Thomas Bernhard
Holzfällen Eine Erregung
scanned by AnyBody corrected by Dr Gonzo »Holzfällen« gehört zu den wichtigst...
71 downloads
1146 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Thomas Bernhard
Holzfällen Eine Erregung
scanned by AnyBody corrected by Dr Gonzo »Holzfällen« gehört zu den wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen des Jahres 1984 und hat in Österreich einen Skandal ausgelöst. Es wurde kurz nach Erscheinen beschlagnahmt, später verbot der Autor seinem Verlag sogar den Vertrieb in Österreich. Der hohe literarische Rang des Werkes ist unbestritten: »Was Thomas Bernhard hier schreibt, ist eine große Auseinandersetzung mit menschlichen Beziehungen, mit Verstrickungen, Liebe, Ausbeutung, Verrat, Haß.« (Backcover) ISBN 3518019279
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Suhrkamp Verlages, Frankfurt am Main
für die Deutsche Buch-Gemeinschaft C.A. Koch's Verlag Nachf., Berlin •
Darmstadt • Wien Diese Lizenz gilt auch für: die Bertelsmann Club GmbH,
Gütersloh die EBG Verlags GmbH, Kornwestheim die Buchgemeinschaft
Donauland Kremayr & Scheriau, Wien und die Buch- und
Schallplattenfreunde GmbH, Zug/Schweiz
© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1984
Schutzumschlag und Einband: K. Hartig
Gesamtherstellung: May + Co, Darmstadt
Printed in Germany • Buch-Nr. 05209 2
Klappentext »Holzfällen«, das neue Prosabuch von Thomas Bernhard, ist die Geschichte einer »Erregung«, die Geschichte eines >künstlerischen Abendessens< im Hause des Ehepaares Auersberger, in Wien, in der Gentzgasse. Der Ich-Erzähler, in dem diesmal noch mehr als sonst Fiktion und autobiographische Fakten verschmolzen sind, ein Schriftsteller, sitzt auf dem Ohrensessel und beobachtet die Gesellschaft, die, Champagner trinkend, auf den Schauspieler des Burgtheaters wartet, der versprochen hatte, nach der Aufführung der »Wildente« gegen halb zwölf zu diesem Essen zu kommen, das eben durch seine Anwesenheit den Rang eines >künstlerischen Nachtmahls< erhalten sollte. Während seiner Beobachtungen beschwört er die Erinnerung an Joana, sein Leben mit ihr, und damit wird er mit jenen Menschen konfrontiert, mit denen er vor dreißig Jahren, also in den Fünfzigerjahren, Umgang pflegte. Es entspricht der erzählerischen Dramaturgie wie der musikalischen Wortfügung Bernhards, daß in der Mitte der Erzählung der Burgschauspieler endlich auftritt. Der Schauspieler gibt sich zunächst ganz als der vom Erzähler erwartete >Kunstpopanz<. Aber während rund um ihn nur Abgrund sichtbar wird, gelingt dem Schauspieler, ganz zum Erstaunen, ja Fasziniertsein des Erzählers, die Verwandlung vom widerwärtigen Schwätzer zu einem philosophierenden Menschen, der der Gesellschaft, diesem >heillosen Wahnsinn der Künstlichkeit<, die Botschaft des Natürlichen entgegensetzt, denn in die Natur möchte er hineingehen, in dieser Natur einund ausatmend, in dieser Natur zu Hause sein. Und in einem Ausbruch seiner Erregung sagt er seine >Lebensstichworte<: >Wald, Hochwald, Holzfällen.< Für den Erzähler dauert diese philosophische Haltung, die ihn für den Schauspieler einnimmt, doch nur Augenblicke. Ihn selbst erfaßt eine immer größere Erregung. Er verläßt das Haus, rennt in die Innere Stadt Wiens hinein, diese Stadt, die er haßt und die doch für ihn die beste Stadt ist, deren Menschen er haßt und die doch für ihn die besten Menschen sind.
Da ich nun einmal nicht imstande war, die Menschen vernünftiger zu machen, war ich lieber fern von ihnen glücklich. Voltaire Während alle auf den Schauspieler warteten, der ihnen versprochen hatte, nach der Aufführung der Wildente gegen halbzwölf zu ihrem Abendessen in die Gentzgasse zu kommen, beobachtete ich die Eheleute Auersberger genau von jenem Ohrensessel aus, in welchem ich in den frühen Fünfzigerjahren beinahe täglich gesessen war und dachte, daß es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Einladung der Auersberger anzunehmen. Zwanzig Jahre hatte ich die Auersberger nicht mehr gesehen und ausgerechnet am Todestag unserer gemeinsamen Freundin Joana habe ich sie auf dem Graben getroffen und ohne Umschweife habe ich ihre Einladung zu ihrem künstlerischen Abendessen, so die auersbergerischen Eheleute über ihr Nachtmahl, angenommen. Zwanzig Jahre habe ich von den Eheleuten Auersberger nichts mehr wissen wollen und zwanzig Jahre habe ich die Eheleute Auersberger nicht mehr gesehen und in diesen zwanzig Jahren hatten mir die Eheleute Auersberger allein bei Nennung ihres Namens durch Dritte Übelkeit verursacht, dachte ich auf dem Ohrensessel, und jetzt konfrontieren mich die Eheleute Auersberger mit ihren und mit meinen Fünfzigerjahren. Zwanzig Jahre bin ich den Eheleuten Auersberger aus dem Weg gegangen, zwanzig Jahre habe ich sie nicht ein einziges Mal getroffen und ausgerechnet jetzt habe ich ihnen auf dem Graben begegnen müssen, dachte ich; daß es tatsächlich eine verheerende Dummheit gewesen ist, gerade an diesem Tag auf den Graben zu gehen und auch noch, wie es meine Gewohnheit geworden ist allerdings seit ich aus London nach Wien zurückgekommen bin, auf dem Graben mehrere Male hin und her zu gehen, wo ich es mir hätte ausrechnen können, daß ich die Auersberger einmal treffen muß, und nicht nur die Auersberger, sondern auch alle anderen von mir in den letzten Jahrzehnten gemiedenen Leute, mit welchen ich in den Fünfzigerjahren einen intensiven, wie die Auersberger zu sagen -3
pflegten, intensiven künstlerischen Verkehr gehabt habe; den ich aber schon vor einem Vierteljahrhundert aufgegeben habe, also genau zu dem Zeitpunkt, in welchem ich von den Auersberger weg nach London gegangen bin, weil ich mit allen diesen Wiener Leuten von damals gebrochen habe, wie gesagt wird, sie nicht mehr sehen und mit ihnen absolut nichts mehr zu tun haben wollte. Auf den Graben gehen heißt ja nichts anderes, als direkt in die Wiener Gesellschaftshölle zu gehen und gerade jene Leute zu treffen, die ich nicht treffen will, deren Auftauchen mir auch heute noch alle möglichen Körper- und Geisteskrämpfe verursacht, dachte ich auf dem Ohrensessel sitzend, und ich hatte aus diesem Grunde schon in den letzten Jahren meiner Wienbesuche von London aus den Graben gemieden und bin andere Wege gegangen, auch nicht auf den Kohlmarkt, selbstverständlich auch nicht auf die Kärntnerstraße, die Spiegelgasse habe ich gemieden genauso wie die Stallburggasse und die Dorotheergasse und ebenso die von mir immer gefürchtete Wollzeile und die Operngasse, auf welcher ich so oft in die Falle gerade jener Menschen gegangen bin, die ich immer am meisten gehaßt habe. Aber in den letzten Wochen, dachte ich auf dem Ohrensessel, hatte ich aufeinmal ein großes Bedürfnis gehabt, gerade auf den Graben und auf die Kärntnerstraße zu gehen, wegen der guten Luft und dem mir aufeinmal angenehmen vormittägigen Menschenwirbel gerade dort und gerade auch auf dem Graben und auf der Kärntnerstraße, wahrscheinlich, weil ich endlich und entschieden dem monatelangen Alleinsein in meiner Währinger Wohnung, meiner mich ja schon stumpfsinnig machenden Isolation entkommen, entgehen wollte. Ich habe es in den letzten Wochen immer als Geistes- und Körperberuhigung empfunden, die Kärntnerstraße und den Graben entlang und also den Graben und die Kärntnerstraße hin und wieder zurück zu gehen; meinem Kopf hat dieses Hinundhergehen genauso gut getan, wie meinem Körper; als ob ich in letzter Zeit dieses Hinundhergehen auf dem Graben und auf der Kärntnerstraße wie nichts notwendig gehabt hätte, lief ich tagtäglich in den letzten Wochen die Kärntnerstraße und den Graben hinauf und wieder herunter; auf der Kärntnerstraße und auf dem Graben -4
war ich aufeinmal, offen gesagt, nach monatelanger Geistes und Körperschwäche, wieder in Gang und zu mir gekommen; es erfrischte mich, wenn ich die Kärntnerstraße hinauflief und den Graben und wieder zurück; nur dieses Hinundherlaufen, habe ich dabei immer gedacht, und es ist doch mehr gewesen; nur dieses Hinundherlaufen, sagte ich mir immer wieder, und es hat mich tatsächlich wieder denken und tatsächlich wieder philosophieren, mich wieder mit Philosophie und mit Literatur beschäftigen lassen, die in mir schon so lange Zeit unterdrückt, ja abgetötet gewesen waren. Gerade dieser lange krankmachende Winter, den ich unglücklicherweise, wie ich jetzt denke, in Wien und nicht, wie die vorausgegangenen, in London verbracht habe, hat in mir alles Literarische und alles Philosophische abgetötet gehabt, dachte ich auf dem Ohrensessel; durch dieses Hinundherlaufen auf dem Graben und auf der Kärntnerstraße habe ich es mir selbst wieder möglich gemacht, und ich führte tatsächlich diesen meinen Wiener Geisteszustand, den ich aufeinmal als einen sozusagen geretteten Geisteszustand bezeichnen durfte, auf diese Graben-Kärtnerstraßentherapie zurück, die ich mir verordnet hatte ab Mitte Jänner. Diese entsetzliche Stadt Wien, dachte ich, die mich tief in die Verzweiflung und tatsächlich wieder einmal in nichts als in Ausweglosigkeit gestürzt hat, ist plötzlich der Motor, der meinen Kopf wieder denken, der meinen Körper wieder wie einen lebendigen reagieren läßt; von Tag zu Tag beobachtete ich in Kopf und Körper diese fortschreitende Wiederbelebung alles dessen, das in mir den ganzen Winter über schon abgestorben gewesen war; hatte ich den ganzen Winter Wien die Schuld an meinem geistigen und körperlichen Absterben gegeben, so war es jetzt dasselbe Wien, dem ich meine Wiederbelebung verdankte. Ich saß auf dem Ohrensessel und lobte also die Kärntnerstraße und den Graben und führte meine geistige und körperliche Wiederherstellung auf diese meine Kärntnerstraßen- und Grabentherapie zurück, auf nichts sonst und ich sagte mir, daß ich naturgemäß für diese erfolgreiche Therapie einen Preis zu zahlen habe und dachte, daß die Eheleute Auersberger auf dem Graben getroffen zu haben, der Preis ist für diese gelungene Therapie -5
und ich dachte, daß dieser Preis ein sehr hoher Preis ist, daß ich aber auch einen viel höheren Preis hätte zu bezahlen gehabt unter Umständen, denn ich hätte ja noch viel schlimmere Leute auf dem Graben treffen können, als die Auersbergerischen, denn, alles in allem betrachtet, sind die Auersbergerischen nicht die schlimmsten, wenigstens nicht die allerschlimmsten; aber schlimm genug ist es doch, gerade die Eheleute Auersberger auf dem Graben getroffen zu haben, dachte ich auf dem Ohrensessel. Ein starker Mensch und ein ebenso starker Charakter, dachte ich, hätte ihre Einladung abgelehnt, ich aber bin weder ein starker Mensch, noch ein starker Charakter, im Gegenteil, bin ich der schwächste Mensch und der schwächste Charakter und mehr oder weniger allen Leuten ausgeliefert. Und ich dachte wieder, daß es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Einladung der Eheleute Auersberger angenommen zu haben, denn ich wollte ja mein ganzes Leben nichts mehr mit den Eheleuten Auersberger zu tun haben und ich gehe über den Graben und sie sprechen mich an, sagen, ob ich vom Tod der Joana gehört habe, daß sich die Joana aufgehängt habe und sage zu, nehme ihre Einladung an. Daß ich mich einen Augenblick auf die schamloseste Weise sentimental gemacht habe, dachte ich und daß die Eheleute Auersberger diese meine Sentimentalität sofort ausgenützt haben und dachte, daß sie den Selbstmord unserer gemeinsamen Freundin Joana genauso ausgenützt haben für eine Einladung, die ich ebenso blitzartig angenommen habe, obwohl es vernünftiger gewesen wäre, ihre Einladung abzulehnen; aber dazu hatte ich keine Zeit, dachte ich auf dem Ohrensessel, sie hatten mich von hinten angesprochen und gesagt, was ich schon wußte, daß sich nämlich die Joana aufgehängt habe, in Kilb, in ihrem Elternhaus, und daß sie mich einladen zu einem Abendessen, zu einem durch und durch künstlerischen Abendessen, wie die Eheleute Auersberger ganz ausdrücklich betonten, alles Freunde von früher, sagten sie. Sie waren ja tatsächlich schon wieder im Weggehen von mir, als sie die Einladung ausgesprochen haben, dachte ich und sie waren schon ein paar Schritte weitergegangen, als ich ja gesagt habe, also -6
zugesagt habe, zu ihrem Abendessen in die Gentzgasse zu kommen, in diese scheußliche Wohnung. Die Eheleute Auersberger hatten mehrere in Packpapier eingepackte Schachteln berühmter Innenstadtgeschäfte an ihren Armen hängen und sie hatten dieselben englischen Mäntel angehabt, die sie schon vor dreißig Jahren angehabt hatten zu Einkaufszwecken in der Inneren Stadt, alles an ihnen war, wie gesagt wird, nobel abgewetzt. Tatsächlich hat ja auf dem Graben nur die Auersberger gesprochen, ihr Mann, der Komponist in der Webern-Nachfolge, wie gesagt wird, hat die ganze Zeit nichts zu mir gesagt, mit seinem Schweigen hat er mich aber durchaus verletzen wollen, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel. Sie hätten noch keine Ahnung, wann das Begräbnis der Joana in Kilb sei, sagten sie. Ich selbst war kurz bevor ich an diesem Tag auf die Straße gegangen war, von der Kilber Kindheitsfreundin der Joana verständigt worden, daß sich die Joana aufgehängt habe; zuerst hatte diese Freundin, eine Kilber Gemischtwarenhändlerin, am Telefon nicht sagen wollen, daß sich die Joana aufgehängt hat, sie sei gestorben hatte die Freundin am Telefon gesagt, aber ich hatte ihr auf den Kopf zugesagt, daß die Joana nicht gestorben sei, sondern sich umgebracht habe, auf welche Weise, wisse sie, die Freundin, sicher, sage es mir nur nicht; die Leute auf dem Land haben noch mehr Hemmung wie die in der Stadt, klar zu sagen, daß sich ein Mensch umgebracht hat, sie tun sich am schwersten, zu sagen, auf welche Weise; ich hatte sofort gedacht, die Joana hat sich aufgehängt, tatsächlich hatte ich am Telefon ja auch zur Gemischtwarenhändlerin gesagt, die Joana hat sich aufgehängt, das hatte die Gemischtwarenhändlerin verblüfft, sie hatte nur ja gesagt. Leute wie die Joana hängen sich auf, hatte ich am Telefon gesagt, sie stürzen sich nicht in einen Fluß oder vom vierten Stock hinunter, sie holen sich einen Strick, knüpfen ihn geschickt und lassen sich in die Schlinge fallen. Ballerinen, Schauspielerinnen, hatte ich zur Gemischtwarenhändlerin am Telefon gesagt, hängen sich auf. Daß ich solange nichts von der Joana gehört hatte, dachte ich auf dem Ohrensessel, war mir ja schon die längste Zeit verdächtig gewesen, ob sie nicht eines Tages Selbstmord machen wird, die Betrogene, die -7
Verlassene, die Verhöhnte, die tödlich Verletzte, hatte ich in letzter Zeit oft gedacht. Aber ich hatte vor den Auersbergerischen auf dem Graben so getan, als wüßte ich nichts vom Selbstmord der Joana und ich spielte ihnen meine totale Überraschung, gleichzeitig Erschütterung vor, obwohl ich um elf Uhr vormittag auf dem Graben von dem Unglück nicht mehr überrascht und auch nicht mehr erschüttert gewesen war, denn ich hatte davon schon um sieben Uhr früh erfahren gehabt und ich hatte tatsächlich den Selbstmord der Joana durch das mehrmalige Aufundabgehen auf dem Graben und auf der Kärntnerstraße schon ertragen können, aushalten können in der kalt-frischen Grabenluft. Tatsächlich wäre es besser gewesen, der auersbergerischen Mitteilung vom Selbstmord der Joana die Wirkung der totalen Überraschung zu nehmen, indem ich nämlich gleich hätte sagen sollen, ich wisse längst, daß sich die Joana umgebracht habe, selbst wie sie sich umgebracht habe, die genauen Umstände, dachte ich, hätte ich ihnen sagen sollen und sie damit um ihren Mitteilungstriumph bringen, den sie tatsächlich auf die gemeinste Weise ausgenützt und also genossen haben, wie ich feststellte vor dem offenen Knizegeschäft; anstatt so zu tun, als wisse ich überhaupt nichts vom Tod der Joana, die Rolle des absolut Überraschten, Vordenkopfgestoßenen, mit der grauenhaften Nachricht Überfallenen spielend, versetzte ich die Auersbergerischen in die Verzückung plötzlicher Unheilsbringer, was gar nicht meine Absicht gewesen sein konnte naturgemäß, was ich aber durch Ungeschicklichkeit selbst verursacht hatte, indem ich vorgab, vom Selbstmord der Joana zu dem Zeitpunkt des Zusammentreffens mit den Auersbergerischen nichts zu wissen, nicht das geringste; die Ahnungslosigkeit spielte ich die ganze Zeit, während ich, mehr oder weniger schon alles über den Selbstmord der Joana wissend, mit den Auersbergerischen zusammengestanden war. Ich wußte nicht, woher sie wußten, daß sich die Joana aufgehängt hat, wahrscheinlich eben auch von der Gemischtwarenhändlerin aus Kilb und sicher hatte ihnen die Kilber Freundin dasselbe gesagt wie mir, aber nicht so viel wie mir, dachte ich, denn sonst hätten die Auersbergerischen zu mir -8
viel mehr gesagt, als sie zu mir gesagt haben über den Selbstmord der Joana. Selbstverständlich werden sie auf dem Begräbnis in Kilb sein, sagte die Auersberger, dachte ich, und sie sagte es so, als wäre es mir gar nicht selbstverständlich, zum Begräbnis der Joana zu gehen, als mache sie mir schon gleich jetzt den Vorwurf, daß ich, obwohl ja genauso wie sie mit der Joana so viele Jahre, ja Jahrzehnte auf das innigste befreundet gewesen, möglicherweise nicht auf das Begräbnis der Joana gehen, mich dem Begräbnis der mit uns allen befreundeten Joana tatsächlich sogar aus Bequemlichkeit entziehen könnte und die Art und Weise, wie sie sagte, was sie zu mir sagte, dachte ich, war ja tatsächlich im Grunde eine beleidigende gewesen, wie, daß die Auersberger mich zwar auf dem Begräbnis der Joana in Kilb sehen werde, unabhängig davon, mich aber schon heute und jetzt und hier auf dem Graben für den nächsten Dienstag, also dem Begräbnistag der Joana, zu ihrem sogenannten künstlerischen Abendessen in der Gentzgasse einlade, auch. In Wahrheit habe ich die Joana durch den Auersberger kennen gelernt, auf einem Geburtstagsfest für den Mann der Joana auf dem Sebastiansplatz im Dritten Bezirk vor über dreißig Jahren; es war ein sogenanntes Atelierfest gewesen, zu dem beinahe alle Wiener Künstler, die einen Namen hatten, gekommen waren. Joanas Mann war ein sogenannter Tapisseriekünstler, also ein Teppichweber, ursprünglich Maler, der Mitte der Sechzigerjahre einmal den großen Preis der Biennale von Sao Paulo bekommen hat für einen seiner Teppiche. Alles hätten sie erwartet von der Joana, nur nicht, daß sie Selbstmord machen wird, sagten die Eheleute Auersberger auf dem Graben und bevor sie weiterliefen mit ihren Paketen, meinten sie, daß sie sich alles von Ludwig Wittgenstein gekauft hätten, um sich die nächste Zeit mit Wittgenstein zu befassen. Wahrscheinlich haben sie Wittgenstein in dem kleinsten ihrer Pakete, das auf dem rechten Unterarm der Auersberger hing, dachte ich. Und wieder dachte ich, daß es ein gravierender Fehler gewesen ist, die Einladung der Auersbergerischen Eheleute anzunehmen, wo mir ja überhaupt alle derartigen Einladungen verhaßt sind und solchen zu künstlerischen Abendessen gehe ich ja schon -9
so viele Jahrzehnte aus dem Weg, denn ich habe sie bis in meine Vierzigerjahre zur Genüge aufgesucht und gründlich kennen gelernt und ich kenne kaum etwas Abstoßenderes. Tatsächlich haben sich diese auersbergerischen Einladungen nicht geändert, dachte ich, auf dem Ohrensessel sitzend, sie sind wie in den Fünfzigerjahren, wie vor dreißig Jahren, wo sie mich am Ende tatsächlich nurmehr noch nicht nur angeödet, sondern halbverrückt gemacht haben. Zwanzig Jahre sind dir die Eheleute Auersberger verhaßt, dachte ich auf dem Ohrensessel und dann triffst du sie auf dem Graben und nimmst ihre Einladung an und gehst tatsächlich zu dem angegebenen Zeitpunkt in die Gentzgasse. Und du kennst alle diese zu diesem Abendessen Eingeladenen und gehst trotzdem hin. Und ich dachte, daß es besser gewesen wäre, an diesem Abend und meinetwegen auch noch die ganze Nacht Pascal oder Gogol oder Dostojewskij oder Tschechow zu lesen, als auf dieses abstoßende künstlerische Abendessen in der Gentzgasse zu gehen. Die Eheleute Auersberger haben deine Existenz, ja dein Leben zerstört, sie haben dich in diesen entsetzlichen Geistes- und Körperzustand Anfang der Fünfzigerjahre hineingetrieben, in deine Existenzkatastrophe, in die äußerste Ausweglosigkeit, die dich letztenendes damals sogar nach Steinhof gebracht hat und du gehst hin. Hättest du ihnen nicht im entscheidenden Moment den Rücken gekehrt, wärst du von ihnen vernichtet gewesen, dachte ich. Sie hätten dich zuerst zerstört und dann vernichtet, wenn du ihnen nicht im entscheidenden und im allerletzten Moment davongelaufen wärst. Wenn ich nur ein paar Tage länger in ihrem Haus in Maria Zaal geblieben wäre, dachte ich auf dem Ohrensessel, es hätte meinen sicheren Tod bedeutet. Sie hätten dich ausgequetscht, dachte ich auf dem Ohrensessel, und weggeworfen. Du triffst deine grauenhaften Zerstörer und Umbringer auf dem Graben und bist einen Augenblick sentimental und läßt dich in die Gentzgasse einladen und gehst auch noch hin, dachte ich auf dem Ohrensessel. Und daß es besser gewesen wäre, dachte ich wieder, meinen Pascal oder meinen Gogol oder meinen Montaigne zu lesen oder den Satie oder den Schönberg selbst auf dem alten, verstimmten Klavier -1 0
zu spielen. Du läufst auf den Graben, um frische Luft einzuatmen und dich wiederzubeleben und läufst gerade in die Hände deiner ehemaligen Zerstörer und Vernichter. Und du sagst ihnen auch noch, wie du dich freust auf ihren Abend, auf ihr künstlerisches Abendessen, das doch nur abgeschmackt sein kann, wie alle Abende, wie alle Abendessen bei ihnen, an die du dich erinnerst. Nur ein charakterloser Dummkopf kann eine solche Einladung annehmen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Dreißig Jahre ist es her, daß sie dich in die Falle gelockt haben und daß du in ihre Falle hineingegangen bist, dachte ich auf dem Ohrensessel. Dreißig Jahre ist es her, daß sie dich tagtäglich erniedrigt und daß du dich ihnen auf gemeine Weise unterworfen hast, dachte ich auf dem Ohrensessel, dreißig Jahre, daß du dich ihnen mehr oder weniger auf die niederträchtigste Weise verkauft hast. Dreißig Jahre, daß du ihnen den Narren gemacht hast, dachte ich auf dem Ohrensessel. Und genau sechsundzwanzig Jahre ist es her, daß du ihnen (im letzten Moment) entkommen bist. Und zwanzig Jahre hast du sie nicht mehr gesehen und gehst aufeinmal völlig ahnungslos auf den Graben und läufst ihnen in die Hände und läßt dich von ihnen in die Gentzgasse einladen und gehst auch noch hin in die Gentzgasse und sagst auch noch, daß du dich auf ihr künstlerisches Abendessen freust, dachte ich auf dem Ohrensessel. Fortwährend redete die Auersberger von dem grandiosen Schauspieler, der in dieser Wildente den Höhepunkt seiner Karriere erreicht habe, die Gäste, die schon zwei Stunden vor Mitternacht gekommen waren, von einer Viertelstunde auf die andere vertröstend mit einer Champagnerflasche nach der andern, die sie in die ihr von allen diesen mehr oder weniger widerlichen Leuten hingehaltenen Gläser leerte. Sie hatte das gelbe Kleid an, das ich schon kannte, möglicherweise hatte sie dieses gelbe Kleid für mich angezogen, dachte ich, denn ich hatte ihr vor dreißig Jahren immer Komplimente gemacht wegen dieses Kleides, das mir damals so außerordentlich gefallen hatte an ihr, während es mir jetzt überhaupt nicht mehr gefiel, im Gegenteil, tatsächlich geschmacklos vorgekommen ist, das jetzt einen schwarzen Samtkragen hatte, anstatt eines roten vor dreißig -1 1
Jahren. Immer wieder sagte die Auersberger die Wörter grandioser Schauspieler und hinreißende Wildente mit jener Stimme, die mir auch vor dreißig Jahren auf die Nerven gegangen war, nur hatte ich damals, vor dreißig Jahren, geglaubt, diese mir auf die Nerven gehende Stimme sei eine interessante Stimme, während ich diese Stimme jetzt nurmehr noch als vulgär und widerwärtig empfand. Wie die Auersberger der bedeutendste Schauspieler überhaupt und der erste aller lebenden Schauspieler sagte, war für mich nichts als abstoßend. Ich hatte ihre Stimme nie leiden können, aber jetzt, da diese Stimme auch noch alt und brüchig geworden war und andauernd auch noch einen hysterischen Unterton hatte, tatsächlich auch, wie gesagt wird, in höchstem Maße ausgesungen und verbraucht war, empfand ich sie als auf die Dauer unerträglich. Mit dieser Stimme hat die Auersberger einmal Purcell gesungen, dachte ich, das Liederbuch der Anna Magdalena Bach, und ihr Mann, mein Freund, der Komponist in der Webern-Nachfolge, wie die Experten immer gesagt haben, hat sie so auf dem Steinway begleitet, daß mir, ehrlich gesagt, die Tränen gekommen sind. Damals war ich zweiundzwanzig Jahre alt und in alles, das Maria Zaal und die Gentzgasse gewesen ist, verliebt und schrieb Gedichte. Jetzt ekelte mich aber vor den widerlichen Bildern, die ich selbst vor dreißig Jahren ungeniert mitgemacht habe. Alle vierzehn Tage wechselte ich damals mit den Eheleuten Auersberger von Maria Zaal in die Gentzgasse und zurück, jahrelang, bis zum Äußersten, dachte ich auf dem Ohrensessel und ich hatte in der kürzesten Zeit mehrere Gläser Champagner getrunken. In Beobachtung der Auersberger dachte ich auf dem Ohrensessel, daß sie dich auf dem Graben angesprochen hat, nicht ihr Mann, und du hast ihre Einladung sofort angenommen. Sie haben dich von hinten angesprochen, dachte ich, wahrscheinlich hatten sie dich schon eine Weile von hinten beobachtet und sind hinter dir hergegangen in Beobachtung und haben dich im entscheidenden Moment blitzartig angesprochen. Ich selbst habe ja vor Jahren, dachte ich auf dem Ohrensessel, den seit dreißig Jahren nur noch betrunkenen Auersberger dabei beobachtet, wie er mit einer mir nicht bekannten etwa -1 2
vierzigjährigen, tatsächlich verkommenen, ja ganz offensichtlich verwahrlosten Frau mit langen Haaren und abgetretenen Lederstiefeln durch die Rotenturmstraße gegangen ist, habe den Auersberger hinter ihm her gehend beobachtet, alles an ihm und an seiner Begleiterin mehr oder weniger durch und durch beobachtet und habe die ganze Zeit gedacht, ob ich ihn ansprechen solle oder nicht und habe ihn schließlich nicht angesprochen, mein Instinkt hat mir gesagt, du darfst ihn nicht ansprechen, sprichst du ihn an, macht er eine widerliche Bemerkung und zerstört dich auf Tage und ich habe ihn auch nicht angesprochen, habe mich beherrscht, ihn beobachtend bis auf den Schwedenplatz hinunter, wo er mit dieser Frau in einem alten abbruchreifen Haus verschwunden ist. Die Scheußlichkeit seiner Beine habe ich die ganze Zeit beobachtet, die in grobgestrickten grauen Trachtenstutzen steckten, seinen von nichts als von Perversität rhythmisierten Gang, seinen haarlosen Hinterkopf. Er paßte sehr gut zu seiner total verkommenen Begleiterin, einer Künstlerin wahrscheinlich, ausgemergelten Sängerin, arbeitslosen Kellerschauspielerin, wie ich damals dachte, dachte ich im Ohrensessel. Ich erinnerte mich im Ohrensessel, daß ich mich von Ekel geschüttelt umdrehte Richtung Stephansplatz, als die beiden in dem Abbruchhaus auf dem Schwedenplatz verschwunden waren, tatsächlich hatte ich meine Abscheu gegenüber den beiden so weit getrieben, daß ich mich, um zu übergeben, an die Wand vor dem Aidakaffeehaus gedreht hatte; aber da schaute ich in einen der Aidakaffeehausspiegel und sah direkt in mein eigenes verkommenes Gesicht und sah meinen eigenen verkommenen Körper und es ekelte mich vor mir selbst viel mehr, als mich vor dem Auersberger und seiner Begleiterin geekelt hatte und ich drehte mich wieder um und ging, so schnell ich konnte, auf den Stephansplatz und auf den Graben und auf den Kohlmarkt und schließlich in das Cafe Eiles, um mich auf einen Haufen Zeitungen zu stürzen, um die Begegnung mit dem Auersberger und seiner Begleiterin und die Begegnung mit mir selbst zu vergessen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Dieser Trick mit dem Cafe Eiles glückte immer, ich trat ein, holte mir einen Stoß Zeitungen und beruhigte mich. -1 3
Und es mußte nicht unbedingt das Cafe Eiles sein, auch das Museum und das Bräunerhof hatten immer ihre Wirkung getan. Wie andere in den Park oder in den Wald, lief ich immer ins Kaffeehaus, um mich abzulenken und zu beruhigen, mein ganzes Leben. So hatten die Eheleute Auersberger wahrscheinlich schon die längste Zeit genauso mich beobachtet gehabt, bevor sie mich schließlich angesprochen haben, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie ich damals auf dem Weg durch die Rotenturmstraße den Auersberger beobachtet hatte, mit der gleichen Rücksichtslosigkeit wahrscheinlich, mit der gleichen Infamie, mit der gleichen Unmenschlichkeit. Wir lernen viel, wenn wir Leute von hinten beobachten, die nicht wissen, daß wir sie beobachten und die wir, solange als möglich, von hinten beobachten und solange als möglich in dieser rücksichtslosen und infamen Beobachtung nicht ansprechen, dachte ich auf dem Ohrensessel, wenn wir uns noch dazu beherrschen können, sie überhaupt nicht anzusprechen, sondern die Fähigkeit haben, uns ganz einfach umzudrehen und von ihnen im wahrsten Sinne des Wortes abzugehen, wie ich damals am Ende der Rotenturmstraße und also auf dem Schwedenplatz die Fähigkeit und die Schläue gehabt habe, mich umzudrehen und von ihnen abzugehen. Diese Beobachtungsvorgangsweise ist genauso für Menschen anzuwenden, die wir lieben, wie für die, die wir hassen, dachte ich auf dem Ohrensessel sitzend, die Auersberger beobachtend, die fortwährend auf die Uhr schaute und die Gäste vertröstete, die mit dem Nachtmahl solange warten müssen, dachte ich, bis der Schauspieler aufgetreten ist. Tatsächlich habe ich den erwarteten Schauspieler einmal vor vielen Jahren auf dem Burgtheater in einer dieser ekelhaften englischen Gesellschaftspossen gesehen, in welchen die Dummheit nur dadurch erträglich ist, weil sie englisch und nicht deutsch oder österreichisch ist und die auf dem Burgtheater im letzten Vierteljahrhundert immer wieder mit entsetzlicher Regelmäßigkeit gespielt werden, weil sich das Burgtheater in diesem letzten Vierteljahrhundert vor allem auf die englische Dummheit spezialisiert und das Wiener Burgtheaterpublikum an diese Spezialisierung gewöhnt hat und er ist mir tatsächlich als Burgschauspieler in Erinnerung, als ein -1 4
Schauspieler also, ein sogenannter Wiener Publikumsliebling und Burgtheatergeck, der in Grinzing oder in Hietzing eine Villa hat und auf dem Burgtheater jener österreichischen theatralischen Dummheit den Narren macht, die nun schon seit einem Vierteljahrhundert auf dem Burgtheater zuhause ist, als einer jener geistlosen Brüller, die aus der sogenannten Burg in diesem letzten Vierteljahrhundert unter Mitwirkung aller an ihr engagierten Direktoren eine theatralische Dichtervernichtungs und Schreianstalt der absoluten Gehirnlosigkeit gemacht haben. Das Burgtheater ist künstlerisch schon solange bankrott, dachte ich auf dem Ohrensessel, daß gar nicht mehr ausgemacht werden kann, wann dieser künstlerische Bankrott eingetreten ist und die Schauspieler, die auf dem Burgtheater auftreten, sind die allabendlich auf dem Burgtheater auftretenden Bankrotteure. Aber einen solchen dramatischen Schreihals zu einem Nachtmahl einzuladen, zu einem sogenannten künstlerischen Abendessen, dachte ich auf dem Ohrensessel, die Auersberger und ihre Gäste beobachtend, ist für ein solches Ehepaar, wie die Auersberger in der Gentzgasse, immer noch eine österreichische Großartigkeit als ganz spezielle österreichische Perversität, wie ich auf dem Ohrensessel dachte, und wie groß tatsächlich diese Großartigkeit für die Auersbergerischen gewesen ist an diesem Abend, erfuhr ich dadurch, daß mit dem auersbergerischen Nachtmahl über eine geschlagene Stunde länger, als angekündigt, gewartet worden war, nämlich solange, bis der Schauspieler um halbein Uhr läutete und mit seinem schamlosen Burgtheatergehuste in die Gentzgassenwohnung der Auersberger eingetreten ist. Schauspieler habe ich insgeheim immer gehaßt und die Burgschauspieler haben immer meinen ganz besonderen Haß auf sich gezogen, abgesehen von diesen ganz großen, wie die Wessely und die Gold, die ich zeitlebens innig geliebt habe, und der an diesem Abend von den auersbergerischen Eheleuten in die Gentzgasse eingeladene Burgschauspieler ist sicher einer der widerwärtigsten, die mir jemals begegnet sind. Als gebürtiger Tiroler, der sich im Laufe dreier Jahrzehnte mit Grillparzer in die Herzen der Wiener gespielt hat, wie ich einmal über ihn gelesen -1 5
habe, verkörpert er für mich ein Musterbeispiel von Antikünstler überhaupt, dachte ich auf dem Ohrensessel, ist er der Proto typus des durch und durch phantasielosen und also völlig geistlosen Poltermimen, wie er auf dem Burgtheater und also in Österreich überhaupt immer beliebt gewesen ist, einer dieser grauenvollen Pathetiker, wie sie auf dem Burgtheater allabendlich scharenweise über jede dort aufgeführte Dichtung mit ihrem pervers-provinziellen Händeringen und ihren brutalen Sprechkeulen herfallen und sie zertrümmern und vernichten. Alles wird von diesen Leuten auf dem Burgtheater seit Jahrzehnten mit ihrer mimischen Brachialgewalt vernichtet, dachte ich auf dem Ohrensessel, nicht nur der zarte Raimund, nicht nur der nervöse Kleist wird auf dem Burgtheater seit Jahrzehnten zertrümmert und vernichtet, selbst der große Shakespeare fällt da, wo man sich einbildet, die gesamte Theaterkunst in die Ewigkeit hinein gepachtet zu haben, den Burgtheaterschlächtern zum Opfer. Aber hier, in diesem Land, dachte ich auf dem Ohrensessel, ist tatsächlich der Burgschauspieler das Höchste und mit einem Burgschauspieler auch nur sozusagen über die Gasse bekannt sein oder einen solchen Burgschauspieler im Hause und zum Nachtmahl zu haben, empfindet der Österreicher, insbesondere aber der Wiener, als eine Außerordentlichkeit ohnegleichen, was ihn, den Österreicher und besonders den Wiener, wie ich auf dem Ohrensessel dachte, für mich auf abstoßende Weise immer lächerlich macht; sagt er, er sei mit einem Burgschauspieler bekannt, oder sagt er, es sei ein Burgschauspieler zu einem seiner Nachtmähler gekommen. Die Burgschauspieler sind kleinbürgerliche Popanze, die von der theatralischen Kunst nicht die geringste Ahnung haben und die aus dem Burgtheater längst ein Siechenhaus ihres dramatischen Dilettantismus gemacht haben. Nicht umsonst hatte ich mir schon in den Fünfzigerjahren diesen Ohrensessel, der noch immer auf demselben Platz stand, ausgesucht, denn in diesem Ohrensessel, den die Auersbergerischen inzwischen überziehen haben lassen, sehe ich alles, höre ich alles, entgeht mir nichts, dachte ich. In meinem schwarzen, viel zu eng gewordenen sogenannten Begräbnisanzug, den ich mir vor -1 6
genau dreiundzwanzig Jahren in Graz gekauft habe, auf dem Weg nach Triest, und den ich auf dem Begräbnis der Joana, das erst am späten Nachmittag in Kilb zuende gegangen war, getragen hatte, saß ich da und dachte, daß ich wieder einmal im Begriff bin, mich gegen meine Überzeugung gemein und niederträchtig zu machen, indem ich die auersbergerische Einladung zu ihrem Nachtmahl angenommen und nicht abgelehnt habe, indem ich auf dem Graben für einen Augenblick weich und schwach geworden bin und alles in mir verleugnet habe, daß ich an diesem Abend und in dieser Nacht nicht allein meinen Charakter, sondern gleich alles in mir auf den Kopf gestellt habe. Nur in Anbetracht des Selbstmordes der Joana hat es zu diesem für mich verheerenden Kurzschluß kommen können, selbstverständlich hätte ich die Einladung der Auersberger abgelehnt, wäre ich nicht durch den Selbstmord der Joana auf geradezu vernichtende Weise konsterniert gewesen, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, wie mich die Eheleute Auersberger eingeladen haben auf dem Graben mit der für sie charakteristischen abrupten Direktheit und überfallsartigen Unverschämtheit, die mich an ihnen schon immer abgestoßen gehabt hat. Fast alle zu dem Nachtmahl Gekommenen hatten noch ihre schwarzen Begräbniskleider an, dachte ich auf dem Ohrensessel, nur ein oder zwei hatten sich für das Nachtmahl umgezogen, also fast alle waren in Schwarz erschienen, tatsachlich so wie ich von den Strapazen in Kilb, wo es ausgerechnet während der Begräbniszeremonie stark geregnet hatte, erschöpft. Und der Inhalt ihrer von mir nur in Bruchstücken aufgenommenen Unterhaltung war natürlich nichts anderes gewesen, als das Begräbnis der Joana, ihr Lebensunglück, in das sie der Mann, der sie schon sieben oder acht Jahre vor ihrem Selbstmord Richtung Mexiko verlassen hat, gestürzt hatte. Die vereinzelt da und dort an den Wänden der Auersberger hängenden Tapisserien jenes Mannes, der, wie sie alle sagten, den Selbstmord der Joana auf dem Gewissen habe, verdüsterten, ihren Schöpfer anklagend, die Szene, die ohnehin nur notdürftig beleuchtet gewesen war von schwachen, dem Empire nachempfundenen Lampen. Ausgerechnet mit der besten Freundin seiner Frau sei der -1 7
Tapisserist, so hörte ich es mehrere Male in dem Gentzgassenhalbdunkel, nach Mexiko durchgegangen und habe die unglückliche Joana alleingelassen. Ausgerechnet nach Mexiko und ausgerechnet in dem Moment, in welchem es die Joana tödlich treffen mußte. Alleingelassen die Zweiundfünfzigjährige in dem Sebastiansplatzatelier ohne den geringsten finanziellen Rückhalt, mehr oder weniger ohne alles. Mehrere Male wurde gesagt, daß es verwunderlich sei, daß sich die Joana nicht im Atelier auf dem Sebastiansplatz, sondern in ihrem Elternhaus in Kilb, also nicht in der Großstadt, sondern auf dem Land aufgehängt habe. Die Sehnsucht nach dem Elternhaus habe sie nach Kilb getrieben, so hörte ich es mehrere Male, aus Wien weg nach Kilb, aus dem Großstadtmorast in die Landidylle. Nicht ohne perversen Unterton hatte ich tatsächlich die Wörter Großstadtmorast und Landidylle gehört, ich glaube, es war der Auersberger gewesen, der diese Wörter immer wieder ausgesprochen hat, während ich auf dem Ohrensessel seine Frau beobachtete, die von Zeit zu Zeit immer wieder in ihr hysterisches Lachen ausgebrochen ist, wenn sie versuchte, die Leute bei Stimmung zu halten bis zum Auftreten des Burgschauspielers. Die Gentzgassenwohnung ist eine Dritterstockwohnung, sieben oder acht Zimmer, vollgestopft mit josefinischen und biedermeierlichen Möbeln, machen sie aus; in ihr hatten die Eltern der Auersberger gewohnt; ihr Vater war ein mehr oder weniger schwachsinniger Arzt, der aus Graz stammte, der hier in der Gentzgasse seine Ordination hatte, ohne jemals irgendeine medizinische Karriere zu machen, die Mutter der Auersberger war eine Steiermärkerin, eine unförmige Frau, ein pausbäckiges Kleinlandadelsgeschöpf, das infolge einer ihr von ihrem Mann verordneten Influenzatherapie schon mit vierzig sämtliche Haare für immer verloren hat und sich deshalb schon sehr früh aus allem Gesellschaftlichen zurückgezogen hat. Im Grunde lebten die Eltern der Auersberger in der Gentzgasse vom Vermögen der Frau, das diese aus den steiermärkischen Gütern ihrer Eltern geerbt hatte. Die Frau kam für alles auf, der Mann als Arzt verdiente nichts. Er war ein Gesellschaftsmensch, ein sogenannter Schönling, der in der -1 8
Faschingszeit alle größeren Wiener Bälle aufsuchte und bis an sein Lebensende die Fähigkeit gehabt hat, seine Dummheit hinter und unter seiner gefälligen Schlankheit zu verbergen. Die Mutter der Auersberger hatte unter ihrem Mann zeitlebens nichts zu lachen gehabt, sie hat sich aber mit ihrer bescheidenen Rolle, die weniger adelig, als durch und durch kleinbürgerlich gewesen war, zufrieden gegeben. Ihr Schwiegersohn, fiel mir auf dem Ohrensessel aufeinmal ein, hatte ihr hin und wieder, wenn er dazu aufgelegt gewesen war, gleich ob in der Gentzgasse oder im steiermärkischen Maria Zaal, die Perücke versteckt, und die Arme hat nicht ausgehen können. Es machte dem Auersberger Spaß, im Zuge des Perückenversteckens, seine Schwiegermutter, wie in Österreich gesagt wird, aus dem Häuschen zu bringen, er hat ihre Perücken, denn schließlich hatte sie sich mehrere zugelegt, auch noch wie er schon an die vierzig Jahre alt gewesen war, versteckt, perverses Zeichen seiner Infantilität. Ich selbst war öfter Zeuge dieses Versteckenspiels in Maria Zaal und in der Gentzgasse gewesen und hatte mich, ehrlich gesagt, damit auch ohne die geringste Scham amüsiert. Besonders an den hohen Fest- und Feiertagen war die Schwiegermutter des Auersberger gezwungen, zuhause zu bleiben, weil ihr Schwiegersohn ihre Perücken versteckt hatte. Erst wenn er dazu Lust hatte, warf ihr der Auersberger die zuerst versteckten Perücken ins Gesicht. Er brauchte die Demütigung seiner Schwiegermutter, dachte ich auf dem Ohrensessel sitzend und ihn im Hintergrund des Musikzimmers beobachtend, wie er seinen dadurch auf geradezu infernalische Weise erzeugten Triumph brauchte. Wie der Auersberger gerade eine kleine Fingerübung auf seinem Klavier praktizierte und dabei den bleichen, vom Alkohol gläsern und stumpfsinnig gemachten Kopf in die Höhe hob und die Zungenspitze aus seinem bläulich angelaufenen Mündchen streckte, stieß mich ab. Giovanni Gabrieli hat er für diesen perversen Augenblick gewählt, dachte ich. Und ich dachte, daß ich in der Zeit, in welcher meine Freundschaft zu den Eheleuten Auersberger die innigste, ja tatsächlich tiefste gewesen ist, sehr oft an dem auersbergerischen Steinway gestanden bin, um in einer, von -1 9
jetzt aus gesehen perversen Selbstüberschätzung, italienische und deutsche und englische Arien zu singen in der Tatsache, die sogenannte Akademie für Musik und darstellende Kunst Mozarteum in Salzburg absolviert zu haben, ohne diese Tatsache jemals auszubeuten, im Gegenteil, hatte ich doch als ganz und gar aussichtsloser tiefer Baßbariton das Mozarteum absolviert, um dann nie mehr auch nur den geringsten Gedanken zu haben, ausübender Musikkünstler sein zu wollen. Aber die Nachmittage in Maria Zaal waren lang und die Gentzgassennachmittage und -nächte genauso und so hatte sich der Auersberger mehr oder weniger täglich an den Flügel gesetzt und ich hatte mich daneben gestellt und wir hatten musiziert, in mehreren Wochen, wie ich mich jetzt auf dem Ohrensessel erinnerte, die ganze klassische italienische und deutsche und englische Arien und Liederliteratur auf und ab. Der Auersberger, den ich einmal einen Novalis der Töne genannt habe, ist immer ein erstklassiger Klavierspieler gewesen, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, und er brauchte auch jetzt nur zwei, drei Minuten am Steinway zu sitzen, um selbst in besoffenem Zustand diese seine Kunst unter Beweis zu stellen. Aber er ist verkommen, hat alles in ihm, selbst das Musikalische, das ihm einmal das Höchste gewesen war, mit den Jahren seiner krankhaften Trunksucht, verludern lassen, dachte ich, auf dem Ohrensessel sitzend. Wir wissen jahrzehntelang, daß ein Mensch, der uns nahe steht, ein lächerlicher Mensch ist, aber wir sehen es erst plötzlich nach Jahrzehnten, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie ich es jetzt aufeinmal mit aller Deutlichkeit sehe, daß der Auersberger in der sogenannten Webern-Nachfolge ein lächerlicher Mensch ist, und wie der ununterbrochen betrunkene Auersberger auf seine Weise ein lächerlicher Mensch ist und wahrscheinlich immer gewesen ist, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, ist auch seine Frau ein lächerlicher Mensch, und immer ein lächerlicher Mensch gewesen. In diese lächerlichen Menschen bist du einmal verliebt, ja vernarrt gewesen, sagte ich mir jetzt auf dem Ohrensessel, in diese lächerlichen und gemeinen und niederträchtigen Menschen, die dich aufeinmal nach zwanzig Jahren das erste Mal wieder gesehen haben ausgerechnet auf -2 0
dem Graben und ausgerechnet an dem Tag, an welchem sich die Joana umgebracht hat und die dich angesprochen haben und in die Gentzgasse eingeladen haben zu ihrem künstlerischen Abendessen mit dem berühmten Burgschauspieler. Was für lächerliche und gemeine Menschen, dachte ich, auf dem Ohrensessel sitzend, und gleich darauf, was für ein gemeiner und lächerlicher Mensch ich selbst bin, der ich ihre Einladung angenommen und mich ganz ungeniert, als ob nichts geschehen wäre, in ihren Gentzgassenohrensessel gesetzt habe, meine Beine ganz ausgestreckt übereinandergeschlagen und sicher schon das dritte oder vierte Champagnerglas ausgetrunken und ich dachte, daß ich selbst noch viel gemeiner und niederträchtiger bin als diese Auersberger, die dich mit ihrer Einladung, die du angenommen hast, übertölpelt haben. Sie warteten zwar auf den Schauspieler, waren aber vom Selbstmord der Joana beherrscht, deren nachmittägiges Begräbnis war nicht spurlos an ihnen vorüber gegangen. Auf dem Ohrensessel hatte ich mehr oder weniger die ganze Zeit, die ich von den Auersbergerisehen so wie alle andern bis nach Mitternacht hingehalten worden bin in Erwartung des Burgschauspielers, doch nur immer an das Joanabegräbnis gedacht und an die Umstände, die zu diesem fürchterlichen Begräbnis geführt hatten, an die Ursachen eines solchen durch und durch verzweifelten Lebensendes. Auf dem Ohrensessel war ich ja immer in Ruhe gelassen, denn er stand hinter der Tür, durch welche Ankommende eintraten und auch genau in dem Halbdunkel, in welchem sich meine Phantasie und meine Gedanken schon immer am besten auf die in Frage kommenden Gegenstände konzentrieren und entfalten konnten; traten Gäste ein, so sahen sie mich erst, wenn sie schon an mir vorbeigegangen waren und auch da nur, wenn sie sich nach der Tür umdrehten, was die wenigsten getan haben; die meisten gingen gleich und rasch durch das Vorzimmer, in welchem ich mich auf den Ohrensessel gesetzt hatte, in das sogenannte Musikzimmer, dessen Tür immer offen stand; solange ich mich erinnere, war die Tür vom Vorzimmer in das sogenannte Musikzimmer niemals geschlossen gewesen, auch -2 1
wenn die Eheleute Auersberger mit mir allein waren, hatten sie niemals diese Tür zum Musikzimmer zugemacht, wie ich mich erinnere; schon wegen der ganz ausgezeichneten Akustik, die die offene Musikzimmertür ermöglichte, auf die also der Auersberger größten Wert legte, eine Selbstverständlichkeit für einen Komponisten. Ich sah, auf dem Ohrensessel sitzend, die Leute im Musikzimmer, umgekehrt sahen die Gäste, die sich im Musikzimmer aufhielten, mich nicht. Alle traten durch die Wohnungstür und gingen sofort in das Musikzimmer, so war es immer und an diesem Abend traten sie, wie mir vorgekommen war, mit Vehemenz durch die Wohnungstür und stürzten förmlich durch das Vorzimmer in das Musikzimmer, in welchem die Auersberger stand, um sie zu empfangen, mit ausgebreiteten Armen, so, als habe sie die Beileidskundgebungen die Joana betreffend, entgegen zu nehmen, als ob sie den Tod der Joana jetzt, zu diesem Abendessenempfang, ausnützte für ihre Zwecke. Da sich die meisten gerade erst am Nachmittag in Kilb gesehen hatten, genügte ihnen eine kurze Umarmung, um sich dann auf einem der Sessel im Musikzimmer niederzulassen mit einem Champagnerglas. Während die Auersberger immer wieder von dem großen und größten und eigenartigsten und genialsten Schauspieler gesprochen hat, war von den Gästen mehr oder weniger die ganze Zeit nur der Name Joana zu hören gewesen, der tatsächlich immer einen guten Klang gehabt hat, der für die Elfriede Slukal aus Kilb selbst aber immer nur jener Künstlername gewesen ist, der ihr schließlich und endlich nichts genützt hat, denn die Elfriede Slukal hat zwar mit dem Namen Joana Karriere machen wollen in Wien, damit aber niemals Karriere gemacht; ein ehemaliger Tänzer und Choreograph, der sogar einmal ein Ballett an der Staatsoper choreographiert hat, hatte der völlig ahnungslos aus Kilb nach Wien gekommenen Elfriede, die unbedingt zum Theater, schließlich zum Ballett hatte gehen wollen, geraten, sich den jedenfalls in Wien exotischen Namen Joana zuzulegen, was das Elfriedekind, so ihre Mutter immer, augenblicklich getan hatte in der Hoffnung, als Joana die Karriere machen zu können, die ihr als Elfriede und noch dazu als Elfriede Slukal in -2 2
jedem Falle verwehrt gewesen wäre. Sie hatte sich aber gründlich verrechnet, dachte ich auf dem Ohrensessel, auch mit dem Namen Joana hat die Elfriede Slukal keine Karriere gemacht, wie man sieht, aber jetzt, hier, an diesem Abend in der Gentzgasse, hatten die zu dem künstlerischen Abendessen Gekommenen fortwährend den Namen Joana so ausgesprochen, als verberge sich dahinter ein Menschenwunder. Alle sprachen, so weit ich das von meinem Ohrensessel aus hören konnte, vom Tod der Joana, keiner von ihrem Selbstmord und das Wort erhängt oder gar das Wort aufgehängt hatte ich nicht ein einziges Mal gehört. An die sechzehn oder siebzehn Personen müssen zu dem künstlerischen Abendessen in der Zwischenzeit gekommen sein, dachte ich auf dem Ohrensessel, die meisten waren mir bekannt, und ich hatte sie kurz nickend, im Ohrensessel sitzen geblieben, begrüßt, fünf oder sechs kannte ich nicht, zwei sahen aus wie junge Schriftsteller. Ich habe die Gabe, so agieren zu können, daß es mir vergönnt ist, allein zu bleiben, wann ich will und auf dem Ohrensessel sitzend, beherrschte ich diese Kunst, für mich allein zu bleiben, ausgezeichnet; die Leute erkannten mich in der Vorzimmerdüsternis, sie wollten ein Gespräch mit mir anfangen, ich aber wiegelte alles sofort ab, indem ich ganz einfach im Ohrensessel sitzen blieb und so tat, als verstünde ich nicht, was sie zu mir sagten, auch genau in dem entscheidenden Augenblick zu Boden schaute und nicht in ihr Gesicht, an diesem Abend ganz einfach so tat, als wäre ich tatsächlich noch vollkommen von dem Selbstmord der Joana beherrscht, agierte in einer erfolgversprechenden Geistesabwesenheit auf dem Ohrensessel immer dann, wenn Gefahr bestand, einer der Gäste könne auf die Idee kommen, mir Gesellschaft zu leisten, was ich an diesem Abend unter allen Umständen zu verhindern versuchte. Ich nahm sogar in Kauf, daß die Leute mich nicht nur für, wie in Wien gesagt wird, unliebenswürdig, sondern sogar für abweisend, wenn nicht gar abstoßend hielten; es ist ganz gegen meine Natur, mich in Gesellschaft ungezogen zu geben, aber an diesem Abend gab ich mich ungezogen, ablehnend, vor den Kopf stoßend, muß ich sagen. An einige dieser Gästeohren war inzwischen meine -2 3
Eigenartigkeit, Seltsamkeit, Merkwürdigkeit, ja gefährliche Ex zentrik als Bekanntheit gedrungen, durch meinen Londonaufenthalt ein geradezu irritierendes Verrücktes, wie mir einmal gesagt worden ist, und sie haßten mich und meine Schriften und biederten sich gleichzeitig auf das gemeinste an, sahen sie mich. Ich wehrte mich aber schon die ganze Zeit, die ich aus London zurück und in Wien bin, gegen sie und überhaupt gegen alle von früher, aber vornehmlich doch gegen alle diese sogenannten künstlerischen Leute aus den Fünfzigerjahren und im besonderen gegen jene, die jetzt hier zu diesem künstlerischen Abendessen in die Gentzgasse gekommen waren. Sie traten ein und waren auch schon mehr oder weniger in meine Falle gegangen, denn sie gaben sich bei ihrem Eintreten so, als beobachtete ich sie nicht, während ich sie doch am eindringlichsten beobachtete von meinem Ohrensesselsitzplatz aus. Sie gingen auf die Auersberger zu, die im offenen Türrahmen des Musikzimmers stand und ließen sich von der Auersberger umarmen. Ausnahmslos waren sie alle vorzügliche Theatermacher, die den Fall Joana weidlich auszunützen verstanden. Die Eheleute Auersberger waren immer sogenannte gute Gastgeber gewesen, jedenfalls, was den äußeren Schein betrifft und sie waren wie keine zweiten, unverschämt spendabel in ihrem Gesellschaftsfimmel und in ihrer ununterbrochenen Kunst- und Kulturbeflissenheit und also auch fortwährend unverschämt auf der Jagd nach Bekannt- und Berühmtheiten. Natürlich haben sie auch in ihrer Scheußlichkeit und Widerwärtigkeit, was gesagt sein muß, sozusagen ihren österreichischen Charme gehabt. Aber dieser österreichische Charme ist es nicht gewesen, dachte ich auf dem Ohrensessel, der mich die auersbergerische Einladung hat annehmen lassen, allein ihre unvermittelt an mir praktizierte Einladungsunverschämtheit auf dem Graben, dachte ich, während ich den Auersberger beobachtete, wie er, am Steinway sitzend, wegen seiner Kurzsichtigkeit weit nach vorne gebeugt, in einem Notenheft blätterte, das sich mir schließlich als das mir sehr wohl vertraute Antonvonwehernalbum herausstellte; der Auersberger richtete schon die Noten her für eine kurze Gesangskunstprobe seiner Frau. -2 4
Merkwürdigerweise habe ich mir meine Sehschärfe bis in dieses doch meistens schon von rasch fortschreitender Kurzsichtigkeit beherrschte Alter erhalten, dachte ich auf dem Ohrensessel, Mitte vierzig fangen die Leute an, schlecht zu sehen, bemerken, daß sie die Zeitung einen halben Meter weit weghalten müssen, um darin lesen zu können; ich war von diesen Sehschwächenerscheinungen noch verschont, sah, so dachte ich, besser denn je, schärfer denn je, rücksichtsloser denn je; also mit Londoner Augen, denke ich. Es ist kein allererster Champagner, dachte ich auf dem Ohrensessel, den die Auersbergerischen an diesem Abend kredenzen, aber doch einer der drei, vier teuersten, dem Auftreten eines Burgschauspielers angemessen, wie sie denken mochten. Beim Begräbnis der Joana war ich naturgemäß ins Schwitzen gekommen und da ich mich nicht mehr umziehen hatte wollen für dies künstlerische Abendessen, hatte ich mir Eau de Cologne auf meine Kleider gespritzt, zu viel, wie ich im Augenblick dachte, die Widerwärtigkeit nach Eau de Cologne zu stinken, habe ich mir niemals verziehen. An diesem Abend fiel mein Gestank aber gar nicht auf, denn alle hatten, wie ich dachte, zu viel Parfüm auf ihre Kleider geschüttet und der Geruch in der auersbergerischen Wohnung war danach. Von Zeit zu Zeit steckte die auersbergerische Köchin ihren Kopf aus der Küche durch den Türspalt ins Musikzimmer, wie ich sehen konnte, um festzustellen, ob mit dem Nachtmahl begonnen werden könne, aber der Burgschauspieler war ja noch immer nicht da. Die Auersberger saß auf jenem zierlichen Empiresessel, dessen Lehne nichts anderes ist, als eine kunstvoll geschnitzte Lyra aus Nußholz und vertröstete die Gäste. Die meisten rauchten und tranken wie ich Champagner und knabberten an dem Gebäck, das die Auersberger in kleinen alten Herendschüsselchen in der ganzen Wohnung verteilt hatte, auch neben mir stand ein solches Herendschüsselchen, ich haßte aber schon immer alle Herendschüsselchen und auch alles Knabbern und knabberte nicht, habe nie eine Vorliebe für Bäckerei gehabt, schon gar nicht für Salzbäckerei und schon gar nicht für japanische Salzbäckerei, die in den letzten Jahren auch in Wien auf allen -2 5
Empfängen Mode geworden ist. Eine Unverschämtheit im Grunde, sagte ich mir, die Gäste auf den Schauspieler warten zu lassen, alle diese Gäste einschließlich mir, durch dieses Aufden-Schauspieler-Warten zur Kulisse für den Burgschauspieler zu machen und in Grund und Boden zu degradieren. Der Auersberger sagte einmal kurz, daß er das Theater hasse, immer wenn er mehr, als ihm von seiner Frau zugestanden, getrunken hatte, kehrte er aufeinmal, wie ich sagen muß, sein Innerstes blitzartig nach außen, war also plötzlich als dieser noch gar nicht da gewesen war, auf den Schauspieler losgegangen, hatte das Burgtheater berechtigterweise, muß ich sagen, einen Saustall und den erwarteten Schauspieler einen größenwahnsinnigen Stichwortbringer genannt, war aber sofort von seiner Frau, der Auersberger, zurechtgewiesen worden; er solle sich an den Flügel setzen, wo sein Platz sei und Ruhe geben, sagte sie und ihre Augen machten die Runde, wie gesagt wird. Die Auersbergerischen haben sich nicht geändert, sagte ich mir auf dem Ohrensessel, sie zittert um die Harmonie ihres künstlerischen Abendessens, er droht, dieses künstlerische Abendessen zu zertrümmern. Sie ziehen an demselben Strang, nämlich am Gesellschaftsstrang, dachte ich, aber er mimt zu fortgeschrittener Stunde das Ausbrechen, besinnt sich sozusagen nach ein paar Gläsern Champagner seiner Künstlerpersönlichkeit. Im Grunde haben sie beide nichts im Kopf, als die Gesellschaft, ohne die sie nicht existieren können, immer die sogenannte bessere Gesellschaft, weil es zur besten nie reichte, ohne andererseits jemals auf ihr Künstlertum und also auf die Webern und Berg und Schönberg zu verzichten, auf das und auf die sie in ihrem unheilvollen Gesellschaftswahn als Gesellschaftsverrücktheit auf alle Fälle und bei jeder Gelegenheit mit der größten Vehemenz pochen mußten. Die Joana war nicht die beste Freundin des Auersberger, wie damals sehr oft behauptet worden ist, aber mit Sicherheit doch die künstlerische, dachte ich auf dem Ohrensessel, und ich habe sie durch ihn kennengelernt, wie schon gesagt, in dem Atelier auf dem Sebastiansplatz. Die Joana war ein von ihrer Mutter, die mit einem Kilber Eisenbahner verheiratet gewesen war, verzogenes Landkind, -2 6
dem die Eltern jeden Wunsch sozusagen von den Lippen abgelesen und nach Möglichkeit auch erfüllt haben, was sicher auch Ursache des Selbstmords der Joana ist, wie ich jetzt dachte, diese ununterbrochene Landverhätschelung, wie sie unter den kleinen Marktgemeindefamilien üblich ist, vornehmlich in Niederösterreich. Was für ein schönes Dorf ist Kilb, dachte ich, ich habe viele Nachmittage und Abende und sogar Nächte dort verbracht, sehr oft nicht in dem kleinen, ebenerdigen, wenn auch feuchten, so doch recht gemütlichen Elternhaus der Joana, im Slukalhaus, weil dort kein Platz gewesen war, sondern im Gasthof Zur Eisernen Hand übernachtet, stundenlange Spaziergänge mit der Joana gemacht und mit ihr vor allem über ihr sogenanntes Bewegungsstudio in Wien und also über die Tanzkunst gesprochen. Die Joana hatte es schon von frühester Kindheit, noch als sie in die Kilber Volksschule gegangen ist, zu einer berühmten Schauspielerin oder Ballerina bringen wollen, es war ihr nie ganz klar geworden, was für sie richtiger ist, Schauspielerin oder Ballerina; schließlich hatte sie sich Choreographin genannt und auf diversen Wiener Kleinbühnen Auftritte in Märchenspielen arrangiert, in sogenannten Schattenspielen große Zeitungserfolge gehabt und endlich im Burgtheater einmal einen Kurs in Gehen abgehalten. Aber es war natürlich völlig sinnlos, zu glauben, sie könne den Burgschauspielern, die nicht gehen können, das Gehen beibringen, denn den Burgschauspielern kann von niemandem Gehen beigebracht werden, genauso wenig wie Sprechen. Durch Vermittlung eines höheren Beamten der sogenannten Bundestheaterverwaltung hatte sie Mitte der Fünfzigerjahre einmal den Auftrag bekommen, den Burgschauspielern Gehen beizubringen. Ihr Kurs scheiterte an dem totalen Desinteresse der Burgschauspieler, schließlich an ihrem eigenen. Aber sie hatte ein Jahr lang dafür ein respektables Honorar bekommen. Im Grunde hat sie sich nie entscheiden können, ob sie nun Schauspielerin sein wolle oder Ballerina; so tanzte und schauspielerte sie die Kindheit entlang und ging nach Wien und studierte bis zur Abschlußprüfung tatsächlich die höhere Schauspielkunst auf dem Reinhardtseminar, aber war nie in ein -2 7
Engagement gegangen. Auf dem Höhepunkt ihrer Entscheidungslosigkeit, den sie selbst immer wieder als künstlerische Krise bezeichnete, heiratete sie den Teppichkünstler, den Tapisseristen, wie sie ihn bezeichnete, dachte ich auf dem Ohrensessel. Über zehn Jahre lebten die Joana und ihr Tapisserist im Dritten Bezirk auf dem Sebastiansplatz in einem Patrizierhaus aus dem Jahr achtundachtzig, in einem dreihundert Quadratmeter großen Atelier auf dem Dach unter drei riesigen Glaskuppeln, unter welchen die Wandteppiche entstanden, die den Tapisseristen in der Zwischenzeit nicht nur in Europa berühmt gemacht haben. Der aus einer alten jüdischen Familie stammende Maler, für den die Webe- und also Gobelinkunst die Rettung gewesen war, wie er immer wieder beteuerte, war gerade im richtigen Augenblick an die Joana gekommen, denn ihre Ursprünglichkeit und Schönheit hatten in kurzer Zeit das Atelier auf dem Sebastiansplatz zu einem Kunstmittelpunkt der Wiener Gesellschaft gemacht, er webte die Teppiche, sie verkaufte sie. Der Charme der Joana hat die Teppiche ihres Tapisseristen zuerst in Wien, dann in Europa, schließlich auch in Amerika berühmt gemacht, dachte ich auf dem Ohrensessel und gleich darauf, daß der Tapisserist genau auf dem Höhepunkt seiner Berühmtheit (die er zweifellos der Joana verdankte!) mit der besten Freundin der Joana, wie gesagt wird, durchgegangen ist bis nach Mexiko. Diese Freundin hat der Tapisserist in Mexikocity geheiratet, sich aber schon nach einem Jahr wieder von ihr scheiden lassen, um eine Mexikanerin (mexikanische Ministerstochter!) zu ehelichen, mit welcher er noch heute verheiratet ist. Tatsächlich war die Joana von Anfang an und bis an ihr Lebensende ein unglückliches Kind, dachte ich auf dem Ohrensessel. Ausgerechnet an dem Tag, an welchem sich die Joana umgebracht hat, bin ich auf den Graben gegangen und habe die Eheleute Auersberger getroffen, daß das ein Zufall ist, glaube ich nicht, dachte ich auf dem Ohrensessel. Ich habe mich über zehn Jahre nicht mehr um die Joana gekümmert, dachte ich, sie jahrelang völlig aus den Augen verloren, auch nichts mehr von ihr gehört. Jetzt in Kilb erfuhr ich, daß sie in den letzten Lebensjahren einen sogenannten -2 8
Lebensgefährten an ihrer Seite hatte, also wieder auf einen Lebensgefährten zurückgekommen ist, diesen Lebensgefährten habe ich, dachte ich, zum erstenmal in der Eisernen Hand gesehen, einen aus dem finstersten Salzburg, der sich andauernd um ein Hochdeutsch bemühte, das aus seinem Mund herausgekommen, das unglücklichste gewesen war, das ich jemals gehört habe. Der Mann hatte sich einen schwarzen, knöchellangen Mantel zum Begräbnis seiner Lebensgefährtin angezogen und einen schwarzen breitkrempigen Hut aufgesetzt, einen sogenannten Schlapphut, wie er heute wieder vor allem unter den Provinzschauspielern hochmodern ist. Natürlich können wir Menschen nicht nur nach ihrer Kleidung beurteilen, dachte ich, diesen Fehler habe ich nie gemacht, aber zuerst hat mich alles an diesem Lebensgefährten der Joana, der mit ihr acht Jahre zusammengelebt haben soll, abgestoßen, wie er redete, was er sagte, wie er ging, vor allem, wie er gegessen hat in der Eisernen Hand. Die Tatsache erschütterte mich, daß die Joana schließlich an einen solchen verkommenen Menschen geraten ist, der zuletzt, nachdem er auf einer Josefstädter Kleinbühne gespielt hatte, als Vertreter für billige Ohrringe aus Hongkong durch die Gegend gefahren ist; er wirkte selbst als Vertreter schäbig, erinnerte an die Marktfahrer und da auch an einen der alleruntersten Kategorie. Wie er Kartoffelsalat gesagt hat zur Kellnerin in der Eisernen Hand, hatte mir beinahe Übelkeit verursacht, dachte ich auf dem Ohrensessel, von welchem aus ich die Gäste im Musikzimmer beobachtete, die wie auf einer Bühne agierten im Hintergrund, einer beweglichen Photographie ähnlich durch den Zigarettenrauchschleier, den die Gäste durch fortwährendes Rauchen erzeugt hatten in der Zwischenzeit. Die Auersbergerischen meinten aufeinmal, daß sie nurmehr noch eine Viertelstunde warten würden mit dem Abendessen, höchstens bis halb-eins, so die Auersberger zur feist und fett und häßlich gewordenen Schriftstellerin Jeannie Billroth, mit welcher sie sich schon eine Zeitlang unterhielt, naturgemäß über die Joana, mit welcher die Schriftstellerin Jeannie Billroth, die sich immer als die Virginia Woolf von Wien vorgekommen ist, während sie es doch höchstens bis zu einer sentimentalen -2 9
geschraubten Schwätzerin und ganz üblen Kitschproduzentin auf dem Papier gebracht hat in ihren Romanen und Erzählungen. Die in einem schwarzen selbstgestrickten Wollkleid in der Gentzgasse erschienene Schriftstellerin Jeannie Billroth war auch eine Freundin der Joana, wohnte im Zweiten Wiener Gemeindebezirk ganz in der Nähe der Prater hauptallee und existierte tatsächlich schon jahrzehntelang in der Einbildung, die größte Schriftstellerin, ja Dichterin Österreichs zu sein, auch an diesem Abend, besser, in dieser Nacht in der Gentzgasse, hatte sie nicht einen Augenblick gezögert, der Auersberger zu versichern, daß sie in ihrem letzten Roman einen Schritt weitergegangen sei als die Virginia Woolf, was ich hörte, weil ich so gute Ohren habe, vornehmlich in der Nacht, ihr Buch übertreffe bei weitem Virginia Woolfs Wellen, meinte sie und zündete sich eine Zigarette an und kreuzte die Beine. Sie werde sich die in der Presse so hochgelobte Wildente ein zweitesmal anschauen, diesen hintergründigen Ibsen, sagte sie zur Auersberger, ihr Versuch allerdings, die Wildente in einer Wiener Buchhandlung zu erstehen, sei gescheitert, keine einzige Buchhandlung in der Inneren Stadt habe die Wildente auf Lager gehabt, nicht einmal eine Ausgabe in der Reclam-Universalbibliothek habe sie auftreiben können. Aber sie kenne natürlich die Wildente, liebe Ibsen, vor allem den Peer Gynt, meinte sie in die Nebelschwaden hinein, die sie selbst erzeugte. Sie war eine starke Raucherin und hatte vom Rauchen eine rauhe Stimme und vom Weißweintrinken ein aufgequollenes Gesicht. In der Zeit, in welcher ich intensiv mit den Eheleuten Auersberger verkehrt hatte, war ich auch sehr viel mit der Schriftstellerin Jeannie Billroth zusammen gewesen, viel zuviel und mit beinahe selbstmörderischer Intensität, wie ich denke, in ihrer Gemeindewohnung, in welcher sie mit einem Chemiker, dem Ernstl, zusammenwohnte, der sie oder den sie über ein Jahrzehnt nicht geheiratet hat. Der Ernstl verdiente das Geld, die Jeannie hatte die Reputation, zog Künstler und Pseudokünstler, ja Wissenschaftler und Pseudowissenschaftler an, brachte, so die Joana sehr oft, Farbe in die öde Gemeindewohnung, die vollgestopft war mit Kleinbürgerlichkeit. -3 0
Auch die Schriftstellerin Jeannie ist nichts als eine Kleinbürgerin, die sich in ihrem Kleinbürgerkopf eingenistet hat mit der Zeit, dachte ich auf dem Ohrensessel. Nach dem Tod meines Freundes Josef Maria, der sich, genau wie die Joana, aufgehängt hat, und der nach dem Krieg, Anfang der Fünfzigerjahre, die erste offizielle Literaturzeitschrift Österreichs herausgebracht hat, hatte die Jeannie diese Literatur in der Zeit als Herausgeberin übernommen, von da an war diese Zeitschrift nicht mehr zum Lesen gewesen, im Grunde ein völlig wertloses und also kopfloses und durch und durch langweiliges Blatt geworden, das dieser scheußliche, widerliche und konfuse Staat subventionierte und in welchem immer nur das Abgeschmackteste und Dümmste abgedruckt gewesen ist, vor allem immer wieder die Gedichte der Jeannie Billroth selbst, die ja nicht nur in dem Glauben gewesen war, eine Nachfolgerin und ja sogar eine Übertrefferin der Virginia Woolf zu sein, sondern auch noch, sie sei eine direkte Nachfolgerin und Übertrefferin der Droste und schreibe ihre besten Gedichte Österreichs. Aber sie schrieb nur schlechte Gedichte, in welchen weder Gefühle noch Gedanken auch nur den geringsten literarischen Wert hatten. Fünfzehn Jahre gab sie die stumpfsinnige Literatur in der Zeit heraus, bis man sie ihr mit dem Versprechen, ihr eine lebenslängliche Rente auszuzahlen, aus der Hand genommen hat. Aber die Zeitschrift ist dadurch auch nicht besser geworden, dachte ich, im Gegenteil, der jetzige Herausgeber ist noch viel dümmer und inkompetenter. Unglücklicherweise bin ich an diesem vierzehnten März auf den Graben gegangen in der Absicht, mir eine Krawatte zu kaufen, auf dem Kohlmarkt oder in der Naglergasse, immer habe ich meine Krawatten auf dem Kohlmarkt oder in der Naglergasse gekauft und bin den Auersbergerischen in die Arme gelaufen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Wahrscheinlich hätten mich die Auersbergerischen nicht angesprochen, wenn sie nicht den Vorwand gehabt hätten, mir den Tod der Joana mitzuteilen, dachte ich jetzt, und ich selbst hätte niemals ihre Einladung zu ihrem Nachtmahl angenommen, wenn ich nicht durch den Tod der Joana an diesem Tag doch sozusagen aus dem -3 1
Gleichgewicht gewesen wäre. Die Kilber Gemischtwarenhändlerin hatte ich naturgemäß am Telefon nicht gleich erkannt, ihre Stimme nicht, denn ich hatte diese Stimme ja immer nur in Kilb gehört und auch nur vor wenigstens zwanzig Jahren zum letztenmal in der Eisernen Hand, wohin ich mit der Joana und ihrer Kilber Freundin auf eine Essigwurst gegangen war, sozusagen auf eine ausgelassene Stimmung, wie ich mich genau erinnerte auf dem Ohrensessel. Zwischen drei und vier Uhr früh müsse sich die Joana aufgehängt haben, sagte die Gemischtwarenhändlerin am Telefon, so der Arzt, der sie übrigens eigenhändig aus dem Strick geschnitten haben soll, den die Joana auf einem Dachbalken über dem Vorhauseingang befestigt gehabt hat. Die Landärzte sind nicht zimperlich, dachte ich. Ich hatte diesen Arzt auch auf dem Kilber Friedhof gesehen, er war ein Kindheitsfreund der Joana. Das Begräbnis war eine Groteske. Ich fuhr mit dem Zug nach Sankt Polten und stieg um in die Maria-Zeller-Bahn, die um halbelf in Kilb ankam. Um vor halbelf in Kilb anzukommen, das Begräbnis war für halbzwei angesetzt, hatte ich schon um halbacht Uhr früh auf dem Wiener Westbahnhof sein müssen; ich hatte alle Vorschläge von Freunden, mit ihnen zum Begräbnis nach Kilb zu fahren, abgelehnt, Unabhängigkeit geht mir über alles und ich hasse beinahe nichts mehr, als mich Leuten mit einem Auto anzuschließen und diesen Leuten dann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Die Landschaft zwischen Sankt Polten und Kilb hatte ich in guter Erinnerung, sie enttäuschte mich auch bei dieser traurigen Gelegenheit nicht. Naturgemäß rekapitulierte ich auf dieser Fahrt durch das niederösterreichische Hügelland meine früheren Besuche bei der Joana, die ich zum Großteil mit ihrem Mann, dem Tapisseristen, oder mit den Eheleuten Auersberger zusammen gemacht hatte. Aber ich war auch öfter allein nach Kilb gefahren, immer wieder während meiner Österreich-Besuche in meiner Englandzeit; diese Überlandreisen nach Kilb hatte ich in der erfreulichsten Erinnerung. Am liebsten reise ich, gleich wohin, allein, wie ich auch am liebsten allein gehe. Aber am Ziel meiner Reise nach Kilb die Joana in ihrem kleinen, ebenerdigen -3 2
Elternhaus zu wissen, hatte mir immer die größte Freude gemacht. Meine Kilbfahrten unternahm ich im Frühjahr und im Herbst, niemals im Sommer, niemals im Winter. Die Landmädchen streben schon, sobald sie denken können, nach Wien, in die Hauptstadt, dachte ich auf dem Ohrensessel, das hat sich bis heute nicht geändert, die Joana mußte nach Wien, denn sie wollte unter allen Umständen Karriere machen. Sie hatte es nicht erwarten können, eines Tages für immer sozusagen den Zug nach Wien zu besteigen. Aber Wien hat ihr mehr Unglück als Glück gebracht, dachte ich auf dem Ohrensessel. Die jungen Leute brechen auf in die Hauptstadt und verunglücken im wahrsten Sinne des Wortes da, wo sie sich alles erhofft hatten, an der Widerwärtigkeit der Gesellschaft, an der Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft, an der eigenen Natur, die der menschenfressenden Großstadt Wien meistens nicht gewachsen ist. Schließlich hatte ja auch der Auersberger in Wien Karriere machen wollen, dachte ich auf dem Ohrensessel, und hat sie genauso wenig wie die Joana in Wien gemacht, ist einer Karriere nachgelaufen, die ihm andauernd davongelaufen ist bis heute. Er hat es sich zu leicht gemacht, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel sitzend, wie es sich letztenendes auch die Joana zu leicht gemacht hat, denn von selbst geschieht im Hinblick auf eine Karriere in einer großen Stadt gar nichts und in Wien noch weniger als woanders. Das war beider Irrtum gewesen, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, daß sie gedacht haben, die Großstadt Wien werde ihnen sozusagen unter die Arme greifen; die Großstadt greift niemandem, wie gesagt wird, unter die Arme, sie versucht im Gegenteil, die in sie hereingekommenen Unglücklichen, Karrieresuchenden fortwährend abzustoßen, zu zerstören, zu vernichten und sie hat die Joana zerstört und vernichtet wie den Auersberger, der ja einmal geglaubt hat, sich in Wien zum großen, ja bedeutenden, ja weltbedeutenden Komponisten entwickeln zu können, während er doch, um die Wahrheit zu sagen, sich in Wien nicht nur nicht entwickeln hat können, sondern von Wien tatsächlich völlig ruiniert worden ist; das steiermärkische Genie, das in Anzeichen in ihm gewesen ist vor dreißig Jahren, dachte ich jetzt, ist in Wien sehr bald -3 3
verkümmert, zuerst ist ihm auf den Kopf geschlagen worden und dann ist es verkümmert, wie vor ihm Tausende und Abertausende von Genies, vor allem musikalische. Wien hat ihn zum sogenannten Webern-Nachfolger verkümmern, und für alle Zeit dieser Webern-Nachfolger bleiben lassen. Und die Joana hat zeitlebens von einer Ballerinenkarriere an der Oper geträumt, schließlich von einer gefeierten Burgschauspielerin, die sie hatte werden wollen; sie ist zeitlebens nichts als eine tanzende und schauspielende Dilettantin, sozusagen privatunterrichtende Bewegungstherapeutin geblieben. Es ist schon fünfundzwanzig Jahre her, dachte ich, daß ich für sie kleine Theaterstücke geschrieben habe, die sie mir an den Nachmittagen und an den Abenden in ihrem Turm auf der Simmeringer Hauptstraße vorgespielt hat, die auf Tonband aufgenommen worden sind von uns sozusagen für die Ewigkeit. Dutzende Zweipersonenstücke, in welchen sie zu beweisen versuchte, wie groß ihr Talent sei und in welchen ich meine eigenen Talente unter Beweis stellen wollte, mein schauspielerisches und mein schriftstellerisches. Diese Stücke sind verloren gegangen, literarisch waren sie nichts wert, aber sie hatten mich und die Joana jahrelang am Leben gehalten, wie ich jetzt auf dem Ohrensessel dachte. Von meiner Wohnung im Achtzehnten Bezirk aus bin ich jahrelang beinahe jeden zweiten oder dritten Nachmittag schließlich mit dem Einundsiebziger in die Simmeringer Hauptstraße hinausgefahren, um in der Spirituosenhandlung Dittrich, die dem Turm der Joana gegenüber gelegen war, drei oder vier Zweiliterflaschen billigsten Weißweins einzukaufen und mit diesen Weißweinflaschen in den Turm hinein und mit dem Lift hinauf in den elften Stock zur Joana. Wir tranken und übten uns in der totalen dramatischen Kunst, in der Schauspielkunst und in der Bühnenschriftstellerei mehr oder weniger an Hand der Weißweinflaschen bis zur vollkommenen Erschöpfung. Wenn wir selbst nicht mehr imstande waren, zu agieren, ließen wir ganz einfach die gerade von uns bespielten Tonbänder laufen und berauschten uns daran bis in die tiefe Nacht hinein, bis in die Frühe. Für meine eigene Entwicklung, dachte ich auf dem Ohrensessel, hat meine Beziehung zur Joana eine große Rolle -3 4
gespielt, die Joana ist es gewesen, die mich schließlich wieder zum Theater zurückgebracht hat, von welchem ich nach meinem Akademieabschluß nichts mehr wissen wollte, ich ging, dachte ich jetzt, aus der Akademie hinaus mit meinem Zeugnis und hatte noch auf der Akademietreppe im Hinuntergehen gedacht, daß ich meine Theaterstudien jetzt abgeschlossen, daß ich aber zeitlebens nichts mehr mit dem Theater zu tun haben will. Und ich hatte auch jahrelang nichts mehr mit dem Theater zu tun gehabt, bis ich mit der Joana bekanntgemacht worden bin durch den Auersberger. Die Joana hatte mich schon im ersten Augenblick meiner Begegnung mit ihr auf die Idee gebracht, für sie kurze Stücke zu schreiben, also kleine dramatische Skizzen sozusagen, sie hatte die dafür geeignete Stimme. Nicht wie sie ausschaute, hatte mich gereizt, sondern wie sie gesprochen hat. Und tatsächlich war es die Bekanntschaft und schließlich die Freundschaft mit der Joana gewesen, die mich ganz einfach, nach so langer Zeit des Widerwillens dafür, wieder mit der Kunst und dem Künstlerischen überhaupt in Berührung gebracht hat. Sie und alles an ihr war für mich Theater gewesen, und ihr Mann malte, das faszinierte mich, hatte mich von Anfang an angezogen gehabt, dachte ich auf dem Ohrensessel. Glückliche Umstände hätten aus ihr wahrscheinlich eine der größten Künstlerinnen, Tänzerinnen oder Schauspielerinnen machen können, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, wenn sie nicht an ihren künstlerischen Fritz, den Maler und späteren Tapisseristen gekommen wäre, sich also nicht gleich hätte fallen lassen unter den ersten größeren Widerständen. Andererseits haben es ihre Kolleginnen vom Reinhardtseminar, die tatsächlich Josefstadt oder Burgschauspielerinnen geworden sind und berühmt, zu nichts anderem als zu mehr oder weniger lächerlichen und im Grunde absolut nutzlosen Schauspielfiguren gebracht, die einmal im Jahr in einem Shakespeare, einmal in einem Ne stroy, einmal in einem Grillparzer auftreten und mit Sicherheit tausendmal dümmer sind, als ihr Leben lang die Joana. Es ist zwar als ein künstlerisches Abendessen für den Schauspieler gedacht, sagte ich mir jetzt, aber im Grunde ist es doch nichts anderes, als eine Art Requiem für die Joana; der Geruch des -3 5
nachmittägigen Begräbnisses in Kilb war jetzt aufeinmal in der Gentzgasse, der Kilber Friedhofsgeruch hier in der Wohnung der Eheleute Auersberger. Im Grunde ist dieses sogenannte künstlerische Abendessen nichts anderes, als ein Leichenschmaus, dachte ich und darauf gleich, daß von allen zu dem Nachtmahl Gekommenen allein der erwartete Burgschauspieler, wie ich weiß, die Joana nicht gekannt hat. Das künstlerische Abendessen war schon bevor sich die Joana umgebracht hat, ausgemacht und also vor allem mit dem Schauspieler, dem Burgschauspieler, abgesprochen gewesen, eine verspätete Premierenfeier aus Anlaß der Wildente im Akademietheater, wie die Eheleute Auersberger ein paarmal gesagt hatten. Der Tod der Joana kam ihnen, den Auersbergerischen, dazwischen. Sie sagten den Eingeladenen, für den Schauspieler, für den Burgschauspieler, und fügten dann, ohne das tatsächlich auszusprechen, hinzu: für die Joana. Der Schauspieler ist sich sicher, daß dieses künstlerische Abendessen für ihn gegeben wird, das genügt den Eheleuten Auersberger, die ihr künstlerisches Abendessen allerdings, weil es an Joanas Begräbnistag stattfindet, mehr noch für die Joana veranstalten, dachte ich auf dem Ohrensessel. Im übrigen fiel mir im Augenblick ein, daß ich selbst am Vortag in der Wildente lesen wollte, um dem Schauspieler gewachsen zu sein und ich hatte geglaubt, ich brauchte nur in meinen Bücherkasten zu greifen und die Wildente herausziehen, was ein Irrtum gewesen war; ich besaß die Wildente gar nicht, obwohl ich mir sicher gewesen war, daß ich sie besitze, denn selbstverständlich habe ich die Wildente, hatte ich gedacht, als ich den Bücherkasten aufmachte und die Wildente herausziehen wollte, denn ich habe die Wildente mehrere Male in meinem Leben gelesen, dachte ich, und ich erinnere mich auch ganz genau, in was für Ausgaben, aber ich hatte sie tatsächlich nicht und ich wollte sie mir, wie die Schriftstellerin Jeannie, in der Stadt kaufen, bekam sie aber nicht. Ich erinnerte mich aber auf dem Ohrensessel, daß ein alter Ekdal in der Wildente auftritt, der einen Sohn, also den jungen Ekdal, hat, der Photograph ist. Und daß der erste Akt des Dramas im Hause eines Konsuls Werle spielt. Ekdals -3 6
Atelier, der Dachboden, sagte ich mir und ich erinnerte mich nach und nach an das Stück und suchte nicht mehr danach. Was kann diese Wildente schon wert sein, wenn sie das Burgtheater spielt, dachte ich auf dem Ohrensessel und ich dachte wieder an die Eiserne Hand, wohin ich mit der ganz in Schwarz gekleideten Gemischtwarenhändlerin gegangen bin gleich nach meiner Ankunft in Kilb. Nur für kurz war ich in die Gemischtwarenhandlung eingetreten, um zu sagen, daß ich da sei und die Gemischtwarenhändlerin hatte sich einen schwarzen Mantel angezogen und war mit mir in die Eiserne Hand gegangen, sozusagen in den Gefechtsstand, das Joanabegräbnis betreffend. In der Eisernen Hand hatte ich mir, genau wie die Gemischtwarenhändlerin, ein kleines Gulasch bestellt und mit der Gemischtwarenhändlerin auf den Lebensgefährten der Joana gewartet. Gegen halbzwölf war der Lebensgefährte der Joana eingetreten und hatte sich an unseren Tisch gesetzt. Sind Leute schwarz angezogen, wirken sie noch bleicher als sonst und so hatte der Lebensgefährte der Joana (die Gemischtwarenhändlerin hatte übrigens immer nur Elfriede gesagt) ein so bleiches Gesicht gehabt, daß es den Anschein hatte, er müsse jeden Augenblick erbrechen. In Wahrheit war ihm auch, als er an den Tisch gekommen war, zum Erbrechen gewesen: denn er kam direkt aus der Leichenkammer neben der Kirche, wo er, wie er sagte, zutiefst erschrocken über alles plötzlich Gesehene, die Joana, in einen Plastiksack gesteckt, habe ertragen müssen, der Leichenbestatter, wie üblich, der ortsansässige Tischlermeister, habe, da er keine ausdrückliche Order in bezug auf die Art und Weise der Bestattung bekommen hatte bis zum Auftauchen des Lebensgefährten am Vormittag, die Leiche, der billigsten Art entsprechend, ganz einfach nur in einen Plastiksack gesteckt und auf einem Bretterschragen in der Leichenkammer der Kilber Kirche liegen gelassen. Dem Lebensgefährten, so er in der Eisernen Hand, sei beim Anblick des Plastiksackes übel geworden und er habe dem Kirchendiener den Auftrag gegeben, der Leiche ein Totenhemd anzuziehen und sie in einen Buchensarg zu legen, was inzwischen geschehen sei unter seiner Mitwirkung. Während er so wie wir ein Gulasch -3 7
gegessen hat, sagte er, er könne den Vorgang, nämlich die Leiche der Joana aus dem Plastiksack herauszuziehen und in ein Leichenhemd hineinzustecken, nicht beschreiben, so schauerlich sei er gewesen. Schließlich habe er den teuersten Sarg für die Joana ausgesucht, den der Ortstischler auf Lager gehabt habe. Nachdem er schon die Hälfte von seinem Gulasch gegessen hatte, ging er auf den Gasthausgang hinaus, um sich die Hände zu waschen; als er zurückkam, entdeckte ich Tränen in seinen Augen. Die Joana habe ja keinerlei Verwandte mehr, sagte er, alle seien ihr längst weggestorben gewesen, so sei alles mit dem Begräbnis Zusammenhängende auf ihn gefallen, so der Lebensgefährte. Er habe gedacht, die Gemischtwarenhändlerin hätte sich um die tote Joana und alles nach deren Selbstmord Folgende gekümmert, die Gemischtwarenhändlerin hatte aber nur ihren Kopf geschüttelt darauf, sie habe nicht auf eine Stunde ihr Geschäft verlassen können und geglaubt, er, der Lebensgefährte, hätte alles sozusagen in die Hand genommen. Wie auch immer. Der Lebensgefährte hat sein Gulasch so hastig gegessen, daß er schon damit fertig gewesen war, wie ich erst die Hälfte von meinem Gulasch gegessen hatte. Sein gestärktes weißes Hemd hatte er sich mit dem Gulaschsaft angespritzt, tatsächlich seine gestärkte weiße Hemdbrust, denn er hatte gar kein Hemd an, nur eine Hemdbrust über ein wollenes Leibchen gezogen, wie ich festgestellt habe, dachte ich auf dem Ohrensessel. Diese mit Gulaschsaft bespritzte gestärkte Hemdbrust bestätigt mehr oder weniger den Eindruck, daß es sich bei dem Lebensgefährten der Joana um einen total verkommenen Menschen handelt, dachte ich auf dem Ohrensessel. Nachdem er sein Gulasch gegessen hatte, wartete er ungeduldig darauf, daß die Gemischtwarenhändlerin und ich mit dem Essen aufhörten, aber es war der Gemischtwarenhändlerin wie mir nicht möglich, schneller zu essen, als auf die langsamste Art und Weise. Schließlich ließ ich fast die Hälfte von meinem Gulasch stehen, die Gemischtwarenhändlerin würgte aber ihr ganzes Gulasch in sich hinein. Wenn niemand dafür aufkommt, sagte der Lebensgefährte der Joana, wird die Leiche ganz einfach in einen Plastiksack gesteckt. Und darauf sagte er, die -3 8
Leichenkammer habe fürchterlich gestunken. Durch das Wirtshausfenster sah ich mehrere Autos mit Leuten vorbeifahren, die mir bekannt waren und die ganz offensichtlich zum Begräbnis der Joana nach Kilb gekommen waren, alle fuhren sie Richtung Friedhof. Wie gut, daß ich meinen englischen Schirm mitgenommen habe, dachte ich, als es zu regnen begann. Die Straße verfinsterte sich, umso mehr die Wirtsstube. Die Schriftstellerin Jeannie Billroth mit Gefolge, alles junge Leute unter zwanzig, ging draußen vorbei. Tatsächlich im Turm habe ich die Joana zum letzten Mal gesehen, sie hatte ein aufgedunsenes Gesicht und krankhafte Wasserbeine, sagte ich mir in der Eisernen Hand, dachte ich auf dem Ohrensessel. Eine versoffene Stimme, hätte jeder gesagt. Ein schon völlig verstaubter Wandteppich ihres geschiedenen Mannes über ihrem Bett erinnerte damals noch daran, daß sie mit diesem Mann einmal glücklich gewesen war. Ihre Wohnung war voller Schmutzwäsche und Gestank. Der Tonbandapparat, den sie neben dem Bett stehen hatte, in welchem sie mehr oder weniger, wie ich sah, auch den ganzen Tag lag, war kaputt. Alles war staubig. Auf dem Boden standen und lagen Dutzende leerer Weißweinflaschen. Ich hatte die kurze Szene vom Tonband abhören wollen, in welcher ich einen König und die Joana eine Prinzessin gespielt hatte, vier, fünf Jahre vor meinem überraschenden Besuch bei ihr in ihrem Turm, aber das Tonband war nicht mehr aufzufinden gewesen, es hätte auch nichts genützt, wenn wir es noch gefunden hätten, denn wir hätten es auf dem kaputten Tonbandapparat nicht abspielen können. Natürlich eine nackte Prinzessin, hatte ich zu der auf ihrem Bett liegenden Joana gesagt. Du als nackter König, hatte sie geantwortet und hatte lachen wollen, es gelang ihr nicht. Mein Besuch hatte nichts Rührendes, nichts Sentimentales an sich, er hat mich abgestoßen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Spuren ihres Lebensgefährten waren schon auszumachen, dachte ich auf dem Ohrensessel, da eine Zigarettenpackung, dort eine alte Krawatte, ein schmutziger Socken etcetera. Ich hätte sie enttäuscht, sagte sie mehrere Male; sie hatte sich kaum in ihrem Bett aufrichten können, sie hatte es mehrere Male versucht, sie war gleich wieder -3 9
umgefallen. Enttäuscht, enttäuscht, hatte sie immer wieder gesagt. In den letzten Jahren habe sie vom Verkauf jener Teppiche, also Tapisserien, gelebt, die ihr der Fritz, ihr Mann, zurückgelassen habe. Im übrigen habe sie nichts mehr von ihrem Fritz gehört. Und von den Andern, sie meinte die ganze Künstlerschaft, auch nichts mehr, von allen nichts mehr. Sie bat mich, zum Dittrich hinunter zu gehen um zwei Zweiliterflaschen Weißwein. Geh, hatte sie gesagt, wie früher. Geh! Geh! Sie kommandierte mich hinunter und ich befolgte ihren Befehl wie zwanzig, wie fünfundzwanzig Jahre vorher. Vom Dittrich zurückgekommen, stellte ich ihr die zwei Zweiliterflaschen neben das Bett und verabschiedete mich. Es hätte ja keinen Sinn gehabt, mit ihr ein weiteres Wort zu sprechen, sagte ich mir auf dem Ohrensessel. Ich hatte gedacht, daß sie am Ende sei. Aber sie hat noch viele Jahre gelebt, das verblüffte mich jetzt am meisten. Als ich von ihrem Tod gehört habe, war ich der Meinung gewesen, sie sei schon längst, also viele Jahre, tot, das ist die Wahrheit. Indem ich so viele Jahre nichts mehr von ihr gehört und gesehen hatte, war sie von mir ganz einfach vergessen worden, dachte ich auf dem Ohrensessel. Wir sind mit Menschen so innig zusammen, daß wir glauben, es ist eine Bindung für das ganze Leben, und verlieren sie aufeinmal über Nacht aus den Augen und aus dem Gedächtnis, das ist die Wahrheit, dachte ich auf dem Ohrensessel. Die Schauspieler haben es an sich, sagte ich mir auf dem auersbergerischen Ohrensessel, daß sie erst gegen Mitternacht ihr Abendessen einnehmen, oft auch erst nach Mitternacht und die, die mit ihnen zusammen sein wollen, haben diese fürchterliche Tatsache zu büßen. Wenn wir mit Schauspielern in ein Restaurant gehen, um zu Abend zu essen, wird uns frühestens um halbzwölf Uhr die Suppe auf den Tisch gestellt und den Kaffee trinken wir mit ihnen erst gegen halbzwei. Die Wildente ist ja ein verhältnismäßig kurzes Stück, sagte ich mir, aber vom Akademietheater in die Gentzgasse ist es immerhin wenigstens eine halbe Stunde und wenn die Vorstellung um halbelf Uhr zuende ist, dauert es immer noch eine halbe Stunde, bis sich die Schauspieler, die sich ja am Ende der Vorstellung noch verneigen müssen und die, wie ich gehört habe, mit dieser -4 0
Wildente einen großen Erfolg haben und dafür einen ziemlich lange andauernden Applaus erhalten, abgeschminkt haben und in die Gentzgasse kann also der Schauspieler, für den dieses künstlerische Abendessen schließlich gegeben wird, nicht vor halbein Uhr kommen. Die Eheleute Auersberger haben ihre Gäste für halbelf eingeladen, das ist eine Unverschämtheit, sagte ich mir auf dem Ohrensessel, denn die Eheleute Auersberger haben wissen müssen, daß die Wildente bis elf Uhr dauert und ihr Ekdal nicht vor halbein Uhr in der Gentzgasse sein kann. Wenn ich mir genau überlegt hätte, wann wirklich dieses künstlerische Abendessen anfängt, wäre ich mit Bestimmtheit nicht in die Gentzgasse gekommen, dachte ich. Nur eine Krawatte auf dem Graben gesucht und naturgemäß nicht gefunden, dachte ich, und die Auers bergerischen getroffen im ungünstigsten Moment. Als ob die Zeit stehen geblieben wäre, dachte ich in Anbetracht der Tatsache, daß alle zu diesem künstlerischen Abendessen in die Gentzgasse Eingeladenen genau jene engeren und innigsten Freunde des Ehepaares Auersberger sind, die es schon vor dreißig Jahren und also in den Fünfzigerjahren waren und alle diese Freunde haben, wie sich jetzt zeigte, ihre Freundschaft zu den Eheleuten Auersberger bis heute nicht ein einziges Mal unterbrochen gehabt, haben diese ihre Freundschaft zu den Auersbergerischen, wie gesagt wird, diese ganzen vollen zwanzig oder gar dreißig Jahre, die ich mit den Eheleuten Auersberger keinerlei Kontakt mehr gehabt habe, durchgehalten. Als ein Abtrünniger kam ich mir plötzlich vor, als ein Verräter, als ein Verräter an den Auersbergerischen und an allem, das für mich mit den Auersbergerischen zusammenhängt, dachte ich, und die Auersbergerischen selbst wie auch ihre Gäste hatten ebenso gedacht wie ich, dachte ich. Aber das störte mich nicht, im Gegenteil, denn mir waren ja selbst jetzt, da ich in ihrer Wohnung auf ihrem Ohrensessel saß, die Eheleute Auersberger zutiefst zuwider, genauso ihre Gäste, ja ich haßte sie alle, denn sie waren mir um alles in der Welt entgegengesetzt und ich hatte jetzt, da ich in der auersbergerischen Wohnung saß und mich mit ein paar Gläsern Champagner betäubt mehr oder weniger über die -4 1
Runden zu bringen versuchte, das Gefühl, daß meine Abneigung gegen sie in Wahrheit doch immer schon Haß gewesen ist, Haß gegen alles sie Betreffende. Wir sind auf die innigste Weise mit Menschen befreundet, und wir glauben tatsächlich, auf lebenslänglich und werden eines Tages von diesen von uns über alles andere geschätzten, ja bewunderten, schließlich sogar geliebten Menschen enttäuscht und verabscheuen sie und hassen sie und wollen mit ihnen nichts mehr zu tun haben, dachte ich auf dem Ohrensessel; da wir sie nicht lebenslänglich mit unserem Haß verfolgen wollen, wie ursprünglich mit unserer Zuneigung und Liebe, streichen wir sie ganz einfach aus unserem Gedächtnis. Tatsächlich ist es mir ja gelungen, mich den auersbergerischen Eheleuten über zwei Jahrzehnte zu entziehen, niemals Gefahr zu laufen, ihnen zu begegnen, denn es war schon eine ganz genau von mir ausgedachte und ausgearbeitete Strategie gewesen, nicht mehr mit diesen Unmenschen, wie ich sie für mich bezeichnen mußte, zusammenzukommen, also kein Zufall, ihnen über zwanzig Jahre entkommen zu sein, dachte ich auf dem Ohrensessel; allein der Selbstmord der Joana ist schuld, daß ich aufeinmal und zwar urplötzlich die auersbergerischen Eheleute dann doch getroffen habe auf dem Graben. Ihre abrupt vorgebrachte Einladung zu ihrem Abendessen zu Ehren des Wildentekünstlers, meine ebenso abrupte Annahme ihrer Einladung, eine klassische Kurzschlußhandlung, dachte ich. Schließlich hätte ich ja, obwohl ich sie angenommen habe, der Einladung nicht Folge leisten müssen, noch dazu, wo ich niemals zimperlich gewesen bin in der Einhaltung versprochener Besuche, dachte ich. Tatsächlich habe ich ja die ganzen Tage zwischen der Einladung zu diesem künstlerischen Abendessen und dem Tag, an dem es dann stattfinden sollte, überlegt, ob ich auch wirklich zu den Auersbergerischen gehe, einmal dachte ich, ich gehe zu den Auersbergerischen, einmal dachte ich, ich gehe nicht zu den Auersbergerischen, einmal sagte ich mir, ich gehe hin, einmal, ich gehe nicht hin, ich gehe hin, ich gehe nicht hin, war diese ganzen Tage als ein mich beinahe verrückt machendes Wortspiel in meinem Kopf gewesen und es war mir selbst noch am Abend, also kurz, -4 2
bevor ich dann doch in die Gentzgasse gegangen bin, noch nicht klar gewesen, ob ich tatsächlich in die Gentzgasse gehe. Da dir die Auersbergerischen, wie du ja gleich wieder auf dem Kilber Begräbnis gesehen hast, nach wie vor widerlich sind, hatte ich noch ein paar Minuten, bevor ich mich dann doch entschlossen hatte, hinzugehen, gedacht, du gehst natürlich nicht hin, die Eheleute Auersberger sind widerliche Leute, sie haben dich verraten, nicht du sie, hatte ich die ganze Zeit gedacht, während ich mich in meinem Badezimmer dadurch zu erfrischen versuchte, daß ich aus dem Waschbeckenhahn über meine Handgelenke eiskaltes Wasser laufen ließ und auch einmal das Gesicht unter den Wasserstrahl hielt, um es abzukühlen; die Eheleute Auersberger haben dich in diesen zwanzig Jahren überall, wo es ihnen nur möglich gewesen ist, ausgerichtet, heruntergemacht, alles dich Betreffende verfälscht, an dir mehr oder weniger immer wieder bei jeder Gelegenheit Rufmord begangen, dachte ich, Geschichten über dich erzählt, die nicht wahr sind, Lügen verbreitet, gemeine Lügen, immer mehr Lügen, wie du weißt, Hunderte, Tausende von Lügen in diesen zwanzig Jahren über dich, daß du sie ausgenützt hast in Maria Zaal, nicht sie dich, daß du der Unverschämte gewesen bist, nicht sie, daß du sie verleumdet hast, nicht sie dich, daß du ihr Verräter bist, nicht sie der deine etcetera. Alles hatte ich gegen einen Besuch bei den Auersbergerischen in Rechnung gestellt, nichts hat für einen solchen Besuch bei ihnen nach zwanzig Jahren Kontaktlosigkeit gesprochen und trotzdem habe ich schließlich, tatsächlich mit der größten Abneigung, ja mit dem größten Haß gegen sie, den Entschluß gefaßt, sie aufzusuchen und ich bin in meinen Mantel geschlüpft und in die Gentzgasse gegangen. Ich bin, obwohl ich auf keinen Fall in die Gentzgasse hatte gehen wollen, in die Gentzgasse gegangen, sagte ich mir auf dem Ohrensessel, alles war gegen einen solchen Besuch in der Gentzgasse, alles gegen ein solches lächerliches künstlerisches Abendessen und ich bin hingegangen, noch auf dem Weg in die Gentzgasse habe ich mir die ganze Zeit gesagt, ich bin gegen diesen Besuch in der Gentzgasse, ich bin gegen die Auersbergerischen, ich bin gegen alle diese Leute, -4 3
die an diesem Abendessen teilnehmen, ich hasse sie, ich hasse sie alle und bin doch immer weiter in die Gentzgasse hineingegangen und habe schließlich an der auersbergerischen Wohnungstür geläutet. Alles ist gegen mein Auftreten in der Gentzgasse gewesen und ich bin doch in der Gentzgasse aufgetreten, sagte ich mir auf dem Ohrensessel. Und ich dachte wieder, daß es viel besser gewesen wäre, meinen Gogol und meinen Pascal und meinen Montaigne zu lesen oder den Schönberg oder den Satie zu spielen, oder auch nur, ganz einfach durch die Wiener Straßen zu laufen. Und tatsächlich waren die Auersbergerischen über mein Auftreten in der Gentzgasse noch mehr überrascht gewesen, als ich selbst, dachte ich, das sah ich in der Art und Weise, wie mich die Auersberger empfangen hatte, noch mehr, wie mich ihr Mann empfing. Du hättest nicht in die Gentzgasse gehen sollen, hatte ich mir schon in dem Augenblick gesagt, in welchem ich der Auersberger gegenüber gestanden war, eine Wahnsinnstat, hatte ich mir gesagt, wie ich dem Auersberger die Hand geben wollte und der sie nicht genommen hat, weil er besoffen und/oder auf das Gemeinste infam gewesen war, kann ich nicht sagen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Daß sie ihre Einladung auf dem Graben mir gegenüber in dem Glauben ausgesprochen hatten, ich käme ja doch nicht, unter keinen Umständen, dachte ich auf dem Ohrensessel, daß sie selbst nicht gewußt hatten, warum wirklich sie mich zu dem Abendessen eingeladen haben, das die Auersbergerischen auch gleich fatalerweise als künstlerisches Abendessen bezeichnet hatten auf dem Graben, und sich damit vor mir lächerlich gemacht hatten, dachte ich. Die Auersbergerischen hätten es aber unterlassen können, mich auf dem Graben anzusprechen, dachte ich, sie hätten mich ja ignorieren können, wie sie mich jahrzehntelang ignoriert haben, wie auch ich sie jahrzehntelang ignoriert habe, dachte ich auf dem Ohrensessel. Schuld an dieser Einladung ist die Joana, dachte ich, sie hat diesen Kurzschluß verursacht, die Tote hat diese widerwärtige Fatalität auf dem Gewissen, dachte ich und ich dachte gleichzeitig, wie unsinnig der Gedanke ist, aber ich dachte ihn immer wieder, immer wieder dachte ich diesen unsinnigen -4 4
Gedanken, daß die tote Joana an dem Grabenkurzschluß schuld ist, der mich letztenendes gegen alles in mir in die Gentzgasse hat gehen lassen zu diesem künstlerischen Abendessen. Durch den Tod der Joana hatten die Eheleute Auersberger ganz einfach in dem Augenblick auf dem Graben, in welchem sie mich gesehen hatten, die zwanzig Jahre unserer absoluten Kontaktlosigkeit gestrichen und ihre Einladung ausgesprochen, wie ich aus demselben Grund ihre Einladung angenommen habe. Und noch dazu hatten die Eheleute Auersberger ja gesagt, daß es sich um die Einladung für den Burgschauspieler handelt, der in der Wildente Triumphe feiert, so die Auersberger auf dem Graben, und ich hatte zugesagt. Niemals in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren habe ich eine Einladung angenommen zu einem Abendessen, zu welchem ein Schauspieler eingeladen ist, dachte ich auf dem Ohrensessel, niemals bin ich überhaupt dahin gegangen, wo auch ein Schauspieler hingegangen ist und plötzlich wird gesagt, ein Schauspieler, noch dazu ein Burgschauspieler, kommt zu einem Abendessen und noch dazu zu einem Abendessen bei den Auersbergerischen in der Gentzgasse und ich gehe hin. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt an den Kopf zu greifen. Tatsächlich verberge ich ja meine Abneigung gegen alle diese Leute, auch gegen die Auersbergerischen selbst, nicht, sagte ich mir auf dem Ohrensessel, im Gegenteil, alle fühlen, daß ich sie verabscheue, daß ich sie hasse. Sie sehen, daß ich sie hasse, sie hören es. Umgekehrt hatte ich den Eindruck, das alle diese Leute gegen mich sind, in allem, das ich an ihnen sah und in allem, das ich von ihnen hörte, war Abneigung gegen mich, sicher sogar Haß. Die Eheleute Auersberger haßten mich, sie hatten begriffen: ich war der voreilig eingeladene Schönheitsfehler dieses Abendessens und sie fürchteten nur den Augenblick, in welchem der Burgschauspieler eintritt und sie alle zu Tisch bitten und mit dem Abendessen anfangen. Sie sahen: ich bin ihr Beobachter, der widerwärtige Mensch, der es sich im Ohrensessel bequem gemacht hat und im Schutze des Halbdunkels des Vorzimmers sein ekelhaftes Spiel treibt, die auersbergerischen Gäste mehr oder weniger auseinanderzunehmen, wie gesagt wird. Das -4 5
hatten sie mir immer verübelt, daß ich sie immer auseinander genommen habe bei jeder Gelegenheit, tatsächlich skrupellos, aber ich hatte immer einen Milderungsgrund; ich nahm mich selbst noch viel mehr auseinander, verschonte mich nie, zerlegte mich selbst bei jeder Gelegenheit in alle Bestandteile, wie sie sagen würden, sagte ich mir auf dem Ohrensessel, mit derselben Ungeniertheit, mit derselben Gemeinheit, mit derselben rücksichtslosen Vorgangsweise. Dann ist von mir selbst immer noch viel weniger übrig geblieben, als von ihnen, sagte ich mir. Ich hatte einen Trost: nicht nur ich verfluchte es, in die Gentzgasse gegangen zu sein, diese Dummheit, diese Charakterlosigkeit begangen zu haben, die Eheleute Auersberger umgekehrt, verfluchten sich, mich eingeladen zu haben. Aber nun war ich da, es war nicht zu ändern. In dieser Wohnung bin ich vor dreißig Jahren mit ihnen, als wäre es auch mein Zuhause gewesen, aus- und eingegangen, dachte ich auf dem Ohrensessel sitzend und die Vorgänge im Musikzimmer beobachtend, die gerade so gut beleuchtet waren, daß mir nichts entgehen konnte, während ich selbst andererseits völlig im Dunkel geblieben war die ganze Zeit, also gerade in der Position, die für mich in dieser widerlichen Lage zweifellos noch die günstigste gewesen war, die Gäste, die zu diesem künstlerischen Abendessen gekommen waren, kannte ich ja wie die Eheleute Auersberger selbst seit Jahrzehnten mehr oder weniger, bis auf die jungen Leute, vor allem die zwei jungen Schriftsteller, die mich aber nicht interessierten; ich kannte sie nicht und ich hatte also überhaupt keinen Grund, mich mit ihnen, außer daß ich sie beobachtete, zu befassen, ich hatte nicht das geringste Bedürfnis, auch nur einmal aufzustehen und zu ihnen hin zu gehen, um mich mit ihnen zu unterhalten, sie zu einem Gespräch aufzufordern, zu einem Disput, wahrscheinlich war ich auch zu müde dazu, denn die Begräbnisstrapazen hatten mich völlig erschöpft, alles, das ich in Kilb hatte erleben müssen in Zusammenhang mit der Joana, diese Fürchterlichkeiten vor allem nach dem Begräbnis, dachte ich, die so unglaublich gewesen sind, daß ich erst nach und nach imstande sein werde, sie zu begreifen; noch hatte ich nicht die Klarheit in meinem Kopf, die für ein solches Begreifen -4 6
notwendig ist und ich dachte, daß ich mich zuerst einmal richtig ausschlafen muß, um zu einer solchen Klarheit zu kommen, schon auf dem Ohrensessel dachte ich, daß ich mich zuhause gleich hinlegen und dann den ganzen Tag nicht mehr aufstehen werde, auch die folgende Nacht nicht und vielleicht sogar den nächsten Tag auch nicht und die darauffolgende Nacht auch nicht, so erschöpft, ja erledigt war ich jetzt auf dem Ohrensessel. Wir glauben, wir sind zwanzig und handeln danach und sind in Wirklichkeit über fünfzig und sind total erschöpft, dachte ich, gehen mit uns wie mit zwanzig um und ruinieren uns und gehen mit allen andern auch so um, als wären wir zwanzig und sind fünfzig und halten in Wirklichkeit gar nichts mehr aus, vergessen auch, daß wir ein Leiden haben, mehrere, viele Leiden zusammen, sogenannte Todeskrankheiten, mit welchen wir schon die längste Zeit zu existieren haben, was wir aber ignorieren und gar nicht für wahr halten die längste Zeit, während es doch immer da ist, fortwährend, lebenslänglich und uns eines Tages umbringt, ja gehen mit uns um, als hätten wir noch die Kräfte, die wir vor dreißig Jahren gehabt haben, während wir nicht einmal mehr einen Bruchteil dieser Kräfte vor dreißig Jahren haben, nichts mehr von diesen Kräften, dachte ich auf dem Ohrensessel. Denn vor dreißig Jahren hat es mir nicht das geringste ausgemacht, zwei, drei Nächte hintereinander auf zu sein und beinahe ununterbrochen zu trinken, gleich was, und mich als Unterhaltungsmaschine zu produzieren, mehrere Nächte allen möglichen Leuten, die damals alle Freunde gewesen sind, den Narren zu machen rund um die Uhr, wie gesagt wird, ohne den geringsten Schaden zu nehmen und ich bin ja tatsächlich viele Jahre, so denke ich jetzt, erst um drei oder vier Uhr früh nach Hause gekommen, also erst im Vogelgezwitscher ins Bett, ohne daß es mir im geringsten geschadet hätte. Jahrelang habe ich den Apostelkeller und alle möglichen unterirdischen Lokale in der Inneren Stadt gegen elf aufgesucht, um sie nicht vor drei oder vier Uhr früh zu verlassen und ich habe mich in diesen Nächten immer voll und also völlig verausgabt, wie gesagt werden kann, mit jener äußersten Rücksichtslosigkeit, die mir damals zueigen gewesen ist und die mir damals, wie ich heute -4 7
denke, überhaupt nicht geschadet hat. Und gerade mit der Joana habe ich so viele Nächte verplaudert und vertrunken, daß sie gar nicht gezählt werden können, dachte ich auf dem Ohrensessel. Tatsächlich hatte ich überhaupt kein Geld und auch sonst nichts und habe doch jahrelang die Nächte bis zum äußersten verplaudert und vertrunken, verredet und vertanzt, kann ich sagen, gerade mit der Joana und ihrem Mann und mit der Jeannie Billroth und vor allem immer wieder mit dem Ehepaar Auersberger. Damals habe ich alle Kräfte, die ein junger Mensch haben kann, gehabt und mich skrupellos von allen, die etwas gehabt haben, aushalten lassen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Ich habe keinen Groschen in der Tasche gehabt und habe mir doch alles leisten können, dachte ich auf dem Ohrensessel, die Gäste im Musikzimmer beobachtend. Und so viele Jahre bin ich tagtäglich, muß ich sagen, schon am späteren Nachmittag zur Joana in die Simmeringer Hauptstraße hinaus, vorher noch zum Dittrich um die Weinflaschen aufzunehmen in meinen Armen, um mit der Joana zusammen zu sein bis in der Frühe und mit dem ersten Einundsiebziger in die Stadt zurück zu fahren oder ganz einfach von ihr aus zu Fuß die Simmeringer Hauptstraße zurück, den Rennweg hinunter, über den Schwarzenbergplatz bis nach Währing. Das waren noch Zeiten, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie noch die Pferdewagen vor den Milchgeschäften Halt gemacht haben in der Nacht und ich mitten auf dem Rennweg und quer über den Schwarzenbergplatz und den vollkommen leeren Ring entlang nach Hause gehen habe können ohne fürchten zu müssen, überfahren zu werden. Wenn überhaupt einem Menschen, so bin ich bei diesen Gelegenheiten doch nur Meinesgleichen und das heißt, einem Betrunkenen begegnet, und ein die Nacht durchkreuzendes Automobil war eine Seltenheit. Nie mehr im Leben habe ich so viele italienische Arien gesungen, wie damals auf dem Weg von der Simmeringer Hauptstraße auf den Rennweg und über den Schwarzenbergplatz nach Währing, dachte ich auf dem Ohrensessel. Damals hatte ich die Kraft, zu gehen und zu singen, dachte ich auf dem Ohrensessel, heute habe ich nicht mehr die Kraft, zu gehen und zu sprechen, das ist der -4 8
Unterschied. Dreißig Jahre ist es her, daß ich ohne weiteres an die fünfzehn Kilometer in der Nacht nach Hause gegangen bin, dachte ich auf dem Ohrensessel, singend, in meiner damaligen Mozart- und Verdibegeisterung dem Rausch freien Lauf lassend. Dreißig Jahre ist es her, dachte ich auf dem Ohrensessel, daß ich auf diese Weise Operngeschichte gemacht habe, dreißig Jahre. Tatsächlich hätte ich ohne die Joana, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, einen anderen Weg genommen, wäre möglicherweise den entgegengesetzten gegangen, wenn ich, diesen Gedanken noch weiter zurück verfolgend, den Auersberger nicht kennen gelernt hätte. Denn den Auersberger kennen gelernt zu haben, bedeutete im Grunde die Umkehr zum Künstlerischen, von welchem ich mich ja nach dem Abschluß des Mozarteums schon gänzlich und, wie ich damals glaubte, für immer abgekehrt hatte; damals, mit dem Mozarteumsabgang, hatte ich ja plötzlich mit dem sogenannten Künstlerischen nichts mehr zu tun haben wollen, mich für das Gegenteil dessen, das ich als das Künstlerische bezeichne, entschieden gehabt, während die Begegnung mit dem Auersberger, wie ich jetzt auf dem Ohrensessel wieder dachte, noch einmal eine totale Kehrtwendung verursacht hatte in mir. Und erst die Begegnung mit der Joana, mit diesem Ausbund des Künstlertums, dachte ich. Für das Künstlerische, nicht für die Kunst, immer nur für das Künstlerische hatte ich mich damals vor fünfunddreißig Jahren entschieden, endgültig, dachte ich auf dem Ohrensessel, wenn ich auch gar nicht wußte, was das ist, das Künstlerische, aber ich hatte mich für das Künstlerische entschieden, wenn ich auch nicht wußte, für was für ein Künstlerisches. Ich hatte mich ganz einfach für den Auersberger entschieden, für jenen Auersberger, der er damals, vor fünfunddreißig, vor vierunddreißig, ja noch vor dreiunddreißig Jahren gewesen ist, der künstlerische Auersberger. Und für die Joana, die durch und durch künstlerische Joana. Und für Wien. Und für die künstlerische Welt, dachte ich auf dem Ohrensessel. Dem Auersberger verdanke ich, daß ich die Kehrtwendung in die künstlerische Welt gemacht habe, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, und der Joana und allem, das damals, eben vor fünfunddreißig -4 9
Jahren und vor zweiunddreißig Jahren noch, mit dem Auersberger und mit der Joana zusammenhing, das ist die Wahrheit, dachte ich auf dem Ohrensessel. Mehrere Male sagte ich die künstlerische Welt vor mich hin, auch das künstlerische Leben, tatsächlich laut und so, daß es die Leute im Musikzimmer hören mußten und auch gehört haben, denn sie schauten aufeinmal alle auf mich, aus dem Musikzimmer heraus in das Vorzimmer, ohne mich tatsächlich sehen zu können, weil sie mich gehört hatten, wie ich das künstlerische Leben gesagt habe und die künstlerische Welt und diese Wörter immer wieder wiederholt hatte, und ich dachte, was diese Begriffe künstlerische Welt und künstlerisches Leben für mich damals bedeutet haben und mir im Grunde ja auch heute noch bedeuten, mehr oder weniger alles, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, und wie abgeschmackt es doch von den Auersbergerischen ist, ihr Abendessen, besser, ihr Nachtmahl, wie in Wien gesagt wird, ein künstlerisches Abendessen zu nennen. Wie heruntergekommen sie sind, die Auersbergerischen, dachte ich auf dem Ohrensessel, die Auersbergerischen, die in meinen Augen längst und schon vor Jahrzehnten künstlerischen und überhaupt geistigen und tatsächlich ja auch seelischen Bankrott gemacht haben. Aber alle diese Leute im Musikzimmer hatten ja, wie ich künstlerische Welt gesagt hatte und künstlerisches Leben es so gehört, wie wenn ich gesagt hätte, künstlerisches Abendessen wie die Eheleute Auersberger und es war ihnen, außer der Lautstärke, mit welcher ich künstlerische Welt und künstlerisches Leben gesagt hatte, nichts aufgefallen, sie merkten die Bedeutung gar nicht, die dieses künstlerische Leben und künstlerische Welt für mich gehabt hat, während ich es ausgesprochen habe. Alle diese Leute waren ja einmal tatsächlich Künstler oder wenigstens Kunsttalente, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, jetzt sind sie alle nurmehr noch ein einziges Kunstgesindel, das mit Kunst und also mit künstlerisch eben nicht mehr gemeinsam hat, als das Abendessen der Eheleute Auersberger. Alle diese Leute, die einmal tatsächlich Künstler oder wenigstens künstlerisch gewesen sind, dachte ich auf dem Ohrensessel, sind nurmehr noch die Larven und die Hülsen derer, die sie -5 0
einmal gewesen sind; ich brauche nur zu hören, was sie sagen, ich brauche sie nur anzuschauen, ich brauche nur mit ihren Erzeugnissen in Kontakt zu kommen, ich empfinde das gleiche, das ich jetzt in Zusammenhang mit diesem Nachtmahl empfinde, mit diesem abgeschmackten künstlerischen Abendessen. Was in diesen dreißig Jahren aus allen diesen Leuten geworden ist, dachte ich, was alle diese Menschen in diesen dreißig Jahren aus sich gemacht haben. Und was ich selbst in diesen dreißig Jahren aus mir gemacht habe, dachte ich. In jedem Fall ist es deprimierend, was diese Leute in diesen dreißig Jahren aus sich gemacht haben, was ich aus mir gemacht habe, aus allen diesen einmal glücklichen Zuständen und Umständen haben alle diese Leute deprimierende Zustände und deprimierende Umstände gemacht, dachte ich auf dem Ohrensessel, alles haben sie zu etwas durch und durch Deprimierendem gemacht, ihr ganzes Glück zu einer einzigen Depression, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie ich selbst aus meinem Glück eine einzige Depression gemacht habe. Denn zweifellos waren alle diese Leute einmal, das heißt damals, vor dreißig, ja noch vor zwanzig Jahren, glückliche Menschen gewesen, glücklich gewesen, jetzt sind sie nurmehr noch deprimierende Menschen, deprimierend, wie ich letztenendes nurmehr noch deprimierend und nicht glücklich bin, dachte ich auf dem Ohrensessel. Aus einem einzigen Glück haben sie eine einzige Katastrophe gemacht, dachte ich auf dem Ohrensessel, aus lauter Hoffnung lauter Hoffnungslosigkeit. Denn schaute ich in das Musikzimmer hinein, schaute ich doch geradezu nichts als in Hoffnungslosigkeit hinein, dachte ich auf dem Ohrensessel, in nichts als in menschliche und sozusagen in nichts als in künstlerische Hoffnungslosigkeit, das ist die Wahrheit. Alle diese Leute waren einmal in den Fünfzigerjahren und also vor dreißig oder gar schon vor vierzig Jahren nach Wien gekommen in der Hoffnung, es in Wien zu etwas zu bringen, wie gesagt wird, und haben es tatsächlich in Wien zu nichts als zu mehr oder weniger hoch dekorierten Provinzkünstlern gebracht und es ist die Frage, ob sie es in einer anderen sogenannten Großstadt zu etwas gebracht hätten, -5 1
wahrscheinlich hätten sie es nirgendwo zu etwas gebracht, dachte ich. Aber wenn ich denke, sie haben es in Wien zu nichts gebracht, überhaupt zu nichts gebracht, so denke ich das in dem Bewußtsein, daß sie selbst gar nicht wissen, daß sie es zu nichts gebracht haben, dachte ich, denn sie geben sich alle nicht so, als wüßten sie, daß sie es zu nichts gebracht haben, sie geben sich im Gegenteil alle so, als hätten sie es zu etwas gebracht in Wien, wären etwas geworden in Wien, also, daß sich ihre auf Wien gesetzten Hoffnungen durchaus erfüllt haben, denken sie, dachte ich, oder wenigstens glauben sie die meiste Zeit, daß sie es zu etwas gebracht haben und glauben inständig die meiste Zeit, etwas geworden zu sein, obwohl sie nichts geworden sind, wie ich denke. Sie glauben, weil sie sich einen Namen gemacht haben und viele Preise bekommen haben und viele Bücher veröffentlicht und ihre Bilder an viele Museen verkauft haben und ihre Bücher in den besten Verlagshäusern veröffentlicht haben und ihre Bilder in den besten Museen untergebracht haben und daß ihnen dieser widerwärtige Staat alle nur möglichen Preise verliehen und alle nur möglichen Orden an ihre Brüste geheftet hat, daß sie etwas geworden sind, aber sie sind nichts geworden, dachte ich. Sie alle sind, wie gesagt wird, bekannte, ja berühmte Künstler und sie sitzen als Senatoren im sogenannten Kunstsenat und sie nennen sich Professoren und haben alle möglichen Lehrstühle an unseren Akademien inne und sind einmal von dieser, einmal von jener Hochschule oder Universität eingeladen und sie sprechen einmal auf diesem und einmal auf jenem Symposion und sie reisen einmal nach Brüssel und einmal nach Paris und einmal nach Rom und in die Vereinigten Staaten von Amerika und nach Japan und die Sowjetunion oder nach China, wohin sie alle mit der Zeit eingeladen worden sind und eingeladen werden, und halten Vorträge über sich selbst und eröffnen Ausstellungen ihrer Bilder und sind doch, wie ich denke, nichts geworden. Sie alle haben ganz einfach nicht das Höchste erreicht und nur dieses Höchste, denke ich, dachte ich, ist Befriedigung. Die Kompositionen des Auersberger sind ja nicht unaufgeführt, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, der Webern-Nachfolger Auersberger ist ja nicht verkannt, dachte -5 2
ich, im Gegenteil, alle Augenblicke wird von ihm etwas gesungen, geblasen, gezupft (dafür sorgt er schon!), alle Augenblicke etwas von ihm geschlagen oder gestrichen, einmal in Basel, einmal in Zürich, einmal in London, einmal in Klagenfurt (dafür sorgt er schon!), da ein Duett, dort ein Terzett, da ein Vierminutenchor, da eine Zwölfminutenoper, dort eine Dreiminutenkantate, da eine Sekundenoper, dort ein Minutenlied, da eine Zwei-, dort eine Vierminutenarie; einmal hat er sich englischer, einmal französischer, einmal italienischer Interpreten versichert, einmal spielt ihn ein polnischer, einmal ein portugiesischer Geiger, einmal eine chilenische, einmal eine italienische Klarinettistin. Kaum ist er in der einen Stadt angekommen, denkt er schon an die andere, unser rastloser Webern-Nachfolger, denke ich, unser vielgereister trippelnder Auersberger, unser rastloser Webern- und Grafenkopist, unser Snob- und Geckmusikschreiber aus der Steiermark. Wie Bruck ner unerträglich monumental, so ist Webern unerträglich dürftig und noch hundertmal dürftiger als der dürftige Anton von Webern ist der Auersberger, den ich, wie die stumpfsinnigen Literaten den Paul Celan sozusagen als beinahe wortlosen Dichter, als beinahe tonlosen Komponisten bezeichnen muß. Der steiermärkische Epigone ist ja nicht unaufgeführt, denke ich, aber er ist schon vor dreißig Jahren, also schon in der Mitte der Fünfzigerjahre in der Webernnachfolge steckengeblieben; keine drei Töne sind von ihm, denke ich, aus dem nichts geworden ist. Den Kompositionen des Auersberger fehlt der Auersberger, denke ich, seine sogenannte aphoristische Musik (so meine eigene Bezeichnung für sein Kopieren als Komponieren in den Fünfzigerjahren!) ist nichts als ein unerträglicher epigonaler Webern, der ja selbst, wie ich jetzt weiß, kein Genie, nur ein plötzlicher, wenn auch genialer Schwächeanfall der Musikgeschichte gewesen ist. In Wirklichkeit, denke ich jetzt voller Selbstscham auf dem auersbergerischen Ohrensessel, ist der Auersberger nie ein Genie gewesen, auch wenn ich das in den Fünfzigerjahren wie nichts geglaubt habe, nur ein armseliger talentierter Spießbürger, der schon in den ersten Wochen in Wien sein Talent im wahrsten Sinne des Wortes verspielt hat. Wien ist -5 3
eine fürchterliche Genievernichtungsmaschine, dachte ich auf dem Ohrensessel, eine entsetzliche Talentezertrüm merungsanstalt. Alle diese vernichteten und getöteten Genies und Talente, die ich jetzt durch ihren eigenen, widerwärtigen Zigarettenrauch beobachtete, sind vor dreißig und vor fünfunddreißig Jahren nach Wien gekommen, in der Hoffnung, es zu etwas zu bringen und sind in Wahrheit von Wien vernichtet und getötet worden, alle diese Genies und Talente, die alljährlich auf dem österreichischen Land zu Hunderten, wenn nicht zu Tausenden geboren werden. Sie selbst mögen denken, daß sie es zu etwas gebracht haben, aber ich dachte auf dem Ohrensessel, sie haben es zu nichts gebracht, weil sie in Wien geblieben sind und sich mit Wien zufrieden gegeben haben und nicht zu dem einzigen entscheidenden Augenblick aus Wien weggegangen sind in das Ausland, wie jene, die im Ausland tatsächlich etwas geworden sind; alle in Wien gebliebenen sind nichts geworden, alle ins Ausland gegangenen sind etwas geworden, das darf ich ohne weiteres sagen. Weil ihnen Wien genügt hat, sind sie nichts geworden zum Unterschied von denen, denen Wien nicht genügt hat und die im entscheidenden Augenblick aus Wien weg in das Ausland gegangen sind, dachte ich auf dem Ohrensessel. Ich will mich nicht auf die Spekulation einlassen, was alles aus diesen Leuten, die da im Musikzimmer auf den Schauspieler und also auf das künstlerische Abendessen gewartet haben, geworden wäre, wenn alle diese Leute zu ihrem einzigen entscheidenden Zeitpunkt aus Wien weggegangen wären. Ein kleiner Erfolg, also eine kleine positive Zeitungsbesprechung über ihren ersten Roman, genügte der Schriftstellerin Jeannie Billroth, in Wien sitzen zu bleiben, der Ankauf zweier Bilder durch die staatlichen Museen genügte dem Maler Rehmden, um in Wien sitzen zu bleiben, ein paar dumme lobende Erwähnungen, im Kurier oder in der Presse, genügten der Schauspielerin, um in Wien sitzen zu bleiben. Lauter in Wien Sitzengebliebene stehen da im Musikzimmer, dachte ich auf dem Ohrensessel, lauter in Wien Sitzengebliebene, in ihrem kleinbürgerlichen Wohlleben schon beinahe Erstickte, sind auf dem Kilber Friedhof hinter dem Sarg mit der Joana -5 4
hergegangen, dachte ich. Was für einen deprimierenden Eindruck hat auf mich das Kilber Begräbnis allein schon aus diesem Grunde gemacht, dachte ich auf dem Ohrensessel gerade in der Beobachtung dieser Leute, weniger die Tatsache, daß die Joana begraben worden ist, hat mich in Kilb deprimiert, mehr noch die Tatsache, daß hinter dem Sarg der Joana lauter künstlerische Leichen einhergegangen sind, lauter Gescheiterte, in Wien Gescheiterte, lebende Kunstleichname, Schriftsteller, Maler, Schauspieler, Tänzer und ihr Anhang, als lebende Leichen, als lebende, noch lebende Kunstleichen, vom pausenlos niederprasselnden Regen auch noch in der erbärmlichsten Weise zugerichtet bis zur Lächerlichkeit. Der Anblick war weniger traurig als unappetitlich, dachte ich. Diese grauenhaften, verlogenen gescheiterten Kunstnieten, hatte ich die ganze Zeit gedacht, die hinter dem Sarg hergehen, durch den Friedhofsmorast stapfen in widerwärtiger Trauerkörperhaltung, sagte ich mir auf dem Ohrensessel. Weniger das Begräbnis hat mich aufgebracht in Kilb, mehr das Auftreten dieser Trauergäste, die mit ihren protzigen Automobilen aus Wien angefahren waren. Nicht die tote Joana hat mich so aufgeregt in Kilb, daß ich mehrere Herztabletten hatte einnehmen müssen, sondern die Art und Weise, wie diese Kunstmenschen als Künstlerattrappen in Kilb aufgetreten sind, dachte ich und ich dachte, daß mein eigenes Auftreten in Kilb wahrscheinlich als ebenso widerwärtig zu bezeichnen ist, widerwärtig in jeder Beziehung. Schon allein, daß ich mir den schwarzen Anzug angezogen hatte, war eine Widerwärtigkeit gewesen, sagte ich mir jetzt, wie ich mein Gulasch in der Eisernen Hand gegessen und mit dem Lebensgefährten der Joana in der Eisernen Hand geredet habe; als ob ich der einzige gewesen wäre, der der Joana tatsächlich nahe gestanden sei, agierte ich, als ob ich als einziger ein Anrecht auf die Joana gehabt hätte. Meine Überlegungen, dieses Joanabegräbnis betreffend, förderten nur immer wieder neue Widerwärtigkeiten (meinerseits) zutage, gleich, was ich diesbezüglich dachte, gleich, was ich mir sozusagen ins Gedächtnis zurückkommandierte, es war nur Widerwärtiges. Indem ich die Anderen als widerwärtig empfunden habe, war -5 5
ich selbstverständlich gezwungen, mich selbst als widerwärtig zu empfinden, dachte ich, und ich empfand mich jetzt umso widerwärtiger, alles mit dem Joanabegräbnis Zusammenhängende in Betracht ziehend. Es war eine Widerwärtigkeit gewesen, allein nach Kilb zu fahren, obwohl mir, ehrlich gesagt, mehrfach angeboten worden war, nach Kilb mitzufahren, dachte ich, eine Widerwärtigkeit, daß ich mich mit der Gemischtwarenhändlerin, der Freundin der Joana, so unterhalten habe, als sei ich der Joana am nächsten gewesen, daß ich der Gemischtwarenhändlerin nicht die Zeit gelassen hatte, sich um die andern zum Joanabegräbnis Gekommenen zu kümmern, indem ich sie sozusagen von Anfang an rücksichtslos für mich allein in Beschlag genommen habe, dachte ich. Ich habe mir in Kilb die Begräbniskrone aufgesetzt, sagte ich mir und das war widerwärtig, dachte ich jetzt. Ich hatte den Lebensgefährten der Joana abgewertet, dachte ich jetzt, alle zu diesem Begräbnis Gekommenen abgewertet, mich aufgewertet, dachte ich, das war niederträchtig. Andererseits hatte ich auf dem Begräbnis geglaubt, daß ich mich auf dem Begräbnis richtig verhalten habe, während des Begräbnisses war ich mir keiner Schuld bewußt, erst jetzt, auf dem Ohrensessel, erlangte ich sozusagen mein Schuldbewußtsein, das Begräbnis in Kilb betreffend. Der Tod der Joana, ihr Selbstmord, hat mich in Kilb nicht trauriger gemacht, dachte ich auf dem Ohrensessel, sondern gegen ihre Freunde aufgebracht, ohne daß ich imstande gewesen wäre, mir zu klären, warum. In Wahrheit hat mich das Telefonat, in welchem mir die Gemischtwarenhändlerin den Selbstmord der Joana mitgeteilt hat, gar nicht erschüttert, ich tat erschüttert, dachte ich jetzt, ich war es nicht, ich war neugierig, aber nicht erschüttert, ich machte der Gemischtwarenhändlerin nur eine Erschütterung meinerseits vor, aber ich war nichts als neugierig und ich wollte von der Gemischtwarenhändlerin sofort alles wissen über den Selbstmord der Joana, mit einer Rücksichtslosigkeit ohnegleichen, dies erschütterte mich erst jetzt auf dem Ohrensessel, daß ich nicht traurig, sondern neugierig gewesen war und aus der Gemischtwarenhändlerin mehr herausgepreßt hatte am Telefon, als ihr lieb gewesen -5 6
war, weil sie Anstand hatte zum Unterschied von mir, dem jeder Anstand in diesem Augenblick des Telefonats gefehlt hat. Natürlich war die Joana durch so viele Jahre der Kontaktlosigkeit schon so weit weg gewesen von mir, daß das Telefonat der Gemischtwarenhändlerin kein Schock für mich sein konnte, wie gesagt, auch keine unmittelbare Traurigkeit meinerseits zur Folge haben konnte, nur die Neugierde und diese hatte aus der Gemischtwarenhändlerin gleich alles den Selbstmord der Joana Betreffende aus der Gemischtwarenhändlerin herausgepreßt. Die Umstände interessierten mich, nicht die Tatsache. Erst nach dem Ende des Telefonats kam mir die ganze Tragweite des Telefonats zu Bewußtsein, ich war aufeinmal nicht mehr neugierig, ich war traurig. Ich war tatsächlich traurig und ich war in dieser Traurigkeit in die Stadt gelaufen, auf den Graben, auf die Kärntnerstraße, auf den Kohlmarkt, in die Spiegelgasse in das Bräunerhof, wo ich, meiner jahrelangen Gewohnheit gehorchend, den Corriere, Le Monde und die Zürcher Zeitung, sowie die Frankfurter durchgeschaut habe, um dann, von diesen schamlosen Blättern angewidert, wieder auf den Graben zu gehen, um mir eine Krawatte zu kaufen, und anstatt mir eine Krawatte zu kaufen, habe ich die Eheleute Auersberger getroffen, die mir ihrerseits den Selbstmord der Joana mitgeteilt hatten. Ich wußte zu diesem Zeitpunkt schon viel mehr als die Eheleute Auersberger über den Selbstmord der Joana und tat doch vor den Eheleuten Auersberger so, als wüßte ich darüber gar nichts, nicht das geringste; ich hatte so ahnungslos getan, daß die Eheleute Auersberger das Gefühl haben mußten, ich sei über den Selbstmord der Joana schockiert, während ich den Schock über den Selbstmord der Joana gegenüber den Eheleuten Auersberger auf dem Graben nur gespielt hatte, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel. Ich war in tatsächlicher Traurigkeit über den Selbstmord der Joana in der Stadt hin und her gegangen und hatte aufeinmal den Eheleuten Auersberger einen schamlosen Schock über den Selbstmord der Joana vorgespielt. Da mein Schockiertsein ein gespieltes gewesen war, hatte ich die Annahme der Einladung der Auersberger zu ihrem künstlerischen Abendessen auch gespielt, weil alles -5 7
gegenüber den Auersbergerischen auf dem Graben gespielt gewesen war von mir, und ich dachte auf dem Ohrensessel, ich hatte ihnen einen Schock über den Selbstmord der Joana vorgespielt und ich hatte ihnen meine Zusage zu ihrem künstlerischen Abendessen vorgespielt. Ich hatte ihnen alles vorgespielt. Ich habe ihnen die Annahme ihrer Einladung nur vorgespielt, dachte ich jetzt, und bin trotzdem ihrer Einladung in Wirklichkeit gefolgt, der Gedanke ist grotesk, dachte ich, und ich amüsierte mich über diesen Gedanken schon während ich ihn dachte. Im Grunde, dachte ich auf dem Ohrensessel, habe ich den auersbergerischen Eheleuten alles nur vorgespielt und ich sitze jetzt in ihrem Ohrensessel und spiele ihnen wieder alles vor; ich bin nicht in Wahrheit und in Wirklichkeit hier bei ihnen in der Gentzgasse, sondern ich spiele ihnen nur vor, daß ich in der Gentzgasse und also bei ihnen in ihrer Wohnung bin, sagte ich mir. Ich habe ihnen immer alles vorgespielt, sagte ich mir. Ich habe allen alles immer nur vorgespielt, ich habe mein ganzes Leben nur gespielt und vorgespielt, sagte ich mir auf dem Ohrensessel, ich lebe kein tatsächliches, kein wirkliches, ich lebe und existiere nur ein vorgespieltes, ich habe immer nur ein vorgespieltes Leben gehabt, niemals ein tatsächliches, wirkliches, sagte ich mir, und ich trieb diese Vorstellung so weit, das ich schließlich an diese Vorstellung glaubte. Ich atmete tief ein und sagte mir und zwar so, daß es die Leute im Musikzimmer hören mußten, du hast nur ein vorgespieltes Leben, kein wirkliches gelebt, nur eine vorgespielte Existenz, keine tatsächliche, alles, was dich betrifft und alles, das du bist, ist immer nur ein vorgespieltes, kein tatsächliches und kein wirkliches gewesen. Ich mußte diese Spekulation aber abbrechen, um nicht verrückt zu werden, wie ich auf dem Ohrensessel dachte, und machte wieder einen kräftigen Schluck aus dem Champagnerglas. Während ich selbst andauernd nur Champagner getrunken hatte die ganze Zeit, hatten sich die Leute im Musikzimmer, wie ich gesehen habe, schließlich mit Cherry und mit purem Wasser zufrieden gegeben, denn sie wollten sich vor dem Nachtmahl und also vor dem sogenannten künstlerischen Abendessen nicht so hemmungslos betrinken wie der Auersberger, ich hatte keinerlei -5 8
Angst, zu viel zu trinken und trank. Aber naturgemäß trank ich nicht so hemmungslos in mich hinein wie der Auersberger selbst, daß ich also wie er betrunken gewesen wäre, ich trank, aber ich machte nur alle zehn oder gar alle fünfzehn Minuten einen Schluck, das ist die Wahrheit; ich war ja nicht mehr zwanzig, sondern zweiundfünfzig, was ich an diesem Abend in der Gentzgasse nicht vergessen habe. In Kilb hatten diese künstlerischen Menschen einen grotesken Eindruck gemacht, wenigstens auf mich wirkten sie wie von ihren künstlerischen Vorhaben und von ihrer künstlerischen Tätigkeit verunstaltet, sie hatten einen künstlichen Gang, und sie hatten eine künstliche Stimme, alles an ihnen war künstlich, während ich den Friedhof als das Natürlichste von der Welt empfunden habe. Beugten sie sich vor, beugten sie sich zu weit vor, standen sie auf, standen sie zu früh (oder zu spät) auf, setzten sie sich nieder, setzten sie sich zu spät (oder zu früh) nieder, fingen sie an, zu singen, sangen sie zu früh (oder zu spät), nahmen sie ihre Kopfbedeckungen vom Kopf, nahmen sie sie zu früh (oder zu spät) vom Kopf, hatten sie etwas zum Pfarrer gesagt, hatten sie es zu früh (oder zu spät) gesagt. Während die Kilber Bevölkerung, die, wie gesagt wird, sehr zahlreich zum Begräbnis der Joana gekommen war, alles natürlich gemacht hat, alles natürlich gesagt hat, alles natürlich gesungen hat, immer natürlich gegangen ist und natürlich aufgestanden und sich natürlich hingesetzt hat und immer alles weder zu spät, noch zu früh, noch zu kurz, noch zu lang. Und während die künstlerischen Leute aus Wien auf die grotesk-lächerliche Weise zu diesem Begräbnis angezogen waren, war die Kilber Bevölkerung ganz und gar richtig dazu angezogen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Die Kilber Bevölkerung paßte nach Kilb und auf den Kilber Friedhof, die Künstlerischen aus Wien paßten nicht nach Kilb und nicht auf den Kilber Friedhof. Das Städtische der Trauergäste aus Wien paßte nicht auf den Kilber Friedhof, hatte ich, noch während ich selbst in dem langen Trauerzug mitgegangen war, gedacht. Jeder einzelne dieser Trauergäste aus Wien ist in Kilb ein Fremdkörper, hatte ich gedacht, wie ich hinter dem Sarg her gegangen bin, zwischen der Gemischtwarenhändlerin und dem unglücklichen -5 9
Lebensgefährten der Joana, der auf der ganzen Strecke von der Kirche auf den Friedhof, die sicher zwei Kilometer lang ist, so gehustet hat, als wäre er lungenkrank. Die Tatsache, daß der neben mir gehende Lebensgefährte der Joana lungenkrank sein könne, irritierte mich und ich hielt jedesmal, wenn er hustete, den Atem an, um mich nicht anzustecken, bis ich plötzlich dachte, daß ich ja selbst lungenkrank bin und wahrscheinlich viel lungenkranker als der Lebensgefährte der Joana und aufeinmal noch mehr hustete, als der neben mir gehende Lebensgefährte der Joana, der, sobald ich zu husten angefangen hatte, mit seinem Husten aufhörte und so tat, als hätte er begriffen, daß ich lungenkrank sei und daß ich ihn anstecken könne, denn er hielt sich, sobald ich jetzt zu husten angefangen hatte, ein Papiertaschentuch vor die Nase und ging mit von mir abgewandtem Gesicht. Die Gemischtwarenhändlerin hatte einen grauen Wetterfleck an, das war das vernünftigste Kleidungsstück, das ich auf dem Begräbnis gesehen habe, dachte ich auf dem Ohrensessel. Die Kilber hatten aber alle vernünftige Kleidungsstücke angehabt, nur die Leute aus Wien nicht, sie sind auch alle naß geworden und die, die in Pelzmänteln gekommen waren, weil sie glaubten, es sei kalt, während es doch ziemlich warm gewesen war, hatten sich nicht nur durch ihre auftrumpfenden Pelzmäntel grotesk und lächerlich, sondern auch gleich durch den Regen schmierig gemacht; auf allen ihren Pelzmänteln hatte sich bald eine schmutzige Sauce gebildet, die an ihnen herunterrann. Ihre aufgespannten Regenschirme waren bald von einem Windstoß, der schon gleich, wie der Trauerzug am Friedhof angekommen war, aus dem Gebirge über die Gräber gestoßen war, umgestülpt, zerbrochen und unbrauchbar gemacht. Wie immer bei solchen Gelegenheiten, dachte ich auf dem Ohrensessel, hielt ein Pfarrer eine unappetitliche Rede. Und doch haben sich die Zeiten geändert, hatte ich am offenen Grab gedacht, dachte ich auf dem Ohrensessel, wenigstens hielt ein Pfarrer eine Rede auf die Joana, noch vor zehn oder zwölf Jahren hätte nicht ein einziger Pfarrer auf einem österreichischen Friedhof einer Selbstmörderin am offenen Grab eine Rede gehalten. Die Rede war so primitiv, wie alle -6 0
Reden, die ich bis jetzt an offenen Gräbern gehört hatte, sie war durch die unangenehme Stimme des Pfarrers, der anscheinend an einer Rachenverletzung zu leiden hatte, in der Höhe derartig verschnitten, daß es mich in den Ohren schmerzte. Leider war die Rede des Pfarrers aber auch noch verständlich gewesen, sie enthielt alles Verlogene und Geheuchelte, das die katholische Kirche zu bieten hat bei solchen Gelegenheiten. Am Ende seiner Rede hatte der Pfarrer gesagt, daß er als Kind mit der Joana in die Dorfschule in Kilb gegangen sei und er sich gern an das nette Kilber Mädel erinnere. Die Wiener Zeit der Joana hatte er mit den Wörtern Sumpf der Großstadt gekennzeichnet. Er hatte ein Gesicht, wie es kleine Beamte in Marktgemeindeämtern haben, kein typisches Bauerngesicht; auch wenn wir in ländliche Lagerhäuser eintreten und nach einem Hammer oder nach einer Hacke fragen, nach Gummistiefeln oder nach Ausreibefetzen, schauen wir in ein solches Gesicht, dachte ich auf dem Ohrensessel, ein verschlagenes, ein mißtrauisches Gesicht, in welches wir nur die kürzeste Zeit zu schauen wagen. Diese ganze künstlerische Gesellschaft aus Wien, dachte ich auf dem Ohrensessel, unterwarf sich auf dem Kilber Friedhof einem katholischen Zeremoniell, das sie nicht nur nicht mehr (oder auch nie) beherrschte, das ihnen tatsächlich völlig unbekannt war oder völlig unbekannt geworden war mit der Zeit, wie mir, der ich schon viele Jahrzehnte keinerlei Beziehung mehr zu diesem Zeremoniell habe und wirkte allein dadurch so verlogen; sie tat, als wisse sie, wann aufzustehen sei, wann nicht, was wann zu beten sei, was zu singen und hatte doch nicht die geringste Ahnung davon, wie ich. So betete diese künstlerische Gesellschaft aus Wien nur halblaut und also unverständlich, sang auch nur halblaut und unverständlich, wie sie sich auch eine Sekunde später als die Kilber selbst hinsetzte, eine Sekunde später als die Kilber selbst aufstand etcetera. Die künstlerische Gesellschaft aus Wien bewegte nur den Mund und genügte also nur einem theatralischen Effekt, dachte ich, wie auch ich die ganze Zeit auf dem Kilber Friedhof nur einem theatralischen Effekt genügte. Oder nicht genügte, wie immer. Mein Gedanke war während des Begräbnisses -6 1
immer der gewesen, was nun der Inhalt des Joanasarges tatsächlich sei, wie er ausschaute. Ich hatte mich während des ganzen Begräbnisses nur auf diesen einen einzigen Gedanken konzentriert, war, wie gesagt wird, von diesem abscheulichen Gedanken gefesselt gewesen. Unter Berücksichtigung alles dessen, das der Lebensgefährte der Joana in der Eisernen Hand gesagt hatte, was er in der Leichenkammer erlebt hatte, beschäftigte mich ein durch und durch Grausiges während des ganzen Begräbnisses, von welchem ich nicht abzubringen gewesen war, so sehr ich es auch versuchte, denn in Wahrheit wollte ich diesen Gedanken wirklich nicht, selbstverständlich nicht, dachte ich auf dem Ohrensessel und dachte, daß die Ungeniertheit des Lebensgefährten der Joana, der von der Gemischtwarenhändlerin immer als John angesprochen worden war in der Eisernen Hand, ohne daß ich bis zu diesem Zeitpunkt darauf gekommen war, weshalb, daß der abscheuliche Bericht, den dieser John als Lebensgefährte der Joana in der Eisernen Hand gegeben hatte, nachdem er in der Leichenhalle die sogenannte Umbettung der Leiche der Joana veranlaßt hatte, Ursache für meinen Gedanken an den Sarginhalt gewesen war. Der Lebensgefährte John, dachte ich auf dem Ohrensessel, hätte nicht aus der Kilber Leichenkammer zurückkommen und während des Gulaschessens diesen Bericht geben dürfen, andererseits bewunderte ich ihn jetzt wegen gerade dieser seiner Ungeniertheit und dem zweifellosen sogenannten Wahrheitsgehalt seiner Aussagen und dachte, daß es mir, wie überhaupt keinem dieser künstlerischen Leute, möglich gewesen wäre, mit dieser Ungeniertheit von der Umbettung zu berichten. Allein das Wort Plastiksack hatte mir ja Übelkeit verursacht, wie der Lebensgefährte der Joana auch nichts ausgelassen hatte in seiner Beschreibung der Umbet tungsprozedur in der Leichenkammer. Eben ein solcher nichtkünstlerischer Mensch ist imstande, dachte ich, völlig ungeniert einen derartigen grauslichen Bericht zu geben, ohne tatsächlich unanständig zu wirken, denn der Lebensgefährte war nicht unanständig, als er sagte, was er sagte, während jeder andere, der das gleiche berichtet und geschildert hätte, -6 2
unanständig gewesen wäre; ich dachte, von mir wäre es unanständig, ja gemein und niederträchtig gewesen, den gleichen Bericht, den der Lebensgefährte John von der Leichenumbettung gegeben hatte, zu geben. Dieser John hat während des ganzen Begräbnisses geschwiegen, während alle andern wenigstens irgendwann einmal etwas getuschelt hatten, dachte ich. Daß er als Erster an das offene Grab getreten war, um von der ihm vom Pfarrdiener hingehaltenen Schaufel ein Häuflein Erde auf den schon in der Tiefe liegenden Sarg zu werfen, empfanden alle Umstehenden als merkwürdig, wenn auch wahrscheinlich keiner hätte sagen können, warum, aber es war doch logisch gewesen, nachdem der Fritz, der erste Mann der Joana, der Tapisseriekünstler, nicht zum Begräbnis erschienen war und die Joana allem Anschein nach tatsächlich keine Verwandten mehr hatte. Der Lebensgefährte der Joana war, wie er am offenen Grab seiner Lebensgefährtin stand, häßlich und rührend zugleich, seine Betrachter waren zutiefst irritiert gewesen, ich selbst war von ihm tatsächlich abgestoßen, obwohl ich für mich und naturgemäß ohne das jemals auszusprechen oder auch nur anzudeuten, ihn betreffend, den Begriff des guten Menschen parat hatte, ein guter Mensch, hatte ich mir am Grab gesagt, wie ich den Lebensgefährten der Joana so stehen sah, ich wußte nicht, wie ich darauf gekommen war, das war auch gleichgültig. Noch am offenen Joanagrab hatte mich die Auersberger angesprochen, ob ich nicht mit ihnen nach Wien zurückfahren wolle, ich hatte schlagartig abgelehnt mit jener Rücksichtslosigkeit, die alle ausnahmslos verletzt, wenn ich sie anwende. Ich hatte nein gesagt, dann nichts mehr. In der Eisernen Hand hatten sich dann die meisten der aus Wien Gekommenen getroffen, an einem großen, langen Tisch, an den ich mich zu setzen hatte, nachdem mich die Eheleute Auersberger mehr oder weniger dazu gezwungen hatten auf ihre Weise, indem sie mich nämlich vor allen andern so anredeten, daß ich gar nicht anders konnte, als mich mit ihnen an ihren Tisch zu setzen. Viel lieber hätte ich mich gleich an den Tisch gesetzt, an welchem der Lebensgefährte der Joana gesessen war mit der Ge mischtwarenhändlerin und ein paar anderen aus Kilb, die mit -6 3
der Joana von Kindheit an befreundet waren. So hatten mich die Eheleute Auersberger durch die Art und Weise, wie sie mich aufgefordert hatten, an ihrem Tisch Platz zu nehmen, gezwungen, etwas zu tun, das ich die ganze Begräbniszeit gefürchtet hatte: mit ihnen auch nur die kürzeste Zeit schon in Kilb zusammen zu sein, wo ich doch für den Abend zu ihnen in die Gentzgasse eingeladen war zu ihrem künstlerischen Abendessen. Ich tat, als hätte mir die Trauer über den Selbstmord der Joana die Rede verschlagen und sagte die ganze Zeit, während der die Auersbergerischen und die andern ein ebensolches Gulasch nach dem Begräbnis gegessen haben, wie ich vorher, nichts. Ich hatte mir eine Essigwurst mit viel Zwiebel bestellt und aß aus lauter Nervosität zwei Semmeln dazu, was ich vorher noch nie getan hatte. Die Auersbergerischen redeten immer von ihrem künstlerischen Abendessen, zu welchem sie den Schauspieler, den Burgschauspieler, eingeladen hatten und sie sagten immer wieder, wie gut ihnen dieser Tragöde (so die Auersberger immer wieder) in der Wildente gefallen habe. Immer wieder wollte die Auersberger sagen, als was der Schauspieler in der Wildente aufgetreten sei und einen so großen Erfolg gehabt habe, aber sie konnte es nicht sagen, solange nicht, bis ich Ekdal sagte, worauf sie mehrere Male in Hysterie ausgebrochen das Wort Ekdal in den Wirtshaussaal hineinschrie, so, daß es peinlich gewesen war, immer wieder schrie sie Ekdal, Ekdal, Ekdal, richtig, Ekdal, bis der Auersberger sagte, sie solle ruhig sein. Der kleine, dickbauchige Auersberger war natürlich auch an diesem Tag betrunken, hatte also schon in betrunkenem Zustand am Begräbnis teilgenommen, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, er ist, seit ich ihn kenne, beinahe immer betrunken und es ist ein Wunder, daß der Mensch immer noch lebt; zweimal im Jahr in die Entziehungsanstalt Kalksburg, dachte ich, anscheinend genügt das, um ihn am Leben zu erhalten. Er hatte das gleiche aufgedunsene Gesicht, wie zwanzig Jahre vorher, kaum Falten, das typische Gelatinegraugesicht, blauglasig die Augen wie immer, dachte ich. Ekdal, Ekdal, hatte die Auersberger mehrere Male -6 4
geschrien, keiner im Saal in der Eisernen Hand wußte, was ihr Geschrei bedeutete. Da mir die Auersberger so widerlich gewesen war in dem Augenblick, in welchem sie Ekdal, Ekdal geschrien hatte, fragte ich ganz gemein: was für ein Ekdal? Worauf sie zurückfragte: Ja, was für ein Ekdal? Worauf ich sagte: der alte oder der junge Ekdal? Worauf eine Pause eingetreten war, in welcher alle auf die Auersberger schauten, die sich von mir zugegeben auf niederträchtige Weise gehänselt vorgekommen ist und die Auersberger sagte, ohne von ihrem Gulasch aufzublicken: der alte. Die Auersberger hat mich jetzt gehaßt, dachte ich auf dem Ohrensessel, ich hätte sie ohrfeigen können, als ihr Mann, der nach kurzer Zeit schon den Eindruck eines Volltrunkenen machte, plötzlich sein Gulasch in die Tischmitte schob und gegen die Küchentür schrie: ein scheußliches Essen! Mit der ganzen Niedertracht des Emporkömmlings in der Stimme hatte er dieses ein scheußliches Essen gegen die Küchentür geschleudert, während ich selbst gerade dieses Kilber Gulasch vor dem Begräbnis als ein ganz und gar vorzügliches gegessen hatte und alle noch Gulaschessenden waren meiner und nicht der Meinung des Auersberger gewesen, jenes Auersberger, der immer, solange ich ihn kenne, alle Speisen in allen Gasthäusern und Restaurants bekrittelt hat, und waren es die vorzüglichsten; wenigstens eine Ungehörigkeit war es gewesen, sich auf diese, wie mir vorgekommen war, ordinäre Weise in Szene zu setzen gerade in einem solchen alles in allem, wie ich weiß, gut geführten Gasthaus wie die immer erstklassige Eiserne Hand in Kilb, dachte ich auf dem Ohrensessel von dem Auersberger, der sich, seit er mit der Auersberger verheiratet ist, von dieser aushalten hat lassen, in allen Gasthäusern und Restaurants immer auf das Ungehörigste benommen hat in widerlichster Weise. Nachdem er sein ein scheußliches Essen gegen die Küchentür geschleudert hatte, lehnte er sich auf seinem Sessel zurück und streckte seiner Frau die Zunge heraus. Da sich die Auersberger im Laufe ihrer Ehe mit dem Auersberger schon an so viele abgeschmackte Scherze ihres Mannes gewöhnt hatte, war sie über diese Zungenvorstellung des Auersberger nicht -6 5
überrascht gewesen. Sie senkte ganz einfach ihren Kopf und versuchte, das Gulasch, das ihr ihr Mann verderben hatte wollen, zuende zu essen. Die Art und Weise, wie sie aß, war nicht unelegant, aber auch nicht die allerfeinste, während die Art und Weise, wie ihr Mann, der Auersberger, aß, immer nur komisch gewesen ist, wie ich auf dem Ohrensessel aufeinmal dachte. Der Emporkömmling hatte sich eine aristokratische Eßweise angewöhnen wollen und ist in einem grotesk komischen Besteckgebrauch steckengeblieben. Es war immer lächerlich, wenn er aß, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, wie alles, was er tat, immer lächerlicher gewesen ist mit der Zeit, weil er in eben diesem Lauf der Zeit immer mehr und mehr versucht hat, es zu verfeinern, also sich selbst zu verfeinern, das sogenannte aristokratische Abgeschaute selbst anzuwenden in allem und jedem, was ihn mit der Zeit nicht nur immer grotesker und immer komischer gemacht hat, sondern auch immer widerlicher, dachte ich auf dem Ohrensessel. Nachdem er sein ein scheußliches Essen gegen die Küchentür geschleudert und sich dann in seinem Sessel zurückgelehnt und seiner Frau die Zunge herausgestreckt hatte und eine Pause eingetreten war, sagte er plötzlich ich mag Strindberg gar nicht und blickte sich in der Runde um. Ich sprang auf und setzte mich demonstrativ an den John- und Ge mischtwarenhändlerinnentisch. Nein, hatte ich noch im Aufspringen gedacht, mit dieser Gesellschaft will ich nichts zu tun haben. Als ich mich schon an den Tisch, an welchem der Lebensgefährte der Joana und die Gemischtwarenhändlerin saßen, gesetzt hatte, hörte ich aufeinmal, wie die Auersberger sagte: die Wildente ist von Ibsen. Daraufhin ignorierte ich ganz einfach den Künstlertisch und bestellte mir an den John- und Gemischtwarenhändlerinnentisch ein Glas Bier. Ich hatte die Absicht, aus dem sogenannten John mehr herauszubringen, als ich schon aus ihm herausgebracht hatte, nicht nur in bezug auf die Umbettungsprozedur in der Kilber Leichenkammer, sondern überhaupt alles die Joana Betreffende, und die Gemischtwarenhändlerin war genauso begierig wie ich, von dem John endlich zu erfahren, wie wirklich er mit der Joana zusammengelebt hat. Der Lebensgefährte hatte die Joana in -6 6
ihrer Wohnung in der Simmeringer Hauptstraße kennengelernt, die die Joana Mitte der Sechzigerjahre tatsächlich in ein von ihr selbst so bezeichnetes Bewegungsstudio umgewandelt hatte. Eine Freundin von ihm, die schon längere Zeit bei der Joana Unterricht genommen hatte, war eines Tages mit ihm bei der Joana in der Simmeringer Hauptstraße aufgetaucht, damit er sehen könne, was für eine patente Person diese Joana sei, was für eine Künstlernatur, so der John, dachte ich auf dem Ohrensessel. Er sei ein zweites Mal und ein drittes Mal mit seiner Freundin zur Joana gegangen und schließlich immer öfter und aufeinmal allein, ohne seine Freundin, von welcher er sich wegen der Joana über Nacht getrennt habe. Er habe aber, so der John, bei der Joana nicht Bewegungsunterricht genommen, sondern an ihr einen Halt gefunden, so er, wie umgekehrt die Joana an ihm Halt gefunden habe. Im Grunde habe er, der John, von dem von der Joana so genannten Bewegungsstudio nichts gehalten, wäre schon gleich im ersten Moment der Überzeugung gewesen, daß es sich bei diesem sogenannten Bewegungsstudio nur um eine Möglichkeit der Joana handelte, sich über Wasser zu halten, persönlich, wie er sich ausdrückte, geistig, finanziell sei aus dem Bewegungsstudio in der Simmeringer Hauptstraße nichts herauszuholen gewesen, es seien auch nur mehr oder weniger mittellose Leute zur Joana in dieses Bewegungsstudio gekommen, junge angehende Schauspieler, ältere dilettierende Theaterleute, die noch mit fünfzig und mit sechzig an eine Karriere glaubten, die aber überhaupt keine Aussicht, nicht die geringste Chance auf eine solche Karriere mehr gehabt hätten naturgemäß. Schließlich habe sich der John bei der Joana eingemietet, nachdem er mehrere Male mit ihr geschlafen hatte. In Wirklichkeit heiße er Friedrich, was die Joana aber abgestoßen habe und sie habe ihn von Anfang an nicht Friedrich, sondern John genannt, für alle sei er von da an der John gewesen. Er stamme aus Schwarzach Sankt Veit, einem mir bestens bekannten salzburgischen Eisenbahnknotenpunkt, sein Vater sei, wie auch anders, Eisenbahner, er habe die Hauptschule in Sankt Johann besucht und schließlich eine höhere technische Lehranstalt in der Stadt Salzburg. Mit -6 7
dreiundzwanzig Jahren sei er nach Wien gegangen, um in Wien existieren zu können, habe er bei einer Filmgesellschaft in Sievering gearbeitet und dort seine frühere Freundin kennen gelernt, die ihn mit der Joana bekannt gemacht hat, dachte ich auf dem Ohrensessel. Zuerst habe er der Joana vorgemacht, er interessiere sich für ihre Bewegungslehre, aber diese hatte ihn nicht im geringsten interessiert, um zu beweisen, daß er großes Interesse an dieser Bewegungslehre der Joana habe, sei er, so seine Wörter, mit seiner Freundin ein paarmal mitgehüpft, habe das aber dann aufgegeben, indem er der Joana schon sehr bald zu verstehen gegeben habe, daß er an ihr, nicht aber an ihrer Bewegungslehre interessiert sei. Sie war gar nicht enttäuscht gewesen, so der John, dachte ich auf dem Ohrensessel. Da die Joana in Wirklichkeit nichts verdiente und bereits ziemlich alles, das sie besessen hatte, von ihr verkauft war, auch von ihrem Tapisseristen hat sie nicht die geringste Unterstützung mehr bekommen, von dem überhaupt nichts mehr gehört, denn sie wußte ja die ganze Zeit nicht einmal, ob sich ihr Tapisserist noch in Mexiko aufhalte oder nicht, wo überhaupt aufhalte und auch nicht, ob er noch mit ihrer Freundin zusammen sei, die er nach Mexiko mitgenommen habe, entführt, wie die Joana immer wieder zu ihm gesagt habe, so er, sei schließlich der John auch für den Unterhalt der Joana aufgekommen. Zwei Jahre habe sie ihr Bewegungsstudio auch noch nach seinem Einzug in die Simmeringer Hauptstraße betrieben, schließlich, auf seinen Befehl hin, dieses Bewegungsstudio, das nur Unglück über und in alles gebracht habe, immerfort Ärger und Zwietracht, aufgegeben. Er habe ihr das Trinken abgewöhnen wollen, ihr sieben Aufenthalte in der Kalksburger Anstalt bezahlt, erfolglos, die Joana habe immer wieder gleich nach ihrer Rückkehr aus Kalksburg, zu trinken angefangen und sich schließlich und endlich völlig versoffen, so der John. Er aber habe sie nicht im Stich gelassen. Er habe sie wirklich geliebt, so seine Wörter, dachte ich auf dem Ohrensessel sitzend und in das Musikzimmer hineinschauend, habe ihr ein guter Lebensgefährte sein wollen, diesem Unglückskind, wie er sich ausdrückte in der Eisernen Hand. Die Joana ist immer ein -6 8
Unglückskind gewesen, sagte er, dachte ich im Ohrensessel, mehrere Male hatte der John diesen Satz gesagt, das empfand ich nicht so, denn ich kannte die Joana auch als glücklichen Menschen, jedenfalls war sie in den Fünfzigerjahren glücklich, dachte ich, auch noch bis in die Mitte der Sechzigerjahre, jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, in welchem sie von ihrem Fritz, dem Tapisseriekünstler, verlassen worden ist. Da war das Unglück über sie hereingebrochen, dachte ich. Aber der John kannte sie wahrscheinlich wirklich nur als unglückliches Kind, das er hatte glücklich machen wollen, was ihm nicht gelungen ist, wie ich dachte. Ich habe sie glücklich machen wollen, die Joana, sagte er mehrere Male, aber es ist mir nicht geglückt. Die ganze Hilflosigkeit seiner Lage war in dieser Äußerung gewesen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Oft sei sie nach Kilb gefahren, nicht immer mit ihm, sehr oft allein in ihr Elternhaus, um dann wieder enttäuscht nach Wien zurückzukommen. Zuerst habe er es mit Behutsamkeit versucht, dann mehr mit Nachdruck, so seine Wörter, dachte ich. Schließlich habe er eingesehen, daß die Joana nicht zu retten sei. Sie habe sich am Abend ihres Selbstmords, wie immer, wenn sie nach Kilb gefahren ist, so er, von ihm verabschiedet. Um sechs Uhr früh schon habe ihn die Gemischtwarenhändlerin in Wien angerufen, die Joana habe sich aufgehängt, habe die Gemischtwarenhändlerin zu ihm sofort gesagt, ohne Umschweife, ganz im Gegensatz zu mir, dem sie es nicht sofort, sondern nur nach und nach und erst auf mein Bohren hin, gesagt hatte. Die Gemischtwarenhändlerin hat dem John sofort gesagt, die Joana hat sich umgebracht, hat sich aufgehängt, mir nicht sofort. Diese Tatsache war Ursache einer längeren Spekulation meinerseits auf dem Ohrensessel gewesen. Der John ist ihr vertrauter als ich, habe ich mir, mit dem John und der Gemischtwarenhändlerin am Tisch in der Eisernen Hand sitzend, gedacht, dachte ich auf dem Ohrensessel, ihm vertraute sie sich sofort an, spricht, wie sie denkt, mit mir nicht, spricht mit mir umständlich, ja tatsächlich geschraubt, wie Landleute mit Stadtleuten sprechen, sogenannte Ungebildete mit sogenannten Gebildeten, Niedrigere, wie sie glauben, mit sogenannten Höherstehenden. -6 9
Er sei nicht überrascht gewesen, sagte der John aufeinmal am Tisch zur Gemischtwarenhändlerin, mit welcher er, wie ich sah, schon längere Zeit einen innigeren Kontakt haben mußte, dachte ich auf dem Ohrensessel. Er habe seinen Wintermantel angezogen und sich seine schwarze Tasche umgehängt und sei nach Kilb herausgefahren. Alles Weitere sei das Unerfreulichste, meinte er. Wenn es einen tatsächlich um die Joana Trauernden, ja sogar über ihren Selbstmord Erschütterten an diesem Tag in Kilb gegeben hat, dann diesen John, dachte ich, der gar nicht so verkommen ist, wie ich die ganze Zeit gedacht hatte; bei eingehender Betrachtung sah ich aufeinmal so viele Vorzüge an diesem Menschen, daß ich bald der Meinung gewesen war, er sei, obwohl sie sich letztenendes doch umgebracht hat, für die Joana die Rettung gewesen, ein tatsächlicher Zufluchtsmensch, an den sie hatte glauben können, immerhin sieben, acht Jahre, sagte ich mir, denn ohne diesen von mir so genannten Zufluchtsmenschen hätte sich die Joana wahrscheinlich schon Jahre vorher umgebracht, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel. Die Joana habe es in der Stadt zu etwas Besonderem bringen wollen, sich aber niemals von Kilb lösen können, so der John, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie sie an den Tapisseriekünstler Fritz gekommen ist, weiß ich nicht mehr. Wie ich die Joana kennen gelernt habe, war sie schon viele Jahre mit ihrem Fritz verheiratet gewesen und, wie ich damals immer glaubte, auf die glücklichste Weise, jedenfalls hatte ich diesen Eindruck immer gehabt bei meinen Besuchen auf dem Sebastiansplatz. Tatsächlich hatte ich auch den Sebastiansplatz zeitweise als mein Zuhause empfunden, das große Atelier, in welchem ich mehr oder weniger immer tun und lassen hatte können, was ich wollte; der Fritz und seine Frau Joana, die geborene Elfriede, waren in Wien ein Künstlermittelpunkt gewesen, in welchem für mich die sogenannte dramatische und die sogenannte bildende Kunst eine ideale Ehe eingegangen waren, überhaupt also die Kunst oder we nigstens das, was ich damals als eine solche betrachtete, ein Zentrum hatte. In dem Atelier auf dem Sebastiansplatz hatte ich Mitte der Fünfzigerjahre mehr oder weniger alle bedeutenden, wenn damals auch noch nicht -7 0
unbedingt berühmten so doch schon bekannten Wiener Künstler und Wissenschaftler und Pseudokünstler und Pseudowissenschaftler kennen gelernt und mich mit der Zeit, sozusagen als mit und an ihnen werdender Schriftsteller, selbst als ein solcher Künstler empfunden. In der Nußdorferstraße im Achtzehnten Bezirk hatte ich mein Quartier, hatte ich mich ausgeschlafen, auf dem Sebastiansplatz im Dritten Bezirk hatte ich meinen Kunsttempel, den ich gegen fünf Uhr nachmittag betreten und meistens erst gegen drei Uhr früh wieder verlassen habe. In riesigen sechs oder sieben Meter hohen Räumen standen die Webstühle des Fritz, an welchen er mit zwei oder drei Gehilfinnen arbeitete; mit diesen Webstühlen entstanden seine damals schon in ganz Europa jedenfalls bei den Experten gesuchten und gerühmten Teppiche. Durch Zufall sei der Fritz vom Ölmaler, wie er sich sehr einfach ausgedrückt hat, zum Tapisseriekünstler geworden. Er machte immer den Eindruck eines ruhigen Menschen, der mit seinem Verstand nicht hausieren geht und sich eine ganz präzise Arbeitseinteilung zum Um und Auf seiner Existenz gemacht hat, durch nichts und durch niemanden hat er sich seinen Achtstundenarbeitstag stören lassen, solange ich ihn gekannt habe, dachte ich auf dem Ohrensessel. Er hatte eine englische Kurzpfeife im Mundwinkel, die er auch dann nicht aus seinem Mund herausnahm, wenn er mit einem gesprochen hat, was er, während er webte, immer ungern, aber doch mit größtem Gleichmut, wie gesagt wird, getan hat. Diese englische Kurzpfeife hat er auch in völlig erkaltetem Zustand im Mund gehabt. Sein Bruder war ein in Wien angesehener Architekt, der sogenannte Wohn-Großbauten an der Peripherie baute und der von seinem Bruder niemals anders als der geniale Stadtzerstörer bezeichnet worden ist. Aufgewachsen in einer vermögenden Familie mit Stadthaus und mehr oder weniger fürstlichem Landbesitz in der Badener Weingegend, war der Fritz aber durch und durch ein bescheidener Mensch gewesen, so jedenfalls hatte es den Anschein bis zu dem Zeitpunkt, da er, wie schon gesagt, nach Mexiko durchgegangen ist. Auf den Sebastiansplatz sind aber nicht nur Künstler gekommen, sondern alle möglichen, sogenannten wichtigen Leute, die von -7 1
der Joana ausfindig und auf den Sebastiansplatz eingeladen worden sind allein zu dem Zweck, ihr ja schon krankhaftes Gesellschaftsbedürfnis zu befriedigen einerseits, andererseits, um die Tapisserien ihres Mannes immer noch bekannter und berühmter und immer noch teurer zu machen; so war es ganz selbstverständlich, daß alle Augenblicke auch Zeitungskritiker und Politiker auf dem Sebastiansplatz zu Gast waren, im Grunde genau diese Menschenmischung, die ich als junger Mensch mit dem größten Bedürfnis nach Welt, wie ich heute denke, notwendig gehabt habe wie nichts sonst. Auf dem Sebastiansplatz ist mir sozusagen ein idealer Querschnitt der Stadtmenschheit, die für einen werdenden Künstler, wie gesagt, vor allem für einen werdenden Schriftsteller, als welcher ich mich damals schon mit allen Kräften empfunden habe, notwendig, ja unerläßlich sind, vorgeführt worden, und ich kann ohne weiteres sagen, daß der Sebastiansplatz mir aufeinmal ein wichtiges Fundament auch für meine Geistesentwicklung gewesen ist, die damals, schon in den frühen Fünfzigerjahren, wie gesagt wird, aufeinmal für immer entschieden war. Die Joana war so anziehend, wie schöne Frauen aus dem Wiener Umland nur sein können und hatte für ihre Zwecke den idealen Geschmack gehabt und auf die Wiener Künstler- und Wissenschaftsund Politikgesellschaft eine große Anziehungskraft ausgeübt. In langen selbstentworfenen, wenn auch nicht selbstgenähten Kleidern, die einmal den indischen, einmal den ägyptischen, einmal den spanischen, einmal den römischen Stil kopierten, empfing sie ihre Gäste auf dem Sebastiansplatz. Sie zeigte auf allen diesen Empfängen immer ein heiteres Wesen, das auch noch den Reiz einer ganz besonders eigensinnigen Intelligenz hatte, sozusagen das wienerische Künstlertum an sich verkörperte, was naturgemäß allen, die auf den Sebastiansplatz gekommen waren, immer gefallen hat. Zwei, drei ihrer Empfänge, deren Vermittler der Auersberger gewesen war, hatte ich hinter mir, als ich aufeinmal sozusagen ihr bevorzugter Dauergast sein durfte. Damals hat mich keine Wiener Adresse mehr angezogen gehabt, als der Sebastiansplatz, und ich liebte schließlich das Atelier und den Tapisseriekünstler Fritz und die Joana. Vor dem -7 2
Sebastiansplatz hatte ich ja noch niemals ein solches Atelier, hatte ich noch niemals einen solchen großen tatsächlichen Kunstschauplatz kennen gelernt gehabt, und einfach alles auf dem Sebastiansplatz, der viele Jahre mein Wiener Zentrum gewesen ist, hatte mich fasziniert. Nach und nach hatte ich auf dem Sebastiansplatz einen sogenannten Kunstbegriff be kommen, die Künstler kennen gelernt, die Genies und die, die es unter allen Umständen sein und werden wollten. Ich hatte, indem ich die Joana beobachtete auf dem Sebastiansplatz, sehen können, wie sich die Gesellschaft gibt und wie sie sich entwickelt und wie man eine solche Gesellschaft an sich zieht und pflegt und immer wieder hegt und pflegt und sich gefügig macht und schließlich mißbraucht und ausnützt. Ich hatte auf dem Sebastiansplatz, einfach gesagt, die Gesellschaft, nicht nur die Kunst- und Künstlergesellschaft, studiert, und sie mir deutlich und klar gemacht. Auf dem Sebastiansplatz habe ich zum ersten Mal richtig gesehen, was Künstler sind, wie sie sind, wodurch sie sind und was sie nicht sind, nicht sein können zeitlebens. Auf dem Sebastiansplatz habe ich sie völlig ungestört so studieren können, wie niemals nachher, mit größtmöglicher Intensität und also mit der größtmöglichen Aufnahmebereitschaft, denn ich bin damals der aufnahmebereiteste und der intensivste Mensch gewesen. Auf dem Sebastiansplatz habe ich die Menschen erst richtig kennen gelernt, kann ich sagen, ich kannte sie vorher schon, ich kannte sie besser, als andere Meinesgleichen, aber auf dem Sebastiansplatz habe ich sie erst richtig kennen gelernt, indem ich sie mit Bewußtsein studiert habe, alle Menschenarten. Auf dem Sebastiansplatz habe ich angefangen, meine Methode der Menschenbetrachtung und -Beobachtung zu einer meiner eigenen Künste zu machen und mir diese Kunst zur Gewohnheit zu machen auf lebenslänglich. Auf dem Sebastiansplatz habe ich mir nicht nur die Bewunderung, sondern auch gleich die Verachtung für die Menschen und die Menschengesellschaft geholt, dachte ich, zur ungeheueren Beglückung über sie, auch gleich die Verabscheuung sozusagen diese und überhaupt alle Menschen betreffend. Die Macht und die Hilflosigkeit der Künstler und überhaupt der -7 3
Menschen sind mir auf dem Sebastiansplatz zum ersten Mal deutlich geworden, als hätte ich auf dem Sebastiansplatz den undurchdringlichen Nebel, der bis dahin die sogenannte künstlerische Gesellschaft zugedeckt gehabt hatte, heben können, dachte ich. Niemals vorher und auch niemals nachher, hatte ich so viele Künstler auf einem Haufen gesehen beinahe jeden Tag und beinahe jede Nacht, wie auf dem Sebastiansplatz, und alle diese Künstler, die wahrscheinlich zum größten Teil tatsächlich alle von mir so genannte Nichtkünstler gewesen und geblieben sind, wie ich heute denke, sind tagtäglich auf dem Sebastiansplatz aus- und eingegangen, während ich damals die meiste Zeit auf dem Sebastiansplatz geblieben bin, den vor seinen Tapisserien sitzenden, mit der größten Ausdauer an diesen Tapisserien arbeitenden Fritz bewundernd, die in dem größten aller Wiener Ateliers von ihrer Berühmtheit träumende Joana liebend. Wenn ich heute einen sogenannten bedeutenden oder berühmten Namen in der Zeitung lese, ist es beinahe eine Selbstverständlichkeit, daß ich denke, daß ich den Träger dieses Namens auf dem Sebastiansplatz kennen gelernt habe. Während die Kolleginnen der Joana, die mit ihr das Reinhardtseminar besucht und abgeschlossen hatten, längst in den Senkgruben der damals noch zahlreichen Wiener Bühnen verschwunden waren, hatte die Elfriede Slukal sich an irgendeinem, wie sie selbst geglaubt haben wollte, hellsichtigen Tag, zur Joana und auch gleich zur Frau des Tapisseriekünstlers Fritz gemacht. Während ihre Kolleginnen auf allen möglichen und auf allen unmöglichen Theatern schon jahrelang mühselig und nervenaufreibend, wie gesagt wird, einem unersättlich nach Vergnügen und Unterhaltung krankenden Publikum die verlogenen Narren einer insgesamt, wie ich denke, heillos hilflosen Literatur zu machen hatten, hatte die Joana möglicherweise schon den Traum von einer eigenen Karriere aufgegeben und sich voll und ganz auf die Karriere ihres Tapisseriekünstlers konzentriert. Ihr ganzes Talent, das nicht nur ein Künstlertalent gewesen ist, sondern ebenso ein, wie gesagt wird, phänomenales Gesellschaftstalent, hat sie für den ihr völlig ergebenen Fritz -7 4
eingesetzt und zwar von Anfang an erfolgreich. Denn der Fritz wäre ohne die Joana niemals der, wie gesagt wird, internationale Tapisseriekünstler geworden, der er heute ist und er hätte mit Sicherheit auch nicht den großen Preis von Sao Paulo für sein Assoziatives Gebirge bekommen und er wäre heute, alles in allem, ohne die Joana auch nicht der Staatsprofessor, als der er von Zeit zu Zeit in Zeitungen und Zeitschriften von sich reden macht, wie gesagt wird. Die Joana hat sich für den Fritz aufgegeben, denke ich, diese Tatsache aber niemals überwunden, wahrscheinlich sie nur immer zum Anlaß genommen für eine tatsächlich lebenslängliche Verzweiflung, die sie aushalten mußte, niemals außen gezeigt hat, und an welcher sie wahrscheinlich, so denke ich, wie gesagt wird, zerbrochen ist, wenn auch erst acht oder neun Jahre, nachdem ihre Ehe erledigt gewesen war und sie sich mit dem Handelsagenten John hatte trösten wollen, die Unglückliche. Sie hat aus dem Fritz gemacht, was sie aus sich selbst hatte machen wollen, aber nicht hatte machen können, eine angesehene, eine berühmte, ja eine schließlich weltberühmte Künstlerpersönlichkeit. Sie hat den Fritz in die Höhe gezwungen, weil sie sich selbst nicht hat in die Höhe zwingen können, der Fritz war also tatsächlich für die Weltberühmtheit geeignet gewesen, nicht sie. In dem Augenblick, in welchem sie eingesehen hatte, daß sie für die sogenannte Karriere, und gar für die sogenannte Weltkarriere und Weltberühmtheit, nicht geeignet ist, hat sie den Fritz in die Karriere und in die sogenannte Weltkarriere hineingezwungen, in eine Art von Weltkarrierezwangsjacke, wie ich denke, was ihr aber nur auf Zeit und nicht für die Ewigkeit, wie gesagt wird, Befriedigung sein konnte. Der Fritz wäre ohne die Joana immer nur der liebenswürdige pfeifenrauchende Maler und Teppichweber für die Mittelklasse geblieben, denke ich, der leutselige Mensch, der mit seiner Arbeit und der Pfeife und einem Glas Wein vor dem Zubettgehen, allein oder zu zweit, zufrieden ist. Die Joana hat ihn tatsächlich aus der sogenannten Mittelmäßigkeit mehr oder weniger aufgeschreckt, ihn zuerst zum künstlerischen Zappeln und dann zum künstlerischen Blühen gebracht. Aber auf die Dauer hatten die -7 5
Joana die in allen bedeutenden Museen Europas und in allen wichtigen Chefetagen großer Industriekonzerne und Versicherungsgesellschaften und Banken an der Wand hängenden Tapisserien des Fritz nicht befriedigen können; je bekannter und berühmter sein Name und seine Kunst geworden waren, desto niedergeschlagener mußte sie, die Schöpferin dieses Aufschwungs, sein. Auf dem Höhepunkt des Fritz war die Joana selbst die Niedergeschlagenste naturgemäß, aber sie konnte ihr Werk, den Aufbau und sozusagen die Vollendung ihres Fritz genau auf diesem Höhepunkt, der für sie die tiefste Niedergeschlagenheit bedeutete, nicht mehr abbrechen; so betrieb sie ihr Kunstwerk Fritz nach außen hin noch ein Stück und immer noch ein Stück höher in die Höhe, während sie selbst es schon in ihrem tiefsten Inneren, wie gesagt wird, schon so lange Zeit haßte. An diesem Vorgang, daß sie ihr Kunstwerk Fritz noch immer in eine höhere Höhe zu treiben gezwungen war und sich selbst damit in eine immer tiefere Tiefe drückte, ist sie zugrunde gegangen, denke ich. Die Joana ist schließlich von der Wucht des gewaltigen Kunstwerkes Fritz, das sie selbst geschaffen und mehr oder weniger vollendet und auf dem Gewissen hatte und damit auch, genau betrachtet, ihren innigst geliebten Fritz, erdrückt worden, denke ich. Was sie an sich selbst nicht hatte vollziehen können, die Geburt eines großen, wenn nicht gar eines sogenannten Großkünstlers, hatte sie mit dem Fritz vollzogen, bis es tatsächlich Wirklichkeit gewesen war, und wie sie gesehen hat, was sie angestellt hat, ist sie zu tode erschrocken und davon getötet worden, denke ich. Wenn wir schon nicht selbst sein und werden können, was wir sein und werden wollen, hatte sie gedacht, machen wir aus einem Anderen, notgedrungen aus unserem Nächsten, das, das wir aus uns selbst nicht haben machen können, hatte die Joana wahrscheinlich gedacht und den Fritz zu diesem überdimensionierten Werk gemacht, von dem sie am Ende zerstört und vernichtet worden ist, denke ich. Jeder, der den Fritz kannte, hat es nicht für möglich gehalten, daß aus diesem Fritz ein so berühmter, ja weltberühmter Künstler, daß seine Arbeit eine so weltberühmte Arbeit werden könne, denn alles -7 6
an ihm und in ihm war genau gegen eine solche Berühmtheit und Weltberühmtheit angelegt gewesen, für jeden offensichtlich. Die Joana aber hat aus ihm diesen Berühmten und Weltberühmten gemacht, denke ich, gegen alles Andersgedachte. Die Joana hat aus dem biederen Fritz, den weltberühmten Weltmann gemacht, als der unser Tapisseriekünstler heute geehrt wird, denke ich, weil sie in ihn ungeniert alles das mit totaler Besessenheit hatte investieren können, das sie sich selbst verweigern mußte, eine tatsächlich unbändige unstillbare Ruhmsucht. Der Fritz ist das Werk der Joana, kann ich ohne weiteres sagen und ich kann noch weiter gehen und sagen, auch die Kunst des Fritz, also die Kunstwerke des Fritz, alle diese in den berühmten Museen auf der ganzen Welt hängenden Tapisserien des Fritz, sind in Wahrheit die der Joana, wie alles, was der Fritz heute ist, von der Joana ist, die Joana ist. Aber ein solcher Gedanke wird nicht ernst genommen, denke ich, obwohl es doch, wie ich weiß, immer nur solche nicht ernst genommenen Gedanken sind und sein werden, es gibt überhaupt immer nur solche nicht ernst genommenen Gedanken, die die ernsten sind. Wir denken nur mit solchen nicht ernst genommenen ernsten Gedanken, um überleben zu können, denke ich. Was suche ich in dieser Gesellschaft, mit der ich seit zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr gehabt habe und zu welcher ich seit zwanzig Jahren keinen Kontakt haben wollte, und die ihren Weg gegangen ist, wie ich den meinigen? sagte ich mir auf dem Ohrensessel. Was also suche ich in der Gentzgasse? fragte ich mich, und ich sagte mir, daß ich einer augenblicklichen Sentimentalität nachgegeben habe auf dem Graben und daß ich einer solchen verabscheuungswürdigen Sentimentalität niemals hätte nachgeben dürfen. Daß ich auf dem Graben einen Augenblick schwach geworden bin und mich gemein gemacht habe, indem ich die Einladung der von mir schließlich schon seit so vielen Jahren verachteten und verhaßten Eheleute Auersberger angenommen habe, sagte ich mir auf dem Ohrensessel. Wir werden und wir machen uns einen Augenblick sentimental auf die ekelhafteste Weise, sagte ich mir auf dem Ohrensessel, und begehen das Verbrechen der -7 7
Dummheit und gehen dahin, wohin wir niemals hätten gehen dürfen, gehen sogar zu von uns Verachteten und Gehaßten, dachte ich auf dem Ohrensessel, ich gehe tatsächlich in die Gentzgasse, was zweifellos nicht nur eine Dummheit meinerseits ist, sondern auch eine gehörige Niederträchtigkeit. Wir werden schwach und gehen in die Falle, gehen in die Gesellschaftsfalle hinein, dachte ich auf dem Ohrensessel, denn nichts anderes ist ja diese Gentzgassenwohnung jetzt für mich, als eine Gesellschaftsfalle, in die ich hineingegangen bin. Denn zweifellos ist es ja auch nichts anderes als Haß, den die Eheleute Auersberger für mich übrig haben, wie alle diese Leute, die da in dem von ihnen schon recht übel riechenden Musikzimmer versammelt sind und auf den Burgschauspieler warten, der in der Wildente einen so großen Erfolg hat, wie die Auersberger immer wieder zu sagen nicht müde wird, dachte ich auf dem Ohrensessel. Auf den Schauspieler warten sie solange, wie sie auf mich niemals gewartet hätten, dachte ich. Der Burgschauspieler muß ihnen den Höhepunkt machen, dachte ich, dieser aufgeblasene theatralische Dummkopf! Allein wegen diesem widerlichen Menschen lassen sie sich schon zwei Stunden mit einem Nachtmahl hinhalten, das die Auersberger immer wieder als künstlerisches Abendessen bezeichnet hat, weil sie, wie ich jetzt auf dem Ohrensessel dachte, wahrscheinlich alle ihre Abendessen immer wieder als solche künstlerischen Abendessen bezeichnet, die ich übrigens sehr wohl in Erinnerung habe als widerliche Abendessen. Ob in Maria Zaal oder in der Gentzgasse, bei den Eheleuten Auersberger hat es immer nur mehr oder weniger widerliche Abendessen gegeben; sie hatten immer die großartigsten geben wollen und waren auch immer davon überzeugt gewesen, daß es die großartigsten Abendessen oder besser auf österreichisch, die großartigsten Nachtmähler, sind, aber es waren doch immer nur widerliche, lächerliche, ganz und gar urkomische, ja tatsächlich unappetitliche Nachtmähler gewesen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Die feinsten sollten es immer sein und die abgeschmacktesten sind es immer gewesen, die großartigsten, wie gesagt, und waren doch immer nur mißglückte, heillos mißglückte, wie ich mich auf dem -7 8
Ohrensessel erinnerte. Das Allerbeste sollte immer aufgetischt werden, und es ist doch immer nur ein Unzureichendes gewesen, dachte ich, den Willen zu etwas ganz und gar Großartigem hatten sie immer in bezug auf ihre Nachtmähler, und haben doch immer wieder nur minderwertige, ja peinliche zustande gebracht. Im Grunde hat, ihre Nachtmähler betreffend, nichts entsprochen, weder waren die Speisen besonders gut, wenn auch oft ganz gut, noch die Getränke, die niemals besonders gut, aber auch niemals ganz gut waren, weil sie immer schlecht waren, qualitativ schlecht oder entweder zu warm oder zu kalt, zu süß oder zu sauer, wie ich mich auf dem Ohrensessel erinnerte, und die Eheleute Auersberger selbst als Gastgeber waren schon immer gleich zu Beginn ihrer Nachtmähler oder Abendessen, wie gesagt wird, aus dem Leim gegangen, sind ihren eigenen scheußlichen Provokationen immerfort ausgeliefert gewesen schon nach den ersten Bissen, nach den ersten Schlucken und haben ihre Gäste in ihr chaotisches Verhältnis hineingezogen, ob diese Gäste wollten oder nicht und haben niemals auf ihre Gäste Rücksicht genommen, diese Gäste schließlich hemmungslos mit ihrem Eheschmutz beworfen, wenn ihnen die eigene gegenseitige Beschmutzung nicht mehr genügte, hatten zu dem tatsächlich immer unzureichenden Essen auch noch ihre perversen Innereien vor ihren Gästen aufgetischt und diese ihre mehr oder weniger immer vor den Kopf gestoßenen Gäste endlich mit ihren ordinären Ehestreitereien, wüsten Beschimpfungen, Beschuldigungssturzbächen, vertrieben. Ich erinnere mich kaum an ein Nachtmahl bei ihnen, ob in Maria Zaal, ob in der Gentzgasse, das, wie gesagt wird, ohne Eheexplosion zuende gegangen wäre, alle ihre Abendessen, vielmehr Nachtmähler, sind am Ende explodiert und haben im wahrsten Sinne des Wortes in der Gentzgasse immer, in Maria Zaal meistens ein eheliches Trümmerfeld und einen entsetzlichen Ehe-Gestank hinterlassen, dachte ich auf dem Ohrensessel, in das Musikzimmer hineinschauend. Die Eheleute Auersberger hatten, wohl in dem perversen Bewußtsein, gesellschaftlich minderbemittelt zu sein, die Auersberger, weil sie nur ein Ablegerkind eines mehr oder weniger doch lächerlichen -7 9
steiermärkischen Gebirgsadelsgeschlechtes ist, der Auersberger selbst, weil seine Mutter eine Feldbacher Fleischergehilfentochter, sein Vater ein kleiner Gemeindebediensteter gewesen war, immer das Gefühl gehabt, sich gesellschaftlich in die Höhe stemmen zu müssen, was schließlich ihre ganze Anstrengungskraft erforderte und was ihnen bei geschärfterem Blick auch jederzeit anzumerken gewesen war, wie ich auf dem Ohrensessel dachte, daß nämlich die Auersberger fortwährend und auf lebenslänglich, aus ihrer Herkunft genauso immer herauswollte, wie ihr Mann, der Auersberger, aus der seinigen, wie die Auersberger aus dem steiermärkischen Idylleadel, so ihr Mann aus dem Gemeindebedienstetenschicksal seines Vaters, aus dem Fleischhauergehilfentief seiner Mutter, was aber immer nur einen urkomischen Eindruck machen konnte auf die sehende und denkende Umgebung. Die Auersberger hat immer mit allen Mitteln versucht, aus dem von mir so genannten Idylleadel, der ja doch mehr abstoßend-rührend, als etwas anderes ist, eine Stufe höher zu steigen, also wenigstens die Sprosse zu den landadeligen Baronen und Grafen zu nehmen, worin sie sich aber die vielen Jahrzehnte, die mir von ihnen bekannt sind, vergeblich bemüht hat, denn immer, wenn sie diese höhere Landadelssprosse wenigstens mit ihren Händen erreicht hatte, war sie von den von ihr so inständig ersehnten Inhabern dieser schließlich von ihr erreichten Sprosse, von dieser Wunschsprosse, gestoßen worden, hart und brutal, so daß es immer weh getan hat, wie ich weiß. Alle Versuche, diese höhere Landadelssprosse zu erklimmen und sich an ihr festzuklammern für längere, wenn auch nicht gleich für alle Zeit, waren ihr immer mißlungen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Ihre Kostümierungen haben ihr nichts genützt, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie sie ihrem Mann, dem Auersberger, auch niemals genützt haben, dieser war in seinen Bemühungen, aufzusteigen, Aristokrat zu sein, nichts weniger hatte er ja sein wollen zeitlebens, soviel ich weiß, mehr noch stupider Aristokrat, als ein guter Komponist, das ist die Tatsache, noch viel tiefer und auf die noch viel nichtswürdigere Weise gescheitert. Er kleidete sich, solange ich ihn kenne, immer wie -8 0
die steiermärkischen Grafen und hatte naturgemäß auf einen pompösen Siegelring an seiner linken Hand nicht verzichten können und war tatsächlich immer nur eine lächerliche Erscheinung, nicht unwitzig, wie immer gesagt worden ist, aber doch abgrundtief lächerlich. Der Auersberger ist ja nicht dumm, im Gegenteil, dachte ich auf dem Ohrensessel, aber in diesem einen einzigen Punkt, Aristokrat und wenigstens Graf sein zu wollen und sonst nichts, war er immer der dümmste aller sogenannten Kronenkraxler gewesen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Wie er in Kilb ein scheußliches Essen gesagt hat, dachte ich jetzt, und sich damit lächerlich und gemein gemacht hat vor allen, so hat er sich in meiner Gegenwart Hunderte, ja Tausende Male lächerlich und gemein gemacht. Wenn er den Kopf in die Höhe reckte und sein Mündchen spitzte zu einem Todesurteil über Essen und Trinken oder irgendeine andere Nebensächlichkeit, war das so wenig witzig wie rührend, nur dumm und unappetitlich. Und das Unappetitlichste an dem Auersberger war doch, so dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, daß er, der offiziell Auersberger heißt und für mich selbstverständlich auch immer nur Auersberger geheißen hat, sich in einem Anfall von Gesellschaftsgrößenwahnsinn aufeinmal, anstatt Auersberger, Auersberg genannt hat, indem er in dem Augenblick, in welchem er in der Gentzgasse an seine landadelige, spätere Ehefrau, damalige Zimmervermieterin, wie ich weiß, gekommen war, den Schwanz und also die letzte Silbe seines Familiennamens einfach abgehackt und sich, anstatt Auersberger, von da an nurmehr noch Auersberg genannt hat, um wenigstens in den Geruch eines jahrhundertealten österreichischen Fürstengeschlechts zu kommen. Wäre Widerlichkeit nicht doch das einzig richtige Wort für diese perverse Namenskastrierung, müßte man sie unter Mißachtung aller notwendigen Spielregeln doch wenigstens als armselig bezeichnen, dachte ich auf dem Ohrensessel. In Kilb hat sich der Auersberger nicht anders aufgeführt, als ich es schon von meinem Zusammensein mit ihm in den Fünfzigerjahren kannte. Er hat sich nicht im geringsten geändert, dachte ich auf dem Ohrensessel. Nach zwei, drei Gläsern hat er allen am Tisch in der Eisernen Hand den Narren -8 1
gemacht und seinen infantilen Auersbergzirkus abgezogen, dachte ich, war er sich gleich wieder seiner Zentrumsrolle bewußt geworden und hatte, wie gesagt wird, alle andern an die Wand gespielt. Und ich hatte mich ja, wie er ein scheußliches Essen gesagt hat in der Eisernen Hand, an den Tisch des John und der Gemischtwarenhändlerin gesetzt, weil mir die beiden Auersberger, jeder auf seine Weise, schon unerträglich waren allein durch ihre Anwesenheit. Kaum hatte ich sie in ihren abgeschmackten Kleidern gesehen, sie in ihrem steiermärkischen Blaudruckdirndl, ihn in seiner steiermärkischen Leinenjoppe, war mir übel geworden, denn ich hatte sofort gewußt, daß sich die beiden nicht geändert haben in der Zwischenzeit, daß die letzten zwanzig Jahre, die so Ungeheuerliches über und in die Welt gebracht haben, an den Eheleuten Auersberger tatsächlich spurlos vorübergegangen sind. Wie armselig abstoßend waren diese Auersberger an diesem Tisch in der Eisernen Hand und trotzdem hatten sich auch hier alle ihre Freunde von früher um sie geschart, sich von den Auersbergerischen wie von einem magischen Mittelpunkt anziehen lassen, dachte ich auf dem Ohrensessel. So lächerlich und nichtswürdig die Auersbergerischen sind, dachte ich auf dem Ohrensessel, sie haben immer noch die Gesellschaftsmeute von vor dreißig und zwanzig Jahren um sich, die Gesellschaftsmeute der Fünfzigerjahre. Als ob sich tatsächlich nichts in diesen zwanzig Jahren geändert hätte, saßen die Eheleute Auersberger wieder im Zentrum jener Künstlerschaft, die schon vor dreißig Jahren um sie herum gesessen war. Was kann der Grund sein für diese Tatsache? dachte ich auf dem Ohrensessel. Ich kam zu keinem Ergebnis. Das Phänomen beschäftigte mich aufeinmal auf dem Ohrensessel; wie es möglich ist, daß die Eheleute Auersberger, da sie doch noch nie etwas verdient haben, noch immer existieren und ich dachte, wie unerschöpflich ihr Reichtum ursprünglich gewesen sein muß, daß sie auch noch nach fünfunddreißig Jahren, die seit ihrer Verehelichung vergangen sind, von diesem Reichtum nicht nur geschützt und erhalten, sondern heute noch tatsächlich, wie ich sehe, in einem hohen Maße verwöhnt werden. Der Auersberger hatte nichts als sein -8 2
ursprüngliches Genie, dachte ich auf dem Ohrensessel, eine ganz und gar außerordentliche Musikalität, so dachte ich, eine ungeheuere Sprachbegabung, eine, wenn auch immer nahe der Verrücktheit agierende, so doch und gerade aus diesem Grunde außergewöhnliche Intelligenz, aber nicht einen Groschen, wenn ich davon absehe, daß er vor seiner Verehelichung jahrelang Lehrer an einem Wiener Konservatorium gewesen ist, was ihm aber doch nur das Gehalt eines Kleinstbeamten eingebracht haben konnte, während die Auersberger, die vorher von Reyer hieß, aus einem, wie ich immer geglaubt habe, wohlhabenden, wie ich jetzt aber weiß, tatsächlich reichen Hause stammte. Die Quelle ihres Reichtums waren unter anderem eine Reihe von Grundstücken, die ihr Vater noch um einen Pappenstiel zwischen den beiden Weltkriegen in der Gegend von Maria Zaal gekauft hatte, darunter auch jenen sogenannten Ansitz, ein fünfhundert Jahre altes ehemaliges salzburgisches Pflegegerichtsgebäude, in welchem die Auersbergerischen den Sommer über zu Hause sind, wenn es ihnen in der Gentzgasse zu schwül und zu muffig geworden ist und sie, wie alle wohlhabenderen Wiener, Ende Juli auf das Land geflüchtet sind, die Eheleute Auersberger schon Ende Mai. Diese Grundstücke liegen alle um den Ort Maria Zaal, der einmal einer der schönsten steiermärkischen Orte gewesen ist, berühmt vor allem durch eine große Wallfahrtskirche, die von den Einheimischen respektvoll Dom genannt wird, tatsächlich eine romanisch-gotische architektonische Kostbarkeit. Aus diesen Grundstücken existieren die Auersbergerischen jetzt schon beinahe fünfunddreißig Jahre, dachte ich auf dem Ohrensessel, aus dem Verkauf dieser Grundstücke. Nach und nach hat ein Onkel der Eheleute Auersberger, der ein berühmter steiermärkischer Anwalt ist, die Grundstücke der Auersbergerischen parzellieren lassen und verkauft, und er verkauft sie noch heute. Es ist ein Jammer, was durch den Verkauf der auersbergerischen Grundstücke aus Maria Zaal geworden ist, dachte ich auf dem Ohrensessel. Da, wo noch vor zwanzig Jahren die schönsten Wiesen und Weiden gewesen sind, stehen jetzt Dutzende sogenannter -8 3
Einfamilienhäuser, eines häßlicher als das andere, zum Großteil sogenannte Fertighäuser, die ihre Erwerber direkt aus den Lagerhäusern der Umgebung bestellen konnten, schauerliche Betonwürfel, auf die von schlampigen Spenglermeistern billige Welleternitdächer genagelt worden sind. Da, wo ein Wäldchen war, da, wo ein Garten aufblühte im Frühjahr und in seinen allerschönsten Farben zur herbstlichen Verwelkung gekommen war, wuchern jetzt die Betongeschwüre unserer Zeit, die auf Landschaft, überhaupt auf Natur, keinerlei Rücksicht mehr nimmt, und die nur von der politisch motivierten Geldgier beherrscht ist, von der gemeinproletarischen Betonhysterie, dachte ich auf dem Ohrensessel. Jedes Jahr wird eines, oder werden mehrere dieser Maria Zaaler Grundstücke der Eheleute Auersberger an jene Leute in der Maria Zaaler Gegend verkauft, die durch ihre primitiv niederträchtige Baugesinnung dieses Maria Zaal nach und nach völlig ruinieren und die ja Maria Zaal schon ruiniert haben, denn ich bin ja einmal vor zwei oder drei Jahren in Maria Zaal gewesen, sozusagen incognito, auf dem Weg von Italien nach Wien und habe meinen Augen nicht getraut, dachte ich auf dem Ohrensessel, wie weit die Zerstörung von Maria Zaal allein durch den perversen Grundstückeverkauf der Eheleute Auersberger schon vernichtet ist. Jeder Verkauf eines Grundstücks der Auersbergerischen, die kein Geld verdienen, weil sie es nicht notwendig haben, wie sie denken mögen, vernichtet ein Stück Maria Zaaler Natur, und hat bereits, wie ich mit eigenen Augen gesehen habe, Maria Zaal vernichtet; denn war Maria Zaal tatsächlich vor zwanzig Jahren noch einer der allerschönsten steiermärkischen Orte, so ist es jetzt, durch die Gewissenlosigkeit der Auersbergerischen, einer der häßlichsten, das ist die Wahrheit, dachte ich auf dem Ohrensessel; die Auersbergerischen haben dieses steiermärkische Juwel auf dem Gewissen, dachte ich auf dem Ohrensessel und aufeinmal dachte ich, daß es ja nicht diese von dieser widerwärtigen Zeit in die Bauhysterie getriebenen kleinen Leute in der Maria Zaaler Gegend sind, die die Maria Zaaler Landschaft vernichtet haben, sondern die Eheleute Auersberger, nicht die sind es, denen man es vorwirft, deren -8 4
abscheuliche Häuser schon beinahe die ganze Gegend des einstmals so wunderlichen Maria Zaal verschandelt und ruiniert haben, die wie überall in Osterreich ihre Häuser einfach in die Gegend geschissen haben, weil ihnen niemand gesagt hat, wie sie sie bauen sollen, sondern die Eheleute Auersberger im Hintergrund, die ihren Anwaltonkel alljährlich zum Abverkauf auch ihrer noch allerletzten Grundstücke antreiben und der auch ihre allerletzten Grundstücke verkaufen wird, damit sie, ohne auch nur einen Finger rühren zu müssen, ihr mehr oder weniger nichts-nutzes gesellschaftliches Leben fortführen können, dachte ich auf dem Ohrensessel. Perfide Ge sellschaftsonanisten, dachte ich auf dem Ohrensessel sitzend, was für ein wahres Wort, das der Tapisserist Fritz ihnen einmal ins Gesicht gesagt hat, wie ich mich auf dem Ohrensessel erinnerte. Komponist hat der Auersberger sein wollen, und es ist doch nichts anderes aus ihm geworden, als ein verkommener, vom Vermögen seiner Frau stumpfsinnig gewordener Gesellschafts-Kopist als Webern Nachfolger. Selten bin ich gegen die Auersbergerischen so wütend gewesen, wie an diesem Abend. Menschen wie die Joana bringen sich um, dachte ich auf dem Ohrensessel, und Parasiten und Gesellschafts-Kopisten wie die Auersbergerischen leben und leben und leben und langweilen sich im Grunde durch ihr ganzes Leben und werden älter und älter und älter und sind nichts als nutzlos. Menschen wie die Joana enden an einem von ihnen selbst um ihren Hals geschlungenen Strick und werden in einen Plastiksack gesteckt und auf die billigste Art und Weise eingegraben, und Leute wie die Eheleute Auersberger wissen nicht, wieviel Abendessen sie wieviel Burgschauspielern geben sollen aus ekelerregender Langeweile und stupidem Weltüberdruß, dachte ich auf dem Ohrensessel. Menschen wie die Joana haben jahrelang nur das Notdürftigste und bringen sich schließlich um, während Menschen wie die Auersbergerischen alles im Überfluß haben und alt und uralt werden und für gar nichts sind, dachte ich. Einen Menschen wie die Joana verlassen sie schließlich alle und kümmern sich nicht mehr um ihn, während sie sich heute, genauso wie vor zwanzig Jahren und vor dreißig Jahren, um -8 5
Menschen wie die Eheleute Auersberger scharen. Nur eine perverse Gewohnheit sind die auersbergerischen Abendessen, sagte ich mir auf dem Ohrensessel. Diese Leute haben ein Landhaus und öffnen es diesem künstlerischen Stadtgesindel nicht aus Menschenliebe, naturgemäß nicht, sondern aus ekelerregender Langeweile und stupidem Eigennutz und mißbrauchen dieses nach Landluft schnappende künstlerische Stadtgesindel, das noch immer unter dem Deckmantel der Jugendfreundschaft auftritt, stoßen es vor den Kopf, höhlen es aus und brüskieren es, wie sie mich jahrelang vor den Kopf gestoßen und ausgehöhlt haben und brüskiert haben und dieses künstlerische Stadtgesindel, als welches ich jetzt alle diese im Musikzimmer herumsitzenden und herumstehenden Leute für mich bezeichnete, kommt auch noch in die Gentzgasse, um sich dafür zu bedanken. Alle diese jetzt im Musikzimmer herumstehenden und herumsitzenden Leute, ich selbst eingeschlossen, waren jahrelang, jahrzehntelang in Maria Zaal Gast der Eheleute Auersberger gewesen und sind dort von den Eheleuten Auersberger ausgenützt worden, haben mitgeholfen, ihnen ihre auersbergerische Landlangeweile und ihre Landextravaganzen zu überbrücken, tagelang, wochenlang, monatelang, jahrelang, und haben nicht gemerkt, daß sie von den Auersbergerischen nur vergewaltigt und ausgenützt und mißbraucht worden sind; sie waren eingeladen worden, um sich mißbrauchen zu lassen, nicht, wie ihnen die Eheleute Auersberger immer zu verstehen gegeben haben, aus Freundschaft, Liebe, was Verlogen-Absurdes immer, dachte ich auf dem Ohrensessel. Um ihre in die Brüche gegangene Ehe zu kitten, hatten mich die Eheleute Auersberger zu sich nach Maria Zaal eingeladen, nicht um mir einen Ferienaufenthalt zu ermöglichen, wie sie mir vorgemacht hatten, damit ich ihnen ihr Ehezerwürfnis entwirre, wie sie gedacht, aber naturgemäß nichts davon gesagt haben, nicht, um mich ein paar Wochen oder Monate, ja ein ganzes Jahr, ja zwei Jahre zu verwöhnen, wie sie sagten. Sie hatten mich das erste Mal nicht nach Maria Zaal eingeladen, um mich, der ich auf sie einen verwahrlosten und verkommenen und halbverhungerten Eindruck gemacht habe wahrscheinlich, in selbstloser Weise aufzupäppeln, -8 6
sondern tatsächlich skrupellos in ihre Maria Zaaler Falle gelockt, um ihnen ihre Ehehölle erträglich zu machen, nicht sozusagen als unterernährten Jüngling, der ihrer Behutsamkeit und Liebe bedurfte, sondern als salzburgisches närrisches Mittel zum Zweck, das sie aus dieser ihrer Ehehölle erretten sollte. Und ich war naiv genug gewesen, die Falle, die sie mir gestellt hatten, nicht gleich als Falle zu erkennen und bin hineingetappt in diese Falle und habe ihnen schon gleich und dann immer noch intensiver den salzburgischen Narren gemacht in ihrer fürchterlichen Steiermark, wie ich jetzt auf dem Ohrensessel dachte. Aus dem Mozarteum entlassen, mit dem mit beiden Händen wütend zu einem klebrigen Papierballen zusammengedrückten Abschlußzeugnis noch in der Hosentasche, wie ich mich erinnere, haben sie mich auf dieser gewissen Geburtstagsfeier auf dem Sebastiansplatz nach Maria Zaal eingeladen, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel, und ich habe ihre Einladung angenommen, weil ich nicht gewußt habe, daß mich die Eheleute Auersberger in ihre Ehehölle nach Maria Zaal eingeladen haben. Auf den naiven Salzburger Jüngling hatten sie sich gestürzt mit ihrer Infamie und mich auf ihren Ansitz nach Maria Zaal eingeladen. Und ich habe ihre Einladung angenommen, was, wie ich leider erst später darauf gekommen bin, ein Wahnsinn gewesen war. Leute wie die Eheleute Auersberger sagen, sie haben Geld und ein schönes großes, ja riesiges Stück Land und ein ebenso schönes und großes, ja riesiges Haus und wir, die wir das alles nicht haben, gehen ihnen in die Falle, dachte ich. Wir lassen uns von ihrem Überfluß beeinflussen und gehen in ihre Falle. Wir sehen nur ihre Fassade und hören nur die Oberfläche von dem, das sie sagen und gehen in ihre Falle. Wir lassen uns von ihrem Auftrumpfen beeindrucken und gehen in ihre Falle, dachte ich auf dem Ohrensessel. Sie reden etwas von einem großen alten Haus mit schönen großen Gewölben und etwas von langen Spaziergängen über lauter Grundstücke, die ihnen gehören und von köstlichen Mahlzeiten in ihrem Garten und ihren tagtäglichen Autoausflügen von einem Schloß zum andern, und wir sind beeindruckt und gehen in ihre Falle. Sie machen uns eine absolute ländliche Luxuswelt vor, und wir sind beeindruckt -8 7
und gehen in ihre Land-Luxusfalle, dachte ich auf dem Ohrensessel. Immer wieder reden sie von dem, das sie besitzen, von ihrem grenzenlosen Reichtum, ohne tatsächlich davon zu reden, und wir lassen uns beeindrucken und gehen in ihre Falle. Von ihren gutausgestatteten Küchen und ihren vollen Kellern und von ihren zehntausendbändigen Bibliotheken reden sie, und wir lassen uns beeindrucken und gehen in ihre Falle. Ihre Fischwässer erwähnen sie und ihre Mühlen und Sägewerke, nicht aber ihre Betten, und wir sind von ihnen beeindruckt und gehen in ihre Falle und in ihre Betten, dachte ich. Und da wir selbst mehr oder weniger an einem Ende angelangt sind, weil wir, wie ich damals Anfang der Fünfzigerjahre, nicht weiter gewußt haben, nicht weiter wissen, lassen wir uns auf das tiefste von ihnen beeindrucken und gehen bereitwilligst in ihre Falle. Ich hatte nicht aus und ein gewußt, als ich das Mozarteum verlassen hatte und bin nach Wien und Wien war kein Ausweg für mich gewesen, sondern nichts als die kalte, brutale Hoffnungslosigkeit, und ich bin natürlich in die auersbergerische Falle gegangen, in ihre Falle, die beinahe meine Schicksalsfalle gewesen wäre, dachte ich auf dem Ohrensessel. Ihr Instinkt hat auf mich gezeigt, dachte ich auf dem Ohrensessel, ihr Instinkt hat ins Schwarze getroffen, dachte ich, denn ich war damals, am Anfang der Fünfzigerjahre, die beste aller Möglichkeiten für die Eheleute Auersberger, die ich, plötzlich weiß ich gar nicht mehr wie und wo, kennen gelernt habe. Zwar weiß ich, dachte ich auf dem Ohrensessel, daß ich durch die Jeannie Billroth die Joana auf dem Sebastiansplatz kennen gelernt habe, dachte ich jetzt, aber ich weiß nicht mehr, wo ich sie, die Eheleute Auersberger selbst, kennen gelernt habe und ich fragte mich plötzlich, wo eigentlich habe ich die Auersbergerischen kennen gelernt? und es fiel mir nicht ein, nicht mehr ein, ich hatte es vergessen. Ich dachte immer wieder nach, aber es fiel mir nicht ein. Solche momentane Schwächezustände, Geistesschwächezustände, habe ich oft in letzter Zeit, dachte ich auf dem Ohrensessel, bei allen meinen Krankheiten, Nervenkrankheiten, nicht verwunderlich nach dem, was ich an diesem Tag schon alles mitgemacht hatte, selbstverständlich, dachte ich. Und ich sagte -8 8
mir, daß ich in diesem Jahr, das noch gar nicht so lang ist, schon fünfmal auf dem Begräbnis eines Freundes oder einer Freundin gewesen bin. Aufeinmal sterben sie alle weg, dachte ich, die meisten durch die eigene Hand, sagte ich mir. Sie rennen plötzlich aufgeregt aus einem Kaffeehaus hinaus auf die Straße und werden überfahren, oder hängen sich auf, oder es trifft sie der Schlag. Sind wir über fünfzig, gehen wir alle Augenblicke auf ein Begräbnis, dachte ich. Bald habe ich mehr Freunde und Freundinnen auf dem Friedhof, als in der Stadt, dachte ich. Die auf dem Land geboren worden sind, gehen, um sich umzubringen, auf das Land, dachte ich. Sie bevorzugen für den Selbstmord ihr Elternhaus, dachte ich. Und im Grunde sind sie alle krank, ausnahmslos. Wenn sie sich nicht umbringen, sterben sie an ihren Krankheiten, die sie sich durch Unachtsamkeit zugezogen haben, ein paarmal sagte ich das Wort Unachtsamkeit vor mich hin, als ob es mir ein Vergnügen machte auf dem Ohrensessel, sagte ich immer wieder das Wort Unachtsamkeit, bis es den Leuten im Musikzimmer aufgefallen war, daß ich fortwährend das Wort Unachtsamkeit gesagt hatte, und ich sagte es nicht mehr, als ich bemerkte, daß sie aufeinmal zu mir aus dem Musikzimmer herausschauten in das Vorzimmer. Mit ihnen allen bin ich vor dreißig, ja noch vor fünfundzwanzig Jahren befreundet gewesen, dachte ich, verstand das nicht mehr. Eine Zeitlang gehen wir mit Menschen in eine Richtung, dann wachen wir auf und kehren ihnen den Rücken. Ich habe ihnen den Rücken gekehrt, nicht sie mir, dachte ich. Wir ketten uns an sie und verabscheuen sie aufeinmal und lassen sie los. Wir rennen jahrelang hinter ihnen her und betteln um ihre Zuneigung, dachte ich, und haben wir aufeinmal ihre Zuneigung, wollen wir ihre Zuneigung gar nicht mehr. Wir flüchten vor ihnen, sie holen uns ein und reißen uns an sich und wir unterwerfen uns ihnen, jedem ihrer Diktate, dachte ich, und geben uns in ihnen auf, bis wir entweder absterben oder ausbrechen. Wir fliehen sie und sie holen uns ein und erdrücken uns. Wir laufen ihnen nach, wir flehen sie an, uns aufzunehmen und sie nehmen uns auf und bringen uns um. Oder wir gehen ihnen von Anfang an aus dem Weg und es gelingt uns lebenslänglich, ihnen aus dem Weg zu gehen, -8 9
dachte ich. Oder wir gehen in ihre Falle und ersticken. Oder wir entkommen ihnen und machen sie herunter, verleumden sie, verbreiten Lügen über sie, dachte ich, um uns zu retten, verleumden sie, wo wir nur können, um uns aus ihnen zu erretten, laufen ihnen um unser Leben davon und bezichtigen sie überall, sie hätten uns auf dem Gewissen. Oder sie entkommen uns und verleumden uns und bezichtigen uns, verbreiten alle möglichen Lügen über uns, um sich zu erretten, dachte ich. Wir glauben, wir sind schon tot und begegnen ihnen und sie retten uns, aber wir sind ihnen nicht dankbar dafür, daß sie uns gerettet haben, im Gegenteil, wir verfluchen sie, wir hassen sie dafür, wir verfolgen sie lebenslänglich mit unserem Haß dafür, daß sie uns gerettet haben. Oder wir biedern uns ihnen an, sie stoßen uns weg, wir rächen uns und verleumden sie, machen sie überall herunter, verfolgen sie mit unserem Haß letztenendes bis ins Grab. Oder sie helfen uns im entscheidenden Moment auf die Beine und wir hassen sie, weil sie uns auf die Beine geholfen haben, wie sie uns hassen, weil wir ihnen auf die Beine geholfen haben, dachte ich auf dem Ohrensessel. Wir haben ihnen einmal einen Gefallen getan und wir glauben dann, ein Recht auf ihre lebenslängliche Dankbarkeit zu haben, dachte ich auf dem Ohrensessel. Wir sind jahrelang mit ihnen befreundet und sind es aufeinmal lebenslänglich nicht und wissen gar nicht, warum aufeinmal nicht mehr. Wir lieben sie so inständig, daß wir krank werden in dieser Liebe und sie stoßen uns ab, hassen unsere Liebe, dachte ich. Wir bekommen von ihnen alles und hassen sie dafür. Wir sind nichts und sie machen etwas aus uns und wir hassen sie dafür. Wir kommen aus dem Nichts, wie gesagt wird, und sie machen aus uns unter Umständen ein Genie und wir verzeihen ihnen nie, daß sie aus uns ein Genie gemacht haben, wie wenn sie einen Schwerverbrecher aus uns gemacht hätten, dachte ich auf dem Ohrensessel. Wir bekommen von ihnen alles, dachte ich auf dem Ohrensessel, und wir bestrafen sie dafür lebenslänglich mit Verachtung und Haß. Wir verdanken ihnen alles und wir verzeihen ihnen nie, daß wir ihnen alles verdanken, dachte ich. Wir glauben, Rechte zu haben und haben keinerlei Rechte, dachte ich. Niemand hat -9 0
irgendein Recht, dachte ich. Die Welt, alles ist die Ungerechtigkeit, dachte ich. Die Menschen sind das Unrecht und das Unrecht ist alles, das ist die Wahrheit, dachte ich. Wir verfügen nur über das Unrecht, dachte ich. Den Anschein von allem haben sich diese Leute immer gegeben, wirklich gewesen sind sie nichts und einmal geben sie sich den Anschein, gebildet zu sein und sind es nicht, und einmal den Anschein, wie gesagt wird, musisch zu sein und sind es nicht, und einmal den Anschein, menschlich zu sein und sind es nicht, dachte ich. Und sie haben sich auch immer nur den Anschein gegeben, liebenswürdig zu sein, denn sie sind ja nicht liebenswürdig. Und vor allem geben sie sich den Anschein, natürlich zu sein und sind niemals natürlich gewesen, alles an ihnen war immer nur die Künstlichkeit selbst und we nn sie behaupteten und sich also den Anschein gaben, sie seien philosophisch, so waren sie doch nichts als verschroben, und es fiel mir wieder ein, mit welcher Widerwärtigkeit sie zu mir auf dem Graben gesagt hatten, sie hätten jetzt alles von Wittgenstein, genauso wie sie fünfundzwanzig Jahre vorher gesagt hatten, sie hätten jetzt alles von Ferdinand Ebner; damals hatten sie mit derselben Abgeschmacktheit ein Philosophisches, wenigstens ein philosophisches Interesse vorgegeben, weil sie geglaubt hatten, sie müßten das in meiner Gegenwart, vor mir, der, wie sie damals geglaubt hatten und wie sie wahrscheinlich auch noch heute glauben, ein philosophischer Mensch sei, ein Philosophierender, was ich aber nicht bin, denn im Grunde weiß ich ja selbst bis heute gar nicht, was das ist, ein Philosoph und ich weiß also auch nicht, was das ist philosophierend. Einmal haben sie sich den Anschein gegeben, sie verstünden etwas von der französischen, einmal, sie verstünden etwas von der spanischen, einmal, sie verstünden etwas von der deutschen Literatur und es ist ja wahr, daß ich sehr viel spanische und französische Dichter und die meisten deutschen bei ihnen und also durch sie kennen gelernt habe in Maria Zaal vor allem, wo sie eine große Bibliothek haben, eine viel größere noch, als in der Gentzgasse, die ja schon ziemlich groß und als repräsentativ bezeichnet werden kann, ja sogar als wissenschaftliche Bibliothek, die sich der Urgroßvater der -9 1
Auersberger angelegt hat, auch aus dem Grunde des Anscheins und aus welcher dessen Nachkommen, die Eheleute Auersberger also, wahrscheinlich in dreißig Jahren nicht mehr als zwanzig- oder dreißigmal einen Band herausgenommen haben, während ich mich auf diese Bibliotheken in der Gentzgasse und in Maria Zaal förmlich gestürzt hatte, wie gesagt werden kann, mit der Leidenschaft des Unwissenden, wie ich sagen muß, dachte ich jetzt. Und vielleicht waren es sogar weniger die Auersbergerischen selbst gewesen, die mich zuerst an die Gentzgasse und dann auch an Maria Zaal gekettet haben, sondern deren von ihren Vorfahren groß angelegte Bibliotheken, die ja von diesen ihren Vorfahren auch nur angelegt worden sind, um einen Anschein zu wecken, den Anschein der Wissenschaftlichkeit, der Bildung, des großstädtischen Alleswissens, das immer in Mode gewesen ist. Das Alleswissen, denke ich, ist zu allen Zeiten Mode gewesen und ist es auch in den beiden letzten Jahrzehnten etwas aus der Mode gekommen, so ist es jetzt wieder die höchste Mode. Den Anschein haben sie sich immer gegeben, weil sie zu einem Wirklichen niemals befähigt gewesen sind, dachte ich, alles an ihnen war und ist immer nur Anschein gewesen, selbst das Gesellschaftliche, selbst ihre eigene Beziehung, selbst ihre eigene Ehe ist nichts als Anschein gewesen, sie haben sich den Anschein einer Ehe gegeben, weil sie keine wirkliche führen konnten und können, dachte ich auf dem Ohrensessel, und nicht nur die Eheleute Auersberger leben, seit sie leben, vom Anschein, alle diese Leute im Musikzimmer lebten immer nur dem Anschein nach, niemals wirklich, nicht einen Augenblick Wirklichkeit haben sie gelebt, dachte ich. Dazu hatten alle diese Leute niemals den Mut und niemals die Kraft und niemals die Wahrheitsliebe, die dazu notwendig ist, dachte ich. Sie haben alle immer gerade nur in der Mode gelebt, dachte ich, sich immer die Mode als Anschein übergezogen und sich diesem Überzug auf das Totalste unterworfen, dachte ich, und wie es Mode gewesen ist, Ferdinand Ebner zu lesen in Wien, haben sie Ferdinand Ebner gelesen, wie es heute Mode ist, Wittgenstein zu lesen, lesen sie Wittgenstein, aber sie lasen natürlich niemals Ferdinand Ebner und sie lesen heute nicht -9 2
Wittgenstein, sie hatten vor dreißig Jahren die Ebnerbände nachhause getragen, wie jetzt die Wittgensteinbände, und reden darüber und lesen sie nicht, reden solange darüber und lesen sie nicht, bis das, über das sie andauernd und unter Umständen jahrelang reden, aufeinmal aus der Mode gekommen ist und sie deshalb aufeinmal nicht mehr darüber reden. Und weil jetzt soviel von Wittgenstein die Rede ist, wie einmal in Wien von Ferdinand Ebner die Rede gewesen war, denke ich, daß doch der Wittgenstein mehr Philosoph als Lehrer und der Ferdinand Ebner mehr Lehrer als Philosoph gewesen ist und daß der Wittgenstein überleben und als Philosoph in die Geschichte eingehen wird, nicht aber der Ferdinand Ebner, der nur als Lehrer in die Geschichte eingegangen ist. Die Eheleute Auersberger haben sich immer den Anschein der Großartigkeit gegeben, wie sie sich den Anschein des Künstlertums gegeben haben und natürlich zuallererst den Anschein der Menschlichkeit, wenn nicht gar der Übermenschlichkeit, dachte ich, während sie unter diesem ihrem Anschein immer nur die Armseligkeit selbst sein konnten und niemals das, was sie in Wahrheit und in Wirklichkeit sein wollten: Erste Klasse, Aristokraten, Hocharistokraten, wenn schon. Das war das Groteske an ihnen, daß sie lebenslänglich an diesem abstoßend-komischen Weltbild festgehalten und sich daran Tag und Nacht aufgerieben haben, denke ich. Die Eheleute Auersberger haben sich aber auch den Anschein des Mäzenatentums gegeben, dachte ich, und wenn sie, gleich wen, außerhalb der Aristokratie, eingeladen haben, so war es für sie etwas Mäzenatisches. Schließlich hatten sie den Titel Landmäzene von mir verliehen bekommen, mehr oder weniger wie einen Faschingsorden und hatten meinen bitteren Scherz ernst genommen. Anstatt daß sie gründliche Reisen gemacht und sich auf diesen gründlichen Reisen in jeder Weise verbessert hätten, verschwendeten sie, die so viel Geld gehabt haben immer, daß sie sich alle nur möglichen gründlichen Reisen hätten leisten können, ihre Zeit und also ihre Jahrzehnte damit, die sogenannte erste Klasse zu kopieren, Aristokraten sein zu wollen. Erschöpften sich als Aristokraten-Kopisten in ihrem Aristokratenfimmel, von welchem sie durch nichts geheilt -9 3
werden konnten, ja geheilt werden wollten, wie ich dachte. Gaben sich den Künstleranschein, dachte ich, und waren doch nur Kleinbürger, weil viel zu schwach selbst zum tatsächlichen bürgerlichen, geschweige denn großbürgerlichen Auftreten, das sie verachteten aus dieser ihrer Schwäche heraus, dachte ich. So plünderten sie die, die ihnen in die Falle gegangen sind jemals, aus bis zum letzten, dachte ich. Aber die Ausgeplünderten hatten an ihrer Ausplünderung selbst Schuld, dachte ich, denn sie ließen sich von den Eheleuten Auersberger bei vollem Bewußtsein ausplündern und hatten aus diesen Ausplünderungen die größten Vorteile, ja, die auersbergerischen Ausplünderungsopfer genossen ihre Ausplünderung in Wahrheit, wie ich selbst meine jahrelange Ausplünderung durch die Eheleute Auersberger genossen habe, letztenendes wie eine heilsame Kur genossen habe, das ist die Wahrheit, und an dieser heilsamen auersbergerischen Ausplünderungskur tatsächlich gesund und letztenendes im wahrsten Sinne des Wortes geheilt worden bin; denn ich war krank gewesen, wie ich an die Eheleute Auersberger gekommen bin, krank durch und durch, Körper und Kopf waren eine einzige Krankheit gewesen, dachte ich. Die auersbergerische Ausplünderungskur hat mich damals, vor dreißig Jahren, gesund (wenn auch nicht glücklicher) gemacht, dachte ich. Aber ich verachte sie und ich hasse sie, obwohl sie mich damals vor dreißig Jahren gesund gemacht haben, dachte ich jetzt auf dem Ohrensessel. Obwohl sie mich damals, vor dreißig Jahren, gerettet haben, dachte ich, ich habe sie gerettet und sie haben mich gerettet damals, dachte ich, das ist die Wahrheit. Jetzt geben sie sich den Anschein, für die Künstler ihr künstlerisches Abendessen zu geben und geben es in Wahrheit doch nur ihrer eigenen Erbärmlichkeit, geben es zwar, wie sie vorgeben, dem Schauspieler, der sich als Burgschauspieler überall feiern läßt, wie alle Burgschauspieler sich immer und überall und in den hintersten Winkeln dieser Stadt feiern lassen, dem erfolgreichen, applausüberschütteten Wildentenhauptdarsteller, dem Ekdal, und geben es doch nur sich selbst, geben es den Eingeladenen und geben es tatsächlich wie immer nur sich selbst, dachte ich auf dem -9 4
Ohrensessel. Haben eine Unmenge eingekauft, um es den Künstlerischen aufzukochen und dann aufzutischen und kauften doch nur für sich selbst ein, kochten doch nur für sich selbst und bezeichnen am Ende dieses ihr künstlerisches Abendessen als mäzenatisch. Reden wochenlang in Wien davon, daß sie dem Ekdal der Wildente ein Abendessen gegeben haben, sagen nicht, daß der Schauspieler als Burgschauspieler zu ihnen gekommen ist, weil sie ihn wochenlang um seinen Besuch angebettelt haben, sich um ihn beinahe zerfleischt haben, wie in Wien gesagt wird, sagen, sie hätten dem Burgschauspieler ein Abendessen gegeben, ein künstlerisches Abendessen, und auch gleich noch einem Haufen anderer Künstler, sozusagen nicht ganz so großartiger wie der Burgschauspieler, großer Künstler, auch Künstler, wie Auchkünstler, denke ich. Sie sagen, sie geben dem Burgschauspieler ein Abendessen und in Wirklichkeit haben sie möglicherweise diesen Burgschauspieler zu diesem ihrem Abendessen erpreßt, denn alle ihre Einladungen sind schließlich immer Erpressungen gewesen, dachte ich auf dem Ohrensessel. Sie haben sich schließlich ihr Gesellschaftliches immer erpreßt, dachte ich, gleich auf was für eine Weise sie sich gesellschaftlich in Szene gesetzt haben und sich in Szene setzen, es war und ist immer nur ein Erpreßtes gewesen, dachte ich. Auch wenn die Leute mehr oder weniger freiwillig zu ihren Abendessen gehen, dachte ich, sind sie doch von den Eheleuten Auersberger dazu erpreßt worden. Lieber hätten sie Aristokraten, also Leute, von welchen sie, die Auersberger, glaubten, daß sie Aristokraten seien, also was sie, die Auersberger, darunter verstehen, jetzt an ihrem Tisch in der Gentzgasse, nicht die, die an diesem Abend tatsächlich zu ihnen gekommen sind, dachte ich auf dem Ohrensessel, lieber einen heruntergekommenen Fürsten, einen verlotterten Grafen und dessen Anhang, als diese Künstlerischen, vor welchen ihnen ja im Grunde genommen graute, denn sie hielten im Grunde von allem Künstlerischen nichts, hatten sich ja immer nur den Anschein des Künstlerischen gegeben, wie sie sich auch dieses Nachtmahl wieder als künstlerisches Abendessen und also als Anschein geben, dachte ich. Aber wenn schon -9 5
keinen Fürsten und keinen Grafen an ihrem Tisch, so doch wenigstens einen Burgschauspieler, mögen sie denken, dachte ich auf dem Ohrensessel, gerade in dem Augenblick, in welchem der Schauspieler, der immer nur Burgschauspieler genannt worden ist, weil er seit dreißig oder vierzig Jahren auf dem Burgtheater engagiert ist, seit dreißig oder vierzig Jahren als Burgschauspieler bezeichnet wird, eingetreten ist. Ausgerechnet der Schriftstellerin Jeannie Billroth haben mich die Auersbergerischen gegenübergesetzt, gerade also jener Person genau gegenüber, von welcher ich am Nachmittag in Kilb ganz besonders abgestoßen gewesen war. Sie hatten schon alle im Speisezimmer Platz genommen gehabt, bevor sie mich gerufen und aufgefordert haben, in das Speisezimmer zu kommen und Platz zu nehmen, so spät aufgefordert, daß ich annehmen mußte, sie hätten auch mich vergessen und wahrscheinlich hatten sie auch mich vergessen gehabt, wie ich denke. Tatsächlich war ich einen Augenblick oder mehrere Augenblicke auf dem Ohrensessel eingenickt gewesen aus Erschöpfung, denn ich wachte auf, als sie mich aufforderten, in das Speisezimmer zu kommen, in ihre perfekte Empirescheußlichkeit. Die Auersberger hatte mich, wie sie aus dem Musikzimmer heraus, in das Vorzimmer getreten war, gerufen, ich mußte sie aber längere Zeit nicht gehört haben, denn als ich sie zum ersten Mal meinen Namen rufen hörte, wußte ich sofort, daß sie mich schon mehrere Male gerufen hat. Tatsächlich glaubte sie, mich an der Schulter wachrütteln zu müssen, aber ich war ihr zuvorgekommen, indem ich, noch bevor ihre Hand an meiner Schulter gewesen war, ihre Hand zurückgestoßen habe, vielleicht eine Spur zu abrupt. Im Halbdunkel des Vorzimmers hatte ich ihren Gesichtsausdruck nicht sehen können, aber meine rigorose Abweisung mußte sie verletzt haben, denke ich. Ich stand aber sofort auf, muß ich sagen, und folgte ihr in das Speisezimmer, in welchem, wie gesagt, schon alle am Tisch saßen, mehr oder weniger in der Mitte der Burgschauspieler, dessen Auftreten ich verschlafen hatte, wie ich jetzt denken mußte. Ich hatte ihn nicht hereinkommen gehört, da er aber an mir vorbei gehen hatte müssen, wenn er ins Speisezimmer wollte, unmittelbar an mir -9 6
vorbei und ich ihn nicht gehört hatte, mußte ich tatsächlich eingenickt gewesen sein, möglicherweise war ich sogar mehrere Minuten, wie ich annehmen muß, fast eine halbe Stunde, kann sein noch länger, eingeschlafen. Ganz benommen hatte ich mich an den Speisetisch gesetzt. Ich sah, wie die Köchin die Suppe aufgetragen hat, absurder Vorgang um dreiviertelein Uhr in der Nacht, dachte ich. Alle aßen hastig und hörten, was der Burgschauspieler zu sagen hatte, während er seine Suppe löffelte. Es sei heute kein guter Abend gewesen, sagte der Burgschauspieler, nicht mein bester Abend, wie er sich ausdrückte, mehrere Male hätten die Zuschauer im Akademietheater lauter, lauter gerufen, weil er wahrscheinlich zu leise gesprochen habe, er wisse nicht, wieso und warum, das komme vor, daß ein Schauspieler, sozusagen ganz aufgegangen in seiner Kunst, nämlich während seines Auftritts ganz auf das Publikum vergesse, das tatsächlich zusätzlich zu dem, das es von ihm sehe, auch noch etwas Verständliches von ihm hören wolle. Er ißt seine Suppe so schlampig, wie er auftritt, dachte ich, nicht ihn, sondern die Schriftstellerin Jeannie Billroth beobachtend, die ihrerseits naturgemäß den Schauspieler als Burgschauspieler beobachtete und alles von dem Schauspieler als Burgschauspieler hastig Gelöffelte und Gesagte wie etwas ganz und gar Außergewöhnliches, Außerordentliches, Einmaliges in sich aufzunehmen schien. Nun saß ich der Wiener Virginia Woolf gegenüber, dieser abgeschmackten Gedichte- und Prosaschöpferin, die, das war jetzt aufeinmal klar, zeitlebens nur in ihrem kleinbürgerlichen Kitsch gebadet hat, wie ich denke. Und eine solche Person getraut sich ohne weiteres zu sagen, daß sie noch besser schreibe als die Virginia Woolf, die von mir, seit ich in schriftstellerischem Denken geschult bin, immer als die erste aller Dichterinnen bewundert gewesen ist, daß sie, die Billroth, in ihren Romanen weiter sei als die Wellen, weiter als Orlando, weiter als Die Fahrt zum Leuchtturm, In Kilb hat sich die Jeannie wieder einmal von ihrer Biederseite gezeigt, dachte ich jetzt, ihr gegenüber sitzend, dieses künstlerische Abendessen, das aufeinmal tatsächlich und im wahrsten Sinne des Wortes durch -9 7
den Burgschauspieler zu einem künstlerischen Nachtmahl geworden ist, verfluchend, es als genauso grotesk und abstoßend zu empfinden, wie es gewesen ist, denke ich. Um dreiviertelein Uhr in der Nacht Kartoffelsuppe auftragen zu lassen und einen gekochten Fogosch anzukündigen, ist schon eine Perversität, zu welcher allein die auersbergerischen Eheleute fähig sind, sagte ich mir, der Jeannie gegenüber sitzend, die ihre Suppe wie immer auf ihre Weise gegessen hat, mit dem bei jeder Mahlzeit immer wenigstens um einen Zentimeter zu weit abstehenden kleinen Finger ihrer rechten Hand. Einen Fogosch um dreiviertelein Uhr nachts wegen eines Burgschauspielers, in dessen Barthaaren sich jetzt, da er seine Kartoffelsuppe mit der größten Geschwindigkeit, also wie ausgehungert, halb ausgelöffelt hatte, diese Kartoffelsuppe verfangen hatte. Der Ekdal, sagte er und löffelte die Suppe, der Ekdal ist schon jahrzehntelang meine Wunschrolle gewesen, und er sagte, wieder Suppe löffelnd, und zwar alle zwei Wörter einen Löffel Suppe nehmend, also er sagte der Ekdal und löffelte Suppe und sagte war schon und löffelte Suppe und immer meine und löffelte Suppe und sagte Lieblingsrolle gewesen und löffelte Suppe und er hatte auch noch zwischen zwei Suppenlöffeln seit Jahr- und dann wieder nach zwei Suppenlöffeln zehnten gesagt und das Wort Wunschrolle genauso, als redete er von einer Mehlspeise, denke ich. Mehrere Male sagte er der Ekdal ist meine Lieblingsrolle, und ich fragte mich sofort, ob er auch dann immer wieder von dem Ekdal als seiner Lieblingsrolle gesprochen hätte, wenn er keinerlei Erfolg mit seinem Ekdal gehabt hätte. Hat ein Schauspieler in einer Rolle Erfolg, sagt er, es sei seine Lieblingsrolle, hat er mit seiner Rolle keinen Erfolg, sagt er nicht, daß es seine Lieblingsrolle ist, dachte ich. Immer wieder löffelte der Burgschauspieler die Kartoffelsuppe und sagte, der Ekdal sei seine Lieblingsrolle. Als ob nur er etwas zu sagen hätte, sagten alle anderen lange Zeit nichts, löffelten ihre Suppe und starrten den Burgschauspieler an. Löffelte der Burgschauspieler seine Suppe schnell, löffelten auch sie ihre Suppe schnell, löffelte er sie langsamer, löffelten auch sie sie langsamer und wie er aufgehört hatte, seine Suppe -9 8
auszulöffeln, hatten auch sie ihre Suppe ausgelöffelt. Sie waren längst mit dem Suppenauslöffeln fertig, da hatte ich noch den halben Teller voll Suppe. Sie schmeckte mir übrigens nicht und ich ließ sie stehen. In der Wildente habe er endlich spielen können, wie er immer spielen habe wollen, sagte der Burgschauspieler pathetisch. Wenn er noch bessere und also ideale Partner gehabt hätte, sagte er, denn er habe nicht die besten, nicht die idealen Partner gehabt, eine Verlegenheitsbesetzung seien alle außer ihm in der Wildente gewesen, wäre diese Wildente nicht nur was ihn selbst betrifft, sondern als Ganzes ein ungeheuerer Erfolg geworden, so er. So habe sich alles auf ihn konzentriert und die Zeitungen hätten insgesamt nur über ihn geschrieben, nicht die Wildente sei ein Ereignis gewesen, er, sein Ekdal, sei das Ereignis gewesen, nicht die Aufführung, so er. Und was wäre diese Wildente, dieser ganze Ibsen, hätten sie alle zusammen mehr oder weniger versteckt geschrieben, wenn nicht er gewesen wäre. Er persönlich halte sehr viel von Ibsen, wie er auch von Strindberg viel halte, überhaupt viel von den sogenannten nordischen Dichtern, aber tatsächlich, was wären diese Dichter ohne solche Schauspieler wie er, das sage er in aller Bescheidenheit doch ganz und gar offen heraus. Aber in diesen Dichtern steckte doch mehr, als die Zeitungen schrieben, so seine Meinung, und grandioser Schauspieler hin, grandioser Schauspieler her, Ibsen sei tatsächlich ein Dichter, wie Strindberg auch, wie beide ganz große Genies der Literaturgeschichte, aber was wären sie tatsächlich ohne grandiose Schauspieler. Der Burgschauspieler hat schon wenigstens zwei oder drei Gläser Champagner getrunken bei seinem Eintritt in die Gentzgassenwohnung, dachte ich, als er sagte, die Dichtung wird ja erst lebendig, wenn ein guter Schauspieler sie zum Leben erweckt. Darauf legte er beide Hände auf den Tisch und reckte seinen Schauspielerkopf in die Höhe und sagte zum Auersberger: Ihre Komposition, lieber Freund, habe ich sehr genossen. Worauf der Auersberger seinen Kopf senkte, also der Webern-Nachfolger Auersberger hatte seinen Kopf in dem Augenblick gesenkt, in welchem ihn der Burgschauspieler in die Höhe gereckt hatte, als er sagte -9 9
Ihre Komposition, lieber Freund, habe ich sehr genossen. Darauf hatten alle geschwiegen und gedacht, der Fogosch werde aufgetragen, aber sie irrten, die Köchin war ohne jede Speise hereingetreten und hatte nur gefragt, ob der Fogosch serviert werden könne. Die Auersberger bedeutete der Köchin, der Fogosch könne aufgetragen werden. Wir Schauspieler sind an das späte Essen gewöhnt, sagte der Burgschauspieler, wir essen meistens erst nach Mitternacht. Das ist charakteristisch für uns Schauspieler, sagte der Burgschauspieler, daß wir erst nach Mitternacht essen. Ein ungesundes Leben, das Bühnenleben, sagte er darauf und brach sich eine Salzstange in der Mitte auseinander. Der Schauspieler gewöhnt sich aber an diese Nachmitternachtsessen, sagte der Burgschauspieler und gleich darauf wieder, daß der Ekdal wie keine andere seine Wunschrolle sei. Große Dichtung muß es sein, um sich in beste Szene zu setzen, sagte der Burgschauspieler. Er habe ein halbes Jahr lang den Ekdal studiert, sich für dieses Ekdalstudium sogar einmal auf drei Wochen auf eine einsame Berghütte in den Tiroler Alpen zurückgezogen, da, in dieser tatsächlichen Einsamkeit, sagte der Burgschauspieler, sei ihm dieser Ekdal erst richtig aufgegangen. Die Schauspieler gehen entweder zu früh oder zu spät an eine Rolle heran, an eine Rolle wie der Ekdal, müsse aber zu dem einzig richtigen Zeitpunkt herangegangen werden, meinte er, an große Dichtung, an ganz große Rollen immer im einzigen richtigen Zeitpunkt. Der Ekdal war immer meine Wunschrolle, sagte er, aber ich hatte den Ekdal nie richtig verstanden. Erst als ich in der Berghütte mich auf nichts anderes als auf den Ekdal konzentrierte, begriff ich, was dieser Ekdal ist, überhaupt, was die Wildente ist. Überhaupt, was Ibsen ist, rief er aus. Die Berghütte sei es gewesen, die ihm das Ekdallicht habe aufgehen lassen, da, in der Berghütte, ist mir das Licht aufgegangen, sagte der Burgschauspieler und lehnte sich zurück und sagte, daß er Fogosch immer sehr gern gegessen habe, am liebsten den Plattenseefogosch, den echten Plattenseefogosch und die Auersberger sagte, ihn tatsächlich unterbrechend in seiner Ekdalstudie, daß sie natürlich nur einen echten Plattenseefogosch auftischen werde, was für einen -1 0 0
Fogosch auch sonst. Der Ekdal muß mit der größten Behutsamkeit angegangen werden, sagte der Burgschauspieler. Wir rennen monatelang in der Stadt umher und zerbrechen uns den Kopf und verstehen den Ekdal nicht und haben gar keine Beziehung zu dem Ekdal, obwohl wir immer gedacht haben, daß er uns so liegt, wie keine andere Figur der Weltliteratur, und wir verzweifeln am Ende schon und werfen alles hin, sagte er, und dann gehen wir auf den Berg und quartieren uns in der Berghütte ein und es ist uns das Licht aufgegangen. Mit Prospero ist es mir genauso gegangen, sagte der Burgschauspieler. Sollte ich doch noch den Lear machen, sagte er, werde ich wieder auf die Berghütte gehen, aber vorher nicht monatelang hier, in dieser grauenhaften Stadt, warten, bis mir die Erleuchtung kommt. Das Tirolische sei es, das ihm den Ekdal aufgemacht habe, sagte der Burgschauspieler. Über tausendachthundert Meter hoch gelegene Hütte, sagte er. Fern aller Zivilisation. Kein elektrisches Licht. Kein Gas. Keine Konsumwelt! rief er aus, wie ihm der angewärmte Teller hingestellt und er aufgefordert worden war, sich von dem Fogosch zu nehmen. Wir müssen in die Alpenhöhe steigen, um den richtigen Weltblick zu bekommen, sagte er und nahm sich noch ein zweites Fogoschstück. Übrigens habe er niemals vorher eine Ibsenrolle verkörpert, eine Strindbergrolle ja, den Edgar im sogenannten Todestanz, aber nie eine Ibsenrolle, nicht einmal den Peer Gynt in der Jugend, was doch eigentlich das Selbstverständlichste gewesen wäre. Wir kommen an so viele Regisseure, sagte er, und bekommen nie die Rollen, die wir tatsächlich spielen wollen. Und auch nicht die Dichter, die uns am Herzen liegen. Wir wollen einen spanischen Dichter spielen und müssen uns mit einem französischen einlassen, sagte er, wir wollen Goethe spielen und man verurteilt uns zu Schiller, wir wollen in einer Komödie auftreten und man verpflichtet uns für eine Tragödie. Selbst die Berühmtheit macht es nicht möglich, immer das zu spielen, was man spielen will, sagte der Burgschauspieler. Und wie oft kommt es vor, sagte er, daß man endlich eine Rolle versprochen bekommen hat, die man als eine seiner Lieblingsrollen bezeichnen kann und diese Lieblingsrolle wird am Ende doch mit einem anderen -1 0 1
Schauspieler besetzt. In den Theatern, sagte er, geht nichts planmäßig vor sich, kein Plan wird am Ende so verwirklicht auf dem Theater, wie er ursprünglich geplant worden ist. Was wir endlich aufführen und was endlich zu sehen ist, ist immer nur ein Kompromiß, ein fauler. In seinem Alter habe ein Schauspieler wie er sich aber an diese Tatsache längst gewöhnt, lebe mit dieser Tatsache, sagte er. Selbst auf dem Burgtheater, der ersten Bühne Europas, wie er sich ausdrückte, kämen am Ende nur Kompromisse zustande. Aber was für Kompromisse, sagte er und meinte damit, daß diese Kompromisse auf dem Burgtheater immer noch großes Theater seien; alles Mißglückte auf dem Burgtheater sei schließlich doch immer wieder Burgtheater, womit er meinte, daß es schließlich und endlich doch immer wieder selbst in seinem Scheitern das von ihm so bezeichnete große Theater als Burgtheater sei. Es war lächerlich, was er sagte. Während ich selbst vor Müdigkeit kaum meine Augen offen halten konnte, war der Burgschauspieler offensichtlich aufeinmal überhaupt nicht müde, alle waren müde, von dem anstrengenden Tag, vor allem vom Joanabegräbnis und dann von dem nervenaufreibenden Warten auf den Schauspieler, auf den über zwei Stunden gewartet worden ist. Daß für eine solche Rolle wie der Ekdal beinahe ein ganzes halbes Jahr aufzubringen sei, sagte der Burgschauspieler und in diesem ganzen halben Jahr auf alles andere verzichtet werden müsse, also ein solcher Ekdal einen vollkommen in Anspruch nimmt, alle Bequemlichkeiten wegnimmt, während man ihn probt, wie er sich ausdrückte, und es ja letztenendes auch kein Vergnügen sei wochenlang auf einer tirolischen Berghütte und sich in diese Berghütte einzusperren wegen eines solchen Ekdals mehr oder weniger bei Wasser und Brot und Erbsensuppe und in einem schlechten Bett und in mehr oder weniger die ganze Zeit ungewaschenem Zustand und die Leute dann, die Zuschauer, wie er sagte, davon überhaupt keine Ahnung hätten und das überhaupt nicht honorierten. Und selbst wenn sie klatschen und es ein großer Erfolg ist, wie dieser Ekdal, sagte der Burgschauspieler, ist der Preis für eine solche Hingebung, ja, ich darf sagen, Aufopferung, so er, zu hoch. Aber das -1 0 2
Schauspielerschicksal sei eben nichts anderes als ein Opferschicksal, so er, der diese Bemerkung ironisieren hatte wollen, was ihm aber nicht gelungen ist, es war doch allen ganz klar, daß er sie ernst gemeint hatte. Ein solcher Ekdal, sagte er, fordere alles von einem Schauspieler. Zuerst in die Dichtung eindringen, sagte er, aber wie. Dann den Dichter wirklich verstehen und dann die Rolle wirklich verstehen und dann die lange Probenzeit, die ihn den ganzen Herbst und den ganzen Winter gekostet habe. Wir fangen Ende August an, zu proben, sagte er, und wissen, wenn wir mit den Proben fertig sind, gar nicht, daß es schon wieder Frühjahr ist. Ja, bei Shakespeare ist es etwas ganz anderes, sagte er, ohne darauf zu sagen, warum etwas ganz anderes als bei Ibsen. Oder bei Strindberg. Während der Probenzeit, wenn er nicht gerade in einem anderen Stück aufzutreten und also Vorstellung habe, gehe er um zehn Uhr am Abend zu Bett und stehe um sechs Uhr früh auf. Er memoriere übrigens den Text vor dem offenen Fenster, gehe in seinem Schlafzimmer hin und her. Es ist immer ein Vorteil gewesen, daß ich unverheiratet bin, sagte er plötzlich. Ich gehe von sieben bis elf Uhr mehr oder weniger in meinem Schlafzimmer hin und her und memoriere den Text. Ich komme mit vollständig gelerntem Text auf die Probe, sagte er. Vom ersten Probenaugenblick an, kann ich den Text vollständig, das verblüfft die Regisseure immer, sagte der Burgschauspieler. Die meisten Schauspieler kommen auf die Probe und können ihren Text nicht, sagte er. Ich habe meinen Text immer vollständig im Gedächtnis, wenn die Probe beginnt. Aber es ist ekelhaft, wenn die Kollegen ihren Text nicht können. Das ist ekelhaft, wiederholte er und nahm sich noch ein Stück Fogosch, der zu einer mit viel zu viel Kapern angereicherten Sauce serviert wurde. Wenn ich mir nicht in Grinzing mein Haus gebaut hätte vierundfünfzig, sagte er, wer weiß, ob ich nicht doch einmal auf eine deutsche Bühne gegangen wäre, sagte der Burgschauspieler. Die Angebote waren zahlreich. Ich hätte nach Berlin gehen können, nach Köln, nach Zürich. Aber was sind alle diese Städte gegen Wien, sagte er. Wir hassen diese Stadt und lieben sie doch, wie keine andere, sagte er. Wie wir, zugegeben, auch das Burgtheater hassen und doch lieben wir -1 0 3
kein anderes. Während er sagte, dieser Ekdalerfolg war ja überhaupt nicht vorauszusehen, beobachtete ich die Schriftstellerin Jeannie Billroth, die schon unruhig geworden war, weil sie sich zurückgesetzt fühlte, an diesem Abend nicht der Mittelpunkt sein konnte, der sie immer hatte sein wollen, durch die Bemerkungen des Burgschauspielers nicht zum reden gekommen war bis jetzt, obwohl sie andauernd etwas sagen hatte wollen und es nicht sagen hatte können. Immer wieder hatte sie auf eine Bemerkung des Burgschauspielers eine eigene Bemerkung machen wollen, aber der Burgschauspieler hat ihr dazu keine Möglichkeit gegeben. Aber jetzt, als der Burgschauspieler gesagt hatte, daß der Ekdal die schwierigste Rolle sei, die er jemals einstudiert und gespielt habe, sagte sie, daß sie finde, der strindbergsche Edgar sei doch die schwierigere Rolle, der Edgar ist doch viel schwieriger, sagte sie, ah der Ekdal, sie habe jedenfalls immer den Eindruck, wenn sie den Edgar lese, daß der Edgar viel schwieriger sei, als der Ekdal, den Ekdal habe sie niemals als eine schwierige Rolle betrachtet, wenn sie davon absehe, daß alle Rollen, also gleich welche, schwierige seien, wenn sie gut gespielt werden wollen und gut gespielt werden, sie empfinde beim Lesen immer, daß der Edgar viel schwieriger sei als der Ekdal. Nein! rief der Burgschauspieler, die schwierigere Rolle ist der Ekdal, das ist doch ganz klar. Da könne sie dem Burgschauspieler nicht zustimmen, meinte die Jeannie Billroth, und sie ließ durchblicken, daß sie einmal Theaterwissenschaft studiert habe, übrigens bei dem berühmten Professor Kindermann, also auch an diesem Abend wieder das gesagt hatte, was sie immer bei solchen Gelegenheiten gesagt hat, daß sie eine Schülerin Kindermanns sei; vielleicht müsse ein Schauspieler, sagte die Jeannie Billroth, denken, der Ekdal sei die schwierigere Rolle, während es doch die des Edgar sei. Nein wissen Sie, sagte der Burgschauspieler zur Schriftstellerin Jeannie Billroth, wenn man so, wie ich, Jahrzehnte Schauspieler ist und noch dazu auf dem Burgtheater und seit man überhaupt zurückdenken kann, nur erste Rollen spielt, weiß man doch, wovon man redet. Natürlich, als Theaterwissenschaftler hat man von dem Theater überhaupt -1 0 4
andere Ansichten, sagte der Burgschauspieler, aber es sei doch gar keine Frage, daß der Ekdal die schwierigere, der Edgar die viel leichtere Rolle sei, leichter, was das Spielen einer solchen Rolle betrifft, vergessen Sie das nicht, sagte der Burgschauspieler zur Jeannie Billroth. Diese gab sich mit dem, das der Burgschauspieler gesagt hatte, nicht zufrieden und sagte, daß es doch, seit es den Edgar und den Ekdal gebe, immer erwiesen gewesen sei, daß der Ekdal die leichter zu spielende Rolle sei, nicht der Edgar. Das habe Kindermann, ihr Lehrer, ja auch in einer Schrift ganz eindeutig klar gestellt, die Kindermannsche Schrift trage den Titel Edgar und Ekdal, ein Vergleich, ob der Burgschauspieler diese Schrift denn nicht gelesen habe, fragte ihn die Jeannie Billroth, worauf der Burgschauspieler sagte, er kenne diese Kindermannsche Schrift nicht. Das sei bedauerlich, meinte die Jeannie Billroth, denn wenn der Burgschauspieler die Kindermannschen Ausführungen über Edgar (von Strindberg) und Ekdal (von Ibsen) gelesen hätte, bevor er den Ekdal zu probieren angefangen habe, hätte er sich sehr viel Unangenehmes, die Erarbeitung der Wildente betreffend, erspart, und der Auersberger, der schon die ganze Zeit auf der Lauer gesessen war, um auch einmal etwas zu sagen, sagte plötzlich: und den wochenlangen Aufenthalt auf der Berghütte! worauf der Burgschauspieler selbst aufeinmal ein anderes Thema wünschte, denn er sagte, daß er auf dem Weg in die Gentzgasse einen seiner Handschuhe verloren habe. Wäre er nicht schon zu spät in die Gentzgasse unterwegs gewesen, er wäre umgekehrt, um den verlorenen Handschuh zu suchen. So aber habe er nicht umkehren können, um die Auersbergerischen nicht noch mehr auf die Folter zu spannen. Die Leute wüßten gar nicht, in was sie sich einlassen, so er, wenn sie ihn zum Abendessen einladen. Eine solche Einladung ist leicht ausgesprochen, aber was sie bedeutet, erfahren die Gastgeber erst, wenn sie merken, daß der Eingeladene um halbeins noch immer nicht aufgetreten ist. Ja, die Schauspielerei hat es in sich, sagte der Burgschauspieler so, als wäre das einer jener Sätze, die er immer wieder sagt, wenn er in Verlegenheit ist. Die Auersberger, die einen zweiten -1 0 5
Fogoschgang an den Tisch hatte bringen lassen, meinte, daß es doch bedauerlich sei, daß der Burgschauspieler auf dem Weg in die Gentzgasse einen seiner Handschuhe verloren habe, einen Handschuh verlieren, meinte sie, sei doch genauso schlimm, wie alle beide, denn ein einziger Handschuh sei wertlos. Ja, meinten alle am Tisch, alle hätten sie schon einmal einen Handschuh verloren und das gleiche gedacht. Möglicherweise habe aber der Finder des Handschuhs diesen abgegeben. Ja, wo denn abgegeben? fragte der Auersberger seine Frau und war auch schon in ein Gelächter ausgebrochen, das gleich auch alle andern zu einem eigenen Gelächter herausgefordert hatte und sie lachten über die auersbergerische Frage an seine Frau, wer denn wo diesen verlorenen Handschuh abgegeben habe oder noch abgeben könnte und darauf berichtete tatsächlich jeder an dem Tisch Sitzende seine Handschuhgeschichte, denn jeder am Tisch hatte schon einmal einen seiner Handschuhe verloren und den Verlust eines seiner Handschuhe genauso schmerzlich empfunden, wie den Verlust von einem ganzen Handschuhpaar. Im übrigen hätten sie alle ihren verlorenen Handschuh nie mehr gefunden, keiner dieser verlorenen Einzelhandschuhe sei jemals wieder abgegeben worden, meinten sie. Ach, wenn es nur ein Paar Handschuhe sind, meinte die Auersberger und erzählte noch eine eigene Handschuhgeschichte. Sie sei, vor etwa zwanzig Jahren, in der Toilette des Josef Städter Theaters gewesen und habe dort ihre schwarzen Abendhandschuhe liegen gelassen. Beide Abendhandschuhe, meinte sie und blickte in die Runde. Der Zerrissene sei gespielt worden, übrigens eines der besten Nestroystücke, wie sie meinte. In der Pause habe sie ihre Abendhandschuhe in der Toilette liegen gelassen und nach Ende der Vorstellung sei sie rasch in die Toilette gegangen in der Annahme, ihre Abendhandschuhe lägen noch auf dem Toilettentisch. In der Josefstadt habe ich natürlich mit Sicherheit glauben dürfen, sagte sie, daß meine Handschuhe noch da sind. Aber sie waren weg. Die Toilettenfrau wußte nichts von liegengebliebenen Handschuhen, sagte die Auersberger. Und stellen Sie sich vor, sagte sie, zwei Wochen nach diesem -1 0 6
Zerrissenen sind mir meine Abendhandschuhe zugeschickt worden. Anonym, sagte sie, sich für einen Augenblick in ihren Empiresessel zurücklehnend, anonym und mit einem kleinen Kärtchen, auf dem geschrieben stand, herzliche Grüße. Bis heute weiß ich nicht, wer mir meine Abendhandschuhe geschickt hat, sagte sie; kurz darauf der Burgschauspieler direkt zu ihr: ein ausgezeichneter Fogosch, ein echter Plattenseefogosch, die Übrigen gaben zu verstehen, daß sie denselben Eindruck haben, daß es sich bei dem Fogosch, den sie gerade essen, um einen echten Plattenseefogosch handle. Wissen Sie, sagte der Burgschauspieler, der sich von Zeit zu Zeit mit seiner in den Hemdkragen gesteckten Serviette den bärtigen Mund abwischte, die Schauspielerei hat es in sich. Wie ich einmal in München aufgetreten bin, vor über zwanzig Jahren, eingesprungen bin, wie gesagt wird, sagte er, im Grunde nicht der Rede wert, als Heinrich, sagte er, traf ich dort in der Kaufingerstraße einen Kollegen, den ich von früher kannte, aus der Vorkriegszeit, mit dem ich übrigens einmal in der Lerchenfelderstraße ein Untermietzimmer geteilt habe, ungeheizt, wie sich denken läßt, Ratten waren da, nichts zu essen, sagte er, Sie wissen ja, wie das damals war, Amerikaner noch nicht da, Russen schon da, Renner an der Macht, Sie wissen, da habe ich diesen Kollegen gefragt, warum er aus Wien weg ist. Ja, hat der Kollege gesagt, weil mir Wien zum Hals heraushängt. Ja und München? fragte ich den Kollegen, sagte der Burgschauspieler, der sich wieder den bärtigen Mund abgewischt hatte. Da sagte der Kollege zu mir: München hängt mir auch zum Hals heraus! Dann hättest du ja gleich in Wien bleiben können, wenn dir München auch zum Hals heraushängt! hatte ich zu dem Kollegen gesagt, sagte der Burgschauspieler. Im übrigen ist dieser Kollege damals auf dem Residenztheater engagiert gewesen, ähnliches Rollenfach, sagte der Burgschauspieler, vielleicht zu hohe Stimme für sein Fach, Strindbergstimme, denke ich, sagte der Burgschauspieler, durchaus Strindbergstimme, keine Ibsenfigur, Goethe ja, Shakespeare nein, keine Ibsenfigur, etwas für Moliere, aber nicht für Nestroy, Nestroy nein, sagte er, vielleicht auch immer etwas zu dick, undisziplinierter Lebensstil, -1 0 7
sagte der Burgschauspieler, aus Vöcklabruck gebürtig, Provinzler im Grunde, aber gutmütig, etwas zu hohe Stimme, früh geheiratet, erstes Kind und geschieden, war lange Zeit am Volkstheater engagiert, sagte der Burgschauspieler. Dann hättest du ja gleich in Wien bleiben können, sagte ich zu ihm, sagte der Burgschauspieler. Im Gesicht hatte er so ein merkwürdiges Zucken, durchaus humorvoller Mensch, aber immer alles ausgegeben, lockerer, sehr lockerer Typus, sagte der Burgschauspieler. Ich sagte, ich probiere den Edgar. Ja, den Edgar, sagte er. Interessiert mich nicht, sagte er. Interessiert dich nicht, interessiert dich nicht, sagte ich. Es war so kalt, ich hatte keine Handschuhe bei mir, die ganze Zeit fror mich. Ich probiere den Edgar, sagte ich noch einmal, aber er hörte mir gar nicht mehr zu. Den Edgar probiere ich! schrie ich ihn an, sagte der Burgschauspieler. Da drehte ich mich um und ließ ihn stehen. Ein lieber Mensch, sagte der Burgschauspieler und nahm einen Löffel voll Fogoschsauce. Am nächsten Tag habe ich in der Abendzeitung gelesen, daß der sich umgebracht hat. In der Kaufingerstraße, wo er gewohnt hat, was ich nicht wußte. Aufgehängt! skandierte der Burgschauspieler. Schauspieler sind prädestiniert, sich umzubringen, aufzuhängen! sagte der Burgschauspieler. Ich bin kein Selbstmördertypus, sagte er, nein, durchaus nicht, durchaus nicht, durchaus nicht. Aber wenn ich denke, wieviele sich schon umgebracht haben aus meiner Zunft! Durchaus talentiert, durchaus, sagte der Burgschauspieler, alles Zeug zum Großkomödianten, sagte er, und bringt sich um. Ich war der Letzte, der mit ihm geredet hat, sagte der Burgschauspieler. Ein Jugendfreund. Die Besten bringen sich um, sagte er und machte einen Schluck aus dem Weißweinglas. Das Wetter spielt dabei immer eine ganz große Rolle, wenn sich einer umbringt, sagte er. Im übrigen, sagte der jetzt durch seine Erzählung über den Schauspieler, der sich in München umgebracht hat, melancholisierte Burgschauspieler an die Tatsache erinnert, daß sich die, wenn auch nicht ihm, so doch allen andern am Tisch bekannte Joana, umgebracht hat in der vergangenen Woche und erst am Nachmittag in Kilb begraben worden war, (wovon er sicher von den Auersberger gehört hat, -1 0 8
wie ich denke), habe ich diese Joana doch einmal gesehen, wie sie nämlich im Burgtheater einen Vortrag über ihre sogenannte Bewegungskunst gehalten hat. Ich habe sie ganz deutlich in Erinnerung, sagte er, aufeinmal eine Art Trauerhaltung annehmend, auch seine Stimme auf Trauerton einstellend, eine begabte Person, meinte er, aber auf dem Burgtheater vollkommen fehl am Platz. Dieser Kurs war eine unglückliche Veranstaltung, sagte der Burgschauspieler und meinte, daß er in diesem Jahr schon mehrere Male auf das Begräbnis eines seiner Kollegen gegangen sei, ein Schauspielersterben wie noch nie, sagte er, auch ein großes Kabarettistensterben, fügte er an. Achja, sagte er zur Schriftstellerin Jeannie Billroth direkt, eine Lebensfreundin verlieren, ich weiß, was das heißt. Aber in einem gewissen Alter verlieren wir alle, die uns etwas bedeuten, die wir lieben. Er machte einen Schluck aus seinem Weißweinglas und die Auersberger schenkte ihm ein. Wenn es nur ein rascher Tod ist, sagte er, nichts ist widerwärtiger, als das langwierige Siechtum. Umfallen und tot sein, das ist ein Glück, sagte er. Aber ich bin kein Selbstmordtypus, wiederholte er. Es bringen sich mehr Frauen um, als Männer, sagte er, worauf die Schriftstellerin Jeannie Billroth sagte, das stimme nicht, statistisch sei erwiesen, daß sich jährlich genau doppelt so viele Männer umbrächten, als Frauen. Der Suizid ist Männersache, sagte sie. Sie habe eine Studie über den Suizid in Österreich gelesen, aus dieser Studie gehe hervor, daß sich in Österreich prozentuell zur Einwohnerzahl, wie sie sagte, jährlich mehr Leute umbringen, als in irgendeinem anderen europäischen Land. Ungarn habe die zweithöchste Selbstmordrate, Schweden die dritthöchste. Und in Österreich sind es vor allem die Salzburger, die sich umbringen, interessanterweise gerade die Leute, die in den sozusagen schönsten Gegenden lebten, begingen am häufigsten Selbstmord. Die Steiermärker sind recht selbstmordlustig, meinte der Auersberger, der zu diesem Zeitpunkt schon mehr oder weniger volltrunken gewesen und tatsächlich schon die Unruhe selbst gewesen war, wie ich sagen muß. Er sagte zum Burgschauspieler, daß es ihn, den Auersberger, wundere, daß sich so wenige Burgschauspieler umbrächten, wo sie doch -1 0 9
allen Grund dazu hätten. Der Auersberger war, noch während er das sagte, in ein Gelächter ausgebrochen, über das, was er gerade gesagt hatte, was allen anderen aber nur peinlich gewesen war, denn sie straften ihn sozusagen mit ihren Blicken, ich selbst hatte auch kurz aufgelacht und gedacht, daß an dem Auersberger, so widerlich er sich immer gibt, doch ab und zu ein gewisser komödiantischer Witz ist, der selbst mich, der ich für Witze an sich nicht immer aufgelegt bin, zum Lachen bringt. Wie meinen Sie das? hatte der Burgschauspieler dann den Auersberger gefragt. Ganz einfach, antwortete der Auersberger dem Burgschauspieler, wenn die Burgschauspieler sehen würden, wie miserabel sie Theater spielen, müßten sie sich doch alle umbringen. Mit Ausnahme Ihrer Person, sagte der Auersberger und leerte sein Glas. Ja, wissen Sie, sagte darauf der Burgschauspieler, wenn Sie eine solche Ansicht vom Burgtheater haben, warum gehen Sie denn dann überhaupt hin? Worauf der Auersberger sagte, daß er schon zehn Jahre nicht mehr im Burgtheater gewesen sei. Die Auersberger verbesserte ihren Mann aber augenblicklich und meinte, sie sei mit ihm erst vor zwei Wochen im Verschwender gewesen. Achja, im Verschwender, sagte darauf der Auersberger, in einer so schlechten Vorstellung, daß es mir den Magen umgedreht hat und daß ich sie auch gleich wieder vergessen habe. Der Burgschauspieler hatte nicht gleich gewußt, wie er auf den Auersberger reagieren solle. Das Burgtheater hat immer Feinde gehabt, wie alles, das letztenendes doch das Beste ist, sagte er. Das Burgtheater ist immer vor allem von denen angefeindet worden, die unbedingt an das Burgtheater wollten, die das Burgtheater aber abgelehnt hat. Alle Schauspieler, die nicht am Burgtheater engagiert sind, sagte der Burgschauspieler, schimpfen solange auf das Burgtheater, bis sie am Burgtheater engagiert werden. Das war immer so. Das Außerordentliche zieht immer Feindschaft auf sich, sagte er. Der Burgtheaterhaß ist ein alter Hut der Wiener, sagte er, wie der Staatsopernhaß. Selbst die Theaterdirektoren hassen das Burgtheater und verspotten es solange, bis sie es selbst durch fortgesetztes gemeines, skrupelloses Betreiben dahin, zum Burgtheaterdirektor, gebracht haben, sagte er. Neinnein, sagte -1 1 0
der Burgschauspieler dann, wo sehen Sie denn eine solche Wildente, wie die, die wir gerade im Akademietheater spielen, nirgends, da können Sie hingehen, wo Sie wollen, eine solche Wildente wird nirgendwo gespielt. Nirgendwo, sagte der Auersberger darauf, wenn Sie doch selbst gerade vorher gesagt haben, daß diese Wildente im Akademietheater mißglückt ist, daß nur Ihr Ekdal gelungen sei, wie die Kritiker schreiben, Ihr Ekdal ein grandioser Ekdal ist, die Aufführung aber überhaupt nichts wert. So kann man es auch nicht sagen, sagte der Burgschauspieler darauf, man kann nicht sagen, diese Wildente ist nichts wert, wenn sie auch mißglückt ist. Aber selbst diese mißglückte Wildente ist noch um vieles besser, als alle andern Wildenten, die ich jemals gesehen habe, und ich habe alle Wildenten, die in den letzten Jahrzehnten aufgeführt worden sind, gesehen. Ich habe die Wildente seinerzeit in Berlin gesehen, die erste Nachkriegswildente, sagte der Burgschauspieler, in der Freien Volksbühne, aber auch die Wildente im Schillertheater. Lauter mißglückte Aufführungen, sagte der Burgschauspieler, auch in München und in Stuttgart. Das deutsche Theater wird doch nur von ganz inkompetenten Leuten gelobt, die selbst nicht wissen, was das Theater überhaupt ist. Alles Modejournalismus unausgegorener Leute, sagte der Burgschauspieler. Neinnein, diese Wildente im Akademietheater ist die beste Wildente, die ich jemals gesehen habe und ich bin nicht voreingenommen, sagte er, wenn ich auch in dieser Wildente den Ekdal spiele, sie ist mit Abstand die beste Wildente. Ich habe einmal die Wildente in Stockholm gesehen, sagte der Burgschauspieler, Vildanden heißt die Wildente auf schwedisch. Sie gefiel mir gar nicht. Ich glaubte, nach Stockholm reisen zu müssen, um die beste Wildente zu sehen, die zu sehen ist, aber diese Wildente war eine einzige Enttäuschung. Es ist nicht so, daß die nordischen Theater die nordischen Stücke am besten spielen. Ich habe einmal eine Wildente in Augsburg gesehen, die hat mir viel besser gefallen. Natürlich hängt in der Wildente alles vom Ekdal ab. Ist der Ekdal schlecht, ist das ganze Stück schlecht, ist die ganze Aufführung schlecht. Glauben Sie ja nicht, daß Sie in Salzburg oder in Wien den idealen Mozart zu hören und zu sehen -1 1 1
bekommen. Diesem Irrtum verfallen die Leute immer, daß sie glauben, da, wo die Stücke herkommen, werden sie auch am besten aufgeführt, nein gar nicht, ganz im Gegenteil. Ich habe einmal einen Moliere in Hamburg gesehen, wie er in Paris niemals gespielt worden ist. Und einen Shakespeare in Köln, der alle englischen Shakespeareaufführungen weit in den Schatten gestellt hat. Natürlich können Sie nur hier in Wien einen guten Nestroy sehen, sagte der Burgschauspieler, worauf der Auersberger sagte, aber doch nicht auf dem Burgtheater. Worauf der Burgschauspieler sagte, da mögen Sie recht haben. Da muß ich Ihnen rechtgeben. Auf dem Burgtheater ist noch nie ein guter Nestroy gelungen. Aber wo gelingt schon ein guter Nestroy, doch nicht im Volkstheater, wo er hingehörte. Natürlich nicht im Volkstheater, sagte der Auersberger. Im Karltheater, sagte der Auersberger, aber das Karltheater ist schon vor beinah dreißig Jahren abgerissen worden. Ja, sagte der Burgschauspieler, das ist schade, daß das Karltheater abgerissen worden ist. In gewisser Weise haben sie, indem sie das Karltheater abgerissen haben, gleich den Nestroy mit abgerissen, meinte der Burgschauspieler nicht ohne Witz und meinte damit die stumpfsinnigen Verantwortlichen der Wiener Stadtverwaltung, die so gut wie alle abgerissenen Theater in Wien auf dem Gewissen haben. Nach dem Krieg sind mehr als die Hälfte der Wiener Theater abgerissen worden, sagte der Auersberger. Ja, und aus fadenscheinigen Gründen, meinte der Burgschauspieler darauf. Die besten Theater sind abgerissen worden, sagte der Auersberger. Leider, leider, sagte der Burgschauspieler, wie recht Sie haben. In Wien wird immer das Beste abgerissen, sagte der Auersberger, die Wiener reißen immer das Beste ab, aber sie merken nicht, wenn sie das Beste abreißen, daß sie das Beste abreißen, sie merken es immer erst, nachdem sie es schon abgerissen haben, das Beste. Die Wiener sind insgesamt Abreißer, sagte der Auersberger, Abreißer und Niederreißer. Wie recht Sie haben, sagte der Burgschauspieler und hatte zu essen aufgehört, sich aber noch ein Glas Wein einschenken lassen von der Auersberger. Ist in Wien ein Gebäude besonders schön, wird es mit Sicherheit in Kürze abgerissen, sagte der Burgschauspieler. Gleich, ob es -1 1 2
sich um ein Gebäude handelt oder um eine Institution, die besonders schön oder besonders gelungen sind, die Wiener geben nicht eher Ruhe, als bis dieses Gebäude oder diese Institution abgerissen ist. Und mit Leuten machen es die Wiener genauso, sagte der Burgschauspieler, sie können nicht sehen, daß einer gut ist, daß einer bedeutend ist, sie reißen ihn von einem Tag auf den andern nieder, wie ein Denkmal, von dem sie aufeinmal gar nicht mehr wissen, daß sie selbst es aufgestellt haben. Mein Ekdal ist in gewisser Weise philosophisch gesehen, sagte der Burgschauspieler. Aber wenn man die Schriften über Ibsen liest, wird man nicht gescheiter, im Gegenteil, sie machen einem nur einen verrückten Kopf. Und mit einem verrückten Kopf kann man nicht an eine so heikle Rolle herangehen, sagte der Burgschauspieler. Der junge Werle, der Gregers, sagte der Burgschauspieler, das wäre eine Rolle für mich gewesen vor dreißig Jahren, vielleicht auch noch vor zwanzig. Den hätte ich gar zu gerne gespielt, sagte der Burgschauspieler, aber immer, we nn es so weit war, ist die Wildente abgesetzt worden. Der Gregers hätte mir ja noch mehr entsprochen, sagte der Burgschauspieler und schaute sich in der Runde um. Ich hatte den Eindruck, daß, außer der Jeannie Billroth, die ja gerade zugegeben hatte, daß sie die Wildente erst kürzlich gelesen und gesehen hat, niemand wußte, wovon der Burgschauspieler eigentlich sprach. Der Gregers wäre es gewesen im Grunde, nicht der Ekdal, sagte der Burgschauspieler und alle am Tisch wußten mit Sicherheit nicht, was er meinte, wovon er sprach. Tatsächlich, der Gregers war mein Traum. Ich hatte ein Angebot, den Gregers in Düsseldorf zu spielen, aber ich hatte abgelehnt damals, weil ich nicht aus Wien weg wollte. Wer weiß, wenn ich nach Düsseldorf gegangen wäre, um dort den Gregers zu spielen, hätte ich möglicherweise mein Burgtheaterengagement verloren. Ich mußte ja froh sein, Burgschauspieler geworden zu sein, sagte er. Aber es tat mir doch lebenslänglich leid, auf den Gregers verzichtet zu haben. Nur einmal ist mir der Gregers angeboten worden. Immer habe ich gedacht, eines Tages spiele ich den Gregers. Aber es ist nicht mehr dazu gekommen. Wenn wir einmal eine solche Chance ausschlagen, sagte der -1 1 3
Burgschauspieler, kommt sie kein zweites Mal. Psychologisches Theater, sagte der Burgschauspieler dann und lehnte sich zurück, nachdem ihm eine Zigarre angeboten worden war von der Auersberger und er sich diese Zigarre selbst angezündet hatte, es mehr oder weniger schroff abgelehnt hatte, sich die Zigarre anzünden zu lassen, wozu die Auersberger schon bereit gewesen war. Wir wollen immer das Höchste, erreichen es aber dadurch, daß wir es wollen, nicht, sagte der Burgschauspieler und er sagte diesen Satz so, als wäre er gar nicht von ihm, sondern ein Zitat gewesen, möglicherweise aus irgendeinem Stück. Während er jetzt den Ekdal mit so großem Erfolg spiele, bereite er sich schon auf die nächste Rolle vor, sagte er. Ein englisches Stück, sagte er, ein englischer Regisseur komme aus London nach Wien, die Proben begännen schon die kommende Woche. Englisches Konversationsstück, aber kein Oscar Wilde, sagte er, neinnein. Auch kein Shaw. Natürlich nicht. Zeitgenössisches! rief er aus, Zeitgenössisches! Zum Lachen, aber tiefgründig! Theatermilieu übrigens. Er spiele einen Schriftsteller, der in den Hochadel eingeheiratet habe. Nicht unbedingt allererste Klasse, sagte er, aber unterhaltsam und nicht dumm, durchaus nicht dumm, ganz einfach die englische Art: viel Unterhaltung, wenig Kopfzerbrechen, sagte er. Schlampige Übersetzung, sagte er, aber ich stutze mir den Text schon zurecht. Wenn wir nur einen Dichter hätten! rief der Burgschauspieler plötzlich aus, aber wir haben keinen, in ganz Deutschland haben wir keinen, ganz zu schweigen von Österreich, nicht zu reden von der Schweiz. So kommen immer nur Ausländer auf die Bühne, Engländer, Franzosen, Polen, sagte der Burgschauspieler. Es ist ein Jammer, lamentierte er. In zwanzig Jahren nicht ein einziges lesenswertes Stück, sagte er. Die dramatischen Talente in deutscher Sprache sind ausgestorben, sagte er und lehnte sich zurück und blies den Zigarrenrauch gegen den Auersberger, der daraufhin zu husten anfing. Wahrscheinlich ist unsere Zeit keine Zeit für Stückeschreiber, sagte er. Taucht ein Talent auf, stellt sich nach kurzer Zeit heraus, daß es gar keines ist, sagte er. Was für ein Dreck doch von der Presse gelobt wird, sagte er. Unglaublich, was alles heute als Talent bezeichnet wird, -1 1 4
überhaupt, was heute für dramatische Kunst gehalten wird. Es war widerlich, was er sagte. Wissen Sie, das ahnen Sie ja nicht, was es heißt, mit unbegabten Menschen auf die Probe zu müssen und sich wochenlang und unter Umständen monatelang abplagen zu müssen. Die jungen Leute auf dem Theater sind heute alle verzogen, sagte er, die Zeitungen schreiben alle Augenblicke, diese jungen Leute seien talentiert, sie seien Genies, während sie doch nichts anderes als unbegabt sind, tatsächlich nicht das geringste Talent haben und das Hervorstechendste an ihnen doch nur die Faulheit ist. Wie ja überhaupt diese heutige Jugend durch und durch verzogen ist, verwöhnt worden ist auf die dümmste Weise, sagte der Burgschauspieler. Gerade während der Wildentearbeit habe ich gesehen, wo es dieser Jugend fehlt. Disziplinlosigkeit, oberstes Prinzip anscheinend, sagte der Burgschauspieler. Aber der Gregers ist doch ganz hervorragend, sagte die Jeannie Billroth jetzt, worauf der Burgschauspieler entgegnete, alle sagen sie, dieser Gregers sei gut, ich verstehe nicht, was die Leute an diesem Gregers finden, ein durchschnittlicher Gregers, wie ich finde, ganz und gar ein durchschnittlicher Gregers, sagte der Burgschauspieler, geradezu eine Fehlbesetzung. Da nur die Schriftstellerin Jeannie die Wildente im Akademietheater gesehen hatte und die übrigen überhaupt nicht gewußt hatten, was die Wildente eigentlich ist, erst mit der Zeit, daß es sich um ein Theaterstück handle, waren sie zum Schweigen verurteilt, ab und zu nickten sie, schauten direkt in das Gesicht des Burgschauspielers oder augenblicklich von diesem weg auf die Tischdecke, oder ganz einfach in ihrer Ausweglosigkeit in ihr Gegenüber; sie hatten gar keine Chance, sich an dem zu beteiligen, das der Burgschauspieler zum besten gegeben hat, deshalb so ungeniert, weil ihn kein Mensch daran gehindert, im Gegenteil, die Auersberger ihn immer wieder dazu aufgefordert hatte, zu reden, und da er gerade aus der Wildente gekommen war, redete er naturgemäß andauernd von der Wildente im Akademietheater und ihren Zusammenhängen. Es sei ja auch ein Wunder, daß die Wildente in Wien angesetzt worden ist, mehrere Male sagte er angesetzt worden ist, denn in Wien sei, die Wildente ansetzen, ein Wagnis. Schließlich sei die Wildente -1 1 5
ein modernes Stück, sagte er, er entblödete sich nicht, das zu sagen über ein Stück, das gerade hundert Jahre alt geworden war und auch noch nach hundert Jahren so großartig ist wie zur Zeit seiner Entstehung, aber es als modern zu bezeichnen, ist doch ein Unfug. Dem Wiener Publikum die Wildente vorzusetzen, sei nicht nur ein Wagnis, sagte der Burgschauspieler, es sei ein ganz großes Risiko. Die Wiener gingen ganz einfach mit der Moderne, wie er sich ausdrückte, nicht mit, seien niemals mit der sogenannten Moderne mitgegangen und gingen am liebsten immer wieder nur in die klassischen Stücke und die Wildente sei kein klassisches Stück, sondern ein modernes, allerdings, meinte er, könne es sein, daß die Wildente einmal ein klassisches Stück werde, daß Ibsen ein Klassiker werde, wie Strindberg, sagte der Burgschauspieler. Er habe manchmal das Gefühl, Strindberg sei der größere Dramatiker, nicht Ibsen, ebenso manchmal aber auch das Gefühl, daß es sich genau umgekehrt verhalte, daß Ibsen Strindberg überlegen sei, daß Ibsen mehr Aussicht darauf habe, einmal Klassiker zu sein, als Strindberg. Einmal denke ich, das Fräulein Julie ist es, dann wieder, ein Stück wie die Wildente ist es. Aber wenn wir auf Strindberg zuviel geben, sagte er, machen wir uns an Ibsen schuldig, wie wir uns an Strindberg schuldig machen, wenn wir auf Ibsen zuviel geben. Er persönlich, sagte er, liebe die nordische Art zu dichten, Theater zu machen. Er habe auch Edvard Munch immer geliebt, den Schrei habe ich immer geliebt, sagte er, den Schrei, den Sie doch alle kennen, sagte er, was für ein außerordentliches Kunstwerk. Ich bin extra nach Oslo gefahren, um mir den Schrei anzuschauen, sagte er, damals, wie der Schrei noch in Oslo gewesen ist. Das heißt nicht, daß ich eine Vorliebe für die skandinavischen Länder hätte, sagte er. Ich hatte dort immer Sehnsucht nach dem Süden, wenigstens nach Deutschland, sagte er. Stockholm, was für eine öde Stadt, ganz zu schweigen von Oslo, enervierend, sagte er, nervenzerstörend. Kopenhagen, nun ja. Die jungen Schauspieler drängen an die Burg, sagte er und werden, auch wenn sie kein Talent haben, aufgenommen, weil sie Beziehungen haben, weil einer ihrer Onkel Verwaltungsdirektor -1 1 6
der Volksoper oder Beamter der Bundestheaterverwaltung ist, sagte er. Eine Tante sitzt im Unterrichtsministerium und der Neffe wird gleich nach dem Reinhardtseminar an die Burg engagiert, sagte der Burgschauspieler, obwohl er nicht das geringste Talent hat. Dann sitzen diese Zwanzigjährigen in den Proberäumen herum und verstellen einem überall den Weg und sind nichts als ärgerlich. Bestenfalls Halbbegabungen, sagte der Burgschauspieler, die nur verkümmern mit der Zeit auf unserer ersten Bühne, und den wirklich begabten den Platz wegnehmen. Ich kann einem wirklich begabten jungen Menschen nur raten, niemals an das Burgtheater zu gehen, denn dann geht er schon gleich am Anfang seiner Entwicklung direkt in seine totale Zerstörung hinein, sagte der Burgschauspieler, und nahm sich von der Mehlspeise, einem sogenannten Mohren im Hemd, von welchem ich nur einen einzigen Bissen gegessen und mir dabei gedacht habe, daß ein solcher Mohr im Hemd viel zu schwer ist für ein so spätes Nachtmahl. Die ändern aßen aber alle ihren Mohren im Hemd auf, auch der Burgschauspieler, der, nachdem er schon die Hälfte seines Mohren im Hemd gegessen hatte, wieder auf die Wildente zurückgekommen war. Eigentlich hätte ich Wallenstein spielen sollen, ursprünglich sogar in dem neuen Calderon, aber daraus ist nichts geworden, gottseidank, muß ich jetzt sagen. Ich selbst habe nicht an einen solchen Erfolg gedacht, an einen so durchschlagenden Erfolg, sagte der Burgschauspieler. Die Wildente im Akademietheater und ein Erfolg, er selbst sei der total Überraschte. Im April mache ich meine obligate Spanienreise, sagte er, Andalusien, Sevilla, Granada, Ronda, sagte er und aß seinen Mohren im Hemd auf. Meine spanische Sehnsucht, sagte er, noch den letzten Bissen seines Mohren im Hemd im Mund; es war beinahe unverständlich, was er mit vollem Mund gesagt hatte, auch noch, als er, über sich selbst erschrocken, sagte, verzeihen Sie, und den Mohren-im-Hemd-Bissen hinunterwürgte. In den letzten Jahren habe ich mir angewöhnt, eine Spanienreise zu machen, habe sozusagen Italien den Rücken gekehrt. Spanien ist noch ein unberührtes Land, große Teile betreffend, karg, sagte er und wischte sich nicht nur den bärtigen Mund, sondern -1 1 7
auch gleich den ganzen Bart und die Stirn mit der Serviette ab. Karl der Fünfte, Prado, sagte er und schaute sich um. Ich bin ja kein Kunstkenner, sagte er, nur ein Kunstliebhaber, das ist der Unterschied. Allein wenn ich an Italien denke, wird mir übel, sagte er, dagegen habe ich direkt ein Lustgefühl bei dem Gedanken an Spanien. In Italien schreit alles mehr oder weniger zum Himmel, sagte er, in Spanien gibt es noch diese Geschichtskargheit, diese Geschichtsruhe, wissen Sie. Ein Schauspieler tut gut daran, einmal im Jahr eine größere Reise zu unternehmen, aber es muß ja nicht Afrika sein, auch nicht die Karibik muß es sein, für mich ist es Spanien, insbesondere das der Mancha, das mich regeneriert. Und ob Sie es glauben oder nicht, sagte er, ich habe eine große Vorliebe für den Stierkampf. Eine Hemingwa yähnlichkeit, sagte er, tatsächlich eine Hemingwayähnlichkeit. Aber ich bin nicht ein solcher Romantiker, wie Hemingway einer gewesen ist, doch mehr Verstandesmensch, sagte der Burgschauspieler, ich habe keine romantisch-amerikanische Auffassung vom Stierkampf, ich habe eine mehr wissenschaftliche Betrachtungsweise. Das Abgründige ist ja nicht romantisch, sagte er. Alles Abgründige ist nicht romantisch. Ja, sagte er plötzlich, der Selbstmord ist eine Modekrankheit unserer Zeit. Ich bin kein Selbstmordtypus. Joana, ein spanischer Name, zweimal sagte er, Joana, ein spanischer Name, dann lehnte er sich zurück und wollte vom Auersberger wissen, ob seine letzte Kantate schon gedruckt sei, die Universaledition druckt doch alle Ihre Kompositionen, sagte der Burgschauspieler. Der Auersberger sagte ja, sie hat auch meine letzte Kantate gedruckt. Wird Ihre Kantate auch in Wien aufgeführt? fragte der Burgschauspieler und der WebernNachfolger Auersberger antwortete, wahrscheinlich nein, denn in Wien könne seine komplizierte Kantate nicht erstklassig besetzt werden. Weder im Konzerthaus, noch im Musikverein, sagte der Webern-Nachfolger Auersberger mit hocherhobenem Kopf. In ganz Österreich gibt es keinen Flötisten, der das spielen kann, sagte der Auersberger. Aber in London ist es doch eine sehr gute Aufführung gewesen, wie ich höre, meinte der Burgschauspieler. Ja, sagte der Webern-Nachfolger Auersberger, in London allein sei es möglich, seine Kantate so -1 1 8
aufzuführen, wie er, der Auersberger, sich das vorstelle, ideal, und die Auersberger sagte gleich darauf auch ideal, beide sagten mehrere Male das Wort ideal, als ob aufeinmal alle das Wort ideal gesagt hätten, nur die Jeannie Billroth nicht. Die saß da und beobachtete mich die ganze Zeit, während der Burgschauspieler gesprochen hatte und es war diese ganze Zeit nichts anderes, als Haß gegen mich in ihr gewesen. Daß ich ihr vor dreißig und noch vor fünfundzwanzig Jahren Gedichte von Eluard vorgelesen und ihr gleichzeitig die Fußsohlen gekrault habe auf ihrem Sofa, war jetzt schon unvorstellbar, ihr Moliereszenen vorgespielt habe in ihrem Schlafzimmer, während sie mehr oder weniger nackt auf ihrem Bett gesessen war, immer wieder diese kurzen Moliereszenen, die sie von mir verlangt hat, nachdem ich sie offensichtlich mit meinen Joyce- und Valeryvorlesungen gelangweilt gehabt hatte, ihr jene Briefe vorgelesen habe, die ihr der sogenannte Ernstl aus dem Salzkammergut geschrieben hatte; sie hatte diese Briefe, die vertraulichsten, wie sie immer gesagt hatte und die sich denken lassen, nur von mir vorgelesen hören wollen, dachte ich jetzt, während sie mich, wie gesagt wird, mit ihren Blicken durchbohrte. Daß ich ihr stundenlang aus einem ihrer Romane vorgelesen habe, was sie genauso stundenlang in höchstem Grade befriedigt, wie mich enerviert hat und daß ich jener gewesen bin, dem der Titel zu diesem ihrem Roman eingefallen ist, nämlich Die Wildnis der Jugend, unter welchem Titel dieser Roman auch später erschienen ist, unglücklicherweise, dachte ich. Daß ich mit der Jeannie stundenlang im Prater spazierengegangen bin, mit ihr sogar einmal auf dem Riesenrad gefahren bin, während ich mit ihr über Pavese, Ungaretti und Pirandello gesprochen habe, mehrere Male in Kagran mit ihr gewesen bin, in Kaisermühlen, weil es mich mit ihr immer über die sogenannte Reichsbrücke und also ans nördliche Donauufer getrieben hat, dachte ich. Daß sie der erste Kunstmensch gewesen ist, den ich nach meinem Hochschulabschluß in Salzburg in Wien kennen gelernt habe, dachte ich. Daß sie die erste gewesen ist, der ich in Wien meine Gedichte vorgelesen habe und die diese Gedichte nicht gleich, wie ich es von zuhause gewohnt -1 1 9
gewesen war, abgelehnt hat, die mir also, wie gesagt werden kann, als erste literarischen Mut gemacht hat, gleich aus was für einem Grund, dachte ich jetzt. Daß ich die Jeannie Billroth einmal geliebt habe und jetzt schon länger als zwanzig Jahre hasse, wie umgekehrt sie mich. Die Menschen treffen aufeinander und gehen eine Freundschaft ein, halten diese Freundschaft jahrelang nicht nur aus, sondern intensivieren sie bis zum Zerreißen und hassen sich fortan jahrzehntelang, unter Umständen lebenslänglich, dachte ich. Jahrelang bin ich ja auch zur Jeannie Billroth gegangen, dachte ich, während der Burgschauspieler jetzt aufeinmal Anekdoten zum besten gab, sogenannte Theateranekdoten, wie sie in Wien beliebt sind und jede Wiener Gesellschaft, die sonst an ihren Lähmungserscheinungen sehr bald abzusterben drohte, am Leben erhalten. Die meisten Wiener Gesellschaften halten sich nur deshalb über ein paar abendliche Stunden, weil in ihnen fortwährend diese Theateranekdoten aufgetischt werden, so auch diese Gesellschaft in der Gentzgasse, die sich als künstlerisches Abendessen deklariert hat, dachte ich. Die Jeannie Billroth ist es schließlich gewesen, durch die ich die Auersberger, durch die ich schließlich auch die Joana kennen gelernt habe, dachte ich. Und die sogenannte Philosophennichte Jeannie Billroth habe ich durch einen Philosophen kennen gelernt, der mit meinem Großvater befreundet gewesen war und den ich damals, vor dreißig Jahren, in höchster Not und schon fast am Verhungern, wie ich sagen muß, in der Hietzinger Maxinggasse aufgesucht habe. Damals war auch die Hietzinger Maxinggasse meine Rettung gewesen, sagte ich mir, das sogenannte Johannstraußhaus, in welchem dieser mit meinem Großvater befreundete Philosoph gewohnt hat als Bruder eines Fagott und Horn blasenden Philharmonikers. Wie es mir, nachdem ich in Wien angekommen bin ohne einen Groschen, zum Verhungern und tatsächlich zum Selbstabtöten gewesen war, war ich doch mit letzter Kraft bis in die Maxinggasse gekommen, bis zu jener Adresse, die mir von meinem Großvater bekannt war und von welcher ich Rettung erhoffte, letztmögliche Existenzerrettung, dachte ich jetzt wieder, und die Maxinggasse hatte mich -1 2 0
gerettet, zuerst mit einem Schluck Milch, dann mit einem Abendessen und schließlich mit der Vermittlung an eine Schriftstellerin auf der Linken Wienzeile, die mich ihren Keller an der Kettenbrücke hatte ausräumen lassen und mir dafür soviel Geld gegeben hat, daß ich mich davon drei Tage über Wasser halten hatte können. Durch diese Schriftstellerin habe ich die Jeannie Billroth kennen gelernt, dachte ich jetzt, durch diese frühverstorbene Dichterin, von welcher ich damals ein paar Gedichte gelesen habe, die auf mich nicht ohne Wirkung geblieben sind. Daß ich mit der Jeannie sehr oft in Kilb gewesen bin, dachte ich, um mit ihr gemeinsam die Joana aufzusuchen; gemeinsam mit der Joana und der Jeannie und dem Fritz haben wir in Kilb unter anderem auch immer wieder die Eiserne Hand aufgesucht, zum Essen, zum Trinken, zum Kartenspiel, zur Ausgelassenheit, dachte ich. Die Jeannie ist es schließlich gewesen, die mich mit fast allen großen Schriftstellern des Zwanzigsten Jahrhunderts bekannt gemacht hat, sie mir also zum Lesen gegeben hat, die Jeannie von damals, dachte ich, nicht die, die jetzt mir gegenüber saß und mich schweigend haßte, dafür, daß ich mich ihr eines Tages entzogen habe, um nicht von ihr verschlungen zu werden, wie ich jetzt wieder dachte. Hätte ich mich der Jeannie nicht entzogen, sozusagen auf dem Höhepunkt meiner Beziehung zu ihr, ich wäre unweigerlich von ihr verschlungen und also vernichtet worden, denke ich. So bin ich von einem Tag auf den andern nicht mehr zu ihr gegangen, sie hatte auf mich gewartet, vergeblich. Hunderte Nachmittage, in welchen ihr Ernstl in seinem sogenannten Chemischen Institut gearbeitet hat, habe ich bei ihr verbracht, hinter zugezogenen Vorhängen ihr die großen Werke der großen Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhunderts vorlesend oder ihr zuhörend, wenn sie mir diese großen Werke der großen Schriftsteller des Zwanzigsten Jahrhunderts vorgelesen hat, dachte ich jetzt. Um dann, wenn ihr Ernstl nachhause gekommen ist, mit den beiden ein sogenanntes kaltes Nachtmahl oder ganz einfach ein zum wiederholten Male aufgewärmtes und dadurch unübertrefflich gutes Gulasch zu essen. Und wenn der Ernstl müde war und sich schon ins Bett gelegt hatte, verlangte sie von mir, daß ich -1 2 1
ihr noch einmal Joyce vorlese oder Saint- John Perse oder die Virginia Woolf, solange, bis ich vollkommen erschöpft gewesen war, dachte ich jetzt. Und ich bin von der Jeannie auch immer erst gegen zwei Uhr früh nachhause gegangen, den Kopf voller Weltliteratur durch die Radetzkystraße am Donaukanal entlang bis nach Währing. Wir hängen uns jahrelang an einen Menschen, dachte ich, der Jeannie jetzt ins Gesicht schauend, sind von diesem uns faszinierenden Menschen vollkommen abhängig schließlich und ihm nicht nur mit Haut und Haaren, wie gesagt wird, verfallen, sondern ihm tatsächlich vollkommen ausgeliefert, wenn wir ihn verlassen, wie wir glauben und wie ich damals geglaubt habe, erledigt und gehen doch eines Tages nicht mehr hin, geben gar keinen Grund an, warum, suchen ihn nicht mehr auf, diesen Menschen und meiden ihn von da an, fangen an, ihn zu verachten, ja zu hassen, treffen ihn nicht mehr. Und dann treffen wir ihn und kommen in eine fürchterliche Erregung hinein, dachte ich jetzt, und können dieser Erregung nicht Herr werden. Alle diese auf dem Begräbnis in Kilb angetroffenen Leute sind mir mehr oder weniger gleichgültig gewesen, dachte ich jetzt, selbst die auersbergerischen Eheleute, aber daß ich die Jeannie getroffen habe, hat mich doch vom ersten Moment an aufgeregt. An alle hatte ich gedacht, wie ich nach Kilb gefahren bin, nur nicht an die Jeannie und naturgemäß nicht an die fürchterliche Tatsache eines Zusammentreffens mit ihr. Da war sie und gab mir sogar die Hand auf dem Kilber Friedhof, hatte sogar ein Lächeln für mich übrig gehabt, dachte ich jetzt, aber ein mehr oder weniger vernichtendes. Aber möglicherweise war ich ihr mit einem ebensolchen vernichtenden Lächeln auf dem Kilber Friedhof begegnet. Ich haßte sie, wie sie am offenen Grab stand und da ihre Lebensfreundinnenrolle spielte, dachte ich jetzt, so nahe an das Grab herangegangen war, wie kein Anderer, mit raffinierter Handbewegung ihre Erde aus der Kirchendienerschaufel in die offene Grube geworfen hat. Bevor sie mich umbringt, habe ich damals, vor bald dreißig Jahren, gedacht, entziehe ich mich ihr, gehe ich nicht mehr in ihre Wohnung und ich hatte mich, wie gesagt werden kann, aus dem Staub gemacht. Ich war aber nicht, wie es den Anschein haben könnte, schäbig gewesen, ich -1 2 2
hatte aus Notwehr gehandelt, aus Überlebensangst, dachte ich jetzt und gab mir auch gleich eine Entschuldigung, die ich von niemand anderem als von mir selbst erwarten konnte, auch nicht forderte. Wir treffen auf einen Menschen im richtigen Zeitpunkt und nehmen alles für uns Wichtige von diesem Menschen auf, dachte ich und verlassen diesen Menschen wieder zum richtigen Zeitpunkt, dachte ich. Ich bin genau im richtigen Zeitpunkt mit der Jeannie Billroth zusammengetroffen und habe sie zu demselben richtigen Zeitpunkt wieder verlassen, dachte ich. Wie ich immer alle zu dem genau richtigen Zeitpunkt wieder verlassen habe, dachte ich jetzt. Wir folgen dem Geisteszustand eines Menschen wie der Jeannie, ihrem Gefühls- und Geisteszustand und nehmen eine Zeitlang nur diesen Geistes- und Gefühlszustand in uns auf und wenn wir glauben, daß wir davon genug aufgenommen haben und also davon genug haben, brechen wir die Beziehung zu diesem Menschen ab, wie ich die Beziehung zur Jeannie dann einfach abgebrochen habe. Wir saugen aus einem solchen Menschen jahrelang alles heraus und sagen aufeinmal, er, dieser Mensch, den wir beinahe zur Gänze ausgesaugt haben, sauge uns aus. Und mit dieser Gemeinheit müssen wir dann lebenslänglich fertig werden, dachte ich jetzt. Und wie ich mich von der Jeannie getrennt hatte, bin ich sozusagen mit fliegenden Fahnen zu den Auersbergerischen übergelaufen und tatsächlich zur Joana, hatte mit der Jeannie, der ich damals beinahe alles verdankte, gebrochen, sie ganz einfach stehengelassen für die Auersbergerischen und für die Joana, zuerst zwei, drei Jahre für die mich sogleich faszinierenden Auersbergerischen, dann für die Joana, denn Tatsache ist ja, daß ich in dem Augenblick, in dem ich auch die Auersbergerischen stehengelassen habe, mich ihnen sozusagen entzogen habe, mich voll und ganz, wie ich sagen muß, auf die Joana gestürzt habe, also nach dem zuerst inneren, dann auch äußeren Aufgeben der Gentzgasse und Maria Zaals, auf den Sebastiansplatz, nachdem ich bei der Jeannie und durch die Jeannie die Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts kennen gelernt hatte, wie ich sagen muß, und diese Kenntnisse dann durch die Auersbergerischen mir auf -1 2 3
das Unglaublichste hatte erweitern können, mir also durch die Jeannie und die Auersbergerischen die sogenannte Dichtkunst und vor allem die Dichtkunst des Zwanzigsten Jahrhunderts, aufeinmal kein Geheimnis mehr gewesen ist, habe ich mich auf die sogenannte Bildende Kunst gestürzt, habe ich mein ganzes Interesse auf diese sogenannte Bildende Kunst gerichtet und auf die Schauspielerei und naturgemäß, weil die Joana ja allein darin in ihrem eigentlichen Element gewesen ist, auf die Bewegungskunst, auf den Tanz, auf das Choreographische, dachte ich jetzt. Rückblickend habe ich also doch eine für mich ideale Entwicklung genommen, dachte ich jetzt, der Jeannie gegenüber sitzend, und ich dachte, ich habe mir diese Entwicklung genommen, also nicht, ich habe diese Entwicklung, die absolut eine ideale ist, genommen, sondern ich selbst habe mir diese ideale Entwicklung genommen, diese für mich ideale künstlerische Entwicklung, wie ich jetzt dachte. Und ich hatte Gefallen an diesem Gedanken vor allem wegen dieses mir aufeinmal selbst ganz geläufigen Begriffes der künstlerischen Entwicklung, denke ich. Meine Entwicklung hätte ja nicht idealer sein können, folgerichtiger, dachte ich jetzt, also zuerst auf die Schriftstellerin Jeannie Billroth, dann auf die Auersbergerischen und schließlich auf die Joana zu kommen und mit der Jeannie gleichzeitig auf ihren chemischen Ernstl und mit der Joana auf ihren Tapisseristen Fritz; ich hätte keinen glücklicheren Weg als idealen Weg nehmen können, dachte ich jetzt. Und doch haßte ich jetzt die Jeannie, die, mir gegenüber sitzend, auch mich haßte. Einen Haß haßte, der natürlich genau zu analysieren wäre, wie ich dachte, aber den zu analysieren, ich keinerlei Lust habe, wie ich dachte, den möglicherweise aber die Jeannie für sich längst analysiert hat. Und ein solcher Mensch schreibt am Ende eine wertlose sentimentale Prosa und genauso wertlose sentimentale Gedichte und ist am Ende ganz und gar in die allgemeine Senkgrube der Kleinbürgerlichkeit hinein gefallen, dachte ich. Wir verehren einen Menschen und verehren ihn jahrelang, bis wir ihn plötzlich hassen und wir wissen zuallererst gar nicht warum, dachte ich. Und wir empfinden es als nichts anderes, als eine gemeine Unerträglichkeit, daß dieser Mensch, den wir solange verehrt, wenn nicht gar wirklich geliebt haben -1 2 4
und der uns sozusagen die Augen und die Ohren für alles und also die ganze Welt, und vor allem für die künstlerische Welt geöffnet hat, am Ende eine so miserable eigene Kunst gemacht hat, einen fürchterlichen Dilettantismus betrieben hat selbst, während er ununterbrochen nur von dem höchsten und von dem allerhöchsten Anspruch gesprochen und uns selbst in diesem höchsten und allerhöchsten Anspruch gelenkt und erzogen hat so viele Jahre. Das verstehen wir ganz einfach nicht, daß ein solcher Mensch selbst am Ende nur das Wertloseste und also Abstoßendste gemacht hat, dachte ich jetzt und wir verzeihen ihm nicht, weil er uns dadurch ja tatsächlich hintergangen und betrogen und uns diesen sogenannten allerhöchsten Anspruch nur vorgemacht hat. Durch ihren eigenen Dilettantismus hat dich die Jeannie hintergangen und betrogen, sagte ich mir, während ich zuschaute, wie sie jetzt auch voller Abneigung und Haß, das über sich ergehen ließ, das der Burgschauspieler noch immer zum besten gab, zurückgelehnt in seinem Sessel wie die Anderen, darauf wartend wahrscheinlich, wie ich dachte, daß die Auersberger die doch schon steife und starre Tischgesellschaft auflösen und in das Musikzimmer zurückbitten wird. Nichts ist mir widerwärtiger, als die Wiener ihre Anekdoten erzählen zu hören und jetzt muß ich auch diese Perversität noch über mich ergehen lassen, dachte ich. Wie eine Aufbahrungshalle empfand ich aufeinmal das auersbergerische Speisezimmer, wahrscheinlich auch vor allem deshalb, weil die Auersberger inzwischen das elektrische Licht vollkommen ausgedreht hatte und nurmehr noch die Empirelampen mit ihren echten Wachskerzen auf dem Speisezimmertisch leuchteten. Von der ganzen Speisezimmereinrichtung sah man jetzt nurmehr noch die Konturen, nicht mehr, wie perversschön es in Wirklichkeit war, zu schön, wie ich immer gedacht habe, also nurmehr noch seine traurig-theatralische Düsternis, die zu dieser ganzen Gesellschaft paßte, die jetzt tatsächlich nurmehr noch gespannt auf das Zeichen der Auersberger zum Aufbruch auf die bequemeren Sessel im Musikzimmer wartete, und in einer durch den Tod der Joana vor allem, aber auch durch die späte -1 2 5
Stunde erzeugten Trauerstimmung mehr oder weniger, wie ich dachte, schon zu Boden gedrückt war. Tatsächlich hatte jetzt nicht einmal mehr der Burgschauspieler Lust, etwas zu sagen. Er lockerte sich die Krawatte, indem er sich den obersten Hemdknopf öffnete und etwas von frischer Luft murmelte, worauf die Auersberger sofort aufgesprungen ist, um ein Fenster zu öffnen. Sie öffnete das hofseitige Fenster, weil sie sich von da herein eine frischere Luft erwartete, als von der Straßenseite und ging ins Musikzimmer hinaus und kehrte von dort wieder ins Speisezimmer zurück und setzte sich wieder an den Speisezimmertisch. Alles habe sie der Joana zugetraut, nur nicht, daß die sich umbringt, sagte die Auersberger, nachdem sie sich wieder an den Speisezimmertisch gesetzt hatte. Der Burgschauspieler kam wieder auf seinen nach München gegangenen Kollegen zu sprechen, der von Anfang an ein unglücklicher Mensch gewesen sei, wie er sagte, alle diese Selbstmörder, sagte der Burgschauspieler, seien immer schon von Anfang an unglückliche Menschen, einmal mehr und einmal weniger unglücklich, aber doch immer unglücklich, schließlich bringen sie sich um, das sei in Wahrheit noch bei keinem eine Überraschung gewesen, meinte er. Er habe die Idee, daß die Joana den Burgschauspielern das Gehen beibringen sollte auf Betreiben der Bundestheaterverwaltung, damals als verrückte Idee empfunden. Die Bundestheaterver waltungsbeamten kommen immer auf solche verrückten Ideen, sagte er, sie wollen solchen Leuten, wie der Joana, helfen, sagte er, aber kommen dabei nur auf eine verrückte Idee. Die Burgschauspieler können gehen, sie können auch stehen und sitzen und liegen, sagte er, er erinnere sich genau an Bemerkungen eines Wiener Kritikasters, so drückte er sich aus, die dieser Kritikaster in der Presse veröffentlicht habe, in welcher davon die Rede gewesen sei, daß die Burgschauspieler nicht gehen und nicht sprechen könnten oder wenigstens nicht gleichzeitig gehen und sprechen. Schreibt ein Kritiker einen solchen Unsinn, sagte der Burgschauspieler, greift ihn die Bundestheaterverwaltung sofort auf und engagiert jemanden, der den Burgschauspielern gehen und sprechen beibringen solle, sagte er, sie haben ja auch eine Sprechkraft -1 2 6
engagiert damals, damit die Burgschauspieler sprechen lernen, absurd, so der Burgschauspieler. Aber wenn es unserer lieben Toten geholfen hat, sagte der Burgschauspieler, hat es ja seinen Sinn gehabt. Während der Burgschauspieler das gesagt hatte, war mir eingefallen, wie niederträchtig sich die Jeannie nach dem Begräbnis in Kilb benommen hat; wie sie nämlich, nachdem das Begräbnis zuende gewesen war, zur Gemischtwarenhändlerin hingegangen ist und dieser einen Hundertschillingschein in die Hand gedrückt hat für die Telefonate, die die Gemischtwarenhändlerin von Kilb aus mit ihr, der Jeannie, geführt habe, um ihr, der Jeannie, den Tod der Joana mitzuteilen. Keine zehn Schritte vom offenen Grab entfernt, hat die Jeannie der Gemischtwarenhändlerin den Hundertschillingschein in die Hand gedrückt, dachte ich, auf die geschmackloseste Weise den Hundertschillingschein ihr so in die Hand gedrückt, daß sich die Gemischtwarenhändlerin hatte beleidigt fühlen müssen und die durch diese abstoßende Handlungsweise der Jeannie auch beleidigt gewesen ist, denn einem Menschen wie der Gemischtwarenhändlerin, fällt es niemals ein, für ein Telefonat, in welchem sie den Tod ihrer Freundin sozusagen einer anderen Freundin der Toten mitteilt und nichts als das, Geld abzuverlangen. Aber Geschmacklosigkeiten wie diese, hat sich die Jeannie immer geleistet, dachte ich; sie ist dieselbe geblieben. Aber nicht genug, ist die Jeannie, nachdem ich mit der Gemischtwarenhändlerin in die Eiserne Hand gegangen war nach dem Begräbnis, um mit der Gemischtwarenhändlerin noch einmal über die Joana zu sprechen, dort erschienen und hat die Unverfrorenheit gehabt, bei den in der Eisernen Hand anwesenden Begräbnisteilnehmern für den armen John zu betteln, der jetzt allein dastehe und der alles mit dem Begräbnis der Joana Zusammenhängende zu bezahlen habe, der keinen Groschen Geld besitze, aber für alles, Joanas Begräbnis Betreffende, aufkommen müsse; sie selbst gebe als Erste und fürs erste, wie sie sagte, fünfhundert Schilling. Immer hat sich die Jeannie als Samariterin aufgespielt, dachte ich jetzt und sich dadurch bei mir abstoßend gemacht, denn es war kein echtes Samaritertum, von dem sie gelenkt war, immer nur eine -1 2 7
widerliche Abart von mit dem Sozialen spielender Inszenesetzung, die sie praktizierte. Sie hatte die Eigenschaft, alle Andern ins Unrecht setzen zu wollen, lebenslänglich einen schwankenden und schlechten Charakter und dazu war ihr immer jedes Mittel recht gewesen, so auch in Kilb nach dem Joanabegräbnis. Sie hatte sich nicht entblödet, wie gesagt werden kann, eine leere Zigarrenschachtel in die Hand zu nehmen und ihren eigenen Fünfhundertschillingschein wieder hineinzulegen und damit von einem zum anderen Trauergast absammeln und also hausieren zu gehen, mit einem Ausdruck im Gesicht, der Ohrfeigen, aber kein Geld für den möglicherweise tatsächlich armen John verdient hätte. Von einem zum andern Trauergast ging sie, die Zigarrenschachtel hinhaltend und genau darauf achtend, was für eine Summe ihr Opfer hineinzulegen bereit gewesen war und schließlich hineinlegte. Alle hatten diesen Auftritt der Jeannie als geschmacklos empfunden und merkwürdigerweise war es gerade und ausgerechnet der Auersberger gewesen, der das auch ausgesprochen hat, dachte ich jetzt, denn er sagte damals aufeinmal der Jeannie ins Gesicht, wie geschmacklos, wie geschmacklos, wie geschmacklos du bist. Tatsächlich hatte der Auersberger dieses wie geschmacklos, zweimal wiederholt, also dreimal gesagt und ihr einen Tausendschillingschein in die Zigarrenschachtel geworfen. Am Ende war eine Summe von mehreren Tausenden von Schillingen und einhundertzwanzig Pfund meinerseits in der Zigarrenschachtel gewesen und die Jeannie ist an den Tisch getreten, an welchem der John und die Gemischtwarenhändlerin und ich gesessen waren und hat die Zigarrenschachtel vor dem John auf dem Tisch umgekippt und dabei so getan, als wäre es ihr Geld, also ihr Werk; ihr geschmackloses Werk ist das ja tatsächlich gewesen, dachte ich jetzt, aber ihr Geld durchaus nicht, ihre Geschmacklosigkeit, aber nicht ihr Geld, hatte ich mir damals gesagt, mich aber zurückgehalten, ihr das Wort ins Gesicht zu sagen, das ich schon auf der Zunge gehabt habe, das zutreffende Wort widerlich. Die Virginia Woolf von Wien, habe ich damals gedacht, die den John dazu benutzt hat, sich wieder einmal in soziale Szene zu setzen und die diesen John damit in eine der -1 2 8
größten Verlegenheiten seines Lebens gestürzt hat; am liebsten hätte der John sich damals, wie ich mich genau erinnere, unter dem Tisch in der Eisernen Hand verkrochen, aber das war ihm nicht möglich. Leute wie die Jeannie Billroth, die doch einmal wenigstens einen hohen Kunstverstand gehabt haben, sind, was das reale Leben betrifft und also den realen Umgang mit Menschen, vollkommen instinktlos, dachte ich. Und es ist nicht nur etwas daran an der Tatsache, daß sich die Jeannie im Laufe zweier Jahrzehnte von einer möglicherweise ursprünglich sogar begabten, ja durch und durch talentierten Künstlerin, zu einer kleinbürgerlichen skrupellosen Sozialheuchlerin scheußlichster Prägung entwickelt hat, dachte ich jetzt. Aber diese Sozialheuchelei ist schon immer in ihr gewesen, dachte ich, nur war mir damals, vor dreißig und noch vor zwanzig Jahren, die ganze Widerwärtigkeit dieses Begriffs an ihr noch nicht in so deprimierender Weise aufgefallen wie heute, dachte ich, waren mir überhaupt damals ihre Schwächen und also generellen Übelkeiten nicht aufgefallen. Wir sehen lange Zeit nur eine Seite eines Menschen, weil wir eine andere gar nicht sehen wollen aus Selbsterhaltungstrieb, dachte ich, bis wir aufeinmal alle Seiten eines solchen Menschen sehen und davon abgestoßen sind, dachte ich. Über zwei Stunden bin ich in der Eisernen Hand gesessen, dann habe ich mich verabschiedet, nachdem kurz vorher die Jeannie mit den Auersbergerischen nach Wien zurückgefahren ist. Wieder sah ich jetzt diesen auftrumpfenden Fichtenkranz, an den eine silbrig-glänzende Schleife mit dem Aufdruck Von Jeannie geheftet gewesen war, den der Kirchendiener genau so auf den Blumenhaufen am offenen Grab gelegt hat, daß alle nur diesen einen Namen Jeannie zu Gesicht bekommen haben; nicht, daß ich glaube, die Jeannie habe den Kirchendiener dazu veranlaßt, ihren Kranz in das beste Licht zu rücken, das glaube ich wirklich nicht, aber die Tatsache, daß ausgerechnet der Kranz der Jeannie mit dem Von Jeannie von dem Kirchendiener in das beste Licht gerückt war, empfand ich doch als charakteristisch für den ganzen Auftritt der Jeannie in Kilb. Sie war auch die einzige gewesen, die mit den Einheimischen laut mitgebetet hat, was ich auch als beinahe unerträglich -1 2 9
empfunden habe, wenn ich in Betracht ziehe, daß die Jeannie ja gar nicht katholisch ist und zur christlichen Religion wenigstens mir gegenüber immer nur eine heruntermachende Einstellung gehabt hat. Sie gab sich fromm, das war das in erster Linie Abstoßende an der Zeremonie, kein Anderer hatte sich in dieser widerlichen Weise fromm gegeben wie sie, dachte ich. Überhaupt war sie so aufgetreten in Kilb, als wäre sie die beste Freundin der Joana gewesen, während sie, wie ich weiß, in Wirklichkeit die Joana schon an die zehn Jahre vor deren Tod im Stich gelassen hat, sich von der Joana genau in dem Augenblick zurückgezogen hat, in welchem sie ihr Fritz, der Paradekünstler vom Sebastiansplatz, verlassen hat. In dem Augenblick, in welchem es auf dem Sebastiansplatz sozusagen finster geworden ist, keine Feste mehr gegeben hat, auf dem Sebastiansplatz nichts mehr zu holen gewesen ist. Sie gab sich als die allerinnigste Freundin, während sie doch im Grunde schon an die zehn Jahre lang eine Abtrünnige der Joana gewesen war. Jetzt ließ sie diese perverse Von JeannieSchleife an ihren Kranz heften und glaubte, damit das Jahrzehnt ihrer Untreue wegwischen zu können, dachte ich und ich dachte, sie haßt mich, weil ich, gegen ihren Willen, schließlich doch Schriftsteller geworden bin, gleich was für ein Schriftsteller, aber doch Schriftsteller, also ein Konkurrent und nicht Schauspieler oder Regisseur oder Dramaturg, wie sie es sich gewünscht hatte und aus welchem Grunde sie mich wahrscheinlich ja ursprünglich mit der Joana eines Tages bekannt gemacht hat, dachte ich; sie hatte unter allen Umständen verhindern wollen, daß ich Schriftsteller werde, dachte ich, jetzt war ich Schriftsteller geworden und sie haßte mich dafür. In ihren Augen hatte ich ein Kapitalverbrechen begangen, indem ich doch Schriftsteller geworden bin, doch, doch, doch, immer wieder muß ich sagen, doch, wo sie es immer wieder verhindern hatte wollen, dachte ich. Und ich dachte, mit was für einem Haß sie mich in den letzten zwanzig Jahren in ihrer Literatur in der Zeit verfolgt hat, alles von mir Veröffentlichte in der Literatur in der Zeit niedergemacht hat, wenigstens immer versucht hat, es niederzumachen. Und hat sie selbst meine Arbeiten nicht niederzumachen versucht in -1 3 0
ihrer Literatur in der Zeit mit infamen Artikeln, in verleumderischen Aufsätzen, so hat sie sich nicht gescheut, Andere, auf sie angewiesene brotsuchende Schreiber gegen mich einzuspannen, dachte ich jetzt. Aber meine Aufregung war lächerlich, ich machte mich, indem ich mich über einen solchen Unsinn aufregte, tatsächlich vor mir selbst lächerlich und ich sagte mehrere Male zu mir, aber doch so, daß nur ich es hören habe können, du machst dich lächerlich, du machst dich vor dir lächerlich, du hast dich vor dir lächerlich gemacht. Was für ein widerlicher Mensch bist du, sagte ich mir und gleichzeitig in mich hinein, so, daß es niemand hören konnte und immer wieder und wieder in einer immer größeren Erregung. Du hast die Jeannie verraten, nicht sie dich, sagte ich mir mehrere Male und wiederholte dieses Zumirgesagte immer wieder solange, bis ich vollkommen erschöpft gewesen war. Es war schon halb drei Uhr früh und die Leute saßen alle noch im Speisezimmer. Und der Burgschauspieler redete und alle Anderen hörten zu und in Wahrheit hat während dieses ganzen künstlerischen Abendessens im Grunde nur der Burgschauspieler geredet, weil die Andern viel zu müde waren, um auch zu reden und nur die Jeannie Billroth hatte ab und zu etwas gesagt, etwas meiner Meinung nach immer Unzutreffendes, Hilfloses, aber auch mehrere Male eine Gemeinheit, eine Niederträchtigkeit, wie auch der Auersberger und die Auersberger, aber von den Andern, immerhin waren ja noch sieben oder acht oder zehn oder zwölf Andere zu dem künstlerischen Abendessen gekommen, hatte keiner etwas gesagt die ganze Zeit, lange Zeit wußte ich gar nicht, wieviele überhaupt gekommen waren und ob ich auch alle kenne, natürlich kannte ich sie alle, aber ich habe mich mit ihnen nicht beschäftigt, sie waren die ganze Zeit Kulisse geblieben, dachte ich. Die meisten Menschen interessieren einen wirklich nicht, habe ich die ganze Zeit gedacht, fast alle, denen wir begegnen, interessieren uns nicht, sie haben uns nichts zu bieten als ihre Massenarmseligkeit und ihre Massendummheit und langweilen uns dadurch immer und überall und wir haben naturgemäß für sie nicht das geringste übrig. Ganz von selbst haben sie sich uns gegenüber unsinnig und uninteressant gemacht, dachte ich, zu Tausenden, zu -1 3 1
Zehntausenden, zu Millionen, wenn wir in die Geschichte zurückblicken. Wie nichtssagend und nur auf die Nerven gehend eine Berühmtheit, wie der Burgschauspieler, sein kann, dachte ich jetzt, als ich den Burgschauspieler aufeinmal gähnen gesehen habe und darauf auch die Auersberger gähnen gesehen habe und darauf auch den Auersberger und wahrscheinlich hatten sie aufeinmal alle gegähnt, nur die Jean nie nicht und ich nicht, die wir uns gegenseitig nicht mehr aus den Augen gelassen haben. Die Virginia Woolf von Wien, die letztenendes doch nur die Frau ihres Ernstl und also die Chemikerfrau geblieben ist, schon alt geworden mit sechzig, wie andere erst mit siebzig oder gar achtzig, dachte ich. Die Wildnis der Jugend fiel mir ein und der Unsinn, den sie in diese Wildnis der Jugend hineingeschrieben hatte in der Meinung, es sei Weltliteratur, während es doch nur ihr Kleinbürgerkitsch gewesen ist. Sie haßt dich, sagte ich mir, und du verachtest sie, das ist die Wahrheit. Sie haßt dich aber nicht nur, weil du sie damals vor über zwanzig Jahren, ja schon fünfundzwanzig Jahren, verlassen hast und weil du Schriftsteller bist, sondern weil du zehn Jahre jünger bist als sie, das verzeihen solche Frauen nicht, daß sie zehn Jahre älter sind, dachte ich. Daß ich sie stehengelassen habe mit ihrem Ernstl in ihrer Zwei terbezirkswohnung und zur Joana übergewechselt bin, von der zehn Jahre älteren Schriftstellerin zur nur sechs Jahre älteren Bewegungskünstlerin, die anstatt einen Ernstl, einen Fritz gehabt hat. Aber immerhin hat die Jeannie noch heute ihren Ernstl, während die Joana schon zehn Jahre vor ihrem Tod ihren Fritz nicht mehr gehabt hat, dachte ich. Jetzt haßt sie mich mit einem noch viel größeren Haß, als vor fünfundzwanzig oder vor zwanzig Jahren, dachte ich. Sie haßt dich auf beispiellose Weise, sagte ich mir. Nein, nein, wenn die Auersbergerischen gesagt hätten, daß sie zu ihrem künstlerischen Abendessen auch die Jeannie eingeladen haben, wäre ich nicht in die Gentzgasse gekommen, dachte ich. Immer mache ich den Fehler, die Einladenden nicht zu fragen, was für Gäste sie außer mir noch eingeladen haben, dachte ich. Hätten sie gesagt, wir haben auch die Jeannie Billroth eingeladen, wäre ich auf keinen Fall in die Gentzgasse -1 3 2
gegangen, so bin ich gleich doppelt in die Gentzgassenfalle gegangen, dachte ich, gleich dreifach, gleich vierfach, tausendfach, wie ich dachte. Ich hätte das wissen müssen, daß zu einem solchen künstlerischen Abendessen in der Gentzgasse, noch dazu am Tag des Begräbnisses der Joana, selbstverständlich auch die Jeannie kommt, dachte ich, und ebenso selbstverständlich ohne den Ernstl, den sie ja nie mitgenommen hat zu den Künstlern, dachte ich. Und der auch kein Interesse an den Künstlern und an allem, das mit diesen zusammenhängt, hatte; niemals auch nur das geringste Interesse an dem gehabt hat, das die Jeannie interessiert hat, wie ich sagen muß, an nichts, das die Jeannie interessiert, hat ihr Ernstl jemals Interesse gehabt, er interessierte sich nur für seine Chemie und für die Jeannie selbst, für nichts anderes, tatsächlich ausschließlich für seine Chemie und das gemeinsame Bett mit der Jeannie. Und ich dachte, daß ich mich gerade an einem solchen Tag wie dem heutigen, der Jeannie nicht aussetzen hätte dürfen, denn sie hat jetzt eine nicht nur zerstörende, sondern schon vernichtende Wirkung auf mich gehabt und das auch sofort begriffen und mich nicht mehr in Ruhe gelassen; ich hatte keine Möglichkeit mehr, ihr zu entkommen, ich hätte auf- und davongehen können, aber dazu war ich in dieser Nacht schon zu schwach gewesen und andererseits hatte ich gedacht, daß ich auch diese Nacht in der Gentzgasse überstehe, wie ich schon viele Hunderte solcher Nächte, also solcher Gesellschaftsnächte, solche sozusagen unerträglichen Gentzgassennächte überstanden habe. Schließlich habe ich bis jetzt noch jede Gesellschaft überstanden, dachte ich. Der Burgschauspieler hatte sich im Musikzimmer in einen Fauteuil gesetzt, er hatte sich naturgemäß als Erster in einen Fauteuil gesetzt, erst nach ihm hatten die Anderen in den verschiedenen Winkeln des Musikzimmers Platz genommen gehabt. Achja, habe ich gedacht, wie ich tatsächlich wieder als Letzter aus dem Speisezimmer in das Musikzimmer gegangen bin, mich mehr oder weniger aus dem Speisezimmer in das Musikzimmer geschleppt habe, jetzt wird womöglich die Auersberger noch ein, zwei Arien singen, aber ich hoffte doch, da es ja schon drei -1 3 3
Uhr war inzwischen, daß sie auf ihre Gesangskunst verzichtet, also, daß sie jetzt nicht mehr singt, was ihr der Auersberger vorher schon aufgeschlagen hatte, das Purcell-Notenbuch. Tatsächlich verschonte mich die Auersberger mit ihrem Gesang, der ja, wie ich sagen muß, immer von großem Reiz gewesen ist, zugegeben, daß die Auersberger in Wahrheit immer eine besonders schöne Stimme gehabt hat, wahrscheinlich sogar eine Stimme, die ich ohne weiteres als eine allererste bezeichnen hätte können jederzeit, dachte ich, als ich mich als Letzter in einen der Musikzimmerfauteuils setzte; auch das Musikzimmer war in Empire eingerichtet, noch immer so, wie vor dreißig Jahren, wie gesagt werden kann, mit Kostbarkeiten angefüllt, die heute gar nicht mehr zu bezahlen wären, mit lauter Erbstücken, die ihr Vater entweder aus der Steiermark nach Wien bringen hatte lassen, aus dem Maria Zaaler Besitz, oder sich in Wien angeschafft hatte unter den allergünstigsten Umständen, weil er mit einem Antiquitätenhändler im Dritten Bezirk wohlbekannt gewesen war, wie ich weiß, der sich aus vielen Gründen nur als Altwarenhändler bezeichnete, obwohl er im Grunde immer nur mit Kostbarkeiten gehandelt hat und der mit dem Vater der Auersberger jahrelang in Tauschgeschäften in Beziehung gestanden war; der Auersberger behandelte die Krankheiten des sogenannten Altwarenhändlers, der seinerseits als Gegenleistung dem alten Auersberger alles mögliche Josefinische und überhaupt alles Empiremöbelwerk, aber auch die schönsten Biedermeierstücke verschaffte, ohne daß der alte Auersberger dafür auch nur einen Groschen zu zahlen hatte. Damals vor dreißig Jahren, dachte ich, habe ich dieses Musikzimmer geliebt, es immer für mich als das schönste josefinische Zimmer, das ich jemals gesehen habe, bezeichnet. Aber wie gesagt, war es doch, wie ich später aufeinmal dachte, zu schön, zu perfekt eingerichtet, und dadurch unerträglich. Jetzt in ihm mich umschauend, war ich nurmehr noch abgestoßen davon, wahrscheinlich auch deshalb, weil ich inzwischen, also im Laufe der vergangenen Jahrzehnte auf derartige, wie gesagt wird, antik eingerichtete Zimmer nicht mehr denselben großen Wert legte, sich überhaupt meine -1 3 4
frühere größte Begeisterung für alte Möbelstücke längst abgeschwächt, ja sich beinahe schon in Abneigung und Haß gegen sie umgekehrt hatte. Die Leute richten sich alt ein, umgeben sich mit Möbeln einer schon Jahrhunderte vergangenen Zeit, die sie überhaupt nichts angeht und sind allein dadurch schon verlogen, dachte ich. In Wirklichkeit sind sie gegenüber ihrer eigenen Zeit so schwach, daß sie sich mit den Möbeln einer längst vergangenen, längst abgestorbenen und längst toten Zeit umgeben müssen, um sich über Wasser halten zu können, wie gesagt werden kann, dachte ich, also Ausdruck eines ganz und gar üblen Schwächezustandes ist es im Grunde immer, wenn sich Leute mit Möbeln einrichten aus den vergangenen Zeiten, nicht mit solchen ihrer Zeit, deren Härte und Brutalität sie nicht ertragen, dachte ich. Sie umgeben sich mit der Weichheit des Abgestorbenen, aus welchem jeder Widerspruch unmöglich geworden ist, denke ich. Die Auersbergerischen, denen immer ein sogenannter guter Geschmack nachgesagt worden ist, haben im Grunde niemals einen guten Geschmack gehabt, nur einen nachempfundenen guten Geschmack, wie sie ja überhaupt nie etwas eigenes gehabt haben, immer nur ein Nachempfundenes, auch kein eigenes Leben haben, keine eigene Existenz haben im Grunde, nur eine nachempfundene. Das ist das Widerliche an den Auersbergerischen, dachte ich. Nicht sie selbst sind im Grunde immer der Mittelpunkt ihrer Gesellschaften gewesen, sondern nur ihre Möbel und anderen Kostbarkeiten aus früheren Jahrhunderten, nicht sie selbst haben sie immer sprechen lassen in ihren Behausungen, sondern ihre Möbel und anderen Kunstgegenstände und ihr Geld, dachte ich, wie sie ja auch an diesem Abend und in dieser Nacht nicht sich selbst sprechen lassen, sondern ihre Einrichtung und ihr Geld, dachte ich. Bei diesem Gedanken ist mir ihre ganze Armseligkeit bewußt geworden. Sie, die Auersbergerischen, glauben immer, daß sie selbst von den Leuten bewundert werden, während die Leute, die zu ihnen kommen, im Grunde nur ihre Möbel und ihre anderen Kunstgegenstände bewundern und das raffinierte Arrangement, mit welchem die Auersbergerischen ihre Möbel und anderen Kunstgegenstände in ihren Behausungen -1 3 5
aufgestellt haben. Sie glauben, die Leute bewundern sie, während sie nur ihre polierten Kasten und Kredenzen und Tische und Stühle und Sesselchen und ihre zahllosen Ölgemälde an den Wänden und ihr Geld bewundern, dachte ich. Wie es ja durchaus nicht ein abwegiger Gedanke ist, zu denken, daß es ihr Reichtum und der aus diesem ihrem Reichtum möglich gewordene mehr oder weniger unverschämte Lebensrhythmus ist, den die Leute bewundern, der alle Leute anzieht in Bewunderung für sie. Nicht nur Kleider machen Leute, auch Möbel und jahrhundertealte Kostbarkeiten, dachte ich. Aber in der Düsternis, die hier herrscht, ist es ja gar nicht möglich, auch nur eine dieser Musikzimmer-Kostbarkeiten zu sehen, dachte ich und ich hatte sie auch gar nicht sehen wollen, denn mit Sicherheit wäre ich jetzt davon abgestoßen gewesen. Wie ich an diesem Abend und in dieser Nacht von dieser ganzen, wie mir auch jetzt wieder schien, perversen Gentzgassenwohnung abgestoßen gewesen war. Diese überall einem gar zu aufdringlich in die Augen springende Perfektion ist ja auch nichts als abstoßend, habe ich gedacht, wie überhaupt Wohnungen, in welchen, wie gesagt wird, alles stimmt, nichts und rein gar nichts aus dem Rahmen fällt und auch niemals aus dem Rahmen fallen darf, widerwärtige Wohnungen sind. Wir sind von diesen Wohnungen abgestoßen und würden uns in ihnen niemals zuhause fühlen, dachte ich, es sei denn, wir wären so, wie ich vor dreißig Jahren gewesen bin, wie ich zum ersten Mal in diese Wohnung gekommen bin, mehr oder weniger geistesabwesend. Ausgerechnet zwischen dem Schauspieler und dem Auersberger hatte ich mich im Musikzimmer niedergesetzt. Der Burgschauspieler schaute jetzt aus, wie ein pensionierter Infanteriegeneral und ich dachte, der volle Magen lähmt sogar seine Geschwätzigkeit, denn der Burgschauspieler war aufeinmal still gewesen, sein ganzes Gehabe war aufeinmal nurmehr noch ein militärisches, dachte ich, wie der Burgschauspieler die Beine ausstreckte. Solche exakte Bügelfalten haben nur Offiziershosen, dachte ich, Generalshosen, Generalfeldmarschallshosen. Die Auersberger ging mit einem Glaskrug voll Weißwein von einem zum andern, die ganze Gesellschaft war aber aufeinmal so müde geworden, -1 3 6
daß sie kaum mehr an Wein oder anderen Getränken Interesse zeigte, nur der Auersberger selbst trank auch jetzt noch, wie gesagt werden kann, ununterbrochen. Daß wahrscheinlich seine Aufnahme in die sogenannte Trinkerheilstätte Kalksburg wieder einmal kurz bevorstehe, dachte ich, ihn von der Seite betrachtend, seine eingefallenen Schläfen, an welchen dicke wässerige Backen hingen; wenn dieser Anblick nicht so abstoßend gewesen wäre, hätte ich ihn ganz einfach als grotesk empfunden, aber das konnte ich nicht, denn in Wahrheit bedauerte ich doch den Zustand des Auersberger aufs tiefste. Diesen Menschen hast du einmal mehr oder weniger geliebt, habe ich, ihn von der Seite betrachtend, gedacht, du bist diesem Menschen einmal, wie gesagt werden kann, vollkommen verfallen gewesen. Jetzt saß dieser Mensch aufgeblasen und aufgeschwemmt neben mir und hatte nurmehr noch die Möglichkeit, durch zeitweiliges Lallen auf sich aufmerksam zu machen. Wieder hat er diese grotesken Strickstrümpfe an, dachte ich, diese letztenendes doch nur geschmacklose gewalkte Bauernjacke, dieses an ihm noch mehr als an einem Andern lächerliche buntbestickte Naturleinenhemd mit dem Stehkragen. Die Auersberger litt ganz offensichtlich an dem pervers-geisteskranken Zustand ihres Mannes, konnte diesen Zustand nicht ändern, sie hatte den Auersberger eine Stunde vorher schon aus der Gesellschaft hinaus und zu Bett bringen wollen, aber es war ihr nicht geglückt, ein weiterer Versuch, ihren Mann, den alles in allem durch Trunksucht infantilen Auersberger, aus dem Fauteuil und also aus dem Musikzimmer hinaus und ins Bett zu bringen, scheiterte jetzt; der Auersberger hat sie mit dem vollen Weinglas in der Hand weggestoßen und sie dabei am Auge verletzt und außerdem den ganzen Wein auf dem Boden verschüttet und sie, wie schon den ganzen Abend, immer nur eine dumme Gans genannt wie vor dreißig Jahren. Mir waren diese Auersbergerszenen vertraut, ich kenne sie; diese war ja noch harmlos. Meistens endeten solche Abende damit, daß der Auersberger sein Weinglas an eine der auersbergerischen Wände geworfen und dazu auch noch an einer dieser Wände einen jener zierlichen und unbezahlbaren Empiresessel -1 3 7
zertrümmert hat, die alle Augenblicke bei einem Innenstadtrestaurator waren, den die Auersbergerischen auf diese und auch auf andere zerstörungswütige Weise viel beschäftigt haben. Ab und zu war der Auersberger ja noch in der Lage, etwas zu sagen, sogar ganze Sätze gelangen ihm noch, etwa der Satz Die Menschheit gehört ausgerottet, mit welchem er jetzt mehrere Male die Aufmerksamkeit dieser Musikzimmergesellschaft auf sich gezogen hatte, den er immer wiederholte, als Musiker mit exakt-mathematischer Rhythmisierung. Oder den Satz Die Gesellschaft gehört abgeschafft oder den Satz Wir sollten uns alle gegenseitig umbringen. Diese Sätze kannte ich zu gut, um sie noch als originell zu empfinden, aber sie waren mir an diesem Abend auch nicht mehr peinlich gewesen, wie vielleicht den Andern, die diese Sätze noch nicht von ihm gehört hatten, noch nicht von ihm kannten, wie der Burgschauspieler, der diese auersbergerischen Sätze offensichtlich vor diesem Abend noch nicht gehört hatte und für den sie peinlich gewesen waren, wie ich feststellte. Aber mein lieber Auersberger, was haben Sie denn? sagte der Burgschauspieler aufeinmal, was regen Sie sich denn so auf?, die Welt ist doch eine schöne Welt und die Menschen sind doch gute Menschen. Was regen Sie sich denn so auf und machen alles herunter, wo doch im Grunde alles seine Ordnung und seinen großen Reiz hat? sagte der Burgschauspieler und darauf: was betrinken Sie sich denn beinahe bis zur Bewußtlosigkeit und er schüttelte den Kopf und zog dann wieder an seiner Zigarre, die ihm die Auersberger angezündet hatte. Die Jeannie Billroth saß auch im Musikzimmer mir gegenüber, sie sagte nichts, beobachtete die Szene zwischen dem Auersberger, in den sie damals, vor dreißig Jahren, noch vor fünfundzwanzig Jahren, mehr noch als in mich, verliebt gewesen war und dem Burgschauspieler, von welchem sie sich noch im Speisezimmer eine sogenannte geistige Unterhaltung, wie sie das immer bezeichnet hat, gewünscht hatte, die aber nicht zustande gekommen war, weil der Burgschauspieler tatsächlich auf keine ihrer Fragen eingegangen ist, sich mit ihr überhaupt nicht in ein Gespräch eingelassen hat, ihr nicht die geringste Chance gegeben hat, -1 3 8
eine geistige Unterhaltung mit ihr zu führen, der Burgschauspieler hatte es vorgezogen, sich dem echten Fogosch zu widmen und sich ganz auf seine Witze und Anekdoten zurückzuziehen. Die Jeannie hatte immer eine von ihr so genannte geistige Unterhaltung haben wollen, das auch immer bei jeder Gelegenheit betont, daß es ihr im Menschenumgang immer nur um eine solche geistige Unterhaltung ginge, sie nur aus diesem einen und einzigen Grunde überhaupt Gesellschaften aufsuche, aber sie selbst hatte kaum jemals eine exakte, meistens nicht einmal eine ungefähre Vorstellung gehabt von dem, das sie als geistige Unterhaltung bezeichnete. Ein Burgschauspieler, mochte sie gedacht haben, wäre für eine solche geistige Unterhaltung recht, aber sie hatte sich getäuscht, der Burgschauspieler hatte alles an diesem Abend wollen, nur keine sogenannte geistige Unterhaltung, ja nicht einmal über Alltägliches sogenanntes Geistiges hatte er reden wollen, sich nicht einmal mit dem, das als sein Metier bezeichnet werden könnte, eingelassen. Immer wieder hatte die Jeannie versucht, den Burgschauspieler, wie gesagt werden kann, aus seiner Reserve zu locken, weil sie nicht gewußt hat, daß der Burgschauspieler gar keine Reserve hat, gar keine Reserve haben konnte, wie ich dachte, weil es sich bei dem Burgschauspieler im Grunde und letztenendes doch nur um einen von allen diesen auf dem Burgtheater engagierten und agierenden Dummköpfen handelt, die in geistiger Beschränktheit und tatsächlich insgesamt immer in Geistlosigkeit auf dem Burgtheater in die Jahre wachsen und alt werden. Auch im Gesicht dieses Burgschauspielers ist nichts, das auch nur im geringsten als geistig bezeichnet werden könnte, sagte ich mir, die Jeannie sah das nicht. Aber es war ja auch ziemlich instinktlos von ihr gewesen, gerade einen Schauspieler aufzufordern, über Theater zu reden, über Schauspielerei, also über seinen Lebensinhalt, was kein Mensch gern hat und im Grunde kein Mensch akzeptieren will, also duldet, Stellung zu nehmen zu dem, mit welchem er existieren und leben muß und das als sein Beruf oder auch, wie gesagt wird, als seine Berufung bezeichnet werden kann. Sie selbst hat es immer abgelehnt, über Schriftstellerei zu reden, -1 3 9
wie ich auch, denn naturgemäß ist mir, als Schriftsteller, nichts so verhaßt, als über Schriftstellerei reden zu müssen und ich habe es auch immer abgelehnt, darüber zu reden, damit sehr viele Leute immer wieder vor den Kopf gestoßen, aber dieses Vordenkopfstoßen haben alle diese Leute verdient in ihrer Instinktlosigkeit, dachte ich, daß ich tatsächlich vor nichts einen größeren Ekel empfinde, dachte ich, als über Schriftstellerei zu reden und am ekelhaftesten ist es mir, von meiner eigenen Schriftstellerei zu reden und die Jeannie glaubte, mit dem Burgschauspieler über Burgschauspielerei reden zu können, dachte ich. Neben der Jeannie saß die Gymnasiallehrerin Anna Schreker, die ich ebenso lange kenne, wie die Auersbergerischen und die ich immer mit den Auersbergerischen zusammen gesehen habe, immer nur bei ihnen in der Gentzgasse, nie in Maria Zaal und immer mit ihrem dichtenden Lebensgefährten zusammen, dachte ich, und die schon damals vor dreißig Jahren ihre abstoßende, zischende Aussprache gehabt hat. Von der Gymnasiallehrerin Anna Schreker ist immer gesagt und behauptet worden, sie sei die österreichische Gertrude Stein oder die österreichische Marianne Moore, während sie doch immer nur die österreichische Schreker gewesen ist, eine größenwahnsinnige Wiener Lokalschriftstellerin, und ich dachte jetzt, daß die Gymnasiallehrerin Schreker auch in den Fünfzigerjahren zu schreiben angefangen hat und mehr oder weniger denselben Weg gegangen ist, wie die Jeannie Billroth, also den Weg vom jungen Talent, zur abstoßenden Staatskünstlerin, von der schreibenden epigonalen Jungfrau, zur schreibenden epigonalen Matrone, den mittelmäßigen, nicht den Genie-Weg, wie ich jetzt denke, wie die Jeannie also von der Virginia WoolfBesessenheit zur Virginia Woolf-Pose, so die Schreker von der Marianne Moore- und Gertrude Stein-Besessenheit zur Marianne Moore- und Gertrude Stein-Pose. Beide, die Jeannie, wie die Schreker und deren Lebensgefährte, sind von ihren literarischen Ausgangsvisionen und Ausgangsintentionen und Ausgangsleidenschaften sehr bald und leider sehr gründlich eingeschwenkt in die verabscheuungswürdige Staatsanbiederungskunst als Literatur und haben sich, alle drei -1 4 0
auf dieselbe abstoßende Weise, gemein gemacht mit den verschiedensten Stadträten und Ministern und sonstigen öffentlichen sogenannten Kulturbeamten und sind aufeinmal Anfang der Sechzigerjahre, wie ich denke, für mich an einem ihnen allerdings angeborenen Charakterversagen über Nacht gestorben und haben sich sozusagen über Nacht genau zu jenen Widerwärtigen und Abstoßenden gemacht, von welchen sie selbst in bezug auf Andere immer nur mit der größten Verachtung gesprochen haben. Die Schreker wie die Jeannie haben, so denke ich, durch ihre mir aufeinmal augenfälligen Anbiederungen an den Staatsapparat, nicht nur sich selbst, sondern die ganze Literatur verraten, wie ich damals gedacht habe und wie ich heute denke und das verzeihe ich ihnen nicht und nie und es ist nicht klar, welche der beiden mit einer größeren Niederträchtigkeit. Genau in die Schweinerei, von welcher die beiden mir gegenüber in den Fünfzigerjahren immer gepredigt hatten, daß es die größte und unappetitlichste sei, sind die Jeannie Billroth wie die Anna Schreker aufeinmal schon Anfang der Sechzigerjahre auf ihre abstoßende opportunistische Weise selbst geradezu hineingekrochen. Dem Staat, den sie beide mir in den Fünfzigerjahren, also wie ich noch zwanzig gewesen war, immer als das, das er tatsächlich bis heute ist, als ein elementares Unglück für dieses unser ahnungsloses Volk, hingestellt haben, wie ich sagen muß, haben sie sich schon Anfang der Sechzigerjahre skrupellos unterworfen, sich in ihm aufgegeben auf verräterische Weise, denke ich. Die Schreker wie die Billroth, denke ich, haben sich, wie ich sagen muß, schon in den frühen Sechzigerjahren diesem scheußlichen und lächerlichen Staat mit Haut und Haaren verkauft und ich habe ja auch aus diesem Grunde vor allem mit der Jeannie ab diesem Zeitpunkt nichts mehr zu tun haben wollen. Die Schreker war mir immer nur eine sogenannte Randerscheinung gewesen, aber sie ist mir doch immer wie eine geistige und charakterliche Schwester der Jeannie vorgekommen. Hatte die Jeannie immer den Virginia WoolfWahn gehabt und also an einer Art wienerischer Virginia WoolfKrankheit gelitten, so hatte die Schreker immer schon den Marianne Moore-Wahn und den Gertrude Stein-Wahn gehabt -1 4 1
und hat an der Marianne Moore-Krankheit und an der Gertrude Stein-Krankheit gelitten. Und beide, die Jeannie Billroth wie die Anna Schreker, haben aufeinmal Anfang der Sechzigerjahre diesen ihren literarischen Wahnsinn und diese ihre literarischen Krankheiten, die damals in den Fünfzigerjahren wahrscheinlich ein ganz und gar echter Wahnsinn und ganz und gar echte Krankheiten gewesen waren, urplötzlich zur Pose, zur literarischen Zweck-Pose, zur literarischen Mehrzweckpose für gebefreudige Politiker gemacht und haben mehr oder weniger skrupellos über Nacht die Literatur in sich umgebracht für ihre absolut niederträchtigen Staatspfründnerexistenzen. Denn als zwei raffinierte Staatspfründnerinnen muß ich die beiden doch bezeichnen, die in den letzten Jahrzehnten keine Gelegenheit ausgelassen haben, um sich dem von ihnen zuerst so viele Jahre geschmähten Staat und seiner perversen Gebefreudigkeit opportunistisch geschmeidig zu machen und die überall dort und an allen Ecken und Enden in diesen fünfzehn Jahren zu sehen gewesen sind, wo etwas zu holen ist, wie hier gesagt wird, und die auf gar keiner offiziellen staatlichen oder städtischen Feier ihren Sessel leer gelassen haben; überall da, wo die in diesem Land sozusagen mit der größten Infamie und mit der unverschämtesten Brutalität in Kultur agierenden Politiker mit vollen Staatsgeldsäcken aufgetreten sind und auftreten, sind sie, sitzen sie. So sind mir die Jeannie Billroth und die Anna Schreker, die zwei Literaturund Kunst- und überhaupt Kulturdamen meiner Jugend, auf welche ich mehr oder weniger jahrzehntelang, wie gesagt wird, alles gegeben habe, mit dieser Zeit nichts weniger als verhaßt geworden, denke ich. Aber die Jeannie naturgemäß mehr als die Schreker, denn mit der Schreker hatte ich ja niemals einen so engen Kontakt (und Konflikt!) gehabt, wie mit der Jeannie. Da zeigte es sich schon Anfang der Sechzigerjahre, daß meine beiden großen, von mir mehr oder weniger angehimmelten Dichterinnen der frühen Fünfzigerjahre doch immer nichts anderes gewesen sind, als zwei nur ihre verlogene Denkdürftigkeit aufschreibende Kleinbürgerinnen; jetzt saßen die beiden mir nurmehr noch als die zwei weiblichen Wiener Mißgestalten der österreichischen Literatur gegenüber, -1 4 2
widerwärtig nebeneinander in ihrer aufgeblasenen Literaturpräpotenz. Die Marianne Moore und die Gertrude Stein und die Virginia Woolf von Wien sitzen da, dachte ich, und sind nichts als kleine, gefinkelte, ehrgeizige Staatspfründnerinnen, die die Literatur und die Kunst überhaupt verraten haben für ein paar lächerliche Preise und eine zugesicherte Rente und die sich dem Staat und seinem Kulturbeamtengesindel gemein und die sich in der Zwischenzeit ihren epigonalen Kitsch mit der gleichen Infamie zur Gewohnheit gemacht haben, wie das Treppensteigen in den subventionsgebenden Ministerien. Wie hat die Schreker immer gegen den sogenannten Kunstsenat gewettert, ja gegeifert und hat sich doch vor einem Jahr von demselben Kunstsenat mit dem sogenannten Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur beglücken lassen. Es ist schon widerwärtig, zuschauen zu müssen, dachte ich, wie sich Leute, wie die Schreker und die Billroth, gerade jenem früheren Präsidenten und heutigen Ehrenpräsidenten des sogenannten Kunstsenats aufeinmal an den Hals werfen, den sie jahrzehntelang wegen seiner Scheußlichkeit und Schädlichkeit beschimpft haben, nur weil sie von diesem Präsidenten und Ehrenpräsidenten des sogenannten Kunstsenats, den sogenannten Großen Österreichischen Staatspreis verliehen bekommen wollen, sich aufeinmal vollkommen skrupellos gemein machen genau mit jenem Mann und mit jenen Leuten seiner Umgebung, der und die diesen Preis und die damit verbundene Geldsumme, wie gesagt wird, flüssig machen. Jahrzehntelang war dieser Präsident des Kunstsenats für die beiden nur eine ekelhafte Person gewesen, jetzt umarmt ihn die Schreker aufeinmal im sogenannten Audienzsaal des Kulturministeriums mit dem Scheck in der Hand und hält auch noch eine abgeschmackte Dankrede. Neunzig Jahre ist dieser frühere Präsident und jetzige Ehrenpräsident des Österreichischen Kunstsenats heute alt und allein von ihm hängt es immer noch ab, wer in diesem Lande mit der höchsten Auszeichnung ausgezeichnet wird und wer nicht; von diesem stumpfsinnigen, ordinären, erzkatholischen Kunstmißbraucher, der seit vielen Jahrzehnten der größte aller kulturellen Umweltverschmutzer in diesem Lande ist, denke ich, -1 4 3
und die Schreker hat ihn, endlich ihren Preis in Händen, auch noch auf die Wange geküßt, daß mir noch immer übel wird bei dem Gedanken. Und es wird nicht lange dauern, und die Billroth und dann auch noch der Lebensgefährte der Schreker werden in den sogenannten Audienzsaal des Kulturministeriums marschieren und den Großen Österreichischen Staatspreis aus den Händen dieses widerwärtigen Mannes entgegen nehmen und sich nicht daran hindern lassen, ihn auf die Wange zu küssen und eine abgeschmackte Dankrede zu halten. Aber nicht nur die Schreker (und ihr Lebensgefährte) und die Billroth machen sich seit Jahrzehnten fortwährend auf die niederträchtigste Weise gemein in diesem Land mit allen sogenannten Staatsgeld und Staatsehren verwaltenden Leuten, mehr oder weniger alle österreichischen Künstler gehen, sobald sie, wie gesagt wird, in die Jahre gekommen sind, diesen Weg, verleugnen alles, das sie bis fünfundzwanzig oder bis dreißig mit der größten Entschiedenheit und mit der größten Lautstärke sozusagen als die notdürftigste Moral des Künstlertums hochgehalten und propagiert haben, wo immer, und verbrüdern sich mit den staatlichen Geld- und Ordens- und Rentengebern. Alle österreichischen Künstler lassen sich schließlich vom Staat und seinen niederträchtigen politischen Absichten kaufen und verkaufen sich diesem skrupellosen, gemeinen und niederträchtigen Staat, und die meisten schon gleich von Anfang an. Ihr Künstlertum besteht aus nichts anderem, als aus dem Gemeinmachen mit dem Staat, das ist die Wahrheit. Die Schreker und ihr Lebensgefährte und die Billroth sind ja nur drei Beispiele für die sogenannte allgemeine Kunstwelt in Österreich. Künstlertum heißt in Österreich für die meisten, sich dem Staat, gleich welc hem, gefügig zu machen und sich von ihm aushalten zu lassen lebenslänglich. Das österreichische Künstlertum ist ein gemeiner und verlogener Weg des Staatsopportunismus, der mit Stipendien und Preisen gepflastert und mit Orden und Ehrenzeichen tapeziert ist und der in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof endet. Die Schreker, die nicht imstande ist, einen einfachen Gedanken zu entwickeln und die seit Jahrzehnten nur Unsinn geschrieben -1 4 4
hat, gilt als intellektuelle Schriftstellerin genauso, wie die Billroth, die noch viel dümmer ist, denke ich, dachte ich; diese Tatsache charakterisiert nicht nur unser gegenwärtiges verkommenes österreichisches Geistesleben, sondern das allgemeine Geistesleben überhaupt. Aber in Österreich ist dieser katastrophale Zustand, wenn wir ihn, weil wir aus England gekommen sind, aus der Vogelperspektive betrachten, noch katastrophaler. Das Widerwärtige war hier schon immer widerwärtiger, das Abgeschmackte schon immer abgeschmackter und das Lächerliche schon immer lächerlicher. Aber was oder wo wären wir, denke ich, wenn alles anders wäre? Die Schreker und ihr Lebensgefährte, wie die Jeannie, die der Jugend schon seit zwanzig Jahren Aufsässigkeit, Revolution und Fortschrittlichkeit vormachen und die in Wirklichkeit in diesen zwanzig Jahren nichts anderes mit größerer Energie betrieben haben, als die Hintertreppen der geldgebenden Ministerien auf- und abzurennen, waren immer schon geistesverwandt; mir waren sie in ihrer Kunst, die Jugend zu täuschen und die stumpfsinnigen Ministerien zu erpressen, schon immer widerwärtig gewesen. Jetzt sitzt die Anna Schreker neben der Jeannie Billroth, dachte ich und ich beobachtete die beiden als die tatsächlichen geistig verkommenen Charaktergeschwister. Die Schreker wie die Billroth, wie der Lebensgefährte der Schreker verkörpern heute diese Art von epigonaler scheinintellektueller Geschwätzigkeitsliteratur, die mir immer verhaßt gewesen ist und die von fanatisch-modischen, immer brillierenden, in ihrer literaturwissenschaftlichen Pubertät stecken gebliebenen Lektoren geliebt und von den senilen Beamten des Kulturministeriums auf dem Minoritenplatz eifrig subventioniert wird. An diesem Abend, zu diesem künstlerischen Abendessen, ist die Schreker, wie immer, ganz in Schwarz gekommen, dachte ich. Jetzt saß sie aufeinmal völlig im Hintergrund neben dem einarmigen Maler Rehmden, einem Mann der sogenannten Zweiten surrealistischen Wiener Schule und natürlich Professor und Lehrstuhlinhaber der Malerakademie auf dem Schillerplatz, der Naturziselierer mit dem feinen Strich. Der Auersberger, den ich allen Ernstes einmal als einen Novalis -1 4 5
der Töne bezeichnet habe, wie ich jetzt mit Abscheu vor mir selbst denke, war längst unzurechnungsfähig gewesen und lallte von Zeit zu Zeit nurmehr noch Unverständliches, nachdem er, wahrscheinlich, um ein letztes Mal die Aufmerksamkeit der Gesellschaft im Musikzimmer auf sich zu ziehen, urplötzlich sein Unterkiefergebiß aus dem Mund genommen und dem Burgschauspieler wie eine Trophäe vor das Gesicht gehalten hat mit der Bemerkung, das Leben sei kurz, der Mensch hinfällig, der Tod nicht mehr weit, was den Burgschauspieler mehrere Male das Wort geschmacklos hatte sagen lassen, während der Auersberger sein Gebiß wieder in seinen Mund zurücksteckte, die Auersberger aber naturgemäß wieder einmal in ihrem Sessel aufspringen hatte lassen in der Absicht, ihren Mann aus dem Musikzimmer in das Schlafzimmer zu befördern, was ihr aber wieder nicht gelungen war; der Auersberger drohte seiner Frau jetzt mit dem Umbringen, stieß sie weg, so daß sie gegen den Burgschauspieler stolperte, der sie aber aufgefangen und in seine Arme genommen hat. Ach, wie geschmacklos! hatte der Auersberger selbst ein paarmal ausgerufen und war dann in seiner Bauernlodenjoppe eingenickt. Zu diesem künstlerischen Abendessen waren auch zwei junge Männer mit steiermärkischem Dialekt gekommen, die mit dem Auersberger wahrscheinlich verwandt und sozusagen als heimatliche Naturburschen, sogenannte steiermärkische Kraftlackeln von den Auersbergerischen zu diesem künstlerischen Abendessen im wahrsten Sinne des Wortes zugezogen worden sind, um dieses ihr künstlerisches Abendessen aufzufetten, wie gesagt wird, dachte ich, und die, solange ich sie beobachtete, mit niemandem, außer mit sich selbst, geredet haben, wie ja auch ich selbst, wenn überhaupt, nur mit mir selbst geredet habe und zu diesem künstlerischen Abendessen zwar gekommen, aber doch die ganze Zeit während dieses künstlerischen Abendessens vollkommen teilnahmslos gewesen war, wie ich jetzt denke; mich im Grunde also genauso benommen habe auf diesem künstlerischen Abendessen, wie die beiden steiermärkischen jungen Männer, sogenannte Ingenieursanwärter, die wenigstens ab und zu von ihren Sesseln aufgestanden sind und sich wieder hingesetzt -1 4 6
haben, gleich, aus was für einem Grund, während ich selbst zuerst ja nur im Vorzimmerohrensessel und dann im Speisezimmer gesessen bin, tatsächlich die ganze Zeit wortlos, wenn ich davon absehe, daß ich einmal den Burgschauspieler gefragt habe, ob es ihm, wie gesagt wird, nicht zum Halse heraus hinge nach vier oder fünf Jahrzehnten, immer wieder nur klassische Rollen gespielt zu haben auf dem Burgtheater, Goethe oder Shakespeare und Grillparzer, also zweimal im Jahr Goethe oder Shakespeare und alle drei Jahre einmal Grillparzer und nur alle fünf oder sechs Jahre eine Rolle wie den Ekdal in der Wildente, oder eben eine solche in einer dieser stupiden englischen Gesellschaftskomödien, die das Burgtheater gerade einstudiere, worauf ich von dem Burgschauspieler aber keine Antwort bekommen habe, und wenn ich davon absehe, daß ich dem Auersberger, wenn auch völlig überflüssigerweise wieder einmal gesagt habe, daß er sein Leben verpfuscht und einer reichen Frau und dem Wohlleben zuliebe, sein Genie in den Schmutz gezogen und sich selbst damit vernichtet und die Trunksucht sozusagen zu seinem eigentlichen Lebensinhalt gemacht habe, ein Unglück, also sein Jugendunglück, eingetauscht habe für ein zweites, für sein Altersunglück, die Hilflosigkeit der Jugend für die Trunksucht des Alters, das musikalische Genie schließlich für die Gesellschaftswiderwärtigkeit, die Freiheit des Geistes für den Kerker des Reichtums und daß ich mehrere Male zu ihm gesagt habe, daß mir seine Bauernlodenjoppe widerwärtig sei, genauso wie sein Bauernleinenhemd und daß mir überhaupt alles an ihm widerwärtig sei. Ich war zwar zu diesem künstlerischen Abendessen in die Gentzgasse gekommen, aber die ganze Zeit wie die zwei Naturburschen aus der Steiermark, vollkommen teilnahmslos gewesen, ich habe dieses künstlerische Abendessen in der Gentzgasse zwar beobachtet, tatsächlich daran aber nicht teilgenommen, denke ich. Im Hintergrund saßen noch ein paar Leute, die ich selbst im Speisezimmer, das doch viel besser beleuchtet gewesen war, als jetzt das Musikzimmer, nicht erkennen habe können; und die beiden jungen Schriftsteller, die sich nur immer wieder mit einem schallenden Auflachen bemerkbar gemacht haben, das -1 4 7
mir nie auch nur den geringsten Sinn ergeben hat. Dieses Auflachen war mir schon die ganze Zeit, bevor der Burgschauspieler in der Gentzgasse aufgetreten war, auf die Nerven gegangen, war es doch ein vollkommen hohles und gleichzeitig stumpfsinniges Auflachen, wie wir es heute, wenn wir mit jungen Leuten zusammen sind, sehr oft hören: hohl, dumm und stumpfsinnig. Zu sagen gehabt hatten auch die beiden jungen Schriftsteller mehr oder weniger nichts, dachte ich jetzt, tranken von Anfang an, aßen alles auf, was ihnen vorgesetzt worden ist und waren, obwohl sie ja, wahrscheinlich vom Auersberger, wie ich denke, eingeladen worden waren zu diesem künstlerischen Abendessen, sozusagen als die künstlerische intellektuelle fugend am Tisch wie die steiermärkischen Naturburschen von der Technik, die ganze Zeit völlig teilnahmslos. Aber was haben auch junge Schriftsteller zu sagen, dachte ich, die sich einbilden, alles zu wissen und die doch nur imstande sind, alles lächerlich zu finden, ohne daß sie begründen könnten, warum lächerlich. Darauf kommen sie erst viel später, dachte ich; zuerst finden sie alles lächerlich, ohne zu wissen, warum, das sind sie, erst später wissen sie warum, sagen es aber dann nicht mehr, weil sie dazu keinen Grund mehr haben. Es ist das ganz und gar charakteristische dumme und hohle und stumpfsinnige Auflachen dieser Jugend unserer perversen und stupiden und gefährlichen Achtzigerjahre, das die beiden gelacht haben, dachte ich. Sie lachen auf und finden alles lächerlich und haben noch nicht einmal ein einziges Buch veröffentlicht, dachte ich, wie du vor dreißig Jahren. Sie haben nur ihr Auflachen, sonst nichts und geben sich mit diesem ihrem Auflachen zufrieden. Sie haben nur dieses Auflachen und die ganze Lebenskatastrophe noch vor sich, dachte ich. Sie haben nur dieses Auflachen und nicht einmal eine Begründung dazu. Und ich erinnerte mich, daß ich genauso wie diese beiden jungen Schriftsteller, als junger Schriftsteller auch in solchen Gesellschaften wie dieser als künstlerisches Abendessen bezeichneten, gesessen bin und immer nur aufgelacht und alles lächerlich gefunden habe. Und keine Begründung für mein Auflachen gegeben habe. Und mich an nichts auf diesen -1 4 8
Gesellschaften beteiligt habe, nur getrunken und gegessen und eben aufgelacht habe. Die beiden waren mir so uninteressant gewesen, wie ich damals uninteressant gewesen bin, daß ich mit ihnen keinen Kontakt aufgenommen habe, wie mit mir damals niemand einen Kontakt aufgenommen hat, sagte ich mir. Wir erfahren nichts, das uns wirklich interessiert, wenn wir mit diesen jungen Leuten unserer Achtzigerjahre reden, wir reden und reden und reden und sie verstehen nicht, was wir reden und sie reden und reden und reden und wir verstehen davon nichts, wollen davon nichts verstehen, sagte ich mir. Mit jungen Leuten reden, führt zu nichts, dachte ich, wer das Gegenteil behauptet, ist ein Heuchler, denn die jungen Leute sagen den Älteren und Alten nichts, das ist die Wahrheit; es ist absolut uninteressant, was junge Leute alten Leuten sagen, absolut, dachte ich, und es ist die größte Heuchelei, das Gegenteil zu behaupten. Es ist immer modern gewesen, zu sagen, die Alten sollen mit den Jungen reden, weil die Jungen den Alten sehr viel zu sagen hätten, aber das Gegenteil ist der Fall: die Jungen haben den Alten überhaupt nichts zu sagen. Selbstverständlich hätten die Alten den Jungen etwas zu sagen, aber die Jungen verstehen ja nicht, was die Alten zu ihnen sagen, weil sie es gar nicht verstehen können und deshalb auch gar nicht verstehen wollen. Der Auersberger hat immer junge Schriftsteller um sich und in seinem Bett gehabt, ich bin einer der ersten gewesen, die er nach Maria Zaal eingeladen hat, dachte ich jetzt. Einer der ersten, die ihm in die Falle gegangen sind, sagte ich mir. Einer der ersten, die ihm den Narren gemacht haben. Das Wort Ehekitter sagte ich wieder vor mich hin und in Betrachtung der beiden jungen Schriftsteller und der beiden Ingenieursanwärter die zweifachen Ehekitter. Nicht nur junge Männer mußten es sein, die der Auersberger immer an sich und in sein Bett gezogen hat, dachte ich, sondern immer nur junge Schriftsteller; nie einen jungen Maler, nie einen jungen Bildhauer hat der Auersberger nach Maria Zaal und in sein Bett eingeladen, immer nur einen jungen Schriftsteller. Er lud ihn nach Maria Zaal und in sein Bett ein, um ihn aufzufressen, dachte ich jetzt, bezahlte ihm die Fahrkarte nach Maria Zaal, gleich von wo und holte ihn von der -1 4 9
Bahnstation ab und führte ihn in sein vorbereitetes Zimmer und versuchte, ihn gleich am ersten Tag aufzufressen. Dieser Gedanke, jahrelang, ja jahrzehntelang peinigend abstoßend für mich, war es aufeinmal nicht mehr. Der Auersberger, der geile Schriftstellerverschlinger, dachte ich jetzt und ich hätte über diese meine Wortschöpfung im Augenblick auflachen können, wäre ich nicht zu müde gewesen dazu. Der Auersberger und die jungen Schriftsteller, dachte ich, damit hätte ich ein Thema für einen kürzeren oder auch längeren Aufsatz, der sich gewaschen hat, wie gesagt wird. Den Ekdal spiele ich sicher noch an die fünfzigmal, sagte der Burgschauspieler aufeinmal; er hatte sich in seinem Fauteuil ganz zurück gelehnt und die Augen geschlossen. Wenn ich nur einen besseren Gregers bekommen hätte. Ich hätte den Gregers selbst spielen müssen, aber das ist doch absurd, zu denken, den Ekdal spielen und gleichzeitig auch den Gregers! Das ist doch absurd! Absurd ist das! sagte der Burgschauspieler. Inzwischen hatte die Auersberger eine Schallplatte mit dem Bolero aufgelegt, genau jenes Musikstück, das von der Joana am meisten geliebt worden war. Die Auersberger hat mit dem Bolero wieder an die Joana erinnern wollen und mit Absicht den Bolero auf den Plattenspieler gelegt, sagte ich mir. Und tatsächlich dachte ich, durch die ersten Takte des Bolero dazu angeregt, wieder an die Joana, an ihr Begräbnis vor allem. Zuerst hatte ich die Tatsache, daß die Auersberger gerade jetzt den Bolero aufgelegt hat, als geschmacklos empfunden, möglicherweise war es das nicht, sondern eine, wenn auch abgefeimte, so doch gute Idee von ihr gewesen, dieses doch mehr oder weniger scheußliche Nachtmahl als künstlerisches Abendessen am Ende schließlich noch zu einem Gedenken für die Joana zu machen. Während ich, bevor die Auersberger den Bolero aufgelegt hat, schon aufstehen und gehen hatte wollen, war ich jetzt sogar gern sitzen geblieben, in einem sehr schönen Zustand der Gleichgültigkeit aufeinmal, die Begräbnisbilder in Kilb an mir vorüberziehen lassend, die Aufenthalte in der Eisernen Hand, das Gesicht der Gemischtwarenhändlerin, das Gesicht des John noch einmal deutlich vor Augen, Kilb, den schönen beruhigenden niederösterreichischen Marktflecken. -1 5 0
Meine diesen ganzen fürchterlichen Abend und diese ganze fürchterliche Nacht in der Gentzgasse andauernde Erregung war aufeinmal von einer Beruhigung abgelöst worden. Ich selbst habe den Bolero immer gern gehört, und die Joana spielte ihn immer dann in ihrem sogenannten Bewegungsstudio, wenn sie mit ihren talentierteren Schülern arbeitete; im Grunde war der Bolero die Musik, an welcher sich ihre ganze Bewegungskunst und Bewegungslehre orientierte, dachte ich, den Bolero hörend mit geschlossenen Augen. Wie schön das ist, sich ab und zu sentimental zu machen, dachte ich und ich hatte nicht die geringste Schwierigkeit, jetzt die Joana zu sehen, die Bewegungskünstlerin, die alle Möglichkeiten gehabt hat, glücklich zu sein und die am Ende doch nichts als unglücklich gewesen ist. Ich hörte ihre Stimme und erfreute mich an ihren Sätzen, an ihrem Lachen, an ihrer Empfänglichkeit für alles Schöne, denn die Joana hatte diese Gabe wie kein zweiter Mensch in meinem Leben gehabt, immerfort auch das Schöne zu sehen, neben der lebenslänglichen grausamen, zerstörenden und vernichtenden Häßlichkeit, eine Gabe also, die die wenigsten Menschen besitzen. Aber auch diese Gabe hat ihr nichts genützt, dachte ich. Sie ist nach Wien und hat sich von Wien verschlingen lassen, ist aus Wien nachhause gerannt, um sich aufzuhängen, dachte ich und an den Umstand, daß die Nachbarin, die während ihrer Abwesenheit ihr Haus immer unter Kontrolle gehalten hat, sie schon kurz vor sechs Uhr früh in dem von der Joana eigenhändig gebundenen und geknüpften Strick hängen gesehen hat; die Gemischtwarenhändlerin hatte sich in der Eisernen Hand nicht beherrschen können und gesagt, die Nachbarin habe zuerst die Füße der Joana über der Vorhausstiege baumeln gesehen, dann erst, nähergetreten, die Beine, dann den ganzen schweren, in dem Strick hängenden, von der jahrelangen Trunksucht total aufgeschwemmten Körper, der durch das Öffnen der Vorhaustür durch die Nachbarin in Bewegung gekommen war, grotesk, gleichzeitig grauenhaft anzuschauen, so die Gemischtwarenhändlerin. Nicht mit einem Aufschrei, nein, ganz ruhig sei die Nachbarin sogleich zur Gemischtwarenhändlerin als der besten Freundin -1 5 1
der Joana, so die Nachbarin, gegangen, um ihr ihre Entdeckung mitzuteilen. Es war noch nicht Tag gewesen. Gleich um sieben Uhr hat mich die Gemischtwarenhändlerin in Wien angerufen, nicht als Ersten, aber doch schon binnen einer Stunde nach Auffindung der Selbstmörderin. Der Bolero brachte mir langsam alle möglichen Existenzstationen der Joana zum Vorschein, immer wieder sah ich sie abwechselnd auf dem Sebastiansplatz, in Kilb, in Maria Zaal, wo auch sie sehr oft Gast gewesen war. Sie hat mit Vorliebe diese ihre selbstentworfenen Kleider getragen, dachte ich, alte ägyptische Arm- und persische Ohrringe, wie sie überhaupt eine sehr starke und sehr frauliche Beziehung zu den altafrikanischen, altasiatischen Kulturen gehabt hat, darüber auch alle nur möglichen Bücher und Schriften gelesen hat; und sie hat sich auch immer in indische Seidentücher gewickelt und die Ketten an ihrem Hals waren afghanische, chinesische, türkische. Kein Mensch außer ihr, hat soviel über seine Träume gesprochen und versucht, diese Träume zu erforschen, ihnen auf die Spur zu kommen, ganze Nächte bin ich mit ihr zusammen gewesen in der Erforschung dieser ihrer Träume; die Träume Anderer interessierten sie immer und sie studierte sie sozusagen, hatte die Traumerforschung zu ihrer zweiten Kunst gemacht, dachte ich. Sehr oft hat sie über sich selbst gesagt, sie sei nichts als traumwandlerisch, ihre Existenz sei eine traumwandlerische. Daß sie sich vor allem immer mit jungen Menschen umgeben hat, dachte ich, am liebsten mit ganz jungen, die noch traumwandlerisch sind, wie sie selbst es bezeichnet hat, die noch nicht durch Kultur und Bildung verdorben und ruiniert sind. Naturgemäß hatte sie eine phantastische Beziehung zu den Märchen und sie selbst hat am liebsten Märchen gelesen, auch vorgelesen, auch öffentlich vorgelesen bei Gelegenheit. Träume und Märchen waren ihr eigentlicher Lebensinhalt, dachte ich jetzt. Deshalb hat sie sich auch umgebracht, dachte ich, weil ein Mensch, der nur Träume und Märchen sich zu seinem Lebensinhalt gemacht hat, in dieser Welt nicht überleben kann, nicht überleben darf, dachte ich. Sie selbst war eine Märchenfigur, dachte ich, und sie glaubte wahrscheinlich zeitlebens selbst, daß sie eine Märchenfigur sei, die Elfriede -1 5 2
Slukal, die ihr Märchen Joana genannt hat, dachte ich. Der Bolero war immer ihr Musikstück gewesen, ich muß sagen, ihr Existenzmittelpunkt. Wir sollten uns von Zeit zu Zeit nicht scheuen, uns von einer Sentimentalität beherrschen zu lassen, dachte ich und ich ließ mich jetzt von dem Bolero beherrschen, hatte mich und hatte also meine Gefühle für die Joana in diesem Bolero vollkommen gehen lassen bis zu dem Augenblick, in welchem die Jeannie Billroth zum Burgschauspieler, der neben mir, aber der Jeannie gegenüber saß, die Frage stellte, was er denn davon halte, daß ein neuer Burgtheaterdirektor in das Haus am Ring stehe, daß bald ein neuer und, wie die Leute jetzt glaubten, ein frischer Wind gegen das Burgtheater blasen und aus dem Burgtheater alles Fürchterliche, Abgestandene, längst Tote, also alles mit den Jahren nur noch widerlich und abstoßend und ganz einfach scheußlich Gewordene aus dem Burgtheater hinausblasen werde. Daß einer der besten Theaterleute in das Burgtheater einziehen werde, ein deutsches Genie, ein deutsches Theatergenie ersten, ja allerersten Ranges, wie sich die Jeannie ausdrückte, ein Theaterbesessener erster Klasse, wie sie sagte oder besser, wie sie zitierte, denn sie zitierte ja nur, sagte nicht aus sich selbst heraus, was dieser neue Mann aus Deutschland sei, zitierte nur, was sie in den Zeitungen über diesen neuen Mann gelesen habe, gehört habe, den sie nicht kenne, von dem sie selbst also auch nicht überzeugt sein könne, der für sie, wie sie sagte, ein sogenanntes unbeschriebenes Blatt sei; ein Theaterberserker hätten die Zeitungen geschrieben, ein elementarer Theatermensch, wie ihn das Burgtheater seit hundert Jahren nicht mehr gesehen habe, ziehe in das Burgtheater, wenn sie sich also zu zitieren getraue, was die Zeitungen schrieben, ein. Mit dieser plötzlichen Frage hatte die Billroth den Burgschauspieler, der kurz eingenickt gewesen war, plötzlich aufgeschreckt. Ja, was sagen Sie denn zu diesem neuen Mann, der Ihnen ins Haus steht? bohrte die Jeannie Billroth so, als habe sie in dem Burgschauspieler aufeinmal doch noch ein Opfer für ihre den ganzen Abend lang auf der Lauer gelegene Bosheit entdeckt und aufeinmal gewußt, wie dieses Opfer zu erlegen, zur -1 5 3
Strecke zu bringen sei. Mehrere Male sagte sie zum Burgschauspieler, Sie haben doch sicher eine Meinung über diesen neuen Mann, was den Burgschauspieler tatsächlich aufgebracht hat. Der Burgschauspieler erhob sich, zog die Beine an, streckte seinen Kopf in die Höhe und sagte, schön, gut, ein neuer Mann kommt in das Haus, aber das interessiere ihn gar nicht, habe ihn gar nicht mehr zu interessieren. Er selbst habe schon so viele Burgtheaterdirektoren ihr Amt antreten und wieder verlieren gesehen, daß ihn auch dieser Mann nicht interessiere. Sie kommen und gehen, sie werden mit offenen Armen aufgenommen und mit Schimpf und Schande wieder aus dem Hause gejagt, das sei immer so gewesen, auch dieser neue Mann werde keine Ausnahme sein, sagte er. Ja, der neue Mann, sagte er, mag sein, ein Genie, wie Sie sagen, worauf die Jeannie sofort antwortete, sie habe ja gar nicht gesagt, der neue Mann sei ein Genie, die Zeitungen hätten geschrieben, der neue Mann sei ein Genie, nicht sie habe das gesagt, die Zeitungen hätten das geschrieben, alle Tage schrieben jetzt die Zeitungen von diesem Genie aus Deutschland, sie habe das nicht gesagt und der Burgschauspieler sagte, gleich ob es die Zeitungen schreiben oder Sie es sagen, meine Liebe, mir ist es vollkommen gleichgültig, wer der neue Mann ist, der ins Haus kommt; ihm sei das immer gleich gewesen, er habe zehn oder elf Burgtheaterdirektoren überlebt, sagte der Burgschauspieler, alle sind sie verschwunden, kein Mensch erinnere sich heute überhaupt noch an die Namen dieser Leute; sie werden von einem Minister eingesetzt, der keine Ahnung vom Theater hat, nur seinem politischen Instinkt folgt und arbeiten ein Jahr lang und werden abgesägt, so drückte sich der Burgschauspieler, aufeinmal wieder in eine Erregung hinein gekommen, aus. Der Minister bestellt irgendeinen, von dem er glaubt, der sei ihm von allen der Nützlichste, natürlich immer nur aus politischen Gründen, niemals aus künstlerischen, so der Burgschauspieler und kaum hat dieser neue Mann seinen Vertrag unterschrieben, wird er angefeindet und es wird alles daran gesetzt, daß er sobald als möglich wieder verschwindet. Zwei, drei Inszenierungen werden gelobt von der Presse, sagte der Burgschauspieler, dann fangen sie an, den neuen Mann, den -1 5 4
sie gerade erst ein ganzes Jahr lang, bevor er seinen Vertrag unterschrieben hat, in den Himmel gelobt haben, zu verdammen und zu vernichten, an dem Ast zu sägen, auf welchem der neue Mann sitzt. Und der neue Mann merkt es lange nicht, daß an seinem Ast schon gesägt worden ist, bevor er noch seinen Vertrag unterschrieben hat, sagte der Burgschauspieler. Der neue Mann kann tun, was er will, er ist, indem er seinen Vertrag unterschrieben hat und also Burgtheaterdirektor geworden ist, ein toter Mann. Haben die Zeitungen zuerst, bevor er seinen Vertrag unterschrieben und dann seinen Posten angetreten hat, geschrieben, er sei ein Genie, so schreiben sie, nachdem er seinen Vertrag unterschrieben hat und seinen Posten angetreten, er sei ein Idiot. Gleich, was er spielt, es wird mit der Zeit immer weniger wert, in zwei, drei Jahren ist dieser Mann überhaupt nichts mehr wert, er hat tun können, was immer, sagte der Burgschauspieler; führt er Klassiker auf, ist es eine Dummheit, führt er sogenannte moderne Stücke auf, ist es eine Dummheit, spielt er inländische Autoren, ist es falsch und nichts wert, spielt er ausländische, ist es falsch und nichts wert, hat er, bevor er nach Wien ans Burgtheater gekommen ist, zu hören bekommen, sein Shakespeare sei überwältigend und überhaupt der beste Shakespeare überhaupt, den sie, die Kritiker, jemals gesehen haben, so hört er, sobald er Burgtheaterdirektor ist, sein Shakespeare sei eine Katastrophe. Die Burgtheaterdirektormacher werden, sobald sie ihr Ziel erreicht haben und der neue Burgtheaterdirektor seinen Vertrag unterschrieben hat, sagte der Burgschauspieler, augenblicklich zu Burgtheaterdirektorvernichtern. Ach, wissen Sie, sagte der Burgschauspieler zur Jeannie Billroth, wenn man ein guter Schauspieler ist, kann es einem ganz gleich sein, wer gerade der Direktor in diesem Hause ist. Ein neuer Direktor hat immer nur die kürzeste Zeit seinen Reiz. Kaum wird er mehrere Male auf der Kärntnerstraße gesehen und kaum hat er ein paarmal im Sacher oder im Imperial gegessen und ist dabei beobachtet worden, ist er erledigt. Es hat immer Lieblingsburgschauspieler gegeben, meine Liebe, sagte der Burgschauspieler, aber niemals einen Lieblingsburgtheaterdirektor. Wenn Sie mich -1 5 5
fragen, mir ist es ganz gleichgültig, wer der Nachfolger unseres derzeitigen Direktors ist, sagte der Burgschauspieler; alle hörten aufeinmal mit dem größten Interesse, was der Burgschauspieler aufeinmal nicht mehr nur noch Zigarren rauchend, sondern auch wieder Weißwein trinkend, sagte. Die Burgschauspieler setzen sich in dieser Stadt fest, sagte er, kaufen sich in Grinzing und in Hietzing und in Sievering und in Neustift am Walde an und verbringen in ihren geschmacklosen Villen ihr geschmackloses Leben bis in ihren geschmacklosen Lebensabend hinein, aber die Burgtheaterdirektoren haben nicht die geringste Chance, sich in dieser schönen Stadt festzusetzen. Wehe, es kauft sich ein Burgtheaterdirektor ein Haus in dieser Stadt, er ist noch nicht eingezogen, wird er schon wieder hinausgeekelt und hinausgeworfen. Die Burg theaterdirektorengeschichte ist eine mehr als skandalöse, sagte der Burgschauspieler, möglicherweise ist es die traurigste Wiener Geschichte überhaupt, sagte der Burgschauspieler. Dieses Wien ist ja im wahrsten Sinne des Wortes eine Kunstmühle, tatsächlich ist es die größte Kunstmühle der Welt, in welcher jahraus, jahrein die Künste und die Künstler zermahlen und zermalmt werden, ganz gleich, was für Künste, ganz gleich, was für Künstler, die Wiener Kunstmühle zermalmt sie in jedem Falle immer total. Alles wird von dieser Wiener Kunstmühle zermalmt, alles, sagte der Burgschauspieler, rettungslos. Und das Kuriose ist ja, sagte der Burgschauspieler, daß alle diese Leute auch noch völlig freiwillig in diese Kunstmühle hineinspringen, von der sie total zermalmt werden. Auch die Burgtheaterdirektoren springen ja vollkommen freiwillig in diese Wiener Kunstmühle hinein. Betreiben unter Umständen lebenslänglich nichts anderes mit größerer Vehemenz, als in diese Kunstmühle hineinspringen zu können, reißen sich förmlich um den Sprung in diese Kunstmühle, in der sie total zermalmt werden. Total zermalmt, total zermalmt, total zermalmt! rief der Burgschauspieler aus. Dann sagte er: Mich haben diese Aufregungen und Skandale um einen alten oder neuen Burgtheaterdirektor aber nie berührt. Sehen Sie, meine Liebe, sagte er zur Jeannie Billroth, ich hätte unter jedem Direktor diesen Ekdal gespielt, glauben Sie mir das. Und im -1 5 6
übrigen, sagte der Burgschauspieler, als wollte er das Thema damit abschließen, gehe ich ja in Pension, noch bevor der neue Direktor sein Amt antritt. Ich bin gar nicht mehr an diesem Hause, wenn er sein Amt antritt, sagte der Burgschauspieler und wandte sich dem Auersberger zu, der die ganze Zeit schon eingenickt gewesen war und der von dem, das der Burgschauspieler auf die Frage der Billroth geantwortet hatte, gar nichts gehört hatte und sagte zum Auersberger, Wissen Sie, wenn ich in Pension bin, lese ich zwei- oder dreimal im Jahr Rilke im Konzerthaus oder den alten Goethe, das genügt mir. Im Grunde interessiert mich das heutige Theater auch gar nicht mehr. Am liebsten wäre ich ja schon in Pension, denn es ist alles, das mit dem Theater zusammenhängt heute, nurmehr noch unerträglich. Früher war es eine Lust, Theater zu spielen, tatsächlich eine Lebensaufgabe, sagte der Burgschauspieler, heute gibt es mir nichts mehr. Daß ich noch den Ekdal spiele und daß ich mit diesem Ekdal so viel Erfolg habe, überrascht mich selbst am meisten, sagte er. In Wahrheit hat das Theater mein Interesse verloren, sagte der Burgschauspieler. Sehen Sie, sagte er zur Jeannie, ich habe ja so viele glückliche Jahrzehnte auf dem Theater verbringen dürfen, und ich bereue nicht einen Tag dieser meiner glücklichen Theaterzeit, also ich bereue tatsächlich nicht eine Stunde dieser meiner glücklichen Theaterzeit auf dem Burgtheater. Aber heute gibt es mir nichts mehr, schon lange nichts mehr, sagte der Burgschauspieler, worauf die Jeannie sagte, daß dem Burgschauspieler ihrer Meinung nach deshalb das Theater schon so lange Zeit nichts mehr gebe, weil er, der Burgschauspieler, sich niemals vom Burgtheater habe trennen können, weil Sie sich in Grinzing angekauft haben, sagte die Jeannie, deshalb sagt Ihnen das Theater schon so lange Zeit nichts mehr, sagte die Jeannie zum Burgschauspieler, weil Sie jeden Tag in das Sacher essen gegangen sind, jeden Tag in das Mozart einen Kaffee trinken. Wenn Sie vom Burgtheater weggegangen wären und überhaupt aus Wien weggegangen wären, Sie würden jetzt nicht sagen, daß Ihnen das Theater schon so lange Zeit nichts mehr gibt, meinte die Jeannie. Möglicherweise haben Sie in der Tatsache, daß Sie sich in Grinzing angekauft haben, die Lust am Theater -1 5 7
verloren, am Theaterspiel überhaupt, bohrte die Jeannie. Möglicherweise, antwortete der Burgschauspieler, haben Sie recht, meine Liebe, aber wahrscheinlich haben Sie nicht recht. Das Theater ist allgemein herunter gekommen, sagte der Burgschauspieler, ob Sie in Wien sind oder nicht, Sie finden kein gutes Theater mehr, es fasziniert nicht mehr. Das glaube er nicht, sagte der Auersberger plötzlich, von dem alle geglaubt hatten, er schlafe schon die längste Zeit, seiner Meinung nach, sei das Theater so lebendig wie eh und je, nur in Wien sei es abgestanden und schon lange nicht nur zum Tod verurteilt, sondern längst tatsächlich tot, tatsächlich tot, tatsächlich tot, rief der Auersberger aus und wiederholte dieses tatsächlich tot mehrere Male lallend. Was auch die beiden jungen Schriftsteller, weil dieses Lallen so komisch gewesen war, zum Lachen gebracht hat. Sie hatten, obwohl die ganze Zeit wie gar nicht anwesend, nachdem der Auersberger mehrere Male tatsächlich tot ausgerufen hatte, laut aufgelacht. Mein Gott! hat der Burgschauspieler plötzlich ausgerufen, was soll denn das heißen, ein Theatergenie! Ein Direktor und ein Genie, das ist doch eine Absurdität! rief er aus. Wissen Sie, sagte er zur Jeannie Billroth, die Zeitungen führen schon eine infame Sprache und alles, das in ihnen steht, ist nichts anderes, als infam. Gleich was für eine Zeitung Sie aufmachen, Sie sind mit Infamie konfrontiert, sagte der Burgschauspieler. Nein, sagen wir, es geht uns nichts an, was in den Zeitungen steht, und sind doch wie tödlich getroffen davon, sagte er. Nun sind aber doch die österreichischen Zeitungen die allerschlechtesten auf der Welt, und tatsächlich ist in ihnen die Niedertracht auf die höchste Höhe gebracht, sagte er, es gibt keine anderen mit einer größeren Niedertracht. An der Scheußlichkeit dieser Blätter hat die österreichische, ja, hat die Weltgeschichte immer zu leiden gehabt, sagte der Burgschauspieler. Obwohl sie mich immer gelobt haben, meinte er, sind sie doch die scheußlichsten Blätter der Welt mit dem infamsten und gleichzeitig dümmsten Inhalt. Aber wir lesen sie alle Tage und fressen alles, das in ihnen steht, gierig in uns hinein, sagte er, das ist doch die Wahrheit. Von Kindheit an habe ich den österreichischen Zeitungsdreck in mich hineingefressen, aber -1 5 8
ich existiere noch immer. Der österreichische Magen ist ein guter Magen, die Österreicher insgesamt haben einen guten Magen, wenn ich bedenke, was für eine geschmacklose und gleichzeitig fürchterliche Geschichte sie im Laufe der Zeit in sich hineingefressen haben. Die österreichischen Zeitungen, wenn es überhaupt solche sind, sagte der Burgschauspieler, sind die schlechtesten der Welt, aber gerade deshalb sind sie vielleicht die besten. Gerade weil sie die schlechtesten sind, sind sie wahrscheinlich die besten, sagte der Burgschauspieler und der Auersberger lallte, da haben Sie aber recht, da haben Sie aber recht, wie recht Sie da haben und die zwei jungen Schriftsteller lachten laut auf. Wir leben ja ununterbrochen in Absurdität, sagte der Burgschauspieler aufeinmal, in nichts anderem. Bedenken Sie doch, daß alles absurd ist. Der absurde Gedanke ist der einzig wahre Gedanke, sagte der Burgschauspieler, bedenken Sie, daß die absurde Welt die einzig wahre Welt ist. Alles, das ist, ist absurd, sagte der Burgschauspieler aufeinmal pathetisch und lehnte sich zurück. Absurd und pervers, sagte er dann. Zur Auersberger sagte er gleich darauf und ich habe mich so auf eine Kostprobe Ihrer Kunst gefreut. Aber das macht nichts. Das nächste Mal. Was hätten Sie denn gesungen? fragte der Burgschauspieler und die Auersberger sagte nur ein kurzes Purcell. Ah Purcell, sagte der Burgschauspieler. Purcell ist hoch in Mode. Überhaupt alte Musik. Die ganze Welt hört den ganzen Tag alte Musik, habe ich nicht recht? worauf der Auersberger lallte: da haben Sie recht, da haben Sie recht, da haben Sie recht. Purcell, sagte der Burgschauspieler, das ist ganz große englische Lied- und Arienkunst. Ja, sagte er, mir ins Gesicht schauend, ein solcher schön gesungener Purcell ist eine Kostbarkeit. Der Bolero, mein Gott, sagte der Burgschauspieler aufeinmal, wissen Sie, der Bolero ist mir früher immer auf die Nerven gegangen. Jetzt liebe ich ihn. Lange Zeit ist es eine uns auf die Nerven gehende Kunst, sagte er, plötzlich lieben wir sie. Haben Sie diese Beobachtung nicht auch schon gemacht? fragte er die Jeannie, die antwortete aber nicht, sagte zum Burgschauspieler gänzlich unvermittelt, daß eine neue Ära auf dem Burgtheater heranbreche, tatsächlich hatte sie das Wort heranbreche -1 5 9
ausgesprochen, eine neue Ära, die die alte wegwische, die die alte wegwischt, so die gehässige Jeannie Billroth. Lauter neue Namen werden auftreten, sagte sie, ganz andere Stücke werden gespielt werden. Ja, das ist gut, lallte der Auersberger jetzt, daß wieder neue Namen auftreten und neue Stücke gespielt werden. Abschiednehmen von dem Gewohnten lallte er, von den Theaterladenhütern, von den Theaterladenhütern hat er dreimal hintereinander gesagt, weil es ihm selbst gefallen hat, denke ich. Die Auersberger hat diese Bemerkung ihres betrunkenen Mannes wahrscheinlich doch als peinlich empfunden, denn sie machte einen weiteren Versuch, den Auersberger, dessen Kopf schon ganz in die Lodenbauernjacke eingesunken war, aus dem Sessel zu heben, was ihr aber nicht gelang; der Auersberger hatte doch immer die Kraft, sie mit einem Tritt in die Wade daran zu erinnern, wer hier in der Gentzgasse Herr im Hause ist. Ein Buch über Palladio gelesen, sagte der Burgschauspieler aufeinmal, wieder die Brentavillen bewundert, sagte er. Einmal für Jahrhunderte in Vergessenheit Geratenes, sagte er, plötzlich wieder ganz große Mode, sozusagen Weltinteressemittelpunkt. Spanien, sagte er, wenn ich in Pension bin, nicht nur auf kurze Zeit, wie in den letzten Jahren, sondern ausgiebig, monatelang. Wenn einer dem Theater so lange gedient hat, wie ich, sagte er. Komödiant, sagte er, Imitator, Schauspielgehilfe. Mein großes Glück ist ja gewesen, daß ich mich niemals verheiratet habe, das größte Glück für einen Schauspieler ist es, keine Ehe einzugehen, allein zu bleiben mit seiner Kunst, der Schauspielerei. Durchsetzungsvermögen habe ich immer gehabt, sagte er, war nie krank merkwürdigerweise, nicht ein einziges Mal, abgesehen von kleinen Unpäßlichkeiten, dadurch hatte ich auch niemals absagen müssen, nicht ein einziges Mal, während doch die Kollegenschaft immer alle Augenblicke abgesagt hat, tatsächlich sogar mit der Zeit einen gewissen Ab sagehysterismus entwickelt hat. Nie ein sogenannter nervöser Schauspieler gewesen, sagte er, Pedant vielleicht, aber nie nervös, leistete mir auch keine künstlerischen Unpäßlichkeiten. Wissensbegierde, vielleicht ist es das gewesen, sagte er. Studierte jede Rolle auf die wissenschaftliche Weise, bin in -1 6 0
diesem Bedürfnis allerdings immer allein gewesen. Tatsächlich kein Luxusmensch, nein, ganz im Gegenteil. Aber auch nicht einfach, die Simplizität ist mir immer verhaßt gewesen. Aber in Wahrheit, sagte der Burgschauspieler jetzt, sind die Ansprüche, die hier in Wien an die Kunst, aber vor allem an die Musik und an die Schauspielerei gestellt werden, die höchsten, die allerhöchsten in Europa und die Leute, die hier in die Konzertsäle gehen und in die Theater, vornehmlich in das Burgtheater, sagte er, sind die verzogensten und letztenendes anspruchsvoller und kritischer als irgendwo sonst in Europa, ja, ich kann sagen, auf der ganzen Welt. Es gibt keine besseren Schauspieler, wie es auch keine besseren Musiker gibt, als hier in Wien, das ist die Wahrheit. Fahren Sie hin, wo Sie wollen, sagte er, gehen Sie in die Mailänder Scala oder in die Metropolitan Oper in New York oder gehen Sie in das Londoner Nationaltheater oder in die Comedie Francaise, alles nichts gegen Wien, alles letztenendes stümperhaft, dilettantisch, das ist die Wahrheit. Das Wiener Publikum ist das verzogenste und das mit dem besten Geschmack, das Theater genauso betreffend, wie die Musik, allerdings auch das infamste, das rücksichtsloseste. Wie lächerlich geradezu ist alles, was wir in Deutschland auf dem Theater vorgesetzt bekommen, wie lächerlich ist das englische, wie lächerlich das französische Theater dagegen. Aber wehe, man sagt diese Wahrheit in Wien, sagte der Burgschauspieler, da ist man erledigt. So schlecht kann das Burgtheater gar nicht spielen, sagte er, daß es nicht noch immer viel besser ist, als auf den deutschen Bühnen, gleich was für eine. Nein, nein, sagte der Burgschauspieler, ein dilettantisches, ein abgeschmacktes Theater wird in Deutschland gespielt, letztenendes ein dummes Theater, in das die Deutschen schon immer vernarrt gewesen sind. Hilflos und dilettantisch ist das deutsche Theater immer gewesen, das ist die Wahrheit. Immer nur modisch und immer geistlos, das ist die Wahrheit. Ohne Witz, das ist es. Ohne Phantasie, das ist es. Ohne die geringste Genialität, das ist es. Auf den deutschen Theatern sehen wir Schauspieler wie Schullehrer, Schauspieler wie Mittelschullehrer agieren, das ist es. Selbst der letzte Kabarettist in Wien ist besser, als der -1 6 1
berühmteste deutsche Schauspieler, sagte er, das ist die Wahrheit. Aber sagen Sie diese Wahrheit in Wien, werden Sie gesteinigt. Jede Montagvorstellung im Burgtheater oder in der Oper, sagte der Burgschauspieler, ist besser, als alles in der übrigen Welt. Aber sagen Sie das nur nicht in Wien, sagte der Burgschauspieler. Es ist doch schön, den Ekdal zu spielen und Erfolg zu haben, sagte der Burgschauspieler darauf, und aufzuhören mit dem Ekdal und mit diesem Erfolg. Denn diese englische Rolle, die ich gerade erarbeite, betrachte ich nicht mehr als zu meiner Entwicklung gehörend, durchaus etwas Nebensächliches, nicht ernst zu Nehmendes, sagte er, kein Lear, meinte er. Ein langgezogenes Paradox sagte er dann. Das Alter und die Gleichgültigkeit decken sich in gewisser Weise, sagte er. Im übrigen möchte ich keinen Tag mehr jung sein, die Jugend ist das Entsetzliche, nicht das Alter. Überhaupt möchte ich keinen Tag meines Lebens mehr leben, ich bin froh, daß das nicht möglich ist. Ja, wissen Sie, sagte der Burgschauspieler zuerst zur Auersberger und dann auch zur Jeannie, der alte Mensch ist in seinen Rückzug verliebt, glauben Sie mir. Die Leute reden über alles mögliche, lachen auch über alles mögliche, regen sich über alles mögliche auf, das berührt mich gar nicht mehr. In gewisser Weise nach soviel Kunst auf dem Theater etcetera, eine Alterskunst entwickeln, sagte der Burgschauspieler, das ist wahrscheinlich das allergrößte Vergnügen. Als der Bolero zuende war, stand die Auersberger auf, ging durch das Speisezimmer in die Küche, um Kaffee zu holen. Diese Abwesenheit der Auersberger benützte die Jeannie, um sich noch einmal in Szene zu setzen, sie sagte zu dem schon längere Zeit vor sich zu Boden schauenden, wie gesagt wird, gedankenverlorenen und jetzt aufeinmal total ermüdeten Burgschauspieler auf ihre geschmacklose Weise, ob er, der ja jetzt mehr oder weniger schon bald an seinem Lebensende angelangt sei, an diesem seinem Lebensende sagen könne, daß er in seiner Kunst sozusagen eine Erfüllung gefunden habe; genau mit diesen geschmacklosen Wörtern konfrontierte sie den alten, müde gewordenen Mann, der mir ja alles, nur nicht sympathisch gewesen ist an diesem Abend und in dieser Nacht, der aber -1 6 2
doch, allein, wenn ich in Betracht ziehe, daß er ja an demselben Abend schließlich, also ein paar Stunden vorher noch als Ekdal auf der Bühne des Akademietheaters gestanden ist, jetzt Schonung verdient hat. Glauben Sie, daß Sie an Ihrem Lebensende Erfüllung in Ihrer Kunst gefunden haben? fragte die Jeannie ein zweites Mal, so, als glaubte sie, der Burgschauspieler habe sie, als sie das erste Mal dieselbe Frage gestellt hat, nicht gehört, obwohl der Burgschauspieler selbstverständlich gehört hat, was die Jeannie gefragt hatte, ihre Unverschämtheit, Rücksichtslosigkeit war ihm naturgemäß nicht entgangen, sie hatte ja schließlich dreimal die Frage an ihn gerichtet Können Sie sagen, daß Sie an Ihrem Lebensende von Ihrer Kunst erfüllt gewesen sind?, dreimal ist dem Burgschauspieler ihre Unverschämtheit nicht entgangen, wie ich sofort gesehen habe, er dachte aber, die Jeannie, die der Burgschauspieler ja nur auf die oberflächlichste Weise kannte und die sich ihm gegenüber also überhaupt nichts, also schon gar keine solche Unverschämtheit hätte herausnehmen dürfen, würde ihn in Ruhe lassen, worin der Burgschauspieler sich aber gründlich getäuscht hatte; die Jeannie Billroth gab im Gegenteil keine Ruhe und fragte noch mehrere Male, ob der Burgschauspieler an seinem Lebensende sagen könne, daß seine Kunst für ihn Erfüllung gewesen sei, auf ihre schamlose Art und Weise insistierte sie und hatte nicht eher mit ihrem rücksichtslosen Fragen aufgehört, bis der Burgschauspieler dann endlich doch auf ihre Frage eingegangen ist, darauf eingehen hatte müssen, und es war doch merkwürdig, daß dieser mir im Grunde durch und durch widerwärtige Mensch, den ich die ganze Zeit doch mit nichts anderem, als mit der größten Abscheu betrachtet und beobachtet habe, ihr aufeinmal tatsächlich die entsprechende Antwort gegeben hat, indem er nämlich sagte, daß es mehr oder weniger eine Unerhörtheit sei, ihm eine so dumme Frage zu stellen, denn Ihre Frage ist ganz einfach nichts als dumm und daß sie, die Jeannie Billroth, doch nicht erwarten könne, auf ihre dumme Frage eine intelligente Antwort zu bekommen, auf ihre unverschämte Frage, wie der Burgschauspieler sagte, ich glaube, Sie haben sich doch im Ton vergriffen, sagte der Burgschauspieler nur und war gerade -1 6 3
im Begriff, aufzustehen, so, als wolle er jetzt aufeinmal ohne weitere Umstände die Gentzgassenwohnung der Auersbergerischen verlassen, weil ihm die Fragerei und also die Unverschämtheit der Jeannie zu viel geworden war; aber als er die Auersberger mit dem Kaffee hereinkommen sah, setzte er sich wieder in seinen Fauteuil und sagte gleichzeitig, daß er es nicht notwendig habe, auf derartige dumme Fragen zu antworten, derartige Geschmacklosigkeiten als Fragen, sagte der Burgschauspieler wörtlich zu der jetzt tatsächlich verblüfften Jeannie, müßten selbstverständlich ohne seine Antwort auskommen. Was für ein unbotmäßiges Gefasel von Lebensende, sagte der Burgschauspieler, was für eine Unverschämtheit an Fragestellung, sagte er, was für eine Gemeinheit überhaupt, mich mit Ihrer Dummheit zu konfrontieren, sagte der Burgschauspieler, worauf die Jeannie, eine Schale Kaffee aus der Hand der Auersberger entgegennehmend, plötzlich ruhig war, gar nicht aufgebracht, wie ich erwartet hatte; bei ähnlichen Gelegenheiten, dachte ich, ist sie immer aufgesprungen, wie ich mich erinnere und hat augenblicklich den Schauplatz ihrer Borniertheit verlassen, jetzt nicht, sie blieb, mit ihrem, wenn auch sogar unter ihrer dick aufgetragenen Schminke hochrot gewordenen Gesicht, sitzen, bewegte sich minutenlang nicht mehr, während der Burgschauspieler, plötzlich wieder bei Kräften, etwa Folgendes für mich tatsächlich an ihm, dem ich das niemals zugetraut hatte, Erstaunliches sagte: es sei widerwärtig, sich unter Menschen zu begeben, die einen nur aushorchten und schließlich auf die gemeinste Weise heruntermachten, die nur dazu da seien, einen, wie er es nannte, auseinanderzunehmen, in alle Teile zu zerlegen, noch dazu nach Mitternacht sei das eine umso größere Gemeinheit, er sprach das Wort Gemeinheit ungeniert aus, während er die Kaffeeschale, wie ich mit größtem Erstaunen sah, ohne zu zittern, in der Hand hielt, um von Zeit zu Zeit einen kleinen Schluck daraus zu machen. Wir kommen in ein Haus und denken, es ist ein freundliches, sagte er und da er sich dabei so erregt hatte, war auch der Auersberger wieder wach geworden und hörte sich an, was der Burgschauspieler jetzt sagte, auch die Anna Schreker war -1 6 4
aufmerksam geworden, auch die beiden jungen Schriftsteller und alle andern auch, denn der Burgschauspieler hatte wieder das ganze Interesse an sich gerissen allein schon durch die kräftigen Wörter, die er jetzt gebrauchte, Wörter wie niederträchtig, gemein, unbotmäßig, verlogen, infam, größenwahnsinnig, dumm prasselten plötzlich auf die Gentzgassengesellschaft und insbesondere auf die Jeannie nieder; daß es nicht nur eine Ungezogenheit, sondern eine tatsächliche Niederträchtigkeit sei, ihn mit solchen dummen Fragen zu konfrontieren wie gerade diese Person, so bezeichnete er aufeinmal die Jeannie, diese Person, sagte er immer wieder, hat mir noch gefehlt, diese Person, die mir von Anfang an verhaßt gewesen ist, denn diese Person ist absolut eine dumme Person, wenn ich gewußt hätte, daß auch diese Person hierher kommt, wäre ich niemals Ihrer Einladung gefolgt, sagte der Burgschauspieler zu den Auersbergerischen pathetisch, ich hasse Leute wie diese Person, die nur dazu da sind, alles herunterzumachen, die andauernd über Kunst reden und keine Ahnung von Kunst haben, die über alles reden und keine Ahnung davon haben, diese Leute, die alle diese Abende zerreden und zerschwätzen und deren Geistlosigkeit tatsächlich zum Himmel stinkt, so der Burgschauspieler in höchster Erregung. Wie ich diese Person hier sitzen gesehen habe, habe ich gedacht, ich drehe sofort wieder um und gehe wieder weg, aber der Anstand hat mir eine solche Vorgangsweise verboten, sagte der Burgschauspieler, der Anstand, der Anstand, wiederholte er mehrere Male und lehnte sich zurück, daß es ihn erleichterte, wie ich gedacht habe, was aber ein Irrtum gewesen ist, denn der Burgschauspieler setzte sich sofort wieder ganz gerade und aufeinmal von einer plötzlichen Atemlosigkeit überfallen, sagte er in das Gesicht der Jeannie: Sie gehören zu diesen Leuten, die nichts wissen und die nichts wert sind und deshalb alles Andere hassen, so einfach ist das, Sie hassen alles, weil Sie sich selbst hassen in Ihrer Erbärmlichkeit. Sie reden andauernd von Kunst und haben keine Ahnung, was das ist, wollte er der Jeannie ins Gesicht schreien, konnte das aber wegen seiner Atemlosigkeit nicht, die es ihm nur erlaubte, den Satz beinahe vollkommen tonlos zu sagen und darauf Sie sind -1 6 5
ein dummer zerstörerischer Mensch und schämen sich nicht einmal, worauf er schwieg. Dieser Angriff des Burgschauspielers auf die Jeannie war für mich, zugegeben, ein großer Genuß gewesen, denn ich habe es, wenn auch, so doch sehr selten erlebt, daß jemand der Jeannie etwas Derartiges ins Gesicht gesagt hat, daß irgendein Mensch mit solcher Schärfe eine ihrer Unverschämtheiten quittiert hat, das brachte dem Burgschauspieler, der mir aber nach wie vor doch zuwider gewesen war, im Augenblick meine Hochachtung ein. Der Jeannie Billroth ist nie gesagt worden, wie unzuständig sie im Grunde immer ist, immer gewesen ist, dachte ich, es ist ihr nie gesagt worden, daß sie schon längst in allen Begriffen immer die Inkompetenteste ist, dachte ich. Der Jeannie ist nie gesagt worden, daß sie gemein, ja vulgär ist, wie es ihr der Burgschauspieler ohne weiteres ins Gesicht gesagt hat. Wir empfinden großen Genuß, wenn wir glauben, einem Menschen widerfährt sozusagen Gerechtigkeit, indem ihm seine eigene Niedertracht und seine eigene Schamlosigkeit und seine eigene Stumpfsinnigkeit und Inkompetenz vorgehalten werden, dachte ich, noch dazu, wenn wir jahrzehntelang darauf haben warten müssen. Niemals ist der Jeannie gesagt worden, daß sie letztenendes doch ein ganz kleiner, gemeiner Mensch ist, ja ein niedriger Charakter, der Burgschauspieler hat es ausgesprochen. Und ich hatte den Eindruck, daß das alle, die Zeuge dieses Ausbruchs des Burgschauspielers gewesen waren, nicht nur im Augenblick gefreut hat, sondern ihnen allen eine größere, doch länger als nur die kürzeste Zeit anhaltende Genugtuung gewesen ist. Natürlich, sie haben dieses ihr Gefühl nicht ausgesprochen, dazu hatten sie auch keine Veranlassung und sie hätten es sich auch nicht leisten können. Der Burgschauspieler aber konnte es sich leisten genauso, wie ich es mir habe leisten können, allein durch mein Schweigen dem Burgschauspieler gegenüber in allem, das er gegen die Jeannie vorgebracht hat, recht zu geben. Endlich, nach Jahren, nach Jahrzehnten, sagt ein Mensch jenem die Wahrheit ins Gesicht, dem wir sie wünschen, jahrzehntelang wünschen, genau die Wahrheit, die er vorher nie gehört hat, weil es bis dahin niemand gewagt hat, diesem Menschen die Wahrheit ins -1 6 6
Gesicht zu sagen und ich dachte, allein wegen dieser von dem Burgschauspieler der Jeannie ins Gesicht gesagten Wahrheit, was immer diese Wahrheit sein mag oder nicht sein mag, hat es sich schließlich doch ausgezahlt, die Einladung zu dem künstlerischen Abendessen anzunehmen. Sie sind eine ganz und gar verlogene Person hatte der Burgschauspieler im übrigen auch noch zur Jeannie gesagt, Sie lauern ja geradezu stundenlang darauf, einen Menschen erniedrigen zu können und er hatte auch gesagt Menschen wie Sie, sind gefährliche Menschen und man tut gut daran, mit solchen Menschen wie Sie, keinen Umgang zu pflegen. Wenn ich diese Sätze des Burgschauspielers nicht noch genau im Ohr hätte, ich würde sie ja heute noch nicht für möglich halten, aber der Burgschauspieler hatte sie genauso gesprochen an diesem Abend, wie sie hier stehen. Wahrscheinlich, dachte ich, hat die Jeannie die ganze Zeit, die ich ja noch gar nicht im Musikzimmer und also noch im Speisezimmer gewesen war, schon Unverschämtheiten gegen den Burgschauspieler vorgebracht gehabt, sich ihm gegenüber also schon vorher als jene widerliche Jeannie Billroth aufgeführt gehabt, die mir nur zu gut bekannt ist aus jener Zeit, in welcher ich mit der Jeannie Billroth noch, kurz gesagt, mein Verhältnis hatte. Sie hat sich nicht geändert. Ist sie nicht der Mittelpunkt einer Gesellschaft, setzt sie alles daran, der Mittelpunkt zu werden, indem sie den eigentlich für einen solchen Mittelpunkt wie den für dieses sogenannte künstlerische Abendessen bestimmten, also in diesem Falle den Burgschauspieler, wenigstens frontal angehend, wie gesagt werden kann, beleidigt. Und sie mußte den Burgschauspieler schon lange bevor ich ins Speisezimmer gekommen war, immer wieder, wie es ihre Art ist, gereizt und beleidigt haben, denn sonst wäre ja dieses geradezu explosive Aufbrausen des Burgschauspielers nicht verständlich gewesen. Jetzt war mir die Ursache jener merkwürdigen Ausbrüche des Burgschauspielers klar geworden, die ich aufeinmal, noch im Vorzimmer sitzend, den Burgschauspieler aus dem Musikzimmer aus sich herausschreien gehört hatte, diese mir da noch unverständlichen achwas Ekdal und achwas Gregers und achwas Wildente, die also, wie ich jetzt wußte, der den -1 6 7
Burgschauspieler attackierenden Jeannie gegolten hatten. Ja, sagte der Burgschauspieler, indem er von seinem Platz aufstand und gehen wollte und der Auersberger, die mit ihm aufgestanden war, die ausgetrunkene Kaffeeschale in die Hand drückte, wie hasse ich im Grunde solche Gesellschaften, die es nur darauf abgesehen haben, alles das, das mir etwas bedeutet, herunterzumachen, tatsächlich alles, das mir immer etwas wert gewesen ist, in den Schmutz zu ziehen, wo doch nur mein Name und die Tatsache, daß ich Burgschauspieler bin, ausgenützt werden und wie sehne ich mich in Wirklichkeit nicht einmal so sehr nach Ruhe, als nach dem tatsächlichen Inruhegelassensein. Ja, habe ich immer gedacht, wenn ich als ein Anderer, als der ich es schließlich bin, geboren worden wäre, und überhaupt ein ganz Anderer geworden wäre, als der, der ich schließlich geworden bin, wenn ich doch endlich ein Inruhegelassener geworden wäre. Aber dazu hätte ich nicht von meinen, sondern von ganz anderen Eltern geboren werden und ich hätte in ganz anderen Verhältnissen aufwachsen müssen, in der freien Natur, wie ich immer gewünscht habe, nicht in der eingesperrten, überhaupt in der Natur, nicht in der Künstlichkeit. Denn wir alle sind in der Künstlichkeit aufgewachsen, in dem heillosen Wahnsinn der Künstlichkeit, nicht nur ich, der ich zeitlebens darunter gelitten habe, sagte der Burgschauspieler aufeinmal, alle hier, sagte er, und er drehte sich nach der Jeannie um und sagte zu ihr, auch Sie, meine Liebe, die Sie mich mit Ihrem Haß verfolgen und mich verachten. Er wendete sich zuerst, ohne zu mir etwas zu sagen, mir zu, dann dem Auersberger und sagte zu dem total besoffenen, im Fauteuil eingeschlafenen Auersberger, daß es überhaupt ein Unglück sei, geboren zu sein, aber als ein solcher Mensch, wie der Herr Auersberg geboren worden zu sein, sei das größte. In die Natur hineingehen und in dieser Natur ein- und ausatmen und in dieser Natur nichts als tatsächlich und für immer Zuhause zu sein, das empfände er als das höchste Glück. In den Wald, gehen, tief in den Wald hinein, sagte der Burgschauspieler, sich gänzlich dem Wald überlassen, das ist es immer gewesen, der Gedanke, nichts anderes, als selbst Natur zu sein. Wald, Hochwald, Holzfällen, das ist es immer gewesen, sagte er -1 6 8
plötzlich aufgebracht und wollte endgültig gehen. Obwohl alle viel getrunken hatten, war am Ende doch, wie vor dreißig und wie vor fünfundzwanzig und vor zwanzig Jahren, nur der Auers berger total betrunken gewesen, er hatte, in seinem Fauteuil vollkommen eingesunken, gar nicht mehr wahrgenommen, daß alle Gäste aufgestanden waren, um zu gehen. Während ich selbst aufgestanden bin, hatte ich gedacht, daß der Burgschauspieler schon im Verlauf des Fogoschessens und dann auch noch immer wieder einmal im Musikzimmer, diese drei Wörter Wald, Hochwald, Holzfällen gesagt hatte, ohne daß ich zuerst schon gewußt hätte, was er damit meinte. Meine Aufmerksamkeit während des Essens und auch danach im Musikzimmer, hatte sich ja lange Zeit naturgemäß nicht auf den Burgschauspieler, sondern auf die Jeannie Billroth konzentriert gehabt; während des Essens hatte ich die Jeannie mehr oder weniger nicht aus den Augen gelassen, gar nicht hingehört die meiste Zeit, was der Burgschauspieler gesagt hat, nur ab und zu einen halben, im Grunde niemals einen ganzen Satz von ihm gehört; es hatte mich auch nicht im geringsten interessiert, was der Burgschauspieler während des Essens gesagt hatte, erst viel später, erst im Musikzimmer, also, nachdem der Burgschauspieler schon mehr, als ihm im Grunde zuträglich gewesen ist, getrunken hatte, war er auch für mich interessant geworden, weil er sich, wie ich jetzt denke, in der Zwischenzeit völlig verändert hatte; es war doch alles, was er noch im Speisezimmer gesagt hatte, Unsinn gewesen, Geplauder und Geplapper, wie wir es von alten, ja schon greisen Schauspielern gewohnt sind, denen ich ja auch immer wieder aus dem Weg gehe, weil ich nicht hören kann, was sie sagen, weil mir ihre sogenannte Altersweisheit, die doch nur eine abstoßende Altersborniertheit ist, eine Altersdummheit, um es ganz deutlich zu sagen, auf die Nerven geht. Alte Schauspieler gehen nurmehr noch auf die Nerven, habe ich immer wieder gedacht, und ich habe es immer verhindert, mit ihnen zusammen zu kommen; aber als der Burgschauspieler schon mehr getrunken gehabt hat, als ihm im Grunde zuträglich, war er aufeinmal interessant geworden durch seine Veränderung, durch ein plötzlich aus ihm zum Vorschein gekommenes -1 6 9
merkwürdig Alt-Philosophisches genau da, wo er angefangen hatte, fortwährend die Wörter Wald, Hochwald und Holzfällen auszusprechen, die, wie ich jetzt weiß, nicht nur seine, sondern vieler solcher Menschen wie der Burgschauspieler und Millionen Anderer Lebensstichwörter sind; plötzlich ist mir am Ende dieses künstlerischen Abendessens zu Bewußtsein gekommen, was der Burgschauspieler mit diesen seinen Lebensstichwörtern sagen wollte, sich selber immer wieder sagen, den Anderen sagen, ja allen sagen wollte und ich habe angefangen, ihm aufmerksam zuzuhören; aufeinmal, denke ich, ist dieser für mich zuerst so uninteressante, mir, wie gesagt, doch nur auf die Nerven gehende Mensch, für kurze Zeit interessant geworden, hat er, wenn auch nur für diese kurze Zeit, meine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen und es interessierte mich aufeinmal nicht mehr, was die Jeannie Billroth sagte oder die Anna Schreker, sondern nurmehr noch, was der Burgschauspieler gesagt hat und ich hatte mich dann auch von der Jeannie und von der Schreker ab- und dem Burgschauspieler zugewandt, ganz abgesehen von den Andern während dieses künstlerischen Abendessens, die mich von Anfang an nicht interessiert hatten und denen ich auch niemals zugehört habe, nicht einmal das Wenige, das sie gesagt haben, habe ich gehört, dachte ich. Der anfängliche Schwätzer, der nur durch seine faulen Witze und abgestandenen Anekdoten Eindruck hatte machen wollen zu Beginn, war im Laufe dieses künstlerischen Abendessens aufeinmal zur interessanten, ja sogar zur philosophischen Figur dieses künstlerischen Abendessens geworden, dachte ich und ich denke, daß wir das nicht an sehr vielen Menschen, aber doch ab und zu an alten beobachten können, daß solche Leute am Anfang als Schwätzer und als widerwärtige Witze- und Anekdotenerzähler auftreten wie der typische sogenannte künstlerische oder intellektuelle Wiener und dann nach und nach geradezu eine philosophische Entwicklung nehmen während eines Abends, während eines Abendessens, wie im Zuge dieses künstlerischen Abendessens bei den Auersbergerischen in der Gentzgasse, daß sie zuerst nur durch Lächerlichkeit und Dummheit und Aufgeblasenheit auffallen und dann mit der Zeit, -1 7 0
wenn sie etwas und etwas mehr, als ihnen gut tut, getrunken haben, plötzlich unsere Abneigung gegen sie zu einer Zuneigung machen können, weil sie ein durchaus geistiges, wenn nicht gar philosophisches Element ins Spiel bringen. Der Burgschauspieler war ja, wie ich denke, als nichts anderes, als der Burgschauspieler aufgetreten zuerst und hatte auch noch seinen sogenannten echten Fogosch als Burgschauspieler, was für mich heißt, als abstoßende Figur, gegessen, sich die ganze Zeit während des Fogoschessens als die mich abstoßende Figur in Szene gesetzt, ist aber aufeinmal, nachdem er mit dem Fogoschessen zuende gewesen war und zwei, drei Zigarren geraucht und ein paar Gläser Weißwein getrunken hatte, geradezu zum geistigen, ja zum philosophischen Menschen geworden, also von einer widerlichen Figur, zu einem philosophischen Menschen, von einer Figur zu einem Menschen, also genau umgekehrt wie üblich, wenn sich die Leute zuerst als Menschen geben und schließlich und endlich, weil ihnen etwas anderes gar nicht möglich ist, mit der Zeit, wenn sie gegessen und getrunken haben, zur widerlichen Figur machen; diese Beobachtung ist unsere alltägliche, daß wir Menschen treffen auf einer Gesellschaft und diese Menschen sich mit der Zeit abstoßend und zu widerlichen Figuren gemacht haben, wie sich diese ganzen Gesellschaften, je mehr sie in den Abend hinein essen und trinken, widerlich und abstoßend machen, wie wir wissen. Der Burgschauspieler hat in dieser Nacht die genau umgekehrte Entwicklung genommen; er hat sich von der widerlichen Figur, zum philosophierenden Menschen gemacht, wenn auch nicht tatsächlich vom Schwätzer zum Philosophen. Am Ende war ich von dem für mich lange Zeit abstoßenden, mich durch seine Widerwärtigkeit für mich, allein durch sein Gehabe in Erregung und sogar in Wut versetzenden Menschen, eingenommen, wie gesagt wird, nicht mehr abgestoßen und aufgebracht, sondern eingenommen ganz im Gegensatz zur Jeannie Billroth, die, wie ich denke, zuerst von dem Burgschauspieler eingenommen gewesen war und die dann nach und nach und schon während des Fogoschessens durch ihn aufgebracht gewesen ist und ihn schließlich gehaßt hat. Am Ende war ich vom Burgschauspieler -1 7 1
eingenommen gewesen und die Jeannie Billroth hat ihn gehaßt, denke ich, das sagt alles. Wie er Wald, Hochwald, Holzfällen gesagt hat, das war nicht alterssentimental, sondern hellsichtig, denke ich. Wie er der Jeannie entgegengetreten ist, das war alles andere, als alt, alles andere als Altersopportunismus, denke ich. Ein ganzes langes Nachtmahl sitzen wir mit einem jener Wiener Kunstpopanze zusammen, mit einem dieser perversen Pseudokünstler, wie sie uns in dieser Stadt zu Hunderten immer wieder begegnen und wie wir sie zu Hunderten kennen, alle diese widerwärtigen Wiener Maler und Bildhauer und Schriftsteller und Musikmacher und Schauspieler, alle diese widerlichen Wiener Provinzkünstler und sitzen noch dazu einem Burgschauspieler, geradezu dem Prototypus des Wiener Kunstpopanzen und Pseudokünstlers gegenüber dieses ganze lange, im Grunde völlig mißglückte und überflüssige Nachtmahl der Auersbergerischen, denke ich und machen aufeinmal die Beobachtung, daß sich ein uns von Anfang an nur in abschreckender Weise produzierender, schließlich tatsächlich auf uns eine abstoßende Wirkung ausübender Mensch, zu einem unser Interesse erweckenden Philosophierenden macht, zu einem Interesse erweckenden Augenblicksphilosophen, wie gesagt werden kann. Es ist natürlich nicht wahr, daß alle Alten Philosophen sind, aber philosophisch sind sie, ich kenne keine größere Dummheit, als die, die behauptet, alle Alten seien Philosophen, während sie naturgemäß philosophisch sind und in jedem Falle machen sich alte Menschen ab und zu wenigstens für ein paar Augenblicke philosophisch oder wenigstens zu einem Philosophierenden auf Augenblicke und also im Verlaufe dieses künstlerischen Abendessens der Burgschauspieler zum AugenblicksPhilosophierenden, zum Augenblicksphilosophen, durch was immer an- oder aufgeregt. Die Ernüchterung, also schon der nächste Morgen, macht ihn naturgemäß wieder zu dem grotesken Stumpfsinnigen, Unerträglichen, als den wir ihn kennen gelernt haben, denke ich. Gerade eine solche Gesellschaft, wie die in dieser Nacht in der Gentzgasse, hatte eine solche ihn für Augenblicke philosophisch machende Wirkung auf den Burgschauspieler, dachte ich, nicht auf die -1 7 2
Anderen naturgemäß, auf die ja niemals etwas eine philosophische Wirkung haben kann. Auf die Auersbergerischen nicht und auf die Anna Schreker nicht und auf die Übrigen schon gar nicht, vor allem auf die beiden jungen Schriftsteller nicht, die ja zu einem sogenannten philosophischen Zustand noch gar nicht befähigt sind allein ihres Alters wegen. Dazu muß es sich schon um einen Menschen mit einer, wie gesagt werden kann, immer sehr weit in die Geschichte zurück zu verfolgenden und immer wieder durch diese Geschichte erzeugten Lebenserfahrung handeln, denke ich, was auf den Burgschauspieler zutrifft, denn auf die Alten, besonders auf die Sehralten, trifft das zu und ich denke, daß ich zeitlebens mein Interesse immer mehr den Alten und den Sehralten zugewendet habe, als den Jungen, immer mehr den Verkehr mit den Alten und Sehralten gesucht habe, nicht mit den Jungen, auch immer mehr mit den Alten und Sehralten zusammen gewesen bin, als mit den Jungen, die Jugend war ich ja damals, als ich jung gewesen bin, selbst, denke ich, das Alter nicht, also hatte mich das Alter interessiert, nicht die Jugend. Alles aus dem Alter, habe ich immer gedacht und ich habe daraus den größten Nutzen gezogen, ich scheue mich nicht, zu sagen, damit immer den größten Profit gemacht. Das Alter hat immer meine Neugierde auf sich gezogen, nicht die Jugend, die ich ja aus der unmittelbarsten Unmittelbarkeit kannte, denke ich. Der Burgschauspieler, denke ich, ist ein Mensch, in welchem das Philosophische, das sich in ihm mit der Zeit und also im Laufe seines Lebens und seiner und unserer und aller Geschichte entwickelt hat, von ihm selbst fortwährend unterdrückt ist. So haben wir es ja fast ausschließlich mit Menschen zu tun, die ihr Philosophisches unterdrücken, es solange unterdrücken, bis es aufeinmal abgestorben und tot ist. Nur ab und zu haben wir die Gelegenheit, dieses Philosophische in und an ihnen wahrzunehmen, wie ich es bei diesem Nachtmahl an diesem Burgschauspieler wahrgenommen habe, wie er selbst es aber wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen hat, denke ich, weil er davon nichts weiß. Aufeinmal hat mich der Burgschauspieler fasziniert, denke ich, allein wie er die Wörter Wald, Hochwald, -1 7 3
Holzfällen ausgesprochen und dann mehrere Male wiederholt hat. Aber das heißt nicht, daß mir der Burgschauspieler jetzt sympathisch wäre. Der unsympathische letztenendes doch nichts als oberflächliche theatralische Mensch, der er mir von Anfang an gewesen ist, ist er mir geblieben. Schon wie er sich verabschiedet und der Auersberger die Hand geküßt hat auf seine österreichische Burgtheaterweise, hat mich wieder abgestoßen. Wie er dann auch noch der Jeannie Billroth ein Kompliment gemacht hat, ein völlig überflüssiges, unsinniges Kompliment, ein unverschämtes, indem er ihr, während er ihr die Hand küßte, gesagt hat, daß ihm ihr geistiger Wagemut gefalle, tatsächlich, er hat gesagt, Ihr geistiger Wagemut gefällt mir, war er mir wieder der widerliche Mensch und widerliche Burgschauspieler geworden, der er mir von allem Anfang an gewesen war. Ich hatte auch viel getrunken, mehr als mir gut tut, denke ich, aber doch nicht so viel, wie der Burgschauspieler, ganz zu schweigen vom Auersberger, der gar nicht mehr aufgewacht ist, bevor sie alle die Gentzgasse verlassen hatten, auch die beiden jungen Schriftsteller, die nur immer von ihrer Aufmüpfigkeit gefaselt hatten, ohne sagen zu können, gegen was sie denn aufmüpfig sind, waren schließlich total betrunken gewesen und hatten Mühe, von ihren Sitzplätzen aufzustehen. Am Ende war der Burgschauspieler allein jener, der von allen noch die Kraft und dazu auch noch die Fähigkeit gehabt hatte, sich nicht nur ordentlich, sondern auf die höflichste Weise, wie gesagt werden kann, aus der Gentzgasse zurückzuziehen, denn alle Anderen waren dazu nicht mehr imstande gewesen. Was für ein ausgezeichneter Fogosch es doch gewesen sei, meinte der Burgschauspieler am Ende zur Auersberger und ging dann als Erster und ganz allein die Vorhaustreppe hinunter, während ihm die Auersberger noch lange Zeit nachschaute. Er torkelt nicht einmal, dachte ich, wie ich den die Vorhaustreppe hinuntergehenden Burgschauspieler von oben, also noch an der Wohnungstür stehend, beobachtete. Da ich Gesellschaften grundsätzlich allein verlassen will, wartete ich solange an der Wohnungstür und also neben der Auersberger, bis alle Anderen die Treppe hinunter gegangen waren. Ja, sagte ich zur -1 7 4
Auersberger, als sie alle weg waren, ein trauriger Tag, nicht wahr, damit noch einmal wenigstens an die Joana erinnernd. Wahrscheinlich ist es das Beste für sie, daß sie sich umgebracht hat, sagte ich, wahrscheinlich ist es der beste Zeitpunkt für sie gewesen, sagte ich zur Auersberger und die Peinlichkeit dessen, das ich gerade gesagt hatte, war mir bewußt, die Widerwärtigkeit dieses Satzes, der sehr oft gesagt wird, wenn sich ein Mensch umgebracht hat. Wir wollen etwas Zureichendes sagen, dachte ich augenblicklich, und sagen etwas vollkommen Unzureichendes, ja etwas Peinliches, Widerwärtiges, Dummes. Was hätte sie schon gehabt von ihrem künftigen Leben, sagte ich auch noch und damit eine Peinlichkeit, eine Widerwärtigkeit mehr. Jeder Mensch soll machen, was er will, sagte ich darauf und hatte damit doch wieder nur eine Peinlichkeit und Widerwärtigkeit gesagt. So war es am besten, nichts mehr zu sagen. Ich lief die Vorhaustreppe hinunter, als wäre ich zwanzig Jahre jünger, zwei, drei, ja vier Stufen aufeinmal nehmend. Im Vorhaus unten sagte ich mir, daß es unsinnig gewesen ist, der Auersberger zum Abschied die Stirn zu küssen, wie vor dreißig Jahren, dachte ich, so unsinnig wie vor dreißig Jahren, habe ich ihr die Stirn geküßt, genauso wie in den Fünfzigerjahren; mich ärgerte diese Tatsache auf dem ganzen Weg aus der Gentzgasse in die Stadt. Zwanzig Jahre habe ich die Auersberger nicht mehr gesehen und im Grunde hasse ich sie ja, wie ich mir sagen muß, und ich küsse ihr zum Abschied auch noch die Stirn. Die Stirn hast du ihr geküßt, wenigstens nur die Stirn, sagte ich mir dann die ganze Zeit auf meinem Weg durch die noch finstere Stadt und ärgerte mich über diese Tatsache. Und ich dachte, wäre ich doch mit den Anderen weggegangen, dann wäre mir diese Peinlichkeit erspart geblieben. Aber ich hatte ja nicht mit den Anderen weggehen wollen, vor allem vermeiden wollen, noch einmal mit der Jeannie zusammen zu treffen, noch dazu auf der Straße und noch dazu in diesem Augenblick; denn mit ihr zusammen auf der Straße wäre es sicher zu einer entsetzlichen Auseinandersetzung gekommen, zu viel hätte ich ihr sagen müssen, zu viel vorhalten, zu viel an den Kopf stoßen müssen, dachte ich, wie umgekehrt sie mir auch und so hatte -1 7 5
ich doch gut daran getan, zurückzubleiben oben im Vorhaus und die Anderen vorausgehen zu lassen; mit der Auersberger allein war es sicher noch erträglicher gewesen, als mit der Jeannie allein, dachte ich, mit der Jeannie allein auf der Straße wäre es sicher jedenfalls für mich, eine Katastrophe gewesen, dachte ich, mit der Auersberger allein im Vorhaus oben, jedenfalls erträglich; aber ich hielt mir doch jetzt vor, der Auersberger einen Kuß auf die Stirn gegeben zu haben, nach zwanzig Jahren, vielleicht sogar nach zwei- oder dreiundzwanzig Jahren, in welchen ich sie nichts weniger als gehaßt habe, mit dem gleichen Haß, mit dem ich in diesen Jahren auch ihren Mann gehaßt habe und daß ich ihr auch noch vorgelogen habe, ihr sogenanntes künstlerisches Abendessen sei mir ein Vergnügen gewesen, wo es mir doch nichts weniger als abstoßend gewesen war. Um uns aus einer Notsituation zu erretten, denke ich, sind wir selbst genauso verlogen wie die, denen wir diese Verlogenheit andauernd vorwerfen und derentwegen wir alle diese Leute fortwährend in den Schmutz ziehen und verachten, das ist die Wahrheit; wir sind überhaupt um nichts besser, als diese Leute, die wir andauernd nur als unerträgliche und widerliche Leute empfinden, als abstoßende Menschen, mit welchen wir möglichst wenig zu tun haben wollen, während wir doch, wenn wir ehrlich sind, andauernd mit ihnen zu tun haben und genauso sind wie sie. Wir werfen allen diesen Leuten alles mögliche Unerträgliche und Widerwärtige vor und sind selbst um nichts weniger unerträglich und widerwärtig und sind vielleicht noch viel unerträglicher und widerwärtiger als sie, denke ich. Ich habe zur Auersberger gesagt, daß ich froh bin darüber, die Verbindung zu ihnen, den Eheleuten Auersberger, wieder aufgenommen zu haben, nach zwanzig Jahren wieder bei ihnen in der Gentzgasse gewesen zu sein und ich hatte, während ich das zu ihr gesagt habe, gedacht, was für ein gemeiner, verlogener Mensch ich bin, der tatsächlich vor nichts, aber auch schon vor gar nichts, nicht vor der gemeinsten Lüge, zurückschreckt. Daß mir der Burgschauspieler gefallen habe, daß mir die Anna Schreker gefallen habe, selbst daß mir die beiden jungen Schriftsteller und die zwei Ingenieursanwärter -1 7 6
gefallen hätten, sagte ich zur Auersberger im Vorhaus oben stehend, während die anderen Gäste die Treppe hinunter gingen, ich sie also als abstoßend empfunden habe, während sie die Treppe hinunter gingen, während ich gleichzeitig zur Auersberger gesagt habe, sie hätten mir alle sehr gut gefallen. Daß ich zu einer solchen ganz gemeinen Verlogenheit fähig bin, dachte ich, während ich noch mit der Auersberger gesprochen habe, dazu fähig bin, ihr ganz offen ins Gesicht zu lügen, daß ich imstande bin, ihr genau das Gegenteil von dem, das ich gerade empfand, nur weil es mir den Augenblick erträglicher machte, ins Gesicht zu sagen und ich hatte ihr auch noch ins Gesicht gesagt, daß es mir leid täte, daß ich an diesem Abend ihre Stimme nicht gehört habe, keine ihrer immer so schön, ja so vorzüglich, ja so einzigartig gesungenen Purcellarien und daß es mir überhaupt alles in allem leid täte, daß ich zwanzig Jahre lang den Kontakt zu ihr und zu ihrem Mann, dem Auersberger, unterbrochen habe, was wieder nichts als nur gelogen und tatsächlich eine meiner gemeinsten und niederträchtigsten Lügen gewesen war. Daß ich es als besonders bedauerlich empfände, daß die Joana an diesem Abend nicht anwesend sein konnte, hatte ich auch noch gesagt und daß es wahrscheinlich ganz im Sinne der Joana sei, daß wir, also ich und die Auersberger, jetzt, da ich aus London mehr oder weniger, auf lange, wenn nicht endgültig zurück sei, wieder Kontakt haben und in Zukunft wahrscheinlich wieder einen solchen Kontakt pflegen werden, log ich der Auersberger direkt ins Gesicht, während die Anderen gerade das Haus verließen, wie ich von oben, mit der Auersberger im Vorhaus stehend, hören konnte. Die Joana hat sterben müssen, hat sich umbringen müssen, damit wir wieder zusammenkommen, habe ich auch noch zur Auersberger gesagt und sie dann kurz umarmt und ihr, wie gesagt, einen Kuß auf die Stirn gegeben und war hinunter gelaufen über die Treppe und auf die Straße, fortan durch alle jetzt von mir gegangenen Straßen damit gepeinigt, der Auersberger alles Gesagte nur vorgelogen zu haben und ganz bewußt ihr alles und jedes Gesagte vorgelogen zu haben. Denn ich haßte die Auersberger in Wahrheit nach diesem künstlerischen Abendessen genauso, -1 7 7
wie ich sie vorher gehaßt habe und den Auersberger, den Novalis der Töne und den schon in den Fünfzigerjahren steckengebliebenen Webern-Nachfolger, mit ihr mit einem vielleicht noch intensiveren Haß, mit diesem Auersbergerhaß, mit dem ich die Auersbergerischen jetzt schon seit zwanzig Jahren hasse, wie ich denke, weil sie mich damals, vor zwanzig Jahren, in so niederträchtiger Weise hintergangen und ausgerichtet haben, heruntergemacht haben bei jeder Gelegenheit vor allen Leuten, mich so schlecht gemacht haben, nachdem ich sie verlassen hatte, nur um mich selbst zu retten, nur, um nicht aufgefressen zu werden von ihnen, nachdem ich ihnen den Rücken gekehrt hatte, nicht sie mir, wie sie es immer behaupteten und nach wie vor behaupten, wie sie es diese ganzen zwanzig Jahre bis heute immer behauptet haben und behaupten, ich hätte sie ausgenützt, sie hätten mich jahrelang ausgehalten, sie hätten mich jahrelang am Leben erhalten, während es doch in Wahrheit so ist und so gewesen ist, daß ich sie am Leben erhalten habe, daß ich sie gerettet habe, daß ich sie, wenn auch nicht mit Geld, so doch mit meinen Fähigkeiten insgesamt, ausgehalten habe, nicht umgekehrt und ich lief durch die Gassen, als wäre ich einem Alptraum davongelaufen, schneller und schneller in die Innere Stadt hinein und ich wußte, während ich lief, nicht, warum in die Innere Stadt hinein, während ich doch genau in die der Inneren Stadt entgegengesetzte Richtung hätte laufen sollen, wenn ich nachhause wollte, aber wahrscheinlich wollte ich jetzt gar nicht nachhause und ich sagte mir, wäre ich doch auch diesen Winter in London geblieben und es war vier Uhr früh und ich lief in die Innere Stadt hinein, obwohl ich nachhause hätte laufen sollen und sagte mir, daß ich unter allen Umständen in London hätte bleiben sollen und lief in die Innere Stadt hinein, ohne zu wissen, warum in die Innere Stadt und nicht nachhause und sagte mir, daß mir London immer Glück, Wien aber immer nur Unglück gebracht hat und ich lief und lief und lief, wie wenn ich jetzt in den Achtzigerjahren nocheinmal den Fünfzigerjahren davon liefe in die Achtzigerjahre hinein, in diese gefährlichen und hilflosen und stumpfsinnigen Achtzigerjahre hinein und ich dachte wieder, daß ich, anstatt auf dieses abgeschmackte -1 7 8
künstlerische Abendessen zu gehen, lieber in meinem Gogol oder in meinem Pascal oder in meinem Montaigne hätte lesen sollen und ich dachte, während ich lief, daß ich dem auersbergerischen Alptraum davon laufe und lief tatsächlich mit immer größerer Energie diesem auersbergerischen Alptraum davon in die Innere Stadt und dachte während des Laufens, daß diese Stadt, durch die ich laufe, so entsetzlich ich sie immer empfinde, immer empfunden habe, für mich doch die beste Stadt ist, dieses verhaßte, mir immer verhaßt gewesene Wien, mir aufeinmal jetzt wieder doch das beste, mein bestes Wien ist und daß diese Menschen, die ich immer gehaßt habe und die ich hasse und die ich immer hassen werde, doch die besten Menschen sind, daß ich sie hasse, aber daß sie rührend sind, daß ich Wien hasse und daß es doch rührend ist, daß ich diese Menschen verfluche und doch lieben muß und daß ich dieses Wien hasse und doch lieben muß und ich dachte, während ich schon durch die Innere Stadt lief, daß diese Stadt doch meine Stadt ist und immer meine Stadt sein wird und daß diese Menschen meine Menschen sind und immer meine Menschen sein werden und ich lief und lief und dachte, daß ich, wie allem Fürchterlichen, auch diesem fürchterlichen sogenannten künstlerischen Abendessen in der Gentzgasse entkommen bin und daß ich über dieses sogenannte künstlerische Abendessen in der Gentzgasse schreiben werde, ohne zu wissen, was, ganz einfach etwas darüber schreiben werde und ich lief und lief und dachte, ich werde sofort über dieses sogenannte künstlerische Abendessen in der Gentzgasse schreiben, egal was, nur gleich und sofort über dieses künstlerische Abendessen in der Gentzgasse schreiben, sofort, dachte ich, gleich immer wieder, durch die Innere Stadt laufend, gleich und sofort und gleich und gleich, bevor es zu spät ist.
-1 7 9