May Sarton Eine Abrechnung
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ö 1999
Roman aus dem Amer ikanischen von Ger linde...
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May Sarton Eine Abrechnung
May Sarton Eine Abrechnung scanned by
ö 1999
Roman aus dem Amer ikanischen von Ger linde Kowitzke
Frauenoffensive
1. Auflage, 1985 © May Sarton, 1978 Originaltitel: A Reckoning © deutsche Übersetzung Verlag Frauenoffensive, München 1985 (Kellerstr. 39, 8000 München 80) ISBN 3-88104-146-X Satz: Sylvia Seyfricd, München Druck: Clausen und Bosse, Leck
1 Als sie die Marlboro Street in Boston entlangging, kamen Laura Spelman die flachen Ziegelsteinhäuser, der tiefblaue Himmel, das feine Geäst unbelaubter Bäume, ja selbst die schmutzigen Schneehaufen am Bordstein so unendlich schön vor, daß sie sich leicht betrunken fühlte. Wie sie jetzt wußte, hatte ihr Keuchen nichts mit ihrem Übergewicht zu tun, sondern mit ihrer angegriffenen Lunge. „Immerhin muß ich keine Diät halten.“ Die zwei Blocks, die sie von Jim Goodwins Praxis zu Fuß gehen mußte, erschienen ihr lang. Zweimal hielt sie an, um nach Luft zu schnappen, ehe sie ihr kleines Auto erreichte. Drinnen geborgen, saß sie eine Weile da und entwirrte den Wust an Gefühlen, den ihr Besuch bei Dr. Goodwin aufgewirbelt hatte. Es überfiel sie eine eigentümliche Erregung, und sie fühlte sich aufgekratzter, wacher und entschlossener denn je: Ich werde meinen eigenen Tod haben. Ich kann es auf meine Weise tun. Er sagte zwei Jahre, aber sie nennen immer eine maximale Zahl, und nach meiner Schätzung ist es höchstens ein Jahr. Ein Jahr, noch ein Frühling, noch ein Sommer... Ich muß es gut machen. Ich muß nachdenken. Sie mußte so rasch wie möglich heimkommen. Sie fuhr los, scherte so schnell auf die Straße aus, daß ein vorbeifahrendes Taxi sie fast streifte. „Auf deine Weise, Laura, du Idiotin!“ sagte sie laut. „Ein plötzlicher Tod auf der Marlboro Street bringt's ja wohl nicht!“ Eine halbe Stunde später stand sie vor ihrer Haustür in Lincoln, suchte nach dem Schlüssel und wurde von drinnen mit aufgeregtem Bellen begrüßt. Zum erstenmal seit Dr. Goodwins Urteil erstarrte sie, durch einen scharfen Schmerz in der Brust bewegungsunfähig, doch jetzt wur-
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de das Bellen hysterisch, und sie fand schließlich das Schlüsselloch, öffnete die Tür, kniete sich hin und umarmte Grindle, den alten Sheltie, und ließ sich von seiner feuchten Zunge das Gesicht lecken, die Tränen ablecken, wie er es getan hatte, als Charles starb. „Oh, Grindle, was machen wir bloß? Was machen wir bloß?“ Grindle und Sasha, die Katze, zurückzulassen, wäre das Schwerste. „Grindle“, sagte sie streng, „ich muß augenblicklich damit aufhören. Du läßt das Lecken, und ich lass' das Heulen.“ Grindle hörte den veränderten Tonfall, trottete davon und rollte sich in seinem Korb zusammen, die gespitzten Ohren lauschten auf ihre Bewegungen, als sie taumelnd auf die Füße kam. Sie ging in die Küche, goß sich ein Glas Rotwein ein und nahm es mit in die Bibliothek, wo sie ein Flötenkonzert von Mozart auflegte. Sie streckte sich auf ihrem Sofa aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und dachte nach. Grindle käme zu Brooks und Ann, ihrem Sohn und der Schwiegertochter. Ihre Kinder liebten ihn. Und die scheue, anhängliche Sasha, was wäre mit ihr? Einige Dinge wären so schrecklich, daß sie jetzt gleich lernen mußte, sie beiseite zu schieben. Ein Teil ihres Selbst mußte ausschließlich in der Gegenwart leben, was sie tat, als Sasha auf sie sprang und ihre Brust zu treten begann. Laura schob sie zur Seite, woraufhin lautes Schnurren an ihrem Oberschenkel vibrierte. Sie fühlte, wie sie ganz in die Musik versank, die Flöte lockte wie ein himmlischer Vogel mit tausend Liedern statt nur einem in seiner silbernen Kehle. Während sie lauschte, nahm sie das Glitzern des Lichts wahr, vom Schnee draußen reflektiertes Licht, das den Raum in kühles Feuer tauchte. Grindle gab einen tiefen Seufzer von sich, schlief in seiner Ecke ein, und Laura spürte, wie sich Freude in ihr ausbreitete, sie ganz erfüllte, doch nicht überschwappte. Was sie an der Tür als fast unbezähmbaren Schmerz empfunden hatte, erschien ihr jetzt als beglückender Zustand. Es war kein
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Zustand, den sie einfach mit Worten beschreiben konnte. Er kam ihr eher wie ein außergewöhnlicher Tanz vor, der Tanz des Lebens selbst, der Atome und Moleküle, nie zuvor so herrlich oder so ergreifend wie in diesem Moment, ein Tanz, der behutsamer und mit größerer Leidenschaft ganz zu Ende getanzt werden mußte. Arme Mama, dachte sie und setzte sich auf. Dies ist ihr vorenthalten. Sie schlittert in ihren Tod, nur halb bewußt, wenn überhaupt bewußt, was eigentlich vorgeht. Ihre einzigen Beziehungen sind die zu ihren Pflegerinnen, Mary, die sie haßt, und Annabelle, die sie liebt — ambivalent bis ans Ende. Laura riß sich aus diesen Gedanken an ihre Mutter, so furchtbar imposant — und so furchtbar, Gedanken, die sie immer gebeutelt, aus dem Gleichgewicht gebracht, hilflos gemacht hatten. Laura, bis du stirbst, wirst du dieses Mysterium doch nicht klären. Ich muß es Jo sagen — und Daphne natürlich. Aber Jo, die älteste der drei Schwestern, war der Stein des Anstoßes: mächtige, abgestumpfte Jo, eingeschnürt in ihre Arbeit; sie hatte spät in ihrem Leben das Rektorat an einem kleinen Frauencollege übernommen. Sie wiederholte diese Fakten über Jo und ließ sie sich durch den Kopf gehen. Nein, vorläufig würde sie Jo nichts sagen. Außerdem, bestand denn eine echte Beziehung? Hier war die Platte zu Ende. Ohne Musik erfüllte eine plötzliche Leere das Haus, das Zimmer, in dem sie saß. Eigentlich habe ich keine Angst, doch wenn keine echte Beziehung zu meiner Schwester besteht, zu wem dann? Zu was dann? Erst in diesem Augenblick traf Laura das Urteil Dr. Goodwins in vollem Ausmaß, und sie begann zu zittern. Ihre Hände waren eiskalt. Die eigentümliche Hochstimmung, die sie zuvor empfunden hatte, wich nun der Angst, und sie stand auf, lief hin und her, preßte dann ihre Stirn einen Moment lang ans eisige Fenster. Ich bin nicht bereit, dachte sie, ich kann's nicht allein. Aber ich will es allein tun, antwortete es ganz tief in ihr. Und noch tiefer in ihrem Innern wußte sie, daß sie es allein tun
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müßte. Sterben — niemand redete darüber. Wir sind einfach nicht vorbereitet. In völliger Unwissenheit stehen wir davor. Doch selbst als die Tränen auf ihre Hände tropften, oder vielleicht gerade weil ihr Fließen die furchtbare Spannung der Angst gelöst hatte, spürte Laura eine Erleichterung. Schließlich, so sagte sie sich, begegnen wir jeder großen Erfahrung mit Unwissenheit... Geboren werden, sich verlieben, ein erstes Kind gebären... Immer ist da zuerst die schreckliche Angst. In den wenigen Sekunden der Stille wurde ihr klar, daß sie fast alles auf neue Weise betrachten mußte. „Also wird es eine Bilanz sein.“ Und Laura entdeckte, daß sie sich in diesem Augenblick Mozart und Tschechow näher fühlte als ihren Schwestern. „Ich werde nicht so tun, als sei es nicht so. Es ist keine Zeit. Die Zeit, die mir noch bleibt, ist für die echten Beziehungen.“ Die echten Beziehungen? Die Frage rief so merkwürdige Antworten hervor, die ihr durch den Kopf schössen, daß sie sich wieder zurücklehnte und wartete, damit sich all das beruhigte oder ordnete. Es den Kindern sagen? Nein, noch nicht. Ben, der im fernen Kalifornien mit seiner Malerei kämpfte; Brooks, dem noch immer der Tod seines Vaters zu schaffen machte, dieser plötzliche Tod vor kaum drei Jahren; Daisy in New York mit ihrem Geliebten, die Überstunden arbeitete. Allerdings wußte Laura, daß sie es Brooks und Ann recht bald sagen mußte — sie wohnten nur eine Meile entfernt. Die Kinder... Über sie nachzudenken war nun das letzte, was sie wollte oder brauchte, obgleich sie sie natürlich im Stich ließ. Aber ich kann ja nicht alles heute klären, dachte sie. Familie. Niemand verlangt von mir, das heute klarzukriegen. Verfügungen treffen über das Haus, Dinge, Geld, Anwälte — oh je, sie hatte einzig und allein daran gedacht, mit Würde zu sterben, einen guten Tod zu schaffen, doch nicht an all die darin einbezogenen Dinge, die Entscheidungen! Morgen — nicht heute. Heute „die echten Beziehungen“.
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2 Was waren die echten Beziehungen? Bestürzt stellte sie plötzlich fest, daß sie sich eigenartigerweise nach ihrer Hochzeit verflüchtigt hatten, denn offenbar gab es für solch tiefes Kennenlernen weder die Zeit noch die Energie, wie sie sie in den intensiven Freundschaften ihrer Jugend gefunden hatte — besonders mit Ella, der unvergleichlichen Ella in jenem Jahr in Paris an der Sorbonne. Doch war allein Ella außergewöhnlich, so etwas wie ein geistiger Zwilling, oder beanspruchte das Leben als Erwachsene die großen Zeiträume, in denen solche Beziehungen florierten? Denn sie erforderten endlose, stundenlange Gespräche, und wann ist später schon Zeit? Als die Kinder klein waren und sie und Charles spätabends einen Augenblick miteinander ergattern konnten, hatten sie darüber gesprochen, wie sehr das Familienleben über Jahre hinaus alles absorbiert. Bestimmte Bemerkungen fielen ihr wieder ein: „Wir sehen kaum noch jemand.“ „Nicht mal für einen Brief habe ich Zeit.“ “Es ist fast wie auf einer einsamen Insel mit drei höchst tatendurstigen Irren.“ Sie hatten darüber gelacht und mit ihrem rituellen Schlaftrunk am Feuer gesessen, ehe sie ins Bett fielen und sich umschlangen, für jedes weitere Wort zu müde. Die ganze Innenwelt wird absorbiert, dachte Laura, da uns das Leben selbst von der Meditation zur Aktion zieht. Als Laura über all dies nachdachte, spürte sie ein Gefühl von Entbehrung. Und doch hatte sie, als die Kinder aus dem Haus gingen, sich fürs Lesen und Denken entschieden, war noch nicht einmal zu einem langen Besuch bei Ella nach England gereist, wie sie es sich vorgestellt hatte. Statt dessen hatte sie bei Houghton Mifflin eine Arbeit angenommen, zuerst Klappentexte geschrieben und
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Handlangerdienste verrichtet, dann Korrekturen gelesen und die letzten Jahre als Belletristiklektorin gearbeitet. Es war eine dankbare Arbeit gewesen, die ihren Kopf und ihr Herz weiterbrachte, und es hatten echte Beziehungen zu ihren Autorinnen und Autoren bestanden, intensive, solange sie dauerten, während an einem Buch gearbeitet wurde, doch keine dauerhaften, nichts, worauf beständig Verlaß war. In Wahrheit hatte es für Freunde und Freundinnen wenig Zeit gegeben. Charles arbeitete hart in der Bank und war oft zu Sitzungen in New York und Washington. Selbst wenn sie also zwei- oder dreimal die Woche zum Essen eingeladen wurden und Leute zu Besuch hatten, waren „echte Beziehungen“, so wie sie sie heute verstand, selten gewesen. In den letzten Jahren war Charles der einzige Mensch, mit dem sie ihr Leben auf tiefster und — gleichbedeutend — auf trivialster Ebene teilte; aber da er ein Mann war, gab es Bereiche ihres Seins, die sie nicht mit ihm teilen konnte. So konnte er beispielsweise nicht gut über Gefühle reden. Nur mit Ella hatte Laura, als sie jung waren, darüber sprechen können, warum es so schwer war, eine Frau zu sein, über ihre Ängste und Ressentiments, in einem Netz von Sinnlichkeit gefangen zu sein, das sie nicht wollten oder verstanden. Sexualität war zu jener Zeit ihres Lebens zu bedrohlich, ein zu großes Kuddelmuddel — Ellas Wort, „Kuddelmuddel“ — und manchmal der Anlaß zu Lachausbrüchen, wenn sie über ihre tolpatschige, peinliche Reaktion auf jeden Annäherungsversuch der Männer redeten, die sie zum Tanzen ausführten. Sie hatten darum gerungen, glaubte Laura, ein Identitätsgefühl zu bekommen, ehe sie von den Bedürfnissen und Begierden eines anderen mitgerissen wurden. „Warum will Ed mich küssen, wenn er mich nicht mal als Person kennt?“ sagte Ella damals empört. Und warum kehrten die Erinnerungen an jenes leidvolle Land der Unschuld jetzt mit solcher Kraft zurück? Denn sie waren fast unglaublich unschuldig gewesen, in keiner Weise darauf vorbereitet, ihrem Körper
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Lust abzugewinnen. Natürlich maß Sybille allen körperlichen Funktionen etwas Ekelhaftes bei. Alles unterhalb der Gürtellinie wurde ignoriert! Doch selbst als Laura nun darüber lächelte, wurde ihr die Aura der Sinnlichkeit, sogar Leidenschaft bewußt, die sie und Ella umgeben hatte, wenngleich sie sie nie auslebten außer in jenen euphorischen Küssen, bei denen sie so taten, als seien sie „ganz in Ordnung“. Darüber redeten sie nicht. Das wäre womöglich gefährlich gewesen. Die Sinnlichkeit war ein vergrabener Schatz geblieben, eine verborgene Welt, denn Ella hatte bald darauf geheiratet und Laura zwei Jahre in der Schweiz mit TB im Bett verbracht. Und dann hatte Charles, der liebe, sie schließlich Sybilles Einfluß entrissen, hatte sie befreit, ihr körperliche Lust geschenkt, sie endlich ins wahre Leben befördert. Als Charles starb, stellte Laura fest — und es war schmerzlich gewesen —, daß eine gute Ehe sehr vieles ausschließt; monatelang wurde sie lediglich das Überbleibsel einer anderen Person, das, was von „zwei zusammen“ übrigbleibt. Die Feststellung, daß Einladungen zum Essen immer seltener wurden und sie sich ohne Charles diese Mühe selbst nicht mehr machen wollte, hatte sie sehr getroffen. Monatelang quälten sie Verlust und Trauer, und sie kämpfte verzweifelt darum, mit dem klarzukommen, was von ihrem Selbst übriggeblieben war. Ohne die Kinder wäre es absolut trostlos gewesen — ohne ihre Schwester Daphne, die kam und einen ganzen Monat blieb, ohne Tante Minna, bei der sie Zuflucht suchen konnte, wann immer sie den Schmerz überschwappen fühlte. Damals begann Grindle auf ihrem Bett zu schlafen. Er ließ sich ziemlich schwer heben, aber er war knuddelig und gab ihr die physische Wärme, die sie am meisten brauchte. In jenen Nächten sehnte sie sich mit jeder Faser ihres Körpers nach Charles, warf und drehte sich in ihrem Bett herum, als fände sie nie wieder Ruhe, und der geduldige Grindle erhob sich, machte eine Drehung und plumpste mit einem wohligen Seufzer wieder neben sie. Manch-
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mal sprang Sasha durchs offene Fenster herein und kuschelte sich an ihre andere Seite. Manchmal schliefen sie dann alle drei, bis es dämmerte und Laura mit bleiernen Gliedern erwachte, sich fragte, wie sie den nächsten Tag überstehen sollte, Licht machte und jedwedes Manuskript las, das Houghton Mifflin ihr zur Bearbeitung gegeben hatte. „Was werde ich ihnen sagen?“ Seit Charles Tod ertappte sich Laura dabei, daß sie laut mit sich selbst oder mit Grindle redete. Sie arbeitete momentan an einem recht interessanten Buch, dem Roman einer jungen Frau, die mit einem heiklen, eindeutig autobiographischen Thema rang. Es ging um eine junge Lesbe, die sich mit dem Problem auseinandersetzt, mit ihren Eltern und deren feindseliger Einstellung zu ihrem Lebensstil klarzukommen. Laura hatte wirklich den Wunsch, dieser Autorin zu helfen, das Buch so gut wie eben möglich zu machen. Harriet Moors würde nicht leicht zu helfen sein, vermutete sie. Da gab es zuviel Leid, zu viele Konflikte. Und wäre denn Zeit? „Will ich eigentlich weiterarbeiten?“ fragte sich Laura. „Wie kann ich das wissen? Wie kann ich wissen, was werden wird?“ Vermutlich mußte sie sich entweder auf das Sterben zurückziehen oder ihr Leben, so gut sie konnte, leben, bis sie aufgeben müßte. „Sterben ist Leben, und Leben ist Sterben, Grindle.“ Ja, der Punkt war, das Unwesentliche aufzugeben, sich statt dessen fest ans Wesentliche zu halten — und Laura war sicher, einige Wochen lang ohne Wissen anderer ihren Weg verfolgen zu können. Sie hatte sich einige Tage freigenommen mit der Entschuldigung, sie habe irgendein Virus, und so hatte sie sich ja tatsächlich ihre Mattigkeit und das merkwürdige Erstickungsgefühl in der Brust erklärt. Nächste Woche würde sie wieder ins Büro gehen. Dieser Entschluß war leicht; mit dieser Stärke stand sie auf und machte sich ein Brot und eine Tasse Tee. „Es liegt alles in Gottes Hand, Grindle“, sagte sie, nahm einen
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Käsekeks aus der Packung für den Hund, der ihr in die Küche gefolgt war. Eben weil unsere Beziehungen zu Tieren so unkompliziert sind, sind sie ein solcher Trost, dachte sie. Keine neurotische Feindseligkeit und Wut in Grindles Augen; für ihn waren Käsekekse im Augenblick das A und O. Dies, so entschied Laura, sollte ein Tag solch unkomplizierten Daseins sein. Nach dem Imbiß führte sie Grindle aus, amüsierte sich wie immer über die Intensität, mit der er seiner Nase folgte, heftiges Bellen von sich gab, wenn er die Fährte eines Stinktiers oder Waschbären aufgespürt hatte und davonstob, die Schneewehen rauf und runter und wieder zu ihr, um ihr seine Neuigkeiten zuzubellen. Als sie heimkamen, war es fast drei, und das Licht wurde schon fahl, denn die Sonne tauchte hinter die Pinien am Feldrand. Im Haus war es dunkel, die Winterkälte kroch herein. Laura zündete das Feuer an, ehe sie an ihren Schreibtisch ging und Harriet Moors Roman hervorzog. In den Text vor ihr vertieft, hatte sie alles vergessen und schreckte auf, als das Telefon läutete. Es war Tante Minna, die fragte, was der Arzt gesagt hatte. Laura fühlte sich überrumpelt und außerstande, zusammenhängend zu antworten. „Kann ich rüberkommen, Tante Minna?“ gelang ihr die Frage, nachdem sie etwas über „nichts Ernsthaftes“ gefaselt hatte. „Natürlich, meine Liebe. Ich werde den Tee fertig haben, bis du hier bist. Zieh dich warm an, ja? Es ist kalt draußen.“ Niemand sonst erinnerte sie daran, sich warm anzuziehen, niemand sonst hatte sie als Kind schon gekannt, dachte Laura, während sie einen Schal um ihren Hals schlang und ihren Dufflecoat anzog. Und kein Haus sonst war so geblieben wie immer außer Tante Minnas weißes Landhaus hinter seinem Lattenzaun. Es sah den anderen Häusern an der Straße sehr ähnlich, und seine schlichten, verblichenen viktorianischen Samtsofas und Sessel, seine
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Sepiadrucke von Olivenhainen in Italien waren vielleicht denen in den anderen Häusern nicht unähnlich; doch der Geist, der dieses Haus erfüllte, war einmalig. Minna Hornaday, die Schwester von Lauras Vater, war immer eine Außenseiterin gewesen, der Sonderling in einer soliden, konservativen Familie, ihr Bruder, ein Beamter im Außenministerium, und sie eine sui generis politische Kraft ohne offizielle Position — „eine überzeugende Irre“, hatte ihr Bruder sie genannt, als sie sich für die League of Nations engagierte und später die League of Women Voters organisieren half. Schließlich wurde sie radikale Pazifistin und aktive Kriegsgegnerin in der Vietnamzeit. Tante Minna war mehr als ihre Aktivitäten, viel interessanter. Sie hatte eine Gabe für Freundschaften, mit Menschen jeden Alters in Kontakt zu treten, über die Grenzen von Alter, Sprache und Klasse hinweg mit allen spritzig und spontan zu kommunizieren. Sie besaß jene Frische, jene Lebensfreude, jene erwartungsvolle Unschuld, die das Terrain authentisch-genialer alter Jungfern charakterisieren. Erst seit ihrem achtzigsten Geburtstag ließ ihre Energie leicht nach. Sie trug inzwischen ein Hörgerät, aber ihre grauen Augen waren so durchdringend wie eh und je. Noch immer ging sie an guten Tagen zu Fuß in die Stadt, einen Stock in der Hand, mit dem sie entgegenkommenden Autos winkte, begeistert, daß sie ganz allein den Verkehr anhalten konnte. Noch immer widerstrebte ihr der Gedanke, sich eine ständige Hilfe ins Haus zu holen. Eine ältere Putzfrau kam zweimal in der Woche und besorgte die Wäsche und das Putzen, doch Minna erklärte, daß bereits der Gedanke, jemand schleiche den ganzen Tag durchs Haus und rege sich auf, wenn sie riskante Dinge täte, wie auf die Leiter steigen, um ein Buch aus dem obersten Regal ihres Arbeitszimmers zu holen, „innerhalb einer Woche einen Nervenzusammenbruch oder Mord herbeiführe“. Oft hatte Laura das Gartentor aufgestoßen und war mit einem Problem, das vielleicht nur Tante Minna verste-
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hen konnte, die Verandastufen hochgeeilt. Doch diesmal war es anders. Hinter der Pforte blieb sie eine Weile stehen, völlig ratlos, wie sie es Tante Minna sagen sollte — oder ob sie es überhaupt sagen sollte. Aber da öffnete sich die Tür, und Tante Minna rief: „Beeil dich, Laura, steh da nicht rum. Du wirst dir den Tod holen!“ Laura lächelte über diese Ironie und machte die Pforte hinter sich zu. Dann folgte das Getummel mit Mantelund Stiefelausziehen, das Bewundern des rosa Alpenveilchens — “von einem Verehrer“, sagte Tante Minna mit einem Zwinkern, „dieser Junge, der den Weg freifegt. Er ist sehr lieb, leiht sich Bücher und diskutiert gern“ — und das Platznehmen auf dem Sofa mit einer Tasse heißen Tee und einem Keks neben sich auf dem kleinen Tisch. „Du bist ganz außer Atem“, bemerkte Tante Minna, die sie scharf ansah. „Was hat dieser junge Dr. Goodwin gesagt? Er kommt mir wirklich schrecklich jung vor. Glaubst du, daß er seine Sache versteht?“ , Ja“, sagte Laura, froh darüber, das Thema nicht mit dem eigenen Gesundheitszustand einzuleiten, „ich glaube, er ist ein guter Arzt und human.“ „Diese Viren sind teuflisch. Offenbar hilft da nichts als Ruhe und Geduld. Doch wer kann heutzutage schon ruhen? Allerdings bist du sehr viel geduldiger als ich.“ Aber Laura konnte nicht antworten. Die Ungeheuerlichkeit ihrer Mitteilung ließ sie erstarren, sie fühlte sich blockiert und außerstande, sich davon zu befreien. Warum war sie nur hergekommen? „Es ist kein Virus?“ fragte Tante Minna und stellte ihre Tasse ab. „Nein, es ist Krebs in beiden Lungen, und er ist zu weit fortgeschritten, als daß eine Operation von Nutzen wäre. Kobaltbestrahlungen, äußerstenfalls, könnten die Sache ein paar Monate lang aufhalten. Dazu habe ich nein gesagt.“ Laura sagte diese Worte, ohne den Blick zu heben, sagte sie rasch und laut. „Mein liebes Mädchen...“
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„Nun ja, es ist ein sehr merkwürdiges Gefühl.“ „Du wirst dich doch nicht kampflos sterben lassen, nicht wahr? Kobalt kann Wunder bewirken. Warum hast du dazu nein gesagt?“ Dieser heftige Angriff kam unerwartet, und Laura reagierte mit Zorn. „Es ist mein Tod, Tante Minna, ich werde ihn auf meine gottverdammte Weise haben.“ Dann fügte sie hinzu: „Gottgesegnete hätte ich sagen sollen. Ich glaube, daß den Menschen ihr wahrer Tod gestattet sein sollte.“ „Geh nicht sanft in diese gute Nacht!“ Tante Minna war rot vor Aufregung, und ihre Stimme kippte ein wenig, als sie die berühmte Zeile wiederholte. „Es ist zu groß... zu bedeutend für romantisches Gefasel.“ „Ja, vermutlich ist es das.“ Es entstand eine lange Pause. Tante Minna trank einen Schluck Tee, dann: „Du solltest nicht todkrank sein. Ich sollte es sein. Es ist alles verkehrt. Es ist ein Fehler. Du bist erst sechzig, Laura!“ “Ja, aber...“ „Aber was?“ „Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen kann, aber als Dr. Goodwin mir die Dinge erklärte — übrigens tat er es sehr gut, ich bewunderte seinen Mut und Takt —, befiel mich einen Augenblick lang außerordentliche Erregung. Tod muß das andere große Abenteuer sein, der Durchbruch irgendwohin, wie es die Geburt ist. Ich war furchtbar aufgeregt, und als ich die Marlboro Street entlang zu meinem Wagen ging, sah jeder Ziegelstein und Baum so schön aus, daß ich es kaum ertragen konnte. Der blaue Himmel...“ Aber Tante Minna hatte sich entzogen. Ihre Augen waren geschlossen. Laura wußte nicht genau, ob sie zugehört hatte. „Das Problem ist, daß ich es nicht in Worte fassen kann.“ „Sprich weiter“, murmelte Tante Minna. Doch dann schlug sie ihre Augen auf, die sehr glänzten. „Du kannst gar nicht alles erlebt haben. Ich bin noch nicht bereit zu
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sterben. Ich will nicht, nicht im geringsten. Jeden Tag geschieht etwas, das ich um keinen Preis versäumt haben möchte.“ Laura konnte nicht anders als über die Intensität zu lachen, mit der diese Worte gesagt wurden. „Du bist einfach phantastisch. Und nun müssen wir nicht mehr darüber reden.“ „Oh doch, das müssen wir. Es scheint, als säßest du im Schnellzug zur Ewigkeit — und ich muß dir noch eine ganze Menge sagen.“ „Ich werde den Kindern vorläufig nichts sagen. Ich denke, daß ich noch einen Monat arbeiten werde oder zwei, aber“, sagte Laura leise, „ich möchte auch einfach nur sein. Nur das Licht auf der Wand betrachten. Musik hören. Die Sachen lesen, die ich lesen möchte. Das Unwesentliche ausschalten.“ „Du redest vom Leben, nicht vom Sterben.“ „Tu ich das?“ Laura war verblüfft. “Ja, vermutlich tu ich das.“ „Ich habe das Bedürfnis nach einem ordentlichen Schluck“, verkündete Tante Minna. „Du könntest die Flasche Brandy vom zweiten Regal in der Speisekammer holen und zwei kleine Gläser mitbringen.“ Als Laura in der Küche war, wurde ihr klar, daß sie einer alten Frau eine schlimme Nachricht überbracht hatte. Sie hatte an sich selbst gedacht, nicht an Tante Minna, an den Schock für sie, und war nun entsetzt über das, was sie getan hatte. Es war ja schön und gut, darüber zu reden, daß sie einen eigenen Tod haben wollte, doch in Wahrheit war das gar nicht möglich, denn der eigene Tod war unvermeidlich eine Bürde und ein Problem für alle anderen. Wir können nicht allein sterben. „Danke, Liebe. Laß uns einen kleinen Brandy trinken und vernünftig reden. Freilich bist du absolut heldenhaft tapfer.“ „Nein, nein, das bin ich nicht. Ich muß es nur als eine Reise sehen, aber da draußen in der Küche wurde mir klar, daß es keine Reise ist, die irgendwer allein machen
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kann — andere Menschen sind mitbetroffen. Und das ist schrecklich.“ „Zuerst einmal muß eine gefunden werden, die im Haus wohnt, kocht und so weiter. Mach das sofort, damit sie dich kennenlernt, bevor du wirklich krank wirst.“ „Ich will keine, die im Haus lebt. Da herumwuselt.“ Schon der Gedanke erzeugte Panik. „Wenn du es auf deine Weise machen willst, mußt du es jetzt planen.“ „Ach, Tante Minna, als ich beschloß, einen Winter in Paris zu verbringen, hast du genau dasselbe gesagt... Erinnerst du dich? Das war vor vierzig Jahren. Du hast mich überzeugt, daß ich zur Sorbonne gehen müßte, statt nur in Buchläden herumzustöbern. Natürlich hattest du recht.“ „Ich glaube nicht, daß Sybille meine Einmischung je verkraftet hat.“ „Ich habe mich immer gefragt... war das die Ursache für die Frostigkeit?“ „Womöglich. Ich ging direkt zu deinem Vater und überzeugte ihn, daß du intelligent genug seiest, dir dein eigenes Leben zuzutrauen. Heutzutage reisen ja die Kinder mit Rucksäcken durch ganz Europa, aber vor vierzig Jahren wurden junge Mädchen auf ihren Reisen nach Europa begleitet. Wirklich, daß Dwight zustimmte, war ganz erstaunlich.“ „Mama war schrecklich aufgebracht. Wir waren gerade im Begriff, nach all den Jahren des Herumziehens in unsere Heimat zurückzukehren. Sie fürchtete, wir würden nie im faden, alten Boston seßhaft werden. Und nur Jo wollte es wirklich. Sie stürzte sich ins Radcliffe wie eine Ente ins Wasser.“ Laura nippte an ihrem Brandy und sah in das Feuer. „Was war wirklich zwischen dir und Mama?“ „Ich weiß nicht.“ „Es gibt so vieles, das ich noch immer zu begreifen versuchen muß. Werde ich Mama je verstehen?“ „Mütter und Töchter... es ist nicht unbedingt eine sehr einfache Beziehung, nicht?“
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„Wie war deine Mutter?“ „Bewundernswert, gewitzt, neurotisch vermutlich... die absolut lebendigste Person, die ich je gekannt habe.“ „Warum sagst du dann, es war keine leichte Beziehung?“ „Ich habe mir zu viele Sorgen gemacht. Unser Vater — den du nicht gekannt hast — war ein strenger, ziemlich dummer Mann, und als Kind glaubte ich, meine Mutter sei ein eingesperrter Vogel. Ich fühlte, wie die Flügel gegen die Gitter in mir schlugen — ich übertrieb. Das ist eine der Gefahren, eine Tochter zu sein.“ „Warum Gefahr?“ „Das Kind weiß einerseits zuviel und andererseits zuwenig — Kinder haben es wirklich furchtbar schwer. Du, Jo und Daphne, ihr wart da keine Ausnahme.“ „Wir hatten das Glück, eine Tante zu haben.“ Laura fühlte sich plötzlich sehr müde, konnte aber den Gedanken nicht ertragen, nach Hause zu gehen, noch nicht jetzt. Hier war Wärme, die sichere Umgebung, Liebe. Sie spürte Tante Minnas Gegenwart ebenso warm wie den Brandy. „Sybille wäre vielleicht eine große Schauspielerin geworden“, grübelte Tante Minna. „Sie hatte das Auftreten, die Schönheit — oh ja, das Charisma! Wie sie ihre Kleider trug, das theatralische Timbre. Aber Menschen, die hinter den Kulissen agieren, sind problematische, problembeladene Leute, fürchte ich.“ „Glaubst du wirklich?“ „Ich weiß es.“ Tante Minna ließ keinen Zweifel. „Sie war so schön“, sagte Laura bedrückt. „Ihr alle drei habt sie auch, diese blauen Augen. Doch zu eurem Glück hat eure Schönheit nicht das fatale Charisma, nicht das, was größer ist als das Leben, das Unerreichbare, Göttinnengleiche. Ihr konntet menschlich sein.“ „Und doch frage ich mich, ob wir das je waren — oder sind. So viel Zorn, so viel Energie ging in die Revolte. Wir haben so lange gebraucht, um erwachsen zu werden — und vielleicht wird Daphne es nie.“ Laura stand auf und trat ans Fenster. Es war inzwischen dunkel, und sie sah nur die Spiegelung des Daches und sich selbst, so weiß
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und erschöpft, wie sie sich fühlte. „Nun bin ich sechzig und habe noch immer das Rätsel um Sybille nicht gelöst und werde es wohl nie.“ Sie küßte Tante Minna flüchtig. „Und es ist Zeit, daß ich heimfahre.“ „Wir haben noch nichts geregelt“, sagte Tante Minna mit tiefem Seufzer. Aber sie gab nicht auf. „Laura, du mußt dich einfach nach einer Haushälterin umsehen. Versprochen?“ „Ich werde darüber nachdenken.“ An der Pforte drehte sie sich um, winkte und sah, wie Tante Minna hinausspähte, ohne zu lächeln, kurz winkte, sich dann abwandte. Es war ein schlimmer Gedanke, daß sie nun allein war, eine Suppe aufwärmte, die Last dessen, was Laura ihr zu sagen gehabt hatte, tragen mußte. Es war kalt im Auto, und Laura zitterte. Ihr Heim schien Ewigkeiten weit fort durch den Schnee, doch in dem kleinen Kokon, einfach auf dem Weg und so gar nichts zu tun, nichts, das in ihrer Macht lag, im Bann eines Prozesses, über den sie keine Kontrolle haben konnte, außer ihm seinen Lauf zu lassen, spürte Laura, wie sie in einen großen Strom hinabsank — und entspannte sich. Der Wille konnte hier keine Rolle spielen. In letzter Zeit war ihr das Leben manchmal endlos vorgekommen, ein endloser Kampf — die Erregung, sogar Erleichterung, die sie gespürt hatte, als Dr. Goodwin ihr die Wahrheit über ihren Zustand gesagt hatte, kam vielleicht von der Tatsache, daß dieses gesetzte Limit ihr ein plötzliches Gefühl von Freiheit gab. Sie mußte sich nun nicht länger so abmühen. In gewisser Weise hatte sie Ähnliches während ihrer Schwangerschaften empfunden, stellte sie fest, daß sie es nämlich zur Abwechslung einmal dem Leben überlassen konnte — und nun konnte sie es dem Tod überlassen. Sie trug den Tod in sich, wie sie einst das Leben getragen hatte, wie der kleine Wagen sie trug, den sie fuhr. Heim.
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3 Laura wurde von Grindles weicher, feuchter Zunge, die ihre Hand leckte, aus einem Traum geweckt. Es war ein so schöner Traum gewesen, sie und Charles irgendwo unter Pinien, solch ein Traum von Wärme und Verbundenheit, daß sie die Rückkehr zu diesem frostigen Morgen haßte. Doch Grindle war hellwach und wollte nach draußen, also stand Laura auf, taumelnd, mit verklebten Augen, zog einen Morgenrock über und ging nach unten, der Hund polterte vor ihr her. „Nun aber hinaus, du ungeduldiges Tier.“ Die frostige Luft traf sie wie ein Schlag. Dieser Schmerz in ihrer Brust schien sich festzusetzen. Ich muß mich daran gewöhnen und einfach nicht darauf achten, dachte sie, und zweifellos würde heißer Kaffee schon helfen. Dann ging sie mit einer Tasse wieder ins Bett und ließ den Tag einsickern. Das graue Licht an den Wänden ging allmählich ins Bernsteinfarbene über, als die Sonne über die Bäume stieg. Da sie zum erstenmal einen Anflug von Panik spürte, beschloß Laura, ins Büro zu fahren und wenn möglich Harriet Moors zu treffen. Im Augenblick hatte sie das starke Gefühl, aktiv sein zu müssen, alles zu tun, was sie konnte, um die Panik abzuwehren. Nicht der Tod, sondern das Sterben löste die Panik aus, der jetzt in ihren Lungen seinen unaufhaltsamen Lauf nehmende Prozeß. Wie ging man damit um? Starb sie nun ganz oder nur ein Teil von ihr? Und konnte sie diesen Teil von sich gegen all die übrigen abschotten? Geist, Herz, was immer sie, die Person, sein mochte. Vorläufig könnte sie es, dachte sie. Sie ging zu ihrem Schreibtisch, suchte Harriets Nummer und rief an, denn sie glaubte sich zu erinnern, daß Harriet Moors einen Job
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hatte, und wenn dem so war, riefe sie wohl besser vor acht an. Harriet Moors klang zuerst recht zögernd und ängstlich, stimmte aber der Verabredung um halb zwölf bei Houghton Mifflin offensichtlich erfreut zu. „Was ist mit Ihrer Arbeit?“ „Ich kann die Mittagspause vorverlegen.“ „Ich kann ein Sandwich holen lassen, wenn's recht ist.“ Laura hatte nicht den Mut, Grindle auszuführen, ehe sie ging. Sie fürchtete, ihre geringen Energiereserven würden in dieser Kälte einfach dahinschmelzen. Schließlich hatte sie Jim Goodwinja aufgesucht, weil sie sich sehr komisch fühlte und an Gewicht verloren hatte. Natürlich fühlte sie sich nach der Diagnose körperlich nicht besser, und sie mußte sich heute morgen eingestehen, daß sie sich schwerlich vormachen konnte, sehr bald ein eigenes Leben zu führen. Warum also sich noch zusätzlich einer völlig Fremden annehmen, warum auf einer Begegnung mit Harriet Moors bestehen? Laura grübelte darüber nach, während sie durch Boston fuhr. Doch warum das analysieren? Ihrer Meinung nach war es ein interessanter Roman mit einem wichtigen Thema, ein bisher nicht angegangenes. Und sie hatte sich betroffen gefühlt, warum, wußte sie nicht genau — Ben, gewiß, und die Tatsache, daß er über sein Privatleben weder mit ihr noch mit Charles je geredet hatte... Sie alle hatten es fertiggebracht, ein gegenseitiges Eingeständnis der Wahrheit zu vermeiden. Sie fühlte sich ganz merkwürdig, als sie schließlich ins Büro kam und in ihren Sessel am Fenster sank, das auf den Park hinausging. War es erst vier Tage her, seit sie Dr. Goodwin von hier aus angerufen hatte? Ihr war, als käme sie von einer langen Reise zurück, der vertraute Park war plötzlich eine magische Szenerie, eine, von der sie geträumt hatte — auf dem Froschteich schlittschuhlaufende Kinder, die feinen Silhouetten der Ulmen gegen den Schnee, ein alter Mann, der selbst bei dieser Kälte auf seiner Bank die Tauben fütterte.
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„Wie geht's Ihnen?“ Dinah, die gemeinsame Sekretärin von ihr und Alan Price, sah herein, auf ihren Armen stapelte sich die Tagespost. Sie türmte einen Berg auf den Schreibtisch. „Miserabel. Ich fühle mich lächerlich schwach. Sie kennen ja diese Viren, wie beharrlich sie sind.“ „Was hat der Arzt gesagt?“ „Einige Wochen Schonung. Also werde ich soviel wie möglich zu Hause arbeiten.“ Laura fand es einfach, die Wahrheit zu verheimlichen. Es war kein Vorsatz gewesen, aber der beiläufige Ton erschien ihr angebracht. Zeit genug, die Arbeit über den Haufen zu werfen. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Post durchsähen, Dinah. Ich erwarte diese Harriet Moors in ein paar Minuten. Es wird wohl eine längere Unterredung, schätze ich, und danach werde ich heimgehen.“ „Sie hätten nicht herkommen sollen, Laura. Um Himmels willen!“ „Na ja, das Mädchen zittert um ihr Buch.“ Dinah schüttelte ihren Kopf. „Und das nennt sich nun ,Schonung'? Ich werde Ihnen jedenfalls mal eine Tasse Kaffee bringen.“ Laura konnte selbst dieses bißchen aufmerksame Freundlichkeit kaum ertragen. Sie wandte sich rasch ab und zog Harriet Moors Roman aus ihrer Aktenmappe, samt den Notizen, die sie gestern hingekritzelt hatte und von denen sie wie üblich einige ziemlich unleserlich fand. Doch sollte dies ja ohnehin keine Arbeitsbesprechung sein. Laura wußte aus Erfahrung, daß junge Schriftsteller allzu nervös waren, um in einem solchen Augenblick viel aufzunehmen. Später müßte sie ein Essen mit Alan oder Sally arrangieren, wer eben um die Übernahme gebeten werden könnte, wenn... Es klopfte, und Dinah kam mit zwei Tassen Kaffee herein und einer jungen Frau mit runder Pelzkappe, einem dünnen, kurzen Mantel, Jeans und hohen Arbeitsstiefeln. „Miss Moors“, sagte Dinah. „Kommen Sie doch herein. Setzen Sie sich, Miss Moors.“
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Während Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht wurden — Harriet Moors lehnte eine Tasse Kaffee ab —, musterte Laura die Besucherin eingehend. Sie hatte ein rundes, rosiges Gesicht, trug eine Brille und sah, zum Teil wegen des Pagenschnitts ihrer schwarzen Haare, schrecklich jung aus. Ihre Blicke trafen sich; Laura wurde ebenfalls gemustert, wie sie feststellte. „Nun ja“, Laura lächelte. „Wie alt sind Sie, Harriet? Ich darf Sie doch Harriet nennen?“ „Ich bin sechsundzwanzig.“ Laura lächelte wieder. „Sie sehen wie sechzehn aus, deshalb meine Frage. Und dies ist, wie ich annehme, ihr erster Roman?“ “Ja.“ „Es wird ein gutes Buch werden“, Laura trank rasch einen Schluck Kaffee und setzte die Tasse ab. Nichts schmeckte heute so richtig. „Ich kann's nicht glauben.“ Harriet wurde ganz rot, zog ein Papiertaschentuch heraus und putzte ihre Brille. „Es war ein solches Ringen, fast zwei Jahre lang. Halten Sie es für schlecht, über etwas zu schreiben, das man gerade lebt? Das war das Schwerste — es veränderte sich, weil ich mich veränderte.“ „Hier und da stören mich kleine Unstimmigkeiten, aber die sind leicht zu bereinigen.“ „Wenn es je herauskommt, muß es unter Pseudonym sein“, sagte Harriet jetzt stirnrunzelnd, da sie sich plötzlich damit konfrontiert sah, wie Laura bemerkte, so vieles von sich preisgegeben zu haben. Laura schaute auf den Park hinaus und spielte mit einem Bleistift. „Das müssen Sie entscheiden.“ Doch warum hinterm Berg halten? „Wenn Sie allerdings eine ernsthafte Schriftstellerin sein wollen, glaube ich, können Sie nicht umhin zu akzeptieren, daß Sie absolut ehrlich sein müssen — sich hinter einem anderen Namen zu verstecken kommt mir wie ein Ausweichen vor.“ „Aber meine Eltern — sie würden es mir nie verzeihen.“
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„Ich weiß. Das ist das Problem eines jeden Schriftstellers. Es kann qualvoll sein.“ „Ich bin nicht sicher, ob ich den Mut habe, mich zu bekennen, Mrs. Spelman.“ Harriet brach der Schweiß aus, und wieder putzte sie ihre Brille. „Vielleicht unterschätzen Sie Ihre Leserschaft.“ „Waren Sie denn nicht schockiert?“ fragte Harriet gepreßt. „Warum sollte ich?“ „Ich meine, schließlich...“ „Schließlich bin ich hundert Jahre alt?“ Hier brachen beide in Lachen aus. „Nein, aber... na ja, was für ein Gefühl hätten Sie, wenn eins Ihrer Kinder...“ „Mein ältester Sohn, ein Maler, ist homosexuell.“ Als Laura das Wort aussprach, wurde ihr klar, daß sie das noch nie jemand offen erzählt hatte. „Hat er es Ihnen gesagt?“ „Wir haben nie darüber gesprochen, doch seit seiner Vorbereitung aufs College schrieb er mir immer über die tollen Freunde, die er hatte, lyrische Briefe über die Bedeutung der Liebe, philosophische Briefe über Leidenschaft, die nicht von Dauer war.“ „Erstaunlich.“ „Daß er mir so etwas schrieb oder daß wir nicht nachgefragt haben?“ „Ich weiß nicht.“ Harriet schien irritiert. „Hm, eins der Dinge, die mich an Ihrem Buch etwas stören, ist, daß die Eltern allzu platt wirken, wie Karikaturen.“ „Aber meine Eltern sind so!“ „Sind Sie das wirklich? Beim Lesen hatte ich manchmal das Gefühl, Sie überziehen ihre Reaktion. Hier und da wurde es mir zuviel. Komm, komm, wollte ich sagen, kannst du nicht mal versuchen, ihr Dilemma zu begreifen und ihre Qual, ihnen etwas Zeit lassen? Aus schriftstellerischen Erwägungen zumindest. Es würde Ihrem Buch mehr Überzeugungskraft und weniger von einem schlichten Ge-
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nerationskonflikt geben — und Ihre Eltern müssen schließlich, für meine Begriffe, ziemlich jung sein, so Ende Vierzig?“ „Meine Mutter ist achtundvierzig und mein Vater zweiundfünfzig. Sie sind keine Intellektuellen, Mrs. Spelman. Mein Vater hat einen Lebensmittelladen, meine Mutter ist nie aufs College gegangen, und sie haben von all diesen Dingen keine Ahnung. Ich hätte ihnen ebensogut sagen können, daß ich Lepra habe!“ „Ja... ich begreife, daß es eine Menge Mut erfordert, dieses Buch zu veröffentlichen. Aber warum haben Sie es ihnen gesagt? Wenn ich Sie das fragen darf?“ Denn Harriet war bei der Frage rot geworden und schüttelte den Kopf. „Reden wir wieder über das Buch als Roman. Wie ich bereits sagte, halte ich es für ein interessantes Thema und für veröffentlichenswert, allerdings finde ich, daß es einer Überarbeitung bedarf, eines Überdenkens. Die Eltern als komplexe Menschen kommen nicht genug heraus, um wirklich glaubwürdig zu sein. Vielleicht könnte es zwischen ihnen mehr Spannung geben?“ „Ja“, Harriet nickte. „Übrigens, woher wissen Sie das alles?“ „Ich habe schon ein langes Leben hinter mir, und ich gehöre zu einer großen Familie, einer großen, exzentrischen Familie, könnte man vermutlich sagen. Meine ältere Schwester zum Beispiel hat sich nie in einen Mann verliebt und kann nicht mal sich selbst eingestehen, daß sie viele Male in Frauen verschossen war. Meine Mutter ist dafür verantwortlich — sie brachte eine frühe Liebesbeziehung ziemlich brutal auseinander.“ „Eine Liebesbeziehung mit einer Frau?“ „Ja.“ „Also war sie wie meine Eltern!“ „Ganz und gar nicht. Meine Mutter hatte immer Verständnis — oder so glaubte sie jedenfalls. Sie überzeugte Jo lediglich, daß die betreffende Person eine Ausbeuterin war.“ „Und Jo ließ sich überzeugen?“
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„Jo war zutiefst verunsichert. Das alles war vor langer Zeit, in Europa.“ „Mein Buch spielt jetzt und in den USA“, sagte Harriet sehr aggressiv. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich Änderungen vornehmen will.“ „Natürlich müssen Sie darüber erst nachdenken, und falls Sie einverstanden sind, würde ich es gern einem jungen Mann vom Lektorat zum Lesen geben, und anschließend könnten wir uns vielleicht zusammensetzen und noch einmal darüber reden.“ Harriet runzelte die Stirn. „Soweit bin ich noch nicht.“ „Ich wollte Sie nicht in Bedrängnis bringen. Vielleicht habe ich zuviel gesagt.“ „Nein, bitte, sagen Sie etwas über das andere. Sie bemerkten gerade, ,eines der Dinge, die mich stören'.“ „Es geht darum, den Leserinnen und Lesern einsichtig zu machen, daß diese Beziehung zwischen den beiden jungen Frauen echt und tief ist. Sie gehen immer drum herum, vermitteln uns alles Periphere, doch führen uns nie zum Kern.“ „Ich kann nicht über Sexualität schreiben.“ „Sexualität meine ich nicht. Das funktioniert in Wahrheit vielleicht überhaupt nicht, selbst wenn Sie es könnten. Was wir brauchen, ist die Überzeugung, hier handelt es sich um eine möglicherweise dauerhafte Beziehung, die so wichtig ist, daß Perry und Joan darüber mit Joans Eltern und Perrys Mutter reden müssen.“ „Selbstverständlich. Ich dachte, das hätte ich klargemacht.“ , Junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben solche Angst, sich klar zu äußern, daß sie dem Leser sehr häufig einfach nicht genug erzählen.“ „Ich dachte, das hätte ich... diese Szene am Strand...“ „Würden zum Beispiel Ihre Eltern verstehen, was dort wirklich vor sich ging, wenn sie es lesen und es nicht Ihr Buch wäre?“ Harriet lachte. „Ich glaube nicht.“ Dinah sah jetzt besorgt herein. 29
„Es ist alles in Ordnung, Dinah.“ Als sich die Tür wieder schloß, erklärte Laura: „Ich habe mir einen dieser tückischen Viren zugezogen, die so beharrlich sind. Dinah fürchtet, daß ich zusammenklappe.“ „Ich werde lieber gehen“, sagte Harriet — mit Erleichterung, dachte Laura, als sie zusah, wie sie ihre Tasche im Aufstehen über ihre Schulter schwang. „Ich bin den ersten Tag wieder hier, und ich fühle mich ziemlich klapprig. Sie sind doch hoffentlich nicht deprimiert? Habe ich zuviel gesagt? Das ist immer die Gefahr, die Gefahr zu versuchen, das Buch von jemand anders zu schreiben.“ „Ich muß erst einmal nachdenken“, sagte Harriet. „Ich glaube, ich hatte gehofft, daß die Arbeit abgeschlossen wäre — es ist ganz schrecklich, noch einmal darangehen zu müssen.“ „Warum geben wir es nicht Alan zum Lesen und warten ab, was er sagt? Vielleicht irre ich mich total.“ „Ich habe Angst vor Alan.“ „Er ist wirklich ein Lieber, außerdem ein scharfsinniger und wohlwollender Leser. Und er ist viel jünger als ich. Ich habe so eine Ahnung, daß er helfen kann.“ „Na gut“, sagte Harriet zögernd. Das Telefon auf Lauras Schreibtisch klingelte, und sie nahm ab, während Harriet ziemlich verlegen an der Tür stand. „Ja, Laura Spelman hier... Tut mir sehr leid, aber ich war vergangene Woche nicht im Haus. Ich werde mich sobald wie möglich mit Ihnen in Verbindung setzen... Nein, ich halte Sie nicht hin. Auf Wiederhören, Mr. Winter.“ Laura knallte den Hörer auf. „Was für ein ungehobelter junger Mann.“ „Ich hatte mehr Glück.“ Harriet lächelte. „Ihres ist kein siebenhundert Seiten langer historischer Schmachtfetzen!“ Durch den Dämpfer für Winter offensichtlich aufgemuntert, sagte Harriet: „Dann auf Wiedersehen... und Sie werden mich wissen lassen, was Alan meint.“
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„Auf Wiedersehen und keine Sorge. Lassen Sie es sich setzen.“ Die Tür schloß sich. Laura saß da und sah aus dem Fenster. Sie fühlte sich wirklich müde, aber auf nicht unangenehme Weise, als triebe sie über dem Stadtpark in einem Traum dahin. Wäre sie in der Lage, Harriet beizustehen, ehe...? Nun, sie hatte nicht die Wahl. Das Mädchen war ihr sympathisch gewesen. Harriet Moors hatte tatsächlich zugehört und die Kritik bereitwillig angenommen. Kein Geschrei und Lamento über das Große Unantastbare Werk, wie Laura es von mehr als einem Anfänger zu hören bekommen hatte. Harnet hielt sich zweifellos nicht für ein Genie, und das war ein gutes Zeichen. Zu schade, daß ich die Bestellung der Sandwiches ganz vergessen habe, dachte Laura... Doch auch dabei beließ sie es. Außer eine Weile nur dazusitzen, erschien ihr alles zu anstrengend. Und so ließ sie sich treiben, außerstande, die Erinnerung an Jo zu verdrängen, in jenem Sommer in Genua, Jo, die sich stundenlang in ihrem Zimmer eingeschlossen und Jazzplatten gespielt hatte, und an ihre Mutter: flammendes Schwert der Gerechten, das ein Leben entzweischlug — so war es Jo vorgekommen — ohne Skrupel. Warum hatte ihr Vater nicht eingegriffen? Aus dem einfachen Grund, so glaubte Laura, weil Sybille auch ihn von dem „schlechten Einfluß“ der wilden Alicia überzeugt hatte, der zum Besten aller beseitigt werden mußte. Hegte sie je einen Zweifel, fragte sich Laura, hatte Sybille in späteren Jahren je darüber nachgedacht, ob sie nicht in Wahrheit eher Jo als die fatale Alicia gemordet hatte? Denn Alicia, die ungestüme, schöne Alicia, war ihrer Wege gegangen, hatte wochenlang Tränenströme vergossen und sich dann ohne Zweifel in jemand anders verliebt. Am Ende hatte sie schließlich geheiratet, in die römische Aristokratie eingeheiratet. Jahre später war Laura ein Foto von ihr auf einem Wohltätigkeitsball in die Hände gefallen, sie sah betörend aus wie eh und je; die wievielte kurze Episode in ihrem Leben Jo wohl inzwischen war? Doch für Jo war es wie eine lange Krankheit gewesen, über die sie sich
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niemandem anvertraute; und als sie vorbei war, hatte sie offensichtlich entschieden, daß leidenschaftliche Liebe einfach zu qualvoll war und sie nie mehr zuließe, je wieder so viel zu empfinden. Sybille nannte sie „meine kleine Eule“ und verschiffte sie nach Radcliffe, wo sie mit summa cum laude abschloß und danach ihren Doktor in Angriff nahm, in die akademische Welt eintauchte, ohne jeden Zweifel, daß sie dort hingehörte. Sie stürzte sich auf die Arbeit wie ein Alkoholiker auf die Flasche, brillant, effektiv — und kalt. Macht schien ein befriedigender Ersatz für Liebe zu sein, in ihrem Fall. Hatte Sybille das nie bemerkt? Sie schien so stolz auf Jo zu sein, dermaßen stolz, daß sie auf Laura und ihre allzu banale Ehe und ihr Vorstadtleben insgeheim herabsah. Mütter und Töchter, nicht die einfachste Beziehung, rief Laura sich ins Gedächtnis zurück. Denn schließlich hatte auch sie eine Tochter, die aufrichtige, unlenkbare Daisy! Und nun, in ihrem Schwebezustand, sah sie sie nebeneinander — Sybille, Laura, Daisy — eine irritierende Reihe. Zumindest konnte sie sagen, daß sie Daisy nie unter Druck gesetzt hatte, eine Liebesbeziehung aufzugeben, ins College zu gehen oder etwas anderes zu tun, als Daisy wollte. Daisy wollte einfach überhaupt nicht zur Familie gehören, ging Mitte der sechziger Jahre mit einem Rucksack von zu Hause weg, um Amerika zu entdecken, wie sie erklärte. Sie hatte als Serviererin in Montana gearbeitet, war dann nach Seattle weitergezogen und schließlich nach New York zurückgekehrt. In zehn Jahren war sie dreimal heimgekommen, voll von wunderbaren Geschichten über ihre Abenteuer, ihre stets kurzen Liebesaffären und ihre Entschlossenheit, von jeder Verpflichtung frei zu sein. Sie war nach Hause gekommen, um Auseinandersetzungen über sich ergehen, sich ein wenig verwöhnen, mit Stiefeln und Jeans und einer sauberen Jacke ausstaffieren zu lassen, und dann war sie wieder gegangen. „Was ist sie denn?“ sagte Charles. „Ein Tramp! Unsere Tochter ist ein Tramp!“ 32
Laura hatte immer gesagt und geglaubt, daß Daisy schließlich seßhaft würde, und in gewisser Weise war es auch so. Sie lebte jetzt mit einem Mann zusammen, den sie während seines Medizinstudiums durchfütterte, indem sie als Sekretärin in einem Architekturbüro arbeitete. Es entsprach zwar nicht unbedingt Sybilles Vorstellung von einem Lebensstil, doch hatten Sybille und Daisy komischerweise ein gewisses intuitives Verständnis füreinander und akzeptierten sich gegenseitig. Daisy war außer sich gewesen, als die Familie gemeinsam beschloß, daß Sybille in ein Pflegeheim müsse. Sie war übers Wochenende nach Hause gekommen, um gegen Laura und ihre Schwestern zu Felde zu ziehen, und hatte eine schrecklich peinliche Szene gemacht. „Warum kannst du sie nicht zu dir nehmen? Es ist ein großes Haus!“ hatte sie gebrüllt. „Warum kann Tante Jo sie nicht zu sich nehmen? Tante Jo ist noch nicht mal verheiratet.“ „Sie weiß doch gar nicht, wo sie ist“, hatte Jo geantwortet. „Du verstehst das nicht. Deine Großmutter ist inzwischen nicht ganz bei sich, nicht sie selbst. Sie braucht eine Krankenpflege.“ Käme Daisy jetzt wegen der eigenen Mutter nach Hause? Natürlich nicht, sagte sich Laura. Ich würde es auch gar nicht wollen. Sich so auf diese spezielle Konstellation — Sybille, Laura, Daisy — hintreiben zu lassen war nicht klug gewesen, es war zu kompliziert, alles zu ungeklärt. Wenn Sterben bedeutet, sich von ihrem ganzen Leben zu befreien, so fragte sich Laura zum erstenmal, ob sie wohl den Mut dazu hatte. Es ist einfach nur so, daß ich müde bin, dachte sie, und lieber heimfahren sollte zu Grindle und Sasha — diese beiden Lebewesen außerhalb jeder Erinnerung und Zeit, die sie in die ewige Gegenwart zurückbrachten, die Gegenwart von Heiligen und Tieren. Ja, sie würde den Wälzer dieses jungen Mannes mitnehmen und sich für den Rest des Tages nicht mehr rühren. Mit praller Aktenmappe hielt sie bei Dinahs Büro. „Dinah, ich gehe nach Hause.“
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„Um Himmels willen, legen Sie sich hin, Laura. Sie sehen furchtbar bleich aus.“ „Mich schafft aber auch alles. Es ist zu dumm.“ „Vielleicht sollten Sie eine Hilfe haben, eine, die sich eine Woche oder so um Sie kümmert.“ „Oh nein“, sagte Laura leidenschaftlich wie ein Kind, das um Erlaubnis bettelt, noch eine Stunde lang aufbleiben zu dürfen. „Das könnte ich nicht aushalten.“ „Na, dann lassen Sie mich wenigstens diese schwere Tasche zu Ihrem Wagen tragen.“ „Danke.“ Zu ihrer Überraschung war Laura für das Angebot dankbar, und ihr dämmerte, daß dies der Anfang von etwas war, das sie würde lernen müssen, nach und nach — Hilfe anzunehmen, abhängig zu sein.
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4 Laura machte sich einen Eierflip mit einem Teelöffel Brandy darin — ein Abklatsch von Tante Minnas — und legte sich hin; plötzlich war sie so müde, daß sie kaum das Glas heben konnte. Grindle war draußen, enttäuscht, daß sie keinen Spaziergang vorgeschlagen hatte, wie sie es normalerweise tat. Er wird sich daran gewöhnen müssen, dachte sie, erst weniger Spaziergänge und dann gar keine. Wäre dieser tödliche Winter nicht, hätte sie Laurie, ihre Enkelin, bitten können, nach der Schule herüberzuradeln und ihn auszuführen, aber die Straßen waren nun zu gefährlich. Obendrein hatte sie Brooks und Ann nicht einmal gesagt, daß sie krank war. Jetzt würde sie hier ruhig liegen und vielleicht später an dieses Manuskript gehen. Sasha sprang herauf und weckte Laura aus einem Dämmerschlaf. Sie hatte es auf einen ausgiebigen Milchtritt und ein Lager auf Lauras Brust abgesehen, doch das Gewicht war bedrückend; also schob Laura sie sacht beiseite, nahm einen Schluck von dem Eierflip und ließ ihren Blick durch das vertraute Zimmer schweifen, über die Bücherregale mit den zinnoberroten Kanten, über den Eckschrank, den Charles ihr gleich nach ihrem Umzug nach Lincoln zum Geburtstag geschenkt hatte und der verschiedene Schätze barg: blaue Perlen aus Griechenland; eine Miniaturnachbildung des Schlößchens, das Sybille für die Weihnachtsferien gemietet hatte, als sie in Genua wohnten; einige wunderschöne chinesische Teller, die Laura zugefallen waren, als die drei Töchter das Haus ihrer Mutter am Beacon Hill auflösten, sowie die kostbare dunkelblaue Orientbrücke. Lauras Blick ruhte eine Weile dankbar auf all dieser Schönheit und Ordnung. Dann bellte Grindle, um hereingelassen zu werden; Sasha sprang herab, da sie 35
keine Störung liebte. Als Laura die Tür öffnete und Grindle mit wedelndem Schwanz und sanften Schlappohren hereinstürzte, blies ihr eine volle Brise kalter Luft entgegen. Ob es das war oder etwas anderes — jedenfalls schlug ihre Stimmung drastisch um. Zum erstenmal seit ihrem Besuch bei Dr. Goodwin ergriff Panik von ihr Besitz; sie kniete sich hin, um den Hund zu umarmen, überwältigt vom Abschied — wann? Wieviel Zeit hatte sie noch? Und wie könnte sie bereit sein? „Oh, Grindle“, sagte sie, als sie aufstand, „es ist eine einsame Sache, das Sterben.“ Sterben — bei diesem Wort brach sie in Tränen aus. „Wie werde ich es je schaffen, Grindle?“ Und was wäre, wenn Kobalt oder Chemotherapie ihr ein paar Monate Aufschub gewährte? Laura stand am Fenster, sah die Schatten der Bäume auf bläulichem Schnee und schüttelte den Kopf. Nein... nein... nein... ermahnte sie sich. Es war nicht der Tod, den sie fürchtete, nicht der Tod, der dieses Zittern in ihren Gliedern hervorrief, sondern das Sterben. Einem Impuls folgend ging sie zum Bücherregal und suchte nach George Herberts Gedichten. Vor Jahren hatte sie sie zuletzt gelesen, vor Jahren, als Lyrik noch ein lebendiger Teil ihres Lebens war. Sie schlug das zerfledderte Buch auf, das sie lange vor ihrer Heirat in London gekauft hatte. Ich werde jammern und doch loben, So akzeptiere ich und klage: Und alle bittersüßen Tage Werd' lamentieren ich und lieben. Diese Klarheit, wie reines Quellwasser! Und auch dieser Schmerz, denn Herbert hatte eine so enge Beziehung zu seinem Gott und konnte diese liebevollen Argumente, diese Lobpreisung aus der tiefsten Überzeugung vorbringen, daß jemand sie erhörte.
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Erfindungsgabe raste; Vergleich, mach dich davon; Verstand, nutz Deinen Willen: Nicht einmal die geringste Von allen Gnaden Gottes, denk' immer ich im stillen. Mit dem offenen Buch in ihrem Schoß legte sich Laura hin, las da und dort die vertrauten Gedichte, vertraut und fremd. Als sie Kinder waren, hatte ihre Mutter ihnen mit Begeisterung Gedichte vorgelesen, ebenso allabendlich mit jedem Kind gebetet. Doch war Sybille wirklich gläubig? Oder war sogar dieses inbrünstige Gebet eine Szene, die sie spielte? Menschen meiner Generation, dachte Laura, lebten in einem leeren Universum, je riesiger es wurde, desto mehr fürchteten sie sich, und die Vorstellung eines persönlichen Gottes wurde fast unakzeptabel. Statt dessen machte sich der vage Gedanke breit, daß der Kosmos rational war — jeder Teil der Schöpfung, von der Amöbe bis zum Menschen, war Teil eines Plans, der unser Wissen oder unsere Vorstellung weit überstieg. Man konnte glauben, daß man ein organischer Teil des Universums war, und eben deshalb empfand sie so stark das Gefühl, daß der Mensch in seinem Bestreben, in den Lauf einzugreifen, den Plan zu eigenen Zwecken zu verändern, fehlging. Aus diesem Grund, so wurde ihr plötzlich klar, hatte sie Dr. Goodwin mit solcher Leidenschaft erklärt, daß sie ihren eigenen Tod wünschte. Sie wollte Teil eines natürlichen Prozesses sein — ungehindert. Aber war Krebs natürlich? Wenn Charles doch nur lebte und wir darüber sprechen könnten. Charles hatte eine direkte Art, den Dingen auf den Grund zu gehen; nichts von diesen intellektuellen Ergüssen, in denen sich Sybille erging. „Deine Mutter ist eine Sirene“, hatte er manchmal gesagt, „eine sehr phantasievolle, undisziplinierte Sirene... und vielleicht sehr gefährlich, denn sie glaubt ihren Gesang, den sie von sich gibt.“ Charles war Sybille mit leicht amüsierter Achtung begegnet, und sie waren gut miteinander ausgekommen.
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Laura riß sich aus diesen Gedanken, indem sie ihre Aktenmappe öffnete. Sie warf einen Blick auf das dicke Manuskript und legte es auf einen Stuhl. In dieser Sekunde des Entsetzens und Zurückschreckens vor einer Mühe, der sie sich nicht unterziehen wollte, beschloß sie, es gar nicht erst anzufangen. Sie würde irgendeine Entschuldigung vorbringen. Denn was immer das Sterben an Krebs auch bedeuten mag, dachte sie, bedeutet es sicher nicht, daß ich jetz t all das tun muß, was aus reinem Pflichtgefühl getan wird. Liegen und schauen, wie das Licht die weißen Wände sprenkelte, war von Bedeutung. Das Gespräch mit Harriet war von Bedeutung gewesen — und Laura war froh, daß sie es zustande gebracht hatte. Es war von Bedeutung, weil die Liebe zu einer Frau in ihrem Leben, so wie in Jos, zutiefst eine Rolle gespielt hatte. Harriets Offenheit, wie sie sich mit all dem, was sie beutelte, in einem Roman herumschlug, war relevant. Es hatte intensive Erinnerungen aufgerührt, so vieles, das geklärt werden mußte. Laura ging zu ihrem Schreibtisch und zog drei dicke Bündel von Ellas Briefen hervor, die mit Kordeln verschnürt waren; dann saß sie da, vor sich die Briefe und band sie nicht auf. Sie mußte es tun, früher oder später, doch für heute schob sie sie beiseite, warf lediglich einen raschen Blick auf die rasante Handschrift, eine Schrift, als käme die Feder den rasenden Gedanken und Gefühlen nicht schnell genug nach. Ellas zierliche Gestalt in einem blaßblauen Mantel, den ihre Mutter ihr für Redfern in Paris gemacht hatte — wie Laura damals Ellas Stil bewunderte! —, tauchte so lebhaft vor ihr auf, daß es gar nicht nötig war, auch nur einen Brief zu öffnen. Ella war die geborene Wissenschaftlerin, und das war ich gewiß nicht, fiel Laura ein. Während Ella eisern arbeitete — oft brannte noch nach Mitternacht bei ihr Licht —, kam Laura aus dem Theater oder Konzert in die Pension zurück, nachdem sie lange Strecken allein durch die Pariser Straßen spaziert war, rannte dann die Treppe hinauf und klopfte an Ellas Tür. Sie schürten das Feuer. Sie setzten sich auf die Kissen am Boden und redeten manchmal bis
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zum Morgengrauen, sprachen über ihre Eltern, ihre Schwestern oder Brüder (Ella hatte damals zwei Brüder in Oxford), über Dostojewski, den sie gerade entdeckten, stellten Vergleiche zwischen Shakespeare und Racine an, redeten über Proust, den Laura mit der Besessenheit eines Süchtigen nach seiner Droge las, diskutierten über Theater, das in der Zeit von Dullin, Marguérite Jamois, Pierre Renoir, Lugné-Poe ein reichhaltiges Oeuvre bot — und am meisten redeten sie über das, was sie sein und mit ihrem Leben anfangen wollten. „Ich werde nicht heiraten“, hatte Ella erklärt, doch war sie es, die schließlich zuerst heiratete — und Jahre später fand, es sei ein Fehler gewesen, sie sei auf ihre Brüder und deren heimliche Freuden im Leben so eifersüchtig gewesen, daß sie einen ihrer Freunde geheiratet hatte, zum Teil um in die Männerwelt zu gelangen, als eigenständige Person anerkannt zu werden, und statt dessen das Gefühl bekommen hatte, immer und ewig nichts als Hughs Frau zu sein, die Frau eines OxfordDozenten. Laura erinnerte sich noch daran, wie verloren sie sich als Brautjungfer bei der Hochzeit vorgekommen war und wie sehr sie sich in der kleinen Kapelle in Fernwall, dem Familienbesitz in Kent, als Außenseiterin empfunden hatte. Ich werde nie darüber hinwegkommen, hatte sie damals gedacht, es wird nie wieder dasselbe sein, jetzt, da Ella verheiratet ist. „Ist weg und hat geheiratet“, lautete ihre Redensart, als hätte sich Ella zum Mond abgesetzt! Als sie dann mit den anderen dastand und den Wagen abfahren sah und vielleicht ein bißchen zuviel Champagner getrunken hatte, floh sie in ihr Zimmer und weinte, wünschte sich sehnlich, Ella in die Arme zu schließen und so umfassen zu können, wie ihr Mann es jetzt täte, und sie für immer zu behalten. Das Telefon läutete, die gebieterische Gegenwart rief sie zurück, und sie vernahm Tante Minnas Stimme. „Oh, Tante Minna, Liebe...“ ,,Du klingst ganz weit weg.“ „Nun ja“, Laura lachte, „ich hatte, was man so als blaue
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Stunde bezeichnete, warum ,blau', weiß ich nicht mehr.“ „Und das bedeutet was?“ „Es bedeutet, daß ich hier an meinem Schreibtisch saß und an Ella Worthington zurückdachte. Ich möchte, daß sie weiß, was mit mir ist — du und sie und vorläufig niemand sonst.“ „Ich habe heute morgen versucht, dich zu erreichen. Aber es kam keine Antwort.“ „Ich war im Verlag und hatte ein langes Gespräch mit einer jungen Frau, die einen recht guten Roman geschrieben hat.“ „Ich fühle mich deprimiert“, erklärte Tante Minna ziemlich unwirsch. „Ich habe dich aus der Fassung gebracht, nicht wahr? Es tut mir sehr leid.“ „Aus der Fassung gebracht? Es war ein Erdbeben. Ich habe kein Auge zugetan.“ „Oh je! Wäre es dir lieber, ich hätte dir nichts gesagt?“ „Natürlich nicht. Ich kann's einfach nicht akzeptieren und will's auch nicht.“ Laura fühlte sich außerstande, momentan über irgend etwas zu debattieren, und schnitt das Gespräch abrupt ab, indem sie sagte, daß sie Ella schreiben wollte und vor dem Abendessen zurückriefe. Die anderen Menschen waren das Schwierigste von allem, doch kam zumindest Tante Minna spontan mit dem heraus, was sie fühlte, rückhaltlos. Laura lächelte. „Ich sage ihr, daß ich Krebs habe, und sie nimmt es als persönlichen Affront.“ Aber das war gesund. Laura hatte manchmal das Empfinden, als sei das einzige, was das Leben von uns fordert, uns unserer Gefühle bewußt zu sein und damit herauszukommen. Eine Übertreibung? Vielleicht, aber sie war zu der Überzeugung gelangt, daß Sybilles Destruktivität, ebenso wie ihre Kraft, von der Unkenntnis ihrer wahren Gefühle herrührte. Als sie sich so brutal Alicia gegenüber verhalten hatte, war es nicht deshalb gewesen, weil sie selbst Angst davor hatte, sich zu Frauen hingezogen zu fühlen? Denn Sybille hatte ihr Leben lang leidenschaftli-
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che Freundschaften gehabt, sowohl mit Männern als auch mit Frauen — leidenschaftlich im Kopf. Die treue Gattin in Person, die nichtsdestoweniger mit „Freunden“ gefährliche Spiele spielte, eine Reihe bezaubernder, berühmter Männer und Frauen, die sie in ihren Bann schlug, jede von ihnen für ein oder zwei Jahre die große Persönlichkeit, die gefeiert und unterhalten und zu langen Privatgesprächen eingeladen wurde — zudem ziemlich blind für die zynischen und vielleicht eifersüchtigen Blicke ihrer drei Töchter, die diese Vernarrtheiten beobachteten und sich nie völlig von der „Größe“ überzeugen ließen, die den Freunden angehängt wurde. Während Laura im verblassenden Licht an ihrem Schreibtisch saß, verwandelte sich das Zimmer allmählich in eine dunkle Höhle. Nun knipste sie die Lampe an und zog ein Blatt Papier heraus, entschlossen, etwas zustande zu bringen, ehe sie zu Bett ging. Sie schrieb energisch, hielt ein, um nachzudenken, dann kritzelte sie rasch. In ihrer und Ellas Kommunikation hatte immer ein solcher Elan gelegen, als gäbe es nie die Zeit, alles zu sagen. „Liebste Snab“, schrieb sie, „hier herrscht ein kalter Winter, und ich habe schlechte Nachrichten. Du bist die einzige, der ich es sage, außer Tante Minna — und es ihr zu sagen ist womöglich ein Fehler gewesen. Ich habe Lungenkrebs, der zu weit fortgeschritten ist, wie der Arzt meint, als daß er operierbar wäre. Und in gewisser Weise bin ich froh, da es vielleicht bedeutet, daß ich meinen Tod auf meine Weise haben kann, nicht durch dieses ganze medizinische Gruselkabinett künstlich hinausgeschoben. Bisher hat Dr. Goodwin zugestimmt, weder Kobalt noch Chemotherapie anzuwenden. Weißt Du noch, wie uns in Paris Rilkes Glaube beeindruckte, daß man dem Tod als einem bedeutenden Teil eines Lebens seinen Lauf lassen müsse? Das spüre ich nun mit meinem ganzen Sein, und ich weiß, Du wirst es verstehen. Diesmal werde ich nicht ,entmündigt', wie Mutter mich in Davos entmündigt hat. Ich bete, daß ich den Mut habe, dies bis zum Ende durchzuhalten. 41
Wie gut, daß Charles diese Qual nicht erlebt. Allerdings die Kinder. Kannst Du verstehen, Snab, daß ich sie nicht hierhaben will? Ach, wie gut ist es, Dir schreiben zu können, selbst das zu sagen, was so schrecklich klingt, und zu wissen, daß es verstanden wird! Nur wenn man jung ist, ohne Verantwortung außer für sich selbst, oder wenn man stirbt, ist es vielleicht erlaubt, rücksichtslos zu sein. Damit meine ich, daß uns nur dann erlaubt ist, das Unwesentliche auszuklammern. In jungen Jahren, wenn man sehr intensiv und schnell wächst, ist eine Innenschau erlaubt, da muß man nach innen sehen. Später verstrickt das Leben und das ganze Geflecht menschlicher Beziehungen die authentische innere Person, nicht wahr? Verstrickt und stärkt gleichzeitig. Wir können nicht allein leben. Doch kommt später so vieles dazwischen, das ,getan werden muß'. All dies hat mich veranlaßt, zu Dir zurückzukehren, zu dem, was wir zusammen in diesem wundervollen Jahr erlebt haben. Ich habe den ganzen Nachmittag jene Pariser Tage noch einmal durchlebt, mit einem Stapel Deiner Briefe vor mir, die ich noch nicht zu lesen vermochte. Das brauche ich auch nicht, es ist alles so lebendig. Möchtest Du, daß ich sie zurücksende? Ich kann mich nicht dazu durchringen, sie zu vernichten. Sie sind die Aufzeichnung einer intensiven, beglückenden Erfahrung, die Aufzeichnung einer Entwicklung. Nach Paris haben wir uns jahrelang viel geschrieben, als könnten wir das, was vor sich ging, nur aus der Sicht der anderen völlig verstehen. Und um was ging es wirklich? Eigenartigerweise empfinde ich unsere Freundschaft als das Wesentlichste, das ich je erlebt habe. Lach nicht, liebe Snab, wenn ich sage, daß mir das andere Wesentliche das Sterben zu sein scheint. Ich will es gut machen. Es hört sich verrückt an, doch als ich es erfuhr, riß mich eine Welle wilder Erregung, sogar Freude mit. Ich wünschte, ich könnte es erklären, aber ich muß mich jetzt ein Weilchen hinlegen. Ich habe keine Schmerzen, doch schrecklich wenig Energie, und ich habe das
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Gefühl, als liege ein riesiges Kissen auf meiner Brust und bedrücke mich. Das bisher Schwerste ist, zu wissen, daß der Tod da in mir lebendig ist. Ich hatte einige Anflüge von schlimmer Panik, zum Teil, weil ich keine Vorstellung habe, wie lange das Sterben dauert, wann ich eine Hilfe im Haus haben muß, etwas, wovor mir graust. Es fällt mir schwer zu sagen, Snab, liebste Snab, aber, bitte, denke nicht daran, herzukommen. Ich fühle mich auf komische Weise zu nackt, um Emotionen ertragen zu können. Doch ich erinnere mich an alles.“ Hier hielt Laura inne, denn sie fühlte sich sehr elend, und nahm eine Tasse Suppe mit ans Bett, nachdem sie Grindle hinaus- und Sasha hereingelassen hatte. Um neun wachte sie auf, und ihr fiel ein, daß sie versprochen hatte, Tante Minna zurückzurufen. Sie knipste das Licht an und griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch. „Es tut mir so leid, Liebe, ich bin eingeschlafen und eben erst aufgewacht und wußte, ich hatte irgendwas vergessen. Bitte, entschuldige.“ Tante Minna lachte. ,,Ich höre mir eine Symphonie an, Mahlers Fünfte. Ozawa ist überwältigend, muß ich sagen. Es hat ein ganzes Leben gedauert, zu Mahler Zugang zu finden, doch jetzt bin ich echt drauf.“ Sie lachte wieder, über sich selbst wegen des Jargons. Offensichtlich war ihre Stimmung umgeschlagen. „Hör nur weiter“, sagte Laura, „entschuldige, daß ich unterbrochen habe.“ „Und du schlaf gut. Ist Grindle da?“ „Gleich hier neben mir.“ „Gute Nacht, Liebe.“ „Gute Nacht.“ Unendlich beruhigend, dieses „Gute Nacht“. Und schlafe inmitten der Freuden des Lebens, als sei es ein Spaziergang durch ein sanftes Feld, fiel Laura ein, als sie Grindle ein letztes Mal den Bauch streichelte und sich umdrehte. „Die Toten schlafen nicht“, war ihr letzter bewußter Gedanke, „denn der Schlaf ist das Reich der Lebenden.“
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5 Am nächsten Tag fühlte sich Laura besser. Sie stellte sich vor, daß es eine Zeitlang hin und wieder gute Tage geben könnte. Während sie im Bett ihren Kaffee trank und Grindles Augen an jedem Bissen hingen, sagte sie: „Wir könnten sogar einen Spaziergang machen, Grindle, wer weiß?“ und gab ihm ein Eckchen Toast. Was finge sie sonst noch mit einem kostbaren Tag an? Nicht das kleinste bißchen Energie verschwenden, jeden Augenblick genießen. Gerade jetzt war es die aufgehende Sonne, die auf ihre Kommode fiel und dem glatten Holz einen tiefrosenroten Schimmer verlieh, dann einen kristallenen Briefbeschwerer funkeln ließ. Ihr stand nicht der Sinn nach Lesen oder Aufstehen, und so lag sie noch eine gute halbe Stunde da, ehe sie sich anzog. Nachts hatte sie von ihrem Sommerhaus in Maine geträumt — dem grasüberwucherten Feld, das sich von der Terrasse bis zur Felsküste hinunterzog; sie hatte geträumt, daß sie alle, unter der heißen Sonne in eine Flaute geraten, in dem alten Ruderboot dahindümpelten — das Glitzern des Wassers, den zufriedenen Blick ihres Vaters unter der verbeulten weißen Segeltuchkappe sah sie noch immer vor sich. Sommer... Die endlosen glücklichen Sommer in Maine. Selbst als ihr Vater in den verschiedenen Konsulaten hart arbeiten mußte, war es ihnen immer gelungen, außer in den zwei Jahren, als Laura in der Schweiz mit TB ans Bett gefesselt war, für einen Monat „nach Hause“ zu kommen. Mehr als die in ganz Europa verstreuten Häuser und nach Dwight Hornadays Pensionierung das Haus am Beacon Hill hatte Maine ein Zuhause bedeutet. Wenn ich doch nur bis zum Frühling leben kann, dachte Laura, dann werde ich für eine Woche hinfahren. Vielleicht käme
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Daphne mit? Vielleicht könnten wir eine Familienfeier machen, Brooks und Ann und die Kinder. Wer weiß, vielleicht könnte Ben herüberfliegen und Daisy hinzitiert werden — doch als Laura sich all das auch nur vage vorstellte, beließ sie es dabei. Es wäre nicht möglich; schon bei dem Gedanken, welche Energie dazu erforderlich wäre, sank ihr der Mut. Nein, sie nähme sich vor, allein hinzufahren, sobald es etwas wärmer würde. Doch was wäre dann? Was wäre, wenn sie bis dahin gar nicht mehr könnte? Für irgendeinen zukünftigen Zeitpunkt waren keine Pläne mehr möglich. Und das war alles. Sie mußte einzig und allein den vor ihr liegenden Tag in Erwägung ziehen. Nicht morgen; heute. „Nur die echten Beziehungen...“ Es kam ihr vor, als sei es Jahre her, daß sie beschlossen hatte, sich darauf zu konzentrieren, auf Kosten all der anderen. Sie zog sich sorgfältig an, ihr bestes Kostüm, hohe schwarze Stiefel, denn seit sie mitten aus ihrem Traum vom grasüberwucherten Feld erwacht war, hatte sie irgendwo ganz tief im Innern gewußt, daß sie heute ihre Mutter im Pflegeheim besuchen würde. Dies war ihr im letzten Jahr immer schwerer gefallen — war es Mangel an Liebe, wahrer Liebe, der Debilität und Verfall nichts anhaben können? Oder war es, daß ihr die Betrachtung eines Verfalls derartiger Schönheit und Stärke, wie Sybille sie bis hoch in ihre achtziger Jahre gehabt hatte, als Betrug erschien? Sie hatte letztes Mal das Gefühl gehabt, daß sie ihre Mutter nicht so sehen sollte, wie sie Tee auf ihren Hausmantel verschüttete, ihre Kleidung zerzupfte, und das Betreten ihres Zimmers war ihr wie ein Eindringen in ihre Privatsphäre vorgekommen. Hatte ihre Mutter sie erkannt? Ihre saphirblauen Augen waren in hohem Alter verblaßt, der wunderschöne Hals war faltig wie der einer Schildkröte — hatte sie sich ihren raschen wütenden Blick, als sie das erstemal eintrat, nur eingebildet? War dies wirklich die beste Art, einen „guten Tag“ zu nutzen? fragte sich Laura während der einstündigen Fahrt zum „Heim“ nach Milton. Bei dieser Frage wurde ihr klar, daß
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der Entschluß kein Willensakt gewesen war, sondern Blutsbande sie hinzogen — sie mußte hinfahren. Zumindest diesmal, während eine tödliche Krankheit von ihr Besitz ergriff, könnte ihre Mutter nicht, wie damals in der Schweiz, diese absolute Kontrolle ausüben, so phantasievoll, glühend, meisterhaft und schrecklich, daß Laura sich manchmal erfroren wie eine Eisblume, wie eingesargt vorgekommen war. Und wäre nicht Charles gewesen und seine Wärme und Überzeugung, hätte sie je wieder zum Leben, zum eigenen Leben (nicht der Vorstellung ihrer Mutter von ihrem Leben) gefunden? Als Laura im vierten Stock ankam, und es war ihr wie eine lange Reise erschienen, begrüßte sie die Oberschwester. „Wie geht es meiner Mutter, Mrs. Neal?“ „Seit kurzem spricht sie nicht mehr. Es ist schwer zu sagen.“ „Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr hier, da ich mir einen schlimmen Virus zugezogen hatte und fürchtete, er sei ansteckend.“ Diesmal war die Lüge eine wirkliche Ausflucht, doch ging Lauras Ambivalenz ihrer Mutter gegenüber Mrs. Neal nun gewiß nichts an. „Erwähnt sie mich oder meine Schwestern manchmal?“ „Nicht, daß ich wüßte“, sagte Mrs. Neal. „Sie ist die meiste Zeit nicht richtig bei sich. Singt vor sich hin...“ „Ich werde gleich hineingehen, wenn ich darf.“ Sybille saß in einem Rollstuhl mit dem Rücken zur Tür, als Laura eintrat, nachdem auf ihr Klopfen keine hörbare Antwort erfolgte. „Hier ist Laura, Mutter.“ Ganz sachte drehte sie den Rollstuhl, bis er dem einzigen anderen Stuhl im Zimmer gegenüberstand, setzte sich und nahm die Hände ihrer Mutter. Sie waren eiskalt. Laura sah, daß ihre Mutter einen zerknautschten blaßblauen Morgenrock und blaue Pantoffeln trug und ihr Haar sorgfältig gekämmt und mit einem blauen Band hochgebunden war. Sie kümmerten sich wirklich gut um sie. Dafür mußte sie dankbar sein.
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„Deine Hände sind so kalt, Mama. Ist dir warm genug? Möchtest du einen Schal um deine Schultern? Eine Wärmflasche?“ Sybille Hornaday hatte nicht aufgeschaut. Sie hielt den Kopf gesenkt — Laura konnte ihre Augen nicht sehen — und summte irgendein langes selbsterdachtes Lied. Auf ihre Fragen kam keine Antwort, aber Laura hielt die alten Hände in der Hoffnung, ihr zumindest etwas körperliche Wärme zu geben. „Warum bin ich hier?“ Die Stimme, sogar mit der leichten Heftigkeit darin, war so sehr Sybilles wahres Selbst, daß Laura die Hände ihrer Mutter losließ und im ersten Moment nicht wußte, ob sie sich die Frage eingebildet hatte, da ihre Mutter bereits weitersummte. „Liebling, du bist hier, weil du Pflege brauchst. Ich bin den ganzen Tag in meinem Job. Du brauchst richtige Pflege.“ Doch bestand kein Zweifel, daß die Tür, die sich im Zorn einen Spalt geöffnet hatte, wieder zu war. Sybille war nicht mehr hier, sondern irgendwo tief innen, wo das eigenartige Lied unaufhaltsam weiterging, Laura und alles andere in ihrer unvereinbarlichen Umgebung ausschloß. „Ich wollte dir sagen, daß ich sterbe, Mutter.“ Sie nahm ihre Tränen erst wahr, als sie fühlte, wie eine auf ihre Hand tropfte, kalt und naß. „Ich wollte, daß du es weißt.“ Noch vor einem oder zwei Jahren hätte eine solche Erklärung eine spontane, sogar überwältigende Reaktion ausgelöst — den Vorschlag, einen anderen Arzt zu konsultieren, sich in der Lahey-Klinik einer genauen Untersuchung zu unterziehen und, nachdem diese praktischen Dinge erfolgt waren, ein langes, vertrautes Gespräch über Leben und Tod und Gott und Liebe. Wie sehr hatte sie diese Kraft geärgert, jemand zu rühren und zu überzeugen, „das Herz aus dem Leib zu reißen“, wie Daphne mit Bitterkeit sagte. Aber heute traf sie das Ausbleiben jeglicher Antwort wie ein Schock. Sie hätte ebensogut ein neugeborenes Baby sein können, das vor Kälte jammerte. „Möglicherweise bin ich nicht imstande wiederzukom-
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men“, hörte sie sich recht kalt und laut sagen. Dann stand sie auf, küßte Sybille auf die Wange, die noch immer weich wie ein Rosenblatt war, und ihr fiel ein, wie oft sie als Kind den Wunsch hatte, ihre im Abendkleid mit Sternen im Haar so hinreißende Mutter zu küssen, und es nicht wagte. „Vielen Dank, meine Liebe“, sagte ihre Mutter, die Laura ohne Zweifel für eine Pflegerin hielt. Was immer die „Blutsbande“ noch vor einer Stunde bedeutet haben mochten — diese alte Sehnsucht reichte in die Kindheit zurück —, mußte Laura zugeben, als sie die Tür schloß, daß keine echte Beziehung bestand, überhaupt keine. Die Vorstellung, wie durch ein Wunder könnte das, was in sechzig Jahren nicht gesagt worden war, jetzt gesagt werden, weil Laura starb, war absurd gewesen. Sie machte einige passende Bemerkungen zur Schwester, die mit einem Medikamententablett an der Tür stand, und floh zum Aufzug. Zumindest ein paar Sekunden lang war sie dort sicher, und sie putzte sich die Nase. Dann öffnete sich die Tür geräuschlos, und sie hörte ihren Namen rufen. ,,Laura! Ach, wie froh ich bin, dich zu erwischen.“ „Kusine Hope!“ Eine Flucht war unmöglich. Hope Fräser, liebe alte Hope, die Sybille zeitlebens bewundert hatte, setzte bereits zu einem Gespräch an: „Ja, ich komme zweimal die Woche, um deine Mutter zu besuchen. Ich bin so froh, dich hier zu treffen, Laura. Es gibt soviel zu bereden. Könnten wir irgendwohin gehen und einen Kaffee trinken? Ich weiß, wie beschäftigt du bist. Ich habe nicht anrufen wollen, aber...“ ,,Wo könnten wir hingehen?“ fragte Laura, die sich gestellt fühlte. Das Pflegeheim lag in einem Wohngebiet. „Mrs. Fräser“, rief das Mädchen vom Empfang herüber, „Sie könnten sich ins Wartezimmer setzen. Da ist niemand. Ich werde jemand vom Personal bitten, Ihnen einen Kaffe zu bringen.“
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„Oh, das ist aber nett von Ihnen. Das wäre so einfach und angenehm, nicht wahr, Laura?“ Offensichtlich war Hope hier wohlbekannt. Laura fühlte sich festgenagelt wie ein Schmetterling in einem Kasten. Was könnte sie möglicherweise sagen, um sich neben Kusine Hopes Treue zu rechtfertigen? „Liebe Laura, setz dich doch. Du siehst blaß aus. Ich vermute, es war der Schock, deine Mutter jetzt zu sehen.“ „Glaubst du, daß eine Veränderung stattgefunden hat?“ „Sie scheint sich immer mehr von uns zu entfernen, nicht wahr?“ „Es ist so gut von dir, daß du so oft herkommst.“ „Ich arbeite ja nicht. Jetzt, nachdem Adrian sich zur Ruhe gesetzt hat, schuftet er mehr als früher, weißt du? Er schreibt ein dickes Buch. Und außerdem wohnen wir in der Nähe — für dich ist es ein langer Weg hierher.“ Von Kusine Hope strahlte die reine Güte aus, und Laura fühlte sich immer beschämter. Hope hatte stets zu den Menschen gehört, die alle im besten Licht sahen, die ohne die Wahrnehmung zu leben schien, daß solche Dinge wie Bitterkeit, Ambivalenz, Haß und vor allem Selbsthaß in der menschlichen Natur lagen. „Hope ist einfach von Natur aus eine geborene, waschechte Heilige“, hatte Sybille einmal gesagt. „Ich frage mich, warum uns das irritiert?“ „Weil es nicht real ist“, hatte Daphne geantwortet. „Sie ist zu gut, um wahr zu sein.“ In solche Gedanken versunken, bemerkte Laura die Unterbrechung in dem Ansturm an Güte und daß eine Antwort von ihr erwartet wurde. „Ach, nein... nein, es ist nicht weit, eigentlich nicht.“ „Ich wünschte, du könntest einmal mit dem Arzt über die Beruhigungsmittel reden, die sie deiner Mutter geben.“ ,,Beruhigungsmittel?'' „Ich bin sicher, daß sie ruhiggestellt wird. Könnten sie sie nicht sie selbst sein lassen, Laura? Ich meine, auch wenn sie manchmal wütend wird?“ „Wird sie das?“ „Zuerst war sie sehr wütend. Sie redete nicht mit mir. Ich wußte, es bedeutete, daß sie sehr wütend war.“ 49
„Ich weiß“, sagte Laura kaum hörbar. „Natürlich ist es sehr schwer für dich, deine Mutter so zu sehen.“ „Ja, gewiß“, sagte Laura geistesabwesend, als spräche sie von jemand anders. Der festgenagelte Schmetterling fühlte sich total isoliert. Zum Glück kam eine Schwester mit zwei Tassen Kaffee auf einem Tablett und unterbrach dieses quälende Gespräch für einen Augenblick. Nachdem sie gegangen war und Laura einen Schluck von dem lauwarmen Kaffee getrunken hatte (Schmeckt er im vierten Stock auch so? fragte sie sich. Ihre Mutter liebte den Kaffee stark und heiß), sagte Kusine Hope: „Du fühlst dich nicht wohl, nicht wahr, Laura? Ist irgend etwas?“ Ins volle Bewußtsein aufgeschreckt, gestand Laura, daß sie unter einem Virus leide und sich erschöpft fühle. Und was sollte sie nun sagen? Den Sprung wagen und über Sybille reden? Vielleicht wäre es ihre letzte Chance, und Hope verdiente etwas Besseres als das, was Laura bisher zustande gebracht hatte. „Ich wünschte, wir könnten ein wenig über Mama reden. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich sie nie wirklich gekannt. Du hast es vielleicht.“ „Das habe ich.“ Kusine Hopes Augen glänzten. „Ich glaube, ich kannte Sybille sehr gut.“ „Mit allen Fehlern und Schwächen?“ Laura lächelte zum erstenmal. „Keine Fehler und Schwächen, liebe Laura!“ Hope errötete sichtlich. „Welch ein Gedanke! Soweit ich weiß, war sie einfach eine wunderbare Frau, schön, brillant, alles! Sie war so tapfer, weißt du —als du krank warst —, heroisch, dachte ich immer, sich so in diesem winzigen Dorf zwei Jahre lang einzuschließen und sich um dich zu kümmern.“ Hope, der Lauras Reaktion völlig entging, beugte sich vertraulich vor. „Ich will dir was erzählen. Es ist eigentlich nichts, doch es machte auf mich einen großen Eindruck. Ich hab's nie vergessen. Adrian und ich waren damals auf der Wirtschaftsakademie in London, wenn
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du dich erinnerst. Ich ging zu Harrods und kaufte deiner Mutter einen wunderschönen Kamelhaarmorgenrock zu Weihnachten.“ „Das war sehr lieb von dir.“ „Nein, tatsächlich war das ganz falsch. Siehst du, er war braun, und Sybille schickte ihn zurück und erklärte, daß sie um deinetwillen nicht düster aussehen dürfe. Braun ist eine düstere Farbe. Er müsse blau sein, sagte sie. Natürlich sah ich sofort ein, wie recht sie hatte — schließlich lagst du da ja völlig flach. Für dich mußte deine Mutter hübsch sein. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, daß diese Schönheit so etwas wie ein Geschenk war, weißt du? Das ist nur eine winzige Episode...“ (Und doch mußte es weh getan haben, wie Laura wußte.) „Ich kann dir nicht sagen, wieviel Sybille mich gelehrt hat! Ohne sie hätte ich nie wirklich gewußt, wie man lebt — ihr Geschmack, so absolut vollendet!“ „Ja, sie kritisierte uns alle und zerstörte jeden kreativen Impuls.“ Warum hatte sie das laut gesagt? Laura sah den betroffenen Blick. „Sprich weiter, Kusine Hope. Ich wollte dich nicht unterbrechen. Ich war sehr bedrückt, und du tust mir gut. Bitte, sprich weiter.“ „Sie war so engagiert in allem!“ „Worin zum Beispiel?“ „Politik, meine Liebe! Ich hatte von Politik nicht die leiseste Ahnung — deine Mutter hat mich über den Spanischen Bürgerkrieg aufgeklärt, ich kann dir sagen! Und lange bevor irgendwer aus meinem Bekanntenkreis sonderlich beunruhigt war, warnte sie uns bereits vor Hitler.“ „Womöglich hatte mein Vater damit etwas zu tun“, murmelte Laura. „Schließlich mußte er das in seiner Position wissen.“ „Dein Vater mußte diskret sein, vermute ich. Aber es schien ihn nie so tief zu bewegen. Sybille warf sich auf alles. Selbst als alte Frau (es ist wirklich bemerkenswert!) engagierte sie sich bei der Schulbusaktion der Schwarzen in die Vororte! Aber das weißt du ja alles, liebe Laura.
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Was du vielleicht nicht wissen kannst, ist, was für eine außergewöhnliche Fähigkeit zur Freundschaft sie hatte. Als Tommy... als wir uns mit der Tatsache abfinden mußten, daß Tommy nie ganz normal sein würde, kam Sybille ein- oder zweimal die Woche und las ihm vor. Das hatte er gern. Sie besaß so eine herrliche Stimme! Wer außer Sybille hätte sich dafür die Zeit genommen? Laura, liebe Laura, du darfst dich von dem, was jetzt geschieht, nicht deprimieren lassen. Sie war eine großartige Frau!“ Was dann hatte ihre drei Töchter zu Zynikerinnen gemacht? fragte sich Laura. Warum konnten gerade wir die goldene Legende nie ganz glauben? Was hat uns abgetörnt? „Ich bin so froh, daß du dich an all das erinnerst — es ist schrecklich nett von dir, jetzt so oft herzukommen, liebe Kusine Hope.“ Laura war entsetzt, die eigene Stimme klang wie der genaue Abklatsch des Tonfalls ihrer Mutter, einfach leicht herablassend. Nein, nicht herablassend; der Ton einer Person, die die passende Antwort schauspielert. „Ich muß jetzt hinaufgehen und einen kleinen Besuch machen. Hoffentlich habe ich dich nicht überstrapaziert.“ Der Schmetterling wurde losgelassen, doch die Nadel hatte ihn durchbohrt. Laura konnte an nichts anderes denken, als so schnell wie möglich nach Hause zu Grindle zu kommen und mit ihm spazierenzugehen, falls sie die Kraft hatte — und selbst wenn sie sie nicht hatte —, zurück zu etwas Einfachem, Unkompliziertem, das nicht so weh tat. War es wirklich viel schwerer, eine Frau zu sein als ein Mann, fragte sich Laura auf ihrem Heimweg nicht zum erstenmal. Weder ihr Vater noch Charles hatten je einen derartigen Gefühlskonflikt verursacht wie ihre Mutter. Daphne würde sagen, vermutlich waren sie „real“, und Sybille war es nicht. Was wäre geworden, wenn man sie zur Bühne hätte gehen lassen? War sie einfach für eine Karriere geboren, die man ihr verwehrt hatte? Dieser Hunger nach Größe, nach Heroischem, nach der herrlichen Geste — das Theater hätte von all dem sehr effekt-
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voll Gebrauch gemacht —, und dann hätte sich Sybille hinter den Kulissen erlauben können, schlichter und menschlicher zu sein. Wer weiß? Natürlich hätte sie drei Söhne haben sollen statt drei Töchter. Laura mußte zugeben, daß sie es nicht halb so leicht empfunden hatte, Daisy aufzuziehen, wie Ben und Brooks — und warum das? Was war das Spannungsverhältnis zwischen Töchtern und Müttern? Daisy hatte es oft genug gesagt, wenn auch ohne Feindseligkeit: „Ich will nicht sein wie du, Mutter, lebendig begraben im Vorort. Ich will eine Chance, vorher zu entdecken, wer ich bin, dann erst mich irgendwo etablieren, wenn ich muß. Ich will nicht festgenagelt sein.“ Hier hatte Laura gelacht und freundlich gesagt: „Ich flüchtete vor den hochgestochenen Erwartungen und dem Leben meiner Mutter. Ich wollte das, was du für ein gewöhnliches Leben' hältst, das war es, was ich mir wünschte, herbeisehnte. Mich hungerte und dürstete unendlich nach dem Alltäglichen, dem Normalen, wenn du willst. Und im großen und ganzen“, sie erinnerte sich noch der Worte, „bin ich glücklich gewesen.“ Sie erinnerte sich deshalb, weil Daisy unerwartet mit einem Strom von Tränen reagiert hatte. „Ich will nicht glücklich sein“, schluchzte sie. „Das ist gut“, sagte Laura trocken, „denn es besteht die Chance, daß du es nicht wirst.“ Seit ihrem Besuch bei Dr. Goodwin wurde Laura von Gesprächserinnerungen überflutet, und wenn so eine Flut erst einmal einsetzte, war es fast unmöglich, sie abzustellen. Doch sie war ermüdend. Sie fuhr die letzten Meilen zu schnell, konzentrierte sich auf den Wagen, um den Dialog auszuschalten. Und da war endlich das Haus — Friede, Sicherheit. „Ja“, sagte sie zu Grindle, der wild bellte und mit fragend erhobenen Ohren zu ihr aufsah, „ja, wir gehen spazieren!“ Sie nahm ihren Stock aus dem Schirmständer und ging hinaus, ohne sich wärmere Stiefel anzuziehen. Die Luft war überraschend mild. Wenn das Thermometer
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tagelang nicht über minus sechs Grad kletterte, war null Grad ausgesprochen frühlingshaft. „Wo ist deine Katze?“ fragte sie Grindle. Aber der stob bereits davon und wälzte sich im Schnee. Laura öffnete die Haustür und rief: „Komm, Katze, wir gehen spazieren!“ Sasha trollte sich die Treppe herab, setzte sich und wusch sich sekundenlang das Gesicht. „Nervendes Tier, komm!“ Endlich war sie an der offenen Tür, ihre Pfoten zitterten in Erwartung des vereisten Wegs. Schließlich kam sie heraus und trottete mit etwa zwanzig Schritten Abstand hinter Laura her, Grindle sprang voraus, außer sich vor Freude, stöberte in den Schneewehen nach Fährten, die wohl nur er in diesem Wetter aufspürte, und raste wieder zur Straße zurück. „Paß auf, Grindle, sonst ertrinkst du noch im Schnee!“ Als sie eine halbe Stunde später heimkamen, war Laura müde, hungrig und sich bewußt, daß sie jede mögliche Lebensenergie, die sie heute aufbieten konnte, verausgabt hatte. Doch es gelang ihr, ein Erdnußbuttersandwich zu essen und ein Glas Milch zu trinken, ohne daß ihr schlecht wurde. Es ging ihr besser als gestern. Sich dann auf dem Sofa auszustrecken und ein Haydn-Quartett zu hören, das wie Wein ihre Lebensgeister belebte, war höchstes Glück. Was ich will, ist ungetrübtes Leben, dachte sie — Bäume, Schnee, Himmel, die Tiere, ein Glas Milch und Musik — all das zusammen kam einem Vorgeschmack des Himmels auf Erden gleich. Das ist alles, was ich jetzt brauche, dachte sie und lächelte, als sie einschlief.
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6 Laura behagte es gar nicht, Dr. Goodwin aufsuchen zu müssen, aber seine Sekretärin hatte am Telefon darauf gedrungen, da es Dinge gebe, die unbedingt zu besprechen seien. „Für Ärzte ist später noch Zeit genug“, dachte Laura, „aber natürlich hat er mich auf der Rolle, weil er soviel weiß, wovon ich keine Ahnung habe.“ Plötzlich fiel ihr ihr Vater ein, der in seiner trockenen Art gesagt hatte: „Wenn du einen Arzt aufsuchst, nimmst du dein Leben zweifellos selbst in die Hand.“ Aber das Schreckliche war, daß sie einfach Vertrauen haben mußte. Jim Goodwin zu mißtrauen hieße, ins Aschgraue zu geraten. Jemand mußte sich schließlich um ihren verfallenden Körper kümmern. Sie war verkrampft, als sie sich Jim Goodwin gegenübersetzte und sah, daß er ein Röntgenbild studierte. „Nun?“ fragte sie, ,,um was geht es?“ Sie konnte die Feindseligkeit in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Jim räusperte sich. „Ich möchte, daß Sie sich jemand ins Haus holen. Es ist nicht gut, so lange zu warten, bis Sie zu schwach sind, um es allein zu schaffen.“ „Wird das bald sein? Ich fühle mich erstaunlich gut. Nur wenn ich liege, ist da so ein Druckgefühl, aber das ist bisher ganz erträglich. Ich hasse den Gedanken, daß eine Fremde herumwuselt.“ „Die Alternative ist das Krankenhaus, Mrs. Spelman.“ Laura schluckte. „Tut mir leid, es so brutal sagen zu müssen, doch Sie müssen begreifen, daß ich Ihr Arzt bin.“ „Was heißt, daß ich mein Leben in Ihre Hand legen muß — was davon noch übrig ist.“ „Was heißt“, sagte er freundlich, „daß ich einige Erfah-
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rungen in solchen Dingen habe. Ich will Ihnen helfen, sosehr ich kann.“ „Na gut, ich werde mich um eine Haushälterin bemühen.“ „Möglicherweise können wir Ihnen helfen. Miss Albright hat eine Liste von Leuten, die in Frage kämen — natürlich kann es sein, daß sie zur Zeit alle fest angestellt sind. Was Sie brauchen, ist eine praktisch ausgebildete Pflegerin. Obendrein wäre ich froh, wenn Sie damit einverstanden sind, ein paar Tage in der Klinik zu verbringen. Ich würde gern einen Chirurgen hinzuziehen, um ganz sicherzugehen, offen gesagt, daß eine Operation unmöglich ist, wie ich aufgrund des Röntgenbildes glaube.“ „Nein“, sagte Laura ruhig. „Ich will nicht unterbrochen werden.“ „Unterbrochen?“ „Na ja“, sie richtete sich in ihrem Stuhl auf, „ich lebe gerade jetzt. Ich lerne eigenartigerweise, wie ich leben sollte, was von Bedeutung ist und was nicht. Ich will nicht unterbrochen werden.“ „Sie sind wie Ihre Mutter“, sagte Jim Goodwin mit einem Lächeln. „Gott bewahre!“ „Sie war eine großartige Frau, eine große Persönlichkeit.“ „Ja, das war sie.“ Jetzt war Laura den Tränen nahe. „Ich bin keine Persönlichkeit. Ich versuche lediglich, menschlich zu sein.“ „Mrs. Spelman, möchten Sie, daß ich mit Ihrem Sohn Brooks rede?“ Laura war entgeistert. „Warum Brooks?“ „Jemand in der Familie muß Bescheid wissen.“ „Oh, noch nicht. Bitte! Ich brauche etwas Zeit. Sie tun, als sei alles ganz nah, ganz bald... Ich bin noch nicht bereit!“ Sie weinte jetzt ohne Scham. „In Ordnung, sagen Sie's ihm, wenn Sie müssen.“ Sie stand auf und schnaubte sich die Nase. „Sagen Sie ihm, ich will zu Hause sterben.“ Doch dann setzte sie sich wieder hin und faßte sich. „Wenn
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ich genau darüber nachdenke, sagen Sie's Brook nicht. Tante Minna weiß es. Gleich nachdem Sie mir letzte Woche gesagt haben, was los ist, bin ich zu ihr gegangen. Es wird Sie freuen zu hören, daß sie ebenfalls darauf gedrungen hat, mir jemand ins Haus zu holen.“ „Sehr gut... aber da werden Entscheidungen zu treffen sein...“ „Ich selbst werde es Brooks sagen, wenn ich finde, es ist Zeit, daß...“ Hier entstand eine Pause. Dann lächelte sie. „Sie sehen, ich werde nicht eher abdanken, als ich muß. Wenn Sie es Brooks sagen, ist es, als ob...“ „Ich wollte es Ihnen nur ersparen.“ „Ich weiß. Vielen Dank. Doch in Wahrheit habe ich das Gefühl, daß ich ein wenig Zeit brauche, einfach um zu leben, solange ich kann, ohne Einwirkung der Gefühle anderer Menschen. Darum geht es... frei zu sein von dem Todesgefühl der anderen, ihren Ängsten, wenn Sie so wollen.“ „Nun gut, ich werde nicht darauf bestehen. Da ist allerdings noch etwas. Ihre Lungen laufen voll, und es wird sehr bald soweit sein, fürchte ich, daß wir die Flüssigkeit absaugen müssen, in regelmäßigen Abständen, damit Sie leichter atmen können.“ „Oh“, sagte Laura mit matter Stimme. „Ich werde gern zu Ihnen kommen und es tun... schließlich wohne ich in der Nähe.“ „Das ist furchtbar nett von Ihnen.“ Zum zweitenmal traten Laura die Tränen in die Augen. „Ich werde alles tun, was ich kann, Mrs. Spelman.“ „Es besteht wirklich keine Hoffnung, nicht wahr?“ „Es besteht immer Hoffnung“, sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Es gibt Verlangsamungen, sehr mysteriöse, weil wir im Grunde nicht wissen, warum. Manchmal gibt es Verlangsamungen von einem Monat oder mehr, obwohl ein Befall der Lunge — in Ihrem Fall beider Lungenflügel —, na ja, wie ich sage, es wäre dumm, sich allzu sicher zu sein. Ich will Ihnen etwas sagen. Es ist überraschend, daß Sie sich so wohl fühlen, wie Sie sagen, also sehen Sie, man weiß es nie.“
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Ehe Laura die Praxis verließ, rief Miss Albright einige in Frage kommende praktisch ausgebildete Pflegerinnen an. Eine sagte zu, in zehn Tagen zu kommen. Laura hatte sich diese Frist so leidenschaftlich ausbedungen, daß Jim Goodwin einverstanden war. Mary O'Brien würde sie am nächsten Tag in Concord aufsuchen und alles mit ihr besprechen. „Sie ist eine sehr liebe Frau“, sagte Miss Albright, „eine Witwe, deren Kinder schon groß sind. Ich bin sicher, Sie werden sie mögen.“ Laura seufzte und sagte darauf: „Ich werde mein Bestes tun.“ Dann eilte sie hinaus, von einem so drängenden inneren Bedürfnis getrieben, daß sie sich kaum die Zeit nahm, ihren Mantel zuzuknöpfen.
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7 Schon bei dem Gedanken an Mary O'Brien fühlte sich Laura in der Falle. Sie beschloß, so lange wie möglich im Bett zu bleiben. So tröstlich Grindle und Sasha auch waren, war es doch herrlich, jetzt, da sie die beiden rausgelassen hatte, die Beine richtig ausstrecken zu können. Sie ließ sich treiben, hinter sich drei Kissen, damit sie durchatmen konnte, denn sie war von einem schrecklichen Hustenanfall aufgewacht und hatte ein wenig Blut gespuckt. Das einzige, woran sie denken konnte, war natürlich Keats, der so jung sein Leben ließ. Ich habe mein Leben gehabt, machte sie sich bewußt — denn der Anblick des Blutes war ein arger Schock gewesen —, alles außer das Alter. Und obgleich das hohe Alter so wie Tante Minnas hätte sein können, reich und leidenschaftlich und zornig, hätte es auch so wie das ihrer Mutter sein können, ein Schwinden des Intellekts und der Lebensgeister, bis nichts übrigblieb als die Bedürfnisse eines Kindes. Das ist mir erspart, dachte sie, indem sie sich im Zimmer umsah: der Seevogel von Graves, den sie und Charles als gegenseitiges Geschenk zu ihrem zwanzigsten Hochzeitstag zusammen gekauft hatten; das Regal mit den besonderen Büchern, größtenteils Gedichtbände, links vom Kaminsims; die Birkenscheite im Kamin — demnächst werde ich irgendwann hier oben ein Feuer machen, dachte sie. Als sie vor Jahren mit einer Grippe dalag, hatte es das letzte Mal gebrannt. Charles hatte damals das Feuer gemacht und die Scheite heraufgebracht. Wäre es wohl leichter, wenn er ihr bei dieser letzten Reise zur Seite stünde? Und sie antwortete spontan, nein, Gott sei dank, daß es nicht so ist! Charles konnte nie mit wirklicher Krankheit umgehen. Sie machte ihn unwirsch und überfürsorglich, was Laura Schuldgefühle bereitete.
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Das Telefon unterbrach ihr Grübeln. Laura war sicher, es wäre Tante Minna, und konnte diese sehr angespannte und dumpfe Stimme eine Sekunde lang nicht identifizieren. Dann kam sie darauf. „Oh, Sie sind's, Harriet.“ Harriet Moors klang, als hätte sie geweint. Sie entschuldigte sich, daß sie Laura zu Hause anrief. ,,Aber könnte ich wohl zu Ihnen kommen? Ich...“ „Ich bin noch immer durch den Wind, noch immer im Bett, um genau zu sein. Ist es denn so wichtig?“ Das Schweigen am anderen Ende der Leitung war beredt. „Könnten Sie heute am späten Nachmittag kommen?“ Laura erlitt erneut einen Hustenanfall, als sie Harriet die Richtung beschrieb. Es war schlimm, daß dieser Tag bereits verplant war — sie hatte vorgehabt, ihre Papiere durchzugehen und einiges wegzuwerfen. Doch sie fühlte sich plötzlich so schwach, daß sie nicht die Kraft hatte, sich anzuziehen, und konnte sich nur zum Aufstehen zwingen, weil Grindle bellte, um eingelassen zu werden. Ein Teelöffel Brandy in der zweiten Tasse Kaffee half, und als Mrs. O'Brien eintraf, lag Laura in Hose und Pullover unten auf dem Sofa. Der Gedanke an Mrs. O'Brien war abschreckend gewesen, aber Laura fand die Person, die ihr jetzt im Ohrensessel leibhaftig gegenübersaß, sehr nett. Mary O'Brien war eine große, hagere Frau mit einem recht verschlossenen Gesicht, das sich beim Lächeln aufhellte. Sie war sehr direkt, was Laura schätzte. „Ich brauche meine Wochenenden“, sagte sie. „Ich habe noch zwei daheim und muß die Dinge für sie am Laufen halten, obschon Rose Marie inzwischen eine gute Köchin ist und Jack eine Menge Arbeiten ums Haus herum erledigt.“ „Selbstverständlich“, sagte Laura und dachte erleichtert, daß sie schließlich doch noch allein sein konnte. Es erschien ihr wie eine Gnadenfrist. „Wie lange werden Sie mich voraussichtlich brauchen?“ „Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe“,
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sagte Laura und sah Mrs. O'Brien unverwandt in die Augen. „Es könnten sechs Monate sein.“ „Sie sind sehr krank, Mrs. Spelman?“ „Noch nicht“, sagte Laura trocken. „Aber Dr. Goodwin hat sehr darauf bestanden, daß ich so bald wie möglich eine Hilfe habe.“ Mrs. O'Brien nickte. „Keine Sorge. Ich werde mich gut um Sie kümmern. Ich bin zwar keine Krankenschwester, doch es macht mir nichts aus, Tabletts zu tragen. Haben Sie eine Waschmaschine?“ Und nun zeigte Laura Mrs. O'Brien ihr Zimmer und das Bad und die Küche und wo im allgemeinen die Sachen waren. „Es ist ein großes Haus für Sie allein, nicht wahr?“ „Vermutlich. Mein Mann starb vor drei Jahren, wissen Sie, und die Kinder sind verheiratet oder fort. Ich lebe hier schon so lange, daß ich mir darüber nie irgendwelche Gedanken mache.“ Weil Laura Mary O'Brien gefiel, die schwierige Dinge offenbar als selbstverständlich betrachtete, wurde alles ohne Umschweife geregelt. Sie hatte tatsächlich ein recht euphorisches Gefühl, als Mrs. O'Brien davonfuhr, und ging spontan zum Telefon, um Tante Minna die gute Nachricht zu erzählen. Die Wahrheit käme natürlich erst heraus, wenn Mary O'Brien Tag und Nacht da wäre, doch zumindest war es Laura sehr klar geworden, daß sie eine brauchte, die unpersönlich war, eine, die nicht allzu betroffen war. Bestenfalls eine reservierte Beziehung, die beiderseitigen Takt erforderte. Aber zu ihrer Verwunderung hatte Laura zu Mary O'Brien Vertrauen. Sie hielt sie für pragmatisch, und sie hatte weder mit der Wimper gezuckt noch sich distanziert, als Laura unmißverständlich klargemacht hatte, um was es ging, wenngleich sie Mrs. O'Brien nicht gesagt hatte, woran sie erkrankt war — das käme später —, und sie war dankbar, daß Mrs. O'Brien nicht gefragt hatte. Laura beschloß, sich zu nichts zu drängen, zum Teil, um auf Harriet Moors vorbereitet zu sein, und zum Teil, weil sie Musik hören wollte — zwei Schubert-Quartette
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und ein wunderbares Oktett in F-Moll, das sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Einzig wichtig von nun an wäre, weiter in sich zu gehen, und das hätte, wie sie feststellte, sehr wenig mit anderen Menschen zu tun oder mit allem, wovon sie möglicherweise glaubte, sie müßte es „tun“. Ihr Gefühl von Eile noch vor wenigen Tagen, Papiere durchsehen und Dinge erledigen zu müssen, bevor es ihr allzu schlecht ging, fiel rasch von ihr ab. Die einzige Realität im Moment lag in diesem klaren Ton der beiden Geigen, ein Cello und eine Viola. Um halb fünf, nach einem langen Mittagsschlaf, fühlte sich Laura aufs Wesentliche heruntergehäutet. Was für ein Gefühl wäre es, sich aufraffen zu müssen, wenn Harriet Moors käme? Schließlich war sie ja wirklich in keiner Weise für dieses Mädchen verantwortlich. Immer mit der Ruhe, ermahnte sie sich, und laß sie reden. Dann läutete die Türklingel. „Seien Sie ein Engel und legen Sie noch ein Scheit aufs Feuer, ja?“ fragte Laura, als sie Harriet aus ihrer Lammfelljacke geholfen hatte. „Ich hole uns etwas zu trinken. Was hätten Sie gern? Einen Martini vielleicht?“ „Ein Glas Wein, wenn Sie einen haben.“ Natürlich! Laura hatte vergessen, daß Martinis aus der Mode gekommen waren. Dessenungeachtet mixte sie sich einen und fühlte sich dabei recht flott. Von ihrem Ohrensessel sah Laura zu Harriet auf dem Sofa hinüber und bemerkte, daß die Hand ihrer Besucherin zitterte, als sie einen Schluck Wein trank. „Nun, Harriet, was haben Sie auf dem Herzen?“ „Eben...“ Harriet schluckte. „Ich habe entschieden, daß ich diesen Roman nicht veröffentlichen kann.“ „Sie haben kalte Füße? Das kann ich verstehen.“ „Er wird zu viele Menschen unglücklich machen — meine Freundin ist mittlerweile in Panik. Sie glaubt, sie könnte ihren Job verlieren, wenn die Leute es wissen.“ Laura blickte nachdenklich ins Feuer und ordnete die Sache in ihrem Kopf. „Sie haben sich das nicht wirklich klargemacht, nicht wahr? Ich frage mich dann, warum Sie die immense An-
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strengung unternommen haben, die das Schreiben dieses Romans gekostet haben muß.“ „Ich weiß. Warum ich das tat? Ich muß verrückt gewesen sein!“ Da saß sie, so jung, wirklich reizend, eine sehr junge Person, die die ganze komplexe Verantwortung der öffentlichen Enthüllung auf sich genommen hatte, ohne die Kosten zu bedenken. „Aber Sie glauben an Ihr Werk?“ „Ich weiß es nicht mehr.“ Harriet gab einen seltsamen kleinen Seufzer von sich. „Vielleicht war das Schreiben nur eine Therapie.“ „Das klingt nicht nach Ihnen.“ „Meine Freundin sagt das. Sie ist Lehrerin, und sie ist älter als ich.“ Harriet drückte ihre Hände an die Brust und schaukelte gequält. „Wenn ich dieses Buch veröffentliche, ist das unser Ende — das ist es: das ist der Grund...“ „Das ist hart.“ „Ich bin schrecklich durcheinander. Deshalb wollte ich Sie sehen. Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie mich herkommen ließen.“ Das runde, verstörte Gesicht brachte ein Lächeln zustande. Laura konnte feststellen, wieviel besser sich Harriet im Augenblick fühlte, weil sie das Ganze aussprechen konnte. Alles schön und gut, doch was sollte Laura jetzt sagen? Es schien, als ob Sie verstehen. Ich meine, Sie sprachen von Ihrem Sohn. Und Sie hatten den Eindruck, daß meine Eltern zu platt dargestellt sind. Ich dachte, Sie könnten vielleicht helfen. Ist es lediglich Feigheit, nicht weiterzumachen? Wenn ich mein Buch zerstöre, vielleicht zerstöre ich mich selbst. Ich grüble über all diese Vorstellungen, daß man die Tür nicht vor dem Leben verschließen kann, und wenn ein erster Roman angenommen wird, ist das sicher das öffnen einer Tür. Wenn man die Tür schließt, ist das nicht fatal? Aber andererseits, wenn ich die Tür zwischen Fern und mir schließe“, Harriet fixierte Laura eindringlich, „was tue ich ihr an und auch mir?“ „Ich bin Lektorin, nicht Psychiaterin. Sie stellen mir Fragen, die ich unmöglich beantworten kann.“ Als Laura
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die Bestürzung wahrnahm, die sie hervorgerufen hatte, fügte sie rasch hinzu: „Doch das heißt nicht, daß ich nicht verstehe. Ich glaube, Sie stecken in einem schrecklich qualvollen Dilemma. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich kann jetzt allerdings besser begreifen, warum Sie an ein Pseudonym dachten. Vielleicht ist das letztlich die Lösung.“ , Jetzt kommt es mir feige vor. Früher oder später muß ich mich mit mir selbst konfrontieren, und ohne daß ich mich schäme. Übrigens, die Leute finden es doch heraus.“ Und sie murmelte halb zu sich selbst: ,,Auch wenn ich einen anderen Namen benutze, Fern wäre entsetzt.“ ,,Es hört sich so an, als habe Fern ein paar eigene Probleme. Die Menschen zahlen einen hohen Preis, glaube ich, wenn sie ein Leben führen, das sie nicht öffentlich leben wollen.“ „Aber das ist nicht möglich. Ich meine, du verlierst deinen Job. Du wirst wie eine Aussätzige behandelt. Was ich so unerträglich finde, ist diese ganze sexuelle Geschichte, die Art, wie dich die Leute ansehen. Und du weißt, das einzige, was sie interessiert, ist, was du im Bett tust. Das ist entsetzlich!“ „Sie beschreiben das sehr gut in Ihrem Roman. Den Lesern wird klar, daß die Beziehung zwischen den beiden Frauen tatsächlich existiert und kein Experiment ist oder ein rein sexuelles Abenteuer oder sonstwas. Ein Grund, weshalb wir es publizieren wollten, war für mich, daß für künstlerische Werke, die sich mit all diesen Dingen ganz natürlich und ohne Sensationsgier auseinandersetzen, die Zeit reif ist. Wenn ich mal so sagen darf, die Klassiker in diesem Bereich — ich denke da an Nachtgewächs — machen die Homosexuellen, gelinde gesagt, zu etwas Anstößigem.“ „Also glauben Sie wirklich, daß mein Buch einen Wert hat?“ , Ja, das glaube ich.“ „Oh je...“ Harriet seufzte wieder. Sie nahm ihre Brille ab und rieb sich die Augen, trank dann einen Schluck Wein.
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Laura lachte. „Vielleicht wäre es doch hilfreicher gewesen, wenn ich gesagt hätte, das Buch ist nicht gut!“ „Dann könnte ich es wegwerfen?“ Harriet runzelte die Stirn. „Ich schätze, das könnte ich nicht, egal was Sie sagen oder denken. Ich glaube zwar nicht, daß ich ein Genie bin, doch ich weiß, daß ich schreiben muß, wie der Fisch schwimmen muß.“ „Ich glaube, Sie sind eine wirkliche Schriftstellerin. Ich war vor kurzem selbst in einer ziemlichen Krise, aber Ihr Buch ist mir nicht aus dem Kopf gegangen. Ich komme in meinen Gedanken darauf zurück. Das ist für mich ein Test, ob ein Werk wirklich lebendig ist. Nimmt es in der Phantasie der Lesenden ein Eigenleben an? Die Atmosphäre — es gelingt Ihnen, eine psychologische Atmosphäre zu schaffen. Die erstickende Realität des Elternhauses, das machen Sie sehr gut.“ „Oh Gott, meine Eltern!“ Bei diesem cri de coeur brachen Laura und Harriet in Lachen aus. Es war ein gemeinsames Lachen, und es hatte damit zu tun, wie absurd und schrecklich das Leben sein konnte, manchmal jenseits jeder Bewältigungsmöglichkeit. Dann stand Harriet auf und trat zum Kamin, offensichtlich mit dem Gefühl der Erleichterung. „Wie glücklich Ihr Sohn ist, daß er Sie hat!“ „Und seinen Vater“, sagte Laura. „Mein Mann war überraschend klug in seinem Umgang mit Ben — daß Brooks, der Zweitälteste, alles war, was ein Vater sich wünschen konnte, hat natürlich einiges dazugetan.“ „Können Menschen nicht einfach Menschen sein? Sie sagten ,Umgang mit'...“ , Ja... nun, es wird noch lange dauern, unsere Ideen von dem, was sein sollte, zu überwinden. Mit Frauen ist es genauso. Ich war glücklich verheiratet, aber als Charles starb, wurde mir bewußt, daß die Leute mich in Wahrheit als Charles' Frau gesehen hatten. Aus diesem Grund war die Arbeit bei Houghton Mifflin eine solche Hilfe für mich. Zumindest dort war ich Laura Spelman, eine eigenständige Person.“
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„War es schwer... am Anfang, meine ich... schwer, eine völlig alleinstehende Person zu sein?“ „Ich hatte das Gefühl, als wäre ich entzweigeschnitten. Monatelang hatte ich eigentlich keine Identität. Ein Essen zustande zu bringen war praktisch unmöglich, ich lebte von Eierflips.“ Was tue ich bloß, daß ich so mit diesem Mädchen rede? dachte Laura. Ist es das, was ein Martini inzwischen bewirkt? „Bitte, reden Sie weiter...“ „Nun, offen gesagt, ich glaube, wir sollten jetzt Schluß machen, Harriet.“ , Ja, natürlich. Ich weiß, daß Sie krank sind... Ich hätte nicht so lange bleiben sollen.“ „Es ist nur, daß mir die Knie sehr weich werden.“ Nun kam Grindle aus der Küche, wo er, wie Laura fürchtete, das Katzenfutter vertilgt hatte, doch da er aufs Streicheln erpicht war, begrüßte er Harriet mit einem Bellen und erleichterte so immerhin ihren Abschied. „Wir haben noch nichts geregelt“, sagte Laura, als sie Harriet in den Mantel half. „Nein, aber mit Ihnen zu reden war mir eine große Hilfe. Ich muß jetzt nach Hause fahren und darüber nachdenken.“ „Scheuen Sie sich nicht anzurufen, wenn es drunter und drüber geht.“ Laura nickte ermunternd mit dem Kopf. „Auf Wiedersehen, Harriet, und viel Glück.“ Laura blickte dem Mädchen nach, das langsam den Weg entlangging. Sie winkte, aber Harriet startete den Motor und fuhr los, ohne sich umzublicken. „Wo ist deine Katze?“ wandte sich Laura an Grindle, der bellte und hinaus wollte. „Na gut, dann raus mit dir... und bring Sasha mit, wenn du kannst.“ Sie kehrte zu ihrem Sessel und dem leeren Glas zurück. Es wäre keine schlechte Idee, noch ein Scheit aufs Feuer zu legen, doch sie hatte nicht mehr die Energie dazu. Eine Zeitlang saß sie da und blickte in die glutrote, sterbende Flamme. So saß sie, bis das Feuer erloschen war und die
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Kälte sie ans Abendessen denken ließ. Als Nachwirkung von Harriets Besuch blieb eine große Leere, die sie nicht zu füllen wußte.
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8 Am nächsten Morgen um sechs Uhr erwachte Laura aus einem Alptraum. Sie war unter einer Decke begraben und konnte sich nicht befreien. „Ach, Grindle“, murmelte sie und tastete nach seinen weichen Ohren, ,,ach...“ Sie fürchtete, jede rasche Bewegung könnte einen Hustenanfall hervorrufen, aber sie mußte sich aufsetzen, um durchzuatmen. Und natürlich wollte Grindle, den sie aus dem Tiefschlaf geweckt hatte, nach draußen. Sasha saß auf der Fensterbank. Die Tiere forderten, weiß Gott, recht wenig, und doch, wie lange wäre sie imstande, sich um sie zu kümmern? Dann fiel ihr Mary O'Brien ein. Es war eine Beruhigung zu wissen, daß da bald jemand wäre. Nun stand sie auf, quälte sich in einen Morgenrock und taumelte mit dem vorbeidrängelnden Grindle nach unten. „Hier“, sagte sie, „hinaus mit dir.“ Kein Hustenanfall bisher. Sie goß sich ein wenig Saft ein und ging wieder ins Bett, setzte sich aufrecht, mit drei Kissen im Rücken. Es war ein grauer Morgen, und die Luft hatte nach Schnee gerochen, als sie die Tür öffnete. Sie würde einfach eine Zeitlang liegenbleiben, dachte sie, und das tun, was sie mittlerweile so mühelos anflog: sich in dem langen, gewundenen Bewußtsseinsstrom dahintreiben zu lassen, der sie letztlich stets zum Haus ihrer Kindheitssommer am Meer zu führen schien. „Ich muß noch einmal hinfahren“, dachte sie. Aber allein? Bereits die Vorstellung von einem eiskalten, unbewohnten Haus ließ sie zittern. Warum ist nicht Frühling? Dieser Winter war endlos, seine unerbittliche Kälte energieraubend und abstumpfend. Wäre ihr wohl noch ein Frühling vergönnt? Es wäre gut zu leben, bis sie noch einmal die Blätter sähe. Als das Telefon läutete, zögerte sie einen Moment.
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Nicht abnehmen? Nein, es könnte Tante Minna sein. „Hallo.“ „Hier ist Ann. Geht es dir gut?“ „Wieso?“ „Deine Stimme klingt so weit weg. Ich habe dich vielleicht geweckt.“ „Ich war wach. Gütiger Himmel, es ist nach acht.“ „Wir möchten, daß du heute zum Abendessen kommst, wenn du kannst. Es ist Lauries Geburtstag, wie du weißt.“ „Ich bin wirklich schlecht beieinander... Ich hab's glatt vergessen. Natürlich komme ich. Wie spät?“ „Sechs? Geht es dir denn besser, Laura? Hat der Arzt dir ein Antibiotikum gegeben? Ich wollte dich bereits anrufen, aber wir alle hatten Grippe. Du weißt ja, wie das ist... alle daheim. Chaos!“ „Grindle bellt und will hereingelassen werden... Ich habe ihn völlig vergessen. Dann bis um sechs.“ Zumindest hatte sie nicht auf ihre Gesundheit eingehen müssen, und in dem glücklichen Trubel eines Geburtstagsessens für Laurie würde es niemand wahrnehmen. Aber was sollte sie Laurie schenken? Laura zog ihre Schmuckschatulle hervor und stellte sie aufs Bett. Da war der große Diamant, Charles' Geschenk zu ihrem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag, und die Halskette aus Lapislazuli, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte, als sie einundzwanzig wurde. Laura nahm sie heraus und ließ die geschliffenen Steine durch ihre Finger gleiten. Da war der ausgefallene Halsschmuck aus Kristallperlen, auf eine dünne Silberkette gefädelt, die Ella ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Da war der Verlobungsring ihrer Großmutter, ein Saphir mit Brillanten ringsum... Der Gedanke, irgend etwas davon herzuschenken, selbst an Laurie, gab ihr einen kurzen, aber heftigen Stich. Also ließ sie den Schmuck auf ihrem Bett und ging hinunter, denn Grindles Bellen war jetzt ganz wütend geworden. Sie hatte ihn viel zu lange draußen in der Kälte gelassen. „Komm rein, Hund, entschuldige, daß ich dich vergessen habe. Du bekommst jetzt einen Käsekeks und ich ein Frühstück.“
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Während der Kaffee kochte, überlegte sie, welche Kostbarkeit sie Laurie schenken könnte — Laurie, heute gerade zehn Jahre alt. Es kam ihr wie ein großer Segen vor, daß sie diese wilde kleine Enkelin immerhin zehn Jahre lang kannte, und der Stich, den sie für einen Augenblick gespürt hatte, war jetzt allmählich in eine besondere Freude umgeschlagen, die für Laura ganz neu war, die Freude, sich von einem Schatz zu trennen. Es mußte die Kette ihrer Mutter sein — an die Urenkelin weitergegeben. Das würde Sybille gefallen. Doch auch Laurie? Sie trug nie ein Kleid, wenn sie es vermeiden konnte, und hätte vermutlich ein Paar Langlaufski viel lieber gehabt! Ungeachtet dessen wickelte Laura schließlich die Kette ein und schrieb eine Karte dazu: „Einen Schatz für meinen Schatz zum zehnten Geburtstag.“ Es war, wie ihr plötzlich bewußt wurde, genau das, was ihre Mutter vor vierzig Jahren geschrieben hatte: „Für meinen Schatz zum einundzwanzigsten Geburtstag.“ War ich ihr Schatz? fragte sich Laura. Und sie wußte, die Antwort war: ja. Sybille hatte ihre Kinder auf ein besonderes, eigens für sie reserviertes Podest gestellt. Es wurde uns zwar nicht direkt gesagt, doch bekamen wir irgendwie die Idee, daß wir schöner, intelligenter und besser waren als alle anderen Kinder. Aber was für Barrieren hatte das zwischen ihnen und den Gleichaltrigen errichtet! Dennoch war es berauschend gewesen, mußte Laura zugeben. Die familiäre Fieberhaftigkeit war so groß, daß sie am Rande eines ständigen Dramas lebten; die Größen und Berühmtheiten gingen aus und ein; und diese wundervollen Bälle in Genua, als sie nächtelang mit italienischen Offizieren und jungen Botschaftsangehörigen getanzt oder sich über die Brüstung gebeugt hatten, um zu sehen, wie die neueste Eroberung ihrer Mutter in der Halle den Mantel ablegte, und zu dem Schluß zu kommen, daß, wer auch immer es sein mochte, er allzu häßlich, nicht groß genug oder einfach zu ausgeflippt war, um wirklich der „große Mann“ zu sein, nach dem ihre Mutter ein Leben lang gesucht hatte wie nach dem heiligen Gral.
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Armer Papa, dachte Laura, aber hatte er denn gelitten? Sybilles Ehe war ihrerseits in solche Nebel von Illusion und Selbstbetrug gehüllt, daß die Wahrheit unmöglich aus dem Spiel herausgefiltert werden konnte. Da gab es das selbstpublizierte Buch leidenschaftlicher Liebesgedichte, die Sybille Dwight geschrieben hatte, als er im Ersten Weltkrieg bei der Luftwaffe diente und sie zwei Jahre lang getrennt waren. Daß sie einander geliebt hatten, bezweifelte wirklich niemand. Sie flirteten maßlos über den Eßtisch hinweg miteinander, gingen vor dem Essen auf der Terrasse auf und ab und unterhielten sich so intensiv, daß der Gong öfter ein zweites Mal ertönen mußte, bis sie ihn hörten, und schrieben einander unzählige Briefe, wenn sie getrennt waren. Und doch hatte Sybille ihren Mann für zwei Jahre allein gelassen, um Laura zu pflegen, eine Tat, die Kusine Hope und auch all ihren Freundinnen absolut selbstverleugnend, heroisch vorkam und Laura als Gefangenschaft, nicht nur durch Krankheit, sondern durch etwas, woran zurückzudenken sie schon grauste, eine völlige Vereinnahmung durch ihre Mutter, als wäre sie ein kleines Kind. Und was hatte sich Pa wirklich hierbei gedacht? Er fuhr nach Davos, wann immer er für einen oder zwei Tage weg konnte, und brachte ihnen jeden Luxus mit, den er sich vorzustellen vermochte — elegante Bettjäckchen für Laura, goldfarbene Slipper für Sybille, kandierte Maronen, einmal eine Kiste Champagner. Aber er schien sich in ihrer intensiven weiblichen Welt nie sehr wohl zu fühlen, in dieser konzentrierten Atmosphäre von Krankheit, dem Palaver über Ärzte, der unerbittlichen Routine. Laura vermutete, daß, wie sehr auch immer er sich danach gesehnt hatte, sie zu sehen, er doch ganz froh war, wieder wegzukommen und in seine Welt der Diplomaten und Wirtschaftskrisen zurückzukehren und zu den verschwiegenen Bemühungen, den Intellektuellen und Radikalen zu helfen, die Mussolini erbarmungslos einsperrte, wenn sie nicht zum Schweigen gebracht werden konnten. Laura vermutete, daß ihr Vater, im vollen Einverständnis mit seiner Frau, einige Risiken einging.
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Aber warum hatte Sybille darauf bestanden, ihr ganzes Leben umzukrempeln und um diese Krankheit herumzubauen? Das blieb ein Rätsel. Schuldgefühle, vielleicht. Glaubte sie, sie hätte ein geliebtes Kind vernachlässigt? Oder hatte sie nach der schmerzlichen Episode von Jos Vernarrtheit in Alicia einen Anflug von Überfürsorglichkeit? Muß ich Sybille denn immer kritisch gegenüberstehen? fragte sich Laura. Wenn sie sich jetzt George Herbert zuwandte, so war es, weil Sybille ihr in jenen Jahren so viele Gedichte vorgelesen hatte, auch Virginia Woolf und, komischerweise, Trollope. Sofort konnte sie das heisere, doch melodische Lachen ihrer Mutter hören. Und wie sie manchmal gelacht hatten, gelacht, bis ihnen die Tränen über die Wangen kullerten! Der Geschmack und Scharfsinn, die Leidenschaftlichkeit und die Träume ihrer Mutter hatten sich ihr ins Bewußtsein geprägt. Das ließ sich nicht leugnen. Eine große „Persönlichkeit“, wie Jim Goodwin sie genannt hatte, schaffte so etwas bei ihren Kindern. Immerhin hatten sich Lauras eigene Kinder keinem heroischen Muster anpassen müssen. Was sie sich erhoffte, hatten sie und Charles getan, indem sie lediglich versuchten, eine sichere, warme Welt zu schaffen, in der ihre Kinder sehr frei aufwachsen konnten — doch welche Eltern sind je erfolgreich? Eben diese Sicherheit und Normalität hatte die Revolte hervorgerufen. Laura, in diesen Tagen von Erinnerungen heimgesucht und von dem Bedürfnis, aus allem eine Bilanz zu ziehen, bevor es zu spät war, fand dieses Grübeln ermüdend. Es war wirklich eine gute Idee, da herausgerissen zu werden und sich in die baldige Gegenwart der kleinen Laurie und ihren zehnten Geburtstag zu versetzen. Sie fuhr zu dem hellerleuchteten Haus, in dem an diesem Abend Freude und Erwartung herrschten. Ann öffnete die Tür. ,,Komm rein, komm rein, liebe Laura“, sagte sie und gab ihr einen Kuß. „Wir haben dich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen!“ Laurie schlang ihre Arme um Lauras Taille und drückte
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sie so fest, daß Laura fast das Gleichgewicht verlor. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz. Dies ist ein glücklicher Tag!“ ,,Rate mal, was ich gekriegt habe!“ sagte Laurie und zog sie ins Wohnzimmer, wo zwei goldbraune Retriever sich auf sie stürzten. Um ihre Aufmerksamkeit abzulenken, setzte sich Laura schnell. „Ich habe eine echte Gänsedaunenjacke bekommen... und Schneestiefel... und sieh bloß, Omi, einen Wellensittich! Er heißt Aucassin.“ Der Wellensittich befand sich in einem Käfig auf einem kleinen Tisch. „Daddy macht mir eine Aufhängung in meinem Zimmer, direkt am Fenster.“ „Darf ich unterbrechen?“ fragte Brooks, der aus der Küche kam. „Was möchtest du trinken, Mutter? Wie war's mit einem Glas Champagner? Ich habe welchen, gut und kalt.“ „Liebling, das wäre großartig.“ „Jemand hat ihn uns zu Weihnachten geschenkt“, erklärte Ann. „Wie fühlt man sich denn mit zehn, Laurie?“ Laurie hatte sich mit den beiden Hunden auf dem Teppich niedergelassen. Sie blickte ins Feuer und streichelte mit der Rechten den großen Hundekopf. „Schon gut, glaube ich“, sagte sie. „Du klingst nicht allzu begeistert.“ „Ich darf immer noch nicht das tun, was ich wirklich will.“ „Wo ist Charley?“ fragte Laura. „Ich habe ihn nach oben geschickt, um ein frisches Hemd anzuziehen“, sagte Ann. „Er hat sich ganz dreckig gemacht, als er mein Geschenk gemalt hat. Sieh mal!“ Laurie zeigte zum Kaminsims, wo ein großer Bogen Papier mit einem riesigen rot-blauen Wal darauf — war es ein Wal? — angeheftet war. „Es ist die Geschichte von Jonas, nur kann man das nicht so gut erkennen, weil Jonas in dem Wal steckt.“ „Es sieht so aus, als hätte er sich die Sache mit dem Geschenk heute etwas spät überlegt.“ Laura lächelte.
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„Er wollte mir eigentlich überhaupt nichts schenken. Er hat es nur getan, weil ich gesagt habe, daß er dann von mir auch nichts kriegt.“ In der Küche gab es einen lauten Knall, und Laurie sprang auf die Füße. „Was war das? Ein Schuß?“ „Nur dein Vater“, rief Brooks aus der Küche, „der die Flasche Champagner aufgemacht hat. Komm und sieh, wie es perlt.“ „Ich werde mich fünf Minuten zu euch setzen, selbst wenn's mit dem Essen später wird“, erklärte Ann und setzte sich neben Laura auf das ramponierte Sofa. „Charley hat uns zu schaffen gemacht. Er fühlt sich wirklich nicht wohl. Er hatte eine furchtbare Grippe.“ Und da kam Charley auch schon, erhitzt und mit glänzenden Augen unter der blonden Haartolle, fuchtelte, halb in seinem Hemd steckend, mit einem Arm in der Luft herum. „Hilf mir, Mami, ich hab mich ganz in dem Hemd verheddert.“ „Hier, Schatz.“ Ann schob den herumfuhrwerkenden Arm in den Ärmel und knöpfte das Hemd zu. „Und nun sag Omi guten Abend.“ Brooks erschien mit einem Tablett voller Gläser. „Hier, Mutter.“ „Kriege ich auch eins? Es ist mein Geburtstag“, bettelte Laurie. „Aber sicher, dies ist für dich.“ Und Brooks machte eine ernste Verbeugung vor seiner Tochter, als er ihr ein halbvolles Glas reichte. Sie sahen einander wirklich überraschend ähnlich, beide hatten die sehr dunklen Augen und die geraden schwarzen Brauen von Charles geerbt. Laura kam der Gedanke, und er amüsierte sie, daß Laurie in ihren engen Jeans und dem Rollkragenpulli ebensogut ein Junge hätte sein können, während der blonde kleine Charley, der da mit seinem Teddy auf dem Boden saß, auch ein Mädchen hätte sein können. Freilich, als Älteste hatte Laurie immer viele Dinge mit ihrem Vater gemacht: Seit sie acht war, ging sie mit ihrem Vater Ski laufen, bestand immer darauf, Schnee zu schippen, wenn Brooks schippte.
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„Wo ist meins?“ forderte Charley stirnrunzelnd. „Erst bekommt deine Mutter ihr Glas und dann du — wir müssen ja anstoßen!“ „Hier“, sagte Brooks und reichte seinem Sohn ein Saftglas mit Ginger Ale, wie Laura vermutete. „Und nun, meine Damen und Herren, möchte ich einen Toast auf Laurie ausbringen. Auf daß es in jeder Hinsicht ein tolles Jahr werde, massenhaft Schnee zum Skilaufen, nur Einser in jeder Mathearbeit, keinen Streit mit ihrem Bruder und... was noch?“ Lachend sah er zu Laurie hinunter, die an jedem seiner Worte hing. „Das ist unmöglich. Das letzte ist unmöglich“, sagte sie. „Du könntest sagen, einen Bruder, der sich gebessert hat, schätze ich. Ich habe Charley schrecklich satt“, erklärte sie Laura. „Und ich hab' dich satt“, trumpfte Charley auf. „Ruhe, Kinder. Oma hat ein Geschenk für Laurie, Laßt uns Waffenstillstand schließen und es auspacken.“ Laurie setzte sich zu Lauras Füßen auf den Boden und schüttelte die kleine Schachtel in der Hand, um zu hören, was wohl darin war. „Ich kann nicht raten, was es ist“, sagte sie. Dann riß sie das Papier und die Goldkordel ab und machte sie auf. „Oh, es ist eine Halskette...“ Einen Augenblick lang hielt sie sie in der Hand und strich über die geschliffenen blauen Steine. „Sie ist blau.“ Wie hilfesuchend sah sie zu ihrem Vater auf. „Deine Urgroßmutter hat sie mir zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt“, sagte Laura, „das sind Lapislazuli.“ „Sie ist wunderschön“, sagte Ann, „laß mich sehen. Du hättest dich nicht davon trennen sollen, Laura... du bist zu großzügig.“ „Vielen Dank, Omi“, sagte Laurie feierlich. „Sie paßt zwar nicht so unbedingt zu Jeans, aber du kannst sie ja vielleicht zum Essen tragen“, schlug Ann vor. „Nein“, sagte Laurie, „ich werde sie einfach in mein
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Geheimfach legen und manchmal herausnehmen und befühlen.“ „Ich möchte sie tragen“, sagte Charley. „Mir gefällt sie“, und er streckte seiner Mutter die Hand hin. „Es ist ein Schmuckstück.“ Er lag mit erhobener Hand vor seiner Mutter auf dem Bauch und war vor Neid und Gier ganz hingerissen. „Nein“, schrie Laurie. „Er kann sie nicht tragen, Mami, sie gehört mir.“ „Hört zu, ihr Früchtchen, geht ins Arbeitszimmer und setzt euch eine halbe Stunde vor den Fernseher, bis ich das Essen auf den Tisch bringe, dann können Brooks und Laura einen Augenblick Ruhe haben.“ „Komm, Charley!“ Laurie zog ihn hoch. Und überraschend verschwanden sie ins Arbeitszimmer. „Was machen Eltern bloß, die ihren Kindern kein Fernsehen erlauben?“ fragte Ann, während sie die Halskette wieder in die Schachtel legte und sie auf den Kaminsims stellte. „Sie drehen allmählich durch“, antwortete Brooks, der mit der Flasche kam, um ihre Gläser nachzuschenken. „Ich brauche nicht lange“, sagte Ann in der Küchentür. „Macht's euch gemütlich.“ Allein mit ihrem Sohn, der am Kamin stand und mit anerkennendem Lächeln zu seiner Mutter herabsah, befiel Laura eine plötzliche Scheu. „Es war nicht so das rechte Geschenk“, sagte sie. „Laurie ist zu jung, aber schließlich lebe ich ja nicht ewig, und vielleicht ist es an der Zeit...“ „Unsinn, sie liebt es. Hast du nicht gesehen, wie sie damit umgegangen ist?“ Dann kam er und setzte sich neben sie auf das Sofa. „Du siehst ganz mitgenommen aus von diesem Bazillus, den du aufgeschnappt hast. Du hast abgenommen.“ „Und das hat sein Gutes. Ich war viel zu fett.“ „Was hat denn Goodwin gesagt? Er ist ein netter Kerl, aber ich habe immer das Gefühl, er verläßt sich mehr auf
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Gott als auf die Medizin. Du siehst so aus, als brauchtest du einige B-12-Spritzen.“ „Mir geht's recht gut, Brooks, hör auf, mich zu piesacken.“ „Ich und piesacken?“ „Ein Glas Champagner und bei dir und Ann und den Kindern zu sein, ist eine viel bessere Medizin als B-12 je sein könnte“, sagte Laura. „Jetzt erzähl' mir, was es alles Neues gibt.“ „Nun, ich stecke tief in der Kommunalpolitik, weißt du. Wir stoßen auf viel Opposition bei der Errichtung einer Wiederverwertungsanlage nach dem Muster von Wellesley. Sie recycelt Dosen, auch Glas und Papier natürlich. Aber sie ist teuer, und die Steuern werden steigen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sauer die Leute werden, wenn's an ihren Geldbeutel geht.“ Laura seufzte. Seit Dr. Goodwins Urteil gelang es ihr nur schwer, sich auf irgendwelche Zukunftspläne zu konzentrieren. „Du bist großartig, Brooks. Wann hast du bloß jemals Zeit?“ „Umweltschutz ist für mich vermutlich die allerwichtigste Aufgabe. Ich möchte, daß die Welt weiterbesteht, damit sie auch Laune und Charley noch ernähren kann, und manchmal habe ich wirklich Angst. Ich meine, die Zeit läuft ab. Bis zur Mitte des Atlantiks ist das Meer schon verseucht.“ Laura trank einen Schluck Champagner, und da befiel sie urplötzlich ein schrecklicher Hustenanfall. „Hol mir ein Kleenex, Brooks“, stieß sie flüsternd hervor. Er kam augenblicklich mit einer Schachtel zurück und stellte sie neben sie, legte seinen Arm um sie und hielt sie fest. Der Husten zerriß sie förmlich. „Das ist kein Spaß“, sagte Brooks. „Was da eben hochkam, war Blut.“ „Es ist nichts, nur eine Infektion.“ „Jim Goodwin sollte besser darauf achten“, sagte Brooks. „Hat er dich geröntgt?“
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Schließlich ließ der Anfall nach. Schweiß rann Laura übers Gesicht. Sie machte eine Handbewegung, die Brooks als den Wunsch deutete, allein zu sein, und er ging zu Ann hinüber. Sie konnte hören, daß sie leise redeten. Es ihnen jetzt sagen? Es hätte kein schlechterer Zeitpunkt sein können, doch was wäre ein guter Zeitpunkt? Laura wünschte, sie könnte einfach heimfahren zu Grindle und Sasha und in Ruhe gelassen werden. Und vielleicht sollte sie genau das tun. Dann kamen Ann und Brooks herein. „Liebe, es ist massenhaft Zeit. Die Kartoffeln sind noch nicht gar. Die Kinder sehen sich zum Glück ein Basketballspiel an. Mach dir keine Sorgen, ja?“ Jetzt setzte sich Ann neben sie und drückte ihr zärtlich die Hand. Laura wollte keine Berührung. Sie hatte Angst, daß sie weinen könnte. „Ich arbeite gerade an einem sehr interessanten Erstlingsroman“, brachte sie hervor und setzte sich aufrecht, obwohl es sie Mühe kostete. „Nein, Mutter“, sagte Brooks mit sanfter Autorität. „Wir wollen wissen, was los ist, und du wirst keine Ausflüchte machen.“ „Ich werde niemandem zur Last fallen“, sagte Laura. „Eine sehr nette Frau kommt nächste Woche und versorgt mich. Denn ich fühle mich seltsam schwach.“ „Das ist eine gute Nachricht“, sagte Brooks und tauschte mit Ann einen Blick aus. „Gute Nachricht, daß ich mich schwach fühle?“ Laura gelang ein Lächeln. „Gute Nachricht, daß du das annimmst. Du wirst doch wohl nicht vor uns eins dieser heroischen Theater deiner Mutter abziehen, nicht wahr? Du hast mir immer wieder gesagt, welche Belastung das war.“ „Ja.“ Darauf folgte ein langes Schweigen, während dessen Laura ihr Recht, auf ihre Weise und allein zu sterben, aufgab. Ihr wurde klar, daß das ein romantischer Impuls gewesen war. Ihre Kinder hatten auch Rechte, wie sie langsam einsah. Besonders Ann war ihr ein echter Trost gewe-
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sen, als Charles starb. Sie schuldete ihnen die Wahrheit. „Es ist eben so, daß ich nicht mehr lange zu leben habe“, sagte sie. „Es ist Lungenkrebs in zu fortgeschrittenem Stadium für eine Operation.“ „Mutter!“ Brooks sprang auf und lief hin und her. Dann machte der Schock seinem Zorn Platz. „Du meinst, daß Jim Goodwin dir das so direkt gesagt hat? Warum hat er nicht mit mir gesprochen?“ „Weil ich ihn darum bat, es nicht zu tun, und was meine Aufklärung anbelangt, bin ich sehr stolz, daß er das Gefühl hatte, es mir sagen zu können.“ „Und wenn er sich irrt?“ „Die Röntgenbilder waren absolut eindeutig.“ Ann saß ganz still mit gefalteten Händen. Laura spürte, daß sie einen Weg finden mußte, der ihnen half, den Abgrund zu überbrücken und zum Normalen zurückzukehren, wenn das überhaupt möglich war. „Etwas ganz Merkwürdiges geschah an diesem Tag in Jims Praxis. Ich fühlte mich in einer Hochstimmung, so, als beginne für mich ein großes mysteriöses Abenteuer, und ich wollte es ganz für mich haben. Und ohne entmündigt zu werden, wie Mama mich entmündigte, als ich TB hatte. Könnt ihr das verstehen?“ „Wir sind hier, um alles zu tun, was wir können, Mutter. Es wird nicht leicht sein.“ Brooks sah sehr bestürzt aus und rang nach den richtigen Worten. „Ab nächste Woche kommt diese Frau zu mir. Sie ist erfahren und schien vor der Verantwortung nicht im geringsten zurückzuschrecken, und Jim wird kommen und selbst die Lungen punktieren, wenn es soweit ist und erforderlich sein wird. Er hat mir alles erklärt — und ich will, daß ihr mich darin unterstützt, zu Hause zu sterben.“ Ein Blick in Brooks Gesicht sagte Laura, daß sie augenblicklich etwas Drastisches tun müßte. „Die Kartoffeln müssen inzwischen reichlich gar sein. Laßt uns essen.“ „Bist du sicher, daß du nicht heimfahren solltest? Der Hustenanfall muß dich ganz erschöpft haben“, sagte Ann und nahm Lauras Hand. 79
„Nein“, sagte Laura, „ich möchte nicht heimfahren. Ich möchte leben, sosehr ich kann. Wie kann ich es euch sagen? Es war für mich eine außergewöhnliche Zeit. Ich habe das Gefühl, als könnte ich alles Unwesentliche ohne Schuldgefühle abtrennen. Lauries Geburtstagsfest ist wesentlich, und es geht mir jetzt recht gut. Geh und hol die Kinder, Brooks, und ich werde Ann beim Auftragen helfen.“ „Du bist wunderbar.“ Ann drückte ihre Hand. „Nein... ach nein“, murmelte Laura. „Das nun gerade nicht.“ Dann brach sie den Bann auf die einzig mögliche Weise, indem sie aufstand und sich erbot, das Huhn in Sahnesauce (Lauries Leibgericht) aufzutischen, wurde aber statt dessen zum Kerzenanzünden ins Eßzimmer geschickt. Es ist ein hübsches Zimmer, dachte sie — der Wintergartenerker war beleuchtet, und darin blühten Alpenveilchen und Geranien und eine weiße Azalee. Ann hatte eine leuchtend rote Topfprimel mitten auf den Tisch gestellt, eine Damastdecke aufgelegt und die Plätze mit roten Servietten gedeckt. „Setzt euch, Charley und Laurie“, sagte Brooks leise. „Ich sterbe vor Hunger“, rief Charley, „kann ich gleich ein Brötchen haben?“ „Nein.“ „Rot ist die rechte Farbe, wenn es draußen so kalt ist, nicht wahr, Laurie? Hier, du sitzt neben mir“, und als sie über Lauries dunkles Haar strich, kam Ann mit zwei Platten herein. „Diese Primel. Wie hast du das bloß fertiggebracht?“ „Unter Strahlern im Keller. Du mußt sie mit heimnehmen, Laura.“ „Hm, Huhn in Sahnesauce. Magst du das auch so gern?“ fragte Laurie und stürzte sich darauf, kaum daß ihr Teller vor ihr stand. „Ich bin so glücklich, daß ich platzen könnte“, erklärte sie. „Ich auch“, sagte Laura. Die Flammen der Kerzen warfen ein leicht diffuses Licht, und sie sah den ganzen weißgedeckten Tisch und die Blumen so, als sähe sie durch ein
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Fenster, an dem Regen herabströmte, wie ein impressionistisches Bild. Nach einem Hustenanfall, hatte Laura bemerkt, verklärte eben jenes Schwächegefühl alles so sehr. Brooks hatte graue Strähnen im Haar (unglaublich), doch er sah so gut aus, so ganz da in seinem wahren Selbst; Laura fand es erstaunlich, daß er ihr Sohn war. Wenn Kinder schließlich erwachsen werden, kommen sie uns wie wunderbare Wesen vor. Wie fühlte man sich je für eine solche Person verantwortlich? Was Brooks letztlich zu dem gemacht hatte, war sein Engagement für den Umweltschutz, nicht sein vergleichsweise trivialer Beruf. Ein echtes Engagement hatte ihm Rückhalt gegeben, ihm eine neue Autorität verliehen, dachte sie. Und auch Ann in ihrer verknautschten weißen Bluse sah blendend aus, trotz der dunklen Ringe unter den grauen Augen. Ihre Ehe hatte schließlich eine eigene Qualität bekommen, nach einigen schweren Jahren, in denen Ann als Lehrerin voll berufstätig war. Als Charley kam, hatte sie ihren Beruf aufgegeben, und Laura wußte, daß es ihr nicht leichtgefallen war. Aber es käme auch wieder eine andere Zeit, dachte Laura — obwohl man das schwer glauben kann, wenn Kinder klein sind. „Was denkst du, Omi?“ Sie merkte plötzlich, daß Charley sie genau beobachtet hatte. „Willst du das wirklich wissen?“ , Ja“, sagte er und strahlte sie an. „Ich dachte, wie gut das Leben in diesem Haus ist und wie großartig ihr ausseht, alle vier.“ Jetzt sahen sich Ann und Brooks an und brachen in Gelächter aus. „Du hättest uns mal letzte Woche sehen sollen“, sagte Ann. „Es grenzt an ein Wunder, daß niemand ermordet ist.“ „Mehr“, sagte Charley und hielt seinen Teller hin. „Mehr, bitte.“ „Bitte“, fügte er widerwillig hinzu. „Erzähl mal, was sich in der Schule tut, Schatz“, sagte Laura zu Laurie. „Sie hat dieses Jahr einen wirklich guten Lehrer in
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Naturwissenschaft bekommen“, antwortete Brooks. „Laß mich erzählen, Daddy. Omi hat mich gefragt.“ „Stimmt, und ich möchte wissen, was du denkst.“ Jetzt, da Laurie im Mittelpunkt stand, wurde sie plötzlich schüchtern. Laura wollte ihr darüber hinweghelfen: „Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir damals, als ich so alt war wie du, römische Geschichte. Und im selben Sommer nahm uns mein Vater mit und zeigte uns Hadrians Stadtmauer. Wenn man dort ist, bekommt man ein Gefühl dafür, daß Rom eine Zivilisation war. Inmitten eines rauhen Landes und der Barbaren.“ „Wir sind gerade bei den Indianern“, sagte Laurie. „Eine schrecklich grausame Sache, nicht?“ , Ja“, sagte Laurie ernst. „Es macht mich ganz krank. Ich meine, wir haben unser Wort gebrochen — wir haben sie ermordet. Aber unser Lehrer ist ziemlich langweilig, und deshalb bin ich nicht so gut. In Biologie habe ich eine Eins bekommen. Wir nehmen jetzt die Insekten durch und die Bienen und Ameisen und Käfer. Weißt du, daß es Millionen von Käfern gibt, Omi? Und wir haben Ameisen in einem Glaskasten am Fenster, damit wir sie beobachten können.“ „Das klingt ja sehr interessant.“ Charley war von seinem Stuhl gerutscht, hatte sich neben Laura gestellt und auf ihre Hand getippt. „Was ist denn, Charley? Was möchtest du?“ „Wenn du willst, sag' ich ein Gedicht auf.“ „Das wäre schön, vielleicht nach dem Nachtisch.“ „Jetzt“, sagte Charley. „Unterbrich mich nicht, Charley, das ist unhöflich“, sagte Laurie sehr von oben herab. Heute war schließlich ihr Tag. Das war zuviel für Charley, er raste um Lauries Stuhl herum und schrie: „Ich hasse dich! Nie läßt du mich mal was tun“ und prügelte auf seine Schwester ein. Brooks ging sofort dazwischen und zog Charley mit sich in die Küche, wo Ann letzte Hand an den Kuchen
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legte, wie Laura vermutete. Laurie begann zu weinen. „Ich würde mir nichts draus machen“, tröstete Laura sie. „Er ist noch so klein, und er möchte auch im Mittelpunkt stehen, das ist alles.“ „Aber er hat mir am Arm weh getan“, sagte Laurie. „Das ist nicht fair.“ „In seinem Alter gilt nur der Augenblick. Es ist für ihn schwierig zu merken, daß eines Tages er Geburtstag hat und er dann der Hahn im Korb ist. Lauf und hol dir ein Papiertaschentuch, und dann können wir weiterreden. Ich will ja noch viel mehr hören.“ Nun saß Laura einen Moment allein am Tisch. Auch für mich gilt nur der Augenblick, dachte sie. Nie würde sie sehen, wie diese beiden Kinder aufwuchsen. Es gab ihr ein eigenartiges Gefühl, als stürze sie mit einem Fallschirm ins Zentrum des Lebens, dessen Frische und Intensität sie bis ins Mark erschütterte. Jetzt, in diesem Augenblick. „Geht es dir gut, Mutter?“ Brooks legte ihr die Hand auf die Schulter, und sie sah zu ihm auf. „Prima. Ich fühle mich ausgezeichnet.“ „Wieviel Gewalt wir doch unterdrücken lernen“, sagte er und setzte sich wieder auf seinen Platz. „Es verblüfft mich einfach, wieviel blanke Wut sich in Charley aufstaut; auch in Laurie übrigens. Waren wir auch so schlimm, Ben und Daisy und ich?“ Jetzt gab Ann ein Zeichen, die Tischkerzen auszublasen, und als Brooks das getan hatte, trug sie den Kuchen herein, auf dem zehn angezündete Kerzen flackerten, während sie durchs Zimmer ging. „Aber wo ist Laurie?“ „Hier bin ich“, Laurie rannte herein. „Oh!“ Charley war seiner Mutter gefolgt, streifte seine Großmutter mit einem scheuen Blick und setzte sich auf seinen Stuhl. „Es ist Schokolade“, sagte er, „mit weißer Eiscreme.“ „Schatz, jetzt wünsch dir was, atme tief ein und puste.“ „Ich weiß doch gar nicht, was ich mir wünschen soll!“ sagte Laurie. „Beeil dich“, flüsterte Ann.
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Laune schloß die Augen, öffnete sie und pustete, aber für die letzte Kerze reichte ihre Luft nicht. Sie flackerte wieder auf. „Du kriegst deinen Wunsch nicht! Du kriegst deinen Wunsch nicht!“ rief Charley, beglückt von dieser Vorstellung. „Macht nichts“, sagte Laurie. „Es war eh ein blöder Wunsch.“ „Brooks, sei ein Engel und teil das Eis aus, ja ? Die Schälchen sind auf der Anrichte.“ Als schließlich alle ihre Portion vor sich hatten, knüpfte Brooks dort an, wo sie unterbrochen worden waren, als er Laura gefragt hatte, ob er und Daisy und Ben genauso hitzig gewesen seien wie seine Kinder. „Daisy hatte schreckliche Ausbrüche. Ich frage mich, ob es sich um schlichte Frustration gehandelt hat, weil sie die Jüngste war und ihr immer gesagt wurde, sie dürfe dies oder das nicht. Meine Schwester Daphne hat das auch durchgemacht. Du und Ben, ihr habt euch nicht gestritten, oder?“ „Aber ja, und wie!“ Brooks lachte. „Wir hatten die verrücktesten Zankereien. Es kam vor, daß Ben eine ganze Woche lang nicht mit mir redete. Das war, als ich eines Nachts aufstand und mit Absicht seine ganze Schlachtordnung durcheinanderbrachte, all seine Truppen, er hat Tage gebraucht, sie wieder richtig aufzustellen.“ „Das war aber gemein von dir, Daddy“, sagte Laurie, begeistert über sein schlechtes Benehmen. „Und was hat er dann getan?“ fragte Charley, ganz fasziniert von den Möglichkeiten. „Wie ich schon sagte, er redete eine Woche lang nicht mit mir.“ „Das würde mir nichts ausmachen“, sagte Charley, „das ist nicht so schlimm.“ „Ich habe mich ganz mies gefühlt — ich war zu weit gegangen.“ Doch nun war Brooks Stimmung umgeschlagen. Er starrte geistesabwesend auf seinen Teller, zog dann die Streichhölzer aus seiner Tasche und zündete die Kerzen in
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ihren hohen Silberleuchtern wieder an, er tat es sehr bedächtig. „Mutter“, sagte er, „möchtest du, daß ich es Daisy und Ben sage?“ „Nicht jetzt“, warnte Ann. Bei ihrem Kaffee im Wohnzimmer, während die Kinder badeten, erklärte Laura, daß sie es Tante Minna gesagt hatte. „Ich dachte, sie würde verstehen, aber statt dessen“ — Laura mußte lachen — „wurde sie ganz wütend. Vermutlich tue ich etwas Ausgefallenes.“ „Tante Minna erinnert mich so an Charley“, sagte Brooks und lachte ebenfalls. „Sie ist so absolut direkt, daß sie überhaupt nichts verbergen kann.“ Dann runzelte er die Stirn. „Aber, Mutter, du mußt es Ben und Daisy sagen. Bist du das nicht schließlich deinen Kindern schuldig?“ „Ich habe nicht das Gefühl“, antwortete Laura, die sich plötzlich ärgerte und den Tränen nahe war, weil sie sich isoliert fühlte, offenbar zu verrückt, um glaubwürdig zu sein. „Kannst du ihnen das vorenthalten? Ich meine, Ben wird nach Hause kommen wollen. Da bin ich ganz sicher.“ „Genau das will ich ja nicht. Verdammt, Brooks, es ist mein Tod!“ Der Ton war so heftig, daß selbst Laura lachen mußte, und das Gelächter brach die Spannung. „Erzähl mir darüber“, sagte Ann. „Wie kannst du ihn akzeptieren? Du bist wirklich außergewöhnlich — ich meine, schließlich bist du ja nicht alt.“ Laura runzelte die Stirn. Sie hatte wirklich noch nicht alles durchdacht. Sie hatte mit dem instinktiven Gefühl gelebt, allein gelassen werden zu wollen; dieser Instinkt war so stark wie der eines Tieres. „Aber ich denke, ich habe mein Leben gehabt. Auf jeden Fall ist es mir so lieber, als Mamas Beispiel zu folgen.“ „Ja, das ist natürlich schrecklich“, pflichtete Ann hastig bei. 85
„Aber es ist nicht so, daß ich mir nicht etwas wünsche — was ich möchte, ist ein wenig Raum, in dem ich mit allem abrechnen kann. Man sagt, daß ein Ertrinkender sein ganzes Leben blitzschnell vor sich ablaufen sieht — so etwa ist es.“ Laura spürte, daß es Zeit war, nach Hause zu fahren. Sie geriet in einen Schwebezustand wie jemand mit hohem Fieber. „Bevor ich heimfahre“, sagte sie, „ist da noch etwas, das mir später eine große Hilfe wäre, nämlich, wenn jemand Grindle ausführen könnte.“ „Selbstverständlich“, sagte Ann, offensichtlich erleichtert, daß sie eine Funktion bekommen hatte. „Die Kinder und ich werden es mit Freude tun.“ Laura war nun aufgestanden, sie taumelte leicht und griff nach Brooks, um das Gleichgewicht zu finden. „Soll ich dich heimfahren?“ „Nein, danke. Ich will nur noch den Kindern gute Nacht sagen.“ Die Kinder kamen ihr bereits unten an der Treppe entgegen, vom Baden gerötet und noch feucht und in ihren Pyjamas. Laurie umarmte Laura fest und sagte: „Vielen Dank für die Halskette, Omi.“ Charley hüpfte singend auf der Stelle. „Gute Nacht, Omi, gute Nacht, Omi!“ Und nach all den „Auf Wiedersehen“ saß Laura sicher in ihrem Auto und strebte nach Hause.
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9 Am nächsten Tag blieb Laura den ganzen Morgen im Bett. Sie mußte sich eingestehen, daß sie sich zum erstenmal wirklich krank fühlte. Es hatte sie große Mühe gekostet, die Tiere herein- und hinauszulassen, und als sie wieder ins Bett kroch, war sie sehr glücklich zu wissen, daß Mrs. O'Brien in einigen Tagen — drei, wie sie dem Kalender entnahm — im Haus wäre. Doch im Moment tat es gut, still dazuliegen und zu beobachten, wie die Sonne durch die weißen Vorhänge die Wand sprenkelte, einen Schluck Kaffee zu trinken und ein wenig zu sinnieren, wie sie es insgeheim nannte. Bisher war sie so damit beschäftigt gewesen, zu leben und sich in Gedanken auf das einzustellen, was kommen mochte, daß sie keine Angst empfunden hatte. Jetzt aber überfiel sie schreckliche Angst, weniger vor dem Tod als vor dem Sterben, Angst, immer kränker zu werden, Angst vor Schmerzen. Sie spürte die Schweißperlen auf ihrer Stirn. Sie konnte nichts tun, als zu warten. Vermutlich gehörte die Angst genauso dazu wie der Hustenanfall. Sie wird vorübergehen, sagte sie sich, betrachtete das Licht, das gesegnete Licht, und den lieben Grindle auf dem Läufer neben dem Bett, der sich das Eis von den Pfoten leckte. Dann schloß sie die Augen, und Bilder von Lauries Geburtstag tauchten in ihr Bewußtsein auf. Vielleicht wäre sie nicht mehr imstande, noch einmal einen langen Familienabend durchzustehen. Denn in Wahrheit hatte sie sich die meiste Zeit in einem Schwebezustand befunden, irgendwo in einiger Entfernung von Ann und Brooks und den Kindern. Ihr wurde klar, daß keine „echte Beziehung“ existierte. Doch wie war das möglich? Die eigenen Kinder, ihre geliebten Enkel nicht „echt“?
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Oder war es einfach so, daß die Zukunft sie nicht mehr berührte? Was sie zutief berührte, Bilder, die auftauchten, wann immer sie sich niederlegte und Musik hörte, hatten mit ihrer Kindheit zu tun, mit dem frühen Frausein, der Zeit vor ihrer Ehe, hatten mit der Vergangenheit zu tun. Vielleicht deshalb, weil all die tiefsten Fragen damals gestellt wurden. Sie hatten damals ihren unauslöschlichen Eindruck hinterlassen, was immer auch aus ihr werden mochte. Aus diesem Grund verfolgte sie auch Sybille in letzter Zeit, Sybille, der unverwischbarste, doch undefinierbarste Eindruck von allen. Und aus diesem Grund dachte sie auch so viel an Ella, weil sie nur mit Ella darüber gesprochen hatte, was es bedeutete, eine Frau zu sein. Nur mit Ella hatte sie über Gefühle nachgedacht. Später war sie zu sehr mit Leben beschäftigt gewesen, um viel über das nachzudenken, was wirklich in ihr vorging. Laura hörte, wie Briefe durch die Tür geschoben wurden und in der Diele zu Boden fielen. Grindle bellte wild, und Sasha saß womöglich auf der anderen Seite der Tür und wartete still, daß sie sich öffnete. Also rappelte sich Laura aus dem Bett und ging hinunter. Und da war Ellas Brief in einem dünnen blauen Umschlag zwischen einem Stapel Rechnungen. Sie nahm ein Glas Orangensaft in die Bibliothek mit, während der Kaffee kochte, und legte sich aufs Sofa. Ihre Hände zitterten, als sie den blauen Umschlag aufriß. Ellas Schrift raste über das Papier, und Laura labte sich einige Sekunden lang an diesem nervösen, charakteristischen Fluß, ohne die Worte zu entziffern. Ellas Bild stand ganz deutlich vor ihr, das dunkle kurze Haar, die Konturen ihres braunen Gesichts und die blitzenden Augen. „Ella, meine liebe Snab“, murmelte sie. Und für einen Augenblick lag sie mit dem Brief in der Hand da, als hielte sie einen magischen Gegenstand, und las lediglich die Anrede: „Liebste Snab...“ Wann hatten sie begonnen, einander so zu nennen, und warum? Sie hatte nicht die leiseste Ahnung. Das Wort „Snab“ gehörte zu ihrer Geheimsprache.
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„Als ich Deinen Brief gelesen habe, war mein erster Impuls, für ein paar Tage hinüberzufliegen, obwohl Du mir bedeutet hast, es nicht zu tun. Der Drang war ungeheuer stark. Dann wurde mir bewußt, daß es egoistisch war und mit meinem Angstgefühl vor dem nahenden Verlust zu tun hatte — ach, Snab! — und ich Dir womöglich keine Hilfe sein könnte, nur eine mehr, mit der Du umgehen und Dich befassen müßtest, während es Dein Bedürfnis ist, wie Du so gut erklärt hast, diese ungeheure Reise allein zu machen. Du klingst unglaublich tapfer, muß ich sagen — doch schließlich hast Du immer enormen Mut gehabt, selbst in Davos, wo die Chancen fast unüberwindbar gegen Dich standen und Du die Gefangene Deiner Mutter warst. Du bist gesund geworden, wie, habe ich nie begriffen, aber Du wurdest es. Und nun bist Du genauso entschlossen, die tödliche Krankheit als eine letzte große Erfahrung zu betrachten — es ist so charakteristisch für Dich zu sagen: ,Ich will es gut machen', und auch zu sagen, daß Du endlich all das ausklammern kannst, was nicht wesentlich ist. Ach, da spricht die wahre Snab! In Paris sagten wir immer, daß wir so leben wollten, das Unwesentliche ausklammern. Glaubst Du, daß das Erwachsenwerden bedeutet, dieses leidenschaftliche Ziel um der anderen willen zu verwässern? Nur jemand mit einem Dämon, ein Genie vielleicht, würde sich gerechtfertigt fühlen, das später zu tun, zumindest, wenn dieser jemand eine Frau ist! Doch ein Jahr lang hatten wir das Glück, engelhafte, archaische Wesen zu sein. Ich habe sehr hart gearbeitet, wie Du Dich erinnerst, mit einer gewissen Leidenschaft, im Gegensatz zu Dir, meine Snab, die sich vielleicht klugerweise für das Genießen entschieden hatte. Gott sei Dank, denn Du verführtest mich zu so vielen herrlichen, wilden Abenteuern. Erinnerst Du Dich noch daran, wie wir ein Vermögen ausgegeben haben, um mit dem Taxi am Heiligen Abend nach Chartres zu fahren? Dort mußten wir die Nacht im billigsten Hotel verbringen, wo uns die Wanzen fast aufgefressen haben. Erinnerst Du Dich noch an die
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Stunden, die wir mit Cézanne in der Orangerie zugebracht haben? Und wie verknallt Du in die Nachtklub Sängerin Stroeva warst — in ihrem Frack und den diamantenen Manschettenknöpfen —, eine Russin? ,Tu sais les mots calins et tendres' — natürlich erinnerst Du Dich! Und unsere langen leidenschaftlichen Debatten über Religion, ob Gott in Wirklichkeit von Menschen geschaffen sei oder nicht, ob man ohne Gott leben könne. Und wie abgeneigt wir der Ehe gegenüberstanden, weil sie unseres Erachtens ein Sichausliefern bedeutete — aber das ist nicht das Wort, das ich meine —, die Macht zu verlieren, über das eigene Leben zu bestimmen? Und doch haben wir geheiratet, Du mit mehr Glück als ich. Nachdem ich mit Hugh verheiratet war, hatte ich ohne Zweifel das Gefühl, ich hätte zu existieren aufgehört, oder doch fast, als eigenständige Person, zumindest all die Jahre über, als die Kinder aufwuchsen. Ist es nicht interessant, daß wir, so spät im Leben, mit Freude einem Beruf nachgegangen sind und darin Gutes geleistet haben? Ach, liebste Snab, mein Stift rast über die Seite, rast Dir entgegen in der Verzweiflung, noch alles zu sagen, all das, was wir zusammen erlebt haben, zu umreißen, Dir nahe zu sein, und die einzige Möglichkeit, wie ich das kann, liegt offenbar in der Erinnerung an unsere Jugend. Ich wünschte, ich könnte mir einfach vorstellen, wo Du bist und wie es Dir geht, wenn Du all diesen Unsinn liest. Du mußt zwischen den Zeilen ahnen, wie sehr ich bei Dir bin, während Du diese letzte Reise antrittst, wie sehnsüchtig ich auf ein Wort von Dir warte, wenn Du kannst. Allerdings weiß ich auch, daß das Schreiben Dir schwerfallen und dann unmöglich sein wird. Ich werde Dir auf Deiner Reise schreiben. Laß uns im Geist zusammenbleiben bis ans Ende und über das Ende hinaus.“ Laura ließ das Blatt fallen. Über das Ende hinaus? Solange Ella lebte, würde sie, Laura, existieren — sie hatten oft darüber gesprochen, wie die Menschen ganz allmählich immer mehr von den Toten bevölkert werden und — so sagte Ella, als sie sich das letztemal sahen und unter einer
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großen Eiche in ihrem Garten saßen und Tee tranken — wie „die Toten den Lebenden helfen“. Nicht in einem mystischen Sinn, darin waren sie sich einig, sondern einfach dadurch, daß sie existiert haben, und durch einen fortdauernden Einfluß, der manchmal unheimlich erscheinen konnte, indem ein Ausspruch oder eine Reaktion genau dann ins Bewußtsein kam, wenn es notwendig war. Weder Entfernung noch Zeit hatten je zwischen ihr und Ella gestanden, und jetzt in diesem Augenblick, allein im Haus, wurde Ellas Gegenwart derart stark, daß Laura eine Stunde lang so auf ihrem Sofa lag und darin schwelgte. Irgendwann demnächst würde sie den Brief beantworten, doch jetzt war ihr nach Musik zumute. Sie trank ihren Kaffee aus, obwohl er mittlerweile eiskalt war, ließ Sasha herein und legte ein Mozart-Konzert auf den Plattenteller. Nun beginnt eine zeitlose Welt, dachte sie und ließ sich von der Musik davontragen. Ich muß lernen, eben das festzuhalten und nicht fahrenzulassen — ganz in der ewigen Gegenwart zu leben, sooft und sosehr ich kann. Als jetzt das Telefon schrillte, diese brutale, gebieterische Störung, wußte sie nicht, wie spät es war, und antwortete benommen. ,,Oh, liebe Tante Minna... ja, ich liege hier und höre Mozart.“ Die Angst in der alten Stimme am anderen Ende der Leitung war spürbar. „Ich erhielt einen wunderbaren Brief von Ella heute morgen, und gestern abend bei Ann und Brooks mußte ich es ihnen sagen, weil ich einen Hustenanfall bekam. Ann wird später mit Laurie kommen und Grindle ausführen.“ „Ich habe nachgedacht“, erklärte Tante Minna. „Das ist nichts Neues.“ Laura lächelte. „Ich meine, ich habe darüber nachgedacht, was ich für dich tun kann, und frage mich, ob es dir gefiele, wenn ich herüberkäme und dir eine Stunde am Nachmittag oder wann immer vorlesen würde?“ Einen Moment zögerte Laura. War es das, was sie woll-
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te oder brauchte? Doch dann wurde ihr klar, daß sie genau das brauchte. The Wind in the Willows, George Herbert, vielleicht Jane Austen, Gerard Manley Hopkins. „Aber wie kämest du hierher, Liebste?“ „Mit dem Taxi. Wieso denn nicht?“ Tante Minna lebte so bescheiden, daß man sich kaum vorstellen konnte, sie verfügte über genügend Mittel. „Ich denke bereits darüber nach, was wir lesen könnten.“ Dann fügte sie hastig hinzu: „Nach diesem Wochenende. Es ist mein letztes, bevor Mrs. O'Brien kommt. Warum sagen wir nicht, nächsten Dienstag um vier? Du bist ein Engel, weißt du?“ „Davon weiß ich nichts. Dahinter steckt in Wahrheit der Gedanke, dich zu sehen, ohne dir auf die Nerven zu fallen.“ Als Laura den Hörer auflegte, sah sie auf ihre Uhr und stellte fest, daß sie nicht zu Mittag gegessen hatte. Es war fast zwei. Also machte sie sich ein Sandwich und konnte es dann nicht essen, aber sie brachte ein Glas Milch schlückchenweise hinunter. War es wirklich eine gute Idee, daß Tante Minna, wie geplant, regelmäßig kam? Wie konnte sie das wissen? Wie konnte sie das sagen? Doch, weiß Gott, sie alle hatten gelernt, die Zeit in vereinbarer Weise zu arrangieren, sie nicht zu verschwenden, und Laura vermutete, daß selbst für Sterbenskranke eine Routine hilfreich sein könnte. Ihr kam die absurde Vorstellung, sie ginge allein in die Wildnis und müsse augenblicklich entscheiden, was sie mitnähme, ohne eigentlich überhaupt zu wissen, was auf sie zukäme. Ich kann keine Pläne machen, stellte sie fest, und das ist alles. Nach langem Zaudern entschloß sie sich dann, an den Cheflektor von Houghton Mifflin zu schreiben und ihren Posten aufzugeben, mit der einzigen Bedingung, das Lektorat für Harriet Moors weiterzuführen, solange sie konnte. Ihre Hand, die den Kugelschreiber hielt, war wie Blei; sie sagte das Wesentliche so kurz wie möglich. Sie wußte, es war der Anfang des Loslassens, der Loslösung von ihrer Identität als Person in der Welt. Die Arbeit war ihr Ret-
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tungsfloß gewesen, als Charles starb, aber das war lange her „und in einem anderen Land“. Jetzt war sie eine Musikhörerin, eine Betrachterin des Lichts auf den Wänden, eine Person, die sich mehr und mehr mit der Innenwelt zu befassen hatte. Sie mußte geschlafen haben, denn die Türklingel und wildes Gebell weckten sie jäh. Es war inzwischen dunkel geworden, obwohl es, wie sie mit einem Blick auf ihre Uhr feststellte, erst halb vier war. „Sei still, Grindle“, sagte sie recht barsch, als sie aufstand und zur Tür ging. Und dort stand Ann mit einem vom Blumenhändler verpackten Paket in den Händen. „Komm herein, komm herein!“ „Ich habe ein paar Frühlingsblumen mitgebracht.“ „Frühlingsblumen?“ Laura war so aufgeregt wie ein Kind. „Frühling, jetzt? Das ist ein phantastischer Einfall!“ Und als Ann zögernd bei der Tür stand: „Zieh deinen Mantel aus.“ „Soll ich denn nicht Grindle ausführen? Deshalb bin ich eigentlich gekommen.“ „Na ja, darüber wäre er glücklich. Wie aufmerksam von dir, Ann.“ Während Ann mit dem vor Freude bellenden Grindle spazierenging, wickelte Laura in der Küche die Blumen aus. Einen Augenblick stand sie da, starrte auf die Narzissen, die blauen Iris, gelben Tulpen, die zwei lila Anemonen und einige Fresienzweige und sog ihren kühlen, frischen Duft ein. Wie zart, wie lebendig sie waren. Bei der bitteren Kälte draußen, dem gefrorenen Schnee kam es ihr wie ein Wunder vor, daß solche Frische möglich und real war. Laura stand da, von reiner Freude überwältigt, und schaute und roch. Ein Arrangement in der venezianischen Glasvase aus Sybilles Haus erwies sich als recht schwierig. Die Blumen kippten oder standen zu aufrecht. Das Unterfangen überstieg fast ihre Kräfte, und als Ann zurückkam, legte sich Laura aufs Sofa, die Blumen auf einem niedrigen Tisch neben sich, und ließ gern zu, daß Ann für sie beide eine
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Tasse Tee machte. Dann redeten sie. Seit Laura ihr Urteil erfahren hatte, war außer Harriet und Mrs. O'Brien niemand ins Haus gekommen. Und sie mußte jetzt zugeben, daß sie einsam gewesen und es ein Trost war, Ann dort sitzen zu sehen, die in ihrem blaßblauen Rollkragenpullover, dem Cordrock und den eleganten hohen Stiefeln so hübsch aussah; ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, und ihre Augen strahlten. „Die Blumen...“ Laura seufzte vor Freude. „Welch ein Traum!“ „Ich wollte“, sagte Ann schüchtern, „ich fürchtete... ich meine, ich wollte nicht stören, aber...“ „Es war eine gute Idee“, sagte Laura. „Ich bin einsam gewesen, habe es aber nicht gewußt.“ „Daß du zu Lauries Geburtstag gekommen bist, war wunderbar. Heute morgen hat sie als erstes nach ihrer Halskette gefragt. Wir haben sie gestern abend auf den Kaminsims gelegt, wie du dich erinnerst.“ „Die Kette ist zwar viel zu erwachsen, doch sie wird sie später hoffentlich mit Begeisterung tragen, und ich wollte sie ihr selbst geben.“ Nachdem sie das Naheliegende gesagt hatte, fühlte sich Laura abgeschnitten. Sie trank einen Schluck Tee und stellte die Tasse hin. Sie sah Ann so selten allein, daß sie nicht wußte, wo sie ansetzen sollte. „Brooks scheint gut in Form zu sein?“ „Sehr. Seit er sich so für den Umweltschutz engagiert, ist er ein anderer Mensch geworden. Manchmal glaube ich, es ist deshalb, weil er ein legitimes Ventil für seine Wut gefunden hat!“ Laura lächelte. Denn bei all ihrem recht aufgesetzten Eifer hatte Ann einen sarkastischen Durchblick, der oft den Kern traf. „Das ist sicher von Nutzen.“ „Mein Problem ist, daß ich's nicht habe. Ich beneide ihn.“ „Aber du gehörst doch nicht zu der wütenden Sorte Mensch, oder?“ Kaum hatte Laura die Worte gesagt, als ihr klar wurde, wie herablassend das klang. 94
Ann lachte ihr ironisches Lachen. „Zur Zeit bin ich kaum noch Mensch — du kennst das ja, Laura, zwei kleine Kinder und keine Hilfe. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie toll es war, allein auszugehen, Blumen zu kaufen und dich zu besuchen! Ich fühle mich wie ein Tiger, der aus dem Zoo ausgebrochen ist.“ Sie sahen sich lächelnd an und ließen eine kleine Weile ein Schweigen entstehen. Nähe beginnt im Schweigen, dachte Laura; und es stimmt, daß ich praktisch nie die Gelegenheit hatte, mit Ann allein zu reden. Also weiß ich zwar ein wenig von ihr als soziales Wesen, doch kaum etwas davon, was in ihr vorgeht. Soll ich, kann ich mir die Mühe machen? Was ich wirklich will, ist eine Mozartplatte auflegen und die Blumen ansehen. ,,Aber ich darf dich nicht ermüden. Ich werde in einer Minute gehen.“ „Bleib“, sagte Laura liebevoll. Sie hatte einen Schatten über Anns Gesicht huschen sehen. „Ich bin nicht krank, weißt du. Ich bin lediglich den praktischen Dingen nicht gewachsen. Ich bin weit weg, irgendwo in einem Tagtraum, aber ich bin sehr froh, wieder ins Leben zurückgeholt zu werden — Charles und ich haben immer geklagt, als die Kinder klein waren, daß wir uns nie sehen. Zu Mamas Zeit war das anders. Sie war unsere Zauberin, die lauter amüsante Dinge mit uns tat, wie in die Oper gehen oder in den Zoo oder Spiele erfinden, aber es gab immer ein Kindermädchen oder eine Gouvernante, die uns beiseite nahm, wenn es Zeit zum Essen war. Jemand anders besorgte die Plackerei, und bis auf jene Jahre, als ich mit TB in der Schweiz lag, hatten sie und Pa alle Zeit der Welt für das, was ihnen am meisten Spaß machte, die Charmanten und Berühmten zu unterhalten und zusammenzusein.“ „Sie schienen wirklich voneinander gefesselt zu sein, zumindest hatte ich das Gefühl die wenigen Male, die ich sie zusammen gesehen habe, ehe dein Vater starb. Natürlich hatte ich schreckliche Angst vor deiner Mutter. Sie war so grandios! Es verschlug mir die Sprache und verwirrte mich total. Sie kam mir immer furchtbar geheim-
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nisumwittert vor, was ihrem Leben etwas derart Glorioses gab, das ich mir nicht einmal vorstellen konnte. Brooks betete sie an, und ich fühlte mich in seinen Augen immer ganz mickrig, wenn wir dort zum Mittagessen gewesen waren.“ „Ja“, seufzte Laura. „Das kann ich mir denken. Darin war Mama sehr gut, obwohl es gar keine bewußte Sache war.“ „Eigentlich mochte sie Frauen nicht. Habe ich recht?“ „Ich weiß nicht. Zweifellos hätte sie lieber drei Söhne gehabt als drei Töchter, aber sie hatte einige Freundinnen, die sie bewunderten, weißt du, dauerhafte, echte Freundschaften.“ „Doch wie ich schätze, mußte eine dauerhafte Freundschaft für sie darauf basieren, daß jemand sie bewunderte.“ , Ja... und nein“, sagte Laura, wobei ihr die arme Kusine Hope einfiel. „Maggie Teyte, Edith Warton waren damals schon berühmt, als Mutter sie kennenlernte, und sie buhlte um jede von ihnen, wenn du so willst — sie konnte eine phantastische Zuhörerin sein. Maggie Teyte sagte immer, sie hätte nie so ein Publikum gehabt wie Mama, und Mama spielte nicht, wenn diese französischen Chansons ihr Tränen in die Augen trieben, vielleicht Tränen der Begeisterung, sicher aber auch des Schmerzes, denn eigentlich hätte sie Schauspielerin sein sollen. Das wäre für alles die Lösung gewesen.“ „Wie war es so, ihre Tochter zu sein?“ Die Frage lag bereits einige Zeit in der Luft, hatte Laura gespürt, und doch überraschte sie sie. „Himmel und Hölle“, antwortete sie. „Das ist wahr“, sagte sie, über die eigene Antwort verblüfft. „Das ist wirklich wahr. Es war der Himmel, als wir noch sehr klein waren, weil Mama uns mit einem gewissen magischen Charme einlullte, und damals störte uns nicht, daß sie die Rolle der liebenden Mutter spielte, denn sie spielte sie so gut.“ „Oh je“, Ann lachte. „Das läßt unser Leben heute allerdings vergleichsweise ziemlich fad erscheinen. Erkäl-
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tungen, Wutanfälle, endlose Mahlzeiten, die vorbereitet werden müssen, keine Edith Warton, die zum Essen kommt — sehr wenig Himmel um den Concord Place 4!“ „Aber es ist real, siehst du. Und Mamas Leben war irgendwie nie ganz real!“ „Was war die Hölle?“ „Die Hölle? Das kann man schwer beschreiben oder auch wissen. Die Hölle war vermutlich, nie zu landen.“ „Nie zu landen?“ Laura lachte. „Du siehst ja, es ist zu kompliziert — wie kann ich es nur sagen? Nie auf der Erde, der harten, schmutzigen, gewöhnlichen Erde zu landen. Das war's, wonach wir uns sehnten.“ „Kann ich dich etwas fragen?“ „Sicher.“ „Hattest du das Gefühl, daß du gelandet warst, als du Charles geheiratet hast?“ , Ja, das hatte ich.“ Mit einem Kissen unter dem Kopf lehnte sich Laura zurück. „Es war so etwas wie ein Wunder, denn unter Mutters Ägide hätte ich Charles womöglich übersehen — er war weder sehr reich noch sehr brillant und hat sich durch sein Jurastudium gerade so durchgebissen, aber Charles war real, witzig, liebenswert und warmherzig. Genau danach verzehrte ich mich buchstäblich.“ „Du mußt ihn furchtbar vermißt haben.“ „Hab' ich. Nun, du weißt es, liebe Ann, du warst mir eine solche Hilfe, als Charles starb, doch jetzt bin ich froh, daß ich dies allein tun kann. Es wäre doppelt schwer geworden, wenn Charles an meiner Seite litte. Das hätte ich nicht ertragen.“ „Du bist eine erstaunliche Person“, sagte Ann mit leuchtenden Augen. „Bin ich das?“ Laura lachte. „Die meiste Zeit zu versessen auf Worte. Wir sind alle verrückt, wirklich, meine beiden Schwestern sind ziemlich unmöglich, jede auf ihre unnachahmliche Weise unmöglich. Und ich? Ich schätze, ich bin möglich, was für meine Kinder jedenfalls eine Er-
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leichterung war.“ Hier setzte sie sich plötzlich auf. „Aber trotz allem — und ich glaube, wir haben für unsere Kinder eine gute offene und liebevolle Welt geschaffen — ist nur Brooks glücklich geworden.“ „Auch die offene Welt hat ihre Gefahren.“ Wieder versank Laura in Schweigen. Es war gut zu wissen, daß sie und Ann so reden konnten, reden und schweigen. Während sie schwiegen, dachte sie an Daisy, die außerstande schien, sich für ein Leben zu entscheiden, eine Rebellin ohne Ziel, und fragte sich zum millionsten Mal, was schiefgelaufen war. Sie wurde aus diesen Gedanken gerissen, als Ann aufstand. „Ich ermüde dich, und es wird Zeit, daß ich gehe. Danke für den Tee und für alles, was du mir erzählt hast.“ Ann beugte sich herab, um sie zu küssen. Laura ergriff ihre Hand, hielt sie fest und sah ihr ins Gesicht, das für eine Sekunde so nah war. „Liebe Ann, ich habe ja kein Wort über dich gehört. Setz dich doch noch eine Minute. Schließlich ist nicht unendlich Zeit.“ „Ich habe wirklich lange genug herumgelungert — und ich werde wiederkommen.“ „Aber vielleicht bin ich dann nicht mehr dieselbe“, sagte Laura leise. „Mit dieser Tatsache müssen wir uns abfinden.“ Es war ihr ein dringendes Bedürfnis, den Augenblick der Nähe zu nutzen. „In dieser Zeit gibt es für mich nur das Jetzt.“ Ann schwieg. Sie setzte sich hin, wie gebeten, doch sie sah verschlossen aus. „Ich vermute, daß dies nicht die einfachsten Jahre deines Lebens sind. Ich erinnere mich, als die Kinder klein waren, hatte ich manchmal das Gefühl, eingesperrt zu sein, und ich fühlte mich so erschöpft, daß ich an mich lediglich den Anspruch stellen konnte, den Tag zu überstehen. Du scheinst das alles so phantastisch hinzukriegen, du schaffst solch eine Atmosphäre der, wie soll ich sagen, Behaglichkeit und Freude. Brooks kann sich glücklich schätzen, und ich, liebe Ann, bin so dankbar.“ Aber ich verpfusche alles, stellte Laura fest, und rede
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zuviel; und sie lehnte sich zurück und betrachtete die Blumen. Die Anemonen waren weit aufgegangen und entblößten ihre dunklen, samtenen Herzen. „Sieh mal, die Anemonen“, murmelte sie. „Ja.“ Ann stieß einen tiefen Seufzer aus. „Vermutlich habe ich Angst, weil ich das Gefühl habe, ßrooks wächst über mich hinaus. Was ihn am meisten interessiert, kann ich nicht mit ihm teilen, denn dazu ist einfach weder Zeit noch Energie. Wenn er von diesen langen Versammlungen heimkommt, liege ich im Bett, im Halbschlaf. Ich habe das Gefühl, ich bin ein Esel geworden, und er erweist sich als Rennpferd.“ Laura mußte lachen. ,,Als Rennpferd kann ich Brooks nun wahrhaftig nicht sehen. Als liebes Morgan-Pferd vielleicht, fügsam und bemüht.“ „Er hat sich wirklich verändert. Er ist für den Umweltschutz entflammt. Es ist, als ob sein Intellekt und sein Herz, seine Sensibilität für alles Natürliche, weißt du, als ob all das ihn fortreißt.“ Ann runzelte die Stirn. „Ich finde mich gemein, weil ich das Feuer weder entfachen noch mich selbst dafür entflammen kann. Ich finde mich so fad, Laura!“ Was ließ sich darauf sagen, fragte sich Laura. Die einzige Antwort war Zeit — in ein paar Jahren wirst du bereits woanders sein. Doch wenn jemand akute Not leidet — und sie konnte sehen, daß Ann den Tränen nahe war —, ist „Zeit“ überhaupt keine Antwort. „Unsere Ehe ist eine Zwickmühle...“, fuhr Ann fort. „Vielleicht sind das alle Ehen. Vor zehn Jahren bin ich in der Schule aufgegangen. Damals hatte ich gerade zu mir gefunden, und Brooks hatte vielleicht manchmal das Gefühl, daß ich für ihn nicht da war, und möglicherweise war ich das auch nicht. Unser erstes Kind sollte die Lösung bringen und uns in gemeinsamer Sache zusammenführen.“ „Aber das passierte nicht?“ „Laurie ist ein enorm lebhaftes kleines Mädchen. Ich muß dir etwas recht Amüsantes erzählen“, unterbrach
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Ann sich, ,,Charley möchte im Grunde auch ein Mädchen sein, und er ist sehr feminin, wie du weißt.“ „Und niemand wird sich darüber Sorgen machen“, sagte Laura. „Es geschehen wunderbare Dinge, Ann, und dazu gehört das Akzeptieren von Androgynie, denkst du nicht auch?“ „Brooks macht sich Sorgen.“ „Unsinn. Charley möchte seine Schwester imitieren. Das ist doch ganz natürlich, sie ist ein solcher Kraftbolzen.“ „Manchmal glaube ich, daß Brooks und ich weiter auseinanderrücken und weniger eine wirkliche Einheit bilden, seit die Kinder da sind, und das macht mir Sorgen.“ Sie stand auf und zog diesmal ihren Mantel an. „Ich bin lange genug geblieben. Morgen bringe ich dann die Kinder mit — wir werden Grindle ausführen und keine Sekunde bleiben. Du bist ein Engel. Ich glaube, in Wirklichkeit finde ich es verdammt schwer, eine Frau zu sein, Laura.“ Sie lächelte. „Ja.“ Ella hätte dieser Erklärung zugestimmt, dachte Laura später, als sie im Dunkeln lag, aber kein Licht machen wollte. Wenn eine Frau heiratet und Kinder hat, wird sie einen großen Teil ihres Lebens, vielleicht ein Drittel, der Kindererziehung und dem Haushalt opfern müssen, und das gilt für den Mann einfach nicht. Also trägt jedes Bestehen auf „Selbstverwirklichung“ zu diesem unausweichlichen Konflikt noch weiter bei. „Ich will mich nicht binden.“ Sie konnte Daisys leidenschaftliche Ausbrüche hören. „Ich will mich nicht in ein Gefängnis sperren wie du.“ Und es half auch nicht, Daisy zu versichern, daß sie, Laura, sich nie als Gefangene gefühlt hatte, denn Daisy glaubte es einfach nicht. Sybille, Laura, Daisy: eine außergewöhnliche und destruktive Frau, eine recht gewöhnliche Frau, eine Außenseiterin. Worauf lief das in Wahrheit hinaus, oder was bedeutete es? 100
Ich bin viel zu müde, um darauf die Antwort zu finden, dachte Laura. Was ich brauche, ist Musik. „Und wo ist Sasha?“ fragte sie Grindle, der in seinem Korb schlief. „Wo ist deine Katze?“
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10 Daphne hatte angerufen und flog bereits von New York herüber, also war Laura von einem eigenmächtigen Brooks, der die Sache selbst in die Hand genommen hatte, um die kostbaren letzten Tage gebracht, ehe Mrs. O'Brien kam. Daphne hatte gestern abend um zehn angerufen und Laura geweckt, woraufhin sie einen schrecklichen Hustenanfall erlitt und nach dem Anruf so wütend war, daß sie nicht mehr einschlafen konnte. Jetzt dämmerte schließlich der Morgen; Grindle war draußen; sie trank eine Tasse schwarzen Kaffee, und in wenigen Stunden wäre Daphne da. Für diesen Tag hatte sich Laura vorgenommen, Ellas Briefe zu lesen und sie für die Rücksendung zu verpacken. Sie hatte diesen Tag dafür geplant, für Musik, für Lyrik, für ihre innere Sammlung vor der Invasion. Dessen beraubt zu sein gab ihr das Gefühl, alles sei ungeordnet, chaotisch und unmöglich zu handhaben. Die Papierkörbe sollten geleert werden, sie sollte das Bett frisch beziehen und sich um die Wäsche kümmern — was fände sie für Daphne zum Essen? Oder sollten sie einfach durch den Regen stolpern? Denn natürlich regnete es, und in wenigen Stunden wären die Straßen eine Brühe, da der schmutzige Schnee sich in Matsch auflöste. Lediglich Sasha, die sich am Fußende des Bettes putzte, machte den üblichen gelassenen Eindruck. „Aber ich muß dich da runternehmen, Sasha.“ Selbst die Katzenruhe mußte jetzt gestört werden, um das Bett zu lüften und in Gang zu kommen. Das Bettenmachen strengte Laura so an, daß sie hinunterging und, nachdem sie für Sasha eine Dose aufgemacht, sie dann raus- und Grindle reingelassen hatte, sich in ihrem Morgenrock aufs Sofa legte, vor Schwäche und Wut
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zitternd. Wie spät war es überhaupt? Halb acht, zu früh, um Brooks anzurufen. „Ach, Grindle“, klagte sie. „Ich bin zu nichts fähig, ich kann nicht mal aufstehen und dir einen Käsekeks holen. Ich bin ein Wrack, Grindle.“ Da standen die Blumen, die sich nachts zu Knospen geschlossenen Anemonen waren noch immer zu. Sie hatten sich nicht verändert. Und Laura ließ ihren Blick eine Weile darauf ruhen, während sie versuchte, alle nagenden Gedanken, dieses „Das und das mußt du tun“, angesichts dieser stillen Schönheit zu verdrängen. Aber ihr war übel, und es ist schwer, sich in Schönheit zu versenken, wenn man nahe daran ist, sich zu übergeben. Laura schloß die Augen. Unter den Lidern quollen Tränen hervor. Es ist hart, dachte sie, ganz einfach hart, daß ich meinen letzten Tag nicht haben darf, bevor mir alles genommen wird. Doch irgendwo tief in sich wußte sie, daß sie es sich nicht leisten konnte, sich gehenzulassen. Sie mußte sich fangen. „Sich fangen“, was für ein komischer Ausdruck. Es bedeutete, diesen kleinen Kern von Trotzig-auf-die-eigenenRechte-Pochen in den Griff zu bekommen, der sie vermutlich bisher vom Selbstmitleid abgehalten hatte. Es bedeutete, nicht aufzugeben, nicht in Millionen Stücke zu zerbrechen. Es bedeutete, sich zum Aufstehen zu zwingen, eine Tablette gegen den Brechreiz zu nehmen und dann langsam ein Schälchen Cornflakes herunterzubringen. Gegen acht Uhr verging die düstere Stimmung allmählich. Sie hatte sich nicht übergeben, aber sie war noch immer so wütend, daß sie Brooks anrief. „Hallo, Mutter.“ „Ich habe dich gebeten, es niemandem zu sagen, Brooks.“ „Ich weiß“, kam es etwas zögernd, was ihm wohl anstand. „Aber, Mutter, du mußt auch an die anderen denken, um Himmels willen. Ich habe es Daphne gesagt, deiner Schwester.“ „Ich sagte dir, daß ich meinen Tod auf meine Weise ha103
ben will, Brooks. Welches Recht hast du, dich derart einzumischen? Es bedeutet einfach, daß man dir nicht vertrauen kann. Ich bin sehr wütend.“ „Es tut mir leid, Mutter. Hör mal, Ann möchte mit dir sprechen.“ „Laura“, erklang nun Anns Stimme, „mir ist klar, daß es dich schwer trifft, aber...“ „Dies waren meine letzten zwei Tage, bevor Mrs. O'Brien kommt. Das ist nicht fair.“ Laura hatte das seltsame Gefühl, Ann und Brooks führten sich wie Eltern auf und sie sich wie ein aufsässiges Kind. („Das ist nicht fair“, der Schrei aus der Kindheit!) „Daran hätten wir denken sollen, nicht wahr, Brooks?“ Es schien, als hätte Ann einen Schimmer an Verständnis. „Wie können wir helfen? Möchtest du, daß wir Daphne zum Essen herbitten?“ „Laß nur. Was passiert ist, ist passiert. Ich mach' das schon.“ Brooks war wieder am Apparat. „Mutter, ich hatte einfach das Gefühl, daß es für mich allein eine zu große Verantwortung war. Es tut mir furchtbar leid, wenn ich's verpatzt habe. Bitte, versuch doch zu verstehen.“ „Vielleicht ist es in Ordnung“, sagte Laura widerstrebend. „Daphne kann es Jo, Ben und Daisy sagen, wenn ich finde, daß es an der Zeit ist. Daphne, nicht du, Brooks. Ist das klar?“ „Ja, Mutter.“ Es war ganz gut gestern mit Ann, dachte Laura, aber sie gehört ja auch nicht zur Familie. Weshalb nur war Familie offenbar eine solche Bedrohung, eine Bedrohung, mit der sie einfach nicht umgehen konnte? Menschen mit ein wenig Distanz — selbst Harriet, eine völlig Fremde —, ja. Familie war enervierend. Und doch, als sie sich die Frage stellte, wußte Laura, daß sie froh wäre, wenn Daphne erst einmal da war. Sie sollte sich jetzt lieber anziehen und darauf vorbereiten. Laura zog einen weichen rosafarbenen Shetlandpullover zur grauen Hose an, schlang einen Schal um den Hals
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und betrachtete sich mehrmals im Spiegel. In letzter Zeit hatte sie den Spiegel gemieden. Doch vielleicht war ihr Aussehen für andere wichtig — sie durfte nicht zulassen, daß sie alt und abgewrackt aussah —, für sie selbst war das Aussehen allerdings ziemlich irrelevant geworden. Dennoch war sie schockiert, als sie den Faltenschleier sah, der ihr Gesicht überzog. Ich werde im Nu eine alte Frau. Das sah sie. Sie zog einen Gürtel durch ihre Hose, um sie oben zu halten, denn sie hatte an Gewicht verloren. „Den Sterblichen die Hoffnung Und meistens glaubt man ihr Doch des Menschen Täuschung War nie vergönnet mir.“ Was sie da murmelte, klang nach Housman, aber sie konnte sich nicht genau erinnern. Daphne würde über ihr Aussehen entsetzt sein. Die liebe alte Daff, der eine außergewöhnliche Schönheit gegeben worden war, aus der sie sich allerdings überhaupt nichts machte, sondern ganz aktiv versuchte, sich gegen das zu schützen, was sie für einen Fluch hielt, eine Art Albatros an ihrem Hals. ,,Es ist, als wäre ich eine leere Flasche. Niemand kümmert sich um das, was in mir ist, Männer schon gar nicht.“ Aber Tatsache war, daß die jungen Männer vor Daphne Angst gehabt hatten. Unter einer höchst kultivierten äußeren Schale war die liebe alte Daff schrecklich sensibel für das, was in anderen Menschen vorging und besonders in Tieren. Daff bekäme einen Schock. Doch als die Türglocke eine Stunde früher läutete, als erwartet, war die Begrüßung keineswegs so, wie Laura sich vorgestellt hatte. Sie öffnete die Tür und war augenblicklich entsetzt, wie furchtbar Daphne aussah: ein schmutziger Trenchcoat, zerzaustes graues Haar und tiefe schwarze Ringe unter den Augen. „Laura, Liebling!“ Laura brauchte nichts zu sagen, Daphne hielt sie fest umschlungen. ,,Ich konnte nicht warten — ich habe eine frühere Maschine genommen, kein Auge habe ich zugemacht.“ 105
„Wo ist dein Koffer?“ fragte Laura und wischte sich mit einer ungeduldigen Bewegung die Tränen ab. „Ach, ich habe ihn auf der Treppe gelassen.“ Bis der Koffer hereingeholt war und Daphne ihren Trenchcoat abgelegt hatte, wußte Laura recht klar, was ihr die Tränen, die sie wie ein Hustenanfall überraschten, in die Augen getrieben hatte: Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, daß Daphne so alt war. Wenn sie an ihre Schwester dachte, war die Person, die sie sich vorstellte, zwanzig oder dreißig, aber nie fünfundfünfzig! „Geht es dir gut, Daff? Ich muß sagen, du siehst schrecklich aus. Ich werde dir einen Kaffee machen.“ „Gut? Wie kann es mir gutgehen, wenn ich von Brooks höre, daß du furchtbar krank bist. Gut? Laura, du bist ein Monster, weil du es mir nicht selbst gesagt hast.“ Sie lehnten an der Anrichte und warteten darauf, daß der Kaffee kochte. Daphne beugte sich hinüber, legte ihre Hand auf Lauras Schulter und sah ihre Schwester so durchdringend an, daß Laura sich von diesem Blick genauso betroffen fühlte wie von der Berührung und sich abwandte, um aus dem Fenster in die Reihe knorriger Pinien am Feldrand zu sehen. „Ich wollte es Brooks nicht sagen, bekam aber vor dem Essen einen dummen Hustenanfall, und sie brachten mich dazu, es ihnen mitzuteilen. Er hat ein Versprechen gebrochen, als er dich anrief.“ Bei dieser kühlen Antwort lachte Daphne plötzlich. „Ich weiß, ich bin ziemlich absurd. Aber soweit ich weiß, verändert Krebs die Persönlichkeit. Ich bin keine Geheimniskrämerin, sondern — ach, zum Teufel, dräng mich nicht zu einer Erklärung. Ich kann's nicht. Laß uns in Ruhe unseren Kaffee trinken. Du kannst das Feuer anmachen, Daff, wenn du willst. Leg noch ein Scheit drauf. Wenn ich mich bücke, muß ich husten.“ „Stets zu Diensten, Euer Gnaden.“ „Weißt du, ich dachte, daß die Krankheit zumindest eines vollbringt, sie macht demütig. Ich habe nicht die Illusion, daß ich dies allein schaffen kann. Übermorgen
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kommt eine nette irische Frau, die sich um alles kümmert.“ Daphne schwieg zu dieser Nachricht und trank ihren Kaffee. „Du denkst, warum nicht die Familie, nicht wahr?“ „Ich dachte allerdings, daß ich immerhin deine Schwester bin, und meine Arbeit ist nicht so wichtig, daß ich dort nicht weg könnte. Das habe ich auch getan, als Charles starb, wie du dich erinnerst.“ „Liebling, du warst wundervoll.“ „Danke. Mein Ego war schon fast außer Sichtweite.“ Es kam sehr gelegen, daß Grindle sich bemerkbar machte, weil er viel zu lange draußen war, und Daphne mit einem begeisterten Bellen anspringen mußte, als sie ihn einließ, während Sasha an ihr vorbeiglitt, ohne von ihr Notiz zu nehmen. „Wenigstens Grindle freut sich, mich zu sehen“, rief sie aus der Diele. „Ja, du liebenswertes Tier, du darfst mir die Ohren lecken.“ „Was macht deine Arbeit?“ fragte Laura, als Daphne wieder hereinkam, sich auf dem Boden beim Feuer niederließ und Grindle sich beruhigt hatte und neben sie legte, um sich die Ohren kraulen zu lassen. „Von der menschlichen Rasse habe ich die Nase gestrichen voll“, sagte Daphne. „Die widerlichen Leute, die ihre Tiere quälen und sie dann krank und neurotisch abliefern — einen Hund, der den ganzen Tag allein gelassen wird und keinen Auslauf bekommt, zum Beispiel, und dann bösartig wird. Du solltest Dr. Gordon mal hören, wie er den Besitzern Bescheid stößt. Das alles gehört zu einer total verkommenen Zivilisation, schätze ich. Aber Tiere sind so unschuldig.“ Während Laura die geschickten, sensiblen Hände betrachtete, die Grindle streichelten, dachte sie an die Zeit zurück, als Daphne das hübscheste Mädchen gewesen war, das sie je gesehen hatte, und sich nichts sehnlicher wünschte, als Tierärztin zu werden. Das hielt man für eine Jugendmarotte und verfrachtete sie ins Smith College. „Glaubst du, man hätte dir erlauben sollen, Tierärztin zu werden?“ 107
„Wieso kommst du jetzt darauf?“ „Anscheinend verbringe ich die meiste Zeit mit Erinnerungen und versuche zu begreifen. Obwohl so wenig Zeit bleibt, fühle ich mich seltsamerweise von allem befreit, was sonst die Tage okkupiert hat, Papiere ohne Ende, die täglich den Papierkorb füllten. Das alles habe ich hinter mir, weißt du. Ich versuche, mit allem abzurechnen. Ich ,tue' nicht mehr viel, sondern denke viel.“ Es war schließlich doch gut, mit Daphne zu reden, und Laura sah hinüber und lächelte. „Erzähl, wie das war mit der Tierärztin.“ „Das ist so lange her.“ Daphne zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug, dann legte sie sie auf die Kaminsteine. „Stört dich der Rauch? Ich kann dieses elende Ding ausmachen.“ „Es stört mich nicht.“ Aber es störte Grindle, der Daphne einen irritierten Blick zuwarf und sich in seinen Korb verkroch. Laura betrachtete ihre Schwester, die dasaß, rauchte und das Feuer schürte, ein zerfurchtes Gesicht, tragisch in seiner Ruhe — doch welches erwachsene Gesicht ist das letztlich nicht? fragte sich Laura. Ein faltenloses Gesicht bedeutet ein ungelebtes Leben. „Was denkst du, Laura, bei deinem durchdringenden Blick?“ „Ich dachte, daß du aussiehst wie eine, die ihr Leben wirklich gelebt hat.“ Jetzt sah Daphne auf, und sie lachten beide. „Was heißt, wie du gesagt hast, als ich hereinkam, daß ich furchtbar aussehe. Das Leben ist so ein Kampf. Fast beneide ich dich.“ Doch schockiert über die eigene Aussage nahm Daphne es rasch zurück. „Das ist eine Sünde.“ „Ich begreife nicht, warum. Wenn ich Mama sehe, weiß ich, daß ich Glück habe, nicht so zu enden. Ich war vor kurzem da, und Kusine Hope kam, die gutgläubige Hope, die jede Woche hingeht, um am Schrein zu huldigen, selbst wenn die Göttin nicht mehr da ist.“ „Bei deiner Aufarbeitung... was geschieht mit Mama?“
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Daphne setzte sich nun auf und stützte einen Ellbogen auf die gekreuzten Beine. „Sie verfolgt mich.“ „Vermutlich habe ich den größten Teil meines Lebens damit zugebracht, das Gegenteil von ihr zu sein, und das hat recht viel Sinn ergeben!“ Daphne lachte ihr rauhes Lachen, das sich so oft gegen sie selbst richtete. ,,Es ist möglich, daß ich wirklich eine Berufung hatte — schließlich trotte ich tagtäglich in die Tierklinik hinüber. Doch wie soll man das wissen? Ich ließ mich überreden.“ „Du warst sehr jung, und damals waren wir alle so wurzellos. Es war schrecklich verkehrt, daß man dich zwang, in der Schweiz zu bleiben, als ich krank war.“ „Das ist die Frage. Ich fuhr leidenschaftlich gern Ski, und Mama war so mit dir beschäftigt, daß ich mich damals relativ frei fühlte. Was ich vermißte, war Vater. Mit sechzehn brauchte ich ihn, und er war nicht da.“ Dann sah sie zu ihrer Schwester hinüber. „Wie du das je überlebt hast, ist mir schleierhaft.“ „Mit Charles' Hilfe! Vielleicht wäre ich ziemlich irreal geworden, wenn ich Charles nicht kennengelernt hätte.“ , Jo ist einfach in ihren Elfenbeinturm geflohen, wo sie alles um sich her im Griff hat und niemandem verpflichtet ist, außer den Institutsträgern, die sie natürlich für ein Genie halten. Und was habe ich getan? Ich verbrachte mein Leben mit dem Versuch, Unabhängigkeit zu erreichen, glaube ich, und dabei verliebte ich mich ständig und dummerweise in einen unpassenden Mann nach dem anderen.“ „Liebe Daff, du hast schon immer übertrieben — waren da denn so viele? David ist gewiß mehr oder weniger ein beständiger Teil deines Lebens, und das seit zwanzig Jahren.“ „Gütiger Himmel, ja! Was unbeständig schien, ist beständig geworden, fast unwillkürlich. Ich bin nur ein altes Polster, auf das er seinen Kopf legen kann. Freilich ist er furchtbar überarbeitet und hat noch immer mit seiner erzneurotischen Frau zu kämpfen.“ „Aber du liebst ihn doch?“ 109
„Tu ich das?“ fragte Daphne. „Vermutlich muß ich das wohl. Er ist der einzige Mann, der meinen Weg gekreuzt hat, den ich voll und ganz akzeptieren konnte, so wie er ist, das Gute wie das Schlechte. Vielleicht ist das Liebe. Und dann braucht er mich. Er braucht mich wirklich.“ „Wie merkwürdig unser Leben verlaufen ist.“ Daphne stand auf. „Liebling, ich ermüde dich. Laß mich etwas herumwursteln, dein Bett machen, Geschirr spülen, Papierkörbe ausleeren, was immer, und du legst eine Platte auf oder ruhst dich mit Grindle ein wenig aus.“ „Das klingt herrlich.“ „Du bist käsebleich.“ „Ich möchte über alles nachdenken, aber nach einer kleinen Weile fühle ich mich so müde... so benommen.“ Es war, wie sie feststellte, viel leichter, bequem dazuliegen und über Daphne nachzudenken, als ein Gespräch zu führen, denn dann wurde der Erinnerungsfluß blockiert und ausgeschaltet. Doch nun zuerst Musik. Laura stand auf und suchte ein Cellokonzert von Haydn heraus. Die Kraft, die Lebendigkeit von Haydn waren genau das, wonach sie sich sehnte. Und was hatte sie gemeint, als sie sagte, ihr Leben sei merkwürdig verlaufen? Merkwürdig vielleicht, weil sie so unbedeutend gewesen waren. War es grausam und kleinkariert, Daphnes Leben für gescheitert zu halten? Schönheit, Intelligenz, überragende Sensibilität wurden schließlich in eine Arbeit als Aschenbrödel in einer Tierklinik investiert und in die Unterstützung und Hilfe und den Trost von David, der, zugegebenermaßen, auf seine Weise ein großer Mann war, einer der Pioniere in der Herzchirurgie — doch ohne Stützung des Gebildes oder der sozialen Position einer Ehe. In Wahrheit lebte Daphne noch immer das Leben einer jungen Frau, nicht das einer alt werdenden. Und sie war erstaunlich jung geblieben, weil sie noch immer so verletzlich, so schutzlos war. Wenn, wie Yeats glaubte, „ein größeres Wagnis darin liegt, nackt zu gehen“, dann mußte man sie bewundern. Daisy tat es. Daisy hielt Daphne für eine Heldin. „Sie
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hat keine Kompromisse geschlossen, weißt du“, hatte sie einmal zu Laura gesagt. „Sie hat sich nicht an die Kette legen lassen. Sie ist absolut authentisch.“ „Aber sie ist völlig gescheitert!“ Laura fiel plötzlich das ganze Gespräch ein und wie verwundert sie über die Vehemenz in Daisys Stimme gewesen war. „Außer darin, ein großartiger Mensch zu sein, Mutter“, hatte Daisy mit vernichtender Verachtung gesagt. „Jo hat nie Kompromisse geschlossen“, antwortete Laura darauf, und die Szene war ihr so lebhaft in Erinnerung geblieben, weil sie an diesem Tag wie ein störrischer Esel widerstanden hatte, sich von der gleichen Wut und Verachtung wie ihre Tochter hinreißen zu lassen. , Jo hat genau das getan, was sie wollte.“ „Vielleicht hat Tante Jo getan, was sie wollte, aber... ach, kannst du denn nicht begreifen? Was sie wollte, war Sicherheit, sie wollte vor jeder wirklich tiefen menschlichen Beziehung sicher sein und sich gerechtfertigt fühlen, sich alles vom Leib zu halten, das ihrer Selbstaufopferung in diesem College in die Quere kommen mochte. Sie ist eine Arbeitssüchtige, wenn ich je eine gekannt habe.“ „Manche Leute sagen vielleicht, sie ist aufopfernd und selbstlos.“ ,,Oh, mein Gott, Mutter! Wir wollen doch mal Klartext reden: Manche Menschen wollen den Preis nicht zahlen, den es kostet, eine Frau zu sein. Jo ist auf ihre Weise genauso wie eine Frau, die sich vom Familienleben auffressen läßt und zum Aschenputtel wird, nur mit dem Unterschied, daß diese Frau zumindest menschlich ist. Das ist sie nicht.“ Laura erinnerte sich, daß sie sich gebeutelt gefühlt hatte und aufgebracht war, als ihre unnachgiebige Tochter schließlich abfuhr. Was war es dann, eine Frau zu sein? Viel komplexer und schwieriger, wie ihr langsam klar wurde, als ein Mann zu sein. Daphne mußte ihr Seufzen gehört haben, denn sie kam herein und setzte sich. „Und weshalb nun dieses Seufzen?“
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„Daisy.“ Laura schwieg eine Sekunde lang und erwog die Frage, ob es klug wäre, jetzt dieses Thema anzuschneiden. „Ich habe gerade an eine wilde Auseinandersetzung gedacht, die wir vor nicht allzu langer Zeit über dich und Jo hatten. Daisy findet, du bist eine Heldin.“ „Ich entspreche ihren anarchischen Ansichten, das ist alles.“ Von einem unwiderstehlichen Gedanken getrieben, stand Laura plötzlich auf. „Daff, würdest du mich zum Haus in Maine fahren? Wir könnten morgen hinfahren... ein Picknick einpacken...“ „Aber Laura, es ist Februar! Die Zufahrt wird noch nicht mal vom Schnee geräumt sein.“ „Oh doch, sie wird immer geräumt wegen der Brandgefahr. Und Mrs. Eaton unten am Weg hat den Schlüssel und würde für uns Feuer machen.“ „Sicher ist es möglich, und du weißt, ich würde alles für dich tun, Laura. Nur frage ich mich, ob es die Strapaze wert ist, die es gewiß für dich wird.“ „Ich muß tun, was ich kann, ohne Rücksicht auf die Kosten. Es ist die letzte Chance. Könntest du vielleicht bis Dienstag bleiben?“ Laura war nicht ganz klar, warum sie einen solchen Drang spürte, aber der Sog war so stark wie die Strömung in der Bucht. „Der Geruch von Salz und Jod... die Möwen... ach, Daff! Das Rauschen des Meeres.“ „Na gut. Aber in diesem Fall ruhst du dich lieber den ganzen Nachmittag aus und sagst kein Wort.“ „Engel!“ „Ich werde ein paar gefüllte Eier machen, und vielleicht ist ja noch irgendwo eine Dose Grillschinken.“ „Ich denke schon. Sieh mal auf dem obersten Regal nach.“ Laura fühlte sich ganz schwach vor Aufregung. „Eine Thermosflasche mit Consommé... Erinnerst du dich noch an die alten Picknicks?“ „Sicher. Eine Thermosflasche mit Consommé und eine Thermosflasche mit Martinis. So werden wir's machen, Liebling.“
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„Ein letztes Mal.“ „Aber Februar, Laura! Ich finde, es ist ein schreckliches Risiko.“ „Ich werde es schaffen. Der Alkohol hilft.“ „Ich meine nicht deine Gesundheit. Ich meine...“ „Das müssen wir eben riskieren.“ Und „das“ bedeutete, wie Laura wußte, jedwede Erinnerung, die in einem kalten Haus im Februar wach werden mochte.
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11 „Da sind wir“, murmelte Laura, als Daphne vor die hohe Treppe zur Haustür fuhr. Hier war er, der Hort ihrer Kindheit, das Haus all jener Sommer, der grüne Anstrich, die verwitterten Schindeln, die Butzenscheibenfenster funkelten in der Sonne; da stand es wie eine Arche, umgeben von Veranden. „Wie die Bäume gewachsen sind, Daff!“ Denn in den fünfzig oder sechzig Jahren, seit sie gepflanzt worden waren, hatten die norwegischen Fichten und Hemlocktannen und Lebensbäume die Lichtungen ringsum geschlossen. Nachdem Daphne den Motor abgestellt hatte, saßen die beiden einmütig eine Weile da und betrachteten es. Die Schneehaufen änderten nichts. Es sah ganz so aus wie immer. Dann öffnete Mrs. Eaton die Tür und verschränkte fröstelnd die Arme in dem alten grauen Pullover. ,,Na, Sie haben's geschafft!“ Laura stieg aus und ging voraus. „Wir hatten einfach den Drang, das alte Haus zu sehen... Und Daphne war aus New York gekommen. Wie geht es Ihnen? Ich fürchte, es war eine Last, die Treppen zu fegen und alles.“ „Nicht im geringsten. Silas hat Schnee geschippt und so viel Holz hereingetragen, daß es für eine Woche reicht!“ „Wo ist Silas?“ fragte Daphne, die den Korb mit dem Picknick herauftrug. „Ich würde den Jungen gern sehen.“ „Er mußte wieder in den Laden zurück. Die Rundletts sind unten in Florida, und solange kümmert sich Silas ums Geschäft. Es ist eine Abwechslung vom Hummerfischen, und es gefällt ihm. Offenbar bleibt er in dieser Zeit lieber an Land, und ich kann's ihm nicht verdenken. Das Fischen ist auch nicht mehr das, was es mal war.“ Laura war ins große Wohnzimmer gegangen, hatte sich 114
auf die kleine Bank gesetzt und wärmte sich die Hände am Feuer. Sie betrachtete die japanischen Drucke an der Wand, die weißen Korbmöbel mit den blauen und weißen Chintzpolstern, den blauen chinesischen Teppich. „Setzen Sie sich, Mrs. Eaton“, sagte Daphne. „Das würde ich gern, aber ich muß heimgehen und für Silas die Suppe warm machen. Ich hätte Ihnen ja welche mitgebracht, aber natürlich ist das Wasser abgestellt, und ich dachte, daß es vielleicht mehr Schwierigkeiten macht, als es wert ist.“ „Es ist ein herrliches Feuer. Vielen Dank“, sagte Laura. „Und danken Sie Silas, falls wir ihn nicht sehen“, fügte Daphne hinzu. „Machen Sie sich keine Sorgen über irgendwas. Ich werde morgen herkommen und den Teppich wieder aufrollen und die Polster verstauen.“ Daphne begleitete Mrs. Eaton zur Tür und rückte nun zwei Sessel nahe ans Feuer. „Es ist kalt“, sie fröstelte. „Wir können nicht lange hierbleiben.“ Sie hörten, wie der Lieferwagen den Weg entlangrumpelte, dann schraubte Daphne die Thermosflasche auf und goß zwei Martinis in Pappbecher. „Hör doch“, sagte Laura, ehe sie einen Schluck trank, „das Meer.“ „Die Flut kommt“ meinte Daphne. „Man kann es hören. Sogar an ruhigen Tagen hört man ein leises Brausen, wenn die Flut die Wellen hereinspült, erinnerst du dich?“ Eine Zeitlang lauschten sie auf dieses unvergeßliche Rauschen. „Was haben wir immer als erstes gemacht?“ fragte Laura. „Wir sind zum Strand gerannt, haben die Sandalen ausgezogen und sind ins Wasser gewatet. Weißt du noch, wie kalt das Meer war und wie die Steine gepiekt haben und wie schwer es war, nicht den Halt zu verlieren?“ „Danach mußten wir uns vergewissern, daß noch alles da war, das Baumhaus, das alte Ruderboot, die moosige kleine Mulde, die Damenpantoffeln — in dieser kleinen
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Lichtung zwischen den Föhren. Ach, und dieser Geruch! Die Pinien, das Salz...“ ,,Die wilden Rosen. An manchen Tagen, wenn der Wind vom Meer blies, konnte man nichts als Rosen riechen.“ Daphne sah zehn Jahre jünger aus, ihre Wangen waren vom Feuerschein gerötet. Sie sah glücklich aus, fand Laura. „Bist du nicht auch froh, daß wir hergekommen sind?“ , Ja.“ Daphne stand auf und drehte sich mit dem Rükken zum Feuer. „Und jetzt müssen wir uns einen Toast überlegen. Papa hat immer so gern Toasts ausgebracht.“ „Und er machte das sehr gut.“ „Was soll's denn sein?“ Daphne warf nachdenklich den Kopf zurück. „Es gibt nur einen möglichen Toast, heute, in diesem Haus - auf Sybille!“ Doch das riß Daphne augenblicklich aus ihrem Traum. „Warum Sybille?“ fragte sie stirnrunzelnd und starrte auf ihren Drink. „Warum Mama?“ fragte sie etwas sanfter. „Schließlich ist es ihr Haus. Sie sagte, wir müßten ein festes Domizil haben. Und du mußt zugeben, Daphne, daß das ein echtes Stück Weisheit war. Sie bestand auf unseren Familiensommern, weißt du nicht mehr?“ „Ich war zu klein. Solange ich zurückdenken kann, war dieses Haus immer da.“ „Ich glaube, ich hatte so sehr den Wunsch herzukommen, weil...“ Laura zögerte, einen so wilden und starken Impuls in Worte zu fassen, und plötzlich weinte sie. „Laura, was hast du?“ „Nichts... Mama... ich dachte, vielleicht...“ , Ja, ich weiß“, fuhr Daphne fort, als Laura sich die Nase putzte. „Du dachtest, vielleicht, wenn wir hierher zurückkämen, könnten wir ein für allemal das Rätsel lösen.“ „Vermutlich.“ „Eine wunderschöne Mutter und drei wunderschöne Töchter“, sagte Daphne, „das sollte überhaupt kein Rätsel sein.“
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„Alle menschlichen Beziehungen sind Rätsel“, sagte Laura. „Und ein und derselbe Mensch mag gleichzeitig ein Teufel und ein Engel sein. Hier an diesem Ort sahen wir Mama meistens als Engel, findest du nicht auch? Weißt du noch, wie wir ums Feuer saßen und Shaw und Ibsen gelesen haben?“ „Und Shakespeare — mit welcher Begeisterung ich Ariel war!“ sagte Daphne und setzte sich wieder. „Sicher hast du recht, L., die Zauberwelt von damals wieder aufleben zu lassen. Bis wir erwachsen zu werden begannen, waren wir Akteure in einem höchst interessanten Spiel.“ Und sie lächelte bittersüß. „Das Familienleben war die Seifenoper von damals.“ Die Schwestern sahen sich amüsiert an. „Sommer“, murmelte Laura, „wie wir uns in den Booten tummelten...“ „Und in die einheimischen Jungen verknallten. Kannst du dir vorstellen, daß Silas fünfzig ist oder älter? Was meinst du, ist sein rotes Haar grau geworden?“ „Papa wurde immer so nervös und ärgerlich vor unserem jährlichen Picknick auf der Vogelinsel, er packte körbeweise Essen ins Motorboot, und einmal vergaß er glatt das Bier! Welch eine Katastrophe! Bevor der Tag um war, sind wir vor Durst fast durchgedreht!“ „Ich hatte Limonade. Ich war zu jung für Bier.“ „Du warst fein raus.“ Daphne legte ein neues Scheit aufs Feuer, nach einem Blick auf ihre Schwester zog sie ein Sandwich und gefüllte Eier aus ihrer Tasche. „Hier, Liebling, iß lieber etwas, bevor du wie Alice hinter dem Spiegel verschwindest.“ „Danke. Mir ist nicht besonders nach Essen.“ Es wäre ziemlich unmöglich, sagte sich Laura, wenn ihr unter diesen Umständen übel würde — kein Wasser. Würde ihr Körper von jetzt an jedes Vergnügen stören? „Gib mir einen Schluck Kaffee, Daff, ja?“ Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und brachte den heißen Kaffee tatsächlich hinunter. Für einen Moment ließ sie sich in einen Zustand der Vergessenheit, der Wesenlosigkeit sinken, wobei sie
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Gefühls- und Gedankenverbindungen völlig ausschaltete. Sie schloß die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, stand Daphne am großen Fenster und sah auf das Meer hinaus. „Daff?“ „Geht es dir gut?“ „Ich habe ein kleines Nickerchen gemacht. Ich fühle mich besser.“ „Das Meer ist ungewöhnlich blau, Fra-Angelico-Blau, sagte Mama dazu, und ganz hinten am Horizont ist ein blasserer Streifen.“ Daphne kam wieder heran und setzte sich mit ausgestreckten Händen vor das Feuer. „Ich habe nachgedacht.“ „Ich habe nicht nachgedacht“, sagte Laura. „Ich werde darin sehr geübt.“ „Du bist gnädiger zu Mutter als ich, und ich frage mich, warum?“ „Ich denke an sie als Sybille, nicht als Mutter. Ich sehe sie so, wie sie war, als sie jung war — nicht heute, natürlich. Vielleicht ist Erwachsensein, daß wir imstande sind, unsere Eltern als eigenständige Menschen zu sehen.“ „Völlige Loslösung? Das ist unmöglich!“ sagte Daphne mit dem Anflug alter Heftigkeit, jener plötzlichen Vehemenz, die hervorbrach, wenn sie wütend oder irritiert war. „Nein, nicht ganz. Aber Sybille war eine wirklich großartige Person, eine Heldin für Kusine Hope, Daphne. Das dürfen wir nicht vergessen. Sie stellte immense Forderungen an sich selbst, sie hat sich nie gehenlassen, sie hatte echte Courage, wenn es darum ging, für etwas zu kämpfen, woran sie glaubte, und all das tat sie mit solchem Stil, noblesse oblige. Glaubst du nicht, daß sie darin beispielhaft war?“ Daphne antwortete nicht, und Laura fuhr fort, jetzt von der Fundgrube besessen, weder müde noch krank, vom Strom der Zeit, des Lebens selbst mitgerissen. „Grandeur ist vielleicht nicht das, was Kinder von ihren Eltern wollen. Eltern müssen normal sein, trostvoll, nicht extrem, deshalb war Sybille als Mutter irritierend, darüber hege ich keinerlei Zweifel. Aber wir haben sie angebetet.
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Hast du vergessen, wie sie aussah, wenn sie uns gute Nacht sagen kam, mit ihrem Schmuck und in dieser geblümten Seidenrobe oder dem weißen Leinenkleid, das mir immer besonders gefiel, weil es so etwas Griechisches hatte, so schlicht und elegant? Ist große Schönheit — und du mußt zugeben, daß sie die besaß — für Kinder nicht schließlich ein Geschenk?“ „Das glaubte sie jedenfalls.“ „Du aber nicht?“ „Nein. Sie war wie ein Schild zwischen Mama und mir“, sagte Daphne kalt. „Und doch hast nur du von uns dreien sie geerbt.“ „Wie ein riesiges, ganz prunkvolles Haus, in dem ich nicht leben konnte, mußt du wissen.“ „Du hast es wirklich gehaßt, schön zu sein, nicht?“ „Ich fühlte mich unzulänglich. Und außerdem — es hat mich immer in eine falsche Lage gebracht. Mama liebte Bewunderung, weil sie die Nähe zu jemandem nicht wollte, weißt du. Ich habe sie gehaßt, weil ich das Gefühl hatte, sie stünde wie eine Wand zwischen mir und den anderen.“ Sie lachte. „Es war, als hätte ich mich ständig aufgetakelt. Und das Schlimmste war, daß ich nicht wußte, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ach je, da stehen wir nun, Laura, die Überlebenden dieser Feuersbrunst — Mama!“ Und wie Daphne brach Laura in Lachen aus und sah noch einmal einen Anflug jener Schönheit, die Daphne mit zwanzig gewesen war. „Ja, wir wurden versengt, aber meinen Kindern blieb das Leuchten, und darüber bin ich froh. Daisy fand einen Draht zu Sybille, und Daisy ist nicht geneigt, für irgendwen durchs Feuer zu gehen, wie du wohl weißt.“ Beim Gedanken an Daisy seufzte Laura. „Vielleicht verfahre ich in der Erinnerung gütiger mit Sybille, weil mir mehr bewußt ist als dir, Daff, wie verdammt schwierig die ganze Mutter-Tochter-Sache ist.“ „Was ist daran so schwierig? Sag's mir.“ Daphne setzte sich wieder auf die kleine Bank und streckte ihre langen Beine aus.
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„Ich wünschte, ich könnte es. Ich weiß nur, daß Ben, besonders Ben, aber auch Brooks mit Kritik irgendwie umgehen können und Daisy schon bei der geringsten kritischen Bemerkung von mir einen Wutanfall bekam und sogar heute noch bekommt.“ „Zu unserer Zeit wurden solche Dinge natürlich den Gouvernanten überlassen. Ich kann mich nicht erinnern, daß Mama uns gerüffelt hätte — allerdings habe ich mich immer durch ihr Lob abgekanzelt gefühlt. Genau das war's!“ sagte Daphne und klatschte dabei in die Hände. „Ich habe damals Gedichte geschrieben — weißt du noch? —, und Mama reagierte immer so freundlich, doch in einer Weise, die mich dazu brachte, die Gedichte zu zerreißen. Und dann las sie einige berühmte Gedichte vor, weißt du, und ich wurde einfach ganz klein und mickrig.“ „Ihr Maßstab war extrem hoch.“ „Ja, zugegeben. Das ist die eine Seite des Problems. Du mußt nämlich wissen, daß es mich Jahre gekostet hat, damit aufzuhören, ein unerträglicher Snob zu sein, was Kunst anbelangte. Wir waren so verdammt überlegen.“ „Aber Sybille war nicht wirklich ein Snob. Denk mal an die Leute, die sie eingeladen hat!“ „Ja, aber sie mußten gewissermaßen etwas Besonderes sein. Da war einmal so ein abgerissener Dichter, doch Mama hielt ihn für ein Genie. Genies wurden akzeptiert, selbst wenn sie schäbig und unverschämt waren.“ „Das Komische ist, daß sie, obwohl sie einen solchen Geschmack hatte, sich wirklich oft mit furchtbaren Nieten ,einließ', wenn man so sagen kann. Zum Beispiel dieser Philosoph mit seiner irren Theorie über das Universum.“ Laura grinste. „Und doch waren auch wirkliche Stars darunter, Maggie Teyte, Edith Wharton und, als wir wieder nach Boston gezogen sind, die Whiteheads.“ Daphne zündete sich eine Zigarette an und rauchte eine Weile, während Laura, plötzlich hungrig geworden, ein Sandwich aß. Das Feuer war heruntergebrannt, und das Zimmer wirkte plötzlich furchtbar kalt. 120
„Wir werden bald aufbrechen müssen, Laura. Es ist einfach zu kalt.“ „Leg noch ein Scheit aufs Feuer. Mir ist egal, ob ich friere. Was macht das schon? Ich möchte noch ein wenig hierbleiben, Daff.“ Denn Laura war noch immer ihrer Fundgrube auf der Spur, noch immer von seltsamer Erregung erfaßt. „Gewiß, Liebling, wie immer du willst. Ich bin froh, daß wir hergekommen sind“, sagte Daphne und wuchtete ein großes Scheit auf die Glut, daß die Funken stoben. „Du nicht auch? Es war eine gute Idee von dir.“ „Und doch hat die Rückkehr zu den guten Jahren, zu dem, was immerhin eine wunderbare Kindheit gewesen ist, dich nicht weniger schonungslos gemacht, nicht wahr?“ „Irgendwie, L., hattest du dein reales Leben...“ „Und du hattest deines nicht?“ Laura runzelte die Stirn. Sie wollte eigentlich nicht über das Scheitern ihrer Schwester nachgrübeln, falls es das war. „Gewiß nicht. Ich war so damit beschäftigt, nicht so zu werden wie Mama, daß ich vermutlich letzten Endes überhaupt nichts bin.“ „Aber das stimmt doch nicht. Dein Maßstab ist immer noch der von Mama, daß einzig und allein eine außergewöhnliche Begabung, eine heroische Tat, eine lebenüberdauernde Leistung zählt.“ Daphne sah ihre Schwester beunruhigt an. „Seit ich weiß, daß ich nicht mehr lange zu leben habe, glaube ich eigenartigerweise, daß ich allmählich besser begreife, um was es im Grunde geht, warum wir auf der Welt sind.“ „Du Glückliche!“ „Geht es nicht einfach ums innere Wachsen, um mehr Menschlichkeit — nicht um Leistung, um Ruhm, nichts Derartiges —, und, Daphne, du bist so ein großartiger Mensch. Du bist eine so liebevolle, warmherzige Person, und du mußtest eine Menge Blockierungen durchbrechen, um so zu werden. Ich finde dich phantastisch“, sagte Laura.
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„Eine phantastische Niete“, sagte Daphne, aber sie wirkte schüchtern, verwirrt, genauso, wie sie als Kind ausgesehen hatte, wenn jemand sie lobte. „Ich schätze, es dauert lange, erwachsen zu werden.“ „Ja, und komischerweise ist Sybille es nie geworden. Denn Erwachsenwerden bedeutet, imstande zu sein, sich selbst zu betrachten und sich selbst zu verstehen. Das hat sie nie — und das ist es letztlich“, sagte Laura mit einem gewissen Triumph, weil sie die Fundgrube vielleicht schließlich doch noch erreicht hatte, „was Sybille so destruktiv machte.“ „Wenn ich sie doch nur einmal nicht in einer noblen Rolle sehen könnte!“ sagte Daphne und stützte den Kopf auf ihre Hände. „Na, Jo“, sagte Laura spontan. „In dieser Rolle war sie wohl alles andere als nobel.“ „Du meinst in bezug auf Alicia?“ „Ich finde, daß Sybille sich damals wirklich mies verhalten hat, rücksichtslos, und ich glaube, wohl deshalb, weil sie das gleiche Gefühl in sich selbst nicht zulassen konnte. In ihrem Unterbewußtsein existierte ein starker Sog. Leidenschaftliche Liebe für eine Frau! Das machte ihr angst, und zwar so sehr, daß sie einmal nicht nobel reagierte — gibt dir das ein besseres Gefühl?“ fragte Laura mit einem Lächeln. Daphne antwortete nicht. Sie starrte ins Feuer. Das Scheit, das sie aufgelegt hatte, brannte jetzt. Doch nach einer Weile reckte sie die Arme und gähnte, dann stand sie auf, lief hin und her und verharrte einen Augenblick, um aufs Meer zu sehen. ,,Es bezieht sich.“ Laura wartete. Sie spürte, daß sie einer gewissen Befreiung nahe waren, einer Öffnung des geschlossenen Raums, wo Sybille wie eine schöne, böse Göttin gelauert hatte. Diesen Durchbruch zu schaffen war so furchtbar wichtig, daß sie fast mit angehaltenem Atem auf das wartete, was Daphne schließlich erkennen und aussprechen würde — wenn das überhaupt der Fall wäre. „Ich habe in diesen letzten Jahren etwas gelernt, und
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ich wünschte, ich hätte es schon vor langer Zeit gelernt.“ „Was ist es? Liebe, schöne Daff, was ist es?“ „Ich habe gelernt, Frauen zu mögen. Mama mochte Frauen nicht, stimmt's? Ich habe jetzt zwei oder drei wirkliche Freundinnen. Das ist ein ungeheurer Segen, Laura. Es hat mir eine ganz neue Welt eröffnet. Glaubst du, daß Jo wirkliche Freundinnen hat?“ „Ach, ich weiß nicht — vielleicht.“ „Frauen haben einander so viel zu geben und so viel voneinander zu lernen. Ich war zwar nie in der Frauenbewegung aktiv, doch ich muß zugeben, daß diese ganze Idee der Schwesterschaft sich verbreitet hat und umgesetzt wird; Frauen, die einander helfen, Frauen, die imstande sind, offen miteinander zu reden, nicht als Rivalinnen. Das scheint relativ neu zu sein.“ „So habe ich das noch nie bedacht. Allerdings stelle ich in meinem Job fest, daß die Leute, insbesondere aber Frauen, weniger Angst haben, ehrlich miteinander und mit sich selbst zu sein.“ „Es ist eine sehr viel offenere Welt als damals, als wir jung waren, L. An diesem Punkt in meinem Leben bekomme ich mehr Unterstützung von Frauen als selbst von David. Denn, genau gesagt, bei David war ich in Wahrheit jahrelang so etwas wie eine psychiatrische Pflegerin, die Ego-Stütze... Das ist aufreibend.“ „Das Gleichgewicht ist empfindlich, so zerbrechlich. In ihrer Ehe spielte Papa gewissermaßen die weibliche Rolle, nicht wahr? Er war es, der bewunderte, tröstete und Sybilles Aufführungen mit Begeisterung applaudierte.“ „Er war ein Romantiker, zumindest was Frauen angeht.“ Daphne sah Laura an und lachte plötzlich. „Es war schrecklich gut, so zu reden, Laura.“ „Ich wollte es so sehr“, murmelte Laura. „In diesem Haus sein, wo wir am glücklichsten waren, das Haus unserer Kindheit, und zu einer gewissen Aufarbeitung zu gelangen, die Mama einschließen könnte ohne Ressentiments und ohne Schuldgefühle.“ „Ganz haben wir's noch nicht geschafft“, sagte Daphne.
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„Doch ich muß zugeben, daß ich, als wir hereinkamen, das Gefühl hatte, wie ein Igel die Stacheln aufzustellen. Ich wollte nicht über die Kindheit nachdenken. Ich wollte mich nicht erinnern.“ „Und jetzt?“ „Oh, vielleicht bin ich etwas näher daran, Sybille, wie du sie nennst, zu akzeptieren und mir zumindest vorzustellen, daß ich sie, wäre ich nicht ihre Tochter gewesen, womöglich gern gehabt hätte. Wer weiß?“ „Nur noch eins, bevor wir gehen. Warum hat Onkel Root Selbstmord begangen?“ „Weißt du das nicht mehr?“ fragte Daphne erstaunt. „Mama hat immer gesagt, es war eine noble Tat. Er war schrecklich verschuldet, und nach seinem Tod bekamen seine Frau und seine Kinder die Lebensversicherung.“ „Ich erinnere mich lediglich an die furchtbare Spannung, weil niemand weinte, und daß du, Jo und ich in den Keller gingen und vor Wut heulten, weil uns das alles ganz unmenschlich und verrückt vorkam. Er war so ein liebenswerter Mann! Weißt du noch, wie er uns damals im Sommer das Reiten beibrachte und Pa für uns Poloponys mietete?“ „Das war der Sommer, als wir uns immer davonschlichen und die Heuhaufen herunterrutschten in die Salzmarsch — streng verboten natürlich.“ Laura war aufgestanden, und während sie redeten, zerschlug Daphne die Scheite und packte die Thermosflaschen ein. Dann stand sie einen Augenblick nachdenklich da. „Onkel Root drohte Mama zu erschießen, wenn sie zur Bühne ginge — und es war ihm Ernst damit. Die ganze Sache hatte irgendwas furchtbar Verrücktes.“ „Na ja, wie du schon sagtest, Daff, das Familienleben war die Seifenoper, als wir jung waren.“ Die ganze Heimfahrt über schwiegen die beiden im Wagen. Laura döste.
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12 Als sie am nächsten Morgen im Bett lag, das Frühstückstablett neben sich und Mrs. O'Brien in einer Stunde fällig, wurde Laura bewußt, welch ein Segen es war, daß Daphne darauf bestanden hatte, bis zum Nachmittag zu bleiben, denn dann konnte sie Mrs. O'Brien noch sagen, was zu tun war, ihr zeigen, wo sich alles befand, und sie einquartieren. Nach einer ungemütlichen Nacht — sie hatte gehustet und keine Lage gefunden, in der sie frei atmen konnte —, wurde Laura klar, daß all dies über ihre Kräfte gegangen wäre. Egal, dachte sie, wir waren in Maine, wir sind hingefahren. Und Daphne schien zu verstehen, daß Laura vorerst in ihrem Haus allein und so frei sein mußte, wie sie konnte, und war bereit, zumindest vorläufig nach New York zurückzukehren. Sie hatte Laura davon überzeugt, daß Daisy und Ben und auch Jo informiert werden mußten und sie, Daphne, dafür sorgen würde. Alles wird organisiert, dachte Laura — in ihrem Augenblick der Erregung auf der Marlboro Street, als sie sich zum erstenmal vorgestellt hatte, daß sich ein großes neues Abenteuer eröffnete, das Abenteuer des Sterbens, hatte sie sich das nicht so gedacht. Es liefe am Ende auf kleine Scherben und Stücke hinaus. Da ein sich dem Ende näherndes Leben so sehr Teil des menschlichen Geflechts ist, gab es keine Möglichkeit, sich völlig von den anderen zurückzuziehen. Sie fühlte sich aufgewühlt und ruhelos, weil heute so vieles anstand: zuerst Mrs. O'Brien, Ann, die Grindle ausführte, um vier schließlich Tante Minna zum Vorlesen. Könnte es sein, daß eine Routine ihr womöglich den Raum gäbe, das Gefühl, eine Ewigkeit zu leben, das sie in den letzten Tagen beinahe verloren hatte? Jetzt sank Laura in ihre Kissen zurück und schloß die Augen.
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Unten konnte sie hören, wie Daphne, die eine besondere Stimme für Tiere hatte, mit Grindle redete, und Grindle antwortete sogleich mit einem Bellen auf derartige Aufmerksamkeit. Wie schön, sich keine Sorgen zu machen — Daphne würde ihn hinaus- und Sasha hereinlassen. Laura mußte geschlafen haben, denn plötzlich nahm sie unten Stimmen wahr und sah auf ihre Uhr. Kurz nach elf. Mary O'Brien mußte eingetroffen sein. Einen Augenblick später war Daphne in ihrem Zimmer, setzte sich aufs Bett und nahm ihre Hand. „Möchtest du Mrs. O'Brien sehen? Sie ist unten und macht eine Eiercreme. Sie hat bereits ausgepackt und sich einquartiert.“ „Mmm, Eiercreme hört sich gut an.“ Laura schob sich auf den Kissen hoch. ,,Aber ich muß mich jetzt wirklich anziehen. Es ist furchtbar spät.“ „Warum unterhältst du dich nicht erst ein wenig mit ihr und ziehst dich danach an?“ „Na gut. Ich fühle mich tatsächlich etwas müde.“ „Wenn ich du wäre, bliebe ich den ganzen Tag im Bett. Schließlich war das gestern eine ziemliche Expedition.“ Doch dies klang nicht wie das Lied der Sirenen. Laura hatte das Gefühl, sich nicht eher der Invalidität anheimfallen lassen zu dürfen, bis es unerläßlich war. „Wir werden sehen. Schick also Mrs. O'Brien herauf.“ Und sie flüsterte: „Findest du sie nicht auch ganz in Ordnung?“ Daphne nickte begeistert. „Prima“, flüsterte sie. Dann nahm sie das Tablett und verschwand. Während Laura auf Mrs. O'Brien wartete, hatte sie das seltsame Gefühl, daß diese Frau, die sie kaum kannte, die nächste Begleiterin auf ihrer Reise werden sollte und weit mehr darüber wußte als sie — wenn schon nicht das Ziel, so wären ihr doch zumindest die Schrecken und Qualen der Reise bekannt. Indessen Laura das alles unbekannt war. Nicht die Kinder, nicht Daphne, sondern Mary O'Brien und Tante Minna wären ihr von jetzt an Stab und Stütze. Als dann Mary O'Brien, in eine riesige weiße Schürze gewickelt, in der Tür erschien, spürte Laura ein wahres
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Schaudern, keine Angst, sondern das sich nähernde Unbekannte, das Unbekannte, mit dem sie sich anfreunden lernen mußte. „Setzen Sie sich“, meinte sie. „Meine Schwester hat mir gesagt, sie hätten sich bereits eingerichtet — ich muß nach dem Frühstück eingenickt sein. Ich bin müde, weil wir gestern eine lange Fahrt zu unserem alten Sommerhaus nach Maine gemacht haben.“ „Ja, Ihre Schwester hat es schon erzählt. “Mary O'Brien lächelte. Wenn sie lächelte, war ihr ziemlich strenges Gesicht mit den tiefen Falten um den Mund recht schön. „Deshalb ist es eine gute Idee, sich heute richtig auszuruhen.“ „Ich weiß nicht“, antwortete Laura. „Ich habe das Gefühl, ich müßte alles tun, was ich kann, solange es möglich ist.“ Dann sah sie Mary O'Brien prüfend an. „Ich will mich nicht verhätscheln — und ich will nicht verhätschelt werden.“ „Sie werden tun, was Sie möchten, Mrs. Spelman. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen, genau das zu tun, also“, sagte sie ohne zu lächeln, „ich denke, wir verstehen einander.“ „Danke“, antwortete Laura. „Ein Käsesoufflé und Salat zum Mittagessen?“ fragte Mary O'Brien. „Ich habe herumgeschaut, und das war ungefähr alles, was ich finden konnte. Miss Hornaday sagte, sie würde mir den Weg zum Markt zeigen, und wir könnten heute nachmittag einiges besorgen.“ „Das ist ganz prima. Seien Sie so freundlich und reichen mir mein Portemonnaie? Es liegt auf der Kommode. Hier gebe ich Ihnen fünfundzwanzig Dollar, und Sie können darüber nach Bedarf verfügen. Ich erwarte nicht, daß es heutzutage lange reicht!“ Wieder zögerte Laura, aber sie sollte es lieber hinter sich bringen und fügte deshalb hinzu: „Ich habe nicht viel Appetit, Mrs. O'Brien. Sie dürfen nicht verletzt sein, wenn ich nicht immer ein Essen herunterbringen kann.“ „Wir werden Dinge finden, die Sie essen können. Nun 127
machen Sie sich mal darüber keine Sorgen.“ Dann lachte sie auf ihre recht scheue Weise. „In meiner letzten Stelle, eine so reizende alte Dame, wollte sie nichts als Eiercreme und — ausgerechnet — gedünstete Zwiebeln, manchmal etwas Fleisch, wenn ich es fein schnetzelte.“ Mary O'Brien stand auf. „Nun mal immer mit der Ruhe, und machen Sie sich keine Sorgen über irgendwas.“ „Ich werde zum Essen aufstehen“, sagte Laura. „Sehr wohl.“ Und Mary O'Brien zog sich zurück. Für eine so große Frau klangen ihre Schritte auf der Treppe sehr leichtfüßig. Es lag etwas Tröstliches in ihrer Ruhe, und Laura dankte dem Glück für ihre offenbar wohltuende Anwesenheit. Sie bekamen ihr Essen auf Tabletts am Feuer serviert und fühlten sich ein wenig wie Schulmädchen, denen eine Sonderbehandlung zuteil wird. Nach dem Essen, als Daphne zum Kaffee eine Zigarette rauchte und die Zeit ihrer Abreise näher rückte, schlug die Stimmung um. „Weißt du“, sagte Daphne, die jetzt am Fußende des Sofas saß, auf dem Laura lag und Sasha daneben. „Ich fühle mich nun sehr viel besser als bei meiner Ankunft. Du hast etwas sehr Seltsames und Wunderbares vollbracht.“ „In welcher Beziehung?“ „Ich habe das Gefühl, daß mein Leben nicht ganz vertan ist, irgendwie — was du über das Menschlicherwerden gesagt hast, genau darum geht es tatsächlich.“ „Liebling, das ist ganz offensichtlich.“ Als sie in das verknitterte Gesicht ihrer Schwester sah, in das sich soviel an Konflikten und Leid eingezeichnet hatte, war Laura fast zu Tränen gerührt. Das war eine Sache, die sie nicht unter Kontrolle hatte: Tränen. Sie spürte Daphnes festen Händedruck und erwiderte ihn eine Sekunde lang. „Ich habe nie an mich geglaubt, doch du hast mich dazu gebracht, auch noch ein wenig mehr über Mama zu begreifen. Vielleicht ist das Ganze eine Verkettung. Weine nicht, Liebling.“ „Ich weine ja nicht“, sagte Laura und putzte sich die 128
Nase. Dann lachte sie. „Natürlich doch! Es ist lächerlich, wieviel ich weine — über das Gute... Es ist die Güte, die mich zum Weinen bringt, weißt du. Du hattest keine faire Chance, Daff.“ „Ach, ich schätze, doch.“ Und dieses Heben ihres Kinns, die Haltung ihres Halses erinnerte wieder an die Schönheit, die sie gewesen war. „Ich muß gehen und meine Sachen in den Koffer stopfen, L.“ „Ja, es ist Zeit“, sagte Laura mit einem Blick auf ihre Uhr. „Hast du ein Taxi gerufen?“ „Es wird in fünfzehn Minuten hiersein.“ Mrs. O'Brien kam nun herein, um die Tabletts abzuräumen. „Sie rühren sich jetzt nicht. Ich werde gleich das andere holen.“ „Es war ein tolles Essen. Ich habe meins ganz aufgegessen.“ „Wie schade, daß Ihre Schwester abreisen muß.“ „Sie wird wiederkommen, wenn ich sie brauche. Wissen Sie, ich möchte wirklich allein sein. Ich weiß, das muß einen komischen Eindruck machen.“ „Es erfordert Mut, sich allein mit der Sache auseinanderzusetzen, doch ich nehme an, mir ginge es ähnlich wie Ihnen. Manchmal ist Familie einfach zu nahe.“ „Meine sehr alte Tante, Miss Hornaday, kommt zum Tee und liest mir vor. Sie wird jeden Tag kommen. Ich glaube, solche regelmäßigen Besuche könnten mir eine Hilfe sein. Nur... ich fürchte alles Emotionale. Ach, und ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß meine Schwiegertochter jeden Nachmittag herkommen wird, um Grindle auszuführen. Ich schätze, das kann ich nicht mehr.“ „Den Hund ausführen?“ Mrs. O'Brien sah bestürzt aus. „Aber das täte ich mit Freude — gut für mich, wenn ich rauskomme.“ „Würden Sie das wirklich?“ „Natürlich.“ „Wo ist Grindle eigentlich?“ „Er ist in der Küche. Er ist ein freundlicher Hund, nicht wahr?“
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„Freundlich und auch ziemlich gefräßig. Verwöhnen Sie ihn nicht!“ Nun klingelte es, und Daphne lief mit ihrem kleinen Koffer in der Hand die Treppe hinunter und rief nach draußen: „Nur eine Minute, ich komme sofort.“ Laura stand neben ihr, als sie die Tür schloß. ,,Daff, danke, daß du gekommen bist, daß du mich nach Maine gefahren hast — für alles.“ „War mir ein Vergnügen, Liebe“, sagte Daff leichthin, und dann war sie verschwunden. Lange Abschiede gehörten nicht zur Familientradition, aber auf halber Treppe hielt Laura inne und wünschte, sie hätte Daff in die Arme geschlossen und einmal so richtig an sich gedrückt. War eine solche Nähe etwas, das sie sich nicht mehr leisten konnte? „Brauchen Sie noch irgendwas, Mrs. Spelman?“ fragte Mrs. O'Brien, die am Fuß der Treppe stand. „Nein, nur eine lange Ruhepause. Wenn Ann Spelman kommt, um Grindle zu holen, sagen Sie ihr, daß ich müde bin, ja? Es ist einfach phantastisch, eine Abschirmung zu haben.“ „Gut, gut. Jetzt legen Sie sich aber hin und schlafen erst einmal.“ Doch als sie auf dem Bett lag, wurde Laura bewußt, daß der Besuch, so lieb er gewesen war, nun ein eigenartiges Gefühl von Schutzlosigkeit hinterließ. Sobald ihr Alleinsein durchbrochen wurde, verlor sie an Boden. Oder vielmehr, der tiefe Strom, auf dem sie trieb, bis Daphne kam, war versiegt. Statt dahinzutreiben, fühlte sie sich eingekerkert in einen kranken Körper. Sie konnte den Krebs fast spüren, dieses mysteriöse Ding in ihr, das sich nicht ausrotten ließ, dem sie nach und nach die Oberhand gewähren mußte. „Wie kann ich das schaffen?“ flüsterte sie, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. „Wie kann ich das akzeptieren?“ Und dann fiel ihr plötzlich — welch ein Segen die Erinnerung sein kann! — der alte Freund ihres Vaters ein, Owen Paine, der von Arthritis verkrüppelt war und die letzten Jahre im Rollstuhl verbracht hatte. Er
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sagte immer: „Schwester Qual ist mir lieb und wert.“ Damals war es ihr einfach etwas überspannt vorgekommen, etwas hochgestochen vielleicht — nun begann sie es zu verstehen. Ich muß versuchen, alles auf dieser Ebene zu betrachten, den Tod als einen Freund, der näher kommt, ein mysteriöser Freund, mit dem ich intimer verbunden bin als mit irgendeinem Menschen. Die echte Beziehung? War das einfach der Tod selbst? Und wenn das stimmte, war das, was in ihrem Körper vor sich ging, nur ein Teil von etwas anderem, wie eine steigende Flut, wie das bedächtige Rauschen der Wellen, das als unbarmherzig oder als unvermeidlich betrachtet werden konnte? Es ist die arme alte Daff, die die Bürde des Lebens weiterhin tragen muß, nicht ich. Nicht ich. „Das Ruhen hat Ihnen gutgetan“, bemerkte Mrs. O'Brien, als Laura um vier herunterkam, wo sie das Teetablett bereits vorfand und ein loderndes Feuer. „Sie haben für alles gesorgt, Sie wundervolle Frau“, Laura seufzte vor Freude. „Kein Problem. Ich bringe die Teekanne herein, sobald Ihre Tante kommt.“ „War Ann da? Ich habe die Klingel gar nicht gehört.“ „Sie war da, und Grindle hatte einen langen Spaziergang. Und sie brachte einen Kuchen mit.“ „So eine Liebe.“ „Ich hoffe, es ist alles in Ordnung“, meinte Mrs. O'Brien. „Ich sagte ihr, daß ich Grindle ausführen werde und sie ab heute nicht mehr zu kommen braucht. Ich glaube, sie möchte ein Auge auf Sie haben, Mrs. Spelman, und das hat ihr nicht gefallen.“ Du kannst die Menschen nicht fernhalten, mahnte Laura eine innere Stimme. Das Leben würde weiterhin eingreifen und den Strom unterbrechen, und genau damit wußte Laura nicht umzugehen. Zunächst Tante Minna — sie riefe Ann später an und erklärte es ihr —, denn nun klingelte es ungeduldig an der Tür. „Da bin ich, Liebe“, sagte Tante Minna und schwenkte eine grüne Tasche mit Büchern am Arm. 131
„Komm herein, komm herein. Mrs. O'Brien wird deinen Mantel aufhängen.“ Tante Minna trug eine zerknitterte Bluse, ein blaues Tweedkostüm, und ihre Augen leuchteten stahlblau. Ihre Gegenwart wirkte elektrisierend. Nun musterte sie offensichtlich Mrs. O'Brien und redete unterdessen in einem Zug, aus Schüchternheit, wie Laura glaubte. Ihr fiel auf, daß sie Tante Minna seit Jahren zum erstenmal außerhalb ihres Hauses sah. So erfuhr sie beim Teetrinken, daß Tante Minnas Dach undicht war, daß eine alte Kollegin angerufen und sie drei Bücher zur Auswahl mitgebracht hatte: eins von Trollope, dann Stolz und Vorurteil und Dag Hammarskjölds Vermächtnis. „Ah“, triumphierte Tante Minna, als Laura sich für Hammarskjöld entschied. „Ich wußte, daß du dieses auswählen würdest. Ich sterbe förmlich danach, es selbst noch einmal zu lesen.“ „Es geht mir wirklich ganz gut“, sagte Laura lächelnd. „Ich muß eigentlich nicht vorgelesen bekommen.“ Doch da sie Tante Minnas Bestürzung sah, fügte sie rasch hinzu: „Aber wenn wir eine Routine darin bekommen können, stelle ich mir vor, daß es später möglicherweise ein Gottesgeschenk ist, wenn's mit mir abwärtsgeht.“ „Abwärts? Ich würde es lieber als ein Aufwärts sehen, weißt du, als das Erklimmen eines sehr hohen Berges mit Namen X-5 oder so ähnlich, deshalb wirst du sehr erschöpft und außer Atem sein.“ Die Antwort kam postwendend, und Laura lachte. „Na gut. Laß uns den X-5 mit Hammarskjöld angehen.“
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13 „Ich habe das Gefühl, du schließt uns einfach aus, Laura.“ Anns Stimme am nächsten Morgen am Telefon hatte einen schroffen Unterton. „Du weißt, wir wollen dir helfen, so sehr wir nur können.“ „Liebe Ann, der Kuchen war wunderbar. Tante Minna hat drei Stücke davon gegessen.“ Doch Laura wußte, sie konnte es nicht dabei belassen. „Mrs. O'Brien möchte Grindle wirklich gern ausführen, und ich kann verstehen, daß sie aus dem Haus kommen muß.“ „Oh ja, das sehe ich ein.“ Aber es war klar, daß Ann es nicht einsah. „Also war Tante Minna da?“ (Tante Minna durfte herein und ich nicht, war damit eindeutig gemeint.) Doch wie könnte Laura dieser lieben, jungen, verletzlichen Schwiegertochter erklären, daß Tante Minna zum Teil zumindest willkommen war, weil sie so alt war und Laura bei ihr ein kleines Kind sein konnte, dem vorgelesen wurde? Mehr noch, daß Tante Minna auf ihre Weise als Vertraute betrachtet werden konnte, wie es keines von Lauras Kindern war. Wie ließe sich derartiges überhaupt erklären? „Ich werde nicht versuchen, dir alles begreiflich zu machen, was ich tue, Ann. Ich mache, wonach mir ist. Tante Minna wird jeden Tag kommen und mir vorlesen. Deshalb war sie da. Sie tut es mit Begeisterung — und ehrlich gesagt, ich kann einfach nicht zulassen, daß du dein Leben täglich unterbrichst, um meinen Hund auszuführen!“ Ein ausgiebiges Schweigen folgte am anderen Ende der Leitung. „Ann, du mußt das verstehen!“ Laura war plötzlich so ärgerlich, daß sie mit mehr herausplatzte, als sie wollte oder bewußt gespürt hatte. „Dies ist das erste Mal, daß
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ich mein Leben leben kann, ohne an andere zu denken. Und genau das habe ich vor.“ „Du bist erstaunlich, Laura, absolut erstaunlich“, sagte Ann, dann gluckste sie, und das Glucksen wurde zum Lachen. „Aber du hast deinen Standpunkt klargemacht, und ,ich höre dich', wie man so sagt.“ „Na gut, Liebe. Da ist aber etwas, das du tun kannst, und es wäre mir eine echte Hilfe: wenn du nämlich heute oder morgen herüberkämest, wann es dir paßt, und mit Mrs. O'Brien einkaufen gingest, ihr die Läden zeigtest, den Bauernhof für die Eier und eventuellen Hühner. Danach kann sie allein fahren, sagt sie.“ „Ich komme heute nachmittag“, antwortete Ann fröhlich. Und das war's. Aber die Anstrengung war enorm gewesen, wie Laura feststellte, als sie den Hörer auflegte. Ihr Nachthemd war klitschnaß, und zum erstenmal seit Tagen bekam sie einen Hustenanfall. „Erstickend...“, stieß sie hervor, als Mrs. O'Brien, leise wie eine Indianerin, plötzlich am Bett stand. „Ich werde Sie aufrichten.“ Irgendwie gelang es Mrs. O'Brien, Laura in eine aufrechte Position zu bringen und dann Kissen hinter sie zu stopfen. „Danke“, hauchte Laura. „Das ist besser.“ „Warum lassen Sie mich nicht von jetzt an das Telefon abnehmen, Mrs. Spelman? Dann können Sie entscheiden, ob Sie den Anruf entgegennehmen wollen oder nicht.“ „Ja, bitte.“ Also döste Laura eine Weile, hörte das Telefon zweimal läuten und dachte mit großer Erleichterung, daß sie nicht antworten mußte. Als Mrs. O'Brien um elf mit einer Tasse Tee heraufkam, sagte sie, daß der eine Anruf vom Arzt gewesen sei, der früh am nächsten Morgen hereinschauen wolle, und der andere von Harriet Moors. „Sie machte einen ziemlich verstörten Eindruck, als ich ihr sagte, Sie seien krank, ich sagte ihr aber, ich würde es Ihnen ausrichten, und ich glaube, daß sie weinte.“ „Ich muß aufstehen“, sagte Laura spontan. 134
„Nun mal mit der Ruhe. Sie hat ihre Telefonnummer hinterlassen, und wenn Sie sich etwas erholt haben, können Sie sie ja anrufen, wenn Sie wollen. Hier ist sie“, und damit entfaltete Mrs. O'Brien einen Zettel aus ihrer Schürzentasche. Laura lehnte sich zurück und atmete in kurzen Zügen. Jedes tiefe Atmen ließ sie husten. Wie hatte sie nur Harriet Moors vergessen können? Es war tatsächlich so, als wäre der Teil ihres Lebens, der mit Houghton Mifflin verknüpft war, bereits stromabwärts getrieben. Und doch hatte irgend etwas an dem Mädchen Laura tief berührt. Sie mußte einfach wissen, was dieser fast völlig Fremden widerfahren war. Wie war das nun zu verstehen? Während sie einige Minuten nachgrübelte, bevor sie Harriet anrief, zerbrach Laura sich unversehens den Kopf über ihre Schwester Jo. Was würde Jo zu diesem Mädchen sagen? Vielleicht verfolgt uns das Unabgeschlossene, und der Geist Alicias verfolgte uns seit vierzig Jahren. Jede tiefe Beziehung beinhaltet Leiden, rief sich Laura in Erinnerung, doch für die Außenseiter lagen die Risiken höher, so viel mehr Mut war erforderlich, um den eigenen Weg zu gehen — Harriets Freundin, die älter war und womöglich einen Beruf aufs Spiel setzte —, nun, vielleicht war es verständlich, daß sie eine unerbittliche Haltung eingenommen hatte. Und was dann? Es war ein unerträgliches Dilemma für die arme Harriet, die sich bereits wegen der Reaktion ihrer Eltern zerfleischte. Ich muß sie augenblicklich anrufen, sagte sich Laura mit einem Schaudern der Angst. Was ist, wenn sie... Sie wählte die Nummer und wartete, während das Telefon klingelte und klingelte, und gerade als sie auflegen wollte, antwortete eine verschwommene Stimme. Verschwommen von Tränen? Von Tabletten? „Harriet, hier ist Laura Spelman. Tut mir leid, daß ich geschlafen habe, als Sie anriefen.“ „Man sagte, Sie seien krank.“ „Das bin ich, aber ich mache mir Sorgen um Sie. Geht es Ihnen gut? Sie klingen ganz außer sich.“
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„Bin ich. Ich bin...“ Ein Schluchzen verhinderte, daß sie weiterredete. „Sie sind verstört. Warum kommen Sie nicht einfach sofort her?“ „Aber... aber...“ „Ich bin nicht zu krank, um ein Stündchen zu reden. Also kommen Sie jetzt gleich. Putzen Sie sich die Nase, und dann sehen wir, wie wir Abhilfe schaffen können.“ Hatte sich Harriet mehr aufgeladen, als sie in den Griff bekommen konnte? Laura versuchte, sich an den Namen einer Psychiaterin zu erinnern, aber hier ging es um eine so reine und ehrliche und auch sehr junge Person. Harriet zu beeinflussen, sie zu einer bestimmten Analyse zu drängen — könnte das denn helfen? Nur, so entschied Laura, wenn sie so depressiv war, daß sie keine Entschlüsse fassen konnte, nur wenn sie selbstmordgefährdet war. Aber wie sollte man das wissen? Laura war plötzlich so aufgewühlt, daß sie ihre Socken verkehrt herum anzog, doch was machte das schon? Schließlich gelang es ihr, sich anzuziehen, während Sasha sich in einem Anfall leidenschaftlichen Schnurrens an ihren Beinen rieb und sie behinderte. „Komm, meine Katze, jetzt gehen wir nach unten.“ „Lieber Himmel, Mrs. Spelman, ich dachte, Sie schlafen!“ Mrs. O'Brien sah bestürzt aus. „Ich habe Harriet Moors gebeten, für eine Stunde herüberzukommen. Sie ist in Schwierigkeiten.“ Mrs. O'Brien gab keinen Kommentar dazu ab, statt dessen zündete sie das frisch gelegte Feuerholz an, und als das getan war, sagte sie: „Nun, Sie werden in Ruhe reden wollen. Also besorge ich einige Lebensmittel, während sie da ist. Jedenfalls bleiben Sie nicht allein.“ „Schön“, sagte Laura. „Wir könnten ein Filet und frische Erbsen essen.“ „Ich habe Ihnen zum Mittag tiefgekühlte Fischsuppe aufgetaut.“ „Prima.“ Laura legte ein Haydn-Konzert auf den Plattenteller —
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Haydn für die Kraft —, und die Musik hatte tatsächlich die gleiche Wirkung auf sie wie ein starker Brandy. Sie stand mit dem Rücken zum Fenster, betrachtete Anns Blumen, die noch immer in voller Pracht auf dem kleinen Tisch am Sofa standen, auf dem sie in letzter Zeit so viele Stunden zugebracht, gelesen und Musik gehört hatte. Dort auf ihrem Schreibtisch stapelte sich die Post, die sie noch nicht einmal geöffnet hatte. Jetzt, da Mrs. O'Brien im Haus war, mußte sie sich wirklich darum kümmern. Sie würde sie in ihr Schlafzimmer mitnehmen und die Briefe morgens vor dem Aufstehen lesen. Harriet träfe vermutlich jede Sekunde ein, und schon kam Mrs. O'Brien ausgehbereit im Mantel die Treppe herab. Also war es nur angebracht, daß es im gleichen Moment klingelte. „Treten Sie ein. Mrs. Spelman ist in der Bibliothek“, hörte sie, und dann wurde geflüstert — zweifellos eine Mahnung, nicht zu lange zu bleiben. „Nun“, sagte Laura, als Harriet zögernd in der Tür stand, „kommen Sie doch ans Feuer. Wie ist es draußen?“ „Es sieht nach Regen aus.“ Nachdem sich die Haustür geschlossen hatte, entstand ein Schweigen. Harriet ließ ihre Tasche von der Schulter auf den Boden gleiten und setzte sich aufs Sofa. Laura in ihrem Lehnstuhl schaute rasch in das fleckige Gesicht hinter der dunklen Brille und sah dann fort. Ein Blick genügte. „Sie haben einen schweren Schlag bekommen, nicht wahr?“ „Nein“, sagte Harriet mit dünner Stimme. „Ich habe einfach das Gefühl, alles ist hoffnungslos. Ich komme mir vor wie ein Tier im Käfig.“ „Das ist schlimm“, sagte Laura. „Ach, Mrs. Spelman, ich hätte nicht herkommen sollen. Es ist nur...“ „Ich glaube nicht, daß das, was Sie durchmachen, die einfachste Sache der Welt ist, und deshalb sagte ich Ihnen, Sie könnten mich ohne Bedenken anrufen, also machen
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Sie sich keine Sorgen.“ Vielleicht wäre es eine gute Idee, eine Weile weiterzureden, bis Harriet sich gefaßt hatte. „Ein Gutes hat die Krankheit, nämlich daß viel Unwesentliches ausgeschaltet wird. Ich kann nicht arbeiten, wissen Sie, und das Herumliegen wird langweilig“ — eine Lüge, aber in guter Absicht. „Also lassen Sie uns eine Weile reden. Mrs. O'Brien ist ausgegangen, um Besorgungen zu machen.“ Doch als sie jet zt da war, hatte es Harriet offenbar die Sprache verschlagen. Sie zog ein Papiertaschentuch hervor und schneuzte sich die Nase. Laura wagte eine Vermutung. „Sie haben Ihre Entscheidung getroffen? Sie haben sich entschlossen, Ihren Roman nicht zu veröffentlichen?“ „Nein, oh nein!“ Harriet stand auf, lief zunächst auf und ab, trat dann ans Fenster, wobei sie Laura den Rükken kehrte. „Das ist das Problem — genau das. Ich sehe einfach nicht, was ich tun könnte, irgendeinen Ausweg.“ „Außer aus dem Fenster zu springen?“ Dies rüttelte Harriet auf. „Woher wissen Sie das?“ „Es bedarf keiner außergewöhnlichen Einsicht, sich zusammenzureimen, daß Sie das Gefühl haben, in einer ausweglosen Situation zu sein, Harriet. Alle haben irgendwann schon mal an Selbstmord gedacht, so, wie alle Kinder irgendwann einmal von zu Hause weglaufen.“ Harriet brachte ein Lächeln zustande, dann runzelte sie die Stirn. „Kinder laufen weg, wenn ihre Eltern sie nicht das tun lassen, was sie wollen — zumindest war es das eine Mal bei mir der Fall, als mein Vater nicht wollte, daß ich ein Fahrrad bekam.“ „Genau. Doch was ist, wenn die Umstände so sind, daß das Kind nicht weglaufen kann? Ich hatte eine Rückentuberkulose, als ich neunzehn war. Zwei Jahre lang lag ich stocksteif in einem Sanatorium.“ „Puh! Wie sind Sie damit zurechtgekommen — diese Wut, diese Frustration?“ Das klang zum erstenmal nach der alten Harriet. „Indem ich nachdachte.“ 138
„Ich denke ständig im Kreis herum, das ist das Problem. Wie zum Teufel kann ich den Kreislauf durchbrechen?“ „Sprechen Sie sich aus...“ „Na ja, wenn ich dieses Buch unter meinem Namen veröffentlichen lasse, bedeutet es das Ende von Fern und mir. Ich glaube, ich hatte akzeptiert, daß es zwischen mir und meinen Eltern eine Kluft schaffen würde, doch die existierte ja bereits — aber Fern... Wir haben schon nächtelang nicht mehr geschlafen. Wir setzen uns nur noch auseinander und heulen. Sie sieht furchtbar aus, und das alles ist meine Schuld.“ Harriet war wieder den Tränen nahe. „Ich frage mich, ob es wirklich Ihre Schuld ist. Sie ist älter als Sie, wenn ich mich recht erinnere. Sie muß eine gewisse Entscheidung getroffen haben, damals, als Sie ein Liebespaar wurden. Sie muß das Risiko gekannt haben, das sie damit auf sich nahm, nicht wahr?“ „Na ja, vielleicht... Aber jetzt sagt sie, wenn das Buch herauskommt, könnte sie sich ebensogut ein Plakat um den Hals hängen, auf dem LESBE geschrieben steht.“ Hier brach Harriet in Schluchzen aus. „Sie sagt, sie wird ihren Job verlieren. Sie sagt, es wird sie umbringen.“ „Was sollen Sie also tun? Ihr Buch zerreißen?“ „Ich schätze, schon.“ „Interessant ist. daß Sie von Selbstmord reden, doch offensichtlich nicht davon, Ihr Werk zu zerstören. Ist das vielleicht irgendein Anhaltspunkt?“ Harriet setzte sich auf den Teppich, und Laura bemerkte, daß sie das Problem schließlich zu analysieren begann, statt einfach vor Kummer zu weinen. Laura ging zum Sofa hinüber und streckte sich darauf aus. „Sie meinen, es zeigt, daß ich so etwas wie eine Entscheidung getroffen habe, aber die Konsequenzen daraus nicht ziehen kann.“ „Vielleicht.“ „Aber wie kann ich sicher sein, daß es das wert ist? Daß es gut genug ist. Fern sagt, ich hätte es bloß geschrie-
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ben, um mit meinen Überzeugungen in bezug auf das, was wir sind, klarzukommen, und daß das niemanden etwas angeht. Sie sagt, statt zum Psychiater zu gehen, um mit der Einstellung meiner Eltern fertigzuwerden, hätte ich eben das Buch geschrieben.“ „Und wenn, so war es eine ganz respektable Leistung.“ „Warum es dann nicht zerreißen? Ach, ich bin so müde“, seufzte Harriet. „Was wäre, wenn Sie es wirklich zerrissen hätten? Würden Sie sich erleichtert fühlen? Das ist die Frage.“ „Wie eine Abtreibung?“ sagte Harriet bitter. „Es ist mein Werk. Das bin ich — das Beste von mir! Ich werde es nicht zerstören, verdammt noch mal!“ Laura wollte „Bravo“ rufen, hielt sich aber zurück. „Hätten Sie es zerrissen, würde dann der Geist des Buches nicht Sie und Fern verfolgen? Könnten Sie hoffen, auf eine so gewaltsame Tat eine stabile Beziehung zu gründen?“ „Ich weiß nicht.“ „Und ich gewiß auch nicht“, sagte Laura hastig. „Es ist schrecklich hart“, murmelte Harriet. „Ich meine, ich liebe Fern.“ Laura wartete. Es war nicht der Moment zu sagen, daß Harriet jung war und es noch andere Menschen gäbe, am Ende eine andere Person. Liebe ist schließlich etwas Absolutes oder erscheint jedenfalls so, wenn jemand liebt. Worüber sie reden konnte, war die Arbeit. „Sie haben mich gefragt, wie Sie wissen könnten, daß Ihr Buch solches Leid wert ist, wie Sie sicher sein könnten — diese Frage habe ich nicht beantwortet. Ich bin zwar keine Schriftstellerin, wie Sie wissen, aber ich habe mit vielen Schriftstellern und Schriftstellerinnen gearbeitet, und diese Frage wird oft aufgeworfen, nicht nur unter so besonderen Umständen. Ich glaube, daß alle Schriftsteller einen Gutteil für ihr Werk opfern. Familien zahlen einen hohen Preis dafür, wenn sie einen Schriftsteller oder eine Schriftstellerin in ihrer Mitte haben! Und kein Schriftsteller ist je sicher, daß er ein Genie ist und ein
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Recht hat auf das, was immer er sich vom Leben nimmt, um das zu tun, was er tun zu müssen glaubt. Ich denke, daß Ihr Buch einen Wert hat — ich sagte es Ihnen bereits bei unserer ersten Begegnung —, doch das bedeutet nicht, daß es ein Erfolg wird. Von den meisten Erstlingsromanen verkaufen sich ein paar Tausend, und der Autor kann von Glück reden, wenn er rezensiert wird.“ Harriet hörte zu, sagte aber nichts. Laura wußte, daß sie nun fortfahren, auf eine endgültige Entscheidung hinwirken mußte. „Man gibt eben, was man kann, und hofft auf das Beste.“ Das klang reichlich lahm. Und auf einmal spürte sie den Drang, etwas sehr Merkwürdiges zu tun. „Wissen Sie was?“ sagte sie, „ich habe das Bedürfnis, die Cellosuiten von Bach zu hören — die soviel sagen und so erhebend sind.“ Sie stand auf, suchte die Platte heraus und fragte sich, so am Boden kniend, warum sie dieser Drang befiel, denn sie hatte diese Platte seit Jahren nicht gehört. „Haben Sie etwas dagegen?“ ,,Es würde mir gefallen“, sagte Harriet. „Wenn es Ihnen nur nicht zuviel wird.“ „Wir werden uns trotzdem zwei oder drei anhören.“ Harriet saß an einen Sessel gelehnt und blickte ins Feuer. Sie hatte ihre dunkle Brille abgesetzt und war, wie Laura feststellte, sehr viel ruhiger, denn als sie kam, hatte sie wie ein zerrupfter Vogel gewirkt, verstört und mißtrauisch. Vielleicht habe ich ihr einen Aufschub verschafft, dachte Laura, aber sie hegte keine Illusionen. Harriet würde leiden, und es gab sehr wenig, womit sie ihr helfen könnte. Manche Dinge muß ein Mensch eben durchmachen. Für manche Probleme gibt es keine gute Lösung, und das sind die quälenden. Allmählich fielen solche Gedanken von ihr ab, und der reine betörende Klang des Cellos gewann die Oberhand. Nach der ersten Seite stand Harriet auf und drehte wortlos die Platte um. Und als sie endete, seufzte Laura. „Es beruhigt den Geist, nicht wahr?“ „Können Worte das je erreichen, frage ich mich?“ 141
Harriet fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wolle sie ein Runzeln glätten. ,,Oh ja, Lyrik zum Beispiel — und manchmal auch Romane mit ihrem breitangelegten Aufbau. Auch Ihr Roman möglicherweise, obschon das seltsam klingt. Viele, viele Leute irritiert das Problem, mit dem er sich befaßt, und vielleicht werden einige das Ganze besser verstehen. Ich bin stolz auf Sie, daß Sie ihn veröffentlichen“, fügte Laura hinzu und sah, wie Harriets rundes Gesicht vor Freude rot anlief. „Ich habe eine Schwester, die nicht den Mut hatte — ich glaube, ich habe sie bereits erwähnt? —, die sich nicht gegen unsere Eltern auflehnte, als sie sie von der Frau trennten, die sie liebte, die nicht die Konsequenzen tragen wollte. Schließlich geht es um das Sein, nicht wahr? Sie ist enorm erfolgreich gewesen, allerdings ist sie mir immer wie ein halber Mensch vorgekommen und meiner anderen Schwester ebenfalls. Womöglich deshalb hat mich Ihr Buch so betroffen und auch Ihr Leben. Es ist alles sehr merkwürdig.“ „Es ist furchtbar nett von Ihnen“, sagte Harriet. „Ich weiß, daß es Ihnen nicht gutgeht... und... oh je, ich bin vielleicht bereits viel zu lange geblieben!“ „Nein, nein, es ist schon gut so. Bach hat mich wiederbelebt!“ Laura hielt inne. Sie versuchte sich klarzuwerden, ob sie den Sprung machen und ihr die Wahrheit über sich sagen oder Harriet selbst sie herausfinden lassen sollte. „Hoffentlich geht es Ihnen bald besser“, sagte Harriet und sah beunruhigt aus. Sie griff nach ihrer Tasche und sprang auf die Füße. „Bleiben Sie noch einen Moment“, sagte Laura, denn es erschien ihr unmöglich, Harriet ohne Vorwarnung gehen zu lassen und nie wiederzusehen. „Sehen Sie“, fuhr sie fort, als Harriet sich neben sie aufs Sofa setzte, „es wird mir nicht bessergehen.“ „Sie wollen es nicht?“ „In gewisser Weise, ja... Die Sache ist die, Harriet, ich
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habe Lungenkrebs, und sie können ihn nicht operieren. Deshalb...“ Jetzt konnte sie nichts weiter tun, als das riesige Loch, das sie zwischen ihnen aufgerissen hatte, mit Worten zu stopfen, glaubte Laura, und Harriet Zeit zu lassen, sich von dem Schock zu erholen. „Vermutlich werden wir uns nicht wiedersehen. Und deshalb habe ich das Gefühl, ich muß es Ihnen sagen.“ „Sie sind so krank, und doch lesen Sie mein Buch und lassen mich herkommen und reden. Warum?“ „Das ist eine Frage, die ich mir auch gestellt habe. Als man mir sagte, wie es stand, habe ich den ganzen Tag gedacht, daß ich jetzt, vielleicht zum erstenmal, mein Leben planen könnte, und der Begriff, der ständig wiederkehrte, war ,die echten Beziehungen'. Mit dem, was keine echte Beziehung war, brauchte ich mich nicht mehr zu befassen. Und — ich denke, Sie werden das verstehen — ich fühlte mich ungeheuer erleichtert. Ich hatte das Gefühl, als könnte und wollte ich einzig und allein den Versuch unternehmen, mit allem zu einer endgültigen Abrechnung zu gelangen.“ „Aber...“ Harriet sah erschüttert aus und war es wohl auch. Laura lächelte. „Es scheint, als seien Sie eine echte Beziehung, warum, weiß ich selbst nicht. Vielleicht hat mich die so lange zurückliegende Entscheidung meiner Schwester Jo, vor den eigenen tiefen Bedürfnissen davonzulaufen, immer verfolgt, und ich glaube, ich sagte Ihnen bereits, daß mein Sohn Ben homosexuell ist. Wie Sie also sehen, hat Ihr Buch für mich persönlich, nicht für die Lektorin, einen starken Nachhall gehabt. Doch abgesehen von Jo und Ben, mußte ich mich mit der Tatsache auseinandersetzen, daß für mich selbst eine der echten Beziehungen, eine der tiefsten, die mir am meisten gegeben hat — in gewisser Weise mehr als meine Ehe, so gut sie auch war —, die leidenschaftliche Freundschaft zu einer Frau gewesen ist. Ich kann mich noch immer nicht überwinden, ihre Briefe wiederzulesen, doch das muß ich bald. Ihr Buch und danach unsere Gespräche sind für
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mich etwas Wesentliches, eine Offenbarung gewesen.“ Harriet hatte mit einer Hand ihr Gesicht bedeckt. Nun ergriff sie Lauras Hand und drückte sie fest. „Die Gefühle der Frauen füreinander sind so lange eine verschwiegene Welt gewesen, ein Grund der Angst und Scham“, murmelte Laura, die die warme junge Hand umfaßt hielt. , Jetzt endlich fangen wir an, den Segen zu begreifen.“ ,,Oh, ich danke Ihnen“, sagte Harriet. ,,Ich danke Ihnen für alles.“ Eine Sekunde lang sah Laura ihr unverwandt in die Augen, dann stellte sie die einzige Frage, die wirklich zählte: „Werden Sie klarkommen?“ Harriet nickte, stand auf, warf sich die Tasche über die Schulter und blickte Laura mit verwirrtem Lächeln an. „Wenn ich so leben könnte, wie Sie sterben!'' sagte sie unerwartet. „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt innerhalb einer Stunde?“ Laura lachte. „Ich muß zugeben, daß bisher...“ Doch da krümmte sie sich in einem Hustenanfall, einem Husten, den sie seit einer Stunde zu unterdrücken vermocht hatte. „Gehen Sie lieber“, stieß sie hervor. Mrs. O'Brien, die in diesem Augenblick die Tür aufschloß und mit Tüten beladen hereinkam, war nicht sehr erfreut. Harriet flüchtete. „Sie hätten das Mädchen nicht empfangen sollen.“ Laura lag auf dem Sofa, und der Schweiß lief ihr über das Gesicht. „Oh doch“, keuchte sie. „Oh doch. Es war wichtig.“
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14 Laura schob ihr Frühstückstablett ans Fußende des Bettes. Es war ihr gelungen, vom Kaffee drei Schlucke zu trinken, doch Toast und ein pochiertes Ei kamen heute morgen nicht in Frage. Selbst beim aufrechten Sitzen mit drei Kissen im Rücken hatte sie das Gefühl, als hätte sie einen Ballon in der Brust, der drückte und drückte. „Das Atmen fällt mir so schwer“, flüsterte sie, als Mary O'Brien das Tablett holen kam. „Dr. Goodwin wird in ein paar Minuten hiersein. Er wird wissen, wie Ihnen zu helfen ist, meine Liebe.“ Es war das erste Mal, daß Mary O'Brien ein Kosewort aussprach, und Laura war nicht ganz sicher, ob sie das eigentlich wollte, wenngleich ihr Mrs. O'Brien in diesen wenigen Tagen bereits unentbehrlich geworden war. Sie schloß die Augen, aber das half nicht, denn nun fühlte sie sich noch mehr in ihren Körper eingeschlossen. Also griff sie nach dem Stapel Post, der sich angehäuft hatte, und sah ihn teilnahmslos durch. Dreiviertel davon enthielt die üblichen Spendenaufrufe von jeder erdenklichen Organisation, vom Tierschutzverein bis zu Amnesty International. Laura ließ sie zu Boden gleiten. Aber da war ein Brief von Amy Preston, die sie als echte Freundin betrachtete, und gerade weil sie eine wirkliche Freundin war, schien es unmöglich, ihn zu lesen. Schließlich öffnete Laura ihn. „Wird es nicht Zeit, daß wir uns sehen? Wie war's mit einem Mittagessen nächste Woche, wenn du in der Stadt im Verlag bist?“ Laura ließ den Brief sinken. Anfangs hatte es geschienen, als sei es die leichteste Sache der Welt, Beziehungen abzulegen, so leicht wie das Kleiderablegen vor einer Operation. Seit Beginn dieser endgültigen Abrechnung hatte sie an Amy nicht einmal
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gedacht. Und jetzt hatte sie das Gefühl, Amy zu sehen sei ganz unmöglich und fast unmöglich, ihr zu sagen, was geschehen war. Jemand anders — Ann vielleicht — müßte es langsam die Menschen wissen lassen. Laura fühlte sich, als läge sie in einem Dickicht, außerstande, vor dem Gewirr kleiner Äste und Zweige den Himmel zu sehen. Es kam ihr vor, als hätte sie Amy seit Jahren nicht gesehen, so viel war geschehen, und nun war sie weit, weit weg, und zum Aufholen wäre nie mehr die Zeit. Wie war es ihr nur gelungen, mit Harriet zu reden? Gestern lag Ewigkeiten zurück, und Laura wurde klar, daß sie sehr wahrscheinlich nie wieder imstande wäre, mit irgendwem ein richtiges Gespräch zu führen. Ich werde lediglich mit meinem Körper und Mary O'Brien weiterhumpeln müssen, dachte sie und rang sich bei dieser Vorstellung ein Lächeln ab. Dann döste sie halb, bis es klingelte, und wenige Sekunden später hörte sie Dr. Goodwins eiligen, festen Schritt auf der Treppe. Erstaunlich, wie sehr sich das Wesen einer Person aus der Art, wie sie die Treppe hinaufging, erspüren ließ! Mrs. O'Briens Schritt war so leicht, daß Laura sie oft nicht kommen hörte. „Sie hören sich an wie eine Armee mit Fahnen“, brachte sie heraus, als Jim Goodwin eintrat. „Lieber Himmel, hoffentlich nicht!“ antwortete er. „Kann ich mir die Hände waschen?“ „Sicher, diese Tür.“ Er ließ die Tür offen und redete, während er den Hahn aufdrehte, sich die Hände wusch und abtrocknete. „Mrs. O'Brien sagt, Sie hätten Ihr Frühstück nicht gegessen. Es entsteht ein Druck auf den Magen, wenn sich die Lungen füllen. Ich glaube, ich kann etwas unternehmen, so daß es Ihnen leichter fällt.“ „Gut.“ Als er zurückkam, setzte er sich aufs Bett, nahm ihr Handgelenk und sah weg, sobald er ihren Puls gefunden hatte. Laura mochte sein Gesicht, die engstehenden grauen Augen und den festen Mund. Sie hatte es immer gemocht,
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doch nun wurde ihr klar, daß sie sich völlig in der Hand dieses Mannes befand, und so wurde es erneut wichtig, daß sie ihm vertraute. „Würden Sie sich einmal aufsetzen — langsam — und Ihr Nachthemd hochziehen, damit ich mir ein Bild machen kann, was da vorgeht? Ja, so ist's gut“, sagte er, fuhr mit dem Stethoskop ihren Rücken hinauf und herunter und horchte, horchte. „Gut, Mrs. Spelman, jetzt legen Sie sich zurück.“ Sie tat es erleichtert. Das Aufsitzen war anstrengend gewesen. ,,Seit wann fällt Ihnen das Atmen schwer?“ „Die ganze Woche schon, aber manchmal geht es mir für etwa eine Stunde besser. Manchmal kann ich ein wenig essen.“ „Morgens ist es wahrscheinlich schlimmer, nicht wahr? Jetzt werde ich Ihre Lungen punktieren und etwas Flüssigkeit absaugen. Es wird nicht weh tun, und ich bin sicher, Sie werden sich sehr viel besser fühlen.“ Es dauerte eine kleine Weile, alles vorzubereiten, und während er seine Instrumente auspackte und etwas, das wie große Plastikflaschen aussah — konnte denn da so viel Flüssigkeit sein? —, sprach Jim Goodwin beruhigend auf sie ein, genau in der Weise, so dachte Laura plötzlich, wie ihr Vater immer geredet hatte, wenn ihn das Befestigen einer Fliege an seiner Angel völlig in Anspruch nahm. „Es sieht nach einem baldigen Frühling aus“, sagte Jim Goodwin. „In unserem Garten kommen bereits die Krokusse hervor — etwa zwei Wochen früher als sonst, meine ich. Es flutet in den Bächen. Das ist das Rauschen des Frühlings, nun ja, in New England jedenfalls, nicht wahr?“ Er hüstelte leicht. „So, ich denke, wir sind soweit. Ich werde Ihnen beim Aufsitzen helfen. Zuerst anästhesiere ich eine kleine Stelle auf Ihrem Rücken, damit Sie den Einstich der Nadel nicht spüren. In Ordnung?“ Es tat nicht weh, zerrte aber an ihren Nerven und schien ewig zu dauern, da Jim Goodwin alle paar Minuten fragte: „Alles in Ordnung, Mrs. Spelman?“ Laura konnte
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nicht sehen, was vorging, doch die Anspannung, so lange aufrecht zu sitzen, forderte ihren Tribut. Der Schweiß rann ihr übers Gesicht. Und als er schließlich sagte: „So ist's gut“ und sie sich hinlegen konnte, kostete es sie Selbstbeherrschung, nicht zu weinen. „Möchten Sie es sehen?“ fragte er freundlich und hielt eine halbvolle Flasche mit dunkelorangener Flüssigkeit hoch. „Ich glaube, Sie werden sich heute sehr viel wohler fühlen.“ Einen Moment lang wartete Laura, bis sie den Schock über diese orangene Flüssigkeit verdaut hatte. Es kam ihr vor, als sei sie eine ganze Welt, eine Welt aus vielen Ländern, und in einem Land war ein bedrohlicher Krieg im Gange, obwohl in einem anderen Land, ihrem Kopf zum Beispiel, alles wie sonst ablief — und sie fragte sich, wie lange es dauerte, bis der Krieg sich ausbreitete und vielleicht über die ganze Welt erstreckte. Dr. Goodwin setzte sich nun in einen niedrigen Armsessel und kritzelte etwas auf eine Karte. „Haben Sie erwartet...“, sie konnte es nicht aussprechen, „ist das normal? Ich meine, geht es mir schlechter, als Sie dachten?“ Laura konnte weit entfernt das Telefon klingeln hören, während Jim Goodwin bedächtig die Kappe auf seinen Füller schraubte und die Karte in eine Karteimappe steckte. Sie sah ihn scharf an und nahm überrascht wahr, daß seine Hände zitterten, was sie sicherlich bei dem kleinen Eingriff nicht getan hatten. „Sie sind nicht ganz so wie meine anderen Patienten. Mrs. O'Brien sagte, daß Sie gewisse Akte der Barmherzigkeit hinter sich haben — in Ihrem Zustand, das ist höchst ungewöhnlich und sehr tapfer, muß ich sagen.“ „Diese junge Frau war selbstmordgefährdet... Ich meine, ich hatte Angst, daß sie es wäre... Aber“, sagte Laura mit einem Lächeln, „ich glaube, es war das letzte Mal. Außerdem“, fügte sie hinzu, „warum nicht verschwenden, was ich habe?“ Jim Goodwin seufzte und rieb sich mit der Hand über die Stirn, ehe er sie durchdringend ansah. „Ich möchte
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Sie sehr gern für etwa drei Tage ins Krankenhaus verlegen.“ „Also steht es schlimmer mit mir?“ Sie würde nicht von ihm ablassen. „Nicht schlimmer, als ich erwartet habe“, antwortete er zögernd. „Beide Lungen sind befallen. Schon als ich Sie das erste Mal untersuchte, mußten wir uns damit abfinden, wie Sie wissen, daß wir zu diesem Zeitpunkt nicht sehr viel tun konnten.“ Eigentlich wollte Laura fragen: „Wie lange?“ Aber sie konnte es doch nicht über sich bringen, diese Frage zu stellen. Sie schloß die Augen. „Warum ins Krankenhaus?“ „Ich möchte weitere Röntgenaufnahmen machen und mich mit einem Kollegen über eine eventuelle Kobaltbehandlung beraten.“ „Nein“, sagte Laura überraschend laut. Dann bemerkte sie Mrs. O'Brien in der Tür. „Was ist, Mrs. O'Brien?“ „Ihre Tochter Daisy ist am Telefon. Sie bestand sehr darauf, daß sie Sie sprechen müßte.“ „Ich kann nicht“, murmelte Laura, die sich bereits aufzusetzen versuchte. „Könnte ich nicht ein Wort mit ihr reden?“ Jim Goodwin war aufgesprungen. „Ist unten ein Telefon?“ „Kommen Sie mit“, sagte Mrs. O'Brien. „Es ist ein Ferngespräch.“ Laura lag still. Ich kann einfach nicht alles gleichzeitig schaffen, dachte sie. In dem Moment, als Mrs. O'Brien erschien, war ihr ganzes Sein in der grimmigen Entschlossenheit mobilisiert worden, sich nicht ins Krankenhaus verfrachten zu lassen. Kurz darauf konnte sie leise Stimmen in der Diele vernehmen. Nun, sollen sie die Entscheidung treffen, alles, nur nicht das Krankenhaus. Für eine kleine Weile hatte sie ihren Körper noch in der Gewalt, ihren sterbenden Körper — ein Teil davon starb in diesem seltsamen Krieg. Laura hob eine Hand hoch und betrachtete sie. Sie war ganz so wie sonst, sogar die Leberflecken und die leicht geschwollenen Knöchel ihres kleinen Fin-
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gers waren genauso wie vor zwei Monaten. Es ist eine geschickte Hand gewesen, dachte sie, die eine Maurerkelle zu halten verstand, die sehr gut tippen konnte. Doch der Krieg in ihren Lungen entzog ihrem übrigen Körper jegliche Kraft. Und wenn sie nicht mehr essen könnte? Irgendwo hatte sie gelesen, daß Menschen mit Lungenkrebs verhungern. Ihre Augen waren geschlossen, und diesmal hörte sie Jim Goodwins festen Schritt nicht. Sie hörte seine Stimme und fand sie wunderbar beruhigend. Er hatte ihre Hand genommen und hielt sie mit festem Griff. „Ich habe mit Daisy gesprochen“, sagte er. „Sie möchte dieses Wochenende kommen, und da Mrs. O'Brien zwei Tage lang weg sein wird, dachte ich, es wäre vielleicht eine gute Idee.“ „Sie haben es mir glatt aus der Hand genommen, nicht wahr, Jim?“ Laura hatte ihn nie zuvor Jim genannt. Sie öffnete die Augen und bemerkte seinen besorgten Blick. „Nein“, entgegnete er, „ich habe ihr gesagt, ich würde mit Ihnen reden und sie sofort anrufen, wenn es Ihnen nicht recht wäre. Ich dachte bloß, daß Sie sie vielleicht lieber hier hätten, als daß wir eine Krankenschwester schicken.“ Laura nickte. Er hatte natürlich recht. Er versuchte, ihr zu helfen. Nun ließ er ihre Hand los und stand auf. Er ging eine Weile auf und ab, trat dann ans Fenster und sah hinaus. „Was das Krankenhaus angeht: wir können das immerhin um ein paar Wochen verschieben.“ „Ich möchte den Frühling sehen.“ Kaum hatte Laura das gesagt, wurde ihr klar, daß sie jetzt zum erstenmal nach vorn gesehen hatte. Sie hatte so bewußt loszulassen versucht und doch gesagt: „Ich möchte den Frühling sehen.“ „Ich glaube, das werden Sie“, sagte Jim Goodwin leise. „Ich glaube, das kann ich Ihnen versprechen.“ Und das bedeutete nach Lauras Schätzung, daß sie noch einen Monat hatte.
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Sie biß sich auf die Lippen, aber das hielt ihre Tränen nicht auf. „Ruhen Sie, soviel Sie können. Ich werde in einigen Tagen wiederkommen.“ Und damit war er gegangen. Das Loslassen wäre nicht so leicht, wie sie sich vorgestellt hatte.
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15 In den nächsten Tagen hielt sich Laura sehr ruhig. Mrs. O'Brien überredete sie, im Bett zu bleiben, bis Tante Minna zum Tee kam und ihr vorlas. Ann wurde einen Morgen hergebeten, um Laura bei der Entscheidung zu helfen, welche alten Freundinnen und Freunde schriftlich informiert werden mußten, daß sie einen Monat oder länger hors de combat sei und unter ärztlicher Aufsicht ein zurückgezogenes Leben führen müsse und keinen Besuch haben dürfe. Das Punktieren der Lungen hatte zweifellos geholfen; seit Jim Goodwins Besuch hatte sie zwar besser geschlafen, doch fiel ihr das Essen jeden Tag schwerer. Bereits eine Tasse Tee verursachte manchmal Übelkeit. Das einzige, was sie herunterbekam, waren Austern, die sie auf Mrs. O'Briens Vorschlag versuchte. Aber Laura war jetzt entschlossen, bis zum Frühling zu leben, bis die Bäume im zarten ersten Grün stünden, bis die ersten Narzissen kämen. Sie wollte sie sehen, sehnte sich mehr danach als nach einem Menschen, und das war seltsam. Oder etwa nicht? Blumen, Bäume in ihrer schweigenden Gegenwart forderten nichts. Und vielleicht war die Betrachtung von Schönheit die letzte Zuflucht. ,,Sieh zuletzt auf alles Schöne. Jede Stunde...“ Ja, das wollte sie, solange sie könnte. Ben hatte angerufen, zum Glück am späten Nachmittag eines solchen Tages, an dem Laura mehr Energie als sonst hatte und ein wenig reden konnte. „Ben, Liebling“, sagte sie, „ich höre Musik, vor allem Mozart und Haydn, und dann betrachte ich Dinge und rede mit Grindle und Sasha.“ Hier mußte sie lachen. „Ich klinge vermutlich meschugge.“ „Mutter!“
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„Hab keine Angst. Ich versuche, dir zu sagen, daß alles gut ist. Ich lerne eine Menge.“ „Aber ich möchte kommen — sobald dieses große Gemälde fertig ist.“ Er konnte wahrscheinlich nicht ahnen, wie erleichtert sie war, als sie hörte, daß sich zumindest dieser Besuch verschieben ließ. „Natürlich mußt du es fertig machen. Was ich dir sagen wollte...“ (Doch wie sollte sie es sagen?) „Ist, daß Menschen keine Hilfe sind. Ist es das?“ Sie konnte darauf vertrauen, daß Ben selbst aus dreitausend Meilen Entfernung erfaßte, was sie meinte. „Danke, daß du es statt meiner gesagt hast. Ach, Ben, die Menschen laugen mich aus... das ist es... Kannst du das verstehen? Wenn ich rede, bekomme ich einen Hustenanfall. Aber Tante Minna kommt jeden Nachmittag zum Vorlesen. Wir haben Hammarskjöld beendet und lesen jetzt Trollope — so tröstlich.“ Nun folgte ein Schweigen. Ein Schweigen am Telefon, wenn der Teilnehmer so weit entfernt ist, schafft eine große Kluft. „Geht es dir gut?“ fragte Laura nach einer Weile. „Ich glaube schon.“ „Komm, wenn dein Gemälde fertig ist.“ Wieder ein Schweigen, dann eine erstickte Stimme, die nicht nach Ben klang: „Du wirst doch nicht sterben, Mutter? Du mußt es mir sagen.“ „Vielleicht ja, Ben. Das müssen wir wohl alle früher oder später.“ „Aber... du sagst es so beiläufig... Himmel, Mutter, wie kann ich hierbleiben und arbeiten? Ich komme morgen zurück.“ „Nein“, sagte Laura bestimmt. „Das tust du nicht. Beende erst, woran du arbeitest. Bitte, Ben.“ „Nun gut, ich will es versuchen.“ „Ich glaube, ich sollte einstweilen lieber auf Wiedersehen sagen.“ „Auf Wiedersehen einstweilen.“ 153
Sie legte den Hörer auf und lehnte sich auf dem Sofa zurück. „Sie hätten nicht mit ihm reden sollen“, sagte Mary O'Brien nach einem Blick auf Laura. „Sie sind völlig erle„Nein, ich bin froh, daß ich es konnte. Ben ist ein sehr verständnisvoller Mensch, Mary, aber er hätte es nicht begriffen. Ich mußte ihm einiges selbst erklären.“ Seit einigen Tagen ertappte sich Laura dabei, daß sie Mrs. O'Brien Mary nannte. Es war der Anfang einer neuen Phase in ihrer Beziehung. Es bedurfte Gott sei Dank keiner Erklärung zwischen Mary und ihr, denn Mary war die Person, die über diese Krankheit wirklich etwas wußte, die einzige Person, der Laura gestattete, ihre Schwäche zu sehen, ihr die Oberhand ließ ohne Protest. Diese neue Phase hatte eines Morgens begonnen, als Mary ihr Frühstückstablett holen kam — mittlerweile nur Tee und trokkenen Toast und der Toast selten aufgegessen — und Laura sie bat, sich einen Augenblick zu setzen. „Niemand mag über den Tod reden. Es macht den Leuten angst, nicht wahr?“ „Nun...“, Mary zögerte, „ja.“ „Sie haben ihn mit angesehen, stimmt's?“ „Ja.“ „Mary, es würde mir helfen, etwas mehr darüber zu wissen, falls Sie mir davon erzählen könnten.“ „Ich will Ihnen etwas Eigenartiges sagen. Es scheint, als ob ein Mensch stirbt, wenn er dazu bereit ist, wenn er gehen will, und nicht eher.“ „Wirklich? Ist das wahr?“ Marys Augen wurden dunkelblau, wenn sie gerührt war, und nun sah sie Laura mit einem seltsamen kleinen Lächeln an und sagte: „Ich habe es niemandem erzählt, sie fragen nicht. Aber ich kann Ihnen sagen, Mrs. Spelman, die, die ich gesehen habe, sahen...“, sie knetete ihre Hände und suchte nach Worten, „sie sahen aus...“ „Nicht ängstlich?“ „Oh nein, sie sahen aus, als könnten sie Dinge sehen,
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die wir nicht sehen können, und darin lag das Himmelreich.“ „Das ist kaum zu glauben.“ „Die alte Mrs. Gotter... Sie war wirklich eine schwierige Frau, wenn ich das schon sage. Einmal sagte sie zu mir: ,Das Problem mit mir ist, daß ich nicht pflegeleicht bin.' Sie stritt sich nämlich mit all ihren Freundinnen und ihren Kindern. Gott war nicht mit ihr — soweit ich gesehen habe“, sagte Mary mit einem Glucksen. „Aber als sie starb, sah diese alte Frau selig aus. Ich werde nie vergessen, wie sie am Ende aussah. Nie.“ Dann hatten sie das Thema gewechselt und beschlossen, für das Wochenende einen Eintopf zu machen, den Daisy nur aufzuwärmen brauchte. Daß Daisy kam, hatte etwas Ironisches, jetzt, da Laura ernstlich krank war, und auch etwas Ironisches, dachte Laura, daß sie diesem Besuch zugestimmt hatte, weil sie das Wochenende über Hilfe brauchte. Alle hielten es für selbstverständlich — selbst Mary O'Brien, die manchmal so scharfsinnig war —, daß Laura Daisy hier haben wollte. Einerseits wollte sie es vielleicht, wenngleich sie keine Illusionen hegte, daß es in der elften Stunde zu einer gewissen Einigung käme, nach so vielen Jahren, in denen der Kontakt, wie immer er auch gewesen sein mochte, stets auf gegenseitige Anschuldigungen hinausgelaufen war. Was erhoffe ich mir denn eigentlich? fragte sich Laura. Einen Augenblick außerhalb von Zeit, außerhalb von Vergangenheit, in dem wir vielleicht Freundinnen zu werden beginnen? Und könnte es sein, daß es nur jetzt möglich wäre, weil Laura sich nur jetzt in einer Position der Schwäche befand? Vielleicht. Diese Gedanken wurden unterbrochen, denn es trafen Blumen von Amy ein, eine herrliche Glaskugel mit hellrosafarbenen Rosen und Vergißmeinnicht. „Sei so gut und werde bald gesund“, stand in Amys kühner Handschrift auf der Karte. Laura ließ sie sinken. „Danke, Mary. Hübsch, nicht wahr?“ „Wäre es recht, wenn ich mit Grindle spazierenginge?
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Wie mir scheint, ist es die richtige Zeit.“ Bei dem Wort „spazieren“ sprang Grindle, der auf dem Läufer neben ihrem Bett geschlafen hatte, auf und begann zu bellen. „Ach, Grindle, sei still!“ sagte Laura barsch. Das Kläffen war ein Schlag für ihre Ohren. „Na komm“, sagte Mary bestimmt. An der Tür drehte sie sich fragend um. „Unbedingt, Mary, werfen Sie ihn hinaus.“ Eigenartig, welche Erleichterung, sogar Erregung sie befiel, weil sie wußte, sie wäre eine halbe Stunde lang ganz allein im Haus. Marys Gegenwart war diskret, sie erledigte die Hausarbeit mit einem Minimum an Geräusch oder Spektakel und brachte Lauras Schlafzimmer in Ordnung, wenn nachmittags Tante Minna kam — aber ganz allein zu sein war etwas völlig anderes; so fühlte sich Laura in Gegenwart anderer innerlich nicht wirklich frei, den oft unerhörten Gedanken ihren Lauf zu lassen, auf diesem tiefen Strom dahinzutreiben, Vorgänge in ihrer Psyche zuzulassen, auch ohne die geringste Zensur einer anwesenden Person. Jede Beziehung knüpfte einen Draht, selbst wenn er noch so fein war wie der zwischen ihr und Mary. Als das Telefon läutete und läutete, nahm Laura nicht ab. Dies ist nicht der Augenblick, in dem ich antworten will, sagte sie sich. Statt dessen ließ sie sich wieder auf dem Strom treiben. Sie erinnerte sich an den Ausdruck reiner Freude in Charles' Gesicht, als er in ihr Zimmer im Krankenhaus kam, nachdem Daisy geboren war. „Schatz, es ist ein Mädchen!“ Er hatte sich so sehr ein Mädchen gewünscht! Und von Anfang an war Daisy eine radikal weibliche Person gewesen, wenn auch auf ihre unsägliche Weise. Sie, die Jüngste, mit zwei Brüdern, hatte diese in allem, was sie taten, immer noch übertrumpfen wollen, vom Bäumeklettern bis zum Baseballspielen. Mit ihrer Jungenfrisur, den Jeans und Sweatshirts sah sie wie ein androgyner Knabe aus, und sie triumphierte, wenn es ihr gelang, Bens Schultern zu Boden zu drücken, was nicht schwer war; er ging im-
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mer so lieb mit ihr um. Laura mußte zugeben, daß sie manchmal Ressentiments Daisy gegenüber empfunden hatte, die offenbar von beiden Welten das Beste bekam: Beifall erntete, wenn sie in Jungenspielen erfolgreich war, doch auch als geliebte Tochter Charles' Aufmerksamkeit forderte und erhielt, übertrieben mit ihm herumflirtete, wie Laura fand, und sämtliche weiblichen Register zog. So bekam sie mit zwölf ebenso ein Jungenfahrrad wie mit fünfzehn einen Lippenstift von ihrem Vater. Als Gegenleistung brachte sie ihm das Pottrauchen bei, als sie aufs College ging. Doch das war, bevor sie sich mit ihrem Rucksack aufmachte, um sich ,,im Land umzusehen“, gleich nach ihrem Examen. Töchter, dachte Laura, während sie auf dem Strom dahintrieb. Soviel schwerer aufzuziehen als Jungen, weil... hier kam ein Ast dem strömenden Wasser in die Quere... es soviel schwerer ist, eine Frau zu sein als ein Mann. Nun lebte Daisy nach all der Freiheit und all den Wegen, die ihr offenstanden, um das zu werden, was sie wollte, am Ende mit einem fünf Jahre jüngeren Burschen zusammen, der Assistenzarzt war. Saul kennenzulernen wurde Laura verwehrt. ,,Er haßt diese typischen Abkömmlinge englischer Einwanderer“, bekam sie von Daisy im Anschluß an Charles' Begräbnis zu hören. ,,Aber Charles hat ihn kennengelernt und sehr gemocht“, hatte Laura geantwortet, wie ihr einfiel, und damit ihren Hals für die Guillotine entblößt. „Ich weiß, in New York“, war Daisys Erwiderung. „Es ist einfach diese ganz geballte Atmosphäre an Nichtjüdischem, die er wahrscheinlich nicht erträgt. Vorort“, sagte sie mit ihrer üblichen Verachtung. Und jetzt käme diese erwachsene Person namens Daisy, die früher Koller bekam und mitsamt ihrer Kleidung ins lauwarme Bad getaucht werden mußte, auf eigenen Wunsch ans Bett ihrer sterbenden Mutter geeilt, diesem typischen Abkömmling englischer Einwanderer. Ich muß nicht mehr so tun als ob, sagte sich Laura. Ich darf sterben, so wie ich bin, was ich bin. Niemand kann mehr versuchen, mich zu ändern. Es ist zu spät.
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Es war tröstlich, als Mary O'Brien jetzt rief: „Wir sind wieder da!“ und Grindle die Treppe heraufpolterte, schwanzwedelnd darauf erpicht, ihr mit rosa Zunge die Hand zu lecken. Nach Lauras Erfahrung entwickelten sich die Dinge, denen man mit Schrecken entgegensah, selten wie erwartet. Alle sehen so alt aus, dachte Laura — Daphne, nun Daisy, deren Gesicht sich gestrafft hatte und deren rötliches Haar einen Anflug von Grau zeigte. Daisy, hager und selbst in engen Jeans und lila Wildlederjacke elegant, war nicht mehr die bissige, selbstsichere, schroffe Person, mit der Laura sich über fast alles gestritten hatte. Sie war sanfter geworden, und bereits im ersten Augenblick, als sie ihren Rucksack abwarf und ohne eine Sekunde zu zögern auf ihre Mutter zueilte und sie auf die Wange küßte, wurde Laura klar, daß diese Begegnung nicht so verliefe, wie sie sich vorgestellt hatte, so daß auch bei ihr — gewappnet und auf Angriffe gefaßt, wie sie war — diese unbekannte Tochter auf neue Aufmerksamkeit stieß. Jetzt lag Laura auf dem Sofa und hörte ein Klavierkonzert von Mozart, während Daisy sich in der Küche zu schaffen machte und ihnen zu Mittag Mary O'Briens Eintopf aufwärmte. Laura hatte einen Salat gemacht und eine Flasche Burgunder hingestellt. Wir haben uns vor langer Zeit auseinanderbringen lassen, dachte sie nun, damals wurde Daisy mehr die Tochter ihres Vaters als ihrer Mutter. War es das? Oder war es lediglich so, daß Daisy ihre Mutter und das Leben ihrer Mutter als für sie belanglos, als uninteressant abgetan hatte aufgrund des eigenen Lebenshungers und der Entschlossenheit, alles über das Leben allein herauszufinden. Sie hatte etwas Ähnliches gesagt, doch diesmal nachdenklich und ohne Animositäten. „Dein Leben scheint mit meinem Leben nichts zu tun zu haben. Das klingt verrückt, nicht?“ Und dann hatte sie über Sybille geredet, die ihr Bedürfnis nach dem Absoluten und Heroischen bestärkt hatte. „Großmutter schien wirklich alles zu verstehen — und es war so phantastisch,
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daß eine so alte Frau wie sie sich derart über den Vietnam-Krieg ereifern konnte. Das war das letzte Mal, als ich sie gesehen habe... da hatte sie den Marsch nach Washington mitgemacht!“ „Hab' ich ganz vergessen“, murmelte Laura. Doch jetzt fiel es ihr wieder ein, und sie erinnerte sich, wie aufgebracht sie gewesen war, weil sie es als absurdes Risiko empfunden hatte. Sie hatte sogar Jo angerufen in der Hoffnung, Jo würde sie unterstützen und auf irgendeine Weise vereiteln, daß ihre Mutter sich auf eine so verrückte Expedition einließ. „Ich war hart zu Sybille.“ Denn da sie nun alles neu mit Daisys Augen sah, erschrak Laura darüber, wie kleinkariert sie gewesen war. Damals hatte sie Sybille und Sybilles Leidenschaften für dies oder jenes, Person oder Sache, abgelehnt. „Meine Schwestern und ich hatten gelernt, uns zu schützen, glaube ich.“ „Sollte ich sie besuchen gehen, Mutter, während ich hier bin?“ „Sie würde dich gar nicht erkennen. Warum solltest du eine Geste machen, die ohne Bedeutung ist? Es ist besser, du bewahrst diese Intensität und Leidenschaft ungebrochen im Gedächtnis.“ „Außerdem bin ich hier, um dich zu pflegen, nicht wahr?“ „Ich brauche keine Pflege, wie du sehen kannst“, antwortete Laura. Daisy runzelte die Stirn und schaukelte mit umschlungenen Knien vor und zurück. „Seit meiner Ankunft hast du nichts gegessen außer einem Mundvoll Rührei. Du verhungerst.“ „Vielleicht. Jedenfalls fällt mir das Essen sehr schwer — ich bin so matt — ich werde müde. Andererseits...“ Als Laura sah, wie sich Daisys Gesicht verdüsterte, fügte sie rasch hinzu: „Jim Goodwin hat mir den Frühling versprochen.“ „Du klingst so ruhig, Mutter.“ „Um die Wahrheit zu sagen: Sterben ist das Interessanteste, das ich je getan habe.“
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„Wow!“ Daisy setzte sich auf, ihre Augen waren weit aufgerissen. „Du hast aber Mut, das muß ich sagen.“ „Nein. Nur ist es leichter, mit manchen Dingen umzugehen, wenn es Grenzen gibt. Das Irrelevante kann beiseite geschoben werden. Zum Beispiel dieser Stapel Post auf meinem Schreibtisch. Ich denke jetzt nicht mehr an solche Dinge. Ich lebe in der Gegenwart, Daisy. Das ist eine ziemliche Erleichterung.“ Doch hatte die Gegenwart später am Abend auch mit einem erschöpfenden Hustenanfall aufgewartet. Der ließ sich nicht vertuschen, und Daisy war erschüttert. Bis dahin hatte sie darauf geachtet, daß ihre Mutter nicht längere Zeit redete. Jetzt war es Samstagabend, ihr letzter Abend, da Daisy am nächsten Tag bei Brooks und Ann zum Essen eingeladen war. Laura war sparsam mit ihren Energien umgegangen. Sie hatte noch nicht einmal das Feuer angezündet. Sie lernte mittlerweile, andere Menschen Dinge tun zu lassen, die bei ihr zu einer plötzlichen Erschöpfung führen konnten. Zum Beispiel das Bücken. So lag sie da, ließ sich von der Musik treiben, reichte manchmal hinüber und kraulte Grindles weiche Ohren. „Kann ich jet z t den Champagner aufmachen?“ rief Daisy aus der Küche. Auf Sauls Vorschlag hin hatte sie eine Flasche Champagner mitgebracht — offenbar hatte er ihr gesagt, daß Champagner bei Lauras Zustand gut sei. „Ausgezeichnet“, erwiderte Laura. ,,Ach, steck doch noch das Feuer an, ja? Dann werden wir den Schampus knallen lassen, wie dein Vater immer sagte.“ „Daddy war ganz versessen auf festliche Dinge, nicht?“ sagte Daisy, bückte sich und zündete das Feuer an. Als das getan war, stand sie auf und machte sich daran, den Champagner zu öffnen, was in einen Kampf mit der Flasche ausartete. „Oh je, ich wünschte, ich kriegte das so hin wie Daddy... da... jetzt... jetzt!“ „Das hat aber hingehauen.“ Laura grinste, denn der Korken war an die Decke geknallt, woraufhin Grindle in
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der Küche das Weite suchte. „Auch wenn Grindle glaubt, der Krieg sei ausgebrochen.“ Aus irgendeinem Grund fanden beide Grindles Flucht äußerst komisch, und Daisy lachte so sehr, daß sie kaum einschenken konnte. Laura hob ihr Glas und betrachtete die sprudelnden Perlen. „Es gibt so vieles, das ich sagen und fragen möchte — aber ich habe Angst, dich zu strapazieren.“ Daisy saß zum erstenmal im Sessel statt auf dem Boden, wie Laura auffiel. „Du siehst aus, als hättest du es auf ein fatales Interview abgesehen“, stichelte Laura. „Und was, wenn ich strapaziert werde? Macht das etwas aus? Ich möchte vom Leben alles, was ich kriegen kann.“ „Die ganze Nacht habe ich über dich und mich nachgedacht. Warum tun sich Mütter und Töchter anscheinend soviel schwerer als Mütter und Söhne?“ „Das habe ich mich auch schon gefragt.“ Dann sprang Laura bewußt ins reißende Wasser. „Haben wir uns sehr schwer getan?“ „Ach, Mutter, du hast ständig an mir herumgemäkelt. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich nie etwas recht machen! Erinnerst du dich nicht mehr?“ Aber Laura erinnerte sich nicht mehr. Woran sie sich freilich erinnerte, war Daisys sture Weigerung, irgend etwas zu tun, worum sie gebeten wurde, sei es zum Abendessen ein Kleid anzuziehen oder nicht bis in die Spitze der hohen Bäume zu klettern. „Wie ich mich erinnere“, sagte Laura schließlich, „hast du ständig an mir herumgemäkelt“, und dann lachten sie. „Na ja“, sagte Daisy nachdenklich, „ich muß sagen, als ich sechzehn war oder siebzehn, hast du anscheinend all das repräsentiert, was ich verachtete, besonders Geld.“ „Geld?“ Laura war verblüfft. „Geld?“ wiederholte sie. „Daisy, wir sind doch nicht reich und waren es nie. Mama und Papa haben große Summen für alle möglichen Zwekke gespendet — da war nicht mehr soviel übrig.“
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„Aber sie trug französische Modellkleider, herrje, Mutter.“ , Ja, das tat sie, und die bekam sie oft genug von ihrer wirklich reichen Kusine in Philadelphia.“ ,,Mag sein, und doch war die ganze Atmosphäre, in der ich aufgewachsen bin, irgendwie privilegiert — ich schätze, das ist das Wort. Zum Beispiel hatten wir Haushilfen.“ „Durch meine Arbeit bei Houghton Mifflin habe ich Sarah Page bezahlt. Das habe ich mir schließlich wohl verdient.“ „Tut mir leid, Mutter. Ich glaube, ich habe nie besonders darüber nachgedacht. Aber ich hatte das Gefühl, daß du und Daddy eigentlich nicht sehr viel vom wahren Leben wußtet. Ihr wart so abgesichert.“ „Wärest du angesichts eines Sturms aufgewachsen, so wie ich (du kannst dir die Dramen, deren Zeugen wir als Kinder waren, nicht einmal vorstellen), hättest du dich vielleicht nach etwas ganz Simplem und Normalem gesehnt, beispielsweise nach einem Familienleben in einem angenehmen Vorort. Allerdings mußt du wissen, daß sich eine Menge von dem, was du ,wahres Leben' nennst, in einem Verlag abspielt. So völlig hinterm Mond bin ich nun auch wieder nicht.“ Laura war gereizt und wußte, daß das nicht gut war. Bleib ruhig, sagte sie sich. „Doch darum geht es in Wirklichkeit nicht, stimmt's? Was Mütter und Töchter betrifft — ich kann verstehen, daß eine Mutter heutzutage selten das Exemplar ist, das eine Tochter braucht.“ „Weil wir im Grunde nicht wissen“, antwortete Daisy, „was es ist, eine Frau zu sein, was wir von uns selbst wollen. Ich weiß zum Beispiel nicht einmal, ob ich heiraten will oder nicht.“ „Falls du Kinder haben möchtest, wirst du dich bald entscheiden müssen.“ „Nicht, Mutter.“ „Du redest von Realität — also solltest du den Tatsachen ins Auge sehen.“ „Ich weiß nicht, ob ich zu einer solchen Verpflichtung 162
fähig bin.“ Daisy glitt auf den Boden. „Mir kommt es vor, als sei nichts von Dauer oder stabil genug. Vielleicht fordert die Ehe mehr, als ich geben kann. Ich bin nicht einmal sicher, daß Saul und ich je heiraten werden. Es träfe seine Familie sehr, wenn er eine Nichtjüdin heiratet.“ „Was für Leute sind das? Du hast mir nie von ihnen erzählt.“ „Sein Vater ist Zahnarzt; seine Mutter scheint eine ziemlich neurotische, ziemlich ambitionierte Frau zu sein, die von einem freiwilligen Job zum nächsten springt und nach etwas sucht, das sie nie findet. Jeden Sonntag spielen sie Golf und machen ein großes Familienessen, zu dem alle möglichen Tanten, Kusinen und weiß Gott wer kommen, und Saul muß antreten, wohl oder übel, so daß wir nie ein richtiges Wochenende miteinander verbringen. Saul ist das einzige Kind, was für ihn sehr schwer ist.“ All das wurde ziemlich mechanisch heruntergeleiert, so, als hätte Daisy kein rechtes Interesse. „Warum hat sie kein zweites Kind?“ „Ach, sie glaubt ständig, sie hätte eine furchtbare Krankheit — und vielleicht hatte sie eine Operation und kann nicht. Ich habe noch nie allein mit ihr geredet, und ich bin bei diesen Familientreffen nicht sonderlich willkommen, deshalb.“ „Nach allem, was du sagst, klingt das nicht gerade nach einer beglückenden Zukunft — was ist mit Saul? Das geht ja nun schon eine ganze Weile.“ „Drei Jahre meines Lebens.“ Daisy runzelte die Stirn. „Meine Arbeit ist zwar in Ordnung, aber sie ist nicht mein wahres Leben. Das ist er.“ „Also liebst du ihn?“ „Frauen werden an die Leine gelegt, das ist das Problem. Ich hänge an Saul wie eine Klette, gegen alle Vernunft.“ Daisy stand auf und schenkte die Gläser nach, doch statt sich wieder hinzusetzen, lief sie eine Weile auf und ab, nahm die verschiedensten Dinge auf und stellte sie wieder hin. Dann sagte sie ganz unvermittelt: „Wir haben viel Spaß miteinander — und du mußt nicht verges-
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sen, daß Saul Tag und Nacht in der Klinik ist, deshalb kann ich nicht sehr viel mit ihm Zusammensein. Das ist ein Dilemma, und wenn wir dann mal eine Nacht und einen Tag für uns haben, flippen wir regelrecht aus. Manchmal lieben wir uns vierundzwanzig Stunden lang und stehen gar nicht auf. Ich schätze, das schockiert dich.“ ,,Nicht im geringsten. Aber das bleibt nicht ewig so. Und was dann?“ ,,Manchmal verbringen wir einen ganzen Tag im Zoo. Manchmal sehen wir uns nacheinander zwei Filme an. Ich kann nicht erklären, was an ihm ist, Mutter, außer...“ Nun wandte sich Daisy vom Fenster ab und setzte sich wieder hin. „Er ist so lebendig, und er reißt mich mit, weil er mich fasziniert. Er fasziniert mich“, wiederholte sie. Laura bemerkte, daß sie den Tränen nahe war, und fragte sich, warum. Daisy hatte nie nahe am Wasser gebaut, außer wenn sie in Wut geriet. „Und wenn du doch heiratest? Es klingt, als solltest du es vielleicht?“ „Ich wäre immer eine Außenseiterin, Mutter, wohin wir auch gingen — sogar weit weg von New York. Ich würde nie ganz angenommen, weißt du, und für Saul ist es, als verriete er tief in seinem Innern irgend etwas, wenn er mit mir zusammen ist. Ich weiß es. Er redet davon, nach Israel zu gehen — das täte ich mit Freude. Doch er würde sich nicht recht wohl dabei fühlen, weißt du. Er würde mich immer rechtfertigen müssen, so, als wäre ich eine Schwarze, und im Grunde fühle ich mich auch so — wie eine Fremde.“ „Das glaube ich einfach nicht. Es kommt mir so altmodisch vor. Ich meine, schließlich...“, und plötzlich war Laura sehr gereizt. Das klang ja fast unglaublich, wie aus einem viktorianischen Roman. „Schließlich nimmt Liebe doch immer die Fremden an. Als Charles starb, fühlte ich mich entzweigerissen, dabei waren wir nie wirklich eins, weißt du.“ „Du meinst, daß Daddy sehr einfach war, und du warst kompliziert?“
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Nun mußte Laura lachen, denn Daisy hatte eine gewisse Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen, und vielleicht hatte sie recht. „Ich bin nicht kompliziert“, entgegnete Laura ernst. „Die Komplikationen rührten von Mama her und von meiner sehr langen Krankheit vor meiner Heirat. Ich glaube, ein Teil von mir wurde verschüttet, damit ich überleben konnte, und nur weil Charles ein Mensch voller Liebe und Hingabe war, hat es funktioniert. Ich denke, wir führten wirklich eine gute Ehe“, fügte sie rasch hinzu. „Ich war immer eifersüchtig, wenn ihr euch über den Tisch hinweg so angesehen habt.“ „Tatsächlich?“ Laura empfand eine plötzliche Scheu, als ihr nun bewußt wurde, daß Daisy sie eifersüchtig beobachtet hatte, was ihr damals entgangen war. „Wie du wissen mußt, war ich ein wenig eifersüchtig auf dich und deinen Vater. Als du geboren warst, wußte ich, daß ich ihm das gegeben hatte, was er sich am meisten auf der Welt wünschte.“ „Ich finde das Familienleben einfach unmöglich“, sagte Daisy. „Du kannst nicht gewinnen. Es ist so verdammt kompliziert. Kein Mensch bekommt, was er sich wünscht. Oder wenn er's kriegt, dann bekommt es jemand anders in der Familie nicht. Und das Schreckliche ist, daß es immer die Frauen sein müssen, die das Ganze im Gleichgewicht halten und ein Auseinanderbrechen verhindern! Ich glaube einfach nicht, daß ich das könnte, Mutter.“ „Seit die Frauenbewegung immer größer wird, sind wir vielleicht imstande, zumindest ehrlich zu sein — so vieles kommt jetzt ans Licht, was bisher verborgen war. Aus diesem Grund hat Sybille sie so verteufelt.“ „Hat sie das? Das hat sie mir nie gesagt.“ „Sie glaubte, das Heiligste wäre bedroht. Dinge, über die geredet würde, verlören das Magische, fand sie — und vielleicht zu Recht. Außerdem war da zu vieles, womit sie sich nicht auseinandersetzen konnte, es wäre zu schrecklich gewesen.“ „Was zum Beispiel?“
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Laura lehnte sich auf dem Sofa zurück und nahm innerlich Anlauf. War das der Augenblick, über Sybille zu reden? Ihr langes Schweigen ihren Kindern gegenüber zu brechen, und besonders Daisy gegenüber, die Sybille bewunderte? „Ich glaube, ich bin wohl zu erschöpft, um den Versuch zu machen, das zu formulieren. Das Großartige ist, Liebling, daß du Sybille von ihrer besten Seite kanntest, und von ihrer besten Seite konnte sie ganz wunderbar sein.“ „Ich glaube, daß du mir ausweichst. Ach, Liebe, natürlich bist du erschöpft. Ich werde uns jetzt etwas zu essen machen und dich eine Weile allein lassen... Nur“ — Daisy drehte sich an der Tür mit jenem Ausdruck von Verwirrung, aber auch Entschlossenheit um, der lebhaft an das Kind von früher erinnerte — „hoffe ich, du wirst nachher darüber reden.“ Das Gespräch hatte seinen Tribut gefordert, obwohl Laura die ganze Zeit das Gefühl gehabt hatte, als befände sie sich auf einer steigenden Flutwelle, mit der sie endlich einem Verständnis zwischen ihr und dieser leicht ablehnenden Daisy entgegenraste. Ich fühle mich jetzt nicht abgelehnt, dachte Laura nun. Die Tür zwischen uns hat sich geöffnet, und keine von uns befindet sich sonderlich in der Defensive. Das ist gut, sagte sie sich, wobei sie bereits in Halbschlaf sank. „Ein Haus der Zusammenkunft“, hatte jemand, Jung vielleicht, den Tod genannt. Doch so erschöpft sie auch war, fragte sie sich, ob ihre Mutter je einen Platz in diesem Haus hätte, in dem alle zusammenkommen und alle akzeptiert werden konnten — außer ihr. Würde sie erst sterben müssen, um sich von Sybille zu befreien? „Ella“, murmelte sie. „Hier“, sagte Daisy nun, „ich habe dir einen Eierflip gemacht und eine kleine Portion von Mrs. O'Briens phantastischem Eintopf für den Fall, daß du etwas essen kannst.“ Sie stellte ein kleines Tablett neben Laura. Laura schlug die Augen auf und machte eine lange Reise 166
aus dem Halbbewußten zurück. „Oh, danke. Vergiß nicht, den Salat zu essen. Ich habe ihn doch für dich gemacht.“ Leutselig schweigend saßen sie einander gegenüber. Daisy legte ein neues Scheit aufs Feuer. Laura nahm einen Schluck von dem Eierflip, den sie hinunterbrachte, und hatte ein Weilchen später fast ein Drittel getrunken. Tränke sie mehr, würde sie ihr Schicksal herausfordern, denn immer häufiger attackierte sie Übelkeit. Zumindest Daisy hatte einen Bärenhunger. Laura sah zu, wie sie den Eintopf löffelte, und erinnerte sich an Daisys ungestümen, hungrigen Mund an ihrer Brust damals und wie weh sie ihr manchmal getan hatte. „Ich habe darüber nachgedacht, was für ein Gefühl Großmama der Frauenbewegung gegenüber hatte. Ich glaube, in gewisser Weise hatte sie das alles. Ich meine, sie kam mir so erfüllt vor.“ „Erfüllt?“ Völlig verblüfft stellte Laura ihr Glas hin. Dies war tatsächlich der letzte Ausdruck, den sie in bezug auf Sybille gebraucht hätte, die von Höhepunkt zu Höhepunkt ging und nie zufrieden war, den Kopf voller Ruhmesvisionen. „Sie war so sehr ein Teil von allem Bedeutenden ihrer Zeit — die Künste, all diese Schriftstellerinnen, Schriftsteller und Maler, die sie kannte, und durch Großvater auch die Politik. Denk nur an ihren Friedensmarsch nach Washington! Sie kannte so viele berühmte Leute, und doch redete sie mit mir wie mit ihresgleichen.“ „Ich glaube, du könntest sagen, es war ein großes Leben“, sagte Laura nachdenklich. „Aber Erfüllung...“ Sie zögerte. „Erfüllung bedeutet Ganzsein, ist es das? Und du glaubst, das war sie nicht? Sie blieb hungrig und furchtbar lebendig, und vielleicht ist das besser.“ Laura verbiß sich die Worte: „Nicht, wenn jemand so destruktiv anderen gegenüber ist, wie Sybille uns gegenüber war — und all jenen Menschen, die sie so fieberhaft aufgriff und dann vergaß, sobald der nächste Held in Erscheinung trat.“ Statt dessen rappelte sie sich hoch und
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stürzte in die Küche, wo sie den Eierflip erbrach. Daisy war augenblicklich zur Stelle, hielt ihr mit starker Hand die Stirn, als Laura ein trockenes Würgen schüttelte. ,,Oh...“, röchelte sie. „Es ist schon gut, Mutter. Ich bin ja da.“ Laura weinte jetzt, heiße Tränen flössen ihr über die Wangen — aus Schwäche, sagte sie sich. In ihr brach etwas auf, und das war schmerzhaft. Sie fühlte sich absolut schutzlos ihrem Kind gegenüber, zu einem sich erbrechenden Tier entblößt, und wartete, daß der Anfall vorbeiginge. Während dessen stützte sie Daisys kühle Hand, für deren Kraft und Zärtlichkeit Laura dankbar war. „Ich glaube, ich gehe jetzt besser zu Bett“, sagte sie, als sie sich umwenden und ihren Kopf an Daisys Schulter lehnen konnte, kurzatmig, keuchend, ihr Gesicht tränenüberströmt und schweißgebadet. Daisy hielt sie ganz still, hielt sie in den Armen wie ein Baby. Zwischen ihnen bedurfte es keines Wortes.
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16 Mittlerweile graute der Morgen bereits um halb sechs, und Laura, die sich seit Stunden wach im Bett wälzte, um eine Lage zu finden, in der sie nicht husten mußte, war froh, als Dämmerlicht das Zimmer allmählich aufleben ließ. Die Gardinen wehten sachte im leisen Wind. Sie fühlte sich seltsam friedlich. Als Daisy um sechs erschien und fragte, ob sie eine Tasse Tee wolle, streckte Laura ihre Arme aus, und sie umschlangen einander stumm. Sie spürte eine solche Ruhe in sich, daß Daisys angstvolles Gesicht sie verwunderte. ,,Du hast nicht geschlafen, Mutter?“ fragte Daisy. „Nicht viel, aber ich lerne zu schweben. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben kann, es ist, als ob ich auf einem Strom dahintreibe. Ich habe mich glücklich gefühlt.“ ,,Oh, Mutter.“ Daisy flüchtete und machte Tee. Später legte sie ein Klarinettenkonzert von Mozart auf und dann einige Beethoven-Sonaten, die Laura oben hörte. Es bestand ein schweigendes Einvernehmen, daß Laura im Bett bliebe, und als sie ins Bad ging, wußte sie, daß sie gar nicht anders konnte, denn schon bei der kleinen Anstrengung, zweimal das Zimmer zu durchqueren, fühlte sie sich sehr benommen. Später ging Daisy mit den Tieren spazieren, und Laura sank, in Sonne badend, in einen herrlichen Schlaf. Dann — wie spät war es eigentlich? Fast elf? — weckten sie Stimmen im Parterre, Jos tiefe melodische Stimme und Daisys. Im ersten Augenblick dachte Laura, es wäre ihr unmöglich, Jo zu sehen. Jetzt noch nicht. „Sie ist furchtbar krank, Tante Jo“, hörte sie Daisy noch sagen, dann mußten sie die Tür geschlossen haben. Laura zog sich vom Fußende des Bettes ein Kissen her-
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an und stopfte es hinter sich. Sie saß aufrecht, plötzlich schweißgebadet, und tastete nach einem Kamm in ihrem Nachtschränkchen, fand ihn aber nicht. Ich muß mich daran gewöhnen, daß ich hilflos bin, sagte sie sich. Ich muß es eben lernen, das — und anderes. Ich will sie nicht sehen, dachte sie, es ist, als stürzten Jo und alle Nahestehenden, Familie, wie die Raubvögel vom Himmel herab. Nur Tante Minna und Mary O'Brien und Dr. Goodwin konnten kommen, denn sie beanspruchten nicht ihre volle Aufmerksamkeit, grübelte sie. Oder vielleicht hatten die drei eine Nische, und alles andere stimmte mit ihrem Kommen und Gehen überein. Jos Erscheinen heute, da Laura sich am Rande der Erschöpfung wußte, war eine Kraftprobe. Wäre Daisy imstande, sie abzuschirmen? Wenn es doch nur Daphne wäre, dachte Laura. Aber warum muß ich mich eigentlich vor meiner Schwester abschirmen? Und schon hörte sie Jos festen Schritt auf der Treppe. „Ich konnte erst heute kommen“, sagte Jo. „Wir hatten die ganze Woche über Kuratoriumssitzung. Liebste, warum hast du uns nichts gesagt?“ , Jo — in der Schweiz, als ich krank war, wurde ich die Gefangene der anderen. Das hier muß ich allein tun. Kannst du das nicht verstehen?“ Jo stand am Bett. Sie sah gut aus in ihrem dunkelgrünen Tweedkostüm und der weißen Knitterbluse, mit diesen weit auseinanderliegenden dunklen Augen und dem Ausdruck von Leidenschaftslosigkeit in ihrem weißen, marmorhaften Gesicht. Sie wirkte jung für ihr Alter, trotz ihrer kurzgeschnittenen weißen Locken. Sie ist zwar meine Schwester, dachte Laura, diese gutaussehende starke Person, aber ich kenne sie nicht. Sie ist eine Fremde. „Setz dich, Jo, du machst mich nervös, wenn du so dastehst.“ „Sei nicht sauer“, sagte Jo und zog einen niedrigen Stuhl heran, so daß sie sich auf das Fußende des Bettes stützen konnte. „Es wäre nicht sehr menschlich, die eigene Schwester nicht besuchen zu dürfen, wenn...“ 170
„Ich sterbe, aber das ist nicht so schlimm“, sagte Laura freundlich. Jo schluckte nervös. „Ich habe eine sehr gute Krankenpflegerin und Haushälterin, und Jim Goodwin kommt, um die Lungen zu punktieren — das erleichtert den Druck. Himmel, Jo, du würdest nicht glauben, welch enorme Mengen an dunkelorangener Flüssigkeit er da herausholt, und es tut gar nicht weh.“ Laura hatte das Gefühl, als sei die Erörterung der Symptome und rein körperlichen Aspekte die einzige Möglichkeit, diesen unerwarteten Besuch in den Griff zu bekommen. Als sie darüber geredet hatten, erkundigte sich Jo nach Ben, und Laura erklärte, daß er ein großes Gemälde beendete. „Was soll's, wenn er käme und sich quälte?“ „Er ist dein Sohn“, sagte Jo. „Aber genau damit kann ich nicht umgehen, die Belastung mit den Gefühlen anderer, verstehst du das nicht? Ich will in Ruhe gelassen werden, damit ich meinen eigenen Gefühlen nachspüren kann.“ „Ich verstehe dich ganz und gar nicht“, sagte Jo. „Nein, ich glaube nicht. Schließlich ist es dir gelungen, Jo, persönliche Gefühle als irrelevant abzutun.“ „Ich habe keine Zeit, groß über mich nachzudenken. Das Gute am College ist unter anderem, daß es jungen Frauen etwas anderes bietet, als sich mit Gefühlen zu befassen. Und als fast Fünfundsechzigjährige muß ich sagen, ja, ich glaube wirklich, aus dem, was sich allgemein Liebe nennt, sollte man herausgewachsen sein. Aber Familie ist etwas anderes“, fügte sie hinzu. „Inwiefern? Außerdem, Jo, hast du nicht gerade besonderen Familiensinn gezeigt, nicht wahr?“ Jo lächelte. „Für eine, die sehr krank ist, kannst du immer noch mächtig austeilen.“ Jo hatte stets im Umgangssprachlichen geschwelgt, wenn auch ihre Ausdrücke manchmal leicht antiquiert waren und Laura ein Grinsen entlockten. Wir sind lächelnde Antagonistinnen, dachte
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sie und betrachtete Jo, die gedankenverloren an den Noppen der weißen Bettdecke zupfte. Kaum hatte sie das gesagt, wurde Laura klar, daß Jos Gegenwart ziemlich belanglos war. „Ich bin heute erschöpft. Es irritiert mich.“ Und sie lachte. „Übrigens, warum sollten Familien eigentlich zusammenhalten?“ Doch Jo war bestürzt und antwortete nicht. „Laura“, sagte sie dann, „mein Beruf frißt mich auf, und ich glaube im Ernst nicht, daß es ein albernes Leben ist oder mir nichts gibt. Die Probleme, mit denen wir uns heutzutage in jedem liberalen College herumschlagen, sind einfach irre — ich meine, da ist zum Beispiel das Geld. Der Druck nimmt zu, nur noch qualifizierte Studentinnen aufzunehmen, und das gilt besonders für ein so junges College. Ach je“, sie sah Laura an, „warum dich mit meinen Problemen belämmern?“ „Du scheinst förmlich darin aufzublühen. Du siehst verdammt gut aus, muß ich sagen. Nicht ein Fältchen!“ „Sei nicht albern. Ich bin eine fette alte Frau.“ Sie hatten gerade eine Klippe der Bitterkeit umschifft, und Laura lehnte sich auf dem Kissen zurück und wartete. „Ich darf dich nicht ermüden.“ „Die Person, die stirbt, ist eigentlich sehr jung. Hast du je darüber nachgedacht, wie wenig jemand sich im tiefsten Innern des Alterns bewußt ist? Nur der Körper weiß es, und Gott weiß, daß er da ist, um uns daran zu erinnern. Genau die Dinge, die ich vor langer Zeit erlebt habe, empfinde ich heute als die realsten. Es ist seltsam“, sagte Laura und blickte zur Decke. Sie dachte laut und hatte fast vergessen, daß Jo da war. „Ich denke so oft an Ella — meine englische Freundin, erinnerst du dich?“ „Vage — sie heiratete einen Dozenten, nicht? Du hast sie in Paris kennengelernt.“ , Ja. Ich will dir etwas erzählen, Jo. Ich habe meinen Mann geliebt. Manchmal glaube ich, wir führten eine fast perfekte Ehe. Was mir aber heute im Kopf herumgeistert, ist Ella, und es ist Ella, mit der ich in meinen Träumen
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rede. Ich frage mich, warum das so ist?“ Laura drehte den Kopf, so daß sie Jo ansehen konnte. „Hast du je von Alicia geträumt?“ Nicht einmal ein Wimpernzucken folgte. „Um Himmels willen, nein!“ ,,Es ist dir gelungen, Mama das zu verzeihen, was sie getan hat?“ Genau diese Frage hatte Laura schon immer stellen wollen. „Ich denke nie daran zurück“, sagte Jo. „ Oublieuse mémoire“ , murmelte Laura. „Aber merkwürdigerweise habe ich es nicht vergessen. Ich schätze, damals wagte ich zum erstenmal einzugestehen, daß Mama nicht vollkommen war. Es war so grausam, Jo! Monatelang hast du ganz krank ausgesehen. Ich habe es wie einen Mord empfunden, und so sehe ich es noch heute.“ „Offensichtlich habe ich überlebt“, sagte Jo ironisch, „es sei denn, du hältst mich für einen Geist!“ „Du hast es überlebt, doch als ein irgendwie verstümmelter Mensch. Oh je, das klingt schrecklich. Aber, Jo, du mußt zugeben, daß darin ein Körnchen Wahrheit liegt.“ Jo schloß halb die Augen. Jetzt hatte Laura zum erstenmal, seit Jo ins Zimmer gekommen war, ihre volle Aufmerksamkeit. Und das war ihrem Gesicht abzulesen, denn Laura sah, wie ihre Wangen zuckten. „Verstümmelt? Das ist ein starkes Wort. Ich kam zu dem Schluß, daß die Liebe zu einer Frau mehr war, zu intensiv, zu schmerzlich, als daß ich je wieder damit umgehen könnte.“ Und seufzend fügte sie hinzu: „Und in meiner Welt zu gefährlich.“ Doch kaum hatte sie das gesagt, schloß sie auch schon die Tür. „Übrigens gefällt mir das alles wirklich nicht.“ „,Das alles' bedeutet, jemand zu lieben?“ „Ach, vermutlich. Und schätzungsweise meine ich Sexualität. Ich habe den Eindruck, sie bringt alles durcheinander. In dieser Hinsicht hast du vielleicht recht damit, daß ich vieles bewußt ausgeschlossen habe. Du und Ella, wart ihr Geliebte?“ „Nein, aber ich wünschte, wir wären es gewesen. Für
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mich ist Sexualität eine Form von Gemeinschaft gewesen. Ich glaube, wir sind beide altmodisch, jede auf ihre Weise. Denn heutzutage wird es nicht so gesehen — heute ist es ein Spiel, in dem der Körper in seiner ganzen Kompliziertheit einfach als Mechanismus gebraucht und mit dem geschickt umgegangen wird.“ Aber das war eine Abschweifung, merkte Laura, und sie konnte sich kein Abschweifen leisten. „Ich habe viel darüber nachgedacht, weil das letzte Buch, an dem ich arbeitete, das einer Lesbe war. Sie ist so viel ehrlicher und bewußter und verantwortlicher, als wir es je waren oder vielleicht sein konnten. In dem Buch geht es unter anderem um die Aufklärung der Eltern über den eigenen Lebensstil und deren gewaltsame Reaktion darauf. Sie ist zweimal hiergewesen, am Rande der Verzweiflung. Weißt du, wenn sie veröffentlicht, wird sie wahrscheinlich ihre Geliebte verlieren, eine Lehrerin, die eine Entlarvung fürchtet.“ „Und ganz zu Recht, meine Liebe. Du hast dieser Person doch wohl von der Veröffentlichung abgeraten?“ „Ich gab keine Ratschläge, ich hörte zu.“ „Und wenn sie die Veröffentlichung betreibt, was ist der Unterschied zwischen mir und Alicia? Ich hätte vermutlich weglaufen und mit ihr gehen können. Statt dessen ging ich aufs College und war eine Leuchte. Das finde ich nicht verachtenswert. Wenn deine junge Schriftstellerin ihre Liebe für ihre Arbeit aufgibt: ist es dann nicht das gleiche, und wäre sie nicht auch ,verstümmelt', um dein Wort zu gebrauchen?“ Laura setzte sich auf und umschlang ihre Knie. „Ich weiß nicht“, sagte sie nach einer Weile. „Aber die Selbstenthüllung um der Wahrheit willen — der Kunst, wenn dir das lieber ist — liegt meines Erachtens doch auf einer anderen Ebene als das Streben nach Macht.“ „Das ist nicht fair, Laura, ich wollte keine Macht. Ich wollte im Bereich der Bildung und Erziehung etwas tun.“ Ohne je klarzukriegen, was dich dazu getrieben hat, dachte Laura, sprach es aber nicht aus. Harriet Moors
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würde leiden, aber sicher kriegte sie ihr Leben klar, und zwar grundlegend. „Ich muß über so vieles nachdenken“, murmelte Laura. „Ich hätte das alles gern in meinem Kopf klar.“ „Ich frage mich, ob uns das je gelingt.“ „Genau darum geht es für mich beim Sterben. Jo, nachdem Jim Goodwin mir sagte, womit ich rechnen könnte, habe ich Sybille besucht. Ich sagte ihr, daß ich sterbe — warum, weiß ich nicht. Natürlich kam keine Reaktion.“ „Keine?“ „Keine. Sie sieht sehr schön aus, aber sie ist nicht da.“ „Ich habe sie seit Monaten nicht gesehen.“ „Das Komische ist, daß ich mich nicht befreit fühlte. Ob wir je von solch verheerendem Einfluß befreit sind? Das frage ich mich.“ Jo stand auf und ging zur Kommode, wo sie die verschiedenen kleinen Gegenstände aufnahm und hinstellte. „Was war es wirklich?“ fragte sie nach einer Weile. „Kontrolle, das Bedürfnis, alles unter Kontrolle zu haben, und das heißt, auch sich selbst. Denn wenn sie nicht die Kontrolle hätte, gäbe es ein Chaos — der Damm würde brechen, wenn du so willst —, und das war zu bedrohlich.“ „Soweit ich mich erinnere, war nichts sonderlich entspannt. Alles war reichlich verkrampft, nicht wahr? Ich habe mich manchmal gefragt, ob wir deshalb so oft krank waren? Ich meine, dann bot Mama all ihren Charme auf und konzentrierte sich mal zur Abwechslung auf eine von uns. Es war toll, so im Bett zu liegen und mit Quarkspeisen und Eierflips gepäppelt zu werden.“ „Die Rolle der Krankenschwester war eine ihrer besten“, sagte Laura und seufzte. „Doch jahrelang derartige Aufmerksamkeit... Als es vorbei und ich gesund war, nach Davos, kam ich mir ganz unwirklich vor und allen anderen auch.“ „Ich erinnere mich noch an dein Lächeln“, sagte Jo, „als ob du immerfort über irgendwas lächeltest, wovon niemand sonst etwas wußte. Was war das?“ 175
„Ach, ich glaube, ich lernte zu lächeln, um nicht zu schreien.“ Wem außer Jo und Daphne konnte sie schließlich solche Dinge sagen? Jo und Daphne, ihre Krüppelgenossinnen? „Ella hat mir damals meinen Verstand gerettet, und natürlich war Mama entsetzlich eifersüchtig auf sie. Wenn wir miteinander redeten und Ella meine Hand hielt, mußte sie ständig aus dem einen oder anderen Grund hereinkommen und schauen, was los war. Und sobald wir an den Punkt eines wirklichen Austausches gelangten, wurde Ella daran erinnert, daß ich nicht strapaziert werden dürfte. Sie kam nur viermal in den zwei Jahren, doch konnte jeder Besuch den emotionalen Krüppel wiederbeleben, der ich allmählich wurde. Ist dir je aufgefallen“, sagte Laura und schob sich hoch, damit sie Jo wieder ansehen konnte, „daß Menschen emotional verkrüppeln können? Kinder, zum Beispiel, mit denen nie geschmust wird, entwickeln sich nicht. Sehr lange, monatelang existierte ich, indem ich das meiste ausschaltete.“ „Ich glaube, du hältst mich für emotional verkrüppelt.“ Jo hatte sich offensichtlich ihre eigenen Gedanken gemacht. „Ach, ich weiß nicht“, sagte Laura. „Wie kann ich das wissen?“ „Schließlich sind Ehe und Kinder nicht die einzig mögliche Erfüllung für eine Frau.“ „Absolut nicht. Davon rede ich auch gar nicht.“ „Laura, ich sollte nach unten gehen. Ich bin nicht hergekommen, um dir das letzte Quentchen Kraft zu rauben.“ „Du redest wie Mama. Warum sollte ich's nicht verschwenden?“ Laura war plötzlich ärgerlich. „Herrje, warum denn nicht?“ Indem sie in ihre Kissen zurücksank, fügte sie hinzu: „Jo, geh hinunter und sieh nach, ob noch ein Rest Champagner in der Flasche ist, die Daisy mitgebracht hat. Vielleicht bekomme ich ihn hinunter. Gib einen Eiswürfel hinein und mach dir einen Drink oder sonstwas und komm dann wieder. Inzwischen werde ich in Ruhe etwas Luft holen.“
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Plötzlich gab es viele Dinge, die sie Jo fragen wollte — zum Beispiel, warum sie kein Tier hatte. Ich kenne sie wirklich so wenig, dachte Laura. Ich lese über sie in der Zeitung, daß man ihr gerade wieder einen Ehrendoktor verliehen hat oder daß sie bei der Amtseinführung eines Präsidenten irgendwo in der akademischen Welt zugegen war oder daß sie um Quoten rangelte (wie vor einigen Jahren). Jo kam nach einer Weile zurück — für Laura flössen Minuten und halbe Stunden ineinander —, und Laura trank einige Schlucke von dem Champagner. Er war nicht so fad, wie sie befürchtet hatte. Jo hatte sich eine Tasse Kaffee mitgebracht. „Warum bist du hergekommen, Jo?“ „Du bist schließlich krank.“ ,,,Familien sind etwas anderes', hast du vorhin gesagt. Und doch — entschuldige, wenn ich ganz offen bin — mußt du enge Freundinnen haben, die dir viel näher stehen als ich. Wir haben seit Jahren nicht mehr so geredet.“ Jo trank einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse hin. ,,Daisy hat mir gesagt, daß du und Daphne zum alten Haus gefahren seid.“ „Ja, ich wollte mich an Mama erinnern, wie sie damals in den glücklichen Sommern war. Ich muß einfach eine Abrechnung mit Mama machen, ehe ich sterbe, aber“, Laura lächelte, „das fällt mir sehr schwer.“ „Glaubst du wirklich, daß Daffs Leben — sie hat irgendeine Beschäftigung in einer Tierklinik, wie sie sagte — weniger inhuman ist als meins, Laura? Ich muß gestehen, ich fühle mich angegriffen, und ich verstehe nicht, warum. Manche Leute würden sagen, ich hätte einen wirksamen Beitrag zur Gesellschaft geleistet.“ „Auf ihre spezielle Weise ist Daff eine wahre Persönlichkeit geworden“, sagte Laura, die Daphnes faltiges Gesicht lebhaft vor Augen hatte, das soviel älter aussah als Jos, aber ein so bewegtes Gesicht war, wie es Jos nie sein würde. „Sie sieht aus wie ein Wrack“, sagte Jo. „Von uns dreien 177
bist du die einzige, die es als Mensch zu etwas gebracht hat.“ „Ich war erfolgreich, was das Allgemeine betrifft, reichlich komisch für eine Tochter von Sybille. Zumindest du hast einen Zipfel vom Ruhm erwischt — Mama hat mir einen Zeitungsausschnitt über deinen neuesten Grad oder Ähnliches heruntergejubelt, als sie noch lesen konnte.“ „Tatsächlich?“ Jo war sichtlich erfreut. „Als wir aufwuchsen, verzehrten wir uns nach Lob, ich jedenfalls. Sie setzte ständig irgendein Superbeispiel gegen alles, was wir in der Schule leisteten. Du erinnerst dich, Daff schrieb früher einmal Gedichte. Mama reagierte darauf sehr herablassend. Natürlich tat sie das nicht absichtlich. Sie wußte ja nicht, wie vernichtend ein so relatives Lob auf uns wirken konnte.“ „Sie selbst schrieb Gedichte“, erinnerte Laura Jo. „Ich frage mich, warum sie sie nie veröffentlichte oder lediglich den einen Band, den sie für Papa privat drucken ließ. Ehrlich gesagt, so gut waren sie einfach nicht.“ „Du sagst, Daff sei eine ,wahre Persönlichkeit' geworden. Aber du mußt schließlich zugeben, daß Mama eine sehr viel größere war als irgendeine von uns. Neben ihr sind wir alle Zwerge.“ „Das glaube ich nicht.“ Diese unerhörte Unwahrheit brachte Laura in Rage, und sie stellte die Stacheln auf. „Daß wir Zwerge sind oder daß sie gigantisch war?“ „Ich weiß nicht. Können destruktive Menschen gigantisch sein?“ „Von deinem Standpunkt aus vielleicht nicht. Doch sie türmte sich ganz schön auf — und ich frage mich, ob sie tatsächlich so destruktiv war, außer den eigenen Kindern gegenüber. So viele Leute jeden Alters bewunderten sie, Laura — das mußt du zugeben! Und sie war eine echte Schönheit. Mein Gott, war sie schön!“ „Ja“, sagte Laura nachdenklich, „das war sie.“ „Sie befand sich einfach auf einer höheren Ebene als die meisten Frauen. Das kann nicht gerade einfach gewe-
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sen sein, nicht wahr? Sie brauchte eine große Bühne, und Pa, der liebe, kam nie auf die große Bühne, zum Beispiel als Botschafter. Stell dir vor, was Mama mit der Pariser Botschaft angestellt hätte!“ Jetzt schüttelten sich beide vor Lachen, und zum erstenmal, seit Jo vor einer Stunde das Zimmer betreten hatte, fand Laura in ihr die Schwester wieder. „Wir hätten unsere Reifen durch den Luxembourgpark gerollt, wären aufs Lyzeum gegangen...“ „Und du hättest einen Franzosen geheiratet, Laura.“ „Na, besten Dank, keinen anderen als Charles.“ „Du und dein Charles“, stichelte Jo. Dann sah sie auf die Uhr. „Ich muß zurück, Laura!“ „Ja.“ Jo stand nun auf. Die Schwestern sahen sich lange an, und Laura fixierte sie, wohl in der Hoffnung auf irgendein Zeichen. Wer weiß, was die Nackten sich von den Bekleideten erbitten? Jo beugte sich zu ihr und drückte fest Lauras Hand. „ Courage, mon enfant.“ Es war ein Ausspruch ihres Vaters gewesen. Laura zog ihre Hand weg. „Es ist nicht Courage, die ich brauche“, flüsterte sie, „nicht wirklich. Adieu, Jo.“ Als sich die Tür geschlossen hatte, rannen Laura die Tränen übers Gesicht. Nicht Courage, dachte sie, sondern Solidarität. Es hatte so wenig gegeben. Und jetzt blieb ihr nichts, als in die Schwäche zurückzusinken, eine zunehmende Schwäche, Schwäche wie eine Flut. Von jetzt an muß ich mir die Familie vom Leib halten, sagte sie sich. Ich kann nicht so weitermachen.
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17 Laura hörte ein feines Kratzen an der Tür, die Jo hinter sich geschlossen hatte. „Sasha!“ Ich muß eine Stunde geschlafen haben, dachte sie, als sie sich aus dem Laken wühlte und aufstand, um die Katze einzulassen. „Wo sind die anderen, Sasha?“ Daisy machte wahrscheinlich einen langen Spaziergang mit Grindle. Doch dann sah Laura einen kleinen Notizzettel auf dem Boden und hob ihn auf, während Sasha ihr mit lautem Schnurren um die Beine strich. „Mutter, ich bin zu Brooks und Ann gefahren. Ich wollte dich nicht wecken. Im Kühlschrank steht ein Eierflip, wenn du hungrig wirst. Rühr ihn ein wenig um. Daisy.“ „Nun sind wir also allein, Sasha.“ Aber nicht lange, denn kaum hatte Grindle Lauras Stimme gehört, jagte er auch schon die Treppe hinauf und leckte ihr mit größter Begeisterung die Füße, ehe sie wieder ins Bett ging. Dann lag Laura ganz still und hellwach da, neben sich Grindle ausgestreckt auf dem Läufer und die eingerollte Sasha an ihrer Seite. Das Zimmer war in sanftes Morgenlicht getaucht, die Sonne stand bereits hoch, so daß sie nicht mehr auf Lauras Gesicht fiel, aber alles flimmerte in goldenem Nebel. Der Ahorn, den sie durchs Fenster sehen konnte, war aufgeblüht, die kleinen Schirmchen hatten sich ganz geöffnet. Schon oft hatte sie sich gefragt, ob sie je sehen würde, wie es passierte, diese sanfte Explosion mitbekäme. Wieder einmal war sie in der Nacht erfolgt. Grindle seufzte im Schlaf. Kein Laut war zu hören, außer dem beharrlich klagenden Schilpen eines weißkehligen Spatzes in der Ferne. Vögel, dachte Laura, haben ein so kurzes Leben, kurz und intensiv — diese wilde, ewige Jagd nach Futter, stän-
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dig in Bewegung. Kamen sie je zur Ruhe? So zur Ruhe wie sie jetzt, während in der mysteriösen Unendlichkeit des Gehirns die großen Konstellationen ihrer Erinnerung auftauchten. Sie ging mit Ella die Rue de l'Odéon entlang zum Luxembourgpark, unter dem Arm ihre Bücher, da sie arbeiten wollten. Die Kastanien blühten, und auf dem Teich ließen die Kinder ihre Boote segeln. Zuerst gingen sie spazieren, die weiten sandigen Alleen auf und ab, setzten sich dann in Liegestühle und lasen eine Stunde oder zwei. Dort hatte Laura zum erstenmal Baudelaire gelesen. „Mon enfant, ma soeur / Songe à la douceur / D'aller làbas vivre ensemble!“ Sie hatte Hunderte von Zeilen auswendig gekonnt, doch jetzt fielen ihr nur wenige ein. „Nous avons dit souvent d'impérissables choses / Les soirs illuminés par l'ardeur du charbon“; Gedichte, deren Hintergrund immer blühende Kastanien, Kinderwagen, schrilles Kindergeschrei und Ella bildeten, die einen Augenblick von ihrem Buch aufsah, gähnte, die Arme reckte und lächelte, dieses seltene glückselige Lächeln, das alles ausdrückte, was sie nicht sagen wollte oder konnte. In jener Zeit damals war es Laura gewesen, die redete, endlos über Sybille und über Leben und Tod und warum wir auf der Welt sind und ob es möglich ist, nicht zu heiraten und doch ein erfülltes Leben zu führen. Dann umarmten sie in ihrer Phantasie die Bäume, ertasteten mit den Händen die rauhe Rinde, schwammen, ritten auf gutmütigen Pferden wild über grüne Wiesen, galoppierten und atmeten den Geruch der Pferde. Jetzt waren ihre Phantasien keine Phantasien, sondern eine große Realität, die sie sich nicht einmal vorstellen konnte, eine, die in ihrem Körper ein Eigenleben führte, eine, die sie in einen Kampf verwickelte, der allmählich ihr ganzes Sein einschloß und auf jede winzige Zelle und selbst das Blut übergriff. Sie versuchte, sich damit anzufreunden, denn dem Tod mußte sie wie einem Freund begegnen, ja, ihn begrüßen. Es war etwas, das sie erschuf, ihr Körper erschuf, und sie mußte ganz still liegen und es geschehen lassen. Aber nicht vor...
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Vor was? Vor einer endgültigen Bestandsaufnahme und Bilanz ihres Lebens. Jo war dabei keine Hilfe gewesen. Je mehr sie geredet hatten, desto weiter schien sich Jo zu entfernen. Wer könnte dabei helfen? Wenn Laura darum bäte, würde Ella kommen. Aber wie konnte sie sagen, ob dies das Rechte wäre? Wie konnte sie ein solches Risiko für sie beide eingehen? Dieses Sterben in eine Vergangenheit einzubauen, deren Leben so reich gewesen war, von solcher Tiefe und Intensität? Und doch kehrte Ella nach all diesen Besuchen zurück, Ellas Bild. „Familien sind etwas anderes“, hatte Jo gesagt und damit lediglich gemeint, so schätzte Laura, daß man die Familie besuchen sollte, wenn jemand krank war, und die kranken Familienmitglieder den Wunsch haben sollten, besucht zu werden. Doch das war reichlich absurd, wie Laura aufgrund des eigenen Impulses feststellen konnte. Jim Goodwin und seine ruhige, sachkundige Pflege, schon seine Gegenwart taten mehr für sie, als es irgendein Familienmitglied konnte — und Mary O'Brien! Daphne war ihr am meisten nahegekommen, aber die Zeit, als sie eine Reise machen konnte, wie sie sie zusammen unternommen hatten, gehörte bereits der Vergangenheit an. Laura ermahnte sich, daß sie unten und möglichst angezogen sein wollte, wenn Daisy von Brooks und Ann zurückkam. „Nur noch ein kleines Weilchen, Sasha“, murmelte sie, „nur noch ein bißchen dösen... absolute Ruhe...“ Schließlich trieb der Hunger Laura dazu, sich einen Morgenrock anzuziehen. Sie kämmte sich, wusch sich Gesicht und Hände und ging mit Grindle langsam nach unten, da sie sich recht benommen fühlte und eine Sekunde lang fürchtete, sie könnte fallen. Sie fand den Eierflip, nahm ihn mit in die Bibliothek, legte sich hin und sah in den kalten Kamin, in dem kein Feuer gelegt war. Jemand, vielleicht Jo, hatte eine herrliche orange-rosafarbene Azalee mitgebracht, und Laura weidete sich daran. Dann trank sie mit einem Strohhalm ihren Eierflip. Sie bezweifelte nicht, daß hauptsächlich Nahrungsmangel dieses Schwächegefühl verursachte. Wenn sie ein wenig hinunter-
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brächte, würde sie sich imstande fühlen, den Abschied von Daisy zu ertragen. Und einige Stunden später käme dann Mary O'Brien. Hin und wieder tastete sie nach Grindle, der neben ihr lag. Und als Daisy die Haustür aufstieß und rief: „Mutter, ich bin wieder da!“, war sie darauf vorbereitet und schloß ihre einzige Tochter in die Arme. „Geht es dir gut?“ „Ich habe den ganzen Eierflip getrunken.“ „Gut.“ Daisy setzte sich auf die Sofakante und ergriff die Hand ihrer Mutter. „Ich muß jetzt packen. Soll ich eine Platte auflegen?“ Aber das fragte sie eigentlich nicht; sie versuchte offensichtlich etwas anderes zu sagen, und Laura bemerkte die Angst und Qual in ihrem Blick. „Mutter, mußt du dies allein durchmachen? Willst du es so? Ann und Brooks haben das Gefühl, du wimmelst sie ab.“ Laura zog ihre Hand weg und schloß die Augen. „Ich weiß“, murmelte sie. „Du mußt mich dies einfach auf meine Weise machen lassen. Ich muß mich auf etwas Großes und manchmal Beängstigendes vorbereiten.“ „Genau das ist es, Mutter. Du mußt zulassen, daß wir dir helfen.“ „Das habe ich doch wohl, oder?“ antwortete Laura mit ziemlicher Schärfe. „Laß mich wiederkommen“, sagte Daisy. „Bitte.“ „Wir bleiben in Verbindung, Liebling. Ich kann nicht voraussehen... Ich muß jeden Tag so leben, wie er kommt.“ Es war beängstigend, daß sie nicht mehr zu geben hatte, doch jetzt war Laura zumute, als habe sich ihr ein schwerer Stein auf die Brust gelegt und drücke sie hinunter. „Geh jetzt lieber packen, sonst wirst du dein Flugzeug versäumen.“ Und als Daisy zögernd zur Treppe ging, überwand sich Laura und sagte: „Danke, Liebling, daß du gekommen bist und für unser gutes Gespräch.“ „Ich bin wütend auf Tante Jo, weil sie so unangemeldet hier hereingeschneit ist“, sagte Daisy auf der Treppe. „Sie hat die Azalee mitgebracht, weißt du, und als sie
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ging, wirkte sie ganz durcheinander. Zum erstenmal konnte ich ihr ansehen, daß es sie umgehauen hat.“ „Wirklich?“ ,,Mutter, du weißt ja nicht, wie sehr dich die Menschen Heben!“ Und Daisy stürzte die Treppe hinauf. Ja, dachte Laura, es ist wie ein Geflecht. Was immer die geheimen, echten Beziehungen sein mögen, sind wir doch in einem großen Geflecht unentwirrbar miteinander verwoben, und das Lösen der Fäden, einer nach dem anderen, schmerzt zutiefst. Solange ein Mensch noch die Bindung spürt, ist er nicht bereit zu sterben. In diesem Augenblick wurde Laura bewußt, und es war wie eine Explosion in ihrem Innern, daß sie nie wissen würde, ob Daisy Saul heiratete oder was mit ihr geschähe. Aber die Zukunft, so rief sie sich ins Gedächtnis zurück, ist für mich jetzt belanglos. Ich muß sie ausschalten. Nur der jetzige Augenblick kann eine reale Substanz haben — also betrachtete sie die Azalee, und ihr fiel auf, welch ungewöhnlich große einzelne Blüten sie hatte, und sie spürte, daß diese Betrachtung, diese stille, intensive Freude an einer Blume ihre Art von Gottesanbetung war. Außerhalb dieses Geflechts existierte eine andere, sehr viel komplexere und doch nicht bindende Struktur, die Grindle und die Azalee und sie selbst einschloß und in der sie ruhen konnte.
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18 „Sie sind ja völlig erledigt“, sagte Mary O'Brien nach einem Blick auf Laura, die auf dem Sofa lag, vor sich hin dämmerte, seit Daisy abgereist war und versprochen hatte, mit ihrer Gitarre wiederzukommen und ihr vorzusingen. „Du kannst dann oben im Bett liegen“, hatte Daisy gesagt, „und ich singe hier unten meine Lieder“, und der Gedanke war ohne Zweifel für Daisy selbst ein solcher Trost gewesen, daß Laura zugestimmt hatte. „Morgen werden Sie den ganzen Tag im Bett bleiben“, sagte Mary O'Brien. Dem zuzustimmen fiel ihr nicht schwer. „Sie gehen jetzt besser ins Bett, und ich werde Ihnen einen heißen Tee bringen.“ Mary wußte einfach, wie sie Laura aufrichtete, und sie gingen langsam, Schritt für Schritt, Laura schwer auf Marys Arm gestützt, ins Schlafzimmer hinauf. Auf halber Treppe mußte sie kichern. Ihr Schwächegefühl kam ihr so absurd vor. Schließlich war sie zu langen Gesprächen mit Daisy und Jo imstande gewesen. „Es war meine Schwester Jo — sie kam überraschend.“ „Nächstes Wochenende werde ich hierbleiben“, sagte Mary bestimmt. „Und mein Drache sein?“ „Nur weiter, noch vier Stufen, und wir haben's geschafft.“ Es war unbeschreiblich wundervoll, sich im Bett wiederzufinden, neben sich Mary, die die Kissen aufschüttelte und ihr half, sich hoch genug aufzusetzen, so daß sie sich bequem anlehnen konnte. „Absoluter Frieden und die Lieben in weiter Ferne“, murmelte sie, und wieder überkam sie ein Lachen. „Soll ich Ihr Buch bringen?“ fragte Mary im Gehen.
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„Nein, danke, ich will mich nur ausruhen.“ Laura wurde bewußt, daß sie nicht lesen wollte, nicht einmal Herbert. Es schien Jahre her zu sein, als sie ihn so sehnsüchtig gesucht hatte, als sie sich nach diesen Gedichten verzehrte und sie mehr als alles andere brauchte. Die Dinge ändern sich sehr schnell, dachte sie. Es ist eine Metamorphose. Ich frage mich, in was ich mich verwandle, eine Person, die weder lesen noch ihre Familie sehen will, die will... was? Ruhe. Eine kleine Weile, solange das Atmen noch möglich wäre und das fremde, so lebendige Tier in ihr — denn sie konnte ihren langsamen Herzschlag hören — weitermachte. „Bis zum Frühling“, hatte Jim Goodwin gesagt; und sie mußte ausharren, auf Ben warten. Sie konnte noch nicht sagen: „Es ist zu Ende“, jetzt noch nicht. Als Mary nun den Tee brachte, trank sie ihn in kleinen Schlucken, konzentrierte sich angestrengt und behielt ihn bei sich. Und sie mußte mit der leeren Tasse im Schoß eingeschlafen sein, denn sie erinnerte sich nicht, daß Mary sie holen kam. Unseligerweise war sie um zwei hellwach, lange vor dem Morgengrauen. Sasha hatte sie mit einem Sprung aufs Bett geweckt. Die Qual war so groß, daß sie lange brauchte — und das waren die Zeiten, da Angst sie überwältigte —, bis sie den Schwebezustand erreichte, doch als es schließlich dämmerte und sie die Gegenstände im Zimmer unterscheiden konnte, blieb ihr Blick an dem blauen Morgenrock hängen, der über einen Stuhl geworfen war. Wie er so dalag, in Falten bis zum Boden, wirkte er sehr schön. Er erinnerte sie an die Gemälde von Piero della Francesca. Eigenartig, welch klares, genaues Bild immer ihren Schwebezustand einleitete. Sodann fragte sie sich plötzlich, warum in all dieser Zeit des Wartens und Vorbereitens sie hauptsächlich von Frauen heimgesucht worden war, warum Frauen ihr Bewußtsein okkupierten, wie es nicht einmal der liebe Charles tat — Sybille, Ella, Daphne, Daisy, ja sogar Ann und die konfliktbeladene Harriet. Gab es hier vielleicht etwas Unbearbeitetes, nicht Ungebrochenes, wie
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ihre Beziehung zu Charles es gewesen war? Die nicht aufgearbeitet zu werden brauchte, worin sie ruhen konnte. Aber um was ging es wirklich? Dieses Okkupiertsein lag völlig außerhalb ihrer Sexualität. Vielleicht hatte es in Wahrheit mit ihr als Frau zu tun, als Frau in Beziehung zu sich selbst, nicht zu Männern. Warum dachte sie so selten an Pa? Manchmal stand er ihr ganz klar vor Augen, im allgemeinen wenn sie an die Sommer in Maine dachte. Pa, der ein Boot flottmachte, Pa, der in seinen Tennisflanellhosen so unglaublich gut aussah, Pa, der für kurze Besuche an ihr Krankenbett in die Schweiz kam, lächelte und sie liebevoll hänselte, ihr kleine Witze erzählte, verlegen, doch so warmherzig. Aber sobald sie Sybille vor Augen hatte, befand sie sich in einem Nebel. Nichts war klar, nicht einmal diese Schönheit, von der Jo so geschwärmt hatte. Denn es lag eine solche Verkrampfung in der Schönheit, die Sehnen an Sybilles Hals waren so angespannt — kein Wunder, daß sie unter Arthritis litt —, und nichts trübte ihren Blick, ein nacktes Strahlen. Im Krankenhaus hatte sie nicht gewollt, daß diese verblüffenden Augen auf sie herabblickten, denn weil sie flach auf dem Rücken lag, konnte sie ihnen nicht ausweichen. Laura warf ihren Kopf auf dem Kissen von einer Seite zur anderen und versuchte, den Strom, auf dem sie trieb, zu stoppen, den gefährlichen, der sie zu einer gewissen Angst führte, sobald sie das verwirrende Bild Sybilles vor sich sah. Vielleicht lag es daran, daß Sybille so wunderschön war — Laura konnte sie vor sich sehen, ihren Kopf über ein Buch gebeugt, am Bettrand sitzend, diese herrliche, betörende Stimme, die Descartes und Pascal und Péguy las. Damals hatte sich Laura für die langen Passagen von Péguy am meisten begeistert. Sybille hatte Lyrik lesen wollen, doch das konnte Laura nicht ertragen. In jenen zwei Jahren konnte sie sich sehr viel Gefühl einfach nicht leisten. Und wenn ihre Mutter Gedichte las, kam es ihr vor, als würde sie geistig vergewaltigt, anders ließ sich das nicht
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ausdrücken. Sie mußte irgendwie eine Wand zwischen sich und Sybille aufrechterhalten. Wären sie damals miteinander verschmolzen, so wäre Laura untergegangen, verrückt geworden, hätte tatsächlich sich selbst verloren, das wußte sie. Die ständige Gegenwart, die Bewachung — ach, es war kein Engel, der sie bewachte! Ebensowenig war es ein Engel, der Jo von ihrer Leidenschaft zu Alicia abschnitt. Was war Sybilles wirkliche Motivation? Warum konnten sie nie haben, was sie wollten? Was war das Tabu? Mit dreizehn wollte Daphne so schrecklich gern die Erlaubnis, in eine Schule zu gehen — das wurde ihr nicht gestattet. Lauras Vermutung nach mußte sich in Sybilles tiefstem Innern ein fester Konfliktknoten befunden haben, der Konflikt zwischen der eigenen leidenschaftlichen Natur und dem, was sie im Moment des Gebens genau davon abhielt. Bewußtsein? Oder was? Wie würde sie das je wissen? Sie und Sybille hatten nie so reden können wie sie und Daisy, und doch hatte auch Daisy sich kritisiert gefühlt, hatte ihre Mutter in gewisser Weise als Zensor betrachtet. Lag es zum Teil daran, daß Mütter um ihre Töchter mehr Angst haben als um ihre Söhne? Die Risiken, eine Frau zu sein, waren soviel größer, die Gefahr, in die Schlinge eines Lebens zu geraten, das sich keine so ganz und gar ausgesucht hatte — Daisy und Saul. Doch das erklärte kaum das Maß an Kontrolle, das ausgeübt wurde, als sie, Daphne und Jo Kinder waren. Ganz plötzlich war das Zimmer lichtüberflutet, als endlich die Sonne aufging, und Laura, die sie auf ihrem Gesicht spürte, ließ das Grübeln. Bald brächte Mary ihr eine Tasse Tee, und der Tag, der neue Tag, begänne. Dieser Tag brachte Blumen von Houghton Mifflin, von Dinah und einen warmen, bewundernden Brief von George, Lauras Verleger, worin er ihr mitteilte, daß sie einen Vertrag mit Harriet Moors abgeschlossen hatten und von dem Buch sehr begeistert seien und Laura für ihre Arbeit mit Harriet dankten. Er endete: „Wir alle hier im Verlag schätzen Ihr Wissen und Ihr gutes Gespür sehr. Wir werden Sie mehr vermissen, als ich sagen kann. Ich sträube
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mich dagegen, zu glauben, daß Sie nicht wiederkommen, deshalb werden wir eine Weile warten, ehe wir jemand mit den Sachen auf Ihrem Schreibtisch herüberschicken. Ich persönlich glaube an Phönixe.“ Laura legte den Brief beiseite. Sie wollte nicht darüber nachdenken, jedenfalls nicht über das Endgültige. Sich von ihrer Arbeit zu trennen fiel ihr anscheinend schwerer, als sich von Menschen zu trennen, da sie vermutete, daß das Aufgeben ihrer Arbeit ein Aufgeben im Kern ihres Selbst bedeutete, das enorme private Selbst, für das sie sie in erster Linie aufgenommen hatte. ,,Ich muß etwas Eigenes machen, das nichts mit dem Aufziehen von Kindern zu tun hat, Charles“, hatte sie erklärt. Und natürlich hatte Charles das verstanden. Aber sie legte den Brief auch beiseite, weil der Gedanke an Harriet Moors ihr einen Stich gab. Der Vertrag ist abgeschlossen. Gute Nachricht. Doch sie machte sich auch eine Vorstellung, was das gekostet hatte. Deshalb wandte sie sich nun dem dünnen blauen Umschlag aus England zu und öffnete ihn mit zitternden Händen. Er kam von so weit her und vermittelte solche Nähe. „Liebste Snab, in diesen Tagen bist Du in meinen Gedanken nie fern. Es ist nicht direkt ein An-Dich-Denken, sondern eher ein aufmerksames Bei-Dir-Sein. Und doch fällt es mir schwer zu schreiben. Es ist so merkwürdig zu wissen, daß Sybille noch lebt — aber nicht als sie selbst. Ich frage mich, ob es Dir gelingt, Deine Auseinandersetzung mit ihr klarzukriegen oder zu einem Ende zu bringen. Ich bin sicher, daß Du Dich mit ihr beschäftigst. Und es ist schrecklich, nicht zu wissen, zu welchen Schlüssen Du kommen wirst. Mutter hat noch immer ihre übliche zwanghafte Art und erweitert den Park in Fernwood, obwohl dort nicht genügend Gärtner sind, sie vergißt, welche Pflanzen sie bestellt hat, und wundert sich, wenn am nächsten Tag mehrere riesige, furchtbar teure Azaleen geliefert werden. Sie schert sich um absolut niemanden mehr, aber stichelt mich ständig, sobald ich sie sehe. Manchmal wünsche ich, meine ganze
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Verwandtschaft möge verschwinden. Glaubst Du, daß Menschen vollkommen frei agieren können, solange ein Elternteil noch lebt? Wie schaffen sie das?“ Hier mußte Laura lachen, es war die reine Freude, absolut verstanden zu werden und absolut zu verstehen. Ella, Ella, hätte sie am liebsten gerufen, komm! Statt den Brief zu Ende zu lesen, lag sie lächelnd da, und erst nach dem Mittagessen nahm sie ihn wieder auf. „Es kostet mich eine enorme Überwindung, nicht zu Dir zu fliegen, aber ich werde auf ein Wort von Dir warten, liebste Snab.“ Nachdem sie den ganzen Tag im Bett verbracht hatte, fühlte sich Laura soweit erholt, daß sie unten war, als Tante Minna um Punkt vier erschien. „Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, Liebling — welch ein Wochenende!“ Laura sah Tante Minna aufmerksam an. Die dunklen Ringe unter ihren Augen hoben den Glanz noch hervor, sie wirkten so glänzend wie die Augen eines Vogels und so unpersönlich. Eben das macht diese Besuche so angenehm, dachte Laura. Tante Minna hatte eine klare Rolle wie außer Mary praktisch keine andere Person, die Laura in diesen Tagen sah, eine Rolle, die sie gern spielte, wie es alle täten, die so gut vorlasen. „Gieß dir einen Tee ein, ja? Mary fühlte sich animiert, diese kleinen Törtchen für dich zu machen.“ „Köstlich“, sagte Tante Minna, die gierig eins verschlang, und eine Sekunde lang beneidete Laura sie, weil sie so genüßlich essen konnte, weil das Essen für sie nicht mit der Gefahr heftiger Übelkeit befrachtet war. „Jo ist bei uns eingefallen. Es war wirklich ein bißchen viel, weil Daisy auch hier war.“ „Die pflichtbewußte Schwester?“ „Für sie war es zweifellos eine ziemliche Sache, sich aus dem College loszueisen, eine so große Mühe, daß es ihr nicht in den Sinn kam, sie könnte nicht willkommen sein.“ „Phantasie ist nicht gerade Jos Stärke, nicht wahr? Na dann“, entgegnete Tante Minna, indem sie Jo beiseite schob, „aufgeht's.“ 190
„Du und Trollope, ihr seid meine beste Medizin“, sagte Laura. „Lesen wir also.“ Laura hörte zeitweilig nicht wirklich zu. Zeitweilig plätscherte Tante Minnas klare, herrliche Stimme dahin wie das Gurren der Turteltauben, aber es wurde immer wichtiger, diese gesellige, anspruchslose Stunde am Tag zu haben und sich in der schlichten Gegenwart dieser alten Frau entspannen zu können, die aus irgendeinem Grund imstande war, in diesem Zimmer zu sein, ohne so viel Atmosphäre zu vertreiben, daß Laura aus sich selbst, aus der eigenen immer enger werdenden Bahn gedrängt wurde. Jetzt ist da nur noch Ben, dachte sie... Tante Minna lachte plötzlich laut über irgend etwas, das Laura in ihrer Träumerei entgangen war. „Ist das nicht köstlich?“ fragte sie. „Du bist köstlich.“ Laura lächelte. „Na, ich wurde ja schon vieles genannt, aber ,köstlich' bisher noch nicht.“ Und Tante Minna gluckste. „Weißt du, mit dem Sterben ist das so eine Sache“, sagte Laura, die sich ein wenig aufsetzte, um den Druck in ihrer Brust zu mildern, „plötzlich kannst du nämlich unerhörte Dinge sagen — nur: zu wem soll man sie sagen? Mary O'Brien scheint ihren Spaß daran zu haben und du auch, liebe Tante Minna, denn du sprichst ja selbst das Unerhörte aus.“ „Ich?“ Tante Minna schloß das Buch in ihren Händen. „Ja, du. Also sag mir, warum diese Reise, die ich da mache, mich tiefer und tiefer zu dem führt, was es heißt, eine Frau zu sein? Komisch, nicht? Ich habe vorher nie viel darüber nachgedacht.“ „Laura, ich weiß so wenig darüber.“ „Oh doch, du weißt es.“ „Ich glaube, ich habe mein Leben außerhalb dessen gelebt, wozu ein Frauenleben bestimmt ist.“ Laura lehnte sich zurück, blickte zur Decke, suchte nach Worten, die eine Verbindung zwischen Tante Minna und dem, was ihr seit Tagen im Kopf herumging, herstellen könnte. „Ich glaube, daß wir uns, egal, wie originell
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und stark eine Frau auch gewesen sein mag — und das bist du zweifellos —, auf alle möglichen Stereotype haben festnageln lassen. Wozu ist eine Frau denn überhaupt bestimmt? Wir sehen die ,Bestimmung des Mannes' doch auch nicht in erster Linie als Ehemann und Vater, oder?“ „Weißt du, so habe ich das noch nie betrachtet!“ „Ich auch nicht“, sagte Laura, über sich selbst erstaunt. „Aber ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht. Ich wünschte, ich könnte es alles in meinem Kopf klarkriegen, bevor...“ „Eine Art Endbilanz ziehen, hm? Ich weiß nicht, ob das möglich ist. Meiner Erfahrung nach ist es so, daß gerade in dem Moment, wenn es scheint, als sei ich zu einem endgültigen Schluß gelangt, das Leben durch eine Wendung oder eine überraschende Einsicht alles über den Haufen wirft — wie bei dem, was du eben gesagt hast. Ich bin ganz aufgekratzt, weil mir gerade ein Licht aufgegangen ist, was es mit der Frauenbewegung in Wirklichkeit auf sich hat. Solch eine Kleinigkeit, und doch hat sie mir regelrecht die Augen geöffnet. Siehst du, ich habe mich immer für eine Exzentrikerin gehalten, für einen verirrten Fisch im abgelegenen Teich außerhalb der großen Gezeiten des Lebens — oh, ich habe es recht genossen, wie du weißt.“ „Ich weiß. Du hast beachtliche Wellen in dem Teich aufgerührt!“ „Aber ich hatte das Gefühl, als sei eine verheiratete Frau irgendwie...“ „Was?“ Tante Minna stieß ihr kurzes, selbstverächtliches, etwas trockenes Lachen aus. „Ist .angemessener' das richtige Wort?“ Jetzt mußte Laura laut lachen, im gleichen Moment krümmte sie sich und rang darum, den Hustenanfall unter Kontrolle zu bekommen. Alles außer dem flachen Atmen hatte mittlerweile fatale Folgen. „ Oh je.“ „Soll ich ein wenig weiterlesen?“ fragte Tante Minna. Es ließ sich nicht ändern, dachte Laura, daß ich keine
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Luft kriegen konnte. Und auch nicht, daß Tante Minna beunruhigt wurde. ,,Oh, verdammt“, murmelte sie, und der Schweiß rann ihr von der Stirn in die Augen. „Verdammt.“ Dann gelang es ihr, den Anfall zu stoppen. Schließlich konnte sie auf das Kissen zurücksinken. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Nichts da“, sagte Tante Minna scharf. „Bergsteiger ringen oft nach Luft — denk dran —, und wir haben dies als ein Erklimmen dessen gesehen, wohin du unterwegs bist, Laura.“ Erstaunliche Frau, dachte Laura. Sie ist wirklich die einzige Person, die ich ertragen kann. Und warum war das so? Weil Tante Minna ihre Gefühle fast völlig unter Kontrolle hatte, wenn Laura auch hören konnte, wie sie sich die Nase putzte. „Zweifellos wird es schlimmer“, murmelte Laura. „Aber ich wollte etwas sagen.“ „Ruh dich ein wenig aus“, sagte Tante Minna, „und ich werde dir eine halbe Stunde etwas vorlesen.“ Und das tat sie, während Laura mit geschlossenen Augen zuhörte oder halb zuhörte. Schließlich gelang es ihr, das zu formulieren, was sie sagen wollte. „Du hast so vielem Leben gegeben, Tante Minna. Geht es nicht darum? Ich rede nicht davon, wie eine Frau es tut, sondern daß sie es überhaupt tut. So langsam wird mir klar — und Jos Besuch hat es mir irgendwie bestätigt —, daß Frauen auf eine verrückte Weise in einer Männerwelt voneinander isoliert worden sind. Das war die Perspektive. Jo empfindet sich als Mann. All das verändert sich nun, und vielleicht werden die Frauen imstande sein, einander sehr viel mehr zu geben als je zuvor.“ Tante Minna schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: „Du hast einen recht hohen Felsen erklommen, nicht wahr?“ „All die Zärtlichkeit, die aus Angst zurückgehalten wurde.“ „Du überraschst mich, Laura.“ Tante Minna saß ker193
zengerade in ihrem Sessel und machte plötzlich einen etwas verschlossenen Eindruck. „Natürlich weiß ich davon nichts“, fügte sie abwehrend hinzu. „Diese ganze emotionale Angelegenheit konnte ich nie ausstehen. Als ich im College war, hatte sich ein Mädchen namens Alice ziemlich in mich verguckt — so nannte man es früher. Das gefiel mir ganz und gar nicht“, sagte sie heftig. „Es war mir äußerst unangenehm. Dämlich fand ich das.“ Laura lächelte. „Ja, das glaube ich.“ „Das Ganze liegt ziemlich außerhalb meiner Sphäre.“ „Aber ich rede nicht von ,dem Ganzen'“, sagte Laura, die sich jetzt über Tante Minnas vehemente Abwehr amüsierte. Als Tante Minna gegangen war, grübelte sie noch lange. Ihre Mutter, Jo, Daphne, Daisy — alle Frauen standen irgendwie, irgendwo still... in gewisser Weise vermutlich „unerfüllt“. Doch den allumfassenden Grund aufzuspüren ging über ihre Kräfte. Als Mary O'Brien mit einem Eierflip zum Abendessen hereinkam, war Laura eingeschlafen.
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19 Die nächsten Tage waren die Hölle. Jim Goodwin kam und punktierte die Lungen wieder, diesmal saugte er noch mehr von dieser entsetzlichen Flüssigkeit ab. Daraufhin konnte Laura in den nächsten vierundzwanzig Stunden recht gut liegen und bis morgens um vier schlafen. Tante Minna hatte sich eine Erkältung zugezogen und konnte nicht zum Vorlesen kommen. In diesen Tagen gab es keine Musik im Haus, lediglich Grindles Pfoten tappten die Treppe auf und ab und unterbrachen die gesegnete Stille. Laura war sicher, sie hätte Anns Stimme in der Diele gehört, die sich murmelnd mit Mary O'Brien unterhalten hatte. Einige Male läutete das Telefon, doch Laura ließ Mary herangehen. Sie hatte keine Schmerzen, spürte aber eine zunehmende Trübung, als würde in ihrem Innern ein Licht heruntergedreht, als wäre der Schlaf ihre einzig wahre Atmosphäre, in die sie flach atmend eintauchte wie in tiefes Wasser. Mittlerweile war es Frühling geworden, denn Mary hatte eine Glasvase mit drei Narzissen neben sie ans Bett gestellt, und die Ahornblüten warfen tanzende Schatten an die Wand. In der Dämmerung hörte sie ein einziges Mal einen Pirol. Der Pirol hatte immer die Ankunft des Frühlings besiegelt, sein trällerndes Lied markierte nicht nur die Wiedergeburt einer Jahreszeit, sondern stets auch die Lauras. Diesmal murmelte sie: ,,Du wirst zwar wiederkommen, aber dies ist meine letzte Möglichkeit, dich zu hören, Vogel.“ Sie wartete auf Marys Kommen, die so ruhig und fürsorglich war, doch hatte sie überhaupt nicht den Wunsch, jemand sonst zu sehen. Sie war nicht überrascht, als Jim Goodwin wiederkam, sich an ihr Bett setzte, ihre Hand
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mit einem warmen, tröstlichen Griff umschloß und erklärte, daß ihm wohler sei, wenn sie für einige Tage ins Krankenhaus käme. Wozu? In ihrem benommenen Zustand fragte Laura nicht. Sie nahm an, daß er sich noch einmal versichern mußte, daß nochmaliges Röntgen ihm darüber Aufschluß gäbe, wie die Sache stünde, daß er ihr womöglich andere Medikamente verschriebe, um dafür zu sorgen, daß sie keine Schmerzen hatte. Es verstand sich von selbst, daß Menschen für das Leben kämpften, und sie fragte sich, warum eigentlich. Sie war nun auf halbem Weg in diesem langen Tunnel — ein Umkehren, wieder leben zu lernen, schien fast unmöglich. Doch war es möglich, sogar akzeptabel, zu sterben. „Gut, Jim, wenn Sie es sagen.“ „Es ist Ihnen so gutgegangen, dieser plötzliche Abfall kommt ein wenig überraschend. Mary glaubt, es liegt daran, daß Sie zuviel Besuch hatten, deshalb bin ich der Ansicht, wir sollten im Krankenhaus keinen Besuch gestatten.“ „Ben“, sagte Laura und setzte sich etwas auf. „Wenn Ben kommt, muß ich ihn sehen.“ „Vielleicht wird er erst kommen, wenn Sie wieder zu Hause sind.“ „Sie werden mich nicht im Krankenhaus sterben lassen, nicht wahr?“ „Ich habe Ihnen den Frühling versprochen, stimmt's?“ sagte Jim jetzt und lächelte scherzhaft. Bisher wirkte er zu besorgt, um zu lächeln. Als er ihre Hand sinken ließ, hatte sie das Gefühl, als höre eine Bluttransfusion oder die einer belebenden Flüssigkeit auf. „Ich werde fragen, ob ein Zimmer frei ist, und wenn ja, wird der Krankenwagen am frühen Nachmittag hiersein.“ „Können Sie mitkommen?“ Jim runzelte die Stirn. „Ich sehe nicht, wie ich das schaffen kann. Ich habe Termine in der Praxis. Glauben Sie, daß Ann und Brooks Sie vielleicht hinbringen könnten?“
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Lauras Widerstand gegen diese Möglichkeit war so groß, daß sie nicht antworten konnte. Nun kam, was sie die ganze Zeit am meisten gefürchtet hatte, was sie akzeptieren lernen mußte: völlige Abhängigkeit. Verärgert über die Träne, die ihr über die Wange rollte, über ihre Schwäche, setzte sie sich auf. „Laura“, sagte Jim ruhig und bestimmt. „Ich finde, Sie müssen Ihre Familie jetzt zulassen.“ Doch ehe sie reagieren konnte, setzte er sich wieder und hielt ihre Hand. „Ich werde gegen sieben auf meinem Heimweg hereinschauen und nachsehen, ob Sie wohlauf sind. Und wir werden für morgen einen Röntgentermin ansetzen. Ja?“ Aber ohne Mary, ohne Jim in dieser fremden Welt, wie könnte sie das schaffen? Wäre sie imstande, dort zu schweben? Doch Mary nahm ihr diese Ängste. Sie kam herein, warf einen Blick auf Laura und sagte: „Sie werden in drei Tagen wieder zu Hause sein, meine Liebe. Es dauert ja nicht lange.“ „Ach, Mary, ich will nicht dahin.“ Mary richtete Laura auf, so daß sie die Kissen hinter ihr hochziehen konnte, und bei dieser vertrauten, geschickten Berührung schloß Laura die Augen und sank zurück. „So, das ist besser, nicht?“ „Danke, Sie sind die einzige, die's wirklich versteht.“ „Ich verstehe nichts davon“, sagte Mary mit ihrem seltenen schüchternen Lächeln. „Aber ich bin hier, also gebe ich acht.“ Laura öffnete die Augen und sah geradewegs in Marys. Keine von beiden hatte gewollt, daß es zu diesem Blick käme, aber Laura konnte dem tiefen Mitgefühl nicht ausweichen, das sie wie Engelsbalsam überflutete. Sie hatte bereits seit Tagen ihre Gefühle ausgeschaltet. Sie konnte kaum damit umgehen, daß sie nun zurückkehrten. „Warum geht es mir so viel schlechter, Mary?“ „Sie husten nicht mehr soviel, das ist eine gute Sache.“ , Ja, aber ich fühle mich so matt.“ „Gleich bringe ich Ihnen eine Brühe, mal sehen, ob Sie
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vielleicht ein paar Schlucke hinunterbringen. Brooks wird kommen und mitfahren, Brooks und Ann. Sie werden Kraft brauchen.“ „Ich möchte nicht, daß sie mich so sehen.“ Laura schluckte und bemühte sich, die nun aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. „Meine Haare...“ „Aber, aber“, sagte Mary brüsk, „Sie sehen prima aus in Anbetracht dessen, daß Sie verhungern. Ihre Haut ist wie die eines Babys. Sie sind eine schöne Frau, wenn Sie mich fragen.“ „Wohl kaum“, entgegnete Laura mit trübem Lächeln. „Aber schließlich wollte ich nie eine sein — komischerweise. Meine Mutter... sie war eine echte Schönheit.“ „Ich habe ihr Foto gesehen. Sie sieht aus wie eine Königin.“ „Ich wollte nie diese... diese gelackte Schönheit.“ „Jetzt erschöpfen Sie sich nicht mit Reden. Sagen Sie mir, was ich Ihnen fürs Krankenhaus einpacken soll.“ „Ach, was immer Sie für richtig halten — meinen blauen Morgenrock, Pantoffeln, ein frisches Nachthemd, Bürste und Kamm, Zahnbürste. Ein kleiner Koffer steht auf dem Regal im Schrank.“ Laura sah zu, wie Mary schweigend packte. Es war ein beruhigender Anblick, denn sie tat es so still und faltete alles mit solcher Sorgfalt. „Das war's“, sagte sie dann, „vielleicht möchten Sie noch ein oder zwei Fotos von der Kommode mitnehmen?“ Laura schüttelte den Kopf. Keine Fotos. „Ein Buch? Das kleine Transistorradio an Ihrem Bett?“ „Ja... und George Herberts Gedichte, obwohl ich bezweifle, daß ich lesen kann, aber der Gedanke an Herbert hilft mir.“ Mary entdeckte das Buch auf dem Nachttisch und hielt es einen Moment in der Hand. „Er ist ein Dichter, nicht wahr?“ „Ein religiöser Dichter“, sagte Laura. „Nun ja“, Mary legte es oben auf den Koffer. Dann fragte sie etwas, das ihr vielleicht seit längerem schon im
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Kopf herumging. „Der Pfarrer hat Sie noch nicht besucht — das wundert mich.“ „Ja.“ Laura lehnte sich zurück und blickte zur Decke: als stünde dort womöglich eine heilige Botschaft, dachte sie mit einem heimlichen Lächeln. „Allerdings bin ich nicht wirklich gläubig, wissen Sie. Für mich war Gott immer abwesend.“ „Ich verstehe nicht, wie Sie ohne ihn so tapfer sein können“, sagte Mary, dann schloß sie den Koffer und sah aus dem Fenster. „Ich bin sicher, das könnte ich nicht.“ „Ich versuche, mich als Teil von etwas zu empfinden — von etwas, das größer ist als ich, woran ich mich halte, Mary.“ „Wenn das nicht Glaube ist!“ sagte Mary im Gehen. „Ich komme nachher wieder. Schlafen Sie.“ Laura schlief nicht, doch ohne ihre Lage im geringsten zu verändern — sie blickte noch immer zur Decke —, geriet sie plötzlich ins Treiben, und das war in letzter Zeit nicht geschehen. In ihrem Kopf hörte sie ganz deutlich den vierten Satz des Requiems von Brahms, den sie vor ihrer Krankheit in der Schule immer gesungen hatten. „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth.“ Sie dachte daran, daß es ihr damals als die schönste Musik erschienen war, die sie je gesungen hatte, obwohl ihre Mutter, als sie das sagte, sie natürlich eines Besseren belehrte. „Brahms“, hatte sie gesagt, „ist nie ganz erstklassig, nicht wahr?“ Immerhin mußte sie zugeben, daß Sybilles Vortrag von Herbert, früher, als sie noch sehr klein waren, kürzlich einen solchen Nachhall bewirkt hatte. Wie war es nur möglich, aus einem so komplizierten Geflecht einen Faden herauszuziehen? Im Augenblick beließ es Laura dabei und dachte an den Gesang, erinnerte sich daran, wie sie von dieser herrlichen Musik davongetragen worden war. Sie hatte sie berauscht wie Liebe, mit einem scharfen Schmerz, der ihr ganzes Sein betraf. Sie wandte den Kopf, so daß sie sehen konnte, wie die Sonne durch die Narzissen fiel und den fleischigen Blütenblättern eine Transparenz verlieh, leben-
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diger noch als Buntglas. Brahms und die Narzissen — Leben — Leben. Erst das Leben als reine Betrachtung und dann Leben in Form einer Tasse Brühe, etwas, das sie erbrechen mußte! „Hier, pressen Sie das an Ihre Stirn“, sagte Mary, als Laura in ihrem Badezimmer über dem Becken würgte. „Sie haben sich zu sehr aufgeregt, weil Sie fortmüssen“, murmelte sie. „Keine Angst. Der Frühling wird Sie erwarten, wenn Sie zurückkommen.“ Nach dem Erbrechen war Laura schließlich so erleichtert, wieder im Bett zu sein, daß sie einschlief; und als sie aufwachte, wurde es Zeit, daß Mary ihr in ein frisches Nachthemd half und in einen leichten wollenen Morgenrock und Pantoffeln. Sie hatte unten sein wollen, wenn der Krankenwagen kam, doch Mary war unerbittlich. Brooks und Ann standen in der Tür. „Hallo“, sagte Brooks. Er warf ihr einen raschen, gehetzten Blick zu. Ann kam sogleich herein, küßte sie, und dann standen auch schon die Männer mit der Krankentrage da. Wie ein Baby wurde sie hinaufgehoben und festgeschnallt. „Ist es Ihnen so angenehm, nicht zu fest?“ Laura sah in ein sehr junges, ernstes Gesicht und dunkle Augen. „Danke, ja, mir geht's prima.“ Dann fügte sie scherzend hinzu: „Ich schätze, ich werde nicht abspringen können, oder?“ „Schätzungsweise nicht“, sagte er steif. Der Scherz, wenn es einer war, ging ins Leere. „Na dann, gehen wir“, sagte der ältere Mann. Laura konnte ihn nicht richtig sehen, denn er hatte ihr bereits den Rücken gekehrt und hob das Fußende hoch. Und es war wirklich erstaunlich, wie geschickt sie sie um die Biegung des Treppengeländers und die Treppe hinunter trugen, so daß der Abstieg nur sekundenlang leichten Schwindel erregte, dann durch die offene Tür in die herrliche Frühlingsluft. „Ach, bitte, warten Sie einen Moment“, sagte Laura impulsiv. „Der Apfelbaum steht in Blüte!“
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Sie sah sie vorbeiziehen, eine rosige Masse, ein Baldachin aus Rosa und Weiß, und dann wurde sie behutsam in den Krankenwagen geschoben. „Soll ich mit dir fahren, und Brooks folgt uns mit dem Auto?“ „Ja, gut.“ Mary stand in der Haustür und winkte kurz. Und mit Ann zu ihren Füßen auf einem niedrigen Sitz und den hochgezogenen Jalousien, so daß sie aus diesem komischen Vehikel hinaussehen konnte, glitt Laura bereits wie in einer fliegenden Gondel dahin. „Alles ist so herrlich“, sagte sie, als sie an einer Apfelplantage vorbeikamen, dann an blühenden Kirschbäumen, an einem Wald, das Grün noch so frisch und glänzend; alles kam ihr vor wie eine Welt aus buntem Glas. „Ist das schön“, murmelte sie. „Sieh mal, die Ruderer sind draußen!“ sagte Ann, sobald sie die Biegung am Fluß entlangfuhren, und schon tauchten zwei Einer-Rennboote auf, deren lange Ruder sie flußabwärts trieben. „Warum kommt mir das eigentlich immer so griechisch vor?“ fragte Laura. „Ich glaube nicht, daß die Griechen Einer hatten.“ „,Die jungen Männer, alle so schön', ist es das?“ „Könnten wir jetzt doch bloß umkehren und heimfahren“, sagte Laura mit einem Lächeln. „Bisher war es ein ganz hübscher Ausflug.“ Sie verstummten, als nun der Krankenwagen die Landstraße verließ, durch die schmutzigen Straßen der Stadt rollte und am Massachusetts Memorial Hospital vorfuhr. Laura schloß die Augen. Schon der Anblick war erschrekkend, kalt, ein Gefängnis für die Kranken. „Ann, bleib bei mir“, sagte sie. „Natürlich. Deshalb sind wir ja hier. Wir werden dich doch nicht in Stich lassen, liebe Laura.“ Voller Angst, die ihr durch und durch ging, wurde Laura bewußt, daß sie ihre Hilfe wünschte. Das mußte sie zugeben. An diesem entsetzlich unpersönlichen Ort. Sie haßte
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den Gedanken, daß der junge Mann sie nun verließ. Schon wurde sie von der Krankentrage auf ein Rollbett gehoben. „Auf Wiedersehen“, rief sie, und der junge Mann drehte sich um und winkte. „Viel Glück“, sagte er lächelnd. Als er durch die Tür ging, kam Brooks herein. „Ganz ruhig, Mutter. Du weißt ja, wie Krankenhäuser sind. Womöglich dauert es eine Weile, bis wir wissen, wohin du kommst.“ Ann stand neben dem Rollbett und hielt Lauras Hand. „Es ist gut, daß du das tust“, sagte Laura. Dann schloß sie die Augen. Eine Stimme tönte aus dem Lautsprecher: ,,Dr. Warner, Dr. Warner.“ Vorbeischlurfende Schritte, gedämpfte Stimmen, das Klappern einer Schreibmaschine. Laura hatte das Gefühl, als befände sie sich im Mittelpunkt einer riesigen, leeren Welt, im Zentrum der Einsamkeit zwischen fremden, geschäftigen Geräuschen. Und sie war furchtbar müde. „Ann, ist mein Koffer da?“ „Gleich hier, Laura.“ „Mutter, wir brauchen deine Krankenversicherungsnummer.“ Brooks kam von irgendwoher, sehr geschäftsmäßig und ruhig. „Sieh in meiner Brieftasche nach, Ann. Ich glaube, sie muß da zwischen den Kreditkarten sein.“ Laura war der Schweiß ausgebrochen — Papiere, Dinge, die man haben mußte! Sie hatte sich mit alldem nicht befaßt. Sie hatte sich in die Klinik verfrachten lassen ohne den geringsten Gedanken an diese notwendigen Vorbereitungen. „Hier, ich habe sie“, sagte Ann triumphierend. „Danke, ich bin gleich zurück.“ Und wirklich, kurz darauf kam Brooks mit einem Krankenpfleger zurück, um das Rollbett zu Zimmer 103 in den fünften Stock zu transportieren. Sie wurde in einen riesigen Fahrstuhl geschoben, Brooks und Ann an jeder Seite. Brooks trug jetzt den Koffer. Im Fahrstuhl standen zwei Krankenschwestern und ein Assistenzarzt. Sie redeten laut und lästerten über das Kan-
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tinenessen. Es war, als existiere Laura auf ihrer Bahre überhaupt nicht. Die Stimmen taten ihren Ohren weh. „Es wäre schließlich möglich, daß ich im Sterben liege“, dachte sie. „Können Sie denn nicht still sein“, flüsterte Brooks wütend. „Meine Mutter ist sehr krank.“ „Oh, Verzeihung“, sagte der Assistenzarzt. Laura öffnete die Augen und nahm seine hochgezogenen Augenbrauen wahr und ein unterdrücktes Kichern von einer der Schwestern und haßte sie. Der Fahrstuhl kroch von Stockwerk zu Stockwerk, eine endlose Fahrt jetzt in völligem Schweigen, ein verklemmtes Schweigen, dessen gleichgültige Verstimmung sich auf Laura richtete, das spürte sie. Was kümmert es sie schon? dachte Laura. Ich bin lediglich ein weiterer Körper, der umhergekarrt und an dem herumgedoktert wird. Warum habe ich mich bloß von Jim überreden lassen? So in die Falle zu tappen. Weit im Hintergrund eines unendlichen Tunnels tauchte das Bild des blühenden Apfelbaums in ihrem Garten auf, und an der Tür winkte Mary. Würde sie sie je wiedersehen? „Na, endlich!“ seufzte Ann, als Laura in den Flur und in ihr Zimmer geschoben wurde. „Es ist ein Einzelzimmer, Gott sei Dank.“ „Und du hast einen Blick auf ein paar ziemlich triste Dächer“, fügte Brooks hinzu. „Aber zumindest ist da ein wenig Himmel.“ Ann packte bereits den Koffer aus. Sie nahm das Transistorradio heraus, stellte einen Sender mit klassischer Musik ein und legte es neben Laura unter das Kopfkissen. , Jetzt, da ich hier ein Versteck habe, wird mit mir alles in Ordnung sein“, sagte Laura. „Es war nur dieses schreckliche Gefühl, als man uns in der Halle stehenließ!“ „Sicher“, sagte Ann. „Möchtest du, daß wir hierbleiben, bis sie sich um dich gekümmert haben?“ fragte Brooks. Laura bemerkte, daß er sie nie ansah und jetzt aus dem Fenster auf die über das Dach rennenden Tauben starrte. „Brieftauben,
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das sollte mich nicht wundern“, sagte er. „Was ist mit deinem Abendessen?“ fragte Ann. Im Bann des Krankenhauses fühlten sich alle steif und befangen. ,,Daran zweifle ich. Aber ich kann ohnehin nicht viel essen. Es spielt keine Rolle.“ Eine junge Schwester in gestärktem Weiß eilte mit einem Thermometer herein und fühlte Lauras Puls, während sie wartete. Laura war dankbar, daß sie nicht plauderte. „In einer kleinen Weile wird jemand kommen und Ihnen einige Fragen stellen. Kann ich irgendwas tun, damit Sie sich wohler fühlen, Laura?“ Laura wand sich bei dem Vornamen, schließlich kannte sie diese Person überhaupt nicht, aber sie erhaschte Anns Blick, und sie lächelten, denn Ann wußte vermutlich genau, was sie dachte. Als die Schwester gegangen war, sagte Ann: „Diese ewigen Vornamen! Ich schätze, sie wollen den Patienten das Gefühl vermitteln, als seien sie alle eine große Familie.“ „Nun ja“, Laura dachte darüber nach. „Mir fiel auf, daß Jim Goodwin anfing, mich Laura zu nennen, als es mir sehr schlecht ging — im Krankenhaus werden die Menschen zu Kindern, glaube ich.“ Laura schloß die Augen und fürchtete, wieder einen Hustenanfall zu bekommen. „Vielleicht geht ihr jet zt lieber“, stieß sie hervor. „Wirst du auch klarkommen?“ fragte Ann an der Tür. „Versuch zu schlafen.“ „Ich komme schon klar. Jim hat versprochen, um sieben hereinzuschauen.“ ,,Na gut, ich glaube, dann gehen wir wohl besser nach Hause“, sagte Brooks. „Nur noch eins“, fiel Laura plötzlich ein. „Wenn Ben kommt, möchte ich ihn sehen.“ , Jim Goodwin hat uns gesagt, keinen Besuch“, entgegnete Brooks. „Ich hab's ihm gesagt — Ben.“ „Es ist schon gut“, mischte sich Ann ein. „Keine Sorge.“
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„Warum ist Ben nicht gekommen? Wir haben ihn bereits vor Wochen angerufen.“ Brooks klang verärgert. „Er malt ein Bild fertig. Ich habe ihn gebeten, es erst zu Ende zu bringen“, erklärte Laura. „Oh, mein Gott“, sagte Brooks mit zusammengebissenen Zähnen. „Komm jetzt, Brooks.“ Ann zog ihn am Arm. „Schon gut“, sagte er unwirsch. „Du ruhst dich jet z t aus, liebe Laura.“ Und dann waren sie endlich fort. Zorn war zweifellos etwas, womit Brooks schwer umgehen konnte. Doch Laura wußte mehr denn je, daß ihr Instinkt, die Familie auf Distanz zu halten, einen Grund hatte. Deren Angst konnte nur auf sie zurückschlagen, und dagegen hatte sie jetzt keinen Schutz. Sie war erschöpft und verkrampft. Keine Möglichkeit, ein wenig zu dösen. Es war zu laut, und das kurz angestellte Radio gab nur quäkende Musik von sich, so daß sie hellwach dalag, wartete und recht froh war, als ein Assistenzarzt mit Block und Kugelschreiber hereinkam und sich gegenüber in den Sessel setzte. „Wie alt sind Sie, Laura?“ „Sechzig.“ Während er die Routinefragen stellte und sie antwortete, betrachtete Laura ihn: ein dürrer, gehemmter junger Mann mit seltsam langem Hals und hervorstechendem Adamsapfel. Er wirkte etwas mickrig, was Laura zu ihm hinzog — mit seinen buschigen Augenbrauen und den kleinen grauen Augen hinter einer riesigen runden Brille ähnelte er ein wenig einer aufgeplusterten Eule. Natürlich hatten die Fragen lediglich mit Krankheit zu tun. Wenn er damit fertig wäre, wüßte dieser junge Mann alles über ihre Jahre im Sanatorium, über ihre Hysterektomie und über ihre befallenen Lungen — und sonst wüßte er nichts. Laura stellte überrascht fest, daß es sie drängte, eine Beziehung auf einer anderen Ebene herzustellen. In der Klinik wird eine Person auf den Körper reduziert, ihre Geschichte ist die Geschichte ihres Körpers, und vielleicht
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ist das der Grund, daß sich tief in einem Menschen etwas regt, ein wenig wie eine kleine Spinne, die verzweifelt nach einer Ecke sucht, in der sie ein Netz spinnen kann, das Gewebe persönlicher Beziehungen. Und doch hatte sie gedacht, sie hätte dies hinter sich und persönliche Beziehungen seien unwichtig geworden. „Sie sehen aus, als könnten Sie eine Nacht ordentlich Schlaf gebrauchen, Doktor.“ „Wirklich?“ Er warf ihr ein schüchternes Lächeln zu. „Die Sache ist die, daß ich sechsunddreißig Stunden Bereitschaftsdienst habe und dies meine letzte Stunde ist. Hier ist ziemlich viel los gewesen.“ Dann nahm sie seinen Blick wahr, zum erstenmal ein persönlicher Blick. „Sie sind Patientin von Dr. Goodwin.“ „Er ist ein alter Freund der Familie. Sein Vater war der Arzt meiner Mutter.“ „Das ist ja großartig“, sagte der junge Mann. „Sie sind in guten Händen.“ „Ich wollte überhaupt nicht herkommen, aber er hat mich überredet. Natürlich sterbe ich.“ Und als Laura sah, wie der junge Mann sich wand, fragte sie rasch: „Wie heißen Sie?“ „Dr. Edwards. John Edwards.“ „Sagen die Leute nicht öfter, daß sie sterben, Dr. Edwards?“ Jetzt kam ein Anflug von Lächeln zum Vorschein. „Ja, doch das bedeutet nicht, daß es so ist, wissen Sie. Ich habe schon Patienten überleben sehen, bei denen nicht die geringste Hoffnung zu bestehen schien.“ „Der Lebenswille.“ Laura seufzte tief. „Das ist so merkwürdig.“ „Fest verwurzelt“, sagte Dr. Edwards. Er stand auf. „Tut mir leid, aber ich muß gehen. Ich muß noch drei andere Patienten aufsuchen.“ Um ihre Arbeit zu tun, konnten sie es sich zweifellos nicht leisten, mit der Seele eines Patienten in Berührung zu kommen. Immer gab es diesen Ausweg. Laura sah auf ihre Uhr. Erst vier, und es dauerte noch Stunden, bis Jim
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käme. Sie versuchte wohl besser, zur Ruhe zu kommen. Doch genau die ließ man ihr nicht. Eine andere Schwester erschien zur Blutabnahme, und Laura reagierte heftig auf das Punktieren. Sie war außer sich, daß ihr Körper, so schwach wie er war, auf diese brutale Weise attackiert wurde. „Kommen Sie, Laura, das ist ja nicht schlimm“, fuhr die Schwester sie an. „Ich bin so müde“, sagte Laura und schämte sich, daß sie sich wie ein Kind benahm. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Da... sehen Sie, es ist schon vorbei.“ Laura versuchte, sich auf die Seite zu drehen, und bekam einen schrecklichen Hustenanfall, den ersten, seit sie im Krankenhaus war. Augenblicklich hielt die Schwester sie mit offensichtlichem Geschick. Schweiß rann Laura über die Wangen. Und dann war er endlich vorbei. „Ich habe nach einer anderen Schwester geläutet“, sagte die Schwester, als sie hinausging. Aber es kam keine Schwester, und Laura war recht froh darüber. Sie lag still da und spürte, wie ihr Herz klopfte. Ich bin wirklich so krank, dachte sie, warum mußte Jim mir das antun? Einige Minuten später wurde ein Apparat mit zwei daran hängenden Flaschen hereingerollt. „Was ist denn das für ein Ding?“ flüsterte Laura. „Intravenöse Transfusion.“ „Oh.“ Laura zog sich tief in sich selbst zurück, als sie die Injektion bekam und der Schlauch festgeklebt wurde. Das müßte Jim entfernen, sobald er käme. Aber im Moment lag ihr nicht daran, zuzusehen, wie das Leben tröpfchenweise in sie sickerte. Sie wandte den Kopf ab. „Vielleicht möchten Sie etwas flacher liegen? Soll ich Ihnen das Bett herunterstellen?“ „Nein, danke. Ich habe Angst, daß ich husten muß.“ „Kann ich sonst noch was für Sie tun?“ „Schieben Sie bitte den Orangensaft näher, damit ich ihn erreichen kann.“
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Es war dieser Mangel an Einfühlungsvermögen, der Krankenhäuser zu einer solchen Elendsmaschinerie machte, dachte sie. Da hast du Orangensaft, aber Leute, die in Eile sind, stellen ihn außerhalb deiner Reichweite, Leute, die sich nie wirklich in die Patienten hineinversetzen. Ein Patient ist lediglich ein Rädchen in der Maschinerie. Laura hatte Angst gehabt, herzukommen, aber sie war erstaunt, wie rasch all die Schrecken begannen. Jemand auf der anderen Seite des Ganges hatte im Fernsehen eine Seifenoper angestellt. Sie konnte zwar die Worte nicht hören, doch verhinderte das ständige Gebrabbel, daß sie zur Ruhe kam. Da waren noch andere Stimmen, Leute, die Patientinnen nebenan besuchten. Warum die Leute wohl offenbar immer ihre Stimmen erhoben, wenn sie sich verabschiedeten? Laura drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, um eine erträgliche Lage zu finden. Sie trank einen Schluck Orangensaft, der tatsächlich unten blieb. Danach mußte sie eingenickt sein, denn als sie spürte, daß sie jemand ansah, schlug sie die Augen auf, und Jim Goodwin war da. ,,Oh“, seufzte sie. „Jim.“ „Sie haben ein wenig geschlafen.“ Er lächelte. ,,Das ist schon eine Leistung in diesem lauten Haus.“ Er zog einen Stuhl heran und setzte sich dicht ans Bett. Laura war so froh, ihn zu sehen, daß sie fast die intravenöse Transfusion vergaß, doch dann sah sie den durchsichtigen Schlauch und die Flaschen. „Es war nicht so einfach, ein Einzelzimmer zu bekommen“, fuhr er fort. „Sie wissen, daß Sie die Tür schließen können. Dagegen gibt es keine Bestimmungen.“ „Gut“, murmelte sie. „Schließen Sie sie, wenn Sie gehen.“ „Morgen um neun ist Ihr Röntgentermin. Wenn das erledigt ist, werden wir etwas mehr wissen. Und während Sie hier sind, werden wir Ihre Lungen punktieren. Das sollte die Sache erleichtern. Wie ich sehen kann, fällt Ihnen das Atmen schwer.“
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Während Jim so freundlich über diese faktischen Dinge redete, fühlte sich Laura etwas weniger schutzlos, wie durch das mitfühlende Interesse belebt, aber selbst als sie diesen Trost spürte, sträubte sie sich gegen die Wirkung, die sie zum Weinen brächte. „Ich fühle mich so erledigt, Jim“, sagte sie. „Ich werde Ihnen etwas verordnen, das sie nachts richtig schlafen läßt. Außerdem wird die Transfusion morgen zu wirken beginnen.“ „Ich wünschte...“, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken und wurden ein demütigendes Schluchzen. Sie wandte den Kopf ab. „Sie hatten einen schweren Tag“, sagte Jim und hielt ihre Hand warm umfaßt. „Versuchen Sie nicht, zu reden.“ Aber sie mußte das aussprechen, was mit ihrer Integrität als Person zu tun hatte. „Jim, Sie haben's versprochen.“ „Was habe ich Ihnen versprochen? Ich weiß, daß ich Ihnen versprochen habe, Sie würden den Frühling sehen, und ich wette, Sie haben es genossen, auf Ihrem Weg hierher die Bäume in Blüte zu sehen, nicht wahr?“ , Ja“, Laura lächelte. „Das habe ich.“ „Ich wette, Mary wird eine Möglichkeit finden, daß Sie draußen liegen können, wenn Sie nach Hause kommen. Haben Sie nicht noch irgendwo eine Chaiselongue?“ Jetzt beschwatzte er sie, aber Laura würde sich von seiner Freundlichkeit und Phantasie nicht einlullen lassen — noch nicht. Wenngleich es sie enorme Mühe kostete, setzte sie sich ein wenig auf und sah ihm in die Augen. „Ich möchte, daß diese Flaschen weggeschafft werden“, sagte sie. Sie bemerkte, wie sich in Jims klaren Augen die Pupillen weiteten. Dann senkte er den Kopf und starrte auf seine Hand, die ihre umfaßt hielt. „Laura, ich glaube nicht, daß ich das tun kann.“ „Sie haben mir versprochen, mich auf meine Weise sterben zu lassen.“ „Ich tue nichts weiter, als es Ihnen etwas angenehmer zu machen. Die Transfusion wird das, was in Ihren Lun-
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gen vor sich geht, nicht hinauszögern, Laura. Es ist hauptsächlich Wasser mit etwas Glukose. Sie werden sich ein bißchen weniger erschöpft fühlen, das ist alles, und das Trockenheitsgefühl im Mund läßt nach. Sie sind ausgetrocknet.“ Laura lehnte sich zurück und dachte darüber nach. „Vielleicht haben Sie recht. Ich muß Ben noch sehen — möglicherweise kommt er, solange ich hier bin. Aber hoffentlich nicht“, fügte sie hinzu. „Er kann gewiß ein paar Tage warten. Ich habe angeordnet, daß Sie keinen Besuch haben dürfen, auch nicht von Ihrer Familie.“ „Aber es ist so einsam hier“, sagte sie zur eigenen Verwunderung. „Wenn Ben kommt, bitte, lassen Sie mich ihn sehen.“ „Krankenhäuser“, seufzte Jim. „Wir tun unser Bestes, aber...“ „Ich verliere mich, meine Identität. Das macht mir angst.“ „Sie müssen einfach zwei Tage aushaken, Laura. Dann sind Sie wieder zu Hause, ich verspreche es.“ „Ich werd's versuchen.“ „Wenn Sie Ben sehen wollen, werde ich Anweisung geben, daß er auf eine halbe Stunde herein darf.“ „Vielen Dank“, wisperte Laura. Ihre Kehle war vom Zurückhalten der Tränen ganz zugeschnürt. „Sie werden Ihnen einen Eierflip bringen und etwas, damit er unten bleibt. Versuchen Sie zu schlafen. Denken Sie an Frühling“, sagte Jim mit einem ängstlichen Lächeln. Er drückte ihre Hand und ließ sie dann los. „Der Apfelbaum“, murmelte sie. Sie sah ihn deutlich vor sich, ein Bild hinter ihren geschlossenen Augen. Als sie sie aufschlug, war Jim gegangen und die Tür geschlossen. Panik. Sie hatte gedacht, daß sie die Tür geschlossen haben wollte, doch jetzt war sie entsetzt. Womöglich sterbe ich, und niemand würde es wissen. Vielleicht huste ich mich zu Tode — rasch tastete sie nach der Klingel und drückte sie, so fest sie konnte. 210
20 Nachts wachte Laura zweimal auf und wußte einen Augenblick lang nicht, wo sie war. Offenbar bestand nicht die Möglichkeit, auf diesem harten Krankenhausbett mit nur einem Kissen hinter dem Kopf bequem zu liegen. Ein Neonlicht auf einem Gebäude gegenüber strahlte zwar alptraumhaft intensiv, dennoch wollte Laura die Vorhänge nicht geschlossen haben. Der Raum glich allzusehr einer Zelle, und sie konnte zumindest den Himmel sehen, als das Morgengrauen ganz allmählich die künstlichen Lichter dämpfte und die schlafende Stadt in ein fahles natürliches Licht tauchte, Stunden bevor die Sonne aufging. Endlich war sie eingenickt und in Tiefschlaf gefallen, als Schritte auf dem Flur sie weckten und eine Schwester kam, um ihre Temperatur zu messen; eine andere Schwester natürlich. Nie waren es dieselben. Somit gab es keine Möglichkeit, eine Beziehung herzustellen, und Laura, zur völligen Passivität verdammt, reagierte kaum auf das ,.guten Morgen“ und wandte den Kopf ab. Später kämen sie vermutlich mit einer Bahre, um sie zum Röntgen zu transportieren, doch vorher müßte sie noch versuchen, ins Badezimmer zu kommen, sich die Zähne zu putzen und aufs Klo zu gehen. Es war j etzt halb sieben, also hatte sie noch unendlich Zeit, und bevor sie die Anstrengung des Aufstehens unternahm, gab sich Laura noch eine halbe Stunde. Es war merkwürdig, wie die Krankenhausatmosphäre ihre Fähigkeit zum Denken — oder eher Fühlen — anästhesiert hatte. Sie kam sich vor, als sei sie absolut nackt einem grellen Licht ausgesetzt, in einer völligen Aufgabe des Seins erstarrt. Sie versuchte sich treiben zu lassen, doch sobald sie diesen beseligenden
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Zustand fast erreicht hatte, kam jemand herein, oder sie wurde vom wiederholten Ausrufen eines Arztes irritiert. Sie drehte versuchsweise das Radio an und bekam für eine Weile den Schluß eines Mozartkonzertes mit. Frühstückstabletts wurden ausgeteilt, aber sie glaubte nicht, daß man ihr eins brächte. Statt dessen wurden die leeren Flaschen am Tropf neben ihr gegen volle ausgetauscht. Wie sollte sie überhaupt ins Badezimmer kommen? Doch das war zumindest eine echte Herausforderung, etwas, das sie beschäftigte, und sie entdeckte, daß sie den Tropf mit ins Bad rollen konnte, der ihr tatsächlich einen Halt bot. Selbst beim aufrechten Sitzen, vom Aufstehen ganz zu schweigen, fühlte sie sich furchtbar benommen und matt. Gerade als sie mit dem Gefühl eines rechten Triumphes aus dem Badezimmer kam, überraschte sie eine Schwester und sprang ihr zur Seite. ,,Laura, um Himmels willen, was tun Sie da?“ „Ins Bad gehen. Ist das nicht erlaubt?“ ,,Sie sollen nach einer Schwester klingeln.“ „Nun ja, Sie sind alle so beschäftigt, ich dachte, ich erfinde eine Möglichkeit.“ „Ich werde Ihnen helfen. Na, zumindest haben Sie den Schlauch nicht herausgezogen“, sagte die Schwester, so, als wäre sie ein kleines Kind, das etwas Ungezogenes getan, aber wenigstens keinen Schaden angerichtet hat. „Ich fand, ich war ziemlich schlau.“ Laura sank ins Bett zurück. Die Schwester las ihren Plan. „Kein Frühstück“, sagte sie. „Ich wüßte gern, ob Sie irgendwo ein Fläschchen Lavendel entdecken können. Ich weiß, daß es eingepackt wurde.“ „Hier ist es.“ „Vielen Dank.“ Laura goß ein wenig in ihre Hand und tupfte es sich hinter die Ohren, wie Sybille es damals in der Schweiz getan hatte. „So ist's besser“, sagte sie und schloß die Augen. Sie mußte jetzt so würdevoll wie möglich von einem kleinen Augenblick des Aufschubs zum nächsten springen.
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Und schon bald half man ihr, von ihrem Bett auf eine Bahre zu gleiten, und rollte sie endlose Flure entlang, auf denen Leute in normaler menschlicher Kleidung auf dem Weg zu ihren Besuchen sie anstarrten, in den Fahrstuhl hinein und wieder heraus, ein Bündel Nichts, das nirgendwohin gebracht wurde. Man stellte sie in einem hellerleuchteten Wartezimmer ab, und sie hatte nichts, womit sie ihre Augen bedecken konnte, lag flach auf dem Rükken in einem Raum voller Menschen in Rollstühlen und einem alten Mann auf einem Rollbett wie sie. Völlige Aufgabe, ein Stadium des absoluten Wartens, bewirkte einen lächerlichen Grad der Verkrampfung, und sie fragte sich, warum. Sie befand sich in ihren Händen, denen der gescheiten, tüchtigen jungen Frau, die einen Namen rief und im Röntgenzimmer verschwand, doch waren dies keine Hände, in denen sie zur Ruhe kommen konnte. Es gab keinen Händedruck wie Jim Goodwins, der Beruhigung in sie hineinpumpte. Identität fiel auf den Nullpunkt. Bald werde ich meinen Namen vergessen. Als sie aber dann endlich „Laura Spelman“ hörte, reagierte sie darauf absurderweise, indem sie aufzustehen versuchte. „Oh nein, Laura, bewegen Sie sich nicht. Wir werden Sie hineinschieben.“ Und es erwies sich als überraschend leicht, von dem Rollbett auf den Tisch zu gleiten. Weniger leicht allerdings war das Aufsitzen, während der Apparat an ihrem Rücken heruntergerollt wurde, und das Stillhalten. Der erste Versuch war eine Katastrophe, da Laura ein Hustenanfall schüttelte. „Es ist gut, Laura, legen Sie sich jet zt hin, und ruhen Sie sich aus.“ „Tut mir leid“, stieß sie hervor, doch das Liegen war nicht gut, und wieder mußte eine Fremde sie aufrichten und ihr mit einem Kleenex den Schweiß von der Stirn wischen. „Bruder Esel benimmt sich nicht gut“, murmelte sie. „Bruder Esel?“ Laura fiel auf, daß diese Schwester eine schöne Stimme hatte. Das war eine Hilfe. 213
„Mein Körper — er spielt einen wilden Streich.“ „Ah, ich verstehe.“ Die Schwester streichelte sachte Lauras Rücken. Nach einer Weile versuchte sie es noch einmal und war zuversichtlich, daß alles gutginge. Anschließend wurde sie auch von vorn geröntgt — und endlich schob man sie hinaus ins grelle Licht, um dort zu warten, was ihr wie eine Ewigkeit erschien, bis die Schwester sagte, die Röntgenbilder seien gut geworden. Doch ich kann nicht fragen — ich kann's nicht wissen, dachte Laura. Diese Schwester mit der freundlichen Stimme weiß, wie schlecht die Dinge stehen, aber ich nicht. Laura schloß die Augen und tat, als sei sie tot, so daß sie nichts um sie her mehr berühren konnte. Sie glitt in einen Kokon absoluter Passivität, während es die Flure entlangging, wo eine leichte Übelkeit sie befiel, und in den Fahrstuhl, in dem die Leute redeten, als sei sie gar nicht vorhanden. Schließlich war sie wieder in ihrem Zimmer, wieder dort, wo sie die Tauben vom Dach auffliegen sehen konnte und einen Baum in frischem Grün. Und Himmel. Sie kamen mit den Flaschen, und wieder wurde sie an diesen Lebenstropf angeschlossen, aber es war ihr gleichgültig. Sie täte, worum man sie bat, und ohne Murren, solange Jim sie nur bald heimkehren ließ. Sie brachte sogar ein wenig Orangensaft durch einen Strohhalm hinunter, ihr Mund war so trocken gewesen. Eine andere Schwester kam und wusch sie und brachte ihr die Bettpfanne, was äußerst unangenehm war. Laura fühlte sich jetzt völlig von ihrem Körper abgeschnitten. Er war lediglich eine Maschine, die langsam auslief, dachte sie. Doch wie konnte sich die Trennung vollzogen haben? Wie konnte sie sich selbst finden, ohne diese Maschine, die sich mit dem Atem abplagte und die Nahrung verweigerte und sie mit dem Husten quälte? Sie ließ sich nicht beherrschen. Sie ließ sich nicht besänftigen. Sie mußte ganz einfach als irrelevant abgetan werden, glaubte sie. Als Jim endlich kam und ihre Hand hielt, war sie im-
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Stande, ganz ruhig zu sagen: „Ich bin mit meinem Kadaver am Ende, Jim. Damit ist nicht mehr viel anzufangen, nicht?“ „Die Röntgenbilder zeigen allerdings eine Verschlechterung. Das habe ich erwartet“, sagte er mit seiner festen, freundlichen Stimme, einer Stimme, die — wie ihr klar wurde — darin geübt war, keine Gefühle zu zeigen, und sich hütete, Patienten zu beunruhigen. „Ich werde Hilfe brauchen“, hörte sie sich nun sagen. „Ich sehe ein, daß ich einen Teil dieser Reise schließlich doch nicht allein machen kann.“ Tränen liefen ihr über die Wangen. Alles war außer Kontrolle. „Ich will nach Hause. Lassen Sie mich nicht hier sterben, Jim, bitte.“ „Versuchen Sie doch, mir zu vertrauen, Laura. Das einzige, das wir noch tun müssen, ist das Punktieren der Lungen. Sie werden sich danach wohler fühlen und weniger husten. Ich denke, wir können Sie heute am späten Nachmittag nach Hause bringen.“ „Mary...“, sagte sie schluchzend. „Sie wird helfen.“ „Sie ist die beste Medizin, die Sie haben können“, sagte Jim mit einem Lächeln. Er hielt ihre Hand ganz fest, und nach einer Weile konnte sie es spüren. Sie war vorher zu durcheinander gewesen. „Entschuldigung, ich bin solch ein Baby“, murmelte sie. „Es ist das Krankenhaus.“ „Ich weiß. Wir werden Sie hier herausholen.“ Laura hielt die Augen geschlossen. Als sie sie nun aufschlug, sah sie nacktes Mitgefühl und Gram auf seinem Gesicht. Er sorgt sich wirklich, dachte sie. Wie merkwürdig. Ich höre jetzt auf, mir Sorgen zu machen — aber dieser Doktor, fast ein Fremder, er sorgt sich. Sie spürte die Kraftübertragung und tauchte darin ein. Es war die Andeutung von etwas Größerem, etwas, worüber sie noch nicht nachdenken konnte. Doch selbst auf den abgelehnten Körper wirkte diese Kraft wie eine Injektion. Laura lächelte. „Laura“, sagte Jim leise. „Ben ist unten. Wenn Sie ihn
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sehen möchten, kann er heraufkommen, aber er kann ebensogut warten, bis Sie wieder daheim sind, und morgen nach Hause kommen... so...“ „Ich weiß nicht“, sagte Laura, die einen Augenblick brauchte, um die Mitteilung zu fassen. „Er wird entsetzt sein, wenn er mich mit diesen Flaschen sieht.“ „Sie sehen großartig aus“, sagte Jim und hüstelte, wie er es immer tat, wenn er verlegen war, erinnerte sich Laura. „Sie haben sich ganz verändert.“ „Wirklich?“ „In den letzten Minuten.“ Er hatte keine Ahnung, was geschehen war, aber Laura. „Danke, Jim. Ich wußte vorher nicht, was es bedeutet, daß wir alle einander angehören.“ Und als Jim etwas verblüfft dreinsah, fügte Laura hinzu: „Ja, schicken Sie Ben herauf.“ Sie klingelte nach einer Schwester, und diesmal kam sofort eine. Laura bat sie, das Bett aufzurichten, so daß sie plötzlich ganz hoch saß. „Mein Sohn kommt, und er hat mich nicht gesehen, seit... seit... Könnten Sie mir helfen, mein Haar zu kämmen? Ich muß ziemlich schrecklich aussehen.“ Die Schwester wirkte sehr irisch und quicklebendig. Sie sah augenblicklich, was erforderlich war, griff sogar nach der Flasche Lavendel und tupfte Laura etwas davon hinter die Ohren. „Das hat meine Mutter auch immer getan“, sagte Laura. „Wie haben Sie das erraten?“ ,,Es ist ein gutes Gefühl, so hinter den Ohren, nicht?“ „Danke. Ich schätze, ich werde es wohl dabei belassen müssen, wie es ist. Glauben Sie, es wird ein furchtbarer Schock?“ „Ach nein... Er wird so froh sein, daß er seine Mami wiedersieht, und überhaupt nichts bemerken.“ Das Problem war nur, daß Laura in dieser aufrechten Position ein wenig schwindlig wurde. Sie hatte das Gefühl, als ähnelte ihr Kopf einer Blüte auf einem langen zarten Stil. 216
„Eins noch. Könnten Sie mir wohl ein Kissen hinter den Kopf legen?“ „Hier, und nun immer mit der Ruhe.“ Laura hatte absurdes Herzklopfen. Ihr wurde bewußt, daß sie Ben in ihrem tiefsten Innern seit Wochen erwartete. Sein Kommen hatte irgend etwas in Spannung gehalten, die jetzt sehr groß war. Aber durch ein Wunder geriet sie ins Schweben, wie sie es seit ihrer Einlieferung ins Krankenhaus nicht gekonnt hatte. Diesmal trieb sie in einem Kanu mit Ben, der etwa zwölf Jahre alt war, einen Fluß hinunter, vor ihr im Bug ließ er seine Finger durch das Wasser gleiten, während sie mit einem Paddel steuerte. Sommerliche Stille... Und dann stand er in der Tür und lächelte. „Da bin ich“, sagte er. „Wie ich sehe“, antwortete Laura und lächelte auch. Da stand er mit seinem länglichen El-Greco-Gesicht, die dunklen Augen blickten sie zärtlich an, sahen dann fort, als er hereinkam und sie auf die Wange küßte; daraufhin zog er einen Sessel heran, so daß er ganz nahe an ihrem Bett sitzen konnte. „Oh, Ben“, seufzte sie. „Ich bin so froh, dich zu sehen. Es war eine ziemlich lange Reise, diese Krankheit, lang und anstrengend.“ Als sie bemerkte, wie sich sein Gesicht verdüsterte, und das vertraute Stirnrunzeln sah, fügte sie hinzu: „Lang, aber interessant.“ „Kannst du mir davon erzählen?“ fragte er. Es war genau die richtige Frage, und niemand zuvor hatte sie gestellt. „Ich werde es versuchen, doch zuerst: Hast du dein Gemälde fertig?“ , Ja. Du wirst es in deinem Schlafzimmer finden, wenn du heimkommst.“ Er preßte die Hände fest aneinander wie immer, wenn er etwas Wichtiges zu sagen versuchte. „Ich glaube, es ist gut — es ist eine Sequenz. Es sind Anemonen; zuerst scheint es fast, als ob sie tanzen, und dann ändern die Blüten ihre Farbe und fallen schließlich. Ich wollte, daß es wie Musik ist — oh, ich weiß nicht! Wahr-
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scheinlich findest du es schrecklich abstrakt. Ich konnte es nicht naturalistisch... diese Bewegung einfangen, weißt du, diese Art, wie sie sterben, so wunderbar.“ „Lieber Ben“, murmelte Laura. „Du bist ganz derselbe. Ich bin so froh, dich zu sehen, du kannst es dir nicht vorstellen.“ ,,Oh, Mutter.“ Er hob den Kopf und sah an ihr vorbei aus dem Fenster, dann stand er auf, ging hinüber und blickte hinaus. „Die Tauben“, sagte sie, „das einzige, was ich in dieser Krankenhausmaschinerie sehen konnte.“ „Erzähl mir von der Reise“, sagte er leise, während er so dastand. „Komm her. Wenn ich laut rede, muß ich husten.“ „Natürlich.“ Er setzte sich und legte seine Handfläche auf das Laken, als ob er sie eigentlich streichelte, mit gesenktem Kopf strich er hin und her. Eine Weile war es still. Laura hob den Kopf und lehnte sich in das Kissen zurück. Außer Jim hatte ganz selten jemand Stille zugelassen, wie ihr bewußt wurde. Die Menschen eilten herbei, um sie mit Worten zu füllen, vielleicht, weil sie Angst hatten, von Gefühlen überwältigt zu werden. „Danke“, sagte sie. „Wofür, Mutter?“ Er sah sie bestürzt an. „Für die Stille. Die meisten Menschen müssen reden, damit sie nichts hören, damit sie sich nicht mit dem konfrontieren müssen, was immer ich da tue.“ „Ich weiß“, sagte Ben leise. „Du brauchst es mir nicht zu sagen.“ „Weißt du, ich wollte es allein tun“, begann sie. Es kam ihr vor, als wickelte sie ein langes chinesisches Rollbild ab, wie man es in Museen unter Glas betrachten kann, auf dem eine Szenenfolge gemalt ist: spielende Frauen, jagende Männer, eine Gesellschaft, Falkner zu Pferde, doch als sie die Rolle abwickeln wollte, wurde ihr klar, daß es einer Kraft bedurfte, die sie nicht hatte. „Ach, Ben, ich bin nicht sicher, ob ich das schaffe. Es
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stellt sich heraus, daß das Sterben schwerer ist, als ich dachte, und länger dauert. Ich glaube nicht, daß wir unseren Körper verlassen wollen, vielleicht ist es das. Meiner nützt mir jetzt sehr wenig, aber...“ „Verbanne noch dich von der Seligkeit.“ In der Schule hatte Ben den Hamlet gespielt. „Was für ein guter Hamlet du warst“, sagte sie. „Ich hatte das Gefühl, als sei es meine eigene Haut — vor fast zwanzig Jahren. Manchmal erlebe ich es, wenn ich male. Aber nicht oft, dieses Gefühl, ganz ich selbst zu sein, daß alles ineinandergreift.“ Er seufzte. „Und manchmal in der Liebe?“ fragte Laura. Sie hatte Ben nie zuvor solche Dinge gefragt, aber jetzt war es möglich. Sterben öffnete Türen. „Höchst selten“, sagte er und biß sich auf die Unterlippe. „Meine Liebesaffären waren insgesamt gesehen eine Katastrophe. Wahrscheinlich will ich zuviel.“ „Ich hatte mir vorgestellt, daß Sterben womöglich genau das ist — zu einer Ganzheit zu gelangen, doch das Problem ist, daß ich nicht genug Kraft habe, sie läuft aus.“ „Ich will dich nicht strapazieren.“ „Ach“, Laura lächelte ihn beruhigend an, „mich strapaziert alles, also kann ich wohl ebensogut soviel genießen wie möglich. Das habe ich vor einigen Wochen beschlossen, nämlich zu verschwenden, was ich habe. Außerdem bist du derjenige, den ich am meisten sehen wollte.“ Dann drehte sie den Kopf zur Seite. „Dich und Ella“, flüsterte sie. „Ella? Wer ist das?“ „Meine englische Freundin. Ich kenne sie fast seit meiner Kindheit. Wir waren zusammen auf der Sorbonne in jenem Winter in Paris — sicher weißt du, wer sie ist.“ „Vage.“ Ben schien sich unwohl zu fühlen, und Laura fragte sich, ob er nach einer Zigarette lechzte. „Ben, als sie mir sagten... als ich wußte, daß ich nur noch eine begrenzte Zeit habe... Das Komische war, daß ich überhaupt niemand aus der Familie sehen wollte,
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nicht einmal dich. Ich wollte in meinem Haus verschwinden wie eine Schnecke und die Tür schließen. Sterben erschien mir als solch enormes Abenteuer — eine Zeitlang hat mich schon der Gedanke in Hochstimmung versetzt. Ich wollte es allein tun, weißt du.“ , Ja, das kann ich verstehen.“ „Menschen unterbrechen den tiefen Strom. Allerdings hatte ich damals nicht mit meiner Schwäche gerechnet, der Übelkeit, dem armen alten Körper, der ständig dazwischenfunkt.“ „Ich nehme an, das ist die Reise, von der du gesprochen hast. Hast du das Gefühl, es ist eine Reise zu etwas hin, Mutter, oder aber von etwas weg?“ „Hin“, sagte sie, „doch ich weiß nicht, zu was hin.“ Da saß er, ihr Sohn, inzwischen fünfunddreißig Jahre alt, ein Mann; er sah sie nicht an, seine Hand strich geistesabwesend über das Laken, und mit ihm erlebte sie eine Kontinuität jener Kraftübertragung, die sie vor etwa einer Stunde von Jim Goodwin erfahren hatte. Ben hatte schon immer die außergewöhnliche Gabe des Mitempfindens mit anderen, als Junge besonders mit Tieren. Eine tote Katze auf der Straße ließ ihn richtig leiden. Aber er gab ihr sich selbst, seine volle Aufmerksamkeit, so ruhig und mit solcher Beherrschtheit jetzt, daß es ihm offensichtlich gelungen war, alles auszuschalten oder zurückzuhalten, was ihr Sterben für ihn bedeutete — er war jetzt ganz bei ihr. „Zuerst war es leicht, mich zu lösen — eine gewisse Freiheit vermutlich. Aber...“ Sie schluckte, und das Weiterreden fiel ihr schwer. „Ganz ruhig, Mutter. Vielleicht sollte ich für eine halbe Stunde weggehen, damit du dich ausruhst.“ „Es sei denn, du möchtest... eine Zigarette?“ „Jesses, Mutter! Ich denke doch nicht an Zigaretten!“ Nun stand er auf und ging zum Fenster. Seine Hände ballten sich in den Taschen, wie Laura bei den engen Jeans sehen konnte, die er so beharrlich trug. Sie widerstand dem Impuls, ihn zu bitten, geradezustehen. Er war ziemlich krumm, fand sie.
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Ein langes Schweigen entstand, denn Laura war nicht imstande, das zu sagen, was sie gern gesagt hätte. Sie fürchtete, es könnte einen unaufhaltsamen Tränenstrom bewirken. Schließlich brach Ben das Schweigen. „Ich habe mich zu lösen versucht. Ich hatte das Gefühl, als läge mein einziges Heil darin, mich von den Menschen fernzuhalten. Es funktionierte nicht. Irgendwie sind wir in unserem Körper.“ „Bruder Esel“, sagte Laura, die sich besser fühlte. „Bruder Esel und Bruder Engel, wer weiß, welcher. Schätzungsweise beide.“ „Als ich schwächer wurde, begriff ich, daß ich es nicht allein tun könnte, Ben.“ „Ich hätte früher kommen sollen.“ „Ich wollte dich nicht. Tante Minna und die wundervolle Frau, die Jim mir ins Haus geschickt hat, Jim selbst — Daphne kam, Daisy kam, Jo kam, aber sie haben mich angestrengt. Nur diese drei — Tante Minna, Mary O'Brien und Jim. Das Schwerste ist für mich, Ben, daß ich abhängig geworden bin, aber das bin ich.“ Ein kurzes trockenes Schluchzen ließ sich nicht unterdrücken. „Oh, Mutter...“ „Ist schon gut“, sagte sie mit seltsam hoher Stimme, da sie nicht weinen wollte. Dies war zu wichtig. „Es war so etwas wie eine Offenbarung. Als ich den Versuch aufgab, es allein tun zu wollen, strömte eine Menge Licht herein.“ „Ich verstehe zwar nicht, aber ich bin froh“, erwiderte Ben. „Laß uns jetzt eine kleine Pause machen“, sagte Laura. „Geh und hol dir eine Tasse Kaffee und rauch eine Zigarette. In einer halben Stunde werde ich ausgeruht sein. Es gibt so vieles, was ich gern von dir hören möchte.“ Ben beugte sich zu ihr und küßte ihr die Stirn. Eine große Zärtlichkeit lag in dieser Geste, etwas Väterliches und Beschützendes. Dann war sie allein in ihrer Zelle mit den kreisenden Tauben davor. Als Ben zurückkam, war Laura von Jim, einem Assistenzarzt und einer Schwester umringt, die mit dem
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Punktieren der Lunge beschäftigt waren und aufmunternde Töne von Experten bei einer heiklen Aufgabe von sich gaben. „Tut mir leid, Ben“, stieß Laura mit zusammengebissenen Zähnen hervor, denn diesmal dauerte die Punktion unerträglich lange, und die Anstrengung des Aufrechtsitzens, nach vorn gebeugt mit gesenktem Kopf auszuharren, nahm sie völlig in Anspruch. Wie himmlisch wäre es, wenn sie sich jetzt hinlegen könnte. „Sie können hierbleiben, Ben“, sagte Jim. „Das Einführen der Nadel ist das Schlimmste, und das ist bereits geschafft.“ „Ganz ruhig“, sagte der Assistent, als Laura aus schierer nervlicher Anspannung keuchte. Die Schwester beugte sich zu ihr und wischte ihr mit einem feuchten Handtuch das Gesicht ab. „Nur noch ein paar Minuten, Laura.“ Das war Jims beruhigende Stimme. Laura konnte nicht sagen, ob Ben noch immer im Zimmer war. Jedenfalls hoffte sie, er hätte das Weite gesucht. Es wäre gewiß ein schrecklicher Schock für ihn, mit ansehen zu müssen, wie diese Flaschen sich mit der dunkelorangenen Flüssigkeit füllten — sie selbst fürchtete sich davor: dieses sichtbare Zeichen des Verfalls. „Sobald Sie sich ausgeruht haben, in einer Stunde oder zwei, bringen wir Sie nach Hause. Ben und ich werden Sie begleiten, Laura, also machen Sie sich keine Sorgen über irgend etwas. Ruhen Sie sich jetzt aus“ — er mußte gesehen haben, daß sie unkontrollierbar zitterte. „So... so...“ Und endlich konnte Laura mit geschlossenen Augen liegen. Endlich konnte sie sich ausruhen. Ganz entfernt, vielleicht draußen auf dem Flur, vernahm sie die murmelnden Stimmen von Jim und Ben. Aber sie wollte die Worte nicht hören oder irgend etwas zur Kenntnis nehmen außer der Erleichterung beim Atmen und sich dieser Erleichterung überlassen.
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21 Laura hatte sich danach gesehnt, zu Hause zu sein, doch als sie nun sicher in ihrem Bett lag, einen Strauß Narzissen und Tulpen neben sich (Anns Idee sicherlich) und Bens großes Gemälde an die Kommode gelehnt, und die Nachmittagssonne die Wände in sanftes Licht tauchte und Grindle neben ihr auf dem Läufer lag, wurde ihr klar, daß im Krankenhaus eine subtile Veränderung ihrer ganzen Chemie stattgefunden haben mußte. Mit offenen Augen sah sie das alles, nahm es wahr, hörte Grindles wohliges Seufzen im Schlaf, doch fesselte die Außenwelt ihre Aufmerksamkeit nicht mehr wie zuvor. Ihr inneres Selbst betrachtete alles wie aus weiter Ferne, wie durch das falsche Ende eines Fernrohrs. ,,Es ist irrelevant geworden, das alles“, dachte sie. Dennoch wollte sie Grindles seidige Ohren fühlen und beugte sich hinunter, aber ihr wurde so schwindlig, daß sie den Versuch, ihn zu streicheln, aufgeben mußte. „Sie sind einfach völlig erledigt“, sagte Mary, die nun mit einem Tablett hereinkam. „Vielleicht einen Schluck hiervon, es ist Eierflip mit einem Teelöffel Brandy darin — auf ärztlichen Rat.“ „Ich möchte nicht“, sagte Laura. „Nur einen Schluck, meine Liebe. Es wird Ihrem Herzen guttun, nach allem, was Sie durchgemacht haben.“ Und wie ein folgsames Kind richtete sich Laura ein wenig auf und trank einen Schluck. Und dann noch einen. Ein Drittel davon hieße, das Schicksal herauszufordern und einen Hustenanfall. Und sie schüttelte den Kopf. Sie wollte Mary sagen, daß es ihrem Herzen guttat, in diese freundlichen, ruhigen Augen zu sehen, aber es war ihr un-
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möglich, diese Worte zu formulieren. Statt dessen lächelte sie und schloß die Augen. „Danke.“ Sie hörte, wie die Tür sachte geschlossen wurde, und als letztes erinnerte sie sich noch eine Weile, daß Grindle ihr die Hand leckte, die in seine Reichweite herabgesunken sein mußte, sobald sie in einen Dämmerschlaf fiel. Als sie erwachte, war es dunkel, und sie wußte nicht, wo sie war. Sie tastete nach dem Schalter, und schließlich gelang es ihr, Licht zu machen. Sie schreckte vor der Helligkeit zurück und kniff einen Moment die Augen zusammen und versuchte, sich ins Rot hinter den Lidern zu flüchten. „Ist alles in Ordnung, Mutter?“ hörte sie Ben flüstern. Woher kam es? Laura war verwirrt. „Ben“, sagte sie mit lauter Stimme, die sie überraschte. „Ich bin im Zimmer gegenüber. Als ich bei dir Licht sah, dachte ich, daß du vielleicht ins Bad willst und Hilfe brauchst.“ Bens plötzliches Erscheinen mitten in der Nacht und dieses wilde Gewirr von lila und roten und weißen Anemonen, das ihr vom Gemälde am Boden entgegenloderte — die ganze Szene war so bizarr, daß Laura kichern mußte. „Oh je“, sagte sie. „Von deinen Farben dreht sich mir alles.“ „Es ist zu gewaltig, nicht?“ sagte er ängstlich. „Es ist eine Art Tanz, weißt du — die Blüten regen sich nicht, aber sie fallen, fallen schon. Kannst du sehen, was ich meine?“ „Ich sehe es.“ „Es ist furchtbar dilettantisch.“ „Nein...“ Laura hatte gezögert, dorthin zu blicken, wo Ben stand, sein Gesicht zu sehen. Doch nun sah sie sein zerzaustes Haar und das längliche Gesicht, diese tiefliegenden Augen, die mit solcher Intensität auf das Bild starrten, daß sie zu existieren aufgehört hatte. Es war für Laura ein Augenblick durchdringender Erkenntnis, einer der wenigen, die sie in letzter Zeit erfahren hatte. „Ich
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sehe es, Ben“, aber sie sah nicht das Gemälde, sondern ihren Sohn, der ganz er selbst wurde. „Wenn du mich aufrichten kannst“, sagte sie schließlich, „wäre es keine schlechte Idee, ins Bad zu gehen.“ Er nahm ihre Hand mit festem Griff, legte seinen Arm um sie, faßte sie unter die Schulter und hob sie so mühelos hoch, daß Laura ohne jede Anstrengung plötzlich stand und Grindle ihr begeistert über das, was hier vorging, den Fuß leckte. Laura und Ben mußten darüber lachen. „Komm, Grindle“, sagte Ben, „geh aus dem Weg.“ Die wenigen Schritte bis zum Badezimmer waren mehr ein Schweben als Gehen, denn eigentlich wurde sie getragen. Und kurz darauf war Laura wieder in ihrem Bett und hatte nicht einmal gehustet, obwohl die Anstrengung sie schwer atmen ließ. „Werden Grindle und du jetzt wohl friedlich schlafen?“ Ben beugte sich hinunter und küßte sie zärtlich auf die Wange. „Ja, das werden wir“, wisperte sie. „Danke, Ben.“ Erst beim Morgengrauen erwachte Laura. Sie fühlte sich ausgeruht, und als sie sich in dem Dämmerlicht Bens Bild zuwandte, war es ihr möglich, es eingehend zu betrachten und nicht nur mit den Augen. Sie begann darin zu treiben, die Farben verschmolzen, und sie spürte, was darin vor sich ging und in Bens Kopf, während er es malte, nicht der Schock, die Explosion, die sie zu sehen geglaubt hatte, als sie zu erschöpft war, um es aufzunehmen. Dies war nicht Bewegung, sondern die Schwebe direkt vor der Bewegung, jene Vollkommenheit, die nicht von Dauer sein konnte, der Moment vor dem Verfall. Wäre doch nur der Körper so simpel wie eine Blume, die sich innerhalb weniger Stunden öffnete und welkte. Für den Körper war es dagegen offenbar ein langer komplizierter Prozeß, ganze Galaxien von Molekülen, die sich allmählich veränderten. In was? Wohin? Diesmal war es Mary, die in der Tür stand, im Morgen-
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rock, das Haar zu zwei Zöpfen geflochten. „Mary“, sagte Laura, „ich habe Angst.“ Wortlos kam Mary herein, setzte sich aufs Bett und hielt Lauras Hand. „Ich weiß nicht, wie ich loslassen kann“, sagte Laura. „Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht. Ich habe Angst, Angst“, wiederholte sie, „Angst vor der Dunkelheit.“ „Ist ja gut“, sagte Mary. „Eben geht die Sonne auf.“ Das war zwar keine Antwort, doch in gewisser Weise schon. Im Augenblick enthielten die Worte ein wahres Versprechen: Was auch immer geschähe, die Sonne ginge auf. „So, nun hole ich Ihnen eine Tasse Tee.“ Mary stand auf, um zu gehen, aber Laura zupfte sie an ihrem Morgenrock. „Bleiben Sie noch ein Weilchen“, bat sie. „Wie spät ist es?“ „Es ist kurz nach sechs“, sagte Mary und setzte sich wieder, jetzt ziemlich steif und sehr gerade. Ich darf nur um das bitten, was man geben kann, ermahnte sich Laura und versuchte, Marys Gesicht zu lesen, das nun ein wenig verschlossen wirkte. Dachte sie nach? Betete sie vielleicht? „Kommt Ihre Familie ohne sie zurecht?“ fragte Laura. „Oh ja! Als Sie im Krankenhaus waren, bin ich einen Tag daheim gewesen.“ Mary gab ein tiefes Glucksen von sich. „Fand den Kühlschrank mit Fertiggerichten und Bier vollgestopft. Ich schätze, sie werden überleben!“ „Es ist furchtbar nett von Ihnen, hierzubleiben.“ „Ich würde Sie doch jetzt nicht verlassen“, sagte Mary bestimmt und fügte dann lächelnd hinzu: „Außer mich nun anziehen zu gehen. Ich nehme an, daß Ihr Sohn bald ein Frühstück möchte.“ Und diesmal wandte sie sich zum Gehen. „Soll ich die Tür offenlassen?“ „Ja, bitte.“ „Da ist eine Klingel direkt neben Ihnen, wenn Sie mich brauchen.“ Daheim sein bedeutete, wieder vertraute Geräusche zu
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hören, dachte Laura, ein Hundebellen, Geschirrklappern in der Küche, Vogelträllern, denn jetzt vernahm sie ein Rotkehlchen und das Zwitschern von Distelfinken. Und wo war Sasha? fragte sie sich. Die Katze war die ganze Nacht nicht auf ihrem Bett gewesen. Eine Weile konnte sie alles wahrnehmen, dann spürte sie, wie sie ins Nichts sank, weder schlief noch wach war, sie atmete flach, wartete merkwürdig ruhig auf das, was als nächstes geschähe. Die Panik des frühen Morgens war in Mattigkeit umgeschlagen, und sie mußte eingenickt sein, denn plötzlich stand Mary neben ihr mit einer Tasse Tee auf dem Tablett. Mary hielt sie aufrecht, und Laura hielt mit beiden Händen die Tasse, da sie zu zittrig war, sie in eine Hand zu nehmen. Sie trank gierig den Tee und lechzte nach etwas Kraft, gerade soviel für einen weiteren Tag, sagte sie sich. Aber das erwies sich als Irrtum, denn noch ehe sie es verhindern konnte, ergoß sich der Tee über ihr Bett. ,,Oh, Mary“, stöhnte sie, „tut mir leid — so ein Schlamassel.“ „Nun mal keine Sorge. Ich wollte ohnehin die Laken wechseln. Es dauert nur eine Minute.“ Mary schloß taktvoll die Tür, nahm Laura dann in die Arme wie ein Baby und hob sie sachte auf die Couch am Fenster. Sie holte einen Waschlappen aus dem Bad und wischte ihr über das Gesicht. „Das tut gut“, murmelte Laura. Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie fühlte sich behindert, wie ein Baby, das keine Kontrolle über sich hat. Sie war jetzt dem Gefängnis ihres Körpers ausgeliefert — wie lange noch? Der Kampf war so schrecklich, daß sie der Verzweiflung nahe war. Wie konnte sie loslassen? Wie konnte sie in diesem entwürdigenden Zustand verbleiben? Doch nach einer Weile, die ihr wie Stunden vorkam, lag sie wieder sicher in ihrem Bett, hielt die Augen geschlossen und war froh, ganz allein zu sein, froh, daß selbst Grindle mit hinausgenommen worden war. Am Ende wäre es nicht schwer, alles aufzugeben, sogar das sachte Rauschen der Blätter im leichten Wind... alles.
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Ein feines Kratzen an der Tür weckte sie, dann folgten leise Schritte. ,,Sasha möchte herein, Mutter.“ „Oh, Ben, ja, laß sie rein.“ „Kann ich auch kommen?“ „Natürlich, Liebling.“ „Ich bleibe nur einen Moment“, sagte er, beugte sich herab und küßte ihr die Wange. Sasha sprang aufs Bett und begann eine ausgiebige Gesichtswäsche, die Pfote fuhr auf und ab und umkreiste die Ohren. Laura sah ihr lächelnd zu. Aber die ständige Bewegung ging ihr auf die Nerven, und sie war froh, daß die Katze sich nun zu einem runden Knäuel zusammenrollte und schnurrend an Lauras Schenkel kuschelte. „Wir brauchen nicht zu reden“, sagte Ben. Er saß am Ende der Couch, die Hände um seine Knie geschlungen, und schaukelte leicht, ohne Laura anzusehen. „Ich bin heute wirklich etwas matt“, sagte Laura, schloß die Augen und fragte sich, ob es möglich wäre, in Bens Gegenwart Ruhe zu finden, ob er das Schweigen ertrüge, weil... weil... Sie konnte nicht formulieren, warum. Vielleicht verhinderten Worte die Wahrheit, und die Wahrheit war hart. Jetzt gab es nicht mehr viel Zeit. Das Schweigen wuchs und wuchs, bis die Spannung zu groß wurde, und Laura murmelte: „Ich wünschte, du würdest mit mir reden, etwas von dir erzählen — wir hatten so wenig Zeit im Krankenhaus.“ „Oh, Mutter, ich kann nicht!“ Sie hörte das unterdrückte Schluchzen, das eigenartige Brechen in seiner Stimme. „Ich kann nicht“, sagte er, und sie hörte, wie er die Treppe hinunterlief, vor ihrem Sterben davonlief. Aber hätte sie denn zuhören können? Sie hörte das öffnen und Schließen der Haustür. Nun war Ben draußen in Sicherheit, zwischen Bäumen und Gras, konnte sich auf die Erde werfen und weinen. Es war gut so. So waren die Dinge nun einmal. Nur bis zu einem gewissen Punkt können die Lebenden den Sterbenden helfen. Laura kroch in sich hinein, streichelte einen Augenblick Sashas Kopf,
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verharrte dort, als wäre alles Leben in diesem Moment in dieser Berührung. Und sie erinnerte sich an ein Gedicht — von wem nur? Sein Hut aus weichem Samt Und auf den Rand Meine Tränen fallen. Aber sie weinte jetzt nicht. Sie befand sich im Zustand absurder Spannung und hatte einen Krampf im Fuß. Später an diesem Morgen kam Jim, fühlte ihren Puls, hielt ihre Hand und sagte, daß er, Brooks und Ann eine Möglichkeit ausgekocht hatten, ihr den Frühling zu bieten, „wie ich versprochen habe“, sagte er mit so erwartungsvollem Lächeln, daß sie darauf eingehen mußte. „Wie wollen Sie das anstellen?“ fragte sie. „Wir werden Sie hinunter und draußen im Garten auf eine Liege tragen. Dann können Sie durch die Blätter in den Himmel hinaufsehen. Der Tag ist genau richtig, nicht zu warm, reine Luft.“ „Jim...“ Sie wollte ihm sagen, daß sie nicht glaubte, sie hätte die Kraft, sich zu bewegen, doch dann sah sie sein Gesicht, das voller Hoffnung strahlte. Konnte sie sich dieser Hoffnung verweigern? „Es klingt zwar unwahrscheinlich, aber ich weiß, daß Sie Ihre Versprechen halten.“ „Ich möchte, daß Sie diese roten Tulpen sehen.“ „Tante Minna wird zum Vorlesen kommen.“ „Mary kann den Tee in den Garten bringen.“ Jim nahm jetzt ihre Hand. „Ich wünschte, ich hätte Sie nicht ins Krankenhaus gebracht.“ Laura wußte, er versuchte irgendwie gutzumachen, daß er sie die Hölle hatte durchstehen lassen. Er hatte sich diesen Plan als Vergeltung ausgedacht. „Sie haben wirklich Klasse.“ „Ich war hilflos“, sagte Laura mit einem Lächeln. „Hätte ich denn nein sagen können?“ „Wahrscheinlich nicht“, er drückte ihr die Hand und ließ sie los. Er schickte sich zum Gehen an, doch plötzlich
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griff Laura nach seiner Hand und zog ihn wieder aufs Bett. Sie zog heftig, und Jim war überrascht. „Hm, Sie haben ganz schön viel Kraft in dieser Hand“, sagte er und lächelte sie an. „In all den Wochen wollte ich zuerst allein sein“, sagte sie hastig — sie hatte solche Angst, daß keine Zeit wäre und er ginge —, „jetzt brauche ich Hilfe. Ben kam und saß bei mir, aber er konnte nicht hierbleiben... wissen Sie.“ „Ja, vielleicht kann er das nicht. Möchten Sie, daß Ann kommt und für den Rest des Tages dableibt, bis wir Sie in den Garten bringen?“ Laura runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht.“ „Tante Minna vielleicht?“ „Sie ist so alt... und hat Angst vor dem Tod — ich weiß nicht, ob ich sie darum bitten kann.“ Jim seufzte. Laura sah sein bekümmertes Gesicht. Er wäre gern bei ihr geblieben, das wußte sie. Aber das konnte er natürlich nicht. Andere Menschen brauchten ihn. Hunderte von kranken, ängstlichen Menschen. Und nun blickte er auf seine Uhr. „Ja, Sie müssen gehen“, sagte Laura. „Ich glaube, Mary ist die Person, die Sie eigentlich brauchen. Ich werde sie hinaufschicken.“ Jim stand da und sah mit seinem freundlichen, reservierten Blick auf sie herab, und Laura schloß die Augen. Sie fühlte sich verlassen, kalt und verlassen. „Danke“, sagte sie. Den restlichen Morgen über saß Mary auf der Couch, stopfte Socken und einen löchrigen Pullover von Laura, und es war — J im hatte schließlich recht gehabt — genau das, was Laura brauchte. Es war seltsam, welchen Beistand Marys geschäftiges Schweigen bot. Laura geriet unvermittelt ins Treiben — an ihren geschlossenen Augen passierten Menschen vorbei, sie sah ihre Mutter in einem blauen Kleid mit viereckigem Spitzenkragen, die sich in der Schweizer Klinik zum Gutenachtkuß über sie beugte — einem Kuß auf die Stirn, den Laura übelnahm, aber ohne Zweifel war sie damals, wie jetzt auch, zu schwach für
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die feste, warme Umarmung, nach der sie sich sehnte. Sie sah ihre Mutter in Maine über die Felder gehen, einen Strauß Wiesenblumen in den Händen, ihr Gesicht war freudig gerötet, und sie bewegte sich mit einem strahlenden Lächeln. Dann kam Charles auf sie zu, überraschend elegant in seinem Frack. War da eine Hochzeit? Brooks und Ann vielleicht... ja, nun tauchten sie auf, flohen die Straße entlang zu ihrem neuen Buick, lachten und winkten den Hochzeitsgästen zu, die sich vor der Tür versammelt hatten. Jetzt kam Ben, ein so wunderliches langes Baby, das gierig nach einem roten Spielzeug auf seinem Kinderbett griff, es packte und daran saugte, als wäre Farbe etwas zum Essen. „Ben war so ein komischer kleiner Junge“, sagte Laura laut. „Er war ganz versessen auf Blumen und pflückte den Tulpen die Köpfe ab, als er zwei oder drei war.“ ,,Er ist der Älteste?“ fragte Mary. „Ja, Brooks kam zwei Jahre später — und schließlich Daisy. Wir haben uns so sehr ein Mädchen gewünscht. Charles, mein Mann jedenfalls. Alles ist abgelaufen wie ein Traum... ein ganzes Leben...“, aber das sagte sie ohne Bedauern, denn Laura schwebte irgendwo über allem und sah es vorbeiziehen. Selbst ihr Zorn auf ihre Mutter, die ungeklärte Wut und der Konflikt wurden in diesem Brodeln aufflackernder Erinnerungen verwischt, die einen Augenblick vor ihr auftauchten und sich dann auflösten. Schließlich war es nicht schwer, loszulassen. Dennoch war es zumindest teilweise Marys schweigende Gegenwart, die nichts forderte, aber all dies möglich machte. Etwas an diesen Händen, die die Stopfnadel unablässig durch eine Socke zogen, hielt die Panik von ihr fern. Und selbst mit geschlossenen Augen spürte Laura Marys Gegenwart, eine Ausstrahlung von Güte, die sie einhüllte und sie sicher in ihrem Bann hielt. So glitt der Morgen dahin, und Laura schlief ein. Stimmen in der Diele weckten sie, Brooks und Ben flüsterten irgend etwas, und nun sagte Ann: „Aber sollten wir sie denn wecken?“
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„Ich bin wach“, sagte Laura, doch sie hörten sie nicht, deshalb langte sie hinüber und klingelte mit der kleinen Glocke, die Mary auf das Nachtschränkchen gestellt hatte. „Geh schon, Brooks“, hörte sie Ann sagen. Und dann stand er in der Tür, zögerte, lächelte und sah Charles so ähnlich, daß Laura ihn eine Sekunde lang für Charles hielt. „Ich bin gekommen, um dich nach unten zu tragen, Mutter, zum Tee in den Garten.“ „Ach“, hauchte Laura. „Ich glaube nicht, daß ich das schaffe.“ „Ich trage dich“, versicherte Brooks. „Und dann kannst du eine Weile draußen liegen statt im Bett. Jim Goodwin sagte, er hielte es für eine gute Abwechslung... unter den Bäumen.“ „Ein Baumhaus auf der Erde“, Laura lachte. Aber es erschien ihr eine furchtbar lange und beschwerliche Reise bis nach unten, und diese Anstrengung wollte sie eigentlich nicht unternehmen. Natürlich konnten sie weder wissen, welch eine Anstrengung es wäre, noch welch großes Bedürfnis sie danach hatte, sicher in ihrem Bett zu bleiben. Sie waren so furchtbar stark und lebendig, wie könnten sie das wissen? „Bist du soweit?“ sagte Brooks jetzt. „Ich werde dich hochheben.“ Aber nun war Mary da und erklärte, daß Laura einen Morgenrock brauchte. „Sie rühren sich nicht“, ermahnte sie Laura. „Meinen blauen“, sagte Laura. Die Arme richtig in den Morgenrock zu bekommen war so mühselig, daß Laura zitternd auf das Bett sank. „Lassen Sie sie eine Minute ausruhen“, flüsterte Mary. Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf, und Laura bemerkte zum erstenmal Angst in Marys ruhigem Gesicht. Doch vielleicht sah Brooks sie nicht. Jedenfalls war er entschlossen, das zu tun, worum er gebeten worden war, und wenige Sekunden später nahm er Laura auf seine Arme, ihr Kopf lehnte an seiner Schulter: wie ein Baby,
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dachte sie ironisch. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie ihn auf ihrer Hüfte herumgeschleppt, und er war schwer gewesen. „Bin ich zu schwer, Brooks?“ „Federleicht“, sagte er fröhlich und ging mit behutsamem Schritt die Treppe hinunter, rasch und mühelos. Ben hielt ihnen die Tür auf, und Ann folgte, und gleich darauf wurde Laura auf die Liege gelegt, Mary kniete sich hin und streifte ihr die Pantoffeln über die Füße. Brooks war noch nicht einmal außer Atem, wie Laura feststellte, während sie in heftigen kurzen Stößen nach Luft schnappte, die sich in ihrer Brust ganz rauh anhörten und weh taten. „In einer Minute wird es mir bessergehen“, stieß sie hervor, denn sie sah sich plötzlich von ängstlichen Gesichtern umringt. „Ich denke, sie sollte ein Weilchen allein gelassen werden“, flüsterte Ann. „Mary wird den Tee bringen, und du liegst einfach da und ruhst dich aus, Laura. Tante Minna kommt erst in einer halben Stunde... Jim Goodwin wollte, daß du den Garten sehen kannst, diese phantastischen roten Tulpen.“ „Ah ja“, sagte Laura und drehte den Kopf zum Tulpenbeet. Aber sie wollte sie eigentlich nicht sehen. Sie wollte nur wieder im Bett sein, zwischen den schützenden Wänden. Das alles ist ein Irrtum, dachte sie, Jims Irrtum. Also lag sie da, und nach einer Weile mußte Grindle herausgekommen sein, denn sie hörte ein kurzes, fragendes Bellen neben sich. ,,Hallo, Grindle“, murmelte sie. Und diesmal gelang es ihr, ihm die Ohren zu kraulen, bevor er sich hinlegte. Etwas später schlug sie die Augen wieder auf. Sehen Sie durch die Blätter in den Himmel hinauf, hatte Jim gesagt. Doch das Hinaufsehen machte sie schwindlig. Immerhin konnte sie eine Waldtaube gurren hören; das monotone, unablässige, halb verschluckte Gurren hatte etwas Tröstliches. Dann sah sie allmählich die Bäume, einen nach dem anderen. Die weiße Birke, die Charles an ihrem
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zwanzigsten Hochzeitstag gepflanzt hatte, war übersät von kleinen glänzenden Blättern. Auch die Esche trieb ihre Blätter, wie sie nun sah, der problematische Baum, der mit dem Abwerfen seiner Blüten auf dem Rasen einen Schlamassel anrichtete. Charles hatte ihn absägen wollen. Jetzt überlebte er sie beide, und Laura weidete sich an der Stärke des Baums. Nur war es ihr nicht möglich, länger irgendwohin zu sehen, und sogleich schloß sie die Augen wieder, ruhte im Gedanken an Bäume, die Zypressen in Italien, die den Blick in langer Perspektive auf einen Marmorbrunnen oder eine Statue lenkten, die wunderbaren Buchen in jenem Wald in der Nähe von Brüssel, in dem sie im Herbst mit Ella zwischen endlosen Reihen riesiger silberner Stämme gewandert war, zu ihren Füßen ein bronzefarbener Teppich aus Blättern, auf die die Sonne fiel. Sie hatten sich verlaufen und plötzlich ziemliche Angst bekommen... „Ella, Ella!“ Laura spürte eine solche Sehnsucht, als ihr der Name von den Lippen kam, die ganz trocken waren, und Ellas Abwesenheit schmerzte sie. Hatte Ella kürzlich geschrieben? Laura konnte sich nicht erinnern. Meistens ließ sie die Briefe ungeöffnet liegen — Ella, wo bist du? So weit entfernt. Laura öffnete die Augen und fühlte sich wie eine Fremde im eigenen Garten. Doch wenn sie hier eine Fremde war, wo war dann ihr Zuhause? Und wo war sie selbst jetzt? Echte Panik war ein Verlust der Identität, denn anscheinend war sie unlösbar an die Schwäche und Qualen ihres Körpers gekettet, an ihre sich quälenden kranken Lungen. Welche Substanz existierte denn, die von ihrer Hand, ihrem Fleisch, ihren Knochen getrennt werden konnte? Laura hob ihre Hand hoch, die vor Magerkeit transparent geworden war. Bin ich das? Dieses blattähnliche Ding, das zerfällt, zerfällt, dieses Universum der Moleküle, das sich auflöst, diese wundersame Verwandlung ins Nichts. „Ihre Tante wird jeden Moment hiersein“, sagte Mary nun, indem sie das Teetablett über den Rasen trug, gefolgt von Brooks mit dem Beistelltisch. ,,Ah ja“, murmelte Laura. Sie fühlte sich plötzlich in
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der Falle und warf ihren Kopf von einer Seite zur anderen. „Ist alles in Ordnung, Mutter?“ „Oh, vermutlich“, sagte sie gereizt. „Ich bin schrecklich müde.“ Brooks und Mary warfen sich einen Blick zu. „Ich werde dich augenblicklich nach oben tragen, wann immer du willst. Wir dachten, du und Tante Minna möchtet hier draußen ein wenig lesen.“ So oder so, es war egal, und Laura schloß die Augen. Menschen kamen und gingen, aber niemand zählte mehr. „Na, meine Liebe“, erklang Tante Minnas volle, kühle Stimme, „wie gut, dich hier draußen zu sehen, an einem so schönen Tag!“ Laura fühlte sich nicht imstande zu antworten. Sie schlug die Augen auf und sah Tante Minna an, das liebe, faltige Gesicht, die leuchtenden Augen, die sie so scheu anblickten, aber sie konnte nicht sprechen. „Soll ich uns Tee eingießen?“ „Ja, Liebe.“ Das schwere Wort „Liebe“ zu formulieren, kostete sie Mühe. Ich will überhaupt nichts fühlen, dachte Laura. Bäume, doch keine Menschen. Irgendwann wäre dieses Martyrium vorbei, und sie läge wieder allein in ihrem Bett. Nur noch eine Weile ausharren, ermahnte sie sich. „Ich? Wer ist das?“ „Ich hab' nicht verstanden, was du gesagt hast. Ich werde schrecklich schwerhörig“, sagte Tante Minna und schenkte den Tee ein. „Was war das?“ „Nichts“, sagte Laura. „Ben ist da, hat Mary gesagt.“ „Ja, er hat sein Bild beendet und mitgebracht.“ Tante Minna zögerte, ehe sie Laura die Tasse reichte, und eine Sekunde lang trafen sich ihre Blicke. Lauras Augen baten um etwas, aber sie wußte nicht, um was, und Tante Minnas füllten sich plötzlich mit Tränen. „Möchtest du deinen Tee?“ fragte sie dann, ganz beiläufig. „Ich weiß nicht.“ Laura gelang es, sich etwas aufzuset-
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zen. „Einen Schluck. Vielleicht kannst du sie mir halten. Meine Hände zittern so.“ „Natürlich, meine Liebe.“ Jede von uns ist für eine kleine Geste dankbar, wie das Hochheben einer Tasse, dachte Laura. Denn j etzt gibt es nichts zu kaschieren. Ich bin absolut hilflos und nackt. Laura trank zwei Schlucke und lehnte sich zurück. „Möchtest du, daß ich ein wenig lese?“ „Nichts scheint mehr von Bedeutung“, sagte Laura. „Ja... nun... wollen wir einfach zusammen ein Weilchen hier sitzen?“ Im Tonfall schwang Angst mit, keine Beruhigung. „Ja.“ Aber Tante Minna zappelte in ihrem Stuhl, und aus den Augenwinkeln bemerkte Laura, daß sie sie verstört anblickte, als wäre das Stillsitzen das einzige, das diese bewundernswerte lebhafte, aktive, gebieterische alte Frau nicht über sich bringen konnte. Sie trank ihren Tee mit lautem Schlucken, dann stellte sie die Tasse ab. „So ein herrlicher Tag. Erinnerst du dich: ,Sieh zuletzt auf alles Schöne, jede Stunde'?“ „Das Sehen fällt mir jetzt schwer“, sagte Laura. Sie war darüber hinausgelangt, Tante Minna zu beschützen. Sie schloß die Augen. Es war besser, nicht zu sehen. In diesem Eingeschlossensein fand sie sich mit der Tatsache ab, daß sie versucht hatte, Tante Minna ein letztes Mal zu sehen, und nicht so zu tun, als sähen sie sich weiterhin. Aber wie sollte sie das sagen? Es schien ein so schweres Unterfangen, daß Laura glaubte, sie hätte vielleicht die Sprache verloren. Tante Minna bekam das Schweigen in den Griff; sie zappelte nun nicht mehr in ihrem Sessel. Das machte es leichter, und Laura ruhte in diesem Schweigen und wartete. „Es ist eine lange Reise gewesen“, sagte sie schließlich, „und du hast mir dabei geholfen. Auch der liebe alte Trollope.“ „Was war das?“ fragte Tante Minna. „Ich hab' nicht mitgekriegt, was du zuletzt gesagt hast, Laura.“
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„Der liebe alte Trollope“, wiederholte Laura, so laut sie konnte, aber diese zusätzliche Anstrengung war fatal, und unvermittelt wurde sie von einem solchen Hustenanfall geschüttelt, daß sie nicht aufhören konnte. Der Husten zerriß sie förmlich. Sie konnte hören, wie Tante Minna aufsprang und außer sich rief: „Mary! Brooks! Kommt, bitte!“ Dann murmelte sie vor sich hin: „Verdammte Schwerhörigkeit. Das ist meine Schuld.“ Es kam ihr wie Minuten vor, doch endlich fühlte Laura, wie Mary den Arm um ihre Schultern legte, dieser starke Arm stützte sie. „Oh, danke“, stieß sie hervor. Sie keuchte jetzt, und der furchtbare Husten hatte sich gelegt. Sie lehnte ihren Kopf an Marys Brust. „Halten Sie mich, Mary.“ „Es ist gut, Laura. Es ist vorbei“, flüsterte Mary. Lauras Wange ruhte auf dem gleichmäßigen Herzschlag, und sie kam sich dabei wie eine Ertrinkende an einem stillen Ufer vor. Jetzt waren viele Leute da — Ben, Brooks, Ann, Tante Minna. Sie war einer solchen Menge ausgesetzt, alle standen da und sahen zu, wie ihr die Tränen über die Wangen strömten. „Bitte, bring mich in mein Zimmer“, hauchte sie. „Ich bin hier, Mutter.“ Brooks war sofort an ihrer Seite. „Solltest du nicht lieber einen Moment warten?“ Bens Stimme. „Ich glaube, sie möchte nach oben.“ Anns beherrschte Stimme. „Ja“, hauchte Laura, „bitte.“ Ben und Brooks hoben sie ganz behutsam hoch, dann hielt ihr Sohn sie wieder in den Armen und trug sie langsam über den Rasen und die Treppe hinauf, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen, und die Schulter des armen Brooks war naß, als er sie endlich in ihr Bett legte. „Es tut mir leid, Mutter“, sagte Brooks nun, „das Ganze war ein Fehler, aber wir wußten es nicht, und Jim glaubte...“ „Es ist gut“, Laura rang sich ein Lächeln ab. „Wie schön, wieder hierzusein. Es ist nur, weil ich so schwach bin... die Tränen, meine ich. So dumm, aber...“
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„Hier ist eins von Vaters Taschentüchern, das ich für dich herausgesucht habe“, sagte Ben, und Laura putzte sich dankbar in dem weichen Leinen die Nase. „Ich denke, sie sollte sich jetzt ausruhen“, meinte Mary. „Sie gehen jetzt alle hinunter und trinken eine gute Tasse Tee mit Miss Hornaday. Ich fürchte, sie ist ganz außer sich.“ „Danke, Mary.“ Dann waren sie alle fort, alle außer Grindle, der am Bett lag, die Nase auf den Pfosten, seine Augen unverwandt auf Lauras Gesicht. Er hatte einen ziemlich absurden Blick, in dem etwas Heiliges lag. Laura sah ihn an, dann wandte sie das Gesicht ab. Ich ertrage die Liebe nicht, dachte sie. Es ist zuviel für mich. Ich kann sie nicht mehr geben oder annehmen. Armer Grindle. Das Loslassen wurde allmählich leichter. Das einzige, was sie empfand, war ein unendliches Mitleid mit den Lebenden, die diese Reise noch vor sich hatten. Aber es war kein Mitleid, das sie äußern konnte. Nur wollte sie seltsamerweise nicht mehr allein sein. Wann käme wohl jemand? Unten konnte sie Gemurmel hören, Tante Minnas Stimme war so rein, so jung, klarer als das Nuscheln der anderen. Es war gut zu wissen, daß sie da waren, nicht weit weg immerhin. Sie konnte daliegen und ihnen lauschen, und nach einer Weile würde jemand kommen.
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22 Als Laura wieder voll zu Bewußtsein kam, war es später Nachmittag, wie sie vermutete, denn das morgens so sonnendurchflutete Zimmer war dunkel. Dunkel und leer. Weder befand sich Grindle neben ihrem Bett noch Sasha darauf. Und sie hörte von unten nicht einen Laut. Hellwach lag sie da und lauschte, nicht auf Geräusche von außen, sondern spürte dem Gefühl nach, sich in einem sterbenden Körper zu befinden, dem stillen Treiben in ihrer Brust, dem Atem, der sie noch immer am Leben hielt, ein und aus, ein und aus, ein pfeifendes Atmen. Als Mary auf Zehenspitzen hereinkam, ihr Kissen aufschüttelte und ihr ein wenig Lavendelwasser hinter die Ohren tupfte, flüsterte Laura: „Ich will wirklich nicht mehr... atmen.“ Mary antwortete nicht, legte nur ihre Hand auf Lauras Stirn. Sie fühlte sich wunderbar kühl an, diese glatte Hand. „Was kann ich tun, um es Ihnen angenehmer zu machen?“ fragte sie nach einer Weile und setzte sich auf die Bettkante. „Nichts, danke.“ Ich verliere allmählich die Fähigkeit, Beziehungen herzustellen, dachte Laura. Sie fühlte sich weit entfernt, zu weit entfernt für Worte. „Immerhin ist es schön friedlich“, sagte Mary leise. „Ben ist zum Essen zu Brooks und Ann gefahren. Also schlafen Sie ein Weilchen.“ „Ich habe geschlafen“, flüsterte Laura. „Vielleicht würden Sie bei mir bleiben, Mary.“ „Ich hole mir etwas zum Nähen und bin gleich wieder da.“ Inzwischen, bis Mary zurückkam, geriet Laura überra-
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sehend ins Schweben. Sie trieb mit Bruder Esel dahin und dachte, daß sie sich bald trennten; sie lächelte über diesen unmöglichen Gedanken, denn wie könnten sie wohl getrennt sein? Wo wäre Laura ohne den Atem? So viele Menschen würde sie nie wieder sehen, aber sie litt nicht darunter. Sie fühlte sich bereit, sie alle zu verlassen. Worauf wartete sie dann? Was hielt sie noch immer in dem leeren Haus, in der leeren Welt? An welch winzigem, hauchdünnem Faden hing sie noch immer, der sie von dem zurückhielt, was sie sich, als sie sich noch wohl fühlte, als Abenteuer vorgestellt hatte, aber lediglich ein Fortgleiten war, ein Loslösen ins Nichts? Als Mary zurückkam und sich mit ihrem Nähkorb aufs Sofa setzte, seufzte Laura ganz tief. „Worauf warte ich noch immer, Mary?“ „Auf die gesegnete Dunkelheit vielleicht und ein neues Morgendämmern.“ „Ich weiß nicht.“ Dann schlug Laura die Augen auf und bat Mary, Bens Gemälde zur Wand zu drehen. „Es ist mir jetzt zuviel“, sagte sie, „ist mir jetzt zuviel Leben.“ Und kurz darauf: „Meine Mutter, sie lebt noch immer. Es kommt mir so seltsam vor.“ Dann folgte ein langes Schweigen. Laura wandte den Kopf ab, als wolle sie diese Bilder einer vorbeiziehenden Welt ausblenden, die das Wort „Mutter“ gegen ihren Willen heraufbeschworen hatte. Niemand hatte sich je so aufgetürmt, niemand einer solchen Abrechnung bedurft, schön und schrecklich. Schrecklich wie Medusa, sie hatte ihre Kinder zu Menschen erstarren lassen, die sich aufgrund der außergewöhnlichen Stärke ihrer Mutter irgendwie selbst reduzierten. „Ach, laß mich sein“, murmelte Laura, „laß mich gehen.“ Doch die strahlenden blauen Augen sahen auf die kleine Laura da in ihrem Krankenbett in der Schweiz herab, ergriffen totalen Besitz von ihr und bannten sie unentrinnbar. „Regen Sie sich nicht auf“, sagte Mary beruhigend. Sie
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stand jetzt am Bett, denn Laura warf den Kopf rastlos von einer Seite zur anderen, von Erinnerungen gequält. Wieder legte sie ihre beruhigende Hand auf Lauras Stirn. „Nicht, Mutter, rühr mich nicht an“, sagte Laura finster. „Es ist Mary.“ „Oh.“ Laura schlug die Augen auf. „Oh, ich glaube, ich habe geträumt.“ Ella hatte gesagt, es wäre nicht zu klären, und sie hatte recht. Wenn doch nur... Aber Laura rief sich mitleidlos ins Gedächtnis, daß Sterbende sich solchen Hoffnungen nicht hingeben können. Ella war dreitausend Meilen entfernt. Und doch war es nicht klar, ob dieser eine Faden, der Laura noch immer ans Leben band und warten ließ, nicht vielleicht Ella war. Eine Nachricht von Ella. „War ein Brief aus England im Stapel?“ fragte Laura sehr laut. Sie war verschwunden, als ihre Mutter das Zimmer betrat, nun kam sie zurück. „Ich sehe mal nach.“ Mary nahm den Stapel vom Nachttisch. „Nein, ich sehe keine englische Briefmarke.“ „Oh.“ Es war eine herbe Enttäuschung. Sie versetzte ihr einen wahren Stich, ihr, die noch einen Augenblick zuvor über den Schmerz hinausgelangt war. „Es ist so dunkel, Mary. Bitte, machen Sie Licht.“ Mary hatte schon längst gute Nacht gesagt und die Tür offengelassen, so konnte Laura das Licht in der Diele sehen, nachdem sie das öffnen und Schließen der Haustür gehört hatte und Bens Schritte, der die Treppe hinaufschlich. „Ich bin wach, Ben“, sagte sie. „Kann ich dir irgendwas bringen, Mutter?“ „Nein... aber vielleicht könntest du hereinkommen und eine Weile hier im Dunkeln sitzen. Falls du nicht zu müde bist.“ „Das mache ich doch gern“, sagte er, kam näher und küßte sie auf die Wange. Dann tastete er sich zur Couch und streckte sich darauf aus. Irgendwo draußen schilpte zaghaft ein Vogel und ver241
stummte dann. Das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Wagens erhellte für eine Sekunde die Wand gegenüber, und Ben mußte gesehen haben, daß sein Bild umgedreht worden war. Aber Laura fühlte sich zu einer Erklärung nicht imstande. Sie war völlig damit beschäftigt, aus einem langen Tunnel zurückzukehren, sich hinauszulavieren. „Ben?“ „Ja, Mutter.“ „Erzähl mir von deinen Freunden, von deinem Leben — im Krankenhaus haben wir gerade erst angefangen.“ „Das alles muß ziemlich belanglos erscheinen“, sagte er. „Nein, eins der merkwürdigsten Dinge an dieser Reise ist“, Laura schob sich ein wenig hoch, damit sie reden konnte, „daß ich etwas begriffen habe... über unsere androgyne Welt. Ich habe versucht, dir von Ella zu erzählen. Sie ist es nämlich, die mich all diese Monate begleitet hat, die einzige Person, die ich sehen wollte. Warum?“ „Ich weiß nicht, Mutter. Etwas Nichtabgeschlossenes vielleicht?“ „Nein, nichts Unabgeschlossenes.“ „Da ist niemand, den ich würde sehen wollen“, sagte Ben nach kurzem Schweigen. „Niemand?“ „Na ja“, es schien, als hörte sie förmlich, wie sich eine innere Tür in Ben auftat. „Vielleicht Pierre.“ „Erzähl mir...“ Ben stieß einen tiefen Seufzer aus, dann folgte Schweigen. „Er war älter als ich, und ich habe ihm am Ende übel mitgespielt.“ „Manches Gute kann wohl nicht dauern“, erklärte sie. „Er war einfach zu stark für mich, eine zu starke Persönlichkeit. Ich war damals wirklich noch nicht trocken hinter den Ohren, so ein Hitzkopf, so von mir selbst überzogen, so unsicher, was das Malen anbetraf, und mußte das rechtfertigen, was sich wohl kaum als erfolgreiche Karriere bezeichnen ließ.“
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„Was war Pierre?“ „Bühnenbildner, größtenteils für Opern — und darin war er ein Genie. Ich glaube, ich war neidisch auf all den Ruhm und das Geld.“ „Ja.“ „Aber auf seine besondere Weise hat er mich eine Menge über die Liebe gelehrt. Er mochte mich wirklich. Aber er hat mich zu sehr gedrängt, weißt du. Ich habe mich schließlich als Gefangener seines Willens gefühlt... was das Malen anging.“ Dann sagte Ben sehr bestimmt: „Ja, würde ich sterben, hätte ich den Wunsch, Pierre zu sehen.“ „Glaubst du, er würde es wissen und kommen?“ flüsterte Laura. Sie dachte an Ella. „Wer weiß? In den letzten Jahren sind wir beide vielen Menschen begegnet.“ „Ja, aber die Zeit und andere Menschen zählen nicht wirklich“, sagte Laura. „Schließlich habe ich Charles geheiratet.“ „Mutter!“ Es wäre letztlich doch nicht möglich. Mütter und Söhne. Mütter und Töchter. Ben war schockiert. „Es gibt so viele Arten von Liebe, Ben. Charles zu heiraten war das Beste, was ich getan habe. Er brach den Bann meiner überwältigenden Mutter. Er trug mich fort in die natürliche Welt, und es war höchste Zeit.“ Sie konnte das gepreßte Atmen auf der Couch hören. Aber Laura spürte allmählich, wie es sie anstrengte, so vieles zu überbrücken, zu erklären, es überstieg ihre Kraft. „Meinst du damit, dein Gefühl für Ella war nicht natürlich?“ „Oh Himmel, nein. Ich meine, daß Mutters Welt nicht natürlich war.“ „Ich verstehe nicht ganz.“ Laura schwieg. Sie wollte in den Tunnel zurückkehren und nicht versuchen, eine Verbindung herzustellen. Es in Worte zu fassen war jetzt zu schwer, zu kompliziert. Aber sie hatte etwas begonnen, und ihr war absolut bewußt, welche Spannung auf Ben lastete, der da im Dunkeln lag
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und von dem gefordert wurde, Dinge zu schlucken, die ein Sohn über seine Mutter schwer verkraftete. „Diese Reise hat mir unter anderem ein völlig neues Verständnis dessen gebracht, was Frauen füreinander und was Männer füreinander bedeuten können. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe viel darüber nachgedacht, wie offen jetzt die Welt wird, wie isoliert wir alle gewesen sind — durch die Angst und Tabus. Wieviel wir entbehrt haben.“ „Ich glaube“, sagte Ben, „wenn ein ganzes Leben aufgearbeitet wird, treten eigenartige Wahrheiten zutage und werden vielleicht klar — eine neue Erkenntnis dessen, wo die stärksten Fäden dieses Musters im Gewebe ihren Anfang nahmen.“ „Ja, ja, das ist es. Du hast es mir aus dem Mund genommen, Ben.“ „Du warst recht jung, als du und Ella euch kennengelernt habt. Hat sie ebenfalls geheiratet?“ „Oh ja.“ Und dann gelang es Laura in einem letzten Anflug an Einsicht und Erkenntnis, das alles klar zu sehen. „Wir waren sehr verschieden und doch, wann immer wir uns trafen, verschmolzen wir zu einer Person in zwei Körpern — wir waren nie ein Liebespaar, Ben —, aber es gab eine Art des Verstehens, der übereinstimmenden Reaktion auf alles, von der Kunst bis zur Landschaft, vom Essen bis zu den Menschen. Wenn ich mit ihr zusammen war, wurde ich ganz und gar ich selbst.“ Das war alles, wofür Laura die Kraft hatte, und sie spürte jetzt, wie sie fortglitt. Als der Morgen graute, lag Ben noch immer auf der Couch, er schlief fest mit leicht geöffnetem Mund und sah aus wie ein kleiner Junge. Laura betrachtete ihn einen Moment und wandte sich dann ab, weil schlafende Menschen zu ausgesetzt sind. Sie sah, welch einen langen Weg er noch gehen mußte, um erwachsen zu werden. Wie verletzlich er war. Aber sie sah es aus großer Distanz. Als läge ihr Sohn dort in einem Gemälde. Der Morgen erwies sich als klar, hell, kühl, und zum erstenmal seit Tagen trank Laura eine Tasse Tee, ohne daß
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ihr übel wurde. Nach einer so langen Zeit ohne Nahrung fühlte sie sich von der Wärme belebt, eine echte Wohltat, und von der Couch betrachtete sie Mary, die das Bett bezog: ihre schweigende Gegenwart und ihre Art, die Kissen aufzuschütteln, waren an sich bereits eine Wohltat. „Wo ist Ben?“ „Unten beim Frühstück.“ „Wir hatten ein längeres Gespräch mitten in der Nacht.“ „Das Sie wahrscheinlich erschöpft hat.“ „Nein, ich fühle mich besser.“ „Auf seinem Weg zum Krankenhaus wird Dr. Goodwin hereinschauen... und...“, Laura spürte Marys Zögern, „vielleicht sollte ich Ihnen sagen, daß Ihre Schwester Daphne und Daisy heute nachmittag kommen. Ich habe erklärt, daß Sie sehr matt sind und nicht reden könnten. Es war Miss Daphne, mit der ich gesprochen habe, und sie sagte, sie würden kommen und abwechselnd bei Ihnen sitzen oder tun, was immer sie könnten.“ „Es ist gut, wenn jemand hier sitzt und nicht spricht.“ Laura seufzte. „Ich habe nicht geglaubt, daß ich das je brauchen würde, aber ich tu's.“ „Daisy sagte mir, sie hätte versprochen, Ihnen ihre Lieder vorzusingen“, sagte Mary mit einem raschen ironischen Blick in Lauras Richtung. „Sie bringt ihre Gitarre mit.“ „Oh.“ Laura schloß die Augen. Sie mußten von ihr nicht erwarten, daß sie auf irgend etwas reagierte. „Unten“, sagte sie, „bitten Sie sie, unten zu singen.“ „Ja, meine Liebe.“ Laura war so schwach, daß sie fast umfiel, als Mary ihr ein frisches Nachthemd überstreifte, und bei dieser Unbeholfenheit brachen sie beide in Lachen aus. „Ach, Mary, ich danke Ihnen“, murmelte Laura, als sie wieder ins Bett sank. „Da ist schon der Arzt.“ Mary eilte hinunter, denn es klingelte. „Nun“, sagte Jim, der hereinkam und sich umsah, „alles ist tipptopp in Ordnung hier, wie ich sehe.“ Er setz-
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te sich auf das Bett und legte sacht seine Hand auf ihre. „Ich bin wie venezianisches Glas“, sagte Laura und lächelte zu ihm auf. „Wenn Sie mich berühren, zerspringe ich vielleicht.“ „Es tut mir leid, daß mein kleiner Plan, Sie gestern nach unten zu bringen, ein so elender Fehlschlag war, Laura. Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen.“ „Sie haben nur ein Versprechen gehalten.“ „Manchmal kann das ganz dumm sein.“ „Aber“, sagte Laura — und nun kam etwas, das sie seit dem Krankenhaus zu sagen vorgehabt hatte: „Aber Sie haben das wesentliche Versprechen gehalten.“ „Ja? Was war das?“ „Mich meinen eigenen Tod haben zu lassen. Wir haben die Wissenschaft, so gut es ging, heraushalten können, nicht wahr, Jim? Ich hatte solche Angst, daß sie glaubten, Sie müßten Chemotherapie anwenden oder... sonstwas.“ Er schloß seine Hände über der ihren und drückte sie. „Sie haben sich nie für Gott gehalten.“ Jim lachte. „Nein, tatsächlich, das habe ich nie.“ „Nun ja, einige Ärzte schon, nicht wahr?“ Jim antwortete nicht, da er ihr gerade den Puls fühlte. Als er ihre Hand losließ, sagte er: „Ich habe eine Menge von Ihnen gelernt, Laura.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, was.“ Er schwieg einen Augenblick, und Laura bemerkte, daß er müde aussah. Er hatte ein verknittertes Gesicht. Soweit sie feststellen konnte, war er die halbe Nacht aufgewesen. „Es läßt sich schwer in Worte fassen. Ich kann's wirklich nicht. Aber alles, was ich sagen kann, ist, daß es scheint, als hätten Sie Ihren Tod gelebt, gelebt, statt ihn zu sterben, meine ich. Es ist eine bedeutsame Reise gewesen, nicht?“ „Ja.“ Nun lächelte Laura. „Jim, heute fühle ich mich wohl, besser, als ich mich seit Ewigkeiten gefühlt habe. Ich frage mich, warum?“ „Das nennt sich Remission“, sagte Jim leise. „Es wird nicht dauern?“
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„Vielleicht.“ Er stand jetzt auf. „Ich muß lossausen, Laura.“ „Danke fürs Kommen... und, Jim, für alles.“ Er blickte sie rasch, durchdringend an. Und irgendwie, obwohl es keinen Grund dafür gab, da sie sich soviel besser fühlte, wußte Laura, daß dies ein Abschied war. Wenngleich ihr das Atmen heute morgen nicht schwerfiel, spürte Laura, daß sie davongetragen wurde, auf einer großen Flutwelle davongetragen, und sie hatte keine Angst mehr. Sie war froh, hier zu liegen, allein, auf dem kühlen, frischbezogenen Kissen in der Morgensonne, und ließ sich mit der Welle treiben. Nur ein dünner Faden verband sie noch immer mit dem Ufer, und ohne Zweifel zerrisse er bald. Sie war eingenickt, als Ben kam, um ihr einen Gutenmorgenkuß zu geben. „Ich möchte nur ein wenig schlafen, Ben.“ „Ich werde nebenan in meinem Zimmer sein, falls du etwas brauchst.“ Später kam Mary mit einer Hühnerbrühe, doch Laura wollte sie nicht. „Ich würde gern meinen Mund ausspülen, er ist so trokken“, sagte sie, „aber ich bin nicht hungrig.“ Sie schwebte nicht; keine Bilder stiegen aus der Vergangenheit auf. Aber sie war ganz in sich, an einem dunklen, entfernten Ort, und wartete auf etwas, worauf, wußte sie nicht. Nicht auf Daphne, das wußte sie, obwohl später, als sie die Augen nach langem Schlaf aufschlug, Daphne neben ihr war; sie lächelte und hielt einen Augenblick Daphnes Hand. „Nicht sprechen, Liebling“, sagte Daphne, beugte sich zu ihr und küßte sie. „Ich werde nur still hier sitzen.“ „Danke“, hauchte Laura. Nach einer Weile sagte sie: „Ich möchte sterben.“ Ihr wurde bewußt, daß sie diese Worte nie zuvor gesagt hatte. „Du bist so müde“, sagte Daphne. „Ja.“ Warum konnte sie dann nicht loslassen? Die warme Nachmittagssonne flutete ins Zimmer, doch sie hielt
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die Augen geschlossen. Laura fühlte sich von jeder Verpflichtung befreit, Menschen zu erkennen oder zu reagieren. Eine stille, liebevolle Gegenwart war alles, was sie brauchte. „Ich fühle mich so wohl, es ist merkwürdig“, sagte sie nach einer langen Weile.
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23 Grindles aufgeregtes Bellen rüttelte Laura auf, sie hörte, daß unten etwas vor sich ging und das Geräusch eines abfahrenden Wagens. Mary mußte den Hund heute unten behalten haben, denn Laura hatte ihn noch nicht gesehen. Sie schlug die Augen auf. Daphne flüsterte: „Ich werde hinuntergehen und nachsehen, wer es ist, vielleicht hat Daisy einen früheren Flug genommen.“ Aber Laura spürte deutlich, daß es nicht Daisy war. Aufregung erfaßte sie, und sie wünschte, sie hätte die Kraft aufzustehen. Das konnte sie freilich nicht, doch gelang es ihr, sich halb aufzusetzen, während Daphne die Treppe hinunterlief. Die Haustür öffnete und schloß sich. Sie hörte Frauenstimmen, die sie aber nicht unterscheiden konnte. Ist das ein Traum? fragte sich Laura. Ich träume das Ende einer Reise. Es ist nicht Wirklichkeit. In den letzten Wochen hatte sie so oft gehört, wie sich die Tür öffnete und schloß, und sich gefragt, wer gekommen war, wessen Schritte im nächsten Augenblick die Treppe heraufkämen — Marys oder Jim Goodwins oder Bens mitten in der Nacht. Sie schloß die Augen. Konnte es sein, daß der Tod schließlich die Tür öffnete, daß der Tod die Treppe heraufkäme? Wer auch immer es sein mochte, Laura ahnte, daß ihr etwas unmittelbar bevorstand, und ein so tiefes Beben erfaßte sie, daß sie die Laken mit den Händen umkrampfte, um das Zittern zu beherrschen. Dieses Warten dauerte ewig, und sie betete im stillen, daß es ein Ende nähme. Dann hörte sie flinke, leichte Schritte auf der Treppe. Laura öffnete die Augen, konnte aber nicht sehr klar sehen — eine verschwommene Gestalt stand im Türrahmen.
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„Liebste, hier ist Ella.“ „Oh, Snab.“ Und schon hielt Ella die kalten zitternden Hände mit ihren warmen Fingern umschlossen. „Oh, Snab“, wisperte Laura, „ich habe nicht gedacht, daß du kommen würdest.“ „Ich mußte kommen. Vorgestern wußte ich einfach, daß ich kommen mußte, und nahm das erste Flugzeug, das ich kriegen konnte.“ Laura spürte, wie ihr die Tränen unter die Lider quollen und einzeln über ihre Wangen rollten. „Achte nicht darauf, ich bin so schwach.“ „Rede lieber nicht.“ Doch Laura wollte so gern erklären. Sie flüsterte: „Es ist eine so lange Reise gewesen, aber ich konnte nicht loslassen — und ich wußte nicht, worauf ich wartete.“ „Ich bin hier.“ „Ja.“ Ella tastete nach einem Kleenex und trocknete zärtlich Lauras nasse Wangen. „Geh nicht fort.“ „Ich gehe nicht.“ Dann schlug sie die Augen auf. Zuerst kam ihr Ella ganz fern vor — sie hatte weißes Haar, und ihr braunes Gesicht war faltig —, so viel älter als in ihrer Vorstellung; denn Laura wurde bewußt, daß sie in diesen letzten Monaten Ella ganz jung vor sich gesehen hatte. Zumindest die dunklen Augen hatten sich nicht verändert. Sie waren intensiv und leuchtend. „Es ist eine so lange Zeit gewesen“, sagte Laura und sah auf die eigenen welken Hände. „Aber ich habe an dich gedacht, an Paris, an uns, fast jeden Tag, seit... seit Jim Goodwin es mir gesagt hat.“ „Ich wollte kommen, als du das erste Mal geschrieben hast, aber ich habe es nicht gewagt.“ Und Ella blickte sie mit ihrem versonnenen, heimlichen Lächeln an, das Laura so gut in Erinnerung hatte. „Absoluter Friede“, flüsterte Laura. Sie wollte noch nicht sprechen, es war eine Erfüllung, eine solche Erfüllung, daß Ella einfach da war, auf dem Bett saß, berührt werden konnte, real war, nicht Tausende
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von Meilen entfernt, um als Trost in den endlosen Nächten des Wartens auf den Morgen heraufbeschworen zu werden. Sie wollte noch nicht sprechen, aber sie wußte, daß sie sich ein letztes Mal aufraffen mußte. Es gab noch einiges, das sie zu sagen hatte. „Du mußt müde sein“, flüsterte sie. „Warum legst du dich nicht auf die Couch. Später werden wir reden.“ „Das müssen wir nicht“, sagte Ella, hob Lauras Hand und küßte sie. „Ruh dich jetzt aus.“ Eine stille Welle des Glücks erfaßte Laura, als sie so dalag, nicht jener treibende Strom, der sie davontrug, sondern die Flut auf ihrem Höhepunkt, gerade bevor sie umschlägt. Darin ruhte sie. Waren Augenblicke oder Stunden vergangen, als Laura die Augen aufschlug, sich ausgeruht fühlte und zu reden begann? Ihr Atem ging in kurzen Stößen, doch immerhin war noch Atem vorhanden. „Ella, kannst du mich hören, Snab?“ „Ganz deutlich“, sagte Ella von der Couch her. „In letzter Zeit ist mir nichts real vorgekommen... die Kinder... meine Schwestern... Aber Sybille türmt sich noch immer auf und hält mich zurück. Dann dachte ich jedesmal an dich, und der Gedanke an dich... oh, wie du in einem Liegestuhl im Luxembourgpark sitzt...“ „Und in die herrlichen Wolken schaue, alles war so voller Leben.“ „Ich muß ganz tief in mich gehen. Es ist so schwer zu erklären.“ „Laß dir Zeit.“ Laura rieb sich mit der Hand die Stirn und versuchte, die schwer definierbare Verbindung herzustellen. „Ich glaube, daß diese ganze Reise auf den Tod zu in gewisser Weise ein Einlassen auf die Frauen war, mein Zusammenschluß mit allen Frauen.“ „Und doch türmt sich Sybille noch immer und hält dich zurück.“ „Ich muß über sie hinausgelangen.“ „Darüber, von ihr besessen zu sein, ja. Snab, seit ich
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weiß, was dir bevorsteht, habe auch ich viel über Sybille nachgedacht.“ „Erzähl mir.“ „In Wahrheit hatte sie große Angst.“ „Mama?“ Laura lächelte. In der Legende war Sybille furchtlos. „Angst vor Dingen, die sie sich selbst nie eingestehen konnte, meine ich. Deshalb versuchte sie, dich vor all jenen Gefahren zu bewahren.“ „Welchen Gefahren?“ fragte Laura mit matter Stimme. „Sie focht einen schrecklichen, zermürbenden Kampf gegen die eigene Natur, vielleicht gegen das Begehren selbst, und die einzige Möglichkeit, das zu tun, war vielleicht, indem sie eine Rolle spielte, das spielte, was sie sein wollte und nicht sein konnte, eine souveräne Persönlichkeit mit absoluter Selbstbeherrschung.“ „Sie hat uns etwas vorenthalten.“ „Ja, das hat sie, allerdings in so verschwenderischer Weise, daß es schwer war, die wahren Entbehrungen hinter all dem großartigen Gerede und all diesen noblen Taten aufzuspüren.“ „Aber was hat sie uns vorenthalten?“ „Das zu lieben, was ihr liebtet, und das zu mögen, was ihr mochtet. Du hattest so einen irre guten Geschmack, weißt du. Er war umwerfend.“ Laura hörte Ellas hinreißendes Lachen, ein Glucksen in der Kehle. „Ich habe gewagt, dich zu lieben“, antwortete Ella. „Sie versuchte, sich zwischen uns zu stellen, wie du dich erinnerst. In der Schweiz wurde mir klargemacht, daß es besser wäre, dich nicht mehr zu besuchen, als ich das zweite Mal durch ihr Sperrfeuer kam.“ „Warum hatte sie Angst? Wir waren kein Liebespaar.“ „Nein, aber wir hatten etwas Echtes auf einer Realitätsebene, die sie nicht verkraften konnte, die sie in gewisser Weise bedrohte. Es hat unser Leben lang bestanden, Snab.“ „Ja“, sagte Laura, seufzte, lehnte sich aufs Kissen zurück und starrte zur Decke. „Echt.“
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„Was hast du mit dem Einlassen auf Frauen gemeint?“ Es entstand eine Pause. Worte waren unfaßbar geworden. Laura konnte nicht die richtigen finden. Sie schwirrten in ihrem Kopf herum. Schließlich stieß sie hervor: „Solidarität. Etwas, das Frauen sich erst zu erschließen, zu verstehen beginnen, eine gewisse Zärtlichkeit füreinander als Frauen. So, wie Sybille war, hatten wir Angst davor. Snab, du bist die einzige, die ich sehen wollte, niemand sonst — auch wenn ich dich gebeten habe, nicht zu kommen.“ Nach einer Weile fügte sie hinzu: „Ich habe tatsächlich mit Ben geredet, weil er diese Dinge versteht. Nur war es für ihn komplizierter, vielleicht schwerer, weil er ein Leben lebt, das für manche Leute noch immer befremdend ist.“ Laura spürte jetzt einen Anflug von Kraft. Sie konnte leichter atmen. „Trotzdem wollte er über dich im Grunde nichts hören.“ „Vermutlich nicht. Schließlich sollten Mütter solche Gefühle nicht haben.“ Ein Lächeln schwebte zwischen ihnen im Raum. Infolgedessen sagte Laura: „Merkwürdig, daß wir kein Liebespaar waren, warum nicht?“ „Meine Güte, Laura, gewiß erinnerst du dich an die Atmosphäre von Skandal, schlimmer noch: Sünde, die damals solche Beziehungen umgab! Wir waren von diesem ganzen Ethos vergiftet, der uns lehrte, eine Todesangst vor dem zu haben, was unser Körper uns zu lehren versuchte. Außerdem gehörten wir zu der Sorte, die heiratet. Eine leidenschaftliche Liebe hätte schreckliche Konflikte geschaffen. Snab, ich glaube wirklich, daß wir da» Beste hatten.“ „Das Beste?“ „All das, was wir gemeinsam hatten — die Art, wie wir über alles reden konnten, ohne Vorbehalte. Es war eine Freundschaft von mystischer Intensität. Jedes Blatt auf den Bäumen im Frühling, jeder Brunnen, sogar der klebrige Asphalt unter unseren Füßen, der üble, süße Geruch der Metro. All das hat sich in unsere Erinnerung geprägt.“ „Mmm“, pflichtete Laura bei, horchte aber jetzt auch 253
auf das, was Ellas Gegenwart in ihr ausgelöst hatte, und das in Worte zu fassen, überstieg fast ihre Kraft. Nach einer Weile murmelte sie: „Zärtlichkeit. Darauf hat sich Sybille nicht verstanden. In einem Brief manchmal, doch körperlich konnte sie sie uns nie geben.“ „Und du glaubst, genau die können Frauen einander geben, haben sie aber unterdrückt und lernen es jetzt?“ „Sie teilen die Erfahrung des Frauseins. Es ist ein fast unentdecktes Territorium, Snab, meinst du nicht auch?“ „Ja, aber das ist schwierig — vielleicht unmöglich — zwischen Müttern und Töchtern.“ ,,In all den Jahren, als Daisy aufwuchs, war sie meine Antagonistin, wie du weißt.“ „Vielleicht ist das natürlich. Aber deine Mutter hat das nie zulassen können. Auf ihre unnachahmliche Weise versuchte sie, ihren Kindern alles zu sein — Geliebte, Freundin, Gouvernante, Lehrerin und vor allem Göttin! Kein Wunder, daß ihr erdrückt wurdet und fast an ihr erstickt seid, jede von euch.“ Von einer Erkenntnis getrieben, war Laura plötzlich imstande, sich aufzusetzen. „Ja“, sagte sie mit ihrer normalen Stimme, „aber das wollte sie für all ihre Freunde sein, sowohl für Männer als auch Frauen, und deshalb war sie auf ihre seltsame Weise großartig!“ Laura spürte, wie Licht in ihr aufbrach, und streckte die Hand nach Ella aus. „Ich glaube, ich fange an, sie zu sehen. Endlich.“ Die Anstrengung war enorm gewesen, und nun sank sie keuchend zurück. „Ruh dich aus, Snab, ruh dich aus.“ „Ich habe nicht gehustet“, flüsterte Laura. „Das ist ein Wunder.“ „Pssst.“ Ella legte ihr den Finger auf die Lippen. Ein langes Schweigen entstand. Und währenddessen wußte Laura, daß die Flut umgeschlagen war und nun abzuebben begann. Ella war da, doch nicht mehr in Reichweite, aber eigenartigerweise wollte Laura nicht, daß sie näher kam. Es genügte, daß sie da war. Die Türklingel ertönte. Wieder vernahm sie Stimmen in 254
der Diele. Laura glaubte, Daphne zu hören, dann Daisys Flüstern und kurz darauf das leise Stimmen der Gitarre. „Es ist Daisy“, murmelte sie, „sie spielt für mich.“ „Möchtest du, daß sie heraufkommt?“ fragte Ella. „Nein.“ Dann nach einer Weile des Schweigens: „Nur du.“ Nun war nichts, kein heimlicher Faden, der sie festhielt. Sie mußte nur loslassen, sich sanft von der Flut forttragen lassen. Sie fühlte sich leicht, leicht wie ein Blatt auf einem starken Strom. Ein wenig später hörte sie ganz in der Ferne eine junge Stimme singen: „Fais dodo, Colas, mon p'tit frère. Fais dodo.“ Sybilles Lied. Die Tochter singt für eine Mutter, die Mutter singt für eine Tochter — nun hörte sie es kaum mehr. Dann trieb sie fort. Wie seltsam, sie konnte Ella dort hinten sehen, die ihre Hand hielt, konnte sie aber nicht fühlen. Sie hatte losgelassen.
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Die Schriftstellerin und Lyrikerin MAY SARTON ist 1912 in Belgien geboren und lebt in York, Maine, USA. Sie veröffentlichte bisher fünfzehn Romane, elf Lyrikbände und fünf Prosawerke.
Bücher von May Sarton
LYRIK Encounter in April Inner Landscape The Lion and the Rose The Land of Silence In Time Like Air Cloud, Stone, Sun, Vine A Private Mythology As Does New Hampshire A Grain of Mustard Seed A Durable Fire Collected Poems, 1930-1973 Selected Poems of May Sarton ROMANE The Single Hound The Bridge of Years Shadow of a Man A Shower of Summer Days Faithful Are the Wounds The Birth of a Grandfather The Fur Person The Small Room Joanna and Ulysses Mrs. Stevens Hears the Mermaids Singing Miss Pickthorn and Mr. Hare The Poet and the Donkey Kinds of Love As We Are Now Crucial Conversations A Reckoning PROSA I Knew a Phoenix Plant Dreaming Deep Journal of a Solitude A World of Light The House by the Sea
Auf Deutsch erschienen:
May Sarton MRS. STEVENS HÖRT DIE MEERJUNGFRAUEN SINGEN In diesem Roman setzt sich Hilary Stevens, eine siebzigjährige Autorin, mit der Frage auseinander, was es bedeutet, Frau und Schriftstellerin zu sein. Während eines Interviews, inspiriert durch die Frage nach den Stilwechseln in ihren Werken, reflektiert sie ihre Anschauungen über die Verbindung von Kunst und Leben, die eigene innere und äußere Wirklichkeit, ihre Begegnungen mit der Muse. Die Quelle ihres kreativen Impulses ist die Liebe, deren Intensität Hilary veranlaßt, Medusa ins Gesicht zu sehen und darin ihr eigenes zu erkennen.