby sein, und wenn die Zeit kommt, vergesse ich meine Verpflichtungen nicht. Also, darf ich, Fräulein Elstö?“ „Ja, natürlich. Aber ich weiß ja nicht, wieviel Zeit man für ein Porträt braucht, und ich muß doch…“ „Ach, jetzt reden Sie schon wieder von Abreise“, rügte die Baro nin lächelnd. „Ist es denn so furchtbar, bei uns zu sein, daß Sie abso lut fort möchten?“ „Nein, o nein!“ Gerd errötete. „Ich habe es wunderbar hier, aber ich finde, ich nütze Ihre Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft ganz fürchterlich aus. Schließlich kam ich doch nur zu einem Geschäftsabschluß her.“ „Lieber Himmel, Sie mit Ihren Geschäften!“ seufzte der Baron. „Hören Sie mal, Kind. Wenn wir nun Kaffee getrunken und Sie Ihren Blue Darling wieder in sein Bauer gebracht haben, wollen wir die Sache mit dem Vertrag in Ordnung bringen, damit Sie Ihren Seelenfrieden wiederbekommen. Ich habe mir die Sache nochmals
überlegt und mit meinem Forstmeister besprochen und glaube, daß wir uns einig werden. Sind Sie jetzt zufrieden!“ „Selbstverständlich, Herr Baron.“ Gerd war froher, als sie zeigen wollte. Endlich, endlich würde die Sache klappen. Bald darauf saß sie dem Baron gegenüber in seinem großen Ar beitszimmer mit den Renaissancemöbeln. Und der Baron war er staunt, wie vernünftig und klar dieses junge Mädchen sprach, wie viel sie verstand von so prosaischen, rein sachlichen Dingen wie Holz, Verträgen und Lieferungsbedingungen. Der Vertragsentwurf wurde Gerd vorgelegt, und sie las ihn aufmerksam durch. „Aber Herr Baron, dies ist ja viel vorteilhafter für uns als unser eigener Vorschlag!“ „Das ist mir klar. Aber erstens liegt mir an einer guten Verbin dung mit einer guten und rechtschaffenen Firma wie Myrseth und Sohn, zweitens möchte ich in Ihnen nicht den Eindruck erwecken, als wollten wir hier in Schweden unser Brudervolk ausnützen.“ Letz teres wurde mit einem schelmischen Lächeln gesagt. „Und drittens – knüpfe ich eine Bedingung an diesen Vertrag.“ „Eine Bedingung?“ Gerd beugte sich erneut über den Entwurf. „Nein, nein, das steht hier nicht drin. Die Bedingung ist nämlich, daß mein Sohn Sie malen darf.“ „Aber Herr Baron, ich kann doch unmöglich noch länger hier bleiben!“ „Hören Sie mal gut zu, kleines Fräulein Elstö: Wenn ich, wie heute, diesen Funken im Auge meines Sohnes sehe, so weiß ich, daß der Künstler in ihm geweckt ist, und weiß auch, daß er dann etwas schaffen kann. Und das darf man ihm nicht verwehren. Es ist wahr, ich kann keine ungeteilte Begeisterung für seine Malerei aufbringen. Aber ich sehe ein, daß der Junge Talent hat, das man nicht unter drücken sollte. Ich bin heilfroh, wenn er hier und nicht in seinem Atelier in Stockholm malt. Ja, er hat dort ein Atelier und verläßt uns öfter auf einige Wochen. Sie verstehen mich? Bleiben Sie so lange, bis er dieses Porträt gemalt hat. Vermutlich wird er die Sitzungen so lange ausdehnen, bis Sie vor Müdigkeit vom Stuhl fallen. Ich kenne ihn. Wenn er inspiriert ist, so muß er mit Gewalt zu den Mahlzeiten geschleppt werden. Sie bringen es doch nicht übers Herz, uns gleich wieder zu verlassen, nachdem Sie Ihr Ziel nun erreicht haben?“ Da mußte Gerd lachen.
„Nein, wenn Sie es so ansehen – Und natürlich finde ich es herr lich, hier zu sein.“ „Also abgemacht. Und jetzt her mit dem Vertrag!“ Gerd reichte ihm das Schriftstück über den schweren Renais sancetisch hinüber, und eine Minute später erhielt sie es zurück, versehen mit der kostbaren Unterschrift: B. M. Silfverkranz. „So, das war das. Und morgen senden Sie beide Exemplare ab. Das eine bekomme ich dann mit Herrn Myrseths Unterschrift zurück. Und jetzt wollen wir unsere Vereinbarungen mit einem Trunk besie geln.“ Der Baron holte höchstpersönlich eine Flasche aus dem Keller. Sie war alt und spinnwebenbedeckt, und ihr Inhalt floß golden in die wappengeschmückten Gläser. „Prosit, kleiner Bürochef! Und Dank für das abgeschlossene Ge schäft!“ „Ich habe zu danken, Herr Baron.“ „Papas Tokayer läßt sich trinken“, lächelte Michael. „Ja, Junge, so was bekommst du wohl nicht in Stockholm!“ „Nein.“ Michael saß da, lächelte und drehte am Fuß des Glases. „Übrigens bin ich dabei, mein Atelier in Stockholm aufzugeben, Papa.“ „Was sagst du da, Junge?!“ Zwei Augenpaare waren auf ihn gerichtet, die Gesichter seiner Eltern, gespannt und glücklich, ihm zugewandt. „Ja, da Papa ja nun nichts mehr dagegen hat, daß ich hier male. Hier ist es – ja – irgendwie frischer und reiner. Und – nun ja, auf dem Lande ist es nun einmal besser als in der Stadt.“ Die Eltern nickten, und die Baronin mußte ein paarmal schluk ken. „Mir sind wohl die Augen aufgegangen für – nun ja, für das Sau bere, das Frische. Ich werde wohl also mit – allem in Stockholm brechen. Ich meine – hm – mit meinem ganzen Stockholmer Da sein.“ „Ganz und gar, Michael?“ „Ganz und gar.“ Schweigend hoben die Eltern ihre mit dem dunkelgoldenen Wein gefüllten Gläser ihrem Sohn entgegen. Gerd fühlte, dies hier war etwas, das sie nichts anging. Sie machte sich so klein wie nur mög lich in ihrem Lehnstuhl.
Die Baronin wandte sich ihr zu. „Stoßen Sie doch mit uns an, Fräulein Elstö.“ Gerd ergriff zögernd ihr Glas. „Ich dachte…“ Sie tranken. Die Baronin legte ihre kleine schlanke Hand einen Augenblick über Gerds Rechte. „Liebes Kind, mit Ihnen kam die Freude nach Högalind!“
17 Von dem schwermütigen Ausdruck in Michaels Augen war nichts zurückgeblieben. Er war morgens früh auf, war stets Nummer eins am Frühstücks tisch und saß ungeduldig wartend da, um aufzuspringen, wenn er Gerds Schritte draußen auf dem Parkett der Halle hörte. Oft früh stückten sie allein. Der Baron und die Baronin ließen sich morgens Zeit. Sie wußten ja, daß ihr Gast Gesellschaft hatte. Dann wurde „Blue Darling“ aus dem Wintergarten geholt und durfte mit hinauf ins Atelier. Da bekam er sein Frühstück aus Gerds Hand. Armer „Blue Darling“, seine Futterzeiten waren ganz verän dert, seit diese Malerei begonnen hatte. Solange er im Atelier war, wurde er mit allem gefüttert, was sich ein kleines Papageienherz nur wünschen kann, aber war das Malen vorüber, so wurde er in sein Bauer zurückgebracht, um sich für die nächste Mahlzeit einen ge sunden Appetit in seinem großen Flugbauer zu erarbeiten. Michael war redselig geworden. Er erzählte von Stockholm und seinen Auslandsreisen, von den großen Galerien im Ausland, sprach von Kunstschulen und Stilformen. Gerd lauschte, aber sie verstand bloß die Hälfte. „Ich bin sicher eine schlechte Zuhörerin“, entschuldigte sie sich. „Ich muß einräumen, daß ich nicht viel von der Malkunst verstehe. Aus diesem Grunde habe ich schon oft meine Schwester zur Ver zweiflung gebracht.“ „Ihre Schwester?“ „Ja, meine Schwester versteht etwas von Formen, Farben wie auch von Malerei, während ich…“ „Ist sie denn selbst Malerin?“ „Das nicht, aber Innenarchitektin.“ „Wirklich? Das muß ich Mama erzählen. Sie hat nämlich den Plan, im Keller eine norwegische Kaminstube einzurichten und au ßerdem eine hypermoderne Küche. Würde das nicht eine verlocken de Aufgabe für Fräulein Solveig, sein?“ Gerd lachte. „Sicher, Küchen sind ihre Spezialität. Sie behauptet immer, dazu braucht man weibliche Architekten. Frauen wissen am besten, wo der Schuh drückt.“
„Darin hat sie sicher recht – Den Kopf etwas mehr seitwärts, wenn ich bitten darf. So ja, jetzt ist es gut.“ Dann schwiegen sie, und Michael malte. Gerd legte eine neue Portion Hirsekörner für „Blue Darling“ auf die Hand. Ihre Augen waren auf den schönen blauen Vogel gerichtet, aber ihre Gedanken gingen eigene Wege. Sie gingen nicht sehr weit. Sie wanderten von Zimmer zu Zim mer in dem schönen alten Haus, und sie wanderten im Park herum, sie folgten dem Weg in den Wald und kehrten dann ins Atelier zu rück, zu dem jungen Künstler, der dastand und ihr Gesicht mit be hutsamen Pinselstrichen auf die Leinwand bannte. Sie mochte Michael gern. Ihr gefielen seine lässig selbstverständ liche Wohlerzogenheit, sein Wesen, seine Stimme. Und Gerd wußte, daß sie nun hatte, was viele Menschen „die Chance ihres Lebens“ nennen würden. Sie fühlte, daß es für Michael nur noch ein kurzer Schritt zu einer offenen Frage war. Sie wußte, wenn sie nur selbst wollte, konnte sie einmal Herrin auf Högalind werden. Ihr schwindelte. Herrin auf diesem Gut! Hausfrau auf diesem Herrensitz! Vielleicht Mutter des Erben von Högalind-Gut. Sie konnte selbst Baronin werden und „Ihre Gnaden“. Alles zusammen war einfach unfaßbar. Und warum sollte sie nicht? Das, was in ihrem Leben Glück bedeutet hatte, war vorbei. Nie mehr konnte sie einen Menschen lieben. Aber sie fühlte in sich eine große Güte für Michael. Auf jeden Fall konnte sie nett zu ihm sein, eine Stütze und Hilfe, ihm Verständnis zeigen und eine gute Mutter seiner Kinder werden. Brächte Gerd auch weder Gut noch Geld in eine Ehe mit Micha el, so würde sie doch jedenfalls Gesundheit und Vernunft beisteuern. Gut und Geld hatte Michael selbst. Noch ein Gedanke fuhr ihr durch den Kopf: Wieviel konnte sie dann für ihre Mutter tun! Wie schön wäre es, wenn sie Mutti als Gast auf Högalind haben würde und Solveig im Küchenbereich schaltete und waltete, wo sie alle ihre ausgezeichneten Ideen ausführen durfte. Solveig könnte Kinderzimmer und Schulzimmer einrichten, denn Kinder auf Högalind brauchten ja Gouvernanten und Hauslehrer, es war zu weit zur Schule. Es mußte auch angenehm sein, soviel Geld zu haben, sich schön kleiden zu können, Gesellschaften zu geben, zu repräsentieren… Stand das Schicksal nicht bereit und bot ihr alles denkbare Glück aus einem Füllhorn dar?
„Blue Darling“ flatterte, verließ Gerds Hand und flog in einem eleganten Bogen zur Deckenlampe. Da setzte er sich auf den Rand der Schale, hielt das Köpfchen schräg und guckte bedächtig zu dem Bild auf der Staffelei hinunter. „Ja, du hast recht, ,Blue Darling’“, sagte Michael lächelnd, „wir wollen eine Pause machen, und übrigens ist es wohl auch Zeit zum Lunch.“ Er zog den Malkittel aus, wusch die Hände und strich das Haar zurück. Gerd hatte den Vögel wieder an sich gelockt und trug ihn nun in den Wintergarten hinunter. „Nun, wie steht es mit dem Porträt?“ fragte die Baronin. „Fein. Es geht mit Sturmesschritten voran. Du kannst gern nach oben kommen und es begutachten. Jetzt endlich beginnt es, Fräulein Elstö ähnlich zu sehen.“ Das ließ Mama sich nicht zweimal sagen. Am selben Nachmittag machte sie einen feierlichen Besuch im Atelier ihres Sohnes und stand lange vor dem halbfertigen Bild. „Das ist ein reizendes junges Mädchen, Michael“, fing die Mutter vorsichtig an. Michael lächelte. „Ja, sehr reizend.“ Pause. Dann sprach Michael weiter. „Hör mal, Mamachen, ich möchte rasch mal nach Stockholm fah ren. Da ist etwas, das ich…“ „Nach Stockholm?“ Ein Schatten flog über das Gesicht der Mut ter. „Ich versprach doch, alle Verbindungen abzubrechen, Mama! Verstehst du, es gibt Verbindungen, die… die man nur mündlich lösen sollte. Man muß doch versuchen, Gentleman zu sein, nicht wahr, alles so rücksichtsvoll wie möglich zu ordnen?“ „Ich verstehe, mein Junge.“ „Und solange ich nicht reinen Tisch gemacht habe, kann ich nicht…“, Michael sah seine Mutter an und wußte, daß er weiter nichts zu sagen brauchte. „Mache nur diese Stockholmtour, Michael, je früher, desto bes ser.“ Gerd saß an dem kleinen, dünnbeinigen Schreibtisch im Gäste zimmer, den Kopf in die Hände gestützt. Vor ihr lag die soeben eingetroffene Post. Da war ein Brief von Myrseth, der in seiner Freude allzu große und allzu lobende Worte für sie fand und ihr großzügig noch längere
Ferien gönnte, aber da war auch was anderes. Ein kurzer Gruß von Solveig. „Hast Du einen Dusel, so ein Luxusleben auf einem waschechten Gut. Kommst Du auf der Rückreise durch Oslo und erzählst uns davon? Wir sterben vor Spannung. Denk mal, so einen Einblick in die Kreise der oberen Zehntausend zu bekommen! Uns geht es gut. Ich habe übrigens einen Gruß für Dich von meiner alten Schul freundin Erna Böe, die behauptet, Dich neulich auf dem Newcastle schiff getroffen zu haben. Sie stände fast Kopf vor Geschäftigkeit, sagte sie, sie richtet ihre Wohnung ein, weil sie nächste Woche hei ratet. Ja, die Zeit vergeht, wir werden alt und heiratsreif. Ich warte mit Spannung darauf, Näheres über den jungen Baron zu hören. Mama läßt grüßen. Deine Solveig.“ „Weil sie nächste Woche heiratet!“- Erna wollte nächste Woche heiraten… Also deshalb! Jetzt verstand Gerd, warum sie nichts von Helge gehört hatte. Fertig, Schluß damit. Nicht mehr daran denken. Mach dich nicht kaputt mit solchen Gedanken. Es ist Schluß, Schluß, vergiß es! Denk an Michael. Michael ist ein Gentleman. Michael würde nie so handeln. Michael ist ein Adliger in mehr als einer Beziehung. Nicht nach Norwegen zurück. Nicht zurück zu dem, was so weh tat. Sag ja zu Michael. Wenn er morgen aus Stockholm zurück kommt, da wird er sicher, ja, sicher… Sag ja, Gerd, sage ja! Gerd beugte den Kopf gegen den Wind und lief, lief. Sie hatte zur Baronin gesagt, sie habe Kopfschmerzen und wolle gern etwas Spazierengehen. Der Wind war eisig kalt und drang durch ihren Teddymantel. Sie merkte es nicht. Sie zwang sich selbst, gegen den Wind anzurennen. Sie wollte sich ermüden. Gesund müde sein und erschöpft, so daß sie in der Nacht schlafen konnte. Die Landstraße schlängelte sich kalt, nackt und grau durch die Herbstlandschaft. Die letzten braunen Blät ter fielen von den Bäumen, wirbelten um Gerds Füße. Erna wollte heiraten, Erna richtete ihre Wohnung ein. Erna hatte Helges Ring schon damals am Finger. Während Helge den Glücks rausch in Gerds Armen erlebte, saß Erna vielleicht gerade und stickte „J“ in ihre Aussteuer.
Erna Jerven. Nicht Erna Böe. Vielleicht hieß sie schon jetzt Erna Jerven. „Etwas, das ich an dir liebe, ist deine Ehrlichkeit, daß du nicht Komödie spielst…“„Mein kleines Mädchen, mein geliebtes kleines Mädchen…“ „Was du riskierst, ist für mich das Liebste auf der Welt…“„Du bist alles, mein Kind, mein Kamerad, mein Reisegefährte, mein Passagier und meine Geliebte.“ Aber Erna Böe war seine Frau. Gerd hatte sich auf einen Stein gesetzt. Der Blick reichte weit in die hügelige Landschaft. Hinter den herbstgoldenen Feldern lag der Wald, schwarz und dicht, tief und still. Der Wald des Barons Silf verkranz. Die Felder gehörten ihm, die Häuslerwohnungen und dort, weit weg, auch der Gutshof, das weiße Gebäude mit den guten, lieben, netten Menschen, die Gerd richtig in ihr Herz geschlossen hatte. Gerd hatte das Gefühl, daß sie jetzt, an diesem Tag, in dieser Stunde, während sie an diesem Herbsttag auf diesem Stein saß, einen Beschluß fassen mußte. Warum zögerte sie? Erna Böe war Frau Jerven geworden. Oder sie würde es jeden falls in einigen Tagen sein. Wie schnell das gegangen war. Sie muß ten das Aufgebot bestellt haben, sobald sie heimkamen. Ja, ja. Also würde Frau Kapitän Jerven Langedals „Ernette“ taufen und sich den Diamantschmuck der Reederei um den Hals hängen. Wenn es darum ging, da könnte Gerd auch einen Diamant schmuck haben, und sie könnte höher hinaus, als nur die Frau eines Schiffsführers zu werden. Nein, Gerd, so darfst du nicht denken! Das darf keine Rolle für dich spielen. Keine Vergleiche. Wenn du Michael nimmst, so ge schieht das aus Vernunftgründen, weil du ihn magst und Güte für ihn fühlst. Das ist in Ordnung. Aber daß du in höhere Kreise kommst als Erna, daran zu denken ist kleinlich. Schäm dich, Gerd! Aber warum zögerst du? Wem bist du Rechenschaft schuldig? Du machst viele froh, wenn du ja sagst. Vielleicht auch dich selbst… mit der Zeit. Sag ja, Gerd!
18 Gerd öffnete die Augen. Es war halbdunkel im Zimmer. Das ge dämpfte Licht der Nachtlampe fiel über das Bett und den Nachttisch. Jemand beugte sich über das Bett, eine Hand nahm die ihre, und eine Stimme fragte: „Wie geht es Ihnen? Fühlen Sie sich besser?“ Gerd öffnete die trockenen Lippen, und ihre Antwort schien von weit her zu kommen. „Mir ist so warm.“ „Sie sollen etwas zu trinken haben, Kind.“ Etwas Kühles, Frisches rann in ihren Mund. Behutsame Hände legten ihren Kopf auf das Kissen zurück. Sie schloß wieder die Augen. Eine Tür wurde leise geöffnet. „Frau Baronin, der Doktor ist hier.“ Baronin Silfverkranz erhob sich lautlos. „Bleiben Sie bei Fräulein Elstö, während ich mit dem Arzt rede, Klara.“ Blaß und vergrämt war die Baronin, als sie mit dem Arzt sprach. „Wir dachten ja, daß es eine gewöhnliche Erkältung sei, Herr Doktor, denn sie sah recht angegriffen aus, als sie von einem langen Spaziergang zurückkam. Das war gestern, als es so stürmte. Ich gab ihr warmen Kamillentee und beorderte sie ins Bett. Heute nacht war ich dann einmal bei ihr, da lag sie unruhig und hatte hohes Fieber. Ich gab ihr Aspirin und eine Wärmflasche, aber am Morgen war ihr nicht besser, und als sie dann tagsüber zu phantasieren begann…“ „Na, wollen wir mal nachsehen“, sagte die ruhige Arztstimme. „Eine Penicillinspritze kann Wunder wirken, Baronin.“ Gerd lag und döste. Sie murmelte, als der Arzt eintrat: „Das ist nicht wahr, Solveig.“ Und etwas später: „Du hältst mich bloß zum Narren, Solveig.“ „Ja“, sagte die Baronin. „So ging es vom frühen Morgen an. Sie redet die ganze Zeit von Solveig. Das ist ihre Schwester, soviel ich weiß. Vielleicht sollten wir ihr telegrafieren?“ „Nun ja, wir werden sehen. Natürlich wäre es gut für die kleine Dame, hätte sie einen von den Ihren bei sich. Das Fieber werden wir schon runterkriegen. Ja doch, es ist schon ein Anflug von Lungen
entzündung! Aber das ist kein Problem mehr in unserer Zeit. Viel leicht kann Fräulein Klara die Daunendecke wegnehmen. So ja…“ Gerd reagierte nicht, als die Injektionsnadel von einer sicheren, geübten Hand eingeführt wurde. Als der Arzt gegangen war, blieb die Baronin bei Gerd sitzen. Mein Gott, daß so etwas kommen mußte! Alles war doch so schön und gut gewesen! Michael war nach Stockholm gefahren, um die Sache mit dem Atelier und… dem anderen abzuwickeln… Elin Silfverkranz war seit vielen Jahren nicht so glücklich gewe sen wie in den letzten Tagen. Und nun lag das kleine Wesen, das Sonnenschein und Glück nach Högalind gebracht hatte, mit trockenen Lippen und fieberhei ßen Wangen da und phantasierte. Es war ja beruhigend, daß der Arzt dies für kein „Problem“ hielt, aber – Elin Silfverkranz hatte trotzdem Herzklopfen vor Angst. Auf dem Tisch lag ein offener Umschlag mit der Rückseite nach oben; das Licht fiel auf Namen und Adresse des Absenders. „Solveig Elstö.“ Die Baronin nahm den Brief. Sie wollte diese Schwester herbei holen, nach der Gerd ständig rief. Vielleicht würde das die Patientin beruhigen. Dann überließ sie es Klara, bei Gerd zu bleiben. Klara war eine geschickte und gewissenhafte Krankenpflegerin. Die Baronin ging in ihr Schlafzimmer, nahm den Hörer vom Telefon und gab ein Tele gramm durch an die Architektin Solveig Elstö. Das Penicillin wirkte. Am nächsten Morgen war Gerd klar im Kopf, aber entsetzlich müde und schlapp. Eine schwache Röte stieg ihr in die Wangen, als die Baronin he reinkam. „Nun, Kind, heute sehen Sie aber schon viel besser aus!“ „Ich schäme mich so“, flüsterte Gerd. „Dazu haben Sie auch allen Grund. Sich vorzustellen, daß Sie in dieser Kälte auf einem Stein gesessen haben! Doch, ich weiß es, der Förster hat Sie gesehen. Sie sind wirklich ein unartiges kleines Mäd chen und hätten eigentlich Haue verdient. Aber Gott sei Dank, heute geht es Ihnen schon besser. Gestern haben Sie uns einen ordentlichen Schreck eingejagt.“ „Es tut mir so leid…“ „Naja, Kind, beruhigen Sie sich nur. Nein, was soll denn das? Sie weinen doch nicht etwa? Soso, meine Liebe, jetzt ist ja alles gut.
Bald kommt der Arzt, und vielleicht gibt er Ihnen noch eine Spritze. Sie werden sehen, in ein paar Tagen sind Sie wieder auf den Beinen, und wir werden Sie dann schon gesund pflegen.“ „Ja, das ist es ja gerade“, flüsterte Gerd, „daß Sie nun all diese Scherereien mit mir haben.“ „Nein hören Sie mal, jetzt gibt es aber gleich wirk- lieh Klapse. Was reden Sie denn da für Unsinn? Wir haben Platz genug und Be dienung genug, und wir sind nur zu froh, etwas für Sie tun zu kön nen. Meine Liebe, es sieht Ihnen doch gar nicht ähnlich, so zu weinen, das hat Sie schon ordentlich mitgenommen. Jetzt wird Klara Ihnen ein frisches Bettuch geben, und dann wollen wir versuchen, ein bißchen zu essen. Und sehen Sie nur, was Sie von Michael be kommen haben!“ Es war ein wundervoller Blumenstrauß, der auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers stand. Gerd lächelte durch ihre Tränen. „Alle sind so gut zu mir…. und ich schäme mich, und es tut mir leid, daß ich im Sturm ausgegangen bin…“ Ihre Stimme klang kindlich – demütig wie die eines kleinen Mäd chens, das unartig gewesen ist und es jetzt bereut. „Sehen Sie, das ist gut, dann tun Sie es nicht wieder. Klara, Sie machen also jetzt das Bett für Fräulein Elstö – und wenn Fräulein Elstö etwas wünscht, lassen Sie es mich wissen.“ Das Zimmer war hell und luftig, das Bett so gut, alle waren lieb und nett. Nach und nach vergaß Gerd, unglücklich darüber zu sein, daß sie vielleicht zur Last fiel. Sie lag still im Bett und war nur schrecklich müde. Das Fieber war zwar gesunken, aber als der Arzt kam, gab er ihr noch eine Penicillinspritze. Klara brachte Hühnersuppe und Fruchtsalat. „Daß ich so etwas erlebe“, dachte Gerd mit einem kleinen müden Lächeln. So feine Tabletts mit kleinen Füßen, auf denen man das Essen im Bett servie ren konnte, hatte sie bisher nur im Film gesehen. Das leichte Essen schmeckte ihr, aber sie war so müde, daß ihre Finger zitterten und Klara helfen und sie füttern mußte. Dann kam die Baronin, um zu sehen, wie es ging, und nun über nahm sie das Füttern. „Nein, so etwas! Von einer leibhaftigen Baronin gefüttert zu werden!“ flüsterte Gerd mit dem Versuch eines Lächelns. Elin Silfverkranz lachte. „Imponiert Ihnen das so? Sind Sie weniger beeindruckt, wenn ich Ihnen erzähle, daß meine Wiege in einer Dreizimmerwohnung in
Östermalm in Stockholm stand? Und daß ich ganz einfach Elin Bergquist hieß?“ „Ach…“, sagte Gerd. „Ja, sehen Sie, so ein Baroninnentitel sieht ja gut aus und ist sehr praktisch, wenn man Theaterkarten bestellt und gern gut bedient sein will. Die Leute sind nun mal komisch, die lassen sich dadurch impo nieren, aber die Menschen sind doch die gleichen, ob sie nun ein ,von’ vor ihrem Namen haben oder nicht.“ „Ja, aber, Frau Baronin wirken so - ja also, ich hätte geglaubt, daß Sie aus Adelskreisen stammen.“ „Nachkommen des einen oder anderen Herzogs vielleicht?“ lach te Elin Silfverkranz. „Liebes Kind, man kann doch aus guter Familie sein, auch wenn man nicht gerade ein Wappen auf dem Silber hat. Sehen Sie sich doch selbst an.“ „Ich bin ganz gewöhnlich“, sagte Gerd. „Ich auch. So, jetzt ist nur noch ein bißchen da vom Fruchtsalat. Machen Sie den Mund auf - so ist’s brav!“ „Wie soll ich nur jemals all Ihre Güte vergelten?“ flüsterte Gerd. „Sie reden Unsinn, meine Liebe. Jetzt sollen Sie die Augen schließen und versuchen, ein bißchen zu schlafen. Dann werden Sie schon sehen, wie frisch und munter Sie morgen wieder sind.“ Gerd schloß gehorsam die Augen, und sie schlief auch ein Weil chen. Sie hatte das Gefühl, einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf bekommen zu haben und nicht imstande zu sein, logisch zu denken. All dieses Schreckliche mit Helge und Erna, die ganze Tragödie, rumorte in ihrem Unterbewußtsein, es tat weh wie ein angegriffener Zahn, aber ohne die wilden, messerscharfen Schmerzen, die ein entzündeter Zahn verursacht. Es war besser, an Michael zu denken, den guten, hübschen, höfli chen Michael. Wenn sie sich vorstellte, Elin Silfverkranz zur Schwiegermutter zu bekommen! Das allein könnte Gerd genug sein, um ja zu sagen. Wenn die Frage käme… „Sind Sie wach, kleine Gerd?“ Daß die korrekte Baronin Silfverkranz sie beim Vornamen nann te, ließ Gerds Herz schneller schlagen. „Es ist Besuch für Sie da.“ Gerd riß die Augen auf: In der Tür stand eine wohlbekannte Ge stalt. Gerd versuchte, sich im Bett aufzurichten. „Aber Solveig, liebe Solveig…“
„Na, bleib nur ruhig liegen. Der Berg kommt zu Mohammed. Was fällt dir denn ein, Schwesterchen, was soll das bedeuten?“ „Frag die Baronin. Sie hat mir Klapse versprochen, weil ich so unvorsichtig war.“ „Also das habe ich doch gleich gesehen, daß die Baronin ein ver nünftiger Mensch ist. Aber im Ernst, armes Mädel, das ist ja scheuß lich für dich.“ „Ach nein. Es geht ja schon besser, viel besser. Ich bin bloß so müde.“ „Ja, du siehst auch aus wie ein ausgewrungener Waschlappen, aber das geht schon vorüber. Ich höre, daß das Fieber fort ist. Da wirst du bald wieder auf der Höhe sein. Nein Gerd, was sind das doch für bezaubernde Menschen, bei denen du gelandet bist! Zuerst bekam ich gestern ein Telegramm, aber es war zu spät für den Nachtzug. Dann rief ich hier an. Mutti war glücklicherweise nicht daheim, so blieb ihr der Schrecken erspart. Ich sprach mit der Baro nin, und das beruhigte mich ein bißchen. Aber sie verlangte unbe dingt, ich solle kommen. Sie sagte, du hättest so oft nach mir gerufen, als du im Fieber lagst und phantasiertest.“ „Habe ich das? Davon habe ich keine Ahnung.“ „Doch. Es scheint, du hast etwas Schreckliches von mir gehört. Ja, ich sprang dann heute früh in den Zug und wurde hier am Bahn hof von einem fabelhaften Mann und einem fabelhaften Auto abge holt. Übrigens – bist du verlobt mit dem jungen Michael?“ „Nein, keine Spur.“ „Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr! Schön, ich wurde also mit Dank und Lobesworten empfangen, weil ich erschien. Mensch, was für ein Haus! Gerd, was für ein Haus! Dem Himmel sei Dank für deine Krankheit! Ach, Verzeihung, so meinte ich es natürlich nicht, aber so hatte ich doch Gelegenheit, dies alles hier zu sehen. Nicht nur zu sehen, sondern auch in den Räumen nach Herzenslust herumzugehen. Und hier hast du nun beinahe vierzehn Tage ge wohnt!“ „Ja, denke mal!“ „Ja, ich denke, daß du ein Glückspilz bist. Aber was willst du ei gentlich von mir, daß du im Fieber dauernd nach mir gerufen hast, bis von Oslo her…?“ „Ich weiß es nicht, Solveig. Habe nicht die geringste Ahnung.“ „Na, dann möchte ich wissen, warum ich nun eigentlich gekom men bin?“
„Ich auch. Aber es ist wirklich nett, dich hier zu haben, Solveig. Wir werden später miteinander weitersprechen, jetzt bin ich so ent setzlich müde…“ Gerds Lippen zitterten plötzlich. „Herrje Schwesterchen, du weinst doch nicht etwa?!“ „Ja… aber nur, weil ich so müde bin. Ich kann nicht mehr spre chen, bitte geh jetzt, Solveig. Ich werde klingeln, wenn ich… Jetzt aber sei so gut und geh…“ Das Weinen übermannte Gerd. Solveig blieb einen Augenblick stehen: Die kleine Schwester sah so dünn aus, so durchsichtig und blaß. „Also du klingelst, wenn du etwas willst?“ „Ja…“ „Na schön. Ich glaube wirklich, man läßt dich jetzt besser al lein!“ Damit ging Solveig. Gerd entspannte sich. Es war gut, allein zu sein, gut, den Tränen freien Lauf lassen zu können. Sie tastete nach dem Taschentuch auf dem Nachttisch. Dabei berührte ihre Hand etwas Anderes. Sie griff danach und sah es an: Es war die Katze Dorette. Dorette. Sieben kleine Buchstaben. Ernette. Sieben kleine Buchstaben. Gerd nahm das Taschentuch und vergrub ihren Kopf im Kissen.
19 Die Herbstsonne schien in den Wintergarten, wo die Wellensittiche zwitschernd im Bauer herumhüpften. Es war der hellste und schönste Raum des Hauses, fand Gerd, während sie in einem bequemen Lehn stuhl am Fenster saß. Sie hatte es jetzt aufgegeben zu protestieren. Die Familie Silfver kranz zeigte eine so echte und aufrichtige Freude, sie und Solveig bei sich zu haben, daß die Proteste nachgerade ersterben mußten. „Wenn ich jemals froh darüber war, keine feste Arbeit zu haben“, versicherte Solveig, „so ist das jetzt der Fall. Denk bloß, wenn ich nun an eine Architektenfirma gebunden gewesen wäre und nicht hätte kommen können! Also Gerd, du ahnst ja nicht, was ich aus dieser Küche machen werde. Das ist wirklich das Allerneueste, das mir je vor Augen gekommen ist!“ Solveig würde von Neujahr an eine feste Stellung haben, aber vorderhand war sie frank und frei, und der Baron hatte ihr in vollem Ernst den Auftrag gegeben, die altmodische Küche zu modernisie ren. Die Freude war mit Gerd ins Haus gekommen, mit der sanften, freundlichen Gerd, aber Lustigkeit, Leben, sozusagen eine fröhliche Unruhe, war mit Solveig eingezogen. Und Michael, der im Zusammensein mit Gerd fröhlich und zu frieden gewesen war, taute nun vollends auf. Sein Gesicht strahlte beständig, und er lachte oft. Die Eltern hoben den Kopf und lausch ten, wenn dieses frohe Gelächter durch die großen Zimmer von Hö galind klang. Gerd wußte nur allzu genau, daß Solveig witziger und lebhafter war als sie. Sie verstand es durchaus, daß sowohl Michael als auch seine Eltern von Solveig begeistert waren. Ach ja, sie hatte nach und nach allerhand verstehen gelernt. Sie war sich darüber klargeworden, daß die Freude über ihr eigenes Erscheinen auf Högalind nicht so sehr ihren persönlichen Eigen schaften zuzuschreiben war als der Tatsache, daß sie etwas Neues vertrat, etwas anderes, etwas, das Michael eine Welt vergessen las sen konnte, in der seine Eltern ihn so ungern sahen. Mit Solveig war das etwas anderes. Es war mehr, vielleicht etwas Positiveres. Von Solveig waren sie um ihrer selbst willen begeistert.
Gerd stellte das ohne alle Bitterkeit fest. Sie selbst war die erste, die den Charme ihrer Schwester anerkannte. Muntere Stimmen klangen vom Garten herauf, und Gerd lehnte sich vor, um zu sehen. Da kamen Solveig und Michael Seite an Seite auf das Haus zu, Michael im Reitanzug, Solveig in langen Hosen und soliden Stiefeln, die sie beim Reiten trug. Sie hatte glückstrahlend ja gesagt, als Michael sie fragte, ob sie Lust zum Reiten hätte. Und sie ließ sich unterrichten, war furchtlos und lernbegierig und amüsierte sich königlich. Wie passen sie doch gut zusammen, die beiden! Gerd lächelte. Und sie hatte gedacht, daß sie…! Nein, wie dumm von ihr! Niemals würde sie Michael so liebha ben, wie Solveig dies vielleicht konnte, wie Solveig ihn vielleicht schon liebhatte. „Nun, kleine Patientin, wie geht es?“ Die Baronin kam herein. „Langweilen wir uns?“ „Aber nein! Ich habe es ja so gemütlich.“ „Wollen Sie die Tageszeitung haben? Übrigens soll ich Sie von Ihrem Chef grüßen. Mein Mann hatte gestern einen Brief von ihm. Er freut sich herzlich, daß es Ihnen bessergeht, und war sehr er schrocken, als er von einer Lungenentzündung hörte!“ „Und ich bin so erleichtert, daß Mutti es nicht weiß. Solveig hat die Wahrheit ein bißchen frisiert und gesagt, ich hätte eine kleine Grippe.“ „Das war vielleicht ganz klug. Heute lunchen Sie doch mit uns zusammen, nicht wahr?“ „Ja, furchtbar gern…“ Die Baronin ging wieder, und Gerd streckte die Hände nach einer Zeitung aus. Sie öffnete sie ohne besonderes Interesse. Immer noch empfand sie diese wunderliche Leere. Sie konnte sich nicht vorstel len, daß sie jemals wieder froh werden würde. Es war die Göteborger Handels- und Schiffahrtszeitung, die sie in der Hand hielt. Sie überflog einige Überschriften, blätterte in den Seiten, um dann aufzufahren. Das Herz schlug ihr bis zum Halse. „Norwegisches Schiff hatte Stapellauf auf der Göteborgwerft. Reeder Langedals Neuerwerbung ist ein 6000 Tonnen großes Die selmotorschiff. Es wurde getauft von Frau Schiffsreeder Langedal junior auf den Namen ,Ernette’.“
Und das Bild! Das Bild der Taufpatin, wie sie die Champagner flasche an den Schiffsbug warf, eine junge Dame mit einem strah lenden Lächeln und blonden Locken um ein Kleinmädchengesicht… Darunter stand: „Romantische Schiffstaufe. Mit dem Brautbukett in der Hand kam Frau Erna Langedal mit ihrem Gatten direkt vom Standesamt, um als erste Handlung in ihrer Eigenschaft als Schiffsreedergattin die ,Ernette’ zu taufen.“ Ach Gott – Gott! Gerd stand auf und ging zur Tür. Sie wußte selbst nicht, was sie wollte. Sie blieb stehen, öffnete erneut die Zeitung, las wieder und immer wieder. Ja, das war Ernas Gesicht, es war Erna, die nun Frau Reeder Langedal war, aber warum, warum nur hatte Helge nichts von sich hören lassen? Herrgott, wo war er denn, was war los, daß er nicht… Nein, nur nicht mit anderen darüber sprechen. Es gab ja auch nichts zu reden. Nein, sie mußte sich sagen, wenn Helge nichts von sich hören ließ, da gab es nichts, was sie tun konnte, gar nichts. Sie mußte jetzt nachdenken, in Ruhe überlegen, allein mit sich selbst. Sie sank in den Stuhl, die Hände um die Zeitung verkrampft. Helge, ach Helge! In Oslo regnete es seit drei Tagen zäh und beharrlich. Fräulein Genz’ Kusine Eva wollte ins Büro und zog ihren Re genmantel an. Und als sie ihre Hände in die Tasche steckte, fand sie einen Brief. Herrje, was war denn das? Ein Brief? An die Büroleite rin Gerd Elstö? Himmel, war das nicht der, von dem sie glaubte, ihn längst in den Kasten gesteckt zu haben? Mit dem schlechtesten Gewissen von der Welt warf die junge Eva ihn in den ersten Briefkasten, der auf ihrem Weg lag. Als der Brief bei Myrseth und Sohn eintraf, fiel eine Zentnerlast von der Brust des kleinen Fräulein Genz. Sie adressierte ihn mit zitternder Hand sofort um und nahm sich die Freiheit, rasch zur Post zu laufen, um dort den Brief einzuwerfen. Dann ging er noch heute ab. Gerd erschien zum Lunch, schmal und blaß, aber trotzdem, ihre Augen hatten einen neuen Glanz, gerade, als ob eine schüchterne Hoffnung in ihr brenne. „Ein Brief für Sie, Fräulein Gerd“, sagte der Baron.
Gerd warf einen Blick auf den dicken, maschinengeschriebenen Umschlag. Sie sah sich um, das Essen war noch nicht auf dem Tisch, da konnte sie wohl rasch hineinschauen. Sie machte das Kuvert auf. Dann sprang sie hoch vom Stuhl. „Verzeihung, bitte seien Sie nicht böse, ich muß… ich kann kei nen Lunch essen…Verzeihung…“Und weg war sie. Die anderen sahen sich an. „Arme Kleine, wenn es nur keine schlechten Nachrichten sind“, meinte die Baronin bekümmert. Aber Solveig hatte den Gesichtsausdruck der Schwester gesehen, und sie kannte Gerd. „Das glaube ich nicht, Baronin. Wenn sie nur verzeihen wollen, daß Gerd so einfach fortgelaufen ist, so glaube ich, wir lassen sie am besten in Frieden. Des Rätsels Lösung werden wir sicher bald erfah ren. Wie gesagt, ich darf um Entschuldigung für meine kleine Schwester bitten…“ „Aber meine Liebe, das ist doch belanglos!“ Dann erschien Svensson mit dem Essen. „Geliebte, geliebte kleine Gerd! Diesen Brief sollst Du lesen. Erst wenn Du das getan hast, kannst Du über mich urteilen. Wenn Du ihn nicht beantwortest, werde ich Dich nie mehr belästigen. Aber, Gerd, Du mußt ihn lesen, um unse rer Liebe willen bitte ich Dich darum. Denn ich liebe Dich, Gerd, liebe Dich mehr, als ich je geahnt habe, einen Menschen lieben zu können. Es ist vier Tage her, seit wir voneinander schieden, vier Tage, seit ich die schmale, müde, kleine Gestalt im Menschengewühl am Kai verschwinden sah… Jetzt werde ich berichten, und Du sollst selbst urteilen. Erna fuhr direkt nach Oslo, wo sie wohnt. Der Himmel mag wis sen, wie sie überhaupt für diese Tour freibekommen hat, denn sie übt so eine Art Tätigkeit als Maschinenschreiberin aus. Jedenfalls mußte sie nun zurück. Und ich machte mich frei und reiste ihr nach. Jetzt sitze ich in einem Hotelzimmer, mitten in Oslo. Erna und ich haben in Frieden und beinahe verständnisvoll voneinander Abschied ge nommen, und dies für immer, Gerd. Und nun kann ich es endlich frei heraussagen: Ich liebe Dich, ich gehöre Dir, und ich habe keine Ver pflichtungen, gegen niemand in der Welt. Aber Du hast das Recht, die ganze Geschichte zu kennen.
Ernas Vater war Kapitän auf der ,Annette’, auf der ich als Zwei ter Offizier fuhr. Er war mir ein väterlicher Freund, freundlich und gut. Wir verstanden einander und hatten manchen Strauß gemeinsam ausgefochten, wie man so sagt. Vor zwei Jahren wurde er krank und starb an Bord. Wir waren auf hoher See inmitten des Pazifiks und versenkten ihn im Meer. Bevor er starb, bat er mich, seine Tochter Erna aufzusuchen, die sein Augapfel, sein Herzenskind war. Ernas Mutter war schon lange tot, und sie wohnte bei ihrer Großmutter väterlicherseits. Kapitän Böe kannte seine eigene Tochter im Grunde nicht. Er war nur selten daheim, und wenn es geschah, dann war es ein Fest. Da strahlte Erna vor Freude über die Geschenke, die er mitbrachte, und sie plauderte und zwitscherte und war Papas liebes kleines Mäd chen. Darum dachte Kapitän Böe, sie sei ein hilfloser kleiner Vogel, abhängig von Papa und Papas Güte, und seine Darstellung hinterließ auch bei mir diesen Eindruck. Wir kamen nach Norwegen zurück, und ich trat den schweren Gang zu Erna und ihrer Großmutter an. Sie waren ja telegrafisch unterrichtet worden, aber sie würden natürlich mehr von der Krank heit und dem Todesfall hören und auch seine letzten Grüße empfan gen wollen. Es war schlimm, die verweinte alte Mutter zu sehen, die um ihren Sohn trauerte, und das kleine Mädel mit den rotgeweinten Augen, das heftig zu schluchzen begann, als ich ihr des Vaters letzte Bot schaft überbrachte. Ich blieb lange bei den beiden Frauen. Sie klammerten sich förm lich an mich, der ihm die Augen geschlossen und ihm so nahege standen hatte. Erna schrieb mir, und ich schrieb zurück. Die kleinen hilflosen, unglücklichen Briefchen rührten mich. Bei erster Gelegenheit be suchte ich sie wieder. Jetzt, Gerd, sollst Du versuchen zu verstehen. Verstehen, wie ein Mann, auf Grund langer Abwesenheit von daheim, wechselnder Umgebung und eines unruhigen Lebens eine Art von Geborgenheit fühlen kann bei zwei Frauen, einer jungen und einer alten, die alles tun, um es ihm behaglich zu machen. Du fragst jetzt vielleicht, ob meine Mutter das nicht auch tut? Doch, ganz bestimmt. Aber sie
wohnt weit von hier. Als Vater starb, zog sie zu ihrer Schwester nach Drontheim. Ich sehe sie also selten, aber nach Oslo komme ich oft. Jetzt sollst Du verstehen, wie ich unter diesen Verhältnissen Güte und Mitleid mit Liebe verwechseln konnte. Es spielte wohl auch eine Rolle, daß Ernas Großmutter so besorgt um Ernas Zukunft war. ,Was soll aus ihr werden, wenn ich nicht mehr bin?’ war ihre ständige Frage. Da sagte ich eines Tages, sie solle sich keine Gedanken darum machen, denn ich würde mich Ernas annehmen. Ja, und da verlobten wir uns also. Im Anfang war es nett, in jedem Hafen einen Brief zu bekommen und ein süßes kleines Mädel zu haben, für das man Geschenke kau fen konnte, aber im Grunde kannten wir einander nicht, Gerd, und das war der Fehler. Es dauerte ziemlich lange, ehe es mir klar wurde, daß Erna durchaus nicht das hilflose kleine Ding war, für das ihr Vater sie gehalten hatte. Im Gegenteil. Sie hat einen starken Willen und ist ein furchtloses, zielbewußtes und ehrgeiziges Menschenkind. Das soll kein Tadel sein. Im Gegenteil, es sind gute Eigenschaf ten, aber sie stellten meine vorgefaßten Begriffe auf den Kopf. Man kann sich vortäuschen, ein kleines Mädchen gern zu haben, solange sie an die männliche Fähigkeit, zu helfen und zu stützen, appelliert. Entdeckt man dagegen, daß durchaus kein Bedarf für Helfen und Stützen vorhanden ist, so wird die Grundlage des ganzen Verhältnis ses zerstört, und man entdeckt, daß dies alles keine Liebe war. Das wurde mir vor einigen Monaten klar. Ich sprach mit Erna, mußte aber entdecken, daß sie sich an unsere Verlobung klammerte, nicht aus Liebe, sondern aus Ehrgeiz. ,Jetzt habe ich auf dich gewartet, solange du ein gewöhnlicher Schiffsoffizier warst, und nun, wo du endlich die Chance hast, Kapi tän zu werden, willst du mich versetzen’, sagte sie. Ich hätte damals hart gegen hart setzen sollen, meinst Du wohl. Ja, darin kannst Du recht haben. Aber siehst Du, Gerd, es war nicht so leicht. Und noch eins: Damals hatte ich Dich noch nicht getroffen. Aber dann begegnete ich Dir. Und ich wußte sofort: Das ist die Frau meines Lebens! Ich war mit Dir zusammen in Hamburg. Da lag ich wach in den Nächten, ich dachte und dachte und fühlte mich schrecklich unglücklich. Aber ich beherrschte mich. Gerd, nicht wahr, Du kannst mir wegen meines Verhaltens in Hamburg keinen Vorwurf machen?
Gott weiß, es ist mir bitter schwergefallen, aber ich wollte Dir meine Liebe nicht gestehen, solange ich, wenn auch nur dem Namen nach, an eine andere gebunden war. Ich brannte darauf, Dir zu schreiben, wollte und konnte es aber nicht, bevor ich nicht reinen Tisch gemacht hatte. Dann wurde der Kapitän der ,Babette’ krank. Ich mußte einsprin gen, alles ging ziemlich überstürzt, und ich kam nicht dazu, nach Oslo zu fahren, um mich endlich mit Erna auszusprechen. Ich schrieb ihr, erklärte ihr alles. Nun ja, ich tat es so schonend wie mög lich, aber doch so, daß sie nicht im Zweifel über meine Absicht sein konnte. Ich beging jedoch den Fehler, es als einen Vorschlag zur Lösung unserer Verlobung hinzustellen, anstatt kurz, klar und bündig zu sagen: Ich kann nicht mehr, Schluß damit, fertig! Ja, das hätte ich tun müssen. Ich hätte wissen sollen, daß Erna ei nen Stoß verträgt und daß sie mich außerdem gar nicht liebhatte. Ich war eine Gewohnheit für sie geworden, wenn sie auch fand – und findet –, daß ich tödlich langweilig sei. Immer ging das so: ,Ach diese entsetzlich langweilige Musik, die du dauernd hören willst… ,Warum können wir nicht hingehen, wo es viele Menschen gibt und es ein bißchen lustig zugeht? Mein Gott, daß du es auf See aushältst. Na, ich bin bloß froh, daß ich nicht dabeisein brauch’. – Es gibt eine Menge rechtschaffener Menschen, die ebenso denken und fühlen, das soll also keine Kritik sein. Ich wollte Dir nur zeigen, wie ver schieden wir sind. Wie gesagt, ich schrieb ihr also und bekam eine flüchtig gekrit zelte Karte als Antwort. Ungefähr so: ,Hatte gerade so viel Zeit, um Deinen Brief zu lesen; bin augenblicklich sehr beschäftigt. Aber wir können ja darüber reden.’ Liebe Gerd, ich möchte ungern schlecht von meiner früheren Verloben reden, aber da ist etwas, das ich kurz erklären muß: Zu diesem Zeitpunkt hatte Erna schon Reeder Lange dal junior am Bändel, wollte mich aber nicht freigeben, bevor sie seiner nicht ganz sicher war. So standen die Dinge, als sie an Bord kam, und deshalb hielt sie die Verlobung noch aufrecht. Da stand ich also, als sie mich – als sie uns überrumpelte. Und ich konnte doch nicht so gemein sein, aufzufahren und zu sagen: ,Was willst du denn? Ich bin durchaus nicht mir dir verlobt!’ Was hätte ich denn tun können, Gerd? Ich mußte mit jeder von Euch beiden sprechen. Ich fühlte mich überrumpelt und unfair behandelt, und inmitten meiner Verzweiflung auch noch unendlich lächerlich und schrecklich schofel.
Ich wollte ja nicht so handeln, Gerd. Ich wollte Dich nicht aufsu chen, ehe alles klar und fertig war zwischen Erna und mir. Es war das Schicksal selbst, das sich einschaltete und den Begebenheiten Vorgriff. Und, verstehe, Gerd, wenn das Schicksal einem hinhält, was man sich am meisten auf der Welt wünscht, es mit gebefreudigen Händen reicht, dann ist es unmenschlich zu verlangen, daß man nein sagt. Kleine Gerd, kleine, geliebte, ehrliche Gerd, Du bist nicht nur ein ehrlicher Mensch, Du hast auch Herz und menschliches Verstehen. Versuche mich zu verstehen. Und vergiß nicht, Gerd: Es ist ein freier Mann, der Dir dies schreibt, der Dir sein ganzes Herz, seine ganze Zukunft, die ganze Seele und seine unendliche Liebe zu Füßen legt. Noch etwas sollst Du wissen, Gerd. Ich bin Erna nie so nahe ge wesen wie Dir. Nie habe ich mit ihr das erlebt, was Du und ich zu sammen erlebt haben. Mein Mädchen. Meine über alles Geliebte. Antwortest Du mir auf diesen Brief? Du kannst mich immer über die Adresse der Reederei erreichen. Und sollte sonst noch etwas sein, so weißt Du, daß wir Funk an Bord der ,Babette’ haben. Aber – wenn ich nichts von Dir hören sollte, so werde ich mein Versprechen halten und Dich nie mehr belästigen. Kleine Gerd, ich liebe Dich. Helge.“ Gerds Tränen strömten. Sie saß da, den Brief an sich gedrückt, sie küßte Helges Namen. Sie trocknete die Tränen, las erneut, stutzte plötzlich und sah auf das Datum. Was war das? Der Brief war schon einen Monat alt? Einen Monat alt?? Er war auf Hotelpapier geschrieben, trug die Adresse eines Ho tels, das gleich beim Hauptbahnhof lag. Sie sah auf den Umschlag. „Oslo - Elisenbergveien“ stand auf dem Poststempel. Elisenbergveien? Nie im Leben wäre Helge bis nach Frogner gefahren, um den Brief dort in den Kasten zu werfen. Der Umschlag war mit der Maschine geschrieben. Nun ja, das war zu verstehen. Aber… aber… Gerd betrachtete die Aufschrift
genau. Das kleine e hatte die Tendenz, ein wenig über die Linie zu hüpfen. Wo hatte sie das schon früher gesehen? Sie suchte mit zitternden Händen Briefe von Myrseth und Sohn hervor. Richtig! Sie studierte und verglich. Als sie endlich aufblickte, war sie sich darüber klar, daß der Umschlag auf einer Maschine von Myrseth und Sohn geschrieben worden war. Und ebenso klar war sie sich darüber, daß es ein Glück für Fräu lein Genz bedeutete, jetzt außer Reichweite zu sein. Hätte Gerd sie in diesem Augenblick zu fassen kriegen können, so würden am nächsten Tag die Zeitungen eine erschütternde Notiz gebracht haben über eine Rauferei mit Körperverletzung zwischen zwei jungen Bürodamen. Gerd las den Brief erneut, diesmal etwas ruhiger. Und dann kam Solveig. „Gerd, kann ich etwas für dich tun?“ Gerd stand auf und faßte die Hände ihrer Schwester. „Ja, Solveig. Ich muß wissen, wo der Dampfer ,Babette’ zur Zeit ist. Und dorthin muß ich heute noch reisen, jetzt gleich, selbst wenn er sich im Fer nen Osten befindet.“ „Aber Gerd, bist du denn…“ „Nein, ich bin nicht hysterisch, auch nicht verrückt, ich muß nur wissen, wo die ,Babette’ ist. Solveig, das muß ich wissen – ich muß!“ Solveig war nicht auf den Kopf gefallen. „Wozu gibt es Telefon im Hause?“ fragte sie. „Ich werde das für dich erledigen.“ Schon an der Tür, blieb sie nochmals stehen. „Wie heißt er?“ „Jerven, Kapitän Helge Jerven.“ Ein Strahl der Erleichterung huschte über Solveigs Gesicht. „Also nicht Michael?“ „Was? Michael? Ach Solveig!“ Jetzt lächelte Gerd durch Tränen. „Gott segne dich, Solveig, und nimm ihn, nimm ihn! Denk mal, wie schön das sein wird für eine bescheidene kleine Kapitänsfrau, sagen zu können: ,Meine Schwester, die Baronin.’“ Jetzt war es an Solveig, rot zu werden. Sie umschlang die Schwe ster. „Ach Gerd!“ Solveig hatte alles erledigt. Solveig verstand. Auf jeden Fall so viel, wie sie verstehen mußte. Solveig sprach mit Michael und seinen
Eltern. Die nickten und verstanden ebenfalls. Klara wurde hinaufge schickt, um Gerd beim Packen zu helfen. Michael füllte den Benzin tank, damit er Gerd zur nächsten Stadt fahren konnte, wo der Nachtschnellzug hielt. Aber Solveigs Tun setzte allem die Krone auf. Sie hatte ein Blitzgespräch mit der Reederei Langedal gehabt und erfahren, daß die „Babette“ von Kristiansand - ja, ganz richtig, die Kapitän Jerven führte - morgen früh in Oslo erwartet wurde, um Apfelsinen zu löschen. Gerd stand am Abteilfenster und lächelte Solveig und Michael zu. Als der Zug sich in Bewegung setzte, legte Michael den Arm um Solveig. Beide lachten zu Gerd hinauf, und dann plötzlich küßten sie sich, direkt vor Gerds und aller Leute Augen. Gerd winkte und winkte. Ja, die waren glücklich, Solveig und Michael… Und sie selbst? Sie wußte, dieser prosaische Nachtzug, der vorwärts prustete, durch Schweden und über die Grenze – er trug sie auf blanken Glei sen direkt ins Land des Glücks.
20 Es war eisigkalt und neblig. Die Menschen drehten sich nach dem jungen Mädchen in dem Teddymantel um. Was wollte sie denn hier unten so zeitig am Mor gen, zwischen Kränen, Kisten, Ballen und Transportkarren? Bis zur äußeren Kaikante ging sie, wo viele Kisten mit Apfelsinen gelöscht wurden, goldene kleine Sonnen, Vitamin C für den kalten und langen Winter im Norden. Leichtfüßig kletterte sie die Gangway hinauf. Jemand kam ihr entgegen. „Zu wem wollen Sie?“ Dann leuchtete das Gesicht vor ihr auf. „Ach, guten Tag, Fräulein Elstö. Das ist aber nett! Berly hat sich mächtig über die Wäsche gefreut, das können Sie mir glauben.“ „Guten Tag, Krauskopf. Hör mal, ist der Kapitän an Bord?“ „Doch ja. Gerade verschwand er im Kartenhaus.“ Gerd ging leise die steile Treppe hinauf und auf Zehenspitzen ins Kartenhaus. Ja – da stand er, den Rücken ihr zugewandt, über ein Papier ge beugt. Der Lärm des Ausladens hatte Gerds leichte Schritte übertönt. Sie schluckte und schluckte, bis der Klumpen in ihrem Hals ver schwand. Dann schlich sie zu ihm und legte ihm die Hände über die Augen. Er blieb stehen, ganz still. Endlich kam seine Stimme, leise und sonderbar beherrscht, fast übermenschlich beherrscht: „Gerd.“ Sie ließ die Hände sinken, und er drehte sich um. Sein Gesicht war blaß und hager. „Gerd.“ „Helge.“ „Gerd, kommst du, um…“ „Um zu bleiben, Helge. Um bei dir zu bleiben.“ „Gerd!“ Er nahm sie in die Arme und blieb bewegungslos stehen. Ganz still. Die Sehnsucht und Ungewißheit eines Monats verschwanden, glitten von ihm ab. Der Schmerz, der Zweifel, die Angst einer Reihe schlafloser Nächte verschwanden und machten einem Glück Platz, so grenzenlos, daß es dafür keine Worte gab. Sie fühlten die gegen
seitige Nähe, aber sie versuchten nicht, ihrem Empfinden Ausdruck zu geben. Eine große, wunderbare Ruhe überkam sie. Sie wußten, daß es vieles gab, worüber sie sprechen mußten, so vieles zu fragen und zu erklären, aber sie wußten auch, daß sie nun Zeit dazu haben würden: Sie hatten das ganze Leben vor sich. „Sieh mal an, jetzt sieht’s anders aus!“ sagte Direktor Myrseth, als Gerd wieder im Büro auftauchte. „So soll man nach einer Freizeit aussehen. Niemand sieht Ihnen an, daß Sie eine Lungenentzündung hinter sich haben. Sie blühen wie eine Rose.“ „Herr Direktor, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“ „Mir danken? Sie spinnen wohl? Wofür sollten Sie mir denn danken?“ „Für Ihre Geduld. Ich war doch so lange fort.“ „Hören Sie mal gut zu: Erstens war ich mir klar darüber, daß Sie Zeit brauchten, um den Vertrag mit Baron Silfverkranz in Ordnung zu bringen. Zweitens schuldete ich Ihnen einen Urlaub. Drittens wurden Sie krank, und ich konnte unmöglich verlangen, daß Sie sich mit 40 Grad Fieber in den Zug setzten. Viertens erhielt ich für ihre lange Abwesenheit durch die fabelhafte Vereinbarung mit Silfver kranz eine großartige Kompensation. Fünftens konnte ich mich dem Eindruck nicht entziehen, daß der Baron Ihr Verbleiben auf Högalind gewissermaßen erpreßte. Verstehen Sie, ich meine, entweder mußten Sie bleiben oder es gab keinen Vertrag. Na, stimmt das nicht?“ Gerd lächelte. „Doch, es ist schon etwas dran.“ „Der Baron hat doch auch einen Sohn, nicht wahr?“ „Das stimmt.“ „Aha – hm – hm – “, Myrseth blinzelte Gerd zu. „Na, ist wohl charmant, der junge Baron?“ „Ja, sehr.“ „Dacht’ ich’s mir doch!“ Myrseth trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. „Das ist es also. Sie waren natürlich begeistert von ihm?“ „O ja! Wir sind sehr gute Freunde geworden und mehr als das.“ „Noch mehr als das?“ Das Lachen saß Gerd in der Kehle. „Man kann wohl sagen, daß er mir fast ein Bruder geworden ist. Sehen Sie, Herr Direktor, er will nämlich meine Schwester heiraten.“ „Wie bitte? Ihre Schwester?“
„Ja, meine Schwester.“ Myrseth sah sie mit offenem Mund an. Dann atmete er sichtlich auf. „Na, Gott sei Dank! Ich saß ja hier schon in Todesangst bei dem Gedanken, Sie würden mir mitteilen, daß Sie die Erwählte sind und ich Sie als Mitarbeiterin verlieren müsse. Na, dann bleiben Sie mir erhalten.“ „Da muß ich Sie nun leider enttäuschen, Herr Direktor. Zum Frühjahr werde ich nämlich kündigen müssen.“ „Was sagen Sie da? Herrgott, war denn da noch ein Baron?“ „Nein. Trotzdem werde ich auch heiraten, und das ist alles Ihre Schuld, Herr Direktor: Ich wurde mit ihm auf dem Flug nach Ham burg bekannt und traf ihn dann an Bord der ,Babette’ wieder. Hätten Sie mich also nicht auf diese Reisen geschickt…“ „Wenn ich das geahnt hätte!“ seufzte Myrseth. „Sie haben mir zwar zwei ausgezeichnete Geschäftsverträge verschafft, Fräulein Elstö, aber die sind wahrhaftig auch teuer genug erkauft. Trotzdem“ und ein freundliches Lächeln flog über sein Gesicht – „trotzdem wünsche ich Ihnen von Herzen Glück!“ Fräulein Genz konnte sich glücklich preisen. Als Gerd Rechenschaft von ihr forderte und ihr zeigte, daß selbst die Typen einer Schreibmaschine verräterisch sein können, da bekam Fräulein Genz eine Angst wie nie zuvor. Tränen stürzten aus ihren Augen, und sie stammelte, von stoßweisem Schluchzen unterbro chen, daß sie wirklich, wirklich, auf Ehrenwort, den Brief nicht gele sen, sondern ihn sofort nach Oslo weitergeschickt habe, um ihn dort befördern zu lassen. Sie habe sich aber nicht getraut, dies Fräulein Elstö zu beichten, denn… Der Rest erstickte in Weinen. Gerd blickte auf das elende Häufchen Unglück, und ihr Zorn ver rauchte. Wie konnte sie auch einen anderen Menschen unglücklich machen, wenn sie selbst ein so grenzenloses, ein so unfaßbares Glück von einem gütigen Schicksal als Geschenk erhalten hatte? Sie strich leicht über den kleinen, zerzausten Kopf, und ihre Stimme war ganz mild, als sie sagte: „Hören Sie mal zu, Kleine. Es ist menschlich, Fehler zu begehen, das tun wir alle. Und Sie werden sicher noch viele Fehler begehen. Aber die sollen Sie dann auch zugeben. Lassen Sie sich ausschelten, das haben Sie verdient. Sie machen nämlich einen Fehler tausendmal schlimmer, wenn Sie ihn zu vertuschen suchen. Ich glaube Ihnen, wenn Sie sagen, daß Sie den Brief nicht gelesen haben. Aber soviel
sollen Sie wissen, daß die Verspätung, die durch Ihre Feigheit verur sacht wurde, mich mein Lebensglück hätte kosten können. Verspre chen Sie mir, Fräulein Genz, daß Sie sich in Zukunft nie mehr vor den Folgen Ihrer Fehler drücken werden.“ „Ja“, schnüffelte Intelli-Genzchen. Sie stand auf, trocknete Au gen und Finger ungeschickt und kleinmädchenhaft mit dem Taschen tuch und hielt Gerd schüchtern ihre Hand hin. „Verzeihung!“ Die Post war gekommen. Sie lag und wartete auf Gerd, als sie in ihr Zimmer heimkam. Aus guten Gründen hatte sie die ihr Nächst stehenden gebeten, Briefe an ihre Privatadresse zu senden. Ein Schreiben von Mutti! Mutti war überwältigt und glücklich. Nicht genug damit, daß Solveig ein Telegramm über ihre Verlobung mit Michael gesandt hatte, war am gleichen Tage auch noch Gerd aufgetaucht in Begleitung eines sehr sympathischen jungen Kapitäns, den sie als ihren Zukünftigen vorstellte. Für eine Mutter war das ja ein bißchen viel an einem Tag! Darum mußte sie jetzt schreiben, aus ihrem übervollen, glücklichen Mutterherzen heraus schreiben. Gerd las die warmen, liebevollen Worte mit einem Lächeln und legte das Schreiben dann beiseite. Das nächste kam von Solveig. Ein strahlender Brief, voller Zu kunftspläne, voll jugendlicher Entschlußkraft, voll jungen Glücks. - „Und weißt Du, ich kritisiere Michaels Bilder nach Strich und Faden; er sagt, das sei gesund für ihn. Jeder Künstler brauche Kritik. Und Schwiegerpapa ist froh, weil ich soviel Interesse für den Besitz habe. Er meint, Michael könne ruhig malen, seine Pflichten werde er schon nicht vergessen, denn dafür würde ich sorgen. Ach, Gerd, wie freue ich mich darauf, hier ordentlich zupacken zu können. Stelle Dir vor, mein Glück! Es erfüllt ja geradezu den Wunschtraum eines jeden Architekten, dieses schöne alte Schloß zu modernisieren, ohne etwas an seinem Stil zu verderben. Wir sind uns ganz einig darin, daß wir moderne Bequemlichkeit in das klassische Innere einbauen müssen, und das soll so geschehen, daß dabei nichts verdorben wird. Ich sitze bis über beide Ohren in Zeichnungen und Entwürfen, und der Himmel mag wissen, wann wir die Zeit zum Heiraten finden sollen. Es wird wohl mal zwischen zwei Bespre chungen mit Handwerkern sein. Michael läßt grüßen und sagen, daß er mich nur genommen hat, um Dich zur Schwägerin zu bekommen.
Der Schurke! Schwiegermama usurpiert den Rest des Briefbogens! Deine Solveig.“ „Liebe kleine Gerd! Unser Glückwunschtelegramm hast Du sicher bekommen. Ja, wir sagen doch jetzt du zueinander, nicht wahr? Wir freuen uns so für Dich. Wir haben ja gefühlt, daß etwas Dich drückte, liebes Kind, und es ist schön zu wissen, daß nun alles gut ist. Auch wir haben es nun sehr gut. Das Glück ist mit Dir nach Hö galind gekommen, kleine Gerd, und Du warst es, die ihm den Weg bahnte. Diese unartige Solveig, so leichtfertig von der Hochzeitsfeier zu sprechen! Sie wird sich schon darein finden müssen, daß die in ganz anderen Formen vor sich geht. Wir möchten Deine Mutter bitten, die Hochzeit hier feiern zu dürfen. Wir haben ja Platz, wie Du weißt, und Michael ist unser einziges Kind. Und wenn Du und Dein Helge, wenn Ihr beide Deiner alten Tante Elin und Deinem Onkel Bengt eine wirklich große Freude machen wollt, so kommt her und heiratet gleichzeitig. Kannst Du Dir etwas Festlicheres denken als so eine Doppelhochzeit auf Högalind? An einem Tag im Mai, Gerd, mit Sonne und jungem Birkengrün, und der ganze Park ein einziger Blumenteppich… Nun, ich greife dem Gang der Ereignisse vor, aber diese Gedan ken beschäftigen mich natürlich dauernd, und ich hoffe inständig, daß Ernst daraus wird. Liebe kleine Gerd, wir sind so froh, daß Ihr beiden, Du und Sol veig, in unser Leben getreten seid! Herzliche Grüße von Onkel Bengt und Deiner Tante Elin.“ Gerd saß lange da mit dem Brief in der Hand. Das Herz wurde ihr weit und warm, und sie war voller Dank. Endlich öffnete sie den letzten Brief. Ihre Augen weilten lange auf der Überschrift: „Liebste!“ Sie blieb sitzen und sah dieses Wort an. Dieses eine Wort, das ein so unsagbares Glück in sich schloß.
L-i-e-b-s-t-e.
Ein einziges kleines Wort.
Sieben kleine Buchstaben.