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Das Buch Isaac Asimovs berühmte Short Story Nightfall erschien erstmals 1941 und wurde zum Klassiker der Science-Fiction-Literatur. Mehr als vier Jahrzehnte später gestaltete Robert Silverberg in enger Zusammenarbeit mit Asimov dessen Weltuntergangsszenario zu einem Roman um, der die Geschichte konsequent weiterführt und zu Ende erzählt. Auch hier beginnt die Erzählung kurz vor der großen Katastrophe: Der Himmel über Kalgash, dem Planeten mit den sechs Sonnen, beginnt sich zu ver finstern. Zum erstenmal in ihrer zweitausendjährigen Geschichte erleben die Bewohner Dunkelheit – ein Ereignis, auf das sie nicht vorbereitet sind. Die Wissenschaftler befürchten den Ausbruch von Massenhysterie, Panik und Wahnsinn. Ein Journalist findet heraus, daß die Forscher, allen voran der alte Athor, mit der religiösen Sekte der Apostel gemein same Sache machen. Die Sekte ist im Besitz alter Überlieferungen, die durch die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse scheinbar bestätigt werden. Endlich ist der Tag der Finsternis angebrochen. Nichts scheint die Apokalypse aufhalten zu können. Der verzweifelte Kampf ums Ü berleben hat begonnen.
Die Autoren Isaac Asimov, 1920 in Petrowitsch, einem Vorort von Smolensk, ge boren, amerikanischer Biochemiker und Verfasser von populärwissen schaftlichen Büchern, gehört zu den bekanntesten und meistgelesenen SF-Autoren überhaupt. Die Zahl seiner Veröffentlichungen umfaßt bei nahe 300 Titel. Robert Silverberg, 1936 in New York geboren, ist einer der bekanntes ten und erfolgreichsten SF-Autoren unserer Zeit. Wie Isaac Asimov wurde auch er mit den renommierten Hugo- und Nebula-Awards ausge zeichnet.
ISAAC ASIMOV & ROBERT SILVERBERG
EINBRUCH DER NACHT
Roman
Aus dem Amerikanischen von IRENE HOLICKI
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/10.090
Titel der Originalausgabe NIGHTFALL erschienen by Doubleday, a division of Bantam Doubleday Dell Publishing Group, Ine, New York Dieser Roman basiert auf der gleichnamigen Erzählung von Isaac A simov, die 1941 in dem Magazin ‚Astounding Science Fiction’ erschien. Einige Personen und Schauplätze wurden im Einvernehmen mit dem Autor geändert.
Redaktion: Rene Nibose-Mistral Copyright © 1990 by Nightfall, Inc. & Agberg, Ltd Copyright © 1997 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1997 Umschlagillustration: Copyright © 1991 by Don Dixon Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN: 3-453-11.689-5
In Liebe und Verehrung zum Gedenken an John W. Campbell Jr. und zur Erinnerung an zwei verschüchterte Kinder aus Brooklyn, die einst, der eine 1938, der andere 1952, zähneklappernd zu seinem Büro pilgerten.
An den Leser Kalgash ist eine fremde Welt, und es liegt nicht in unserer Absicht, dich glauben zu machen, sie sei identisch mit der Erde, auch wenn wir ihre Menschen eine Sprache sprechen lassen, die du verstehst, und Beg riffe verwenden, die dir vertraut sind. Solche Begriffe sind lediglich als Entsprechungen – oder vielmehr als ein ganzes System von Entspre chungen – zu sehen, und das Verfahren ist das gleiche wie bei einem Romancier, der zwei Ausländer in ihrer eigenen Sprache miteinander reden läßt, ihre Worte aber trotzdem in die Sprache des Lesers übersetzt. Wenn also die Bewohner von Kalgash von ‚Meilen’, ‚Händen’, ‚Autos’ oder ‚Computern’ sprechen, so meinen sie damit ihre eigenen Entfer nungseinheiten, ihre eigenen Greiforgane, ihre eigenen Transportmittel, ihre eigenen Geräte zur Informationsverarbeitung, etc. Die Computer auf Kalgash sind nicht unbedingt kompatibel mit Maschinen, wie sie in New York, London oder Stockholm stehen, und die ‚Meile’, die wir in diesem Buch verwenden, entspricht nicht unbedingt der amerikanischen Einheit von 5280 Fuß Länge. Aber es erschien uns einfacher und zweckmäßiger, die Ereignisse auf dieser völlig fremden Welt mit ver trauten Begriffen zu beschreiben, anstatt eigens eine lange Reihe kal gashischer Termini zu erfinden. Mit anderen Worten, wir hätten natürlich sagen können, eine unserer Personen habe sich erst ihre Quonglishes angeschnallt, ehe sie sich auf einen sieben Vork langen Marsch über die Haupt-Gleebish ihres heimi schen Znoob begab. Vielleicht hätte das den Eindruck von Fremdartig keit ungemein verstärkt. Aber es hätte mit Sicherheit auch das Ver ständnis ungemein erschwert, und das erschien uns nicht sinnvoll. Es ging uns in dieser Geschichte nämlich nicht darum, möglichst viele möglichst ausgefallene Wortprägungen zu erfinden, wir wollten viel mehr darstellen, wie eine Gruppe von Individuen, die uns relativ ähnlich sind und auf einer Welt leben, die bis auf einen allerdings ganz wesent lichen Unterschied der unseren relativ ähnlich ist, auf eine Situation reagiert, wie sie die Menschen der Erde noch nie bewältigen mußten. Unter diesen Umständen erschien es uns besser, jemanden seine Wan derstiefel anziehen zu lassen, ehe er sich auf einen sieben Meilen langen Marsch begab, als das Buch mit Quonglishes, Yorks und Gleebishes vollzupfropfen. Wenn es dir beliebt, kannst du ja alle ‚Meilen’ im Text durch ‚Vorks’ ersetzen, alle ‚Stunden’ durch ‚Gliizbiiz’ und alle ‚Augen’ durch ‚Sleshtraps’. Du darfst auch gern deine eigenen Begriffe erfinden. Doch ob Vorks oder Meilen, wenn erst einmal die Sterne am Himmel erschei nen, kommt es darauf nicht mehr an. -I. A. -R. S.
ERSTER TEIL
DÄMMERUNG
Wenn nur einmal in tausend Jahren die Sterne erschienen, wie würden die Menschen glauben und sie bewundern und für viele Generationen das Andenken an diese Stadt Gottes bewahren! -EMERSON
Andere Welt!
Es gibt keine andere Welt!
Hier oder nirgendwo,
das ist alles.
-EMERSON
Kapitel 1 Es war ein strahlender Vier-Sonnen-Nachmittag. Hoch am westlichen Himmel stand Onos’ große, goldene Scheibe, darunter stieg rasch die kleine rote Dovim über den Horizont. Gegenüber im Osten hoben sich Trey und Patru als grellweiße Punkte vom violetten Himmel ab. Die wogenden Ebenen von Kalgashs nördlichstem Kontinent waren in ein märchenhaftes Licht getaucht. Im Büro von Kelaritan 99, dem Leiter des Städtischen Instituts für Psychiatrie in Jonglor, boten große Fenster nach allen Seiten einen hervorragenden Ausblick auf diese Pracht. Sheerin 501 von der Universität Saro, der auf Kelaritans dringende Bitte nach Jonglor gekommen und erst vor ein paar Stunden eingetrof fen war, wunderte sich über seine schlechte Laune. Immerhin war Le bensfreude ein Grundzug seines Wesens, und Vier-Sonnen-Tage brach ten sein ohnehin lebhaftes Temperament im allgemeinen noch mehr in Schwung. Heute jedoch war er aus irgendeinem Grunde gereizt und unruhig, obwohl er sich alle Mühe gab, sich seine Nervosität nicht an merken zu lassen. Schließlich und endlich hatte man ihn in seiner Ei genschaft als Fachmann für Geistesstörungen nach Jonglor geholt. „Möchten Sie gleich mit einigen der Opfer sprechen?“ fragte Kelari tan. Der Chefarzt der psychiatrischen Klinik war ein hageres, knochiges Männchen, schmalbrüstig und mit fahler Haut. Der ganz und gar nicht hagere Sheerin mit seiner blühenden Gesichtsfarbe hegte ein tief ver wurzeltes Mißtrauen gegen jeden Erwachsenen, der weniger als die Hälfte seines eigenen Gewichts auf die Waage brachte. Vielleicht lasse ich mich von Kelaritans Erscheinungsbild aus der Fassung bringen, dachte der Psychologe. Er sieht aus wie ein wandelndes Skelett. „Oder hielten Sie es für günstiger, zuerst den Tunnel der Geheimnisse persönlich kennenzulernen, Dr. Sheerin?“ Sheerin rang sich ein Lachen ab und hoffte, daß es nicht allzu ge zwungen klang. „Vielleicht sollte ich mich als erstes mit einem oder zwei Opfern un terhalten“, sagte er. „Unter Umständen hilft mir das, mich ein wenig auf die Schrecken des Tunnels einzustimmen.“ In Kelaritans schwarzen Knopfaugen flackerte es nur mißbilligend, doch Cubello 54, der aalglatte, geschniegelte Anwalt der Jahrhundert ausstellung von Jonglor, hielt mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg. „Aber Dr. Sheerin! ‚Die Schrecken des Tunnels!’ Finden Sie das nicht etwas übertrieben? Schließlich haben Sie bisher lediglich in der Zeitung davon gelesen. Außerdem sollte man besser von Patienten sprechen. ‚Opfer’ ist wohl kaum der richtige Ausdruck.“ „Der Ausdruck stammt von Dr. Kelaritan“, rechtfertigte Sheerin sich steif.
„Dr. Kelaritan hat ihn gewiß nur ganz allgemein gebraucht. Aber ich kann die darin enthaltene Unterstellung so nicht akzeptieren.“ Sheerin warf dem Anwalt einen Blick zu, der zu gleichen Teilen tiefe Abneigung und professionelle Gelassenheit verriet. „Nach allem, was ich hörte, sind infolge dieser Fahrten durch den Tunnel der Geheimnisse mehrere Menschen gestorben. Ist dem nicht so?“ „Es gab mehrere Todesfälle im Tunnel, gewiß. Aber im Moment be steht noch kein zwingender Grund zu der Annahme, diese Menschen seien infolge der Fahrt durch den Tunnel gestorben, Doktor.“ „Ich kann mir gut vorstellen, warum Ihnen diese Annahme nicht be sonders zusagt, Herr Rechtsanwalt.“ Cubello wandte sich empört an den Klinikdirektor. „Dr. Kelaritan! Wenn die Ermittlungen in dieser Form geführt werden sollen, so möchte ich unverzüglich Protest einlegen. Ihr Dr. Sheerin ist als unparteiischer Sachverständiger hier, nicht als Zeuge der Anklage!“ Sheerin lachte leise in sich hinein. „Das war lediglich meine Ansicht über Anwälte generell, kein Urteil über das, was im Tunnel der Ge heimnisse vorgefallen ist oder auch nicht.“ „Dr. Kelaritan!“ rief Cubello abermals und lief puterrot an. „Ich darf doch bitten, meine Herren“, mahnte Kelaritan. Sein Blick wanderte rasch von Cubello zu Sheerin und wieder zurück. „Wir sollten nicht wie Feinde miteinander umgehen. Wie ich die Sache sehe, haben wir alle das gleiche Anliegen, nämlich herauszufinden, was im Tunnel der Geheimnisse wirklich geschehen ist, um zu vermeiden, daß diese… äh… unerquicklichen Vorfälle sich wiederholen.“ „Einverstanden“, erklärte Sheerin liebenswürdig. Es war Zeitver schwendung, auf dem Anwalt herumzuhacken. Schließlich gab es Wich tigeres zu tun. Er schenkte Cubello ein zuckersüßes Lächeln. „Ich bin nicht unbedingt darauf versessen, einen Sündenbock zu finden, mir ist es viel lieber, wenn es gar nicht erst so weit kommt, daß die Leute glauben, einen sol chen zu brauchen. Würden Sie mich jetzt zu einem Ihrer Patienten füh ren, Dr. Kelaritan? Anschließend könnten wir zusammen mittagessen und dabei die Vorgänge im Tunnel besprechen, soweit wir sie bis dahin durchschauen. Danach bin ich vielleicht imstande, mir noch ein oder zwei weitere Patienten anzusehen und…“ „Mittagessen?“ Kelaritan vermittelte den Eindruck, als habe er das Wort noch nie gehört. „Ja, Mittagessen. Ein Imbiß zur Mittagszeit. Eine alte Gewohnheit von mir, Doktor. Aber es hat noch etwas Zeit. Einen Patienten können wir vorher gewiß noch aufsuchen.“ Kelaritan nickte zustimmend und wandte sich an den Anwalt. „Ich glaube, wir fangen am besten mit Harrim an. Sein Zustand ist heute
ganz passabel. Jedenfalls wird er es ertragen, wenn ihm ein Fremder ein paar Fragen stellt.“ „Was ist mit Gistin 190?“ schlug Cubello vor. „Auch eine Möglichkeit, aber sie ist nicht so stabil wie Harrim. Das Wesentliche soll er sich von Harrim erzählen lassen, dann kann er mit Gistin sprechen und… ach, vielleicht noch mit Chimmilit. Natürlich erst nach deinem Mittagessen.“ „Vielen Dank“, sagte Sheerin. „Wenn Sie mir bitte folgen würden, Dr. Sheerin…“ Kelaritan zeigte auf einen verglasten Durchgang, der sein Büro mit der eigentlichen Klinik verband. Von diesem grazilen, nach allen Seiten offenen Steg hatte man einen phantastischen Rundblick auf den Himmel und die flachen, graugrünen Hügel um die Stadt Jonglor. Das Licht der vier Sonnen konnte ungehindert einströmen. Der Klinikchef blieb kurz stehen und drehte sich erst nach rechts und dann nach links, um das gesamte Panorama in sich aufzunehmen. Die Lichtflut aus Onos’ warmem Glanz und Dovims, Patrus und Treys schärferen, kontrastreicheren Strahlen zauberte plötzlich einen Hauch von jugendlicher Vitalität auf die verkniffenen Züge des alten Gries grams. „Ist das nicht ein wunderbarer Tag, meine Herren!“ rief Kelaritan mit einer Begeisterung, die Sheerin diesem so verschlossen wirkenden As keten gar nicht zugetraut hätte. „Welch ein phantastischer Anblick, wenn vier Sonnen zugleich am Himmel stehen! Ich genieße es, wenn ihr Licht mein Gesicht bescheint! Ach, was wären wir ohne unsere herrli chen Sonnen?“ „Ganz recht“, sagte Sheerin. Tatsächlich fühlte auch er sich etwas besser.
Kapitel 2 Eine halbe Welt von Jonglor entfernt starrte eine Universitätskollegin von Sheerin 501 ebenfalls in den Himmel. Doch sie empfand dabei nichts als nacktes Entsetzen. Siferra 89 gehörte der archäologischen Fakultät an und leitete seit an derthalb Jahren die Ausgrabungen bei Beklimot, einer uralten Fundstätte auf der entlegenen Halbinsel Sagikan. Nun sah sie starr vor Angst einer unausweichlichen Katastrophe entgegen. Auch am Himmel fand sie keinen Trost. In diesem Teil der Welt spen deten momentan nur Tano und Sitha nennenswerte Helligkeit, und ihr kaltes, hartes Licht hatte sie schon immer als beklemmend, ja als depri mierend empfunden. Vor dem tiefen Dunkelblau des Zwei-SonnenHimmels wirkte es bedrückend feindselig und warf schroffe, unheimli
che Schatten. Dovim zeigte sich eben am Horizont, dicht über den Gip feln der fernen Horkkan-Berge – sie war gerade im Aufgehen begriffen. Doch auch der schwache Schein der kleinen roten Sonne änderte nicht viel an der tristen Stimmung. Natürlich wußte Siferra, daß demnächst Onos ihre warmen, gelben Strahlen von Osten herüberschicken und alles freundlicher erscheinen lassen würde. Was sie beunruhigte, war nicht die vorübergehende Ab wesenheit der Hauptsonne, sondern eine weitaus größere Bedrohung. Ein verheerender Sandsturm raste geradewegs auf Beklimot zu. In we nigen Minuten würde er über die Ausgrabungsstätte hinwegfegen, und was dann geschah, wußte niemand. Niemand. Der Sturm konnte die Zelte wegreißen, die Kästen mit den systematisch geordneten Artefakten umstürzen und ihren Inhalt überall verstreuen, die Kameras, die Zei chengeräte, die mit so viel Aufwand zusammengestellten stratigraphi schen Skizzen – kurz, er konnte die Arbeit von anderthalb Jahren binnen Minuten zunichte machen. Das wäre noch nicht das schlimmste. Er konnte sie alle töten. Und das allerschlimmste: Die Ruinen von Beklimot – die Wiege der Zivilisation, die älteste, bekannte Stadt auf Kalgash –, sie waren in Ge fahr. Die Probestollen, die Siferra durch das umliegende Schwemmland hat te vortreiben lassen, standen weit offen. Wenn der Wind stark genug war, würde er noch mehr Sand aufwirbeln, als er ohnehin schon mit brachte, und ihn mit entsetzlicher Kraft gegen die brüchigen Überreste von Beklimot schleudern – er würde an den Fundamenten scheuern, sie abtragen, sie abermals verschütten, vielleicht sogar Teile davon aus dem Boden reißen und über die ausgedörrte Ebene katapultieren. Beklimot war ein historisches Kleinod, das der ganzen Welt gehörte. Das Risiko, bei ihren Grabungen etwas zu beschädigen, war Siferra ganz bewußt eingegangen. Bei archäologischen Arbeiten wurde immer etwas zerstört; das lag in der Natur der Sache. Aber es war schon ver dammtes Pech, gerade dann, wenn man die Ebene ganz und gar bloßge legt hatte, vom schlimmsten Sandsturm des Jahrhunderts getroffen zu werden… Nein. Nein, es war zu viel. Sollte Beklimot infolge ihrer Tätigkeit hier diesen Sturm nicht überstehen, so war ihr Name für alle Zeiten entehrt. Vielleicht hatten all die abergläubischen Seelen recht, und es lag wirk lich ein Fluch auf dem Ort. Siferra 89 hatte für Spinner irgendwelcher Art nie viel Verständnis gehabt. Doch dieses Projekt, das sie auf den Gipfel ihrer Karriere hätte führen sollen, war von Anfang an mit Prob lemen behaftet gewesen, und nun drohte es, ihr Lebenswerk – wenn nicht gar ihr Leben selbst – zu vernichten.
Eilis 18, einer ihrer Assistenten, kam angelaufen. Der schmächtige, drahtige Mann wirkte neben der hochgewachsenen, muskulösen Siferra geradezu unscheinbar. „Soweit wie möglich haben wir alles fest verankert!“ rief er ihr atem los zu. „Das übrige liegt nun bei den Göttern.“ Sie machte ein finsteres Gesicht: „Götter? Welche Götter?“ fragte sie. „Wo sehen Sie hier irgendwelche Götter, Eilis?“ „Ich meinte doch nur…“ „Ich weiß, was Sie meinten. Lassen wir das.“ Von der anderen Seite näherte sich Thuvvik 443, der Vorarbeiter der Hilfskräfte. In seinen Augen stand die helle Panik. „Madame“, rief er. „Madame, wo können wir uns verstecken? Es gibt nirgendwo Schutz!“ „Ich hab’s euch doch gesagt, Thuvvik. Unterhalb der Klippe.“ „Sie wird auf uns herabstürzen! Sie wird uns lebendig begraben!“ „Keine Sorge, die Klippe bietet euch Schutz“, erklärte Siferra im Brustton der Überzeugung, obwohl sie keineswegs sicher war. „Nun lauf schon! Und sorge dafür, daß alle dort bleiben!“ „Und Sie, Madame? Kommen Sie nicht mit?“ Sie sah ihn erstaunt an. Glaubte er etwa, sie habe ein Privatversteck, das ihr mehr Sicherheit bot als den anderen? „Ich komme bald nach, Thuvvik. Und nun geh! Stör mich nicht län ger.“ Jenseits des Weges, neben dem sechseckigen Ziegelbau, dem die ers ten Forscher den Namen Sonnentempel gegeben hatten, entdeckte Sifer ra eine untersetzte Gestalt, Balik 338. Er hatte die Hand über die Augen gelegt, um sie vor Tanos und Sithas kaltem Licht zu schützen, und späh te blinzelnd nach Norden, von wo der Sandsturm kam. Die Verzweif lung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Balik war der Oberstratigraph, aber auch mehr oder weniger der Mete orologe des Projekts. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Aufzeichnungen über das Wetter zu führen und auf mögliche Anomalien zu achten. Normalerweise konnte man auf Sagikan von Wetter kaum sprechen: die Halbinsel war unbeschreiblich trocken, nennenswerte Regenfälle gab es nur alle zehn bis zwanzig Jahre einmal. Die einzige klimatische Veränderung, die man überhaupt je beobachten konnte, war eine Ver schiebung der vorherrschenden Luftströmungen, die zur Bildung von Wirbeln und damit zu einem Sandsturm führte, und auch das geschah höchstens drei oder vier Mal im Laufe eines Jahrhunderts. Konnte man aus Baliks sorgenvoller Miene schließen, daß ihn Schuld gefühle plagten, weil er den Sturm nicht rechtzeitig vorausgesehen hat te? Oder schaute er nur deshalb so entsetzt drein, weil ihm erst jetzt das ganze Ausmaß der Katastrophe bewußt wurde?
Alles wäre anders gewesen, dachte Siferra, wenn sie nur etwas mehr Zeit zur Vorbereitung gehabt hätten. Im Rückblick erkannte sie, daß es für jeden hellen Kopf genügend Warnsignale gegeben hatte – die jäh einsetzende, trockene Hitze, mörderisch selbst für die Verhältnisse auf Sagikan, die plötzliche Windstille anstelle der sonst so stetigen Brise aus dem Norden, und schließlich der merkwürdig feuchte Wind aus dem Süden. Beim ersten Hauch hatten sich die Khallas, jene gräßlich ausge mergelten Aasvögel, die hier wie böse Geister ihr Unwesen trieben, in die Lüfte geschwungen, als sei ihnen eine Horde Dämonen auf den Fer sen, und waren in den Dünen der Westwüste verschwunden. Spätestens da hätten wir Verdacht schöpfen müssen, dachte Siferra. Als die Khallas aufflogen und kreischend in die Dünen flüchteten. Aber sie waren alle viel zu sehr mit ihren Ausgrabungen beschäftigt gewesen, um darauf zu achten, was sich um sie herum tat. Wahrschein lich hatten sie einfach den Kopf in den Sand gesteckt. Wenn wir so tun, als sähen wir die Vorboten des nahenden Sandsturms nicht, dann dreht er vielleicht ab und zieht anderswo hin. Und dann die kleine, graue Wolke, die hoch im Norden wie aus dem Nichts auftauchte, ein matter Fleck auf dem blanken Schild des gewöhn lich so glasklaren Wüstenhimmels… Wolke? Wo soll da eine Wolke sein? Ich sehe weit und breit nichts, Schnell wieder die Köpfe in den Sand. Nun bedeckte die Wolke – ein riesenhaftes, schwarzes Ungetüm – den halben Himmel. Der Wind wehte immer noch von Süden, aber jetzt war er nicht mehr feucht – jetzt verströmte er die sengende Glut eines Hoch ofens – und aus der Gegenrichtung raste ein zweiter, noch stärkerer heran. Der eine schürte die Kräfte des anderen. Und sobald sie aufei nandertrafen… „Siferra!“ schrie Balik. „Es geht los! In Deckung!“ „Schon gut! Schon gut!“ Sie wollte nicht. Sie wäre lieber von einem Abschnitt der Ausgrabun gen zum anderen gelaufen und hätte sich um alles gleichzeitig geküm mert, hätte die Zeltklappen festgehalten, die Stapel mit den kostbaren photographischen Platten an sich gedrückt und sich vor das eben erst freigelegte Oktagonhaus gestellt, um die phantastischen Mosaiken, die sie letzten Monat entdeckt hatten, mit ihrem Körper zu schützen. Aber Balik hatte recht. Siferra hatte an diesem hektischen Vormittag getan, was sie konnte, um die Stätte zu sichern. Nun war es an der Zeit, sich am Fuß der hohen Klippe oberhalb der Ausgrabungen zusammenzukau ern und zu hoffen, daß dieses Bollwerk die Wucht des Sturmes ein we nig brechen würde. Sie rannte um ihr Leben. Ihre stämmigen, muskulösen Beine trugen sie rasch über den ausgedörrten, knisternden Sand. Siferra war noch keine
vierzig Jahre alt, eine hochgewachsene, stramme Frau auf dem Höhe punkt ihrer Kraft, und bis zu diesem Moment hatte unerschütterlicher Optimismus ihr Dasein in jeder Hinsicht bestimmt. Nun war plötzlich alles in Gefahr: ihre wissenschaftliche Laufbahn, ihre robuste Gesund heit, vielleicht sogar ihr Leben. Am Fuß der Klippe standen die anderen dichtgedrängt in einem hastig errichteten Unterstand aus rohen Holzpflöcken mit notdürftig darange bundenen Segeltuchplanen. „Macht Platz“, verlangte Siferra und schob sich dazwischen. „Madame“, wimmerte Thuvvik. „Madame, schicken Sie doch den Sturm zurück!“ Als ob sie eine Göttin mit magischen Kräften wäre. Siferra lachte heiser. Der Vorarbeiter machte eine Handbewegung in ihre Richtung – ein magisches Zeichen vermutlich. Die anderen Helfer, allesamt Männer aus dem kleinen Dorf östlich der Ruinen, machten das gleiche Zeichen und begannen etwas zu murmeln. Gebete? An Sie? Das wurde ja geradezu unheimlich. Wie ihre Väter und Großväter, so hatten auch diese Männer ihr ganzes Leben lang als Hand langer des einen oder anderen Archäologen in Beklimot gegraben, hat ten geduldig die uralten Bauwerke freigelegt und den Sand nach winzi gen Artefakten durchsucht. Vermutlich hatten sie schon etliche schlim me Sandstürme erlebt. Hatten sie sich immer so geängstigt? Oder han delte es sich diesmal um einen Supersturm? „Da kommt er“, sagte Balik. „Jetzt ist es so weit.“ Und er schlug die Hände vors Gesicht. Der Sandsturm brach mit aller Gewalt über sie herein. Anfangs blieb Siferra noch stehen und starrte so angestrengt durch ei ne Lücke zwischen den Planen auf die monumentale Stadtmauer im Zyklopenstil jenseits des Weges, als könne ihr unverwandter Blick die Ausgrabungen vor Schaden bewahren. Doch bald war das nicht mehr möglich. Wellen unbeschreiblicher Hitze fegten über sie hin, eine Glut von solcher Intensität, daß sie fürchtete, ihr Haar und ihre Augenbrauen könnten sich entzünden. Sie wandte sich ab und hielt sich schützend einen Arm vor das Gesicht. Dann kam der Sand und löschte alles aus. Es war wie ein Wolkenbruch, ein allzu heftiger Platzregen. Ein ohren betäubendes Grollen erfüllte die Luft, kein Donner, nur unzählige, win zige Sandpartikel, die auf den Boden trommelten. Andere Laute misch ten sich in das Getöse, ein Scharren und Wispern, ein Knirschen und Kratzen, ein zartes Pochen. Und ein schauriges Heulen. Siferra malte sich aus, wie Tonnen von Sand vom Himmel stürzten und die Mauern unter sich begruben, die Tempel, die weitläufigen Fundamente des Wohngebiets, das Lager. Und alle seine Bewohner.
Sie wandte sich der Klippenwand zu und wartete auf das Ende. Über rascht und mit leichter Verärgerung vernahm sie ein hysterisches Schluchzen, dumpfe Klagelaute, die stoßweise aus den Tiefen ihres eigenen Körpers aufstiegen. Sie wollte nicht sterben. Natürlich nicht; wer wollte das schon? Doch daß es Schlimmeres geben könnte als den Tod, das ging ihr erst in diesem Moment so richtig auf. Beklimot, die berühmteste Ausgrabungsstätte der Welt, die älteste, be kannte Stadt der Menschheit, der Grundstein der Zivilisation, stand vor der Zerstörung – einzig und allein infolge ihrer Nachlässigkeit. Seit Beklimots Entdeckung vor anderthalb Jahrhunderten hatten Generatio nen von Kalgashs großen Archäologen hier gearbeitet: zuerst Galdo 221, der größte von allen, dann Marpin, Stinnupad, Shelbik, Numoin, eine ganze Liste berühmter Namen – und an ihrem Ende die törichte Siferra, die alles aufriß und schutzlos liegen ließ, obwohl ein Sandsturm nahte. Jahrtausendelang hatten die Ruinen von Beklimot friedlich unter den Sandmassen geschlummert, unverändert seit dem Tag, an dem auch die letzten Bewohner vor den Härten des sich verschlechternden Klimas kapitulierten und die Stadt verließen. Und seit Galdo hatte jeder der hier tätigen Archäologen peinlich darauf geachtet, immer nur einen kleinen Abschnitt freizulegen und genügend Schutzwände und Sandzäune auf zustellen, um die Funde vor der zwar unwahrscheinlichen, dafür aber um so ernsteren Gefahr eines Sandsturms zu bewahren. Bis heute. Natürlich hatte auch sie die üblichen Wände und Zäune aufstellen las sen. Aber nicht bei den neuen Grabungen und nicht im Heiligen Bezirk, mit dem sie sich besonders intensiv beschäftigte. Einige von Beklimots ältesten und schönsten Gebäuden befanden sich dort. Und sie harte es nicht erwarten können, mit den Ausgrabungen zu beginnen, und sich von ihrem unstillbaren Tatendrang dazu hinreißen lassen, die elemen tarsten Vorsichtsmaßnahmen zu versäumen. Damals hatte sie das natür lich ganz anders gesehen. Aber jetzt, wo ihr das Dämonengeheul des Sandsturms in den Ohren gellte und das Verhängnis pechschwarz am Himmel stand… Ich bin nur froh, dachte Siferra, daß ich das nicht überleben werde. Und daß ich folglich auch nicht zu lesen brauche, was in den nächsten fünfzig Jahren in jedem neuen archäologischen Werk über mich stehen wird. „Die große Fundstätte Beklimot, Quelle einzigartiger Erkenntnis se über die Anfänge der Zivilisation auf Kalgash, die leider den fahrläs sigen Grabungsmethoden der jungen, ehrgeizigen Siferra 89 von der Universität Saro zum Opfer fiel…“ „Ich glaube, es geht allmählich zu Ende“, flüsterte Balik. „Was?“ fragte sie. „Der Sturm. Horch nur! Draußen wird es still.“
„Wahrscheinlich stecken wir nur unter einer so tiefen Sandschicht, daß wir nichts mehr hören.“ „Nein, Siferra, wir sind nicht verschürtet!“ Balik zerrte an der Plane, und es gelang ihm tatsächlich, sie ein wenig anzuheben. Siferra spähte hinaus auf den freien Platz zwischen der Klippe und der Stadtmauer. Und traute ihren Augen nicht. Sie zeigten ihr das klare, tiefe Blau des Himmels. Und Sonnenschein. Es war nur das triste, frostig weiße Licht der Zwillingssonnen Tano und Sitha, doch in diesem Augenblick hätte sie sich nichts Schöneres vor stellen können. Der Sturm war vorübergezogen. Alles war wieder ruhig. Und wo war der Sand? Wieso war nicht alles im Sand begraben? Die Stadt war immer noch zu sehen: die großen Steinblöcke der Mau er, die prächtig funkelnden Mosaiken, das spitze Steindach des Sonnen tempels. Auch die meisten Zelte standen noch, darunter fast alle, auf die es ankam. Nur das Wohnlager für die Hilfskräfte wies schwere Schäden auf, aber die ließen sich binnen weniger Stunden beheben. Wie betäubt trat Siferra aus dem Unterstand und sah sich um. Sie konnte es noch gar nicht fassen. Nirgendwo lag loser Sand auf dem Bo den. Die spröde, stark verdichtete, schwarze Kruste, die oberste Schicht im Grabungsbereich, war immer noch zu erkennen. Zwar sah sie jetzt anders aus, merkwürdig glatt, wie abgeschmirgelt, aber sie war frei von Ablagerungen, der Sturm hatte nichts zurückgelassen. „Zuerst kam der Sand, und dahinter kam der Wind“, staunte Balik. „Der Wind hat allen Sand, der auf uns niederging, zusammengerafft, noch ehe er den Boden erreichte, und hat ihn weiter nach Süden gewir belt. Ein Wunder, Siferra. Man kann nicht anders sagen. Da, man sieht genau, wo der Wind über den Boden gefegt ist und die oberste Sand schicht mitgenommen hat, an die fünfzig Jahre Erosion in fünf Minuten, aber…“ Siferra hatte kaum zugehört. Nun packte sie Balik am Arm und drehte ihn um, so daß er dem Hauptabschnitt der Ausgrabungsstätte den Rü cken zukehrte. „Sieh mal dorthin“, sagte sie. „Wo? Was?“ Sie streckte die Hand aus. „Der Hügel von Thombo.“ Der breitschultrige Stratigraph riß die Augen auf. „Ihr Götter! Er ist in der Mitte durchgeschnitten!“ Der Hügel von Thombo war eine unregelmäßige, nicht übermäßig ho he Kuppe, von der eigentlichen Stadt aus zu Fuß in etwa fünfzehn Minuten zu erreichen. Seit mehr als hundert Jahren, seit der zweiten Expedition des großen Pioniers Galdo 221, hatte dort niemand mehr gegraben, und Galdo hatte nichts von Bedeutung gefunden. Man hielt den Hügel allgemein für die Müllkippe, auf der die Bürger des alten Beklimot ihre Abfälle abgeladen hatten – an sich nicht uninteressant,
mot ihre Abfälle abgeladen hatten – an sich nicht uninteressant, gewiß, aber ohne Belang, verglichen mit den Wunderdingen, von denen das ganze Gebiet nur so überquoll. Doch nun hatte der Hügel von Thombo offenbar das meiste abbe kommen, und die Wucht des Sandsturms hatte in einem einzigen Mo ment vollbracht, was Generationen von Archäologen nicht für der Mühe wert gehalten hatten. Er hatte in die Außenseite des Hügels eine unre gelmäßige, zickzackförmige Schramme gerissen, die wie eine tiefe Wunde das Innere des oberen Hangabschnitts bloßlegte. Erfahrenen Archäologen wie Siferra und Balik genügte ein Blick, um zu erfassen, was da ans Tageslicht gekommen war. „Eine Stadt unter der Müllkippe“, murmelte Balik. „Wahrscheinlich nicht nur eine. Vielleicht eine ganze Serie“, verbes serte Siferra. „Meinst du?“ „Sieh doch nur. Da, ganz links.“ Balik pfiff durch die Zähne. „Ist das nicht eine Mauer im Kreuzver bund, da unter der Ecke des Zyklopenfundaments?“ „Du hast es erfaßt.“ Siferra lief ein kalter Schauer über den Rücken. Auch Balik war ganz verstört, wie sie sah, als sie sich ihm zuwandte. Er hatte die Augen weit aufgerissen und war totenbleich. „Im Namen der Dunkelheit!“ murmelte er heiser. „Was haben wir da entdeckt, Siferra?“ „Genau weiß ich es auch nicht. Aber ich werde es sofort feststellen.“ Sie schaute zurück zu dem Unterstand unter der Klippe. Thuvvik und seine Männer kauerten noch immer verängstigt am Boden, vollführten ihre magischen Gesten und plapperten leise, wie in Trance, ihre Gebete, als könnten sie nicht begreifen, daß der mächtige Sturm sie verschont hatte. „Thuvvik!“ rief Siferra und winkte ihn energisch, fast wütend heran. „Komm heraus mit deinen Männern! Es gibt viel zu tun!“
Kapitel 3 Harrim 682 war etwa fünfzig Jahre alt, groß und bullig, mit schwel lenden Muskelpaketen an Brust und Armen und einer schönen, dicken Fettschicht darüber. Ein kurzer, prüfender Blick durch das Fenster in der Krankenzimmertür, und Sheerin wußte, daß er mit Harrim gut auskom men würde. „Ich hatte immer eine Schwäche für – nun ja – überdimensionierte Menschen“, bemerkte der Psychologe zu Kelaritan und Cubello. „Das liegt wohl daran, daß ich mich selbst fast seit meiner Geburt dazu zählen muß. Ein solcher Muskelprotz war ich freilich nie.“ Sheerin lachte ver
gnügt. „Bei mir ist alles reiner Schwabbelspeck. Hier natürlich ausge nommen“, fügte er hinzu und tippte sich an die Stirn. „Was ist dieser Harrim von Beruf?“ „Hafenarbeiter“, antwortete Kelaritan. „Seit fünfunddreißig Jahren auf den Docks von Jonglor tätig. Die Eintrittskarte zur Eröffnung des Tun nels der Geheimnisse hat er in einer Lotterie gewonnen. Seine ganze Familie ist mitgefahren. Bis zu einem gewissen Grad sind sie alle ge schädigt, aber ihn hat es am schlimmsten erwischt. Und für einen Hünen wie ihn ist ein so völliger Zusammenbruch natürlich besonders pein lich.“ „Das kann ich mir vorstellen“, sagte Sheerin. „Ich werde es berück sichtigen. Können wir jetzt mit ihm sprechen?“ Sie betraten das Zimmer. Harrim saß aufrecht im Bett und betrachtete teilnahmslos einen krei senden Würfel, der Lichteffekte in sechs verschiedenen Farben an die gegenüberliegende Wand zauberte. Kelaritan lächelte er noch recht freundlich an, doch als er hinter dem Chefarzt den Anwalt Cubello be merkte, versteifte er sich, und beim Anblick Sheerins erstarrten seine Züge zu Stein. „Wer ist das?“ fragte er Kelaritan. „Noch ein Anwalt?“ „Keineswegs. Das ist Sheerin 501 von der Universität Saro. Er will Ih nen helfen, wieder gesund zu werden.“ „Pah“, schnaubte Harrim. „Noch so ein Doppelhirn! Was können die schon erreichen?“ „Ganz richtig“, stimmte Sheerin zu. „Nur einer kann Harrim wirklich helfen, und das ist Harrim selbst, was? Sie wissen es, ich weiß es, und vielleicht kann ich auch die Leute hier in der Klinik davon überzeugen.“ Er setzte sich auf die Bettkante. Der Rahmen knarrte unter seinem Ge wicht. „Wenigstens haben sie hier solide Betten. Wenn sie das Gewicht von uns beiden aushalten, können sie nicht schlecht sein. – Sie mögen keine Anwälte, stimmt’s? Da haben wir schon etwas gemeinsam, mein Freund.“ „Elende Galgenstricke, einer wie der andere“, schimpfte Harrim. „Ab gefeimte Gauner. Drehen dir das Wort im Munde herum, behaupten, sie können dir helfen, wenn du dieses oder jenes sagst, und am Ende ver wenden sie die eigene Aussage gegen dich. Kommt mir jedenfalls so vor.“ Sheerin sah zu Kelaritan auf. „Ist Cubellos Anwesenheit bei diesem Gespräch unbedingt erforderlich? Ich glaube, ohne ihn wäre es um eini ges leichter.“ „Ich bin befugt, bei jedem…“ begann Cubello gestelzt. „Bitte“, sagte Kelaritan, und es klang eher entschieden als höflich. „Sheerin hat recht. Drei Besucher auf einmal sind für Harrim mögli
cherweise zu viel – jedenfalls heute. Und Sie haben seine Geschichte ja bereits gehört.“ „Nun…“ Cubello machte ein finsteres Gesicht. Doch gleich darauf drehte er sich um und verließ das Zimmer. Sheerin gab Kelaritan verstohlen ein Zeichen, ganz hinten in der Ecke Platz zu nehmen. Dann wandte er sich wieder dem Mann im Bett zu, setzte sein gewin nendstes Lächeln auf und sagte: „Sie machen eine schwere Zeit durch, nicht wahr?“ „Sie sagen es.“ „Wie lange sind Sie schon hier?“ Harrim zuckte die Achseln. „Ein oder zwei Wochen, schätze ich. Viel leicht auch schon länger. Ich weiß es nicht. Seit…“ Er verstummte. „Seit der Jonglor-Ausstellung?“ soufflierte Sheerin. „Seit dieser Fahrt, ja.“ „Das liegt etwas länger zurück als ein oder zwei Wochen“, sagte Shee rin. „Tatsächlich?“ Harrims Augen wurden glasig. Er wollte gar nicht hö ren, wie lange er schon in der Klinik war. Sheerin versuchte es auf einem anderen Weg: „Sie hätten sich be stimmt niemals träumen lassen, daß Sie sich eines Tages nach den Docks zurücksehnen würden?“ Grinsend bestätigte Harrim: „Das können Sie gleich noch mal sagen! Junge, was gäbe ich drum, wenn ich morgen wieder Kisten stemmen könnte.“ Er sah auf seine Hände hinab. Große, kräftige Hände mit brei ten, an den Spitzen abgeflachten Fingern, von denen einer infolge einer alten Fraktur verkrümmt war. „Das lange Liegen macht einen ganz schlapp. Bis ich wieder arbeiten kann, tauge ich nichts mehr.“ „Was hält Sie denn noch hier? Warum stehen Sie nicht einfach auf, ziehen sich an und verschwinden?“ Aus Kelaritans Ecke kam ein warnendes Hüsteln. Sheerin bedeutete dem Chefarzt zu schweigen. Harrim sah Sheerin überrascht an. „Einfach aufstehen und weggehen?“ „Warum nicht? Sie sind doch kein Gefangener.“ „Aber wenn ich das täte… wenn ich das täte…“ Der Hafenarbeiter verstummte. „Was wäre, wenn Sie das täten?“ fragte Sheerin. Harrim senkte den Kopf, runzelte die Stirn und sagte lange nichts. Mehrmals setzte er zum Sprechen an, blieb aber jedesmal wieder ste cken. Der Psychologe wartete geduldig. Endlich stieß Harrim mit gepreßter, heiserer, halb erstickter Stimme hervor: „Ich kann nicht da
hinaus. Wegen der… wegen… wegen der…“ Es kostete ihn viel Über windung. „Die Dunkelheit“, sagte er schließlich. „Die Dunkelheit“, wiederholte Sheerin. Das Wort stand wie ein fester Körper im Raum. Es schien Harrim zu beunruhigen, ihm sogar peinlich zu sein. Sheerin entsann sich, daß es in Harrims Kreisen unter anständigen Leuten kaum verwendet wurde. Für jemanden wie ihn war es vielleicht nicht direkt obszön, aber doch irgendwie blasphemisch. Niemand auf Kalgash dach te gerne an die Dunkelheit; aber je niedriger das Bildungsniveau, desto mehr empfand man die Vorstellung, die sechs freundlichen Sonnen könnten alle auf einmal ganz und gar vom Himmel verschwinden und von völliger Schwärze ersetzt werden, als Bedrohung. Diese Vorstellung war undenkbar – im wahrsten Sinne des Wortes. „Ja, die Dunkelheit“, wiederholte Harrim. „Ich habe einfach Angst, daß… daß ich wieder in die Dunkelheit gerate, wenn ich nach draußen gehe. Das ist es. Daß alles wieder dunkel wird.“ „Die Symptome haben sich in den letzten Wochen vollkommen umge kehrt“, sagte Kelaritan leise. „Anfangs hatten wir genau das andere Ex trem. Ohne Sedierung war er nicht dazu zu bewegen, ein Haus zu betre ten. Das heißt also, zuerst die vehemente Klaustrophobie, und dann, nach einiger Zeit, der Umschlag in die Klaustrophilie. Wir betrachten das als Zeichen der Besserung.“ „Mag sein“, sagte Sheerin. „Aber wenn ich Sie bitten dürfte…“ Er wandte sich wieder an Harrim und fragte behutsam: „Sie sind als einer der ersten in den Tunnel der Geheimnisse eingefahren, nicht wahr?“ „Gleich am ersten Tag.“ Leiser Stolz klang aus Harrims Stimme. „Die Stadt hatte eine Lotterie veranstaltet, und es gab hundert Freifahrten zu gewinnen. Verkauft wurden wahrscheinlich eine Million Lose, und das meine wurde als fünftes gezogen. Wir fuhren alle mit, ich, meine Frau, mein Sohn und meine beiden Töchter. Gleich am ersten Tag.“ „Möchten Sie mir erzählen, wie es war?“ „Nun“, sagte Harrim. „Es war…“ Er hielt inne. „Ich war nämlich noch nie im Dunkeln. Nicht einmal in einem dunklen Zimmer. So etwas hat mich einfach nicht interessiert. Als ich noch klein war, brannte im Schlafzimmer immer ein Gottesauge, und als ich heiratete und in mein eigenes Haus zog, habe ich das ganz selbstverständlich beibehalten. Meine Frau denkt genauso. Die Dunkelheit ist wider die Natur, es dürfte sie eigentlich gar nicht geben.“ „Und trotzdem haben Sie sich an der Lotterie beteiligt.“ „Tja, ausnahmsweise. Und es war schließlich so etwas wie ein Spiel, etwas ganz Besonderes. Die große Ausstellung zum fünfhundertjährigen Stadtjubiläum findet schließlich nicht alle Tage statt, oder? Alle Welt
hat Lose gekauft. Und ich dachte, dieser Tunnel ist sicher eine Ab wechslung, eine echte Sensation, warum hätte man ihn sonst gebaut? Und deshalb habe ich das Los gekauft. Und als ich gewonnen hatte, waren im Hafen alle neidisch, jeder hätte das Los gern gehabt, ein paar von den Männern wollten es mir sogar abkaufen – ‚Kommt nicht in Frage’, habe ich gesagt, ‚das ist nicht zu verkaufen, dieses Los gehört ganz allein mir und meiner Familie…’“ „Sie haben sich also auf die Fahrt durch den Tunnel gefreut?“ „Ja. Und wie!“ „Und als es dann so weit war? Als die Fahrt begann? Was war das für ein Gefühl?“ „Na ja…“ Harrim zögerte, fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, seine Augen blickten in unbestimmte Fernen. „Da waren so kleine Wägelchen, wissen Sie, die hatten nur ein Brett als Sitz und wa ren oben offen. Man ist eingestiegen, jeweils sechs Personen, nur wir fünf bekamen eins für uns allein, ohne fremde Leute, weil wir zusam mengehörten und der Wagen auch so fast voll wurde. Und dann spielte Musik, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Er fuhr sehr langsam, nicht wie ein Auto auf der Straße, er kroch im Schneckentempo dahin. Und dann war man im Tunnel. Und dann… dann…“ Wieder wartete Sheerin. „Weiter“, sagte er, als Harrim nach einer Minute immer noch keine Anstalten machte, mit seinem Bericht fortzufahren. „Erzählen Sie mir, wie es war, es interessiert mich wirklich.“ „Dann kam die Dunkelheit“, krächzte Harrim. Die Erinnerung daran ließ seine mächtigen Hände beben. „Sie senkte sich herab, als wenn plötzlich ein riesiger Hut auf einen fällt, verstehen Sie? Ringsum war alles schwarz.“ Nun hatte das Zittern seinen ganzen Leib erfaßt. „Ich hörte meinen Sohn Trinit lachen. Trinit ist ein vorlauter Bengel, und er hat bestimmt gedacht, die Dunkelheit ist etwas Unanständiges. Jeden falls hat er gelacht, und ich habe ihn angefahren, er soll den Mund hal ten, und dann hat eine von meinen Töchtern zu weinen angefangen, und ich habe sie getröstet und gesagt, es ist alles gut, sie braucht keine Angst zu haben, es dauert nur fünfzehn Minuten, und sie soll sich vorstellen, es ist ein Abenteuer, nichts, wovor man sich fürchten muß. Und dann… dann…“ Wieder stockte er. Diesmal drängte Sheerin ihn nicht. „Dann ist die Dunkelheit langsam auf mich zugekommen. Alles war dunkel… dunkel… Sie können sich das nicht vorstellen… niemand kann sich das vorstellen… so schwarz… alles schwarz… die Dunkel heit… die Dunkelheit…“ Plötzlich erschauerte Harrim und brach in ein hemmungsloses, krampfhaftes Schluchzen aus.
„Die Dunkelheit… O mein Gott, die Dunkelheit…!“ „Beruhigen Sie sich, Mann. Sie haben doch keinen Grund mehr, sich zu fürchten. Sehen Sie nur, das Sonnenlicht! Vier Sonnen sind es heute, Harrim. Ganz ruhig, Mann.“ „Überlassen Sie das mir“, sagte Kelaritan, der ans Bett geeilt war, als Harrim zu schluchzen begann. Eine Nadel blitzte in seiner Hand. Er stach sie in Harrims fleischigen Arm, ein kurzes Schwirren war zu hö ren, und sofort beruhigte sich der Kranke. Er ließ sich in sein Kissen sinken und lächelte starr. „Wir müssen ihn jetzt allein lassen“, sagte Kelaritan. „Aber ich habe noch kaum begonnen…“ „In den nächsten Stunden kriegen Sie kein vernünftiges Wort aus ihm heraus. Wir können unbesorgt zum Mittagessen gehen.“ „Ach ja, Mittagessen“, wiederholte Sheerin ohne große Begeisterung. Er hatte kaum Appetit, was ihn selbst überraschte. Das war ihm schon ewig nicht mehr passiert. „Und er ist einer Ihrer Robustesten?“ „Einer der Stabilsten, ja.“ „Wie sind dann die anderen?“ „Manche sind völlig in Katatonie verfallen. Andere müssen zumindest die Hälfte der Zeit sediert werden. Im ersten Stadium wollen sie, wie gesagt, nur im Freien sein. Verstehen Sie, als sie aus dem Tunnel he rauskamen, schien anfangs alles in Ordnung zu sein, nur hatten sie schlagartig eine Klaustrophobie entwickelt und weigerten sich, irgend ein Gebäude zu betreten – ganz gleich ob Palast oder Villa, Apparte menthaus oder Mietskaserne, Hütte, Schuppen, Anbau oder Zelt.“ Sheerin war zutiefst schockiert. Er hatte seine Doktorarbeit über dun kelheitbedingte Störungen geschrieben. Deshalb hatte man ihn auch hierhergebeten. Aber so extreme Reaktionen hatte er noch nicht erlebt. „Sie wollten überhaupt nicht mehr in ein Gebäude? Und wo haben sie geschlafen?“ „Im Freien.“ „Hat man versucht, sie mit Gewalt ins Haus zu bringen?“ „Oh, natürlich hat man das. Doch dann wurden sie hysterisch und drehten durch. Manche versuchten sogar, Selbstmord zu begehen – rannten mit dem Kopf gegen die nächstbeste Mauer und dergleichen. Und hatte man sie einmal drinnen, dann waren sie nur zu halten, wenn man sie in eine Zwangsjacke steckte und ihnen eine ordentliche Dosis eines starken Sedativs spritzte.“ Sheerin betrachtete den stattlichen Hafenarbeiter, der jetzt eingeschla fen war, und schüttelte den Kopf. „Die armen Teufel.“ „Das war das erste Stadium. Harrim befindet sich jetzt in der zweiten, der klaustrophilen Phase. Er hat die Anpassung an die neue Umgebung
vollzogen, und nun hat sich das Krankheitsbild ins Gegenteil verkehrt. Er weiß, daß er in der Klinik in Sicherheit ist; hier ist zu jeder Zeit alles hell erleuchtet. Aber er hat Angst, nach draußen zu gehen, obwohl er durch das Fenster die Sonnen scheinen sieht. Er glaubt, im Freien ist es dunkel.“ „Aber das ist doch absurd“, sagte Sheerin. „Im Freien ist es niemals dunkel.“ Er hatte den Satz noch nicht beendet, als ihm sein Schnitzer zu Be wußtsein kam. Natürlich mußte Kelaritan noch Salz in die Wunde streuen. „Uns allen ist das klar, Dr. Sheerin. Jedem normalen Sterblichen. Leider sind aber die Leute, die im Tunnel der Geheimnisse ein Trauma erlitten haben, nicht mehr normal.“ „Gewiß, das habe ich ja erlebt“, gab Sheerin kleinlaut zu. „Sie können heute noch einige Patienten besuchen“, fuhr Kelaritan fort. „Vielleicht lernen Sie dabei noch weitere Aspekte des Problems kennen. Und morgen zeigen wir Ihnen dann den Tunnel selbst. Wir ha ben ihn natürlich geschlossen, seit wir die Schwierigkeiten kennen, aber die Stadtväter würden nur zu gern einen Weg finden, um ihn wieder zu öffnen. Nach allem, was ich höre, waren die Kosten astronomisch. Aber vorher gehen wir zum Mittagessen, einverstanden, Doktor?“ „Ja, Mittagessen“, wiederholte Sheerin abermals, mit noch geringerer Begeisterung als zuvor.
Kapitel 4 Die große Kuppel des Observatoriums der Universität Saro, das ho heitsvoll über den bewaldeten Hängen des Observatoriumshügels thron te, funkelte hell im Schein der Nachmittagssonnen. Dovims kleiner, roter Ball war bereits hinter dem Horizont verschwunden, doch Onos stand immer noch hoch im Westen, und im Osten zogen Trey und Patru quer über den Himmel und zeichneten helle Lichtreflexe auf die groß flächige Fassade. Beenay 25, ein schlanker, gelenkiger junger Mann mit intelligenten, wachen Zügen, fegte wie ein Wirbelwind durch die kleine Wohnung unterhalb des Observatoriums von Saro City, die er mit seiner Gefährtin Raissta 717 teilte, und suchte seine Bücher und Unterlagen zusammen. Raissta, die sich behaglich auf der kleinen Couch mit den abgewetz ten, grünen Polstern räkelte, blickte stirnrunzelnd auf. „Wo willst du denn hin, Beenay?“ „Ins Observatorium.“ „Aber es ist noch so früh. Sonst gehst du doch nie vor OnosUntergang. Und bis dahin sind es noch Stunden.“
„Heute habe ich eine Verabredung, Raissta.“ Sie bedachte ihn mit einem glühenden Blick. Beide waren sie Dokto randen, Ende zwanzig, und unterrichteten an der Universität, er in Ast ronomie, sie in Biologie. Lebensgefährten waren sie erst seit sieben Monaten, und der Reiz der Neuheit war noch nicht verblaßt. Dennoch waren bereits Probleme aufgetaucht. Er arbeitete spät am Tag, wenn gewöhnlich nur noch eine oder zwei von den kleineren Sonnen am Himmel standen. Sie war bei vollem Tageslicht, im goldenen Schein der hellen Onos am frischesten und leistungsfähigsten. Neuerdings verbrachte er zunehmend mehr Zeit im Observatorium, was dazu führte, daß sie kaum noch zu gleicher Zeit wach waren. Bee nay wußte sehr wohl, wie belastend das für sie war. Auch ihn belastete es ja. Andererseits waren die Berechnungen der Umlaufbahn von Kal gash, mit denen er sich gerade beschäftigte, recht anspruchsvoll und führten ihn in immer komplexere Themenbereiche, die ihn zwar reizten, aber auch ängstigten. Wenn Raissta nur noch ein paar Wochen Geduld hätte… ein bis zwei Monate vielleicht… „Kannst du heute abend nicht ein bißchen länger bleiben?“ fragte sie. Dun sank der Mut. Raissta zog ihre ‚Komm-und-spiel-mit-mir’Nummer ab. Da fiel es schwer, hart zu bleiben, und eigentlich wollte er es ja auch gar nicht. Aber Yimot und Faro warteten sicher schon auf ihn. „Ich habe dir doch gesagt, ich habe eine…“ „…Verabredung, ja. Nun, ich auch. Mit dir.“ „Mit mir?“ „Du hast gestern erwähnt, du hättest heute nachmittag möglicherweise ein paar Stunden Zeit. Daraufhin habe ich meinerseits einiges freige schaufelt – genauer gesagt, ich war schon heute morgen im Labor, um jetzt…“ Das wurde ja immer schlimmer, dachte Beenay. Er erinnerte sich tat sächlich eine Bemerkung in dieser Richtung gemacht zu haben, ohne jedoch zu bedenken, daß er bereits mit den beiden Studenten verabredet war. Nun schmollte sie, lächelte aber gleichzeitig, ein Trick, den sie perfekt beherrschte. Am liebsten hätte Beenay Faro und Yimot einfach verges sen und wäre auf der Stelle zu ihr gegangen. Aber dann kam er viel leicht eine volle Stunde zu spät, und das wäre den beiden gegenüber nicht fair. Am Ende wurden es sogar zwei Stunden. Außerdem konnte er es kaum erwarten zu erfahren, ob ihre Ergebnisse mit den seinen übereinstimmten. Beides war gleich stark: Raisstas Reize auf der einen Seite, der Wunsch, in einer wichtigen, wissenschaftlichen Frage Gewißheit zu erhalten, auf der anderen. Dazu kam, daß er sich zwar verpflichtet fühl te, seine Verabredung einzuhalten, aber einigermaßen verwirrt einsehen
mußte, daß er auch mit Raissta so etwas wie eine Verabredung getroffen hatte – und das war keine Pflicht, sondern ein Vergnügen. „Paß auf“, sagte er, trat an die Couch und griff nach Raisstas Hand. „Ich kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, klar? Und als ich das gestern sagte, war mir entfallen, daß ich Faro und Yimot ins Observato rium bestellt hatte. Aber ich mache dir einen Vorschlag. Ich gehe jetzt, erledige die Sache mit den beiden, und dann verdrücke ich mich. In zwei Stunden bin ich wieder hier. Was meinst du dazu?“ „Solltest du nicht heute abend diese Asteroiden fotografieren?“ Nun schmollte sie wieder, aber diesmal ohne zu lächeln. „Verdammt! Gut, dann werde ich eben Thilanda bitten, die Kamera für mich zu bedienen, oder Hikkinan. Irgend jemand wird sich schon fin den. Bei Onos-Untergang bin ich wieder hier, Ehrenwort.“ „Ehrenwort?“ Er drückte ihr die Hand und grinste verschmitzt. „Und eins, das ich tatsächlich halten werde, darauf kannst du wetten. Alles klar? Du bist mir nicht böse?“ „Na ja…“ „Ich schiebe Faro und Yimot ab, so schnell ich kann.“ „Das möchte ich dir auch geraten haben.“ Als er wieder daranging, seine Papiere einzusammeln, fragte sie: „Was hast du denn eigentlich so schrecklich Wichtiges mit Faro und Yiniot zu besprechen?“ „Forschungsarbeit. Untersuchungen zur Schwerkraft.“ „Ich finde, das hört sich gar nicht so bedeutungsvoll an.“ „Hoffentlich stellt sich heraus, daß es wirklich nichts von Bedeutung ist“, gab Beenay zurück. „Aber genau das muß ich jetzt eben herausfin den.“ „Wenn ich nur wüßte, wovon du eigentlich redest.“ Er blickte auf die Uhr und holte tief Luft. Auf ein paar Minuten kam es jetzt wohl auch nicht mehr an. „Du weißt, daß ich mich in letzter Zeit mit der Umlaufbahn von Kalgash um Onos beschäftige, nicht wahr?“ „Natürlich.“ „Schön. Vor zwei Wochen habe ich eine Anomalie entdeckt. Meine Werte stimmten nicht mit der Gravitationstheorie überein. Natürlich habe ich nachgerechnet, kam aber beim zweiten Mal zum gleichen Er gebnis. Und beim dritten und vierten Mal ebenfalls. Immer dieselbe Anomalie, ganz gleich, welches Verfahren ich anwandte.“ „Ach, Beenay, das tut mir aber leid. Ich weiß doch, wie sehr du dich bemüht hast, und nun sind deine Ergebnisse falsch.“ „Und wenn sie nun richtig wären?“ „Aber du sagtest doch eben…“ „Ich kann im Moment noch nicht sagen, ob meine Berechnungen stimmen oder nicht. Ich finde nirgends einen Fehler, aber das kann ei
gentlich gar nicht sein. Ich habe hundertmal nachgerechnet, und jedes mal kommt das gleiche heraus, dabei habe ich alle möglichen Gegen proben eingebaut, um Eingabefehler auszuschließen. Aber dieses Er gebnis ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt nur noch eine Erklärung, daß ich nämlich von einer widersinnigen Voraussetzung ausgehe und von da an alles richtig mache. In diesem Fall käme ich immer wieder auf die gleiche, falsche Lösung, welche Kontrollmethoden ich auch anwende. Vielleicht übersehe ich einfach einen grundlegenden Fehler im Unterbau meiner Hypothesen. Wenn man zum Beispiel für die Planetenmasse einen falschen Wert einsetzt, bekommt man einen falschen Orbit, auch wenn alle anderen Operationen noch so exakt durchgeführt sind. Kannst du mir folgen?“ „Soweit schon.“ „Deshalb habe ich das Problem nun Faro und Yimot vorgelegt, ohne ihnen zu sagen, worum es geht, und sie gebeten, alles von Anfang an durchzurechnen. Die beiden sind recht helle, man kann von ihnen ma thematisch saubere Arbeit erwarten. Und wenn sie zu dem gleichen Ergebnis kommen wie ich, obwohl sie von einer Seite an die Sache he rangehen, die alle Fehler, die mir bei meiner eigenen Argumentations kette unterlaufen sein könnten, völlig ausschließt, dann muß ich mich damit abfinden, daß meine Werte eben doch richtig sind.“ „Aber sie können gar nicht richtig sein, Beenay. Sagtest du nicht eben, deine Erkenntnisse widersprechen dem Gravitationsgesetz?“ „Und wenn nun das Gravitationsgesetz falsch wäre, Raissta?“ „Was sagst du da?“ Sie starrte ihn an, fassungsloses Staunen im Blick. „Begreifst du nun?“ fragte er. „Siehst du ein, daß ich schnellstens wis sen muß, zu welchem Ergebnis Yimot und Faro gekommen sind?“ „Nein“, sagte sie. „Nein, ich begreife überhaupt nichts.“ „Wir können später darüber reden. Ehrenwort.“ „Beenay…!“ Das klang einigermaßen verzweifelt. „Ich muß gehen. Aber ich komme wieder, so schnell ich kann. Ehren wort, Raissta! Großes Ehrenwort!“
Kapitel 5 Siferra machte lediglich einen kurzen Abstecher ins Gerätezelt, das der Sturm zwar zur Seite gedrückt, aber einigermaßen heil gelassen hatte, und schnappte sich eine Spitzhacke und einen Pinsel. Dann kletterte sie den Hügel von Thombo hinauf. Dicht hinter ihr arbeitete sich Balik mühsam den Hang empor. Der junge Eilis 18 hatte inzwischen den Un terstand an der Klippe verlassen und sah ihnen vom Fuß des Hügels aus
staunend nach. Thuvvik und sein Trupp schauten aus einiger Entfernung zu und kratzten sich ratlos den Kopf. „Sieh dich vor“, rief Siferra, als Balik die Schramme erreichte, die der Sandsturm in den Hang gerissen hatte. „Ich lege eine Probegrabung.“ „Sollten wir nicht zuerst ein paar Fotos machen und…“ „Sieh dich vor, habe ich gesagt!“ fauchte sie und schwang die Hacke. Ein Erdrutsch ging auf seinen Kopf und seine Schultern nieder. Sand spuckend, sprang er zur Seite. „Entschuldige“, sagte sie, ohne sich umzudrehen, stieß die Hacke ein zweites Mal in den Boden und erweiterte die Furche. Sehr professionell war es freilich nicht, einfach so draufloszubuddeln. Ihr Mentor, der gro ße alte Shelbig, drehte sich wahrscheinlich im Grabe um. Und der Stammvater ihrer Wissenschaft, der hochverehrte Galdo 221, sah sicher von seinem Thron im Pantheon der Archäologen aus zu und schüttelte traurig das Haupt. Andererseits hatten Shelbik und Galdo ausreichend Gelegenheit ge habt, das Innere des Hügels von Thombo freizulegen, und sie hatten es nicht getan. Wenn sie nun etwas übereifrig war, etwas zu hastig ans Werk ging, nun, dafür mußten die alten Meister eben Verständnis auf bringen. Nun, da sich die befürchtete Katastrophe als unverhoffter Glücksfall herausgestellt und der drohende berufliche Ruin sich zum wissenschaftlichen Durchbruch gewandelt hatte, konnte Siferra nicht mehr an sich halten, sie mußte wissen, was dieser Hügel verbarg. Sofort. Auf der Stelle. „Sieh da…“ murmelte sie, während sie einen Haufen Schutt beiseite schob und sich mit dem Pinsel an die Arbeit machte. „Eine verkohlte Schicht, auf gleicher Höhe mit dem Fundament der Zyklopenstadt. Hier muß alles bis auf die Grundmauern niedergebrannt sein. Aber wenn man etwas tiefer geht, sieht man, daß die Stadt im Kreuzverbundstil direkt unterhalb der Feuerlinie liegt – die Erbauer der Zyklopenstadt haben ihre massiven Fundamente einfach auf die ältere Siedlung drauf ge setzt.“ „Siferra…“ begann Balik zaghaft. „Ich weiß, ich weiß. Aber ich will mir wenigstens einen ersten Über blick verschaffen. Nur einmal kurz sondieren, dann können wir wieder alles so machen, wie es sich gehört.“ Sie fühlte sich, als sei sie von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet. Ihre Augen brannten, so angestrengt starrte sie auf den Boden. „Sieh doch bitte mal her. Wir stehen ziemlich weit oben am Hang und haben bereits zwei Städte gefunden. Ich schätze, wenn wir noch etwas weitergraben, etwa dort, wo mit den Fundamenten der Kreuzverbundsiedlung zu rechnen ist, dann werden wir – ja! Ja! Da! Bei der Dunkelheit, sieh dir das an, Balik! Sieh doch nur!“
Triumphierend deutete sie mit der Spitze ihrer Hacke auf die betref fende Stelle. Über das Fundament eines Gebäudes im Kreuzverbundstil zog sich abermals eine schwarze Linie. Auch die zweitoberste Siedlung war ab gebrannt, genau wie die Zyklopenstadt. Und allem Anschein stand sie auf den Trümmern eines noch älteren Dorfes. Nun hatte auch Balik Feuer gefangen. Gemeinsam trugen sie auf hal ber Höhe zwischen dem umliegenden Flachland und dem eingestürzten Gipfel die oberste Erdschicht ab. Eilis erkundigte sich lauthals, was, auf Kalgash, sie eigentlich vorhätten, aber sie schenkten ihm keine Beach tung. Getrieben von Ungeduld und Neugier wühlten sie sich rasch durch die alte, windverpreßte Sanddecke, gingen drei Zoll weiter nach unten, sechs, acht… „Siehst du auch, was ich sehe?“ rief Siferra nach einer Weile. „Noch ein Dorf, ja. Aber was soll das für ein Baustil sein?“ Sie zuckte die Achseln. „Für mich ist er neu.“ „Für mich auch. Muß aus uralter Zeit stammen, soviel ist sicher.“ „Keine Frage. Aber bei weitem nicht der älteste Fund, den wir hier machen werden, glaube ich.“ Siferra spähte den Hang hinab. „Weißt du, was ich vermute, Balik? Hier liegen fünf Städte, sechs, sieben, vielleicht sogar acht ganz genau übereinander. Mit diesem Hügel hätten wir beide bis an unser Lebensende genug zu tun!“ Staunend sahen sie sich an. „Wir sollten jetzt wirklich hinuntersteigen und ein paar Aufnahmen machen“, sagte er leise. „Ja. Ja, das sollten wir wohl.“ Auf einmal war die Aufregung nahezu verflogen. Schluß mit dem wilden Drauflosschlagen, dachte sie. Es war höchste Zeit, sich wieder wie ein Wissenschaftler zu benehmen und diesen Hügel mit den Methoden der Archäologie zu erforschen, nicht wie ein Schatzsucher oder ein Journalist. Zuerst mochte Balik ihn von allen Seiten fotografieren. Dann würde man Erdproben von der Deckschicht nehmen, die ersten Markierungs stäbe einschlagen und all die übrigen Standardvorbereitungen treffen. Als nächstes ein Probestollen, ein kühner Schacht mitten durch den Hügel, damit wir eine Vorstellung bekommen, was er eigentlich enthält. Und danach, sagte sie sich, werden wir Schicht für Schicht abtragen. Wir werden den ganzen Hügel zerlegen, werden eine Lage nach der anderen wegkratzen und uns ansehen, was darunter ist, so lange, bis wir auf jungfräuliches Erdreich stoßen. Und wenn wir damit fertig sind, schwor sie sich, werden wir über die Frühgeschichte von Kalgash mehr wissen, als alle meine Vorgänger zusammen seit der Ankunft der ersten Archäologen in Beklimot in Erfahrung bringen konnten.
Kapitel 6 „Sie können den Tunnel der Geheimnisse nun besichtigen, alles ist be reit, Dr. Sheerin“, sagte Kelaritan. „In etwa einer Stunde holt unser Wa gen Sie vor Ihrem Hotel ab.“ „Schön“, sagte Sheerin. „Dann bis in einer Stunde.“ Der dicke Psychologe legte den Hörer auf und sah mit ernster Miene in den Spiegel gegenüber seinem Bett. Ein sorgenvolles Gesicht blickte ihm entgegen und erschien ihm so abgezehrt und verhärmt, daß er unwillkürlich seine Wangen befühlte. Ja, die vertrauten Wülste waren noch vorhanden. Abgemagert war er nur in seiner Phantasie, in Wirklichkeit hatte er kein Gramm verloren. Sheerin hatte schlecht geschlafen – im Nachhinein kam es ihm vor, als habe er kein Auge zugetan – und gestern hatte er im Essen nur herum gestochert. Und er hatte immer noch keinen Hunger. Der Gedanke an ein Frühstück konnte ihn überhaupt nicht reizen. Dabei war Appetitlo sigkeit sonst ein Fremdwort für ihn. Ob seine gedrückte Stimmung wohl auf die gestrigen Gespräche mit Kelaritans bedauernswerten Patienten zurückzuführen war? Oder hatte er einfach Angst davor, durch den Tunnel der Geheimnisse zu fahren? Gewiß, die Besuche bei den drei Patienten waren nicht leicht gewesen. Er hatte die klinische Arbeit schon lange aufgegeben, und in Gesell schaft der weltfremden Akademiker an der Universität Saro hatte er offenbar etwas von der berufsspezifischen Dickfelligkeit verloren, die alle Angehörigen des ärztlichen Standes brauchen, um sich im Umgang mit den Kranken nicht von Mitleid und Betroffenheit überwältigen zu lassen. Sheerin hatte überrascht feststellen müssen, wie empfindsam er geworden war, wie verletzbar. Der erste – Harrim, der Hafenarbeiter – wirkte wie ein harter Bursche, den nichts erschüttern konnte. Und doch hatten ihn die fünfzehn Minu ten im Tunnel der Geheimnisse so mitgenommen, daß er zu einem lal lenden Hysteriker wurde, sobald er nur versuchte, das Trauma in der Erinnerung noch einmal zu durchleben. Ein erschütternder Fall! Und dann die beiden anderen am Nachmittag – sie hatte es gar noch schlimmer erwischt. Gistin 190, die Lehrerin, eine bildhübsche, zierli che Frau mit intelligenten, schwarzen Augen – sie hatte nicht ein einzi ges Mal zu weinen aufgehört, und obwohl sie sich wenigstens zu An fang durchaus fähig zeigte, sich klar und deutlich auszudrücken, war ihr Bericht schon nach wenigen Sätzen zu einem unzusammenhängenden Gestammel entartet. Und Chimmilit 97, der beste Sportler seiner Schule, mit einem Körper wie aus dem Bilderbuch – Sheerin würde nicht so schnell vergessen, wie der Junge auf den Anblick des Nachmittagshim
mels reagiert hatte, als der Psychologe in seinem Zimmer die Rolläden hochzog. Onos loderte im Westen, was das Zeug hielt, und dieser große, gutaussehende Bursche brachte nur: „Die Dunkelheit… die Dunkelheit…“ über die Lippen, ehe er sich ab wandte und Anstalten machte, sich unter seinem Bett zu verkriechen! Die Dunkelheit… die Dunkelheit… Und nun, dachte Sheerin deprimiert, bin ich an der Reihe, durch den Tunnel der Geheimnisse zu fahren. Natürlich könnte er sich einfach weigern. In seinem Beratervertrag mit der Stadtverwaltung von Jonglor stand nichts, was ihn verpflichtet hätte, seinen Verstand aufs Spiel zu setzen. Er war durchaus fähig, ein fundiertes Urteil abzugeben, ohne die Gefahr am eigenen Leibe zu erproben. Doch gegen so viel Feigheit begehrte etwas in ihm auf. Zumindest sein Berufsethos verlangte, daß er sich in den Tunnel wagte. Er war schließ lich gekommen, um das Phänomen der Massenhysterie zu studieren und den Leuten hier nicht nur Hilfestellung bei der Behandlung der jetzigen Opfer zu geben, sondern ihnen auch Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sich solche Tragödien in Zukunft verhindern ließen. Wie sollte er erklä ren, was den Tunnelopfern widerfahren war, ohne die Ursache für die Geistesstörungen genauestens untersucht zu haben? Er mußte in den Tunnel. Sich davor zu drücken, wäre schlicht und einfach kriminell. Außerdem wollte er sich von niemandem, nicht einmal von den Frem den hier in Jonglor, der Feigheit bezichtigen lassen. Die Hänseleien aus seiner Kinderzeit waren ihm noch allzu gut in Erinnerung: „Dickerchen ist ein Feigling! Dickerchen ist ein Feigling!“ Und das alles nur, weil er nicht auf einen Baum hatte klettern wollen, dem sein schwerer, unge lenker Körper ganz offensichtlich nicht gewachsen war. Dabei war Dickerchen gar kein Feigling, das wußte Sheerin ganz ge nau. Er selbst war durchaus mit sich zufrieden, sah sich als vernünfti gen, ausgeglichenen Menschen. Er wollte nur vermeiden, daß andere Leute auf Grund seines wenig heldenhaften Äußeren die falschen Schlüsse zogen. Außerdem hatten weniger als zehn von hundert Besuchern, die in den Tunnel der Geheimnisse eingefahren waren, hinterher Anzeichen einer seelischen Störung erkennen lassen. Die Betroffenen mußten irgendwo eine ganz besonders schwache Stelle gehabt haben. Gerade wegen seiner Vernünftigkeit, wegen seiner Ausgeglichenheit hatte er selbst nichts zu befürchten, versicherte er sich. Nichts… Zu… Befürchten…
Immer wieder sagte er sich diese drei Worte vor, und schließlich hatte er seine Ruhe fast wiedergefunden. Trotzdem stieg er nicht ganz so beschwingt wie sonst die Treppe hin unter, um auf den Wagen der Klinik zu warten. Kelaritan war mitgekommen, Cubello und eine phantastisch aussehen de Frau namens Varitta 312. Sie wurde ihm als einer der Ingenieure vorgestellt, die den Tunnel geplant hatten. Sheerin begrüßte alle drei mit kräftigem Händedruck und einem breiten Lächeln, das, wie er hoffte, überzeugend wirkte. „Wunderbarer Tag für einen Ausflug in den Vergnügungspark“, be merkte er etwas großspurig. Kelaritan sah ihn verwundert an. „Freut mich, daß Sie es so sehen. Haben Sie gut geschlafen, Dr. Sheerin?“ „Sehr gut, danke. Den Umständen entsprechend, könnte man sagen. Immerhin war ich gestern bei diesen armen Opfern.“ „Sie sind also nicht sehr optimistisch, was ihre Genesungschancen an geht?“ fragte Cubello. „Ich wäre es gerne“, antwortete Sheerin zweideutig. Der Wagen glitt sanft die Straße entlang. „Die Fahrt zum Ausstellungsgelände dauert etwa zwanzig Minuten“, erklärte Kelaritan. „Die Ausstellung selbst ist sicher gut besucht – das ist sie jeden Tag –, aber wir haben einen großen Teil des Vergnügungs parks absperren lassen, damit wir ungestört sind. Sie wissen ja, daß der Tunnel der Geheimnisse geschlossen wurde, seit das volle Ausmaß der Probleme offenbar wurde.“ „Sie meinen die Todesfälle?“ „Natürlich war es nicht zu verantworten, die Fahrten danach noch fort zusetzen“, sagte Cubello. „Aber Sie sollten wissen, daß wir eine Schlie ßung schon viel früher in Erwägung gezogen hatten. Die Frage war ein fach, ob die Leute, die nach der Fahrt durch den Tunnel Störungen zeig ten, tatsächlich Schaden gelitten hatten oder sich nur von der allgemei nen Hysterie anstecken ließen.“ „Natürlich“, sagte Sheerin trocken. „Der Stadtrat brauchte schon ganz ausgezeichnete Gründe, um ein so lukratives Unternehmen zu schließen. Wenn etwa eine Reihe von Kunden vor Angst tot umgefallen wären, hätte das die Entscheidung vermutlich erleichtert.“ Die Atmosphäre im Wagen wurde zunehmend frostiger. Nach einer Weile sagte Kelaritan: „Der Tunnel war nicht nur lukrativ, sondern auch eine Attraktion, die sich kaum ein Besucher der Ausstel lung entgehen lassen wollte, Dr. Sheerin. Nach allem, was ich hörte, mußten Tag für Tag Tausende abgewiesen werden.“
„Obwohl sich bereits am allerersten Tag zeigte, daß einige Leute, Har rim und seine Familie etwa, als nervliche Wracks wieder herauska men?“ „Gerade deshalb, Doktor“, erklärte Cubello. „Wie bitte?“ „Verzeihen Sie, wenn ich den Anschein erwecke, als wollte ich Ihnen Konkurrenz machen“, säuselte der Anwalt. „Darf ich Sie trotzdem daran erinnern, daß Angst etwas durchaus Faszinierendes sein kann, solange man sie im Rahmen eines Spiels erlebt. Ein Baby kommt mit drei Ur ängsten zur Welt: der Angst vor lauten Geräuschen, der Angst zu fallen und der Angst vor Dunkelheit. Deshalb finden es viele Leute auch so komisch, jemanden anzuspringen und ‚Buh!’ zu rufen. Deshalb macht es so viel Spaß, Achterbahn zu fahren. Und deshalb war der Tunnel der Geheimnisse eine Sensation, die jeder persönlich erleben wollte. Die Leute kamen zitternd, atemlos, manchmal halbtot vor Angst wieder heraus, aber das hinderte niemanden, sich eine Eintrittskarte zu kaufen. Die Tatsache, daß von den vielen, die diese Fahrt unternahmen, einige wenige einen ziemlich schweren Schock davontrugen, steigerte die An ziehungskraft nur noch mehr.“ „Weil die meisten überzeugt waren, sie seien robust genug, um zu er tragen, was immer die anderen so erschüttert hatte, meinen Sie?“ „Genau, Doktor.“ „Und als einige Leute nach dieser Fahrt nicht nur zutiefst verstört wa ren, sondern tatsächlich vor Angst starben? Möglicherweise konnte sich die Ausstellungsleitung auch dann noch nicht durchringen, den Laden zu schließen, aber ich nehme doch an, daß der Strom der potentiellen Kunden stark zurückging, sobald sich die Nachricht von den Todesfäl len herumsprach.“ „O nein, ganz im Gegenteil“, erwiderte Cubello und lächelte trium phierend. „Das psychologische Schema blieb gleich, es funktionierte sogar noch besser. Schließlich handelte jeder, der ein schwaches Herz hatte und trotzdem in den Tunnel einfahren wollte, auf eigene Gefahr – war es ein Wunder, wenn dabei solche Dinge passierten? Im Stadtrat wurde die Sache aufs ausführlichste erörtert, und schließlich kam man überein, einen Arzt an die Kasse zu setzen und jeden Fahrgast vor dem Einsteigen untersuchen zu lassen. Daraufhin schnellten die Verkaufszahlen erst so richtig in die Höhe.“ „Wenn das so ist, warum hat man den Tunnel dann überhaupt ge schlossen?“ fragte Sheerin. „Nach allem, was Sie mir erzählen, wäre es doch ein Bombengeschäft, die Schlangen müßten inzwischen von Jonglor bis Khunabar reichen. Vorne drängen die Leute in Scharen hin ein, und hinten karrt man einen nicht abreißenden Strom von Leichen heraus.“
„Dr. Sheerin!“ „Nun, warum ist er denn nicht mehr geöffnet, wenn nicht einmal die Todesfälle irgend jemanden aufrütteln konnten?“ „Das Problem ist die Haftpflichtversicherung“, gestand Cubello. „Ach ja, natürlich.“ „Ihr kleiner Scherz war eben recht makaber, in Wirklichkeit gab es nämlich nur ganz wenige Todesfälle in großen Abständen – drei, glaube ich, insgesamt – vielleicht auch fünf. Die Familien der Verstorbenen erhielten eine angemessene Abfindung, und damit war der Fall erledigt. Was für uns letztlich zum Problem wurde, war nicht die Todesrate in folge traumatischen Schocks, sondern die Überlebensrate. Mit der Zeit zeigte sich, daß bei einigen der Betroffenen eine langwierige stationäre Behandlung erforderlich war – und das bedeutet laufende Kosten, eine ständige finanzielle Belastung für die Stadtverwaltung und die Versiche rer.“ „Verstehe“, knurrte Sheerin. „Wenn sie einfach tot umfallen, ist es ei ne einmalige Ausgabe. Man zahlt die Verwandten aus und damit Schluß. Liegen sie dagegen monate- oder gar jahrelang in einem städti schen Krankenhaus herum, dann wird der Preis womöglich doch zu hoch.“ „Etwas hart ausgedrückt vielleicht“, meinte Cubello. „Aber im wesent lichen sah sich der Stadtrat gezwungen, so zu kalkulieren.“ „Dr. Sheerin erscheint mir heute morgen etwas gereizt“, bemerkte Ke laritan, an den Anwalt gewandt. „Am Ende belastet ihn der Gedanke an die Fahrt durch den Tunnel.“ „Nicht im mindesten“, leugnete Sheerin prompt. „Sie sind sich natürlich darüber im klaren, daß eigentlich keine Not wendigkeit besteht…“ „O doch“, widersprach Sheerin. Im Wagen wurde es still. Sheerin betrachtete mit finsterer Miene die vorüberziehende Landschaft, die merkwürdig eckigen Bäume mit der schuppigen Rinde, die Büsche, die in eigenartig metallischen Farben blühten, die für Jonglor charakteristischen hohen, schmalen Häuser mit den spitzen Giebeln. So weit im Norden war er eigentlich noch nie ge wesen. Die ganze Provinz war ihm schon rein äußerlich zutiefst unsym pathisch – und erst diese Brut von zynischen Duckmäusern. Lieber heu te als morgen würde er nach Saro zurückkehren. Doch zuvor – der Tunnel der Geheimnisse… Man hatte die Jahrhundertausstellung von Jonglor in einem großen Park im Osten der Stadt aufgebaut. Eigentlich war sie eine kleine Stadt für sich und auf ihre Weise durchaus faszinierend, dachte Sheerin. Er sah Springbrunnen, Arkaden und leuchtend rote und türkisgrüne Türme aus schillerndem, steinhartem Plastik. In großen Messehallen stellte man
Kunstschätze aus allen Provinzen von Kalgash, Industrieprodukte und die neuesten Wunder der modernen Wissenschaft zur Schau. Wohin sein Blick auch schweifte, immer wieder blieb er an besonders ausgefallenen oder schönen Dingen hängen. Zu Tausenden, vielleicht zu Hunderttau senden schlenderten die Leute durch die glitzernden Prachtstraßen und Boulevards. Immer wieder hatte Sheerin gehört, die Jahrhundertausstellung von Jonglor sei ein wahres Weltwunder, und nun konnte er sich selbst davon überzeugen. Wer Gelegenheit fand, sie zu besuchen, durfte sich glück lich schätzen. Sie wurde zum Andenken an die Gründung der Stadt nur alle hundert Jahre einmal für die Dauer von drei Jahren abgehalten – und diese, Jonglors fünfte Ausstellung, war angeblich die bisher präch tigste. Als er nun durch den gepflegten Park fuhr, erfüllte ihn tatsächlich ein Gefühl freudiger Erregung, wie er es lange nicht mehr erlebt hatte, und er hoffte nur, in dieser Woche noch Zeit zu finden, um sich auf eigene Faust hier umzusehen. Doch seine Stimmung schlug unvermittelt um, als der Wagen am Rand der Ausstellung abschwenkte und vor einem Hintereingang zum Ver gnügungspark anhielt. Hier waren, wie Kelaritan gesagt hatte, große Teile abgesperrt; hinter den Seilen drängte sich eine finster blickende Menge, die merklich verärgert reagierte, als Sheerin von Cubela, Kelari tan und Varitta 312 zum Tunnel der Geheimnisse geführt wurde. Shee rin vernahm ein aufgebrachtes Murmeln, ein leises, unwirsches Brum mern, das ihn beunruhigte und sogar ein wenig einschüchterte. Der Anwalt hatte die Wahrheit gesagt, erkannte er plötzlich: die Leute waren wütend, weil der Tunnel geschlossen war. Sie beneiden uns, staunte er. Sie wissen, daß wir zum Tunnel gehen, und sie wollen auch mit. Trotz allem, was dort geschehen ist. „Wir können hier hinein“, sagte Varitta. Die Fassade der Tunnelmündung hatte die Form einer gewaltigen Py ramide, die sich an den Seiten auf unheimliche, schwindelerregende Weise zu verjüngen schien. Im Zentrum prangte ein riesiges, sechsecki ges Eingangstor mit auffallend scharlachrot-goldener Umrahmung. Man hatte es mit Querstangen verbarrikadiert. Varitta zog einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte eine kleine Tür links an der Fassade auf. Sie traten ein. Das Innere war viel schlichter gehalten. Sheerin sah eine Reihe von Metallgeländern, die sicher den Zweck hatten, die wartenden Massen zu kanalisieren. Dahinter befand sich eine Plattform, wie man sie auf jedem Bahnhof hätte finden können, mit einem Zug aus offenen Wägelchen. Und jenseits davon… Dunkelheit. „Würden Sie bitte hier unterschreiben, Doktor?“ sagte Cubello.
Sheerin starrte das Blatt an, das der Anwalt ihm in die Hand gedrückt hatte. Es war eng bedruckt, und die Worte verschwammen ihm vor den Augen. „Was ist das?“ „Eine Verzichtserklärung. Reine Formalität.“ „Aha. Natürlich.“ Lässig setzte Sheerin seinen Namen unter das Kleingedruckte, ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben. Du hast keine Angst, redete er sich ein. Du fürchtest dich nicht. Varitta 312 drückte ihm ein Kästchen in die Hand. „Ein Notschalter“, erklärte sie. „An sich dauert die Fahrt fünfzehn Minuten, aber sobald Sie in Erfahrung gebracht haben, was Sie wissen wollen – oder falls Sie sich nicht ganz wohl fühlen sollten – brauchen Sie nur auf dieses grüne Feld hier zu drücken, dann geht das Licht an. Der Wagen fährt rasch zum anderen Tunnelende weiter und kommt im Bogen hierher zurück.“ „Vielen Dank“, sagte Sheerin. „Ich glaube nicht, daß das nötig sein wird.“ „Aber Sie sollten ihn trotzdem mitnehmen. Für alle Fälle.“ „Ich habe vor, die Fahrt bis zum Ende auszukosten“, erklärte er, ins geheim amüsiert über seine eigene Angeberei. Man sollte aber auch nicht vermessen sein, ermahnte er sich gleich darauf. Er hatte nicht die Absicht, den Schalter zu benützen, aber ihn abzulehnen, wäre wohl auch nicht klug. Für alle Fälle. Er trat auf den Bahnsteig. Kelaritan und Cubellos Blicke waren allzu deutlich. Ebenso gut hätten sie ihre Gedanken laut aussprechen können. Der alte Fettwanst wird da drin zerfließen wie Butter an der Sonne. Nun, mochten sie denken, was sie wollten. Varitta war verschwunden. Gewiß wollte sie den Tunnelmechanismus einschalten. Ja, da war sie, rechts über ihm in der Schaltkabine, und nun gab sie ihm ein Zeichen, daß alles bereit sei. „Wenn Sie jetzt einsteigen würden, Doktor“, sagte Kelaritan. „Natürlich, selbstverständlich.“ Von hundert Besuchern sind weniger als zehn zu Schaden gekommen. Sehr wahrscheinlich waren die Betreffenden von Anfang an besonders anfällig für dunkelheitbedingte Störungen. Das bin ich nicht. Ich hin seelisch sehr stabil. Er bestieg den Wagen. Es gab sogar einen Sicherheitsgurt; Sheerin zog ihn um seine Taille, stellte ihn mit einiger Mühe auf seinen Leibesum fang ein. Langsam, ganz langsam rollte der Wagen an. Die Dunkelheit erwartete ihn. Weniger als zehn von hundert. Weniger als zehn von hundert.
Er wußte Bescheid über das Dunkelsyndrom. Sicher würde ihn dieses Wissen schützen. Auch wenn die ganze Menschheit instinktiv die Dun kelheit fürchtete, bedeutete das noch lange nicht, daß die Dunkelheit an sich schon schädlich war. Schädlich, das wußte Sheerin, war allein die eigene Reaktion auf das Erlöschen des Lichts. Die Lösung war folglich, Ruhe zu bewahren. Dunkelheit ist nichts anderes als eben das, eine Veränderung der äuße ren Umstände. Das Grauen davor liegt uns im Blut, weil wir auf einer Welt leben, wo Dunkelheit etwas Unnatürliches ist, wo es immer Licht gibt, das Licht unserer vielen Sonnen. Bis zu vier Sonnen konnten gleichzeitig scheinen; gewöhnlich standen drei am Himmel, und nie waren es weniger als zwei – und dabei hätte das Licht jeder einzelnen allein schon genügt, um die Dunkelheit in Schach zu halten. Die Dunkelheit… Die Dunkelheit… Die Dunkelheit! Sheerin befand sich im Tunnel. Hinter ihm erlosch der letzte Licht schimmer, er schaute ins Bodenlose. Vor ihm war nichts, nichts. Eine Grube. Ein Abgrund. Ein leerer Raum ohne jedes Licht. Und er stürzte kopfüber hinein. Der Schweiß trat ihm aus allen Poren. Seine Knie begannen zu zittern. Hinter seiner Stirn hämmerte es wild. Als er die Hand vor die Augen hob, konnte er sie nicht sehen. Abbrechen abbrechen abbrechen abbrechen… Nein. Kommt nicht in Frage! Er richtete sich auf, machte den Rücken steif, riß die Augen weit auf und starrte unverwandt in das Nichts, dem er entgegenstürzte. Immer weiter, immer tiefer. Urängste brodelten und zischten in den Tiefen seiner Seele, er unterdrückte sie, verdrängte sie mit aller Kraft. Außerhalb des Tunnels scheinen noch immer die Sonnen, sagte er sich. Die Dunkelheit geht vorüber. In vierzehn Minuten und dreißig Sekun den bin ich wieder draußen. Vierzehn Minuten und zwanzig Sekunden. Vierzehn Minuten und zehn Sekunden. Vierzehn Minuten… Kam er denn überhaupt voran? Es war nicht festzustellen. Am Ende bewegte er sich gar nicht. Der Wagen lief geräuschlos; und er hatte kei nerlei Bezugspunkte. Vielleicht bin ich steckengeblieben? überlegte er. Vielleicht sitze ich einfach hier im Dunkeln fest, weiß nicht, wo ich bin, was geschieht, wieviel Zeit vergeht? Fünfzehn Minuten, zwanzig, eine halbe Stunde? So lange, bis mein Verstand es nicht mehr ertragen kann, und dann…
Dann habe ich immer noch den Notschalter. Und wenn er nun nicht funktioniert? Wenn ich auf die Taste drücke, und die Lichter gehen nicht an? Ich könnte ihn wenigstens ausprobieren. Nur um zu sehen… Dickerchen ist ein Feigling! Dickerchen ist ein Feigling! Nein. Nein. Du rührst ihn nicht an. Wenn das Licht erst einmal brennt, wirst du es nicht mehr schaffen, es wieder auszumachen. Du darfst den Notschalter nicht betätigen, denn sonst wissen alle… sonst wissen al le… Dickerchen ist ein Feigling! Dickerchen ist ein Feigling! Zu seinem eigenen Erstaunen schleuderte er den Notschalter plötzlich in die Dunkelheit hinein. Mit einem kaum hörbaren Aufschlag fiel er zu Boden – irgendwo. Dann war wieder alles still. Seine Hand fühlte sich entsetzlich leer an. Die Dunkelheit… Die Dunkelheit… Es nahm kein Ende. Er stürzte in unendliche Tiefen. Stürzte immer weiter in die Nacht hinein, in die endlose Nacht, die alles verschlingen de Schwärze… Tief durchatmen. Ruhe bewahren. Und wenn du nun einen bleibenden Schaden davonträgst? Ruhe bewahren, ermahnte er sich. Es wird nichts geschehen. Schlimmstenfalls mußt du noch elf Minuten durchhalten, vielleicht auch nur sechs oder sieben. Draußen scheinen die Sonnen. Noch sechs oder sieben Minuten, und du wirst nie wieder im Dunkeln sein, und wenn du tausend Jahre alt werden solltest. Die Dunkelheit… O Gott, die Dunkelheit… Ruhig. Ruhig. Du bist psychisch ausgesprochen stabil, Sheerin. Du hast einen besonders klaren Verstand. Du warst bei Verstand, als du hier eingefahren bist, und du wirst auch noch bei Verstand sein, wenn du wieder hinauskommst. Tick. Tick. Tick. Jede Sekunde bringt dich näher zum Ausgang. Oder doch nicht? Vielleicht nimmt diese Fahrt nie ein Ende. Vielleicht muß ich für alle Ewigkeit hierbleiben Tick. Tick. Tick. Bewege ich mich überhaupt? Habe ich noch fünf Minuten vor mir oder fünf Sekunden, oder bin ich immer noch in der ersten Minute? Tick. Tick. Warum lassen sie mich nicht raus? Merken sie denn nicht, welche Qualen ich leide? Die wollen dich gar nicht rauslassen. Die lassen dich nie mehr raus. Die werden…
Ein stechender Schmerz zwischen den Augen. Das Hämmern runter der Stirn drohte ihm den Schädel zu sprengen. Was ist das? Licht! Kann das sein? Ja! Ja! Gott sei Dank. Ja, es ist Licht! Dank allen Göttern, die jemals existiert haben! Er hatte das Ende des Tunnels erreicht! Nun kehrte er zur Station zu rück! Es konnte nicht anders sein. Ja. Ja. Sein in wilder Panik jagendes Herz begann sich langsam zu beruhigen. Seine Augen stellten sich nach und nach wieder auf normale Gegebenheiten ein und nahmen Dinge von beglückender Vertrautheit wahr, die Stützen, die Plattform, das kleine Fenster der Schaltkabine… Cubello und Kelaritan, die ihm erwartungsvoll entgegensahen. Nun schämte er sich seiner Feigheit. Nimm dich zusammen, Sheerin! So schlimm war es doch gar nicht. Dir fehlt nichts. Immerhin kauerst du nicht auf dem Wagenboden und lutschst wimmernd am Daumen. Es war unheimlich, es war beängstigend, ja, aber es hat dich nicht zerstört – eigentlich war es durchaus zu bewältigen… „Auf jetzt! Geben Sie uns Ihre Hand, Doktor. Aufstehen… auf…“ Sie zogen ihn hoch und stützten ihn beim Aussteigen. Sheerin füllte seine Lungen in tiefen, durstigen Zügen. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, wischte den Schweiß ab. „Der kleine Notschalter“, murmelte er. „Ich muß ihn irgendwo verlo ren haben.“ „Wie geht es Ihnen, Doktor?“ fragte Kelaritan. „Wie war es?“ Sheerin schwankte. Der Chefarzt faßte ihn am Arm, wollte ihn stützen, aber Sheerin schob ihn entrüstet von sich. Man sollte nicht denken, die se paar Minuten im Tunnel hätten ihn untergekriegt. Freilich waren sie auch nicht spurlos an ihm vorübergegangen, das mußte er zugeben. Er konnte es nicht verbergen, so sehr er sich auch bemühte. Nicht einmal vor sich selbst. Keine Macht der Welt würde ihn jemals dazu bringen, eine zweite Fahrt durch diesen Tunnel zu unternehmen, das dämmerte ihm jetzt. „Doktor? Doktor?“ „Alles… in… Ordnung…“ stieß er heiser hervor. „Er sagt, es ist alles in Ordnung“, ertönte die Stimme des Anwalts. „Treten Sie zurück. Lassen Sie ihn los.“ „Seine Beine zittern“, sagte Kelaritan. „Er wird fallen.“ „Nein“, erklärte Sheerin. „Bestimmt nicht. Mir geht es ausgezeichnet, glauben Sie mir!“ Er taumelte, stolperte, fand sein Gleichgewicht wieder, taumelte aber mals. Der Schweiß strömte ihm aus allen Poren. Ein Blick über die
Schulter auf die Tunnelmündung jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Er wandte sich ab von dieser schwarzen Höhle und zog die Schultern so weit hoch, als wolle er sein Gesicht dazwischen verstecken. „Doktor?“ fragte Kelaritan unsicher. Was sollte das ganze Theater? Dieser verbissene Versuch, den Helden zu spielen, war nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern ganz einfach dumm. Mochten sie ihn doch für einen Feigling halten. Mochten sie denken, was sie wollten. Diese fünfzehn Minuten waren der schlimmste Alptraum seines Lebens gewesen. Die Wirkung hielt an und sickerte immer noch tiefer in seine Seele ein. „Es war – ein starkes Erlebnis“, sagte er. „Sehr stark. Zutiefst beunru higend.“ „Aber im Grunde fehlt Ihnen doch nichts?“ schaltete sich der Anwalt ungeduldig ein. „Ein klein wenig zittrig, gewiß. Wer wäre das nicht, nach einer Fahrt in die Dunkelheit? Aber im Grunde ist Ihnen nichts geschehen. Das hatten wir auch nicht anders erwartet. Nur in ganz, ganz seltenen Fällen kommt es zu irgendwelchen schädlichen…“ „Nein“, sagte Sheerin. Das Gesicht des Anwalts schwebte vor ihm wie der grinsende Kopf eines Wasserspeiers. Wie die Fratze eines Dämons. Er konnte den Anblick kaum ertragen. Aber mit einer gehörigen Portion Wahrheit würde er den Dämon schon austreiben. Besonders diploma tisch brauchte er dabei nicht vorzugehen, dachte Sheerin. Nicht bei ei nem Dämon. „Jeder, der durch diesen Tunnel fährt, begibt sich in große Gefahr. Dessen bin ich jetzt sicher. Selbst für die robusteste Psyche ist es eine schreckliche Zerreißprobe, und schwache Gemüter werden ein fach zermalmt. Wenn Sie den Tunnel wieder öffnen, haben Sie binnen sechs Monaten sämtliche Nervenkliniken in vier Provinzen bis unters Dach belegt.“ „Ganz im Gegenteil, Doktor…“ „Verschonen Sie mich mit Ihrem ‚ganz im Gegenteil’! Waren Sie im Tunnel, Cubello? Nein, das dachte ich mir. Aber ich. Sie bezahlen mich für meine Meinung als Psychologe; die können Sie sofort hören. Dieser Tunnel ist lebensgefährlich. Das Problem liegt ganz einfach in der Natur des Menschen. Die wenigsten von uns sind imstande, mit der Dunkel heit fertigzuwerden, und solange noch eine Sonne an unserem Himmel glüht, wird sich daran auch nichts ändern. Schließen Sie den Tunnel für immer, Cubello! Im Namen der Vernunft, Mann, schließen Sie das Ding! Machen Sie der Sache ein Ende!“
Kapitel 7 Beenay stellte seinen Motorrroller auf dem Fakultätsparkplatz gleich unter der Observatoriumskuppel ab und trabte im Dauerlauf den Fuß
weg zum Haupteingang des großen Gebäudes entlang. Als er die breite Steintreppe erreichte, hörte er überrascht, wie jemand von oben seinen Namen rief. „Beenay! Du bist also doch da.“ Der Astronom blickte auf. Im riesigen Portal des Observatoriums zeichnete sich eine hochgewachsene, kräftige, athletisch wirkende Ges talt ab, sein Freund Theremon 762 vom Saro City Chronicle. „Theremon? Wolltest du zu mir?“ „Ja. Aber man hat mir gesagt, du würdest erst in ein paar Stunden auf kreuzen. Und gerade, als ich gehen will, kommst du doch noch. Wenn das kein Zufall ist!“ Beenay eilte die letzten Stufen hinauf, und die beiden umarmten sich kurz. Sie kannten sich seit drei oder vier Jahren, seit Theremon ins Ob servatorium gekommen war, um mit einem Wissenschaftler, mit irgend einem Wissenschaftler ein Interview über das neueste Programm einer überspannten Sekte zu machen, die sich Apostel des Feuers nannte. Mit der Zeit waren sie dicke Freunde geworden, obwohl Theremon an die fünf Jahre älter war und aus einer Welt kam, wo es härter und weniger hochgeistig zuging. Beenay gefiel die Vorstellung, einen Freund zu haben, der überhaupt nichts mit Universitätspolitik zu tun hatte, und Theremon war froh, jemanden zu kennen, der nicht im mindesten an seinem doch recht beachtlichen Einfluß als Journalist interessiert war. „Ist etwas passiert?“ fragte Beenay. „Keineswegs. Ich brauche dich nur wieder einmal als ‘Stimme der Wissenschaft’. Mondior hat erneut eine seiner berühmten Predigten im Stil von ‚Tut Buße, tut Buße, der Tag des Gerichts ist nahe’ vom Stapel gelassen. Diesmal weiß er angeblich auf die Stunde genau, wann die Welt untergeht. Falls es dich interessiert, nächstes Jahr am neunzehnten Theptar ist es so weit.“ „Dieser Irre! Es ist die reine Papierverschwendung, auch nur ein Wort über ihn zu drucken. Warum beschäftigt ihr euch denn überhaupt noch mit den Aposteln?“ Theremon zuckte die Achseln. „Es läßt sich nicht leugnen, daß die Leute auf sie hören, Beenay, und zwar gar nicht wenige. Wenn also Mondior sagt, das Ende ist nahe, dann brauche ich jemanden wie dich, der aufsteht und versichert: ‚O nein, Brüder und Schwestern! Keine Sorge! Alles in bester Ordnung!‘ Oder etwas in dieser Richtung. Ich kann doch mit dir rechnen, Beenay?“ „Selbstverständlich.“ „Heute abend?“ „Heute abend? Mein Gott, Theremon, heute abend ist es wirklich schwierig. Wie lange, schätzt du, würde die Sache denn dauern?“ „Eine halbe Stunde? Fünfundvierzig Minuten?“
„Hör zu“, sagte Beenay. „Ich habe jetzt gleich eine wichtige Verabre dung – deshalb bin ich auch so früh schon hier. Und danach habe ich Raissta geschworen, auf der Stelle nach Hause zu flitzen und, nun ja, eine oder zwei Stunden mit ihr zu verbringen. Wir leben zur Zeit näm lich wie in zwei verschiedenen Welten und bekommen einander kaum noch zu Gesicht. Am Abend sollte ich dann wieder hier im Observatori um sein, um die Serie von Aufnahmen zu überwachen, die wir von…“ „Schon gut“, unterbrach Theremon. „Ich sehe ein, ich habe mir eine ungünstige Zeit ausgesucht. Gar kein Problem, Beenay. Ich muß meinen Artikel erst morgen nachmittag abliefern. Könnten wir uns vielleicht morgen früh unterhalten?“ „Morgen früh?“ wiederholte Beenay skeptisch. „Ich weiß, morgens ist mit dir nichts anzufangen. Aber wenn ich nun bei Onos-Aufgang wiederkäme, gleich nachdem du mit deiner Arbeit fertig bist? Nur ein ganz kurzes Interview, dann könntest du nach Hause gehen und dich schlafen legen.“ „Nun ja…“ „Ein Freundschaftsdienst, Beenay.“ Beenay warf dem Journalisten einen entnervten Blick zu. „Es geht doch nicht darum, daß ich nicht will. Ich fürchte nur, wenn ich die ganze Zeit durchgearbeitet habe, bin ich möglicherweise so erledigt, daß du keinen vernünftigen Satz mehr aus mir herausbringst.“ Theremon grinste. „Darüber mache ich mir keine Sorgen. Ich habe festgestellt, daß du verdammt schnell wieder auf Touren kommst, wenn es darum geht, irgendwelchen wissenschaftsfeindlichen Unsinn zu wi derlegen. Dann also morgen bei Onos-Aufgang? Oben in deinem Bü ro?“ „Schön.“ „Tausend Dank, Kumpel. Dafür hast du was gut bei mir.“ „Keine Ursache.“ Theremon hob zum Abschied grüßend den Arm und stieg langsam die Treppe hinunter. „Empfiehl mich deiner schönen Angebeteten“, rief er noch. „Dann also bis morgen früh.“ „Ja, bis morgen früh“, wiederholte Beenay. Wie merkwürdig das klang. Er unternahm nie etwas am Morgen – mit niemandem. Aber für Theremon würde er eine Ausnahme machen. Wo zu war man schließlich befreundet? Beenay drehte sich um und betrat das Observatorium. Wie immer herrschte andächtige Stille in den schwach erleuchteten heiligen Hallen der Wissenschaft, in denen er seit seinen ersten Studen tentagen fast seine ganze Zeit verbrachte. Doch er wußte, wie trügerisch diese Ruhe war. Wie in den profaneren Bauten der Alltagswelt, so tob ten auch in diesen hehren Mauern unablässig allerlei Konflikte, von den
erhabensten, philosophischen Disputationen bis hin zu kleinlichen Zwisten und Kabbeleien, Verleumdungen und Intrigen wegen irgend welcher Belanglosigkeiten. Insgesamt waren die Astronomen eben auch nicht tugendhafter als andere Menschen. Trotz alledem stellte das Observatorium für Beenay und die meisten anderen, die hier arbeiteten, eine Zuflucht dar – hier konnten sie die meisten Probleme der Welt hinter sich lassen und sich mehr oder weni ger in Frieden dem ewigen Ringen um die Antworten auf die großen Fragen des Universums widmen. Rasch ging er den langen Hauptgang entlang, und auch heute gelang es ihm nicht, das Klappern seiner Absätze auf dem Marmorfußboden zu dämpfen. Wie gewohnt warf er einen kurzen Blick in die links und rechts an den Wänden aufgestellten Vitrinen, die eine Reihe ehrwürdiger Relikte der Astronomiegeschichte enthielten. Hier standen die primitiven, fast ko misch anmutenden Teleskope, die Pioniere wie Chekktor und Stanta vor fünfhundert Jahren verwendet hatten. Hier lagen, rätselhafte Mahner an die Mysterien hinter den Wolken, die höckrigen, schwarzen Meteoriten klumpen, die im Lauf der Jahrhunderte vom Himmel gefallen waren. Hier konnte man auch die Erstausgaben der berühmten, astronomischen Himmelskarten und Lehrbücher sowie die vergilbten Manuskripte eini ger epochemachender theoretischer Werke der großen Denker bewun dern. Vor dem letzten dieser Manuskripte blieb Beenay kurz stehen. Im Ge gensatz zu den anderen wirkte es noch wie neu – schließlich war es auch erst eine Generation alt. Athor 77 hatte seine systematische Darstellung der klassischen Gravitationstheorie nicht lange vor Beenays Geburt vollendet. Beenay war kein besonders religiöser Mensch, aber diesen dünnen Papierstapel betrachtete er fast mit Ehrfurcht, und seine Gedan ken hatten in diesem Moment große Ähnlichkeit mit einem Gebet. Für ihn war die Gravitationstheorie eine der Säulen des Kosmos, viel leicht die tragendste Säule. Er konnte sich nicht vorstellen, was er tun würde, sollte diese Säule fallen. Und im Moment mußte er befürchten, sie könnte ins Wanken geraten. Am Ende des Gangs, hinter einer geschmackvollen Bronzetür, befand sich Dr. Athors Büro. Beenay schenkte der Tür nur einen kurzen Blick und eilte dann weiter, die Treppe hinauf. Der betagte, aber immer noch einschüchternde Direktor des Observatoriums war der letzte, der absolut letzte Mensch auf der Welt, dem er in diesem Moment begegnen wollte. Faro und Yimot warteten wie verabredet oben im Kartenraum. „Entschuldigen Sie die kleine Verspätung“, bat Beenay. „Heute nach mittag war alles nicht so einfach.“
Sie lächelten nervös und ein wenig dümmlich. Ein seltsames Paar, dachte er nicht zum ersten Mal. Beide kamen sie aus irgendeiner rück ständigen, ländlich geprägten Provinz – aus Sithin vielleicht oder Ga tamber. Faro 24 war klein und pummelig, mit schlaffen, fast trägen Be wegungen. Sein Gleichmut war im allgemeinen nicht zu erschüttern. Yimot 70, sein ungewöhnlich großer, dünner Freund, erinnerte an eine Trittleiter mit Armen, Beinen und einem Kopf, und man hätte eigentlich ein Teleskop gebraucht, um ihm ins Gesicht zu sehen, das hoch oben in der Stratosphäre schwebte. Yimot war so verkrampft und hektisch, wie sein Freund ausgeglichen und ruhig war. Dennoch waren die beiden von Anfang an unzertrennlich gewesen. Von all den jungen Doktoranden, die in der Hierarchie des Observatoriums eine Stufe unterhalb von Bee nay standen, waren sie bei weitem die fähigsten. „Wir warten noch nicht lange“, sagte Yimot sofort. „Höchstens ein paar Minuten, Dr. Beenay“, fügte Faro hinzu. „Der ‚Doktor’ ist etwas verfrüht, vielen Dank“, wehrte Beenay ab. „Ich muß erst noch das Abschlußkolloquium hinter mich bringen. Sind Sie mit den Berechnungen klargekommen?“ Yimot zuckte heftig mit seinen unerhört langen Beinen. „Es geht um Gravitation, nicht wahr?“ sagte er. Faro stieß ihn so kräftig mit dem Ellbogen in die Rippen, daß Beenay glaubte, die Knochen krachen zu hören. „Schon gut“, sagte er. „Yimot hat ganz recht.“ Er schenkte dem schlaksigen, jungen Mann ein müdes Lächeln. „Ich wollte, daß Sie das Ganze als rein abstrakte, mathematische Übung betrachten. Aber es überrascht mich nicht, daß Sie den Kontext erkannt haben. Ich hoffe nur, Sie sind erst dahintergekommen, nachdem Sie zu Ihrem Ergebnis gelangt waren?“ „Gewiß, Sir“, versicherten Yimot und Faro wie aus einem Munde. „Wir haben zuerst alle Berechnungen durchgeführt“, sagte Faro. „Dann haben wir sie noch einmal durchgesehen, und erst dabei wurde uns der Kontext klar“, fügte Yimot hinzu. „Ach ja“, seufzte Beenay. Die Burschen konnten einen ganz schön verunsichern. Sie waren noch so jung – eigentlich war er selbst nur sechs oder sieben Jahre älter, aber er hatte bereits einen Lehrauftrag, während sie noch Studenten waren, und das stand wie eine Mauer zwi schen ihnen. Aber trotz ihrer Jugend waren sie erstaunlich scharfe Den ker! Er war nicht unbedingt glücklich darüber, daß sie erraten hatten, in welchen Bezugsrahmen diese Berechnungen gehörten. Ganz im Gegen teil, es paßte ihm gar nicht. In ein paar Jahren würden sie hier in der Fakultät auf gleicher Stufe mit ihm stehen und vielleicht mit ihm um die angestrebte Professur konkurrieren, und das wäre dann nicht mehr so komisch. Aber er bemühte sich, daran nicht zu denken.
Er griff nach ihren Computerausdrucken. „Darf ich sehen?“ fragte er. Mit heftig zitternden Händen reichte ihm Yimot den Stapel. Beenay überflog die Zahlenreihen, zuerst ganz ruhig, dann in steigender Erre gung. Das ganze Jahr hatte er sich intensiv mit gewissen Auswirkungen der Gravitationstheorie befaßt, die sein Mentor Athor zu solcher Perfektion entwickelt hatte. Es war Athors großer Triumph gewesen und hatte sei nen phänomenalen Ruf begründet, daß es ihm gelungen war, die Um laufbahnen von Kalgash und allen seinen sechs Sonnen in Überein stimmung mit den Gesetzen der Schwerkraft zu errechnen. Beenay hatte mit Unterstützung eines modernen Computers einige As pekte von Kalgashs Orbit um Onos, seine Hauptsonne, berechnen wol len, als er zu seinem Entsetzen feststellte, daß seine Zahlen sich nicht ganz mit der Gravitationstheorie deckten. Der Theorie zufolge hätte Kalgash zu Beginn dieses Jahres in bezug auf Onos hier stehen müssen, während der Planet sich unbestreitbar dort befand. Die Abweichung war minimal – es ging um ein paar Dezimalstellen – aber in einem größeren Zusammenhang war das gar nicht so wenig. Die Gravitationstheorie war so exakt, daß die meisten Leute den Ausdruck Gravitationsgesetz bevorzugten. Die mathematischen Grundlagen galten als unanfechtbar. Doch in einer Theorie, die es unternimmt, die Bewe gungen einer Welt im Raum zu erklären, ist auch für kleine Unstimmig keiten kein Platz. Entweder ist sie vollständig, oder sie ist es nicht; ein Kompromiß war nicht zulässig. Und Beenay wußte genau, daß aus einer Differenz von ein paar Dezimalstellen bei einer kurzfristigen Prognose ein gewaltiger Graben würde, wenn man gewagtere Berechnungen an stellte. Was nützte eine Gravitationstheorie, die voraussagte, Kalgash würde in einem Jahrhundert diese oder jene Position am Himmel ein nehmen, wenn es dann in Wirklichkeit auf der anderen Seite von Onos stand? Beenay war seine Zahlen so oft durchgegangen, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Das Ergebnis war immer das gleiche. Wem sollte er nun glauben? Seinen Zahlen, oder Athors übermächtigem Gedankengebäude? Seinen eigenen, lächerlich unvollkommenen Vorstellungen von Astro nomie, oder den tiefen Einsichten des großen Athor in die Struktur des Universums? Er sah sich selbst oben auf der Kuppel des Observatoriums stehen und rufen. „Alle mal herhören! Athors Theorie ist falsch! Hier sind die Zah len, die sie widerlegen!“ Das schallende Gelächter, das er damit auslös te, würde ihn quer über den Kontinent fegen. Wer war er denn, daß er sich erdreistete, gegen den Titanen Athor aufzustehen? Wer in aller
Welt würde es für möglich halten, daß ein grüner Junge von einem Lehrbeauftragten das Gravitationsgesetz widerlegt hatte? Und doch… und doch… Seine Augen huschten über die Ausdrucke, die Yimot und Faro erstellt hatten. Die Berechnungen auf den ersten zwei Seiten waren ihm nicht vertraut; er hatte die Angaben für die beiden Studenten so aufbereitet, daß die Beziehungen, aus denen sich die Zahlen ableiteten, nicht auf Anhieb erkennbar waren, und offenbar waren sie auf eine Weise an das Problem herangegangen, die jedem Astronomen für die Berechnung einer Planetenbahn als recht ausgefallen erschienen wäre. Doch genau das hatte Beenay gewollt. Die konventionellen Methoden hatten ihn nur zu katastrophalen Schlußfolgerungen geführt; aber er selbst verfügte über so viele Informationen, daß er nur mit den gebräuchlichen Verfah ren arbeiten konnte. Mit diesem Handikap waren Faro und Yimot nicht belastet gewesen. Doch je weiter Beenay ihre Beweisführung verfolgte, desto größer wurde sein Unbehagen, denn bald war nicht mehr zu übersehen, daß die Zahlen sich annäherten. Ab der dritten Seite war der Anschluß an seine eigenen Resultate, die er inzwischen auswendig kannte, vollzogen. Und von da an lief alles in geordneten Bahnen Schritt für Schritt auf das gleiche, bestürzende, vernichtende, unvorstellbare, vollkommen unmögliche Endergebnis zu. Beenay blickte die beiden Studenten entgeistert an. „Daß Sie sich irgendwo vertan haben könnten, muß ich wohl aus schließen, oder? Zum Beispiel hier, diese Folge von Integralen – das sieht ziemlich knifflig aus…“ „Sir!“ rief Vimot, bis ins Mark getroffen. Er wurde knallrot im Ge sicht, und seine Arme fuhrwerkten herum, als hätten sie sich selbständig gemacht. Faro nahm die Unterstellung ruhiger auf. „Die Zahlen sind korrekt, Sir. Wie man auch rechnet, es deckt sich immer.“ „Sieht so aus“, bestätigte Beenay tonlos. Er gab sich alle Mühe, seine Bestürzung zu verbergen. Aber seine Hände zitterten so stark, daß ihm die Ausdrucke zu entgleiten drohten. Als er sie vor sich auf den Tisch legen wollte, zuckte sein Handgelenk auf eine Art, die sehr an Yimot erinnerte, und die Blätter flatterten zu Boden. Faro kniete nieder und sammelte sie auf. Dabei sah er Beenay besorgt an. „Sir, falls wir Sie irgendwie verärgert haben sollten…“ „Nein, nein, keineswegs. Ich habe schlecht geschlafen, das ist alles. Sie haben zweifellos eine ausgezeichnete Arbeit abgeliefert. Ich bin stolz auf Sie. Eine solche Fragestellung, die keinerlei Entsprechung in der realen Welt hat, ja sogar allen wissenschaftlichen Erkenntnissen der
realen Welt glatt widerspricht, so systematisch bis zu der Schlußfolge rung durchzuziehen, die sich aus den vorgegebenen Werten zwangsläu fig ergibt, ohne sich davon beirren zu lassen, daß die ursprüngliche Vor aussetzung einfach absurd ist – nun, das ist eine großartige Leistung, eine bewundernswerte Demonstration Ihrer logischen Fähigkeiten, ein raffiniertes Gedankenspiel…“ Er sah, wie sie einen schnellen Blick wechselten, und bezweifelte, daß sie sich auch nur einen Moment lang täuschen ließen. „Und nun“, fuhr er fort, „müssen Sie mich entschuldigen – ich habe noch eine Besprechung.“ Beenay rollte die verhängnisvollen Blätter fest zusammen, klemmte sich die Röhre unter den Arm, stürmte an den beiden vorbei aus der Tür und hastete fast im Lauf schritt den Gang entlang auf sein winziges Bü ro zu wie auf einen sicheren Hafen. Mein Gott, dachte er. Mein Gott, mein Gott, mein Gott, was habe ich getan? Und wie soll es jetzt weitergehen? Er vergrub den Kopf in den Händen und hoffte, daß das wilde Pochen irgendwann aufhören würde. Doch es schien gar nicht daran zu denken. Nach einer Weile richtete er sich auf und drückte den Knopf des Kom munikators auf seinem Schreibtisch. „Den Saro City Chronicle“, wies er das Gerät an. „Theremon 762.“ Der Kommunikator gab eine aufreizende Serie von Knack- und Zisch lauten von sich. Dann ertönte plötzlich Theremons tiefe Stimme: „Dokumentation, Theremon 762.“ „Beenay.“ „Wie bitte? Ich kann Sie nicht verstehen!“ Beenay begriff, daß er nur ein heiseres Krächzen hervorgebracht hatte. „Ich sagte, hier spricht Beenay! Ich… ich möchte den Termin für unsere Verabredung ändern.“ „Ändern? Hör mal, Junge, ich kenne ja deine Ansicht, was den frühen Morgen betrifft und stimme dir auch voll und ganz zu. Aber ich muß unbedingt bis spätestens morgen mittag mit dir sprechen, sonst habe ich nämlich keinen Artikel, den ich abliefern könnte. Ich werde mich revan chieren, so gut ich kann, aber…“ „Du hast mich mißverstanden. Ich möchte früher mit dir sprechen, nicht später, Theremon.“ „Was?“ „Heute abend. Sagen wir, halb zehn. Oder zehn Uhr, wenn du das nicht schaffst.“ „Ich dachte, du müßtest im Observatorium sein, um Aufnahmen zu machen?“ „Zum Teufel mit den Aufnahmen, Mann. Ich muß mit dir reden.“ „Du mußt? Beenay, was ist passiert? Hat es mit Raissta zu tun?“
„Mit Raissta hat es nicht das geringste zu tun. Halb zehn also? In den Sechs Sonnen?“ „Um halb zehn in den Sechs Sonnen“, bestätigte Theremon. „Abge macht.“ Beenay unterbrach die Verbindung. Lange Zeit saß er da und starrte mit düsterem Kopfschütteln auf die Papierrolle nieder. Ein klein wenig ruhiger war er geworden, aber nicht viel. Die Last würde leichter wer den, wenn er sich Theremon erst offenbart hatte. Er hatte volles Ver trauen zu Theremon, obwohl er natürlich wußte, daß Vertrauenswürdig keit für einen Reporter nicht unbedingt eine typische Eigenschaft war. Aber Theremon war in erster Linie sein Freund und erst danach Journa list. Und er hatte Beenays Vertrauen bisher noch kein einziges Mal ent täuscht. Beenay hatte freilich immer noch keine Ahnung, wie er sich nun ver halten sollte. Vielleicht hatte Theremon eine Idee. Vielleicht. Er verließ das Observatorium über die Hintertreppe, schlich sich wie ein Dieb die Feuerleiter hinab, weil er es nicht riskieren wollte, am Haupteingang Athor über den Weg zu laufen. Er hätte es nicht ertragen, Athor in diesem Moment von Angesicht zu Angesicht, von Mann zu Mann gegenübertreten zu müssen. Die Heimfahrt mit dem Motorroller wurde zu einem Alptraum. Jeden Moment fürchtete er, die Gesetze der Schwerkraft könnten aufhören zu bestehen, und er würde abheben und in den Himmel entschweben. Doch endlich erreichte er die kleine Wohnung, die er mit Raissta 717 teilte. Sie erschrak, als sie ihn sah. „Beenay!“ rief sie. „Du bist weiß wie ein…“ „Gespenst, ich weiß.“ Er zog sie in die Arme und drückte sie an sich. „Halt mich fest“, bat er. „Halt mich ganz fest.“ „Was ist? Was ist geschehen?“ „Das erkläre ich dir später“, sagte er. „Halt mich nur fest.“
Kapitel 8 Theremon war schon kurz nach neun im Sechs-Sonnen-Club. Es konn te sicher nicht schaden, wenn er seinem Gehirn mit ein paar Drinks ein heizte, bis Beenay kam. Der Astronom hatte sich schrecklich angehört – als müsse er sich mit aller Kraft beherrschen, um nicht hysterisch zu werden. Was in der Stille und Abgeschiedenheit des Observatoriums Schreckliches geschehen sein könnte, um ihn in so kurzer Zeit an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen, konnte Theremon sich zwar nicht vorstellen, aber Beenay steckte ganz offensichtlich in großen Schwierigkeiten, und Theremon würde seinen ganzen Verstand mobili sieren müssen, um ihm zu helfen.
„Ich nehme einen Tano Special“, erklärte er dem Kellner. „Nein, war ten Sie – lieber einen doppelten. Einen Tano Sitha, ja?“ „Ein doppeltes weißes Licht“, sagte der Kellner. „Kommt sofort.“ Es war ein milder Abend. Theremon, der hier gut bekannt war und als Stammgast behandelt wurde, hatte auf der Terrasse seinen gewohnten Schönwettertisch mit Blick auf die Stadt bekommen. Die Innenstadt funkelte im Lichterglanz. Onos war vor einer Stunde untergegangen, nur Trey und Patru leuchteten hell am östlichen Himmel und warfen auf ihrem Weg zum Horizont harte Schatten über die Welt. Theremon betrachtete sie nachdenklich und überlegte dabei, welche Sonnen wohl morgen scheinen würden. Schließlich bot der Himmel jeden Tag ein neues, prachtvolles Schauspiel. Mit Onos war allemal zu rechnen – Onos war an jedem Tag des Jahres zumindest für einige Stun den zu sehen, soviel wußte sogar er – aber sonst? Ein Vier-Sonnen-Tag vielleicht, mit Dovim, Tano und Sitha? Er wußte es nicht. Womöglich Tano und Sitha allein, und Onos nur für ein paar Stunden am Mittag. Dann wäre der Tag eher trübe. Da fiel ihm ein, daß für kurze OnosAufgänge nicht die richtige Jahreszeit war. Also würde es höchstwahr scheinlich ein Drei-Sonnen-Tag werden, außer Onos und Dovim blieben unter sich. Es war schwer, das alles im Kopf zu behalten… Er könnte ja einen Almanach verlangen, wenn es ihn wirklich interes sierte. Aber so wichtig war es nicht. Gewisse Leute waren über den Sonnenstand des nächsten Tages offenbar immer auf dem laufenden – Beenay gehörte natürlich dazu –, aber Theremon nahm das alles nicht so tierisch ernst. Solange morgen überhaupt eine Sonne da oben stand, kümmerte es ihn nicht weiter, welche es war. Und eine war mit Sicher heit immer da – zwei, drei, manchmal auch vier. Ganz selten sogar fünf. Sein Drink wurde gebracht. Er nahm einen tiefen Schluck und seufzte genießerisch. Ein Tano Special war doch etwas Köstliches! Hochpro zentiger weißer Rum von den Velkareen-Inseln, gemischt mit einem Schuß des noch stärkeren, herb schmeckenden Klaren von der Küste von Bagilar, dazu ein paar Tropfen Sgarrino-Saft, um die Schärfe zu mildern – wunderbar! Theremon trank nicht übermäßig, nicht so viel jedenfalls, wie es Journalisten immer unterstellt wurde, dennoch war es für ihn kein guter Tag, wenn er in den stillen Dämmerstunden nach Onos-Untergang keine Zeit für ein bis zwei Tano Special fand. „Das scheint dir ja zu munden, Theremon“, sagte eine vertraute Stim me hinter ihm. „Beenay! Du kommst aber früh!“ „Nicht mehr als zehn Minuten vor der Zeit. Was trinkst du da?“ „Das Übliche. Einen Tano Special.“ „Gut. Ich glaube, da schließe ich mich an.“
„Du?“ Theremon musterte seinen Freund erstaunt. Seines Wissens war Fruchtsaft viel eher Beenays Kragenweite. Er konnte sich nicht erinnern, daß der Astronom jemals zu härteren Sachen gegriffen hätte. Beenay sah auch anders aus als sonst – hager, müde, bedrückt. Seine Augen glänzten wie im Fieber. „Kellner!“ rief Theremon. Erschrocken beobachtete er, wie sein Freund den Drink hinunterstürz te. Nach dem ersten Schluck keuchte Beenay auf wie unter einem uner warteten Hieb, doch dann nahm er hastig einen zweiten und einen drit ten. „Laß dir Zeit“, mahnte Theremon. „Sonst dreht sich dir in fünf Minu ten alles vor den Augen.“ „Schwindlig ist mir jetzt schon.“ „Hattest du etwa schon einen Drink?“ „Nein, getrunken habe ich nichts“, antwortete Beenay. „Aber ich habe einen Schock hinter mir. Eine böse Überraschung.“ Er starrte haßerfüllt auf die Lichter der Stadt. Sein Glas hatte er abgestellt, doch im nächsten Moment griff er, fast ohne es zu merken, schon wieder danach und leer te es bis zur Neige. „Mit dem nächsten warte ich besser noch ein wenig, meinst du nicht auch, Theremon?“ „Es wäre jedenfalls sehr zu empfehlen.“ Theremon streckte die Hand aus und berührte leicht den Arm des Astronomen. „Was ist los, Junge? Sprich dich aus.“ „Es – ist schwer zu erklären.“ „Nun komm schon! Ich weiß doch, wie es zugeht in der Welt. Du und Raissta…“ „Nein! Ich habe dir doch schon gesagt, sie hat damit nichts zu tun. Gar nichts.“ „Schön. Ich glaube dir ja.“ „Vielleicht sollte ich meinen zweiten Drink doch jetzt schon bestel len“, überlegte der Astronom. „Laß dir noch ein bißchen Zeit. Na los, Beenay! Was ist passiert?“ Beenay seufzte. „Theremon, du kennst doch die Gravitationstheorie?“ „Natürlich. Nicht etwa, daß ich sie dir erklären könnte – es gibt auf Kalgash höchstens ein Dutzend Leute, die sie wirklich verstehen, so ist es doch? –, aber ich kann dir wenigstens mehr oder weniger sagen, wor um es geht.“ „Du glaubst also auch an das dumme Geschwätz“, sagte Beenay und lachte heiser. „Über die Gravitationstheorie, meine ich, die angeblich so kompliziert ist, daß nur ein Dutzend Leute sie mathematisch bewälti gen.“ „Das habe ich immer gehört.“
„Was du immer gehört hast, ist das Gefasel der Ungebildeten“, sagte Beenay. „Ich könnte dir die mathematische Grundaussage in einem ein zigen Satz zusammenfassen, den du mit ziemlicher Sicherheit verstehen würdest.“ „Glaubst du wirklich?“ „Keine Frage. Hör zu, Theremon, das Gravitationsgesetz – ich meine, die Gravitationstheorie – stellt fest, daß zwischen allen Körpern im Uni versum eine verbindende Kraft wirksam ist, und daß sich die Größe dieser Kraft zwischen zwei gegebenen Körpern proportional zum Quo tienten aus dem Produkt ihrer Massen und dem Quadrat der Entfernung zwischen ihnen verhält.“ „Mehr ist nicht dran?“ „Das reicht! Man hat vierhundert Jahre gebraucht, um sie zu entwi ckeln.“ „Warum so lange? So wie du es erklärst, klingt es doch ganz einfach.“ „Weil ein einziger Geistesblitz eben nicht genügt, um große Naturge setze zu entdecken, auch wenn ihr Zeitungsleute euch das immer so vorstellt. Normalerweise arbeiten an einer solchen Theorie sämtliche Wissenschaftler einer ganzen Welt über einen Zeitraum von Jahrhunder ten. Seit Genovi 41 entdeckte, daß Kalgash sich um Onos dreht und nicht umgekehrt – und das war vor etwa vierhundert Jahren – beschäfti gen sich die Astronomen mit der Frage, warum alle sechs Sonnen so und nicht anders am Himmel auftauchen und wieder verschwinden. Ihre komplizierten Bewegungsabläufe wurden aufgezeichnet, analysiert und entwirrt. Eine Theorie nach der anderen wurde aufgestellt, überprüft, nochmals überprüft, modifiziert, verworfen, wiederaufgenommen und in eine neue umgewandelt. Eine Heidenarbeit.“ Theremon nickte nachdenklich, trank sein Glas leer und bestellte mit einer Handbewegung zwei neue Drinks. Beenay schien ruhiger gewor den zu sein, seit sich das Gespräch um naturwissenschaftliche Fragen drehte. „Vor etwa dreißig Jahren“, fuhr der Astronom fort, „hat Athor 77 dem Ganzen den letzten Schliff gegeben, indem er bewies, daß die Umlauf bahnen der sechs Sonnen mit Hilfe der Gravitationstheorie exakt erklärt werden können. Das war eine ungeheure Leistung, ein Meisterwerk der reinen Logik, wie es vor ihm kaum jemand vollbracht hatte.“ „Ich weiß, wie sehr du den Mann verehrst“, sagte Theremon. „Aber was hat das alles mit…“ „Dazu komme ich gleich.“ Beenay stand auf, nahm sein Glas und trat damit an den Rand der Terrasse. Eine Weile stand er schweigend da und betrachtete die fernen Sonnen Trey und Patru. Wieder schien ihn die Erregung zu überwältigen, aber Theremon äußerte sich nicht dazu. End lich nahm der Astronom einen tiefen Schluck und sagte, ohne sich um
zudrehen: „Das Problem ist folgendes. Vor ein paar Monaten habe ich angefangen, mit Hilfe des großen neuen Computers der Universität Kal gashs Bahn um Onos neu zu berechnen. Ich gab dem Computer Kal gashs tatsächlichen, auf Grund von Beobachtungen im Laufe der ver gangenen sechs Wochen ermittelten Orbit ein und verlangte von ihm eine Prognose der Umlaufbahn für den Rest des Jahres. Ich erwartete keine Überraschungen. Wahrscheinlich suchte ich in erster Linie eine Ausrede, um mit dem Computer spielen zu können. Natürlich verwendete ich bei der Aufstellung meiner Berechnungen die Gravitationsgesetze.“ Er drehte sich unvermittelt um. Tiefe Verzweiflung stand in seinen Zügen. „Theremon, es kam nicht das Richtige „Ich verstehe heraus!“ nicht.“ „Die Umlaufbahn, die der Computer errechnete, deckte sich nicht mit dem erwarteten hypothetischen Orbit. Ich will damit nicht etwa sagen, ich hätte nur ein reines Eins-und-eins-System Kalgash-Onos zugrunde gelegt. Ich habe vielmehr sämtliche durch die anderen Sonnen bedingten Störungen berücksichtigt. Dennoch unterschied sich das Ergebnis – laut Computer die reale Umlaufbahn von Kalgash – ganz gravierend von dem Orbit, der sich auf Grund von Athors Gravitationstheorie ergibt.“ „Aber du sagtest doch, du hättest Athors Gravitationsgesetze bei der Aufstellung deiner Gleichungen verwendet?“ Theremon verstand gar nichts mehr. „Ja.“ „Aber wie…“ Plötzlich hellte sich das Gesicht des Reporters auf. „Du meine Güte, Mann! Das ist ja ein Ding! Soll das etwa heißen, daß der brandneue Supercomputer der Universität Saro, der weiß der Himmel wie viele Millionen gekostet hat, nicht zuverlässig ist? Daß wir es mit einer Verschwendung von Steuergeldern in skandalösem Ausmaß zu tun haben? Daß…“ „Mit dem Computer ist alles in Ordnung, Theremon, glaub mir.“ „Bist du da ganz sicher?“ „Absolut sicher.“ „Aber… was…?“ „Es hätte sein können, daß meine Eingaben fehlerhaft waren. Die Ma schine ist phantastisch, aber auch sie kam aus falschen Zahlen keine richtigen Lösungen ableiten.“ „Deshalb bist du also so außer dir, Beenay! Hör zu, Junge, jeder Mensch macht hin und wieder einen Fehler. Sei nicht gar so streng ge gen dich selbst. Du…“ „Zuallererst mußte ich mich vergewissern, daß ich den Computer mit den richtigen Zahlen gefüttert und ihm außerdem die richtigen Hypothe sen zur Auswertung dieser Zahlen gegeben hatte.“ Beenay umklammer te sein Glas so krampfhaft, daß seine Hand zitterte. Theremon bemerkte,
daß es bereits wieder leer war. „Wie du schon sagst, jeder Mensch macht hin und wieder einen Fehler. Also habe ich zwei Asse unter den jüngeren Studenten zugezogen und sie an das Problem gesetzt. Heute haben sie mir die Ergebnisse gebracht. Das war die wichtige Bespre chung, zu der ich unterwegs war, als ich sagte, ich hätte keine Zeit für dich. Theremon, sie haben meine Ergebnisse bestätigt. Sie haben die gleichen Abweichungen in der Umlaufbahn ermittelt wie ich.“ „Aber wenn der Computer recht hatte, dann… dann…“ Theremon schüttelte den Kopf. „Was dann? Willst du etwa behaupten, daß die Gravitationstheorie nicht stimmt?“ „Ja.“ Beenay hatte das Wort mit letzter Kraft hervorgestoßen. Nun wirkte er wie betäubt, benommen, am Boden zerstört. Theremon betrachtete ihn aufmerksam. Die Angelegenheit mußte für Beenay verwirrend und wohl auch ziemlich peinlich gewesen sein. Doch warum sein Freund so völlig verzweifelt war, konnte der Journa list noch immer nicht begreifen. Dann ging ihm plötzlich ein Licht auf. „Athor! Du hast Angst davor, Athor zu verletzen, nicht wahr?“ „Genau so ist es.“ Mit einem Blick voll rührender Dankbarkeit bestä tigte Beenay, daß Theremon den Kern des Problems erfaßt hatte. Er ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen, zog die Schultern hoch, senkte den Kopf und sagte leise: „Der alte Mann würde es nicht überleben, wenn er erfahren müßte, daß ihm jemand seine großartige Theorie kaputtge macht hat. Daß ausgerechnet ich es war, der sie kaputtgemacht hat. The remon, er ist für mich wie ein zweiter Vater. Alles, was ich in den vergangenen zehn Jahren erreicht habe, verdanke ich seinem Rat, seiner Ermutigung, seiner – nun ja, man könnte sagen, seiner Liebe. Und das ist nun der Lohn. Ich würde nicht nur sein Lebenswerk zerstören – ich würde ihm ein Messer ins Herz stoßen, Theremon, ihm.“ „Hast du schon daran gedacht, deine Erkenntnisse einfach zu ver schweigen?“ Beenay sah ihn erstaunt an. „Du weißt, daß das unmöglich ist!“ „Ja, sicher, das weiß ich. Ich wollte nur herausfinden, ob du nicht viel leicht doch mit dem Gedanken spielst?“ „Ob ich an das Undenkbare denke? Nein, natürlich nicht. Das ist mir nie in den Sinn gekommen. Aber was soll ich machen, Theremon? – Sicher, ich könnte einfach alle Unterlagen wegwerfen und so tun, als hätte ich mich mit dem Thema nie befaßt. Aber das wäre ungeheuerlich. Letztlich bleibt mir also nur die eine Wahl, entweder gegen meine Ver antwortung als Wissenschaftler zu verstoßen oder Athor zu ruinieren. Den Mann zu ruinieren, den ich nicht nur als die größte Autorität der
Astronomie ansehe, sondern als meinen ganz persönlichen, philosophi schen Mentor.“ „Als Mentor kann er so besonders nicht gewesen sein.“ Empört und betroffen riß der Astronom die Augen auf. „Was redest du da, Theremon!“ „Immer mit der Ruhe.“ Theremon hob beschwichtigend beide Hände. „Ich finde, du bist ganz schön überheblich, Beenay. Wenn Athor wirk lich der große Mann ist, für den du ihn hältst, dann wird er seinen eige nen Ruf nicht höher schätzen als die Wahrheit. Verstehst du, was ich meine? Athors Theorie ist nicht unangreifbar, das ist keine Theorie, Verbesserungen sind immer möglich. Ist es nicht so? Die Wissenschaft setzt sich aus Annäherungen zusammen, die ganz allmählich auf die Wahrheit zusteuern, das hast du mir vor langer Zeit einmal erklärt, und ich habe es nie vergessen. Nun, das bedeutet aber doch auch, daß jede Theorie immer damit rechnen muß, überprüft und modifiziert zu wer den. Und wenn sich schließlich herausstellt, daß sie doch noch zu weit von der Wahrheit entfernt ist, dann muß sie durch eine andere ersetzt werden, die diesem Ziel näher kommt. So ist es doch, Beenay? Oder nicht?“ Beenay zitterte und war sehr blaß geworden. „Könntest du mir noch einen Drink bestellen, Theremon?“ „Nein. Hör zu, ich bin noch nicht fertig. Du sagst, du machst dir Sor gen um Athor – er ist alt und wohl auch nicht mehr der Kräftigste – und bringst deshalb nicht den Mut auf, ihm zu gestehen, du hättest einen Fehler in seiner Theorie gefunden. Schön. Dein Zartgefühl, deine Zu neigung zu ihm in allen Ehren. Aber du solltest dir das noch einmal überlegen. Wenn es so wichtig ist, den Orbit von Kalgash zu berechnen, dann wird früher oder später ein anderer über denselben Fehler in A thors Theorie stolpern, und dieser andere wird es Athor wahrscheinlich nicht so taktvoll beibringen wie du. Vielleicht ist es ein Rivale von ihm, ein Todfeind – alle Wissenschaftler haben Feinde, das hast du mir oft genug erzählt. Was wäre also besser? Zu Athor zu gehen und ihm freundlich und behutsam beizubringen, was du entdeckt hast, oder ab zuwarten, bis er es eines Morgens im Chronicle liest?“ „Ja“, flüsterte Beenay. „Du hast völlig recht.“ „Dann wirst du also zu ihm gehen?“ „Ja. Ja, das muß ich wohl.“ Beenay nagte an seiner Unterlippe. „Aber es fällt mir entsetzlich schwer, Theremon. Ich komme mir vor wie ein Mörder.“ „Ich weiß. Aber du wirst nicht Athor ermorden, sondern eine fehler hafte Theorie. Und fehlerhafte Theorien dürfen nicht weiterleben. Du bist es nicht nur Athor, sondern auch dir selbst schuldig, der Wahrheit ans Licht zu verhelfen.“ Theremon zögerte, ihm war plötzlich eine über
raschend neue Idee gekommen. „Natürlich gibt es auch noch eine ande re Möglichkeit. Ich bin zwar nur ein Laie, und du wirst mich wahr scheinlich auslachen – aber wäre es eventuell denkbar, daß die Gravita tionstheorie trotz allem stimmt und daß auch der Computer die richtigen Zahlen für Kalgashs Orbit geliefert hat, daß aber ein ganz anderer, ein bisher völlig unbekannter Faktor für die Abweichung in deinem Ergeb nis verantwortlich ist?“ „Ganz auszuschließen ist es wohl nicht.“ Beenays Stimme klang matt und hoffnungslos. „Aber wenn man erst anfängt, geheimnisvolle, unbe kannte Faktoren ins Spiel zu bringen, begibt man sich ins Reich der Phantasie. – Ich will es dir an einem Beispiel erläutern. Nehmen wir einmal an, da draußen gäbe es eine unsichtbare, siebente Sonne – sie besitzt Masse, sie übt Anziehungskraft aus, aber wir können sie einfach nicht sehen. Da wir von ihrer Existenz nichts wissen, haben wir sie in unsere Schwerkraftberechnungen nicht mit einbezogen, und deshalb bekommen wir falsche Zahlen. An etwas dergleichen hattest du doch gedacht?“ „Ja, warum nicht?“ „Warum dann nicht fünf unsichtbare Sonnen? Oder gleich fünfzig? Warum nicht ein unsichtbarer Riese, der die Planeten durch die Gegend schiebt, wie es ihm gerade in den Sinn kommt? Warum kein gewaltiger Drache, der Kalgash mit seinem Atem aus der Bahn drängt? Wir können es nicht widerlegen, nicht wahr? Wenn man einmal mit warum nicht angefangen hat, Theremon, wird alles möglich, und nichts ergibt mehr einen Sinn. So denke ich jedenfalls. Ich fühle mich nur für die realen Gegebenheiten zuständig. Mag sein, daß du recht hast, daß es einen unbekannten Faktor gibt, und daß deshalb das Gravitationsgesetz seine Gültigkeit behält. Ich kann es nur hoffen. Aber vernünftig arbeiten kann ich auf dieser Grundlage nicht. Ich kann nur zu Athor gehen – und das werde ich tun, das verspreche ich dir – und ihm sagen, was der Compu ter für mich herausgefunden hat. Ich wage nicht, ihm oder sonst jeman dem zu empfehlen, den ganzen Schlamassel auf einen bisher unentdeck ten ‚unbekannten Faktor’ zu schieben. Dann wäre ich nämlich ebenso verrückt wie die Apostel des Feuers, die sich so viel auf ihre mystischen Offenbarungen zugute halten. Theremon, ich brauche jetzt wirklich noch einen Drink.“ „Ja, schon gut. Aber da wir gerade von den Aposteln des Feuers spre chen…“ „Du willst eine Stellungnahme von mir, ich habe es nicht vergessen.“ Beenay fuhr sich müde mit der Hand über das Gesicht „Ja. Sicher. Ich lasse dich nicht hängen. Du warst mir heute eine große Hilfe. – Was haben die Apostel denn nun eigentlich gesagt? Ich weiß es nicht mehr.“
„Es war Mondior 71“, sagte Theremon. „Der Herr und Meister in höchsteigener Person. Und er sagte – laß mich überlegen – die Zeit sei nicht mehr fern, bald würden die Götter alle Sünden der Welt austilgen, er könne den Tag, sogar die Stunde nennen, zu der das Verhängnis über uns hereinbrechen würde.“ Beenay stöhnte. „Und was ist daran neu? Sagen sie das nicht schon seit Jahren?“ „Gewiß, aber allmählich rücken sie mit den grausigen Einzelheiten heraus. Die Apostel hängen nämlich der Vorstellung an, die Welt werde nicht zum ersten Mal zerstört. Nach ihrer Lehre haben die Götter uns Menschen ganz bewußt unvollkommen geschaffen, um uns zu prüfen, und sie haben uns eine Frist von einem Jahr – nach ihrer Zeitrechnung, nicht nach unserer menschlichen – zugestanden, um uns zu bessern. Diese Spanne nennen sie ein Gottesjahr, und es umfaßt genau zweitausendundneunundvierzig von unseren Jahren. Bisher mußten die Götter am Ende eines solchen Gottesjahres noch jedesmal feststellen, daß wir weiter in Bosheit und Sünde verharren, und deshalb zerstörten sie die Welt, indem sie von heiligen Orten am Himmel, die man Sterne nennt, himmlisches Feuer herabschickten. Soweit jedenfalls die Auffassung der Apostel.“ „Sterne?“ fragte Beenay. „Sind damit die Sonnen gemeint?“ „Nein, Sterne sind laut Mondior etwas grundsätzlich anderes als die sechs Sonnen. – Hast du dir seine Predigten denn niemals angehört, Beenay?“ „Nein, warum in aller Welt sollte ich denn?“ „Nun, wie auch immer, wenn sich am Ende eines Gottesjahres Kal gash in moralischer Hinsicht nicht gebessert hat, schleudern diese Sterne ein heiliges Feuer irgendwelcher Art auf uns herab, um uns zu verbren nen. Mondior behauptet, dies sei schon soundsooft geschehen. Aber jedesmal, wenn es so weit ist, lassen die Götter, zumindest eine Partei, Gnade walten; bei jeder Zerstörung der Welt setzen sich letztlich die gütigen gegen die strengen Götter durch, und die Menschheit erhält noch eine Chance. Die Frömmsten unter den Überlebenden werden aus dem Weltenbrand errettet, und dann wird der Aufschub verlängert; die Menschheit bekommt abermals zweitausendundneunundvierzig Jahre Zeit, um der Sünde abzuschwören. Nun ist die Frist wieder einmal fast abgelaufen, sagt Mondior. Seit der letzten Katastrophe sind knapp zwei tausendundachtundvierzig Jahre vergangen. In nur vierzehn Monaten werden alle Sonnen verschwinden, und seine gräßlichen Sterne werden uns vom schwarzen Himmel herab mit Feuer beschießen, um die Sünder auszurotten. Nächstes Jahr am neunzehnten Theptar, wenn du es genau wissen willst.“
„Vierzehn Monate“, wiederholte Beenay nachdenklich. „Am neun zehnten Theptar. Er macht sehr präzise Angaben, findest du nicht? Wahrscheinlich weiß er auch genau, zu welcher Tageszeit das Unheil hereinbrechen wird.“ „Seinen Worten nach, ja. Deshalb möchte ich gerne eine Stellungnah me von jemandem aus dem Observatorium, am liebsten von dir. Mondi or hat als letztes verkündet, der Zeitpunkt der Katastrophe lasse sich wissenschaftlich bestimmen – es handle sich nicht nur um ein Dogma im Buch der Offenbarungen, sondern um eine Tatsache, die mit den gleichen rechnerischen Verfahren zu ermitteln sei, wie sie von den Ast ronomen angewandt würden, um… um…“ Theremon stockte und verstummte schließlich. „Um die Umlaufbahnen der Sonnen und unserer Welt zu bestimmen?“ fragte Beenay sarkastisch. „Hm, ja“, gab Theremon kleinlaut zu. „Dann besteht vielleicht doch noch Hoffnung für die Welt, wenn die Apostel nämlich genauso unfähig sind wie wir.“ „Ich brauche eine Stellungnahme, Beenay.“ „Ja, ich weiß.“ Die neuen Drinks waren inzwischen eingetroffen. Bee nay hielt sich an seinem Glas fest. „Probieren wir’s doch so“, sagte er nach einer Weile. „‚Die Wissenschaft hat in erster Linie die Aufgabe, Wahrheit und Unwahrheit voneinander zu trennen, und sie hofft, auf diese Weise aufdecken zu können, wie das Universum tatsächlich funk tioniert. Dagegen entspricht es nicht unserer Vorstellung von wissen schaftlicher Arbeit, die Wahrheit in den Dienst der Unwahrheit zu stel len. Wir sind mittlerweile imstande, die Bewegungen der Sonnen am Himmel vorherzusagen, gewiß – doch der Wille der Götter bleibt selbst unserem besten Computer verborgen, daran hat sich nichts geändert, und daran wird sich vermutlich auch niemals etwas ändern.’ – Wie fin dest du das?“ „Perfekt“, lobte Theremon. „Mal sehen, ob ich alles mitbekommen habe. ‚Die Wissenschaft hat in erster Linie die Aufgabe, Wahrheit und Unwahrheit voneinander zu trennen, und sie hofft, auf diese Weise – auf diese Weise…’ Wie ging es weiter, Beenay?“ Beenay wiederholte die ganze Erklärung Wort für Wort, als habe er sie zuvor stundenlang auswendig gelernt. Dann stürzte er in einem einzigen, unglaublich tiefen Schluck seinen dritten Drink hinunter. Und dann stand er auf, lächelte zum ersten Mal an diesem Abend und fiel um wie ein Stein.
Kapitel 9 Athor 77 kniff die Augen zusammen und prüfte den kleinen Stapel von Ausdrucken vor sich auf dem Schreibtisch so eingehend, als handle es sich um die kartographische Darstellung eines bisher unentdeckten Kontinents. Er war ganz ruhig. Er staunte selbst über seine Ruhe. „Sehr interessant, Beenay“, sagte er langsam. „Sehr, sehr interessant.“ „Natürlich besteht immer die Möglichkeit, Sir, daß nicht nur mir bei den Voraussetzungen ein entscheidender Fehler unterlaufen ist, sondern daß auch Yimot und Faro…“ „Alle drei sollen die Hypothesen falsch angesetzt haben? Nein, Bee nay. Das glaube ich nicht.“ „Ich wollte nur darauf hinweisen, daß die Möglichkeit besteht.“ „Bitte“, sagte Athor. „Ich muß nachdenken.“ Es war später Vormittag. Durch das hohe Fenster im Büro des Obser vatoriumsleiters sah man Onos in voller Pracht am Himmel strahlen. Weit im Norden zog Dovim wie eine kleine, rote Leuchtkugel ganz unauffällig ihre Bahn. Athor griff nach den Papieren und schob sie auf der Tischplatte hin und her. Wieder und immer wieder. Seltsam, wie wenig es mich berührt, dachte er. Beenay war offenbar ganz aus dem Häuschen, und er selbst spürte kaum eine Reaktion. Vielleicht stehe ich unter Schock, überlegte er. „Hier drüben, Sir, habe ich den Orbit von Kalgash gemäß den ge bräuchlichen Almanachberechnungen dargestellt. Und hier auf dem Ausdruck sehen Sie die Orbitalprojektion des neuen Computers…“ „Bitte, Beenay. Ich sagte doch, ich muß nachdenken.“ Beenay nickte ruckartig mit dem Kopf. Athor lächelte ihn an, obwohl es ihn Überwindung kostete. Der Leiter des Observatoriums, ein großer, hagerer, herrisch dreinblickender Mann mit bemerkenswert dichtem, weißem Haar, spielte nun schon so lange die Graue Eminenz der Astro nomie, daß es ihm schwerfiel, aus sich herauszugehen und wie ein ganz normaler Mensch seine Gefühle zu zeigen. Zumindest hier im Observa torium, wo alle Welt zu ihm aufblickte wie zu einem Halbgott, fiel ihm das schwer. Zu Hause bei seiner Frau und seinen Kindern und besonders bei seiner Horde lärmender Enkel war das ganz anders. Das Gravitationsgesetz stimmte also nicht ganz? Nein! Nein, das war ausgeschlossen! Dagegen begehrte jede Faser sei nes Denkens auf. Ohne den Begriff der Gravitation war der Aufbau des Universums nicht zu erklären, davon war Athor fest überzeugt. Das wußte er. Die Theorie war zu klar, zu logisch, zu stimmig, sie konnte einfach nicht falsch sein.
Man opfere die Gravitation, und die gesamte Ordnung des Kosmos löste sich in Chaos auf. Undenkbar. Unvorstellbar. Aber diese Zahlen… Beenays vermaledeiter Computerausdruck… „Sie sind natürlich verärgert, Sir.“ Konnte dieser Mensch denn seinen Mund nicht halten?! „Und ich möchte Ihnen versichern, daß ich Sie durchaus verstehe… es muß Sie sehr getroffen haben… jeder wäre wü tend, wenn er plötzlich sein Lebenswerk bedroht sähe…“ „Beenay…“ „Ich möchte Ihnen nur noch sagen, Sir, daß ich alles darum gegeben hätte, Ihnen diese Nachricht nicht bringen zu müssen. Sie sind mir si cher böse, weil ich Sie damit belästigt habe, aber ich kann nur sagen, ich habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht. Am liebsten hätte ich alles verbrannt und vergessen, daß ich mich jemals damit beschäftigt hatte. Meine Entdeckung bestürzt mich sehr, und am meisten erschüttert es mich, daß ausgerechnet ich derjenige sein mußte…“ „Beenay“, wiederholte Athor mit seiner grimmigsten Stimme. „Sir?“ „Ich bin böse auf Sie, jawohl. Aber aus einem anderen Grund, als Sie glauben.“ „Sir?“ „Nummer eins, ich bin ungehalten, weil Sie mir die Ohren vollschwat zen, während ich doch nur hier sitzen und mir in aller Ruhe darüber klarwerden möchte, was die Berechnungen bedeuten, die Sie mir da unter die Nase halten. Nummer zwei, und das ist weit wichtiger, finde ich es bodenlos, daß Sie auch nur einen Moment gezögert haben wollen, mich über Ihre Erkenntnisse zu informieren. Warum haben Sie so lange gewartet?“ „Ich hatte erst gestern nach einer weiteren Überprüfung letzte Gewiß heit.“ „Gestern! Dann hätten Sie gestern hier stehen müssen! Muß ich Sie wirklich so verstehen, Beenay, daß Sie ernsthaft überlegt haben, das alles zu unterschlagen? Ihre Ergebnisse einfach wegzuwerfen, ohne ein Wort darüber verlauten zu lassen?“ „Nein, Sir“, gestand Beenay unglücklich. „Das war eigentlich nie mei ne Absicht.“ „Wenigstens etwas. Mein lieber Mann, glauben Sie denn, ich bin in meine wunderschöne Theorie so vernarrt, daß ich es nicht ertrage, wenn einer meiner begabtesten Mitarbeiter mir die unangenehme Mitteilung macht, er hätte darin einen Fehler entdeckt?“ „Nein, Sir. Natürlich nicht.“ „Warum sind Sie dann nicht sofort zu mir gekommen, als Sie Gewiß heit hatten?“
„Weil… weil, Sir…“ Beenay sah aus, als würde er am liebsten im Erdboden versinken. „Weil ich wußte, was das für ein Schock sein wür de. Und weil ich fürchtete, dieser Schock… dieser Schock könnte Ihrer Gesundheit schaden. Deshalb habe ich abgewartet, habe mit ein paar Freunden gesprochen, habe meine eigene Rolle in der ganzen Geschich te überdacht und schließlich eingesehen, daß mir wirklich keine andere Wahl blieb, daß ich Ihnen sagen müßte, die Gravit…“ „Sie glauben also doch, daß mir meine Theorie mehr am Herzen liegt als die Wahrheit?“ „O nein, nein, Sir!“ Wieder lächelte Athor, und diesmal fiel es ihm gar nicht schwer. „Da bei hätten Sie recht. Ich bin nämlich auch nur ein Mensch, ob Sie es glauben oder nicht. Die Gravitationstheorie hat mir alle wissenschaftli chen Ehren eingebracht, die dieser Planet zu bieten hat. Sie ist meine Fahrkarte in die Unsterblichkeit, Beenay, und das wissen Sie genau. Und wenn man mich mit der Möglichkeit konfrontiert, diese Theorie könnte falsch sein – oh, das ist ein Schock, Beenay, das ist wie ein Stich ins Herz. Nur damit wir uns da nicht mißverstehen. – Natürlich halte ich nach wie vor an meiner Theorie fest.“ „Sir?“ Beenays Betroffenheit war nur allzu offensichtlich. „Aber ich habe wieder und wieder nachgerechnet, und…“ „Oh, ich bin sicher, daß Ihre Ergebnisse richtig sind. Von drei Seiten der gleiche Fehler – nein, wie ich bereits sagte, halte ich das für äußerst unwahrscheinlich. Aber was Sie entdeckt haben, muß die Gravitations theorie nicht unbedingt widerlegen.“ Beenay zwinkerte verblüfft. „Nein?“ „Gewiß nicht.“ Athor fand allmählich Geschmack an der neuen Situa tion und wirkte fast vergnügt. Die tödliche Starre des ersten Augen blicks war jener ganz anderen Art von Ruhe gewichen, die einen über kommt, wenn man der Wahrheit auf der Spur ist. „Was besagt die Gra vitationstheorie denn letztendlich? Doch nur, daß jeder Körper im Uni versum auf alle anderen Körper eine Kraft ausübt, die in einer bestimm ten Relation zu Masse und Entfernung steht. Und was haben Sie ge macht, als Sie das Gesetz anwandten, um den Orbit von Kalgash zu berechnen? Nun, Sie haben die Anziehungskräfte berücksichtigt, die all die verschiedenen, Himmelskörper auf unsere Welt ausüben, während sie Onos umkreist. So ist es doch?“ „Ja Sir.“ „Nun, dann besteht zumindest vorerst noch kein Anlaß, die Gravitati onstheorie über Bord zu werfen. Was wir jetzt tun müssen, mein Freund, ist ganz einfach. Wir müssen unsere Vorstellungen vom Universum überdenken und uns fragen, ob wir etwas übersehen haben, das wir in unsere Überlegungen einbeziehen sollten – irgendeinen geheimnisvollen
Faktor, der ohne unser Wissen eine Kraft auf Kalgash ausübt und bisher nicht berücksichtigt wurde.“ Beenays Augenbrauen zuckten erschreckend weit in die Höhe. Völlig perplex starrte er Athor an. Dann begann er zu lachen. Anfangs biß er noch die Zähne zusammen, aber das Lachen ließ sich nicht zurückhalten, es drückte ihm die Schul tern nach oben und entwich in halb erstickten, krampfhaften Hustenstö ßen, bis er sich beide Hände vor den Mund hielt und hineinprustete. Athor saß da wie vom Donner gerührt. „Der unbekannte Faktor!“ platzte Beenay endlich heraus. „Der Drache am Himmel! Der unsichtbare Riese!“ „Drachen? Riesen? Was faseln Sie da, mein Junge?“ „Gestern abend – Theremon 762 – oh, Sir, es tut mir leid, es tut mir wirklich leid!“ Beenay nahm seine ganze Willenskraft zusammen. In seinem Gesicht arbeitete es heftig, seine Lider zuckten, er hielt den A tem an, drehte sich kurz um, und als er sich Athor wieder zuwandte, war er fast der alte. Verlegen erklärte er: „Ich habe gestern abend ein paar Gläser mit Theremon 762 getrunken – dem Zeitungskolumnisten, Sie wissen schon – dabei habe ich ihm einiges von meinen Entdeckungen erzählt und ihm auch anvertraut, wie sehr es mir widerstrebte, damit zu Ihnen zu kommen.“ „Sie haben mit einem Journalisten gesprochen?“ „Mit einem sehr vertrauenswürdigen Mann. Er ist ein guter Freund von mir.“ „Schurken sind sie alle, Beenay. Glauben Sie mir.“ „Theremon ist eine Ausnahme, Sir. Ich kenne ihn, und ich weiß, daß er nie etwas tun würde, was mir schaden oder mich kränken könnte. Er hat mir sogar einen ausgezeichneten Rat gegeben, das heißt, er sagte, ich müsse unbedingt zu Ihnen gehen, und deshalb habe ich es auch getan. Doch dann… verstehen Sie, er wollte mir Hoffnung machen, mich ein wenig trösten – dann sagte er das gleiche wie Sie eben, daß es vielleicht einen ‚unbekannten Faktor’ gebe – genau seine Worte, ein ‚unbekannter Faktor’ – der für die ganze Verwirrung verantwortlich sei. Und ich lach te und erklärte ihm, es sei sinnlos, in dieser Situation unbekannte Fakto ren heranzuziehen, das sei eine zu einfache Lösung. Ich meinte sogar – natürlich nicht im Ernst – wenn wir eine solche Hypothese zuließen, dann könnten wir auch gleich annehmen, Kalgash werde von einem unsichtbaren Riesen oder vom Atem eines gewaltigen Drachen aus sei ner Bahn geschoben. Und nun bringen Sie, Sir – kein Laie wie There mon, sondern der größte Astronom der Welt! – genau das gleiche Ar gument. Verstehen Sie nun, warum ich mir vorkomme wie der größte Narr?“
„Ich glaube schon“, sagte Athor. Die ganze Sache begann ihn zu er müden. Er fuhr sich mit der Hand durch das dichte weiße Haar und warf Beenay einen Blick zu, in dem sich Gereiztheit und Mitgefühl mischten. „Sie hatten recht, Ihrem Freund zu erklären, daß es wenig Sinn hat, ein Problem mit selbsterfundenen Fiktionen lösen zu wollen. Aber die spon tanen Ideen von Laien sind manchmal durchaus brauchbar. Wer weiß, vielleicht gibt es wirklich einen unbekannten Faktor, der die Umlauf bahn von Kalgash beeinflußt. Wir müssen die Möglichkeit zumindest in Erwägung ziehen, ehe wir die ganze Theorie über Bord werfen. Ich glaube, hier empfiehlt es sich, Thargolas Schwert anzusetzen. Sie wis sen, was ich meine, Beenay?“ „Gewiß, Sir. Das Prinzip von der Ökonomie der Mittel. Zuerst von dem mittelalterlichen Philosophen Thargola 14 formuliert, der verlang te, ‚jede nicht im strengen Sinne notwendige Hypothese abzutrennen’, oder etwas dergleichen.“ „Sehr gut, Beenay. Mir hat man es freilich etwas anders beigebracht: ‚Stehen uns mehrere Hypothesen zur Auswahl, so sollten wir unsere Überlegungen damit beginnen, daß wir die komplizierteste abtrennen.’ In unserem Fall steht nun die Hypothese von der Fehlerhaftigkeit der Gravitationstheorie gegen die Hypothese, daß Sie bei Ihren Berechnun gen des Orbits von Kalgash einen unbekannten, vielleicht auch gar nicht erkennbaren Faktor außer acht gelassen haben. Akzeptieren wir die erste Hypothese, so fällt alles, was wir über die Ordnungsprinzipien des Uni versums zu wissen glauben, ins Chaos zurück. Akzeptieren wir dagegen die zweite, so brauchen wir lediglich den unbekannten Faktor aufzuspü ren, und die grundlegende Ordnung bleibt erhalten. Es ist viel einfacher, nach etwas zu suchen, was wir vielleicht übersehen haben, als ein neues Gesetz aufzustellen, das die Bewegungen der Himmelskörper erklärt. Folglich fällt die Hypothese, daß die Gravitationstheorie falsch ist, Thargolas Schwert zum Opfer, und wir legen unseren Untersuchungen die einfachere Erklärung des Problems zugrunde. Nun, Beenay? Was sagen Sie dazu?“ Beenay strahlte. „Dann habe ich die Gravitationstheorie doch nicht zu Fall gebracht?“ „Bisher jedenfalls nicht. Einen Ehrenplatz in der Geschichte der Na turwissenschaften haben Sie sich wahrscheinlich bereits verdient, wir wissen nur noch nicht, ob als Zerstörer von etwas Altem oder als Urhe ber von etwas Neuem. Wir wollen letzteres hoffen. Und nun müssen wir angestrengt nachdenken, junger Mann.“ Athor 77 schloß die Augen und rieb sich die schmerzende Stirn. Es war lange her, seit er zum letzten Mal wirklich wissenschaftlich gearbeitet hatte, stellte er fest. In den letzten acht bis zehn Jahren hatte er sich fast ausschließlich um Verwal tungsangelegenheiten gekümmert. Aber vielleicht brachte der Kopf, der
die Gravitationstheorie entwickelt hatte, doch noch die eine oder andere Idee zustande. – „Zuerst möchte ich mir Ihre Berechnungen genauer ansehen“, sagte er. „Als nächstes ist dann wohl meine eigene Theorie an der Reihe.“
Kapitel 10 Das Hauptquartier der Apostel des Feuers lag in Saro City im exklusi ven Stadtteil Birigam, ein schmaler, prunkvoller Turm aus goldglänzen dem Stein, der sich wie ein schimmernder Speer über dem SeppitanFluß erhob. Theremon hielt das himmelstrebende Bauwerk für eine der wertvollsten Immobilien in der ganzen Stadt. Er hatte bisher noch nicht darüber nachgedacht, aber die Apostel muß ten doch über einen enormen Wohlstand verfügen. Sie hatten ihre eige nen Radio- und Fernsehsender, sie brachten Zeitungen und Zeitschriften heraus, sie nannten diesen gewaltigen Turm ihr eigen. Daneben kontrol lierten sie vermutlich noch andere Vermögens- und Sachwerte, bei de nen die Eigentumsverhältnisse nicht ganz so eindeutig waren. Wie war das zugegangen, fragte er sich. Wie hatte es ein Haufen sittenstrenger Fanatiker geschafft, einen solchen Millionenbesitz anzuhäufen? Allerdings, fiel ihm ein, bekannten sich stadtbekannte Industrielle wie Bottiker 888 und Vivin 99 offen zu den Lehren Mondiors und seiner Apostel. Er wäre nicht überrascht zu erfahren, daß sie und andere edle Spender die Kassen der Apostel füllten. Und wenn die Organisation auch nur ein Zehntel so alt war, wie sie behauptete – die Rede war von zehntausend Jahren! – und im Laufe der Jahrhunderte ihr Geld gut angelegt hatte, hätten allein schon die Zinses zinsen genügt, um das Vermögen ins Unermeßliche wachsen zu lassen, dachte Theremon. Vielleicht waren sie gar Milliarden schwer. Vielleicht gehörte ihnen insgeheim halb Saro City. Auf jeden Fall lohnte es sich, genauer nachzuforschen. Er betrat das riesige Foyer des großen Turins, in dem jeder Laut mehr fach widerhallte, und sah sich andächtig um. Er war zum ersten Mal hier, wußte aber vom Hörensagen, wie verschwenderisch das Kultisten gebäude innen wie außen ausgestattet war. Dennoch übertraf die Reali tät alle Erwartungen. Ein spiegelblanker Marmorboden mit Intarsien in sechs verschiedenen, kräftigen Farben erstreckte sich zu seinen Füßen, soweit er sehen konn te. Die Wände waren bis hinauf zu den Deckengewölben mit funkeln dem Goldmosaik in abstrakten Mustern verkleidet. Kronleuchter aus Gold- und Silbergespinst verbreiteten schillernde Helligkeit. Gegenüber dem Eingang befand sich ein offenbar nur aus kostbaren Metallen und Edelsteinen bestehendes Modell, das wohl das Universum
darstellen sollte: die sechs Sonnen hingen als riesige Kugeln an unsicht baren Drähten von der Decke, und jede sandte ihr eigenes Licht aus: die größte, es mußte Onos sein, strahlte golden, die Dovim-Sphäre in schwachem Rot, das Paar Tano und Sitha in einem kalten, harten Blau weiß, und Patru und Trey in einem nicht ganz so grellen Weiß. Eine siebente Kugel, Kalgash, schwebte wie ein Ballon langsam dazwischen hindurch und wechselte jedesmal die Farbe, wenn sie vom Schein einer neuen Sonne getroffen wurde. Theremon stand da und staunte, als plötzlich eine Stimme aus dem Nichts ertönte: „Darf ich um Ihren Namen bitten?“ „Ich heiße Theremon 762. Ich bin mit Mondior verabredet.“ „Gewiß. Begeben Sie sich bitte in den Raum zu Ihrer Linken, There mon 762.“ Er sah zu seiner Linken keinen Raum, doch dann glitt lautlos ein Teil der Mosaikwand beiseite und eine kleine, ovale Zelle wurde sichtbar, eher eine Art Vorzimmer. Die Wände waren mit grünem Samt bespannt, eine einzelne Röhre spendete bernsteinfarbenes Licht. Achselzuckend trat er ein. Sofort schloß sich die Tür hinter ihm, und er spürte deutlich eine Bewegung. Das war gar kein Raum, das war ein Fahrstuhl! Ja, kein Zweifel, er wurde nach oben getragen. Ganz ge mächlich ging es immer höher hinauf. Nach einer halben Ewigkeit hielt die Kabine endlich an, und die Tür glitt abermals auf. Eine Gestalt in schwarzer Kutte erwartete ihn. „Würden Sie mir bitte folgen?“ Ein kurzer, schmaler Gang führte in eine Art Warteraum, dessen eine Wand nahezu völlig bedeckt war von einem großen Bildnis von Mondi or 71. Als Theremon eintrat, begann es von innen her zu leuchten, ganz so, als erwache es zum Leben. Mondiors dunkle, scharfe Augen schie nen den Besucher direkt anzublicken, und der warme Schein verlieh den strengen Zügen des Höchsten Apostels eine gewisse, wenn auch grau same Schönheit. Theremon hielt dem Blick des Portraits gelassen stand. Doch bei dem Gedanken, daß er in Kürze genau diesen Mann interviewen sollte, war selbst dem abgebrühten Zeitungsmann nicht ganz wohl in seiner Haut. Mondior im Radio oder im Fernsehen, das war nicht mehr als ein beses sener Prediger, der seine lächerliche Botschaft an den Mann bringen wollte. Der leibhaftige Mondior dagegen – nach diesem Portrait eine imponierende, faszinierende, geheimnisvolle Persönlichkeit – mochte ganz anders wirken. Theremon nahm sich vor, auf der Hut zu sein. „Wenn ich bitten dürfte…“ sagte der Mönch in der schwarzen Kutte. Links von dem Portrait tat sich die Wand auf. Dahinter wurde ein Büro sichtbar, schlicht wie eine Zelle, an Möbeln gab es nur einen nüchter nen, aus einer einzigen, polierten Steinplatte gefertigten Schreibtisch
und davor einen niedrigen, massiven Hocker aus einem seltenen grauen Holz mit roter Maserung. Hinter dem Tisch saß ein Mann, den eine spürbare Aura von Macht und Einfluß umgab. Er trug die schwarze Apostelkutte, aber mit einem roten Besatz an der Kapuze. Er wirkte imponierend. Aber er war nicht Mondior 71. Mondior war, den Fotos und seinen Auftritten im Fernsehen nach zu urteilen, fünfundsechzig oder siebzig Jahre alt und besaß eine kraftvoll maskuline Ausstrahlung. Sein dichtes, welliges, schwarzes Haar war von breiten, weißen Streifen durchzogen, er hatte ein volles, fleischiges Gesicht mit breitem Mund, kräftiger Nase und dunklen, bohrenden Au gen unter dicken, pechschwarzen Brauen. Dieser Mann dagegen war jung, gewiß noch keine vierzig, und obwohl auch er energiegeladen und durchaus männlich wirkte, war er ein ganz anderer Typ: sehr mager, mit einem schmalen, scharfgeschnittenen Gesicht und dünnen, spöttisch geschürzten Lippen. Unter der Kapuze quoll eigentümlich ziegelrotes Haar hervor und fiel ihm in Locken über die Stirn, seine Augen strahlten in einem frostigen, unbarmherzigen Blau. Ohne Zweifel war dieser Mann ein hoher Funktionär der Organisation. Aber Theremon war mit Mondior verabredet. Er war erst heute morgen, nachdem er seinen Artikel über das jüngste Donnerwetter des Apostels fertiggestellt hatte, zu dem Entschluß ge langt, sich eingehender mit diesem mysteriösen Kult zu beschäftigen. Natürlich mutete alles, was diese Leute jemals von sich gegeben hatten, wie barer Unsinn an, doch dieser Unsinn hatte sein Interesse geweckt, und er hielt es für angebracht, genauer darüber zu berichten. Und wie brachte man am meisten in Erfahrung? Indem man sich an den obersten Boss wandte. Immer vorausgesetzt, der ließ sich sprechen. Doch als er anrief, hatte man ihm überraschenderweise zugesagt, Mondior 71 würde ihn noch am gleichen Tag empfangen. Er hatte das Gefühl gehabt, es sei fast zu glatt gegangen. Nun wurde ihm klar, daß ihn dieses Gefühl nicht getrogen hatte. „Mein Name ist Folimun 66“, stellte sich der Mann mit den scharfen Zügen vor. Er hatte eine helle, klangvoll Stimme, ganz anders als Mon diors durchdringender Donnerbaß. Trotzdem hatte Theremon den Ver dacht, er sei gewöhnt, daß man ihm aufs Wort gehorchte. „Ich bin mit der Öffentlichkeitsarbeit in der Stammregion unserer Organisation be traut und werde Ihnen mit Vergnügen alle Ihre Fragen beantworten.“ „Ich war aber mit Mondior persönlich verabredet“, sagte Theremon. Die kalten Augen von Folimun 66 zeigten keine Spur von Überra schung. „Betrachten Sie mich als Mondiors Sprachrohr.“ „Ich hatte mich auf eine persönliche Audienz eingestellt.“
„Dem ist so. Mondior erfährt alles, was mir gesagt wird, und jedes Wort aus meinem Munde ist Mondiors Wort. Das sollte von vornherein klar sein.“ „Gleichwohl hat man mir versichert, ich könne mit Mondior selbst sprechen. Ich zweifle nicht an Ihren Vollmachten, aber ich bin nicht nur auf der Suche nach sachlichen Informationen. Ich möchte mir vielmehr eine Meinung über den Menschen Mondior bilden und über seine An sichten, nicht nur, was den von ihm prophezeiten Weltuntergang angeht. Beispielsweise will ich ihn fragen, wie er über…“ „Ich muß mich leider wiederholen“, unterbrach ihn Folimun kühl. „Sie können mich als Mondiors Sprachrohr betrachten. Seine Erhabenheit sieht sich heute nicht in der Lage, Sie persönlich zu empfangen.“ „Dann würde ich lieber an einem anderen Tag wiederkommen, wenn Seine Erhabenheit…“ „Wenn Sie gestatten, darf ich darauf hinweisen, daß Mondior grund sätzlich nicht für persönliche Interviews zur Verfügung steht. Niemals. Dafür ist seine Erhabenheit jetzt, wenige Monate vor dem Tag des Feu ers, viel zu beschäftigt.“ Vielleicht um der doch sehr pathetischen Flos kel ‚Tag des Feuers’ den Stachel zu nehmen, erhellte plötzlich ein über raschend warmes, menschliches Lächeln Folimuns Züge, und seine Stimme klang fast freundlich, als er fortfuhr: „Ich nehme an, das Ganze war ein Mißverständnis, Sie wußten nicht, daß Sie mit Mondiors Spre cher verabredet waren, und nicht mit dem Höchsten Apostel persönlich. Aber daran ist nichts zu ändern. Wenn Sie nicht mit mir vorlieb nehmen wollen, dann bedauere ich, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie umsonst gekommen sind. Allerdings bin ich die ergiebigste Informationsquelle, die Sie hier finden werden.“ Wieder lächelte er, aber diesmal war es ein Lächeln, das Theremon eiskalt und gnadenlos die Tür vor der Nase zuschlug. „Nun gut“, sagte der Journalist nach kurzem Überlegen. „Mir bleibt kaum eine andere Wahl. Entweder Sie oder keiner. Schön reden wir miteinander. Wieviel Zeit gestehen Sie mir zu?“ „Soviel Sie brauchen, obwohl dieses erste Treffen relativ kurz sein wird. Außerdem…“ – ein unerwartet verschmitztes Grinsen – „sollten Sie immer bedenken, daß uns alles IM allem nur noch vierzehn Monate bleiben. Und ich habe bis dahin noch einiges andere zu erledigen.“ „Das kann ich mir denken. Vierzehn Monate, sagen Sie? Und was dann?“ „Sie haben das Buch der Offenbarungen wohl nicht gelesen?“ „In letzter Zeit nicht.“ „Dann gestatten Sie.“ Folimun zog aus einer Spalte seines scheinbar leeren Tisches ein dünnes Bändchen mit rotem Einband und schob es Theremon zu. „Das ist für Sie. Ich hoffe, Sie finden darin reichlich Stoff
zum Nachdenken. Zunächst kann ich das Thema, das Sie offenbar am meisten interessiert, kurz zusammenfassen. Sehr bald – in genau vier hundertachtzehn Tagen oder, um ganz präzise zu sein, am neunzehnten Theptar des nächsten Jahres – wird eine große Veränderung über unsere ach so behagliche, vertraute Welt hereinbrechen. Die sechs Sonnen werden in der Höhle der Finsternis verschwinden, die Sterne werden erscheinen, und ganz Kalgash wird in Flammen aufgehen.“ Er sprach ganz beiläufig, wie über ein für morgen nachmittag erwarte tes Gewitter oder über eine seltene Pflanze im Botanischen Garten der Stadt, deren Blüten nächste Woche aufbrechen sollten. Ganz Kalgash in Flammen. Die sechs Sonnen in der Höhle der Finsternis. Die Sterne. „Die Sterne“, sagte Theremon laut. „Was hat man sich darunter vorzu stellen?“ „Sie sind ein Werkzeug der Götter.“ „Könnten Sie das etwas genauer erläutern?“ „In lediglich vierhundertundachtzehn Tagen“, sagte Folimun 66, „wird sich das Wesen der Sterne nur zu deutlich offenbaren.“ „Wenn das gegenwärtige Gottesjahr zu Ende geht“, ergänzte There mon. „Am neunzehnten Theptar des nächsten Jahres.“ Folimun schien angenehm überrascht. „Sie haben sich also doch mit unseren Lehren beschäftigt?“ „Ein wenig. Jedenfalls habe ich mir Mondiors jüngste Reden angehört. Der Zweitausendundneunundvierzig-Jahreszyklus ist mir ein Begriff. – Und was ist mit dem Ereignis, das Sie als ‚Tag des Feuers’ bezeichnen? Auch davon können Sie mir vermutlich keine nähere Beschreibung lie fern?“ „Etwas in dieser Richtung finden Sie im fünften Kapitel des Buches der Offenbarungen. Nein, Sie brauchen jetzt nicht danach zu suchen, ich kann Ihnen die Stelle zitieren: ‚Und von den Sternen fuhr hernieder die Himmlische Flamme, der Träger des göttlichen Willens; und wo sie die Erde berührte, legte sie Kalgashs Städte in Schutt und Asche, so daß nichts blieb von den Menschen und ihren Werken.’“ Theremon nickte. „Eine jähe, verheerende Katastrophe. Warum?“ „Der Wille der Götter. Sie haben uns ermahnt, abzulassen von unseren Sünden, und uns eine Frist gewährt, um Buße zu tun. Wir nennen diese Frist das Gottesjahr, ein ‚Jahr’, das zweitausendundneunundvierzig Menschenjahre umfaßt, aber das wissen Sie ja schon. Das laufende Got tesjahr geht seinem Ende entgegen.“ „Und dann werden wir alle ausgerottet, glauben Sie?“ „Nicht alle, aber die meisten von uns, und unsere Zivilisation wird zer stört. Die wenigen Überlebenden müssen sich der gewaltigen Aufgabe des Wiederaufbaus stellen. Wie Ihnen offenbar bereits bekannt ist, durchläuft die Geschichte der Menschheit diesen traurigen Zyklus im
mer wieder. Was uns in Bälde bevorsteht, ist nicht die erste Prüfung der Götter, bei der wir Menschen versagen. Mehr als einmal wurden wir bereits niedergeworfen, und demnächst wird uns dieses Schicksal aber mals ereilen.“ Seltsam, dachte Theremon, daß dieser Folimun gar nicht wie ein Irrer wirkt. Ohne die seltsame Kutte hätte man annehmen können, da säße ein jüngerer Geschäftsmann in seinem eleganten Büro – ein Bankangestell ter etwa, oder ein Anlageberater. An seiner Intelligenz konnte kein Zweifel bestehen. Er drückte sich klar und gewandt aus, sehr direkt und in forschem Ton. Er ließ keine Schimpftiraden vom Stapel. Doch was er da so direkt und forsch von sich gab, war der überspannteste Humbug, den man sich nur denken konnte. Zwischen dem Inhalt von Folimuns Worten und der Art, wie sie vorgetragen wurden, bestand ein unüber brückbarer Gegensatz. Nun saß er ganz still da und wartete sichtlich entspannt auf die nächste Frage des Journalisten. „Ich will ganz offen sein“, sagte Theremon nach einet Weile. „Genau wie vielen anderen Menschen fällt es mir schwer, eine Aussage von dieser Tragweite zu akzeptieren, wenn man sie mir einfach als Offenba rung verkauft. Ich brauche harte Fakten. Aber die liefern Sie uns nicht. Ihr müßt uns vertrauen, sagen Sie. Handfeste Beweise können Sie uns natürlich nicht vorlegen, erklären Sie, wir müssen einfach glauben, was Sie uns erzählen, denn Sie haben es direkt von den Göttern, und die Götter lügen nicht. Aber können Sie mir einen triftigen Grund nennen, warum ich Ihnen glauben sollte? Vertrauen ist für Leute meines Schla ges einfach nicht genug.“ „Wieso glauben Sie, es gäbe keine Beweise?“ fragte Folimun. „Gibt es sie denn? Vom Buch der Offenbarungen einmal abgesehen? Ein Zirkelschluß ist für mich nämlich kein Beweis.“ „Sie wissen, daß unsere Organisation sehr alt ist.“ „Man munkelt von zehntausend Jahren.“ Ein Lächeln zuckte um Folimuns dünne Lippen. „Eine beliebige Zahl, vielleicht ein wenig übertrieben, um Eindruck auf die Öffentlichkeit zu machen. Intern begnügen wir uns mit der Aussage, wir stammten aus prähistorischer Zeit.“ „Dann wäre Ihre Gruppe auf jeden Fall zweitausend Jahre alt.“ „Mindestens, eher etwas mehr. Wir können unsere Ursprünge bis in die Zeit vor der letzten Katastrophe zurückverfolgen – folglich sind wir mit Sicherheit mehr als zweitausendundneunundvierzig Jahre alt. Wahr scheinlich sehr viel älter, aber dafür haben wir keine Beweise, jedenfalls keine von der Art, die Sie anerkennen würden. Wir halten es für mög lich, daß die Apostel sogar mehrere Zerstörungszyklen überstanden
haben, womit wir auf bis zu sechstausend Jahre kämen. Wichtig ist frei lich nur, daß das Datum unserer Entstehung vor der letzten Katastrophe liegt. Das heißt, daß wir seit mehr als einem Gottesjahr in aller Stille als Organisation aktiv sind. Und deshalb verfügen wir über Unterlagen, in denen die bevorstehende Katastrophe sehr differenziert beschrieben wird. Wir wissen, was geschehen wird, weil wir wissen, was bereits viele Male geschehen ist.“ „Aber diese angeblichen Unterlagen wollen Sie niemandem zeigen. Die Fakten, die Beweise.“ „Wir bieten der Welt das Buch der Offenbarungen.“ Immer im Kreis herum. So kam man nicht weiter. Theremon wurde unruhig. Ohne Frage war die ganze Geschichte ein einziger Bluff. Ein zynischer Betrug, wahrscheinlich mit dem Ziel, leichtgläubigen Dumm köpfen wie Bottiker und Vivin und anderen reichen Leuten, die sich um jeden Preis von der drohenden Vernichtung freikaufen wollten, fette Spenden aus der Tasche zu ziehen. Und dieser Folimun, der nach außen hin einen so aufrichtigen und intelligenten Eindruck machte, mischte bei diesem gigantischen Schwindelunternehmen entweder bereitwillig mit, oder er war wie so viele andere Narren auf Mondior hereingefallen. „Nun gut“, sagte der Journalist. „Nehmen wir einmal an, im nächsten Jahr bricht tatsächlich eine Katastrophe über die ganze Welt herein, und Ihre Gruppe weiß im voraus genau darüber Bescheid. Was sollen wir übrigen nun Ihrer Meinung nach tun? Scharenweise in Ihre Bethäuser strömen und die Götter um Gnade anflehen?“ „Dazu ist es längst zu spät.“ „Also gibt es keine Hoffnung? Warum machen Sie sich dann über haupt die Mühe, uns zu warnen?“ Wieder lächelte Folimun, diesmal ohne Ironie. „Aus zwei Gründen. Erstens, weil wir in der Tat wollen, daß die Menschen in unsere Bethäu ser kommen – nicht, damit sie versuchen, die Götter umzustimmen, sondern damit sie sich anhören, was wir ihnen in bezug auf Moral und ganz gewöhnlichen Anstand zu sagen haben. Wir glauben, daß unsere Botschaft in diesem Bereich für die Welt durchaus von Bedeutung ist. Aber wichtiger ist noch der zweite Grund: Wir wollen die Menschen von der Realität des Kommenden überzeugen, damit sie alles tun, um sich davor zu schützen. Die schlimmsten Auswirkungen der Katastrophe können verhindert werden, es gibt Maßnahmen, um die völlige Zerstö rung unserer Zivilisation abzuwenden. Gewiß, in Anbetracht der menschlichen Natur ist das Feuer unvermeidlich – die Götter haben gesprochen, der Augenblick der Rache naht unaufhaltsam –, doch inmit ten des allgemeinen Chaos, inmitten des Wahnsinns wird es einige ge ben, die überleben. Wir Apostel werden ganz gewiß dazugehören, das versichere ich Ihnen. Wie ehedem werden wir bereitstehen, um die
Menschheit in den neuen Zyklus der Wiedergeburt zu führen. Und je dem, der sie haben will, reichen wir die Hand – in Liebe und in Barm herzigkeit. Jedem, der bereit ist, mit uns zusammen Vorsorge zu treffen für die Zeit der Bedrängnis. Finden Sie, daß das wie Wahnsinn klingt, Theremon? Klingt es so, als seien wir gefährliche Irre?“ „Wenn ich nur Ihre Grundvoraussetzung akzeptieren könnte…“ „Daß im nächsten Jahr das Feuer kommt? Das werden Sie akzeptieren. Ganz bestimmt. Abzuwarten bleibt nur, ob Sie es früh genug akzeptie ren, um zu den Überlebenden zu gehören, zu den Hütern unseres Erbes, oder ob Sie erst im Augenblick der Vernichtung, im Augenblick Ihrer eigenen Todesqualen einsehen, daß wir die ganze Zeit die Wahrheit gesprochen haben.“ „Darauf bin ich auch neugierig“, sagte Theramon. „Gestatten Sie mir, der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, daß Sie an dem Tag, an dem das Gottesjahr zu Ende geht, auf unserer Seite stehen werden“, sagte Folimun. Dann stand er unvermittelt auf. „Ich muß ge hen. Seine Erhabenheit, der Höchste Apostel, erwartet mich in wenigen Minuten. Aber wir werden unser Gespräch fortsetzen, davon bin ich überzeugt. Wenn Sie sich einen Tag vorher anmelden, werde ich mich bemühen, mich für Sie freizumachen. Ich freue mich auf weitere Unter haltungen mit Ihnen. So merkwürdig es auch klingen mag, ich glaube, wir beide sind für eine enge Zusammenarbeit wie geschaffen. Wir haben vieles gemeinsam.“ „Finden Sie?“ „Wohl nicht, was den Glauben betrifft. Doch was den Überlebenswil len angeht – und den Wunsch, auch andere vor dem Tod zu retten –, ja, da bin ich unbedingt dieser Ansicht. Ich meine, wir beide werden ir gendwann aufeinander zugehen, um mit vereinten Kräften gegen die Dunkelheit zu kämpfen, ja, ich bin mir sogar völlig sicher.“ Natürlich, dachte Theremon. Warum lasse ich mir nicht gleich eine schwarze Kutte anmessen? Aber es war nichts gewonnen, wenn er Folimun mit Grobheiten vor den Kopf stieß. Der Apostelkult hatte ganz offensichtlich von Tag zu Tag mehr Zulauf. Man konnte eine Riesenstory daraus machen, aber um an das Material zu kommen, mußte er sich wahrscheinlich mit Folimun gutstellen. Theremon verstaute das Buch der Offenbarungen in seiner Aktenmap pe und stand auf. „In ein paar Wochen melde ich mich wieder“, versprach er. „Ich muß mir erst die Zeit nehmen, dies hier sorgfältig zu studieren. Dann habe ich sicher noch weitere Fragen an Sie. – Und wie lange im voraus müßte ich mich anmelden, um eine Audienz bei Mondior 71 zu bekommen?“
Doch so leicht war Folimun nicht zu übertölpeln. „Ich kann mich nur wiederholen, in der kurzen Zeit bis zum Tag des Feuers ist Seine Erha benheit mit so wichtigen Dingen beschäftigt, daß er unmöglich Zeit für persönliche Interviews oder dergleichen erübrigen kann. Es tut mir auf richtig leid, aber ich kann es nicht ändern.“ Folimun reichte ihm die Hand. „Es war mir ein Vergnügen.“ „Mir ebenfalls“, sagte Theremon. Folimun lachte. „Tatsächlich? Obwohl Sie eine halbe Stunde auf einen Verrückten verschwendet haben? Einen Spinner? Einen Fanatiker? Ei nen Kultisten?“ „Ich kann mich nicht erinnern, diese Worte gebraucht zu haben.“ „Aber es würde mich nicht wundern, wenn Sie mich in Gedanken so bezeichnet hätten.“ Der Apostel hatte wieder sein merkwürdig entwaff nendes Lächeln aufgesetzt. „Zur Hälfte hätten Sie übrigens sogar recht. Ich bin ein Fanatiker. Und ein Kultist vermutlich auch. Aber ich bin weder verrückt, noch ein Spinner. Ich wünschte, ich wäre es. Und Sie werden sich das auch noch wünschen.“ Eine Geste, und Theremon war entlassen. Der Mönch, der ihn herge führt hatte, wartete bereits vor der Tür, um ihn zur Liftkabine zu brin gen. Eine sonderbare halbe Stunde, dachte Theremon. Und nicht einmal be sonders ergiebig. In mancher Hinsicht wußte er jetzt noch weniger über die Apostel als zuvor. Daß sie Wirrköpfe waren, die skrupellos die Ängste der Menschen ausbeuteten, stand für ihn immer noch fest. Natürlich hatten sie keine Spur eines Beweises für die gewaltige Katastrophe, vor der die Welt angeblich stand. Nicht so sicher war er freilich, ob sie Dummköpfe wa ren, die an ihren eigenen Unsinn glaubten, oder schamlose Betrüger, die sich nur bereichern wollten. Es war alles recht verwirrend. Die Bewegung enthielt Elemente eines fanatischen Puritanismus, die keineswegs nach seinem Geschmack wa ren. Andererseits war ihm dieser Folimun, ihr Sprecher, unerwartet sympathisch. Ein intelligenter, wortgewandter – auf seine Weise sogar vernünftiger Mann. Zudem schien er über etwas wie Humor zu verfü gen, was überraschend war, aber zu seinen Gunsten sprach. Theremon hatte noch nie von einem gefährlichen Irren – oder einem Fanatiker – gehört, der auch nur der leisesten Selbstironie fähig gewesen wäre. – Es sei denn, das alles war Teil einer Fassade für die Öffentlichkeit; es sei denn, Folimun hatte seine Selbstdarstellung ganz gezielt darauf ausge richtet, einen Mann wie Theremon zu beeindrucken. Sei vorsichtig, ermahnte er sich. Folimun will dich benützen. Dagegen war freilich nichts zu sagen. Er hatte durch seine Zeitung ei nigen Einfluß. Benützen wollte ihn jeder.
Na schön, dachte er, warten wir ab, wer letztlich wen benützt. Seine Schritte klapperten laut auf dem Marmorboden, als er in flottem Tempo das riesige Foyer des Apostel-Hauptquartiere durchquerte und in den strahlenden Drei-Sonnen-Nachmittag hinaustrat. Nun zurück ins Büro des Chronicle, um zwei Stunden lang andächtig das Buch der Offenbarungen zu studieren, dann wurde es allmählich Zeit, sich Gedanken über die morgige Kolumne zu machen.
Kapitel 11 Am Nachmittag von Sheerins Rückkehr nach Saro City machte die sommerliche Regenzeit ihrem Namen alle Ehre. Als der dicke Psycho loge aus dem Flugzeug stieg, empfing ihn ein gewaltiger Platzregen. Der ganze Flugplatz ähnelte bereits einem See. Heftige Böen peitschten die Regenschleier nahezu waagerecht durch die Luft. Grau – grau – alles war grau. Irgendwo da oben im Nebel verbargen sich wohl die Sonnen. Der hel lere Fleck im Westen mußte Onos sein, und in der entgegengesetzten Richtung konnte man Tanos und Sithas frostiges Licht erahnen. Doch dank der dichten Wolkendecke war es ein ungemütlich trüber Tag. Be klemmend trüb für Sheerin, der – trotz aller anders lautenden Beteue rungen gegenüber seinen Gastgebern in Jonglor – immer noch unter den Nachwirkungen seiner fünfzehnminütigen Fahrt durch den Tunnel der Geheimnisse litt. Er war dem Wahnsinn gefährlich nahe gewesen, allerdings hätte er lieber ein zehntägiges Fasten auf sich genommen, als Kelaritan, Cubello und den anderen das einzugestehen. Danach hatte er drei oder vier Tage lang einen Anflug, nur einen An flug der Klaustrophobie empfunden, die so viele Bürger von Jonglor in die Nervenklinik gebracht hatte. So hatte er etwa, wenn er in seinem Hotelzimmer saß und an seinem Bericht arbeitete, mehrmals den Ein druck gehabt, als bräche die Dunkelheit über ihn herein, und dann hatte er unbedingt aufstehen und auf seine Terrasse treten oder gar das Ge bäude verlassen müssen, um einen langen Spaziergang im Garten des Hotels zu unternehmen, Unbedingt? – Nun, das vielleicht nicht. Aber er hatte es vorgezogen. Er harte es ganz entschieden vorgezogen. Und es hatte ihm stets Erleichterung verschafft. Manchmal kam die Dunkelheit auch, während er schlief. Natürlich brannte in seinem Zimmer ein Gottesauge – er schlief immer mit einem Gottesauge, das tat jeder, den er kannte –, aber seit der Fahrt durch den Tunnel stellte immer ein zweites auf, für den Fall, daß sich die Batterie des ersten erschöpfte, auch wenn sie laut Anzeige noch sechs Monate reichen sollte. Trotzdem behauptete sein schlafendes Bewußtsein plötz
lich steif und fest, der Raum sei in undurchdringliche Nacht getaucht, pechschwarz, absolut und vollständig finster. Und dann erwachte er zitternd und schweißgebadet, überzeugt, die Dunkelheit habe ihn über fallen, obwohl der traute Schein der Gottesaugen zu beiden Seiten sei nes Bettes ihm das Gegenteil versicherte. Und jetzt trat er aus dem Flugzeug in diese trübe Dämmerlandschaft – gewiß, er war froh, wieder zu Hause zu sein, aber er hätte sich zu seiner Ankunft mehr Sonnenschein gewünscht. Als er den Schlechtwettergang aus Plexiglas betrat, der von seiner Maschine zum Flughafengebäude führte, mußte er gegen ein leichtes, ja, sogar ein ziemlich starkes Unbe hagen ankämpfen. Er hätte gern auf den Gang verzichtet. Im Moment wäre er lieber naß geworden, dachte er, wenn er damit vermeiden konn te, irgendwo eingeschlossen zu sein. Er hätte es vorgezogen, unter frei em Himmel zu bleiben, im tröstlichen (wenn auch momentan schwa chen, von Wolken verdeckten) Licht der freundlichen Sonnen. Aber die Beklemmung ging vorüber, und als er sein Gepäck abgeholt hatte, triumphierte die Freude über die glückliche Heimkehr nach Saro City über die Folgen seines Kontakts mit der Dunkelheit. Vor der Gepäckausgabe wartete Liliath 221 mit ihrem Wagen auf ihn. Auch das hob seine Stimmung. Sie war schlank, gutaussehend, Ende vierzig und ebenfalls an der Psychologischen Fakultät beschäftigt, aller dings führte sie Versuche mit Tieren und Labyrinthen durch, so daß es keinerlei Berührungspunkte mit seiner Arbeit gab. Sie kannten sich seit zehn oder fünfzehn Jahren, und wenn Sheerin ein Typ zum Heiraten gewesen wäre, hätte er sie wahrscheinlich längst um ihre Hand gebeten. Aber das war er nicht, und für sie galt offenbar das gleiche, denn ermun tert hatte sie ihn nie. Beiden schien die Beziehung so zu behagen, wie sie war. „Einen schlechteren Tag für meine Heimkehr hätte ich mir wohl kaum…“ sagte er, als er in den Wagen stieg und sich über sie beugte, um ihr einen freundschaftlichen Kuß zu geben. „Es ist schon seit drei Tagen so. Und angeblich soll es noch auch die nächsten drei Tage so weitergehen, bis nächsten Onos-Tag. Inzwischen sind wir vermutlich alle ertrunken. – Du hast abgenommen da oben in Jonglor, Sheerin!“ „Tatsächlich? Na, du weißt ja, die nördliche Kost – nicht so ganz mein Fall.“ Er hätte nicht gedacht, daß es auffallen würde. Ein Mann von seinem Umfang müßte eigentlich zehn bis fünfzehn Pfund verlieren können, ohne daß es jemand merkte. Aber Liliath hatte schon immer scharfe Augen gehabt. Und vielleicht hatte er ja mehr als zehn oder fünfzehn Pfund abgespeckt. Seit der Tunnelfahrt hatte er nur noch im Essen her
umgestochert. Er! Kaum zu fassen, wie wenig er gegessen hatte. „Es steht dir gut“, sagte sie. „Du wirkst gesund. Voll Energie.“ „Ja?“ „Ich finde zwar nicht, daß du in deinem Alter unbedingt dürr sein mußt. Aber ein bißchen weniger kann nicht schaden. Du hast dich also gut amüsiert in Jonglor?“ „Nun ja…“ „Hast du dir die Ausstellung ansehen?“ „Ja. Fabelhaft.“ Allzu viel Begeisterung brachte er nicht auf. „Mein Gott, Liliath, dieser Regen!“ „Hat es in Jonglor nicht geregnet?“ „Da war es die ganze Zeit über klar und trocken. Wie vor meiner Ab reise hier in Saro.“ „Das ist eben der Wechsel der Jahreszeiten, Sheerin. Du kannst nicht erwarten, sechs Monate lang ununterbrochen ein- und dasselbe Wetter zu haben. Wenn sich die Sonnenkonstellation jeden Tag ändert, muß man damit rechnen daß die Witterungsverhältnisse nicht lange stabil bleiben.“ „Ist das jetzt Meteorologie oder Astrologie?“ erkundigte sich Sheerin. „Weder noch, sondern Psychologie. – Willst du mir denn gar nichts von deiner Reise erzählen, Sheerin?“ Er zögerte. „Die Ausstellung war phantastisch. Schade, daß du sie nicht sehen konntest. Aber meistens war ich vollauf beschäftigt. Die haben mit ihrem Tunnel der Geheimnisse ein echtes Problem am Hals.“ „Stimmt es wirklich, daß Menschen daran gestorben sind?“ „Es gab ein paar Fälle. Aber hauptsächlich kamen die Leute mit einem schweren Schock wieder heraus, völlig desorientiert. Klaustrophobisch. Ich habe mit einigen Opfern gesprochen. Die Genesung wird Monate dauern. Manche haben einen Dauerschaden davongetragen. Trotzdem blieb der Tunnel wochenlang geöffnet.“ „Auch nachdem die Probleme erkennbar waren?“ „Das hat offenbar keinen gestört. Am wenigsten die Leute von der Ausstellungsleitung. Die waren nur daran interessiert, ihre Karten zu verkaufen. Und die Messebesucher waren neugierig auf die Dunkelheit. Neugierig auf die Dunkelheit, kannst du dir das vorstellen, Liliath? Sie sind Schlange gestanden, um sich ihren Verstand ruinieren zu lassen! Natürlich war jeder überzeugt, daß gerade ihm nichts passieren würde. Und den meisten ist ja auch nichts passiert. Aber einigen eben doch. – Ich bin übrigens selbst durch den Tunnel gefahren.“ „Wirklich?“ fragte sie verwundert. „Und wie war es?“ „Scheußlich. Ich würde es um nichts in der Welt noch einmal ma chen.“ „Aber du hast es überlebt, wie man sieht.“
„Schon“, sagte er vorsichtig. „Vielleicht würde ich es auch überleben, ein halbes Dutzend lebende Fische zu verschlingen, trotzdem würde ich es nicht gern wiederholen. Ich habe ihnen geraten, ihren verdammten Tunnel zu schließen. Das ist meine Meinung als Fachmann, und ich schätze sie werden sich daran halten. Wir sind einfach nicht dafür ge eignet, so lange im Dunkeln zu sein, Liliath. Ein bis zwei Minuten viel leicht – dann drehen wir allmählich durch. Das ist uns angeboren, davon bin ich überzeugt, die Evolution hat uns in Millionen von Jahren zu dem gemacht, was wir sind. Es gibt für uns nichts Unnatürlicheres als die Dunkelheit. Wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, sie den Leuten als Vergnügen zu verkaufen…“ Er schauderte. „Nun, ich habe meine Reise nach Jonglor hinter mir, jetzt bin ich wieder da. Was hat sich denn inzwischen an der Universität getan?“ „Nicht viel“, antwortete Liliath. „Die üblichen kleinen Kabbeleien, die üblichen Fakultätssitzungen, auf denen man in schwülstigen Worten seine Empörung über diese oder jene brennende, soziale Frage zum Ausdruck bringt – du kennst das ja.“ Sie schwieg einen Moment und umfaßte das Steuerrad mit beiden Händen, um den Wagen sicher durch die tiefen Pfützen auf der Autobahn zu lenken. „Ach ja, drüben im Ob servatorium scheint es einige Verwirrung zu geben. Dein Freund Bee nay 25 war hier und wollte dich sprechen. Viel hat er mir nicht erzählt, aber offenbar sind sie dabei, eine ihrer Schlüsseltheorien von Grund auf neu zu bewerten. Alles ist in Aufruhr. Stell dir vor, der alte Athor leitet die Forschungen persönlich! Und ich dachte, sein Gehirn sei schon seit hundert Jahren versteinert. – Beenay hatte einen Mann von der Zeitung dabei, er schreibt eine populärwissenschaftliche Kolumne. Ich glaube, er hieß Theremon. Theremon 762. Besonders sympathisch war er mir nicht.“ „Er ist sehr bekannt. Ein ziemlicher Scharfmacher, glaube ich, aller dings weiß ich nicht genau, wogegen er eigentlich wettert. Er ist viel mit Beenay zusammen.“ Sheerin nahm sich vor, den jungen Astronomen gleich anzurufen, wenn er seine Koffer ausgepackt hatte. Beenay lebte nun schon seit über einem Jahr mit Raissta 717 zusammen, der Tochter von Sheerins Schwester, und Sheerin hatte sich mit ihm angefreundet, soweit das bei mehr als zwanzig Jahren Altersunterschied möglich war. Sein amateur haftes Interesse für Astronomie war dabei nur ein Punkt, der ihn mit dem jüngeren Mann verband. Athor wieder in der Forschung! Kaum zu glauben! Wie war es dazu wohl gekommen? Hatte etwa jemand die Frechheit besessen, in einer Veröffentlichung das Gravitationsgesetz anzugreifen? Nein, dachte Sheerin – das würde niemand wagen.
„Und was ist mit dir?“ fragte er. „Du hast noch mit keinem Wort er wähnt, was du die ganze Zeit getrieben hast, während ich weg war.“ „Was werde ich schon getrieben haben, Sheerin? Wahrscheinlich war ich zum Motorschirmfliegen in den Bergen, habe Versammlungen der Apostel des Feuers besucht und einen Kurs in Politologie belegt. Nein, ich habe Bücher gelesen. Ich habe Vorlesungen gehalten. Ich habe mei ne Versuche durchgeführt. Ich habe auf dich gewartet. Ich habe das Essen geplant, das ich zur Feier deiner Rückkehr auf den Tisch bringen wollte. – Du bist wirklich nicht auf Diät?“ „Natürlich nicht.“ Liebevoll berührte er ihre Hand. „Ich habe die gan ze Zeit an dich gedacht, Liliath.“ „Das glaube ich dir aufs Wort.“ „Und ich kann das Essen kaum erwarten.“ „Das zumindest nehme ich dir ab.“ Plötzlich wurde der Regen stärker, ein gewaltiger Wasserschwall platschte gegen die Windschutzscheibe. Liliath hatte zu tun, um den Wagen auf der Straße zu halten. Sie fuhren gerade am Pantheon vorbei, der imposanten Kathedrale Aller Götter. Das Wasser, das in Strömen über die Ziegelfassade rann, schmälerte die Pracht freilich sehr. Das Unwetter verschlimmerte sich, der Himmel wurde noch dunkler. Sheerin wandte sich schaudernd ab und betrachtete lieber die hell er leuchteten Anzeigen auf dem Armaturenbrett des Wagens. Der enge Fahrgastraum bedrückte ihn. Am liebsten wäre er trotz des Sturms ins Freie gelaufen. Aber das wäre verrückt. Da draußen würde er sofort bis auf die Haut durchnäßt. Die Pfützen waren so tief, daß man darin ertrinken konnte. Denk an etwas Schönes, befahl er sich. Stell dir Wärme und Helligkeit vor. Stell dir Sonnenschein vor, Onos’ goldenen Sonnenschein, Patrus und Treys warmes Licht, sogar die kalte Helligkeit von Sitha und Tano oder Dovims mattes Rot. Denk an das Essen heute abend. Liliath hat zu deinem Empfang ein Festessen vorbereitet, und sie ist eine ausgezeich nete Köchin. Er merkte, daß er noch immer keinen Hunger hatte. Nicht an einem elend grauen Tag wie diesem, an einem Tag, der so dunkel war… so dunkel… Aber Liliath war sehr empfindlich, was ihre Kochkünste anging. Be sonders, wenn sie für ihn kochte. Er nahm sich vor, alles zu essen, was sie ihm vorsetzte, auch wenn er sich dazu zwingen mußte. Eine seltsame Vorstellung, dachte er: Sheerin, der große Feinschmecker, der sich zum Essen zwingen mußte! Liliath hörte ihn lachen und sah zu ihm herüber. „Was ist so komisch?“
„Ich… äh… nun, daß Athor wieder in die Forschung gestiegen sein soll“, improvisierte er hastig. „Nachdem er sich so lange damit begnügt hat, den in Ehren ergrauten Pascha der Astronomie zu spielen und sich ausschließlich mit Verwaltungsdingen zu beschäftigen. Ich muß Beenay sofort anrufen. Was kann da drüben im Observatorium nur geschehen sein?“
Kapitel 12 Seit drei Tagen war Siferra 89 nun wieder an der Universität von Saro, und es hatte immer noch nicht zu regnen aufgehört. Nach dem knochen trockenen Wüstenklima der Halbinsel Sagikan empfand sie dieses Wet ter als angenehme Abwechslung. Sie hatte so lange keinen Regen mehr gesehen, daß sie die Vorstellung von Wasser, das vom Himmel fiel, kaum fassen konnte. Auf Sagikan war jeder Tropfen Wasser eine Kostbarkeit. Man ging äußerst sparsam damit um, und nichts, was sich wiederaufbereiten ließ, wurde vergeudet. Hier dagegen strömte es vom Himmel herab wie aus einem gewaltigen, unerschöpflichen Reservoir. Siferra hatte plötzlich das Bedürfnis, sich die Kleider vom Leibe zu reißen und über die wei ten, grünen Rasenflächen des Campus zu laufen, um sich von diesem köstlichen Naß überspülen und endlich den gräßlichen Wüstenstaub fortschwemmen zu lassen. Das fehlte noch, daß Siferra 89, die unnahbare, besonnene, nüchterne Archäologieprofessorin nackt durch den Regen rannte! Eigentlich würde es sich lohnen, schon um der fassungslosen Gesichter willen, die ihr aus allen Fenstern der Universität nachgaffen würden. Trotzdem werde ich es kaum tun, dachte Siferra. Ganz und gar nicht mein Stil. Sie war auch viel zu beschäftigt für solche Scherze, denn sie hatte sich unverzüglich an die Arbeit gemacht. Die meisten der Schätze, die sie in Beklimot ausgegraben hatte, waren zwar mit dem Frachtschiff unter wegs und würden erst Wochen später eintreffen. Aber es galt Schaubil der anzufertigen und Skizzen zu zeichnen, Baliks Aufnahmen der ver schiedenen Schichten zu analysieren, die Bodenproben für das Radio graphielabor fertigzumachen und tausend Dinge mehr. – Und vor allem mußte sie mit Mudrin 505 von der paläographischen Fakultät über die Thombo-Täfelchen sprechen. Die Thombo-Täfelchen! Der Fund aller Funde, die wichtigste Entde ckung der ganzen anderthalb Jahre! Jedenfalls ihrer Ansicht nach. Selbstverständlich hing alles davon ab, ob irgend jemand daraus klug wurde. Wie auch immer, sie würde keine Zeit verlieren. Mudrin mußte sofort ans Werk gehen. Die Täfelchen waren an sich schon faszinierend,
aber das war unter Umständen noch längst nicht alles. Möglicherweise würden sie die ganze prähistorische Forschung revolutionieren. Deshalb hatte sie auch nicht gewagt, sie den Frachtschiffen anzuvertrauen, son dern sie mit eigenen Händen von Sagikan hierher gebracht. Es klopfte an die Tür. „Siferra? Siferra, bist du da?“ „Nur herein, Balik.“ Der breitschultrige Stratigraph war klatschnaß. „Verdammtes Dreck wetter“, murrte er und schüttelte sich. „Ich bin völlig durchweicht, dabei bin ich nur von der Uland-Bibliothek aus quer über den Hof gelaufen!“ „Ich liebe den Regen“, sagte Siferra. „Von mir aus brauchte er niemals aufzuhören. Nach den vielen Monaten in der Wüste bin ich wie ausge dörrt – ständig hatte man Sand in den Augen und Staub in der Kehle, dazu die Hitze, die Trockenheit – nein, Balik, laß es ruhig weiterreg nen!“ „Aber wie ich sehe, bleibst du hübsch in deinem Büro. Wenn man selbst im Trockenen sitzt, kann man leicht vom Regen schwärmen. – Spielst du wieder mit deinen Täfelchen?“ Er deutete auf die sechs schar tigen, abgestoßenen Platten aus hartem, rotem Lehm, die Siferra in zwei Dreiergruppen auf ihrem Schreibtisch angeordnet hatte, die rechteckigen in der oberen Reihe, die ovalen darunter. „Sind sie nicht wunderschön?“ schwärmte Siferra. „Ich kann mich ein fach nicht davon trennen. Immer wieder starre ich darauf, als könnte ich ihnen ihr Geheimnis entreißen, wenn ich sie nur lange genug ansehe.“ Kopfschüttelnd beugte Balik sich vor. „Für mich sehen sie aus, als sei en Hühner drübergelaufen.“ „Komm! Selbst ich kann eindeutig Wörter erkennen“, entrüstete sich Siferra. „Und ich bin kein Paläograph. Schau her – siehst du diese Gruppe von sechs Zeichen? Sie wiederholt sich dort. Und die drei hier, die durch Keile hervorgehoben werden?“ „Hast du sie Mudrin schon gezeigt?“ „Noch nicht. Aber ich habe ihn gebeten, baldmöglichst vorbeizukom men.“ „Weißt du, daß sich unsere Entdeckung bereits herumgesprochen hat? Die übereinanderliegenden Städte von Thombo?“ Siferra sah ihn fassungslos an. „Was? Wer…?“ „Jemand von den Studenten“, sagte Balik. „Wer genau, weiß ich nicht – ich tippe auf Veloran, Eilis hat dagegen eher Sten in Verdacht. Aber das war wohl unvermeidlich, meinst du nicht auch?“ „Ich habe ihnen verboten, auch nur ein Wort zu…“ „Natürlich, Siferra, aber sie sind doch noch Kinder, neunzehn Jahre alt, und zum ersten Mal bei einer wichtigen Grabung dabei! Und dann stößt die Expedition auch noch auf einen absolut sensationellen Fund –
sieben bis dato unbekannte, prähistorische Städte, eine über der anderen, die Götter allein wissen wie viele Jahrtausende alt…“ „Neun Städte, Balik.“ „Sieben, neun, in jedem Fall ist es kaum zu fassen. Nebenbei bemerkt, glaube ich, daß es sieben sind.“ Balik lächelte. „Ich weiß. Und du irrst dich. – Aber wer hat nun darüber geklatscht? In der Fakultät, meine ich.“ „Hilliko. Und Brangin. Ich habe heute morgen im Aufenthaltsraum ein Gespräch mitgehört, und ich muß dir leider sagen, sie sind äußerst skep tisch. Hemmungslos skeptisch. Sie halten es für völlig ausgeschlossen, daß es an dieser Stätte auch nur eine Siedlung gibt, die älter ist als Beklimot, von neun oder sieben oder wie viele es nun sein mögen, ganz zu schweigen.“ „Sie haben die Aufnahmen nicht gesehen. Sie haben die Schaubilder nicht gesehen. Sie haben die Täfelchen nicht gesehen. Sie haben gar nichts gesehen. Aber sie haben bereits eine Meinung.“ Siferras Augen blitzten vor Zorn. „Was wissen sie denn überhaupt? Haben sie jemals einen Fuß auf die Halbinsel Sagikan gesetzt? Haben sie Beklimot auch nur als Touristen besucht? Und doch wagen sie es, über einen Fund mitzureden, der noch gar nicht veröffentlicht ist, über den noch nicht einmal privat innerhalb der Fakultät gesprochen wurde!“ „Siferra…“ „Ich könnte den beiden den Hals umdrehen! Und Veloran und Sten genauso. Sie wußten doch, daß sie ihr Mundwerk im Zaum halten soll ten. Wie kommen die beiden überhaupt dazu, mir, wenn auch nur ver bal, mein Erstveröffentlichungsrecht streitig zu machen? Ich werde die beiden in die Mangel nehmen und feststellen, wer dafür verantwortlich ist, daß die Geschichte zu Hilliko und Brangin durchdringen konnte. Der oder die Betreffende braucht sich keine Hoffnungen zu machen, an die ser Universität jemals zu promovieren…“ „Bitte, Siferra“, beschwichtigte Balik. „Die ganze Aufregung ist doch überflüssig.“ „Überflüssig? Man stiehlt mir mein Erstveröffentlichungsrecht!“ „Kein Mensch hat dir etwas gestohlen. Es bleibt solange nur ein Ge rücht, bis du selbst eine vorläufige Erklärung abgibst. Und was Veloran und Sten betrifft, so wissen wir gar nicht, ob wirklich einer von ihnen den Mund nicht halten konnte, und wenn es denn so war, nun, dann vergiß nicht, auch du warst einmal jung.“ „Ja“, fauchte Siferra. „In grauer Vorzeit.“ „Sei nicht albern. Du bist jünger als ich, und ich bin auch noch kein Greis.“
Siferra sah zum Fenster hinaus und nickte gleichgültig. Auf einmal ge fiel ihr der Regen nicht mehr so gut. Alles war grau in grau und schauer lich dunkel. „Trotzdem, wenn unsere Erkenntnisse schon angefochten werden, ehe sie überhaupt veröffentlicht sind…“ „Man wird sie zwangsläufig anfechten, Siferra. Was wir in diesem Hügel entdeckt haben, wird überall die Pferde scheu machen, nicht nur in unserer Fakultät. Auch die Historiker, die Philosophen, sogar die Theologen sind davon betroffen. Und du kannst dich darauf verlassen, daß sie ihre überkommenen Vorstellungen von der Entwicklung der Zivilisation mit Zähnen und Klauen verteidigen werden. Würdest du etwa anders reagieren, wenn plötzlich jemand mit einer radikal neuen Idee ankäme, die alles in Frage stellt, woran du glaubst? – Du mußt realistisch sein, Siferra. Wir wußten doch von Anfang an, daß wir einen Riesenwirbel auslösen würden.“ „Schon möglich, aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß es jetzt schon losgeht. Ich habe noch nicht einmal richtig ausgepackt.“ „Das ist das eigentliche Problem. Du hast dich viel zu schnell wieder ins Getümmel gestürzt, anstatt dir eine Atempause zu gönnen. Hör zu, ich habe eine Idee. Wir haben Anspruch auf ein paar Tage Urlaub, ehe wir uns wieder vor den akademischen Karren spannen lassen. Warum flüchten wir beide nicht einfach vor dem Regen und fahren gemeinsam weg? Hinauf nach Jonglor etwa, um uns die Ausstellung anzusehen? Ich habe gestern mit Sheerin gesprochen – er war nämlich eben erst dort, und er sagt…“ Sie starrte ihn ungläubig an. „Was?“ „Ich sagte, Urlaub. Du und ich.“ „Soll das ein Annäherungsversuch sein?“ „Man könnte es wohl so nennen. Wäre das denn so unglaublich? Wir sind uns schließlich nicht gerade fremd. Wir kennen uns seit unserer Studentenzeit. Und wir waren eben erst anderthalb Jahre lang zusammen in der Wüste.“ „Zusammen? An derselben Ausgrabungsstätte, ja. Aber du hattest dein Zelt und ich das meine. Zwischen uns ist nie etwas gewesen. Und auf einmal, wie aus heiterem Himmel…“ Baliks stumpfe Züge spiegelten Betroffenheit, aber auch Verärgerung. „Du tust gerade so, als hätte ich dir einen Antrag gemacht, Siferra. Da bei habe ich nur eine kleine Reise zur Ausstellung von Jonglor vorge schlagen, fünf oder sechs Tage in der Sonne, ein anständiges Hotel an stelle eines Zelts in der Wüste, ein paar ruhige Abende zu zweit bei einem guten Glas Wein…“ Er breitete gereizt die Arme aus. „Jetzt komme ich mir vor wie ein dummer Junge, Siferra.“
„So benimmst du dich ja auch“, gab sie zurück. „Wir hatten immer ein rein kollegiales Verhältnis, Balik. Wollen wir es nicht dabei belassen?“ Er setzte zu einer Antwort an, besann sich offensichtlich eines besse ren und preßte die Lippen fest aufeinander. Sie starrten sich verlegen an. Siferra hatte plötzlich rasende Kopfschmerzen. Es war alles so uner wartet und unerfreulich – erst die Nachricht, daß die anderen Mitglieder der Fakultät bereits zu den Thombo-Funden Stellung bezogen hatten, und dann noch Baliks plumper Verführungsversuch. – Verführung? – Nun, auf jeden Fall hatte er romantische Absichten zum Ausdruck ge bracht. Und was er für ein verdutztes Gesicht gemacht hatte, als sie ihm einen Korb gab! Hatte sie möglicherweise den Eindruck vermittelt, sie führe ihn an der Nase herum? Hatte sie ihm Gefühle vorgegaukelt, die gar nicht existier ten? Nein. Nein. Das hatte sie sicher nie getan. Es reizte sie nicht, im Nor den Ferien zu machen, in schummrigen Lokalen zu sitzen und Wein zu trinken, nicht mit Balik, und auch mit keinem anderen Mann. Sie hatte ihre Arbeit, und das genügte. Seit mehr als zwanzig Jahren, schon seit dem Teenageralter drängten sich ihr die Männer auf und beteuerten ihr, wie schön, wie wunderbar, wie faszinierend sie sei. Eigentlich sollte sie sich geschmeichelt fühlen. Immer noch besser, für schön und faszinie rend gehalten zu werden, als für häßlich und langweilig. Aber sie hatte kein Interesse, heute nicht mehr als damals. Sie wollte einfach nicht. Warum hatte Balik diese peinliche Szene gerade jetzt heraufbeschwo ren, wo sie doch in nächster Zeit gemeinsam, sozusagen Hand in Hand, das Beklimot-Material würden ordnen müssen? Wieder klopfte es an die Tür. Sie war unsäglich dankbar für die Stö rung. „Ja, bitte?“ „Mudrin 505“, antwortete eine zittrige Stimme. „Treten Sie doch ein.“ „Ich gehe jetzt“, sagte Balik. „Nein. Er will sich die Täfelchen ansehen. Es sind doch auch deine Täfelchen?“ „Siferra, es tut mir leid, wenn…“ „Vergiß es. Vergiß es!“ Mudrin kam hereingetattert, ein klappriges Hutzelmännchen hoch in den Siebzigern. Er hatte das Pensionsalter längst überschritten, gehörte aber als Professor ohne Lehrauftrag weiterhin der Fakultät an, damit er seine paläographischen Studien fortsetzen konnte. Seine sanften, grau grünen Augen hatten ein Leben lang über vergilbten Manuskripten ge brütet, nun blinzelten sie kurzsichtig hinter dicken Linsen hervor. Doch
Siferra wußte, daß die Kurzsichtigkeit täuschte: es gab keine schärferen Augen, jedenfalls nicht, wenn es sich um alte Inschriften handelte. „Das sind also die berühmten Täfelchen“, sagte Mudrin. „Wissen Sie, daß ich an nichts anderes mehr denken konnte, seit Sie mir davon er zählt haben?“ Trotzdem ging er nicht sofort daran, sie zu untersuchen. „Könnten Sie mir ein paar Worte über den Kontext des Fundes sagen, über die geologische Matrix?“ „Das hier ist Baliks Originalaufnahme.“ Siferra reichte ihm die Hochglanz-Vergrößerung. „Der Hügel von Thombo, eine alte Müllhalde süd lich von Groß-Beklimot. So sah er aus, nachdem er von einem Sandsturm aufgerissen worden war. Anschließend trieben wir einen Stollen nach hier unten vor – und weiter nach hier – und legten alles frei. Sehen Sie diese dunkle Linie?“ „Kohle?“ vermutete Mudrin. „Genau. Eine Feuerlinie, die ganze Stadt brannte nieder. Wenn wir nun ein Stück weit nach unten gehen, stoßen wir auf eine zweite Gruppe von Fundamenten und eine zweite Feuerlinie. Und wenn Sie hierher sehen – und hierher…“ Mudrin studierte die Aufnahme lange und gründlich. „Was haben Sie gefunden? Acht übereinander liegende Siedlungen?“ „Sieben“, platzte Balik heraus. „Meiner Meinung nach sind es neun“, erklärte Siferra knapp. „Aber ich muß zugeben, daß sie sich immer schwerer auseinanderhalten las sen, je tiefer man kommt. Wir werden eine chemische Analyse und eine radiographische Untersuchung brauchen, um die Frage zu klären. Unbe streitbar ist jedoch, daß hier eine ganze Reihe von Feuersbrünsten gewü tet haben muß. Und jedes Mal haben die Bewohner von Thombo alles wieder aufgebaut.“ „Aber wenn das stimmt, dann muß die Stätte doch uralt sein!“ überleg te Mudrin. „Meiner Schätzung nach umfaßte die Besiedlung einen Zeitraum von mindestens fünftausend Jahren. Aber das ist möglicherweise zu niedrig gegriffen. Es könnten sogar zehn- bis fünfzehntausend Jahre gewesen sein. Letzte Gewißheit werden wir erst bekommen, wenn wir die untere Ebene ganz freigelegt haben, und dazu müssen wir auf die nächste oder übernächste Expedition warten.“ „Fünftausend Jahre, sagen Sie? Ist das möglich?“ „Um eine Stadt so oft wieder aufzubauen? Fünftausend wären das Mi nimum.“ „Aber nichts, was wir bisher ausgegraben haben, kam auch nur ent fernt an dieses Alter heran.“ Mudrin war ganz erschrocken. „Selbst Beklimot ist keine zweitausend Jahre alt, nicht wahr? Und wir betrach
ten es als die älteste unter den bekannten menschlichen Siedlungen auf Kalgash.“ „Die älteste bekannte Siedlung“, sagte Siferra. „Aber wer sagt, daß es keine Siedlungen geben kann, die älter sind? Viel älter sogar? Mudrin, dieses Foto beantwortet Ihre Frage. Diese Stätte muß älter sein als Beklimot – in der obersten Schicht finden sich Artefakten im BeklimotStil, doch dann geht es weit in die Tiefe. Beklimot scheint erst sehr spät in der Geschichte der Menschheit entstanden zu sein. Es existierte noch gar nicht, als die Thombo-Siedlung bereits uralt war. Sie muß über Hunderte von Generationen hinweg immer und immer wieder abge brannt und jedesmal wieder aufgebaut worden sein.“ „Also ein Unglücksort“, bemerkte Mudrin, „der nicht in der Gunst der Götter stand?“ „Den Verdacht hatten die Bewohner irgendwann wohl auch“, warf Ba lik ein. Siferra ruckte. „Ja. Irgendwann kamen sie offenbar zu der Ansicht, der Ort sei verflucht. Und deshalb zogen sie nach dem letzten Großbrand, anstatt die Siedlung wiederaufzubauen, ein kleines Stück weiter und errichteten Beklimot. Doch zuvor müssen sie sehr, sehr lange in Thom bo gewohnt haben. Wir konnten die Baustile der beiden obersten Sied lungen identifizieren – hier sehen Sie die zyklopische Architektur der Mittleren Beklimot-Periode und darunter den Kreuzverbund des Frühen Beklimot. Die dritte Stadt oder was davon übrig ist, kann ich schon nicht mehr einordnen. Der Stil der vierten ist noch fremdartiger und sehr simpel. Verglichen mit der Bauweise der fünften Stadt wirkt er freilich geradezu raffiniert. Danach geht alles drunter und drüber, und man kann kaum noch eine Stadt von der anderen unterscheiden. Jede wird jedoch durch eine Feuerlinie von der jeweils darüberliegenden getrennt, so scheint es jedenfalls. Und die Täfelchen…“ „Ja, die Täfelchen.“ Mudrin zitterte vor Aufregung. „Diesen Satz hier, die rechteckigen, haben wir in der dritten Schicht gefunden. Die ovalen stammen aus der fünften. Entziffern kann ich na türlich nichts. Ich bin schließlich kein Paläograph.“ „Wäre es nicht phantastisch“, begann Balik, „wenn diese Täfelchen in irgendeiner Form über die Zerstörung und den Wiederaufbau der Thombo-Städte berichteten und…“ Siferra warf ihm einen giftigen Blick zu. „Es wäre noch viel phantasti scher, Balik, wenn du deine netten, kleinen Wunschträume für dich be halten würdest!“ „Ich bitte tausendmal um Verzeihung, Siferra“, sagte er eisig. „Eigent lich sollte ich gar nicht mehr zu atmen wagen.“
Mudrin achtete nicht auf das Geplänkel. Er war an Siferras Schreib tisch getreten und beugte sich zuerst lange über die rechteckigen und dann über die ovalen Täfelchen. Endlich sagte er: „Unglaublich! Wirklich unglaublich!“ „Können Sie sie entziffern?“ fragte Siferra. Der Alte lachte leise. „Entziffern? Natürlich nicht. Sie dürfen keine Wunder erwarten. Aber ich kann einzelne Wörter unterscheiden.“ „Ja, so weit war ich auch schon“, sagte Siferra. „Und ich glaube fast, einzelne Buchstaben zu erkennen. Nicht auf den älteren Plättchen – die Schrift ist mir völlig unbekannt, syllabisch höchstwahrscheinlich, für ein Buchstabenalphabet sind es zu viele ver schiedene Zeichen. Aber die rechteckigen Täfelchen zeigen möglicher weise eine sehr primitive Form des Beklimot. Sehen Sie, ich würde fast wetten, daß dies hier ein Quhas ist, und das dort könnte eine etwas ent stellte Form des Buchstaben Tifjak sein – es ist ein Tifjak, meinen Sie nicht auch? – Ich muß mich genauer mit Ihren Täfelchen beschäftigen, Siferra, muß sie mit meinen eigenen Scheinwerfern, meinen Kameras, meinen Scannerschirmen untersuchen. Darf ich sie mitnehmen?“ „Mitnehmen?“ fragte sie, als hätte er ihr zugemutet, ihm einen ihrer Finger zu überlassen. „Nur so kann ich darangehen, sie zu entziffern.“ „Glauben Sie denn, sie schaffen es?“ fragte Balik. „Garantieren kann ich für nichts. Aber wenn dieses Zeichen ein Tifjak und das andere ein Quhas ist, dann müßte ich imstande sein, auch noch andere Vorfahren der Beklimot-Lettern zu finden und zumindest eine Transliteration zu erstellen. Ob wir auch die Sprache verstehen, wenn wir die Schrift lesen können, ist schwer zu sagen. Und ob ich mit den ovalen Täfelchen sehr weit kommen werde, bezweifle ich, es sei denn, Sie hätten ein zweisprachiges Exemplar gefunden, das mir einen Zugang zu dieser noch älteren Schrift ermöglicht. Aber lassen Sie es mich ver suchen, Siferra. Geben Sie mir eine Chance.“ „Gewiß. Bitteschön.“ Vorsichtig sammelte sie die Täfelchen ein und legte sie liebevoll in den Behälter zurück, in dem sie auch die Reise von Sagikan hierher überstanden hatten. Es fiel ihr schwer, sich von ihnen zu trennen. Aber Mudrin hatte recht. Es nützte ihm nichts, wenn er nur einen kurzen Blick darauf werfen durfte, er mußte sie schon genaueren Analysen unterziehen. Wehmütig wartete sie, bis der Paläograph, das kostbare Päckchen fest an die hohle Brust gedrückt, aus dem Zimmer getattert war. Nun war sie mit Balik wieder allein. „Siferra – wegen vorhin…“
„Ich sagte doch schon, vergiß es. Ich hab’s bereits vergessen. Sei mir nicht böse, Balik, wenn ich mich jetzt an die Arbeit mache.“
Kapitel 13 „Nun, wie hat er es aufgenommen?“ fragte Theremon. „Besser als du erwartet hast, schätze ich.“ „Er war einfach großartig“, bestätigte Beenay. Sie saßen auf der Ter rasse des Sechs-Sonnen-Clubs. Der Regen hatte vorübergehend aufge hört, es war ein herrlicher Abend mit jener eigentümlich klaren Atmo sphäre, wie sie nach längeren Schlechtwetterperioden stets zu beobach ten war: im Westen erstrahlte Tanos und Sithas hartes, gespenstisch weißes Licht noch heller als sonst, und gegenüber funkelte Dovim wie ein winziger Rubin am dämmrigen Himmel. „Er schien sich erst gar nicht weiter aufzuregen, bis ich andeutete, ich sei versucht gewesen, die ganze Sache zu verschweigen, um ihn zu schützen. Da ist er hochgegangen und hat mir gründlich den Kopf ge waschen – das hatte ich ja auch verdient. Aber was das Komischste war – Kellner! Kellner! Für mich bitte einen Tano Special! Und für meinen Freund auch einen! Bringen Sie gleich zwei doppelte!“ „Wenn du so weitermachst, wirst du noch zum Säufer“, bemerkte The remon. Beenay zuckte die Achseln. „Ich trinke nur, wenn ich hier bin. Diese Terrasse, der Blick auf die Stadt, die ganze Atmosphäre…“ „So fängt es an. Du findest nach und nach Geschmack an dem Zeug, du assoziierst den Alkohol mit einem Ort, an dem du dich wohl fühlst, nach einer Weile probierst du es anderswo mit ein oder zwei Drinks, dann werden es mehr…“ „Theremon! Du redest wie ein Apostel des Feuers! Die halten das Trinken doch auch für sündhaft, nicht wahr?“ „Für die ist alles sündhaft. Aber das Trinken ganz besonders. Das ist doch das Schöne daran, was, mein Freund?“ Theremon lachte. „Aber du wolltest mir von Athor erzählen.“ „Ja. Das Komischste an der ganzen Geschichte. Erinnerst du dich noch an deine verrückte Idee, Kalgash würde von einem unbekannten Faktor aus der Bahn gedrängt, der es unserer Ansicht nach folgen müßte?“ „Ja, der unsichtbare Riese. Der Drache, der quer über den Himmel schnaubt.“ „Nun, Athor hat genau den gleichen Standpunkt vertreten!“ „Er glaubt an einen Drachen am Himmel?“ Beenay lachte schallend. „Sei nicht albern. Aber an einen unbekannten Faktor glaubt er tatsächlich. Eine schwarze Sonne vielleicht, oder eine
andere Welt in einer Position, wo wir sie unmöglich sehen können, ob wohl ihre Gravitationskraft auf Kalgash wirkt.“ „Ist das nicht doch etwas weit hergeholt?“ fragte Theremon. „Selbstverständlich. Aber Athor hat mich an Thargolas Schwert erin nert, die alte Philosophenmaxime. Man trennt damit – natürlich bildlich gesprochen – bei der Wahl zwischen zwei Hypothesen die komplizierte re ab. Es ist einfacher, sich auf die Suche nach einer schwarzen Sonne zu begeben, als eine neue Gravitationstheorie aufstellen zu müssen. Und deshalb…“ „Eine schwarze Sonne? Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Sonnen sind Lichtquellen. Wie kann also etwas Schwarzes eine Sonne sein?“ „Das ist nur eine von mehreren Möglichkeiten, die Athor uns an den Kopf geworfen hat, und er hat sie nicht unbedingt ernst gemeint. Wir spielen seit Tagen mit den verschiedensten astronomischen Ideen herum und hoffen, eine zu finden, die so viel Sinn macht, daß wir damit eine Erklärung… Ach, da ist ja Sheerin.“ Beenay winkte dem rundlichen Psychologen zu, der soeben den Club betreten hatte. „Sheerin! Sheerin! Komm doch raus und trink ein Glas mit uns!“ Sheerin schob sich vorsichtig durch die schmale Tür. „Du hast dir also neue Laster zugelegt, Beenay?“ „Sehr viele sind es nicht. Aber Theremon hat mich dem Tano Special in die Arme getrieben, und ich habe leider Geschmack daran gefunden. Theremon kennst du doch sicher? Er schreibt die Kolumne im Chronic le.“ „Persönlich sind wir uns, glaube ich, noch nicht begegnet“, sagte Sheerin und reichte dem Journalisten die Hand. „Aber ich habe schon viel von Ihnen gehört. Ich bin der Onkel von Raissta 717.“ „Der Psychologieprofessor“, sagte Theremon. „Waren Sie nicht vor kurzem zur Ausstellung in Jonglor?“ Sheerin sah ihn überrascht an. „Ihnen entgeht wohl nicht viel?“ „Man tut, was man kann.“ Der Kellner kam an den Tisch. „Was darf es sein? Auch ein Tano Special?“ „Zu stark für mich“, sagte Sheerin. „Und auch etwas zu süß. – Neltigir haben Sie den nicht zufällig?“ „Den jonglorischen Brandy? Ich bin nicht sicher. Wie möchten Sie ihn denn, falls ich welchen finde?“ „Pur“, sagte Sheerin. „Bitte.“ An Theremon und Beenay gewandt, er klärte er: „Ich habe mich oben im Norden damit angefreundet. In Jonglor schmeckt das Essen abscheulich, aber zumindest der Brandy ist genießbar.“ „Nach allem, was ich hörte, gab es bei der Ausstellung eine Menge Schwierigkeiten“, sagte Theremon. „Vor allem im Vergnügungszentrum
– wurde da nicht eine Fahrt durch die Dunkelheit angeboten, bei der die Leute vor Angst im wahrsten Sinne des Wortes den Verstand verloren?“ „Der Tunnel der Geheimnisse, richtig. Aus diesem Grund war ich dort: die Stadt und ihre Anwälte hatten mich als fachkundigen Berater zuge zogen.“ Theremon beugte sich vor. „Ist es wahr, daß der Tunnel nicht ge schlossen wurde, auch nachdem mehrere Menschen einen tödlichen Schock erlitten hatten?“ „Jeder stellt mir diese Frage“, antwortete Sheerin. „Ja, es gab ein paar Todesfälle. Aber das hat an der Popularität des Tunnels offenbar nichts geändert. Die Leute drängten sich geradezu danach, das Risiko einzuge hen. Obwohl viele schwer gestört waren, wenn sie wieder herauskamen. Ich habe die Fahrt selbst unternommen“, fuhr er schaudernd fort. „Nun, jetzt wird das Ding jedenfalls dichtgemacht. Ich habe den Betreibern erklärt, andernfalls müßten sie mit Schadenersatzforderungen in Millio nenhöhe rechnen, und es sei einfach lächerlich, von den Menschen zu erwarten, daß sie ein solches Ausmaß von Dunkelheit ertrügen. Das haben sie eingesehen.“ „Wir haben tatsächlich Neltigir, Sir“, unterbrach der Kellner und stell te ein Glas mit dunkelbraunem Brandy vor Sheerin auf den Tisch. „Aber nur eine Flasche, also gehen Sie lieber nicht zu forsch ran.“ Der Psycho loge nickte, griff nach dem Glas und stürzte fast die Hälfte des Inhalts hinunter, noch ehe der Kellner den Tisch verlassen hatte. „Sir, ich sagte eben…“ Sheerin lächelte ihm zu. „Ich habe Sie genau verstanden, und ab jetzt lasse ich mir auch Zeit.“ Er wandte sich an Beenay. „Ich hörte, daß es im Observatorium einigen Wirbel gab, während ich im Norden war. Liliath hat es mir erzählt. Aber sie wußte nicht genau, worum es ging. Sie sagte etwas von einer neuen Theorie, glaube ich.“ Beenay grinste. „Ich habe mich eben mit Theremon darüber unterhal ten. Nein, es ist keine neue Theorie, sondern eine Herausforderung an eine altbewährte. Ich hatte einige Berechnungen von Kalgashs Orbit durchgeführt, und dabei…“ Sheerin hörte sich die Geschichte mit wachsendem Stauenn an. „Die Gravitationstheorie hinfällig?“ rief er mittendrin. „Gütiger Himmel, Mann! Heißt das etwa, mein Glas könnte in den Himmel entschweben, sobald ich es abstelle? Dann trinke ich meinen Neltigir lieber vorher aus!“ Was er denn auch tat. Beenay lachte. „Die Theorie ist immer noch gültig. Wir – oder viel mehr Athor; er leitet die Arbeiten und legt dabei eine erstaunliche Ener gie an den Tag – suchen im Moment nach einer mathematischen Erklä rung dafür, warum unsere Ergebnisse nicht so aussehen, wie sie es unse rer Meinung nach sollten.“
„Das nennt man, glaube ich, Daten manipulieren“, bemerkte There mon. „Klingt verdächtig.“ Sheerin schlug in dieselbe Kerbe. „Wenn einem das Endergebnis nicht gefällt, dreht man die Zahlen eben so lange hin und her, bis sie zu den Resultaten passen. Stimmt’s, Beenay?“ „Nicht unbedingt…“ „Gib’s zu! Gib’s zu!“ rief Sheerin lachend. „Kellner! Noch einen Nel tigir! Und einen Tano Special für unseren skrupellosen jungen Astro nomen. – Theremon, möchten Sie auch noch einen Drink?“ „Bitte.“ Sheerin setzte seine Sticheleien fort: „Du bist eine herbe Enttäuschung für mich, Beenay. Ich dachte immer, nur wir Psychologen biegen die Tatsachen nach unseren Theorien zurecht und nennen das ‚Wissen schaft’. Eigentlich wäre so etwas eher den Aposteln des Feuers zuzu trauen!“ „Sheerin! Hör auf damit!“ „Auch die Apostel bezeichnen sich als Wissenschaftler“, warf There mon ein. Beenay und Sheerin sahen ihn erstaunt an. „Letzte Woche, kurz vor dem großen Regen, habe ich eines von ihren hohen Tieren in terviewt“, erklärte er. „Ich hatte gehofft, Mondior persönlich sprechen zu können, aber statt dessen wurde ich von einem gewissen Folimun 66 empfangen, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Aalglatt, sehr intelligent, durchaus sympathisch. Er hat sich eine halbe Stunde Zeit genommen, um mir mitzuteilen, die Apostel verfügten über gesicherte wissenschaftliche Beweise dafür, daß nächstes Jahr am neunzehnten Theptar die Sonnen erlöschen und wir allesamt in die Dunkelheit stür zen und dem Wahnsinn verfallen würden.“ „Soll das heißen, daß die ganze Welt zu einem einzigen, großen Tun nel der Geheimnisse wird?“ scherzte Sheerin. „Wir haben aber nicht genügend Nervenkliniken, um die ganze Bevölkerung unterzubringen. Und nicht genügend Psychiater, um sie zu behandeln. Außerdem wären dann auch die Psychiater verrückt.“ „Sind sie das nicht jetzt schon?“ fragte Beenay grinsend. „Ein Punkt für dich“, gab Sheerin zurück. „Der Wahnsinn ist nicht das schlimmste“, sagte Theremon. „Folimun behauptet, am Himmel würde etwas erscheinen, das er Sterne nennt, und die würden uns mit Feuer beschießen und alles in Brand setzen. Danach wäre die ganze Welt ein einziges Tollhaus, nur noch Wahnsinnige wür den durch die brennenden Städte irren. Dem Himmel sei Dank, daß dies nur ein Alptraum von Mondior ist.“ „Und wenn nicht?“ Sheerins rundes Gesicht war plötzlich ernst ge worden, und er sah die beiden anderen nachdenklich an. „Wenn nun doch etwas dran wäre?“
„Was für eine entsetzliche Vorstellung“, sagte Beenay. „Ich glaube, darauf brauche ich noch einen Drink.“ „Du bist mit dem letzten noch nicht fertig“, erinnerte Sheerin den jun gen Astronomen. „Na und? Trotzdem brauche ich danach noch einen. Kellner! Kellner!“
Kapitel 14 Athor 77 spürte die Erschöpfung in flimmernden Wellen über sich zu sammenschlagen. Der Leiter des Observatoriums hatte jedes Zeitgefühl verloren. Saß er wirklich schon wieder seit sechzehn Stunden an seinem Schreibtisch? Genau wie gestern? Und vorgestern? Nyilda behauptete es jedenfalls. Er hatte erst vor kurzem am Bild schirm mit ihr gesprochen. Die Besorgnis in den starren, verkniffenen Zügen seiner Frau war nicht zu übersehen gewesen. „Willst du nicht nach Hause kommen und dich ein wenig ausruhen, Athor? Du warst fast rund um die Uhr im Einsatz.“ „Wirklich?“ „Schließlich bist du nicht mehr der Jüngste.“ „Ich bin noch nicht senil, Nyilda. Und was ich hier mache, ist wie ein Jungbrunnen. Zehn Jahre lang habe ich nur Haushaltspläne abgezeichnet und die Forschungsberichte anderer Leute gelesen, nun kann ich endlich wieder richtig arbeiten. Ich finde es herrlich.“ Ihr Blick wurde noch besorgter. „Aber in deinem Alter brauchst du doch gar keine Forschung mehr zu betreiben. Dein Ruf ist gesichert, Athor!“ „Ach ja?“ „Du wirst in der Astronomie auf ewig berühmt sein!“ „Oder berüchtigt“, konterte er giftig. „Athor, ich weiß nicht, was du…“ „Laß gut sein, Nyilda. Ich werde nicht am Schreibtisch zusammenbre chen, glaube mir. Ich fühle mich wie neu geboren. Und ich bin der ein zige, der diese Arbeit tun kann. Mag sein, daß ich ein alter Dickkopf bin, aber es ist von größter Wichtigkeit, daß ich…“ Sie seufzte. „Schon verstanden. Ich möchte dich nur um eines bitten, Athor. Übertreibe nicht.“ Übertrieb er tatsächlich? fragte er sich jetzt. Natürlich tat er das. Ihm blieb doch gar nichts anderes übrig. An eine solche Aufgabe konnte man nicht mit halber Kraft herangehen. Man mußte sich kopfüber hineinstür zen. Als er die Gravitationstheorie aufstellte, hatte er Tag für Tag sech zehn, achtzehn oder zwanzig Stunden am Schreibtisch gesessen. Wenn es nicht mehr anders ging, hatte er ein Nickerchen eingelegt, aus dem er
mit neuem Arbeitseifer wieder erwachte, sofort wieder die Gleichungen vor Augen, bei denen ihn der Schlaf unterbrochen hatte. Aber damals war er fünfunddreißig gewesen. Jetzt war er fast siebzig, und das Alter forderte seinen Tribut. Er hatte Kopfschmerzen, seine Kehle war wie ausgetrocknet, und sein Herz raste. In seinem Büro war es mollig warm, trotzdem hatte er vor Übermüdung kalte Finger. Die Knie taten ihm weh. Sein ganzer Körper protestierte gegen die Strapa zen, die er ihm zumutete. Nur noch ein paar Minuten, gelobte er sich, dann gehe ich nach Hause. Nur noch ein paar Minuten. Hypothese Acht… „Sir?“ „Was ist?“ fragte er. Offenbar hatte es wie ein wütendes Fauchen geklungen, denn als er zur Tür schaute, zappelte der junge Yimot dort so verzweifelt herum, als tanze er auf glühenden Kohlen, und starrte ihn an wie ein verschrecktes Kaninchen. Natürlich war Yimot in Gegenwart seines obersten Vorge setzten immer befangen – das waren alle, nicht nur die Studenten, und Athor war daran gewöhnt. Schließlich war er sich seiner Ausstrahlung wohl bewußt. Aber das ging nun doch zu weit. In den Augen des Jungen stand eine Mischung aus nackter Angst und fassungslosem Staunen. Mit sichtlicher Mühe krächzte er: „Die Berechnungen, Sir, die Sie ha ben wollten…“ „O ja. Schön. Geben Sie her.“ Als Athor nach den Ausdrucken griff, die Yimot ihm entgegenstreckte, zitterte seine Hand so heftig, daß beide sie entgeistert anstarrten. Die langen, knochigen Finger waren leichenblaß, und mit ihren Zuckungen hätte nicht einmal der hypernervöse Yimot konkurrieren können. Athor konzentrierte sich darauf, seine Hand ruhig zu halten, aber er hätte e benso gut versuchen können, Onos rückwärts über den Himmel wandern zu lassen. Mit einem Ruck entriß er Yimot die Papiere und knallte sie auf die Tischplatte. „Kann ich Ihnen irgend etwas bringen, Sir?“ fragte Yimot. „Ein Medikament, meinen Sie? Was erlauben Sie sich?!“ „Ich meinte nur, etwas zu essen oder vielleicht ein kaltes Getränk“, flüsterte Yimot kaum hörbar, während er ganz langsam zurückwich, als fürchte er, Athor würde ihm sogleich knurrend an die Kehle fahren. „Ach so. Ja, ich verstehe. Nein, mir fehlt gar nichts, Yimot. Vielen Dank!“ „Jawohl, Sir.“ Der Student ging. Athor schloß einen Moment lang die Augen, atmete drei oder vier Mal tief durch und zwang sich zur Ruhe. Seine Arbeit war
fast beendet, davon war er überzeugt. Die Zahlen, um die er Yimot ge beten hatte, waren höchstwahrscheinlich die letzte Bestätigung, die er noch brauchte. Die Frage war jetzt nur, wer das Rennen gewinnen wür de, die Arbeit oder er. Er sah sich Yimots Zahlen an. Vor ihm auf dem Schreibtisch standen drei Bildschirme. Der linke zeigte in grellem Rot die Umlaufbahn von Kalgash, wie sie mit her kömmlichen Verfahren gemäß der Gravitationstheorie errechnet worden war. Auf dem rechten leuchtete in feurigem Gelb der modifizierte Orbit, den Beenay mit dem neuen Computer auf der Basis der jüngsten Beo bachtungen von Kalgashs tatsächlicher Position erarbeitet hatte. Auf dem mittleren Schirm waren beide Bahnen übereinandergelegt. In den vergangenen fünf Tagen hatte Athor sieben verschiedene Hypothesen aufgestellt, um die Abweichung zwischen dem theoretischen und dem tatsächlich beobachteten Orbit zu erklären, und jede dieser sieben Hypo thesen konnte er sich mit einem einzigen Tastendruck auf den mittleren Bildschirm holen. Leider waren sie alle sieben Unsinn, und das wußte er auch. Jede hatte im Kern einen entscheidenden Fehler – eine Voraussetzung, die sich nicht zwangsläufig aus den Berechnungen ergab, sondern aufgestellt wurde, weil die richtigen Werte nur mit dieser speziellen Prämisse zu bekommen waren. Nichts war beweisbar, nichts war belegt. In jedem dieser Fälle hatte er sozusagen an irgendeinem Punkt in der Beweisfüh rung verfügt, nun müsse eine gute Fee eingreifen und die gravitationel len Wechselwirkungen so verändern, daß die Abweichung erklärt wur de. Athor wußte nur zu gut, daß solch eine gute Fee genau das war, was er brauchte. Aber sie mußte nachweisbar sein. Nun zu Hypothese Acht… Er gab die von Yimot errechneten Werte in den Computer ein. Mehr fach ließen ihn seine zitternden Finger im Stich, und er vertippte sich, aber sein Verstand war noch wach genug, um ihm sofort zu melden, daß er die falsche Taste gedrückt hatte, und so konnte er jedesmal zurückge hen und den Schaden unverzüglich beheben. Zweimal wurde ihm vor Anstrengung fast schwarz vor den Augen. Aber er zwang sich weiter zumachen. Kein Mensch außer dir ist dazu imstande, sagte er sich immer wieder vor. Und deshalb mußt du es tun. Es klang töricht, unglaublich egozentrisch, vielleicht sogar ein wenig verrückt. Und wahrscheinlich stimmte es nicht einmal. Aber er war so erschöpft, daß er sich nicht gestatten durfte, die Illusion seiner eigenen Unentbehrlichkeit in Frage zu stellen. In seinem Kopf und nur dort be
fanden sich alle Grundlagen für dieses Projekt. Er mußte so lange durchhalten, bis die Beweiskette geschlossen war. Bis… Fertig. Die letzten von Yimots Zahlen wurden im Computer gespeichert. Athor drückte erst die Taste, mit der die beiden Orbits gleichzeitig auf den mittleren Schirm gerufen wurden, und dann eine andere, um die neuen Werte in die bestehenden Muster zu integrieren. Der ursprünglich angenommene, grellrote Orbit, schwankte und flim merte und war plötzlich verschwunden. Auch die gelbe Kurve der auf Beobachtung beruhenden Umlaufbahn löste sich auf. Der Schirm zeigte nur noch eine einzige Ellipse in einem tiefen, satten Orange. Die beiden Orbitalsimulationen deckten sich bis zur letzten Dezimalstelle. Athor entfuhr ein Keuchen. Lange starrte er auf den Schirm, dann schloß er die Augen und ließ den Kopf auf die Schreibtischplatte sinken. Das orangefarbene Oval brannte sich wie ein Flammenring durch seine Lider. Er hätte jubeln können, doch gleichzeitig war er merkwürdig betrof fen. Da hatte er seine Antwort, eine Hypothese, die mit Sicherheit jeder Prüfung standhalten würde. Die Gravitationstheorie war doch gültig: die bahnbrechende Beweisführung, die seinen Ruhm begründet hatte, würde nicht widerlegt werden. Gleichzeitig mußte er jedoch erkennen, daß das altvertraute Modell des Sonnensystems nicht mit der Realität übereinstimmte. Der unbe kannte Faktor, nach dem sie gesucht hatten, der unsichtbare Riese, der Drache am Himmel, er existierte tatsächlich, und das erschütterte ihn, auch wenn dadurch seine berühmte Theorie gerettet wurde. Jahrelang hatte er sich in dem Glauben gewiegt, die himmlischen Mechanismen bis ins letzte zu durchschauen, und nun stellte sich heraus, daß sein Wis sen fragmentarisch war, daß es mitten im bekannten Universum eine gewaltige Abweichung gab, daß alles ganz anders war, als er immer geglaubt hatte. Für jemanden in seinem Alter war das nicht leicht zu verkraften. Endlich richtete Athor sich wieder auf. Auf dem Schirm hatte sich nichts verändert. Er gab zur Kontrolle ein paar Gleichungen ein, aber alles blieb beim alten. Er hatte nicht mehr zwei Orbits vor sich, sondern nur noch einen. Schön, sagte er sich. Das Universum sieht nicht ganz so aus, wie du dachtest. Also solltest du deine Vorstellungen revidieren. Denn das Uni versum mußt du notgedrungen so lassen, wie es ist. „Yimot!“ rief er. „Faro! Beenay! Kommt alle her!“ Als erster schoß der kleine, pummelige Faro durch die Tür, dicht ge folgt von Yimot der Bohnenstange und den übrigen Assistenten der
astronomischen Fakultät, Beenay, Thilanda, Klet, Simbron und einigen anderen. Gleich hinter der Schwelle blieben sie stehen. An ihren er schrockenen Mienen erkannte Athor, wie schrecklich er aussehen muß te: brennende Augen im bleichen Gesicht, eingefallene Wangen, schlohweißes, nach allen Seiten abstehendes Haar – alles in allem ein Greis am Rande des Zusammenbruchs. Es war wichtig, ihre Ängste auf der Stelle zu zerstreuen. Eine rührseli ge Szene konnte er jetzt nicht gebrauchen. Also sagte er ruhig: „Ja, ich weiß, ich bin sehr müde. Und wahrschein lich sehe ich aus wie ein Dämon aus der Unterwelt. Aber es hat den Anschein, als hätte ich eine Lösung gefunden.“ „Die Gravitationslinse?“ fragte Beenay. „Die Gravitationslinse hat nicht die geringste Chance“, erklärte Athor kalt. „Das gleiche gilt für die ausgebrannte Sonne, die Raumfalte, die Antimaterie-Region und sämtliche anderen skurrilen Ideen, mit denen wir seit einer Woche spielen. Sie klingen recht hübsch, aber einer ein gehenden Überprüfung halten sie nicht stand. Mit einer Ausnahme.“ Alle sahen ihn mit großen Augen an. Er wandte sich dem Schirm zu und gab abermals die Werte von Hypo these Acht ein. Bei der Arbeit fiel seine Müdigkeit von ihm ab; kein einziges Mal drückte er eine falsche Taste, und auch seine Schmerzen waren wie weggeblasen. Er hatte die Erschöpfung überwunden. „Bei dieser Hypothese“, resümierte er, „gehen wir von einem Kalgash vergleichbaren, nichtleuchtenden Planetenkörper aus, der aber nicht um Onos kreist, sondern um Kalgash selbst. Seine Masse ist beträchtlich, annähernd so groß wie die Masse von Kalgash. Jedenfalls übt er auf unsere Welt eine so starke Anziehungskraft aus, daß die Abweichungen unserer Umlaufbahn, auf die Beenay uns aufmerksam gemacht hat, da mit erklärt werden können.“ Athor schaltete auf graphische Darstellung, und ein Modell des Son nensystems erschien auf dem Schirm: die sechs Sonnen, Kalgash, und Kalgashs hypothetischer Satellit. Er wandte sich wieder den anderen zu. Sie wechselten unruhige Bli cke. Obwohl sie nur halb so alt waren wie er, manche sogar noch jünger, fiel es ihnen wohl nicht weniger schwer, sich intellektuell und emotional mit der Vorstellung anzufreunden, daß im Universum ein weiterer gro ßer Himmelskörper existierte. Oder sie hielten ihn, Athor, einfach für senil und glaubten, er habe sich bei seinen Berechnungen vertan. „Die Werte, die Hypothese Acht stützen, sind korrekt“, sagte er. „Da für verbürge ich mich. Und die Hypothese hat sich durch alle nur denk baren Tests behauptet.“ Mit verbissenem Trotz sah er einen nach dem anderen an, wie um sie daran zu erinnern, daß sie den großen Athor 77 vor sich hatten, den Va
ter der Gravitationstheorie, einen Mann mit ungebrochenen geistigen Fähigkeiten. „Und warum können wir diesen Satelliten nicht sehen, Sir?“ fragte Beenay leise. „Aus zwei Gründen“, gab Athor heiter zurück. „Wie Kalgash selbst würde er nur Licht reflektieren, nicht aber selbst leuchten. Nehmen wir einmal an, er bestünde großenteils aus bläulichem Gestein – was geolo gisch durchaus möglich wäre – dann würde er Licht aus einem ganz bestimmten Bereich des Spektrums reflektieren, und dieses Licht würde durch den ewigen Schein der sechs Sonnen und die Diffusion unserer Atmosphäre völlig abgeschirmt. An einem Himmel, wo so gut wie im mer mehrere Sonnen scheinen, wäre ein solcher Satellit für uns unsicht bar.“ „Vorausgesetzt, der Orbit des Satelliten wäre besonders groß, nicht wahr, Sir?“ ergänzte Faro. „Richtig.“ Athor rief eine zweite Graphik ab. „Betrachten wir uns die Sache aus der Nähe. Wie Sie sehen, bewegt sich unser unbekannter und unsichtbarer Satellit auf einer riesigen Ellipse, die ihn über viele Jahre weit von uns wegführt. Nicht so weit, daß seine Anwesenheit am Him mel sich nicht auf unseren Orbit auswirken würde, aber doch weit ge nug, daß er weder mit bloßem Auge noch mit Teleskopen zu erkennen wäre. Da wir ihn also bei der ganz normalen Himmelsbeobachtung nicht sehen konnten, wäre es ein enormer Zufall gewesen, wenn wir ihn auf Grund astronomischer Berechnungen entdeckt hätten.“ „Aber jetzt können wir danach suchen“, sagte Thilanda 191, deren Spezialgebiet die Himmelsfotografie war. „Und das werden wir natürlich auch tun“, versicherte ihr Athor. Er sah, daß seine Mitarbeiter sich allmählich überzeugen ließen. Einer nach dem anderen. Immerhin kannte er sie gut genug, um sicher sein zu kön nen, daß keiner sich insgeheim über ihn lustig machte. „Die Suche könnte freilich schwieriger werden, als Sie erwarten, ein typischer Fall von einer Nadel im Heuhaufen. Ich verbürge mich jedoch dafür, daß die dafür nötigen Mittel unverzüglich bereitgestellt werden.“ „Eine Frage, Sir“, meldete sich Beenay. „Sprechen Sie.“ „Wenn der Orbit so exzentrisch ist, wie Sie in Ihrer Hypothese an nehmen, und demnach unser Satellit, dieser – wir wollen ihn vorerst einmal Kalgash Zwei nennen – wenn also Kalgash Zwei in gewissen Phasen seiner Umlaufbahn sehr weit von uns entfernt ist, so folgt daraus doch, daß er uns auf anderen Abschnitten seines Orbits sehr viel näher kommen muß. Selbst ein idealer Orbit hat eine gewisse Variationsbreite, und bei einem Satelliten, der sich auf einer langgezogenen Ellipse be
wegt, wäre die Differenz zwischen der größten und der geringsten Ent fernung zum Primärkörper vermutlich besonders groß.“ „Das wäre logisch, ja“, stimmte Athor zu. „Aber Sir“, fuhr Beenay fort, „wenn wir davon ausgehen, daß Kalgash Zwei seit Bestehen der modernen Astronomie so weit von uns entfernt war, daß wir seine Existenz nur indirekt über seine Auswirkungen auf den Orbit unserer Welt erschließen konnten, sollte es dann nicht allmäh lich den entferntesten Punkt überschritten haben? Müßte es derzeit nicht wieder auf uns zukommen?“ „Nicht unbedingt.“ Yimot begleitete seinen Einwand mit hektischen Armbewegungen. „Wir haben keine Ahnung, auf welchem Punkt seiner Bahn dieses Kalgash Zwei sich momentan befindet, oder wie lange es braucht, um Kalgash einmal ganz zu umkreisen. Angenommen, ein Um lauf dauerte zehntausend Jahre und die letzte Annäherung hätte vor Menschengedenken in prähistorischer Zeit stattgefunden, würde es sich immer noch von uns entfernen.“ „Gewiß“, gab Beenay zu. „Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob es im Augenblick kommt oder geht. Jedenfalls vorerst noch nicht.“ „Aber wir können versuchen, es festzustellen“, sagte Faro. „Thilanda hat ganz recht. Auch wenn alle Werte stimmen, wir müssen mit eigenen Augen sehen, ob es dieses Kalgash Zwei wirklich gibt. Wenn wir es erst entdeckt haben, können wir auch seinen Orbit berechnen.“ „Eigentlich müßten wir seinen Orbit auch anhand der Störungen be rechnen können, die es in unserem hervorruft“, überlegte Klet, der beste Mathematiker der Fakultät. „Ja“, warf Simbron ein – sie war Kosmographin –, „und wir können auch ermitteln, ob es sich nähert oder entfernt. Ihr Götter! Wenn es nun auf uns zukäme! Wäre das nicht eine Sensation! Ein dunkler Planeten körper, der über den Himmel zieht – zwischen uns und den Sonnen! Vielleicht würde er die eine oder andere Sonne sogar für ein paar Stun den verdecken!“ „Das wäre wirklich ein ungewöhnliches Schauspiel“, sinnierte Beenay. „Vermutlich würde man von einer Sonnenfinsternis sprechen. Ihr wißt doch, welche optische Wirkung eintritt, wenn sich ein Objekt zwischen den Betrachter und den betrachteten Gegenstand schiebt? Aber könnte es dazu wirklich kommen? Die Sonnen sind so riesig – wie sollte Kal gash Zwei eine von ihnen verdecken?“ „Wenn es sehr nahe herankäme, wäre es möglich“, sagte Faro. „Ich könnte mir sogar eine Situation vorstellen, in der…“ „Ja, warum spielen Sie nicht alle denkbaren Szenarien durch?“ warf Athor plötzlich ein. Er war Faro so rücksichtslos und abrupt ins Wort gefallen, daß alle ihn erschrocken anstarrten. „Lassen Sie Ihrer Phanta
sie freien Lauf. Betrachten Sie die Sache von allen Seiten und sehen Sie sich an, was dabei herauskommt.“ Plötzlich hielt er es in diesem Raum nicht länger aus. Er mußte weg. Die Hochstimmung, die ihn erfüllt hatte, als er das letzte Steinchen einfügte, war mit einem Schlag gewichen. Nun lastete eine bleierne Müdigkeit auf ihm, er glaubte, tausend Jahre alt zu sein. Kälteschauer ließen seine Arme bis in die Finger erzittern, in seinen Rückenmuskeln tobten schmerzhafte Krämpfe. Nun war die Grenze überschritten, das sah er ein. Höchste Zeit, die Last auf jüngere Schultern abzuladen. Athor erhob sich von seinem Stuhl hinter den Bildschirmen, machte einen einzigen, unsicheren Schritt auf die Mitte des Raumes zu, fing sich gerade noch rechtzeitig, und schritt langsam, mit aller Würde, die er noch aufzubringen vermochte, an seinen Mitarbeitern vorbei. „Ich gehe nach Hause“, sagte er. „Ich brauche ein paar Stunden Schlaf.“
Kapitel 15 „Habe ich dich richtig verstanden, Siferra?“ fragte Beenay. „Das Dorf ist neunmal hintereinander abgebrannt? Und jedesmal hat man es wie der aufgebaut?“ „Mein Kollege Balik meint, der Hügel von Thombo bestehe nur aus sieben Dörfern“, gab die Archäologin zurück. „Vielleicht hat er sogar recht. Auf den untersten Ebenen liegt alles wüst durcheinander. Aber ob sieben oder neun – wieviele es letztlich sind, ist egal, an der entschei denden Tatsache ändert es nichts. Hier, sieh dir die Schaubilder an. Ich habe sie nach meinen Ausgrabungsnotizen zusammengestellt. Wir ha ben natürlich nur eine provisorische Grabung durchgeführt, einen schnellen Schnitt durch den ganzen Hügel gelegt. Die Feinarbeit bleibt einer späteren Expedition überlassen. Wir hatten den Hügel zu spät ent deckt und konnten nicht mehr tun. Aber eine gewisse Vorstellung wer den dir die Bilder immerhin vermitteln. – Ich langweile dich hoffentlich nicht? Du interessierst dich doch wirklich für solche Dinge, Beenay?“ „Ich bin ganz hingerissen. Hältst du mich wirklich für so borniert, daß ich außer der Astronomie kein anderes Fach mehr gelten lasse? – Au ßerdem gehen Archäologie und Astronomie manchmal Hand in Hand. Aus dem Studium der alten astronomischen Monumente, die ihr überall auf der Welt ausgegraben habt, konnten wir eine ganze Menge über die Bahnen der Sonnen am Himmel erfahren. Und nun laß mal sehen.“ Sie waren in Siferras Büro. Siferra harte Beenay zu sich gebeten, um mit ihm, wie sie sagte, über ein Problem zu sprechen, das bei ihren For schungen unerwartet aufgetaucht war. Die Bitte hatte ihn überrascht, denn trotz der eben festgestellten Gemeinsamkeiten der beiden Wissen schaften sah er nicht auf Anhieb, wie er als Astronom einer Archäologin
bei ihrer Arbeit behilflich sein sollte. Aber er freute sich immer, wenn er Siferra besuchen konnte. Die beiden hatten sich fünf Jahre zuvor in einem interdisziplinären Fa kultätsausschuß kennengelernt, der die Erweiterung der Universitätsbib liothek plante. Seither war Siferra meistens zu Ausgrabungen im Aus land gewesen, aber wenn sie nach Hause kam, ging sie hin und wieder gern mit Beenay essen. Für ihn war sie eine reizvolle, hochintelligente Frau mit einer erfrischend bissigen Zunge. Warum sie sich zu ihm hin gezogen fühlte, wußte er nicht; vielleicht sah sie ihn einfach als geistig anregenden Gesprächspartner, der weder in die erbitterten Fehden und Konkurrenzkämpfe innerhalb ihres Fachs verwickelt war, noch irgend wie geartete sexuelle Absichten zu erkennen gab. Siferra entfaltete die Schaubilder, riesige, dünne, pergamentartige Blätter, auf die sie mit Bleistift und Lineal fein säuberlich komplexe Diagramme gezeichnet hatte, und beugte sich mit Beenay darüber, um sie aus der Nähe zu betrachten. Er hatte nicht gelogen, als er behauptete, sich brennend für Archäolo gie zu interessieren. Schon als Junge hatte er mit Begeisterung Ge schichten über die großen Altertumsforscher gelesen, über Männer wie Marpin, Shelbik und natürlich Galdo 221, und er fand es kaum weniger aufregend, sich mit der fernen Vergangenheit zu beschäftigen, als mit den Weiten des interstellaren Raums. Seine Gefährtin Raissta war von der Freundschaft mit Siferra nicht sehr begeistert. Ein paarmal hatte sie ihm gehässig unterstellt, er sei mehr von Siferra selbst fasziniert als von ihrem Fach. Aber Beenay hielt Raisstas Eifersucht für absurd. Gewiß, Siferra war eine attraktive Frau – das mußte er ehrlicherweise zugeben – aber mit Romantik hatte sie ab solut nichts im Sinn, und das war allen Männern auf dem Campus be kannt. Außerdem war sie an die zehn Jahre älter als er, und so hatte er trotz ihrer Reize intimere Beziehungen niemals auch nur in Erwägung gezogen. „Hier haben wir als erstes einen Querschnitt durch den ganzen Hügel“, erklärte Siferra. „Ich habe jede Siedlungsschicht schematisch einge zeichnet. Die jüngste Siedlung liegt natürlich ganz oben – gewaltige Steinmauern, wir sprechen vom Zyklopenstil, typisch für die BeklimotKultur in ihrer höchsten Blüte. Diese Linie auf der Höhe der Zyklopen mauern stellt eine Schicht von Kohleresten dar – hinreichend Kohle, um auf eine ausgedehnte Feuersbrunst schließen zu lassen. Die Stadt muß völlig ausgelöscht worden sein. Und da, unterhalb der Zyklopenschicht und der Brandlinie, befindet sich die nächstälteste Siedlung.“ „Die in einem anderen Stil erbaut ist.“ „Genau. Siehst du, wie ich die Mauersteine gezeichnet habe? Wir be zeichnen dies als Kreuzverbundstil, typisch für die frühe Beklimot
Kultur, vielleicht auch für die Kultur, aus der Beklimot sich entwickelte. Beide Stile finden sich auch rings um den Hügel von Thombo in den Ruinen aus der Beklimot-Epoche. Die Hauptstätte ist rein zyklopisch, aber hier und dort haben wir auch Segmente im Kreuzverbund freige legt, nur ein paar Ausläufer, die wir Ur-Beklimot nennen. Und nun sieh dir die Grenze zwischen der Kreuzverbund-Siedlung und den darüber liegenden Zyklopen-Ruinen an.“ „Wieder eine Feuerlinie?“ fragte Beenay. „Ja, wieder eine Feuerlinie. Der ganze Hügel erinnert an ein Sandwich – eine Schicht Siedlung, eine Schicht Kohle, wieder eine Schicht Sied lung, wieder eine Schicht Kohle. Meiner Meinung nach ist folgendes passiert. In der Kreuzverbund-Epoche gab es ein verheerendes Feuer, das einen großen Teil der Halbinsel Sagikan verwüstete und die Bewoh ner zwang, das Dorf Thombo und andere Kreuzverbund-Dörfer im Um kreis zu räumen. Als die Bewohner zurückkehrten, um mit dem Wieder aufbau zu beginnen, verwendeten sie einen brandneuen, sehr viel raffi nierteren Baustil, den wir wegen der riesigen Steinblöcke zyklopisch nennen. Dann kam wieder ein Feuer und zerstörte auch die ZyklopenSiedlung. Nun gaben die Bewohner den Hügel von Thombo auf und bauten auf einem anderen Gelände ganz in der Nähe, das wir als GroßBeklimot bezeichnen. Dieses Groß-Beklimot hielten wir lange Zeit für die erste richtige Stadt der Menschheit und nahmen an, es sei aus den ringsum verstreuten kleineren Kreuzverbund-Siedlungen der UrBeklimot-Periode entstanden. Thombo dagegen sagt uns, daß es vor Groß-Beklimot schon mindestens eine größere Zyklopen-Stadt in dieser Gegend gegeben haben muß.“ „Und bei der Ausgrabung von Groß-Beklimot“, fragte Beenay, „hat man keine Brandspuren gefunden?“ „Nein. Das heißt, daß es noch gar nicht vorhanden war, als die Stadt an der Spitze von Thombo verbrannte. Mit der Zeit ging die gesamte Beklimot-Kultur unter und Groß-Beklimot wurde verlassen, aber aus anderen Gründen, im Zusammenhang mit klimatischen Veränderungen. Feuer spielte dabei keine Rolle. Das war vor etwa tausend Jahren, das Feuer, das die oberste Thombo-Siedlung zerstörte, scheint dagegen sehr viel früher gewütet zu haben. Ich würde sagen, tausend Jahre früher. Wenn wir vom Labor die Radiokarbonwerte aus den Kohleproben be kommen, können wir mit genaueren Zahlen operieren.“ „Und die Kreuzverbund-Siedlung – wie alt ist die?“ „Bisher herrschte in der Archäologie die Ansicht vor, die Kreuzver bundfragmente, die man auf der Halbinsel Sagikan hier und dort findet, seien nur wenige Generationen älter als Groß-Beklimot. Seit der Entde ckung von Thombo glaube ich daran nicht mehr. Meiner Schätzung
nach ist die Kreuzverbund-Siedlung auf diesem Hügel zweitausend Jah re älter als die Zyklopengebäude darüber.“ „Zweitausend…? Und du sagst, darunter gibt es noch andere Siedlun gen?“ „Sieh dir das Schaubild an“, sagte Siferra. „Da wäre etwa Nummer drei – eine Architektur, wie wir sie noch nie gesehen haben, keinerlei Ähnlichkeit mit dem Kreuzverbund. Dann wieder eine Feuerlinie. Sied lung Nummer vier. Eine Feuerlinie. Nummer fünf. Eine Feuerlinie. Dann Nummer sechs, sieben, acht und neun – oder, falls Balik recht hat, nur noch sechs und sieben.“ „Und jede Stadt wurde von einer Feuersbrunst zerstört! Das erscheint mir doch sehr ungewöhnlich. Ein tödlicher Kreislauf, eine Katastrophe, die immer und immer wieder denselben Ort trifft.“ „Das Ungewöhnlichste ist“, sagte Siferra in auffallend düsterem Ton, „daß alle diese Siedlungen offenbar über mehr oder weniger den glei chen Zeitraum bestanden hatten, als sie vom Feuer zerstört wurden. Die einzelnen Schichten sind von ihrer Dicke her überraschend einheitlich. Natürlich müssen wir noch die Laborberichte abwarten, aber ich glaube, ich liege mit meiner groben Schätzung nicht allzu weit daneben. Und Balik kommt auf die gleichen Wert. Wenn wir uns nicht sehr irren, ent hält der Hügel von Thombo mindestens vierzehntausend Jahre Frühge schichte Und in diesen vierzehntausend Jahren wurde er mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder von verheerenden Feuersbrünsten heim gesucht, die die Menschen zur Fluchs zwangen – etwa alle zweitausend Jahre ein Feuer!“ „Was?“ Beenay lief es eiskalt den Rücken hinunter. In Gedanken zog er bereits die unglaublichsten, schrecklichsten Schlußfolgerungen. „Warte“, sagte Siferra. „Das war noch nicht alles.“ Sie zog eine Schublade auf und entnahm ihr einen Stapel Fotos. „Das sind Aufnahmen der Thombo-Täfelchen. Mudrin 505 – du weißt schon, der Paläograph – hat die Originale und versucht sie zu entziffern. Sie bestehen aus gebranntem Lehm. Diese drei haben wir auf Ebene drei gefunden und die hier auf Ebene fünf. Beide zeigen eine überaus primi tive Schrift, und die Lettern auf den älteren stammen aus so früher Zeit, daß Mudrin keinen Zugang findet. Die Schrift auf den Täfelchen von Ebene drei ist dagegen eine frühe Form des Beklimot, und so war er in der Lage, an die zwei Dutzend Worte zu entschlüsseln. Bisher kann er nur sagen, daß es sich um einen Bericht über ein verheerendes Feuer in einer Stadt handelt – die Strafe erzürnter Götter, die glauben, die Menschheit müsse in regelmäßigen Abständen für ihre Sünden büßen.“ „Regelmäßig?“ „Genau. Kommt dir das nicht allmählich bekannt vor?“
„Die Apostel des Feuers! Mein Gott, Siferra, auf was bist du da nur gestoßen?“ „Das frage ich mich auch, seit Mudrin mir die erste bruchstückhafte Übersetzung gebracht hat.“ Die Archäologin drehte sich um, und Bee nay bemerkte zum ersten Mal, wie müde ihre Augen waren, wie starr und verkniffen ihr Gesicht. Sie schien der Verzweiflung nahe. „Ver stehst du nun, warum ich dich hergebeten habe? In meiner Fakultät kann ich darüber mit niemandem reden. Beenay, was soll ich tun? Wenn et was von diesen Dingen an die Öffentlichkeit gelangt, werden Mondior 71 und seine verrückte Horde von allen Dächern schreien, ich hätte hieb- und stichfeste archäologische Beweise für ihre absurden Theorien gefunden!“ „Meinst du?“ „Was sonst?“ Siferra deutete auf die Schaubilder. „Wir haben hier Be lege für Feuersbrünste, die sich über einen Zeitraum von vielen Jahrtau senden in etwa zweitausendjährigen Abständen wiederholen. Und diese Täfelchen – so wie es im Moment aussieht, könnten sie tatsächlich so etwas wie eine prähistorische Version des Buchs der Offenbarungen darstellen. Alles zusammen ergibt, wenn schon keine direkte Bestäti gung für die Moralpredigten der Apostel, so doch wenigstens ein soli des, rationales Fundament für ihre ganze Mythologie.“ „Immer wiederkehrende Feuersbrünste an einem einzigen Ort sind a ber noch lange kein Beweis für eine weltweite Katastrophe“, wandte Beenay ein. „Was mir Sorgen macht, ist das Gleichmaß der Intervalle“, erklärte Si ferra. „Es paßt zu genau zu Mondiors Prophezeiungen. Ich habe mir das Buch der Offenbarungen angesehen. Die Halbinsel Sagikan ist für die Apostel ein heiliger Ort, hast du das gewußt? Sie behaupten, dort hätten sich die Götter einst den Menschen offenbart. Und deshalb ist es ganz logisch – hörst du, es ist logisch“, sie lachte bitter –, „daß die Götter Sagikan verschont haben, um die Menschheit vor dem Unheil zu war nen, das immer wieder kommen wird, solange wir unseren sündhaften Lebenswandel nicht aufgeben.“ Beenay starrte sie fassungslos an. Er wußte nicht viel über die Apostel und ihre Lehren. Derart patholo gische Hirngespinste hatten ihn noch nie interessiert, und er war auch viel zu sehr mit seiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt gewesen, um auf Mondiors wortreiche Weltuntergangsprophezeiungen zu achten. Doch nun brach die Erinnerung an das Gespräch, das er vor einigen Wochen mit Theremon 762 im Sechs-Sonnen-Club geführt hatte, mit aller Macht über ihn herein, „…die Welt wird nicht zum ersten Mal zer stört… die Götter haben uns Menschen ganz bewußt unvollkommen geschaffen und uns eine Frist von einem Jahr – nach ihrer Zeitrechnung,
nicht nach unserer menschlichen – zugestanden, um uns zu bessern. Diese Spanne nennen sie ein Gottesjahr, und es umfaßt genau zweitau sendundneunundvierzig von unseren Jahren.“ Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Schwachsinn! Hohle Phrasen! Hysterisches Gefasel! Das war noch nicht alles gewesen. „Bisher mußten die Götter am En de eines solchen Gottesjahres noch jedesmal feststellen, daß wir weiter in Bosheit und Sünde verharren, und deshalb zerstörten sie die Welt, indem sie himmlisches Feuer herabschickten…. Soweit jedenfalls die Auffassung der Apostel.“ Nein! Nein! „Beenay?“ fragte Siferra. „Geht’s dir nicht gut?“ „Ich überlege nur“, erklärte er. „Bei der Dunkelheit, du hast recht! Du würdest sämtliche Behauptungen der Apostel bestätigen!“ „Nicht unbedingt. Jeder klar denkende Mensch könnte Mondiors Vor stellungen auch weiterhin ablehnen. Selbst wenn Thombo abgebrannt ist – selbst wenn es offenbar mehrfach in regelmäßigen Abständen von annähernd zweitausend Jahren zerstört wurde, ist das noch lange kein Beweis, daß dieser Brand jedesmal die ganze Welt erfaßt hat. Oder daß die Wiederholung einer derartigen Feuersbrunst unvermeidlich ist. Wa rum sollte die Zukunft unbedingt an die Vergangenheit anknüpfen wol len? Aber klar denkende Menschen sind natürlich in der Minderheit. Alle übrigen würden umschwenken, wenn Mondior sich meine Er kenntnisse zunutze machte, und dann würde sofort die große Panik aus brechen. Du weißt doch, daß nach Aussage der Apostel der nächste gro ße Weltenbrand bereits in einem Jahr fällig ist?“ „Sicher.“ Beenays Stimme klang belegt. „Theremon sagt, sie haben sogar den genauen Tag festgelegt. Der Zyklus dauert zweitausendund neunundvierzig Jahre, wir befinden uns im zweitausendundachtundvier zigsten Jahr, und in elf oder zwölf Monaten wird sich, wenn man Mon dior glauben will, der Himmel verfinstern und uns mit Feuer überschüt ten. Soviel ich weiß, soll das alles am neunzehnten Theptar passieren.“ „Theremon? Der Journalist?“ „Ja. Er ist ein Freund von mir. Er interessiert sich für den ganzen A postelverein und hat einen von ihren Hohepriestern, oder wie sie sich nennen, interviewt. Theremon hat mir erzählt…“ Blitzschnell griff Siferra nach Beenays Arm und umklammerte ihn mit erstaunlichem Druck. „Du mußt mir versprechen, ihm kein Wort zu verraten, Beenay!“ „Wem? Theremon? Nein, natürlich nicht! Du hast deine Erkenntnisse ja noch gar nicht veröffentlicht. Wie könnte ich da jemandem davon erzählen! – Er ist übrigens durch und durch ein Ehrenmann.“
Der eiserne Griff wurde ein wenig gelockert. „Manchmal macht man eine Bemerkung unter Freunden, ganz im Ver trauen – aber Beenay, du mußt dir klar sein, daß das Wort ‚Vertrauen’ für jemanden wie diesen Theremon nichts bedeutet. Wenn er eine In formation gebrauchen kann, dann wird er sie auch verwerten, ganz egal, was er dir vielleicht versprochen hat. Auch wenn du ihn noch so sehr für einen ‚Ehrenmann’ hältst.“ „Schön – vielleicht…“ „Glaube mir. Und sollte Theremon jemals erfahren, was ich entdeckt habe, dann kannst du deine Ohren darauf verwetten, daß es am nächsten Tag im Chronicle steht. Und das wäre mein Ruin, Beenay. Es hätte mir gerade noch gefehlt, als die Wissenschaftlerin bekannt zu werden, die den Apostel die Beweise für ihre absurden Behauptungen geliefert hat. Die Apostel sind mir zutiefst widerwärtig, Beenay. Ich denke nicht dar an, sie irgendwie zu unterstützen, und auf gar keinen Fall soll es in der Öffentlichkeit so aussehen, als träte ich für ihre abwegigen Vorstellun gen ein.“ „Keine Sorge“, beteuerte Beenay. „Meine Lippen sind versiegelt.“ „Das möchte ich dir auch geraten haben. Wie gesagt, es wäre mein Untergang. Ich bin an die Universität zurückgekommen, um mein For schungsstipendium erneuern zu lassen. Die Thombo-Funde haben be reits innerhalb der Fakultät für Unruhe gesorgt, weil sie die überkom mene Vorstellung in Frage stellen, die in Beklimot das älteste städtische Zentrum sieht. Wenn mir Theremon zu alledem nun au noch die Apostel des Feuers aufhalsen sollte…“ Aber Beenay hatte bereits abgeschaltet. Er hatte Verständnis für Sifer ras Befürchtungen und würde gewiß nichts unternehmen, um sie in Schwierigkeiten zu bringen. Von ihm würde Theremon kein Wort über ihre Forschungen erfahren. In Gedanken war er jedoch bei anderen Dingen, die ihn außerordent lich beunruhigten. Einzelne Fetzen aus Theremons Bericht über die Lehren der Apostel gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. - In nur vierzehn Monaten werden alle Sonnen verschwinden - Sterne werden uns vom schwarzen Himmel herab mit Feuer beschie ßen - der genaue Zeitpunkt der Katastrophe läßt sich wissenschaftlich bestimmen - vom schwarzen Himmel herab - alle Sonnen werden verschwinden „Bei der Dunkelheit!“ murmelte Beenay heiser. „Sollte es doch mög lich sein?“ Siferra hatte immer noch weitergesprochen, doch sein Ausruf ließ sie mitten im Satz innehalten.
„Du hörst mir ja gar nicht zu, Beenay!“ „Ich… was? Ach so, doch, natürlich habe ich zugehört! Du sagtest e ben, ich dürfe Theremon kein Wort von deinen Entdeckungen erzählen, weil das deinem Ruf schaden würde, und… und… Siferra, meinst du, wir könnten das Gespräch ein andermal fortsetzen? Heute abend, mor gen nachmittag, wann immer du willst. Jetzt muß ich sofort ins Obser vatorium.“ „Laß dich nicht aufhalten“, sagte sie kalt. „Nein, so war das nicht gemeint. Was du mir erzählt hast, interessiert mich wirklich brennend – und es ist wichtig, unerhört wichtig, ich kann dir im Moment noch gar nicht sagen, wie wichtig es ist. Ich muß nur zuerst etwas nachprüfen – etwas, das unmittelbar mit dem zu tun hat, worüber wir eben gesprochen haben.“ Sie sah ihn scharf an. „Du bist plötzlich ganz rot im Gesicht, Beenay, und deine Augen flackern so unruhig. Ich erkenne dich kaum wieder. Und mit deinen Gedanken bist du unendlich weit weg. Was ist los?“ „Das erzähle ich dir später“, sagte er, schon halb aus der Tür. „Später! Ehrenwort!“
Kapitel 16 Zu dieser Stunde war das Observatorium praktisch verlassen. Faro und Thilanda hielten als einzige die Stellung. Erleichtert stellte Beenay fest, daß Athor 77 nirgendwo zu sehen war. Gut, dachte er. Der alte Mann war ohnehin völlig erschöpft von der anstrengenden Arbeit an der Kal gash Zwei-Theorie. Noch mehr Aufregungen an diesem Abend brauchte er beileibe nicht. Wunderbar, daß ausgerechnet Faro und Thilanda greifbar waren. Faro konnte selbständig denken und verfügte über eine rasche Auffassungs gabe, beides Dinge, die Beenay jetzt brauchte. Und vielleicht konnte Thilanda, die seit so vielen Jahren die weiten Himmelsräume mit ihren Teleskopen und Kameras absuchte, einiges an theoretischem Wissen beisteuern. Thilanda kam sofort auf ihn zu: „Ich habe den ganzen Tag lang Auf nahmen entwickelt, Beenay. Leider kein einziger Treffer. Ich würde mein Leben darauf verwetten, daß der Himmel da oben bis auf die sechs Sonnen leer ist. Du glaubst doch nicht, daß unsere große Koryphäe nun doch übergeschnappt ist?“ „Ich glaube, sein Verstand ist so scharf wie eh und je.“ „Aber die Fotos!“ gab Thilanda zu bedenken. „Seit Tagen lasse ich das Universum nun schon Quadrant für Quadrant automatisch abtasten. Dem Programm entgeht nichts. Schnipp, zwei Grad tiefer, schnipp, wei ter, schnipp. Es durchkämmt systematisch den ganzen Himmel. Und
was ist dabei herausgekommen, Beenay? Sieh es dir an. Ein ganzer Stoß Bilder mit überhaupt nichts darauf!“ „Wenn der unbekannte Satellit unsichtbar ist, Thilanda, dann kann man ihn eben nicht sehen. So einfach ist das.“ „Unsichtbar vielleicht mit bloßem Auge. Aber die Kamera sollte doch imstande sein…“ „Hör mal, könnten wir das nicht auf später verschieben? Ihr beiden müßt mir helfen, rein theoretische Überlegungen. In Zusammenhang mit Athors neuer These.“ „Aber wenn der unbekannte Satellit nur ein Luftschloß ist?“ protestier te Thilanda. „Manchmal werden auch Luftschlösser Wirklichkeit“, fauchte Beenay. „Und wenn das Ding aus dem Nichts angeschossen kommt und uns mitten ins Gesicht springt, sind wir sicher auch nicht begeistert. Hilfst du mir jetzt oder nicht?“ „Wenn du meinst.“ „Gut. Ich brauche eine Computersimulation der Bewegungen aller sechs Sonnen über einen Zeitraum von viertausendzweihundert Jahren.“ Thilanda riß ungläubig die Augen auf. „Sagtest du wirklich viertau sendzweihundert, Beenay?“ „Ich weiß, daß du bei weitem nicht so viele Stellarbewegungen aufge zeichnet hast. Aber ich sprach von einer Computersimulation, Thilanda. Über die letzten hundert Jahre hast du doch sicher zuverlässige Auf zeichnungen?“ „Mehr als das.“ „Wunderbar. Dann setze die Werte ein und projiziere sie zeitlich gese hen nach rückwärts und nach vorwärts. Der Computer soll dir sagen, in welcher Kombination die sechs Sonnen an jedem Tag in den vergange nen einundzwanzig Jahrhunderten am Himmel gestanden haben und in den kommenden einundzwanzig Jahrhunderten stehen werden. Faro hilft dir sicher gern beim Programmieren, wenn du es nicht allein schaffst.“ „Ich komme schon zurecht, vielen Dank“, wehrte Thilanda in eisigem Ton ab. „Aber könntest du mir vielleicht auch verraten, wozu das alles gut sein soll? Steigen wir etwa in die Almanachproduktion ein? Sogar Almanache begnügen sich damit, die Solardaten für ein paar Jahre im voraus anzugeben. Was also hast du vor?“ „Das sage ich dir später“, versprach Beenay. „Ehrenwort.“ Er ließ die Wutschnaubende an ihrem Schreibtisch sitzen und ging quer durch das ganze Observatorium in Athors Arbeitsraum, wo er vor den drei Computerschirmen Platz nahm, mit denen Athor die KalgashZwei-Theorie aufgestellt hatte. Lange starrte er versonnen auf den mitt leren Schirm, der den Orbit von Kalgash unter dem Einfluß des hypo thetischen Kalgash Zwei zeigte.
Endlich drückte er eine Taste, und in hellem Grün erschien die fiktive Umlaufbahn von Kalgash Zwei, eine riesige, exzentrische Ellipse, die sich weit über Kalgashs kompakteren und fast kreisförmigen Orbit hin aus ausdehnte. Nachdem er sie eine Weile betrachtet hatte, holte er sich mittels einiger Tasten die sechs Sonnen auf den Schirm. Eine volle Stunde lang saß er tief in Gedanken versunken da und rief alle nur denkbaren Konstellationen ab, Onos zusammen mit Tano und Sitha, Onos mit Trey und Patru, Onos und Dovim mit Trey und Patru, Dovim mit Trey und Patru, Dovim mit Tano und Sitha, Patru und Trey allein… Lauter normale Kombinationen. Und was wäre nicht normal? Tano und Sitha allein? Nein, das war nicht möglich. Dank der Stellung dieses Doppelsonnensystems im Verhältnis zu den näheren Sonnen konnten Tano und Sitha in dieser Hemisphäre nur dann am Himmel erscheinen, wenn entweder Onos oder Dovim oder alle beide gleichzei tig sichtbar waren. Vor Hunderten oder Tausenden von Jahren hätte vielleicht noch eine andere Möglichkeit bestanden, obwohl er selbst das bezweifelte. Aber heute ganz sicher nicht mehr. Trey und Patru und Tano und Sitha? Wieder ein Nein. Die beiden Doppelsonnen befanden sich von Kal gash aus gesehen an entgegengesetzten Seiten; wenn ein Paar am Him mel zu sehen war, wurde das andere im allgemeinen durch den Plane tenkörper verdeckt. Hin und wieder erschienen alle vier gleichzeitig am Himmel, aber solche Zwei-Paar-Konjunktionen wurden stets von Onos begleitet. Das waren die berühmten Fünf-Sonnen-Tage – die jeweils andere Hemisphäre erlebte in diesem Fall einen der ebenso ungewöhnli chen Nur-Dovim-Tage. Beides kam nur alle paar Jahre einmal vor. Trey ohne Patru? Tano ohne Sitha? Theoretisch ja. Wenn eines der Doppelsonnenpaare dicht über dem Horizont stand, konnte sich für kurze Zeit eine Sonne über dem Hori zont und die andere darunter befinden. Aber das war eigentlich kein Ereignis für sich, sondern nur eine kurzfristige Aberration. Die Doppel sonnen waren noch beisammen, sie erschienen nur vorübergehend durch die Horizontlinie getrennt. Alle sechs Sonnen gleichzeitig am Himmel? Unmöglich! Schlimmer noch – undenkbar! Und doch hatte er es eben gedacht. Beenay überlief ein Schauder. Wenn alle sechs gleichzeitig über dem Horizont standen, mußte es auf der anderen Hemisphäre eine Region geben, die überhaupt kein Sonnen licht bekam. Dunkelheit! Dunkelheit! Aber Dunkelheit war auf ganz Kalgash nur ein abstrakter Begriff. Niemals konnten die sechs Sonnen
so weit zusammenrücken, daß ein großer Teil der Welt in tiefe Nacht gestürzt wurde. Oder etwa doch? Etwa doch? Beenay zog auch diese schreckliche Möglichkeit in Erwägung. Wieder glaubte er zu hören, wie ihm Theremon mit seinem tiefen Baß die Theo rien der Apostel erklärte: „- alle Sonnen werden verschwinden…“ „- die Sterne werden uns vom schwarzen Himmel herab mit Feuer be schießen…“ Er schüttelte den Kopf. Sämtliche Erfahrungen mit den Bewegungen der Sonnen am Himmel begehrten auf gegen die Vorstellung, alle sechs könnten sich zugleich auf einer Seite von Kalgash zusammendrängen. So etwas war einfach nicht möglich, wenn nicht ein Wunder geschah. Und Beenay glaubte nicht an Wunder. Die Sonnen waren so am Himmel angeordnet, daß mindestens eine oder zwei jederzeit jeden Teil von Kalgash bescheinen mußten. Sechs Sonnen hier, Dunkelheit dort – ausgeschlossen. Vergiß diese Hypothese. Was blieb dann noch übrig? Dovim allein, dachte er. Die kleine, rote Sonne ganz allein am Him mel? Nun ja, das kam vor, allerdings nicht oft. An jenen seltenen FünfSonnen-Tagen, wenn Tano, Sitha, Trey, Patru und Onos gleichzeitig über einer Hemisphäre standen und für die andere Seite der Welt nur noch Dovim übrigblieb. Könnte dies etwa der Moment für den Einbruch der Dunkelheit sein? fragte sich Beenay. Wäre es möglich? Dovim allein gab so wenig Licht, nur einen kalten, matten, rötlich-violetten Schein, den die Menschen fälschlicherweise für Dunkelheit halten könnten. Aber das war nicht logisch. Selbst die kleine Dovim müßte genügend Helligkeit spenden, um die Menschen vor dem nackten Entsetzen zu bewahren. Außerdem kamen Dovim-Tage alle paar Jahre einmal ir gendwo auf der Welt vor. Sie waren ungewöhnlich, aber so sensationell nun auch wieder nicht. Und wenn die Tatsache, daß nur eine kleine, schwache Sonne am Himmel stand, sich so verheerend auf die mensch liche Psyche auswirkte, dann würde sich doch gewiß jeder vor dem nächsten Nur-Dovim-Tag fürchten, der, soweit Beenay wußte, in knapp einem Jahr zu erwarten war. In Wirklichkeit machte sich kein Mensch darüber Gedanken. Aber wenn nun Dovim allein am Himmel stünde und dazu noch etwas geschähe, etwas ganz Besonderes, etwas wahrhaft Ungewöhnliches, was auch noch das wenige Licht zum Verschwinden brächte…?
Thilanda war hinter ihn getreten und sagte mürrisch: „Schön, Beenay, deine Solarsimulationen stehen. Und nicht nur für viertausendzweihun dert Jahre, sondern in unendlicher Regression. Faro hat mir einen ma thematischen Tip gegeben, und dann haben wir das Programm so ange legt, daß es bis ans Ende aller Zeiten läuft, wenn du das willst, oder rückwärts bis zum Anfang des Universums.“ „Fein. Sei doch so nett und überspiele es auf meinen Computer hier. – Würden Sie bitte mal herkommen, Faro?“ Der pummelige Student kam herangeschlendert. In seinen dunklen Augen blitzte die Neugier. Die Frage, was Benay wohl vorhabe, lag ihm sichtlich auf der Zunge, aber er wahrte die zwischen Student und Pro fessor übliche Form und wartete schweigend ab, bis der Ältere es ihm von sich aus erzählte. „Hier auf dem Schirm“, begann Beenay, „habe ich den von Athor be rechneten Orbit des hypothetischen Kalgash Zwei. Athor sagte, dieser Orbit berücksichtige sämtliche Abweichungen in unserer eigenen Um laufbahn, und da ich überzeugt bin, daß Athor weiß, was er tut, gehe ich davon aus, daß der Orbit korrekt ist. Dazu bekomme ich, sobald Thilan da den Datentransfer abgeschlossen hat, das von Ihnen beiden erarbeite te Programm zur Simulation der Sonnenbewegungen über einen langen Zeitraum. Ich will nun herausfinden, was geschieht, wenn nur eine ein zige Sonne an unserem Himmel steht, während Kalgash Zwei relativ nahe an unserem Planeten vorbeizieht, um…“ „Um die Häufigkeit von Sonnenfinsternissen zu berechnen?“ platzte Faro heraus. „Ist es das, Sir?“ Beenay fand den Scharfsinn des Jungen erheiternd, aber auch ein we nig erschreckend. „Das ist es tatsächlich. Ihnen spuken also auch Eklip sen im Kopf herum?“ „Ich dachte schon daran, als Athor uns zum ersten Mal von Kalgash Zwei erzählte. Wissen Sie noch, wie Simbron bemerkte, der neue Satel lit könnte vielleicht für eine kleine Weile das Licht einiger Sonnen ver decken, und Sie sagten, das würde man eine ‚Sonnenfinsternis’ nennen, und wie ich dann ein paar von den Möglichkeiten durchspielen wollte? Athor unterbrach mich, ehe ich etwas sagen konnte, weil er müde war und nach Hause wollte.“ „Und Sie haben seither mit niemand darüber gesprochen?“ „Niemand hat mich danach gefragt“, sagte Faro. „Nun, Ihr großer Au genblick ist da. Ich werde alles von meinem Computer auf den Ihren überspielen, dann wird sich jeder für sich vor seinen Bildschirm setzen und mit Zahlen jonglieren. Ich bin auf der Suche nach einem sehr selte nen Fall: Kalgash Zwei befindet sich an dem Punkt seiner Bahn, der Kalgash am nächsten liegt, und am Himmel steht nur eine einzige Son ne.“
Faro nickte und eilte in einem für seine Verhältnisse unerhörtem Tem po an seinen Computer. Beenay rechnete nicht damit, als erster fertig zu sein. Faro war be rühmt für seine Schnelligkeit bei solchen Aufgaben. Wichtig war, daß sie unabhängig voneinander zu einer Lösung kamen und sich gegensei tig die Bestätigung liefern konnten. Als Faro daher schon nach kurzer Zeit triumphierend schnaubte, aufsprang und etwas sagen wollte, winkte Beenay gereizt ab und arbeitete weiter. Zehn endlose, peinliche Minuten dauerte es noch, bis auch er soweit war. Dann erschienen die ersten Zahlen auf seinem Schirm. Wenn alle Voraussetzungen stimmten, die er dem Computer eingege ben hatte – die von Athor errechnete, anzunehmende Masse und Um laufbahn des unbekannten Planeten, die von Thilanda errechneten Be wegungen der sechs Sonnen am Himmel – dann war es nicht sehr wahr scheinlich, daß es tatsächlich zu einer Verfinsterung kam. Die einzige Möglichkeit dafür wäre ein Nur-Dovim-Tag. Aber Kalgash Zwei hatte kaum Chancen, sich vor Dovim zu schieben. Nur-Dovim-Tage waren äußerst selten, und wie Beenay wußte, war die Wahrscheinlichkeit, daß Dovim allein am Himmel stand, während Kalgash Zwei sich auf seiner langen Umlaufbahn irgendwo in der Nähe von Kalgash befand, unend lich klein. Oder doch nicht? Nein. Nicht unendlich klein. Ganz und gar nicht. Er sah sich die Zahlen auf dem Schirm genauer an. Sie ließen eine geringe Chance für eine Konvergenz erkennen. Die Berechnung war noch nicht abgeschlossen, aber der Trend wurde immer deutlicher, je mehr Kalgash – Kalgash-Zwei-Konjunktionen in dem angegebenen Untersuchungszeitraum von viertausendzweihundert Jah ren der Computer abarbeitete. Bei jedem neuen Umlauf kam Kalgash Zwei dichter an einen Nur-Dovim-Tag in unmittelbarer Nähe von Kal gash heran. Nun war der Computer bei den unwahrscheinlichsten Mög lichkeiten angelangt, wieder erschienen neue Zahlen. Ungläubig, mit zu nehmender Spannung wartete Beenay. Da, endlich. Alle drei Himmelskörper genau in eine Linie. Kalgash – Kalgash Zwei – Dovim! Ja, es war möglich, daß Kalgash Zwei Dovim völlig verfinsterte, wenn Dovim als einzig sichtbare Sonne am Himmel stand. Aber diese Anordnung war extrem selten. Dovim muß allein und in größtmöglichem Abstand von Kalgash über einer Hemisphäre stehen, während Kalgash Zwei sich in minimaler Entfernung befand. In diesem Fall würde der scheinbare Durchmesser von Kalgash Zwei das Sieben fache von Dovims Durchmesser betragen, und das würde genügen, um Dovims Licht länger als einen halben Tag zu verdecken. Damit könnte
kein Fleck auf dem Planeten de Auswirkungen der Dunkelheit entgehen. Der Computer zeigte, daß ein derart außergewöhnliches Ereignis nur ein mal alle… Beenay keuchte erschrocken auf. Er konnte es nicht fassen. Er sah sich nach Faro um. Das runde Gesicht des jungen Doktoranden war bleich vor Entsetzen. Mit rauher Stimme sagte Beenay: „Schön. Ich bin fertig, und ich habe ein Ergebnis. Aber nennen Sie mir zuerst Ihre Zahl.“ „Verfinsterung Dovims durch Kalgash Zwei, Periodizität: zweitausen dundneunundvierzig Jahre.“ „Ja“, bestätigte Beenay tonlos. „Genau mein Wert. Einmal alle zwei tausendundneunundvierzig Jahre.“ Ein Schwindel erfaßte ihn. Das gesamte Universum schien sich um ihn zu drehen. Einmal alle zweitausendundneunundvierzig Jahre. Den Aposteln des Feuers zufolge war dies genau die Dauer eines Gottesjahres. Exakt diese Zahl stand im Buch der Offenbarungen. „- alle Sonnen werden verschwinden…“ „- die Sterne werden uns vom schwarzen Himmel herab mit Feuer be schießen…“ Er wußte nicht, was Sterne waren. Aber Siferra hatte auf der Halbinsel Sagikan einen Hügel aus Städten entdeckt, die mit erstaunlicher Regel mäßigkeit etwa alle zweitausend Jahre niedergebrannt waren. Noch lagen die Ergebnisse der C-l4-Tests nicht vor, aber vielleicht würden auch sie auf dieselbe Zahl kommen, vielleicht würde sich herausstellen, daß zwischen den einzelnen Feuersbrünsten am Hügel von Thombo jeweils – zweitausendundneunundvierzig Jahre lagen? „… vom schwarzen Himmel…“ Beenay starrte hilflos zu Faro hinüber. „Wann ist der nächste Nur-Dovim-Tag zu erwarten?“ fragte er. „In elf Monaten und vier Tagen“, antwortete Faro grimmig. „Am neunzehnten Theptar.“ „Ja“, sagte Beenay. „Und genau an diesem Tag wird sich, so behauptet Mondior 71, der Himmel verfinstern, und die Götter werden Feuer auf uns herabschleudern und unsere Zivilisation zerstören.“
Kapitel 17 „Zum ersten Mal in meinem Leben“, sagte Athor, „bete ich von gan zem Herzen darum, daß meine Berechnungen falsch sein mögen. Aber ich fürchte, so gnädig werden mir die Götter nicht sein. Wir werden unerbittlich auf eine logische Folgerung zugerissen, die man gar nicht in Betracht zu ziehen wagt.“
Er sah in die Runde, blickte die drei Menschen, die sich auf seine Bitte hier versammelt hatten, nacheinander fest an. Der junge Beenay 25 na türlich. Sheerin 501 von der Psychologischen Fakultät. Siferra 89, die Archäologin. Unter Aufbietung aller Willenskraft verbarg Athor, wie ungeheuer er schöpft er war, wie sehr ihn die wachsende Verzweiflung, ja, wie sehr ihn alles belastete, was er in den letzten Wochen erfahren hatte. Nicht einmal sich selbst wollte er dies eingestehen. Immer wieder war ihm in letzter Zeit der Gedanke gekommen, er habe schon zu lange gelebt, es wäre besser gewesen, sich vor ein oder zwei Jahren zur Ruhe zu setzen. Doch solche Überlegungen hatte er unbarmherzig verdrängt. Sein eiser ner Wille und seine unerschütterliche Seelenstärke waren stets seine hervorragendsten Eigenschaften gewesen, und obwohl ihm das Alter schwer zu schaffen machte, suchte er sich diese Wesenszüge zu bewah ren. Er wandte sich an Sheerin: „Ihre Spezialität ist also die Erforschung der Dunkelheit, wenn ich recht verstanden habe?“ „Vielleicht könnte man es auch so ausdrücken“, antwortete der dicke Psychologe belustigt. „Meine Doktorarbeit habe ich über dunkelheitbe dingte Geistesstörungen geschrieben. Aber die Dunkelforschung ist nur ein Aspekt meiner Arbeit. Ich interessiere mich für alle Arten von Mas senhysterie – für die irrationalen Reaktionen des menschlichen Geistes auf Reizüberflutung. Ich verdiene mein täglich Brot mit der ganzen Pa lette menschlichen Irreseins.“ „Sehr schön“, sagte Athor kühl. „Wie dem auch sei, Beenay 25 hält Sie für den führenden Experten der Universität bei allem, was mit Dun kelheit zusammenhängt. Sie haben unsere kleine, astronomische De monstration auf dem Bildschirm gesehen, und ich gehe davon aus, daß Sie die wichtigsten Konsequenzen unserer Entdeckung nachvollziehen können.“ Es war dem alten Astronomen nicht gelungen, eine weniger herablas sende Form zu finden. Aber Sheerin schien sich daran nicht weiter zu stören. „Ich glaube, ich bin einigermaßen mitgekommen“, sagte er ruhig. „Sie behaupten, ein rätselhafter, unsichtbarer Himmelskörper von der Größe eines Planeten umkreise Kalgash in einer bestimmten Entfernung, und auf die eine oder andere Weise würden durch seine Anziehungskraft gewisse, von meinem Freund Beenay entdeckte Unregelmäßigkeiten in Kalgashs Orbit genau erklärt. Ist das soweit richtig?“ „Ja“, sagte Athor. „Durchaus korrekt.“ „Nun“, fuhr Sheerin fort, „hat sich herausgestellt, daß dieser Körper bisweilen zwischen uns und eine unserer Sonnen gerät, was zu einer Sonnenfinsternis führt. Doch nur eine Sonne kreuzt seine Bahn jemals
so, daß eine Verfinsterung überhaupt möglich ist, nämlich Dovim. Zu dem wurde gezeigt, daß es zu einer Sonnenfinsternis nur dann kommt, wenn…“ – Sheerin hielt inne und überlegte angestrengt – „wenn Dovim die einzige Sonne am Himmel ist und sie und das sogenannte Kalgash Zwei in einer Linie stehen, so daß Kalgash Zwei die Scheibe von Dovim völlig verdeckt und überhaupt kein Licht zu uns durchdringt. Bin ich noch immer auf dem rechten Weg?“ Athor nickte. „Sie haben alles genau erfaßt.“ „Das habe ich befürchtet. Dabei hatte ich gehofft, Sie mißverstanden zu haben.“ „Um nun auf die Auswirkungen einer solchen Sonnenfinsternis zu kommen…“ mahnte Athor. Sheerin holte tief Atem. „Schön. Infolge der Sonnenfinsternis – sie tritt, den Göttern sei Dank, nur alle zweitausendundneunundvierzig Jah re einmal ein – wird ganz Kalgash über eine längere Periode in absoluter Dunkelheit liegen. Durch die Drehung der Welt wird auf jedem Konti nent für eine Zeitspanne von – wie sagten Sie noch? – neun bis vierzehn Stunden, je nach geographischer Breite – tiefe Nacht herrschen.“ „Und nun würde ich gern Ihre Ansicht als qualifizierter Psychologe hören“, drängte Athor. „Wie werden sich diese Vorgänge auf den menschlichen Geist auswirken?“ „Die Menschen“, antwortete Sheerin wie aus der Pistole geschossen, „werden dem Wahnsinn verfallen.“ Plötzlich war es totenstill geworden. Endlich sagte Athor: „Ihre Prognose lautet also: Weltweiter Wahn sinn.“ „Aller Voraussicht nach. Weltweite Dunkelheit, weltweiter Wahnsinn. Ich nehme an, die Wirkung auf den Einzelnen wird unterschiedlich stark sein und von kurzfristiger Desorientierung und Depression bis zu totaler und irreversibler Zerstörung des Denkvermögens reichen. Je größer die psychische Stabilität, desto geringer natürlich die Wahrscheinlichkeit eines völligen Zusammenbruchs durch den verheerenden Einfluß der Finsternis. Aber ganz ohne Schaden wird wohl niemand davonkom men.“ „Ich begreife das nicht“, schaltete sich Beenay ein. „Was ist denn so schlimm an der Dunkelheit, daß sie die Menschen in den Wahnsinn treibt?“ Sheerin lächelte. „Wir sind einfach nicht daran gewöhnt Versuche dir einmal eine Welt vorzustellen, die nur eine Sonne hat. Wenn diese Welt sich um ihre Achse drehte bekäme jede Hemisphäre für die eine Hälfte des Tage Licht, in der anderen Hälfte wäre es stockdunkel.“ Unwillkürlich winkte Beenay entsetzt ab.
„Siehst du?“ rief Sheerin. „Du willst es nicht einmal hören! Aber die Bewohner unseres fiktiven Planeten wären an ihr tägliches Quantum Dunkelheit gewöhnt. Sicher wäre ihnen das Tageslicht lieber, sie wür den sich dabei wohler fühlen, aber die Dunkelheit würden sie achselzu ckend als etwas ganz Alltägliches bezeichnen, kein Grund zur Aufre gung, einfach eine Zeit, die man verschläft und dabei auf den nächsten Morgen wartet. Wir sind da ganz anders. Zu unseren Entwicklungsbe dingungen gehört, daß immer die Sonne scheint – tagein, tagaus, jahr ein, jahraus. Wenn Onos nicht am Himmel steht, dann sind Tano und Sitha und Dovim zu sehen, oder Patru und Trey und so weiter. Unser Bewußtsein, ja, sogar unser Organismus ist an immerwährende Hellig keit gewöhnt. Schon einen kurzen Moment ohne Licht empfinden wir als unangenehm. In deinem Zimmer brennt doch sicher ein Gottesauge, wenn du schläfst?“ „Natürlich“, antwortete Beenay. „Natürlich? Wieso ‚natürlich’?“ „Warum? – Jeder hat doch ein Gottesauge neben seinem Bett!“ „Genau das will ich damit sagen. Hör mal, Freund Beenay, hast du dich jemals im Dunkeln aufgehalten?“ Beenay lehnte sich neben dem großen Panoramafenster an die Wand und überlegte. „Nein, ich kann mich nicht erinnern. Aber ich weiß, wie es ist. Einfach… hm…“ Er schnippte ratlos mit den Fingern, dann hellte sich seine Miene auf. „Es ist ganz einfach kein Licht da. Wie in einer Höhle.“ „Bist du je in einer Höhle gewesen?“ „In einer Höhle! Natürlich nicht.“ „Das dachte ich mir. Ich habe mich einmal hineingewagt, vor langer Zeit, als ich anfing, mich mit dunkelheitbedingten Störungen zu be schäftigen. Aber ich war ganz schnell Wieder draußen. Ich ging so lange weiter, bis der Höhleneingang nur noch als schwacher Lichtschimmer zu erkennen war. Sonst war alles schwarz.“ Sheerin lachte behäbig. „Ich hätte nie gedacht, daß ein Mensch von meiner Statur so schnell rennen kann.“ Beenay richtete sich trotzig auf. „Wenn du’s genau wissen willst, ich glaube nicht, daß ich in diesem Fall davongelaufen wäre.“ Der Psychologe lächelte den jungen Astronomen nachsichtig an. „Tapfere Worte! Ich bewundere deinen Mut, mein Freund.“ Er wandte sich an Athor: „Gestatten Sie mir, Sir, ein kleines, psychologisches Ex periment durchzuführen?“ „Ganz wie Sie wollen.“ „Vielen Dank.“ Und wieder zu Beenay: „Würdest du den Vorhang ne ben dir zuziehen, Freund Beenay?“ Beenay sah ihn überrascht an. „Wozu?“
„Zieh ihn einfach zu. Dann komm hierher und setz dich neben mich.“ „Wenn du meinst…“ Zu beiden Seiten der Fenster hingen schwere, rote Portieren. Athor konnte sich nicht erinnern, daß man sie jemals geschlossen hätte, und dabei arbeitete er seit vierzig Jahren in diesem Raum. Beenay griff ach selzuckend nach der quastenbesetzten Schnur und zog daran. Die Mes singringe rutschten zischend über die Stange, der rote Stoff glitt vor das breite Fenster. Ganz kurz war Dovims dämmrigrotes Licht noch zu se hen, dann lag alles im Schatten, und selbst die Schatten wurden un scharf. Beenay ging auf den Tisch zu, seine Schritte hallten dumpf durch die Stille, doch auf halbem Wege hörten sie plötzlich auf. „Ich kann dich nicht sehen, Sheerin“, flüsterte er hilflos. „Taste dich voran“, befahl Sheerin mit gepreßter Stimme. „Aber ich kann dich nicht sehen!“ Der junge Astronom keuchte. „Ich kann überhaupt nichts sehen!“ „Was hast du denn erwartet? Es ist eben dunkel.“ Sheerin schwieg ei nen Moment. „Nun mach schon. Du findest dich doch hier auch mit geschlossenen Augen zurecht. Komm einfach zu mir und setz dich.“ Zögernd setzten die Schritte wieder ein. Dann stieß jemand gegen ei nen Stuhl. Beenays Stimme sagte ganz schwach: „Da bin ich.“ „Wie fühlst du dich?“ „Mir…“ Er schluckte. „Mir geht es gut.“ „Du fühlst dich ganz wohl?“ Eine lange Pause. „Nein.“ „Nein, Beenay?“ „Ganz und gar nicht. Es ist entsetzlich. Es ist, als ob die Wände…“ Wieder hielt er inne. „Sie scheinen immer näher zu rücken. Dauernd möchte ich sie wegstoßen. – Aber deshalb verliere ich noch lange nicht den Verstand. Ich glaube, allmählich gewöhne ich mich sogar daran.“ „Nun gut. Siferra? Was ist mit Ihnen?“ „Ein wenig Dunkelheit kann ich ertragen. Ich bin immer wieder ein mal in unterirdischen Gängen herumgekrochen. Aber ich könnte nicht sagen, daß ich mir viel daraus mache.“ „Athor?“ „Auch ich bin noch am Leben. Aber ich glaube, wir haben alle begrif fen, was Sie uns zeigen wollten, Dr. Sheerin“, sagte der Leiter des Ob servatoriums schroff. „Nun gut. Beenay, zieh die Vorhänge wieder auf.“ Zaghafte Schritte tappten durch die Dunkelheit, ein Rascheln war zu hören, als Beenay gegen den Stoff streifte und nach der Quaste tastete, dann glitten zur allgemeinen Erleichterung – schschsch – die Gardinen
zurück. Dovims rotes Licht strömte durch das Fenster in den Raum, und Beenay begrüßte die kleinste der sechs Sonnen mit einem Freuden schrei. Sheerin wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und sagte mit zittriger Stimme: „Und das waren nur ein paar Minuten in einem abgedunkelten Raum.“ „Es ist zu ertragen“, stellte Beenay zuversichtlich fest. „Ja, solange es nur ein dunkler Raum ist. Zumindest für kurze Zeit. Aber Sie haben alle von der Jahrhundertausstellung in Jonglor gehört, nicht wahr? Von dem Skandal um den Tunnel der Geheimnisse? Bee nay, dir habe ich die Geschichte an jenem Abend letzten Sommer im Sechs-Sonnen-Club erzählt, als auch dieser Theremon von der Zeitung dabei war.“ „Ja, ich erinnere mich. Die Sache mit den Besuchern des Vergnü gungszentrums, die bei einer Fahrt durch die Dunkelheit den Verstand verloren hatten.“ „Der Tunnel war nur eine Meile lang – und unbeleuchtet. Man stieg in einen kleinen, offenen Wagen und rumpelte fünfzehn Minuten durch die Dunkelheit. Manche Fahrgäste starben vor Angst. Andere trugen schwe re, geistige Schäden davon.“ „Und warum? Was hat sie in den Wahnsinn getrieben?“ „Im wesentlichen nichts anderes, als was eben auf dich wirkte, als die Vorhänge geschlossen waren und du glaubtest, im Dunkeln von den Wänden des Zimmers erdrückt zu werden. Es gibt einen psychologi schen Fachausdruck für die instinktive Angst des Menschen vor der Finsternis. Wir sprechen von ‚Klaustrophobie’, weil das Fehlen des Lichts immer eng verbunden ist mit geschlossenen Räumen, so daß die Angst vor dem einen zugleich auch die Angst vor dem anderen ist. Kannst du mir folgen?“ „Und diese Leute im Tunnel, die verrückt wurden?“ „Die Leute im Tunnel, die – äh – verrückt wurden, um mit deinen Worten zu sprechen, hatten das Pech, daß ihre Psyche nicht robust ge nug war, um die Klaustrophobie zu überwinden, von der sie in der Dun kelheit befallen wurden. Sie war sehr stark, das kannst du mir glauben, ich habe die Fahrt ja selbst unternommen. Du warst gerade eben nur zwei Minuten ohne Licht, und das hat dich, offenbar schon sehr erschüt tert. Nun stell dir fünfzehn Minuten im Dunkeln vor.“ „Aber haben sie sich denn nicht wieder erholt?“ „Manche schon. Andere werden freilich jahrelang, vielleicht sogar bis an ihr Lebensende an einer klaustrophobischen Fixierung leiden. Ihre latente Angst vor Dunkelheit und vor geschlossenen Räumen hat sich herauskristallisiert und, soweit wir das sagen können, zu einem Dauer zustand verfestigt. Und einige starben wie gesagt am Schock. Das
schließt jede Genesung aus, was? Nur soviel zu dem, was fünfzehn Mi nuten im Dunkeln anrichten können.“ „Bei manchen Leuten“, beharrte Beenay und legte die Stirn in Falten. „Ich glaube immer noch nicht, daß es für die meisten von uns so schlimm wird. Ganz bestimmt nicht für mich.“ Sheerin stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Stell dir vor, es ist dunkel – überall. Soweit das Auge reicht, nirgendwo ein Licht. Häuser, Bäume, Felder, die Erde, der Himmel alles ist schwarz! Und wenn man den Leh ren der Apostel glauben will, obendrein noch Sterne – was immer das auch sein mag. Kannst du dir das vergegenwärtigen?“ „O ja“, erklärte Beenay noch aggressiver. „Nein! Nein, du kannst es nicht!“ Sheerin schlug in jähe Wut mit der Faust auf den Tisch. „Du lügst dir in die eigene Tasche! Du kannst es dir nicht vorstellen. Dein Gehirn ist ebenso wenig dafür gebaut wie… Hör zu, Beenay! Du bist doch Mathematiker. Kann dein Gehirn wirklich und wahrhaftig begreifen, was Unendlichkeit ist? Ewigkeit? Du kannst nur darüber reden. Es auf Gleichungen reduzieren und so tun, als seien die abstrakten Zahlen die Wirklichkeit, während sie doch nur Zeichen auf Papier sind. Aber wenn du dich ehrlich bemühst, den Begriff Un endlichkeit geistig zu erfassen, wird dir ganz bestimmt sehr schnell schwindlig werden. Ein Bruchteil der Wirklichkeit bringt dich durchein ander. Nicht anders ist es mit dem kleinen Happen Dunkelheit, den du eben gekostet hast. Wenn die Nacht tatsächlich kommt, wird dein Verstand mit einem Phänomen konfrontiert, das seine Kapazität weit übersteigt. Du wirst wahnsinnig werden, Beenay. Vollständig und für immer. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran!“ Wieder legte sich erschrockenes Schweigen über den Raum. Endlich sagte Athor: „Das ist also Ihre endgültige Prognose, Dr. Shee rin? Wahnsinn auf breiter Front?“ „Bei mindestens fünfundsiebzig Prozent der Bevölkerung starke Be hinderung durch Geistesstörungen. Vielleicht auch bei fünfundachtzig Prozent. Vielleicht sogar bei hundert Prozent.“ Athor schüttelte den Kopf. „Ungeheuerlich. Gräßlich. Eine unglaubli che Katastrophe. Obwohl ich, wie ich gestehen muß, ein wenig so denke wie Beenay – daß wir es irgendwie überstehen, daß die Wirkungen nicht ganz so verheerend sein werden, wie man es nach Ihrer Einschätzung befürchten müßte. Trotz meines hohen Alters kann ich mich eines ge wissen Optimismuses, einer gewissen Hoffnung nicht erwehren.“ Plötzlich meldete sich Siferra: „Darf ich etwas sagen, Dr. Athor?“ „Gewiß, gewiß! Dazu sind Sie ja hier.“ Die Archäologin erhob sich und trat in die Mitte des Raums. „Ich weiß eigentlich nicht so recht, warum ich hier bin. Als ich mit Beenay zum ersten Mal über meine Entdeckungen auf der Halbinsel Sagikan sprach,
bat ich ihn um absolute Vertraulichkeit. Ich hatte Angst um meinen Ruf als Wissenschaftlerin, weil ich sah, daß sich die Fakten, die ich ausge graben hatte, sehr leicht dazu verwenden ließen, die irrationalste, die beängstigendste, die gefährlichste religiöse Bewegung zu unterstützen, die es in unserer Gesellschaft gibt. Ich spreche natürlich von den Apos teln des Feuers. Doch als Beenay etwas später mit seinen neuen Erkenntnissen, näm lich der Entdeckung der Periodizität von Dovim-Verfinsterungen, zu mir kam, da war mir klar, daß ich mein Wissen nicht länger verheimli chen durfte. Ich habe Fotos und Schaubilder meiner Ausgrabungen am Hügel von Thombo in der Nähe von Beklimot auf der Halbinsel Sagikan mitgebracht. Beenay, du hast sie bereits gesehen, aber vielleicht bist du so freundlich, sie an Dr. Athor und Dr. Sheerin weiterzugeben.“ Siferra wartete, bis alle Gelegenheit gehabt hatten, einen Blick auf das Material zu werfen. Dann setzte sie ihren Vortrag fort. „Sie werden die Schaubilder leichter verstehen, wenn Sie sich den Hü gel von Thombo wie eine gigantische Torte vorstellen, deren Schichten uralte Siedlungen sind. Jede Siedlung wurde auf ihrer unmittelbaren Vorgängerin errichtet – die jüngste natürlich ganz oben auf dem Hügel. Bei ihr handelt es sich um eine Stadt aus der sogenannten BeklimotKultur. Die Stadt darunter scheint vom gleichen Volk erbaut zu sein, aber in einer früheren Zivilisationsstufe, und von da an geht es immer weiter nach unten, insgesamt durch mindestens sieben verschiedene Besiedlungsepochen, vielleicht sogar mehr. Jede dieser Siedlungen, meine Herren, wurde durch Feuer zerstört. Vielleicht erkennen Sie die dunklen Grenzlinien zwischen den einzelnen Schichten. Das sind Brandstreifen – Kohlereste. Bei meiner ersten, noch rein intuitiven Schätzung, wie lange es gedauert haben könnte, bis eine solche Stadt entstand, zur Blüte gelangte, verfiel und schließlich unter ging, kam ich auf jeweils zwei Jahrtausende zwischen den einzelnen Feuersbrünsten, wobei die letzte Stadt vor etwa zweitausend Jahren abbrannte, unmittelbar vor der Entfaltung der Beklimot-Kultur, die wir als den Beginn der geschichtlichen Zeitrechnung betrachten. Nun ist Kohle besonders gut geeignet für die Datierung nach dem Radiokarbon-Verfahren, mit dem sich das Alter einer Stätte recht genau bestimmen läßt. Unser Fakultätslabor war seit dem Eintreffen meines Thombo-Materials in Saro City eifrig mit Radiokarbonanalysen beschäftigt, und nun liegen die Zahlen vor. Ich kenne Sie auswendig. Die jüngste Thombo-Siedlung brannte vor zweitausendundfünfzig Jahren nieder, statistische Abweichung plus oder minus zwanzig Jahre. Die Kohle aus der Siedlung darunter ist viertausendeinhundert Jahre alt, Abweichung plus oder minus vierzig Jahre. Die dritte Siedlung von oben wurde vor sechstausendzweihundert Jahren durch Feuer zerstört,
Abweichung plus oder minus achtzig Jahre. Die vierte Siedlung weist laut Radiokarbonanalyse ein Alter von achttausenddreihundert Jahren auf, plus oder minus einhundert. Die fünfte…“ „Bei den allmächtigen Göttern!“ rief Sheerin. „Sind die Abstände im mer so gleichmäßig?“ „Ja, ausnahmslos. Alle Brände brachen in Abständen von etwas mehr als zwei Jahrtausenden aus. Trotz der kleinen Ungenauigkeiten, die bei Radiokarbonmessungen unvermeidlich sind, ist die Annahme, die Ab stände hätten genau zweitausendundneunundvierzig Jahre betragen, durchaus zulässig. Und das entspricht, wie Beenay bereits demonstriert hat, exakt der Frequenz der Dovim-Finsternisse. – Ebenso“, fuhr Siferra tonlos fort, „wie dem Zeitraum, den die Apostel des Feuers als ein Gottesjahr bezeichnen und an dessen Ende angeblich der große Welten brand steht.“ „Und der ist natürlich eine Folge des Massenwahnsinns.“ Sheerins Stimme klang dumpf. „Wenn die Dunkelheit kommt, verlangen die Menschen nach Licht – ganz gleich, welcher Art. Fackeln, Feuer. Ver brennt alles! Verbrennt die Möbel. Zündet die Häuser an!“ „Nein“, flüsterte Beenay. „Vergiß nicht“, fuhr Sheerin fort, „diese Menschen werden nicht mehr vernünftig denken können. Sie werden sein wie die kleinen Kinder – aber sie werden den Körper und Reste des Bewußtseins von Erwachse nen haben. Sie werden mit Streichhölzern umgehen können. Sie werden nur nicht mehr wissen, welche Folgen es hat, wenn man überall Feuer legt.“ „Nein“, wiederholte Beenay verzweifelt. „Nein. Nein.“ Aber es klang nicht mehr überzeugt. Siferra schaltete sich ein: „Anfangs hätte man noch argumentieren können, die Brände von Thombo seien ein lokal begrenztes Ereignis – ein merkwürdiger Zufall, dieses starre Schema über eine so endlos lange Zeit, aber immerhin nur ein einziger Ort, möglicherweise ein spezielles Reinigungsritual, das nur dort praktiziert wurde. Da nirgendwo sonst auf Kalgash Funde gemacht wurden, die so alt wären wie die von Sagikan, ließ sich das Gegenteil nicht beweisen. Aber Beenays Berechnungen haben alles verändert. Sie zeigen uns, daß die Welt alle zweitausen dundneunundvierzig Jahre – scheinbar – in tiefe Nacht gestürzt wird. Sheerin hat recht, in dieser Situation würde man Feuer entzünden. Und man würde sie nicht unter Kontrolle halten können. Alle anderen Sied lungen, die zur Zeit der Brände von Thombo irgendwo auf der Welt existierten, sind sicher ebenso zerstört worden wie die Städte von Thombo, und aus dem gleichen Grund. Aber nur Thombo ist uns aus der prähistorischen Zeit erhalten geblieben. Wie die Apostel des Feuers
ganz richtig sagen, ist es ein heiliger Ort, ein Ort, an dem sich einst die Götter den Menschen offenbarten.“ „Vielleicht tun sie das auch jetzt wieder“, bemerkte Athor finster. „In dem sie uns Belege für die Feuersbrünste vergangener Zeiten liefern.“ Beenay sah ihn an. „Dann glauben Sie also an die Lehren der Apostel, Sir?“ Für Athor war eine solche Feststellung fast gleichbedeutend mit dem Vorwurf der Unzurechnungsfähigkeit, und so verschlug es ihm erst einmal die Sprache. Doch dann antwortete er, so ruhig er konnte: „Ob ich daran glaube? Nein. Nein, das wohl nicht. Aber sie interessieren mich, Beenay. Es ist mir ein Greuel, diese Frage überhaupt stellen zu müssen, aber was wäre, wenn die Apostel nun recht hätten? Einiges weist darauf hin, daß die Dunkelheit tatsächlich genau im Abstand von zweitausendundneunund vierzig Jahren über die Welt kommt, wie es in ihrem ‚Buch der Offen barungen’ steht. Sheerin sagt, in diesem Fall würde die Menschheit dem Wahnsinn verfallen, und Siferras Bericht beweist, daß zumindest ein kleiner Teil der Menschheit im Laufe der Geschichte tatsächlich viele Male dem Wahnsinn verfiel, und daß ihre Wohnstätten in diesem Inter vall von zweitausendundneunundvierzig Jahren, auf das wir immer wie der stoßen, von Feuersbrünsten vernichtet wurden.“ „Und was schlagen Sie vor?“ fragte Beenay. „Daß wir den Aposteln beitreten?“ Wieder mußte Athor seinen aufsteigenden Zorn unterdrücken. „Nein, Beenay. Nur, daß wir uns mit ihrem Lehren beschäftigen, um zu sehen, ob sie uns irgendwie von Nutzen sein können!“ „Von Nutzen!“ riefen Sheerin und Siferra wie aus einem Mund. „Ja! Von Nutzen!“ Athor faltete seine großen, knochigen Hände und sah sie an. „Sehen Sie denn nicht, daß wir vier vielleicht diejenigen sind, von denen der Fortbestand der menschlichen Zivilisation abhängt? Darauf läuft es doch schließlich hinaus? Es mag melodramatisch klin gen, aber allmählich hat es den Anschein, als verfügten wir vier über hieb- und stichfeste Beweise dafür, daß in Kürze das Ende der Welt über uns hereinbrechen wird. Weltweite Dunkelheit – die zu weltweitem Wahnsinn führt – eine weltweite Feuersbrunst – unsere Städte in Flam men, unsere Gesellschaft in Trümmern. Und dabei existiert bereits eine Gruppe, die aufgrund irgendwelcher geheimer Informationen ebendiese Katastrophe schon seit langem prophezeit – auf das Jahr, auf den Tag genau.“ „Der neunzehnte Theptar“, murmelte Beenay. „Der neunzehnte Theptar, jawohl. Der Tag, an dem Dovim allein am Himmel stehen wird – und, wenn wir uns nicht geirrt haben, der Tag, an dem Kalgash Zwei aus seiner Unsichtbarkeit heraustreten, unseren
Himmel erfüllen und alles Licht auslöschen wird. Die Apostel sagen, an diesem Tag würden unsere Städte vom Feuer verschlungen. Woher wis sen sie das? Ein Zufallstreffer? Nichts als fauler Zauber?“ „Einige ihrer Aussagen ergeben überhaupt keinen Sinn“, wandte Bee nay ein. „Zum Beispiel behaupten sie, am Himmel würden Sterne er scheinen. Was sind Sterne? Und wo sollen sie herkommen?“ Athor zuckte die Achseln. „Ich habe keine Ahnung. Dieser Teil der Apostellehren mag durchaus ins Reich der Fabel gehören. Dennoch scheinen die Leute irgendwelche Aufzeichnungen über frühere Sonnen finsternisse zu besitzen, aus denen sie ihre düsteren Prophezeiungen ableiten. Über diese Unterlagen müssen wir mehr erfahren.“ „Warum wir?“ fragte Beenay. „Weil wir – als Wissenschaftler – in dem bevorstehenden Ringen um die Rettung der Zivilisation eine Führungsrolle übernehmen, als Autori tät auftreten können“, erklärte Athor. „Nur wenn die Gefahr auf der Stelle bekanntgemacht wird, hat die Gesellschaft eine Chance, sich vor der Katastrophe zu schützen. Im Moment hören nur die Leichtgläubigen und die Unwissenden auf die Apostel. Die meisten intelligenten, ver nünftigen Menschen halten sie, wie wir, für Spinner, für Narren, für Verrückte, vielleicht auch für Betrüger. Unsere Aufgabe ist es nun, die Apostel zu überreden, ihre astronomischen und archäologischen Infor mationen, so vorhanden, mit uns zu teilen. Und dann gehen wir an die Öffentlichkeit. Wir machen unsere Erkenntnisse publik und stützen sie mit dem Material, das wir gegebenenfalls von den Aposteln erhalten. Im Grunde verbünden wir uns mit ihnen gegen das Chaos, das wir beide erwarten. Auf diese Weise erregen wir bei allen Bevölkerungsschichten Aufmerksamkeit, bei den Vertrauensseligen wie bei den Kritischen.“ „Wir sollen uns also von der Wissenschaft abwenden und in die Welt der Politik eintreten?“ fragte Siferra. „Mir gefällt das nicht. Das kann doch nicht unsere Aufgabe sein. Ich schlage vor, unser Material der Regierung zu übergeben damit sie…“ „Die Regierung!“ Beenay schnaubte nur verächtlich. „Beenay hat recht“, sprang ihm Sheerin bei. „Ich kenne diese Beam tenseelen. Sie werden einen Ausschuß bilden und – irgendwann – einen Bericht herausgeben. Diesen Bericht werden sie erst einmal zu den Ak ten legen, und nach einiger Zeit werden sie einen zweiten Ausschuß bilden, der ausgraben soll, was immer der erste herausgefunden hat. Danach werden sie abstimmen und… Nein, so viel Zeit haben wir nicht. Wir müssen die Sache schon selbst in die Hand nehmen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie sehr die Dunkelheit dem menschlichen Geist schadet. Athor, Sie und Beenay können mathematisch beweisen, daß und wann die Dunkelheit kommt. Sie, Siferra, haben gesehen, was sie früheren Zivilisationen angetan hat.“
„Aber können wir es denn überhaupt wagen, an die Apostel heranzu treten?“ fragte Beenay. „Setzen wir nicht unseren Ruf als verantwor tungsbewußte Wissenschaftler aufs Spiel, wenn wir uns mit ihnen ein lassen?“ „Ein starkes Argument“, sagte Siferra. „Wir müssen uns von ihnen fernhalten!“ Athor runzelte die Stirn. „Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht war ich naiv, als ich anregte, mit diesen Leuten in irgendeiner Form zusammen zuarbeiten. Ich ziehe den Vorschlag hiermit zurück.“ „Moment mal“, rief Beenay. „Ein Freund von mir – du kennst ihn, Sheerin, Theremon, der Journalist – hat bereits mit einem hochrangigen Vertreter der Sekte Kontakt aufgenommen. Vielleicht wäre er in der Lage, ein geheimes Treffen zwischen Athor und diesem Höchsten Apos tel in die Wege zu leiten. Dann könnten Sie auf den Busch klopfen, Sir, ob er etwas weiß, was für uns von Interesse ist – zur weiteren Bestäti gung unserer Thesen, meine ich – und falls sich herausstellt, daß er nichts zu bieten hat, kann man immer noch abstreiten, daß das Treffen überhaupt stattgefunden hat.“ „Das wäre eine Möglichkeit“, gab Athor zu. „Ich wäre zu einem sol chen Treffen bereit, wenn auch nur sehr ungern. – Kann ich davon aus gehen, daß damit alle Ihre grundlegenden Bedenken gegen meinen ers ten Vorschlag ausgeräumt sind? Stimmen Sie mir zu, daß wir vier auf Grund unserer Erkenntnisse zum Handeln verpflichtet sind?“ „Jetzt schon“, antwortete Beenay mit einem Blick auf Sheerin. „Ich bin immer noch überzeugt, daß ich selbst die Dunkelheit überleben wer de. Aber nach allem, was hier gesagt wurde, muß ich einsehen, daß das für viele andere nicht gilt. Die ganze Zivilisation wird zugrunde gehen – wenn wir nichts unternehmen.“ Athor nickte. „Schön. Sprechen Sie mit Ihrem Freund Theremon. Aber seien Sie auf der Hut. Sie kennen meine Einstellung zur Presse. Ich halte von Journalisten kaum mehr als von den Aposteln. Aber geben Sie die sem Theremon ganz vorsichtig zu verstehen, daß ich mit dem Apostel, den er kennt, gerne unter vier Augen sprechen würde.“ „Wird gemacht, Sir.“ „Sie, Sheerin, sammeln alle Publikationen über die Auswirkung länge rer Dunkelphasen auf den Menschen, deren Sie habhaft werden, und lassen Sie mir zukommen.“ „Kein Problem, Doktor.“ „Nun zu Ihnen, Siferra – wäre es möglich, daß Sie mir einen Bericht über Ihre Thombo-Ausgrabungen zusammenstellen, der auch für Laien verständlich ist? Mit allen Belegen für diese wiederholten Feuersbrüns te, die Sie nur auftreiben können?“
„Noch ist nicht alles ausgewertet, Dr. Athor. Es gibt Material, über das ich heute nicht gesprochen habe.“ Athor zog die Brauen zusammen. „Was meinen Sie?“ „Schrifttäfelchen aus Lehm“, antwortete sie. „Aus der dritten und fünf ten Ebene von oben. Dr. Mudrin unternimmt derzeit den Versuch, sie zu übersetzen, aber die Schwierigkeiten sind enorm. Seine vorläufige Mei nung lautet, es handelt sich um eine Art priesterlicher Warnung vor dem bevorstehenden Feuer.“ „Die erste Ausgabe des ‚Buchs der Offenbarungen’!“ rief Beenay. „Nun ja, vielleicht.“ Siferras Lachen klang nicht ganz echt. „Jedenfalls hoffe ich, die Texte bald zu bekommen. Und dann stelle ich Ihnen das Material zusammen, Dr. Athor.“ „Gut“, sagte Athor. „Wir können gar nicht genug Belege haben. Das wird die größte Aufgabe unseres Lebens.“ Noch einmal sah er einen nach dem anderen an. „Etwas möchte ich freilich klarstellen: meine Bereitschaft, eine Annäherung an die Apostel zu wagen, bedeutet nicht, daß ich die Absicht habe, ihnen in irgendeiner Weise ein Mäntelchen der Respektabilität umzuhängen. Ich hoffe lediglich herauszufinden, was von ihrem Wissen uns helfen kann, die Welt von der kommenden Katastrophe zu überzeugen, Punktum. Ansonsten werde ich alles tun, um mich von ihnen zu distanzieren. Mit Mystizismus will ich nichts zu tun haben. Von ihrem Hokuspokus glaube ich kein Wort – ich will schlicht und einfach wissen, wie sie dazu gekommen sind, eine Katast rophe zu prophezeien. Und auch Sie alle sollten im Umgang mit ihnen größte Vorsicht walten lassen. Verstanden?“ „Das alles kommt mir vor wie ein Traum“, sagte Beenay leise. „Ein böser Traum“, bestätigte Athor. „Meine Seele protestiert nach Kräften, dies sei alles gar nicht wahr, pure Einbildung, die Welt würde sich über den neunzehnten Theptar hinaus weiterdrehen, ohne daß ir gend etwas geschieht. Leider sprechen die Zahlen eine andere Sprache.“ Er sah aus dem Fenster. Onos war vom Himmel verschwunden, Dovim stand als winziger Punkt über dem Horizont. Draußen war es dämmrig, nur Patru und Trey verströmten ihr geisterhaftes, kaltes Licht. „Es gibt keinen Zweifel mehr. Die Nacht wird kommen. Vielleicht erscheinen auch die Sterne, was immer sie sein mögen. Überall werden Brände lodern, das Ende der Welt, wie wir sie kennen, ist nahe. Das Ende der Welt!“
ZWEITER TEIL
NACHT
Kapitel 18 „Du mußt vorsichtig sein“, sagte Beenay. Allmählich spürte er die An spannung. Der Abend nahte – der Abend der Sonnenfinsternis, dem er schon so lange entgegenbangte. „Athor tobt vor Wut, Theremon. Kaum zu fassen, daß du dich überhaupt hierhertraust. Du weißt, daß du dich nirgendwo auf dem Gelände blicken lassen darfst. Wie kannst du nur ausgerechnet heute auftauchen? Du solltest ihn eigentlich verstehen, wenn du bedenkst, was du in letzter Zeit über ihn geschrieben hast.“ Theremon lachte leise. „Ich hab’s dir doch gesagt. Ich kann ihn beru higen.“ „Ich wäre mir da nicht so sicher, Theremon. In deiner Kolumne hast du ihn praktisch als unzurechnungsfähig und pensionsreif bezeichnet, weißt du noch? Der Alte ist im allgemeinen durch nichts zu erschüttern, aber wenn man ihn zu weit treibt, entwickelt er ein erstaunliches Tem perament.“ Theremon zuckte die Achseln: „Hör zu, Beenay, ich war nicht immer der große Kolumnist. Früher, als kleiner Reporter, hatte ich mich auf aussichtslose Interviews spezialisiert, und wenn ich aussichtslos sage, dann meine ich das wörtlich. Ich kam jeden Abend mit Blutergüssen, blaugeschlagenen Augen und hin und wieder auch ein paar gebrochenen Knochen nach Hause, aber nie ohne meine Story. Man entwickelt ein gewisses Maß an Selbstvertrauen, wenn man jahrelang regelmäßig Leu te um den Verstand gebracht hat, nur um eine Story zu bekommen. Mit Athor werde ich schon fertig.“ „Leute um den Verstand gebracht?“ Beenay warf einen vielsagenden Blick auf die Kalendertafel hoch oben an der Korridorwand, die in leuchtend grünen Lettern das Datum verkündete: 19. THEPTAR. Der Tag der Entscheidung, der allen hier im Observatorium seit Monaten wie Feuer im Gedächtnis brannte. Der letzte normale Tag, den viele, vielleicht die meisten Menschen auf Kalgash jemals erleben würden. „Meinst du nicht, du solltest gerade heute abend eine andere Formulie rung wählen?“ Theremon lachte. „Vielleicht hast du recht. Wir werden gehen.“ Er zeigte auf die geschlossene Tür zu Athors Büro. „Wer ist im Moment drin?“ „Athor natürlich. Und Thilanda – eine von den Astronominnen. Au ßerdem Davnit, Simbron, Hikkinan, lauter Mitarbeiter. Das wären dann wohl alle.“ „Und Siferra? Sie hat gesagt, sie würde kommen.“ „Bis jetzt ist sie noch nicht da.“ Theremon machte ein überraschtes Gesicht. „Wirklich nicht? Als ich sie neulich fragte, ob sie in den Schutzbunker gehen würde, hat sie mir
ins Gesicht gelacht. Sie war wild entschlossen, die Sonnenfinsternis von hier aus zu beobachten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ihre Mei nung geändert haben soll. Diese Frau kennt keine Angst, Beenay. Nun, vielleicht hat sie drüben in ihrem Büro noch etwas zu erledigen.“ „Sehr wahrscheinlich.“ „Und unser pausbäckiger Freund Sheerin? Ist er auch nicht da?“ „Nein, Sheerin kommt nicht. Er ist im Schutzbunker.“ „Nicht der Tapfersten einer, unser Sheerin?“ „Zumindest ist er so vernünftig, es zuzugeben. Raissta ist ebenfalls im Bunker, zusammen mit Athors Frau Nyilda und fast allen meinen übri gen Bekannten, bis auf die paar Leute vom Observatorium. Auch du wärst dort besser aufgehoben, Theremon. Wenn heute abend die Dun kelheit hereinbricht, wirst du es bitter bereuen, daß du hiergeblieben bist.“ „Mehr oder weniger das gleiche hat mir der Apostel Folimun 66 schon vor einem Jahr gesagt, nur hat er mich in seinen Schutzbunker eingela den anstatt in den euren. Aber ich habe mich entschieden, mein Freund, all den gräßlichen Strafen, die sich die Götter für mich ausgedacht ha ben, die Stirn zu bieten. Heute abend gilt es einen Bericht zu schreiben, und wie soll ich ihn schreiben, wenn ich mich in einem kuscheligen Schlupfwinkel unter der Erde verkrochen habe?“ „Morgen wird es keine Zeitung mehr geben, die deinen Bericht veröf fentlicht, Theremon.“ „Glaubst du?“ Theremon packte Beenay am Arm und zog ihn so dicht zu sich heran, daß sich ihre Nasen fast berührten. Dann bat er mit leiser, drängender Stimme: „Sag mir eines, Beenay, von Freund zu Freund. Glaubst du wirklich und wahrhaftig daran, daß wir heute abend etwas so Unglaubliches wie den Einbruch der Dunkelheit erleben werden?“ „Ja.“ „Ihr Götter! Ist das dein Ernst, Mann?“ „Mir war nie weniger nach Scherzen zumute, Theremon.“ „Es ist doch nicht zu fassen. Du wirkst so ausgeglichen, Beenay. So solide und verantwortungsbewußt. Und dann braust du aus einer Reihe von astronomischen Berechnungen, die, wie du selbst zugibst, rein spe kulativ sind, aus ein paar Kohlestückchen, die tausend Meilen von hier in einer Wüste ausgebuddelt wurden, und aus dem hysterischen Gezeter einer Horde fanatischer Kultisten die verrückteste, absurdeste Weltun tergangsprophezeiung zusammen, die ich jemals…“ „Sie ist nicht verrückt“, beharrte Beenay ruhig. „Und sie ist auch nicht absurd.“ „Dann geht heute abend also wirklich die Welt unter.“ „Die Welt, wie wir sie kennen und lieben, ja.“
Theremon ließ Beenays Arm los und rang verzweifelt die Hände. „Ihr Götter! Auch du! Bei der Dunkelheit, Beenay, seit über einem Jahr be mühe ich mich aufrichtig, in diesem Gerede irgendwo einen Funken Glaubwürdigkeit zu entdecken, aber es ist mir schlechterdings unmög lich. Ihr könnt sagen, was ihr wollt, du und Athor, Siferra, Folimun 66, Mondior oder…“ „Warte ab“, sagte Beenay. „Nur noch ein paar Stunden.“ „Du meinst es ehrlich!“ staunte Theremon. „Bei allen Göttern, du bist ein ebensolcher Spinner wie Mondior persönlich. Pah! Mehr sage ich nicht, Beenay. Pah! – Und jetzt melde mich bitte bei Athor an.“ „Ich warne dich, er will dich nicht sehen.“ „Das hast du schon einmal gesagt. Bring mich trotzdem zu ihm.“
Kapitel 19 Theremon hätte selbst nie erwartet, einmal zum Gegner der Wissen schaftler im Observatorium zu werden. Das hatte sich in den Monaten vor dem neunzehnten Theptar ganz allmählich so ergeben. Im Grunde ging es um seine Integrität als Journalist. Gewiß, sagte er sich, Beenay war sein alter Freund, Dr. Athor ohne Frage ein großer Astronom, Sheerin ein angenehmer Mensch, offen und liebenswert, und Siferra – nun, Siferra war eine interessante, attraktive Frau und eine bedeutende Archäologin. Er hatte wirklich kein Verlangen danach, sich alle diese Menschen zu Feinden zu machen. Aber er konnte nicht gegen seine Überzeugung schreiben. Und er war zutiefst davon überzeugt, daß die Gruppe aus dem Observatorium ge nauso übergeschnappt war wie die Apostel des Feuers und genauso ge fährlich für die gesellschaftliche Stabilität. Er konnte ihre Behauptungen einfach nicht ernst nehmen, im Gegen teil, je öfter er sich im Observatorium aufhielt, desto hirnverbrannter kam ihm die ganze Sache vor. Da schwebte angeblich ein unsichtbarer und offenbar auch unauffind barer Planet auf einer Bahn durch den Himmel, die ihn alle paar Jahr zehnte einmal nahe an Kalgash heranführte. Dank einer ganz bestimm ten Sonnenkonstellation würde diesmal nur Dovim am Himmel stehen, wenn der unsichtbare Planet sich näherte. Er würde Dovims Licht ver decken und die Welt ins Dunkel stürzen. Und infolgedessen würden alle Menschen dem Wahnsinn verfallen. Nein, nein, das nahm er den Leuten nicht ab. Theremon erschien die Theorie genauso abwegig wie die Weissagun gen, mit denen die Apostel des Feuers seit so vielen Jahren hausieren gingen. Das einzige, was die Kultisten noch obendrauf gaben, war das rätselhafte Phänomen, das sie Sterne nannten. Wenigstens besaßen die
Leute vom Observatorium so viel Anstand, daß sie zugaben, sich darun ter nichts vorstellen zu können. Offenbar handelte es sich – ein Hinweis der Apostel – um unsichtbare Himmelskörper anderer Art, die plötzlich auftauchten, wenn das Gottesjahr endete und der Zorn der Götter Kal gash traf. „Es kann nicht sein“, hatte Beenay ihm eines abends, sechs Monate vor der angekündigten Katastrophe, im Sechs-Sonnen-Club erklärt. „Die Sonnenfinsternis und die Dunkelheit, ja. Die Sterne, nein. Im Univer sum gibt es nichts bis auf unsere Welt, die Sechs Sonnen, ein paar un bedeutende Asteroiden – und Kalgash Zwei. Wenn zudem noch Sterne vorhanden sind, wieso können wir sie dann mit unseren Instrumenten nicht erfassen? Wieso registrieren wir keine Störungen der Umlaufbahn wie bei Kalgash Zwei? Nein, Theremon, wenn es da draußen Sterne gibt, dann stimmt die Gravitationstheorie nicht. Und wir wissen, daß die Theorie in Ordnung ist.“ „Wir wissen, daß die Theorie in Ordnung ist“, hatte Beenay gesagt. War das etwas anderes, als wenn Folimun erklärte: „Wir wissen, daß das Buch der Offenbarungen ein Buch der Wahrheit ist“? Ganz zu Anfang, als Beenay und Sheerin ihm zum erstenmal von der aufkeimenden Befürchtung berichteten, die ganze Welt gehe einer ver heerenden Dunkelperiode entgegen, hatte sich Theremon, halb skep tisch, halb beeindruckt von diesen apokalyptischen Visionen, aufrichtig bemüht, ihnen behilflich zu sein, „Athor will mit Folimun sprechen“, sagte Beenay. „Er sucht herauszufinden, ob die Apostel über alte, astro nomische Aufzeichnungen irgendwelcher Art verfügen, die unsere Er kenntnisse bestätigen könnten. Läßt sich da etwas machen?“ „Eine komische Vorstellung“, sagte Theremon. „Dieser alte Hitzkopf von einem Wissenschaftler bittet um eine Unterredung mit dem Spre cher der antiwissenschaftlichen, der nonwissenschaftlichen Kräfte. Aber ich werde sehen, was ich tun kann.“ Zu seiner Überraschung war es kein Problem, das Treffen in die Wege zu leiten. Theremon hatte ohnehin ein zweites Interview mit Folimun geplant, und der Apostel mit den scharfen Zügen gewährte ihm für den folgenden Tag Audienz. „Athor?“ fragte Folimun, als der Zeitungsmann Beenays Botschaft ausgerichtet hatte. „Wozu will er gerade mich sprechen?“ „Vielleicht hat er vor, Apostel zu werden“, scherzte Theremon. Folimun lachte. „Kaum anzunehmen. Nach allem, was ich über ihn weiß, würde er sich lieber knallrot anmalen lassen und nackt über den Saro-Boulevard spazieren.“ „Er könnte ja bekehrt worden sein“, deutete Theremon an. Dann legte er eine provozierende Pause ein, um schließlich ganz behutsam fortzu fahren: „Jedenfalls weiß ich ganz sicher, daß er und seine Mitarbeiter
auf Informationen gestoßen sind, die möglicherweise Ihre Überzeugung stützen könnten, am neunzehnten Theptar nächsten Jahres werde eine große Finsternis über die Welt hinwegfegen.“ Folimun gestattete sich, genauestens dosiert eine Andeutung von Inte resse zu zeigen, indem er fast unmerklich eine Augenbraue hochzog. „Wie faszinierend – wenn es wahr ist“, bemerkte er gelassen. „Um das zu überprüfen, werden Sie mit ihm sprechen müssen.“ „Vielleicht tue ich das sogar“, sagte der Apostel. Und er hielt Wort. Doch wie das Treffen zwischen Folimun und Athor verlaufen war, fand Theremon trotz größter Anstrengungen nie heraus. Athor und Folimun blieben unter sich, und soweit Theremon in Erfah rung bringen konnte, sprachen sie hinterher mit keinem Menschen dar über. Auch Beenay, sein wichtigster Kontaktmann zum Observatorium, konnte nur mit vagen Vermutungen aufwarten. „Es hatte etwas mit den alten astronomischen Aufzeichnungen zu tun, die sich nach Ansicht des Chefs im Besitz der Apostel befinden, mehr kann ich dir nicht sagen“, meldete Beenay. „Athor hat den Verdacht, daß es sich um jahrhundertealte Überlieferungen handelt, vielleicht noch aus der Zeit vor der letzten Sonnenfinsternis. Einige Passagen im Buch der Offenbarungen sind nämlich in einer längst vergessenen Sprache geschrieben.“ „In einem längst vergessenen Kauderwelsch, willst du wohl sagen. Niemand ist aus dem Zeug jemals klug geworden.“ „Nun, ich ganz bestimmt auch nicht“, gab Beenay zu. „Aber einige durchaus angesehene Philologen vermuten, daß es sich bei den fragli chen Passagen tatsächlich um prähistorische Texte handeln könnte. Wenn die Apostel nun irgendwelche Hilfsmittel hätten, um diese Spra che zu entschlüsseln? Aber die behalten sie für sich, und damit tarnen sie auch alle astronomischen Angaben, die im Buch der Offenbarungen verzeichnet sein könnten. Vielleicht hat es Athor auf diesen Schlüssel abgesehen.“ Theremon war fassungslos. „Willst du behaupten, der größte Astro nom unserer Zeit, vielleicht aller Zeiten, hält es für nötig, zu einer wis senschaftlichen Frage eine Horde hysterischer Kultisten zu konsultie ren?“ Beenay zuckte die Achseln. „Ich weiß nur, daß Athor die Apostel und ihre Lehren ebenso verabscheut wie du, aber er erhoffte sich wichtige Erkenntnisse von der Begegnung mit deinem Freund Folimun.“ „Er ist nicht mein Freund! Unsere Bekanntschaft ist rein berufsbe dingt.“ „Nenn es, wie du willst“, begann Beenay, aber Theremon fiel ihm ins Wort. Zu seiner eigenen Verwunderung spürte er echten Zorn in sich aufsteigen. „Und eines sage ich dir gleich: Falls sich herausstellen sollte,
daß ihr mit den Aposteln irgendeinen Handel abgeschlossen habt, kann ich sehr ungemütlich werden. Für mich sind die Apostel Vertreter der schwärzesten Nacht – der widerwärtigsten, reaktionärsten Ideen, die es gibt. Wenn es nach ihrem Willen ginge, müßten wir alle wieder wie im Mittelalter leben, fasten, keusch sein und uns geißeln. Schlimm genug, wenn diese Psychopathen ihre wahnwitzigen Fieberphantasien auswür gen und damit Unruhe in unseren friedlichen Alltag bringen dürfen, aber wenn ein angesehener Mann wie Athor diese lächerlichen Schleimer noch aufwertet, indem er Teile ihres Gefasels mit seinen eigenen Er kenntnissen vermischt, dann, mein Freund, werde ich von jetzt an alles, was von eurem Observatorium ausgeht, mit größtem Argwohn beobach ten.“ Beenay war sichtlich bestürzt. „Theremon, wenn du nur wüßtest, mit welcher Verachtung Athor über die Apostel spricht, wie wenig er von den Dingen hält, für die sie sich einsetzen…“ „Warum läßt er sich dann überhaupt herab, mit ihnen zu reden?“ „Du hast dich doch auch mit Folimun unterhalten.“ „Das ist etwas anderes. Folimun macht zur Zeit Schlagzeilen, ob es mir paßt oder nicht. Und meine Aufgabe ist es herauszufinden, was in seinem Kopf vorgeht.“ „Na schön“, gab Beenay hitzig zurück, „vielleicht vertritt Athor den gleichen Standpunkt.“ An diesem Punkt hatten sie die Diskussion abgebrochen, denn sie drohte in einen Streit auszuufern, und das wollten sie beide nicht. Bee nay hatte wirklich keine Ahnung, ob und wie sich Athor und Folimun geeinigt hatten, und Theremon sah ein, daß es keinen Sinn hatte, ihn weiter mit Fragen zu bedrängen. Hinterher erkannte er jedoch, daß sich genau seit diesem Gespräch seine Haltung gegenüber seinem Freund, Sheerin und den anderen vom Observatorium allmählich gewandelt hatte – und er vom wohlwollen den, neugierigen Zuschauer zum höhnisch-verächtlichen Kritiker ge worden war. Wenngleich er selbst den Leiter des Observatoriums und den Apostel zusammengeführt hatte, erschien ihm das Treffen nun wie ein Verrat der schlimmsten Sorte, eine naive Kapitulation Athors vor den Kräften der Reaktion und der blinden Ignoranz. Obwohl er selbst – trotz der sogenannten ‚Belege’, die man ihm vor legte – nicht wirklich an die Theorie der Wissenschaftler hatte glauben können, blieb er in seiner Kolumne generell neutral, als im Chronicle die ersten Meldungen über die bevorstehende Sonnenfinsternis erschie nen. „Eine überraschende Ankündigung“, so drückte er sich aus, „zutiefst beängstigend – falls sie der Wahrheit entspricht. Wie Athor 77 ganz
richtig sagt, wäre eine plötzlich einsetzende und über längere Zeit anhal tende, weltweite Dunkelheit für diesen Planeten eine Katastrophe bisher unbekannten Ausmaßes. Doch gerade heute morgen erreicht uns ent schiedener Widerspruch vom anderen Ende der Welt. ‚Mit allem schul digen Respekt vor dem großen Athor 77’, erklärt Heranian 1104, König licher Astronom des Reichsobservatoriums von Kanipilitiniuk, ‚es gibt immer noch keine eindeutigen Belege für die Existenz dieses sogenann ten Kalgash-Zwei-Satelliten, und schon gar nicht dafür, daß er fähig sein könnte, eine Sonnenfinsternis zu bewirken, wie die Saro-Gruppe sie vorhersagt. Wir dürfen nicht vergessen, daß Sonnen – selbst eine so kleine Sonne wie Dovim – unendlich viel größer sind als jeder denkbare wandelnde Raumsatellit, und daß ein solcher Satellit imstande sein soll te, genau die Position am Himmel einzunehmen, in der er alles Sonnen licht verdeckt, das die Oberfläche unserer Welt erreichen könnte, er scheint uns in höchstem Grade unwahrscheinlich.’“ Dann kam jedoch die Rede des Höchsten Apostels vom dreizehnten Umilithar, in der Mondior 71 voll Stolz verkündete, der größte Wissen schaftler der Welt unterstütze die Botschaft des Buches der Offenbarun gen. „Nun ist die Stimme der Wissenschaft eins geworden mit der Stimme des Himmels“, schrie Mondior. „Ich beschwöre euch: laßt ab von euren Träumen, hofft nicht länger auf Wunder, Kommen wird, was kommen muß. Nichts kann die Welt retten vor dem Zorn der Götter, nichts als die Bereitschaft, sich von der Sünde abzuwenden, dem Bösen zu entsagen und nur dem Pfad der Tugend und Rechtschaffenheit zu folgen.“ Mondiors vollmundige Eröffnung hatte Theremon aus seiner Neutrali tät gerissen. Um seiner Freundschaft mit Beenay willen hatte er sich eine Zeitlang bemüht, die Hypothese von der bevorstehenden Sonnen finsternis einigermaßen ernst zu nehmen. Doch nun war sie für ihn nur noch ein Zeilenfüller für die Sauregurkenzeit – etliche ernsthafte, aber betriebsblinde Wissenschaftler steigerten sich in ihre eigene Begeiste rung für eine Reihe von Indizien hinein und zogen so lange aus bloßen Zufälligkeiten ihre Schlüsse, bis sie sich endlich selbst von der abwe gigsten und verrücktesten Theorie des Jahrhunderts überzeugt hatten. Am nächsten Tag fragte Theremon in seiner Kolumne: ‚Ist nicht auch Ihnen unbegreiflich, wie es den Aposteln des Feuers gelingen konnte, Athor 77 zu bekehren? Wer hätte ausgerechnet dem großen alten Mann der Astronomie zugetraut, daß er diesen kuttentragenden Phrasendre schern und Scharlatanen seine Unterstützung angedeihen lassen würde? Hat ein besonders redegewandter Apostel den großen Wissenschaftler so betört, daß er nicht mehr wußte, was er tat? Oder liegt es, wie hinter den efeuumrankten Mauern der Universität Saro gemunkelt wird, ein
fach daran, daß man die Altersgrenze für Wissenschaftler in dieser Fa kultät um einige Jahre zu hoch angesetzt hat?’ Und das war erst der Anfang. Theremon erkannte, welche Rolle er nun zu spielen hatte. Wenn die Leute erst anfingen, das Geschwätz von einer Sonnenfinsternis ernst zu nehmen, dann drehten sie landauf landab ganz von selbst durch, auch ohne daß die Dunkelheit wirklich kam. Es brauchte nur jedermann an den Weltuntergang am neunzehnten Theptar zu glauben, schon würde lange zuvor auf den Straßen Panik ausbrechen, allgemeine Hysterie, die Auflösung von Recht und Ord nung, eine lange Phase allgemeiner Unbeständigkeit und verwirrender Ängste würden folgen – und wenn der gefürchtete Tag schließlich kam und ohne besondere Vorkommnisse vorüberging, waren noch einmal Gefühlsausbrüche irgendwelcher Art zu erwarten. Seine Aufgabe war es daher, so lange mit dem scharfen Speer des Spotts in die Angst vor der Nacht, der Dunkelheit, dem Jüngsten Tag hineinzustechen, bis die Luft entwich und sie in sich zusammenfiel. Wenn Mondior wieder einmal leidenschaftlich donnerte, die Rache der Götter sei nahe, dann antwortete Theremon von nun an mit humorvollen Impressionen einer Gesellschaft, die von den Aposteln nach ihren Vor stellungen ‚reformiert’ worden sei – wo die Menschen in knöchellangen Badeanzügen an den Strand gingen, wo bei allen Sportveranstaltungen zwischen den Wettbewerben endlose Gebete gesprochen wurden, wo man alle bedeutenden Bücher, alle klassischen Dramen, alle Filme um schrieb, um auch die letzte Spur von Ketzerei zu beseitigen. Und wenn Athor und seine Gruppe Schaubilder veröffentlichten, auf denen dargestellt war, wie der nie gesehene und offenbar auch nicht sichtbare Satellit Kalgash Zwei seinem geheimnisvollen Stelldichein mit der blaßroten Dovim entgegenraste, dann konterte Theremon mit launi gen Bemerkungen über Drachen, unsichtbare Riesen und andere mytho logische Ungeheuer, die sich an Kalgashs Himmel tummelten. Wenn Mondior Athor 77 als wissenschaftliche Autorität herausstrich, um zu demonstrieren, wie überzeugend die Lehren der Apostel von weltlicher Seite unterstützt wurden, dann stellte Theremon die Frage, wie ernst man denn eine solche wissenschaftliche Autorität noch neh men könne, Athor 77 sei doch ganz offensichtlich ebenso verrückt wie Mondior selbst. Wenn Athor verlangte, im Rahmen eines Intensivprogramms Lebens mittelvorräte anzulegen und wissenschaftliche und technische Informa tionen sowie alles andere zu horten, was die Menschheit nach Ausbruch des allgemeinen Wahnsinns brauchen würde, dann stichelte Theremon, offenbar sei der allgemeine Wahnsinn mancherorts bereits ausgebro chen, und lieferte seinerseits eine Liste von lebensnotwendigen Dingen,
die tunlichst im Keller einzulagern seien (‚Dosenöffner, Reißzwecken, Einmaleinstabellen, Spielkarten… Und denken Sie daran, Ihren Namen für den Fall, daß Sie ihn nach der Dunkelheit vergessen haben sollten, auf ein Schildchen zu schreiben und dieses an Ihrem rechten Handge lenk zu befestigen… Und am linken Handgelenk befestigen Sie ein Schildchen mit dem Hinweis: Name steht auf dem Schild am anderen Handgelenke). Als Theremon mit seiner Kampagne zu Ende war, hatten seine Leser Mühe zu entscheiden, welche Gruppe die lächerlichere war – die hem mungslosen Weltuntergangspropheten der Apostelsekte oder die bedau ernswert treuherzigen Himmelsgucker im Observatorium der Universität Saro. Eines war jedoch sicher: dank Theremon glaubte in der Öffent lichkeit kaum noch jemand daran, daß sich am Abend des neunzehnten Theptar irgend etwas Ungewöhnliches ereignen würde.
Kapitel 20 Athor schob kampflustig die Unterlippe vor und funkelte den Mann vom Chronicle wütend an. Nur mit äußerster Willensanstrengung ver mochte er sich zu beherrschen. „Sie hier? Entgegen meinen Anweisungen? Was für eine Unverfroren heit!“ Theremon hatte die Hand zum Gruß ausgestreckt, als rechne er tat sächlich damit, daß Athor sie ergreifen würde. Doch bald ließ er sie wieder sinken und sah den Leiter des Observatoriums erstaunlich unbe kümmert an. Athors Stimme zitterte vor mühsam unterdrücktem Zorn. „Es spricht für Ihre ungeheure Dreistigkeit, Sir, daß Sie ausgerechnet heute abend hierher kommen. Wie können Sie es wagen, sich bei uns blicken zu lassen?“ Beenay, der sich in eine Ecke verzogen hatte und mit der Zungenspitze nervös die Lippen befeuchtete, suchte zu vermitteln: „Aber Sir, schließ lich…“ „Haben Sie ihn hergebeten? Obwohl Sie wußten, daß ich es ausdrück lich verboten hatte?“ „Sir, ich…“ „Es war Dr. Siferra“, sagte Theremon. „Sie hat mich sehr eindringlich aufgefordert zu kommen. Ich bin auf ihre Einladung hier.“ „Siferra? – Siferra? – Das kann ich mir nicht vorstellen. Erst vor ein paar Wochen hat sie Sie mir gegenüber als verantwortungslosen Narren bezeichnet und sich auch sonst in abfälligster Weise über Sie geäußert.“ Athor sah sich um. „Wo ist sie überhaupt? Wollte sie nicht auch hier sein?“ Niemand antwortete ihm. Athor wandte sich an Beenay: „Sie
haben diesen Zeitungsmenschen eingeschleust, Beenay. Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht. Gerade jetzt kann ich keinen Widerstand dul den. Das Observatorium ist heute abend für Journalisten geschlossen. Und dieser Journalist hat schon seit langem keinen Zutritt mehr. Führen Sie ihn auf der Stelle hinaus.“ „Dr. Athor“, schaltete sich Theremon ein. „Lassen Sie mich doch we nigstens erklären, warum ich…“ „Ich glaube nicht, junger Mann, daß irgendwelche Erklärungen jetzt noch wiedergutmachen könnten, was Sie in den letzten zwei Monaten mit Ihren empörenden Kolumnen angerichtet haben. Sie haben in Ihrer Zeitung eine niederträchtige Kampagne gegen mich und meine Kollegen geführt, während wir uns bemühten, die Welt auf eine drohende Gefahr vorzubereiten. Sie haben alles getan, um mich und meinen ganzen Stab durch persönliche Angriffe zum Gespött zu machen.“ Er nahm die neueste Nummer des Saro City Chronicle vom Tisch und wedelte Theremon damit wütend vor der Nase herum. „Trotz Ihrer be rüchtigten Impertinenz konnten Sie wohl nicht erwarten, daß ich Ihnen erlauben würde, für diese Zeitung über die Ereignisse des heutigen Ta ges zu berichten. Ausgerechnet Ihnen!“ Athor warf die Zeitung auf den Boden, trat ans Fenster und sah, die Hände auf dem Rücken, hinaus. „Sie werden dieses Haus auf der Stelle verlassen!“ fauchte er, ohne sich umzudrehen. „Beenay, schaffen Sie ihn weg!“ Athor hatte heftige Kopfschmerzen, und er wußte, daß er seinen Zorn beherrschen mußte. Nichts durfte ihn von der gewaltigen Katastrophe ablenken, die sich in Kürze ereignen würde. Verdrossen starrte er auf die Skyline von Saro City und bemühte sich um Gelassenheit, soweit eine solche Haltung an diesem Abend möglich war. Onos sank gemächlich zum Horizont hinab. Bald würde sie verblassen und in den fernen Nebeln verschwinden. Athor beobachtete sie lange. Solange er bei klarem Verstand war, würde er sie nicht wiedersehen. Am anderen Ende, weit jenseits der Stadt, stand Sitha in kalter, weißer Pracht dicht über dem Horizont. Ihr Zwilling Tano war nirgendwo zu entdecken – sie war bereits untergegangen und zog nun über den Him mel der anderen Hemisphäre, wo man schon bald das ungewöhnliche Schauspiel eines Fünf-Sonnen-Tages würde genießen können – und auch Sitha würde im nächsten Moment verschwunden sein. Hinter sich hörte er Beenay und Theremon tuscheln. „Ist dieser Mensch immer noch da?“ fragte Athor drohend. „Sir“, sagte Beenay, „ich finde, Sie sollten ihn anhören.“ „Finden Sie? Finden Sie wirklich, ich sollte ihn anhören?“ Athor fuhr herum, seine Augen funkelten erbost. „O nein, Beenay, ganz im Gegen
teil. Er wird mich anhören!“ Gebieterisch winkte er den Journalisten heran, der noch gar keine Anstalten gemacht hatte, den Raum zu verlas sen. „Kommen Sie, junger Mann. Sie sollen Ihre Story haben.“ Theremon ging langsam auf ihn zu. Athor zeigte aus dem Fenster. „Sitha wird jeden Moment untergehen – da, schon ist sie verschwunden. Von allen sechs Sonnen steht nur noch Dovim am Himmel. Sehen Sie?“ Die Frage war überflüssig. Die rote Zwergsonne wirkte heute abend noch kleiner als sonst, so klein, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Aber sie stand fast im Zenith und gab eine eindrucksvolle Fülle rötlichen Lichts ab, das sich mit Onos’ letzten Strahlen vermischte und das ganze Land wie mit einem blutroten Schleier bedeckte. Das Dovim-Licht übergoß auch Athors nach oben gewandtes Gesicht mit tiefer Röte. „In knapp vier Stunden“, sagte er, „wird es mit der Zivi lisation, so wie wir sie kennen, ein Ende haben. Und zwar deshalb, weil Dovim, wie Sie ja sehen, als einzige Sonne am Himmel steht.“ Er starrte mit schmalen Augen, auf den Horizont. Nun war auch der letzte gelbe Schimmer von Onos erloschen. „Da. Dovim ist allein! Noch vier Stun den bis zum Ende. Schreiben Sie das! Leider wird niemand mehr da sein, um es zu lesen.“ „Und wenn diese vier Stunden – und noch vier weitere – verstreichen, ohne daß etwas geschieht?“ fragte Theremon leise. „Lassen Sie sich deshalb keine grauen Haare wachsen. Es wird genug passieren, das kann ich Ihnen versichern.“ „Mag sein. Und wenn nicht?“ Wieder mußte Athor seinen aufsteigenden Zorn niederkämpfen. „Wenn Sie jetzt nicht gehen, Sir, und Beenay sich weigert, Sie hinaus zugeleiten, dann rufe ich die Sicherheitskräfte der Universität und… Nein. Am letzten Abend der Zivilisation werde ich derartige Rüpelhaf tigkeiten nicht dulden. Ich gebe Ihnen fünf Minuten Zeit, junger Mann, um mir zu sagen, wozu Sie gekommen sind. Wenn diese Frist abgelau fen ist, werde ich Ihnen entweder erlauben, zu bleiben und sich die Son nenfinsternis anzusehen, oder Sie werden freiwillig gehen. Ist das klar?“ Theremon zögerte nur einen Moment. „Ein faires Angebot.“ Athor zog seine Taschenuhr. „Dann also fünf Minuten.“ „Gut! Gleich die erste Frage: Was könnte es eigentlich schaden, wenn Sie mir gestatteten, einen Augenzeugenbericht über die kommenden Ereignisse zu verfassen? Wenn Ihre Prognose sich bewahrheitet, wird sich durch meine Anwesenheit nichts ändern – die Welt geht unter, morgen gibt es keine Zeitung, ich habe nicht mehr die Möglichkeit Sie irgendwie zu kränken. Was ist andererseits, wenn die Sonnenfinsternis ausbleibt? Dann sind Sie und Ihr Stab in einer Weise der Lächerlichkeit
preisgegeben, wie es die Welt noch nicht erlebt hat. Wäre es da nicht ratsam, de Spott einer wohlwollenden Feder zu überlassen?“ Athor schnaubte verächtlich. „Sprechen Sie etwa von Ihrer Feder?“ „Gewiß!“ Theremon ließ sich lässig auf den bequemste Stuhl im Raum fallen und schlug die Beine übereinander „Meine Artikel mögen hin und wieder ein wenig scharf gewesen sein, zugegeben, aber in Zweifelsfäl len habe ich mich möglichst für das Observatorium ausgesprochen. Im merhin ist Beenay ein Freund von mir. Er hat mir als erst angedeutet, was hier vorgeht, und Sie erinnern sich vie leicht, daß ich Ihren For schungen zu Anfang durchaus positiv gegenüberstand. Aber – und das frage ich Sie Dr. Athor – wie konnten Sie, einer der größten Wissen schaftler aller Zeiten, so völlig darüber hinwegsehen, daß dieses Jahr hundert geprägt ist vom Sieg der Vernunft über den Aberglauben, der Tatsachen über die Hirngespinste, des Wissens über die blinde Angst? Die Apostel des Feuers sind ein grotesker Anachronismus. Das ‚Buch der Offenbarungen’ ist ein wirres Durcheinander von dummen Phrasen. Jeder intelligente, jeder moderne Mensch weiß das. Und deshalb reagie ren die Leute verärgert, ja, wütend, wenn ein Wissenschaftler sich um einhundertachtzig Grad dreht und ihnen erzählen will, diese Kultisten verkündeten die reine Wahrheit. Sie…“ „Das wollen wir keineswegs, junger Mann“, fiel ihm Athor ins Wort. „In der Tat stammt ein Teil unserer Informationen von den Aposteln, aber die Schlußfolgerungen, die wir daraus gezogen haben, sind frei vom Mystizismus dieser Sekte. Fakten sind und bleiben Fakten, und es läßt sich nun einmal nicht leugnen, daß die sogenannten ‚dummen Phra sen’ der Apostel von gewissen Fakten gestützt werden. Ich kann Ihnen versichern, daß auch wir von dieser Entdeckung nicht begeistert waren. Aber wir haben den mythologischen Firlefanz beiseite geschoben und uns redlich bemüht, die durchaus ernstzunehmenden Warnungen vor der drohenden Katastrophe von dem ganz und gar absurden und unhaltbaren Programm zur Umwandlung und ‚Reformierung’ der Gesellschaft zu trennen. Inzwischen hassen die Apostel uns noch mehr, als Sie es tun, glauben Sie mir.“ „Ich hasse Sie nicht. Ich versuche lediglich, Ihnen klarzumachen, daß die Stimmung in der Öffentlichkeit ziemlich gereizt ist. Die Leute sind aufgebracht.“ Athor verzog spöttisch den Mund. „Sollen sie doch!“ „Schön, aber was ist morgen?“ „Es wird kein ‚morgen’ geben!“ „Und wenn doch? Nehmen wir einmal – rein theoretisch – an, Sie hät ten sich geirrt. Dann könnte der Zorn der Öffentlichkeit bedrohliche Formen annehmen. Schließlich geht es in der gesamten Finanzwelt seit Monaten steil bergab. Die Börse ist dreimal zusammengebrochen, oder
ist Ihnen das entgangen? Vernünftige Investoren glauben eigentlich nicht an den Weltuntergang, aber sie fürchten, andere Investoren könn ten daran glauben, wer schlau ist, verkauft, ehe die Panik einsetzt – und löst damit selbst die Panik aus. Und dann kauft man zurück, verkauft wieder, sobald der Markt sich gefangen hat, und schon ist der nächste Abwärtstrend eingeleitet. Und was, glauben Sie, hat die Wirtschaft er lebt? Otto Normalverbraucher glaubt Ihren Vorhersagen zwar auch nicht, aber es wäre doch unvernünftig, die neue Couch gerade jetzt zu kaufen, nicht wahr? Man hält sein Geld lieber zusammen, nur für alle Fälle, oder steckt es in Lebensmittelkonserven und Munition, die Möbel können warten. Sie verstehen, was ich sagen will, Dr. Athor. Sobald der Spuk vorüber ist, wird Ihnen die ganze Geschäftswelt ans Leder wollen. Wenn ir gendwelche Spinner – Sie verzeihen den Ausdruck – wenn irgendwel che als seriöse Wissenschaftler getarnte Spinner jederzeit nach Belieben die Wirtschaft der ganzen Welt ins Wanken bringen können, indem sie irgendeine absurde Prognose stellen, wird man sagen, dann ist es Sache der Welt, dagegen etwas zu unternehmen. Und dann fliegen die Fetzen, Doktor.“ Athor sah den Kolumnisten ungerührt an. Die fünf Minuten waren fast um. „Und was wollen Sie in dieser Lage tun?“ „Ganz einfach“, erwiderte Theremon grinsend, „ich hatte mir folgen des gedacht: ab morgen fungiere ich als Ihr inoffizieller Pressesprecher. In dieser Eigenschaft kann ich versuchen, der Empörung, die Ihnen ent gegenschlagen wird, auf die gleiche Weise die Spitze abzubrechen, wie ich bisher versucht habe, die Spannung abzubauen, unter der die Nation stand – mit Humor, notfalls auch mit Spott. Ich weiß – ich weiß – es wäre nicht leicht zu ertragen, denn ich müßte Sie alle als einen Haufen sinnlos brabbelnder Idioten hinstellen. Aber wenn ich erreiche, daß die Leute über Sie lachen, vergessen sie darüber vielleicht ihren Zorn. Als Gegenleistung verlange ich lediglich, exklusiv über den heutigen Abend im Observatorium berichten zu dürfen.“ Athor schwieg, doch Beenay sprudelte los: „Sir, es wäre einer Überle gung wert. Ich weiß, wir haben alle Möglichkeiten überprüft, aber es besteht immer eine Chance von einer Million zu eins, von einer Milliar de zu eins, daß sich in unsere Theorie oder in unsere Berechnungen ir gendwo ein Fehler eingeschlichen hat. Und wenn dem so wäre…“ Die anderen im Raum Anwesenden begannen leise miteinander zu re den, und für Athor klang es wie zustimmendes Gemurmel. Bei allen Göttern, wollte sich denn die ganze Fakultät gegen ihn stellen? Athor machte ein Gesicht, als habe er einen bitteren Geschmack im Mund und könne ihn nicht loswerden.
„Ich soll Sie also hierbleiben lassen, damit Sie uns morgen noch besser zum Gespött machen können? Sie müssen mich schon für sehr vergreist halten, junger Mann!“ „Aber ich habe Ihnen doch bereits erklärt, daß sich durch meine An wesenheit nichts ändert. Falls die Sonnenfinsternis stattfindet, falls die Dunkelheit tatsächlich kommt, haben Sie von mir den größten Respekt zu erwarten, und ich werde Sie in allen etwaigen Krisen nach Kräften unterstützen. Bleibt die Katastrophe dagegen aus, so stelle ich mich zur Verfügung, um Sie, Dr. Athor, vor dem Zorn der empörten Bürger zu schützen, die…“ „Bitte“, sagte eine neue Stimme. „Lassen Sie ihn bleiben, Dr. Athor.“ Athor sah sich um. Siferra war eingetreten, ohne daß er es bemerkt hätte. „Entschuldigen Sie die Verspätung. Drüben in der Archäologie ist in letzter Minute ein kleines Problem aufgetaucht, das einigen Wirbel ver ursachte, und…“ Sie wechselte einen Blick mit Theremon, dann wandte sie sich wieder an Athor. „Bitte, seien Sie mir nicht böse. Ich weiß, wie grausam er sich über uns lustig gemacht hat. Trotzdem habe ich ihn heute abend hierher eingeladen, damit er mit eigenen Augen sieht, wie recht wir hatten. Er… er ist mein Gast, Doktor.“ Athor schloß kurz die Lider. Siferras Gast! Das war zu viel. Warum nicht auch noch Folimun? Oder Mondior! Doch er hatte die Lust an weiteren Debatten verloren. Die Zeit wurde knapp. Und alle anderen schien es nicht weiter zu stören, wenn There mon während der Sonnenfinsternis hier blieb. War es eigentlich nicht egal? War eigentlich nicht alles egal? Athor gab sich geschlagen. „Na schön. Bleiben Sie, wenn Sie unbe dingt wollen. Aber Sie werden die Freundlichkeit haben, alles zu unter lassen, was uns irgendwie behindern könnte. Verstanden? Sie werden möglichst niemandem im Weg stehen. Sie werden auch daran denken, daß ich für alles, was hier geschieht, die Verantwortung trage, und trotz Ihrer Ansichten, die Sie in Ihren Artikeln ja deutlich genug zum Aus druck gebracht haben, erwarte ich volle Unterstützung und unbedingten Respekt.“
Kapitel 21 Siferra kam quer durch den Raum auf Theremon zu und sagte leise: „Ich hatte nicht damit gerechnet, daß du heute abend wirklich kommen würdest.“ „Warum nicht? Die Einladung war doch ernst gemeint, oder?“
„Gewiß. Aber du warst so unerbittlich in deinem Spott, in all den Arti keln, die du über uns geschrieben hast – so grausam…“ „‚Verantwortungslos’ war das Wort, das du gebraucht hast“, sagte Theremon. Sie wurde rot. „Auch das. Ich hätte nicht geglaubt, daß du Athor nach all den abscheulichen Dingen, die du über ihn geschrieben hast, noch in die Augen sehen könntest.“ „Ich werde noch viel mehr tun, wenn sich herausstellen sollte, daß er mit seinen grausigen Prophezeiungen ins Schwarze getroffen hat. Dann werde ich vor ihm auf die Knie fallen und ihn demütig um Verzeihung bitten.“ „Und wenn sich herausstellt, daß er nicht ins Schwarze getroffen hat?“ „Dann wird er mich brauchen“, sagte Theremon. „Ihr alle werdet mich brauchen. Heute abend bin ich hier am rechten Platz.“ Siferra sah den Journalisten erschrocken an. Immer wieder reagierte er ganz anders, als sie erwartete. Bisher war sie aus ihm noch nicht schlau geworden. Natürlich war er ihr unsympathisch – das verstand sich von selbst. Alles an ihm – sein Beruf, seine Ausdrucksweise, die auffallende Art, sich zu kleiden – erschien ihr geschmacklos und ordinär. In ihren Augen verkörperte dieser Mann die laute, derbe, trübselige, abstoßende Alltagswelt jenseits der Universitätsmauern, die sie stets verabscheut hatte. Und doch… und doch… Theremon besaß einige Züge, die trotz allem ihre widerstrebende Be wunderung erregt hatten. Zum einen war er hartnäckig, ließ sich durch nichts abbringen, wenn er irgendein Ziel verfolgte. Das war eine Eigen schaft, die sie schätzte. Dann war er von geradezu brutaler Offenheit: ein krasser Gegensatz zu den aalglatten, durchtriebenen, machtgierigen Akademikertypen, von denen es auf dem Campus nur so wimmelte. Außerdem war er intelligent, kein Zweifel, von einer ganz speziellen, sehr dynamischen und kritischen Intelligenz, die er in seinem Beruf als Journalist leider auf sinnlose Banalitäten vergeudete. Und seine starke Vitalität imponierte ihr: er war groß und kräftig und augenscheinlich kerngesund. Siferra hatte Schwächlinge schon immer verachtet und hart an sich gearbeitet, um selbst keiner zu werden. Sie mußte sich eingestehen – auch wenn es noch so unwahrscheinlich war und ihr ein tiefes Unbehagen bereitete –, daß er sie faszinierte. Die berühmten Gegensätze, die sich anzogen? Ja, so konnte man vielleicht sagen. Aber es stimmte nicht ganz. Sie spürte, daß sie trotz aller äußerli chen Unterschiede mehr mit Theremon gemeinsam hatte, als sie zugeben wollte. Nun warf sie einen besorgten Blick zum Fenster. „Da draußen wird es immer dunkler“, sagte sie. „So etwas habe ich noch nie erlebt.“
„Angst?“ fragte Theremon. „Vor der Dunkelheit? Nein, eigentlich nicht. Aber vor dem, was da nach kommt. Und davor solltest auch du dich fürchten.“ „Danach“, sagte er, „geht Onos wieder auf und vermutlich auch ein paar von den anderen Sonnen. Alles wird wieder so sein wie zuvor.“ „Das klingt sehr überzeugt.“ Theremon lachte. „Solange ich lebe, ist Onos jeden Morgen aufgegan gen. Wie sollte ich da nicht überzeugt sein, daß sie auch morgen aufge hen wird?“ Siferra schüttelte den Kopf. Schon reizte er sie wieder mit seiner Stur heit. Und eben hatte sie sich selbst noch eingestanden, daß sie ihn att raktiv fand. Es war kaum zu glauben. „Onos wird morgen aufgehen“, sagte sie abweisend. „Und sie wird ei ne Szene der Verwüstung bescheinen, aber deine Phantasie ist offenbar zu beschränkt, um sich so etwas vorstellen zu können.“ „Was meinst du mit Verwüstung? Daß alles in Flammen steht? Und daß die Menschen sabbernd und vor sich hinbrabbelnd durch die bren nende Stadt laufen?“ „Die archäologischen Funde lassen auf…“ „Brände, ja. Mehrfach wiederkehrende Feuersbrünste. Aber nur an ei nem einzigen Ort, Tausende von Meilen von hier entfernt und Tausende von Jahren in der Vergangenheit.“ In Theremons Augen blitzte es auf. „Und wo sind die archäologischen Funde, die den Ausbruch von Mas senwahn belegen? Ist das nicht nur eine Extrapolation aus all den Brän den? Woher willst du wissen, daß es sich nicht um rein rituelle Feuer handelte, entzündet von ganz normalen Menschen, in der Hoffnung, damit die Sonnen zurückholen und die Dunkelheit austreiben zu kön nen? Feuer, die jedesmal außer Kontrolle gerieten und großen Schaden anrichteten, gewiß, aus denen man aber keineswegs auf die geistige Verwirrung eines ganzen Volkes schließen kann?“ Sie sah ihn fest an. „Auch dafür gibt es archäologische Belege. Für die weitverbreitete Geistesverwirrung, meine ich.“ „Nämlich?“ „Die Texte auf den Täfelchen. Die wir übrigens erst heute morgen mit Hilfe der philologischen Informationen, die uns die Apostel des Feuers zur Verfügung gestellt hatten, restlos entschlüsseln konnten.“ Theremon lachte schallend. „Die Apostel des Feuers! Großartig! Jetzt gehörst du also auch dazu! Was für ein Jammer, Siferra, daß sich eine Frau mit deiner Figur unter dieser häßlichen, unförmigen Kutte verste cken soll!“ „Oh!“ rief sie und hatte Mühe, die aufschießende Wut, den jähen Ab scheu zu unterdrücken. „Du kannst doch nichts als spotten! In deiner Selbstgerechtigkeit fällt dir, auch wenn du der Wahrheit Auge in Auge
gegenüberstehst, nichts Besseres ein als ein mieser Scherz! Du – du bist einfach unmöglich!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und entfernte sich mit schnellen Schritten. „Siferra – Siferra, warte doch!“ Sie beachtete ihn nicht. Ihr Herz hämmerte wild. Jetzt sah sie ein, daß es ein schrecklicher Fehler gewesen war, jemanden wie Theremon am Abend der Sonnenfinsternis hierher einzuladen. Sie hätte sich überhaupt niemals mit ihm einlassen dürfen. Es war Beenays Schuld, dachte sie. Beenay war überhaupt an allem schuld. Er hatte sie schließlich mit Theremon bekannt gemacht, damals, vor vielen Monaten, im Fakultätsclub. Der Journalist und der junge Astro nom kannten sich offenbar schon lange, und Theremon wandte sich stets an Beenay, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse Schlagzeilen machten. Im Augenblick war die größte Schlagzeile die Voraussage von Mondi or 71, daß am neunzehnten Theptar – der damals noch fast ein Jahr in der Zukunft lag – die Welt untergehen würde. An der Universität hielt natürlich niemand das geringste von Mondior und seinen Aposteln, aber etwa zur gleichen Zeit hatte Beenay deutliche Unregelmäßigkeiten im Orbit von Kalgash festgestellt, und Siferra konnte von den in zweitau sendjährigen Intervallen abgebrannten Siedlungen berichten, die sie im Hügel von Thombo gefunden hatte. Beide Entdeckungen stärkten natür lich die Glaubwürdigkeit der Apostel-Lehren, so bestürzend das auch war. Theremon hatte sich offenbar eingehend über Siferras Arbeit in Thombo informiert. Als der Journalist den Fakultätsclub betrat – Siferra und Beenay waren bereits da, ohne jedoch miteinander verabredet zu sein – brauchte Beenay daher nur zu sagen: „Theremon, das ist meine Freundin Dr. Siferra von der archäologischen Fakultät“, und schon ant wortete Theremon wie aus der Pistole geschossen: „Ach ja. Der uralte Hügel mit den übereinandergeschichteten, abgebrannten Dörfern.“ Siferra lächelte kühl. „Davon haben Sie also gehört?“ „Ich habe es ihm erzählt“, erklärte Beenay hastig. „Ich weiß, ich habe dir versprochen, ihm kein Wort zu verraten, aber nachdem du Athor, Sheerin und die anderen eingeweiht hattest, hielt ich es nicht mehr für so schlimm, wenn er es auch erfuhr – ich habe ihn auch zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Hör mal, Siferra, ich vertraue diesem Mann voll und ganz, und ich war überzeugt davon, daß…“ „Schon gut, Beenay.“ Siferra bemühte sich, ihren Ärger nicht zu zei gen. „Du hättest wirklich besser den Mund gehalten. Aber ich verzeihe dir.“
„Es ist ja nichts passiert“, sagte Theremon. „Ich mußte Beenay die schrecklichsten Eide schwören, kein Wort in die Zeitung zu bringen. Aber es ist faszinierend. Unglaublich faszinierend! Auf welches Alter würden Sie die unterste Siedlung schätzen? Fünfzigtausend Jahre?“ „Eher vierzehn- bis sechzehntausend“, verbesserte Siferra. „Was übri gens ungeheuerlich genug wäre, wenn Sie bedenken, daß Beklimot – von Beklimot haben Sie doch sicher schon gehört? – nur etwa zweitau send Jahre alt ist. Dabei hielten wir es bisher für die früheste Siedlung auf Kalgash. – Sie haben nicht zufällig vor, einen Artikel über meine Entdeckungen zu schreiben?“ „Eigentlich nicht. Ich sagte Ihnen ja, ich habe Beenay mein Wort ge geben. Außerdem erschien mir das Thema bisher für die Leser des Chronicle etwas zu abstrakt, zu weit von ihren Alltagsproblemen ent fernt. Aber ich glaube, jetzt ist es eine echte Story. Wären Sie vielleicht bereit, sich mit mir zu treffen und mir Genaueres zu erzählen?“ „Lieber nicht“, sagte Siferra schnell. „Was? Sich mit mir treffen? Oder mir die Einzelheiten verraten?“ Seine schlagfertige Antwort ließ die Unterhaltung in einem neuen Licht erscheinen. Leicht verärgert und auch etwas überrascht erkannte Siferra, daß der Journalist sie begehrenswert fand. Im Rückblick ging ihr auch auf, daß Theremon sich angesichts der trauten Zweisamkeit schon seit Minuten gefragt haben mußte, ob zwischen ihr und Beenay wohl eine Romanze bestand. Offenbar war er zu dem Schluß gekom men, dies sei nicht der Fall, und hatte deshalb zu einem Flirt angesetzt. Sein Problem, dachte Siferra. Betont sachlich erklärte sie: „Ich habe meine Arbeit in Thombo noch nicht in den wissenschaftlichen Fachorganen veröffentlicht. Deshalb sollte vorerst nichts in die Tagespresse gelangen.“ „Das verstehe ich durchaus. Aber wenn ich Ihnen verspreche, mich an Ihren Freigabetermin zu halten, wären Sie dann bereit, Ihr Material vor ab schon einmal mit mir durchzugehen?“ „Nun ja…“ Sie sah Beenay an. Wieviel konnte man auf das Versprechen eines Journalisten geben? „Du kannst Theremon vertrauen“, versicherte ihr Beenay. „Ich habe dir doch schon einmal erklärt, er ist ein Ehrenmann, soweit das in die sem Beruf überhaupt möglich ist.“ „Was nicht allzu viel heißen will“, warf Theremon lachend ein. „Aber ich werde mich hüten, mein Wort zu brechen, wo es um das Erstveröf fentlichungsrecht einer Wissenschaftlerin geht. Wenn ich die Story ver früht herausbrächte, würde Beenay schon dafür sorgen, daß ich an der gesamten Universität unten durch wäre. Und meinen Universitätskon
takten verdanke ich meine interessantesten Artikel. – Ich kann also mit einem Interview von Ihnen rechnen? Sagen wir, übermorgen?“ Und so fing es an. Theremon ließ nicht so leicht locker. Als sie schließlich einwilligte, mit ihm essen zu gehen, entlockte er ihr nach und nach geschickt die Einzelheiten über die Thombo-Grabung. Hinterher bedauerte sie es – sie rechnete schon damit, gleich am nächsten Tag einen dummen Sensati onsartikel im Chronicle lesen zu müssen –, doch Theremon hielt Wort und veröffentlichte nichts. Aber er bat darum, ihr Labor sehen zu dür fen. Wieder gab sie nach, und er begutachtete die Schaubilder, die Foto grafien, die Ascheproben und stellte durchaus intelligente Fragen. „Sie wollen doch hoffentlich keine Besprechung über mich schrei ben?“ fragte sie nervös. „Nachdem Sie nun alles gesehen haben?“ „Ich habe Ihnen versprochen zu schweigen, und das war ernst gemeint. Sobald Sie mir freilich erklären, Sie hätten sich mit einer wissenschaft lichen Zeitschrift über die Veröffentlichung Ihrer Erkenntnisse geeinigt, betrachte ich mich an dieses Versprechen nicht mehr gebunden. Was halten Sie morgen abend von einem Dinner im Sechs-Sonnen-Club?“ „Nun ja…“ „Oder übermorgen?“ Siferra besuchte Lokale wie die Sechs Sonnen nur selten. Sie wollte auch keinesfalls den Eindruck vermitteln, als habe sie es auf ein Tech telmechtel abgesehen. Aber Theremon war nicht abzuwimmeln. Sanft, freundlich und ge wandt brachte er sie so weit, daß sie sich um eine Verabredung mit ihm – in zehn Tagen – nicht mehr herumdrücken konnte. Na wenn schon? dachte sie. Man konnte sich schließlich mit ihm sehen lassen. Und ein wenig Abwechslung von der beruflichen Tretmühle war auch nicht zu verachten. Also traf sie sich mit ihm in den Sechs Sonnen, wo ihn of fenbar jeder kannte. Sie tranken einen Cocktail, aßen zu Abend und ließen sich eine gute Flasche Wein aus der Provinz Thamian schme cken. Ei lenkte das Gespräch routiniert auf verschiedene Themen: ihr Leben, ihre Begeisterung für die Archäologie, ihre Ausgrabungen in Beklimot. Er fand heraus, daß sie nie verheiratet gewesen war und sich auch nie für die Ehe interessiert hatte. Er sprach von den Aposteln, ihren absurden Prophezeiungen, der überraschenden Übereinstimmung zwi schen ihren Funden und Mondiors Behauptungen. Er war ein taktvoller, einfühlsamer, interessanter Gesprächspartner, ein Charmeur – und mit allen Wassern gewaschen, dachte sie. Als der Abend sich dem Ende zuneigte, fragte er – sanft, freundlich und gewandt – ob er sie nach Hause begleiten dürfe. Doch das lehnte sie ab. Es schien ihn nicht weiter zu stören. Er lud sie einfach wieder ein.
Insgesamt waren sie danach noch ein paarmal miteinander ausgegan gen, in einem Zeitraum von vielleicht zwei Monaten. Der Rahmen war jedesmal der gleiche: Essen in einem eleganten Lokal, ein mit leichter Hand gelenktes Gespräch, zuletzt die diplomatisch formulierte Auffor derung, eine Schlafperiode mit ihm zu verbringen. Jedesmal gab sie ihm ebenso diplomatisch einen Korb. Dieses unbeschwerte Werben entwi ckelte sich zu einem hübschen Spiel, und sie fragte sich, wie lange es wohl so weitergehen würde. Sie hatte noch immer keine besondere Lust, mit ihm ins Bett zu gehen, aber das merkwürdige war, daß sie es auch nicht mehr strikt ablehnte, mit ihm ins Bett zu gehen. Das hatte schon lange kein Mann mehr geschafft. Dann erschien der erste Artikel aus jener Serie, in der er die Theorien des Observatoriums scharf kritisierte, Athors Zurechnungsfähigkeit in Zweifel zog, die wissenschaftliche Vorhersage einer Sonnenfinsternis mit den exaltierten Hirngespinsten der Apostel des Feuers gleichsetzte. Siferra konnte es zuerst gar nicht fassen. Sollte das ein Scherz sein? Beenays Freund – der inzwischen auch ihr Freund geworden war – griff sie beide mit solcher Heftigkeit an? Monate vergingen. Die Angriffe setzten sich fort. Theremon ließ nichts mehr von sich hören. Endlich konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie rief ihn in seinem Büro in der Zeitung an. „Siferra! Ich bin entzückt! Ob du es glaubst oder nicht, ich wollte mich noch heute nachmittag bei dir melden, um zu fragen ob du Interesse hättest, mit mir…“ „Hätte ich nicht“, unterbrach sie. „Theremon, was soll das eigentlich?“ „Was?“ „Deine Artikel über Athor und das Observatorium.“ Am anderen Ende der Leitung blieb es lange still. Endlich sagte er: „Aha. Du bist aufgebracht.“ „Aufgebracht? Ich bin fuchsteufelswild!“ „Du findest, ich war etwas zu hart. Hör zu, Siferra, wenn man für ein großes Publikum aus ganz gewöhnlichen Menschen schreibt, muß man schwarzweißmalen, sonst läuft man Gefahr, mißverstanden zu werden. Ich kann nicht einfach sagen, ich sei der Ansicht, Athor und Beenay irrten sich. Ich muß sagen, sie sind verrückt. Kannst du mir folgen?“ „Seit wann glaubst du denn, daß sie sich irren? Weiß Beenay, wie du darüber denkst?“ „Nun…“ „Du berichtest seit Monaten über dieses Thema. Nun hast du dich auf einmal um hundertachtzig Grad gedreht. Wenn man dich hört, könnte man glauben, die ganze Universität bestünde nur noch aus MondiorAnhängern, und zudem hätten wir alle den Verstand verloren. Hättest du
dich nicht anderswo umsehen können, wenn du schon unbedingt eine Zielscheibe für deine schlechten Scherze brauchtest?“ „Es sind keine Scherze, Siferra“, sagte Theremon leise. „Du glaubst auch noch, was du da schreibst?“ „Ja. Ich bin überzeugt davon, daß es keine Katastrophe geben wird. Und daß Athor drauf und dran ist, in einem überfüllten Theater auf den Feueralarm-Knopf zu drücken. Indem ich Witze mache, indem ich ihn hie und da ganz harmlos ein wenig auf die Schippe nehme, versuche ich den Leuten zu vermitteln, daß sie ihn nicht überbewerten sollten – daß sie weder in Panik zu geraten, noch einen Aufstand zu machen brau chen.“ „Nein?“ rief sie. „Das Feuer wird aber ausbrechen, Theremon! Und du treibst ein gefährliches Spiel mit dem Wohl der Menschen, wenn du dich darüber lustig machst. Hör zu, ich habe die Asche früherer Brände gesehen, jahrtausendealter Brände. Ich weiß, was geschehen wird. Das Feuer wird kommen, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Ich habe dir das Material doch gezeigt. Und die Haltung, die du nun ein nimmst, könnte nicht vernichtender sein, Theremon. Sie ist grausam, kindisch und abscheulich. Und vollkommen verantwortungslos.“ „Siferra…“ „Ich hielt dich bisher für intelligent. Jetzt sehe ich, daß du genauso bist wie alle anderen da draußen.“ „Sifer…“ Sie unterbrach die Verbindung. Und nahm sie auch nicht wieder auf. Bis wenige Wochen vor dem verhängnisvollen Tag weigerte sie sich, mit ihm zu sprechen, wenn er anrief. Zu Anfang des Monats Theptar meldete sich Theremon noch einmal, und Siferra war am Apparat, ehe sie wußte, wer der Anrufer war. „Leg nicht auf“, sagte er rasch. „Schenk mir nur eine Minute.“ „Lieber nicht.“ „Hör zu, Siferra. Du kannst mich hassen, wenn du willst, aber eines möchte ich dir sagen: ich bin weder grausam noch kindisch.“ „Wer hat das denn behauptet?“ „Du selbst, vor Monaten, bei unserem letzten Gespräch. Aber es ist nicht wahr. Ich glaube an jedes Wort, das ich in meiner Kolumne über die Sonnenfinsternis geschrieben habe.“ „Dann bist du kindisch oder jedenfalls dumm. Das mag ein kleiner Unterschied sein, aber bestimmt keine Verbesserung.“ „Ich habe mir euer Material angesehen, und meiner Meinung nach habt ihr allesamt voreilige Schlüsse gezogen.“ „Am neunzehnten werden wir wissen, woran wir sind, nicht wahr?“ sagte sie kalt.
„Ich wünschte, ich könnte euch glauben, dir und Beenay und den ande ren, weil ihr so wunderbare Menschen seid, engagiert und genial und was noch alles. Aber ich kann es nicht. Ich bin der geborene Skeptiker. Ich war mein ganzes Leben skeptisch. Ich kann einfach keine Dogmen akzeptieren, die andere Leute mir verkaufen wollen. Das mag ein schwerwiegender Charakterfehler sein – ich wirke dadurch leichtfertig. Vielleicht bin ich auch leichtfertig. Aber zumindest bin ich ehrlich. Und ich glaube weder an eine Sonnenfinsternis, noch an Massenwahnsinn oder Feuersbrünste.“ „Das sind keine Dogmen Theremon. Das sind Hypothesen.“ „Haarspalterei. Es tut mir leid, wenn ich dich mit meinen Artikeln ge kränkt habe, Siferra, aber ich kann es nicht ändern.“ Sie schwieg einen Augenblick lang. Etwas in seiner Stimme hatte sie merkwürdig bewegt. Endlich sagte sie. „Ob Dogmen oder Hypothesen, in wenigen Wochen werden wir es wissen. Ich werde am Abend des neunzehnten im Observatorium sein. Wenn du auch kommst, werden wir ja sehen, wer von uns recht hat.“ „Hat Beenay es dir denn nicht erzählt? Athor hat mich zur persona non grata erklärt.“ „Hat dich das jemals abgehalten?“ „Er lehnt es ab, überhaupt mit mir zu sprechen. Dabei hätte ich ihm ein Angebot zu machen, das ihm nach dem neunzehnten eine große Hilfe sein könnte, wenn der ganze Riesenschwindel mit lautem Knall platzt und die Welt nach seinem Blut schreit, aber Beenay sagt, es gibt keine Chance. Wenn er nicht einmal mit mir reden will, wird er mir erst recht nicht erlauben, gerade an diesem Abend das Observatorium zu betre ten.“ „Dann kommst du eben als mein Gast. Du kannst es als Rendezvous betrachten“, sagte sie bissig. „Athor wird so viel zu tun haben, daß es ihm egal ist. Aber ich möchte mit dir im gleichen Raum sein, wenn sich der Himmel verfinstert und die Feuer ausbrechen. Ich möchte dein Ge sicht sehen. Ich möchte sehen, ob du nicht nur ein Frauenheld bist, son dern ebenso gewandt um Verzeihung zu bitten verstehst, Theremon.“
Kapitel 22 Das war vor drei Wochen gewesen. Jetzt ließ Siferra Theremon aufge bracht stehen und eilte auf die andere Seite des Raums, wo Athor ganz allein dastand und einen Stapel Computerausdrucke durchsah. Traurig blätterte er Seite für Seite um, als hoffe er, irgendwo in den eng be schriebenen Spalten den rettenden Ausweg für die Welt zu finden. End lich blickte er auf und bemerkte sie. Das Blut schoß ihr ins Gesicht.
„Dr. Athor, ich muß mich wohl dafür entschuldigen, daß ich diesen Mann heute abend eingeladen habe, trotz allem, was er über uns sagte, über Sie, über…“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich war der aufrichtigen Meinung, es könnte ihm eine Lehre sein, sich bei uns aufzuhalten, wenn… wenn… Nun, ich habe mich geirrt. Er ist noch oberflächlicher und törichter, als ich dachte. Ich hätte ihn niemals hierherbitten sollen.“ Athors Stimme klang matt. „Ist das denn jetzt noch von Bedeutung? Solange er mir nicht in die Quere kommt, kümmert es mich wenig, ob er hier ist oder nicht. In ein paar Stunden ist ohnehin alles egal.“ Er deutete aus dem Fenster. „Der Himmel ist so dunkel! So schrecklich dunkel! Und dabei wird er noch viel schwärzer werden. – Wo nur Faro und Yi mot bleiben! Sie haben sie nicht gesehen? Nein? – Als Sie hereinkamen, Dr. Siferra, sagten Sie, bei Ihnen sei in letzter Minute ein Problem auf getaucht. Hoffentlich nichts Ernstes?“ „Die Thombo-Täfelchen sind verschwunden“, antwortete sie. „Verschwunden?“ „Sie lagen natürlich im Artefaktentresor. Gerade als ich gehen wollte, kam Dr. Mudrin zu mir. Er war auf dem Weg in den Schutzbunker, aber er wollte eine Kleinigkeit in seiner Übersetzung überprüfen, er hatte noch eine neue Idee gehabt. Also öffneten wir den Tresor, und da war – nichts. Alle sechs Täfelchen waren fort. Wir hatten natürlich Kopien angefertigt. Aber trotzdem – die Originale, die echten Zeugnisse aus der Vorzeit…“ „Wie kann das passiert sein?“ fragte Athor. „Ist das nicht offenkundig?“ gab Siferra verbittert zurück. „Die Apos tel haben sie gestohlen. Wahrscheinlich, um sie als eine Art von Talis manen zu verwenden, wenn die… die Dunkelheit da war und ihr Werk verrichtet hat.“ „Gibt es irgendwelche Spuren?“ „Ich bin kein Detektiv, Dr. Athor. Sie haben nichts hinterlassen, womit ich sie festnageln könnte. Aber es müssen die Apostel gewesen sein. Sie harten es auf die Täfelchen abgesehen, seit sie zum ersten Mal davon hörten. Oh, ich wünschte, ich hätte zu niemandem ein Wort gesagt! Ich wünschte, ich hätte diese Täfelchen niemals erwähnt!“ Athor ergriff ihre beiden Hände. „Sie dürfen sich nicht so aufregen, mein Kind.“ Mein Kind! Sie riß verdutzt die Augen auf. So hatte sie seit fünfund zwanzig Jahren niemand mehr genannt. Aber sie schluckte ihren Ärger hinunter. Schließlich war er ein alter Mann. Und er hatte es nur gut ge meint. „Sollen sie die Täfelchen doch haben, Siferra“, sagte er. „Auch das ist jetzt egal. Dank diesem Mann dort drüben ist inzwischen alles egal, nicht wahr?“
Sie zuckte die Achseln. „Trotzdem ist mir die Vorstellung zuwider, daß ein Dieb in Apostelkutte in meinem Büro herumschnüffelt – meinen Safe aufbricht – Dinge wegnimmt, die ich eigenhändig ausgegraben habe. Mir diese Täfelchen zu stehlen, das ist für mich fast so, als hätte man mich vergewaltigt. Können Sie das nachempfinden, Dr. Athor?“ „Ich weiß, wie sehr es Sie erschüttert“, sagte Athor, aber sein Ton ließ darauf schließen, daß er eigentlich gar nichts verstand. „Da – sehen Sie nur, wie hell Dovim heute leuchtet! Und dabei wird schon so bald alles dunkel sein.“ Sie rang sich ein müdes Lächeln ab und drehte ihm den Rücken zu. Ringsum hasteten die Leute hin und her, überprüften dies, besprachen jenes, rannten ans Fenster, zeigten zum Himmel, flüsterten miteinander. Dann und wann kam jemand mit neuen Werten aus der Teleskopkuppel heruntergestürmt. Sie kam sich unter all den Astronomen ganz verein samt vor. Und sie war verzweifelt, ohne jede Hoffnung Athor hat mich mit seinem Fatalismus angesteckt, dachte sie. Er wirkte so deprimiert, so hilflos. Dabei war das sonst gar nicht seine Art. Sie hätte ihn gerne daran erinnert, daß heute abend ja nicht die Welt unterging, sondern nur der gegenwärtige Zivilisationszyklus. Man wür de wieder aufbauen. Alle, die sich irgendwo verkrochen hatten, würden hervorkommen und von vorne anfangen, wie schon ein Dutzend – oder zwanzig oder hundert Mal seit Anbeginn der Zivilisation auf Kalgash. Aber das war für Athor vermutlich kein Trost, auch sie hatte schließ lich seinen Rat, sich wegen des Verlusts der Täfelchen keine Sorgen zu machen, nicht als tröstlich empfunden. Athor hatte alle Welt auf die Katastrophe vorbereiten wollen, aber lediglich ein kleiner Bruchteil der Menschen hatte auf seine Warnungen gehört. Nur einige wenige hatten sich in den Bunker der Universität und andere Schutzräume begeben, die man irgendwo errichtet hatte. Beenay trat zu ihr. „Was höre ich da von Athor? Die Täfelchen sind fort?“ „Ja, fort. Gestohlen. Ich hätte nie Kontakt zu den Aposteln haben dür fen.“ „Hast du etwa sie in Verdacht?“ fragte Beenay. „Ich bin ganz sicher“, gab sie verbittert zurück. „Als die Existenz der Thombo-Täfelchen allgemein bekannt wurde, schickten sie mir eine Nachricht, sie hätten Informationen, die mir von Nutzen sein könnten. Habe ich dir das nicht erzählt? Nein, wohl nicht. Was sie wollten, war ein Handel, ähnlich, wie ihn Athor mit diesem Folimun 66 abgeschlos sen hat, ihrem Hohenpriester oder was immer er sein mag. ‚Wir haben uns Kenntnisse der alten Sprache bewahrt,’ sagte Folimun, ‚der Sprache der Menschen im vergangenen Gottesjahr.’ Und sie hatten offenbar
wirklich Dokumente – irgendwelche Texte, Wörterbücher, Buchstaben tafeln der alten Schrift, vielleicht auch noch mehr.“ „Und die hat Athor von ihnen bekommen?“ „Nicht alle, aber doch so viel, um sicher sein zu können, daß die Apos tel über echte, astronomische Aufzeichnungen der letzten Sonnenfins ternis verfügten – genug, wie Athor selbst sagte, um zu beweisen, daß die Welt eine solche Katastrophe zumindest schon einmal durchgemacht hatte.“ Athor, so fuhr sie fort, habe ihr Kopien der wenigen, astronomischen Textfragmente überlassen, die ihm Folimun gegeben hatte, und sie habe sie Mudrin gezeigt. Und dem hätten sie bei der Übersetzung der Täfel chen tatsächlich geholfen. Siferra hatte sich allerdings gesträubt, die Täfelchen mit den Aposteln zu teilen, jedenfalls nicht zu deren Bedin gungen. Die Apostel behaupteten, im Besitz eines Schlüssels zu der Schrift auf den älteren Lehmplättchen zu sein, und das mochte ja auch stimmen. Aber Folimun hatte unbedingt die echten Täfelchen haben wollen, um sie kopieren und übersetzen zu lassen, anstatt ihr sein Mate rial zur Entschlüsselung zur Verfügung zu stellen. Es müßten die Origi nale sein, sonst käme man nicht ins Geschäft. „Und da hast du gestreikt“, sagte Beenay. „Aber sicher. Die Täfelchen durften die Universität nicht verlassen. ‚Geben Sie uns den Schlüsse’, sagte ich zu Folimun, ‚und Sie bekom men von uns Kopien der Texte auf den Täfelchen. Dann kann jede Seite auf eigene Faust eine Übersetzung versuchen’“ Aber das hatte Folimun abgelehnt. Kopien der Texte seien für ihn wertlos, da man sie allzu leicht als Fälschungen abqualifizieren könne. Und ihr seine eigenen Dokumente auszuhändigen, nein, das käme nicht in Frage. Dabei handle es sich um heilige Schriften, in die nur Angehö rige der Sekte Einsicht nehmen dürften. Sie solle ihm die Täfelchen überlassen, und er werde für Übersetzungen sorgen. Aber kein Außen stehender werde die Texte zu Gesicht bekommen, die sich bereits in seinem Besitz befänden. „Einen Moment lang war ich tatsächlich in Versuchung, mich den A posteln anzuschließen“, gestand Siferra, „nur um diesen Schlüssel zu ergattern.“ „Du? Bei den Aposteln?“ „Ich wollte nur an die Unterlagen heran. Aber die Vorstellung war mir so zuwider, daß ich Folimuns Angebot ablehnte.“ Mudrin hatte sich ohne Hilfe durch irgendwelches Apostelmaterial mit der Übersetzung abmühen müssen. Allmählich zeigte sich, daß die Täfelchen tatsächlich von einer Feuerkatastrophe berichteten, die als Strafe der Götter über die Welt hereingebrochen war – aber Mudrins Übersetzungen waren lückenhaft, dürftig und voller Unsicherheiten.
Und nun hatten die Apostel die Täfelchen wahrscheinlich doch noch an sich gebracht. Das war schwer zu ertragen. In den kommenden Wir ren würden sie diese – ihre -Täfelchen großspurig als weiteren Beweis für ihre eigene Weisheit und Frömmigkeit herumzeigen. „Es tut mir leid, daß deine Täfelchen verschwunden sind, Siferra“, sagte Beenay. „Aber vielleicht wurden sie doch nicht von den Aposteln gestohlen. Vielleicht tauchen sie noch irgendwo auf.“ „Ich rechne nicht damit.“ Siferra lächelte wehmütig, wandte sich ab und starrte in den zunehmend düsteren Himmel. Am besten machte sie sich wohl Athors Einstellung zu eigen; bald ging sowieso die Welt unter, und da war nichts mehr sonderlich wichtig. Aber das war nur ein schwacher Trost. Ihr Inneres begehrte auf gegen diese Art von Fatalismus. Man mußte trotz allem an morgen denken – an das Leben nach der Katastrophe, an den Wiederaufbau, an den Kampf und die Erfüllung, die er bot. Man durfte nicht verzagen, wie Athor es tat, durfte den Untergang der Menschheit nicht einfach achselzuckend hinnehmen und alle Hoffnung aufgeben. Plötzlich riß eine helle Tenorstimme sie aus ihren düsteren Gedanken. „Hallo, alle miteinander! Hallo, hallo, hallo!“ „Sheerin!“ rief Beenay. „Was willst du denn hier?“ Die rundlichen Backen des Neuankömmlings blähten sich zu einem zufriedenen Lächeln. „Hier geht es ja zu wie bei einer Beerdigung! Ihr verliert doch hoffentlich nicht schon jetzt den Mut?“ Athor fuhr erschrocken zusammen und nörgelte: „Ja, Sheerin, was wollen Sie denn nun wirklich hier? Ich dachte, Sie hätten sich für den Schutzbunker entschieden.“ Sheerin lachte und ließ seinen massigen Körper auf einen Stuhl plumpsen. „Zum Teufel mit dem Schutzbunker! Da war es mir einfach zu langweilig. Ich will dabei sein, wenn es spannend wird. Glauben Sie denn, ich bin nicht neugierig? Schließlich habe ich die Fahrt durch den Tunnel der Geheimnisse überlebt. Da werde ich auch eine zweite Porti on Dunkelheit verkraften. Und ich will diese merkwürdigen Sterne se hen, von denen die Apostel die ganze Zeit faseln.“ Er rieb sich die Hän de und fügte etwas nüchterner hinzu: „Draußen weht ein so eiskalter Wind, daß einem fast die Eiszapfen aus den Nasenlöchern wachsen. Dovim scheint heute kaum Wärme abzugeben, so weit ist sie weg.“ Der weißhaarige Observatoriumsleiter knirschte gereizt mit den Zäh nen. „Warum müssen Sie unbedingt einen solchen Zirkus veranstalten, Sheerin? Was sollen wir denn hier mit Ihnen anfangen?“ „Was Sie hier mit mir anfangen sollen?“ Sheerin breitete in komischer Resignation die Arme weit aus. „Im Schutzbunker ist ein Psychologe keinen roten Heller wert. Jedenfalls im Moment nicht. Für die Leute
dort konnte ich gar nichts tun. Die sitzen ganz behaglich in ihrem siche ren Nest unter der Erde und brauchen sich um nichts zu kümmern.“ „Und wenn nun während der Dunkelheit der Pöbel in den Bunker ein bräche?“ Sheerin lachte. „Selbst am hellichten Tag wäre der Schutzbunker für jemanden, der den Eingang nicht kennt, kaum zu finden, und erst recht nicht, wenn alle Sonnen erloschen sind. Und sollte es tatsächlich dazu kommen, nun, dann brauchte man tatkräftige Männer zur Verteidigung. Ich? Ich bin dafür um hundert Pfund zu schwer. Wozu soll ich also da unten sitzen und den Kopf einziehen? Ich bin viel lieber hier.“ Sheerins Worte flößten Siferra neuen Mut ein. Auch sie hatte ja für diesen Abend der Dunkelheit das Observatorium dem Schutzbunker vorgezogen. Vielleicht war es hemmungsloses Draufgängertum, viel leicht, auch törichte Selbstüberschätzung, jedenfalls traute sie sich zu, die letzten Stunden der Sonnenfinsternis – und sogar die Ankunft der Sterne, falls dieser Teil des Mythos nicht leeres Geschwätz war – ohne geistigen Schaden zu überstehen. Und S0 hatte sie beschlossen, sich die ses Erlebnis nicht entgehen zu lassen. Und nun zeigte sich, daß Sheerin, der nicht gerade ein Ausbund an Tapferkeit war, sich zu dem gleichen Schritt durchgerungen hatte. Viel leicht bedeutete dies, daß er die Auswirkungen der Dunkelheit trotz seiner schrecklichen Voraussagen in den letzten Monaten doch nicht mehr für ganz so verheerend hielt. Sie hatte seine Erzählungen über den Tunnel der Geheimnisse und seine schrecklichen Folgen sogar auf ihn, Sheerin selbst, gehört. Und doch war er nun hier. Offenbar war er zu der Ansicht gelangt, daß zumindest einige Menschen letztlich mehr Wider standskraft zeigen würden als ursprünglich erwartet. Oder er setzte einfach alles auf eine Karte. Vielleicht wäre es ihm lie ber, heute abend auf einen Schlag den Verstand zu verlieren, dachte Siferra, als sich mit den zahllosen und vielleicht unüberwindlichen Problemen herumschlagen zu müssen, die danach kamen. Nein. Nein. Nun verfiel sie schon wieder in diesen morbiden Pessi mismus. Energisch schlug sie sich alle derartigen Gedanken aus dem Kopf. „Sheerin!“ Theremon kam quer durch den Raum auf den Psychologen zu. „Erinnern Sie sich? Theremon 762?“ „Aber gewiß, Theremon“, sagte Sheerin und reichte ihm die Hand. „Bei den Göttern, Sie sind in letzter Zeit nicht gerade schonend mit uns umgegangen, was? Aber heute abend sollten wir Vergangenes ruhen lassen.“ „Ich wünschte, er wäre Vergangenheit“, murmelte Siferra, und trat mit angewidertem Gesicht ein paar Schritte zurück.
Theremon schüttelte Sheerin die Hand. „Was hat es eigentlich mit die sem Schutzbunker auf sich? Ich habe heute abend schon mehrmals da von gehört, aber ich kann mir eigentlich nichts Rechtes darunter vorstel len.“ „Nun“, erklärte Sheerin, „es ist uns gelungen, zumindest einige wenige Menschen von der Stichhaltigkeit unserer Prognosen zu überzeugen. Sie glauben, daß, etwas bombastisch ausgedrückt, der Weltuntergang bevor steht, um haben geeignete Maßnahmen ergriffen. Im wesentliche han delt es sich um die nächsten Verwandten der Mitarbeiter hier im Obser vatorium, um einige Kollegen von de Universität Saro und ein paar Au ßenstehende. Meine Gefährtin Liliath 221 hat sich ebenfalls in den Bun ker begeben, und auch ich wäre dort gewiß besser aufgehoben, aber meine schreckliche Neugier hat mich wieder hinausgetrieben. Alles in allem sind es etwa dreihundert Personen.“ „Ich verstehe. Sie wollen sich irgendwo verkriechen, wo ihnen die Dunkelheit und die… äh… Sterne nichts anhaben können, um dann weiterzumachen, wenn die übrige Welt hops geht.“ „Genau. Auch die Apostel haben übrigens einen eigenen Unterschlupf. Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen sich dort aufhalten – wenn wir Glück haben, ist es nur eine Handvoll, aber man muß wohl damit rechnen, daß sie nach der Dunkelheit zu Tausenden aus ihren Löchern kriechen und die Welt für sich beanspruchen werden.“ „Und die Gruppe von der Universität“, folgerte Theremon, „ist als Ge gengewicht dazu gedacht?“ Sheerin nickte. „Wenn möglich. Aber das wird nicht leicht werden. Wenn die Menschheit zum größten Teil dem Wahnsinn verfallen ist, wenn die großen Städte in Flammen stehen und vielleicht ganze Scharen von Aposteln dem Rest der Welt ihre Vorstellung von Recht und Ord nung aufzudrücken suchen – nein, den Überlebenden stehen harte Zeiten bevor. Immerhin haben sie Lebensmittel, Wasser, ein Dach über den Kopf, Waffen…“ „Das ist noch nicht alles“, mischte sich Athor ein. „Sie haben unsere sämtlichen Aufzeichnungen, bis auf das natürlich, was wir heute noch zusammentragen werden. Diese Aufzeichnungen sind unentbehrlich für den nächsten Zyklus, und vor allem sie müssen überleben. Der Rest kann meinetwegen zum Teufel gehen.“ Theremon pfiff leise durch die Zähne. „Hier sind demnach alle vollkommen sicher, daß Ihre Voraussagen sich hundertprozentig bestätigen?“ „Was bleibt uns denn anderes übrig?“ fragte Siferra schroff. „Wir sa hen die Katastrophe unausweichlich auf uns zukommen, und da…“ „Gewiß“, räumte der Journalist ein. „Da mußtet ihr euch darauf ein stellen. Schließlich hattet ihr ja die Wahrheit gepachtet. Genau wie die
Apostel des Feuers. Ich wünschte nur, ich könnte in irgendeinem Punkt nur halb so sicher sein wie all ihr Wahrheitspächter, was den heutigen Abend angeht.“ Sie funkelte ihn wütend an. „Ich wünschte, du wärst heute abend da draußen und würdest durch die brennenden Straßen irren! Aber nein – nein, hier drin bist du ja in Sicherheit! Eigentlich hast du das gar nicht verdient!“ „Immer mit der Ruhe“, mahnte Sheerin und faßte Theremon am Arm. Leise sagte er: „Sie sollten die Leute jetzt nicht provozieren, mein Freund. Kommen Sie, wir gehen irgendwohin, wo wir uns unterhalten können, ohne jemanden zu stören.“ „Gute Idee“, stimmte Theremon zu. Aber er machte keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Am Tisch hatte man eine Partie Stochastik-Schach begonnen, und Theremon beo bachtete eine Weile mit sichtlichem Unverständnis, wie die Spieler rasch und schweigend ihre Züge machten. Für ihn war es wohl rätsel haft, wie jemand, der sich nur wenige Stunden vom Ende der Welt ent fernt glaubte, imstande war, sich auf ein Spiel zu konzentrieren. „Kommen Sie“, wiederholte Sheerin. „Schon gut.“ Theremon riß sich los. Zusammen mit dem Psychologen trat er auf den Korridor hinaus, Bee nay folgte ihnen einen Moment später. Der Mann kann einen zur Raserei treiben, dachte Siferra. Sie starrte zu Dovim hinauf, die wie ein feuriger Ball am Himmel lo derte. War es in den letzten paar Minuten noch dunkler geworden? Nein, nein, beruhigte sie sich, das war unmöglich, das hatte sie sich nur eingebildet. Noch war Dovim ja da. Freilich bot der Himmel mit dieser einzigen Sonne einen merkwürdigen Anblick. In diesem tiefen Purpur rot hatte sie ihn noch nie gesehen. Aber noch war es draußen keines wegs dunkel: düster, gewiß, aber es gab genügend Helligkeit, und ob wohl die kleine Sonne nicht viel Licht spendete, war alles klar zu erken nen. Noch einmal gingen ihr die verschwundenen Täfelchen durch den Kopf, dann verdrängte sie den Gedanken daran endgültig. Nimm dir ein Beispiel an den Schachspielern, befahl sie sich. Setz dich hin und entspanne dich. Wenn du kannst.
Kapitel 23 Sheerin öffnete die Tür zum Nebenzimmer. Hier standen bequeme Sessel. An den Fenstern hingen dicke, rote Vorhänge, und auf dem Bo den lag ein kastanienbrauner Teppich. In Dovims eigenartig ziegelrotem Licht sah jedoch alles aus wie mit geronnenem Blut überzogen.
Sheerin hätte nicht erwartet, Theremon heute abend im Observatorium anzutreffen, nicht nach den abscheulichen Artikeln, die er geschrieben, nicht nach allem, was er unternommen hatte, um Athors Kampagne zur Warnung der Nation der Lächerlichkeit preiszugeben. Seit Wochen be kam Athor jedesmal, wenn Theremons Name erwähnt wurde, fast einen Tobsuchtsanfall; und jetzt hatte er sich doch erweichen lassen und dem Journalisten gestattet, während der Sonnenfinsternis hier zu bleiben. Das war eigenartig und auch leicht beunruhigend, konnte es doch be deuten, daß der eisenharte Charakter des greisen Astronomen allmählich Risse bekam – daß nicht nur sein Zorn, sondern seine ganze Persönlich keit vor der nahenden Katastrophe zu kapitulieren drohte. Sheerin hätte übrigens auch nicht erwartet, sich selbst im Observatori um wiederzufinden. Es war eine Augenblicksentscheidung gewesen, vollkommen impulsiv, ganz und gar nicht seine Art. Er hatte Liliath damit schockiert und sich selbst kaum weniger, denn er hatte die Ängs ten die ihn bereits nach wenigen Minuten im Tunnel der Geheimnisse überwältigt hatten, keineswegs vergessen. Aber er hatte schließlich eingesehen, daß er hier sein mußte, genau wie er die Tunnelfahrt hatte unternehmen müssen. Die anderen mochten in ihm nur den behäbigen, verfetteten Pseudoakademiker sehen, doch er selbst wußte, daß unter dem Speck immer noch ein echter Wissenschaft ler steckte. Das Studium der Dunkelheit beschäftigte ihn seit Beginn seiner Laufbahn. Wie sollte er anschließend damit leben, daß er sich während der markantesten Dunkelperiode seit mehr als zweitausend Jahren in die sichere Idylle eines unterirdischen Verstecks geflüchtet hatte? Nein, er mußte dabei sein. Mußte die Sonnenfinsternis mit eigenen Augen sehen. Mußte spüren, wie die Dunkelheit von der Welt Besitz ergriff. Überraschend ehrlich bemerkte Theremon, als sie den Nebenraum betraten: „Ich bin allmählich nicht mehr so sicher, ob ich mit meiner Skepsis recht hatte, Sheerin.“ „Dazu haben Sie auch allen Grund.“ „Das scheint mir auch so, seit ich da oben nur noch Dovim sehe und alles in dieses unheimliche Rot getaucht ist. Im Moment gäbe ich eine runde Summe für eine ordentliche Portion weißes Licht. Zum Beispiel für einen schönen, steifen Tano Special. Übrigens sähe ich auch Tano und Sitha gern am Himmel. Oder, am allerbesten, Onos.“ „Onos ist morgen wieder da“, warf Beenay ein, der eben nachgekom men war. „Schon, aber sind wir dann noch da?“ fragte Sheerin, grinste aber so fort, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. Zu Beenay sagte er: „Unser Journalistenfreund braucht dringend ein Schlückchen Alkohol.“
„Laß das bloß Athor nicht hören. Er hat für heute abend striktes Alko holverbot verhängt.“ „Dann gibt es also nur Wasser bei euch?“ „Hm…“ „Nun sei nicht so, Beenay. Athor kommt hier sicher nicht herein.“ „Schon möglich.“ Beenay schlich auf Zehenspitzen zum nächsten Fenster, ging in die Hocke und zauberte aus einem Schränkchen unter der Fensterbank eine Flasche mit einer rötlichen Flüssigkeit hervor, die verführerisch glucker te, als er sie schüttelte. „Dachte ich mir doch, daß Athor davon nichts weiß“, bemerkte er zu frieden, als er zum Tisch zurückkam. „Hier! Wir haben nur ein Glas, und das bekommst du als unser Gast, Theremon. Sheerin und ich kön nen aus der Flasche trinken.“ Ganz behutsam füllte er den winzigen Becher. „Als wir uns kennenlernten, hast du keinen Tropfen Alkohol ange rührt, Beenay“, bemerkte Theremon lachend. „Das war damals. Heute ist heute. Harte Zeiten, Theremon. Ich habe dazugelernt. Ein kräftiger Schluck kann in solchen Momenten sehr be ruhigend sein.“ „Das habe ich auch schon gehört“, scherzte Theremon und nippte an seinem Glas. Es war Rotwein, herb und streng, wahrscheinlich ein billi ger, offener Landwein aus einer der südlichen Provinzen. Genau das, was ein lebenslanger Abstinenzler wie Beenay kaufen würde, der nichts von Wein verstand. Immerhin, besser als nichts. Beenay nahm einen herzhaften Schluck und reichte Sheerin die Fla sche. Der Psychologe setzte sie an die Lippen und ließ den Wein ge mächlich durch die Kehle rinnen. Dann stellte er sie mit einem zufriede nen Knurren ab, schmatzte genießerisch mit den Lippen und wandte sich an Beenay: „Athor kommt mir heute abend etwas sonderbar vor. Mehr, als die Umstände rechtfertigen, meine ich. Was ist los mit ihm?“ „Wahrscheinlich macht er sich Sorgen um Faro und Yimot.“ „Um wen?“ „Zwei Studenten. Sie sollten schon vor Stunden hier sein und sind bis her nicht aufgetaucht. Athor ist natürlich schrecklich knapp an Hilfs kräften, weil nur die unentbehrlichsten Leute hiergeblieben sind. Alle anderen sitzen im Schutzbunker.“ „Glaubst du, sie haben sich aus dem Staub gemacht?“ fragte There mon. „Wer? Faro und Yimot? Ausgeschlossen. Das wäre ganz und gar nicht ihre Art. Sie würden alles daransetzen, um heute abend hier sein und bei Eintritt der Sonnenfinsternis Messungen vornehmen zu können. Wenn es allerdings in Saro City zu Unruhen gekommen ist und sie mit drinste
cken…“ Beenay zuckte die Achseln. „Irgendwann werden sie schon auftauchen. Sollten sie allerdings zu Beginn der kritischen Phase noch immer nicht hier sein, dann säßen wir mit der vielen Arbeit ganz schön in der Klemme. Deshalb ist Athor wohl auch so nervös.“ „Ich weiß nicht so recht.“ Sheerin war nicht überzeugt. „Gewiß be lastet es ihn, wenn zwei Männer fehlen. Aber das ist es nicht allein. Er sieht plötzlich so alt aus. Müde. Wie ein Besiegter. Als ich ihn das letzte Mal sah, sprühte er nur so vor Kampfgeist und redete ununterbrochen über den Wiederaufbau der Gesellschaft nach der Sonnenfinsternis – das war Athor der Unverwüstliche, wie er leibte und lebte. Jetzt sehe ich dagegen ein trauriges, erschöpftes, bedauernswertes altes Wrack, das nur noch auf das Ende wartet. Daß er sich nicht einmal die Mühe ge macht hat, Theremon hinauszuwerfen…“ „Er wollte ja“, sagte Theremon. „Aber Beenay hat es ihm ausgeredet. Und Siferra hat ihm dabei geholfen.“ „Da haben wir’s doch. Beenay, hast du jemals erlebt, daß man Athor etwas hätte ausreden können? – Gib mir doch mal den Wein.“ „Vielleicht ist es meine Schuld“, sagte Theremon. „Meine Angriffe gegen seinen Plan, überall im Land schutzbunkerähnliche Bauten zu errichten. Wenn er wirklich daran glaubt, daß in wenigen Stunden die Dunkelheit über die Welt hereinbricht und die ganze Menschheit in blinde Raserei verfällt…“ „Er glaubt daran“, unterbrach Beenay. „Wie wir alle.“ „Dann muß er es als überwältigende, vernichtende Niederlage empfin den, daß die Regierung seine Voraussagen nicht ernstgenommen hat. Und das ist großenteils meine Schuld. Sollte sich herausstellen, daß ihr alle recht hattet, werde ich mir das nie verzeihen.“ „Sie sollten sich nicht überschätzen, Theremon“, tröstete ihn Sheerin. „Selbst wenn sie täglich in fünf Zeitungsartikeln ein gewaltiges Sofort programm gefordert hätten, die Regierung hätte trotzdem nichts getan. Wenn Athor einen populären, kämpferischen Journalisten wie Sie auf seiner Seite gehabt hätte, wären seine Warnungen vielleicht sogar noch weniger beachtet worden, falls das überhaupt möglich ist.“ „Danke“, sagte Theremon. „Das tröstet mich wirklich. – Ist die Fla sche schon leer?“ Er sah Beenay fragend an. „Mit Siferra habe ich na türlich auch meine Probleme. Sie straft mich nur noch mit Verachtung.“ „Dabei schien sie sich einmal recht lebhaft für dich zu interessieren“, erinnerte sich Beenay. „Ich hatte mir deshalb sogar meine Gedanken gemacht. Ob ihr beide etwa… nun ja…“ „Nein“, erwiderte Theremon grinsend. „Nicht ganz. Und jetzt schon gar nicht mehr. Aber eine Zeitlang haben wir uns gut verstanden. Sie ist eine faszinierende Frau. – Was ist eigentlich von ihrer Theorie über den zyklischen Verlauf der Vorgeschichte zu halten? Ist da etwas dran?“
„Nicht, wenn man auf gewisse Kollegen in ihrer Fakultät hört“, ant wortete Sheerin. „Die haben dafür nur Hohn und Spott übrig. Aber sie hängen natürlich mit allen Fasern ihres Herzens an den überkommenen Auffassungen der klassischen Archäologie. Demnach wäre Beklimot überhaupt die erste Stadt gewesen, und wenn man weiter als zweitau send Jahre in die Vergangenheit geht, findet man gar keine Zivilisation mehr, nur primitive, zottige Dschungelbewohner.“ „Aber wie wollen sie denn die turnusmäßigen Katastrophen am Hügel von Thombo wegdiskutieren?“ fragte Theremon. „Ein Wissenschaftler, der glaubt, die Wahrheit zu kennen, kann alles wegdiskutieren, was seinen Glauben bedroht“, behauptete Sheerin. „Kratzen Sie an einem eingefleischten Akademiker, und Sie werden feststellen, daß er in mancher Hinsicht vieles mit einem Apostel des Feuers gemeinsam hat. Nur die Kutten sind verschieden.“ Er nahm die Flasche, die Theremon gedankenlos festgehalten hatte, und bediente sich noch einmal. „Zum Teufel mit ihnen! Selbst ein Laie wie ich be greift, daß unsere Vorstellungen von der Prähistorie durch Siferras Entdeckungen in Thombo vollkommen entkräftet werden. Die Frage ist nicht, ob es im Laufe der vielen Jahrtausende immer wiederkehrende Feuersbrünste gegeben hat, sondern warum.“ „Ich habe in letzter Zeit viele Begründungen gehört“, sagte Theremon, „alle mehr oder weniger phantastisch. Jemand von der Universität Kitro behauptete, regelmäßig alle paar tausend Jahre würde es Feuer regnen. Und ein angeblich freiberuflich tätigen Astronom schrieb in einem Brief an die Zeitung, er könne ‚beweisen’, daß Kalgash immer wieder durch eine der Sonnen hindurchginge. Und das waren noch nicht einmal die abwegigsten Ideen.“ „Es gibt nur eine vernünftige Erklärung“, sagte Beenay leise. „Erinne re dich an Thargolas Schwert. Zu verwerfen ist stets die Hypothese, die zuviel Aufwand erfordert, ehe sie einen Sinn ergibt. Nicht das geringste spricht für einen Feuerregen in regelmäßigen Abständen, und daß wir durch Sonnen hindurchgehen, ist blanker Unsinn. Dagegen wird die Theorie einer Sonnenfinsternis durch die Beobachtung des Orbits von Kalgash unter Einbeziehung der Gravitationstheorie hinreichend erhär tet.“ „Mag sein, daß die Theorie einer Sonnenfinsternis überzeugend ist. Ich zweifle gar nicht daran, und bald sehen wir es ohnehin mit eigenen Au gen“, räumte Theremon ein. „Aber wende Thargolas Schwert doch ein mal auf die Aussage an, die du eben selbst gemacht hast. In deiner The orie einer Sonnenfinsternis steht kein Wort davon, daß unmittelbar da nach zwangsläufig riesige Brände ausbrechen müssen.“ „Nein“, gab Sheerin zu. „Davon steht nichts in der Theorie. Aber es läßt sich mit gesundem Menschenverstand erschließen. Die Sonnenfins
ternis bringt Dunkelheit über die Welt. Die Dunkelheit führt zum Wahn sinn. Und der Wahnsinn entzündet die Feuer, die wiederum zweitausend Jahre mühevoller Arbeit zunichte machen. Morgen ist alles zerstört. Morgen ist auf ganz Kalgash keine einzige Stadt mehr heil.“ „Sie reden fast wie die Apostel“, warf Theremon ihm wütend vor. „Nahezu das gleiche hat mir Folimun 66 schon vor Monaten prophezeit. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich Ihnen und Beenay im SechsSonnen-Club sogar davon erzählt.“ Der Journalist sah aus dem Fenster, über die bewaldeten Hänge des Observatoriumshügels hinweg zu den blutrot schimmernden Türmen von Saro City am Horizont. Seine innere Unsicherheit nahm zu, als er einen kurzen Blick auf Dovim warf, die rotglühend wie ein böser Zwerg im Zenith hockte. Verbissen fuhr er fort: „Ich kann mich dieser Argumentation nicht an schließen. Warum sollte ich durchdrehen, nur weil keine Sonne mehr am Himmel steht? Und selbst wenn – ja, ich habe die armen Teufel aus dem Tunnel der Geheimnisse nicht vergessen – selbst wenn ich durch drehe, selbst wenn auch alle anderen durchdrehen, was hat das mit den Städten zu tun? Wir würden sie doch wohl nicht in die Luft jagen?“ „Ich habe anfangs genauso geredet“, warf Beenay ein. „Bis ich mir die Zeit nahm, alles logisch bis zu Ende zu durchdenken. Wenn du im Dun keln säßest, was wäre dann dein größter Wunsch – wonach würdest du dich am schmerzlichsten sehnen?“ „Hm, vermutlich nach Licht.“ „Ja!“ rief Sheerin laut. „Nach Licht, jawohl! Nach Licht!“ „Und?“ „Und woher würden Sie Licht bekommen?“ Theremon deutete auf den Schalter an der Wand. „Ich würde es ein schalten.“ „Richtig“, spottete Sheerin. „Und die Götter in ihrer unendlichen Güte würden für genügend Strom sorgen, un Ihnen Ihren Herzenswunsch zu erfüllen. Denn die Elektrizitätsgesellschaft wäre dazu bestimmt nicht fähig. Nicht wenn alle Generatoren stillstünden und das Bedienungsper sonal ebenso hilflos brabbelnd im Dunkeln herumstolperte wie die Be legschaft des Umspannwerks. Können Sie mir folgen?“ Theremon nickte stumm. „Woher kommt das Licht, wenn kein Generator mehr arbeitet?“ fuhr Sheerin fort. „Von den Gottesaugen, werden Sie sagen. Die werden mit Batterien betrieben. Aber vielleicht haben sie gerade kein Gottesauge zur Hand. Vielleicht stehen Sie draußen auf der Straße, und Ihr Gottes auge steht zu Hause neben Ihrem Bett. Aber Sie brauchen dringend Licht. Also werden Sie etwas anzünden, nicht wahr, Mr. Theremon? Haben Sie jemals einen Waldbrand gesehen? Haben Sie jemals beim
Zelten Ihren Eintopf über einem Holzfeuer aufgewärmt? Brennendes Holz spendet nämlich nicht nur Wärme, sondern auch Helligkeit, und das wissen die Leute sehr genau. Und wenn es dunkel ist, wollen sie Licht, und sie werden es sich beschaffen, um jeden Preis.“ „Also zünden sie Holz an“, spann Theremon nicht allzu überzeugt den Faden weiter. „Sie zünden alles an, was ihnen in die Finger kommt. Sie brauchen Licht. Sie müssen etwas anzünden, und auf einer Straße in der Stadt gibt es kein Holz. Also wird das Nächstbeste verbrannt. Ein Stapel Zeitun gen? Warum nicht? Für ein Weilchen macht auch der Saro City Chro nicle hell. Die Kioske, wo die Zeitungen stapelweise verkauft werden? Verbrennt sie! Verbrennt eure Kleider. Verbrennt die Bücher. Verbrennt die Dachschindeln. Verbrennt alles. Die Menschen brauchen Licht – und jedes bewohnbare Haus geht in Flammen auf! Da haben Sie Ihre Feuersbrünste, Herr Journalist! Da haben Sie das Ende der Welt, in der Sie bis heute lebten.“ „Wenn die Sonnenfinsternis kommt.“ Theremon hatte noch nicht auf gegeben. „Ja, wenn“, räumte Sheerin ein. „Ich bin kein Astronom. Und auch kein Apostel. Aber ich setze auf die Sonnenfinsternis.“ Er sah Theremon unverwandt an. Die Blicke der beiden bohrten sich ineinander, wie um zu entscheiden, welcher Wille der stärkere sei, und schließlich senkte Theremon wortlos die Lider. Sein Atem ging in keu chenden Stößen. Er legte beide Hände an die Schläfen und drückte fest zu. Nebenan wurde es plötzlich laut. „Ich glaube, das war Yimots Stimme“, sagte Beenay. „Anscheinend sind er und Faro endlich doch aufgetaucht Kommt, wir gehen hinüber. Ich möchte wissen, wo sie so lange gesteckt haben.“ „Meinetwegen!“ murmelte Theremon. Er holte tief Luft und schüttelte sich. Die Spannung hatte sich gelöst – vorerst.
Kapitel 24 Im Hauptraum herrschte helle Aufregung. Alles drängte sich um Faro und Yimot, die noch dabei waren, ihre Mäntel auszuziehen, und be stürmte sie mit neugierigen Fragen. Athor bahnte sich einen Weg durch die Menge und polterte aufge bracht los: „Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? Wo haben Sie beide denn nur gesteckt?“ Faro 24 setzte sich und rieb sich die Hände. Seine feisten Hängeba cken waren von der Kälte gerötet. Ein eigenartiges Grinsen spielte um
seine Lippen. Und er wirkte merkwürdig ruhig, fast als stünde er unter Drogen. „So kenne ich ihn gar nicht“, flüsterte Beenay Sheerin zu. „Sonst ist er immer sehr beflissen, ganz der bescheidene, junge Astronom, der sich den Großen seines Faches beugt. Sogar mir gegenüber. Heute dage gen…“ „Pst. Hör zu“, mahnte Sheerin. „Yimot und ich haben auf eigene Faust ein kleines Experiment durch geführt“, erklärte Faro. „Wir haben versucht, mit technischen Mitteln den Einbruch der Dunkelheit und das Auftauchen der Sterne zu simulie ren, um eine Vorstellung zu bekommen, was uns erwartet.“ Erstauntes Gemurmel von den Zuhörern. „Sterne?“ fragte Theremon. „Sie wissen, was Sterne sind? Wie haben Sie das herausgefunden?“ Wieder grinste Faro: „Wir haben das Buch der Offenbarungen gelesen. Daraus geht ziemlich klar hervor, daß Sterne sehr helle Himmelskörper sind, ähnlich wie Sonnen, aber kleiner, die am Himmel erscheinen, wenn Kalgash in die Höhle der Finsternis eintritt.“ „Lächerlich!“ sagte jemand. „Unmöglich!“ „Das Buch der Offenbarungen! Als Grundlage für wissenschaftliche Untersuchungen. Es ist nicht zu fassen!“ „Ruhe!“ befahl Athor. In seinen Augen leuchtete ein Funken Interesse auf, eine Spur seiner früheren Energie. „Weiter, Faro. Was waren das für ‚technische Mittel’? Wie sind Sie vorgegangen?“ „Nun“, sagte Faro, „die Idee hatten Yimot und ich schon vor zwei Monaten, und seither haben wir in jeder freien Minute daran gearbeitet. Yimot kannte in der Stadt ein niedriges, einstöckiges Gebäude mit ei nem gewölbten Dach – es muß wohl eine Art Lagerhaus sein. Jedenfalls haben wir es gekauft.“ „Womit?“ unterbrach Athor ihn barsch. „Woher hatten Sie das Geld?“ „Von unserem Bankkonto“, knurrte der lange, schlaksige Yimot 70. „Zweitausend hat uns der Spaß gekostet.“ Wie um sich zu rechtfertigen, fügte er hinzu: „Na und? Morgen sind das nur noch zweitausend Fetzen Papier.“ „Klar“, sprang ihm Faro bei. „Wir kauften also das Haus und schlugen es vom Keller bis zum Dach mit schwarzem Samt aus, um es so dunkel zu machen wie nur möglich. Dann bohrten wir winzige Löcher in die Decke und durch das Kuppeldach und verschlossen sie mit kleinen Me tallkappen, die man auf Knopfdruck alle gleichzeitig zur Seite gleiten lassen konnte. Das haben wir übrigens nicht selbst gemacht, sondern einen Zimmermann, einen Elektriker und noch ein paar andere Hand werker damit beauftragt – Geld spielte ja keine Rolle. Das Licht sollte
durch die Löcher im Dach dringen, damit es so aussah, als leuchteten die Sterne.“ „Jedenfalls hatten wir uns die Sterne so vorgestellt“, schränkte Yimot ein. Eine Weile wagte niemand zu atmen. Dann sagte Athor streng: „Sie hatten kein Recht, auf eigene Faust…“ „Ich weiß, Sir“, stammelte Faro kleinlaut. „Aber wenn ich ehrlich sein soll, Yimot und ich hielten das Experiment für nicht ganz ungefährlich. Wenn der erwartete Effekt wirklich eintrat, mußten wir fast damit rech nen, verrückt zu werden – nach allem, was Dr. Sheerin dazu sagte, hiel ten wir das sogar für wahrscheinlich. Und wir fanden, wir müßten dieses Risiko allein tragen. Sollte es uns freilich gelingen, bei Verstand zu bleiben, dann wäre es vielleicht möglich, auch gegen den Ernstfall eine gewisse Immunität zu entwickeln. In diesem Fall wollten wir Sie alle einweihen und sie der gleichen Erfahrung aussetzen. Leider hat es nicht geklappt.“ „Wieso nicht? Was ist passiert?“ Diesmal antwortete Yimot: „Wir haben uns eingeschlossen und abge wartet, bis unsere Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Es war recht unheimlich, denn wenn es völlig dunkel ist, hat man das Gefühl, als rückten Wände und Decke immer näher. Aber darüber kamen wir schließlich hinweg, und dann drückten wir auf besagten Knopf. Die Kappen glitten zur Seite, und plötzlich war das ganze Dach mit kleinen Lichtpunkten übersät.“ „Und?“ „Nichts weiter. Das war ja das Verrückte. Wenn wir das Buch der Of fenbarungen richtig verstanden hatten, wäre dies nichts anderes gewesen als Sterne vor einem dunklen Hintergrund. Aber es geschah nichts. Wir standen lediglich unter einem Dach mit Löchern, durch die das Licht schien, und genauso sah es auch aus. Wir haben es immer wieder pro biert – deshalb kommen wir auch erst jetzt –, aber wir haben einfach nicht die geringste Wirkung gespürt.“ Betroffenes Schweigen trat ein. Alle Blicke richteten sich auf Sheerin, der reglos, mit offenem Mund dastand. Theremon fand als erster die Sprache wieder. „Sie sind sich doch dar über im klaren, Sheerin, daß damit ihre ganze Theorie wie ein Karten haus in sich zusammenfällt?“ Er grinste erleichtert. Aber Sheerin hob die Hand. „Nicht so schnell, Theremon. Lassen Sie mich überlegen. Diese sogenannten ‚Sterne’, die unsere beiden Jungen da konstruiert haben – die Zeit, in der sie insgesamt der Dunkelheit aus gesetzt waren…“ Er verstummte. Alle beobachteten ihn. Und dann schnippte er mit den Fingern, und als er den Kopf hob, war aus seinen
Augen jede Spur von Staunen oder Unsicherheit verschwunden. „Natür lich…“ Er konnte den Satz nicht vollenden. Thilanda, die oben in der Kuppel gewesen war, um jetzt, da die Verfinsterung Dovims immer näherrück te, in Abständen von zehn Sekunden den Himmel auf fotografische Plat ten zu bannen, kam, so hektisch mit den Armen fuchtelnd wie sonst nur Yimot in höchster Aufregung, in den Raum gestürmt. „Dr. Athor! Dr. Athor!“ Athor drehte sich um. „Was ist los?“ „Wir fanden eben… er kam einfach in die Kuppel spaziert – Sie wer den es nicht für möglich halten, Dr. Athor…“ „Langsam, mein Kind. Was ist geschehen? Wer kam hereinspaziert?“ Vom Korridor waren Kampfgeräusche zu hören, dann ein scharfes Klirren. Beenay sprang auf, stürzte zur Tür hinaus, blieb unvermittelt stehen und rief: „Was, zum Teufel…?“ Draußen standen Davnit und Hikkinan, die eigentlich mit Thilanda o ben in der Kuppel sein sollten. Die beiden Astronomen rangen mit einer dritten Gestalt, einem gelenkigen, sportlich wirkenden Mann Ende drei ßig, mit eigenartig rotem Kraushaar und einem schmalen Gesicht mit scharfen Zügen und eisig blauen Augen. Sie hielten ihm die Arme hinter dem Rücken fest und schleppten ihn in den Raum. Der Fremde trug die schwarze Kutte der Apostel des Feuers. „Folimun 66!“ rief Athor. Im gleichen Atemzug fragte auch Theremon: „Folimun! Was, im Na men der Dunkelheit, machen Sie denn hier?“ Ganz ruhig, in kaltem Befehlston erklärte der Apostel: „Nicht im Na men der Dunkelheit bin ich heute abend hier, sondern im Namen des Lichts.“ Athor starrte Thilanda an. „Wo haben Sie diesen Mann gefunden?“ „Ich sagte es bereits, Dr. Athor. Wir waren mit den Aufnahmen be schäftigt, und da hörten wir ihn. Er war einfach hereingekommen und stand hinter uns. ‚Wo ist Athor’, sagte er. ‚Ich muß Athor sprechen.’“ „Rufen Sie die Sicherheitskräfte!“ befahl Athor, und Zorn verfinsterte sein Gesicht. „Eigentlich sollte heute abend niemand ins Observatorium gelangen dürfen. Ich möchte wissen, wie dieser Mann es geschafft hat, an den Wachen vorbeizukommen.“ „Sie haben offensichtlich ein paar Apostel auf Ihrer Lohnliste stehen“, erklärte Theremon freundlich. „Und die haben dem Apostel Folimun natürlich nur zu gern die Bitte erfüllt, ihnen das Tor auf zuschließen.“ Athor warf ihm einen mörderischen Blick zu. Aber der Gesichtsaus druck des alten Astronomen verriet auch die Erkenntnis, daß Theremon wahrscheinlich richtig geraten hatte.
Inzwischen hatten alle Anwesenden – Siferra, Theremon, Beenay, A thor und die übrigen – Folimun umringt und staunten ihn an. Ungerührt stellte der Apostel sich vor: „Ich bin Folimun 66, persönli cher Assistent Seiner Erhabenheit Mondior 71. Ich komme heute abend nicht mit kriminellen Absichten, wie Sie alle zu glauben scheinen, son dern als Abgesandter Seiner Erhabenheit. Könnten Sie Ihre beiden Eife rer vielleicht dazu bewegen, mich loszulassen, Athor?“ Athor machte eine ärgerliche Handbewegung. „Gebt ihn frei!“ „Vielen Dank.“ Folimun rieb sich die Arme und zog seine Kutte zu recht. Dann verneigte er sich – eine spöttische Geste? – vor Athor. Um den Apostel herum schien die Luft förmlich zu knistern. „Nun denn“, begann Athor. „Was haben Sie hier zu suchen? Was wol len Sie?“ „Nichts, was Sie mir freiwillig geben würden, fürchte ich.“ „Das sehen Sie wahrscheinlich ganz richtig.“ „Als wir uns vor ein paar Monaten trafen, Athor“, fuhr Folimun fort, „existierte eine starke Spannung zwischen uns, wir standen uns gegen über wie die Herrscher zweier verfeindeter Reiche. In Ihren Augen war ich ein gefährlicher Fanatiker. In meinen Augen waren Sie der Anführer einer Horde gottloser Sünder. Und doch gelangten wir zu einer gewissen Einigung, darüber nämlich, wie Sie sich erinnern werden, daß am A bend des neunzehnten Theptar über Kalgash die Nacht hereinbrechen und viele Stunden anhalten würde.“ Athor runzelte die Stirn. „Kommen Sie zur Sache, falls es eine Sache gibt, Folimun. Die Nacht ist im Begriff, über Kalgash hereinzubrechen, und wir haben nicht mehr viel Zeit.“ „Für mich wurde diese Dunkelheit von den Göttern gesandt. Für Sie stellte sie nur die Folge der Bewegungen seelenloser Himmelskörper dar. Schön, wir verständigten uns darauf, verschiedener Ansicht zu sein. Ich stellte Ihnen gewisse Unterlagen zur Verfügung, die sich seit dem letzten Gottesjahr im Besitz der Apostel befinden, Tabellen über die Bewegungen der Sonnen am Himmel und andere, noch abstrusere In formationen. Als Gegenleistung versprachen Sie mir, den wissenschaft lichen Beweis für die Richtigkeit unseres Glaubens zu erbringen und diesen Beweis den Menschen auf Kalgash zu verkünden.“ Athor warf einen Blick auf seine Uhr. „Genau das habe ich getan“, sagte er. „Was will Ihr Herr und Meister denn noch von mir? Ich habe meinen Teil des Abkommens erfüllt.“ Folimun lächelte dünn und schwieg. Das Unbehagen im Raum wuchs spürbar. „Ich bat ihn um astronomische Angaben, das ist richtig“, sagte Athor und blickte sich um. „Angaben, über die nur die Apostel verfügen. Ich habe sie bekommen und bedanke mich dafür. Und man könnte auch
sagen, ich hätte mich im Gegenzug bereiterklärt, die von mir erbrachte mathematische Bestätigung des fundamentalen Dogmas der Apostel zu veröffentlichen, daß die Welt am neunzehnten Theptar in Dunkelheit gehüllt würde.“ „Eigentlich hatten wir es gar nicht nötig, Ihnen irgend etwas zu ge ben“, lautete die stolze Entgegnung. „Unser fundamentales Dogma, wie Sie es nennen, bedurfte keines Beweises. Das Buch der Offenbarungen ist Beweis genug.“ „Für die Handvoll Leute, die Ihrem Kult anhängen, gewiß“, fauchte Athor. „Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie mich nicht verstanden. Ich habe Ihnen das Angebot gemacht, Ihren Glauben wissenschaftlich zu untermauern. Und das habe ich getan!“ Die Augen des Kultisten wurden schmal. „Ja, das haben Sie getan – mit der Schläue eines Fuchses, denn einerseits stützte Ihre angebliche Erklärung unseren Glauben, aber gleichzeitig entzog sie ihm jede Da seinsberechtigung. Sie haben die Dunkelheit und die Sterne zu einer bloßen Naturerscheinung herabgewürdigt und sie ihrer wahren Bedeu tung beraubt. Das war Blasphemie!“ „Selbst wenn, dann wäre es nicht meine Schuld. Die Tatsachen existie ren. Was bleibt mir anderes übrig, als sie zu verkünden?“ „Ihre sogenannten ‚Tatsachen’ sind nichts als Lug und Trug.“ Athors Gesicht wurde fleckig vor Wut. „Woher wollen Sie das wis sen?“ Die Antwort verriet die Sicherheit des bedingungslos Gläubigen: „Ich weiß es.“ Athors Gesicht lief dunkelrot an. Beenay wollte an seine Seite eilen, aber sein Chef winkte ab. „Und was will Mondior 71 von uns? Er glaubt vermutlich immer noch, daß wir mit unserem Versuch, der Welt gewisse Vorkehrungen gegen den drohenden Wahnsinn nahezulegen, irgendwie seine Pläne stören wollten, nach der Sonnenfinsternis die Macht zu ergreifen. Nun, es ist uns nicht gelungen. Hoffentlich ist er nun zufrieden.“ „Der Versuch allein hat schon genug Schaden angerichtet. Und was Sie heute abend im Sinn haben, wird alles noch verschlimmern.“ „Woher wissen Sie denn, was wir heute abend im Sinn haben?“ fragte Athor. Folimun blieb ganz ruhig. „Wir wissen, daß Sie immer noch hoffen, die Bevölkerung irgendwie zu beeinflussen. Da es Ihnen vor der Nacht und dem Feuer nicht gelungen ist, gedenken Sie nun, hinterher mit foto grafischen Aufnahmen des Übergangs vom Tageslicht zur Dunkelheit an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie wollen den Überlebenden eine ratio nale Erklärung für die Geschehnisse liefern – und Sie wollen die angeb lichen Beweise für Ihre Überzeugung an einem sicheren Ort verwahren,
damit Ihre Nachfolger im Reich der Wissenschaft am Ende des nächsten Gottesjahres vor die Menschheit hintreten und sie so führen können, daß sie der Dunkelheit zu widerstehen vermag.“ „Jemand hat nicht dichtgehalten“, flüsterte Beenay. Aber Folimun fuhr schon fort. „All das geht natürlich gegen die Inte ressen von Mondior 71. Und Mondior 71 wurde von den Göttern selbst zum Propheten eingesetzt, er ist dazu bestimmt, die Menschheit durch die vor uns liegende Zeit zu fuhren.“ „Höchste Zeit, daß Sie endlich zur Sache kommen“, sagte Athor kalt. Folimun nickte. „Die Sache ist ganz einfach folgende: Ihrem unziem lichen, frevelhaften Bemühen, mit Hilfe dieser verfluchten Instrumente Informationen zu sammeln, muß Einhalt geboten werden. Ich bedaure nur, daß ich diese teuflischen Geräte nicht eigenhändig zerstören konn te.“ „War das der Grund für Ihr Kommen? Es hätte ihnen wenig genützt. Bis auf die direkten Beobachtungen, die wir jetzt noch aufzeichnen wol len, befinden sich alle unsere Daten längst an einem sicheren Ort, wo ihnen nichts geschehen kann.“ „Sie müssen sie herausholen. Sie müssen sie vernichten.“ „Was?“ „Vernichten Sie Ihre Arbeit. Vernichten Sie alle Ihre Instrumente. Im Gegenzug werde ich Sie und alle Ihre Mitarbeiter vor dem Chaos schüt zen, das der Einbruch der Dunkelheit zwangsläufig mit sich bringen wird.“ Nun erhob sich Gelächter im Raum. „Der Kerl ist verrückt“, sagte jemand. „Vollkommen übergeschnappt.“ „Keineswegs“, widersprach Folimun. „Fromm, gewiß. Hingegeben an ein Ideal, das Ihr Begriffsvermögen übersteigt, gewiß. Aber nicht ver rückt. Ich bin bei klarem Verstand, das versichere ich Ihnen. Dieser Mann hier…“ – er wies auf Theremon – „würde es Ihnen wohl sogar bezeugen, und er ist nicht gerade als vertrauensselig bekannt. Aber ich stelle meinen Glauben über alles andere. Diese Nacht ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Weltgeschichte, und morgen bei Tagesan bruch muß die Gottesfurcht den Sieg davongetragen haben. Ich stelle Ihnen ein Ultimatum. Sie lassen noch heute abend ab von Ihrem frevel haften Bemühen, rationale Erklärungen für den Einbruch der Dunkelheit zu liefern, und erkennen Seine Erhabenheit Mondior 71 als die wahre Stimme des göttlichen Willens an. Wenn der Morgen kommt, ziehen Sie aus, um Mondiors Werk unter den Menschen zu verrichten, und lassen von Sonnenfinsternissen, Umlaufbahnen, dem Gravitationsgesetz und Ihren sonstigen Torheiten kein Wort mehr verlauten.“ „Und wenn wir uns weigern?“ fragte Athor, den Folimuns Anmaßung fast schon wieder erheiterte.
„Dann“, sagte Folimun gelassen, „wird eine Horde aufgebrachter Menschen unter Führung der Apostel des Feuers diesen Hügel erklim men und Ihr Observatorium mit allem, was darin ist, zerstören.“ „Das reicht“, sagte Athor. „Rufen Sie die Sicherheitskräfte. Der Mann wird auf der Stelle hinausgeworfen.“ „Sie haben genau eine Stunde Zeit“, erklärte Folimun ungerührt. „Dann wird das Heilige Heer angreifen.“ „Er blufft“, sagte Sheerin plötzlich. Athor tat, als hätte er nichts gehört, und wiederholte: „Rufen Sie die Sicherheitskräfte. Ich will ihn hier nicht mehr haben!“ „Verdammt, Athor, denken Sie doch nach!“ rief Sheerin. „Wenn Sie ihn laufen lassen, geht er hinaus und facht die Flammen erst richtig an. Sehen Sie denn nicht, daß diese Apostel nur für das Chaos gelebt ha ben? Und dieser Mann versteht meisterhaft, es heraufzubeschwören.“ „Was schlagen Sie vor?“ „Sperren Sie ihn ein“, riet Sheerin. „Stecken Sie ihn in einen Schrank und hängen Sie ein dickes Schloß davor. Da kann er bleiben, bis der Spuk vorüber ist. Wir könnten ihm nichts Schlimmeres antun. Wenn er hinter Schloß und Riegel sitzt, sieht er weder die Dunkelheit, noch die Sterne. Man braucht nicht viel von den Glaubenssätzen seiner Sekte zu verstehen, um zu wissen, daß er seine unsterbliche Seele verliert, wenn er die Sterne bei ihrem Erscheinen nicht mit eigenen Augen sieht. Sper ren Sie ihn ein, Athor. Das ist nicht nur für uns am sichersten, er hat es auch nicht anders verdient.“ „Und hinterher“, zischte Folimun, „wenn Sie alle den Verstand verlo ren haben, ist niemand mehr da, um mich herauszulassen. Das ist ein Todesurteil. Ich weiß ebenso gut wie Sie, was das Erscheinen der Sterne bedeutet – sehr viel besser sogar. Wenn alle wahnsinnig sind, denkt niemand mehr daran, mich zu befreien. Entweder ersticken oder lang sam verhungern, nicht wahr? Eigentlich war nichts anderes zu erwarten von einer Gruppe von – von Wissenschaftlern.“ Das Wort klang aus seinem Mund wie eine Obszönität. „Aber so läuft das nicht. Ich habe vorgesorgt. In genau einer Stunde werden meine Anhänger das Observa torium stürmen, es sei denn, ich zeige mich und gebe den Gegenbefehl. Sie erreichen also nichts damit, wenn Sie mich einschließen. Binnen einer Stunde führen Sie damit das Unheil nur selbst herbei. Und dann werden meine Leute mich befreien, und wir werden gemeinsam – in reiner Freude, in höchstem Entzücken – das Kommen der Sterne erwar ten.“ In Folimuns Schläfe begann eine Ader zu pochen. „Und morgen, wenn Sie alle dem Wahnsinn verfallen sind, auf ewig verdammt durch Ihre eigenen Taten, morgen werden wir daran gehen, eine wunderschö ne, neue Welt zu erschaffen.“
Sheerin warf einen skeptischen Blick auf Athor, aber auch der war of fenbar unsicher geworden. Beenay stand neben Theremon und flüsterte ihm zu: „Was meinst du? Ist das ein Bluff?“ Aber der Journalist gab keine Antwort. Er war bis in die Lippen erbleicht. „Seht doch nur!“ Mit zitterndem Finger deutete er auf das Fenster, seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen. Ein einstimmiges Keuchen war zu hören, alle Augen folgten dem Fin ger, starrten wie gebannt den Himmel an. Von Dovims Rand war ein Stück abgesplittert!
Kapitel 25 Der winzige schwarze Span war kaum breiter als ein Fingernagel, aber den entsetzten Beobachtern erschien er wie ein Höllenschlund. Für Theremon war der kleine Bogen Dunkelheit ein furchtbarer Schlag. Er zuckte zurück, faßte sich mit der Hand an die Stirn und wandte sich vom Fenster ab. Der Splitter, der aus Dovims Seite fehlte, erschütterte ihn bis in die Tiefen seiner Seele. Theremon der Skeptiker – Theremon der Spötter – Theremon, der gnadenlose Analytiker, wenn es um die Torheiten anderer ging. Ihr Götter! Wie kann man sich so irren! Als er sich umdrehte, traf ihn Siferras Blick. Sie beobachtete ihn von der gegenüberliegenden Seite des Raumes, und in ihren Augen stand Verachtung – oder war es Mitleid? Er zwang sich, die Augen nicht nie derzuschlagen, und schüttelte traurig den Kopf, wie um ihr in aller De mut mitzuteilen: Ich habe alles verpfuscht. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Er glaubte zu sehen, daß sie lächelte. Vielleicht hatte sie die stumme Botschaft empfangen. Für einen Moment verwandelte sich der Raum nun in einen tobenden Hexenkessel, alles rannte ziellos durcheinander, doch gleich darauf fand der Betrieb wieder in geordnete Bahnen zurück. Die Astronomen eilten an die ihnen zugewiesenen Posten, einige rannten hinauf in die Kuppel, um die Sonnenfinsternis durch die Teleskope zu betrachten, manche gingen an die Computer, andere griffen zu tragbaren Kameras, um die Veränderungen an Dovims Scheibe aufzuzeichnen. In diesem kritischen Augenblick war kein Platz für Emotionen. Man war nur noch Wissen schaftler und hatte seine Aufgabe zu erfüllen. Theremon stand ganz allein inmitten des Trubels, hielt Ausschau nach Beenay und entdeckte ihn schließlich an der Tastatur eines Computers, wo er wie wild irgend welche Zahlen eingab. Athor war weit und breit nicht zu sehen.
Sheerin trat zu Theremon und stellte trocken fest: „Die erste Berüh rung muß vor fünf bis zehn Minuten erfolgt sein. Ein wenig zu früh, aber trotz größter Sorgfalt gab es wohl doch einige Ungenauigkeiten in den Berechnungen.“ Er lächelte. – „Sie sollten vom Fenster weggehen, Mann.“ „Wieso?“ fragte Theremon, der sich wieder umgedreht hatte und Do vim wie gebannt betrachtete. „Athor ist wütend“, flüsterte der Psychologe. „Wegen des Theaters mit Folimun hat er die erste Berührung verpaßt. Sie haben hier einen gefähr lichen Standort. Wenn der große alte Mann vorbeikommt, bringt er es glatt fertig, Sie hinauszustoßen.“ Theremon nickte knapp und setzte sich. Sheerin sah ihn an, seine Au gen weiteten sich überrascht. „Teufel auch, Mann! Sie zittern ja!“ „Was?“ Theremon fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich fühle mich wirklich nicht be sonders.“ Der Psychologe sah ihn scharf an. „Sie werden doch jetzt nicht die Nerven verlieren?“ „Nein!“ rief Theremon in jäh aufflammender Empörung. „Nun mal langsam! Ich wollte ja an das ganze Gerede über eine Sonnenfinsternis glauben, Sheerin, aber ich konnte einfach nicht, ehrlich, es war mir nicht möglich, für mich klang das alles wie ein Ammenmärchen. Um Bee nays, um Siferras – irgendwie auch um Athors willen wollte ich daran glauben. Aber bis zu diesem Moment war es mir unmöglich. Lassen Sie mir Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen, ja? Sie konnten sich monatelang darauf einstellen, über mich bricht alles auf einmal herein.“ „Ich kann Sie verstehen.“ Sheerin war nachdenklich geworden. „Hö ren Sie, haben Sie Familie – Eltern, Frau und Kinder?“ Theremon schüttelte den Kopf. „Nein. Ich brauche mir um niemanden Sorgen zu machen. Eine Schwester, ja, aber die wohnt zweitausend Meilen von hier entfernt, und ich habe schon seit zwei Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen.“ „Und was ist mit Ihnen selbst?“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Sie könnten versuchen, unseren Schutzbunker zu erreichen. Ein Platz für Sie ließe sich finden. Wahrscheinlich hätten Sie auch noch genügend Zeit – ich könnte anrufen und mitteilen, daß Sie unterwegs sind, dann würde man Ihnen auch auf schließen…“ „Sie glauben also, ich leide Todesängste?“ „Sie sagten doch selbst, daß Sie sich nicht besonders wohl fühlen.“ „Mag sein. Aber ich bin gekommen, um über die Ereignisse zu berich ten. Und genau das werde ich auch tun.“
Ein schwaches Lächeln erhellte die Züge des Psychologen. „Ich ver stehe. Berufsehre?“ „So könnte man sagen.“ Müde fuhr Theremon fort: „Außerdem habe ich tatkräftig mitgeholfen, Athors Katastrophenprogramm zu hintertrei ben, oder haben Sie das schon vergessen? Halten Sie mich tatsächlich für so unverschämt, daß ich genau in dem Schutzbunker um Aufnahme bettle, über den ich mich zuvor lustig gemacht habe, Sheerin?“ „So hatte ich es noch gar nicht betrachtet.“ „Aber es wäre schön, wenn wir irgendwo noch eine Flasche von die sem miserablen Wein auftreiben könnten. Wenn jemals ein Mensch einen Schluck Alkohol nötig hatte…“ „Pst!“ warnte Sheerin und stieß Theremon heftig in die Seite. „Was ist das? Hören Sie mal!“ Theremon schaute in die angegebene Richtung. Folimun 66 stand am Fenster, sah in schwärmerischer Verzückung hinaus und sang leise und eintönig vor sich hin. Den Journalisten überlief es eiskalt. „Was sagt er denn?“ flüsterte er. „Können Sie ihn verstehen?“ „Er zitiert aus dem fünften Kapitel des Buches der Offenbarungen“, antwortete Sheerin. „Still jetzt, und hören Sie zu“, drängte er dann. Plötzlich wurde die Stimme des Apostels lauter und steigerte sich zu flammender Inbrunst: „Und so geschah es in jenen Tagen, daß die Sonne Dovim im Laufe der Umdrehungen immer länger einsam am Himmel stand und Wache hielt; und schließlich schien sie so lange, wie eine halbe Umdrehung währet, einsam, matt und kalt auf Kalgash herab. Und die Menschen versammelten sich auf Straßen und Plätzen und re deten miteinander und bestaunten die wundersame Erscheinung, denn eine seltsame Furcht und Bedrückung hatte von ihnen Besitz ergriffen. Ihr Geist war verstört, und ihre Zunge verwirrte sich, denn ihre Seele harrte dem Kommen der Sterne. Und in der Stadt, die da heißet Trigon, trat zur Mittagszeit Vendret 2 vor die Menge hin und sprach: ‚Höret, ihr Sünder und vernehmet, was ich euch sage! Oft seid ihr abgewichen vom Pfade der Tugend, doch der Tag der Vergeltung ist nahe. Denn schon naht die Höhle, um Kalgash zu verschlingen und alles, was darauf lebt.’ Und so er noch sprach, tat die Höhle auf ihren gewaltigen Schlund und berührte Dovims Rand mit ihren Lippen, so daß kein Auge auf Kal gash ihn noch zu erblicken vermochte. Und die Menschen sahen, wie Dovim verschwand, ein lautes Wehklagen hub an, und eine große Angst ergriff die Seelen der Sterblichen. Und so geschah es, daß die Finsternis der Höhle mit all ihrem Schre cken sich auf ganz Kalgash herabsenkte und alles Licht auf dieser Welt
verschlang. Und die Menschen erblindeten und keiner sah mehr seinen Nächsten, wiewohl er dessen Atem auf seiner Wange spürte. Und in der finstersten Nacht erschienen die Sterne in endloser Zahl, und sie strahlten so hell, als hätten sich die Götter in all ihrer Pracht am Himmel versammelt. Und begleitet wurden sie von einer Musik von solch betörender Schönheit, daß sich die Blätter der Bäume in Zungen verwandelten und aufschrien vor Bewunderung. Und in diesem Augenblick entfleuchten die Seelen der Menschen und schwebten hinauf zu den Sternen, und die verlassenen Leiber gebärde ten sich wie Tiere, ja, wie wilde, reißende Bestien gar, und zogen mit gräßlichem Heulen durch die dunklen Straßen der Städte auf Kalgash. Und von den Sternen fuhr hernieder die himmlische Flamme, der Trä ger des göttlichen Willens, und wo sie die Erde berührte, legte sie Kal gashs Städte in Schutt und Asche, so daß nichts blieb von den Menschen und ihren Werken. Alsdann…“ Folimuns Tonfall veränderte sich kaum merklich. Er hatte den Blick nicht zur Seite gewandt, dennoch schien ihm die gebannte Aufmerk samkeit seiner Zuhörer nicht entgangen zu sein. Fließend, ohne Atem zu schöpfen, variierte er den Klang seiner Stimme und fuhr in einer höhe ren Tonlage, mit perlenderen Silben fort. Theremon runzelte verblüfft die Stirn. Irgendwie klangen die Worte vertraut und zugleich fremd. Ein leichter Wandel im Akzent, eine win zige Verschiebung in der Vokalbetonung – und der Journalist hatte kei ne Ahnung mehr, was Folimun sang. „Siferra könnte ihn jetzt vielleicht verstehen“, meinte Sheerin. „Wahr scheinlich hat er ins Liturgische gewechselt, in die alte Sprache des letzten Gottesjahres, aus der das Buch der Offenbarungen vermutlich übersetzt ist.“ Theremon sah den Psychologen erstaunt an. „Sie kennen sich aber gut aus. Was sagt er denn?“ „Überschätzen Sie mich nicht. Ich habe mich in letzter Zeit ein wenig mit der Materie beschäftigt, gewiß, aber so weit reicht es nun doch nicht. Ich kann nur raten, worum es geht. – Wollten wir ihn nicht in einen Schrank sperren?“ „Lassen Sie ihn“, sagte Theremon. „Das ändert jetzt auch nichts mehr. Dies ist sein großer Moment. Mag er ihn auskosten.“ Er schob seinen Sessel zurück und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Seine Hän de zitterten nicht mehr. „Komisch“, sagte er. „Seit es richtig angefangen hat, bin ich längst nicht mehr so nervös.“ „Nein?“ „Warum auch?“ Theremons Lachen klang ein wenig schrill. „Ich kann schließlich nichts tun, um die Katastrophe aufzuhalten, nicht wahr? Also
werde ich mich bemühen, sie einfach durchzustehen. – Glauben Sie wirklich, daß wir die Sterne zu sehen bekommen?“ „Keine Ahnung“, meinte Sheerin. „Aber vielleicht kann uns Beenay dazu etwas sagen.“ „Oder Athor?“ „Lassen Sie Athor in Frieden“, erwiderte der Psychologe lachend. „Er ist eben vorbeigegangen, und wenn Blicke töten könnten, stünden Sie jetzt nicht mehr hier.“ Theremon verzog das Gesicht. „Ich weiß, wenn das alles vorüber ist, muß ich zu Kreuze kriechen. Was meinen Sie, Sheerin? Könnte man es wagen, sich das Schauspiel im Freien anzusehen?“ „Bei völliger Dunkelheit?“ „Ich rede nicht von der Dunkelheit. Damit werde ich fertig, glaube ich. Ich rede von den Sternen.“ „Die Sterne?“ wiederholte Sheerin ungeduldig. „Ich sagte Ihnen doch, daß ich darüber nichts weiß.“ „Wahrscheinlich sind sie gar nicht so furchtbar, wie uns das Buch der Offenbarungen einreden will. Wenn das Experiment der beiden Studen ten mit den Löchern in der Decke irgend etwas besagt…“ Er schaute in seine geöffneten Hände, als läge darin die Antwort. „Was meinen Sie, Sheerin? Wird es nicht einige Leute geben, denen weder Dunkelheit noch Sterne etwas anhaben können?“ Sheerin zuckte die Achseln. Dann deutete er auf den Fußboden. Do vim hatte den Zenith überschritten, das Rechteck aus blutrotem Sonnen licht, das durch das Fenster auf den Fußboden fiel, war ein Stück weiter in die Mitte des Raums gewandert, wie um dort von einem grausigen Verbrechen zu künden. Theremon betrachtete nachdenklich den matten Fleck, drehte sich um und blinzelte abermals in die Sonne. Der bogenförmige Splitter am Rand war zu einem schwarzen Mal an gewachsen, das bereits ein Drittel der sichtbaren Scheibe bedeckte. The remon schauderte. Einst hatte er mit Beenay über einen Drachen am Himmel gescherzt. Nun schien es, als sei der Drache tatsächlich ge kommen, habe bereits fünf Sonnen verschlungen und nage begeistert an der letzten, die noch übrig war. „In Saro City möchten jetzt bestimmt zwei Millionen Menschen auf der Stelle der Apostelsekte beitreten. Wetten, daß in Mondiors Haupt quartier eine riesige Bekehrungsversammlung stattfindet? – Ob ich glaube, daß es so etwas wie Immunität gegen die Dunkelheit gibt? Nun, wenn ja, dann werden wir es bald erfahren.“ „Es kann nicht anders sein. Wie sonst hätten die Apostel ihr Buch der Offenbarungen von einem Zyklus an den nächsten weitergeben können, und wo sonst als auf Kalgash wäre es überhaupt geschrieben worden? Es muß eine Form von Immunität gegeben haben. Wer wäre denn noch
dagewesen, um das Buch zu verfassen, wenn der Wahnsinn niemanden verschont hätte?“ „Wahrscheinlich hatten sich die Angehörigen des Geheimbundes in Schutzräumen versteckt, bis alles vorüber war, genau wie einige von uns es heute nacht hin werden“, sagte Sheerin. „Das genügt mir nicht. Das Buch der Offenbarungen ist ein Augen zeugenbericht. Daraus schließe ich, daß jemand den Wahnsinn unmit telbar erlebt – und überlebt hat.“ „Nun gut mein Lieber,“ sagte der Psychologe, „es gibt drei Gruppen von Menschen, die einigermaßen verschont bleiben könnten. Zunächst einmal die wenigen, die von den Sternen gar nichts zu sehen bekommen – die Blinden etwa, oder all jene, die sich zu Beginn der Sonnenfinster nis bis zur Bewußtlosigkeit betrinken und erst wieder aufwachen, wenn alles vorbei ist.“ „Die zählen nicht. Das sind keine echten Zeugen.“ „Mag sein. Aber die zweite Gruppe, die kleinen Kinder – für sie ist die ganze Welt noch so neu und fremd, daß es ihnen gar nicht auffällt, wenn etwas noch Ungewöhnlicheres geschieht. Ich schätze, sie hätten keine Angst vor der Dunkelheit, nicht einmal vor den Sternen. Für sie wären das nur zwei weitere Wunder in einer Welt, die ohnehin voller Überra schungen steckt. Das leuchtet Ihnen doch ein?“ Theremon rückte skeptisch. „Schon.“ „Zuletzt gibt es noch diejenigen, deren Bewußtsein so grob strukturiert ist, daß es durch nichts erschüttert werden kann. Die gänzlich Unsensib len – die echten Dickhäuter – würden von den Ereignissen wohl kaum berührt. Sie würden vermutlich nur achselzuckend warten, daß Onos wieder aufgeht.“ „Das hieße also, das Buch der Offenbarungen wurde von unsensiblen Dickhäutern geschrieben?“ folgerte Theremon grinsend. „Wohl kaum. Hier waren mit Sicherheit die schärfsten Denker des neuen Zyklus am Werk – und sie stützten sich auf die flüchtigen Erinne rungen der Kinder, auf das konfuse, zusammenhanglose Gestammel der halbverrückten Idioten und, ja, vielleicht auch auf einige Berichte von Dickhäutern.“ „Lassen Sie das Folimun lieber nicht hören.“ „Natürlich wurde der Text im Lauf der Jahre immer wieder umfassend überarbeitet und ergänzt. Vielleicht hat man ihn auch tatsächlich von Zyklus zu Zyklus überliefert, wie Athor und seine Leute das Geheimnis der Gravitation zu überliefern hoffen. Aber was ich eigentlich sagen will, ist folgendes: Dieses Buch kann gar nichts anderes sein als ein völlig verdrehtes Machwerk, auch wenn es auf Tatsachen beruht. Be trachten Sie zum Beispiel jenes Experiment mit den Löchern im Dach, von dem Faro und Yimot berichteten – und das nicht funktionierte.“
„Was ist damit?“ „Nun, der Grund, warum es nicht funktio…“ Sheerin hielt inne und sprang erschrocken auf. „Du meine Güte.“ „Stimmt etwas nicht?“ fragte Theremon. „Athor kommt. Sehen Sie sich nur sein Gesicht an!“ Theremon drehte sich um. Der alte Astronom näherte sich wie ein mythischer Racheengel, totenbleich, mit glühenden Augen, die Ge sichtszüge zu einer Maske der Bestürzung erstarrt. Er bedachte Folimun, der immer noch ganz allein in einer Ecke auf der anderen Seite des Fensters stand, mit einem bitterbösen Blick, und Theremon mit einem zweiten. Zu Sheerin sagte er: „Ich habe eben fünfzehn Minuten lang über Kommunikator mit dem Schutzbunker, mit den Sicherheitskräften und mit der Innenstadt von Saro City gesprochen.“ „Und?“ „Unser Journalist hier kann mit sich zufrieden sein. Nach allem, was ich höre, ist die Stadt ein einziger Trümmerhaufen. Überall Krawalle, Plünderungen, Menschenmassen in kopfloser Panik…“ „Was ist mit dem Schutzbunker?“ fragte Sheerin ungeduldig. „Keine Probleme. Sie sind genau nach Plan hermetisch von der Au ßenwelt abgeschlossen und werden mindestens bis Tagesanbruch in ihrem Versteck bleiben. Sie sind in Sicherheit. Aber die Stadt, Sheerin! Sie machen sich keinen Begriff…“ Die Stimme versagte ihm. „Sir“, sagte Theremon, „würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen ver sichere, wie tief ich alles bedauere…“ „Dafür haben wir jetzt keine Zeit“, fauchte Sheerin gereizt. Dann legte er die Hand auf Athors Arm. „Wie geht es Ihnen, Dr. Athor? Soweit alles in Ordnung?“ „Ist das nicht egal?“ Athor wandte sich zum Fenster, als könne er die Unruhen von dort aus sehen, und fuhr mit tonloser Stimme fort: „In dem Moment, als die Sonne begann, sich zu verfinstern, wurde da draußen jedem klar, daß alles so kommen würde, wie wir gesagt hatten – wir und die Apostel. Und dann brach die Hysterie aus. Die Brände werden nicht lange auf sich warten lassen. Und bald wird wohl auch Folimuns Pöbel hier sein. Was sollen wir tun, Sheerin? Machen Sie doch wenigstens einen Vorschlag!“ Sheerin senkte den Kopf und betrachtete geistesabwesend seine Zehen. Eine ganze Weile klopfte er sich mit dem Finger gegen das Kinn. End lich blickte er auf und sagte knapp: „Tun? Was können wir schon tun? Die Tore abschließen und das Beste hoffen.“ „Und wenn wir ihnen nun sagten, wir würden Folimun umbringen, wenn sie versuchten, in das Gebäude einzudringen?“ „Würden Sie das auch tun?“ fragte Sheerin.
In Athors Augen blitzte Überraschung auf. „Tja – ich nehme an…“ „Nein“, sagte Sheerin. „Sie würden es nicht tun.“ „Aber wir könnten ihnen doch drohen…“ „Nein. O nein. Das sind Fanatiker, Athor. Daß er sich in unserer Ge walt befindet, wissen sie bereits. Wahrscheinlich erwarten sie sogar, daß wir ihn töten, sobald sie das Observatorium stürmen, aber das läßt sie völlig kalt. Und Sie würden es ohnehin nicht über sich bringen.“ „Natürlich nicht.“ „Also. Wie lange noch bis zur Totalität?“ „Eine knappe Stunde.“ „Wir müssen das Risiko eben eingehen. Die Apostel werden eine Wei le brauchen, um den Pöbel auf die Beine zu bringen – ich möchte näm lich wetten, daß nicht die Apostel selbst in Scharen hier anrücken, son dern eine riesige Menge von ganz gewöhnlichen Bürgern, von einer Handvoll Apostel aufgehetzt, denen ewiges Heil, die Erlösung von al lem Übel und wer weiß was noch alles versprochen wurde – und noch länger wird es dauern, ihn hierher zu treiben. Der Observatoriumshügel ist schließlich gut fünf Meilen von der Stadt entfernt…“ Sheerin sah grimmig aus dem Fenster. Neben ihm starrte Theremon die Hänge hinab. Weit unten wurden die Felder von den weißen Sied lungshäusern der Vororte abgelöst. Dahinter war die Stadt nur als ver schwommener Strich in der Ferne zu erkennen – ein schwacher Nebel fleck. In Dovims schwindendem Licht sah die Landschaft gespenstisch aus, wie aus einem Alptraum. Ohne sich umzudrehen, sagte Sheerin: „Ja, es wird eine Weile dauern, bis sie hier sind. Halten Sie die Türen geschlossen, arbeiten Sie weiter, beten Sie, daß die Totalität schneller ist als der Pöbel. Wenn erst einmal die Sterne scheinen, schaffen es wohl nicht einmal mehr die Apostel, die Leute weiter für den Einbruch hier zu interessieren.“ Dovim war zweigeteilt. Leicht gewölbt schob sich die Trennungslinie über die Mitte in die noch helle Hälfte der roten Scheibe. Man fühlte sich an ein gigantisches Lid erinnert, das sich unerbittlich auf das Auge einer Welt herabsenkte. Theremon stand wie erstarrt. Er nahm die leisen Geräusche hinter sich nicht mehr wahr, spürte nur die drückende Stille, die draußen auf den Feldern lastete. Sogar die Insekten schienen vor Angst verstummt zu sein. Und das Licht wurde immer schwächer. Über allem lag ein un heimlicher, blutroter Schleier. „Sehen Sie nicht so lange hin“, flüsterte ihm Sheerin ins Ohr. „In die Sonne, meinen sie?“ „Auf die Stadt. Auf den Himmel. Ich bin nicht um Ihre Augen besorgt, Theremon, sondern um Ihren Verstand.“ „Mit meinem Verstand ist alles in Ordnung.“
„Aber Sie möchten sicher, daß es so bleibt. Wie fühlen Sie sich?“ „Nun ja…“ Theremon kniff die Augen zusammen. Seine Kehle war ein wenig trocken. Er steckte einen Finger in den Kragen. Eng, viel zu eng. Fühlte es sich so an, wenn einem eine Hand die Kehle zudrückte? Er drehte den Kopf hin und her, fand aber keine Erleichterung. „Etwas Atembeschwerden vielleicht.“ „Atemnot ist eines der ersten Symptome eines klaustrophobischen An falls“, dozierte Sheerin. „Wenn noch ein Druck auf der Brust dazu kommt, kann ich Ihnen nur raten, sich vom Fenster abzuwenden.“ „Ich will aber nichts versäumen.“ „Schon gut, schon gut. Machen Sie, was Sie wollen.“ Theremon riß die Augen weit auf atmete ein paarmal tief durch. „Sie glauben nicht, daß ich damit fertig werde?“ „Ich weiß gar nichts mehr, Theremon“, sagte Sheerin matt. „Die Lage ändert sich schließlich von einem Augenblick zum anderen. – Hallo, da ist ja Beenay.“
Kapitel 26 Der Astronom verdeckte den beiden in der Ecke das Licht. Sheerin blinzelte voll Unbehagen zu ihm auf. „Hallo, Beenay!“ „Darf ich mich ein wenig zu euch setzen?“ fragte Beenay. „Meine Be rechnungen stehen, und bis zur Totalität habe ich nichts mehr zu tun.“ Er hielt inne und warf einen Blick zu dem Apostel hinüber, der aus dem Ärmel seiner Kutte ein ledergebundenes Büchlein gezogen hatte und nun andächtig darin las. „Hört mal, wollten wir ihn nicht einschließen?“ „Wir haben es uns anders überlegt“, erklärte Theremon. „Weißt du, wo Siferra ist, Beenay? Ich habe sie vor kurzem noch ge sehen, aber jetzt ist sie offenbar nicht mehr da.“ „Sie ist in die Kuppel hinaufgegangen, um einen Blick durch das gro ße Teleskop zu werfen. Man sieht allerdings kaum mehr als mit bloßem Auge.“ „Und was ist mit Kalgash Zwei?“ fragte Theremon. „Was gibt es da schon groß zu sehen? Schwarz in Schwarz. Wir neh men seine Anwesenheit nur dadurch wahr, daß er sich vor Dovim schiebt. Kalgash Zwei selbst – das ist ein Fetzen Nacht vor dem nächtli chen Himmel.“ „Nacht“, sinnierte Sheerin. „Was für ein ausgefallenes Wort.“ „Inzwischen nicht mehr“, sagte Theremon. „Man sieht den wandern den Satelliten also tatsächlich nicht, nicht einmal mit dem großen Tele skop?“ Beenay machte ein betretenes Gesicht. „Weißt du, unsere Teleskope sind nicht so besonders. Für Solarbeobachtungen reichen sie aus, aber
kaum wird es ein bißchen dunkler, schon…“ Er schüttelte den Kopf. Er hatte die Schultern hochgezogen und mußte sich sichtlich anstrengen, um seine Lungen mit Luft zu füllen. „Aber es gibt dieses Kalgash Zwei, soviel ist sicher. Der seltsame Schatten, der sich zwischen uns und Do vim schiebt – das ist Kalgash Zwei.“ „Hast du Atembeschwerden, Beenay?“ fragte Sheerin. „Ein wenig.“ Er schniefte. „Wahrscheinlich eine Erkältung.“ „Eher ein leichter Anfall von Klaustrophobie.“ „Glaubst du?“ „Ich bin sogar ziemlich sicher. Sonst noch etwas Ungewöhnliches?“ „Schon.“ Beenay zögerte. „Ich bilde mir ein, meine Augen lassen mich im Stich. Alles verschwimmt – nun ja, ich sehe keine scharfen Konturen mehr. Und außerdem friere ich.“ „Oh, das ist keine Einbildung!“ Theremon verzog das Gesicht. „Es ist tatsächlich kalt. Meine Zehen fühlen sich an, als hätte ich sie eben aus der Kühltruhe geholt!“ „Wir dürfen uns nicht auf unsere körperlichen Symptome konzentrie ren“, mahnte Sheerin eindringlich. „Wir müssen unseren Geist ander weitig beschäftigen. Theremon, ich wollte Ihnen doch vorhin erzählen, warum Faros Experiment mit dem durchlöcherten Dach im Sande ver laufen ist.“ „Sie waren gerade dabei“, antwortete Theremon entgegenkommend. Er zog ein Knie an, umfaßte es mit beiden Armen und stützte das Kinn darauf. Eigentlich, dachte er, sollte ich mich entschuldigen und zu Sifer ra hinaufgehen, bis zur Totalität ist es nicht mehr lange. Aber er fühlte sich seltsam lethargisch und konnte sich nicht aufraffen. Oder habe ich nur Angst, ihr gegenüberzutreten? dachte er. Sheerin sprach schon weiter: „Was ich sagen wollte, war, daß sie den Fehler machten, das Buch der Offenbarungen wörtlich zu nehmen. Wahrscheinlich hat es gar keinen Sinn, sich diese sogenannten Sterne als etwas vorzustellen, das tatsächlich existiert. Es wäre doch durchaus möglich, daß angesichts einer länger anhaltenden, totalen Finsternis unsere Sehnsucht nach Licht übermächtig wird. Vielleicht sind die Ster ne nichts weiter als eine Halluzination.“ „Mit anderen Worten“, Theremons Interesse war nun doch geweckt, „die Sterne wären eine Folge des Wahnsinns und nicht eine seiner Ursa chen. Welchen Sinn hat es dann, wenn unsere Astronomen den ganzen Abend lang Fotos machen?“ „Vielleicht läßt sich damit der Beweis führen, daß die Sterne nur Illu sion sind. Oder auch das Gegenteil. Andererseits…“ Beenay hatte, sichtlich fasziniert, seinen Sessel näher herangezogen. „Wenn wir schon beim Thema Sterne sind…“ begann er. „Ich habe auch darüber nachgedacht, und dabei bin ich auf eine wirklich fesselnde Idee
gekommen. Reine Spekulation natürlich, und ich verlange auch gar nicht, daß ihr sie ernstnehmt. Aber man kann ja mal darüber nachden ken. Wollt ihr sie hören?“ „Warum nicht?“ Sheerin lehnte sich zurück. Beenay zögerte ein wenig, lächelte schüchtern und gab sich schließlich einen Ruck: „Nun, dann stellt euch einmal vor, es gäbe im Universum noch andere Sonnen.“ Theremon mußte sich das Lachen verbeißen. „Du hast von reiner Spe kulation gesprochen, aber ich hätte doch nicht erwartet…“ „Nein, so verrückt ist es nun auch wieder nicht. Ich rede nicht von an deren Sonnen in unmittelbarer Nähe, die wir aus irgendeinem geheim nisvollen Grund nicht sehen können. Ich meine Sonnen, die so weit entfernt sind, daß ihr Licht nicht stark genug ist, um uns zu erreichen. Wenn sie uns näher wären, würden sie vielleicht so hell leuchten wie Onos oder wie Tanos und Sitha. So würden sie jedoch nur als kleiner Lichtpunkt erscheinen, und der ginge im ständigen Schein unserer sechs Sonnen einfach unter.“ „Aber was ist mit dem Gravitationsgesetz?“ wandte Sheerin ein. „Hast du das nicht übersehen? Wenn diese anderen Sonnen existierten, würden sie dann nicht wie Kalgash Zwei den Orbit unserer Welt beeinflussen, und warum hättest du dann noch nichts davon bemerkt?“ „Nicht schlecht“, lobte Beenay. „Aber nehmen wir einmal an, diese Sonnen wären wirklich weit entfernt – sagen wir, vier Lichtjahre oder gar noch mehr.“ „Wieviele Jahre entsprechen einem Lichtjahr?“ wollte Theremon wis sen. „Nicht wie viele, sondern wie weit. Ein Lichtjahr ist ein Maß für die Entfernung – die Strecke, die das Licht in einem Jahr zurücklegt. Das sind unglaublich viele Meilen, weil das Licht sich so schnell bewegt. Wir haben etwa 185.000 Meilen pro Stunde gemessen, und ich habe den Verdacht, daß der Wert nicht allzu genau ist. Mit besseren Instrumenten kämen wir wahrscheinlich auf eine noch etwas höhere Zahl. Aber selbst wenn wir diese 185.000 Meilen zugrunde legen, läßt sich errechnen, daß Onos etwa zehn Lichtminuten von hier entfernt ist, Tano und Sitha etwa elfmal so viel und so weiter. Eine Sonne, die einige Lichtjahre entfernt ist, wäre also wirklich sehr weit weg. Und irgendwelche Einflüsse auf den Orbit von Kalgash könnten wir nicht feststellen, weil sie einfach zu gering wären. Schön, nehmen wir an, da draußen gäbe es eine ganze Menge solcher Sonnen, überall am Himmel, in einer Entfernung von vier bis acht Lichtjahren – ein oder zwei Dutzend vielleicht.“ Theremon stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Das wäre ein Thema für einen großen Artikel in der Wochenendbeilage! Zwei Dutzend Son nen in einem Universum mit einem Durchmesser von acht Lichtjahren!
Bei allen Göttern! Dagegen würde unser Universum ja zu einem Nichts zusammenschrumpfen! Stellt euch das mal vor – Kalgash und seine Sonnen wären nur ein unbedeutender, kleiner Ausläufer des echten Uni versums, und wir hätten die ganze Zeit geglaubt, wir seien das Ganze, wir seien mit unseren sechs Sonnen allein im Kosmos!“ „Es ist ja nur eine verrückte Idee“, erklärte Beenay grinsend. „Aber ihr versteht hoffentlich, worauf ich hinaus will. Während einer Sonnenfins ternis würden diese zwei Dutzend Sonnen plötzlich sichtbar, weil es eine Weile kein echtes Sonnenlicht gäbe, das sie überstrahlt. Wegen der großen Entfernung wären sie ganz klein, wie ein Haufen Murmeln, aber da hättet ihr eure Sterne: Plötzlich auftauchende Lichtpunkte, wie die Apostel sie uns verheißen haben.“ „Die Aposteln sprechen aber von ‚Sternen in endloser Zahl’“, gab Sheerin zu bedenken. „Für mich hört sich das nicht nach ein oder zwei Dutzend an, sondern eher nach ein paar Millionen, meint ihr nicht auch?“ „Dichterische Freiheit“, behauptete Beenay. „Für eine Million Sonnen wäre im Universum einfach nicht genug Platz – nicht einmal dann, wenn sie dicht an dicht beieinanderstünden.“ „Außerdem“, mischte Theremon sich ein, „könnten wir bei einer Grö ßenordnung von ein oder zwei Dutzend denn noch genau unterscheiden? Ich möchte wetten, daß zwei Dutzend Sterne uns wie eine ‚endlose Zahl’ vorkämen – besonders, wenn gleichzeitig eine Sonnenfinsternis stattfände und wir schon allein wegen der Dunkelheit ganz wirr im Kopf wären. In der tiefsten Provinz gibt es Stämme, die nur drei Zahlworte kennen – ‚eins’, ‚zwei’, ‚viele’. Etwas mehr differenzieren wir vielleicht schon. Für uns sind ein oder zwei Dutzend noch eine überschaubare Größe, doch ab dann erscheint uns alles ‚endlos’.“ Er zitterte vor Erre gung. „Ein Dutzend Sonnen auf einen Schlag! Stellt euch das vor!“ „Das ist noch nicht alles“, ergriff Beenay wieder das Wort. „Ich habe noch so eine nette, kleine Idee auf Lager. Habt ihr euch jemals überlegt, wie einfach die Sache mit der Gravitation zu lösen wäre, wenn man nur ein hinreichend einfaches System hätte? Stellen wir uns ein Universum mit nur einem Planeten und nur einer Sonne vor. Der Planet würde in einer vollkommenen Ellipse um die Sonne wandern, und das Wesen der Schwerkraft läge so offen zutage, daß man sie einfach als Axiom be trachten könnte. Auf einer solchen Welt bräuchten die Astronomen wahrscheinlich nicht einmal das Teleskop zu erfinden, um hinter das Geheimnis der Schwerkraft zu kommen. Die Beobachtung mit bloßem Auge würde genügen.“ Sheerin war skeptisch. „Wäre ein solches System denn dynamisch sta bil?“ fragte er.
„Aber sicher! Man spricht vom Eins-zu-Eins-Fall. Er wurde auch schon mathematisch dargestellt, aber mich interessieren eher die philo sophischen Folgerungen.“ „Die Vorstellung ist ganz reizvoll“, gab Sheerin zu, „eine hübsche Abstraktion – wie das ideale Gas oder der absolute Nullpunkt.“ „Natürlich“, fuhr Beenay fort, „hat die Sache einen Haken, nämlich den, daß auf einem solchen Planeten kein Leben möglich wäre. Er be käme nicht genug Licht und Wärme, und wenn er sich um seine Achse drehte, läge er für eine Hälfte jedes Tages völlig im Dunkeln. Weißt du noch, Sheerin, wie du mich einmal gebeten hast, mir einen solchen Pla neten vorzustellen? Eine Welt, deren Bewohner sich vollkommen an den Wechsel zwischen Tag und Nacht angepaßt hätten? Ich habe dar über nachgedacht. Es gäbe keine Bewohner. Du kannst nicht erwarten, daß sich das Leben – das schließlich absolut auf Licht angewiesen ist – unter so extremem Lichtmangel entwickelt. Die Hälfte jeder Umdre hung im Dunkeln? Nein, unter diesen Bedingungen könnte nichts exis tieren. Aber um fortzufahren – unser Eins-zu-Eins-System würde, ganz hypothetisch gesprochen…“ „Moment mal“, unterbrach Sheerin. „Du behauptest einfach, dort hätte sich kein Leben entwickelt. Woher willst du das denn wissen? Wieso soll es grundsätzlich unmöglich sein, daß sich auf einer Welt, wo die Hälfte der Zeit Dunkelheit herrscht, Leben entwickelt?“ „Wie gesagt, Sheerin, das Leben ist absolut auf Licht angewiesen. Und deshalb wäre in einer Welt, wo…“ „Hier ist das Leben absolut auf Licht angewiesen. Aber was hat das mit einem Planeten zu tun, der…“ „Es ist logisch, Sheerin!“ „Es ist ein Zirkelschluß!“ gab Sheerin zurück. „Du definierst Leben als eine ganz bestimmte, auf Kalgash auftretende Erscheinung, und dann behauptest du, auf einer Welt, die völlig anders ist als Kalgash, wäre…“ Plötzlich brach Theremon in heiseres Gelächter aus. Sheerin und Beenay sahen ihn entrüstet an. „Was erheitert dich so?“ fragte Beenay. „Ihr beide. Ein Astronom und ein Psychologe, die sich bis aufs Messer über Biologie streiten. Das muß der vielgepriesene fachübergreifende Dialog sein, von dem ich schon so viel gehört habe, der intellektuelle Gärungsprozeß, für den diese Universität so berühmt ist.“ Der Reporter stand auf. Er war schon seit einiger Zeit immer unruhiger geworden, und Beenays langatmiger Diskurs über abstrakte Themen steigerte seine Nervosität noch. „Entschuldigt ihr mich bitte? Ich muß mir die Beine vertreten.“
„Bis zur Totalität dauert es nicht mehr lange“, gab Beenay zu beden ken. „Wenn es so weit ist, solltest du vielleicht nicht unbedingt allein sein.“ „Ich mache nur einen kleinen Spaziergang, dann komme ich wieder“, versprach Theremon. Er hatte noch keine fünf Schritte gemacht, als Beenay und Sheerin be reits wieder in ihre Diskussion vertieft waren. Theremon lächelte. Auch das war ein Weg, die enorme Spannung abzubauen, unter der sie alle standen. Schließlich rückte die Welt mit jedem Ticken der Uhr näher an die Nacht heran… näher an… Die Sterne? Den Wahnsinn? Die Zeit des Himmlischen Feuers? Theremon zuckte die Achseln. Seine Stimmung hatte in den letzten Stunden vielleicht hundert Mal umgeschlagen, aber jetzt war er merk würdig ruhig, fast fatalistisch. Er hatte immer geglaubt, sein Schicksal beherrschen, den Kurs seines Lebens selbst bestimmen zu können; mit dieser Einstellung hatte er Dinge erreicht, an die andere Journalisten gar nicht zu denken wagten. Doch nun hatte er nichts mehr unter Kontrolle, und das wußte er. Dunkelheit, Sterne, Feuer, das alles würde eintreten, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen. Deshalb hatte es auch keinen Sinn, sich schon vorher vor Angst verrückt zu machen. Entspanne dich, lehn dich zurück und warte ab, was passiert. Und dann, schärfte er sich ein – dann sieh zu, daß du die nachfolgen den Wirren heil überstehst. „Wollten Sie zur Kuppel hinauf?“ fragte eine Stimme. Blinzelnd spähte er ins Halbdunkel. Der pausbäckige, kleine Astrono miestudent – hieß er nicht Faro? „Ja, das hatte ich vor“, bestätigte Theremon, obwohl er eigentlich gar kein bestimmtes Ziel gehabt hatte. „Ich auch. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.“ Eine eiserne Wendeltreppe führte ins oberste Stockwerk des riesigen Gebäudes. Faro stapfte mit seinen kurzen Beinen geräuschvoll die Stu fen hinauf, und Theremon folgte ihm mit langen Schritten. Vor Jahren, als Beenay ihm etwas zeigen wollte, war er schon einmal in der Kuppel gewesen, aber er hatte kaum mehr eine Erinnerung daran. Faro zog eine schwere Schiebetür auf, und sie traten ein. „Willst du die Sterne ganz genau sehen?“ fragte Siferra. Die Archäologin stand gleich hinter der Tür und beobachtete die Ast ronomen bei ihrer Arbeit. Theremon wurde rot. Gerade Siferra hatte er jetzt nicht über den Weg laufen wollen. Zu spät fiel ihm ein, daß Beenay erzählt hatte, sie sei hier oben. Trotz des zweideutigen Lächelns, das sie ihm zu Beginn der Verfinsterung zugeworfen hatte, fürchtete er noch
immer den Stachel ihrer Verachtung, ihren Zorn über seinen – zumin dest aus ihrer Sicht – Verrat an der Gruppe aus dem Observatorium. Aber sie ließ sich keinerlei Groll anmerken. Vielleicht dachte sie, in diesem Moment, wo die Welt kopfüber in die Höhle der Finsternis stür ze, sei alles Frühere unwichtig geworden, und die nahende Katastrophe lösche alle Fehler, alle Streitigkeiten, alle Sünden aus. „Beeindruckend!“ sagte Theremon. „Nicht wahr? Leider verstehe ich nicht viel davon. Das große So larskop ist auf Dovim gerichtet – wie man mir sagte, ist es eigentlich weniger ein Fernglas, als eine Kamera; man guckt nicht einfach durch, um den Himmel zu sehen – und die kleineren Teleskope zeigen in die Tiefen des Alls und warten auf das Erscheinen der Sterne.“ „Hat man sie denn schon entdeckt?“ „Soviel ich weiß, nein“, antwortete Siferra. Theremon nickte und sah sich um. Dies war das Herz des Observatori ums, hier wurde tatsächlich Himmelsbeobachtung betrieben. In einem so düsteren Raum war er noch nie gewesen – dabei war es gar nicht wirklich dunkel; an der Wand des Gewölbes brannten zwei Reihen von Bronzeleuchten, aber sie verbreiteten nur einen matten, diffusen Schein. Theremon erblickte in ihrem schwachen Licht ein mächtiges Metallrohr, das durch eine geöffnete Klappe im Dach des Gebäudes verschwand. Durch die Klappe konnte er auch den Himmel sehen, der einen erschre ckend satten, violetten Farbton angenommen hatte. Dovims immer wei ter schwindende Scheibe war noch sichtbar, doch schien sich die kleine Sonne in unendliche Fernen zurückgezogen zu haben. „Es sieht alles ganz anders aus“, murmelte er. „Einen Himmel von sol cher Beschaffenheit habe ich noch nie erlebt. Er wirkt geradezu grob – fast wie eine Decke.“ „Eine Decke, die uns alle ersticken wird.“ „Angst?“ fragte er. „Natürlich. Du nicht?“ „Ja und nein“, gab Theremon zur Antwort. „Versteh mich recht, ich will mich wirklich nicht als Held aufspielen, aber ich bin bei weitem nicht mehr so aufgeregt wie noch vor ein, zwei Stunden. Eher irgendwie benommen.“ „Ich glaube, ich weiß, was du meinst.“ „Athor sagt, in der Stadt ist es bereits zu Unruhen gekommen.“ „Das ist erst der Anfang“, erwiderte sie. „Theremon, mir will diese Asche nicht aus dem Kopf. Die Asche im Hügel von Thombo. Die gro ßen Steinblöcke, die Grundmauern der Zyklopenstadt – und unten alles voll Asche.“ „Und darunter ältere Asche, und so weiter bis auf den Grund.“ „Ja.“
Er bemerkte, daß sie etwas näher an ihn herangerückt war. Die Feind seligkeit, die ihm in den letzten Monaten entgegengeschlagen hatte, schien ganz verschwunden zu sein. Ja – war es möglich? –, er hatte so gar den Eindruck, als fühle sie sich, ganz schwach noch, so wie früher zu ihm hingezogen. Er kannte die Symptome. Er hatte sie oft genug erlebt. Wie schön, dachte Theremon. Jetzt, wo die Welt dem Untergang ent gegentreibt, ist Siferra plötzlich bereit, ihren Eispanzer abzulegen. Eine schlaksige, unheimlich lange Gestalt hampelte mit unbeholfenen Bewegungen an ihnen vorbei und grüßte mit albernem Kichern. „Noch keine Spur von den Sternen“, sagte der Mann. Es war Yimot, der zweite Student. „Vielleicht bekommen wir sie gar nicht zu sehen, und alles verläuft im Sande wie unser Experiment in dem verdunkelten Gebäude.“ „Von Dovim ist noch ein großer Teil sichtbar“, wandte Theremon ein. „Es ist noch längst nicht völlig dunkel.“ „Du scheinst es gar nicht mehr erwarten zu können“, bemerkte Siferra. Er wandte sich ihr zu. „Das Warten ist das schlimmste.“ „He!“ rief jemand. „Mein Computer ist abgestürzt!“ „Das Licht!“ ließ sich eine zweite Stimme vernehmen. „Was ist los?“ fragte Siferra. „Stromausfall“, konstatierte Theremon. „Genau wie Sheerin es vor ausgesagt hat. Im Kraftwerk gibt es offenbar Schwierigkeiten. In der Stadt läuft die erste Welle von Irren Amok.“ Tatsächlich drohten die matten Birnen in den Wandleuchten zu erlö schen. Zuerst wurden sie sehr viel heller, als sei eine letzte Welle von Energie durch die Drähte geschossen, dann schwächten sie sich ab, fla ckerten noch einmal auf, aber nicht mehr so stark wie zuvor, und gaben schließlich nur noch einen Bruchteil der normalen Lichtmenge ab. The remon spürte, wie Siferra seinen Arm umklammerte. „Jetzt sind sie ganz aus“, sagte jemand. „Die Computer auch – kann jemand das Notaggregat zuschalten? He! Notstrom!“ „Schnell! Das Solarskop zeichnet nicht auf! Der Kameraverschluß funktioniert nicht mehr!“ „Warum hat man denn dafür nicht vorgesorgt?“ fragte Theremon. Aber man hatte offenbar doch. In den Tiefen des Gebäudes setzte ein dumpfes Rattern ein, und allmählich erwachten die überall im Raum verstreuten Computermonitore wieder zum Leben. Nicht jedoch die Wandlampen. Sie hingen wohl an einem anderen Stromkreis, und der Notstromgenerator im Keller konnte sie nicht wieder zum Brennen bringen. Das Observatorium lag praktisch im Dunkeln.
Siferra umfaßte immer noch Theremons Handgelenk. Er überlegte, ob er ihr tröstend den Arm um die Schultern legen sollte. Auf einmal ertönte Athors Stimme. „Hallo, kann hier jemand mit an fassen? Wir sind gleich so weit.“ „Was ist denn?“ fragte Theremon. „Athor bringt Licht“, erklärte Yimot. Theremon drehte sich erstaunt um. Zuerst konnte er kaum etwas er kennen, aber bald hatten sich seine Augen den schlechten Lichtverhält nissen angepaßt. Athor hielt ein halbes Dutzend Stäbe von einem Zoll Dicke und einem Fuß Länge in den Armen und sah seine Leute unge duldig an. „Faro! Yimot! Helfen Sie mir.“ Die jungen Männer eilten auf ihn zu und nahmen ihm die Last ab. Es war totenstill, als Yimot einen Stab nach dem anderen in die Höhe hielt und Faro, so feierlich, als zelebriere er ein heiliges Ritual, ein langes, klobiges Streichholz anriß und mit dem zischenden Flämmchen das obere Ende berührte. Der kleine Lichtpunkt verharrte kurz, zuckte spie lerisch um die Spitze, bis diese sich mit jähem Prasseln entzündete und Athors zerfurchtes Gesicht in eine gelbe Lichtflut tauchte. Spontaner Jubel brandete auf. Über dem Stabende züngelte eine sechs Zoll lange Flamme! „Feuer?“ staunte Theremon. „Hier drin? Warum nehmen wir nicht Gottesaugen oder so etwas?“ „Wir haben daran gedacht“, sagte Siferra. „Aber die Gottesaugen sind nicht stark genug. Für ein kleines Schlafzimmer, als winzige, tröstliche Lichtquelle zur Überbrückung der Schlafperiode reichen sie völlig aus, aber für einen Raum dieser Größe…“ „Und unten? Zündet man da etwa auch Fackeln an?“ „Ich glaube schon.“ Theremon schüttelte den Kopf. „Kein Wunder, daß die Stadt heute a bend noch abbrennen soll. Wenn sogar Leute wie ihr sich eines so pri mitiven Mittels bedienen, um die Dunkelheit abzuwehren…“ Die Fackeln leuchteten schwach, schwächer als selbst das matteste Sonnenlicht. Die zuckenden Flammen warfen Schatten, die wie trunken schwankten. Außerdem qualmten sie höllisch und verbreiteten einen Geruch nach Angebranntem. Aber sie spendeten gelbes Licht. Irgendwie gab einem gelbes Licht wieder Auftrieb, dachte Theremon. Besonders, wenn man seit vier Stunden nur die düstere, immer weiter schrumpfende Dovim am Himmel stehen sah. Siferra wärmte sich die Hände an einer Fackel, ohne sich um den Ruß zu kümmern, der sich als feiner, grauer Staub an ihre Haut heftete, und murmelte verzückt vor sich hin: „Herrlich! Herrlich! Jetzt weiß ich erst, was Gelb für eine wunderbare Farbe ist.“
Theremon konnte sich dagegen nicht mit den ranzig riechenden Fa ckeln anfreunden und fragte naserümpfend: „Woraus sind die Dinger denn gemacht?“ „Aus Holz“, antwortete Siferra. „O nein. Sie brennen nämlich gar nicht selbst. Nur die Spitze ist ein wenig angekohlt, und die Flamme steigt einfach aus dem Nichts auf.“ „Das ist ja das Raffinierte. Diese Fackeln sind funktionsfähige, künst liche Beleuchtungskörper. Wir haben ein paar hundert davon hergestellt, aber die meisten befinden sich natürlich im Schutzbunker. Schau“ – sie drehte sich um und wischte sich die verrußten Hände ab –, „man nimmt das pechähnliche Mark eines dicken Schilfrohrs, trocknet es gründlich und tränkt es in tierischem Fett. Wenn man es dann anzündet, verbrennt das Fett nach und nach. Die Fackeln haben eine Brenndauer von fast einer halben Stunde. Genial, was?“ „Großartig“, knurrte Theremon. „Sehr modern. Ich bin beeindruckt.“ Er hielt es in diesem Raum nicht länger aus. Die Rastlosigkeit, die ihn heraufgetrieben hatte, machte sich abermals bemerkbar. Der Gestank der Fackeln wäre schon schlimm genug gewesen, aber durch die offene Klappe in der Kuppel drang auch noch kalte Luft herein, ein frostiger Winterhauch, der Eisfinger der Nacht. Theremon fröstelte und wünschte sich, Sheerin und Beenay hätten die Flasche miserablen Wein nicht ganz so schnell ausgetrunken. „Ich gehe wieder nach unten“, sagte er zu Siferra. „Für astronomische Laien gibt es hier nichts zu sehen.“ „Schön. Ich komme mit.“ Im flackernden, gelben Licht sah er ein Lächeln in ihr Gesicht treten, unverkennbar diesmal, und ohne jede Zweideutigkeit.
Kapitel 27 Klappernd stiegen sie die Wendeltreppe hinab und betraten den unte ren Raum. Hier hatte sich nicht viel verändert, außer, daß man ebenfalls Fackeln entzündet hatte. Beenay wertete an drei Computern zugleich die Daten aus, die von den Teleskopen in der Kuppel eingespeist wurden. Überall waren Astronomen mit Dingen beschäftigt, von denen There mon nicht das mindeste verstand. Dazwischen irrte mutterseelenallein Sheerin herum. Folimun hatte seinen Stuhl direkt unter eine Fackel ge stellt, las in seinem Buch und beschwor mit stummen Lippenbewegun gen die Sterne. Theremon schossen Beschreibungen durch den Kopf, Formulierungen für den Artikel, der in der morgigen Ausgabe des Saro City Chronicle hätte erscheinen sollen. Die Schreibmaschine in seinem Kopf war an diesem Abend schon mehrmals auf diese Art losgerattert – ein voll
kommen systematischer, vollkommen verläßlicher und, wie ihm nur zu klar bewußt war, ein vollkommen sinnloser Vorgang. Es war absurd, sich einzubilden, daß es morgen noch eine Ausgabe des Chronicle ge ben würde. Er wechselte einen Blick mit Siferra. „Der Himmel“, murmelte sie. „Ja, ich hab’s gesehen.“ Die Farbe hatte sich abermals verändert und war noch dunkler gewor den, ein erschreckend tiefes, abstoßendes Purpur, als sprudelten Ströme von Blut aus einer riesigen Wunde im Fleisch des Himmels. Die Luft schien sich verdichtet zu haben. Wie eine zähe Masse kroch die Dämmerung in den Raum, und vor dem wabernden Grau traten die zuckenden, gelben Lichtkreise um die Fackeln noch schärfer hervor. Es roch ebenso erstickend nach Rauch wie oben. Theremon empfand sogar das leise Knistern, mit dem die Fackeln abbrannten, und die leise tap penden Schritte des schwergewichtigen Sheerin, der unablässig den Tisch in der Mitte des Raums umkreiste, als störend. Trotz der Fackeln wurde die Sicht immer schlechter. Das ist also der Anfang, dachte Theremon. Erst die völlige Dunkelheit – und dann die Sterne. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, einen behaglichen Schrank zu suchen und sich darin einzuschließen, bis alles vorüber war. Bleib den ändern aus dem Weg, vermeide den Anblick der Sterne, mach dich ganz klein und warte ab, bis die Welt wieder in Ordnung kommt. Doch schon nach kurzem Überlegen erkannte er, wie wenig ratsam das war. Ein Schrank wäre – wie jeder geschlossene Raum – ebenfalls dun kel. Aus der behaglichen Zuflucht könnte ein Gefängnis werden, weit grauenhafter noch als die Räume des Observatoriums. Überdies wollte Theremon nicht in einem Winkel hocken und sich die Augen zuhalten, während draußen etwas geschah, das die Geschichte der ganzen Welt veränderte. Das wäre feige und töricht, und hinterher würde er es bis an sein Lebensende bereuen. Er war noch nie einer Ge fahr aus dem Wege gegangen, wenn er glaubte, sie biete Stoff für einen Artikel, und er besaß so viel Selbstbewußtsein, daß er sich zutraute, alles ertragen zu können, was vielleicht noch kam. Und schließlich hatte er sich genügend Skepsis bewahrt, um zumindest in einem Winkel sei nes Bewußtseins zu bezweifeln, daß überhaupt etwas von solcher Trag weite geschehen würde. So stand er ganz still und lauschte auf Siferras Atemzüge, das hastige, leise Hecheln eines Menschen, der sich bemühte, in einer nur allzu schnell in die Schatten zurückweichenden Welt die Fassung zu bewah ren.
Dann vernahm er einen neuen Laut, eigentlich nicht mehr als die ver schwommene, unbestimmte Andeutung eines Lautes. Er hätte ihn viel leicht gar nicht wahrgenommen, wäre es um ihn herum nicht totenstill gewesen, und hätte er nicht mit so unnatürlich geschärften Sinnen auf den Augenblick der Totalität gewartet. Der Journalist erstarrte und lauschte mit angehaltenem Atem. Gleich darauf schlich er ans Fenster und spähte hinaus. Sein entsetzter Aufschrei zerriß die Stille: „Sheerin!“ Der ganze Raum geriet in Aufruhr. Alle sahen ihn an, deuteten mit dem Finger auf ihn, stellten Fragen. Der Psychologe war sofort an seiner Seite, dicht gefolgt von Siferra. Sogar Beenay, der wie angewurzelt vor seinen Computern hockte, drehte sich um. Von Dovim war nur noch ein glimmender Splitter übrig, der einen letzten, verzweifelten Blick auf Kalgash warf. Im Osten, in Richtung auf die Stadt, hatte die Nacht bereits den Horizont verschlungen, und die Straße zwischen Saro City und dem Observatorium war nur noch als mattrote Linie zu erkennen. In den zu beiden Seiten an die Fahrbahn angrenzenden Waldgebieten ließen sich einzelne Bäume nicht mehr unterscheiden, sie waren zu einer einheitlichen, schattenhaften Masse verschmolzen. Theremons Aufmerksamkeit richtete sich jedoch auf die Straße selbst, denn hier wälzte sich eine zweite, unendlich bedrohliche, schattenhafte Masse daher und schickte sich wie ein seltsam träges Untier an, den Abhang des Observatoriumshügels zu erklimmen. „Seht doch nur“, krächzte Theremon. „Jemand muß Athor Bescheid sagen! Die Wahnsinnigen aus der Stadt! Folimuns Leute! Sie kommen!“ „Wie lange noch bis zur Totalität?“ fragte Sheerin. „Fünfzehn Minuten“, schnarrte Beenay. „Aber sie werden in fünf Mi nuten hier sein.“ „Ruhig Blut, alles wieder an die Arbeit“, befahl Sheerin. Seine Stimme klang ruhig, beherrscht, unerwartet gebieterisch, als fließe ihm in die sem kritischen Moment aus einer verborgenen Quelle neue Kraft zu. „Wir werden sie aufhalten. Das Observatorium ist wie eine Festung. Siferra, Sie gehen hinauf und sagen Athor Bescheid. Beenay, du behältst Folimun im Auge. Schlag ihn nieder und setz dich auf ihn, wenn es sein muß, aber laß ihn nicht entkommen. Theremon, Sie begleiten mich.“ Damit trat Sheerin, dicht gefolgt von Theremon, aus der Tür. Unter ih nen schlängelte sich die Treppe in engen Windungen durch den zentra len Schacht und verschwand in der feuchtkalten, trostlosen Finsternis. Der erste Schwung hatte sie so weit hinabgetragen, daß das gelbe, fla ckernde Rechteck der geöffneten Tür nicht mehr zu sehen war und von oben wie von unten schattenhaftes Halbdunkel auf sie eindrängte.
Sheerin blieb stehen und griff sich mit seiner feisten Hand an die Brust. Die Augen traten ihm aus den Höhlen, seiner Kehle entrang sich ein heiseres Keuchen. Er zitterte am ganzen Körper. Die Quelle, die ihm eben noch Energie gespendet hatte, war versiegt. „Ich bekomme… keine Luft… Sie… müssen allein… weiter. Sorgen Sie dafür, daß alle Türen geschlossen…“ Theremon stieg noch ein paar Stufen hinunter, dann drehte er sich um. „Warten Sie! Können Sie noch einen Moment durchhalten?“ Auch er atmete keuchend. Die Luft strömte zäh wie Sirup durch seine Lungen, und bei dem Gedanken, allein weitergehen zu müssen, züngelte in ei nem Winkel seines Bewußtseins ein winziges Flämmchen wilder Panik auf. Wenn die Wachen nun das Haupttor offengelassen hätten? Dabei fürchtete er weniger den Pöbel als… Die Dunkelheit. Er, Theremon, hatte also doch Angst vor der Dunkelheit! „Bleiben Sie, wo Sie sind“, befahl er ganz unnötigerweise, denn Shee rin hockte immer noch wie ein Häufchen Elend auf derselben Treppen stufe, auf der er ihn zurückgelassen hatte. „Ich bin gleich wieder da.“ Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er die Treppe wieder hinauf. Sein Herz raste – nicht nur vor Anstrengung – als er in den Hauptraum stolperte und eine Fackel aus dem Halter zerrte. Siferra starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Soll ich mitkommen?“ fragte sie. „Ja. Nein. Nein!“ Er rannte wieder hinaus. Die Fackel stank entsetzlich, und der beißen de Qualm trieb ihm die Tränen in die Augen, aber er umklammerte sie, als sei sie ihm das Liebste auf der Welt. Die Flamme wurde nach hinten gedrückt, als er abermals die Stufen hinabhetzte. Sheerin hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Als Theremon sich über ihn beugte, schlug er stöhnend die Augen auf. Der Journalist schüttelte ihn unsanft. „Los jetzt, reißen Sie sich zusammen. Wir haben Licht!“ Er hielt die Fackel hoch über sich, faßte den zitternden Psychologen unter und stieg im Schutz des flackernden Lichtkreises mit ihm die Treppe hinab. Unten war alles schwarz. Wieder fühlte Theremon das Grauen in sich aufsteigen, doch die Fackel bahnte ihm einen Weg durch die Finsternis. „Die Sicherheitskräfte…“ begann Sheerin. Ja, wo waren sie? Waren sie etwa geflohen? Es sah ganz danach aus. Nein, da standen zwei der von Athor abkommandierten Männer dicht aneinandergedrängt und wie Espenlaub zitternd in einer Ecke des Korri dors und starrten mit blöde heraushängender Zunge stumpf ins Leere. Von den anderen war weit und breit nichts zu sehen.
„Da“, sagte Theremon schroff und reichte Sheerin die Fackel. „Man hört sie schon.“ Und so war es. Von draußen drangen heisere, unartikulierte Schreie herein. Aber Sheerin hatte recht: das Observatorium war wie eine Festung. Es stammte noch aus dem vorigen Jahrhundert, aus der Blütezeit des häßli chen, neo-gavottischen Baustils, aus einer Epoche, in der man mehr Wert auf Stabilität und Beständigkeit gelegt hatte denn auf Schönheit. Die Fenster wurden von zolldicken, tief in die Betonwände eingelas senen Eisengittern geschützt. Die soliden Steinmauern hätten sogar ei nem Erdbeben standgehalten, und das Haupttor war eine riesige Eichen platte mit Eisenstreben an den entscheidenden Stellen. Theremon kon trollierte die Riegel. Sie saßen noch fest. „Zumindest können sie nicht so ohne weiteres hereinspazieren wie Fo limun“, keuchte er. „Aber hören Sie nur! Sie sind schon ganz nahe!“ „Wir müssen etwas tun!“ „Verdammt richtig“, sagte Theremon. „Stehen Sie nicht herum! Hel fen Sie mir lieber, die Schaukästen vor die Tür zu rücken – und halten Sie mir die Fackel nicht so dicht vor die Nase. Der Qualm bringt mich noch um.“ Die Kästen enthielten Bücher und alle möglichen wissenschaftlichen Geräte, ein ganzes Museum der Astronomie. Wie schwer sie waren, wußten die Götter, aber irgendeine höhere Macht verlieh Theremon in dieser Krise übernatürliche Kräfte, und er schob und zerrte sie – mit mehr oder weniger Unterstützung von Sheerin – an die gewünschte Stel le, als hätten sie kein Gewicht. Die kleinen Teleskope und sonstigen Instrumente im Innern fielen durcheinander, und man hörte Glas split tern. Dafür bringt Beenay mich um, dachte Theremon. Er hängt mit allen Fasern seiner Seele an diesem Plunder. Doch für solche Zimperlichkeiten war jetzt keine Zeit. Kasten um Kasten schob er vor die Tür, und in wenigen Minuten hatte er eine Barrikade errichtet, die dem Pöbel hoffentlich den Weg versper ren würde, falls es ihm gelingen sollte, das Tor aufzubrechen. Ganz schwach hörte er, wie irgendwo in weiter Ferne mit nackten Fäusten gegen Holz gehämmert wurde. Schrille Schreie… wütendes Kreischen… Es war wie in einem schrecklichen Traum. Getrieben von ihrem verzweifelten Wunsch nach Rettung, nach jener Art von Erlösung, wie sie ihnen die Apostel des Feuers nun um den Preis der Zerstörung des Observatoriums verhießen, hatten die Men schen Saro City verlassen. Doch angesichts der näherrückenden Dun kelheit hatte die wahnsinnige Panik ihren Verstand nahezu ausgeschal
tet. Sie hatten sich nicht die Zeit genommen, an Fahrzeuge zu denken, an Waffen, an Führung oder gar an Organisation. Zu Fuß waren sie zum Observatorium gestürmt, um es mit bloßen Händen anzugreifen. Und Dovims letzte Strahlen, der letzte, rubinrote Schimmer Sonnen licht, flackerte matt über eine Menschheit, der nichts mehr geblieben war als die nackte, alles verschlingende Angst. „Wir können wieder hinaufgehen“, stöhnte Theremon. Der Raum, in dem sich zuvor alles abgespielt hatte, war leer. Die an deren hatten sich ganz nach oben in die Kuppel zurückgezogen. Hier herrschte eine unheimliche Ruhe, das fiel Theremon als erstes auf, als er durch die Tür stürmte. Er stand wie vor einem lebenden Bild. Yimot saß auf dem kleinen, nach hinten federnden Sitz vor der Steuerkonsole des gigantischen Solarskops, als sei er wie an jedem Abend mit routinemä ßigen, astronomischen Beobachtungen beschäftigt. Die anderen dräng ten sich um die kleineren Teleskope, und Beenay gab mit heiserer, gepreßter Stimme Anweisungen. „Bitte alles herhören. Wir müssen von Dovim unmittelbar vor der To talität noch einmal eine Aufnahme machen und danach die Platte wech seln. Du hier – und du – ihr geht jeder an eine Kamera. Wir brauchen so viel Material wie nur irgend möglich. Ihr wißt Bescheid – über die Be lichtungszeiten…“ Atemloses, zustimmendes Gemurmel. Beenay fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Brennen die Fackeln eigentlich noch? Schon gut. Ich sehe sie!“ Er stützte sich schwer auf die Rückenlehne eines Stuhls. „Und denkt daran – keine ausgefallenen Tricks. Wenn die Sterne erscheinen, vergeudet keine Zeit damit, zwei davon gleichzeitig ins Visier zu bekommen. Und… wenn ihr merkt, daß ihr nicht mehr könnt, sofort weg von den Kameras.“ An der Tür flüsterte Sheerin: „Theremon, bringen Sie mich zu Athor. Ich sehe ihn nirgends.“ Der Journalist antwortete nicht sofort. Undeutlich wie verschwomme ne Silhouetten sah er die Astronomen hin und her schwanken, die Fa ckeln hoch oben an der Wand waren zu gelben Punkten zusammenge schrumpft. Im Raum war es eiskalt. Er spürte, wie Siferras Hand die seine streifte – einen Moment nur –, und dann konnte er sie nicht mehr sehen. „Es ist so dunkel“, wimmerte er. Sheerin streckte beide Hände aus. „Athor!“ Er taumelte vorwärts. „A thor!“ Theremon trat hinter ihn und faßte seinen Arm. „Warten Sie. Ich führe Sie.“ Irgendwie gelangten sie durch den Raum. Er schloß die Augen vor der Dunkelheit und bemühte sich, auch das Chaos auszuschließen, das langsam sein Bewußtsein zu überschwemmen drohte.
Niemand hörte sie, niemand achtete auf sie. Sheerin stieß gegen die Wand. „Athor!“ „Sind Sie das, Sheerin?“ „Ja. Ja. Athor?“ „Was ist los, Sheerin?“ Athors Stimme, ganz unverkennbar. „Ich wollte Ihnen nur sagen – machen Sie sich keine Sorgen wegen des Pöbels – das Tor ist stark genug, um ihm standzuhalten…“ „Ja. Natürlich“, murmelte Athor. Es klang, dachte Theremon, als sei er meilenweit entfernt. Lichtjahre entfernt. Auf einmal stand eine neue Gestalt zwischen ihnen, schnelle Bewe gungen, wild fuchtelnde Arme. Zuerst dachte Theremon, es sei Yimot oder gar Beenay, doch dann berührte er den rauhen Stoff einer Kul tistenkutte und wußte, daß er Folimun vor sich hatte. „Die Sterne!“ schrie der Apostel. „Da sind die Sterne! Aus dem Weg!“ Er will zu Beenay, wurde Theremon plötzlich klar. Um die gottesläs terlichen Kameras zu zerstören. „Nehmt euch in acht!“ rief der Journalist. Aber Beenay kauerte immer noch vor den Computern, mit denen die Kameras gesteuert wurden, und fotografierte, was das Zeug hielt, während sich schwärzeste Nacht auf die Welt herabsenkte. Theremon tastete um sich, bekam Folimuns Kutte zu fassen, und riß mit aller Kraft daran. Plötzlich legten sich Finger um seine Kehle. Er taumelte. Ringsum nichts als Schatten, nicht einmal der Boden unter seinen Füßen bot ihm Halt. Ein Knie wurde ihm in den Unterleib ge rammt, eine Woge von Schmerz schlug über ihm zusammen, er ächzte und wäre fast gestürzt. Doch nach diesem ersten Moment höchster Not fand er seine Kräfte wieder. Er packte Folimun an den Schultern, schaffte es irgendwie, ihn umzudrehen, legte ihm von hinten den Arm um die Kehle. Gleichzeitig ertönte Beenays belegte Stimme: „Ich hab’s! An die Kameras!“ Theremon glaubte, alles auf einmal wahrzunehmen. Die ganze Welt jagte durch seinen schmerzenden Schädel – ein einziges von Entsetzens schreien erfülltes Chaos. Dazwischen machte sich die unglaubliche Erkenntnis breit, daß nun auch noch der letzte, hauchdünne Faden Sonnenlicht gerissen war. Gleichzeitig vernahm er ein letztes, würgendes Keuchen von Folimun, Beenay brüllte los, von Staunen überwältigt, von Sheerin kam ein merkwürdiger, kleiner Aufschrei, ein hysterisches Kichern, das in einem Röcheln endete… Und dann jähe Stille, unheimliche, tödliche Stille, die von draußen hereinkroch.
Folimun war unter seinen Armen erschlafft. Theremon lockerte seinen Griff, ein Blick in die Augen des Apostels zeigte ihm, wie leer sie wa ren. Nur der matte, gelbe Fackelschein spiegelte sich darin. Auf den Lippen des Kultisten stand blasiger Schaum, und aus seiner Kehle drang ein leises, tierisches Wimmern. Ganz im Bann seiner Angst stützte Theremon sich langsam auf einen Arm und wandte den Kopf dem grauenvollen, schwarzen Himmel zu. Durch das Fenster schienen die Sterne. Nicht ein oder zwei Dutzend, wie in Beenays armseliger Theorie. Zu Tausenden standen sie dichtgedrängt, von unglaublicher Leuchtkraft, einer neben dem anderen, wie eine endlose Mauer, wie ein blendender Schild aus schreckenerregendem Licht, der den ganzen Himmel bedeck te. Tausende von mächtigen Sonnen erstrahlten in seelenvernichtender Pracht, und ihre unerbittliche Gleichgültigkeit war erbarmungsloser und beängstigender als der scharfe Wind, der über die kalte, schrecklich öde Welt strich. Sie erschütterten die Wurzeln seines Seins, diese Sterne. Wie Dresch flegel hämmerten sie auf sein Gehirn ein. Ihr schauriges Eislicht ließ ihn erzittern, als würden hunderttausend riesige Messinggongs zugleich angeschlagen. Mein Gott, dachte er. Mein Gott, mein Gott, mein Gott! Aber er vermochte sich nicht loszureißen von dem höllischen Schau spiel. Er blickte hinauf durch die Öffnung in der Kuppel, jeder einzelne Muskel wie im Krampf erstarrt, und betrachtete in hilflosem Staunen und Entsetzen den Zornesschild vor den Weiten des Himmels. Unter dieser anhaltenden Attacke schrumpfte sein Geist zu einem winzigen Eiskristall. Sein Gehirn, nicht größer als eine Murmel, rollte klappernd in der hohlen Schale seines Schädels hin und her. Seine Lungen versag ten den Dienst. Das Blut stockte ihm in den Adern. Endlich konnte er wenigstens die Augen schließen. Lange kniete er da, keuchend, vor sich hinmurmelnd, um Fassung ringend. Schwankend kam er auf die Füße, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er konnte kaum atmen, zuckte und bebte in einem unerträglichen Krampf des Entsetzens und der nackten Angst. Undeutlich spürte er Siferra irgendwo in seiner Nähe, aber er hatte Mühe, sich zu erinnern, wer Siferra eigentlich war. Er wußte ja nicht einmal auf Anhieb, wer er selbst war. Von unten war ein lautes, stetiges Pochen zu hören, da wur de gegen eine Tür geschlagen, ein gräßliches, tausendköpfiges Untier wollte sich Einlaß erzwingen. Es war egal. Alles war jetzt egal. Er verfiel dem Wahnsinn, er wußte es, und irgendwo tief in seinem In nern schrie ein letzter Funke gesunden Menschenverstandes gepeinigt
auf und wehrte sich verzweifelt gegen die heranrollende Flut aus schwarzem Entsetzen, die ihn zu überwältigen drohte. Es war gräßlich, bei vollem Bewußtsein dem Wahnsinn zu verfallen – zu wissen, daß er in einer Minute physisch noch da sein sollte, obwohl dieser schwarze Strom alles hinweggeschwemmt und getötet haben würde, was ihn selbst ausmachte. Denn dies war die Nacht – die Nacht, die Kälte, der Untergang. Die hellen Mauern des Universums waren geborsten, und gräßliche, schwarze Trümmer fielen herab, um ihn zu zermalmen und auszulöschen. Jemand kam auf allen vieren auf ihn zugekrochen und rempelte ihn an. Theremon machte Platz. Er griff sich mit beiden Händen an seine ge marterte Kehle und wankte auf die Fackeln zu, deren Flammen seinen irren Blick wie magisch anzogen. „Licht!“ schrie er. Irgendwo weinte, winselte Athor wie ein zu Tode verängstigtes Kind. „Sterne – so viele Sterne – und wir wußten nichts davon. Wir wußten überhaupt nichts. Wir hielten sechs Sterne für ein Universum, für etwas Großes, die Sterne… nicht bemerkt… Dunkelheit für immer und ewig… die Mauern stürzen ein und wir wußten nicht… wir konnten nicht wis sen…“ Jemand riß an der Fackel, sie fiel zu Boden und erlosch. Mit einem Schlag rückte der schreckliche Glanz der gleichgültigen Sterne noch näher. Von unten waren wilde Schreie zu hören. Dann splitterte Glas. Der außer Rand und Band geratene Pöbel war ins Observatorium eingedrun gen. Theremon sah sich um. Im grausigen Sternenlicht sah er die Wissen schaftler stumm vor Entsetzen umherstolpern. Er tastete sich in den Korridor vor. Durch ein offenes Fenster fuhr ein eisiger Windstoß her ein, und er blieb stehen, hielt das Gesicht in die prickelnde Kälte und lachte. „Theremon?“ rief eine Stimme hinter ihm. „Theremon?“ Er lachte weiter. „Sieh nur“, sagte er nach einer Weile. „Da sind die Sterne. Und dort ist das Feuer.“ Vor dem Fenster, am Horizont in Richtung auf Saro City breitete sich ein roter Schein aus und wurde größer und heller. Es war nicht der Schein einer Sonne. Wieder war die lange Nacht gekommen.
DRITTER TEIL
MORGEN
Kapitel 28 Nachdem Theremon lange Zeit gar nichts wahrgenommen hatte, fiel ihm ein riesiges, gelbes Ding auf, das über ihm am Himmel hing. Es war eine gewaltige, golden lodernde Kugel, und sie strahlte so grell, daß man keine einzige Sekunde lang hineinschauen konnte. Au ßerdem sandte sie in rhythmischen Wellen sengende Hitze aus. Theremon kauerte sich zusammen, zog den Kopf ein, kreuzte die Ar me und bedeckte die Augen mit den Fäusten, um sie vor dieser Lichtflut zu schützen. Was, so fragte er sich, hielt die Kugel wohl dort oben fest? Warum fiel sie nicht einfach herab? Wenn sie herabfällt, dachte er, fällt sie auf mich. Wo kann ich mich verstecken? Wo finde ich Sicherheit? Lange blieb er reglos hocken und wagte kaum zu denken. Dann öffne te er die Augen ganz vorsichtig einen winzigen Spalt. Das riesenhafte, lodernde Ding hing immer noch am Himmel. Es hatte sich keinen Zoll bewegt. Es würde nicht auf ihn herabstürzen. Ihn fröstelte trotz der Hitze. Trockener, beißender Rauchgeruch drang ihm in die Nase. Nicht weit entfernt brannte etwas. Der Himmel, dachte er. Der Himmel brennt. Das goldene Ding steckt die Welt in Brand. Nein. Nein. Für den Rauch gab es einen ganz anderen Grund, und der würde ihm auch gleich wieder einfallen, wenn es ihm nur gelang, den Nebel aus seinem Bewußtsein zu vertreiben. Nicht das goldene Ding hatte die Feuer entzündet. Es war nicht einmal dagewesen, als sie zu brennen begannen. Andere, kalt glitzernde, weiße Punkte, die den Himmel von einem Ende zum anderen überdeckten – sie trugen die Schuld, sie hatten die Flammen geschickt… Wie nannte man sie noch? Sterne. Ja, dachte er. Sterne. Damit kehrte ein kleines bißchen Erinnerung zurück, und erneut über lief ihn ein heftiges, krampfartiges Frösteln. Er entsann sich, wie es gewesen war, als die Sterne herauskamen, als sein Gehirn zu einer har ten Murmel zusammenschrumpfte, seine Lungen sich weigerten, Luft einzusaugen, und seine Seele in abgrundtiefem Entsetzen schrie. Jetzt waren die Sterne verschwunden, doch statt dessen stand das leuchtend goldene Ding am Himmel. Das leuchtend goldene Ding? Onos. So hieß es. Onos, die Sonne. Die Hauptsonne. Eine von – eine von sechs Sonnen. Jawohl. Theremon lächelte. Nach und nach kam alles wieder. Onos gehörte an den Himmel, die Sterne dagegen nicht. Freund lich war diese Sonne Onos, gütig und warm. Und nun war Onos zurück
gekehrt, und deshalb war auch die Welt wieder in Ordnung, auch wenn ein Teil davon in Flammen zu stehen schien. Sechs Sonnen? Wo waren die anderen fünf? Er wußte sogar noch ihre Namen. Dovim, Trey, Patru, Tano und Sitha. Mit Onos zusammen ergab das sechs. Onos sah er ganz deutlich – sie stand direkt über ihm und schien den halben Himmel auszufüllen. Aber wo waren die anderen? Ein wenig zittrig stand er auf. Ganz geheuer war ihm das heiße, goldene Ding da oben noch immer nicht. Würde er es am Ende gar berühren und sich daran verbrennen, wenn er sich zu weit streckte? Nein, nein, das war nicht anzunehmen. Onos war gütig, Onos war freundlich. Er lächelte. Und sah sich um. Sonst keine Sonnen da oben? Da stand eine. Ganz weit weg, ganz klein. Sie machte ihm keine Angst – nicht so wie die Sterne oder wie die heiße Feuerkugel. Diese Sonne war nur ein fröhlicher, weißer Tupfen am Himmel. So klein war sie, daß man sie fast in die Tasche stecken könnte, man müßte sie nur erst errei chen. Trey, dachte er. Das ist Trey. Dann dürfte ihre Schwester Patru nicht weit sein… Ja. Ja, da ist sie. Da, im untersten Himmelswinkel, gleich links von Trey. Natürlich könnte auch das Trey sein, dann wäre Patru die andere. Auf die Namen kommt es nicht an, beruhigte er sich. Es macht nichts, wenn ich sie nicht auseinanderhalten kann. Beide zusammen heißen Trey und Patru. Und die große heißt Onos. Die übrigen drei Sonnen sind im Moment sicher anderswo, weil ich sie nicht sehen kann. Und ich heiße… Theremon. Ja, richtig. Theremon ist mein Name. Gehört nicht auch noch eine Zahl dazu? Stirnrunzelnd stand er da, dachte nach, sein Familiencode, jawohl, eine Zahl, er kannte sie schon sein ganzes Leben lang. Wie lautete sie nur? Wie – lautete – sie? 762. Ja. Ich heiße Theremon 762. Eine zweite, komplexere Erkenntnis folgte wie von selbst: Ich bin Theremon 762 vom Saro City Chronicle. Nach dieser Feststellung fühlte er sich ein wenig besser, obwohl sie von Rätseln nur so strotzte. Saro City? Der Chronicle? Er war nahe daran, die Begriffe zu verstehen. Ganz nahe. Er sang sie vor sich hin. Saro saro saro. City city city. Chronicle, chronicle, chro nicle. Saro City Chronicle.
Vielleicht sollte ich mir ein wenig die Beine vertreten, beschloß er. Zögernd machte er einen Schritt, einen zweiten, einen dritten. Er war noch etwas wackelig. Ein Blick in die Runde zeigte ihm, daß er sich im Freien befand, irgendwo an einem Berghang. Er sah eine Straße, Bü sche, Bäume, weiter links einen See. Einige von den Büschen und Bäu men sahen aus, als hätte man sie umgeknickt und aus der Erde gerissen, ihre Äste hingen nach allen Seiten herab oder lagen auf dem Boden, ganz so, als sei vor kurzem eine Horde Riesen durch die Gegend ge trampelt. Hinter ihm befand sich ein großes Gebäude mit runder Kuppel. Durch ein Loch im Dach quoll Rauch heraus. Die Außenseite war geschwärzt, als habe man ringsum Feuer gelegt, doch den Steinmauern hatten die Flammen offenbar nicht viel anhaben können. Auf der Treppe vor dem Eingang sah Theremon Menschen liegen wie achtlos weggeworfene Puppen, alle Glieder von sich gestreckt. Andere lagen in den Büschen und weitere entlang des Weges, der den Hügel hinabführte. Manche bewegten sich noch ein wenig. Die meisten nicht. Er schaute in die andere Richtung. Am Horizont erhoben sich die Türme einer großen Stadt. Eine dichte Rauchwolke hing darüber, und als er die Augen zusammenkniff, glaubte er, Flammenzungen aus den Fenstern der höchsten Gebäude schlagen zu sehen, auch wenn sein Verstand ihm leise zuraunte, aus dieser Entfernung könne man solche Einzelheiten unmöglich erkennen. Die Stadt mußte meilenweit weg sein. Saro City, dachte er plötzlich. Wo der Chronicle erscheint. Dort arbeite ich. Dort lebe ich. Und ich bin Theremon. Ja. Theremon 762. Vom Saro City Chronicle. Er bewegte langsam den Kopf hin und her wie ein verwundetes Tier, um den Nebel, die dumpfe Benommenheit abzuschütteln. Es war uner träglich, wenn man nicht klar denken, sich im Lagerhaus seiner eigenen Erinnerungen nicht frei bewegen konnte. Das grelle Licht der Sterne stand wie eine Mauer vor seinem Bewußtsein und versperrte ihm den Weg in sein eigenes Gedächtnis. Doch allmählich drangen ein paar Einzelheiten durch. Farbige, scharf kantige Bruchstücke der Vergangenheit, sprühend vor krankhafter Ener gie, schwirrten unaufhörlich durch seinen Kopf. Krampfhaft bemühte er sich, sie für einen Moment zum Stillstand zu bringen, um sie erfassen zu können. Plötzlich stand das Bild eines Zimmers vor seinem Auge. Sein Zim mer, Stapel von Papieren und Zeitschriften, zwei Computerterminals, ein Korb mit unerledigter Post. Ein zweiter Raum, ein Bett. Die kleine Küche, die er so gut wie nie benützte. Das, dachte er, ist die Wohnung
von Theremon 762, dem bekannten Kolumnisten des Saro City Chronic le. Theremon ist derzeit nicht zu Hause, meine Damen und Herren. The remon steht vor der Ruine des Observatoriums der Universität von Saro City und versucht zu begreifen… Die Ruine… Das Observatorium der Universität von Saro City… „Siferra?“ rief er. „Siferra, wo bist du?“ Keine Antwort. Wer mochte diese Siferra wohl sein? überlegte er. Je mand, den er gekannt hatte, ehe die Ruine zu einer Ruine wurde? Der Name war aus den Tiefen seines verwirrten Geistes nach oben ge schwebt. Wieder machte er ein paar unsichere Schritte. Ein kleines Stück han gabwärts lag ein Mann unter einem Busch. Theremon ging zu ihm. Der Mann hatte die Augen geschlossen. In einer Hand hielt er eine ausge brannte Fackel. Sein Gewand war zerrissen. Schlief er? Oder war er tot? Theremon stieß ihn vorsichtig mit dem Fuß an. Ja, er war tot. Seltsam, wie viele tote Menschen hier herumla gen. Gewöhnlich stolperte man doch nicht auf Schritt und Tritt über Leichen? Und da drüben ein umgestürztes Auto – mit seinem kläglich gen Himmel ragenden Fahrgestell und den Rauchfäden, die sich träge aus dem Innern kringelten, wirkte es ebenfalls wie tot. „Siferra?“ rief er wieder. Etwas Schreckliches mußte geschehen sein. Soviel begriff er, aber kaum mehr. Wieder kauerte er sich nieder, preßte die Hände gegen die Schläfen. Die Erinnerungsfragmente, die so wild in seinem Schädel herumgepurzelt waren, bewegten sich nun langsamer, hatten ihren ra senden Tanz aufgegeben und schwebten so gemessen dahin wie die Eisberge im Großen Südozean. Wenn es ihm nur gelänge, ein paar die ser Einzelteile aneinanderzufügen – sie in ein Muster zu zwingen, das ein klein wenig Sinn ergab… Er durchdachte noch einmal, was er bereits rekonstruiert hatte. Sein Name, Der Name der Stadt. Die Namen der sechs Sonnen. Die Zeitung. Seine Wohnung. Der gestrige Abend… Die Sterne… Siferra… Beenay… Sheerin… Athor… Namen… Mit einem Mal stellte sein Geist Verbindungen her. Endlich fügten sich Bruchstücke seiner unmittelbaren Vergangenheit aneinander. Vorerst konnte er trotzdem nichts damit anfangen, denn die einzelnen Bündel waren in sich abgeschlossen und wollten sich nicht in einen Zusammenhang bringen lassen. Je mehr er sich bemühte, desto mehr geriet alles abermals in Verwirrung. Als ihm das klar wurde, gab er es auf, etwas erzwingen zu wollen.
Ganz locker bleiben, ermahnte sich Theremon. Laß der Natur ihren Lauf. Er begriff, daß er einen schweren Schock erlitten hatte. Obwohl er am Hinterkopf weder empfindliche Stellen noch Schwellungen ertasten konnte, mußte er sich irgendwo verletzt haben. Sein Gedächtnis war wie von einem Schwert brutal in tausend Stücke gehauen worden, und dann hatte etwas die Teile durcheinandergewürfelt und geschüttelt wie die Elemente eines Puzzles. Doch die Heilung war bereits in vollem Gange. Stück für Stück kehrte die Kraft seines Geistes, die Kraft seiner Persön lichkeit zurück und setzte Theremon 762 vom Saro City Chronicle wie der zu einem Ganzen zusammen. Bleib ruhig. Warte ab. Laß der Natur ihren Lauf. Er atmete ein, hielt den Atem an, ließ ihn langsam ausströmen. Atmete wieder ein. Anhalten, ausatmen. Einatmen, halten, ausatmen. Einatmen, halten, ausatmen. Vor seinem geistigen Auge entstand das Innere des Observatoriums. Jetzt erinnerte er sich. Es war Abend. Nur die kleine, rote Sonne stand am Himmel – Dovim, so hieß sie. Die große Frau; das war Siferra. Der dicke Mann hieß Sheerin, und der junge, schmale mit dem ernsthaften Gesicht, das war Beenay. Der heißblütige, alte Mann mit der weißen Patriarchenmähne war ein berühmter Astronom, der Leiter des Observa toriums – Ithor? Uthor? Athor. Richtig, Athor. Und die Sonnenfinsternis nahte. Die Dunkelheit. Die Sterne. Ach ja. Ja. Nun strömte alles zusammen. Sein Gedächtnis kehrte zu rück. Der Pöbel vor dem Observatorium, angeführt von fanatischen Schwarzkutten: Apostel des Feuers, so nannten sie sich. Und einer der Fanatiker war im Observatorium gewesen. Folimun hieß er. Folimun 66. Er erinnerte sich. Der Augenblick der Totalität. Plötzlich wurde es völlig Nacht. Die Welt trat ein in die Höhle der Finsternis. Die Sterne… Der Wahnsinn… die Schreie… der Pöbel… Noch in der Erinnerung zuckte Theremon zusammen. Die von fanati schen Priestern aufgehetzte, völlig verängstigte Horde aus Saro City, nun brach sie die schweren Türen auf, ergoß sich in das Gebäude. Man trampelte sich gegenseitig nieder, so eilig hatte man es, die ruchlosen, wissenschaftlichen Instrumente zu zerstören und die ruchlosen Wissen schaftler zu töten, die die Existenz der Götter leugneten… Ein solcher Schwall von Bildern brach über ihn herein, daß er fast wünschte, sie nicht heraufbeschworen zu haben. Der Schock, den ihm der erste Anblick der hell funkelnden Sterne bereitet hatte – die Schmerzexplosion in seinem Schädel – die schaurigen, seltsam kalten Energieblitze, die durch sein Blickfeld rasten. Und dann der Pöbel –
außer Rand und Band – der Versuch, sich zu retten… Siferra neben ihm, Beenay nicht weit entfernt, dann fuhr der Pöbel zwischen sie wie ein reißender Strom, trennte sie voneinander, zerrte sie in entgegensetzte Richtungen… Der letzte, kurze Blick auf den alten Athor kam ihm in den Sinn, wie er mit hellen, glasigen Augen, in denen das Feuer des Wahnsinns sprüh te, majestätisch auf einem Stuhl stand und die Eindringlinge so er grimmt aus dem Gebäude wies, als sei er nicht der Leiter des Observato riums, sondern sein Gebieter. Und Beenay stand neben dem Alten, zupf te ihn am Arm, drängte zur Flucht. Dann wurde die Szene ausgeblendet. Theremon befand sich nicht mehr in dem großen Saal, sondern wurde einen Korridor entlanggeschoben, kämpfte sich durch zu einer Treppe, sah sich um nach Siferra, nach irgendeinem bekannten Gesicht… Und auf einmal stand inmitten des Chaos der Apostel, dieser irre Fana tiker, Folimun 66 vor ihm und versperrte ihm den Weg. Lachend reichte er ihm mit höhnischer Freundlichkeit die Hand. Dann war auch Folimun den Blicken entschwunden, und Theremon drängte verzweifelt weiter, stolperte die Wendeltreppe hinab, stieg im Erdgeschoß über Stadtbe wohner hinweg, die so dicht zusammengedrängt auf dem Boden lagen, daß sie sich nicht mehr bewegen konnten. Irgendwie zur Tür hinaus. Hinein in die kalte Nacht. Barhäuptig und fröstelnd stand er in der Dun kelheit, die keine mehr war, weil die zahllosen Sterne den Himmel be deckten und alles in ihr schreckliches, grauenhaftes, unvorstellbar kaltes Licht tauchten. Vor ihnen gab es kein Entrinnen. Wenn man die Augen schloß, ver folgte einen der grausige Schein bis hinter die Lider. Verglichen mit dem unerbittlichen Druck dieses unglaublich grellen, den ganzen Äther erfüllenden Flimmergewölbes, verglichen mit diesem Licht, das wie Donner vom Himmel grollte, war die Dunkelheit eine Kleinigkeit gewe sen. Theremon entsann sich, daß er plötzlich befürchtet hatte, der Himmel mitsamt all den Sternen würde auf ihn herabstürzen. Obwohl er wußte, wie dumm diese Vorstellung war, hatte er sich auf die Knie geworfen und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Auch die Greuel um ihn herum kamen ihm wieder in den Sinn, die kopflos hin und her rennen den Menschen, das Schreien und Weinen. Die hoch auflodernden Flammen der brennenden Stadt am Horizont. Und vor allem die erbar mungslosen Wellen der Angst, die vom Himmel herabgesandt wurden von den gnadenlos und unversöhnlich die Welt überfallenden Sternen. Das war alles. Danach gab es nur noch Leere, völlige Leere, bis zu dem Augenblick, als er erwachte und Onos am Himmel stehen sah, als er sich daran machte, die tausend Scherben seines Geistes wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Ich bin Theremon 762, sagte er sich noch einmal. Früher lebte ich in Saro City und schrieb Artikel für die Zeitung. Es gab kein Saro City mehr. Es gab auch keine Zeitung mehr. Die Welt war untergegangen. Aber er hatte überlebt, und mit der Zeit würde sich hoffentlich auch sein Verstand wieder erholen. Was nun? Wohin? „Siferra?“ rief er. Niemand antwortete. Langsam schlurfte er weiter den Hügel hinab, vorbei an den umgeknickten Bäumen, vorbei an den ausgebrannten, umgestürzten Autos, an den verstreuten Leichen. Wenn es hier draußen auf dem Lande schon so aussieht, dachte er, wie mag es dann erst in der Stadt sein? Mein Gott, dachte er wieder. Ihr Götter alle! Was habt ihr uns angetan?
Kapitel 29 Manchmal hat Feigheit auch seine Vorteile, sagte sich Sheerin und entriegelte die Tür des Lagerraums im Keller des Observatoriums, wo er sich vor der Dunkelheit verkrochen hatte. Etwas wackelig fühlte er sich noch immer, aber sein Verstand war ohne jeden Zweifel klar. So klar wie eh und je, was immer das heißen mochte. Von draußen war kein Laut zu hören. Zwar hatte der Lagerraum keine Fenster, doch durch ein Gitter dicht unter der Decke fiel Licht herein, und daran glaubte Sheerin mit einiger Sicherheit zu erkennen, daß es Morgen war und daß die Sonnen wieder am Himmel standen. Vielleicht hatte sich inzwischen auch der Wahnsinn ausgetobt. Vielleicht konnte er es wagen, sein Versteck zu verlassen. Vorsichtig steckte er die Nase in den Korridor hinaus und sah sich um. Als erstes stellte er fest, daß es nach Rauch roch. Aber es war ein ab gestandener, dumpfer, abscheulich feuchter und beißender Geruch wie nach einem bereits gelöschten Feuer. Das Observatorium war nicht nur aus Stein gebaut, sondern verfügte zudem über eine leistungsfähige Sprinkleranlage, die sofort angesprungen sein mußte, als der Pöbel Feu er zu legen begann. Der Pöbel! Schon der Gedanke daran ließ Sheerin erschauern. Nie würde der rundliche Psychologe den Sturm auf das Observatorium vergessen. Die Erinnerung an die fratzenhaft verzerrten Gesichter, die wild verdrehten Augen, das schrille Wutgeheul würde ihn sein ganzes Leben lang verfolgen. Diese Menschen hatten schon vor der totalen Verfinsterung die ohnehin schwache Kontrolle über ihren Verstand ver loren. Die zunehmende Dunkelheit allein hatte genügt, den Damm zu durchbrechen – sie und die gekonnte Demagogie der Apostel des Feu
ers, die nun, da ihre Weissagungen sich erfüllt hatten, ganz obenauf waren. Zu Tausenden waren die Menschen herbeigeströmt, bewaffnet mit Fackeln, Keulen, Knüppeln, Steinen – mit allem, was zum Zuschla gen, zum Zerschmettern, zum Zerstören geeignet war, um die verhaßten Wissenschaftler aus ihrem Bau zu treiben und zu erschlagen. Sie hatten schließlich das Gebäude erobert. Paradoxerweise hatte erst dieser Überfall Sheerin so weit aufgerüttelt, daß er die Herrschaft über sich selbst wiedergewann. Als er mit There mon zum ersten Mal die Treppe hinuntergestiegen war, um die Türen zu verbarrikadieren, hätte er beinahe schlappgemacht. Auf dem Weg nach unten war noch alles in Ordnung gewesen, er hatte sich sogar merkwür dig beschwingt gefühlt, doch dann war die Dunkelheit erstmals zum Greifen nah gewesen, hatte ihn berührt wie eine Giftgaswolke, und er war zusammengeklappt. Wie ein Häufchen Elend hatte er auf der Trep pe gesessen, von eiskalter Panik geschüttelt. In Gedanken war er noch einmal durch den Tunnel der Geheimnisse gefahren und hatte erkannt, daß die Dunkelheit diesmal nicht nur ein paar Minuten dauern würde, sondern viele unerträglich lange Stunden. Theremon hatte ihn aus diesem Sumpf herausgezogen, und auf dem Weg ins oberste Stockwerk des Observatoriums hatte Sheerin wenigs tens zum Teil seine Selbstbeherrschung wiedergefunden. Doch dann kam die Totalität – und mit ihr die Sterne. Sheerin hatte zwar den Kopf abgewandt, als die grauenhafte Lichtflut durch die Öffnung im Dach des Observatoriums hereinbrach, aber er hatte den erschütternden Anblick nicht ganz vermeiden können. Einen Moment lang spürte er, wie sein Geist nachgab… wie der zarte Faden der Vernunft zu reißen drohte… Doch dann war der Pöbel gekommen, und Sheerin hatte erkennen müssen, daß es nicht mehr nur um seinen Verstand ging. Nun stand sein Leben auf dem Spiel. Wenn er diese Nacht überstehen wollte, dann hat te er keine Wahl, dann mußte er sich eisern zusammennehmen und ein sicheres Versteck suchen. Dahin war sein naiver Plan, in der Rolle des unbeteiligten, leidenschaftslosen Wissenschaftlers das Phänomen Dun kelheit zu beobachten. Mochten andere die Beobachtung übernehmen. Er würde sich verstecken. Und so war er irgendwie ins Untergeschoß gelangt, in den freundli chen, kleinen Lagerraum mit dem freundlichen, kleinen Gottesauge, das einen schwachen, aber doch sehr tröstlichen Schein verbreitete. Er hatte die Tür hinter sich verriegelt und abgewartet. Er hatte sogar ein wenig geschlafen. Und nun war es Morgen. Wer weiß, vielleicht sogar schon Nachmit tag. Eines war jedenfalls sicher: die Schreckensnacht war vorüber, und zumindest in der Umgebung des Observatoriums war alles ruhig. Auf
Zehenspitzen schlich Sheerin in den Korridor hinaus, blieb stehen, lauschte, näherte sich behutsam der Treppe. Stille. Schmutzwasserpfützen von den Sprinklern. Ein widerlicher Ge ruch nach abgestandenem Rauch. An der Treppe blieb er stehen und löste nachdenklich ein Feuerbeil aus der Wandhalterung. Er hegte große Zweifel, ob er es je über sich brin gen würde, damit gegen ein anderes Lebewesen vorzugehen, aber viel leicht war es ganz nützlich, eine Waffe bei sich zu haben, falls es da draußen tatsächlich so chaotisch zuging, wie er erwartete. Jetzt hinauf ins Erdgeschoß. Sheerin zog die Kellertür auf – dieselbe, die er am Abend zuvor auf seiner kopflosen Flucht nach unten hinter sich zugeschlagen hatte – und schaute hinaus. Eine grauenvolle Szene erwartete ihn. Das große Foyer des Observatoriums war angefüllt mit Menschen, sie lagen kreuz und quer auf dem Fußboden, wie betrunken, als hätte hier die ganze Nacht eine wüste Orgie getobt. Aber sie waren nicht betrun ken. Viele lagen in so gräßlich verrenkter Stellung da, wie sie kein Lebender jemals hätte einnehmen können. Andere waren wie Teppiche zu zweit oder zu dritt aufeinandergeschichtet. Auch sie sahen aus, als seien sie tot oder würden zumindest aus ihrer Ohnmacht nicht mehr erwachen. Wieder andere waren deutlich noch am Leben, aber sie jaulten und winselten und waren völlig von Sinnen. Alles, was man einst im Foyer zur Schau gestellt hatte, die wissen schaftlichen Instrumente, die Porträts der großen Astronomen der Ver gangenheit, die kunstvoll gezeichneten Himmelskarten, war herunterge rissen und verbrannt oder einfach zerfetzt und zertrampelt worden. Hier und dort entdeckte Sheerin zwischen den dicht gedrängten Leibern ver kohlte, demolierte Reste der kostbaren Stücke. Das Haupttor stand offen. Draußen schien warm und ermutigend die Sonne. Vorsichtig bahnte er sich einen Weg zum Ausgang. „Dr. Sheerin?“ fragte plötzlich und völlig unerwartet eine Stimme. Sheerin fuhr herum und schwang blindwütig sein Beil, mußte sich aber beherrschen, um über seine vorgetäuschte Aggressivität nicht zu lachen. „Wer ist da?“ „Ich. Yimot.“ „Wer?“ „Yimot. Sie kennen mich doch noch?“ „Yimot, sicher.“ Der schlaksige, unbeholfene junge Astronomiestu dent aus irgendeiner Hinterwäldlerprovinz. Jetzt sah Sheerin den Jungen halb verborgen in einer Nische stehen. Ruß und Asche hatten sein Ge sicht geschwärzt, und er wirkte benommen und zutiefst erschüttert, an sonsten aber ganz vernünftig. Ja, als er vortrat, hampelte er sehr viel
weniger herum als sonst, keine übertriebenen Zuckungen, kein krampf haftes Herumfuchteln mit den Armen, kein ruckartiges Kopfwerfen. Das Grauen hat manchmal seltsame Auswirkungen, dachte Sheerin. – „Hat ten Sie sich die ganze Nacht hier versteckt?“ „Als die Sterne erschienen, versuchte ich, ins Freie zu gelangen, aber ich kam nicht durch. Haben Sie Faro gesehen Dr. Sheerin?“ „Ihren Freund? Nein. Ich habe niemanden von euch gesehen.“ „Wir blieben noch eine Weile zusammen. Aber dann ging alles drunter und drüber, die Leute schoben und drängelten wie wild…“ Yimot rang sich ein schiefes Lächeln ab. „Ich dachte, sie brennen das Gebäude nie der. Aber dann schalteten sich die Sprinkler ein.“ Er zeigte auf die Bür ger, die überall herumlagen. – „Was meinen Sie, sind sie alle tot?“ „Einige haben nur den Verstand verloren. Sie haben die Sterne gese hen.“ „Ich auch, aber nur für einen Moment“, sagte Yimot. „Nur für einen einzigen Moment.“ „Wie sahen sie aus?“ fragte Sheerin. „Sie haben sie nicht gesehen, Doktor? Oder wissen Sie es bloß nicht mehr?“ „Ich habe ganz gemütlich im Keller gesessen.“ Yimot reckte seinen langen Hals, als sähe er die Sterne immer noch an der Decke der Eingangshalle funkeln. „Sie waren – erhaben“, flüsterte er. „Ich weiß, das sagt Ihnen nichts, aber ich finde kein anderes Wort dafür. Ich sah sie nur zwei, vielleicht drei Sekunden lang, und schon begann sich in meinem Kopf alles zu drehen, meine Schädeldecke droh te abzuheben, und da wandte ich den Blick ab. Ich bin nämlich nicht sehr tapfer, Dr. Sheerin.“ „Nein. Mir geht es ebenso.“ „Aber um diese zwei oder drei Sekunden bin ich froh. Die Sterne sind zutiefst erschreckend, aber auch wunderschön. Zumindest für einen Astronomen. Kein Vergleich mit den lächerlichen Tüpfelchen, die Faro und ich bei unserem dummen Experiment erzeugten. Allem Anschein nach befinden wir uns nämlich mitten in einem gewaltigen Sternhaufen. Unsere sechs Sonnen bilden eine dichte Gruppe ganz in der Nähe – wo bei uns einige natürlich näher sind als andere – und dahinter, in einer Entfernung von fünf oder zehn Lichtjahren, vielleicht auch mehr, wölbt sich diese riesige Sphäre aus Sternen, die eigentlich Sonnen sind, Tau sende von Sonnen, eine gewaltige Kugel, die uns vollständig ein schließt, für uns aber normalerweise unsichtbar ist, weil das Licht unse rer eigenen Sonnen sie ständig überstrahlt. Genau wie Beenay sagte. Beenay ist nämlich ein großartiger Astronom. Eines Tages wird er noch größer sein als Dr. Athor. – Sie haben die Sterne überhaupt nicht gese hen?“
„Nur ganz flüchtig“, gestand Sheerin ein wenig traurig. „Dann bin ich weggelaufen und habe mich versteckt. – Hören Sie, mein Junge, wir müssen zusehen, daß wir hier verschwinden.“ „Ich muß nach Faro suchen.“ „Wenn er alles gut überstanden hat, ist er sicher schon draußen. Wenn nicht, können Sie ihm nicht mehr helfen.“ „Aber wenn er unter einem dieser Haufen…“ „Nein“, wehrte Sheerin ab. „Sie können nicht zwischen diesen Men schen herumstochern. Noch sind sie alle benommen, aber niemand weiß, was geschieht, wenn man sie reizt. Am sichersten ist man im Frei en. Ich werde versuchen, den Schutzbunker zu erreichen. Wenn Sie klug sind, kommen Sie mit.“ „Aber Faro…“ „Schön“, seufzte Sheerin. „Sehen wir zu, ob wir Faro finden. Viel leicht auch Beenay, Athor, Theremon oder einen von den anderen.“ Es war aussichtslos. Vielleicht zehn Minuten lang suchten sie zwi schen den toten, bewußtlosen und benommenen Menschen im Foyer herum, aber von der Universität war niemand darunter. Angst und Wahnsinn hatten die Gesichter erschreckend verzerrt. Manche Leute reagierten aggressiv auf die Störung, begannen drohend zu murren und hatten plötzlich Schaum vor dem Mund. Ein Mann griff nach Sheerins Beil, und Sheerin mußte ihn mit dem Stiel zurückstoßen. Über die Trep pe in die oberen Stockwerke zu gelangen, war unmöglich. Das ganze Treppenhaus war mit Leibern verstopft, und überall war der Putz von den Wänden gefallen. Auf dem Fußboden hatten sich Schmutzwasser pfützen gebildet. Der scharfe, durchdringende Rauchgeruch war uner träglich. „Sie haben recht“, sagte Yimot schließlich. „Wir sollten gehen.“ Sheerin trat als erster in den Sonnenschein hinaus. Nach der eben ü berstandenen Schreckensnacht gab es im ganzen Universum keinen erfreulicheren Anblick als die goldene Onos, obwohl die Augen des Psychologen nach der langen Dunkelheit an so viel Licht gar nicht mehr gewöhnt waren. Es traf ihn wie ein Schlag. Er mußte blinzelnd ste henbleiben und warten, bis seine Augen sich umgestellt hatten. Als er nach einer Weile wieder sehen konnte, keuchte er entsetzt auf. „Wie furchtbar“, murmelte auch Yimot. Noch mehr Leichen. Und Wahnsinnige, die im Kreis herumliefen und vor sich hin sangen. Ausgebrannte Fahrzeuge am Straßenrand. Sträucher und Bäume wie von blindwütigen Riesen zerhackt. Und in der Ferne, über den Türmen von Saro City eine düstere, braune Qualmwolke. Chaos, Chaos, überall Chaos. „So sieht also das Ende der Welt aus“, sagte Sheerin leise. „Und wir beide haben es überlebt.“ Er lachte verbittert. „Ein schönes Paar sind
wir. Ich schleppe hundert Pfund zuviel mit mir herum, und Sie hundert Pfund zuwenig. Trotz alledem sind wir noch hier. Ob Theremon wohl lebend herausgekommen ist? Wenn es überhaupt jemand geschafft hat, dann er. Auf uns beide hätte ich dagegen keine hohen Wetten abge schlossen. – Der Schutzbunker liegt auf halbem Wege zwischen Saro City und dem Observatorium. Wenn wir unterwegs nicht in Schwierig keiten geraten, müßten wir ihn zu Fuß in einer halben Stunde erreichen können. Hier, nehmen Sie das.“ Er hob einen dicken, grauen Knüppel auf, der neben einem der Randa lierer am Boden lag, und warf ihn Yimot zu, der ihn ungeschickt auffing und mit verständnislosem Blick musterte. „Was soll ich damit?“ fragte er schließlich. „Sie sollen so tun, als wollten Sie jedem den Schädel einschlagen, der uns belästigt“, sagte Sheerin. „Ich werde auch so tun, als würde ich mich notfalls mit diesem Beil verteidigen. Und notfalls werde ich es auch tun. Wir leben in einer neuen Welt, Yimot. Und nun kommen Sie. Und nehmen Sie Ihre fünf Sinne zusammen.“
Kapitel 30 Noch war die Welt in Finsternis getaucht, noch wurde Kalgash von der teuflischen Lichtflut der Sterne überschwemmt, als Siferra 89 aus dem ausgebrannten Observatorium stolperte. Doch am östlichen Horizont zeigte sich ein schwacher, rosiger Schein, ein erster Vorbote, der Hoff nung erweckte auf die Rückkehr der Sonnen. Auf dem Rasen blieb sie stehen, die Beine weit gespreizt, den Kopf zurückgeworfen, und füllte ihre Lungen in tiefen Zügen. Sie war zu keinem Gedanken fähig. Wie viele Stunden vergangen wa ren, seit der Himmel sich verdunkelt hatte und die Sterne über die Welt hereingebrochen waren wie das Geschmetter einer Million Trompeten, wußte sie nicht. Sie war die ganze Nacht wie eine Schlafwandlerin durch die Gänge des Observatoriums gelaufen, ohne den Ausgang zu finden, und hatte sich gegen die Irren gewehrt, von denen es überall nur so wimmelte. Daß auch sie selbst den Verstand verloren hatte, darüber dachte sie nicht nach. Sie war vollauf damit beschäftigt zu überleben, die Hände wegzuschlagen, die nach ihr grapschten; die niedersausenden Keulen mit dem Knüppel zu parieren, den sie selbst einem am Boden Liegenden entrissen hatte; den schreienden, trampelnden Horden von Gläubigen und anderen Verrückten auszuweichen, die Arm in Arm, zu sechs oder acht durch die Gänge stapften und alles niederwalzten, was ihnen im Wege stand. Millionen von Städtern schienen im Observatorium zu wüten. Wohin sie sich auch wandte, überall starrten ihr verzerrte Gesichter entgegen,
weit vorquellende Augen, offenstehende Münder, heraushängende Zun gen, zu Klauen gekrümmte Finger. Sie zerschlugen alles. Siferra hatte keine Ahnung, wo Beenay oder Theremon sein mochten. Vage entsann sie sich, Athors weiße Mähne inmitten einer Gruppe von zehn oder zwanzig grölenden Schlägern ge sehen zu haben – dann war er zu Boden gegangen, hinabgerissen wor den, den Blicken entschwunden. Davon abgesehen waren ihr kaum klare Erinnerungen geblieben. So lange die Sonnenfinsternis dauerte, war sie ziellos hin und her gelaufen, einen Gang hinauf, den anderen hinunter, wie eine verirrte Ratte in ei nem Labyrinth. Besonders gut hatte sie sich im Observatorium nie aus gekannt, aber den Weg zum Ausgang hätte sie immer finden müssen – solange sie bei Verstand war. Doch das grausame Funkeln der Sterne, das aus jedem Fenster aufs neue auf sie eindrang, schien ihr einen Eispi ckel durchs Gehirn getrieben zu haben. Sie konnte nicht denken. Sie konnte nicht denken. Sie konnte nicht denken. Sie konnte nur hin und her rennen, lüstern grinsende, sinnlos brabbelnde Idioten beiseite schie ben, sich durch Horden zerlumpter Fremder drängen und verzweifelt, planlos und vergeblich nach einem der Hauptausgänge suchen. Und so ging es Stunde um Stunde, als sei sie in einem nicht enden wollenden Alptraum gefangen. Nun war sie endlich im Freien. Wie sie dahin gelangt war, wußte sie nicht. Plötzlich hatte sie am Ende eines Korridors, den sie sicher schon tausendmal durchlaufen hatte, eine Tür entdeckt. Sie drückte dagegen, die Tür gab nach, ein Schwall kühler Luft schlug ihr entgegen, und sie wankte hinaus. Die Stadt brannte. Sie sah das Feuer in der Ferne, ein rotglühender Fleck vor der dunklen Himmelskulisse. Von allen Seiten vernahm sie Schreie, Schluchzen, irres Gelächter. Unter ihr, etwas weiter hangabwärts waren ein paar Männer mit stumpfen Gesichtern damit beschäftigt, einen Baum aus der Erde zu ziehen – sie zerrten an den Ästen, stemmten sich mit aller Kraft dage gen, rissen gewaltsam an den Wurzeln. Siferra verstand nicht, wozu sie das taten. Die Männer selbst verstanden es wahrscheinlich auch nicht. Auf dem Parkplatz vor dem Observatorium waren andere Männer da bei, Autos umzustürzen. Siferra überlegte, ob einer dieser Wagen wohl ihr gehörte. Sie konnte sich nicht erinnern. Es gab überhaupt nicht viel, woran sie sich erinnern konnte. Sogar bei ihrem eigenen Namen hatte sie Mühe. „Siferra“, sagte sie laut. „Siferra 89. Siferra 89.“ Das klang nicht schlecht. Ein schöner Name. Ihre Mutter hatte ihn ge tragen – vielleicht auch ihre Großmutter, sie wußte es nicht mehr genau. „Siferra 89“, wiederholte sie. „Ich bin Siferra 89.“
Als nächstes versuchte sie, sich an ihre Adresse zu erinnern. Unmög lich. Ein Wirrwarr sinnloser Zahlen. „Blick auf zu den Sternen!“ schrie eine Frau und rannte an ihr vorbei. „Blick auf zu den Sternen und stirb!“ „Nein“, gab Siferra ganz ruhig zurück. „Ich will nicht sterben, warum sollte ich?“ Dennoch sah sie sich die Sterne an. Allmählich gewöhnte sie sich fast an den Anblick. Sie waren wie helle Lichter – sehr helle Lichter – die so dicht beieinanderstanden, daß sie zu einem einzigen Strahlen zu ver schmelzen schienen, so als habe jemand einen leuchtenden Mantel über das Firmament geworfen. Wenn sie länger als ein bis zwei Sekunden hinsah, glaubte sie, einzelne Lichtpunkte zu unterscheiden, die heller waren als ihre Umgebung und ganz seltsam pulsierten, als strotzten sie vor Energie. Doch das hielt sie bestenfalls fünf oder sechs Sekunden lang aus, dann wurde sie von der Wucht dieses Pulsierens überwältigt, ihre Kopfhaut begann zu kribbeln, ihre Wangen glühten, und sie mußte den Kopf senken und sich mit einem Finger die Stelle zwischen den Augen massieren, die wie Feuer brannte und tobte. Sie überquerte den Parkplatz, ohne den hektischen Trubel ringsum zu beachten, und erreichte auf der anderen Seite eine gepflasterte Straße, die über ein schmales Sims in der Flanke des Observatoriumshügels führte. Ein noch funktionierender Teil ihres Gehirns teilte ihr mit, dies sei die Verbindung zwischen dem Observatorium und dem Universitäts campus. Ein Stück weiter vorne konnte sie bereits die höheren Universi tätsgebäude erkennen. Aus einigen Dächern schlugen die Flammen. Der Glockenturm brann te, das Theater, das Studentenarchiv. Du mußt die Täfelchen retten, befahl eine innere Stimme, in der sie ih re eigene erkannte. Täfelchen? Was für Täfelchen? Die Thombo-Täfelchen. Ach ja, natürlich. Sie war schließlich Archäologin, nicht wahr? Ja. Gewiß. Und Archäologen gruben alte Sachen aus. Sie hatte an einem weit entfernten Ort gegraben. Sagimot? Beklikan? Etwas dergleichen. Und sie hatte Täfelchen gefunden, prähistorische Texte. Uralte, archäo logische Kostbarkeiten. Ungemein wichtig. An einem Ort namens Thombo. Wie mache ich das? fragte sie sich selbst. Und sofort kam die Antwort: Du machst das sehr gut. Sie lächelte. Sie fühlte sich zusehends besser. Der rosige Dämmer schein am Horizont bewirkte die Heilung, dachte sie. Der Morgen nahte; bald würde die Sonne, Onos, am Himmel erscheinen. Mit Onos’ Auf gang verloren die Sterne an Glanz und an Schrecken. Sie verblaßten
schnell. Im Osten wurden sie bereits von Onos’ wachsendem Licht ü berstrahlt. Selbst im gegenüberliegenden Himmelsquadranten, wo noch die Dunkelheit herrschte und es von Sternen wimmelte wie in einem Tümpel von Elritzen, verlor das beängstigende Leuchten allmählich an Kraft. Siferra konnte nun schon eine ganze Weile den Himmel betrach ten, ohne daß das qualvolle Hämmern in ihrem Kopf wieder einsetzte. Auch die Verwirrung hatte sich etwas gelegt. Sie wußte jetzt genau, wo sie wohnte, wo sie arbeitete und wo sie am Abend zuvor gewesen war. Im Observatorium – bei ihren Freunden, den Astronomen, die die Sonnenfinsternis vorausgesagt hatten… Die Sonnenfinsternis… Das war es, jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie hatten auf die Sonnenfins ternis gewartet. Auf die Dunkelheit. Auf die Sterne. Ja, und auf das Feuer, dachte Siferra. Und es war gekommen. Alles war planmäßig abgelaufen. Die Welt loderte wieder wie schon so oft – und nicht die Götter hatten sie in Brand gesteckt oder die Sterne mit ihrer Macht, sondern ganz gewöhnliche Männer und Frauen. Im Ster nenwahn, getrieben von panischer Verzweiflung und aufgehetzt von religiösen Fanatikern, hatten sie mit allem, was sie nur finden konnten, versucht, das normale Tageslicht zu imitieren. Trotz des ringsum tobenden Chaos bewahrte sie die Ruhe. Sie war nach all den Schrecken so benommen, ja, nahezu betäubt, daß sie nicht imstande war, auf die Verheerungen im Gefolge der Dunkelheit entspre chend zu reagieren. So ging sie nur immer weiter die Straße entlang zum großen Innenhof des Campus, vorbei an schrecklichen Bildern der Verwüstung und Zerstörung, und spürte nichts, keinen Schock, keine Trauer um das Verlorene, keine Angst vor den harten Zeiten, die nun folgen mußten. Für solche Gefühle war ihr Bewußtsein noch nicht aus reichend wiederhergestellt. Sie war nur Beobachterin, ungerührt, distan ziert. Sie wußte, daß das lichterloh brennende Gebäude dort drüben die neue Universitätsbibliothek war, bei deren Planung sie mitgeholfen hat te. Aber der Anblick löste keinerlei Empfindung in ihr aus. Es war, als ginge sie durch eine zweitausend Jahre alte archäologische Stätte, deren Untergang längst bewältigt und nur noch im Buch der Geschichte ver zeichnet war. Es wäre ihr niemals in den Sinn gekommen, um eine zweitausend Jahre alte Ruine Tränen zu vergießen, und so weinte sie auch jetzt nicht, als ringsum die Universität in Flammen aufging. Sie hatte den Campus erreicht und folgte vertrauten Pfaden. Einige Gebäude brannten, andere nicht. Mit nachtwandlerischer Sicherheit wandte sie sich hinter dem Verwaltungsgebäude nach links, an der Sporthalle nach rechts, am Mathematikbau wieder nach links, um dann im Zickzack vorbei an Geologie und Anthropologie ihrer eigenen Ar
beitsstätte, der archäologischen Fakultät zuzustreben. Die Tür stand offen. Sie trat ein. Das Gebäude wirkte nahezu unversehrt. In der Eingangshalle waren ein paar Schaukästen eingeschlagen, aber nicht geplündert worden, alle Artefakte waren noch da. Die Tür zum Fahrstuhl hing schief in den An geln. Das Schwarze Brett neben der Treppe lag auf dem Boden. Sonst schien alles heil geblieben zu sein. Es war auch nichts zu hören. Das Haus war leer. Ihr Büro lag im zweiten Stock. Auf dem Weg nach oben stieß sie auf dem ersten Treppenabsatz auf einen alten Mann, der reglos auf dem Rücken lag. „Ich kenne Sie, glaube ich“, sagte Siferra zu ihm. „Wie heißen Sie?“ Er gab keine Antwort. „Sind Sie tot? Sagen Sie doch: Ja oder nein?“ Seine Augen standen offen, aber kein Funken Leben war darin. Siferra drückte den Finger in seine Wange. „Mudrin, Ihr Name ist Mudrin. Oder war es jedenfalls. Nun, Sie waren sowieso schon alt.“ Achselzuckend ging sie weiter. Die Tür zu ihrem Büro war nicht versperrt. Ein Mann war im Zimmer. Auch er kam ihr bekannt vor; aber er lebte noch und lehnte in merk würdig krummer Haltung an den Aktenschränken. Es war ein kräftiger Mann mit mächtigem Brustkorb, strammen Unterarmen und breiten, derben Backenknochen. Sein Gesicht war schweißnaß, und seine Augen flackerten wie im Fieber. „Siferra? Du hier?“ „Ich wollte die Täfelchen holen“, erklärte sie. „Die Täfelchen sind sehr wichtig. Sie müssen geschützt werden.“ Er richtete sich auf und machte ein paar unsichere Schritte auf sie zu. „Die Täfelchen? Die Täfelchen sind nicht mehr da, Siferra! Weißt du nicht mehr, die Apostel haben sie gestohlen?“ „Nicht mehr da?“ „Jawohl, nicht mehr da. Genau wie dein Verstand. Du hast den Verstand verloren, nicht wahr? Dein Gesicht ist leer. Hinter deinen Au gen ist niemand, das sehe ich. Du weißt nicht einmal, wer ich bin.“ „Du bist Balik“, sagte sie. Der Name glitt ihr wie von selbst über die Lippen. „Daran erinnerst du dich also noch.“ „Balik. Ja. Und Mudrin liegt auf der Treppe. Mudrin ist tot, weißt du das?“ Balik zuckte die Achseln. „Mag sein. Bald sind wir alle tot. Da drau ßen ist die ganze Welt verrückt geworden. Aber warum erzähle ich dir das überhaupt? Du bist ja selbst verrückt.“ Seine Lippen zitterten. Seine Hände bebten. Ein sonderbares Kichern entfuhr ihm, und er biß die Zähne zusammen, wie um es zu unterdrücken. „Ich war die ganze Nacht über hier. Ich hatte Überstunden gemacht, und als dann das Licht aus
ging… Mein Gott“, fuhr er fort, „die Sterne, die Sterne. Ich habe nur einen kurzen Blick darauf geworfen, dann bin ich unter den Schreibtisch gekrochen und erst wieder hervorgekommen, als alles vorüber war.“ Er trat ans Fenster. „Aber nun geht Onos auf. Das Schlimmste ist wohl überstanden. – Steht draußen alles in Flammen, Siferra?“ „Ich wollte die Täfelchen holen“, begann sie wieder. „Sie sind fort.“ Er buchstabierte das Wort. „Verstehst du? Fort. Nicht hier. Gestohlen.“ „Dann werde ich die Schaubilder mitnehmen, die wir angefertigt ha ben“, sagte sie. „Ich muß das Wissen schützen.“ „Vollkommen hinüber, was? Wo warst du denn? Im Observatorium? Da hatte man den besten Blick auf die Sterne, was?“ Wieder kicherte er, dann kam er quer durch den Raum auf sie zu. Siferra verzog angewidert das Gesicht. Jetzt roch sie seinen Schweiß, stechend, streng, ekelerre gend. Er stank, als habe er seit einer Woche nicht mehr gebadet. Und er sah aus, als habe er seit einem Monat nicht mehr geschlafen. „Komm her“, verlangte er, als sie zurückwich. „Ich tu dir nichts.“ „Ich will die Schaubilder, Balik.“ „Sicher, du bekommst deine Schaubilder und auch die Fotos, alles, was du willst. Aber vorher bekommst du noch etwas anderes. Komm her, Siferra.“ Er griff nach ihr und zog sie an sich. Sie spürte seine Hände auf ihren Brüsten, seine unrasierte Wange an ihrem Gesicht. Sein Körpergeruch war unerträglich. Blinde Wut erfüllte sie. Wie konnte er es wagen, sie so zu begrapschen? Sie stieß ihn heftig zurück. „He, laß das, Siferra! Nun komm schon, sei ein bißchen nett zu mir. Wer weiß, vielleicht sind wir zwei die letzten Menschen auf der Welt. Wir werden im Wald leben, kleine Tiere jagen und Nüsse und Beeren sammeln. Ja, als Jäger und Sammler werden wir unser Dasein fristen, und später werden wir den Ackerbau erfinden.“ Er lachte. Die eigenarti ge Beleuchtung ließ seine Augen gelb funkeln. Auch seine Haut wirkte gelb. Wieder griff er nach ihr, gierig umfaßte er mit einer Hand eine ihrer Brüste, ließ die andere über ihren Rücken nach unten wandern. Sein Mund näherte sich ihrem Hals, er saugte schmatzend wie ein Tier. Mit widerlich zuckenden Hüften rieb er sich an ihrem Körper. Gleich zeitig drängte er sie rückwärts in eine Ecke des Raums. Plötzlich fiel Siferra die Keule wieder ein, die sie irgendwann im Lauf der Nacht im Observatorium aufgehoben hatte und immer noch lose in der Hand hielt. Sie riß sie in die Höhe und schlug von unten fest gegen Baliks Kinn. Ruckartig flog sein Kopf nach hinten, seine Zähne schlu gen mit hörbarem Klappern aufeinander.
Er ließ sie los und taumelte ein paar Schritte zurück, die Augen vor Überraschung und Schmerz weit aufgerissen. Er hatte sich in die Lippe gebissen, an einer Seite lief ihm das Blut herunter. „He, du Miststück! Warum hast du mich geschlagen?“ „Du hast mich angefaßt!“ „Verdammt richtig, ich hab’ dich angefaßt. War ja wohl auch höchste Zeit.“ Er rieb sich das Kinn. „Hör zu, Siferra, leg den Knüppel weg und sieh mich nicht so an. Ich bin dein Freund. Dein Verbündeter. Die ganze Welt ist ein einziger Dschungel, und außer uns gibt es niemanden. Wir brauchen einander. Es ist zu gefährlich, sich allein durchschlagen zu wollen. Das kannst du dir nicht leisten.“ Wieder näherte er sich ihr mit ausgestreckten Händen. Wieder schlug sie zu. Diesmal holte sie nach hinten aus und ließ die Keule krachend auf sei nen Backenknochen niedersausen. Der Aufprall war deutlich zu hören, und Balik wurde unter der Wucht des Schlages zur Seite geschleudert. Mit halb abgewandtem Kopf sah er sie entgeistert an und taumelte zu rück. Aber er hielt sich noch immer auf den Beinen. Sie schlug ein drit tes Mal zu, schwang die Keule mit aller Kraft in weitem Bogen und traf ihn über dem Ohr. Als er stürzte, versetzte sie ihm an derselben Stelle noch einen Hieb. Dabei spürte sie, wie sein Schädel nachgab. Er schloß die Augen und stieß ein eigenartig sanftes Zischen aus, wie ein Ballon, aus dem langsam die Luft entweicht. Dann sank er in der Ecke gegen die Mauer, der Kopf glitt nach einer Seite, die Schultern nach der ande ren. „Faß mich nie wieder so an“, warnte Siferra und stieß ihn mit der Keu le in die Seite. Balik gab keine Antwort. Er bewegte sich auch nicht. Sie verlor das Interesse an ihm. Jetzt die Täfelchen, dachte sie. Sie war von einer herrlichen Ruhe er füllt. Nein. Balik hatte gesagt, die Täfelchen seien fort. Gestohlen. Und jetzt fiel es ihr auch wieder ein: es stimmte. Sie waren kurz vor der Sonnen finsternis verschwunden. Na schön, dann die Schaubilder. All die hüb schen Zeichnungen vom Hügel von Thombo, die sie angefertigt hatten. Die Steinmauern, die Asche an den Fundamenten. Uralte Feuersbrünste, genau wie die Feuersbrunst, die gerade jetzt Saro City verwüstete. Wo waren sie? Ach, hier. Im Dokumentenschrank, wo sie hingehörten. Sie griff hinein, packte einen Stapel der pergamentartigen Blätter, roll te sie zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Erst jetzt fiel ihr der Mann am Boden wieder ein, und sie streifte ihn mit einem kurzen Blick. Aber Balik hatte sich nicht bewegt und sah auch nicht so aus, als würde er sich noch einmal bewegen.
Zur Tür hinaus, die Treppe hinunter. Mudrin lag immer noch lang hin gestreckt, reglos und steif auf dem Treppenabsatz. Siferra machte einen Bogen um ihn und lief weiter ins Erdgeschoß. Draußen war es heller Vormittag. Onos kletterte stetig am Himmel empor, die Sterne waren in ihrem Licht verblaßt. Die Luft schien fri scher und reiner zu sein, obwohl der leichte Wind stark nach Rauch roch. Am Mathematikgebäude sah Siferra eine Horde von Männern alle Fenster einschlagen. Im gleichen Augenblick wurden die Männer auf sie aufmerksam und begannen, sinnlose Worte zu grölen. Zwei von ihnen kamen auf sie zugerannt. Wo Balik ihre Brust gequetscht hatte, spürte sie einen dumpfen Schmerz. Sie wollte nicht schon wieder angefaßt werden. Also machte sie kehrt, huschte um das Archäologiegebäude herum, zwängte sich durch die Büsche jenseits des dahinter verlaufenden Wegs, lief quer über eine Rasenfläche und stand vor einem dicken, grauen Klotz, in dem sie das Botanikgebäude erkannte. Auf dessen Rückseite befand sich ein kleiner Botanischer Garten, und anschließend zog sich am Rand des Waldes, der den Campus umgab, eine Baumschule zu Versuchszwecken über den Hang. Siferra schaute sich um und glaubte, die Verfolger immer noch zu se hen, war sich aber nicht sicher. Also rannte sie weiter, am Botanikge bäude vorbei, und übersprang den niedrigen Zaun um den Botanischen Garten. Ein Mann in der olivgrünen Uniform der Universitätsgärtner saß auf einer Mähmaschine und winkte ihr zu. Er fuhr in der Mitte des Gartens auf und ab, mähte systematisch die Büsche nieder und hinterließ eine breite Schneise der Zerstörung. Dabei kicherte er vor sich hin. Siferra umging ihn in weitem Bogen. Zur Baumschule waren es von hier nur ein paar Schritte. Ob man sie wohl noch verfolgte? Sie nahm sich nicht mehr die Zeit, sich umzusehen. Laufen, laufen, laufen, das war das beste. Ihre langen, kräftigen Beine trugen sie ohne Anstrengung zwischen den ordentlich in Reih und Glied gepflanzten Bäumen dahin. Gleichmäßig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Das Laufen tat gut. Laufen. Laufen. Schließlich erreichte sie einen weniger gepflegten Bereich, ein Di ckicht, mit Dornenranken durchsetzt. Ohne Zögern stürzte sie sich hin ein, dorthin würde ihr niemand folgen. Die Äste zerkratzten ihr das Ge sicht, rissen an ihren Kleidern. In einem besonders dichten Gestrüpp verlor sie die Rolle mit den Schaubildern. Als sie auf der anderen Seite wieder herauskam, steckte sie nicht mehr unter ihrem Arm. Laß sie doch, dachte sie. Sie sind sowieso nicht mehr wichtig. Doch jetzt mußte sie sich ausruhen. Vor Erschöpfung keuchend, über sprang sie einen kleinen Bach am Rand der Baumschule und ließ sich
auf ein kühles, grünes Moospolster sinken. Niemand war ihr gefolgt. Sie war allein. Sie schaute nach oben durch die Baumwipfel. Onos’ goldenes Licht überflutete den Himmel. Von den Sternen war nichts mehr zu sehen. Die Nacht war vorüber und mit ihr der Alptraum. Nein, dachte sie. Der Alptraum fängt eben erst an. Nun machte sich der Schock bemerkbar. Wellen von Übelkeit schwappten über sie hinweg. Die dumpfe Benommenheit, die während der ganzen Nacht auf ihrem Bewußtsein gelegen hatte, begann sich zu lichten. Nachdem ihr Denkvermögen über Stunden gestört gewesen war, lernte sie allmählich wieder, Strukturen zu erfassen, ein Ereignis, ein zweites und ein drittes in einen Zusammenhang zu bringen und zu ver stehen, was sie bedeuteten. Sie dachte an die Ruinen auf dem Campus und den Feuerschein über der fernen Stadt. Die überall umherstreifen den Wahnsinnigen, das Chaos, die Verwüstung. Balik. Das häßliche Grinsen auf seinem Gesicht, als er sie befummelte. Und der fassungslose Blick, als sie ihn geschlagen hatte. Ich habe einen Mann getötet, dachte Siferra zutiefst bestürzt. Ich. Wie konnte ich nur so etwas tun? Sie begann zu zittern. Die grausigen Erinnerungen drohten ihr das Ge hirn auszuglühen, der dumpfe Aufprall, als die Keule ihn traf, die Art, wie er zurückgetaumelt war, die nächsten Schläge, das Blut, der unna türliche Winkel seines Kopfes. Sie hatte den Mann, mit dem zusammen sie anderthalb Jahre lang geduldig die Ruinen von Beklimot ausgegra ben hatte, wie einen Schlachtochsen niedergeknüppelt. Und danach war sie völlig ungerührt vor ihm gestanden – hatte sogar Befriedigung ver spürt, weil sie ihn daran gehindert hatte, sie weiter zu ärgern. Das war vielleicht das gräßlichste von allem. Doch dann tröstete sie sich damit, daß sie nicht Balik getötet hatte, sondern einen Wahnsinnigen in Baliks Körper, eine Bestie mit irren Augen und sabberndem Mund, die nach ihr tatschte und grapschte. Au ßerdem war die Frau, die diese Keule schwang, nicht die richtige Siferra gewesen, sondern eine Geister-Siferra, eine Traum-Siferra, die schla fend durch die Schrecken des frühen Morgens wandelte. Nun kehrte jedoch ihr gesunder Menschenverstand wieder zurück. Nun machte sich die Wirkung der nächtlichen Ereignisse in vollem Ausmaß bemerkbar. Nicht nur Baliks Tod – sie war nicht bereit, sich deshalb schuldig zu fühlen –, sondern der Tod einer ganzen Zivilisation. Von ferne, vom Campus her drangen Stimmen zu ihr. Heisere, gepreß te Urlaute, Stimmen von Menschen, deren Geist die Sterne ein für alle mal zerstört hatten. Sie sah sich nach ihrer Keule um. Hatte sie auch die auf der kopflosen Flucht durch die Baumschule verloren? Nein. Nein, da lag sie noch. Siferra griff danach und stand auf.
Der Wald schien ihr zuzuwinken. Sie drehte sich um und floh in sei nen kühlen, dunklen Schatten. Und lief weiter, solange ihre Kräfte reichten. Was blieb ihr sonst auch übrig? Sie konnte nur laufen. Laufen. Laufen.
Kapitel 31 Es war am späten Nachmittag des dritten Tages nach der Sonnenfins ternis. Beenay humpelte den verlassenen Feldweg entlang, der zum Schutzbunker führte, er ging langsam und sah sich wachsam nach allen Seiten um. Drei Sonnen standen am Himmel, und die Sterne waren längst wieder in die Verborgenheit vergangener Epochen zurückgekehrt. Doch die Welt hatte sich in diesen drei Tagen unwiderruflich verändert. Und Beenay mit ihr. Dies war der erste Tag, an dem der junge Astronom wieder vollends fähig war, vernünftig zu denken. Was er in den zwei Tagen zuvor ge trieben hatte, wußte er nicht so genau. Diese Spanne war ein einziger Nebel, in einzelne Abschnitte unterteilt durch Onos’ Auf- und Unter gänge, begleitet von anderen Sonnen, die dann und wann über den Himmel wanderten. Hätte ihm jemand gesagt, dies sei der vierte Tag seit der Katastrophe, oder auch der fünfte oder sechste, Beenay wäre nicht in der Lage gewesen zu widersprechen. Der Rücken tat ihm weh, sein rechtes Bein war voller blauer Flecken, und über eine Gesichtshälfte zogen sich blutverkrustete Kratzer. Er fühl te sich immer noch wie durch die Mangel gedreht, freilich hatten sich die unerträglichen Schmerzen der ersten Stunden zu sechs verschiede nen Arten eines dumpfen Pochens in allen möglichen Teilen seines Körpers abgeschwächt. Was war geschehen? Wo war er gewesen? Er erinnerte sich an die Schlacht im Observatorium und wünschte, er könnte sie vergessen. Eine kreischende, johlende Horde von außer Rand und Band geratenen Städtern hatte die Tür aufgebrochen – auch eine Handvoll Apostel in schwarzen Kutten war darunter, aber größtenteils waren es ganz gewöhnliche Menschen, brave, einfache, langweilige Bürger wahrscheinlich, die ihr ganzes Leben mit braven, einfachen, langweiligen Tätigkeiten zugebracht hatten, um die Gesellschaft in Gang zu halten. Nun hatte die Gesellschaft plötzlich den Betrieb einge stellt, und alle diese ganz gewöhnlichen, sympathischen Menschen hat ten sich auf einen Schlag in tobende Bestien verwandelt. Als sie schließlich hereingestürmt kamen – entsetzlich! Sie hatten die Kameras zerschlagen, die eben noch unersetzliche Aufnahmen von der Sonnenfinsternis gemacht hatten, sie hatten die Röhre des großen So
larskops aus dem Dach des Observatoriums gerissen, sie hatten Compu terterminals über die Köpfe geschwungen und zu Boden geschmettert… Und Athor hatte sich wie ein Halbgott über sie erhoben und sie aus dem Haus gewiesen! – Mit dem gleichen Erfolg, als hätte er den Fluten des Ozeans die Umkehr befohlen. Beenay entsann sich, daß er Athor angefleht hatte, mit ihm zu kom men, zu fliehen, solange eine Flucht noch möglich war. Athor hatte ihn offenbar kaum erkannt. „Lassen Sie mich los, junger Mann!“ hatte er ihn angeschrien. „Nehmen Sie Ihre Hände weg, Sir!“ Da erst hatte Bee nay begriffen, was er schon längst hätte sehen müssen: Athor war wahnsinnig geworden, und der kleine Teil seines Bewußtseins, der noch zu rationalem Denken fähig war, sehnte sich nach dem Tod. Diesem Schatten des einstigen Athor fehlte jeglicher Überlebenswille – der Mann wollte sich dieser schrecklichen, neuen Barbarenwelt nach der Sonnenfinsternis nicht mehr aussetzen. Als Einzelereignis war dies das tragischste von allem, dachte Beenay. Die Zerstörung von Athors Selbsterhaltungstrieb, die verzweifelte Kapitulation des großen Astro nomen vor dem Zusammenbruch der Zivilisation. Und dann – die Flucht aus dem Observatorium, das letzte, was Beenay einigermaßen klar im Gedächtnis geblieben war: noch ein Blick zurück in den Hauptraum, wo Athor gerade in einer Horde von Randalierern verschwand, dann hatte er sich abgewandt, war durch eine Seitentür geschlüpft, die Feuerleiter hinuntergehastet, durch den Hinterausgang hinaus auf den Parkplatz… Wo ihn die Sterne in all ihrer schrecklichen Majestät erwarteten. Mit unglaublicher Naivität, wie er im Nachhinein einsah, vielleicht auch mit einem an Überheblichkeit grenzenden Selbstbewußtsein, hatte er ihre Macht vollkommen unterschätzt. Bei ihrem ersten Erscheinen war er im Observatorium so sehr in seine Arbeit vertieft gewesen, daß sie ihm nichts anhaben konnten; er hatte sie lediglich als interessantes Phänomen registriert, das genauer untersucht werden mußte, sobald er einen Moment dafür erübrigen konnte, dann war er wieder zur Tages ordnung übergegangen. Doch hier draußen, unter den erbarmungslosen Weiten des Himmels, hatte ihn der Anblick mit voller Wucht getroffen. Er war wie betäubt. Das grausam kalte Licht von Tausenden von Son nen stürzte auf ihn herab, und er brach hilflos in die Knie. Auf allen vieren kroch er weiter, von würgender Angst gequält, in keuchenden Stößen atmend. Seine Hände zitterten wie im Fieber, sein Herz raste, der Schweiß lief ihm in Strömen über das glühende Gesicht. Eine schwache Erinnerung an den Forscherdrang, der ihn einst beseelte, bewog ihn, den Kopf zu heben, sich der Strahlenpracht am Himmel zu stellen, um sie zu untersuchen, zu analysieren und zu dokumentieren, doch schon nach
wenigen Sekunden war er gezwungen, die Hand schützend über die Augen zu legen. Soviel wußte er noch: Das Ringen um den Blick auf die Sterne, das Scheitern, die Resignation. Von da an verschwimmt alles. Schätzungsweise ein oder zwei Tage Umherirren im Wald. Stimmen in der Ferne, meckerndes Lachen, rau her, mißtönender Gesang. Knisternde Feuer am Horizont; überall der herbe Geruch nach Rauch. Niederknien, um das Gesicht in einen Bach zu tauchen, das kühle Wasser prickelnd auf der Wange spüren. Ein Rudel kleiner Tiere – keine Wildtiere, wie er im Rückblick er kennt, sondern entlaufene Haustiere – die ihn umringen und ihn ankläf fen, als wollten sie ihn in Stücke reißen. Beeren von einer Ranke streifen. Auf einen Baum klettern, um sich die zarten, goldenen Früchte zu holen, und herabstürzen, mit verheerender Wucht auf dem Boden aufschlagen. Lange, qualvolle Stunden, bis er sich endlich aufrafft, um weiterzuziehen. Im tiefsten, dunkelsten Teil des Waldes ein jäh ausbrechender Kampf auf Leben und Tod – Fäuste wie Dreschflegel, spitze Ellbogen in den Rippen, wütende Tritte, dann Steine, ein tierisches Kreischen, ein Män nergesicht ganz dicht vor ihm, glühend rote Augen, ein wildes Gerangel, man wälzt sich hin und her – der Griff nach einem schweren Stein, eine einzige, entschlossene Bewegung, der Schlag… Stunden. Tage. Ein Fieberrraum. Endlich, am Morgen des dritten Tages, die Erkenntnis, wer er ist, was geschehen ist. Der Gedanke an Raissta, seine Gefährtin. Das Verspre chen, nach Beendigung seiner Tätigkeit im Observatorium zu ihr in den Schutzbunker zu kommen. Der Schutzbunker – wo war er nur? Beenays Gedächtnis war inzwischen soweit wiederhergestellt, daß es die Frage beantwortete: das Universitätspersonal hatte auf halbem Wege zwischen dem Campus und Saro City Zuflucht gesucht, auf freiem Ge lände, inmitten von Wiesen und Feldern. Dort gab es einen riesigen, unterirdischen Raum für den alten Teilchenbeschleuniger der Physikali schen Fakultät, aber man hatte die Anlage vor einigen Jahren aufgege ben, als das neue Forschungszentrum auf den Saro-Höhen gebaut wur de. In den weitläufigen Betongewölben hatten sich ohne großen Auf wand Notunterkünfte für ein paar hundert Personen einrichten lassen, und da man den Zugang zum Beschleunigergelände aus Sicherheits gründen immer schon mit Hindernissen versehen hatte, bereitete es auch weiter keine Schwierigkeiten, ihn gegen das Eindringen von Stadtbe wohnern zu sichern, die infolge der Sonnenfinsternis eventuell den Verstand verloren hatten.
Doch um den Schutzbunker zu finden, mußte Beenay erst einmal fest stellen, wo er sich befand. Und er war mindestens zwei Tage, vielleicht auch länger, blind durch die Gegend geirrt. Er konnte überall sein. In den frühen Morgenstunden gelangte er eher zufällig aus dem Wald heraus und stand ganz überrascht in einem einstmals eleganten Wohn viertel. Nun war alles verlassen, das Chaos hatte Einzug gehalten. Die Straßen waren verstopft mit Autos, deren Fahrer einfach ausgestiegen waren, als sie nicht mehr weiterfahren konnten, da und dort lag auch, umschwärmt von einer schwarzen Fliegenwolke, eine Leiche auf der Fahrbahn. Nichts wies darauf hin, daß hier noch jemand am Leben war. Den ganzen langen Vormittag stapfte Beenay eine von rußgeschwärz ten, leeren Häusern gesäumte Vorortsstraße entlang, ohne einen einzi gen Winkel zu entdecken, der ihm vertraut gewesen wäre. Als Trey und Patru gegen Mittag am Himmel erschienen, betrat er durch eine offen stehende Tür ein Haus und suchte nach Lebensmitteln, die noch nicht verdorben waren. Aus dem Hahn in der Küche kam kein Wasser; aber im Keller fand er einen Kasten Mineralwasser und trank, soviel er konn te. Mit dem Rest wusch er sich. Danach folgte er einer Straße, die in Serpentinen auf eine Hügelkuppe führte. An ihrem Ende standen große, prächtige Villen, die samt und sonders ausgebrannt waren. Vom obersten Haus war nichts übriggeblie ben als eine rosa und blau geflieste Terrasse mit Blick über das Tal, die sicher einmal wunderhübsch gewesen war. Jetzt war der glänzende Bo den mit dicken, schwarzen Abfallklumpen übersät. Beenay suchte sich mühsam einen Weg bis an den Rand und schaute in die Ferne. Kein Lüftchen regte sich. Kein Flugzeug war zu sehen, er hörte keinen Straßenlärm, von allen Seiten drang nur ohrenbetäubende Stille auf ihn ein. Plötzlich wußte Beenay, wo er war, die einzelnen Teile fügten sich zu einem Bild. Zu seiner Linken sah er die Universität, eine Gruppe stattlicher Zie gelbauten, die meisten verrußt, einige offenbar völlig zerstört. Dahinter erhob sich auf einem Höhenzug das Observatorium. Beenay streifte es nur mit einem kurzen Blick und war froh, daß er aus dieser Entfernung nicht erkennen konnte, in welchem Zustand es sich befand. Zu seiner Rechten lag in weiter Ferne Saro City funkelnd im hellen Sonnenschein. Beenay erschien die Stadt fast unversehrt, aber er wußte, daß er mit einem Feldstecher gewiß leere Fensterhöhlen, eingestürzte Gebäude, glühende Aschehaufen und aufsteigende Rauchfäden erkennen würde, Narben der Brände, die mit Einbruch der Dunkelheit aufgelodert waren. Direkt unter ihm erstreckte sich zwischen Stadt und Campus der Wald, in dem er in geistiger Umnachtung umhergeirrt war. Der Schutzbunker mußte gleich jenseits davon liegen; womöglich war er einen Tag zuvor
bis auf ein paar hundert Meter an den Eingang herangekommen, ohne es zu ahnen. Die Vorstellung, diesen Wald noch einmal durchqueren zu müssen, behagte ihm gar nicht. Fraglos wimmelte es darin von Wahnsinnigen und Verbrechern, von angriffslustigen, entlaufenen Haustieren und an deren Gefahren. Doch von hier oben konnte er die Straße quer durch den Wald sowie das Netz von Zubringern sehen, die von allen Seiten in sie einmündeten. Solange du auf ausgetretenen Pfaden bleibst, sagte er sich, wird dir nichts geschehen. Und er hatte recht. Als er den Wald hinter sich gebracht hatte und in den schmalen Feldweg zum Schutzbunker einbog, stand Onos noch immer hoch am Himmel. Die Schatten waren kaum länger geworden, als er das äußere Tor erreichte. Beenay wußte, daß es durch einen lan gen, unbefestigten Weg mit einem zweiten Tor verbunden war. Von dort brauchte er nur noch um ein paar Nebengebäude herumzugehen, und schon würde er den unterirdischen Eingang zum eigentlichen Schutz bunker vor sich haben. Das äußere Tor, eine hohe Wand aus Maschendraht, stand offen. Ein erschreckender Anblick, auf den er nicht gefaßt war. Hatte der Pöbel auch hier gewütet? Aber er entdeckte keinerlei Verwüstungen. Bis auf das offene Tor war alles so, wie es sich gehörte. Verwirrt trat er ein und ging den Weg ent lang. Wenigstens das innere Tor war geschlossen. „Ich bin Beenay 25“, sagte er und nannte außerdem den Identifikati onscode der Universität. Augenblicke verstrichen, dehnten sich zu Mi nuten, aber nichts geschah. Das grüne Scannerauge über dem Tor schien zu funktionieren – er sah, wie sich die Linse hin und her bewegte – aber vielleicht hatte die Computersteuerung keinen Strom mehr, oder jemand hatte sie zerschlagen. Er wartete. Er wartete noch ein wenig. „Ich bin Beenay 25“, wiederholte er schließlich und nannte noch einmal seine Nummer. „Ich bin zugangsberechtigt.“ Dann fiel ihm ein, daß Name und Nummer nicht genügten; es gab auch noch ein Paßwort. Aber wie lautete es? Panik regte sich in seiner Seele. Er wußte es nicht mehr. Er hatte es vergessen. War das nicht grotesk? Da hatte er endlich bis hierher gefunden, und nun saß er dank seiner eigenen Dummheit vor dem Tor fest. Das Paßwort… das Paßwort… Es hatte etwas mit der Katastrophe zu tun. „Sonnenfinsternis?“ Nein, das war es nicht. Er zerbrach sich seinen ohnehin schmerzenden Kopf. „Kalgash Zwei?“ Auch das klang irgendwie nicht richtig. „Dovim?“ „Onos?“ „Sterne?“
Das kam der Sache schon näher.
Endlich ging ihm ein Licht auf.
„Nacht“, sagte er triumphierend.
Es passierte immer noch nichts, zumindest nicht gleich.
Erst nach weiteren tausend Jahren, jedenfalls schien es ihm so, öffnete
sich das Tor und ließ ihn ein. Er umging die Nebengebäude und stand schließlich vor der ovalen Metalltür des eigentlichen Schutzbunkers, die in einem Winkel von fünfundvierzig Grad in den Boden eingelassen war. Hier richtete sich ein zweites, grünes Auge auf ihn. Mußte er sich etwa noch einmal iden tifizieren? Offenbar ja. „Ich bin Beenay 25“, sagte er und richtete sich schon auf eine weitere Wartezeit ein. Doch das Tor rollte sofort zurück. Der betonierte Vorplatz des Schutz bunkers lag vor ihm. Keine zehn Meter entfernt stand Raissta 717. „Beenay!“ rief sie und rannte auf ihn zu. „Oh, Beenay, Beenay…“ Seit sie sich vor zwei Jahren zur Partnerschaft entschlossen hatten, wa ren sie nie länger als achtzehn Stunden getrennt gewesen. Nun hatten sie sich seit Tagen nicht mehr gesehen. Er zog die schmale Gestalt fest an sich, und es dauerte lange, bis er sie wieder freigab. Erst jetzt bemerkte er, daß sie immer noch in der Türöffnung standen. „Sollten wir nicht hineingehen und das Tor hinter uns schließen?“ fragte er. „Wenn mir nun jemand gefolgt ist? Ich glaube es zwar nicht, aber…“ „Das macht nichts. Außer uns ist niemand hier.“
„Was?“
„Alle anderen sind gestern aufgebrochen“, berichtete sie. „Gleich nach
Onos-Aufgang. Sie wollten mich auch mitnehmen, aber ich sagte, ich würde auf dich warten.“ Er starrte sie verständnislos an. Dabei fiel ihm auf, wie müde und abgespannt sie aussah, wie schmal und hager. Das einst so glänzende Haar hing ihr in ungepflegten Sträh nen um das blasse, ungeschminkte Gesicht. Die Augen waren gerötet und verquollen. Sie schien um fünf oder gar zehn Jahre gealtert zu sein. „Raissta, wann war die Sonnenfinsternis?“
„Heute vor drei Tagen.“
„Drei Tage. Das hatte ich mir in etwa auch ausgerechnet.“ Seine
Stimme warf ein seltsames Echo. Er blickte an ihr vorbei in den verlas senen Schutzbunker. Im Licht der Glühbirnen an der Decke erstreckte sich der kahle Raum in unendliche Tiefen. So weit das Auge reichte, war niemand zu sehen. Damit hatte er nun ganz und gar nicht gerechnet. Laut Plan hätten alle hier unten bleiben sollen, bis die Gefahr vorüber war. Erstaunt fragte er: „Wo wollten sie denn hin?“
„Nach Amgando.“ „In den Nationalpark? Der ist doch Hunderte von Meilen entfernt! Sind sie denn verrückt geworden? Wie konnten sie schon am zweiten Tag das Versteck verlassen, um quer durch das Land zu marschieren? Hast du überhaupt eine Vorstellung, was da draußen los ist, Raissta?“ Der Amgando-Park war ein Naturschutzgebiet weit im Süden, ein Ge lände, wo die Tiere noch in freier Wildbahn lebten und man die einhei mischen Pflanzen der Provinz eifersüchtig hütete. Als Junge war Beenay einmal mit seinem Vater dort gewesen. Das ganze Gebiet war praktisch Urwald, nur ein paar Wanderpfade führten hinein. „Sie hielten es für notwendig“, sagte sie. „Notwendig?“ „Wir erhielten die Nachricht, jeder, der noch bei Verstand sei und sich am Wiederaufbau der Gesellschaft beteiligen wolle, solle sich in Am gando einfinden. Offenbar strömen Tausende von Menschen aus allen Himmelsrichtungen dort zusammen. Meist von anderen Universitäten, aber auch ein paar Leute von der Regierung.“ „Schön. Da trampelt also eine ganze Horde von Professoren und Poli tikern durch den Park. Wenn ohnehin alles in Trümmern liegt, können wir ruhig auch noch das letzte Stück unberührte Natur zerstören, das uns geblieben ist, was?“ „Das ist nicht so wichtig, Beenay. Wichtig ist, daß der Amgando-Park in den Händen von vernünftigen Menschen ist, er stellt eine Enklave der Zivilisation inmitten des allgemeinen Wahnsinns dar. Und die Leute, die bereits dort sind, wußten von uns und haben uns aufgefordert, zu ihnen zu stoßen. Wir haben abgestimmt, und das Ergebnis lautete zwei zu eins dafür.“ „Zwei zu eins“, wiederholte Beenay böse. „Ihr habt durchgedreht, auch ohne die Sterne gesehen zu haben! Man stelle sich das vor! Da verlassen diese Leute den Schutzbunker, um einen Spaziergang von dreihundert – oder gar fünfhundert – Meilen zu unternehmen, obwohl da draußen alles drunter und drüber geht. Warum konntet ihr nicht einen oder noch besser sechs Monate warten? Ihr hattet genügend Lebensmit tel und Wasser für ein volles Jahr.“ „Genau das haben wir auch gesagt“, gab Raissta zurück. „Aber die Leute von Amgando meinten, wir müßten gleich kommen. Wenn wir noch ein paar Wochen warteten, hätten wir es nicht mehr nur mit klei nen Banden umherstreifender Irrer zu tun, sondern mit straff geführten Truppen unter regionalen Kommandanten. Und wenn wir noch länger warteten, dann hätten die Apostel des Feuers wahrscheinlich bereits eine repressive, neue Regierung gebildet, mit eigener Polizei und eigenem Heer, und wenn wir nur einen Fuß aus dem Schutzbunker setzten, wür den wir sofort abgefangen. Jetzt oder nie, sagten die Leute von Amgan
do. Immer noch besser, sich mit verstreuten, halb wahnsinnigen, füh rungslosen Banditen auseinanderzusetzen, als mit einer straff geführten Armee. Deshalb haben wir uns zum Aufbruch entschlossen.“ „Alle bis auf dich.“ „Ich wollte auf dich warten.“ Er nahm ihre Hand. „Woher wußtest du, daß ich kommen würde?“ „Du hast es doch versprochen. Sobald du die Aufnahmen von der Sonnenfinsternis gemacht hättest. Und du hältst immer, was du ver sprichst, Beenay.“ „Ja“, bestätigte er geistesabwesend. Der Schock über den verlassenen Schutzbunker saß ihm noch in den Knochen. Er hatte gehofft, hier un terkriechen zu können, bis sein angeschlagener Körper sich erholt und sein vom Anblick der Sterne erschütterter Geist sich völlig regeneriert hatte. Was sollten sie jetzt tun? Alleine hier hausen, nur sie beide, in diesem riesigen Betongewölbe, wo jeder Laut ein Echo erzeugte? Oder sich auf eigene Faust auf den Weg nach Amgando machen? Auf para doxe Weise war die Entscheidung, den Schutzbunker zu verlassen, so gar sinnvoll – wenn es überhaupt sinnvoll war, sich in Amgando zu versammeln, dann empfahl es sich wohl, die Reise jetzt anzutreten, so lange im Land noch die blanke Anarchie herrschte, anstatt zu warten, bis neue politische Kräfte, seien es die Apostel oder selbsternannte regi onale Bandenchefs, sämtliche Beziehungen zwischen den einzelnen Bezirken unterbanden. Aber er hatte sich danach gesehnt, seine Freunde zu treffen – aufzugehen in einer Gemeinschaft verwandter Seelen, bis er sich von den Schrecken der letzten Tage erholt hatte. Matt fragte er: „Hast du eigentlich eine Ahnung, was da draußen los ist, Raissta?“ „Wir wurden über Kommunikator auf dem laufenden gehalten, bis das Netz zusammenbrach. Demnach ist die Stadt fast völlig niedergebrannt, und auch die Universität wurde schwer beschädigt – das stimmt doch alles, nicht wahr?“ Beenay nickte. „Soviel ich weiß. Ich konnte aus dem Observatorium fliehen, als eine rasende Horde sich gewaltsam Zutritt verschaffte. Athor wurde mit ziemlicher Sicherheit getötet. Die ganze Ausrüstung wurde zerstört – alle unsere Daten über die Sonnenfinsternis vernichtet…“ „Oh, Beenay, es tut mir ja so leid.“ „Ich entkam durch den Hinterausgang. Sobald ich im Freien war, stürzten die Sterne auf mich herab wie eine, nein, wie zwei Fuhren Zie gelsteine. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das war, Raissta, und ich bin froh darüber. Ich war zwei Tage lang nicht bei mir, bin kopflos durch die Wälder geirrt. Es gibt kein Gesetz mehr. Jeder ist auf sich allein gestellt. Es ist möglich, daß ich bei einem Kampf einen Menschen getötet habe. Die Haustiere laufen frei herum – die Sterne haben wohl auch sie um den Verstand gebracht – sie sind furchterregend.“
„Beenay, Beenay…“ „Alle Häuser sind ausgebrannt. Heute morgen kam ich durch die No belsiedlung auf dem Berg gleich südlich des Waldes – heißt er nicht Onos-Kuppe? – und ich konnte das Ausmaß der Zerstörung kaum fas sen. Weit und breit kein Mensch zu sehen. Auf den Straßen demolierte Autos und Leichen, die Häuser in Trümmern – mein Gott, was für eine Nacht! Und der Wahnsinn ist noch immer nicht zu Ende.“ „Du kommst mir ganz normal vor“, sagte sie. „Aufgewühlt, aber nicht…“ „Verrückt? Das war ich aber. Von dem Moment an, als ich zum ersten Mal unter den Sternen stand, bis heute, als ich aufwachte. Da erst be gann sich in meinem Kopf alles wieder zusammenzufügen. Ich glaube allerdings, daß es die meisten Menschen noch viel schlimmer getroffen hat. Vor allem jene, die gefühlsmäßig überhaupt nicht darauf vorbereitet waren, die einfach zum Himmel aufschauten und – wamm! – feststellen mußten, daß die Sonnen verschwunden waren und die Sterne schienen. Wie dein Onkel Sheerin sagte, wird es ein breites Spektrum von Reakti onen geben, von kurzfristiger Desorientierung bis zu absolutem und irreversiblem Wahnsinn.“ „Sheerin war während der Sonnenfinsternis bei dir im Observatorium, nicht wahr?“ fragte Raissta leise. „Ja.“ „Und danach?“ „Ich weiß es nicht. Ich war mit den Aufnahmen von der Sonnenfins ternis beschäftigt. Ich habe keine Ahnung, was aus ihm wurde. Als der Pöbel eindrang, war er nirgendwo zu sehen.“ Raissta lächelte schwach. „Vielleicht hat er die Verwirrung ausgenützt und sich aus dem Staub gemacht. Es würde zu ihm passen – wenn es brenzlig wird, kann er manchmal unglaublich flink sein. Ich würde es entsetzlich bedauern, wenn ihm etwas Schlimmes zugestoßen wäre.“ „Raissta, der ganzen Welt ist etwas Schlimmes zugestoßen. Vielleicht hatte Athor recht: Vielleicht ist es am besten, die Katastrophe über sich hinwegfegen und sich mitreißen zu lassen. Dann braucht man sich we nigstens nicht mit einer Welt herumzuschlagen, die von Wahnsinn und Chaos beherrscht wird.“ „So darfst du nicht reden, Beenay.“ „Nein, nein, das darf ich nicht.“ Er trat hinter sie und streichelte zärt lich ihre Schultern, dann beugte er sich vor und drückte ihr einen zärtli chen Kuß aufs Ohr. – „Raissta, was machen wir jetzt?“ „Ich glaube, ich kann es erraten“, sagte sie. Trotz allem mußte er lachen. „Ich meine, hinterher.“ „Darüber können wir uns hinterher Gedanken machen“, erklärte sie.
Kapitel 32
Theremon war nie ein besonderer Naturfreund gewesen, er hielt sich vielmehr für den Inbegriff des Stadtmenschen. Gras, Bäume, frische Luft, freier Himmel – er hatte nicht direkt etwas dagegen, aber einen besonderen Reiz konnte er dem allen nicht abgewinnen. Seit Jahren bewegte sich sein Leben auf immer gleicher Bahn zwischen drei festen Punkten in der Stadt: seiner kleinen Wohnung, seinem Büro im Chro nicle und dem Sechs-Sonnen-Club. Nun war er auf einen Schlag zum Waldbewohner geworden. Seltsamerweise fühlte er sich fast wohl dabei. Was die Bürger von Saro City als ‚den Wald’ bezeichneten, war ei gentlich nur ein größeres Gehölz, das im Südosten an die Stadt angrenz te und sich etwa zwölf Meilen weit am Südufer des Seppitan erstreckte. Früher einmal war es viel ausgedehnter gewesen, eine riesige Wildnis, die schräg durch die Mitte der Provinz fast bis ans Meer reichte, doch nun wurde der größte Teil landwirtschaftlich genutzt, von dem, was noch übrig war, hatte man ein ansehnliches Stück parzelliert und mit Siedlungshäusern bebaut, und vor fünfzig Jahren hatte die Universität noch einen ordentlichen Happen für ihren damals neuen Campus abge zwackt. Um nicht ringsum von Vorortsiedlungen eingeschlossen zu werden, hatte die Universität sodann alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den letzten Rest als Parkreservat zu erhalten, und da der Wille der Universität in Saro City seit vielen Jahren ehernes Gesetz war, blieb dieser letzte Streifen der alten Wildnis unangetastet. Hier hatte Theremon sich nun häuslich niedergelassen. Die beiden ersten Tage waren schlimm gewesen. Der Anblick der Sterne hatte ihm einen so tiefen Schock versetzt, daß er in seiner Be nommenheit nicht imstande war, einen klar umrissenen Entschluß zu fassen. Hauptsache war erst einmal, am Leben zu bleiben. Die Stadt brannte – überall roch es nach Rauch, die Luft war glühend heiß, von gewissen Punkten aus konnte man sogar Flammen über die Dächer züngeln sehen – es war also ganz gewiß nicht ratsam, dorthin zurückzukehren. Deshalb hatte er einige Zeit nach der Sonnenfinsternis, als sich der Wirrwarr in seinem Kopf ein wenig ordnete, den Campus verlassen und war einfach so lange bergab gegangen, bis er sich im Wald wiederfand. Viele andere waren auf die gleiche Idee gekommen. Einige sahen aus wie Universitätsangehörige, andere hatten vermutlich mit dem Pöbel während der Sonnenfinsternis das Observatorium gestürmt, und der Rest setzte sich wohl aus Siedlungsbewohnern zusammen, die vor den aus brechenden Bränden aus ihren Häusern hatten fliehen müssen.
Wem er auch begegnete, jeder schien mindestens ebenso verwirrt zu sein wie er selbst. Die meisten waren sehr viel schlimmer dran – einige waren völlig aus der Bahn geworfen und fanden sich überhaupt nicht mehr zurecht. Noch hatten sich keine Banden gebildet. Meist sah man Einzelgänger auf geheimnisvollen Pfaden durch den Wald streifen, manchmal auch Zweier- oder Dreiergrüppchen. Die größte Ansammlung, die Theremon traf, bestand aus acht Leuten, dem Aussehen und der Kleidung nach alles Angehörige einer einzigen Familie. Die wirklich Verrückten boten einen grauenhaften Anblick: leere Au gen, von den Lippen tropfender Speichel, schlaff herabhängender Un terkiefer, besudelte Kleidung. Sie schlurften wie wandelnde Leichname über die Waldlichtungen, redeten mit sich selbst, sangen vor sich hin, ließen sich gelegentlich auf alle viere nieder, wühlten ein Büschel Gras aus dem Boden und kauten daran. Sie waren überall. Der Wald schien eine einzige Irrenanstalt geworden zu sein, dachte Theremon. Und wahrscheinlich galt das für die ganze Welt. Menschen dieser Art, die unter dem Erscheinen der Sterne am tiefsten gelitten hatten, waren im allgemeinen harmlos, zumindest für ihre Nächsten. Sie waren zu verstört, um gewalttätig zu werden, und ihre Koordination war so stark beeinträchtigt, daß sie zu Tätlichkeiten ohne hin nicht fähig gewesen wären. Andere waren freilich nicht ganz so verrückt – auf den ersten Blick wirkten sie sogar fast normal – und sie stellten eine weit ernstere Gefahr dar. Theremon erkannte schnell, daß sie in zwei Untergruppen einzuordnen waren. Zur ersten Kategorie gehörten Menschen, die niemandem etwas Böses wollten, aber von der hysterischen Angst besessen waren, die Dunkelheit und die Steine könnten wiederkommen. Das waren die Feu erteufel. Vor der Katastrophe hatten sie höchstwahrscheinlich ein beschauli ches, geregeltes Leben geführt – waren arbeitsame Familienväter, freundliche, hilfsbereite Nachbarn gewesen. Solange Onos schien, wa ren sie auch jetzt noch ganz ruhig; doch sobald sich die Hauptsonne im Westen dem Horizont zuneigte und der Abend nahte, wurde ihre Dun kelangst übermächtig, und sie sahen sich fieberhaft nach etwas Brennba rem um. Irgend etwas, ganz gleich, was es war. Selbst wenn bei OnosUntergang immer noch zwei oder drei der kleineren Sonnen am Himmel standen, reichte ihr Licht offenbar nicht aus, um die panische Angst zu beschwichtigen, die diese Menschen quälte. Sie hatten sich selbst die Stadt über den Köpfen angezündet. Sie hatten in ihrer Verzweiflung Bücher, Papiere, Möbel, Hausdächer in Brand gesteckt. Das Inferno in der Stadt hatte sie in den Wald getrieben, und
nun suchten sie auch ihn niederzubrennen. Doch das war nicht ganz so einfach. Die dichte Vegetation stand in vollem Saft, die sattgrünen Bäume wurden von zahllosen Bächen, die in den breiten, am Waldrand entlangfließenden Seppitan mündeten, reichlich mit Wasser versorgt. Mit den noch grünen, abgerissenen Ästen ließen sich keine lodernden Flammen erzeugen. Und der dicke Teppich aus totem Holz und ver welktem Laub, der den Boden bedeckte, war nach den jüngsten Regen fällen gut durchfeuchtet. So kam es, daß jedes dürre Zweiglein rasch aufgespürt wurde und bei kleineren Lagerfeuern Verwendung fand, ohne daß eine größere Feuersbrunst ausgebrochen wäre; und schon am zweiten Tag war Reisig sehr knapp geworden. Da also die Feuerteufel dank der Bedingungen im Wald und infolge ihrer eigenen Geistesverwirrung in ihren Möglichkeiten stark beschränkt waren, hatten sie bisher wenig Erfolg gehabt. Trotzdem war es ihnen gelungen, etliche größere Brände zu entfachen, die zum Glück innerhalb weniger Stunden von selbst erloschen waren, weil sie in der näheren Umgebung keine Nahrung mehr fanden. Allerdings brauchten nur ein paar trockene, heiße Tage zu kommen, und diese Leute würden den ganzen Wald ebenso in Flammen aufgehen lassen wie zuvor schon Saro City. Die zweite Kategorie von geistig Gestörten, denen Theremon im Wald begegnete, erschienen ihm dagegen als unmittelbare Bedrohung. Diese Menschen hatten alle gesellschaftlichen Hemmungen abgestreift. Es waren Banditen, Raufbolde, Mörder, Psychopathen, gemeingefährliche Irre. Wie stoßbereite Klingen schlichen sie über die stillen Waldwege, stießen zu, wann es ihnen beliebte, nahmen sich, was sie wollten, und töteten jeden, der das Pech hatte, ihren Zorn zu erregen. Eine gewisse Starre hatte jeder im Blick, bei manchen war sie ein Zei chen von Müdigkeit, bei anderen von Verzweiflung und bei einigen auch von Wahnsinn, und deshalb konnte man bei einem zufälligen Tref fen im Wald die Gefahren nie so recht einschätzen. Wie sollte man auch mit einem kurzen Blick feststellen, – ob die Person, die da auf einen zukam, nur verwirrt und desorientiert, im Grunde also harmlos war, oder ob sie von Mordlust beherrscht wurde und ohne Sinn und Verstand auf alles losging, was ihr über den Weg lief? Folglich lernte man schnell, stets auf der Hut zu sein, wenn jemand in allzu selbstbewußter Haltung durch den Wald getänzelt kam. Jeder, wirklich jeder Fremde konnte eine Bedrohung darstellen. Manchmal unterhielt man sich ganz freundschaftlich, tauschte Erfahrungen über die Zeit seit der Katastrophennacht aus, und plötzlich nahm der andere An stoß an irgendeiner beiläufigen Bemerkung, fand Gefallen an einem Kleidungsstück, das man trug, oder faßte nur eine blinde, durch nichts
begründete Abneigung gegen das Gesicht, das er vor sich sah – und stürzte mit tierischem Geheul in blinder Wut auf einen los. Einige aus dieser Gruppe mußten von vornherein kriminell veranlagt gewesen sein, und als ringsum die ganze Gesellschaft zusammenbrach, hatten sie alle Zurückhaltung aufgegeben. Andere dagegen hatten wohl als friedliche Bürger gelebt, bis die Sterne ihnen den Verstand raubten. Dann fielen plötzlich alle anerzogenen Hemmungen von ihnen ab. Sie vergaßen die Normen, die ein zivilisiertes Leben erst ermöglichten, und wurden wieder wie kleine Kinder, asozial und nur um ihre eigenen Be dürfnisse besorgt – aber mit der Körperkraft von Erwachsenen und dem starken Willen von Geistesgestörten. Um zu überleben, mußte man denen ausweichen, die man als gefährli che Irre erkannte oder verdächtigte. Und man mußte darum beten, daß sie sich während der ersten Tage gegenseitig ausrotten und die Welt den weniger Aggressiven überlassen würden. In den ersten zwei Tagen war Theremon drei Irren dieser erschrecken den Sorte begegnet. Der erste, ein großer, schlanker Mann mit einem unheimlichen, diabolischen Grinsen, hüpfte am Ufer eines Baches her um, den Theremon überqueren wollte, und verlangte von dem Journalis ten eine Maut. „Sagen wir, deine Schuhe. Oder wie wär’s mit deiner Armbanduhr?“ „Wie wär’s, wenn du mir aus dem Weg gingst?“ schlug Theremon vor, und schon rastete der Mann aus. Er schnappte sich einen Knüppel, den Theremon bis dahin nicht be merkt hatte, stieß eine Art Kriegsschrei aus und griff an. Für ein Aus weichmanöver war keine Zeit; der Journalist konnte sich gerade noch ducken, als der andere ausholte und mit gewaltigem Schwung auf seinen Kopf zielte. Der Knüppel sauste pfeifend haarscharf an ihm vorbei und krachte in einen Baum daneben – der Aufprall war so heftig, daß er den Arm des Angreifers lahmte. Der Mann keuchte auf vor Schmerz, der Knüppel entglitt seiner gefühllosen Hand. Sofort war Theremon über ihm, packte den verletzten Arm und riß ihn unbarmherzig nach hinten. Der andere ächzte, krümmte sich und fiel wimmernd auf die Knie. Theremon drückte ihm den Kopf so weit nach unten, bis sich das Gesicht im Wasser befand, dann hielt er ihn fest. Und hielt ihn fest. Und hielt ihn fest. Es wäre ganz einfach, staunte er. Ich brauchte nur so lange weiterzu machen, bis er ertrunken wäre. Eine innere Stimme riet ihm sogar zu. Er hätte dich völlig bedenkenlos getötet. Schaff ihn dir vom Hals. Was willst du machen, wenn du ihn losläßt? Noch einmal gegen ihn kämpfen? Und wenn er dir nun durch
den Wald folgt, um mit dir abzurechnen? Ertränke ihn jetzt, Theremon! Ertränke ihn! Die Versuchung war stark. Doch nur ein Teil von Theremon war be reit, sich so schnell auf die neue Dschungelmoral umzustellen, die nun die Welt beherrschte. Der Rest schreckte davor zurück, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen, und schließlich ließ er den Arm des Mannes los und rückte ein Stück von ihm ab. Dann hob er den Knüppel vom Boden auf und wartete. Doch der Kampfgeist seines Gegners war erloschen. Prustend und keuchend zog er den Kopf aus dem Bach. Das Wasser rann ihm in Strömen aus Mund und Nase. Fröstelnd, hustend und nach Luft ringend ließ er sich zu Boden sinken. Mürrisch und zugleich furchtsam blickte er zu Theremon auf, machte aber keine Anstalten, sich zu erheben, ge schweige denn, den Kampf wiederaufzunehmen. Theremon ging an ihm vorbei, sprang mit einem Satz über den Bach und verschwand mit schnellen Schritten tiefer im Wald. Erst zehn Minuten später brach die Erkenntnis, wie nahe er darange wesen war, zum Mörder zu werden, mit voller Wucht über ihn herein. Unvermittelt blieb er stehen, der Schweiß brach ihm aus, sein Magen krampfte sich zusammen, und der Brechreiz schüttelte ihn so heftig, daß er lange nicht weitergehen konnte. Am Spätnachmittag dieses Tages wurde klar, daß seine Wanderungen ihn an den Rand des Waldes geführt hatten. Ein vorsichtiger Blick zwi schen den Bäumen hindurch zeigte ihm eine – völlig verlassene – Straße und dahinter die Ruine eines hohen Ziegelbaus inmitten eines großen Platzes. Er erkannte das Gebäude wieder. Es war das Pantheon, die Kathedrale Aller Götter. Viel war nicht mehr davon übrig. Theremon überquerte die Straße und betrachtete es ungläubig. Allem Anschein nach war im Innern ein Feuer ausgebrochen – was hatten die Leute nur gemacht, die Bänke als Brenn holz verwendet? – und hatte sofort auf die Holzbalken des schmalen Turms über dem Altar übergegriffen. Der Turm war eingestürzt und hatte die Wände mitgerissen. Der ganze Platz war mit Ziegelbrocken übersät. Aus den Trümmern ragten Leichen hervor. Theremon hatte mit Religion nie viel im Sinn gehabt und kannte auch niemand, der anders dachte. Wie alle Welt verwendete er Phrasen wie ‚Mein Gott!’, ‚Ihr Götter!’ oder ‚Bei den großen Göttern! ‘, aber der Glaube an die Existenz eines oder mehrerer Götter, was immer die je weils herrschende Lehre vertrat, hatte seine Lebensführung nie beeinflußt. Für ihn war Religion eher ein kurioses Relikt aus dem Mit telalter. Dann und wann besuchte er eine Kirche, weil er zur Hochzeit eines – natürlich ebenso glaubenslosen – Freundes eingeladen war oder
für seine Zeitung über irgendeinen offiziellen Festakt zu berichten hatte – aber aus religiösen Gründen hatte er seit seiner eigenen Konfirmation im Alter von zehn Jahren keine irgendwie geartete Kultstätte mehr be treten. Trotzdem traf ihn der Anblick der zerstörten Kathedrale mitten ins Herz. Vor zwölf Jahren hatte er als junger Reporter an der Einweihungs feier teilgenommen. Er wußte, wieviele Millionen das Gebäude gekostet hatte; er hatte die prächtigen Kunstwerke darin bestaunt; und er hatte sich rühren lassen, als Ghissimals großartige Hymne an die Götter durch das mächtige Gewölbe schallte. Selbst er, der Freigeist, hatte unwillkür lich das Gefühl gehabt, wenn es auf Kalgash einen Ort gäbe, an dem die Götter wahrhaft gegenwärtig seien, so müsse es dieses Münster sein. Und nun hatten die Götter zugelassen, daß es zerstört wurde! Sie hat ten die Sterne geschickt, wohl wissend, daß dem Wahnsinn, den sie in den Menschen auslösten, sogar ihr eigenes Pantheon zum Opfer fallen würde! Was hatte das zu bedeuten? Was ließ sich daraus ableiten über den un erforschlichen, unergründlichen Willen der Götter – vorausgesetzt, es gab sie überhaupt? Theremon wußte, daß niemand die Kathedrale wiederaufbauen würde. Nichts würde je wieder so sein, wie es war. „Hilfe“, rief eine Stimme. Theremon wurde aus seinen Betrachtungen gerissen und sah sich um. „Hier drüben. Hier!“ Weiter links, ja. Da funkelte ein goldener Ornat in der Sonne. Ein halb verschütteter Mann, fast am anderen Ende der Seitenmauer – offenbar einer der Priester, der prunkvollen Robe nach zu urteilen. Auf seinem Unterleib lag ein schwerer Balken, der Mann schien Theremon mit letz ter Kraft zuzuwinken. Theremon setzte sich in Bewegung, aber er hatte noch keine zehn Schritte zurückgelegt, als auf der anderen Seite der Ruine eine zweite Gestalt erschien und sich im Laufschritt näherte: ein hageres, wendiges Männchen, das wieselflink über die Steine kletterte und dem einge klemmten Priester zustrebte. Gut, dachte Theremon. Zu zweit müßten wir es schaffen, den Balken wegzuziehen. Doch ein paar Schritte vor dem Ziel hielt er inne, starr vor Entsetzen. Der wendige Knirps hatte den Priester bereits erreicht. Er hatte sich über ihn gebeugt, ein kleines Messer gezückt und ihm mit einer schnellen Bewegung so selbstverständlich die Kehle durchgeschnitten, als öffne er einen Briefumschlag. Nun war er eifrig damit beschäftigt, die Bänder zu durchtrennen, die das kostbare Priestergewand zusammenhielten.
Theremon bedachte er mit einem drohenden Blick. In seinen Augen glühte die Gier. „Mein!“ knurrte er wie eine Bestie im Dschungel. „Mein!“ Er schwenkte das Messer. Theremon überlief es eiskalt. Lange stand er da wie angewurzelt und sah in grauenvoller Faszination zu, wie routiniert der Plünderer die Lei che des Priesters entkleidete. Endlich wandte er sich traurig ab und eilte davon, über die Straße und in den Wald zurück. Es war das einzige, was er tun konnte. Als an diesem Abend Tano, Sitha und Dovim mit ihrem matten Licht den Himmel beherrschten, gönnte sich Theremon ein paar Stunden un ruhigen Schlummers in einem undurchdringlichen Gestrüpp, doch im mer wieder schreckte er auf, weil er sich einbildete, ein Irrer mit einem Messer schleiche sich an ihn heran und wolle ihm die Kehle durch schneiden, um ihm seine Schuhe zu nehmen. Lange vor Onos-Aufgang war an Schlaf nicht mehr zu denken. Als es endlich Morgen wurde, war er fast überrascht, noch am Leben zu sein. Einen halben Tag später hatte er ein drittes Erlebnis mit einem Vertre ter des neuen Mördergezüchts. Diesmal überquerte er eine Wiese an einem der Flußarme, als er zwei Männer erblickte, die am Wegesrand im Schatten saßen und mit einem Würfelspiel beschäftigt waren. Sie wirkten ganz ruhig und friedlich, doch als Theremon näherkam, erkann te er, daß sie in Streit geraten waren; und dann griff einer der beiden blitzschnell nach einem Brotmesser, das neben ihm auf der Decke lag, und stieß es dem anderen mit tödlicher Wucht in die Brust. Der Messerstecher lächelte zu Theremon herüber. „Er hat geschum melt. Du weißt doch, wie das ist, da steigt einem die Galle hoch. Ich kann es nicht leiden, wenn man mich betrügen will.“ Für ihn war die Rechtslage offenbar ganz klar. Grinsend klapperte er mit den Würfeln. „He, wie wär’s mit einem Spielchen?“ Theremon starrte in die Augen des Wahnsinns. „Tut mir leid“, erklärte er so gelassen, wie er nur konnte. „Ich bin auf der Suche nach meiner Freundin.“ Damit ging er weiter. „He, das hat doch noch Zeit! Komm jetzt her und spiel mit mir!“ „Ich glaube, ich sehe sie schon!“ Theremon ging schneller und entkam schließlich, ohne sich noch einmal umzudrehen. Von da an wanderte er nicht mehr so unbekümmert durch den Wald. Als er eine geschützte Ecke auf einer offenbar recht einsamen Lichtung fand, baute er sich unter einem überhängenden Felsen ein behagliches, kleines Nest. Ganz in der Nähe wuchs ein Beerenstrauch, der von eßba ren roten Früchten nur so strotzte, und wenn er den Baum gleich vor seinem Verschlag schüttelte, regnete es runde, gelbe Nüsse mit einem
schmackhaften, schwarzen Kern. Er prüfte auch den kleinen Bach dicht dahinter auf seine Eignung als Nahrungsquelle, aber außer winzigen Elritzen entdeckte er nichts, und auch die hätte er roh essen müssen, selbst wenn es ihm gelungen wäre, sie zu fangen, weil er nämlich weder Brennmaterial noch eine Möglichkeit zum Feueranzünden hatte. Sich von Beeren und Nüssen zu ernähren, entsprach nicht unbedingt Theremons Vorstellung von einem gehobenen Lebensstil, aber ein paar Tage ließ es sich aushalten. Seine Bundweite hatte sich bereits erfreu lich reduziert, die einzig positive Auswirkung des ganzen Desasters. Das Beste war wohl, so lange in seinem Versteck zu bleiben, bis sich die Lage beruhigt hatte. Daß es dazu tatsächlich kommen würde, bezweifelte er nicht. Früher oder später mußte die Menschheit doch wieder zur Normalität zurück finden. Das war jedenfalls zu hoffen. Immerhin hatte auch er selbst die schreckliche Verwirrung nach dem Erscheinen der Sterne überwunden. Er fühlte sich von Tag zu Tag gefestigter, besser imstande, sein Leben zu meistern. In seinen Augen war er fast wieder der alte, ein bißchen zittrig noch, ein bißchen nervös vielleicht, doch das war nicht anders zu erwarten. Zumindest hielt er sich im Grunde für normal. Wahrscheinlich war diese Nacht für ihn ein wesentlich geringerer Schock gewesen als für die meisten anderen Menschen; er war eben widerstandsfähiger, realistischer, besser imstande, dieses zutiefst erschütternde Erlebnis zu verarbeiten. Aber vielleicht würden sich mit der Zeit auch die anderen wieder erholen, selbst jene, die viel stärker geschädigt waren, und dann konnte er sich nach draußen wagen, um nachzusehen, ob vielleicht je mand versuchte, die Welt wieder ins Lot zu bringen. Im Moment verschwand man am besten von der Bildfläche, um nicht von einem jener Psychopathen ermordet zu werden, die überall herum liefen. Sollten sie sich doch gegenseitig um die Ecke bringen, und zwar möglichst schnell; dann würde er ganz sachte die Nase hinausstecken und sich informieren, was eigentlich vorging. Von besonderer Tapfer keit zeugte dieser Plan zwar nicht, aber dafür klang er vernünftig. Er hätte gerne gewußt, wohin es die anderen verschlagen hatte, die mit ihm im Observatorium gewesen waren, als die Dunkelheit kam. Beenay, Sheerin und Athor. Und Siferra. Besonders Siferra. Von Zeit zu Zeit erwog Theremon, sich auf den Weg zu machen, um nach ihr zu suchen. Die Vorstellung reizte ihn. In den langen, einsamen Stunden malte er sich in den schönsten Farben aus, wie es wohl wäre, irgendwo in diesem Wald mit ihr zusammenzuleben. Gemeinsam mit ihr durch die feindliche, neue Welt zu ziehen, zwei Verbündete, die sich gegenseitig Schutz boten…
Natürlich hatte sie ihm von Anfang an gefallen. Aber er hätte sich sei ne Bemühungen sparen können; trotz ihres blendenden Aussehens ge hörte sie offenbar zu jener Sorte vollkommen unabhängiger Frauen, die kein Verlangen nach männlicher oder auch nach weiblicher Gesellschaft hatten. Er hatte zwar erreicht, daß sie ein paarmal mit ihm ausging, aber die ganze Zeit hatte sie ihn mit lächelnder Miene auf Distanz gehalten. Theremon besaß genügend Erfahrung, um zu erkennen, daß Barrieren, die so entschlossen aufgerichtet wurden, mit Schmeicheleien nicht ein zureißen waren. Außerdem hatte er sich längst damit abgefunden, daß sich eine Frau, bei der es sich lohnte, ohnehin nie verführen ließ; man konnte ihr ein Angebot machen, aber letztlich mußte die Initiative von ihr ausgehen, und wenn sie dazu nicht willens war, gab es kaum einen Weg, sie von dieser Einstellung abzubringen. Und bei Siferra war die Sache schon das ganze Jahr über falsch gelaufen. Wie eine Wilde war sie auf ihn losgegangen – durchaus mit einiger Berechtigung, wie er sich wehmütig eingestand – als er seine verfehlte Spottkampagne gegen A thor und das Observatorium begonnen hatte. Gegen Ende war es ihm fast so vorgekommen, als lasse ihr Widerstand nach, als entwickle sie wider Willen ein gewisses Interesse an ihm. Wa rum hätte sie sonst Athors erregte Anweisungen mißachtet und ihn am Abend der Sonnenfinsternis ins Observatorium eingeladen? Damals hatte es für kurze Zeit tatsächlich so ausgesehen, als bahne sich eine echte Beziehung an. Doch dann war die Dunkelheit gekommen, die Sterne, der Pöbel, das Chaos. Und danach war alles drunter und drüber gegangen. Wenn er sie allerdings jetzt finden könnte… Wir würden gut zusammenpassen, dachte er. Wir wären ein phantasti sches Team – beharrlich, kompetent, mit ausgeprägtem Überlebenswil len. Wie immer die neue Zivilisation auch aussähe, wir würden uns gut darin behaupten. Und die kleine psychologische Schranke, die vorher zwischen ihnen gestanden haben mochte, wäre ihr jetzt sicher nicht mehr so wichtig. Eine brandneue Welt war im Entstehen, und wer darin überleben wollte, mußte sich umstellen. Doch wo sollte er Siferra finden? Die alten Kommunikationssysteme existierten seines Wissens nicht mehr. Sie war einfach eine von Millio nen Menschen, die in diesem Gebiet umherirrten. Wahrscheinlich hiel ten sich allein in diesem Wald inzwischen Tausende auf; und er konnte eigentlich nicht damit rechnen, daß sie hier im Wald war. Vielleicht war sie schon fünfzig Meilen weit weg. Vielleicht war sie auch tot. Nach ihr zu suchen, war ein aussichtsloses Unterfangen, schlimmer als die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Der Heuhaufen umfaßte in diesem Fall mehrere Regionen, und die Nadel entfernte sich womöglich von Stunde zu Stunde weiter. Es wäre ein unglaublicher
Zufall, wenn er jemals auf Siferra oder sonst einen seiner Bekannten stieße. Je länger Theremon freilich überlegte, desto zuversichtlicher beurteilte er die Chancen, und nach einer Weile hielt er es durchaus nicht mehr für unmöglich, Siferra zu finden. Vielleicht war sein ständig wachsender Optimismus eine Begleiter scheinung seines neuen Einsiedlerlebens. Er hatte nichts anderes zu tun, als Tag für Tag stundenlang am Bach zu sitzen, den Elritzen zuzusehen – und nachzudenken. Und bei jeder Neubewertung des Projekts ver schob er die Erfolgsaussichten auf seiner persönlichen Skala nach oben. Aus ‚absolut unmöglich’ wurde ‚lediglich unwahrscheinlich’, aus ‚un wahrscheinlich’ wurde ‚schwierig’, ‚schwierig’ wurde erst von ‚müh sam’, dann von ‚machbar’ abgelöst, und schließlich endete er bei ‚ohne weiteres denkbar’. Er brauchte nur, so sagte er sich, wieder in den Wald hinauszugehen und Leute, die einigermaßen bei Verstand waren, um Unterstützung zu bitten. Ihnen zu erklären, wen er suchte, und wie sie aussah. Die Nach richt zu verbreiten. Seine journalistischen Fähigkeiten einzusetzen. Und seinen Status als bekannte Persönlichkeit auszuspielen. „Ich bin Theremon 762“, könnte er etwa sagen. „Sie wissen schon, vom Chronicle. Helfen Sie mir, und Sie werden es nicht bereuen. Sie möchten Ihren Namen in der Zeitung lesen? Sie möchten berühmt werden? Das läßt sich machen. Gewiß, momentan erscheint die Zeitung nicht, aber früher oder später ist sie wieder da und ich mit ihr, und dann steht Ihr Name auf der Titelseite. Sie können sich darauf verlassen. Helfen Sie mir nur, diese Frau zu fin den, und…“ „Theremon?“ Eine vertraute Stimme, hell und munter. Er blieb stehen, blinzelte ins grelle Licht der Mittagssonne, das durch die Bäume drang, konnte aber den Sprecher nirgends entdecken. Seit zwei Stunden wanderte er nun schon dahin und suchte nach Leu ten, die sich freudig bereiterklärten, sich auf den Weg zu machen und überall nach der Freundin des berühmten Theremon 762 vom Saro City Chronicle zu fragen. Doch bisher waren ihm insgesamt nur sechs Men schen begegnet. Zwei hatten bei seinem Anblick sofort Fersengeld ge geben. Ein dritter war ruhig sitzengeblieben und hatte seinen nackten Zehen weiter etwas vorgesungen. Der vierte, der in einer Astgabel hock te, hatte mit dem Eifer des Irren ganz konzentriert zwei Küchenmesser aneinander gerieben. Die beiden letzten hatten ihn nur angestarrt, als er sein Anliegen vortrug; einer verstand offenbar kein Wort, und der ande re brach in schallendes Gelächter aus und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Von beiden war nicht viel zu erwarten. Und nun schien es, als habe jemand ihn gefunden.
„Theremon? Hier drüben. Hier, Theremon. Hier bin ich. Sehen Sie mich denn nicht, Mann? Hier drüben!“
Kapitel 33 Theremon wandte sich nach links und betrachtete ein Gebüsch mit rie sigen, stacheligen Blättern von Sonnenschirmgröße. Zuerst fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf, doch dann bewegten sich die Blätter, teilten sich, und heraus trat ein kleiner, rundlicher Mann. „Sheerin?“ staunte Theremon. „Wenigstens sind Sie nicht ganz hinüber, sonst würden sie sich nicht an meinen Namen erinnern.“ Der Psychologe hatte sichtlich abgenommen und trug einen Overall und einen zerrissenen Pullover, eine Kleidung, die ganz und gar nicht zu ihm paßte. In der linken Hand hielt er ganz selbstverständlich ein Beil mit schartiger Klinge, und das war vielleicht das Unpassendste von al lem. Sheerin mit einem Beil. Es hätte kaum befremdlicher gewirkt, wenn er mit einem zweiten Kopf oder mit vier Armen herumgelaufen wäre. „Wie geht es Ihnen, Theremon?“ fragte Sheerin. „Bei den Göttern, Sie laufen ja herum wie ein Landstreicher, und dabei ist noch nicht einmal eine Woche vergangen! Aber ich sehe vermutlich nicht viel besser aus.“ Er blickte an sich hinunter. „Haben Sie mich schon jemals so mager erlebt? Diese Diät aus Blättern und Beeren läßt die Pfunde rasant dahin schmelzen, was?“ „Von mager kann bei Ihnen noch lange nicht die Rede sein“, gab The remon zurück. „Aber Sie sind offenbar gut in Form. Wie haben Sie mich gefunden?“ „Indem ich nicht nach Ihnen suchte. Wenn nur noch der Zufall regiert, gibt es keine andere Möglichkeit. Im Schutzbunker habe ich niemand mehr angetroffen. Jetzt will ich nach Süden, zum Amgando-Park. Ich bin einfach den Pfad entlanggeschlendert, der mitten durch den Wald führt, und plötzlich standen Sie vor mir.“ Der Psychologe sprang mit einem Satz auf den Journalisten zu und streckte ihm die Hand entgegen. „Bei allen Göttern, Theremon, es ist wirklich eine Lust, ein freundliches Gesicht zu sehen! – Sie sind doch freundlich, nicht wahr? Sie haben keine Mordabsichten?“ „Ich glaube nicht.“ „Hier gibt es mehr Irre auf engstem Raum, als ich bisher in meinem ganzen Leben gesehen habe, und ich hatte viel mit Irren zu tun, glauben Sie mir.“ Sheerin schüttelte seufzend den Kopf. „Ihr Götter! Daß es so schlimm würde, hätte ich mir niemals träumen lassen. Trotz aller Be
rufserfahrung. Ich hatte mich darauf eingestellt, daß es schlimm würde, sehr schlimm sogar, aber nicht so schlimm!“ „Sie haben weltweiten Wahnsinn vorhergesagt“, erinnerte ihn There mon. „Ich war dabei, ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Sie haben den totalen Zusammenbruch der Zivilisation prophezeit.“ „Prophezeiungen sind eine Sache, aber sie am eigenen Leibe zu erfah ren, ist doch etwas ganz anderes. Für einen Wissenschaftler wie mich ist es beschämend, Theremon, wenn die abstrakten Theorien plötzlich Wirklichkeit werden. Ich war so schnell bei der Hand mit meinen Pro phezeiungen, und dabei so sträflich unbekümmert. Morgen gibt es auf ganz Kalgash keine heile Stadt mehr’, sagte ich, und doch waren es nur Worte für mich, nichts als ein philosophisches Konstrukt ohne Bezie hung zur Realität. ‚Das Ende der Welt, in der Sie bis heute lebten.’ – Ja, ja.“ Sheerin überlief ein Schauder. „Und alles ist eingetroffen. Dabei habe ich wohl selbst nicht so recht an meine düsteren Prophezeiungen geglaubt, bis rings um mich alles in Trümmer fiel.“ „Die Sterne“, sagte Theremon. „Sie haben nie so recht an die Sterne geglaubt. Dabei haben sie den größten Schaden angerichtet. Die Dun kelheit hätten die meisten von uns vielleicht noch ertragen, auch wenn sie uns ein wenig erschüttert, uns einen gewissen Schock versetzt hätte. Aber die Sterne – die Sterne.“ „Wie schlimm war es denn bei Ihnen?“ „Anfangs ziemlich schlimm. Jetzt geht’s mir schon besser. Und Sie?“ „Ich hatte mich im Keller des Observatoriums versteckt, bis das Ärgste vorüber war. Deshalb war ich nicht allzu schwer betroffen. Als ich am nächsten Tag herauskam, war das Observatorium ein einziger Schutt haufen. Sie können sich nicht vorstellen, wie es dort zuging.“ „Dieser verdammte Folimun!“, sagte Theremon. „Die Apostel…“ „Sie haben Öl ins Feuer gegossen, gewiß. Aber das Feuer wäre auch ohne sie angezündet worden.“ „Was ist mit den Leuten vom Observatorium? Athor, Beenay und die anderen? Siferra…?“ „Ich habe keinen von ihnen gesehen. Aber ich habe auch ihre Leichen nicht gefunden, als ich einen Rundgang durch das Gebäude machte. Vielleicht konnten sie fliehen. Der einzige, dem ich begegnete, war Yi mot – erinnern Sie sich an ihn? Einer von den Doktoranden, der him mellange, schlaksige Kerl. Er hatte sich auch versteckt.“ Sheerins Ge sicht verdüsterte sich. „Wir blieben zwei Tage zusammen – dann wurde er getötet.“ „Getötet?“ „Von einem kleinen Mädchen, zehn oder zwölf Jahre alt. Mit einem Messer. Ein ganz reizendes Kind. Kam lachend auf ihn zugelaufen und stieß ohne Vorwarnung zu. Und rannte lachend weg.“
„Ihr Götter!“ „Die Götter hören nicht mehr auf uns, Theremon. Falls sie es je getan haben.“ „Wahrscheinlich nicht. – Und wo haben Sie bis jetzt gelebt, Sheerin?“ Sein Blick wurde verschwommen. „Mal da, mal dort. Zuerst ging ich in meine Wohnung zurück, aber der ganze Block war ausgebrannt. Da standen nur noch die Außenmauern, nichts mehr zu retten. An diesem Abend schlief ich zwischen den Trümmern. Yimot war bei mir. Am nächsten Tag wollten wir uns auf den Weg zum Schutzbunker machen, aber der war von dort aus unmöglich zu erreichen. Die Straße war blo ckiert – überall brannten Feuer. Und wo nichts mehr brannte, versperr ten Berge von Schutt den Weg. Es sah aus wie mitten im Krieg. Also wandten wir uns wieder nach Süden und kehrten in den Wald zurück, in der Absicht, die Stadt auf der Baumschulstraße in weitem Bogen zu umgehen und so zum Schutzbunker zu gelangen. Dann wurde Yimot – getötet. Offenbar haben sich die gefährlichsten Irren in den Wald ge flüchtet.“ „Alles hat sich in den Wald geflüchtet“, berichtigte Theremon. „Der Wald läßt sich nicht so leicht in Brand stecken wie die Stadt. – Habe ich Sie richtig verstanden, der Schutzbunker war verlassen, als Sie ihn end lich erreichten?“ „So ist es. Ich traf gestern nachmittag dort ein, und alles stand weit of fen. Das äußere Tor, das innere, und auch der Bunkereingang selbst war unverschlossen. Die Vögel waren ausgeflogen. Vorne klebte eine Nach richt von Beenay.“ „Beenay! Dann hat er es also geschafft, er hat den Schutzbunker un versehrt erreicht?“ „Es sieht so aus“, stimmte Sheerin zu. „Vermutlich ein oder zwei Tage vor mir. In seiner Nachricht stand, alle hätten beschlossen, den Bunker zu verlassen, um sich auf den Weg zum Amgando-Park zu machen, wo einige Leute aus den südlichen Bezirken eine provisorische Regierung bilden wollten. Als er kam, war nur noch meine Nichte Raissta da, sie muß auf ihn gewartet haben. Die beiden sind ebenfalls nach Amgando unterwegs. Und da will ich auch hin. Meine Freundin Liliath war näm lich ebenfalls im Schutzbunker, und ich nehme an, die anderen haben sie mitgenommen.“ „Klingt verrückt“, sagte Theremon. „Im Bunker waren sie so sicher wie nirgendwo sonst. Warum, zum Teufel, haben sie sich in das Chaos gestürzt, nur um Hunderte von Meilen nach Amgando zu marschieren?“ „Ich weiß es nicht. Aber sie hatten sicher einen triftigen Grund dafür. Wie dem auch sei, auch uns beiden bleibt wohl nichts anderes übrig. Alles, was noch bei Sinnen ist, strömt dort zusammen. Wir können hierbleiben und warten, bis uns jemand aufschlitzt, wie dieses grausige
kleine Mädchen es mit Yimot gemacht hat – oder wir können versuchen, uns nach Amgando durchzuschlagen. Hier gehen wir früher oder später zugrunde, das ist unvermeidlich. Wenn wir dagegen Amgando errei chen, ist alles in Ordnung.“ „Haben Sie etwas von Siferra gehört?“ fragte Theremon. „Nein. Warum?“ „Ich möchte sie finden.“ „Vielleicht ist sie auch nach Amgando unterwegs. Wenn sie Beenay irgendwo getroffen hat, hätte er ihr sicher gesagt, wohin alle anderen wollen, und dann…“ „Haben Sie Grund zu der Annahme, daß es so gewesen sein könnte?“ „Es war eine reine Vermutung.“ „Und ich vermute“, sagte Theremon, „daß sie noch hier der Gegend ist. Ich möchte versuchen, sie aufzuspüren.“ „Aber die Chancen…“ „Sie haben mich gefunden, nicht wahr?“ „Das war reiner Zufall. Die Chancen, daß Sie auf die gleiche Weise über sie stolpern…“ „Stehen nicht schlecht“, unterbrach ihn Theremon. „Jedenfalls möchte ich das gerne glauben. Ich werde es versuchen. Nach Amgando kann ich später immer noch. Mit Siferra.“ Sheerin schwieg und sah ihn nur merkwürdig an. „Sie halten mich für verrückt?“ fragte Theremon. „Nun, vielleicht ha ben Sie recht.“ „Das habe ich nicht gesagt. Ich finde nur, daß Sie für nichts und wie der nichts Kopf und Kragen riskieren. Dieser Wald verwandelt sich zusehends in einen prähistorischen Dschungel. Hier herrscht die brutale Gewalt, und nach allem, was ich bisher gesehen habe, wird die Zeit daran nichts ändern. Kommen Sie mit mir nach Süden, Theremon. In zwei oder drei Stunden können wir den Wald hinter uns haben, und die Straße nach Amgando ist gleich…“ „Ich will zuerst Siferra suchen“, beharrte Theremon. „Vergessen Sie sie.“ „Das werde ich nicht tun. Ich werde hierbleiben und sie aufspüren.“ Sheerin zuckte die Achseln. „Dann bleiben Sie. Ich verschwinde. Und denken Sie daran, Yimot wurde, keine zweihundert Yard von hier ent fernt, vor meinen Augen von einem kleinen Mädchen erstochen. Mir ist es hier zu gefährlich.“ „Und Sie halten es für weniger gefährlich, mutterseelenallein drei- o der vierhundert Meilen weit durchs Land zu marschieren?“ Der Psychologe wog sein Beil in der Hand. „Notfalls habe ich noch das.“
Theremon mußte sich das Lachen verbeißen. Sheerin war ein so durch und durch sanftmütiger Mensch, daß einem die Vorstellung, er würde jemanden mit einem Beil erschlagen, einfach absurd vorkam. Nach kurzer Pause sagte er: „Viel Glück.“ „Sie wollen wirklich hierbleiben?“ „Bis ich Siferra gefunden habe.“ Sheerin sah ihn traurig an. „Dann behalten Sie das Glück, das Sie mir eben gewünscht haben, lie ber für sich. Ich glaube, Sie werden es nötiger brauchen.“ Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und stapfte davon.
Kapitel 34 Drei Tage lang – vielleicht waren es auch vier, sie hatte jeden Zeitbeg riff verloren – zog Siferra in südlicher Richtung durch den Wald. Einen festen Plan hatte sie nicht, sie wollte nur am Leben bleiben. Es hatte keinen Sinn, daß sie versuchte, in ihre Wohnung zu gelangen. Die Stadt brannte noch immer. Wohin sie auch schaute, hing ein Rauch schleier tief über der Erde, und gelegentlich sah sie am Horizont rote Flammenzungen gen Himmel zucken. Sie hatte den Eindruck, als wür den jeden Tag neue Brände gelegt, und das hieß, daß ein Abklingen des Wahnsinns noch nicht in Sicht war. Sie selbst wurde ganz allmählich wieder normal, der Nebel in ihrem Kopf lichtete sich täglich mehr, sie fand wie nach einem schweren Fie ber zunehmend wieder zu geistiger Klarheit zurück. Doch immer wieder wurde ihr auch schmerzlich bewußt, daß sie ihre alte Form noch nicht wieder erreicht hatte – sie hatte Mühe, einem längeren Gedankengang zu folgen und verhedderte sich schnell. Aber sie war auf dem Weg der Genesung, soviel war sicher. Dagegen schienen die anderen im Wald Lebenden kaum Fortschritte zu machen. Obwohl Siferra möglichst für sich blieb, ließen sich Begeg nungen nicht immer vermeiden, und die meisten Menschen, auf die sie traf, befanden sich in kritischem Zustand: sie schluchzten und stöhnten, lachten gellend, rollten wild mit den Augen oder wälzten sich auf dem Boden hin und her. Sheerins Prophezeiung hatte sich bewahrheitet, eini ge hatten im Verlauf der Katastrophe ein so schweres Trauma erlitten, daß sie es vielleicht nie mehr überwinden würden. Siferra mußte erken nen, daß wahrscheinlich ein großer Teil der Bevölkerung in Barbarei oder noch Schlimmeres verfallen war. Mittlerweile wurden Brände nur noch zum Spaß gelegt. Und aus dem gleichen Grund wurde auch ge mordet. Also war sie auf der Hut. Ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, wander te sie in mehr oder weniger südlicher Richtung durch den Wald und lagerte, wo immer sie frisches Wasser fand. Die Keule, die sie am A
bend der Sonnenfinsternis aufgelesen hatte, behielt sie stets in ihrer Nä he. Sie aß alles, was genießbar aussah – Samenkörner, Nüsse, Früchte, sogar Laub und Rinde. Besonders nahrhaft war diese Kost nicht. Sie war kräftig genug, um eine Woche mit diesen Notrationen zu überstehen, doch danach würde sie Mangel leiden. Das bißchen Übergewicht, das sie mit sich herumgeschleppt hatte, schmolz bereits dahin, und ihre Wi derstandskraft verringerte sich allmählich. Auch der Bestand an Beeren und Früchten verringerte sich, allerdings ziemlich rasch, da Tausende von hungrigen, neuen Waldbewohnern Sträucher und Bäume plünder ten. Dann, nach ihrer Rechnung am vierten Tag, fiel Siferra der Schutz bunker ein. Bei der Erkenntnis, daß sie ohne Not die ganze Woche wie ein Höh lenmensch gelebt hatte, schoß ihr das Blut in die Wangen. Natürlich! Wie hatte sie so dumm sein können? Nur ein paar Meilen von hier entfernt saßen in diesem Moment Hunderte von Universitäts angehörigen sicher und geborgen im alten Teilchenbeschleunigerlabor, tranken Mineralwasser aus Flaschen und ernährten sich gepflegt von den Konserven, die sie in den letzten Monaten eingelagert hatten. Es war einfach lächerlich, sich in diesem Wald voll Verrückter herumzu drücken, sich eine kümmerliche Mahlzeit nach der anderen aus dem Dreck zu scharren und mit gierigem Blick die kleinen Waldtiere zu be trachten, die unerreichbar im Geäst der Bäume herumhüpften! Sie würde zum Schutzbunker gehen. Irgendwie würde sie die Insassen überreden, sie einzulassen. Wie tief mußte der Anblick der Sterne ihren Geist verwundet haben, wenn sie so lange brauchte, um sich an den Bunker zu erinnern! Schade, dachte sie, daß ihr die Idee nicht schon früher gekommen war. Jetzt merkte sie nämlich, daß sie seit Tagen in eine völlig falsche Rich tung lief. Direkt vor ihr lag die steile Hügelkette an der Südgrenze des Waldes. Als sie aufschaute, entdeckte sie auf der Kuppe des Berges, der wie eine schwarze Wand vor ihr aufragte, die rußgeschwärzten Überreste der Prominentensiedlung ‚Onos-Höhen’. Wenn ihr Gedächtnis sie nicht trog, lag der Schutzbunker genau entgegengesetzt, auf halbem Wege zwischen dem Campus und Saro City an der Straße, die im Norden am Wald entlangführte. Sie brauchte anderthalb Tage, um quer durch den Wald zurück zur Nordseite zu gelangen. Unterwegs mußte sie zweimal ihre Keule gebrauchen, um sich gegen Angreifer zu wehren. Dreimal kam es zwar nicht zu Tätlichkeiten, aber zu einem nervenaufreibenden Blickkontakt mit jungen Männern, die abzuschätzen versuchten, ob es ratsam war, sie anzuspringen. Und einmal stolperte sie über einen Unterschlupf im Di
ckicht, wo fünf hagere, wild dreinblickende, mit Messern bewaffnete Männer im Kreis hintereinander her stolzierten wie Tänzer bei einem archaischen Ritual. Sie machte sich so schnell wie möglich aus dem Staub. Endlich erblickte sie gleich hinter dem Waldrand das breite Band der Universitätsstraße. Irgendwo weiter nördlich zweigte ganz unauffällig der kleine Feldweg zum Schutzbunker ab. Ja, da war er schon. Versteckt, unbedeutend, zu beiden Seiten von wildwucherndem Unkraut und dichtem, hochaufgeschossenem Gras gesäumt. Es war spät am Nachmittag. Onos war nahezu untergegangen, Tanos und Sithas hartes, grelles Licht warf schwarze Schatten über das Land, die dem Tag trotz der milden Temperaturen ein winterliches Aussehen verliehen. Weit in der Ferne zog Dovims kleines, rotes Auge hoch über den nördlichen Himmel. Siferra überlegte, was wohl aus dem unsichtbaren Kalgash Zwei ge worden sein mochte. Der Satellit war offenbar weitergezogen, nachdem er sein grausiges Werk verrichtet hatte. Inzwischen war er vielleicht schon Hunderttausende von Meilen entfernt im Weltraum und raste auf seiner langgezogenen Bahn immer weiter durch die luftleere Dunkel heit, um erst in weiteren zweitausendundneunundvierzig Jahren wieder zukommen. Was mindestens zwei Millionen Jahre zu früh wäre, dachte sie verbittert. Vor ihr tauchte ein Schild auf: PRIVATBESITZ ZUTRITT VERBOTEN DAS PROKTORENGREMIUM DER UNIVERSITÄT SARO CITY Ein zweites Schild verkündete in leuchtend scharlachroten Lettern: !!! LEBENSGEFAHR!!! FORSCHUNGSEINRICHTUNG IM HOCHENERGIEBEREICH KEIN ZUTRITT Gut. Sie war offenbar auf dem richtigen Weg. Siferra war nie im Schutzbunker gewesen, auch nicht, als die Räume noch als physikalisches Labor gedient hatten, aber sie wußte, was sie erwartete: eine Reihe von Toren, dann ein Scannerposten zur Überwa chung all derer, die so weit vorgedrungen waren. Minuten später hatte
sie das erste Tor erreicht, eine zweiflügelige Wand aus dichtem Ma schendraht, doppelt mannshoch vielleicht. Ein gefährlich aussehender Stacheldrahtzaun erstreckte sich nach beiden Seiten und verschwand schließlich in dem Dornengestrüpp, das hier überall unbehindert wu cherte. Das Tor war nur angelehnt. Sie musterte es verblüfft. Eine Illusion? Spielte ihr verwirrtes Gehirn ihr einen Streich? Nein. Nein, das Tor war tatsächlich offen. Und es war das richtige Tor. Sie erkannte das Emblem des Sicherheitsdienstes der Universität. Aber wieso war es offen? Nichts wies darauf hin, daß es gewaltsam aufgebrochen worden wäre. Besorgt trat sie ein. Der Weg ins Innere war nicht mehr als ein Trampelpfad mit tiefen Radspuren und vielen Schlaglöchern. Sie folgte ihm, bis sie die nächste Schranke erreichte. Diesmal war es nicht nur ein Stacheldrahtzaun, son dern ein massiver Betonwall, glatt und scheinbar unüberwindlich. Er wurde nur von einem schwarzen Metalltor unterbrochen, über dem ein Scanner angebracht war. Und auch dieses Tor stand offen. Das wurde immer merkwürdiger! Wo waren die vielgerühmten Si cherheitseinrichtungen zum Schutz des Bunkers vor dem Wahnsinn, der in der ganzen Welt wütete? Sie trat ein. Hier war alles still. Vor ihr lagen etliche verwahrlost wir kende Schuppen und Holzhütten. Vielleicht befand sich dahinter der eigentliche Eingang zum Schutzbunker – die Mündung eines unterirdi schen Tunnels, soviel sie wußte. Sie ging um die Nebengebäude herum. Ja, da war der Eingang, eine ovale, in den Boden eingelassene Tür, und dahinter ein dunkler Stollen. Vor dem Eingang standen Menschen, ein Dutzend vielleicht, und sa hen ihr frostig und zugleich unangenehm neugierig entgegen. Alle hat ten sich leuchtend grüne Stoffstreifen wie Schlipse um den Hals gebun den. Siferra entdeckte kein bekanntes Gesicht. Zur Universität gehörten sie offenbar nicht. Gleich links von der Tür brannte ein kleines Feuer. Daneben erhob sich, kunstreich aufgeschichtet, alle Scheite mit peinlicher Genauigkeit nach Größe geordnet, ein Stapel Brennholz. Man fühlte sich eher an ein liebevoll gefertigtes Architektenmodell erinnert. Siferra krampfte sich in plötzlicher Angst und Verwirrung der Magen zusammen. Wo war sie hingeraten? War dies wirklich der Schutzbun ker? Wer waren diese Leute? „Bleiben Sie, wo Sie sind“, sagte der Mann an der Spitze der Gruppe. Er sprach nicht laut, aber sein Tonfall hatte die Autorität eines Peit schenknalls. „Nehmen Sie die Hände hoch.“
In seiner Hand lag eine kleine, glänzende Nadlerpistole, die genau auf ihre Körpermitte zielte. Siferra gehorchte ohne Widerrede. Er war schätzungsweise fünfzig Jahre alt, von hohem, kräftigem Wuchs, fast mit Sicherheit der Anführer. Seine Kleidung sah teuer aus, und seine Haltung verriet gelassene Zuversicht. Sein grüner Schlips glänzte wie Seide. „Wer sind Sie?“ fragte er ruhig, ohne die Waffe zu senken. „Siferra 89, Professorin für Archäologie, Universität Saro.“ „Wie schön. Wollten Sie hier archäologische Studien betreiben, Frau Professor?“ Die anderen lachten, als hätte er einen ausgezeichneten Witz gemacht. „Ich suche den Schutzbunker der Universität“, antwortete Siferra. „Können Sie mir sagen, wo er ist?“ „Das könnte er wohl gewesen sein“, gab der Mann zurück. „Die Leute von der Universität sind vor ein paar Tagen abgezogen. Jetzt befindet sich hier das Hauptquartier der Feuerwache. – Eine Frage, Frau Profes sor, haben Sie Brennmaterial irgendwelcher Art bei sich?“ „Brennmaterial?“ „Streichhölzer, Feuerzeug, Taschengenerator, alles, womit man Feuer machen könnte?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nichts von alledem.“ „Das Entfachen von Feuern ist nach Artikel Eins der Notstandsgesetze verboten. Verstöße gegen Artikel Eins werden streng bestraft.“ Siferra sah ihn verständnislos an. Wovon redete er überhaupt? Ein dünner, fahlgesichtiger Mann, der neben dem Anführer stand, mischte sich ein: „Ich traue ihr nicht, Altinol. Diese Professoren sind an allem schuld. Zwei zu eins, daß sie etwas unter ihren Kleidern versteckt hat, wo man es nicht sehen kann.“ „Ich habe keinerlei Hilfsmittel zum Feuermachen bei mir“, beteuerte Siferra verunsichert. Altinol nickte. „Mag sein. Mag auch nicht sein. Wir werden kein Risi ko eingehen, Frau Professor. Ziehen Sie sich aus.“ Sie sah ihn entgeistert an. „Was sagen Sie da?“ „Ziehen Sie sich aus! Legen Sie Ihre Kleider ab! Zeigen Sie uns, daß Sie keine verbotenen Gerätschaften am Körper tragen!“ Siferra erwog, ihre Keule aufzuheben, die sie hatte fallenlassen. Dann blinzelte sie den Anführer erstaunt an und sagte: „Nun mal langsam. Das kann nicht Ihr Ernst sein.“ „Laut Artikel Zwei der Notstandsgesetze ist die Feuerwache berech tigt, alle Vorsichtsmaßnahmen zur Verhinderung unerlaubter Feuerent fachung zu ergreifen, die sie für nötig erachtet. Laut Artikel Drei kann im Schnellverfahren die sofortige Hinrichtung aller Personen beschlos
sen werden, die sich den Anweisungen der Feuerwache widersetzen. Ziehen Sie sich aus, Frau Professor, und zwar schnell!“ Er machte eine Bewegung mit der Nadlerpistole. Demnach war es ihm bitter ernst. Doch Siferra starrte ihn immer noch an, machte immer noch keine An stalten, sich ihrer Kleider zu entledigen. „Wer sind Sie? Was soll diese Feuerwache überhaupt sein?“ „Eine Selbstschutzmaßnahme der Bürger, Frau Professor. Unser An liegen ist es, nach dem Zusammenbruch Gesetz und Ordnung in Saro wiederherzustellen. Wie Sie wissen, oder vielleicht auch nicht, wurde die Stadt weitgehend zerstört. Die Brände breiten sich weiter aus, und es gibt keine einsatzfähige Feuerwehr mehr, die etwas dagegen unterneh men könnte. Auch wenn Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, in der ganzen Provinz wimmelt es von Verrückten, die immer noch nicht ge nug Feuer gesehen haben und deshalb weiter neue Brände legen. Das muß ein Ende haben. Wir beabsichtigen, die Brandstifter mit allen Mit teln an ihrem Tun zu hindern. Sie stehen unter Verdacht, Brennmaterial bei sich zu haben. Der Vorwurf wurde erhoben. Sie haben nun sechzig Sekunden Zeit, sich zu entlasten. Ich würde an Ihrer Stelle allmählich mit dem Ausziehen beginnen, Frau Professor.“ Siferra sah, wie er lautlos zu zählen begann. Sie sollte sich entblößen, vor einem Dutzend Fremder? Bei dem Ge danken an diese Demütigung stieg flammende Wut in ihr auf. Die meis ten dieser Leute waren Männer, und sie versuchten gar nicht, ihre Un geduld zu verbergen. Das war keine Vorsichtsmaßnahme, auch wenn Altinol ihr noch so feierlich irgendwelche Notstandsgesetze vorbetete. Sie wollten nur ihren Körper sehen, und sie hatten die Macht, sie dazu zu zwingen. Es war unerträglich. Doch bald schon schwand ihre Entrüstung dahin. Kam es darauf noch an? fragte sie sich müde. Die Welt war unterge gangen. Schamgefühl war ein Luxus, den sich nur zivilisierte Menschen leisten konnten, und Zivilisation war ein überholter Begriff. Wie auch immer, dies war ein ausdrücklicher Befehl mit vorgehaltener Waffe. Sie befand sich an einem entlegenen, verlassenen Ort am Ende eines Feldwegs. Hier würde ihr niemand zu Hilfe kommen. Die Uhr tickte. Und Altinol machte nicht den Eindruck, als bluffte er. Es lohnte sich nicht zu sterben, nur um diesen Leuten den Anblick ih res Körpers vorzuenthalten. In eiskaltem Zorn, ohne jedoch eine Miene zu verziehen, zog sie sys tematisch ein Kleidungsstück nach dem anderen aus und ließ es neben sich zu Boden fallen. „Die Unterwäsche auch?“ fragte sie zynisch. „Alles.“
„Glauben Sie wirklich, ich hätte darunter ein Feuerzeug versteckt?“ „Noch zwanzig Sekunden, Frau Professor.“ Siferra warf ihm einen finsteren Blick zu und streifte ohne ein weiteres Wort ihren BH und ihren Slip ab. Nachdem sie sich so weit überwunden hatte, machte es ihr überra schend wenig aus, nackt vor diesen Fremden zu stehen. Es war ihr egal. Das war das Wesentlichste am Ende der Welt, erkannte sie plötzlich. Es war ihr egal. Sie richtete sich zu voller Höhe auf, bot sich fast trotzig den Blicken dar und wartete, was nun geschehen würde. Altinols Augen wanderten gemächlich, selbstsicher über ihren Körper. Irgendwie be rührte sie nicht einmal das. Eine tiefe Gleichgültigkeit war über sie ge kommen, sie fühlte sich wie ausgebrannt. „Sehr hübsch, Frau Professor“, sagte er endlich. „Vielen Dank.“ Ihre Stimme klang eisig. „Darf ich meine Blöße jetzt wieder bedecken?“ Er gestattete es mit großartiger Geste. „Selbstverständlich. Verzeihen Sie die Unannehmlichkeit. Aber wir mußten auf Nummer Sicher ge hen.“ Er schob die Nadlerpistole unter ein Band, das er um die Taille trug, und sah ihr mit lässig verschränkten Armen beim Anziehen zu. Endlich sagte er: „Sie glauben, Sie sind unter die Wilden geraten, nicht wahr, Frau Professor?“ „Interessiert Sie meine Meinung tatsächlich?“ „Sie werden bemerkt haben, daß wir weder lüstern grinsten, noch gei ferten oder uns die Hosen naßmachten, während Sie uns… äh… de monstrierten, daß Sie keine Gerätschaften zum Feuermachen an sich versteckt hatten. Auch hat niemand auch nur versucht, Sie in irgendeiner Weise zu belästigen.“ „Das war sehr freundlich.“ „Ich weise Sie darauf hin“, fuhr Altinol fort, „obwohl mir klar ist, daß ich Sie kaum beeindrucken werde, solange Sie noch so wütend sind. Aber Sie sollten wissen, daß Sie hier auf das vielleicht letzte Bollwerk der Zivilisation in dieser gottverlassenen Welt gestoßen sind. Wohin sich unsere geliebten Führer von der Regierung verkrochen haben, weiß ich nicht, unsere hochgeschätzten Brüder, die Apostel des Feuers, halte ich in keiner Weise für zivilisiert, und Ihre Freunde von der Universität, die sich hier versteckt hielten, haben ihre Siebensachen zusammenge packt und sind fortgezogen. Alle anderen scheinen ganz und gar den Verstand verloren zu haben. Sie und uns ausgenommen, Frau Profes sor.“ „Wie schmeichelhaft, mich mit einzuschließen.“ „Ich schmeichle nie. Ihrem Auftreten nach haben Sie die Dunkelheit, die Sterne und den Zusammenbruch besser bewältigt als die meisten Menschen. Deshalb frage ich Sie: Hätten Sie Interesse, bei uns zu blei
ben und sich unserer Gruppe anzuschließen? Wir brauchen Leute wie Sie, Frau Professor.“ „Was würde das für mich bedeuten? Brauchen Sie jemanden, der die Fußböden schrubbt und für Sie kocht?“ Altinol schien gegen ihren Sarkasmus immun. „Ich meine, Sie sollten uns helfen, die Zivilisation am Leben zu erhalten, Frau Professor. Ich will keine großen Worte machen, aber wir sehen darin einen heiligen Auftrag. Tag für Tag ziehen wir durch dieses Irrenhaus dort draußen, entwaffnen die Verrückten, nehmen ihnen die Gerätschaften zum Feu ermachen weg. Denn das Recht, Feuer zu entfachen, behalten wir aus schließlich uns selbst vor. Die Feuer, die bereits brennen, können wir nicht löschen, noch nicht jedenfalls, aber wir können tun, was in unserer Macht steht, um neue Brände zu verhindern. Das ist unser Auftrag, Frau Professor. Wir übernehmen die Kontrolle über das Feuer, ein erster Schritt, um die Welt wieder bewohnbar zu machen. Sie erscheinen mir einigermaßen vernünftig, und deshalb fordere ich Sie auf, sich uns anzu schließen. Was meinen Sie, Frau Professor? Möchten Sie der Feuerwa che angehören? Oder möchten Sie lieber allein im Wald Ihr Glück ver suchen?“
Kapitel 35 Der Morgen war dunstig und kühl. Der Nebel wirbelte in milchigen Schwaden durch die zerstörten Straßen und war so dicht, daß Sheerin nicht erkennen konnte, welche Sonnen am Himmel standen. Onos natür lich – irgendwo. Aber durch den Nebel wurde ihr goldenes Licht so fein verteilt, daß fast nichts davon zu sehen war. Der etwas hellere Fleck im Nordwesten deutete auf eines der beiden Zwillingssonnenpaare hin, wobei Sheerin freilich nicht unterscheiden konnte, ob es sich um Sitha und Tano oder um Patru und Trey handelte. Er war sehr müde. Bereits jetzt zeigte sich überdeutlich, daß sein Plan, allein und zu Fuß die Hunderte von Meilen lange Strecke zwischen Saro City und dem Nationalpark von Amgando zurückzulegen, ein Wunsch traum ohne Aussicht auf Erfüllung war. Zum Teufel mit diesem Theremon! Zu zweit hätten sie zumindest eine Chance gehabt. Aber der Journalist hatte sich in seiner Hoffnung, Sifer ra irgendwo im Wald zu finden nicht beirren lassen. Wenn das kein Wunschtraum ohne Aussicht auf Erfüllung war! Sheerin spähte angestrengt durch den Nebel. Er brauchte ein stilles Plätzchen, wo er sich eine Weile ausruhen konnte. Außerdem brauchte er ein paar Happen zu essen, vielleicht auch eine Garnitur saubere Klei dung oder zumindest eine Möglichkeit, sich zu waschen. Er war in sei
nem ganzen Leben noch nicht so schmutzig gewesen. Und auch nicht so hungrig, so müde oder so niedergeschlagen. In der langen Zeit zwischen dem Tag, an dem ihm Beenay und Athor eröffnet hatten, was der Welt bevorstand, und dem Einbruch der Nacht, hatte sich Sheerin ständig zwischen den beiden Extremen der psycholo gischen Skala hin und her bewegt, vom Pessimismus zum Optimismus und wieder zurück, von der Hoffnung zur Verzweiflung und abermals zur Hoffnung. Verstand und Erfahrung versicherten ihm das eine, seine von Natur aus robuste Persönlichkeit das andere. Vielleicht hatten sich Beenay und Athor geirrt, und die astronomische Katastrophe fand gar nicht statt. Nein, die Katastrophe findet auf jeden Fall statt. Die Dunkelheit, wenn sie denn tatsächlich kam, würde, entgegen sei nen eigenen, schrecklichen Erfahrungen im Tunnel der Geheimnisse vor zwei Jahren, doch keine so verheerenden Auswirkungen haben. Falsch. Die Dunkelheit wird weltweiten Wahnsinn auslösen. Der Wahnsinn würde vorübergehen, die Orientierungslosigkeit nur kurze Zeit anhalten. Der Wahnsinn wird bei den meisten Menschen ein Dauerzustand sein. Die Welt würde ein paar Stunden lang kopfstehen, um dann zur Nor malität zurückzukehren. Im Chaos nach der Sonnenfinsternis wird die Welt zerstört werden. Hin und her, auf und ab. Zwei Sheerins in einem niemals endenden Disput. Doch nun schien er den tiefsten Punkt des Zyklus erreicht und sich in seiner Verzweiflung festgefahren zu haben. Im grellen Licht seiner Er lebnisse während der letzten Tage hatten sich seine Anpassungsfähig keit, sein Optimismus in nichts aufgelöst. Es würde Jahrzehnte dauern, vielleicht ein Jahrhundert oder noch länger, bis wieder normale Zustän de einkehrten. Der seelische Schock hatte eine zu tiefe Narbe hinterlas sen, die Zerstörungen der gesellschaftlichen Strukturen waren bereits zu umfangreich. Die Welt, die er geliebt hatte, war von der Dunkelheit besiegt und unwiderruflich zerschlagen worden. Das war seine Meinung als Experte, und er sah keinen Grund, daran zu rütteln. Heute war der dritte Tag, seit Sheerin sich im Wald von Theremon verabschiedet hatte, um, unbeschwert wie es seine Art war, in Richtung Amgando loszumarschieren. Die Unbeschwertheit war ihm inzwischen abhanden gekommen. Aus dem Wald hatte er heil herausgefunden – ein paarmal war es freilich recht brenzlig gewesen, er hatte sein Beil schwingen und seine grimmigste Miene aufsetzen müssen, aber es hatte gewirkt – und nun schleppte er sich schon fast einen vollen Tag lang durch die einst so gepflegten Vororte im Süden der Stadt.
Hier war alles ein Raub der Flammen geworden. Ganze Straßenzüge waren verwüstet und von ihren Bewohnern verlassen. Viele der Gebäu de schwelten noch. Sheerin hatte angenommen, die große Schnellstraße in die südlichen Provinzen beginne nur wenige Meilen unterhalb des Parks – nicht mehr als zwei Minuten mit dem Wagen. Aber er hatte keinen Wagen. So hatte er den steilen Anstieg zu dem Hügel namens Onos-Höhen praktisch auf Händen und Knien zurücklegen und sich mühsam durch das Unterholz kämpfen müssen. Die paar hundert Meter hatten ihn einen halben Tag gekostet. Oben sah Sheerin, daß der Hügel eher einem Plateau glich – aber es schien sich bis ins Unendliche zu erstrecken, und obwohl er ging und ging und ging, die Autobahn wollte nicht kommen. Stimmte überhaupt die Richtung? Das schon. Von Zeit zu Zeit versicherte ihm ein Schild an einer Stra ßenecke, er sei tatsächlich auf dem Weg zur Großen Südautobahn. Aber wie weit war es noch dorthin? Davon sagten die Schilder nichts. Alle zehn bis zwölf Straßen kam ein neues Schild, das war alles. Er ging weiter. Was blieb ihm anderes üb rig? Auch wenn er die Schnellstraße erreichte, hätte er nur den ersten Schritt auf dem Weg nach Amgando zurückgelegt. Im Grunde genom men wäre er dann immer noch in Saro City. Was dann? Weitergehen? Was sonst? Ein Auto anzuhalten, kam wohl kaum in Frage. Es schien nirgends mehr Fahrzeuge zu geben. Die Tankstellen, die nicht verbrannt waren, hatten sicher seit Tagen keinen Treibstoff mehr. Und wie lange würde er zu Fuß in diesem Tempo bis Amgando brauchen? Wochen? Monate? Nein – eine Ewigkeit. Er würde verhungern, lange bevor er seinen Bestimmungsort erreichte. Trotzdem mußte er weiter. Ohne ein Ziel vor Augen war er schon jetzt erledigt, und das wußte er nur zu genau. Seit der Sonnenfinsternis war etwa eine Woche vergangen, vielleicht auch mehr. Sheerin verlor allmählich jegliches Zeitgefühl. Er aß und schlief nicht mehr regelmäßig, und dabei hatte er immer größten Wert auf Pünktlichkeit gelegt. Nun kamen und gingen die Sonnen am Him mel, das Licht wurde heller oder schwächte sich ab, es wurde wärmer oder kälter, und die Zeit verging; doch ohne die Aufeinanderfolge von Frühstück, Mittagessen, Abendessen und Schlaf wußte Sheerin nicht, wie sie verging. Er wußte nur, daß seine Kräfte rasch schwanden. Seit Einbruch der Dunkelheit hatte er nicht mehr richtig gegessen. Seit damals hieß es ein Bissen hier, ein Happen da – eine Frucht von einem Baum, falls er eine fand, unreife Samenkörner, die nicht so aussahen, als seien sie giftig, Grashalme, irgend etwas. Er wurde nicht krank davon,
was schon ein Wunder war, aber besonders kraftspendend war diese Kost nicht. Der Nährstoffgehalt mußte knapp an Null gehen. Seine in zwischen zerschlissene Kleidung war ihm viel zu weit geworden. Was sich darunter verbarg, wollte er gar nicht wissen. In seiner Phantasie schlotterte ihm die Haut um den Leib, konnte man jeden Knochen ein zeln zählen. Seine Kehle war trocken, die Zunge fühlte sich an, als sei sie geschwollen, und hinter den Augen hämmerte es entsetzlich. Und ständig diese dumpfe Leere im Bauch. In Phasen besserer Laune tröstete er sich mit dem Gedanken, daß er nun endlich wisse, warum er sich über Jahre hinweg mit solchem Eifer eine so dicke Fettschicht angefuttert hatte. Doch diese Phasen wurden von Tag zu Tag seltener und kürzer. Der Hunger nagte an seinem Lebensmut, und er erkannte, daß er nicht mehr lange durchhalten konnte. Sein stattlicher Körper war an regelmäßige und reichliche Mahlzeiten gewöhnt. Von den in guten Zeiten angesam melten Sheerin-Reserven konnte er nicht ewig zehren, binnen kurzem würde er zu schwach sein, um sich noch weiterzuschleppen. Bald schon würde er es viel einfacher finden, sich hinter einen Busch zu legen und auszuruhen… auszuruhen… auszuruhen… Er mußte Nahrung finden: Schnell. Das Viertel, das er gerade durchquerte, war zwar unverändert men schenleer, doch die Verwüstungen erschienen ihm nicht ganz so schlimm wie in den Straßen, die bereits hinter ihm lagen. Auch hier hatte es Brände gegeben, aber nicht überall, es schien, als hätten die Flammen wahllos das eine oder andere Gebäude übersprungen, ohne Schaden anzurichten. Geduldig ging Sheerin von Haus zu Haus und drückte bei jedem, das nicht allzu stark beschädigt schien, die Türklinke nieder. Verschlossen. Alle Türen waren verschlossen. Wie penibel die Leute doch sind! dachte er. Wie ordentlich. Da bricht um sie herum die Welt zusammen, sie verlassen in blinder Panik ihr Heim, laufen in den Wald, zum Campus, in die Stadt, die Götter wissen, wohin – aber zuvor nehmen sie sich noch die Zeit, die Haustür abzu schließen! Als wollten sie nur kurz Urlaub machen, bis das Chaos vor über ist, um dann zu ihren Büchern und ihrem Krimskrams zurückzu kehren, zu ihren Schränken voll hübscher Kleider, ihren Gärten, ihren Terrassen. Hatten sie denn nicht begriffen, daß alles zu Ende war, daß dieses Chaos in alle Ewigkeit weitergehen würde? Vielleicht, dachte Sheerin bedrückt, sind sie gar nicht geflüchtet. Viel leicht verstecken sie sich hinter ihren verschlossenen Türen oder kauern wie ich im Keller und warten darauf, daß die Welt wieder normal wird. Oder sie beobachten mich aus einem Fenster im ersten Stock und hof fen, daß ich wieder gehe.
Er probierte die nächste Tür. Und noch eine. Und noch eine. Alle ver schlossen. Keine Reaktion. „He! Niemand zu Hause? Lassen Sie mich doch ein!“ Schweigen. Verzweifelt starrte er die dicke Holztür an. Im Geiste sah er die Schät ze dahinter, die noch nicht verdorbenen Lebensmittel, die nur darauf warteten, daß jemand sie aß, die Badewanne, das weiche Bett. Und er stand hier draußen und wußte nicht, wie er hineingelangen sollte. Er kam sich vor wie der kleine Junge im Märchen, der den Zauberschlüssel zum Garten der Götter geschenkt bekommt, wo Honigquellen sprudeln und an jedem Busch Gummibonbons wachsen, der aber zu klein ist, um bis zum Schlüsselloch hinaufzureichen. Am liebsten hätte er geweint. In diesem Moment fiel ihm ein, daß er ja ein Beil in der Hand hatte, und er mußte lachen. Der Hunger hatte wohl seine Phantasie angegrif fen. Der kleine Junge im Märchen gibt nicht auf: als er verschiedenen Tieren begegnet, bietet er ihnen seine Fäustlinge, seine Stiefel und seine Samtmütze an, damit sie ihm helfen. Ein Tier klettert dem anderen auf den Rücken, der Junge erklimmt die lebende Leiter und steckt dem Schlüssel ins Schlüsselloch. Und der gar-nicht-mehr-so-kleine Sheerin hat ein Beil in der Hand und steht hilflos vor einer verschlossenen Tür! Die Tür einschlagen? Einfach einschlagen? Das verstieß gegen alle seine Vorstellungen von Recht und Ordnung. Sheerin betrachtete das Beil in seiner Hand so argwöhnisch, als habe es sich plötzlich in eine Schlange verwandelt. Die Tür einschlagen – das wäre doch Einbruch! Wie konnte er, Sheerin 501, Professor für Psycho logie an der Universität Saro, kurzerhand die Tür irgendeines gesetzes treuen Bürgers einschlagen und ganz selbstverständlich dessen Haus plündern? Ganz einfach, sagte er sich und lachte noch mehr über eine eigene Torheit. Genau so. Er holte mit dem Beil aus. Aber so einfach war es nicht. Seine vom Hunger geschwächten Mus keln protestierten. Er konnte das Beil zwar heben und es auch schwin gen, aber der Schlag fiel erbärmlich schwach aus, und als die Schneide gegen die stabile Holztür prallte, durchzuckte ein brennender Schmerz seine Arme und seinen Rücken. Hatte er die Tür gespalten? Nein. Ein kleiner Riß vielleicht? Möglich. Höchstens ein Splitter. Er schlug noch einmal zu. Noch einmal. Fester. Weiter so, Sheerin. Allmählich kommst du in Fahrt. Schwung! Und Schwung! Nach den ersten paar Schwüngen spürte er den Schmerz fast nicht mehr. Er schloß die Augen, atmete tief und holte aus. Und noch einmal. Die Tür bekam die ersten Risse. Ein sichtbarer Spalt tat sich auf. Noch
ein Hieb – und noch einer – noch fünf oder sechs kräftige Schläge, und sie würde entzweibrechen… Essen. Bad. Bett. Schwung. Und Schwung. Und… Plötzlich wurde die Tür geöffnet. Vor Schreck wäre er fast vornüber gefallen. Er taumelte, konnte sich gerade noch mit dem Axtstiel am Türrahmen abstützen und blickte auf. Ein halbes Dutzend brutaler Gesichter mit glühenden Augen starrte ihm entgegen. „Sie haben geklopft, Sir?“ fragte ein Mann, und alle brachen in irres Gelächter aus. Dann griffen sie nach ihm, packten ihn an den Armen zogen ihn ins Haus. „Das brauchen Sie nicht mehr“, sagte jemand und entwand ihm mühe los das Beil. „Sie könnten sich damit verletzen, wußten Sie das nicht?“ Wieder dieses verrückte Gejohle. Sie stießen ihn in die Mitte des Raumes und umringten ihn. Sieben waren es, acht, vielleicht sogar neun. Männer und Frauen, ein halbwüchsiger Junge. Sheerin sah auf einen Blick, daß sie nicht die rechtmäßigen Besitzer dieses Hauses waren, das vor ihrem Einzug sau ber und gepflegt gewesen sein mußte. Nun waren die Wände ver schmiert, die Möbel lagen kreuz und quer durcheinander, auf dem Tep pich prangte ein nasser Fleck – verschütteter Wein? Er wußte, wen er vor sich hatte. Hausbesetzer, zerlumpte, unrasierte, ungewaschene Rabauken. Sie waren von irgendwoher gekommen und hatten sich das leerstehende Haus einfach angeeignet. Einer der Männer trug nur ein Hemd. Eine der Frauen, fast noch ein Kind, hatte ein Paar Shorts an und sonst nichts. Alle verströmten sie einen abstoßend säuer lichen Geruch. In ihren Augen stand jener angespannte, starre, lauernde Blick, den er in den letzten Tagen tausendmal gesehen hatte. Man brauchte keine Erfahrung in klinischer Psychiatrie, um zu erkennen, daß es sich hier um die Augen von Wahnsinnigen handelte. Neben dem Gestank nach ungewaschenen Leibern stieg Sheerin je doch ein anderer, angenehmerer Duft in die Nase, der auch ihn um den Verstand zu bringen drohte: es roch nach Essen. Im Nebenraum wurde gekocht. Suppe? Eintopf? Irgend etwas brodelte vor sich hin. Er schwankte, der Hunger und die jähe Hoffnung, ihn endlich stillen zu können, machten ihn schwindlig. Sanft sagte er: „Ich wußte nicht, daß das Haus bewohnt ist. Aber ich hoffe, Sie gestatten mir, den heutigen Abend mit Ihnen zu verbringen. Morgen ziehe ich dann weiter.“ „Bist du von der Wache?“ fragte ein kräftiger Mann mit dichtem Bart mißtrauisch. Er schien der Anführer zu sein.
Unsicher antwortete Sheerin: „Wache? Nein, davon weiß ich nichts. Mein Name ist Sheerin 501, und ich gehöre dem Lehrkörper…“ „Wache! Wache! Wache!“ Alle begannen plötzlich zu singen und im Kreis um ihn herumzutanzen. „…der Universität von Saro an“, vollendete er. Das wirkte wie ein Zauberspruch. Als seine ruhige Stimme ihr schril les Kreischen durchdrang, erstarrten sie in der Bewegung, verstummten und starrten ihn drohend an. „Von der Universität kommst du?“ fragte der Anführer mit merkwür digem Unterton. „Richtig. Psychologische Fakultät. Ich bin Dozent, und nebenbei ar beite ich auch klinisch. – Hören Sie, ich habe nicht die Absicht, Ihnen Schwierigkeiten zu bereiten. Ich brauche nur ein paar Stunden Ruhe und ein paar Bissen zu essen, falls Sie etwas erübrigen können. Nicht viel. Ich habe seit…“ „Universität!“ schrie eine Frau. Aus ihrem Mund klang das Wort schmutzig, wie eine Lästerung. Sheerin hatte diesen Tonfall schon ein mal gehört, als Folimun 66 am Abend der Sonnenfinsternis von den Wissenschaftlern sprach. Es klang unheimlich. „Universität! Universität! Universität!“ Sie nahmen ihren Tanz und ihren Singsang wieder auf, krümmten die Finger und deuteten mit bizarren Gesten in seine Richtung. Er verstand die Worte nicht mehr, nur eine schaurige Folge heiser gegrölter, sinnlo ser Silben drang an sein Ohr. War er etwa an eine Untergruppe der Apostel des Feuers geraten, die sich hier zu einem obskuren Ritual versammelt hatte? Nein, das wohl nicht. Dazu waren sie zu anders, zu abgerissen, zu schäbig, zu verrückt. Die wenigen Apostel, die er kennengelernt hatte, waren immer sehr adrett gewesen und hatten eine fast beängstigende Selbstdisziplin an den Tag gelegt. Außerdem waren die Apostel seit der Sonnenfinsternis nicht mehr in Erscheinung getreten. Vermutlich hatten sie sich alle in irgend ein Heiligtum zurückgezogen, um ungestört die Ehrenrettung ihrer Leh ren zu feiern. Diese Leute, dachte Sheerin, sind nichts als heimatlose, zu keiner Or ganisation gehörige Irre. Und er glaubte, in ihren Augen die nackte Mordlust funkeln zu sehen. „Hören Sie“, sagte er, „wenn ich bei einer Feier gestört haben sollte, so bitte ich vielmals um Entschuldigung. Ich werde sofort wieder gehen. Ich habe nur versucht, hier einzudringen, weil ich dachte, das Haus sei unbewohnt, und weil ich solchen Hunger hatte. Es war nicht meine Ab sicht…“ „ Universität! Universität!“
So viel glühenden Haß wie in den Augen dieser Leute hatte er noch nie erlebt. Aber auch Angst stand darin. Sie hielten Abstand von ihm und beobachteten ihn mit nervösem Zittern, als rechneten sie damit, jeden Moment von einem vernichtenden Bannstrahl getroffen zu wer den. Sheerin streckte ihnen flehentlich die Hände entgegen Wenn sie nur einen Moment mit dem Tanzen und Singen aufhören wollten! Der Es sensgeruch aus dem Nebenraum ließ ihn alle Vorsicht vergessen. Er packte eine der Frauen am Arm, in der Hoffnung, sie würde ihm so lan ge zuhören, daß er sie um einen Kanten Brot, eine Schale Suppe, irgend etwas bitten konnte. Aber sie fuhr sofort zurück, zischte, als habe Shee rins Hand sie verbrannt, und rieb wie wild die Stelle an ihrem Arm, wo seine Finger sie kurz berührt hatten. „Bitte“, sagte er. „Ich will Ihnen doch nichts tun. Ich bin genauso harmlos wie Sie alle, glauben Sie mir.“ „Harmlos!“ Der Anführer spie ihm das Wort ins Gesicht. „Du? Je mand von der Universität? Ihr seid noch schlimmer als die Wache. Die Wache schikaniert die Leute nur. Aber du, du hast die Welt zerstört.“ „Was habe ich?“ „Sei vorsichtig, Tasibar“, warnte eine Frau. „Wirf ihn hinaus, sonst verhext er uns noch.“ „Verhexen?“ fragte Sheerin. „Ich?“ Wieder fuchtelten sie beängstigend mit den Händen durch die Luft, deuteten auf ihn. Einige hatten einen leisen, wilden Gesang angestimmt, Sheerin fühlte sich an einen aufheulenden Motor erinnert, der bald heiß laufen würde. „Die Universität hat die Dunkelheit über uns gebracht“, erklärte das Mädchen, das nur ein Paar Shorts trug. „Und die Sterne“, ergänzte der Mann im Hemd. „Sie hat die Sterne ge rufen.“ „Und der hier ruft sie vielleicht zurück“, rief die Frau von vorhin. „Werft ihn hinaus! Werft ihn hinaus!“ Sheerin starrte sie fassungslos an. Eigentlich hätte er auf so etwas ge faßt sein müssen, sagte er sich. Es war eine nur allzu folgerichtige Ent wicklung: pathologisches Mißtrauen gegenüber allen Wissenschaftlern, allen Gebildeten, eine blinde Phobie, die wie ein Virus unter den Über lebenden der Schreckensnacht wütete. „Glauben Sie wirklich, ich brauche nur mit den Fingern zu schnippen, um die Sterne zurückzuholen? Ist es das, wovor Sie Angst haben?“ „Du bist von der Universität“, sagte der Mann namens Tasibar. „Du kennst die Geheimnisse. Ja, die Universität hat die Dunkelheit über uns gebracht. Die Universität hat die Sterne über uns gebracht. Die Univer sität hat uns ins Unglück gestürzt.“
Das war zu viel. Schlimm genug, daß man ihn hier festhielt und ihn zwang, den aufrei zenden Essensgeruch einzuatmen, ohne ihm etwas abzugeben. Aber von diesen Leuten auch noch für die Katastrophe verantwortlich gemacht – als boshafter Hexenmeister angesehen zu werden? In Sheerins Kopf brannte eine Sicherung durch. „So stellt ihr euch das also vor?“ rief er spöttisch. „Idioten seid ihr! Abergläubische Dummköpfe! Die Universität soll an allem schuld sein? Wir sollen die Dunkelheit über euch gebracht haben? Bei allen Göttern, ist so viel Unvernunft überhaupt möglich! Wir waren es doch, die euch zu warnen suchten!“ Wütend hob er beide Hände, ballte sie zu Fäusten, schlug sie gegen einander. „Gleich holt er sie zurück, Tasibar! Gleich läßt er es wieder dunkel werden! Halt ihn auf! Halt ihn auf!“ Sie umdrängten ihn, kamen immer näher, streckten die Arme nach ihm aus. Sheerin war umzingelt und wagte nicht, sich zu bewegen. Hilflos, Verzeihung heischend, streckte er die Hände aus. Jetzt taten ihm seine höhnischen Worte leid, nicht, weil er sich damit in Lebensgefahr ge bracht hatte – wahrscheinlich hatten sie auf seine Beschimpfungen gar nicht geachtet – sondern weil er wußte, daß sie für ihren Zustand nichts konnten. Wenn überhaupt, dann war es seine Schuld. Er hatte sich zu wenig Mühe gegeben, hatte ihnen nicht genug geholfen, sich vor dem zu schützen, was er vorausgesehen hatte. Theremons Artikel – wenn er nur mit dem Journalisten gesprochen hätte, wenn er ihn nur rechtzeitig ge drängt hätte, seinen Spott einzustellen, seine Haltung zu ändern… Ja, das alles tat ihm jetzt leid. Das und noch vieles andere, was er getan, aber auch, was er unterlas sen hatte. Doch es war viel zu spät. Jemand versetzte ihm von hinten einen Stoß. Vor Überraschung und Schmerz stockte ihm der Atem. „Liliath…“ brachte er heraus. Dann waren sie über ihm.
Kapitel 36 Vier Sonnen standen am Himmel: Onos, Dovim, Patru und Trey. VierSonnen-Tage waren angeblich Glückstage, entsann sich Theremon. Für diesen galt das gewiß. Fleisch! Endlich richtiges Fleisch! Ein herrlicher Anblick!
Er war rein zufällig an den Leckerbissen gekommen. Aber dagegen war nichts einzuwenden. Die Reize des Lebens im Freien waren mit wachsendem Hunger immer mehr verblaßt. Inzwischen war Theremon so weit, daß er alles Eßbare dankend annahm, ganz gleich, woher es stammte. Im Wald wimmelte es nur so von wilden Tieren, meist waren sie klein, einige wenige waren gefährlich, und keines ließ sich fangen – zumindest nicht mit bloßen Händen. Und Theremon verstand nichts von Fallen und hatte auch nichts, um welche anzufertigen. Die Erzählungen über Leute, die sich im Wald verirrten, sich unver züglich an das Leben am Busen der Natur anpaßten und sich schlagartig in fähige Jäger und Baumeister verwandelten – das waren nur Märchen. Theremon betrachtete sich als einigermaßen lebenstüchtig, jedenfalls für einen Stadtmenschen; aber er wußte, daß er keine Chance hatte, eines der Waldtiere zu erwischen; ebenso gut hätte er versuchen können, ei nen der Generatoren im städtischen Elektrizitätswerk wieder in Gang zu bringen. Und was den Bau einer Unterkunft anging, so war er schon froh gewesen, einen primitiven Verschlag aus Ästen und Zweigen zustandezubringen, der ihm an dem bisher einzigen, stürmischen Tag wenigstens ein bißchen Schutz vor dem Regen geboten hatte. Doch nun war es wieder warm und sonnig, und für die nächste Mahl zeit hatte er richtiges Fleisch. Die einzige Schwierigkeit bestand darin, es zu braten. Er konnte es beim besten Willen nicht roh hinunterschlin gen. Ironie des Schicksals, daß man sich in einer Stadt, die erst vor kurzem fast bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, den Kopf darüber zerbrechen mußte, wie man ein Stück Fleisch braten sollte. Aber inzwi schen waren die meisten der großen Feuer von selbst erloschen, und den Rest hatte der Regen besorgt. In den ersten Tagen nach der Katastrophe hatte es zwar so ausgesehen, als würden immer neue Brände gelegt, aber auch damit schien es jetzt vorbei zu sein. Mir wird schon etwas einfallen, dachte Theremon. Sollte er zwei Holzstöckchen aneinanderreihen, bis es einen Funken gab? Oder Metall gegen einen Stein schlagen und damit ein Stück Stoff entzünden? Ein paar Jungen waren so freundlich gewesen, das Tier am anderen Ufer eines unweit von seinem Lagerplatz gelegenen Sees für ihn zu töten. Natürlich hatten sie nicht gewußt, welchen Gefallen sie ihm damit erwiesen – höchstwahrscheinlich hatten sie es selbst verzehren wollen, es sei denn, ihr Geist war so aus den Fugen geraten, daß sie das arme Ding nur zum Spaß jagten. Aber den Eindruck hatte er nicht gehabt. Sie waren recht zielstrebig vorgegangen, mit einer Entschlossenheit, die auf Hunger schließen ließ.
Das Tier war ein Graben – eines jener häßlichen, langschnäuzigen Wesen mit bläulichem Fell und schlangenartig nacktem Schwanz, die man manchmal nach Onos-Untergang in den Vororten beim Durchstö bern der Mülltonnen beobachten konnte. Nun, auf Schönheit kam es im Moment nicht an. Die Jungen hatten das Vieh aus dem Schlaf gerissen und in eine kleine Schlucht ohne Ausgang getrieben. Von der anderen Seeseite aus hatte Theremon zugleich angewidert und neidvoll zugesehen, wie sie es unermüdlich hetzten und mit Steinen bewarfen. Für einen dummen Aasfresser war es bemerkenswert flink. Verzweifelt schoß es hierhin und dorthin, um seinen Angreifern zu ent kommen Doch endlich traf es ein Stein genau am Kopf und tötete es auf der Stelle. Der Journalist hatte erwartet, daß die Jungen ihre Beute umgehend verspeisen würden. Doch in diesem Augenblick tauchte über ihnen am Rand der kleinen Schlucht eine verwahrloste Gestalt auf, blieb kurz stehen und schickte sich dann an, zum See herabzuklettern. „Da kommt Garpik der Schlitzer! Lauft!“ schrie einer der Burschen. „Garpik! Garpik!“ Wie der Blitz stoben sie auseinander und ließen das tote Graben lie gen. Ohne den Blick vom Geschehen zu wenden, war Theremon auf seiner Seeseite in die Schatten zurückgewichen. Auch er kannte diesen Garpik, wenn auch nicht namentlich: einer der gefürchtetsten Waldbewohner, ein vierschrötiger, fast affenartiger Mensch, der außer einem Gürtel, in dem ein ganzes Sortiment verschiedener Messer steckte, nichts am Lei be trug. Er war ein quietschvergnügter Psychopath, der Prototyp des Raubtiers, ein Mensch, der völlig unmotiviert tötete. Garpik blieb eine Weile an der Einmündung der Schlucht stehen, summte vor sich hin und streichelte liebevoll eines seiner Messer. Ent weder hatte er das tote Tier nicht bemerkt, oder es interessierte ihn nicht. Vielleicht wartete er darauf, daß die Jungen zurückkamen. Aber die dachten gar nicht daran, und nach einer Weile schlurfte Garpik ach selzuckend in den Wald zurück, wahrscheinlich, um sich mit seinen Mordwerkzeugen anderswo zu amüsieren. Theremon wartete eine Ewigkeit, bis er sicher war, daß Garpik nicht vorhatte, unverhofft zurückzukehren und sich auf ihn zu stürzen. Dann – als er es nicht mehr ertrug, das tote Graben offen auf dem Bo den liegen zu sehen, wo ein anderer menschlicher oder tierischer Räuber vorbeikommen und es ihm vor der Nase wegschnappen konnte – stürm te er aus seiner Deckung, rannte um den See herum, packte das Tier und trug es in seinen Verschlag.
Es wog so viel wie ein Säugling. Möglicherweise ergab es zwei oder drei Mahlzeiten – vielleicht sogar mehr, falls er seine Gier bezähmen konnte und das Fleisch nicht allzu schnell verdarb. Ihm war ganz schwindlig vor Hunger. Seit Tagen, er wußte gar nicht mehr, wie lange, ernährte er sich nun schon von Früchten und Nüssen. Unter seiner straff gespannten Haut konnte er jeden Knochen, jeden Muskel zählen; die ohnehin dünne Fettschicht aus besseren Zeiten war längst aufgebraucht, und seither zehrte er von seinen eigenen Kräften, um zu überleben. Doch wenigstens heute abend konnte er sich auf einen Festschmaus freuen. Gebratenes Graben! Welch ein Leckerbissen! dachte er verbittert. – Doch gleich ermahnte er sich: Man sollte auch für kleine Gaben dankbar sein, Theremon. Mal sehen – was braucht man für ein Feuer… Zuallererst Brennmaterial. Hinter seinem Unterstand erhob sich eine glatte Felswand mit einem tiefen Querspalt, in dem das Unkraut wu cherte. Viele der Pflanzen waren längst verwelkt und abgestorben, und seit dem letzten Gewitter waren sie auch dürr geworden. Theremon ging rasch an der Felswand entlang und pflückte gelbe Stengel und Blätter, bis er ein Häufchen strohähnliches Zeug beisammen hatte, das leicht Feuer fangen würde. Als nächstes ein paar trockene Zweige. Die waren schwerer zu finden, aber er suchte den Waldboden in weitem Umkreis nach toten Sträuchern oder zumindest nach Sträuchern mit toten Ästen ab. Als er genug Klein holz beisammen hatte, war der Nachmittag bereits weit fortgeschritten: Dovim war vom Himmel verschwunden, und Trey und Patru, die tief am Horizont gestanden hatten, als die Jungen das Graben jagten, waren jetzt ins Zentrum gerückt und beobachteten aus großer Höhe wie ein glitzerndes Augenpaar die traurigen Ereignisse auf Kalgash. Sorgfältig ordnete Theremon sein Feuerholz über den dürren Pflanzen zu einem Gerüst, wie es seiner Ansicht nach auch ein echter Naturbur sche nicht besser gekonnt hätte, die dickeren Äste außen, die dünneren kreuzweise übereinander in der Mitte. Dann spießte er das Graben nicht ohne Mühe auf einen scharfen, einigermaßen geraden Stecken und be festigte ihn ein kleines Stück über dem Holzstoß. So weit, so gut. Nun fehlte nur noch eine Kleinigkeit. Feuer! Er hatte das Problem verdrängt, solange er mit Reisigsammeln be schäftigt war, in der Hoffnung, es würde sich von selbst lösen, ohne daß er sich deshalb lange den Kopf zerbrechen müßte. Doch nun konnte er es nicht länger vor sich herschieben. Er brauchte einen Funken. There mon war überzeugt davon, daß der alte Pfadfindertrick mit den beiden Stöcken, die man aneinanderrieb, nur eine Legende war. Er hatte einmal
gelesen, gewisse, primitive Volksstämme drehten zum Feuermachen einen Stock wie einen Quirl auf einem Brett mit einem kleinen Loch hin und her, aber er hatte den Verdacht, daß auch dieses Verfahren nicht ganz so einfach war, vermutlich mußte man eine geschlagene Stunde lang geduldig drehen, um etwas zu erreichen. Außerdem mußte man wohl in jungen Jahren von einem Stammesältesten in diese Kunst ein geweiht worden sein, wenn es funktionieren sollte. Aber mit zwei Steinen – könnte man vielleicht einen Funken erzeugen, wenn man sie gegeneinanderschlug? Auch das bezweifelte er. Aber ein Versuch konnte nichts schaden, und eine andere Möglichkeit fiel ihm nicht ein. Ganz in der Nähe lag ein breites, flaches Felsstück, und nach einigem Suchen fand er einen klei neren, dreieckigen Stein, der genau in seine Handfläche paßte. Er kniete neben seiner kleinen Feuerstelle nieder und begann systematisch, mit dem einen auf das andere einzuschlagen. Nichts geschah. Verzweiflung erfüllte ihn. Sieh dich nur an, dachte er, du bist ein er wachsener Mann, der lesen und schreiben, einen Wagen fahren und sogar einigermaßen mit einem Computer umgehen kann. Du bist im stande, in zwei Stunden einen Zeitungsartikel zu verfassen, den ganz Saro City lesen will, und das tagein, tagaus, zwanzig Jahre lang. Aber du bist nicht fähig, in der Wildnis ein Feuer in Gang zu bringen. Andererseits, dachte er, werde ich dieses Graben nicht roh essen, wenn es nicht unbedingt sein muß. Ich will nicht. Ich will nicht. Nein, nein, nein! Wütend schlug er die Steine aufeinander, einmal, zweimal, dreimal. Verdammt, nun gib endlich einen Funken. Leuchte! Brenne! Brate mir dieses lächerliche, erbärmliche Vieh! Einmal, zweimal, dreimal. „Was machen Sie denn da, Mister?“ ertönte plötzlich eine unfreundli che Stimme rechts runter ihm. Zu Tode erschrocken blickte Theremon auf. Die erste Überlebensregel in diesem Wald lautete: vertiefe dich niemals so weit in eine Beschäfti gung, daß du nicht merkst, wenn sich jemand an dich heranschleicht. Sie waren zu fünft. Alles Männer, etwa in seinem Alter, zerlumpt wie die anderen Waldbewohner. Ihre Verrücktheit schien sich in Grenzen zu halten, jedenfalls für gegenwärtige Verhältnisse: kein glasiger Blick, kein Sabbern, nur grimmige, erschöpfte, aber entschlossene Gesichter. Außer ihren Keulen hatten sie offenbar keine Waffen, aber ihre Haltung war unübersehbar feindselig. Fünf gegen einen. Na schön, dachte er, nehmt das verdammte Graben und erstickt daran. Er würde nicht so töricht sein, darum zu kämpfen.
„Ich sagte: ‚Was machen Sie da, Mister?’“ wiederholte der erste Mann eisig. Theremon funkelte ihn an. „Was glauben Sie denn? Ich versuche, ein Feuer in Gang zu bringen.“ „Das haben wir uns fast gedacht.“ Der Fremde trat vor. Langsam und gezielt stieß er mit dem Fuß gegen Theremons kleinen Holzstoß. Das sorgsam aufgeschichtete Reisig flog auseinander, und das aufgespießte Graben fiel zu Boden. „He, Moment mal!“ „Kein Feuer, Mister. So lautet das Gesetz.“ Schroff, entschieden, kompromißlos. „Der Besitz von Gerätschaften zum Feuermachen ist verboten. Dieses Holz war für ein Feuer bestimmt. Das ist offensicht lich. Außerdem haben Sie sich schuldig bekannt.“ „Schuldig?“ fragte Theremon ungläubig. „Sie sagten, Sie wollten ein Feuer in Gang bringen. Diese Steine dien ten offenbar dazu, es zu entfachen, richtig? Das Gesetz drückt sich da ganz klar aus: Verboten.“ Auf ein Zeichen des Anführers traten zwei Männer vor Einer umfaßte von hinten Theremons Hals und seinen Brustkorb, der andere nahm ihm die beiden Steine aus den Händen und schleuderte sie in den See, wo sie spritzend aufschlugen und versanken. Theremon sah ihnen nach. So ähnlich mußte Beenay sich gefühlt haben, als der Pöbel seine Teleskope zerschmetterte. „Lassen – Sie – mich – los!“ murmelte er und wehrte sich. „Laßt ihn los!“ befahl der Anführer, setzte noch einmal den Fuß in Theremons Feuerstelle und zertrat die dürren Blätter und Stengel. – „Feuer sind nicht mehr gestattet“, erklärte er. „Wir haben für alle Zeiten genug Feuer gehabt. Begreifen Sie denn nicht, welche Gefahren, wieviel Leid, was für Schäden wir zulassen, wenn wir weitere Brände dulden? Wenn Sie noch einmal versuchen, ein Feuer anzuzünden, kommen wir zurück und machen kurzen Prozeß mit Ihnen. Haben Sie mich verstan den?“ „Das Feuer hat die Welt zerstört“, fügte einer der anderen hinzu. „Das Feuer hat uns aus unseren Häusern vertrieben.“ „Das Feuer ist unser Feind. Feuer sind verboten. Das Feuer ist böse.“ Theremon starrte sie verständnislos an. Böse? Verboten? Sie waren also doch verrückt! „Beim ersten Mal wird der Versuch des Feuermachens mit einer Sach buße bestraft“, erklärte der erste Mann. „Wir beschlagnahmen dieses Tier, damit Sie lernen, unschuldige Menschen nicht in Gefahr zu brin gen. Nimm es an dich, Listigon. Das wird ihm eine Lehre sein. Wenn der Bursche das nächste Mal ein Tier fängt, wird er wissen, daß es nicht
ratsam ist, den Feind heraufzubeschwören, nur weil es ihn nach einem Braten gelüstet.“ „Nein!“ schrie Theremon mit halb erstickter Stimme, als Listigon sich bückte, um das Graben aufzuheben. „Das gehört mir, ihr Schwachköpfe. Mir! Mir!“ Wie ein Rasender ging er auf sie los. Wut und Enttäuschung hatten al le Vorsicht hinweggefegt. Ein harter Schlag traf ihn in den Unterleib. Er keuchte und würgte, knickte in der Mitte ein, hielt sich mit beiden Armen den Bauch. Ein zweiter Schlag von hinten ins Kreuz hätte ihn fast zu Boden geworfen. Doch diesmal stieß er mit einem Ellbogen zurück, kollidierte mit einem Hindernis, vernahm ein gequältes Stöhnen. Dies war nicht seine erste Rauferei, aber seine erste seit sehr, sehr lan ger Zeit. Und allein gegen fünf hatte er noch nie gestanden. Doch weg laufen kam nicht in Frage. Er mußte, so sagte er sich, auf den Beinen bleiben und sich so weit zurückziehen, bis er die Felswand im Rücken hatte, damit sie wenigstens von hinten nicht mehr an ihn herankamen. Und dann hieß es sich wehren, so gut es ging, treten, schlagen, notfalls auch beißen und brüllen, bis sie endlich doch von ihm abließen. Eine innere Stimme mahnte: Sie sind vollkommen verrückt. Durchaus möglich, daß sie nicht aufhören, bis sie dich totgeprügelt haben. Dagegen war jetzt freilich nichts mehr zu machen. Er konnte nur ver suchen, sie sich vom Leibe zu halten. Er zog den Kopf ein, schlug mit aller Kraft um sich und strebte zugleich rückwärts dem Felsen zu. Sie umdrängten ihn, prügelten von allen Seiten auf ihn ein. Aber er blieb auf den Beinen. Die zahlenmäßige Überlegenheit war nicht so verheerend, wie er erwartet hatte. Auf so engem Raum kamen nicht alle fünf gleichzeitig an ihn heran, und The remon konnte die Verwirrung für sich nützen, seine Fäuste nach allen Richtungen fliegen lassen und sich möglichst schnell bewegen, während die anderen schwerfällig um ihn herumtappen und aufpassen mußten, daß sie sich nicht gegenseitig trafen. Trotzdem konnte er nicht mehr lange durchhalten. Seine Lippe war aufgeplatzt, ein Auge begann anzuschwellen, und allmählich ging ihm auch die Luft aus. Der nächste harte Treffer würde ihn zu Boden schi cken. Er hielt sich einen Arm vor das Gesicht und boxte mit dem ande ren, immer noch bemüht, die schützende Felswand in den Rücken zu bekommen. Sein Fuß traf jemanden, er hörte ein Aufheulen, einen Fluch. Im Gegenzug bekam er einen Tritt gegen den Oberschenkel, wurde herumgerissen und zischte vor Schmerz. Die Knie wurden ihm weich, er rang verzweifelt nach Atem. Alles verschwamm ihm vor den Augen, er sah kaum noch, was um ihn herum vorging. Sie hatten ihn umzingelt, von allen Seiten droschen Fäuste auf
ihn ein. Er würde die Wand nicht erreichen. Er würde sich nicht mehr lange auf den Beinen halten können. Er würde stürzen, sie würden auf ihm herumtrampeln, er würde sterben… Würde… sterben… Auf einmal wurde er gewahr, daß ein zweiter Unruheherd entstanden war: er hörte neue Stimmen, andere Fäuste griffen in den Kampf ein, allenthalben wimmelte es von Gestalten. Schön, dachte er. Noch eine Horde Verrückter, die ihren Spaß haben will. Vielleicht könnte ich mich unauffällig verdrücken… „Hört auf – im Namen der Feuerwache!“ rief eine Frauenstimme, laut, klar gebieterisch. „Das ist ein Befehl! Schluß damit! Hört auf! Zurück! Sofort!“ Theremon blinzelte, rieb sich die Stirn, sah sich mit trüben Augen um. Vier weitere Gestalten waren auf der Lichtung erschienen. Sie wirkten frisch und gepflegt und waren sauber gekleidet. Um den Hals trugen sie flatternde, grüne Schlipse. In den Händen hielten sie Nadlerpistolen. Die Frau – sie hatte offenbar das Kommando – gestikulierte gebiete risch mit ihrer Waffe, und die fünf Männer, die Theremon überfallen hatten, gaben ihn frei und postierten sich gehorsam vor ihr. Sie musterte sie mit strengem Blick. Theremon fielen vor Staunen fast die Augen aus dem Kopf. „Was geht hier vor?“ fragte sie den Anführer der fünf mit stahlharter Stimme. „Er hat Feuer gemacht – hat es jedenfalls versucht – um sich ein Tier zu braten, aber wir kamen dazwischen…“ „Schön. Ich sehe kein Feuer. Dem Gesetz wurde Genüge getan. Ver schwindet!“ Der Mann nickte, bückte sich und wollte das Graben aufheben. „He! Das gehört mir“, protestierte Theremon heiser. „Nein“, widersprach der andere. „Sie können es nicht behalten. Das ist Ihre Strafe für die Übertretung der Feuergesetze.“ „Über die Strafe bestimme ich“, sagte die Frau. „Laßt das Tier liegen und verschwindet! Wird’s bald?“ „Aber…“ „Verschwindet, oder ich lasse euch von Altinol bestrafen. Los! Los!“ Die fünf Männer schlichen kleinlaut davon. Theremon konnte es noch immer nicht fassen. Die Frau mit dem grünen Schlips kam auf ihn zu. „Da bin ich wohl gerade im richtigen Moment gekommen, was, The remon?“ „Siferra“, staunte er. „Siferra!“
Kapitel 37 Alles tat ihm weh, und er war keineswegs sicher, inwieweit seine Knochen noch heil waren. Ein Auge war fast zugeschwollen. Aber er würde es wohl überleben. Im Moment lehnte er an der Felswand und wartete, daß der Schmerznebel sich ein wenig lichtete. „In unserem Hauptquartier steht noch eine Flasche Jonglor-Brandy“, sagte Siferra. „Einen Schluck kann ich dir genehmigen. Natürlich nur als Medizin.“ „Brandy? Hauptquartier? Was für ein Hauptquartier? Was hat das alles zu bedeuten, Siferra? Bist du auch wirklich hier?“ „Hältst du mich etwa für eine Halluzination?“ Lachend drückte sie ihm die Fingerspitzen in den Unterarm. „Würdest du das als Halluzina tion bezeichnen?“ Er zuckte zusammen. „Vorsicht. Da bin ich ziemlich empfindlich. Und überall sonst auch. – Du bist einfach vom Himmel gefallen, ja?“ „Ich war auf Patrouille, und als wir in den Wald kamen, hörten wir, daß ein Kampf im Gange war. Da haben wir nachgesehen. Bis dahin hatte ich keine Ahnung, daß du in die Sache verwickelt warst. Wir be mühen uns, hier irgendwie wieder Ordnung zu schaffen.“ „Wir?“ „Die Feuerwache. Man könnte sie vielleicht als die neue Kommunal verwaltung bezeichnen. Das Hauptquartier befindet sich im Schutzbun ker der Universität, und ein Mann namens Altinol, früher Geschäftsfüh rer irgendeiner Firma, hat das Kommando. Ich bin einer seiner Offizie re. Eigentlich sind wir eine Art Bürgerwehr, die den Leuten klarmachen konnte, daß der Einsatz von Feuer kontrolliert werden muß und daß nur Angehörige der Feuerwache das Recht haben…“ Theremon hob die Hand. „Halt, Siferra. Ganz langsam, ja? Willst du behaupten, die Universitätsangehörigen im Schutzbunker hätten eine Bürgerwehr gebildet? Sie liefen herum und löschten Feuer? Wie kann das sein? Sheerin hat mir erzählt, sie seien alle fort, um sich im Süden, im Nationalpark von Amgando mit irgendwelchen Leuten zu treffen.“ „Sheerin? Ist er auch hier?“ „Er war hier. Jetzt ist er ebenfalls nach Amgando unterwegs. Ich… ich wollte noch ein wenig warten.“ Er brachte es nicht über sich, ihr seine Hoffnung zu gestehen, daß ein unwahrscheinlicher Zufall ihn mit ihr zusammenführen würde. Siferra nickte. „Sheerin hat die Wahrheit gesagt. Alle Universitätsan gehörigen haben den Schutzbunker einen Tag nach der Sonnenfinsternis verlassen. Vermutlich haben Sie Amgando inzwischen erreicht – ich habe nichts mehr von ihnen gehört. Sie ließen den Schutzbunker sperr angelweit offen, und Altinol und sein Haufen sind einfach hineinmar
schiert und haben ihn in Besitz genommen. Die Feuerwache hat fünf zehn bis zwanzig Mitglieder, alle sind geistig in recht guter Verfassung. Sie haben die Hälfte des Waldes und einen Teil des umliegenden, noch bewohnten Stadtgebiets unter ihre Kontrolle gebracht.“ „Und du?“ fragte Theremon. „Wieso hast du dich mit ihnen eingelas sen?“ „Als die Sterne verschwunden waren, ging ich zuerst in den Wald. Aber die Gegend erschien mir ziemlich unsicher, und deshalb machte ich mich, sobald ich mich wieder an den Schutzbunker erinnert hatte, auf den Weg dorthin. Altinol und seine Leute waren bereits da, und sie forderten mich auf, mich der Wache anzuschließen.“ Siferras Lächeln drückte leise Wehmut aus. „Eigentlich haben sie mir keine Wahl gelas sen“, sagte sie. „Besonders ritterlich sind sie nämlich nicht.“ „Wir leben auch nicht in ritterlichen Zeiten.“ „Nein. Und deshalb hielt ich es für besser, bei ihnen zu bleiben, als auf eigene Faust durch die Gegend zu streifen. Sie gaben mir den grünen Schlips – der wird hier überall respektiert. Und die Nadlerpistole. Auch davor haben die Leute Respekt.“ „Und nun bist du also in einer Bürgerwehr“, bemerkte Theremon nachdenklich. „Das hätte ich dir eigentlich nicht zugetraut.“ „Ich mir auch nicht.“ „Aber du hältst diesen Altinol und seine Feuerwache für rechtschaffe ne Leute, die mithelfen, Gesetz und Ordnung wiederherzustellen, ja?“ Wieder drückte ihr Lächeln keine echte Heiterkeit aus. „Rechtschaffene Leute? Sie selbst halten sich dafür, das ist richtig.“ „Du nicht?“ Ein Achselzucken. „In erster Linie sind sie auf ihren eigenen Vorteil bedacht, und da verstehen sie keinen Spaß. Sie gedenken das Machtva kuum zu füllen, das hier entstanden ist. Aber im Moment sind sie wahr scheinlich nicht die schlimmsten, die versuchen könnten, so etwas wie eine Regierung zu bilden. Zumindest sind sie leichter zu ertragen als andere Gruppen, die mir in diesem Zusammenhang einfallen.“ „Meinst du die Apostel? Wollen die auch eine Regierung bilden?“ „Das ist anzunehmen. Aber ich habe seit der Katastrophe nichts mehr von ihnen gehört. Altmol glaubt, sie säßen immer noch in irgendeinem unterirdischen Versteck, oder Mondior hätte sie tief ins Landesinnere geführt, um dort ein eigenes Reich zu errichten. Aber es gibt noch zwei neue Fanatikergruppen, Theremon, die sind ein echter Hammer. Mit einer davon bist du eben aneinandergeraten, und du hattest ein Riesen glück, daß sie dich nicht erledigt haben. Sie glauben, da das Feuer die Welt zerstört habe, könne die Menschheit nur gerettet werden, wenn sie von nun an ganz auf Feuer verzichte. Deshalb ziehen sie durch die Ge gend, zerstören alles Material zum Feuermachen, das sie finden können,
und töten jeden, von dem sie den Eindruck haben, er zünde gerne ein Feuerchen an.“ „Ich wollte mir nur ein Stück Fleisch braten“, sagte Theremon nüch tern. „Für die macht es keinen Unterschied, ob du dir etwas kochen oder zum Spaß ein Haus anzünden willst“, sagte Siferra. „Feuer ist Feuer, und Feuer ist ihnen ein Greuel. Du hattest Glück, daß wir rechtzeitig gekommen sind. Die Autorität der Feuerwache respektieren sie nämlich. Wir sind die Elite, verstehst du, die einzigen, denen man den Gebrauch von Feuer zugesteht.“ „So eine Nadlerpistole ist dabei sicher eine große Hilfe“, bemerkte Theremon. „Damit lassen sich so einige Zugeständnisse ertrotzen.“ Er rieb sich seinen schmerzenden Arm und blickte traurig in die Ferne. – „Und du sagst, das sind nicht die einzigen Fanatiker?“ „Es gibt noch eine Gruppe, die glaubt, die Astronomen von der Uni versität hätten entdeckt, wie man die Sterne erscheinen lassen kann. Sie machen Athor, Beenay & Co für alles verantwortlich, was geschehen ist. Der alte Haß auf die Intellektuellen, der immer wieder hochkommt, wenn wir gefühlsmäßig ins finstere Mittelalter zurückkehren.“ „Bei allen Göttern! Gibt es viele von dieser Sorte?“ „Mehr als genug. Die Dunkelheit allein weiß, was sie anstellen, wenn sie tatsächlich jemanden von der Universität erwischen, der noch nicht sicher in Amgando sitzt. Wahrscheinlich knüpfen sie ihn am nächsten Laternenpfahl auf.“ „Und ich wäre dafür verantwortlich“, bemerkte Theremon bedrückt. „Du?“ „Ich bin schuld an allem, was geschehen ist, Siferra. Nicht Athor, nicht Folimun, nicht die Götter, sondern ich. Ich, ich Theremon 762. Als du mich damals verantwortungslos nanntest, warst du noch viel zu nachsichtig. Ich war nicht nur verantwortungslos, ich war kriminell fahrlässig.“ „Theremon, hör auf damit! Was nützen denn…?“ Er war nicht zu bremsen. „Tagein, tagaus hätte ich Artikel schreiben und vor den kommenden Ereignissen warnen müssen. Lauthals hätte ich ein Katastrophenprogramm fordern müssen, den Bau von Schutzräu men, die Einlagerung von Proviant, die Anschaffung von Notstromag gregaten, die Einrichtung von Beratungsstellen für Geistesgestörte, eine Million Dinge – und was habe ich statt dessen getan? Mich über alles lustig gemacht. Die Astronomen in ihrem Elfenbeinturm verspottet! Es jedem Regierungsangehörigen politisch unmöglich gemacht, Athor ernst zu nehmen.“ „Theremon…“
„Du hättest diese Irren nicht daran hindern sollen, mich totzuprügeln, Siferra.“ Sie sah ihn zornig an. „Nun rede kein dummes Zeug! Alle Regie rungspläne der Welt hätten nichts geändert. Mir wäre es auch lieber gewesen, du hättest diese Artikel nicht geschrieben, Theremon. Du weißt, wie ich darüber dachte. Aber ist das jetzt nicht egal? Es war deine ehrliche Meinung. Sie war falsch, aber sie war ehrlich. Und außerdem bringt das ewige ‚Was wäre, wenn…?’ nichts ein. Wir müssen uns mit dem auseinandersetzen, was ist.“ Etwas freundlicher fuhr sie fort: „Und jetzt Schluß damit! Kannst du laufen? Wir müssen dich zum Schutzbun ker bringen. Dort kannst du dich waschen und frisch anziehen und be kommst auch etwas in den Magen…“ „Ihr habt Lebensmittel?“ „Die Leute von der Universität haben massenweise Proviant zurückge lassen.“ Lachend zeigte Theremon auf das Graben. „Heißt das, ich brauche das nicht zu essen?“ „Wenn du nicht unbedingt versessen darauf bist. Ich schlage vor, du schenkst es unterwegs jemandem, der es nötiger braucht als du.“ „Gute Idee.“ Langsam und unter Schmerzen rappelte er sich auf. Bei den Göttern, was tat ihm nicht alles weh! Probeweise machte er ein paar Schritte: nicht schlecht, gar nicht schlecht. Offenbar war doch nichts gebrochen. Er war nur ein wenig angeschlagen. Aber die Aussicht auf ein heißes Bad und eine schmackhafte, kräftige Mahlzeit tat bereits ihre Wirkung. Zum letzten Mal betrachtete er seine kleine, windschiefe Hütte, seinen Bach, die stacheligen Sträucher und Gräser. Das alles war in diesen seltsamen Tagen sein Zuhause gewesen. Vermissen würde er das Leben hier wohl nicht, aber er würde es gewiß nicht so bald vergessen. Er hob das Graben auf und warf es sich über die Schulter. „Geh voran“, bat er Siferra. Sie hatten noch keine hundert Schritte zurückgelegt, als Theremon ein paar Jungen hinter den Bäumen lauern sah, dieselben, die das Graben aus seinem Bau getrieben und schließlich erlegt hatten. Nun waren sie offenbar zurückgekommen, um danach zu suchen, und starrten aus eini ger Entfernung mürrisch herüber, sichtlich empört, daß Theremon mit ihrer Beute davonmarschierte. Aber sie hatten zu viel Respekt vor den grünen Schlipsen der Feuerwache – oder, was wahrscheinlicher war, vor den Nadlerpistolen –, um ihre Ansprüche geltend zu machen. „He!“ rief Theremon. „Das gehört euch, nicht wahr? Ich habe es für euch aufgehoben!“ Damit warf er ihnen das tote Graben zu. Es landete weit vor ihnen auf dem Boden, und sie betrachteten es zögernd, mit ratlosen, ängstlichen
Mienen. Die Ungeduld war ihnen deutlich anzumerken, aber die Angst hielt sie zurück. „Da hast du das Leben nach der Dunkelheit“, bemerkte er traurig. „Sie hungern, aber sie wagen keinen Finger zu rühren. Sie glauben, es sei eine Falle, und wir würden sie zum Spaß einfach niederschießen, wenn sie hinter den Bäumen hervorträten, um das Tier aufzuheben.“ „Wer könnte es ihnen verdenken?“ gab Siferra zurück. „Heutzutage hat jeder vor jedem Angst. Laß es liegen. Sie werden es sich schon ho len, sobald wir außer Sicht sind.“ Er hinkte weiter hinter ihr her. Siferra und die anderen Angehörigen der Feuerwache schritten so selbstbewußt durch den Wald, als seien sie gegen die überall lauernden Gefahren immun. Und tatsächlich kam es zu keinem Zwischenfall, als die Gruppe – so rasch, wie Theremons Verletzungen es gestatteten – der quer durch das Waldstück führenden Straße zustrebte. Es war interes sant zu beobachten, wie schnell die Gesellschaft sich rekonstruierte. Binnen weniger Tage harte sich eine bunt zusammengewürfelte Organi sation wie diese Feuerwache bereits so etwas wie Regierungsautorität erworben. Aber vielleicht wurden die Irren auch nur durch die Nadler pistolen und das selbstsichere Auftreten der Grünschlipse in Schach gehalten. Schließlich erreichten sie den Waldrand. Seit nur noch Patru und Trey am Himmel standen, war es kühler und beunruhigend dämmrig gewor den. In früheren Zeiten hatte Theremon die relativ geringe Helligkeit in den Stunden, in denen nur eines der Doppelsonnenpaare die Welt be schien, nicht weiter gestört. Seit der Sonnenfinsternis fand er solche Zwei-Sonnen-Abende jedoch beklemmend und bedrohlich, er fürchtete – obwohl er wußte, daß das nicht möglich war –, sie könnten das erste Anzeichen der wiederkehrenden Dunkelheit sein. Selbst bei den robus testen Menschen würde es lange dauern, bis die seelischen Wunden jener Nacht verheilten. „Der Schutzbunker liegt gleich da unten an der Straße“, sagte Siferra. „Wie geht es dir?“ „Soweit ganz gut“, antwortete Theremon verdrossen. „Zum Krüppel haben sie mich schließlich nicht gemacht.“ Aber er mußte alle Willenskraft aufbieten, damit ihn seine wunden, schmerzenden Beine weitertrugen. Zutiefst erleichtert stand er endlich vor dem grottenartigen Eingang zu jenem unterirdischen Reich, dem Schutzbunker. Ein wahres Labyrinth tat sich vor ihm auf. Nach allen Seiten zweigten Höhlen und Gänge ab. In einiger Entfernung waren schwach die Zulei tungen zu wissenschaftlichen Apparaturen zu erkennen, die in rätselhaf ten, geheimnisvollen Schlingen und Windungen über Wände und Decke
führten. Jetzt fiel ihm auch wieder ein, daß hier einst, vor dem Bau des großen, neuen Forschungslabors auf den Saro-Höhen, der Atomzer trümmerer der Universität gestanden hatte. Offenbar hatten die Physiker viele veraltete Geräte zurückgelassen. Ein hochgewachsener Mann, der Autorität um sich verbreitete, nahm sie in Empfang. Siferra stellte vor: „Das ist Altinol 111. Altinol, darf ich dich mit The remon 762 bekanntmachen.“ „Vom Chronicle?“ fragte Altinol, aber es klang weder ehrfürchtig noch irgendwie beeindruckt, er stellte nur eine Tatsache fest. „Einstmals“, verbesserte Theremon. Die beiden musterten sich ohne besondere Sympathie. Altinol machte tatsächlich den Eindruck eines harten Burschen, dachte Theremon: ein Mann in den besten Jahren, sportlich und in ausgezeichneter körperli cher Verfassung. Er trug gute, strapazierfähige Kleidung und benahm sich wie ein Mensch, der gewöhnt war, daß man ihm gehorchte. Wäh rend Theremon ihn betrachtete, durchforschte er rasch sein gut sortiertes Gedächtnis, und schon einen Augenblick später hatte es zu seiner Ge nugtuung geklingelt. „Morthaine Industries?“ fragte er. „Dieser Altinol?“ Ein Funke – Belustigung? Oder eher Ärger? – blitzte in Altinols Au gen auf. „Dieser, ja.“ „Man hat Ihnen stets nachgesagt, Sie wollten Regierungschef werden. Nun scheinen Sie es geschafft zu haben. Zumindest stehen Sie an der Spitze der Überreste von Saro City, wenn schon nicht der ganzen Repu blik.“ „Eins nach dem anderen“, sagte Altinol in bedächtigem Ton. „Zuerst einmal wollen wir uns aus der Anarchie herausarbeiten. Danach werden wir uns bemühen, das Land wieder zu einen, und dann erst zerbrechen wir uns den Kopf darüber, wer Regierungschef werden soll. Ein Prob lem sind zum Beispiel die Apostel, die den gesamten Nordteil der Stadt und die Gebiete jenseits davon in ihre Gewalt gebracht und unter das Gesetz der Religion gestellt haben. Sie werden sich nicht so leicht ver drängen lassen.“ Altinol lächelte frostig. „Nur immer schön der Reihe nach, mein Freund.“ „Und für Theremon“, schaltete sich Siferra ein, „heißt die Reihenfol ge, zuerst ein Bad, und dann etwas zu essen. Er hat seit Einbruch der Dunkelheit im Wald gelebt. – Komm“, wandte sie sich an ihn. Man hatte die lange Halle des alten Teilchenbeschleunigers mit Hilfe von Trennwänden in eine Reihe kleiner Zellen unterteilt, und Siferra führte Theremon in eine davon. Durch Kupferrohre an der Decke wurde Wasser in ein Porzellanbecken geleitet. „Richtig heiß wird es nicht sein“, warnte sie. „Wir lassen den Boiler nur zwei Stunden pro Tag lau
fen, weil der Treibstoff so knapp ist. Aber es ist sicher immer noch bes ser als ein Bad in einem eisigen Waldbach. – Kennst du Altinol von früher?“ „Er war im Vorstand von Morthaine Industries, dem großen Reederei konzern. Vor ein oder zwei Jahren geriet er in die Schlagzeilen, weil er irgendwie mit möglicherweise fragwürdigen Methoden den Auftrag an Land gezogen hatte, auf Regierungsland in der Provinz Nibro ein riesi ges Siedlungsgebiet zu erschließen.“ „Was hat eine Reederei mit Grundstückserschließung zu tun?“ fragte Siferra. „Genau darum ging es, nämlich gar nichts. Man warf ihm vor, er habe mit unlauteren Mitteln Einfluß auf die Regierung ausgeübt – angeblich soll er einigen Senatoren auf Lebenszeit freie Fahrt auf seinen Luxus dampfern angeboten haben…“ Theremon zuckte die Achseln. „Heute hat das alles seine Bedeutung verloren. Morthaine Industries existiert nicht mehr, man braucht keine Grundstücke mehr zu erschließen, und es gibt keine Bundessenatoren mehr, die man bestechen könnte. Aber es war ihm wohl unangenehm, daß ich ihn erkannt habe.“ „Wahrscheinlich war es ihm egal. Die Feuerwache ist das einzige, was ihn jetzt noch interessiert.“ „Vorerst“, schränkte Theremon ein. „Heute die Feuerwache von Saro City, morgen die ganze Welt. Du hast doch gehört, er will die Apostel verdrängen, die sich die andere Seite der Stadt unter den Nagel gerissen haben. Nun, jemand muß es schließlich tun, und er gehört zu der Sorte Menschen, die gerne das Sagen hat.“ Siferra ging hinaus, und Theremon ließ sich in das Porzellanbecken sinken. Nicht gerade fürstlich, aber doch eine Wohltat nach allem, was er in letzter Zeit durchgemacht hatte. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und räkelte sich genießerisch im warmen Wasser. Nach dem Bad führte ihn Siferra in den Speisesaal, einen schlichten Raum mit Blechdach, und ließ ihn mit der Erklärung allein, sie müsse zu Altinol zum Rapport. Hier wartete bereits eine Mahlzeit auf ihn – aus Konserven, von denen man in den Monaten, als der Schutzbunker einge richtet wurde, einen Vorrat angelegt harte. Lauwarmes Gemüse, fades Fleisch unbekannter Herkunft, ein blaßgrünes, alkoholfreies Getränk von unbestimmbarem Geschmack. Für Theremon waren es paradiesische Köstlichkeiten. Er zwang sich, langsam und bedächtig zu essen, denn er wußte, daß sein Körper nach dem Leben im Wald nicht mehr an richtige Nahrung gewöhnt war. Wenn ihm nicht übel werden sollte, mußte er jeden Bissen gründlich kauen, obwohl er am liebsten alles hastig hinuntergeschlun gen hätte, um gleich noch eine zweite Portion zu verlangen.
Nach dem Essen lehnte er sich zurück und starrte stupide die häßliche Blechwand an. Sein Hunger war gestillt, doch seine Laune wurde zuse hends schlechter. Trotz des Bades, trotz des Essens, trotz des tröstlichen Bewußtseins, in diesem Bunker völlig sicher zu sein, rutschte er allmäh lich in eine tiefe Depression. Er fühlte sich zu Tode erschöpft. Mutlos und bedrückt. Es war doch eigentlich keine schlechte Welt gewesen, dachte er. Nicht vollkommen, keineswegs, aber doch ganz annehmbar. Die meisten Leu te hatten einigermaßen glücklich gelebt, die meisten waren wohlhabend, man machte Fortschritte an allen Fronten – hin zu tieferen, wissen schaftlichen Erkenntnissen, zu größerem Wirtschaftswachstum, zu um fassender, globaler Zusammenarbeit. Kriege waren immer mehr zu ei nem kuriosen Relikt der Vergangenheit geworden, und die uralten reli giösen Fanatismen hatte zumindest er für größtenteils überwunden gehalten. Und nun war binnen weniger Stunden, in einem einzigen Ausbruch der grauenhaften Dunkelheit alles zerstört worden. Natürlich würde aus der Asche eine neue Welt entstehen. Das war immer so gewesen: Siferras Ausgrabungen in Thombo bezeugten es. Doch was für eine Welt würde das sein? fragte sich Theremon. Die Antwort lag auf der Hand. Eine Welt, in der man sich gegenseitig wegen eines Stücks Fleisch umbrachte, oder weil der andere gegen ein aber gläubisches Feuergesetz verstoßen hatte, manchmal auch nur, weil ein Mord eine gewisse Abwechslung versprach. Eine Welt, in der das Chaos regierte, in der die Altinols nach oben geschwemmt wurden und an die Macht gelangten. Eine Welt, in der zweifellos auch die Folimuns und Mondiors nichts unversucht ließen, um eine religiöse Tyrannei zu er richten – wahrscheinlich Hand in Hand mit den Altinols, dachte There mon schaudernd. Eine Welt, in der… Nein. Er schüttelte den Kopf. Wozu sollten diese trüben Gedanken gut sein? Siferra hatte die richtige Einstellung, dachte er. Das ‚Was wäre, wenn?’ bringt nichts ein. Man muß sich mit dem auseinandersetzen, was ist. Zumindest war er am Leben, sein Verstand war wieder heil, und die schwere Zeit im Wald hatte er bis auf ein paar Kratzer und blaue Fle cken, die in ein paar Tagen verschwunden sein würden, leidlich gut überstanden. Mit Verzweiflung kam man nicht weiter, sie war ein Lu xus, den er sich nicht leisten konnte. Schließlich versagte sich auch Si ferra den Luxus, ihm seine Zeitungsartikel immer noch nachzutragen. Was geschehen war, war geschehen. Nun war es Zeit, sich aufzuraffen und weiterzuziehen, neue Gruppen zu bilden, die Ärmel hochzukrem peln und von vorne anzufangen. Zurückzublicken war Wahnsinn. Und
entsetzt oder verzagt in die Zukunft zu schauen, war jämmerliche Feig heit. „Fertig?“ Siferra war wieder in den Speisesaal gekommen. „Ich weiß, es war nicht gerade ein kulinarisches Erlebnis, aber immer noch besser als dein Graben.“ „Das weiß ich nicht. Ich bin ja nicht dazu gekommen, von dem Graben zu kosten.“ „Wahrscheinlich hast du nicht viel versäumt. Komm, ich zeige dir dein Zimmer.“ Es war eine kleine, niedrige Kammer, keineswegs ein Prunkgemach: ein Bett, daneben auf dem Boden ein Gottesauge, ein Waschständer, eine einzige Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing. In einer Ecke lagen ein paar Bücher und Zeitschriften, wohl noch von den Leu ten, die den Abend der Sonnenfinsternis hier verbracht hatten. There mon entdeckte ein Exemplar des Chronicle und zuckte zusammen, als er sah, daß die Seite mit seiner Kolumne aufgeschlagen war: es war einer seiner letzten Artikel, ein besonders extremer Angriff auf Athor und seine Gruppe. Errötend stieß er die Zeitung mit dem Fuß beiseite. „Was willst du jetzt tun, Theremon?“ fragte Siferra. „Tun?“ „Ich meine, wenn du dich ein wenig ausgeruht hast.“ „Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Wieso?“ „Altinol möchte wissen, ob du vorhast, dich der Feuerwache anzu schließen“, sagte sie. „Soll das eine Einladung sein?“ „Er wäre bereit, dich aufzunehmen. Er braucht Leute wie dich, Leute, die stark sind und mit Menschen umgehen können.“ „Ja“, stimmte Theremon zu. „Ich würde gut dazupassen, was?“ „Aber eines macht ihm Kopfzerbrechen. In der Wache ist nur Platz für einen Boss, und das ist Altinol. Solltest du dich anschließen, so müßtest du dir von Anfang an darüber im klaren sein, daß es gegen Altinols Wort keine Widerrede gibt. Er ist sich nicht so ganz sicher, ob du ein guter Untergebener bist.“ „Ich habe da auch meine Zweifel“, bestätigte Theremon. „Aber ich kann Altinols Standpunkt verstehen.“ „Dann machst du also mit? Ich weiß, man kann gegen die Organisati on so einiges einwenden. Aber sie sorgt immerhin für Ordnung, und das brauchen wir jetzt. Und Altinol mag selbstherrlich sein, aber er ist ganz gewiß nicht bösartig. Er ist nur der Ansicht, diese Zeiten verlangten hartes Durchgreifen und entschlossene Führung. Und damit kann er dienen.“ „Davon bin ich überzeugt.“
„Vielleicht schläfst du einmal darüber“, riet ihm Siferra. „Wenn du mitmachen willst, dann sprich morgen mit ihm. Sei ganz offen. Er wird zu dir auch offen sein, darauf kannst du dich verlassen. Du mußt ihm nur versprechen, seine Autorität nicht direkt zu bedrohen, dann werdet ihr beide sicher…“ „Nein“, sagte Theremon plötzlich. „Was heißt nein?“ Er schwieg eine Weile. Endlich sagte er: „Ich brauche nichts zu über schlafen. Ich weiß bereits, wie meine Antwort lauten wird.“ Siferra sah ihn erwartungsvoll an. „Ich will Altinol nicht ins Gehege kommen. Ich kenne den Typ, und ich weiß ganz genau, daß ich mich mit solchen Leuten nicht über länge re Zeit vertrage. Außerdem mögen Organisationen wie die Feuerwache kurzfristig nötig sein, auf lange Sicht sind sie von Schaden, und wenn sie einmal etabliert und zur Institution geworden sind, wird man sie nur schwer wieder los. Die Altinols dieser Welt verzichten nämlich nicht freiwillig auf ihre Macht. Das tut kein kleiner Diktator. Und ich will mir nicht bis an mein Lebensende vorwerfen müssen, daß er mit meiner Hilfe an die Spitze gelangt ist. Ich halte die Wiedererfindung des Feu dalsystems nämlich nicht für die beste Lösung der jetzt anstehenden Probleme. Also sage ich nein, Siferra. Ich werde Altinols grünen Schlips nicht tragen. Für mich gibt es hier keine Zukunft.“ „Und was hast du dann vor?“ fragte sie leise. „Sheerin hat mir erzählt, daß in Amgando eine richtige Übergangsre gierung gebildet werden soll. Leute von den Universitäten, vielleicht ein paar Vertreter der alten Regierung, Repräsentanten aus dem ganzen Land versammeln sich dort. Sobald ich wieder kräftig genug bin, mache ich mich auf den Weg nach Amgando.“ Sie sah ihn fest an, sagte aber nichts. Theremon holte tief Atem, und nach kurzer Pause bat er: „Komm mit mir, Siferra.“ Er streckte ihr die Hand entgegen und fuhr leise fort: „Verbring den Abend mit mir in diesem armseligen Kämmerchen. Und morgen früh verschwinden wir von hier und ziehen gemeinsam nach Süden. Du gehörst ebensowenig hierher wie ich. Und zu zweit haben wir fünfmal bessere Chancen, den Amgando-Park zu erreichen, als einer allein.“ Siferra schwieg. Er zog die Hand nicht zurück. „Nun? Was meinst du dazu?“ Widerstreitende Empfindungen zuckten über ihr Gesicht. Theremon wagte nicht, sie zu deuten. Siferra focht einen harten inneren Kampf aus. Doch plötzlich war die Entscheidung gefallen. „Ja“, sagte sie. „Ja, Theremon. Ich bin einverstanden.“
Und sie trat auf ihn zu. Und nahm seine Hand. Und schaltete die Glühbirne an der Decke aus, so daß der Raum im sanften Schein des Gottesauges lag.
Kapitel 38 „Weißt du, wie dieses Viertel heißt?“ Starr vor Schreck betrachtete Si ferra die geisterhafte, verräucherte Szenerie aus zerstörten Häusern und verlassenen Fahrzeugen. Es war kurz vor Mittag am dritten Tag nach ihrer Flucht aus dem Schutzbunker. Onos’ verschwenderisches Licht enthüllte gnadenlos jede rußgeschwärzte Wand, jedes eingeschlagene Fenster. Theremon schüttelte den Kopf. „Es hatte sicher irgendeinen ganz al bernen Namen. Goldacker, Saro-Siedlung oder so. Aber der Name ist unwichtig geworden, denn es ist kein Stadtviertel mehr. Das einstige Wohngebiet ist nur noch eine archäologische Fundstätte, Siferra. Einer von Saros verlorenen Vororten.“ Sie befanden sich vom Wald aus gesehen schon ziemlich weit südlich, fast am Rand des Vorstadtgürtels, der die Südgrenze von Saro City bil dete. Jenseits davon gab es nur noch Ackerland, ein paar Kleinstädte und – irgendwo in weiter, unvorstellbar weiter Ferne – ihr Ziel, den Nationalpark von Amgando. Sie hatten zwei Tage gebraucht, um den Wald zu durchqueren. Am ersten Abend hatten sie in Theremons alter Hütte geschlafen, am zwei ten in einem Dickicht auf halber Höhe des buckligen Abhangs, über dem die Siedlung Onos-Höhen lag. Die ganze Zeit über hatte nichts darauf hingewesen, daß die Feuerwache hinter ihnen her sei. Altinol hatte offenbar keinen Versuch unternommen, sie zu verfolgen, obwohl sie Waffen und zwei prallgefüllte Rucksäcke mit Proviant mitgenom men hatten. Und inzwischen, dachte Siferra, waren sie sicher schon außerhalb seiner Reichweite. „Müßte hier nicht irgendwo die Große Südautobahn anfangen?“ fragte sie. „In zwei bis drei Meilen. Wenn wir Glück haben, können wir gerade aus weitergehen, ohne daß uns irgendwelche Brände den Weg versper ren.“ „Wir werden Glück haben. Verlaß dich drauf.“ Er lachte. „Du bist ein unerschütterlicher Optimist!“ „Kostet auch nicht mehr als Pessimismus“, gab sie zurück. „So oder so, wir kommen durch.“ „Richtig. So oder so.“ Sie marschierten unermüdlich dahin. Theremon schien sich von den Prügeln, die er im Wald bezogen hatte, und von der langen Hungerkur
rasch zu erholen. Seine Kondition war erstaunlich. Siferra war gewiß nicht untrainiert, aber sie mußte sich anstrengen, um sein Tempo mitzu halten. Kaum weniger anstrengend war es, den Mut nicht zu verlieren. Seit sie aufgebrochen waren, zeigte sie sich unbeirrt hoffnungsvoll und bekun dete immer wieder ihre Zuversicht, daß sie heil nach Amgando gelangen und dort Menschen ihresgleichen finden würden, die bereits vollauf damit beschäftigt waren, den Wiederaufbau der Welt zu planen. Im Innern war sie davon freilich nicht so überzeugt. Und je weiter sie und Theremon in diese einst so hübschen Vorstädte vordrangen, desto schwerer fiel es ihr, Entsetzen, Schock und Verzweiflung zu unterdrü cken und nicht zu verzagen. Diese Welt war ein Alptraum. Es gab kein Entrinnen. Wohin man auch schaute, überall starrte einem die Zerstörung ins Gesicht. Schau! dachte sie. Sieh doch nur! Wie trostlos – die Narben – die ein gestürzten Gebäude – auf den Mauern sprießt bereits das Unkraut, in den Ritzen haben sich die ersten Eidechsen eingenistet. Überall stößt man auf die Spuren jener schrecklichen Nacht, in der die Götter wie schon so oft ihren Fluch auf die Welt herabschickten. Es riecht scheuß lich ätzend nach dem schwarzen Qualm, der aufstieg, als der letzte Re gen die Feuer löschte – und stechend nach dem weißen Rauch, der sich immer noch aus den Fenstern brennender Keller kräuselt – alles ist vol ler Flecken – auf den Straßen liegen die Leichen, im Todeskampf er starrt – und in den Augen der wenigen Überlebenden, die hin und wie der aus den Trümmern hervorlugen, steht der Wahnsinn. Aller Glanz war verblaßt. Alle Größe dahin. Die Welt lag in Trüm mern, ganz und gar – als hätte sich das Meer erhoben, dachte sie, um all unsere Werke mit sich ins Vergessen zu reißen. Ruinen waren Siferra nicht fremd. Sie hatte ihr ganzes Berufsleben mit Ausgrabungen verbracht. Aber das waren alte Ruinen gewesen, abge klärt, geheimnisvoll und romantisch. Was sie hier sah, war noch zu frisch, zu schmerzlich, und besaß keine Spur von Romantik. Mit dem Untergang früherer Zivilisationen war sie ohne Schwierigkeiten zu rechtgekommen; darunter hatte sie kaum gelitten. Doch nun war ihre eigene Epoche in die Mülltonne der Geschichte gefegt worden, und das ertrug sie nur schwer. Warum hatte es dazu kommen müssen? fragte sie sich. Warum? Wa rum? Warum? Waren wir so schlecht? Waren wir so weit vom Weg der Götter abge wichen, daß wir eine solche Strafe verdient hatten? Nein. Nein!
Es gibt keine Götter; das war keine Strafe. Davon war Siferra weiterhin überzeugt. Die Katastrophe war auf das Walten eines blinden Schicksals zurückzuführen, auf die passiven Be wegungen toter, gleichgültiger Welten und Sonnen, die sich alle zwei tausend Jahre teilnahmslos zu einer verheerenden Konstellation zusam menfanden. Es war ein Unfall gewesen. Nicht mehr. Ein Unfall, wie er Kalgash im Laufe seiner Geschichte unzählige Male zugestoßen war. Dann und wann wurden die Sterne in all ihrer erschreckenden Majestät sichtbar und stürzten die Welt in heilloses Entsetzen. Außer sich vor Verzweiflung erhoben die Menschen die Hand gegen ihre eigenen Wer ke, in den Wahnsinn getrieben von der Dunkelheit, vom grausamen Schein der Sterne. Ein niemals endender Kreislauf. Die Asche von Thombo hatte ihr die ganze Geschichte erzählt. Und nun hatte Thombo sich wiederholt. Theremon hatte recht: Es ist nur noch eine archäologi sche Fundstätte. Genau so war es. Die Welt, die sie gekannt hatten, gab es nicht mehr. Aber wir sind noch da, dachte sie. Was sollen wir tun? Was sollen wir nur tun? Der einzige Trost in diesem Elend war die Erinnerung an jenen ersten Abend mit Theremon im Schutzbunker: so plötzlich, so völlig unerwar tet und doch so schön. Immer wieder sah sie die Szene im Geist vor sich. Sein seltsam schüchternes Lächeln, als er sie bat, bei ihm zu blei ben – nein, das war keine raffinierte Verführungsmasche gewesen! Und der Ausdruck in seinen Augen. Und seine Hände auf ihrer Haut – sein Kuß, sein Atem, der sich mit dem ihren mischte… Wie lange war sie schon nicht mehr mit einem Mann zusammengewe sen? Sie hatte fast vergessen, wie das war – fast. Und früher hatte sie dabei immer das unbehagliche Gefühl gehabt, einen Fehler zu machen, einen falschen Weg einzuschlagen, sich auf eine Reise zu begeben, die sie besser vermeiden sollte. Bei Theremon war alles ganz anders gewe sen: da waren nur Barrieren und Masken und Ängste gefallen, man hatte freudig kapituliert und sich endlich eingestehen können, daß es falsch war, sich in dieser zerrissenen, gemarterten Welt allein behaupten zu wollen, daß man Bündnisse schließen mußte, und daß Theremon, gera deheraus und offen, vielleicht sogar ein wenig derb, aber stark, ent schlossen und zuverlässig, genau der Verbündete war, den man brauchte und den man sich wünschte. Und so hatte sie sich schließlich hingegeben, ohne Zögern und ohne Bedauern. Ironie des Schicksals, dachte sie, daß sie einen Weltunter gang gebraucht hatte, um sich endlich zu verlieben! Aber wenigstens
das hatte sie erreicht. Auch wenn alles andere verloren war, das würde bleiben. „Sieh mal“, sagte sie und streckte die Hand aus. „Ein Wegweiser.“ Ein grünes Metallschild hing krumm und schief an einem Laternen pfahl. Es hatte schwarze Rußflecken und war durchlöchert, allem An schein nach von Kugeln. Aber die leuchtend gelbe Schrift war noch einigermaßen zu entziffern: GROSSE SÜDAUTOBAHN stand da, und darunter zeigte ein Pfeil geradeaus. „Von hier aus sind es höchstens noch ein paar Meilen“, sagte There mon. „Wir müßten bis…“ Ein schrilles Winseln war zu hören, gefolgt von einem scheppernden Aufprall und einem dröhnenden Echo. Siferra hielt sich die Ohren zu. Gleich darauf wurde sie vom Arm ihres Begleiters zu Boden gerissen. „Runter!“ zischte Theremon heiser. „Jemand schießt auf uns!“ „Wer? Wo?“ Er hatte den Nadler bereits in der Hand. Auch sie zog ihre Waffe. Ein Blick nach oben zeigte ihr, daß der Schuß den Wegweiser getroffen hatte. Zwischen den ersten beiden Worten befand sich ein neues Loch, das mehrere Buchstaben ausgelöscht hatte. Tief geduckt huschte Theremon auf das nächste Haus zu. Siferra kam sich vor wie entblößt, als sie ihm folgte. Das war noch tausendmal schlimmer, als nackt vor Altinol und der Feuerwache zu stehen. Jeden Moment konnte von irgendwoher der nächste Schuß kommen, und sie hatte nichts, um sich davor zu schützen. Auch als sie um die Ecke bog und sich in dem schmalen Durchgang zwischen zwei Gebäuden schwer atmend, mit wild pochendem Herzen an Theremon drückte, hatte sie nicht das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Er deutete mit einem Nicken zu einer Reihe ausgebrannter Häuser auf der anderen Straßenseite hin. Weiter unten waren zwei oder drei noch intakt, und in einem Fenster im oberen Stockwerk des Eckhauses ent deckte sie mehrere rußige, verschwommene Gesichter. „Da sind Leute drin. Natürlich Hausbesetzer. Irre.“ „Ich sehe sie.“ „Die haben keine Angst vor dem Schlips der Feuerwache. Vielleicht sind wir auch schon so weit außerhalb der Stadt, daß sie die Wache gar nicht kennen. Oder sie haben gerade wegen der Schlipse auf uns ge schossen.“ „Meinst du?“ „Möglich ist alles.“ Theremon schob sich ein kleines Stück nach vor ne. „Ich wüßte nur gerne, ob sie die Absicht hatten, uns zu treffen, und miserable Schützen sind, oder ob sie uns nur einen Schrecken einjagen wollten. Wenn sie auf uns gezielt und dabei nur das Schild getroffen
hätten, könnten wir einen Ausbruch riskieren. Wenn der Schuß aller dings nur als Warnung gedacht war…“ „Davon gehe ich eigentlich aus. Wenn jemand danebenschießt, trifft er nicht unbedingt genau den Wegweiser. Das wäre ein zu großer Zufall.“ „Wahrscheinlich“, gab Theremon zu. Dann verfinsterte sich seine Miene. „Ich mache sie jetzt darauf aufmerksam, daß wir ebenfalls be waffnet sind. Nur zur Abschreckung, damit sie nicht auf die Idee kom men, ein paar Kundschafter um die Häuser herumzuschicken, die sich dann von hinten an uns heranschleichen.“ Er warf einen Blick auf seinen Nadler und stellte ihn auf breiten Strahl und maximale Entfernung ein. Dann hob er die Waffe und drückte ab. Ein roter Blitz fuhr zischend durch die Luft und schlug genau vor dem Gebäude, wo sich die Gesichter gezeigt hatten, in den Boden. Auf dem Rasen erschien ein schwarzer Fleck, dünne Rauchfäden stiegen auf. „Glaubst du, das haben sie gesehen?“ fragte Siferra. „Wenn nicht, dann sind sie so weit hinüber, daß sie gar nichts mehr wahrnehmen. Aber ich schätze, der Hinweis ist angekommen. Und hat keine Begeisterung ausgelöst.“ Wieder erschienen die Gesichter am Fenster. „Bleib unten“, warnte Theremon. „Sie haben ein schweres Jagdge wehr. Ich kann die Mündung sehen.“ Wieder war das Winseln zu hören, wieder folgte der ohrenbetäubende Einschlag. Der Wegweiser fiel zerschmettert zu Boden. „Mag sein, daß es Irre sind“, bemerkte Siferra, „aber sie treffen ver dammt genau.“ „Zu genau. Der erste Schuß war nur ein Scherz. Damit wollten sie uns verspotten. Jetzt haben sie uns mitgeteilt, daß sie uns von der Platte putzen, wenn wir unsere Nasenspitze rausstecken. Wir sitzen in der Falle, und das genießen sie.“ „Sollten wir nicht versuchen, nach hinten zu verschwinden?“ „Der Durchgang ist mit Schutt blockiert. Außerdem wissen wir nicht, ob uns nicht am anderen Ende neue Hausbesetzer erwarten.“ „Was machen wir dann?“ „Wir setzen das Haus in Brand“, antwortete Theremon. „Räuchern sie aus. Und töten sie, falls sie zu verrückt sein sollten, um sich zu erge ben.“ Ihre Augen wurden groß. „Töten?“ „Wenn sie uns keine andere Wahl lassen, ja, dann töte ich sie. Möch test du nach Amgando, oder willst du dich lieber bis an dein Lebensende in diesem Durchgang verstecken?“ „Aber du kannst doch nicht einfach Menschen töten, auch wenn du… auch wenn sie…“
Sie wußte nicht mehr, was sie eigentlich hatte sagen wollen, und ver stummte. „Auch wenn sie dich töten wollen, Siferra? Auch wenn sie es für einen Riesenspaß halten, dir ein paar Kugeln um die Ohren zu jagen?“ Sie gab keine Antwort. Da hatte sie geglaubt, allmählich zu begreifen, wie es in dieser ungeheuerlichen neuen Welt nach der Sonnenfinsternis zuging, und nun mußte sie erkennen, wie ahnungslos sie immer noch war. Theremon war ein Stück weit auf die Straße zugekrochen. Nun brachte er seinen Nadler in Anschlag. Der weißglühende Lichtblitz traf die weiße Fassade des schräg gege nüberliegenden Eckhauses. Das Holz färbte sich auf der Stelle schwarz. Flämmchen züngelten auf. Theremon zog eine feurige Linie über die ganze Front, wartete einen Moment, drückte wieder ab und zeichnete senkrecht dazu einen zweiten Streifen. „Gib mir deine Pistole“, verlangte er. „Die meine wird zu heiß.“ Sie reichte ihm die Waffe. Er stellte sie ein und feuerte ein drittes Mal. Ein ganzer Abschnitt der vorderen Hauswand stand nun in Flammen. Theremon zielte mit dem Strahl durch die Öffnung in das Gebäudeinne re. Es ist noch gar nicht lange her, dachte Siferra, da hatte dieses weiße Holzhaus rechtmäßige Besitzer. Eine Familie wohnte darin, Menschen, die stolz waren auf ihr Haus, auf ihre Siedlung – die ihren Rasen pfleg ten, ihre Blumen gossen, mit ihren Haustieren spielten, Freunde zum Essen einluden, mit einem Drink auf der Terrasse saßen und zusahen, wie die Sonnen über den Abendhimmel zogen. Das alles hatte nichts mehr zu bedeuten. Nun lag Theremon auf dem Bauch in einem Durch gang voller Asche und Schutt und steckte das Haus ganz gezielt und systematisch in Brand. Weil das der einzige Ausweg war, wenn er und sie mit heiler Haut aus dieser Straße herauskommen und ihren Weg nach Amgando fortsetzen wollten. Ja, diese Welt war ein Alptraum. Nun stieg aus dem Innern des Hauses eine Rauchsäule auf. Die ganze linke Seite der Fassade stand in Flammen. Und aus den Fenstern des zweiten Stocks sprangen Menschen. Drei, vier, fünf waren es, sie keuchten, rangen nach Luft. Zwei Frauen, drei Männer. Auf dem Rasen blieben sie einen Moment lang wie betäubt liegen. Ihre Kleider waren zerlumpt und schmutzig, ihr Haar verfilzt. Irre. Was immer sie vor Einbruch der Dunkelheit gewesen sein moch ten, nun waren sie nur noch Teil jener unübersehbaren Masse augenrol lender, verwahrloster Herumtreiber, denen die jähe Lichtflut, mit der die Sterne ihre nichtsahnenden Sinne überwältigten, vielleicht für immer den Verstand geraubt hatte.
„Aufstehen!“ rief Theremon. „Hände hoch! Na los! Kommt schon, hoch damit!“ Er trat aus dem Durchgang und baute sich, beide Nadler im Anschlag, gut sichtbar auf. Siferra stellte sich neben ihn. Das Haus war jetzt in dichten Rauch gehüllt, und aus der dunklen Wolke zuckten gewaltige Stichflammen wie scharlachrote Fahnen gen Himmel. Ob wohl noch Menschen im Haus waren? Wer wußte das schon? Kam es überhaupt darauf an? „Alles in einer Reihe aufstellen!“ kommandierte Theremon. „So ist es richtig! Gesicht nach links!“ Einer nach dem anderen gehorchte. Als ein Mann sich etwas zu viel Zeit ließ, jagte ihm Theremon zur Aufmunte rung einen Nadlerstrahl dicht am Ohr vorbei. „Und jetzt im Laufschritt marsch! Die Straße hinunter! Schneller! Schneller!“ Eine Seite des Hauses stürzte mit lautem Krachen in sich zusammen und gab wie bei einem Puppenhaus den Blick auf Zimmer und Möbel frei. Alles stand in Flammen. Die Hausbesetzer hatten die Straßenecke fast erreicht. Theremon trieb sie immer noch weiter und jagte mehrere Schüsse hinter ihnen her. Schließlich wandte er sich Siferra zu. „Das genügt. Wir verschwin den!“ Sie steckten ihre Waffen ein und rannten in entgegengesetzter Rich tung davon, auf die Große Südautobahn zu. „Und wenn sie nun schießend herausgekommen wären?“ fragte Siferra später, als sie die Autobahneinfahrt vor sich sahen und über die Äcker darauf zugingen. „Hättest du sie wirklich getötet, Theremon?“ Sein Blick war ruhig und streng. „Wenn das die einzige Möglichkeit gewesen wäre, aus diesem Durchgang herauszukommen? Die Frage habe ich dir wohl schon beantwortet. Natürlich hätte ich es getan. Was wäre mir denn übrig geblieben? Was hätte ich denn sonst tun können?“ „Wahrscheinlich nichts“, flüsterte Siferra kaum hörbar. Das Bild des brennenden Hauses hatte sich in ihr Bewußtsein einge brannt. Ebenso wie die verwilderten, zerlumpten, die Straße hinunter laufenden Gestalten. Aber sie hatten als erste geschossen, sagte sie sich. Sie hatten angefan gen. Niemand wußte, wie weit sie gegangen wären, wenn Theremon nicht die Idee gehabt hätte, das Haus niederzubrennen. Das Haus – jemandes Haus… Niemandes Haus, verbesserte sie sich. „Da ist sie“, sagte Theremon. „Die Große Südautobahn. Die Strecke nach Amgando fährt man bequem in fünf Stunden. Zum Abendessen könnten wir dort sein.“ „Wenn wir ein Fahrzeug hätten“, sagte Siferra. „Ja, wenn“, bestätigte er.
Kapitel 39 Trotz allem, was er bereits gesehen hatte, war Theremon nicht auf die Szene vorbereitet, die ihn hier erwartete. Was sich auf der Großen Süd autobahn abgespielt hatte, übertraf die schlimmsten Alpträume jedes Verkehrsplaners. Auf dem Weg durch die südlichen Vororte waren er und Siferra immer wieder an verlassenen Autos vorbeigekommen. Offenbar waren viele Fahrer in Panik geraten, als die Sterne erschienen, hatten ihre Wagen angehalten und zu Fuß irgendwo Schutz gesucht vor diesem grauenhaf ten Glanz, der plötzlich den Himmel erfüllte. Aber in den ruhigen Wohngebieten, die sie bisher durchquert hatten, waren sie nur hier und da in relativ großen Abständen auf vereinzelte Wagen gestoßen. Dort hatte zur Zeit der Sonnenfinsternis wohl kein allzu reger Verkehr geherrscht, schließlich war der normale Arbeitstag bereits zu Ende gewesen. Die Große Südautobahn dagegen – auf der sich auch so spät noch die Pendler drängten – mußte sich in ein Tollhaus verwandelt haben, als die Katastrophe über die Welt hereinbrach. „Sieh dir das an“, flüsterte Theremon fassungslos. „Sieh dir das nur an, Siferra!“ Sie schüttelte staunend den Kopf. „Unglaublich. Einfach unglaublich.“ Überall Klumpen von Autos – chaotisch ineinander verkeilt, stellen weise zu zweit oder zu dritt übereinander geschoben. Sie versperrten die breite Straße, bildeten eine nahezu unüberwindliche Fahrzeugmauer. Die Wagen schauten in alle Himmelsrichtungen, einige lagen auf dem Dach. Viele waren nur noch ausgebrannte Gerippe. Auf dem Asphalt standen blanke Treibstoffpfützen wie kleine Kristallseen. Pulverfeine Glassplitter ließen die Fahrbahn gespenstisch erglitzern. Tote Autos. Und tote Fahrer. Es war die bisher grausigste Szene. Vor ihnen erstreckte sich ein ge waltiges Totenheer. Über dem Steuer zusammengesackte Leichen, zwi schen kollidierten Fahrzeugen eingeklemmte Leichen, unter den Rädern feststeckende Leichen. Und Scharen von Leichen, die jämmerlich wie ausrangierte Puppen einfach zu beiden Seiten am Straßenrand lagen, die Glieder erstarrt in den grotesken Verrenkungen des Todeskampfes. „Einige Fahrer haben wahrscheinlich sofort angehalten, als die Sterne erschienen“, sagte Siferra. „Andere dagegen haben noch beschleunigt, um die Autobahn möglichst schnell zu verlassen und nach Hause zu gelangen, und sie rasten in die stehenden Wagen hinein. Wieder andere müssen so betäubt gewesen sein, daß sie überhaupt nicht mehr fahren konnten – sieh doch nur, da drüben sind sie geradewegs die Böschung
hinuntergestürzt, und hier hat einer einfach kehrtgemacht, um ohne Rücksicht auf den Gegenverkehr zurückzufahren.“ Theremon überlief ein Schauder. „Ein Auffahrunfall von unübersehba ren Ausmaßen. Die Autos krachten von allen Seiten ineinander. Sie gerieten ins Schleudern, überschlugen sich, schossen quer über die Stra ße auf die Gegenfahrbahn. Die Fahrer stiegen aus, um sich zu verste cken, und wurden von nachkommenden Autos überrollt. Alles war auf fünfzig verschiedene Arten verrückt geworden.“ Er lachte bitter. „Was, in aller Welt, findest du daran komisch, Theremon?“ fragte Si ferra verwundert. „Nur meine eigene Dummheit. Weißt du, Siferra, vor einer halben Stunde, als wir schon ganz dicht an der Autobahn waren, kam ich auf eine ganz abwegige Idee. Ich dachte, wir könnten uns kurzerhand in irgendeinen verlassenen Wagen setzen, der vollgetankt und fahrbereit dastünde, und nach Amgando düsen. Einfach so, praktischer ginge es nicht. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, daß die Straße völlig blockiert sein würde – daß wir, selbst wenn wir das Glück hätten, einen verkehrstüchtigen Wagen zu finden, keine zwanzig Meter damit würden fahren könnten.“ „So wie die Straße aussieht, wird es schon schwierig genug werden, zu Fuß voranzukommen.“ „Ja. Aber daran läßt sich wohl nichts ändern.“ Verbissen traten sie den langen Marsch nach Süden an. Im warmem Onos-Schein des frühen Nachmittags suchten sie sich ei nen Weg durch das Massaker, kletterten über die verbogenen, verbeul ten Blechkarosserien und bemühten sich nach Kräften, die verkohlten, verstümmelten Leichen, die eingetrockneten Blutlachen, den Todesge stank, das absolute Grauen ringsum zu ignorieren. Theremon stumpfte fast umgehend ab, und das entsetzte ihn fast noch mehr als alles andere. Doch bald schon bemerkte er das Blut, die starren Leichenaugen, das ungeheure Ausmaß der Katastrophe einfach nicht mehr. Die Gebirge aus Autowracks, die sie überwinden, die vorstehen den, gefährlich scharfen Metallteile, an denen sie sich vorbeizwängen mußten, nahmen seine Konzentration voll in Anspruch, und so schenkte er den Opfern des Unglücks keine Beachtung mehr. Nach Überlebenden zu suchen, wäre ohnehin sinnlos gewesen. Wer in diese Falle geraten war, hätte niemals so lange durchgehalten. Auch Siferra schien sich rasch an die alptraumhafte Umgebung ge wöhnt zu haben. Sie sprach kaum ein Wort, während sie sich neben ihm vorantastete, manchmal stehenblieb, um auf eine Lücke im Trümmer gewirr zu deuten, oder sich auf alle viere niederließ, um unter einem überhängenden, zerknautschten Stück Metall durchzukriechen.
Sie waren praktisch die einzigen lebenden Menschen auf der Straße. Hin und wieder entdeckten sie weit vor sich einen Fußgänger, der nach Süden unterwegs war oder von Süden her auf Saro City zustrebte, aber zu einer Begegnung kam es nie. Die anderen Wanderer pflegten sich hastig zwischen die Trümmer zu ducken, oder, wenn sie in die gleiche Richtung gingen, ein hektisches Tempo anzuschlagen, das ihre panische Angst verriet, und rasch in der Ferne zu verschwinden. Wovor fürchten sie sich nur? fragte sich Theremon. Wir wollen sie doch gar nicht angreifen. Heißt es denn wirklich: Jeder gegen jeden? Einmal, etwa eine Stunde nach Erreichen der Autobahn, sahen sie ei nen verwahrlost aussehenden Mann, der von einem Wagen zum anderen ging, sich hineinbeugte und in den Taschen der Toten wühlte, um sie ihrer Habseligkeiten zu berauben. Auf dem Rücken hatte er einen gro ßen Sack mit Plündergut, der so schwer war, daß er fast darunter zu sammenbrach. Fluchend zog Theremon seine Nadlerpistole. „Nun sieh dir diesen dreckigen Leichenschänder an! Sieh ihn dir an!“ „Nein, Theremon!“ Siferra stieß ihm den Arm zur Seite, als er einen Blitz auf den Plünde rer abfeuerte. Der Schuß fuhr in einen Wagen daneben, der die Energie reflektierte, so daß sie aufleuchtete wie ein Sonnenrad. „Warum hast du das getan?“ fragte Theremon. „Ich wollte ihn doch nur erschrecken.“ „Ich dachte, du…“ Theremon schüttelte traurig den Kopf. „Nein“, sagte er. „So weit bin ich noch nicht. Da – sieh mal, wie er davonrennt!“ Der Plünderer war herumgefahren, als er den Schuß hörte, und hatte Theremon und Siferra mit dem irren, staunenden Blick des Amokläufers angestarrt. Seine Augen waren leer; von seinen Lippen troff der Spei chel. Lange stand er so da, dann ließ er seinen Sack fallen und sprang in wilder, verzweifelter Flucht über die Wagendächer. Bald war er nicht mehr zu sehen. Sie gingen weiter. Es war beschwerlich. Hoch über ihnen verspotteten die Straßenschil der an ihren glänzenden Stützen die erbärmlich langsamen Menschen, indem sie ihnen sagten, wie winzig die Strecke war, die sie seit Beginn der Autobahn zurückgelegt hatten. Bei Onos-Untergang hatten sie gera de anderthalb Meilen bewältigt. „In diesem Tempo“, stellte Theremon enttäuscht fest, „dauert es ein Jahr, bis wir in Amgando sind.“ „Wenn wir uns erst eingelaufen haben, geht es auch schneller“, be hauptete Siferra ohne große Überzeugung.
Alles wäre viel einfacher gewesen, wenn sie, anstatt auf der Fahrbahn selbst, parallel dazu hätten gehen können. Aber das war unmöglich. Die Große Südautobahn überspannte über weite Strecken auf hohen Pfeilern große Waldflächen, Sümpfe und hin und wieder ein Industriegebiet. An manchen Stellen wurde sie zur Brücke und führte über lange, offene Bergwerksstollen oder über Seen und Flüsse hinweg. So würde ihnen meist nichts anderes übrigbleiben, als sich an die ehemals zentrale Ver kehrsader zu halten, so zeitraubend es auch war, die endlosen Wrack berge zu umgehen. Sie blieben so weit wie möglich am Fahrbahnrand, wo die Fahrzeug dichte geringer war. Ein Blick nach unten zeigte ihnen, daß das Chaos das ganze Land erfaßt hatte. Verbrannte Häuser. Bis zum Horizont flackerten Brände, die noch immer nicht erloschen waren. Hin und wieder schleppte sich ein verlas senes Häufchen von Flüchtlingen in dumpfer Benommenheit verwirrt über die trümmerübersäten Straßen, ohne so recht zu wissen, wohin. Manchmal lagerte eine größere, mehr als tausendköpfige Gruppe im Freien, alle kauerten trostlos, wie gelähmt am Boden, kaum jemand regte sich, jede Willenskraft, jede Initiative schien zerstört. Siferra deutete auf eine ausgebrannte Kirche auf einem Hügel gegen über der Autobahn. Zerlumpte Gestalten kletterten über die eingestürz ten Mauern und bearbeiteten die noch heil gebliebenen Steinblöcke mit Brechstangen, um sie zu lockern und in den Hof hinabzustoßen. „Sieht so aus, als wollten sie alles niederreißen“, sagte sie. „Warum tun sie das?“ „Weil sie die Götter hassen“, erklärte Theremon. „Sie machen sie ver antwortlich für das, was geschehen ist. – Kennst du die große Kathedra le Aller Götter am Rand des Waldes, das Pantheon mit den berühmten Thamilandi-Fresken? Zwei Tage nach Einbruch der Dunkelheit war ich dort. Das Gebäude war niedergebrannt – alles lag in Schutt und Asche, ein einziger, halb ohnmächtiger Priester steckte noch in einem Trüm merhaufen. Jetzt ist mir klar, daß dieser Brand kein Unfall war. Das Feuer wurde gezielt gelegt. Und der Priester – ich mußte mitansehen, wie ein Irrer ihn tötete, damals dachte ich, der Mörder hätte es auf die Gewänder abgesehen. Vielleicht war es purer Haß.“ „Aber die Priester haben doch nicht…“ „Hast du die Apostel schon vergessen? Hat uns Mondior nicht monate lang eingeredet, alles, was geschehen würde, sei eine Strafe der Götter? Die Priester sind doch die Stimme der Götter, nicht wahr, Siferra? Und wenn sie uns in die Sünde führten, so daß man uns so hart bestrafen mußte, nun, dann ist es doch nur logisch, sie auch für das Erscheinen der Sterne verantwortlich zu machen. So denkt jedenfalls das Volk.“
„Die Apostel!“ wiederholte Siferra finster. „Ich wünschte, ich könnte sie vergessen. Was sie wohl jetzt treiben?“ „In ihrem Turm haben sie die Sonnenfinsternis vermutlich ohne Scha den an Leib und Seele überstanden.“ „Ja. Sie waren so gut darauf vorbereitet, daß ihnen die Nacht wohl nicht viel anhaben konnte. Hat Altinol nicht erwähnt, sie hätten auf der Nordseite von Saro City bereits eine Regierung gebildet?“ Theremon starrte trübe auf die verwüstete Kirche und sagte tonlos: „Ich kann mir gut vorstellen, was für eine Regierung das sein wird. Ein tugendhafter Lebenswandel ist Gesetz. Jeden Onos-Tag verkündet Mondior neue Moralvorschriften. Vergnügungen jeglicher Art sind strengstens verboten. Einmal pro Woche werden die schlimmsten Sün der öffentlich hingerichtet.“ Er spuckte aus. „Bei der Dunkelheit! Wenn ich mir vorstelle, daß ich Folimun an jenem Abend schon in den Fingern hatte und ihn wieder freigab, obwohl ich ihn ohne weiteres hätte erwür gen können…“ „Theremon!“ „Ich weiß. Was hätte es auch genützt? Ein Apostel mehr oder weni ger? Lassen wir ihn am Leben. Lassen wir sie ihre Regierung bilden und all den Unglücklichen im Norden von Saro City vorschreiben, was sie zu tun und wie sie zu denken haben. Was geht es uns an? Wir wollen schließlich nach Süden, nicht wahr? Was die Apostel tun, betrifft uns nicht. Sobald sich die Lage ein wenig beruhigt, sind sie nur mehr eine von fünfzig, vielleicht sogar von fünftausend konkurrierenden und un tereinander zerstrittenen Parteien. Dann hat jeder Bezirk seinen eigenen Diktator oder seinen eigenen Kaiser.“ Theremons Stimme bekam einen verzweifelten Ton. „O Siferra, Siferra!“ Sie nahm seine Hand und fragte ruhig: „Du machst dir also wieder Vorwürfe?“ „Woher weißt du das?“ „Wenn du dich so hineinsteigerst – Theremon, glaube mir, es ist nicht deine Schuld! Siehst du denn nicht ein, daß noch so viele Zeitungsarti kel an der Entwicklung nichts geändert hätten? Ein Mann allein hätte nichts ausrichten können. Diese Katastrophe war der Welt bestimmt, sie war nicht zu verhindern, sie…“ „Bestimmung?“ fragte er scharf zurück. „Was für ein seltsamer Aus druck! Ist das deine Umschreibung für die Rache der Götter?“ „Von den Göttern habe ich kein Wort gesagt. Ich meine nur, es war Bestimmung, daß Kalgash Zwei kam, nicht weil die Götter es so woll ten, sondern weil die Gesetze der Astronomie eben so und nicht anders sind, und deshalb war die Sonnenfinsternis ebenso vorherbestimmt wie die Dunkelheit und die Sterne.“ „Ja.“ Theremons Stimme klang gleichgültig. „Mag sein.“
Sie hatten ein Stück Autobahn erreicht, wo nur wenige Wagen liegen geblieben waren. Onos war untergegangen, die Abendsonnen Sitha, Tano und Dovim standen am Himmel. Von Westen wehte ein kühler Wind. Theremon spürte allmählich ein dumpfes Hungergefühl. Sie hat ten sich den ganzen Tag keine Zeit zum Essen genommen. Nun suchten sie sich ein Plätzchen zwischen zwei schrottreifen Fahrzeugen und wi ckelten einige Päckchen mit Trockennahrung aus, die sie aus dem Schutzbunker mitgenommen hatten. Trotz seines knurrenden Magens hatte Theremon kaum Appetit und mußte sich zu jedem Bissen zwingen. Aus den Wagenfenstern blickten ihn starre Totengesichter an. Solange er in Bewegung blieb, hatte er sie ignorieren können, aber seit er sich er auf der einstmals schönsten Auto bahn der Provinz Saro niedergelassen hatte, schaffte er es nicht mehr, den Anblick aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Zeitweise hielt er sich gar selbst für den Mörder all dieser Menschen. Sie machten sich ein Lager aus Sitzpolstern, die bei Zusammenstößen herausgeschleudert worden waren, und legten sich dicht nebeneinander. Aber sie schreckten immer wieder auf, viel schlechter hätten sie wohl auch auf dem harten Beton nicht geschlafen. Im Laufe des Abends drangen Schreie, heiseres Gelächter und ferner Gesang zu ihnen. Theremon erwachte sofort und spähte über den Rand des erhöhten Fahrbahnkörpers. Tief unten, vielleicht zwanzig Minuten zu Fuß in östlicher Richtung, brannten auf einem Feld mehrere Lager feuer. Schlief denn niemand mehr unter einem Dach? Hatten die Sterne alle so erschüttert, daß die gesamte Weltbevölkerung Haus und Hof verlassen hatte, um wie er und Siferra im Freien zu kampieren, im ver trauten Licht der ewigen Sonnen? Gegen Morgen nickte er schließlich ein. Doch bald darauf stieg Onos’ Scheibe erst rosarot, dann golden über den östlichen Horizont und riß ihn aus seinen wirren, unzusammenhängenden Träumen. Siferra war bereits wach. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen gerötet und verschwollen. Er rang sich ein Lächeln ab. „Du siehst gut aus“, lobte er. „Oh, das ist noch gar nichts“, gab sie zurück. „Du müßtest mich erst sehen, wenn ich mich zwei Wochen lang nicht gewaschen habe.“ „Ich meinte doch nur…“ „Ich weiß, was du meintest“, sagte sie. „Glaube ich jedenfalls.“ An diesem Tag legten sie vier Meilen zurück, und jeder einzelne Schritt war eine Strapaze. „Wir brauchen Wasser“, sagte Siferra, als wie jeden Nachmittag der Wind auffrischte. „Wir müssen die nächste Ausfahrt nehmen und nach einer Quelle suchen.“ „Ja“, stimmte er zu. „Das müssen wir wohl.“
Theremon war nicht wohl bei dem Gedanken, die Autobahn zu verlas sen. Seit Beginn der Reise waren sie hier so gut wie ungestört geblieben, und inzwischen fühlte er sich zwischen den demolierten Fahrzeugen fast geborgen, so seltsam das auch war. Da unten auf freiem Feld, wo die Flüchtlingshorden umherstreiften – sonderbar, dachte er, daß ich sie als Flüchtlinge bezeichne, als ob ich selbst auf Urlaubsreise wäre –, konn ten sie in ungeahnte Schwierigkeiten geraten. Aber Siferra hatte recht. Sie mußten hinunter, um nach Wasser zu su chen. Ihr Vorrat war fast erschöpft. Und vielleicht brauchten sie auch etwas Erholung von dieser endlosen Reihe aus Autowracks und starräu gigen Leichen, um den langen Marsch nach Amgando fortsetzen zu können. Er deutete auf ein Schild. „Noch eine halbe Meile zur nächsten Aus fahrt.“ „Das müßte in einer Stunde zu schaffen sein.“ „Früher“, behauptete er. „Sieht so aus, als hätten wir ziemlich freie Bahn. Wir verlassen die Autobahn, tun möglichst schnell, was wir tun müssen, und kommen zum Schlafen wieder herauf. Hier zwischen den Wagen sind wir sicherer als da unten auf freiem Feld.“ Das leuchtete auch Siferra ein. Dank der wenigen Hindernisse konnten sie ein so flottes Tempo einschlagen wie noch nie. Im Handumdrehen hatten sie das nächste Schild eine Viertelmeile vor der Ausfahrt erreicht. Doch dann war es mit dem raschen Fortkommen schlagartig vorbei. Die Barriere aus ineinander verkeilten Fahrzeugen, die ihnen den Weg versperrte, war so gewaltig, daß Theremon im ersten Moment fürchtete, sie sei nicht zu überwinden. Diese Massenkarambolage übertraf alles, was Theremon und Siferra bisher gesehen hatten. Zwei riesige Fernlaster waren offenbar der Aus löser gewesen, sie hatten sich nach einem Frontalzusammenstoß wie zwei Dschungelraubtiere ineinander verbissen. Dutzende von Perso nenwagen waren in sie hineingerast, hatten sich überschlagen und waren auf die nachkommenden Fahrzeuge gestürzt. So war eine gigantische Mauer quer über die Fahrbahn entstanden, die sogar über die Seitenrän der hinausragte. Überall standen eingedrückte Türen und messerscharfe Kotflügelkanten heraus, und bei jedem Windstoß ließen ganze Berge von Glasscherben ein ominöses Klirren hören. „Hier“, rief Theremon. „Ich glaube, ich sehe einen Weg – durch die Lücke nach oben, dann über den linken Laster… nein, nein, so geht es nicht, wir müssen unten durch…“ Siferra trat neben ihn, er zeigte ihr das Problem – ein ganzes Knäuel umgekippter Wagen, die wie eine Schar gen Himmel ragender Messer jenseits der Barriere auf sie warteten – und sie nickte. Dann ließen sich beide auf alle viere nieder und krochen langsam, ohne Rücksicht auf
Schmutz und Schmerzen, durch Glasscherben und geronnenen Treib stoff. Auf halbem Wege legten sie eine Pause ein, dann robbten sie wei ter, der anderen Seite entgegen. Theremon tauchte als erster auf. „Ihr Götter!“ murmelte er ratlos angesichts der Szene, die vor ihm lag. „Was nun?“ Jenseits der Barrikade war die Straße vielleicht zwanzig Meter weit frei. Dahinter erhob sich eine zweite Sperre. Sie war jedoch absichtlich errichtet worden – jemand hatte fein säuberlich Autotüren und Reifen bis zu einer Höhe von zwei oder drei Metern quer über die Fahrbahn gestapelt. Davor erblickte Theremon etwa zwei Dutzend Menschen, die sich auf der Autobahn häuslich niedergelassen hatten. Der Weg durch das Trümmergewirr hatte ihn so in Anspruch genommen, daß er auf nichts anderes geachtet und daher auch die Geräusche von der anderen Seite überhört hatte. Siferra kam neben ihm herausgekrochen, und er hörte ihr erschrocke nes Aufkeuchen. „Leg deine Hand auf den Nadler“, befahl er leise. „Aber zieh ihn nicht, und komm ja nicht auf die Idee, damit schießen zu wollen. Es sind zu viele.“ Ein paar Fremde, sechs oder sieben Männer von kräftiger Statur, ka men auf sie zugeschlendert. Theremon blieb reglos stehen. Er wußte, daß er dieser Begegnung nicht ausweichen konnte – durch das Labyrinth aus messerscharfen Trümmern, das sie eben mühsam hinter sich ge bracht hatten, gab es kein Entkommen. Er und Siferra waren in der Lü cke zwischen den beiden Straßensperren gefangen. Sie mußten abwar ten, was nun passierte, und konnten nur hoffen, daß sie es mit einiger maßen normalen Menschen zu tun hatten. Ein Hüne mit hängenden Schultern und kalten Augen kam gemächlich auf Theremon zu, bis er ihn fast berührte, und sagte: „Schön, mein Jun ge. Dies ist eine Durchsuchungsstation.“ Das Wort Durchsuchung be tonte er besonders. „Durchsuchungsstation?“ wiederholte Theremon ungerührt. „Und wo nach wird gesucht?“ „Komm mir nicht auf diese neunmalkluge Tour, sonst fliegst du kopf über von der Fahrbahn. Du weißt verdammt gut, wonach wir suchen. Bring dich nicht in Schwierigkeiten.“ Er winkte den anderen. Sie traten heran und grapschten nach There mons und Siferras Kleidern. Wütend stieß der Journalist die aufdringli chen Hände weg. „Lassen Sie uns durch“, zischte er. „Hier kommt niemand ohne Durchsuchung durch.“
„Und wer bestimmt das?“ „Ich bestimme das. Du wirst dich fügen, oder müssen wir dich zwin gen?“ „Theremon!“ flüsterte Siferra ängstlich. Er schüttelte sie ab. Allmählich geriet er in Wut. Die Vernunft sagte ihm, daß jeder Widerstand zwecklos, daß die Ü bermacht zu groß, daß es dem Mann völlig ernst war, wenn er sagte, sie würden sich in Schwierigkeiten bringen, falls sie sich weigerten, die Suche über sich ergehen zu lassen. Wie Banditen kamen ihm die Leute eigentlich nicht vor. Die Worte des Hünen klangen irgendwie amtlich, so als befinde man sich hier an einer Grenze irgendwelcher Art, einer Zollstation vielleicht. Worauf sie es wohl abgesehen hatten? Auf Lebensmittel? Oder auf Waffen? Ob sie versuchen würden, ihm und Siferra die Nadler abzunehmen? Immer noch besser, ihnen freiwillig alles zu überlassen, was man bei sich trug, überlegte Theremon, als bei dem törichten, wenn auch heroischen Ver such, seine Bewegungsfreiheit zu verteidigen, getötet zu werden. Anderseits – die Leute waren von empörender Grobheit – zwangen ei nen auf einer öffentlichen Autobahn… Und sie konnten weder auf die Nadler, noch auf ihren Lebensmittel vorrat verzichten. Bis Amgando waren es noch Hunderte von Meilen. „Ich warne dich“, begann der große Mann. „Und ich warne Sie, fassen Sie mich nicht an. Ich bin ein Bürger der Republik Saro, und diese Straße steht immer noch allen Bürgern offen, ganz gleich, was geschehen sein mag. Ich bin Ihnen nicht unterstellt.“ „Er redet wie ein Professor“, lachte einer der anderen Männer. „Hält uns Vorträge über seine Rechte.“ Der Hüne zuckte die Achseln. „Ein Professor reicht uns. Und geredet haben wir auch genug. Haltet sie fest und durchsucht sie. Von Kopf bis Fuß.“ „Laßt – mich – los!“ Eine Hand umklammerte Theremons Arm. Er riß die Faust hoch und rammte sie irgend jemandem in die Rippen. Die Situation war ihm nicht neu: wieder ein Handgemenge, die nächste Tracht Prügel für ihn. Aber er war entschlossen, sich zu wehren. Gleich darauf erhielt er einen Hieb ins Gesicht, jemand packte ihn am Ellbogen, Siferra schrie wütend und erschrocken auf. Er wollte sich losreißen, landete einen zweiten Hieb, fing selbst einen ein, duckte sich, fuhr herum, bekam eine schallende Ohrfeige… „He, Moment mal!“ rief eine neue Stimme. „Halt! Butella, weg von dem Mann! Fridnor! Talpin! Laßt ihn los!“ Eine bekannte Stimme. Aber wem gehörte sie?
Die Männer wichen zurück. Theremon schwankte ein wenig und hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu halten, als er zu dem Neuankömmling aufsah. Eine schlanke, drahtige Gestalt, ein intelligentes, grinsendes Gesicht voller Schmutzflecken, scharfe, blitzende Augen… Ja, diesen Jemand kannte er. „Beenay!“ „Theremon! Siferra!“
Kapitel 40 Mit einem Schlag war alles anders. Beenay führte Theremon und Si ferra in sein überraschend behagliches, kleines Heim auf der anderen Seite der Straßensperre: Polster, Gardinen, eine Reihe von Blechkanis tern mit Lebensmitteln. Hier lag eine schmale, junge Frau mit dick ver bundenem, linkem Bein. Sie sah matt und fiebrig aus, aber als die drei eintraten, lächelte sie ihnen entgegen. „Du erinnerst dich doch an Raissta 717, Theremon?“ fragte Beenay. „Raissta, das ist Siferra 89 von der archäologischen Fakultät. Ich habe dir von ihr erzählt – sie hat die vielen Brandstätten aus grauer Vorzeit entdeckt. – Raissta ist meine Gefährtin“, erklärte er Siferra. Theremon war in den letzten zwei Jahren seiner Freundschaft mit Beenay auch mit Raissta mehrmals zusammengetroffen. Aber das war in einer anderen Zeit gewesen, in einer Welt, die vorbei und vergessen schien. Jetzt hätte er sie kaum wiedererkannt. In seiner Erinnerung war sie eine schlanke, hübsche, gut gekleidete junge Frau, immer gepflegt und aufs vorteilhafteste zurechtgemacht. Und nun! Dieses abgezehrte, hagere, zerbrechlich wirkende Geschöpf mit den tiefliegenden Augen und dem strähnigen Haar war nur ein Schatten der Raissta, die er kann te! Waren seit dem Einbruch der Dunkelheit wirklich erst wenige Wochen vergangen? Ihm schienen es plötzlich Jahre zu sein, Äonen, Ewigkei ten… „Ich kann dir einen Schluck Brandy anbieten, Theremon“, sagte Bee nay. Theremon riß die Augen auf. „Ist das dein Ernst? Weißt du, wie lange es her ist, seit ich zum letzten Mal etwas getrunken habe? – Ist das nicht ein Witz, Beenay? Du, der strenge Abstinenzler, dem ich seinen ersten Tano Special regelrecht aufdrängen mußte – ausgerechnet du hast hier die letzte Flasche Brandy der Welt versteckt!“ „Siferra?“ fragte Beenay. „Bitte. Aber nur ein Schlückchen.“
„Mehr haben wir auch nicht.“ Beenay schenkte drei fingerhutgroße Drinks ein. Theremon wartete, bis er die Wärme des Brandy in den Adern spürte, dann fragte er: „Beenay, was geht da draußen vor? Was hat es mit dieser Durchsuchung auf sich?“ „Du weißt nicht Bescheid?“ „Keine Ahnung.“ „Wo habt ihr beiden euch denn seit der Dunkelheit herumgetrieben?“ „Hauptsächlich im Wald. Siferra kam dazu, als mich ein paar Rabau ken zusammenschlagen wollten, und sie brachte mich zum Schutzbun ker der Universität, wo ich mich ein wenig erholen konnte. Seit zwei Tagen ziehen wir nun schon die Autobahn entlang, in der Hoffnung, irgendwann nach Amgando zu kommen.“ „Von Amgando hast du also gehört?“ „Durch dich, aber aus zweiter Hand“, bestätigte Theremon. „Im Wald ist mir Sheerin über den Weg gelaufen. Er war im Schutzbunker, wahr scheinlich kurz nach eurem Weggang, und hat deine Nachricht über Amgando gefunden. Er hat mir davon erzählt, und ich habe Siferra in formiert. Und dann haben wir uns zusammen auf den Weg gemacht.“ „Mit Sheerin?“ fragte Beenay. „Wo ist er denn?“ „Er ist nicht bei uns. Wir haben uns schon vor Tagen getrennt – er wollte allein nach Amgando, ich blieb in Saro, um nach Siferra zu su chen. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. – Hättest du vielleicht noch einen Tropfen von dem Brandy, Beenay? Nur, wenn du ihn ent behren kannst. Du wolltest mir erzählen, worum es bei dieser Durchsu chung geht.“ Beenay schenkte Theremon noch einen Schluck nach, dann sah er Si ferra an, aber die schüttelte den Kopf. Schließlich sagte er besorgt: „Wenn Sheerin allein losgezogen ist, steckt er vermutlich in Schwierigkeiten, wahrscheinlich sogar in sehr ernsten Schwierigkeiten. Hier ist er jedenfalls nicht aufgetaucht, seit ich hier bin, und jeder, der von Saro nach Amgando will, muß eigentlich über die Große Südautobahn kommen. Wir werden einen Suchtrupp ausschicken müssen. – Was nun die Durchsuchung angeht, so ist das eine ganz neue Erfindung. Wir befinden uns hier an einer der offiziellen Stationen, wie man sie an der Grenze jeder Provinz eingerichtet hat, die von der Großen Südautobahn durchquert wird.“ „Wir sind nur ein paar Meilen von Saro City entfernt“, wandte There mon ein. „Die Provinz heißt immer noch Saro, Beenay.“ „O nein. Die alten Provinzregierungen existieren nicht mehr. Was von Saro City noch übrig ist, wurde aufgeteilt – soviel ich höre, haben sich die Apostel des Feuers drüben auf der anderen Seite der Stadt ein or dentliches Stück geschnappt, und das Gebiet um den Wald und die Uni
versität wird von einem Mann namens Altinol kontrolliert, er führt eine paramilitärische Gruppe, die sich Feuerwache nennt. Vielleicht seid ihr ihnen schon begegnet.“ „Ich war ein paar Tage lang Offizier der Feuerwache“, erklärte Siferra. „Der grüne Schlips hier ist das offizielle Erkennungszeichen.“ „Dann wißt ihr ja, was passiert ist“, fuhr Beenay fort. „Das alte System ist zerfallen – in eine Million kleiner Machtblöcke, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Momentan befindet ihr euch in der Restaura tionsprovinz. Sie erstreckt sich von hier aus etwa sieben Meilen weit autobahnabwärts. Die nächste Durchsuchungsstation liegt bereits in der Sechs-Sonnen-Provinz. Dahinter kommt Gottesland, dann Tageslicht, und danach – das weiß ich nicht mehr. Es ändert sich sowieso alle paar Tage, wenn die Leute weiterziehen.“ „Und die Durchsuchung?“ beharrte Theremon. „Ein Ausdruck der neuesten Form von Verfolgungswahn. Jeder hat Angst vor Feuerteufeln. Wißt ihr, wer damit gemeint ist? Irre, für die alles, was während der Dunkelheit passierte, ein Heidenspaß war, und die jetzt durch die Lande ziehen und Brände legen. Nach allem, was ich höre, wurde ein Drittel von Saro City während der Sonnenfinsternis ein Raub der Flammen, weil die Leute in ihrer Panik die Sterne vertreiben wollten, aber ein weiteres Drittel wurde seither zerstört, obwohl die Sterne längst wieder verschwunden sind. Wirklich abartig das Ganze. Deshalb durchsuchen Leute, die mehr oder weniger bei Verstand sind – von solchen seid ihr übrigens momentan umgeben, nur falls ihr Zweifel haben solltet – jeden nach Gerätschaften zum Feuermachen. Es ist ver boten, Streichhölzer zu besitzen, Feuerzeuge, Nadlerpistolen oder ande re Dinge, mit denen man…“ „Am Stadtrand spielt sich das gleiche ab“, unterbrach Siferra. „Und auch bei der Feuerwache geht es darum. Altinol und seine Leute be haupten, sie hätten als einzige in der ganzen Stadt das Recht, mit Feuer zu hantieren.“ „Und mich hat man im Wald überfallen, weil ich mir ein Stück Fleisch braten wollte“, erzählte Theremon. „Das waren vermutlich auch Durch sucher. Sie hätten mich totgeprügelt, wenn Siferra und ihre Patrouille nicht im letzten Moment als Retter in der Not erschienen wären, ganz ähnlich wie du jetzt eben.“ „Nun“, sagte Beenay. „Wem du im Wald begegnet bist, weiß ich nicht, aber hier bei uns ist das offizielle Ritual, mit dem man gegen diese Probleme vorgeht, die Durchsuchung. So geht es überall, jeder durch sucht jeden, das nimmt kein Ende. Alle sind verdächtig, Ausnahmen gibt es nicht. Diese Angst ist wie eine Seuche. Nur kleine Eliten wie Altinols Feuerwache dürfen Utensilien zum Feueranzünden bei sich tragen. An jeder Grenze hat man solche Gerätschaften der jeweils gera
de amtierenden Behörde zu übergeben. Deine Nadler kannst du gleich hier bei mir lassen, Theremon. Nach Amgando kommst du damit nie mals.“ „Ohne sie aber auch nicht“, gab Theremon zu bedenken. Beenay zuckte die Achseln. „Mag sein, mag auch nicht sein. Aber wenn du weiter nach Süden kommst, wirst du nicht umhin können, sie abzuliefern. Bei der nächsten Durchsuchungsmannschaft bin ich näm lich nicht mehr zur Stelle, um die Leute zurückzupfeifen.“ Theremon überlegte. „Wie hast du es überhaupt geschafft, daß sie auf dich hören?“ fragte er. „Oder bist du hier der Oberdurchsucher?“ Beenay lachte. „Der Oberdurchsucher? Wohl kaum. Aber sie respek tieren mich. Ich bin ihr zahmer Professor. In manchen Gegenden ver folgt man alle Universitätsangehörigen mit glühendem Haß, wußtest du das? Wenn sich einer von uns blicken läßt, wird er sofort vom Pöbel umgebracht, die Irren glauben nämlich, wir hätten die Sonnenfinsternis heraufbeschworen und beabsichtigten, noch eine zweite herbeizuführen. Aber hier ist das anders. Hier schätzt man mich wegen meiner Intelli genz – ich kann diplomatische Schreiben an die Nachbarprovinzen ver fassen, ich habe eine Ahnung, wie man kaputte Geräte wieder zum Ein satz bringt, ich kann ihnen sogar erklären, warum die Dunkelheit nicht wiederkommt und warum in den nächsten zweitausend Jahren niemand mehr die Sterne anzusehen braucht. Meine Leute finden das sehr tröst lich, und deshalb bin ich bei ihnen geblieben. Sie geben uns zu essen und versorgen Raissta, und ich nehme ihnen dafür das Denken ab. Eine hübsche Symbiose.“ „Sheerin erzählte mir, du wolltest nach Amgando“, sagte Theremon. „Das hatte ich auch vor“, antwortete Beenay. „Denn da gehören Leute wie du und ich eigentlich hin. Aber Raissta und ich gerieten unterwegs in Schwierigkeiten. Ich sagte dir doch eben, daß es Irre gibt, die Jagd auf Universitätsangehörige machen, um sie zu töten? Auf dem Weg zur Autobahn wären wir in den Vororten im Süden selbst beinahe einem solchen Haufen in die Hände gefallen. Alle Siedlungen südlich des Waldes sind inzwischen fest in der Hand von Hausbesetzern.“ „Denen sind wir auch begegnet“, sagte Theremon. „Dann wißt ihr ja Bescheid. Wir wurden von einer ganzen Schar um ringt. Aufgrund unserer Sprechweise vermuteten sie schon, daß wir Akademiker seien, und dann hat mich auch noch einer erkannt – stell dir das vor, Theremon, nach einem Bild in der Zeitung zu einem deiner Artikel, du hattest mich über die Sonnenfinsternis interviewt! Und er sagte, ich gehörte zum Observatorium, ich sei der Mann, der die Sterne habe erscheinen lassen.“ Einen Moment lang starrte Beenay ins Nichts. „Meiner Schätzung nach fehlten noch zwei Minuten, und wir hätten am
nächsten Laternenpfahl gehangen. Doch dann hat das Schicksal für Ab lenkung gesorgt. Eine zweite Bande tauchte auf – die Konkurrenz, neh me ich an –, bewarf die unsere unter schrecklichem Gebrüll mit Fla schen und bedrohte sie mit Küchenmessern. Raissta und ich konnten entwischen. Diese Irren sind wie kleine Kinder – nicht fähig, sich länger auf eine Sache zu konzentrieren. Aber als wir durch einen schmalen Gang zwischen zwei ausgebrannten Gebäuden krochen, schnitt sich Raissta mit einer Glasscherbe ins Bein. Und als wir auf der Autobahn bis hierher gekommen waren, hatte sich die Wunde so stark entzündet, daß sie nicht mehr laufen konnte.“ „Aha.“ Kein Wunder, daß sie so mitgenommen aussieht, dachte The remon. „Zum Glück hatten die Grenzposten der Restaurationsprovinz Ver wendung für einen Professor und nahmen uns auf. Nun sind wir schon acht bis zehn Tage hier. Wenn alles gutgeht, könnte Raissta in einer, wahrscheinlich aber erst in zwei Wochen wieder reisefähig sein. Dann lasse ich mir vom Chef dieser Provinz einen Paß ausstellen, mit dem wir zumindest die nächsten Provinzen an der Autobahn unbehelligt durch queren können, und wir brechen wieder nach Amgando auf. Wenn ihr wollt, könnt ihr gern so lange hierbleiben, dann würden wir gemeinsam nach Süden ziehen. Das wäre allemal sicherer. – Was gibt’s, Butella?“ Über den Vorhängen vor Beenays Domizil erschien der Kopf des Hü nen, der Theremon zwischen den beiden Sperren hatte durchsuchen wollen. „Eben ist ein Bote aus der Kaiserprovinz gekommen, Professor, und hat eine Nachricht aus der Stadt gebracht. Wir werden aber nicht so recht schlau daraus.“ „Laß mal sehen.“ Beenay hob die Hand und nahm dem Mann einen zusammengefalteten Papierstreifen ab. „Zwischen den einzelnen Pro vinzen sind ständig Boten unterwegs“, erklärte er Theremon. „Die Kai serprovinz liegt nordöstlich der Autobahn und reicht bis an die Stadt grenzen. – Die meisten Durchsucher sind nicht gerade Meister im Le sen. Möglicherweise wurde durch die Einwirkung der Sterne das Ver balzentrum geschädigt.“ Beenay verstummte und überflog die Botschaft. Er zog die Brauen zu sammen, legte die Stirn in Falten, kräuselte die Lippen und murmelte etwas über die Handschrift und die Orthographie in der Ära nach der Dunkelheit. Gleich darauf verfinsterte sich seine Miene. „Gütiger Gott!“ rief er. „Dieser elende, widerwärtige, schreckliche…“ Seine Hand zitterte, und er starrte Theremon entgeistert an. „Beenay! Was ist los!“ fragte Theremon. Beenay riß sich zusammen. „Die Apostel des Feuers sind hierher un terwegs. Sie haben ein Heer aufgestellt, um gegen Amgando zu mar schieren, aber zuvor wollen sie all die neuen, kleinen Provinzen beseiti
gen, die entlang der Autobahn entstanden sind. Falls sich in Amgando inzwischen so etwas wie eine Regierung gebildet hat, werden sie sie zerschlagen und sich selbst zur einzig rechtskräftigen Staatsmacht der Republik ausrufen.“ Theremon spürte, wie Siferras Finger sich in seinen Arm krallten und wandte sich ihr zu. Sie war starr vor Entsetzen, und ihm selbst erging es nicht anders. „Hierher… unterwegs…?“ wiederholte er langsam. „Ein Heer von Aposteln?“ „Theremon, Siferra – ihr müßt weg von hier!“ rief Beenay. „Sofort! Die Apostel dürfen euch nicht finden, sonst ist alles verloren.“ „Du meinst, wir müssen nach Amgando?“ fragte Theremon. „Unbedingt. Ihr dürft keine Minute verlieren. Die ganze Universitäts gemeinde aus dem Schutzbunker ist dort, und auch Angehörige anderer Universitäten, gebildete Menschen aus allen Teilen der Republik. Ihr beide müßt sie warnen, sie sollen sich in alle Winde zerstreuen, und zwar schnell. Falls Mondior sie in Amgando noch antrifft, kann er mit einem Schlag die Keimzelle jeder vernünftigen Regierung vernichten, auf die unser Land jemals hoffen kann. Möglicherweise befiehlt er sogar eine Massenhinrichtung aller Akademiker. – Paß auf, ich stelle euch zwei Pässe aus, mit denen ihr die nächsten Stationen ungehindert passie ren könnt. Wenn ihr allerdings unseren Einflußbereich verlassen habt, müßt ihr euch eben durchsuchen lassen, alles abliefern, was man von euch verlangt, und weiter nach Süden ziehen. Die Durchsuchung ist nebensächlich, und ihr dürft euch nicht mit Widerstand aufhalten. Die Amgando-Gruppe muß gewarnt werden, Theremon!“ „Und was ist mit dir? Bleibst du einfach hier?“ Beenay sah ihn verständnislos an. „Was soll ich denn sonst tun?“ „Aber – wenn die Apostel kommen…“ „Wenn die Apostel kommen, werden sie mit mir machen, was immer sie wollen. Willst du etwa andeuten, ich soll Raissta allein zurücklassen und mit euch nach Amgando fliehen?“ „Hm… nein…“ „Dann habe ich doch gar keine Wahl. Richtig? Ja? Ich bleibe hier, bei Raissta.“ Theremon preßte die Handballen gegen die Augen. Er hatte plötzlich Kopfschmerzen. „Es ist der einzige Weg, Theremon“, sagte Siferra. „Ich weiß, ich weiß. Trotzdem, wenn ich mir vorstelle, Mondior und sein Haufen könnten einen Mann gefangennehmen, der so wertvoll ist wie Beenay – ihn vielleicht sogar hinrichten…“ Beenay lächelte und legte ihm kurz die Hand auf den Arm. „Wer weiß? Vielleicht kann auch Mondior ein paar zahme Professoren
gebrauchen? Wie auch immer, was mit mir geschieht, ist jetzt unwich tig. Mein Platz ist bei Raissta. Euer Platz ist auf der Straße – ihr müßt nach Amgando, so schnell es nur geht. Nun macht schon, ihr bekommt noch etwas zu essen und ein paar sehr amtlich aussehende Dokumente. Und dann ab mit euch!“ Er hielt inne. „Hier. Das wirst du brauchen.“ Er goß den letzten Rest Brandy in Theremons leeres Glas. – „Runter da mit“, sagte er.
Kapitel 41 An der Grenze zwischen der Restaurations- und der Sechs-SonnenProvinz entgingen sie der Durchsuchung ohne weiteres. Ein Grenzbe amter, der so aussah, als sei er in der Welt vor der Katastrophe Buchhal ter oder Anwalt gewesen, warf nur einen Blick auf den von Beenay aus gestellten Paß, nickte, als er den schwungvollen Namenszug „Beenay 25“ sah, und winkte sie durch. Als sie zwei Tage später aus der Sechs-Sonnen-Provinz nach Gottes land überwechselten, war es nicht mehr so einfach. Hier kam ihnen die Grenzwache wie eine Verbrecherbande vor, die die beiden Reisenden lieber seitlich von der Autobahn gestürzt hätte, als sich ihre Papiere anzusehen. Die Spannung stieg, während Theremon dastand und den Paß schwenkte wie einen Zauberstab. Dann tat der Zauber doch mehr oder weniger seine Wirkung. „Ist das ein Geleitbrief?“ fragte der Obergangster. „Ein Paß, ja. Wir sind von der Durchsuchung ausgenommen.“ „Wer hat ihn ausgestellt?“ „Beenay 25, Oberster Durchsuchungsbeauftragter, Restaurationspro vinz. Das ist zwei Provinzen weiter autobahnaufwärts.“ „Wo die Restaurationsprovinz ist, weiß ich selbst. Lies vor.“ „‚An alle Betroffenen: Den Trägern dieses Dokuments, Theremon 762 und Siferra 89, wird hiermit bescheinigt, daß sie als offizielle Sendboten der Feuerwache von Saro City unterwegs sind und Anspruch haben auf…’“ „Feuerwache? Wer ist das denn?“ „Altinols Haufen“, murmelte einer der anderen Killer. „Aha.“ Der Anführer nickte zu den Nadlern hin, die Theremon und Si ferra ganz offen an der Hüfte trugen. „Altinol will also, daß ihr mit Waf fen, mit denen ihr einen ganzen Bezirk in Brand stecken könnt, durch fremdes Gebiet marschiert?“ „Wir haben den Leuten im Amgando-Park eine dringende Botschaft zu überbringen“, erklärte Siferra, „und deshalb ist es von größter Wichtig keit, daß wir heil dort ankommen.“ Sie zeigte auf ihren grünen Schlips. „Wissen Sie, was der bedeutet? Wir zünden keine Feuer an, wir verhin
dern, daß welche angezündet werden. Und wenn wir Amgando nicht rechtzeitig erreichen, kommen die Apostel des Feuers über diese Auto bahn marschiert und zerstören alles, was Sie und andere aufzubauen versuchen.“ Besonders einleuchtend war das nicht, dachte Theremon. Auch wenn sie Amgando erreichten, das ja weit im Süden lag, würden dadurch die kleinen Republiken am nördlichen Ende der Autobahn nicht gerettet. Aber Siferra hatte ihre kleine Rede so leidenschaftlich und überzeugend vorgetragen, daß sie trotz ihrer Verworrenheit sehr gewichtig klang. Zuerst sagte der Grenzwächter gar nichts. Er mußte sich erst über den Sinn ihrer Worte klar werden. Dann runzelte er irritiert die Stirn und sah sie verdutzt an. Und schließlich rief er fast ungestüm: „Na schön. Ihr könnt passieren. Aber verschwindet schleunigst von hier und laßt euch in der Sechs-Sonnen-Provinz nicht wieder blicken, sonst werdet ihr es bereuen. – Apostel! Amgando!“ „Wir bedanken uns vielmals“, sagte Theremon so übertrieben höflich, daß es schon fast an Sarkasmus grenzte, Siferra nahm schnell seinen Arm und schob ihn an der Wache vorbei, ehe er sie noch ernstlich in Schwierigkeiten brachte. Auf diesem Autobahnstück kamen sie gut voran und legten täglich mindestens zwölf Meilen zurück. In den Provinzen, die sich ‚Sechs Sonnen’, ‚Gottesland’ und ‚Tageslicht’ nannten, waren die Bürger auf der seit der Dunkelheit blockierten Fahrbahn eifrig mit Aufräumungsar beiten beschäftigt. In regelmäßigen Abständen hatte man Trümmerbar rikaden errichtet – freie Fahrt auf der Großen Südautobahn würde es noch sehr, sehr lange nicht geben, dachte Theremon –, aber zwischen den Kontrollpunkten konnten sie jetzt nahezu ungehindert marschieren, ohne sich immer wieder an grauenvollen Schrottbergen vorbeizwängen zu müssen. Auch die Toten wurden langsam von der Autobahn geschafft und be graben. Stück für Stück kehrte so etwas wie ein Hauch von Zivilisation zurück. Aber keine Normalität. Davon war man noch weit entfernt. Im Hinterland zu beiden Seiten der Autobahn loderten kaum noch Feuer, aber eine ausgebrannte Stadt reihte sich an die andere. Alle paar Meilen hatte man Flüchtlingslager eingerichtet, und wenn Theremon und Siferra bei ihrem flotten Marsch über die erhöhte Fahrbahn nach unten schauten, konnten sie traurige, verwirrte Lagerinsassen, die in jener einen Schreckensnacht um fünfzig Jahre gealtert schienen, lang sam und ziellos umherwandern sehen. Theremon erkannte, daß die neuen Provinzen nichts anderes waren als eine Aneinanderreihung solcher Lager entlang der schnurgeraden Linie der Großen Südautobahn. In jedem Bezirk hatten Bandenchefs die Macht an sich gerissen und herrschten nun wie Könige über ein kleines
Reich, das jeweils sechs, acht oder zehn Meilen Autobahn umfaßte, nach beiden Seiten hin jedoch höchstens eine Meile. Was jenseits der Ost- und Westgrenzen dieser neuen Provinzen lag, wußte niemand. Ra dio oder Fernsehen gab es offenbar nicht mehr. „Hatte man denn gar keine Katastrophenpläne gemacht?“ Theremon hatte eigentlich eher laut gedacht, aber Siferra antwortete trotzdem: „Athors Prognosen waren einfach zu phantastisch, als daß die Regierung sie ernst genommen hätte. Und mit dem Eingeständnis, daß es lediglich einer kurzen – noch dazu so genau vorhersagbaren – Dunkelphase be durfte, um den Zusammenbruch einer ganzen Zivilisation herbeizufüh ren, hätte man nur Mondior in die Hände gespielt.“ „Aber die Sonnenfinsternis…“ „Nun, vielleicht gab es an höchster Stelle einige wenige, die imstande waren, die Diagramme zu deuten, und deshalb auch an die angekündigte Sonnenfinsternis und die Dunkelphase glaubten. Aber wie hätten sie mit den Sternen rechnen können? Die waren doch nur ein Hirngespinst der Apostel des Feuers, weißt du nicht mehr? Selbst wenn die Regierung gewußt hätte, daß etwas in der Art von Sternen zu erwarten war, so konnte doch niemand ahnen, welch verheerende Wirkung sie ausüben würden.“ „Sheerin schon“, widersprach Theremon. „Nicht einmal Sheerin. Er hatte nicht den leisesten Verdacht. Sheerins Spezialität war die Dunkelheit – mit Lichtpunkten, die plötzlich den ganzen Himmel erfüllten, hätte er nie gerechnet.“ „Trotzdem“, beharrte Theremon. „Wenn man sich das Ausmaß dieser Verwüstung ansieht, dieses gewaltige Chaos – drängt sich der Verdacht auf, daß es unnötig war, daß man es irgendwie hätte vermeiden kön nen.“ „Es wurde aber nicht vermieden.“ „Hoffentlich klappt es beim nächsten Mal besser.“ Siferra lachte. „Bis zum nächsten Mal haben wir zweitausendundneu nundvierzig Jahre Zeit. Hoffen wir, daß es uns gelingt, unseren Nach fahren eine Warnung zukommen zu lassen, der sie mehr Glauben schenken als die meisten von uns dem Buch der Offenbarungen.“ Sie drehte sich um und schaute besorgt zurück auf die lange Strecke, die sie in den letzten paar Tagen unter Einsatz aller Kräfte zurückgelegt hatten. „Hast du Angst, die Apostel könnten plötzlich von hinten dahergejagt kommen?“ fragte Theremon. „Du nicht? Obwohl wir so gute Fortschritte gemacht haben, sind es noch Hunderte von Meilen bis Amgando. Wenn sie uns nun einholen, Theremon?“
„Wie sollten sie denn? Ein ganzes Heer kann niemals das gleiche Tempo vorlegen wie zwei gesunde, entschlossene Menschen. Bessere Transportmittel als wir haben sie auch nicht – ein Paar Füße pro Soldat, Punktum. Und außerdem werden sie zwangsläufig durch alle möglichen logistischen Probleme behindert.“ „Mag sein.“ „Außerdem stand in der Botschaft, die Apostel wollten unterwegs in jeder neuen Provinz haltmachen, um ihre Überlegenheit zu demonstrie ren. Es wird sie eine Menge Zeit kosten, all die aufsässigen Kleinstaaten zu beseitigen. Wenn sich nicht unerwartete Komplikationen ergeben, müßten wir Wochen vor ihnen in Amgando sein.“ „Was wird wohl aus Beenay und Raissta?“ fragte Siferra nach einer Weile. „Beenay ist ein kluges Kerlchen. Er findet sicher einen Weg, Mondi ors Wohlwollen zu erringen.“ „Und wenn nicht?“ „Siferra, müssen wir unsere Energie wirklich darauf verschwenden, uns irgendwelche Schreckensvisionen auszumalen, gegen die wir, ver dammt noch mal, nicht das geringste unternehmen können?“ „Verzeihung“, sagte sie scharf. „Ich wußte nicht, daß du so empfind lich bist.“ „Siferra…“ „Laß gut sein“, sagte sie. „Vielleicht bin ich selbst die Mimose.“ „Es wird sich alles finden“, tröstete Theremon. „Beenay und Raissta wird nichts geschehen. Wir werden Amgando rechtzeitig erreichen, um die Warnung zu übermitteln. Und die Apostel des Feuers werden es nicht schaffen, die Welt zu erobern.“ „Und alle Toten werden auferstehen und abermals auf Erden wandeln. Oh, Theremon, Theremon…“ Die Stimme versagte ihr. „Ich weiß.“ „Was sollen wir nur machen?“ „Weitergehen, so schnell wir können. Und nicht zurückschauen. Zu rückschauen hat überhaupt keinen Sinn.“ „Nein, damit hast du recht“, bestätigte Siferra und nahm lächelnd seine Hand. Dann gingen sie rasch und schweigend weiter. Erstaunlich, dachte Theremon, wie zügig sie vorankamen, seit sie ih ren Rhythmus gefunden hatten. In den ersten Tagen, gleich nachdem sie Saro City verlassen hatten und sich mühsam einen Weg durch das mit Trümmern übersäte, oberste Autobahnstück suchen mußten, hatten sie kaum Fortschritte gemacht, und ihre Muskeln hatten heftig gegen die Strapazen protestiert, die sie ihnen zumuteten. Doch nun bewegten sie sich wie zwei optimal eingestellte Maschinen. Siferra hatte fast so lange Beine wie er, und so schritten sie mit perfekt arbeitenden Muskeln,
gleichmäßig schlagenden Herzen und in exaktem Rhythmus pumpenden Lungen Seite an Seite dahin. Schritt Schritt Schritt. Schritt Schritt Schritt. Schritt Schritt Schritt… Noch lagen Hunderte von Meilen vor ihnen, gewiß. Aber sie würden nicht lange dazu brauchen, nicht bei diesem Tempo. Vielleicht noch einen Monat, vielleicht nicht einmal das. In dieser ländlichen Region, fernab der großen Stadt, war die Straße nahezu frei. Hier war der Verkehr ohnehin bei weitem nicht so dicht gewesen wie im Norden, und offenbar hatten viele Fahrer trotz der Ster ne die Autobahn noch verlassen können, weil nämlich die Gefahr gerin ger war, von anderen, außer Kontrolle geratenen Fahrzeugen gerammt zu werden. Auch die Kontrollpunkte wurden seltener. In diesen dünn besiedelten Gegenden waren die neuen Provinzen räumlich ausgedehnter als weiter im Norden, außerdem schienen die Bevölkerungen für Marotten wie die Durchsuchung weniger empfänglich zu sein. In den nächsten fünf Tagen wurden Theremon und Siferra nur zweimal einer eingehenden Befra gung unterzogen. An den anderen Grenzstationen wurden sie einfach durchgewinkt und brauchten nicht einmal die Papiere zu zeigen, die Beenay ihnen ausgestellt hatte. Sogar das Wetter war auf ihrer Seite. Fast jeden Tag war es sonnig und mild, hin und wieder ein kleiner Regenschauer, aber nie wirklich unan genehm. Wenn sie vier Stunden gegangen waren, machten sie halt, nahmen eine leichte Mahlzeit ein, gingen abermals vier Stunden, aßen wieder, marschierten weiter, legten eine sechsstündige Ruhepause ein – wobei immer einer Wache hielt, während der andere schlief – und am nächsten Morgen fing alles von vorne an. Wie Maschinen. Die Sonnen zogen im alten Takt über den Himmel, einmal standen Patru, Trey und Dovim über ihnen, dann wieder Trey und Patru, manchmal strahlten vier Sonnen zugleich – ein niemals endendes, prachtvolles Himmelsschau spiel. Theremon hatte keine Ahnung, wieviele Tage vergangen waren, seit sie den Schutzbunker verlassen hatten. Daten, Kalender, Tage, Wo chen, Monate – das alles kam ihm mittlerweile so umständlich vor, so kurios und veraltet, aus einer vergangenen Welt. Auch Siferra überwand ihren Anfall von Schwermut und gewann ihre Fröhlichkeit zurück. Alles war ein Kinderspiel. Sie würden Amgando im Handumdrehen erreichen. Im Moment durchquerten sie einen Bezirk, der jetzt Frühlingstal hieß – vielleicht auch Gartenhain; die Leute, denen sie begegnet waren, hat ten verschiedene Namen genannt. Es war Agrarland, ringsum nichts als wogende Felder, und von der schrecklichen Zerstörungswelle, die über alle städtischen Regionen hinweggefegt war, sah man hier wenig;
schlimmstenfalls da und dort eine rußgeschwärzte Scheune oder eine herrenlos umherstreifende Viehherde, mehr nicht. Die Luft duftete lieb lich und frisch, das Licht der Sonnen war hell und kräftig. Wäre die Autobahn nicht so unheimlich leer gewesen, man hätte glauben können, hier habe sich kaum etwas verändert. „Ob wir wohl schon den halben Weg nach Amgando geschafft ha ben?“ fragte Siferra. „Nicht ganz. Ich habe schon eine Weile kein Schild mehr gesehen, a ber meiner Schätzung nach…“ Er verstummte jäh. „Was ist, Theremon?“ „Schau. Schau dort nach rechts. Auf die Nebenstraße, die von Westen herkommt.“ Sie spähten über den Rand der Autobahn. Unter ihnen, ein paar hun dert Meter entfernt, war am Rand der Nebenstraße, kurz vor der Ein mündung in den Autobahnzubringer, eine lange Kolonne von Lastwa gen aufgefahren. Darunter befand sich ein Feldlager, in dem reges Le ben herrschte; um ein großes Feuer herum standen viele Zelte, ein paar Männer hackten Holz. Zweihundert, vielleicht auch dreihundert Menschen – und alle trugen schwarze Kutten mit Kapuzen. Theremon und Siferra sahen sich an wie vom Donner gerührt. „Apostel!“ flüsterte sie. „Ja. Runter! In die Hocke! Duck dich hinter die Brüstung!“ „Wie konnten sie so schnell hier sein? Der obere Teil der Autobahn ist doch völlig blockiert!“ Theremon schüttelte den Kopf. „Sie haben es gar nicht erst mit der Autobahn versucht. Sieh doch nur – sie haben funktionierende Lastwa gen. Da kommt schon wieder einer. Ihr Götter, ein Fahrzeug, das tat sächlich fährt, ist das nicht ungewohnt! Und nach so langer Zeit wieder das Brummen eines Motors zu hören!“ Plötzlich fröstelte ihn. „Sie ha ben es geschafft, eine ganze Lastwagenflotte und einen Vorrat an Treib stoff über die Katastrophe zu retten. Sie müssen von Saro aus im Bogen nach Westen gefahren sein, auf kleinen Landstraßen. Auf die Autobahn biegen sie erst hier ein, denn nun haben sie bis Amgando vermutlich freie Fahrt. Sie könnten schon heute abend dort sein.“ „Heute abend! Theremon, was sollen wir tun?“ „Ich weiß nicht genau. Ich glaube, es gibt nur eine Möglichkeit, und die ist riskant. – Wenn wir nun hinuntergingen und versuchten, einen von den Lastern zu kapern? Um selbst damit nach Amgando zu fahren? Auch wenn wir nur mit zwei Stunden Vorsprung einträfen, könnten die meisten von den Leuten dort noch fliehen. Richtig?“
„Mag sein“, sagte Siferra. „Aber es klingt verrückt. Wie sollen wir denn einen Lastwagen stehlen? Sobald sie uns sehen, wissen sie doch, daß wir keine Apostel sind, und dann schnappen sie uns sofort.“ „Ich weiß. Ich weiß. Laß mich nachdenken.“ Nach einer kleinen Pause sagte er: „Wenn wir zwei von ihnen etwas abseits von den anderen er wischen und ihnen ihre Kutten abnehmen könnten – notfalls müßten wir sie mit den Nadlern erschießen –, dann würden wir die Kutten überzie hen, ganz gemächlich auf einen Laster zugehen, hineinspringen und mit Vollgas auf die Autobahn zufahren…?“ „Und zwei Minuten später wären sie hinter uns her.“ „Möglich. Aber wenn wir uns ganz ruhig und gleichgültig geben, da mit sie glauben, was wir tun, sei ganz normal und gehöre zu ihrem Plan – dann könnten wir schon fünfzig Meilen weit gefahren sein, bis sie dahinterkämen, daß etwas nicht stimmt.“ Er sah sie erwartungsvoll an. „Was meinst du dazu, Siferra? Es wäre unsere einzige Hoffnung, nicht wahr? Wozu sollten wir weiter zu Fuß nach Amgando pilgern, wenn wir dazu viele Wochen brauchen, während sie in zwei Stunden an uns vor beifahren können?“ Sie starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. „Zwei Apostel überfallen – einen ihrer Laster entführen – nach Amgando fahren – oh, Theremon, das geht doch niemals gut, und das ist dir auch klar.“ „Na schön“, sagte er schroff. „Dann bleibst du eben hier. Ich versuche es allein. Es ist unsere einzige Chance, Siferra.“ Geduckt schlich er am Straßenrand entlang auf die nur wenige hundert Meter entfernte Ausfahrt zu. „Nein – warte, Theremon!“ Grinsend sah er sich um. „Kommst du nun doch?“ „Ja. Obwohl es einfach verrückt ist!“ „Ich weiß“, gab er zu. „Aber was bleibt uns schon anderes übrig?“ Sie hatte natürlich recht. Es war ein verrückter Plan. Und doch sah er keine Alternative. Die Botschaft, die Beenay erhalten hatte, mußte un terwegs verfälscht worden sein. Die Apostel hatten nie die Absicht ge habt, über die Große Südautobahn zu fahren und Provinz für Provinz zu erobern, sie waren lieber gleich mit einem riesigen, bewaffneten Konvoi nach Amgando aufgebrochen, über Nebenstraßen, die zwar nicht die kürzeste Verbindung darstellten, aber immerhin für Fahrzeuge passier bar waren. Amgando war verloren. Die Welt würde Mondior und seinen Leuten kampflos in die Hände fallen. Es sei denn… Er hatte sich nie für einen Helden gehalten. Helden waren Menschen, über die er in seinen Artikeln schrieb – Menschen, die in Extremsituati onen über sich hinauswuchsen und Unglaubliches vollbrachten, Dinge,
die ein normaler Mensch nicht einmal gedacht und schon gar nicht ge wagt hätte. Und nun redete er selbst in dieser neuen, fremden Welt auf einmal ganz selbstverständlich davon, mit seinen Nadlern kuttentragen de religiöse Fanatiker zu überfallen, einen Militärlaster zu requirieren und nach Amgando zu brausen, um dort vor dem bevorstehenden An griff zu warnen! Verrückt! Vollkommen verrückt! Aber vielleicht würde es funktionieren, gerade weil es so verrückt war. Wer rechnete in dieser friedlichen, ländlichen Idylle schon damit, daß plötzlich zwei Leute auftauchten und mir nichts, dir nichts mit einem Laster davonfuhren? Sie schlichen die Ausfahrt hinunter, Theremon immer ein paar Schritte voraus. Zwischen ihnen und dem Lager der Apostel lag eine Wiese mit dichtem Gras. „Wenn wir uns auf den Bauch legen und robben“, flüster te er, „und zwei Apostel kommen aus irgendeinem Grund daherge schlendert, dann brauchen wir nur aufzuspringen und sie zu überwälti gen, ehe sie wissen, wie ihnen geschieht.“ Er legte sich auf den Bauch. Er robbte. Siferra folgte seinem Beispiel und blieb dicht hinter ihm. Zehn Meter. Zwanzig Meter. Nur nicht anhalten, Kopf einziehen und weiterrobben, zu dem kleinen Buckel hinüber, und dann warten… war ten… Plötzlich ertönte von hinten eine Stimme: „Was haben wir denn da? Das sind aber zwei komische Schlangen!“ Theremon drehte sich um, schaute auf und erschrak. Ihr Götter! Apostel, sieben oder acht! Wo kamen die denn auf einmal her? Ein kleines Picknick mitten auf der Wiese? Und er und Siferra waren ahnungslos an ihnen vorbeigekrochen? „Lauf!“ schrie er ihr zu. „Diese Richtung – und ich in die…“ Er rannte nach links auf die Pfeiler der Autobahn zu. Vielleicht konnte er ihnen entkommen – in dem Wald jenseits der Straße verschwinden… Nein. Nein. Er war stark und schnell, aber sie waren ihm überlegen. Er sah sie neben sich auftauchen. „Siferra!“ schrie er. „Lauf weiter! Lauf – weiter!“ Vielleicht hatte sie es tatsächlich geschafft. Jedenfalls sah er sie nicht mehr. Er selbst war von Aposteln umringt. Als er nach seinem Nadler greifen wollte, hielt ihm einer der Männer sofort den Arm fest, und ein anderer drückte ihm die Kehle zu. Die Waffe wurde ihm aus der Hand gerissen. Er spürte ein Bein an seiner Wade, stolperte, fiel hart zu Boden und rollte sich ab. Fünf ernste, starre Gesichter unter schwarzen Kapu zen sahen auf ihn nieder. Die Mündung seines eigenen Nadlers zielte auf seine Brust. „Aufstehen!“ befahl der Apostel. „Langsam! Hände hoch!“
Theremon rappelte sich mühsam auf. „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“ schnauzte der Apostel. „Ich wohne nicht weit von hier. Meine Frau und ich wollten eine Ab kürzung quer durch die Felder nehmen, um zu unserem Haus…“ „Bis zur nächsten Farm sind es fünf Meilen. Ziemlich weit für eine Abkürzung.“ Der Apostel deutete mit einer Kopfbewegung auf das La ger. „Kommen Sie. Folimun will sicher mit Ihnen sprechen.“ Folimun! Er hatte die Nacht der Sonnenfinsternis also doch überlebt. Und er lei tete die Aktion gegen Amgando! Theremon blickte sich um. Von Siferra war weit und breit nichts zu sehen. Er konnte nur hoffen, daß sie inzwischen die Autobahn erreicht hatte und aus Leibeskräften in Richtung Amgando rannte. Eine schwa che Hoffnung, aber die einzige, die ihm noch geblieben war. Die Apostel führten ihn ins Lager. Es war ein unheimliches Gefühl, von so vielen Kapuzenmännern umringt zu sein, aber kaum jemand beachtete ihn. Man stieß ihn in das größte Zelt. Folimun saß auf einer Bank an der Rückseite und blätterte in einem Stapel Papiere. Als er seine frostigblauen Augen hob und Theremon erkannte, wurden seine scharfen, kantigen Züge etwas weicher, und seine Lippen verzogen sich zu einem überraschten Lächeln. „Theremon? Sie hier? Wollen Sie etwa für den Chronicle einen Arti kel über uns schreiben?“ „Ich bin auf dem Weg nach Süden, Folimun. Ein kleiner Urlaub, in der Stadt ist es momentan doch recht unruhig. Könnten Sie Ihren Gorillas vielleicht sagen, sie sollen mich loslassen?“ „Gebt ihn frei!“ befahl Folimun. – „Und wo genau wollten Sie hin?“ „Das ist für Sie nicht von Interesse.“ „Lassen Sie mich das doch bitte selbst beurteilen. Ihr Ziel heißt Am gando, nicht wahr, Theremon?“ Theremon musterte den Fanatiker mit eiskaltem Blick. „Ich sehe kei nen Anlaß, Ihnen entgegenzukommen.“ „Obwohl ich so entgegenkommend war, als Sie mich interviewten?“ „Sehr komisch.“ „Ich möchte wissen, wohin Sie unterwegs sind, Theremon.“ Zeit schinden, dachte Theremon. Du mußt so viel Zeit schinden wie nur möglich. „Ich lehne es ab, diese oder irgendwelche anderen Fragen zu beant worten, die Sie mir vielleicht noch stellen werden. Über meine Absich ten unterhalte ich mich nur mit Mondior persönlich“, erklärte er in ruhi gem, entschlossenem Ton. Folimun schwieg einen Moment lang und schaltete kurz sein Lächeln ein und wieder aus. Und dann brach er ganz unvermittelt in schallendes
Gelächter aus. Theremon wußte nicht mehr, ob er Folimun jemals hatte lachen hören. „Mondior?“ fragte der Apostel mit einem belustigten Glit zern in den Augen. „Es gibt keinen Mondior, mein Freund. Es hat ihn nie gegeben.“
Kapitel 42 Siferra wagte kaum zu glauben, daß sie tatsächlich entkommen sein sollte. Doch alles wies darauf hin. Von den Aposteln, die sie im Feld überrascht hatten, waren die meis ten hinter Theremon hergelaufen. Sie hatte sich nur ein einziges Mal umgewandt und dabei gesehen, daß sie ihn eingekreist hatten wie eine Meute Jagdhunde ihre Beute. Dann hatten sie ihn niedergeschlagen, und nun wurde er sicher als Gefangener abgeführt. Nur zwei der Apostel hatten sich von der Gruppe getrennt, um sie zu verfolgen. Dem einen hatte Siferra im Vorüberlaufen mit flacher Hand und steif ausgestrecktem Arm eine Ohrfeige verpaßt, die so kräftig aus gefallen war, daß sie ihn umwarf. Der zweite war dick, schwerfällig und langsam; in Sekundenschnelle hatte sie ihn weit hinter sich gelassen. Sie lief dahin zurück, wo sie mit Theremon hergekommen war, auf die Autobahn zu. Aber sie hielt es nicht für ratsam, wieder hinaufzusteigen. So eine Schnellstraße ließ sich zu leicht blockieren, und die Ausfahrten waren die einzige Möglichkeit, sie ungefährdet zu verlassen. Dort oben riskierte sie nur, in eine Falle zu gehen. Und selbst wenn es vor ihr noch keine Straßensperren gab, wäre es für die Apostel mit ihren Lastwagen ein Leichtes, sie zu verfolgen und ein paar Meilen weiter einfach aufzu sammeln. Nein, da war es schon vernünftiger, in den Wald auf der anderen Stra ßenseite zu flüchten. Dorthin konnten ihr die Laster sicher nicht folgen. Und wenn sie erst einmal im dichten Unterholz war, mußte sie sich eben so lange verstecken, bis sie sich ihren nächsten Zug überlegt hatte. Wie immer der auch aussehen mag, dachte sie. Sie mußte zugeben, daß Theremons verrückte Idee immer noch den einzigen Ausweg darstellte: irgendwie einen Laster stehlen, nach Am gando fahren und Alarm schlagen, ehe die Apostel ihr Heer wieder auf die Beine brachten. Aber ihr war auch klar, daß sie jetzt bestimmt keine Chance mehr hat te, sich ohne weiteres an einen leeren Wagen anzupirschen, hineinzu springen und loszufahren. So dumm waren die Apostel nicht. Sie würde einen von ihnen mit vorgehaltener Waffe zwingen müssen, ihr den Mo tor anzuwerfen und sie dann ans Steuer zu lassen. Und das hieß, daß sie das ganze groteske Spiel wie geplant durchziehen mußte: einen einzel nen Apostel überwältigen, ihm seine Kutte abnehmen, unbemerkt ins
Lager schleichen, jemanden finden, der imstande war, ihr einen Laster aufzuschließen… Ihr schwand der Mut. Das konnte nicht gutgehen. Warum nahm sie sich nicht gleich noch vor, Theremon zu retten – mit feuerspuckendem Nadler ins Lager zu marschieren, Geiseln zu nehmen, seine sofortige Freilassung zu fordern – ach, das waren doch Dummheiten, ein schnul ziges Melodram, eine alberne Kriegslist aus einem billigen Abenteuer schmöker! Aber was soll ich tun? Was soll ich nur tun? Sie kauerte sich hinter eine Gruppe buschiger Bäumchen mit langen, gefiederten Blättern und wartete, daß die Zeit verging. Die Apostel machten keine Anstalten, ihr Lager abzubauen; der Rauch ihres Feuers stieg noch immer in den dämmrigen Himmel, und ihre Laster standen weiter am Straßenrand. Der Abend nahte. Onos war bereits vom Himmel verschwunden. Do vim schwebte dicht über dem Horizont. Nur Tano und Sitha, die beiden matten, trüben Sonnen, die sie am wenigsten leiden konnte, schickten ihr kaltes Licht vom Rand des Universums auf Kalgash herab. Jeden falls hatten die ahnungslosen Menschen einst, in längst vergangenen Zeiten geglaubt, dies sei der Rand des Universums, so lange, bis die Sterne erschienen und ihnen enthüllten, wie gewaltig das Universum tatsächlich war. Endlos schleppten sich die Stunden dahin. Ihr wollte keine vernünftige Lösung einfallen. Amgando war wohl verloren, falls es nicht jemand anderem gelungen war, den Leuten dort eine Warnung zukommen zu lassen – sie hatte jedenfalls keine Möglichkeit, es vor den Aposteln zu erreichen. Theremon retten zu wollen war eine aberwitzige Idee, kaum weniger grotesk als das Vorhaben, einen Laster zu stehlen und auf eige ne Faust nach Amgando zu fahren. Was dann? Sollte sie sich einfach zurücklehnen und zusehen, wie die Apostel alles in ihre Gewalt brachten? Offenbar blieb ihr gar keine andere Wahl. Irgendwann an diesem Abend war sie so weit, daß sie nur noch einen Weg sah; sie mußte schnurstracks ins Lager marschieren, sich den A posteln stellen und verlangen, man möge sie zu Theremon sperren. Dann wäre sie wenigstens bei ihm. Kaum zu glauben, wie sehr sie ihn vermißte. Seit Wochen war sie keinen Augenblick von ihm getrennt gewesen, sie, die in ihrem ganzen Leben nie mit einem Mann zusam mengelebt hatte. Und auf dem ganzen langen Weg von Saro City bis hierher hatten sie sich zwar hin und wieder angefaucht, gelegentlich war es auch zu einem Streit gekommen, aber sie war seiner nie überdrüssig geworden. Kein einziges Mal. Sie hatte es ganz natürlich gefunden, mit ihm zusammen zu sein. Und nun war sie wieder allein.
Nun mach schon! ermunterte sie sich. Ergib dich! Retten kannst du doch sowieso nichts mehr. Die Dämmerung vertiefte sich. Wolken hatten sich vor Tano und Sitha geschoben, und der Himmel wurde so dunkel, daß sie fast fürchtete, die Sterne könnten zurückkehren. Nur zu, dachte sie bitter. Kommt heraus! Treibt noch einmal alle in den Wahnsinn! Was schadet es schon? Die Welt kann schließlich nicht mehr als einmal in Trümmer gehen. Aber die Sterne erschienen natürlich nicht. Trotz der Wolkendecke spendeten Tano und Sitha genügend Helligkeit, um die fernen, geheim nisvollen Lichtpunkte dahinter verschwinden zu lassen. Und nach eini gen Stunden schlug Siferras tiefer Pessimismus um in ein neues, fast tolldreistes Gefühl der Hoffnung. Wenn alles verloren ist, sagte sie sich, hat man nichts mehr zu verlie ren. Sie würde sich im Schutz der Abenddämmerung ins Lager der A postel schleichen und – wie auch immer – einen ihrer Laster stehlen. Wenn es sich machen ließ, würde sie darüber hinaus auch noch There mon retten. Und dann ab nach Amgando! Wenn Onos morgen wieder am Himmel erschien, würde sie bereits bei ihren Freunden von der Uni versität sein, früh genug, um sie vor dem feindlichen Heer zu warnen und ihnen dringend zu empfehlen, sich in alle Winde zu zerstreuen. Schön, dachte sie. An die Arbeit. Langsam – ganz langsam – viel behutsamer als zuvor, sie könnten ja Wachposten im Gras versteckt haben… Aus dem Wald hinaus. Ein Moment der Ungewißheit; sie fühlte sich entsetzlich verwundbar, seit sie das schützende Gestrüpp hinter sich gelassen hatte. Aber das Zwielicht gab ihr ein schwaches Gefühl der Sicherheit. Jetzt über die Lichtung zwischen dem Wald und der Auto bahn. Unter den dicken Metallpfeilern hindurch und auf die ungemähte Wiese, wo man sie und Theremon am Nachmittag überrascht hatte. Und jetzt auf dem Bauch weiterkriechen wie beim ersten Mal. Noch einmal über die Wiese – erst hierhin und dorthin sichern, Ausschau hal ten nach Posten, die vielleicht das Lager bewachten… Der Nadler in ihrer Hand war auf Minimalöffnung gestellt, auf den schärfsten, konzentriertesten, tödlichsten Strahl, den diese Waffe erzeu gen konnte. Wer ihr jetzt begegnete, hatte Pech gehabt. Zivilisierte Hemmungen konnte sie sich nicht leisten, dafür stand zuviel auf dem Spiel. Sie hatte Balik im Labor der archäologischen Fakultät getötet, als sie noch halb im Wahn war, sie hatte es nicht gewollt, aber er war trotz dem tot; und jetzt stellte sie zu ihrer nicht geringen Überraschung fest, daß sie durchaus bereit war, noch einmal zu töten, und diesmal mit vol ler Absicht, falls die Umstände es erforderten. Das wichtigste war, an ein Fahrzeug zu kommen, damit zu verschwinden und die Nachricht von
dem anrückenden Apostelheer nach Amgando zu bringen. Alles andere einschließlich sämtlicher moralischer Bedenken war zweitrangig. Alles. Sie befand sich im Krieg. Weiter. Kopf gesenkt, Blick nach oben, gebückte Haltung. Nur noch ein paar Dutzend Schritte bis zum Lager. Da drüben war es sehr still. Wahrscheinlich schliefen die meisten. Im grauen Dunst auf der anderen Seite des großen Feuers glaubte sie, zwei Gestalten zu erkennen, aber der Rauch war so dicht, daß sie nicht sicher sein konnte. Sie mußte in den tiefen Schatten hinter einem der Laster schlüpfen und einen Stein gegen einen Baum werfen, der in einiger Ent fernung wuchs. Wahrscheinlich würden die Posten dem Geräusch nach gehen, und wenn sie einzeln ausschwärmten, konnte sie sich von hinten an einen heranschleichen, ihm den Nadler ins Kreuz drücken, ihn zum Schweigen ermahnen, ihn zwingen, seine Kutte auszuziehen… Nein, dachte sie. Keine Ermahnungen. Du schießt sofort und nimmst ihm die Kutte ab, ehe er Alarm schlagen kann. Schließlich hast du es mit Aposteln zu tun. Mit Fanatikern. Sie war selbst verblüfft über ihre ungewohnte Kaltblütigkeit. Weiter! Weiter! Der vorderste Laster war fast erreicht. Jetzt ins Dun kel, auf die dem Lagerfeuer abgewandte Seite. Wo ist ein Stein? Hier. Der hier ist gut. Nimm den Nadler kurz in die linke Hand. Jetzt wirf den Stein auf den dicken Baum dort drüben… Sie hob den Arm und holte aus. In diesem Moment packte jemand von hinten ihr linkes Handgelenk, und ein starker Arm drückte ihr die Kehle zu. Gefangen! Schreck, Empörung und wahnsinnige Enttäuschung durchzuckten sie. Wütend trat sie mit aller Kraft nach hinten und wurde mit einem gequäl ten Aufstöhnen belohnt. Leider hatte es nicht ausgereicht, um den harten Griff zu lockern. Sie drehte und wand sich, trat noch einmal zu und ver suchte gleichzeitig, den Nadler aus der linken in die rechte Hand zu wechseln. Doch der Angreifer bog ihr mit einem kurzen, scharfen, schmerzhafen Ruck den linken Arm nach oben. Der Nadler entglitt ihrer gefühllosen Hand. Der Arm an ihrer Kehle drückte zu, als wolle er sie erwürgen. Sie prustete und keuchte. Bei der Dunkelheit! Wie konnte man nur so dumm sein und sich von hinten überfallen lassen, während man selbst dabei war, sich anzupir schen! Heiße Tränen der Wut rannen ihr über die Wangen. Wie eine Rasende trat sie wieder und wieder nach hinten. „Sachte“, flüsterte eine tiefe Stimme. „Du tust mir noch weh, Siferra.“ „Theremon?“ Sie konnte es kaum fassen.
„Wer sonst? Mondior vielleicht?“ Der Druck auf ihre Kehle ließ nach. Die Finger, die ihr Handgelenk umklammert hielten, öffneten sich. Krampfhaft nach Luft ringend, stol perte sie ein paar Schritte nach vorne. Dann drehte sie sich um und starr te ihn wie betäubt an. „Wie bist du freigekommen?“ fragte sie. Er grinste. „Ein Wunder. Wirklich ein reines Wunder. Ich habe dich die ganze Zeit beobachtet, seit du aus dem Wald gekommen bist. Du warst wirklich sehr geschickt. Aber du hast dich so darauf konzentriert, unbemerkt hierher zu gelangen, daß du gar nicht bemerkt hast, wie ich in weitem Bogen von hinten kam.“ „Allen Göttern sei Dank, daß du es warst, Theremon. Auch wenn ich zu Tode erschrocken bin, als du mich gepackt hast. – Aber was stehen wir noch hier herum? Schnell, wir schnappen uns einen Laster und ver schwinden, ehe sie uns sehen.“ „Nein“, sagte er. „Der Plan ist inzwischen außer Kraft.“ Sie sah ihn verdutzt an. „Das begreife ich nicht.“ „Bald wirst du es begreifen.“ Und dann klatschte er zu ihrem höchsten Erstaunen in die Hände und rief laut: „Hierher, Leute! Sie ist hier!“ „Theremon! Hast du den…?“ Der Strahl einer Taschenlampe traf ihr Gesicht, und die Wirkung war fast so verheerend wie damals, als sie zum ersten Mal die Sterne sah. Sie stand da wie geblendet und schüttelte nur verstört und fassungslos den Kopf. Ringsum bewegten sich Gestalten, aber es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich an das grelle Licht gewöhnt hatten und sie etwas erkennen konnte. Apostel. Ein halbes Dutzend. Vorwurfsvoll starrte sie Theremon an. Er wirkte völlig ungerührt und sehr mit sich zufrieden. Sie war wie gelähmt, die Erkenntnis, daß er sie verraten hatte, setzte sich nur langsam durch. Als sie zu sprechen versuchte, brachte sie nur abgehackte Silben zu stande. „Aber? – Wieso? – Was?“ Theremon lächelte. „Komm, Siferra. Ich möchte dich mit jemandem bekanntmachen.“
Kapitel 43 „Sie brauchen mich wirklich nicht so finster anzusehen, Dr. Siferra“, sagte Folimun. „Auch wenn es Ihnen schwerfällt, mir zu glauben, Sie sind hier unter Freunden.“ „Unter Freunden? Sie müssen mich für sehr vertrauensselig halten.“ „Keineswegs. Ganz im Gegenteil.“
„Sie dringen in mein Labor ein und stehlen unersetzliches For schungsmaterial. Sie befehlen Ihrer wildgewordenen Horde abergläubi scher Gefolgsleute, ins Observatorium einzudringen und die Instrumente zu zerschlagen, mit denen die Astronomen einmalige Beobachtungen von höchster Wichtigkeit durchführen wollen. Nun haben Sie Theremon unter Hypnose gesetzt und ihm befohlen, mich gefangenzunehmen und an Sie auszuliefern. Und da wollen Sie mir erzählen, ich sei unter Freunden?“ „Niemand hat mich unter Hypnose gesetzt, Siferra“, widersprach The remon ruhig. „Und du bist keine Gefangene.“ „Natürlich nicht. Und alles war nur ein böser Traum: Die Nacht, die Brände, der Untergang der Zivilisation, alles. In einer Stunde werde ich in meiner Wohnung in Saro City aufwachen, und alles wird wieder so sein wie vor dem Schlafengehen.“ Theremon, der auf der anderen Seite von Folimuns Zelt stand und sie beobachtete, hatte sie noch nie so reizvoll gefunden wie in diesem Au genblick. Ihre Augen sprühten vor Zorn. Ihre Haut schien zu leuchten. Sie war von einer dichten Aura vibrierender Energie umgeben, die ihn unwiderstehlich anzog. Aber das konnte er ihr gerade jetzt wohl kaum sagen. Folimun ergriff wieder das Wort. „Für die Entwendung Ihrer Täfel chen, Dr. Siferra, kann ich mich nur entschuldigen. Das war schamloser Diebstahl, und ich kann Ihnen versichern, daß ich so etwas niemals ge nehmigt hätte, wenn wir von Ihnen nicht dazu gezwungen worden wä ren.“ „Ich soll…?“ „Ja. Sie lehnten es strikt ab, die Täfelchen aus der Hand zu geben – und damit brachten Sie diese unersetzlichen Relikte aus einem früheren Zyklus in Gefahr, immerhin stand das Chaos unmittelbar bevor, und man konnte nicht ausschließen, daß die ganze Universität völlig zerstört würde. Daher hielten wir es für unerläßlich, die Täfelchen in Sicherheit, das heißt, in unsere Hände zu bringen, und da Sie dem nicht zustimmen wollten, entschlossen wir uns eben, sie Ihnen abzunehmen.“ „Ich habe diese Täfelchen gefunden. Sie hätten von Ihrer Existenz nie erfahren, wenn ich sie nicht ausgegraben hätte.“ „Das tut nichts zur Sache“, wehrte Folimun geschickt ab. „Mit dem Augenblick ihrer Entdeckung gewannen diese Artefakte für uns – und für die Welt – eine immense Bedeutung. Für uns hatte Kalgashs Zukunft eben Vorrang vor Ihrem persönlichen Besitzinteresse. Wie Sie bald sehen werden, haben wir die Täfelchen mit Hilfe des alten Textmateri als, über das wir bereits vorher verfügten, inzwischen vollständig über setzt, und sie haben uns sehr geholfen, die außerordentlichen Herausfor derungen, denen sich die Zivilisation auf Kalgash in regelmäßigen Ab
ständen gegenübersieht, noch besser zu begreifen. Dr. Mudrins Überset zungen waren leider höchst oberflächlich. Dabei stellen diese Täfelchen eine genaue und überzeugende Version der uns als ‚Buch der Offenba rungen’ überlieferten Chroniken dar, die nicht im Lauf von Jahrhunder ten durch Veränderungen und Fehler entstellt wurde. Wie ich gestehen muß, quillt das Buch der Offenbarungen regelrecht über von Mystizis men und Metaphern, die immer wieder zu propagandistischen Zwecken eingefügt wurden. Die Thombo-Täfelchen bieten dagegen unverfälschte, historische Darstellungen zweier verschiedener Auftritte der Sterne vor mehreren Jahrtausenden sowie der Versuche der damaligen Priester schaften, die Bevölkerung vor der drohenden Katastrophe zu warnen. Wir können jetzt belegen, daß sich auf Kalgash seit Anbeginn der Zeiten in jeder historischen und prähistorischen Epoche kleine, engagierte Gruppen bemüht haben, die Welt auf die immer wiederkehrende Zer reißprobe vorzubereiten. Die dabei angewandten Methoden erwiesen sich freilich stets als unzulänglich. Mit dem, was wir aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben, werden wir in zweitausend Jahren, am Ende des derzeitigen Gottesjahres in der Lage sein, Kalgash vor einer weiteren verheerenden Erschütterung zu bewahren.“ Siferra wandte sich an Theremon. „Wie kann man nur so von sich ü berzeugt sein! Er rechtfertigt den Diebstahl meiner Täfelchen doch tat sächlich damit, daß er mit ihrer Hilfe eine noch leistungsfähigere The okratie errichten könne, als er je zu hoffen gewagt habe! Theremon, Theremon, wie konntest du mich so verraten? Wie konntest du uns so verraten? Inzwischen könnten wir schon auf halbem Wege nach Am gando sein, wenn wir nur…“ „Ich verspreche Ihnen, Dr. Siferra, Sie werden morgen nachmittag in Amgando sein. Wir alle werden morgen nachmittag in Amgando sein.“ „Und wie wollen sie das anstellen?“ fragte sie hitzig. „Muß ich in Ket ten Ihrer siegreichen Armee folgen? Oder gefesselt im Staub hinter Mondiors Streitwagen herkriechen?“ Der Apostel seufzte. „Theremon, seien Sie doch so gut und erklären Sie ihr, wie die Dinge stehen.“ „Nein“, rief sie mit blitzenden Augen. „Du arme, willenlose Marionet te, ich will die hohlen Phrasen gar nicht hören, die dieser Besessene dir in den Schädel geträufelt hat! Ich will überhaupt nichts mehr hören! Ich will nur noch meine Ruhe! Sperren Sie mich ein, wenn Sie wollen! Oder lassen Sie mich frei, wenn Sie es über sich bringen! Was haben Sie von mir schon zu befürchten? Eine Frau gegen eine ganze Armee? Ich kann ja nicht einmal ein Feld überqueren, ohne daß jemand mich von hinten überrumpelt!“ Bestürzt streckte Theremon die Arme nach ihr aus.
„Nein! Bleib mir vom Leibe! Du widerst mich an! – Aber du kannst wohl nichts dafür. Sie haben dich irgendwie manipuliert. – Mir wird es nicht anders ergehen, nicht wahr, Folimun? Sie werden eine Puppe aus mir machen, die zu allem Ja und Amen sagt! Nun, dann habe ich nur noch eine Bitte an Sie. Zwingen Sie mich nicht, eine Apostelkutte anzu ziehen. Schon die Vorstellung, in einem von den lächerlichen Dingern herumzulaufen, ist mir unerträglich. Rauben Sie mir die Seele, wenn es sein muß, aber nehmen Sie mir bitte nicht das Recht, mich nach meinem Geschmack zu kleiden. Einverstanden, Folimun?“ Der Apostel lachte leise. „Vielleicht lasse ich Sie beide besser allein. Solange ich dabei bin, kommen wir wohl nicht weiter.“ „Nein, verdammt“, schrie Siferra, „ich will nicht allein bleiben mit diesem…“ Aber Folimun hatte sich bereits erhoben und verließ mit schnellen Schritten das Zelt. Theremon wandte sich Siferra zu, und sie zuckte vor ihm zurück, als habe er eine ansteckende Krankheit. „Ich stehe nicht unter Hypnose, Siferra“, sagte er ruhig. „Und man hat mich auch keiner Gehirnwäsche unterzogen.“ „Was solltest du auch sonst sagen?“ „Es ist wahr, und ich werde es dir beweisen.“ In ihren Augen stand verzweifelte Ablehnung, aber sie schwieg. Er wartete einen Moment, dann flüsterte er: „Siferra, ich liebe dich.“ „Wie lange haben die Apostel gebraucht, um dir diesen Satz einzupro grammieren?“ fragte sie. Er zuckte zusammen. „Nicht. Bitte, nicht. Es ist mir ernst damit, Sifer ra. Ich will nicht behaupten, du wärst die erste, zu der ich diese Worte je gesagt hätte. Aber heute meine ich sie zum ersten Mal ernst.“ „Die älteste Phrase aller Zeiten“, wehrte sie verächtlich ab. „Ich habe wohl nichts anderes verdient. Theremon, der Frauenheld. Theremon, der stadtbekannte Schürzenjäger. Schön. Vergiß, was ich gesagt habe. – Nein, lieber nicht. Es ist die Wahrheit, Siferra. Diese letzten Wochen – das ständige Zusammensein mit dir – es gab keinen einzigen Augenblick, in dem ich dich nicht angesehen und bei mir ge dacht hätte: Das ist die Frau, auf die ich all die Jahre gewartet habe. Die Frau, von der ich nicht zu hoffen wagte, daß ich sie jemals finden wür de.“ „Was für eine rührende Geschichte, Theremon. Und um mir deine Liebe zu beweisen, ist dir nichts Besseres eingefallen, als dich von hin ten auf mich zu stürzen, mir dabei fast den Arm zu brechen und mich an Mondior auszuliefern, sehe ich das richtig?“ „Mondior existiert nicht, Siferra. Eine Person dieses Namens gibt es nicht.“
Einen Moment lang zuckten Überraschung und Neugier hinter ihrer abweisenden Haltung auf. „Was sagst du da?“ „Er ist ein Mythos, ein elektronisch geschaffenes Gebilde, das nur im Fernsehen auftritt. Niemand wurde je persönlich von ihm empfangen, nicht wahr? Er ist auch nie in der Öffentlichkeit aufgetreten. Folimun hat ihn erfunden, um ein Sprachrohr zu haben. Da Mondior nie leibhaf tig in Erscheinung trat, konnte ihn das Fernsehen in fünf verschiedenen Ländern – auf der ganzen Welt – gleichzeitig zeigen, schließlich wußte niemand genau, wo er sich tatsächlich aufhielt. Das echte Oberhaupt der Apostel des Feuers ist Folimun. Seine Rolle als Beauftragter für Öffent lichkeitsarbeit ist nur Tarnung. Dabei hält er seit zehn Jahren alle Fäden in der Hand. Sein Vorgänger, ein Mann namens Bazret, ist inzwischen tot. Eigentlich hatte Bazret die Idee zu Mondior, aber erst Folimun hat ihn zu dem gemacht, was er heute ist.“ „Und das hat dir Folimun alles erzählt?“ „Nur einen Teil. Den Rest habe ich erraten, und er hat meine Vermu tungen bestätigt. Wenn wir wieder in Saro City sind, wird er mir die Mondior-Maschine zeigen. Die Apostel wollen die Fernsehübertragun gen in wenigen Wochen wiederaufnehmen.“ „Schön“, sagte Siferra schroff. „Du hast entdeckt, daß Mondior eine Fälschung ist, und diese schmierige Masche hat dich so beeindruckt, daß du Folimuns Verein auf der Stelle und um jeden Preis beitreten wolltest. Als erstes gab man dir den Auftrag, mich ans Messer zu liefern. Also hast du mich abgepaßt und mich überrumpelt, damit war auch gleich dafür gesorgt, daß die Leute in Amgando Folimun ins Netz gehen. Gut gemacht, Theremon!“ „Folimun ist auf dem Weg nach Amgando, das stimmt“, gab There mon zu. „Aber er will den Leuten, die sich dort versammelt haben, nicht schaden. Er will ihnen vielmehr das Angebot machen, in der neuen Re gierung mitzuarbeiten.“ „Bei den allmächtigen Göttern, Theremon, glaubst du denn wirk lich…?“ „Ja. Ja, Siferra!“ Theremon fuchtelte aufgeregt mit gespreizten Hän den in der Luft herum. „Mag sein, daß ich nur ein primitiver Journalist bin, aber halte mich bitte nicht für dumm. In den zwanzig Jahren im Zeitungsgeschäft habe ich mir zumindest eine profunde Menschen kenntnis erworben. Folimun hatte schon bei unserer ersten Begegnung einen ungewöhnlich starken Eindruck auf mich gemacht. Verrückt wirk te er ganz und gar nicht, eher vielschichtig, raffiniert, hochintelligent. Nun habe ich mich acht Stunden an einem Stück mit ihm unterhalten. An Schlaf hat heute abend niemand gedacht. Er hat mir seinen ganzen Plan offenbart, mir alles anvertraut, was er vorhat. Würdest du rein theo
retisch einmal annehmen, daß ich imstande sein könnte, mein Gegen über im Verlauf eines achtstündigen Gesprächs zutreffend einzuschät zen?“ „Nun ja…“ Sie zögerte noch. „Entweder ist er vollkommen aufrichtig, Siferra, oder er ist der beste Schauspieler der Welt.“ „Möglicherweise auch beides. Das heißt noch lange nicht, daß man ihm vertrauen sollte.“ „Mag sein. Trotzdem vertraue ich ihm. Jetzt.“ „Sprich weiter!“ „Folimun ist ein völlig skrupelloser Mensch mit einem beängstigend scharfen Verstand, dem es einzig und allein darauf ankommt, daß die Zivilisation überlebt. Durch seine uralte Religion hatte er Zugang zu historischen Aufzeichnungen aus früheren Zyklen und wußte folglich seit vielen Jahren, was wir anderen erst vor kurzem auf schmerzlichste Weise erfahren mußten: daß es nämlich Kalgashs Schicksal ist, alle zweitausend Jahre einmal dem Anblick der Sterne ausgesetzt zu sein, der gewöhnliche Menschen in den Wahnsinn treibt und selbst die Ro bustesten tage- oder gar wochenlang aufs schwerste belastet. – Er will dir übrigens all die alten Dokumente zeigen, wenn wir wieder in Saro City sind.“ „Saro City wurde zerstört.“ „Nicht der Teil, den die Apostel kontrollierten. Sie haben verdammt gut achtgegeben, daß im Umkreis von zwei Kilometern von ihrem Turm kein Feuer gelegt wurde.“ „Was für tüchtige Leute!“ spottete Siferra. „Das sind sie ohne Frage. Schön: Folimun weiß, daß in einer Zeit des allgemeinen Wahnsinns eine totalitäre Theokratie die besten Aussichten hat, die Welt zusammenzuhalten. Für dich und mich mögen die Götter eine alte Legende sein, Siferra, aber ob du es glaubst oder nicht, da draußen gibt es Millionen und Abermillionen von Menschen, die das ganz anders sehen. Sie hatten immer Schuldgefühle, wenn sie Dinge taten, die sie für sündhaft hielten, und sie fürchteten die Strafe der Göt ter. Doch nun ist diese Angst übermächtig geworden. Die Menschen reden sich ein, die Sterne könnten morgen oder übermorgen wieder kommen und auch noch den Rest erledigen. – In dieser Situation be haupten die Apostel, sie hätten einen direkten Draht zu den Göttern, und zum Beweis führen sie unzählige Stellen aus ihrer heiligen Schrift an. Sie sind also weit eher in der Lage, eine Weltregierung zu errichten als Altinol, die kleinen Provinzfürsten, die auf der Flucht befindlichen Res te der alten Regierung oder irgend jemand sonst. Sie sind unsere einzige Hoffnung.“
„Du meinst es tatsächlich ernst“, staunte Siferra. „Folimun brauchte dich nicht unter Hypnose zu setzen, Theremon. Das hast du ganz allein geschafft!“ „Hör zu“, bat er. „Folimun hat sein ganzes Leben lang auf diesen Moment hingearbeitet, denn er wußte, daß seiner Apostelgeneration die Verantwortung für das Weiterbestehen der Zivilisation zufallen würde. An Plänen mangelt es ihm nicht. Riesige Gebiete nördlich und westlich von Saro City hat er schon fast unter seine Kontrolle gebracht, und als nächstes wird er in den neuen Provinzen entlang der Großen Südauto bahn die Herrschaft übernehmen.“ „Und sich selbst als theokratischen Diktator einsetzen, der als erstes sämtliche atheistischen Zyniker und Materialisten von der Universität wie Beenay, Sheerin und mich hinrichten läßt.“ „Sheerin ist bereits tot. Folimun erzählte mir, seine Leute hätten die Leiche in einem zerstörten Haus gefunden. Er wurde offenbar schon vor einigen Wochen von einer Horde verrückter Intellektuellenhasser getö tet.“ Siferra konnte Theremons Blick nicht mehr ertragen und wandte sich einen Moment ab, um ihn danach um so wütender anzustarren. „Genau wie ich sagte. Zuerst läßt Folimun seine Raufbolde ins Observatorium einbrechen – auch Athor wurde umgebracht, nicht wahr? – und dann eliminiert er den armen Sheerin, der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Als nächstes kommen wir anderen…“ „Er wollte die Leute vom Observatorium beschützen, Siferra!“ „Sehr erfolgreich war er dabei aber nicht.“ „Die Sache ist aus dem Ruder gelaufen. Eigentlich wollte er alle Wis senschaftler vor Ausbruch der Krawalle in Sicherheit bringen – aber da er als glutäugiger Fanatiker auftrat, waren sie nicht bereit, sich seinen Vorschlag, sich nämlich unter seinem Schutz in den Bunker der Apostel zu begeben, überhaupt anzuhören.“ „Vorher mußte aber das Observatorium zerstört werden.“ „Auch das lag nicht in seiner Absicht. Die Welt war in dieser Nacht außer Rand und Band, da ging nicht immer alles nach Plan.“ „Du bemühst dich sehr, Entschuldigungen für ihn zu finden, There mon.“ „Mag sein, aber hör mich bitte trotzdem zu Ende an. Er will zusam men mit den Überlebenden von der Universität und den anderen norma len, intelligenten Menschen in Amgando daran arbeiten, den Wissens schatz der Menschheit zu rekonstruieren. Er – oder vielmehr der falsche Mondior – wird die Regierung übernehmen. Die Apostel sollen die in stabile, von abergläubischen Ängsten beherrschte Bevölkerung zumin dest ein bis zwei Generationen lang mit religiösem Terror ruhig halten. Währenddessen sollen die Leute von der Universität ihnen helfen, alles
gerettete Wissen zu sammeln und zu ordnen, und danach will man die Menschheit gemeinsam wieder zur Vernunft bringen – wie es schon so oft gelungen ist. Vielleicht schafft man es ja diesmal, mit den Vorberei tungen auf die nächste Sonnenfinsternis hundert Jahre früher zu begin nen und so deren verheerendste Folgen, den massenhaften Wahnsinn, die Brandstiftungen, die weltweiten Verwüstungen zu vermeiden.“ „Und das alles glaubst du?“ fragte Siferra mit ätzendem Spott. „Du hältst es für sinnvoll, danebenzustehen und Beifall zu klatschen, wäh rend die Apostel des Feuers die ganze Welt zu ihren destruktiven, irrati onalen, despotischen Überzeugungen bekehren? Oder, was noch schlimmer ist – du meinst, wir sollten ihnen gar noch dabei behilflich sein.“ „Die Vorstellung ist mir ein Greuel“, sagte Theremon plötzlich. Siferra riß die Augen auf. „Aber warum…?“ „Laß uns ins Freie gehen“, sagte er. „Es dämmert schon fast. Gibst du mir deine Hand?“ „Nun ja…“ „Es war keine Phrase, als ich dir sagte, daß ich dich liebe.“ Sie zuckte die Achseln. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Du verwässerst die politische Frage mit privaten Emotionen, There mon.“ „Komm!“ sagte er nur.
Kapitel 44 Sie traten aus dem Zelt. Im Osten kündigte sich mit rosigem Schein die Hauptsonne Onos an. Hoch über ihnen waren die Zwillingssonnen Tano und Sitha hinter den Wolken hervorgekommen, standen nun im Zenith und tauchten die Welt in ein traumhaftes Licht. Noch eine Sonne war zu sehen. Weit im Norden funkelte die kleine Dovim, ein hartes, rotes Kügelchen, wie ein winziger Rubin in der Himmelsstirn. „Vier Sonnen“, sagte Theremon. „Ein gutes Omen.“ Ringsum herrsch te reges Treiben. Die Laster wurden beladen, die Zelte abgebaut. The remon erblickte Folimun am anderen Ende des Lagers, wo er einem Arbeitstrupp Anweisungen gab. Der Anführer der Apostel winkte ihm zu, der Journalist nickte zurück. „Die Vorstellung, daß die Apostel die Welt beherrschen, ist dir also ein Greuel“, wiederholte Siferra, „und doch bist du bereit, Folimun Ge folgschaft zu leisten? Warum? Was hat das für einen Sinn?“ „Es gibt keine andere Hoffnung“, sagte Theremon ruhig. „Ist das deine ehrliche Meinung?“
Er nickte. „Es wurde mir allmählich klar, nachdem Folimun zwei Stunden lang auf mich eingeredet hatte. Jede vernünftige Regung in mir wehrt sich dagegen, ihm und seiner Horde von Fanatikern zu trauen. Von allem anderen abgesehen ist er ohne Zweifel ein machtbesessener Manipulant, skrupellos und in höchstem Maße gefährlich. Aber wer außer ihm hätte eine Chance? Altinol? Die vielen kleinen Bandenchefs entlang der Autobahn? Man würde eine Million Jahre brauchen, um alle diese neuen Provinzen zu einem globalen Wirtschaftsverbund zu verei nen. Folimun – oder vielmehr Mondior – hat Macht genug, um die gan ze Welt in die Knie zu zwingen. – Hör zu, Siferra. Der größte Teil der Menschheit ist dem Wahnsinn verfallen. Millionen von Irren ziehen durch die Lande. Nur starke Persönlichkeiten wie du, ich oder Beenay und geistig abgestumpfte Menschen sind inzwischen genesen, die ande ren, die große Mehrheit, sie werden Monate oder gar Jahre brauchen, um wieder normal zu werden. Vielleicht schaffen sie es auch nie. Ein charismatischer Prophet wie Mondior ist vielleicht die einzige Lösung, so sehr mich diese Vorstellung auch abstößt.“ „Also keine andere Möglichkeit?“ „Nicht für uns, Siferra.“ „Warum nicht?“ „Paß auf! Ich glaube, in erster Linie ist die Heilung wichtig. Alles an dere ist zweitrangig. Die Welt wurde lebensgefährlich verletzt.“ „Sie hat sich selbst lebensgefährlich verletzt.“ „So kann ich es nicht sehen. Die Brände waren eine Reaktion auf eine ungeheure Veränderung. Es wäre nie dazu gekommen, wenn die Son nenfinsternis nicht den Vorhang beiseite gerissen und uns die Sterne gezeigt hätte. – Aber damit ist die Sache noch lange nicht zu Ende. In zwischen zieht jede Verletzung eine neue nach sich. Altinol ist eine solche Wunde. Die kleinen, unabhängigen Provinzen ebenso. Die Irren, die sich im Wald gegenseitig umbringen – oder Jagd auf Universitäts professoren machen – auch sie sind Wunden.“ „Und Folimun? Er ist die größte Wunde von allen.“ „Ja und nein. Natürlich geht er mit Fanatismus und Mystizismus hau sieren. Aber er sorgt für Disziplin. Die Menschen glauben an das, was er ihnen verkauft, sogar die Irren, die Geisteskranken. Er ist eine so große Wunde, daß er alle anderen in sich aufnehmen kann. Er vermag die Welt zu heilen, Siferra. Und dann können wir – von innen heraus – wiederum zu heilen versuchen, was er angerichtet hat. Aber nur von innen heraus. Wenn wir mit ihm zusammenarbeiten, haben wir eine Chance. Wenn wir uns gegen ihn stellen, werden wir beiseitegefegt wie lästiges Ungeziefer.“ „Was schlägst du also vor?“
„Wir haben die Wahl: Entweder wir stellen uns hinter ihn und schlie ßen uns der herrschenden Elite an, um mit ihr die Welt aus dem Wahn sinn zu führen, oder wir ziehen als Geächtete durch die Lande. Wofür stimmst du, Siferra?“ „Ich will eine dritte Möglichkeit.“ „Die gibt es nicht. Die Amgando-Leute sind nicht willensstark genug, um eine funktionsfähige Regierung auf die Beine zu stellen. Leute wie Altinol sind dafür zu skrupellos. Folimun kontrolliert bereits die Hälfte der einstigen Republik Saro. Den Rest bringt er sicher auch noch in seine Gewalt. Es wird Jahrhunderte dauern, bis die Vernunft wieder die Herrschaft übernimmt, Siferra, ganz gleich, was du oder ich jetzt tun.“ „Du hältst es also für besser, sich ihm anzuschließen und zu versu chen, einen gewissen Einfluß auf die Richtung zu nehmen, in die die neue Gesellschaft sich bewegt, als sich nur deshalb zu widersetzen, weil einem der Fanatismus, den er vertritt, nicht behagt.“ „Genau. Ganz genau.“ „Aber wenn ich mithelfen soll, die Welt dem religiösen Fanatismus auszuliefern…“ „Hat sich die Welt nicht schon des öfteren aus religiösem Fanatismus befreit? Momentan ist das wichtigste, das Chaos irgendwie zu überwin den. Dafür bieten Folimun und seine Organisation die einzige Hoffnung. Stell dir ihren Glauben vor wie einen Motor, der die Zivilisation antrei ben muß, weil kein anderer Motor mehr läuft. Nur darum geht es jetzt. Als erstes müssen wir die Welt wieder ins Lot bringen; unsere Nach kommen werden dieser Mystiker in Kutten und Kapuzen hoffentlich schon irgendwann überdrüssig werden. Verstehst du, was ich damit sagen will, Siferra? Verstehst du mich?“ Sie nickte sonderbar apathisch wie eine Schlafwandlerin. Theremon sah ihr nach, als sie sich abwandte und langsam auf die Wiese zuging, wo sie – es schien Jahre her – am Abend zuvor von den Wachposten der Apostel überrascht worden waren. Lange stand sie dort allein im Licht der vier Sonnen. Wie schön sie ist, dachte Theremon. Wie sehr ich sie liebe! Wie seltsam sich alles entwickelt hat. Er wartete. Um ihn herum war man hektisch mit dem Abbruch des La gers beschäftigt. Aufgeregt rannten die Kuttenträger hin und her. Folimun trat zu ihm. „Nun?“ „Wir überlegen noch“, sagte Theremon. „Wir? Ich hatte den Eindruck, Sie seien auf jeden Fall dabei.“ Theremon sah ihn fest an. „Ich bin dabei, wenn Siferra mitmacht. Sonst nicht.“
„Wie Sie meinen. Wir würden es sehr bedauern, einen Kommunikati onsspezialisten Ihres Kalibers zu verlieren. Ganz zu schweigen von Dr. Siferras archäologischen Fachkenntnissen.“ Theremon lächelte. „Wir werden bald sehen, wie kommunikativ ich in diesem Fall war.“ Folimun nickte und ging zurück zu den Lastern, die eben beladen wurden. Theremon sah zu Siferra hinüber. Sie schaute nach Osten, wo Onos gerade aufging, von oben strömte Tanos und Sithas Licht in einem gleißenden Schwall herab, und von Norden zielte Dovims Strahl wie ein schlanker, roter Speer auf sie. Es gab kein besseres Omen. Siferra hatte sich umgedreht und kam auf ihn zugelaufen. Ihre Augen strahlten, und er glaubte, sie lachen zu sehen. Dann hatte sie ihn er reicht. „Nun?“ fragte Theremon. „Wie hast du dich entschieden?“ Sie nahm seine Hand. „Ich bin einverstanden, Theremon. Dein Wille geschehe. Folimun der Allmächtige sei unser Führer, und ich werde ihm folgen auf allen seinen Wegen. Unter einer Bedingung.“ „Nur zu. Wie lautet sie?“ „Ich habe sie schon im Zelt kurz angesprochen. Ich werde keine Kutte tragen. Unter keinen Umständen. Wenn er auf der Kutte besteht, platzt das Geschäft!“ Theremon nickte erfreut. Nun würde alles gut werden. Nach der Nacht kam der Morgen und die Wiedergeburt. Ein neues Kalgash würde aus den Trümmern erstehen, und er und Siferra würden bei seiner Erschaf fung entscheidend mitzureden haben. „Ich glaube, das läßt sich einrich ten“, antwortete er. „Komm, wir gehen zu Folimun und hören uns an, was er dazu meint.“