Eine mexikanische Ehe
ANNE HAMPSON
Auf Wunsch ihres Vaters heiratet Roxanne den angesehenen Mexikaner Don Juan Armand...
11 downloads
798 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Eine mexikanische Ehe
ANNE HAMPSON
Auf Wunsch ihres Vaters heiratet Roxanne den angesehenen Mexikaner Don Juan Armando Ramires. Sie ist todunglücklich, weil sie eigentlich einen anderen Mann liebt, aber sie bringt es auch nicht fertig, sich gegen Juan durchzusetzen und aus dieser erzwungenen Verbindung auszubrechen. Mit der Zeit wandeln sich Roxannes Gefühle ihrem Mann gegenüber: Aus dem anfänglichen Haß wird tiefe Zuneigung. Aber wie kann sie Juans Liebe erringen? Sie weiß, daß er sie nur wegen ihrer frappierenden Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Verlobten geheiratet hat…
RomanaRomane erscheinen in der KORALLE VERLAG GmbH Berlin – Hamburg. Redaktion und Verlag: 2 Hamburg 36, KaiserWilhelmStraße 6,
Telefon:(040) 3 47(1).
FS212009korad.
Verantwortlich für den Inhalt: Thea Tauentzien, Hildegard Fabrega
Anzeigenleitung: Eckard Dems – Vertriebsleitung.Gerhard Bergmann.
Anzeigen nach jeweils gültiger Anzeigenpreisliste
© by Anne Hampson
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Mills & Boon Limited. London Deutsche Übersetzung 1974 by KORALLE VERLAG Berlin – Hamburg.
Alle Rechte vorbehalten. RomanaRomane dürfen nicht verliehen oder zum erwerbsmäßigen Umtausch verwendet werden.
Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.
Für unangefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung.
Satz: Axel Springer Verlag AG, Hamburg.
Druck: Ernst Klett Druckerei, Stuttgart.
Printed in Western Germany
1. KAPITEL Ihr langer, weiter Rock wehte wie eine Fahne im Wind, während sie sich im Walzertakt mit ihm drehte. „Ich muß dich küssen“, flüsterte Joel ihr ins Ohr. Er tanzte mit ihr zu der hohen Eichentür, die in den überheizten Wintergarten führte. Sie wehrte sich nicht. „Sag mir, daß du mich liebst“, drängte Joel. Die hohen Palmen und grünen Pflanzen schützten sie vor den Blicken der vielen Hochzeitsgäste. „Ich liebe dich, Joel.“ Roxannes Stimme war sanft, süß und zart wie eine Sommerbrise. Aber es lag auch ein Klang von Zurückhaltung darin, Resultat ihrer strengen Erziehung. „Ich liebe dich so sehr – “ Der Rest wurde von einem langen, leidenschaftlichen Kuß erstickt. Als sie ihn ansah, glänzten ihre Augen wie Sterne, ihre Lippen bebten, ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Das Leben war wunderbar! Sie hatte den Mann gefunden, den sie liebte, den sie immer lieben würde. Groß und sportlich war Joel, er sah blendend aus. Er hätte jedes Mädchen haben können, aber gerade sie hatte er erwählt. „Ich will nicht länger warten, Roxanne!“ „Joel!“ Wie ein erschrockenes Kind fuhr sie zurück. „Du darfst so etwas nicht sagen.“ „Liebling, du hast so altmodische Ansichten. Wenn ich genug Geld habe, werden wir heiraten. Warum sträubst du dich denn so gegen die Erfüllung? Du liebst mich doch wirklich!“ Sie sah ihn prüfend an. „Ich möchte wieder hineingehen, Joel.“ Er zog sie an sich und küßte sie noch einmal. „Du denkst doch schon wieder an diese alberne alte Gans. Streite es nicht ab. Sie ist eine engstirnige, alte Jungfer, die jedem Mann mißtraut, der dir nahe kommt.“ Roxanne schwieg. Sie sah die Frau vor sich, von der Joel sprach! Gebeugt und alt, mit wäßrigen, grauen Augen und von Rheumaknoten entstellten Händen. Deborah war ein sehr beliebtes und respektiertes Mitglied ihres Elternhauses und gehörte dorthin. Roxannes Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Deborah hatte von da an Mutterstelle bei Roxanne vertreten und sie ganz in ihrem Sinne erzogen. „Der Mann, der dich einmal liebt und heiratet, wird dich auf ein Piedestal stellen“, hatte sie oft zu Roxanne gesagt. „Gib acht, Kind, daß du nicht herunterfällst. Wie unfehlbar die Liebe eines Mannes auch sein mag, sein Gedächtnis ist genauso! Er wird dich ein Leben lang anbeten, wenn du dort bleibst, wo er dich hingestellt hat. Wenn du herunterfällst, verzeiht er es dir niemals.“ Joel hatte darüber gelacht. Schließlich sei sie neunzehn, andere Mädchen standen in diesem Alter schon im Berufsleben. Er machte ihr immer wieder Vorwürfe, daß sie überhaupt noch auf die alte Kinderfrau und den Vater hörte. Aber die jahrelange, strenge Erziehung ließ sich nicht so leicht abschütteln. Respekt und Ehrfurcht ihrem Vater gegenüber waren noch genauso stark, wie zu ihrer Kinderzeit. Nie hätte sie etwas getan, das Deborah nicht billigen würde. Daher ihr konsequenter Widerstand Joels Überredungskünsten gegenüber. „Ich möchte wieder zu den anderen hineingehen“, wiederholte sie. Joel holte tief Luft, nahm sie beim Arm und führte sie zurück in den großen Ballsaal des Hotels. Die Kapelle spielte einen zärtlichen Walzer, die Gäste lachten und unterhielten sich. Es war nach Mitternacht. Roxanne stand vor dem Spiegel und zog sich aus. Sie summte versunken eine Melodie. Die Tür ging auf. Lächelnd wandte sie sich zu Deborah um, die eintrat.
„Oh, Deb, ich bin ja so glücklich!“
„Ich wollte dir nur gute Nacht sagen. Ich habe dich heraufkommen hören.“ Leise
ging sie über den weichen Teppich. Sie blieb vor Roxanne stehen, den Blick der
blaßgrauen Augen auf ihr errötetes Gesicht geheftet.
„Du warst noch wach? Aber warum denn?“
„Ich habe keine Ruhe, ehe du nicht zu Hause bist, Roxanne.“
„Aber wenn ich mit Joel ausgehe, hast du doch nie Angst. Bei ihm bin ich gut
aufgehoben und ganz sicher.“ Das war sie auch wirklich, selbst wenn er hin und
wieder versuchte, sie zu überreden, ihm ganz zu gehören. „Hast du gehört, Deb?
Ich sagte, daß ich glücklich bin.“
„Natürlich hab’ ich es gehört. Aber auch wenn du nichts gesagt hättest – ich weiß
es schon seit Wochen. Man sieht es dir doch an. Wann werdet ihr heiraten?“
„Dazu haben wir noch nicht genügend Geld, wenigstens behauptet Joel das. Ich
würde lieber heute als morgen heiraten.“
„Joel ist ein kluger junger Mann. Dein Vater ist auch der Ansicht, daß er erst mal
ordentlich verdienen muß.“
Deborah sah starr auf die Wand.
„Was heißt das, Deb?“ fragte Roxanne bestimmt.
Deborah schüttelte den Kopf. Roxanne erinnerte sich, daß sie Joel von Anfang an
nicht gemocht hatte.
„Ach, nichts Kind, es ist unwichtig.“
Liebevoll betrachtete Roxanne das Gesicht, das vom Alter gezeichnet war: Die
Wangen durchzogen mit roten Äderchen, wie Straßen auf einer Landkarte, das
graue Haar straff zurückgekämmt und am Hinterkopf zu einem lächerlich kleinen
Knoten zusammengedreht.
Deborah umarmte Roxanne.
„Gute Nacht, mein Kind.“ Spröde, farblose Lippen berührten Roxannes Stirn.
„Und süße Träume.“
„Süße Träume…“ Seit Roxanne denken konnte, war das eine übliche
Familienfloskel.
Leise schloß Deborah die Tür. Roxanne wandte sich wieder ihrem Spiegel zu. Sie
schlüpfte aus dem langen Abendkleid. Prüfend betrachtete sie sich. Sie war
schlank und wohlproportioniert, ihr Gesicht von klassischer Schönheit mit hohen
Wangenknochen und schmaler Nase. Eine Masse honigbraunen Haares,
durchzogen von Kupfertönen, fiel auf glatte schmale Schultern. Die klaren
veilchenfarbenen Augen glänzten wie Sterne und reflektierten das große Glück,
das sie erfüllte. Wie schön war das Leben! Sie fühlte sich wie im siebten Himmel.
Kein Schatten lag auf ihrem Weg.
Als sie Joel dann eine Woche später wieder traf, machte er ihr eine
enttäuschende Eröffnung:
„Liebling, ich muß am Mittwoch für die Firma nach London. Vor Montag bin ich
nicht zurück.“
„Ach, Joel…“ Es klang so traurig, als habe Joel die Absicht geäußert, ein Jahr um
die Welt zu reisen. „Das halte ich nicht aus, ich sterbe vor Sehnsucht!“
Joel lachte und streichelte zärtlich ihre Wange. „Ich hoffe, meine Süße, das wirst
du nicht.“
„Dann kommst du ja auch nicht zu Claires Party.“
„Nein, Liebes, aber du mußt gehen.“
„Ohne dich gehe ich auf keine Party.“
„Aber das ist doch albern. Du kannst Claire nicht enttäuschen. Außerdem ist sie
viel mehr mit dir befreundet als mit mir.“
Das stimmte. Claire war mit Roxanne zur Schule gegangen und hatte Joel erst
durch sie kennengelernt. „Vielleicht hast du recht.“ Als sie sich am Samstagabend für Claires Party umzog, hatte sie erst zu nichts Lust. Für Joel hätte sie sich gerne hübsch gemacht. Doch als sie dann in einem duftigen, langen Kleid aus Nylonspitze in der Halle stand und Deborah und ihr Vater sie bewunderten, war sie plötzlich wie ausgewechselt. „Fertig, mein Kind?“ Da Joel sie nicht fahren konnte, hatte ihr Vater sich bereit erklärt, sie hinzubringen. Draußen lief schon der Motor des Autos. „Du siehst bezaubernd aus.“ Sie bedankte sich für dieses seltene Kompliment. Der Vater hatte immer dominiert. Er war Berufsoffizier gewesen, groß, aufrecht und streng. Roxannes Charakter hatte durch seine und Deborahs strikte Erziehungsmethode Züge instinktiven Gehorsams entwickelt. Gelegentlich rebellierte sie schweigend, und oft hatte sie den Wunsch, selbstbewußter zu sein. Aber dann tröstete sie sich immer wieder damit, daß ihre Persönlichkeit sich in der Ehe voll entwickeln würde. Joel hatte natürlich nicht die Absicht, sie zu unterdrücken. „Ich hole dich gegen elf wieder ab“, versprach der Vater, als er vor dem prunkvollen FortunaHotel hielt. Nur die Reichen konnten es sich leisten, hier ihre großen Partys zu geben. Claires Vater war Immobilienmakler. „Wirst du dann fertig sein?“ Es klang wie eine Frage, aber Roxanne wußte, daß es ein Befehl war. Gewöhnlich lag ihr Vater um diese Zeit schon im Bett. Daß er sie um elf abholen wollte, war eine Konzession, für die sie ihm dankbar war. – . „Hallo, Roxanne“, begrüßte Claire sie. „Es tut mir so leid, daß Joel nicht mitkommen konnte.“ „Ich war schrecklich enttäuscht, das kannst du dir sicher denken.“ Roxanne verstummte. Wie hypnotisiert starrte sie in zwei schwarze Augen, deren Blick sich von einer Ecke des Saales aus auf sie geheftet hatte. Sie fühlte sich wie die hilflose Beute, die dem scharfen Blick eines Raubvogels ausgeliefert war. „Wer – wer ist der Mann dort hinten in der Ecke?“ fragte sie. Claire antwortete. Aber Roxanne hörte gar nicht zu. Der Blick der schwarzen Augen in dem unbeweglichen Gesicht glitt in einer Art über ihren Körper, als wolle der Mann sich jede Linie einprägen. Sie erschauerte und bedeckte die nackten Schultern mit den Händen. Sie ärgerte sich über ihre Nervosität. Im Magen hatte sie ein seltsam flaues Gefühl, als ob sie tagelang nichts gegessen hätte. Nur verschwommen sah sie die große, schlanke Gestalt, die Kupferbräune seiner Haut. Das Gesicht war streng, fast kantig. Durch die ungewöhnlichen Augen und das tief schwarze, glänzende Haar, dessen Ansatz spitz in die Stirn ragte, wirkte es noch markanter. Das starke Kinn und die festen Lippen paßten genau in dieses unbarmherzige Gesicht mit der arroganten Adlernase. So muß der Teufel aussehen, dachte sie, und erneut überlief sie ein Schauer. Warum starrte er sie unaufhörlich an? Und warum konnte sie den Blick nicht von ihm wenden? „Wer ist das?“ fragte sie noch einmal. „Don Juan Armando Ramires.“ Claire warf der Freundin einen verstohlenen Blick zu. „Er scheint dich zu faszinieren.“ „Er… er ist irgendwie ungewöhnlich. So fremdartig.“ Sie merkte, daß sie diesen Mann noch immer ansah und wandte sich plötzlich energisch zu Claire um. „Ist er Spanier oder Portugiese?“ „Weder noch – Mexikaner.“
„Woher kennst du ihn? Du hast mir noch nie von ihm erzählt.“ Claire hakte die Freundin unter und ging mit ihr auf eine Gruppe junger Leute zu, die Roxanne alle kannte. „Roxanne, ich kenne ihn überhaupt nicht. Er ist ein Freund von Martin. Letztes Jahr im November hat er ihn auf seiner Reise getroffen.“ „Ein Freund deines Bruders? Macht er hier Ferien?“ Roxanne war etwas verlegen. Martin hatte sich vor einiger Zeit in sie verliebt, und als Roxanne ihn abblitzen ließ, war er auf Reisen gegangen – hierhin, dorthin. Sie erinnerte sich, daß Claire ihr kürzlich erzählt hatte, er sei jetzt in Mexiko. „Ja, ich glaube, er will sich hier erholen“, antwortete Claire. „Ich habe erst gestern abend erfahren, daß er auf meine Party kommt. Martin hat ja jetzt eine eigene Wohnung. Er rief an und sagte, daß er einen Freund mitbrächte.“ Claire zuckte die Achseln, sie gingen im Reden weiter. „Du kennst Martin ja“, fuhr Claire fort. „Bei ihm muß man immer mit Überraschungen rechnen. Jeder andere hätte schon einmal etwas von der neuen Freundschaft erwähnt oder erzählt, daß dieser Mexikaner beabsichtigt, nach England zu kommen. Aber so etwas hält mein Herr Bruder für überflüssig. Er setzt uns immer vor vollendete Tatsachen. Und dieser Juan ist nun die .mexikanische Tatsache’. Ich war ziemlich entsetzt, als ich ihn sah. Ich finde, er sieht wie ein Teufel aus.“ „Genau dasselbe habe ich auch gedacht.“ Roxannes Augen suchten wieder den Mann, von dem sie sprachen. Immer noch stand er an der gleichen Stelle. Mit unbewegtem Gesicht starrte er sie aus der Entfernung an. Roxanne mußte sich zwingen, seinem Blick auszuweichen und sagte schließlich: „Auf jeden Fall ist er ein ungewöhnlicher Typ.“ „Martin hat mir vorhin einiges über ihn erzählt“, flüsterte Claire ihr zu. „Wenn wir nachher mal allein sind, sprechen wir drüber.“ Dann ging sie mit charmantem Lächeln auf ihre Gäste zu. „Hallo, meine Lieben, ich danke euch, daß ihr gekommen seid.“ „Wir haben zu danken für deine nette Einladung.“ Glenda Hartnett schwieg einen Moment und fragte dann: „Wer ist eigentlich dieser Luzifer dort in der Ecke?“ „Ein Freund von Martin aus Mexiko.“ „Der gesellige Typ scheint er nicht zu sein. Na, vielleicht ist man in Mexiko zurückhaltender. Warum stellt Martin uns den Neuzugang nicht vor?“ „Das macht er bestimmt noch, aber er wurde gerade vor ein paar Minuten zum Telefon gerufen.“ Roxanne schwieg. Sie hörte kaum auf die Unterhaltung der anderen. Mechanisch ging sie mit ein paar Freundinnen in die Halle, wo Drinks serviert wurden. Ihre Unruhe wuchs und ihr Herz schlug bis in den Hals hinauf, als Martin mit seinem Freund näherkam. Er stellte ihn zuerst Claire vor, dann der Reihe nach den anderen in diesem Kreis. Roxanne war die letzte. Seine Hand schloß sich fest um die ihre. Eine beherrschende Wirkung ging von ihm aus. Sie zwang sich zu lächeln und sagte höflich: „Sehr erfreut.“ „Ich bin glücklich, Sie kennenzulernen, Miß Hutton.“ Er sagte es ganz ruhig. Seine Stimme war tief und wohlklingend. Er hielt Roxannes Hand länger als unbedingt nötig, und sie hörte schon das unterdrückte Lachen der Freundinnen, die diese Szene beobachteten. Sie fühlte langsam Röte in ihre Wangen steigen und versuchte, dem zwingenden Blick des Fremden auszuweichen. „Wir müssen uns später noch unterhalten.“ Roxanne wollte gerade fragen warum, als Martin den Freund wieder mit Beschlag belegte, um ihn den übrigen Gästen vorzustellen.
„Du wolltest mir noch etwas von diesem Fremden erzählen“, sagte Roxanne, als sie etwas später mit Claire am kalten Büfett stand und sich verschiedene Delikatessen aussuchte. Sie setzten sich an einen der kleinen Tische. ‘ „Ach ja, von Don Juan. Du, das ist eine tolle Story. Aber vielleicht ist auch alles nur Gerede, man weiß es nicht so richtig. Auf jeden Fall ist er der Nachfahre ganz höllisch räuberischer und sündhafter Ahnen, die gemordet und gebrandschatzt haben sollen. Das hat Martin aber nicht von Juan selbst gehört, sondern von einem Mann, den er während seines Besuches getroffen hat.“ Claire aß ein wenig Spargelsalat von ihrem Teller und sprach dann weiter: „Im Laufe von Generationen soll es immer wieder ein sogenanntes »schwarzes Schaf in der sonst erstklassigen Familie geben. Ob Juan eins ist, weiß ich nicht. Übrigens war er mit einem sehr schönen Mädchen verlobt, das starb. Er wurde verbittert und verschanzte sich auf seiner Hacienda. Niemand durfte herein oder heraus, ausgenommen die Dienstboten. Er soll eine ganze Armee davon haben, erzählte uns Martin.“ „Eine traurige Geschichte“, sagte Roxanne nachdenklich. „Ich verstehe allerdings nicht, daß ein Mädchen überhaupt den Wunsch haben kann, ihn zu heiraten. Ich finde ihn unheimlich.“ Claire nickte. „Du hast recht. Aber vielleicht wirkt er auch nur so. Durch dieses Unglück mit seiner Verlobten, weißt du. Ich finde ihn trotzdem ungeheuer attraktiv. Seine Strenge und der harte Mund machen ihn so beängstigend.“ Versonnen nickte Roxanne. „Wie konnte Martin ihn denn besuchen, wenn keiner diese Hacienda betreten durfte?“ „Seltsamerweise standen die großen Tore an diesem Tag offen. Martin hatte Durst, er war den ganzen Tag gewandert. Juan ging gerade durch den Garten, und Martin bat ihn um etwas Trinkbares. Juan war zuerst böse, doch dann unterhielt er sich mit ihm. Du weißt ja, wie charmant mein Bruder sein kann. Das Resultat war, daß Juan ihn einlud. Er muß auch gesehen haben, wie wohltuend ein Bad für Martin gewesen wäre. Nach dem Bad konnte mein Bruder sich in einem der Gästezimmer ausruhen. Er wachte erst am Abend wieder auf. Juan bat ihn, zum Dinner zu bleiben. Anscheinend verstanden die beiden sich sehr gut, denn er blieb auch noch über Nacht.“ „Tatsächlich?“ „Drei Tage war er Gast auf der Hacienda Ramires. Kaum zu glauben, nicht wahr? Seitdem korrespondieren sie miteinander, und Juan versprach Martin, ihn zu besuchen, sobald er wieder in England sei. Martin ist seit vierzehn Tagen wieder hier. Ich muß sagen, Juan hat sein Versprechen schnell wahrgemacht.“ Roxanne runzelte die Stirn. „Ich finde, das klingt alles sehr merkwürdig. Wenn dieser Don Juan ein derartig eingefleischter Eigenbrötler ist, wieso entschloß er sich dann so schnell, nach England zu kommen?“ „Das weiß ich wirklich nicht. Auf jeden Fall ist Martin begeistert, daß er hier ist. Er fand den Gedanken fürchterlich, daß ein Mann sich völlig von der Außenwelt abkapselt, nur weil er seiner verlorenen Liebe nachtrauert.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Mann überhaupt irgend etwas nachtrauert.“ „Oh, doch. Dieser Typ Mann liebt sehr intensiv – und das sicher nur einmal im Leben.“ Roxanne mußte über die tiefsinnige Bemerkung lächeln. Sehr ernst fragte sie die Freundin, wie lange Juans Verlobte tot sei.
„Schon jahrelang“, antwortete Claire.
„Jahrelang? Und die ganze Zeit hat er wie ein Einsiedler gelebt?“ Trotz allem, was
Claire von Don Juan Armando Ramires berichtet hatte, war Roxannes Eindruck
von diesem Mann ein ganz anderer. „Das glaube ich einfach nicht!“
„Aber es stimmt – wirklich“, versicherte Claire. „Juan war Ende zwanzig, als es
passierte. Das Mädchen starb an irgendeinem Virus, eine Woche nachdem man
es ins Krankenhaus eingeliefert hatte. Juan war untröstlich. Viele seiner Freunde
glaubten, er würde sich das Leben nehmen.“
Roxanne schüttelte den Kopf.
„Dafür scheint er mir viel zu beherrscht“, meinte sie.
„Vielleicht. Aber dieser Mann, mit dem Martin in einem Cafe in der Nähe der
Hacienda gesprochen hat, sagte sogar, daß auch die Einwohner der umliegenden
Dörfer mit seinem Selbstmord gerechnet hätten.“
„Der Mann scheint ja sehr mitteilsam gewesen zu sein“, warf Roxanne ein.
„Es hatte sich natürlich im Dorf herumgesprochen, daß ein Engländer auf die
Hacienda vorgedrungen – mehr noch, vom Besitzer eingeladen worden war. Ich
nehme an, die Bediensteten haben von dem sensationellen Ereignis berichtet. So
ist es doch meistens. Als der Mann dann die günstige Gelegenheit erwischte, mit
Martin ins Gespräch zu kommen, schwatzte er drauflos. Wahrscheinlich um
Martin auszuhorchen. Natürlich war er da an den Falschen geraten. Wenn Juan
durch einen Dritten erfahren hätte, daß sein Gast über ihn tratschte, wäre er mit
Recht sehr böse und unangenehm geworden.“
Roxanne war in Gedanken verloren. Sie hatte sich inzwischen etwas beruhigt und
sah sich nicht mehr dauernd voller Nervosität um. Juan war nicht mehr in ihrer
Nähe.
„Es ist eine sonderbare und traurige Geschichte“, sagte sie leise. „Er ist also der
Nachkomme eines alten Geschlechts. Man hat nicht oft Gelegenheit, solche
Menschen kennenzulernen.“
„Der Helmschmuck seiner Ahnen war ein schwarzer Adler. Immer, wenn ein
männlicher Erbe geboren wurde, nannte man ihn den .Schwarzen Adler’.“
„Hat Martin das auch von dem Dorfbewohner gehört?“
„Natürlich. Sonst hat Martin mit niemandem gesprochen. Und Juan hat nichts
erwähnt.“
Roxanne sah in die schwarzen, durchdringenden Augen. Ihre Nerven waren
wieder angespannt. Don Juan hatte sie um einen Tanz gebeten. Sie wollte gerade
ablehnen, als er sie einfach in die Arme nahm und auf die Tanzfläche führte.
„Sie tanzen fabelhaft, Miss Hutton“, sagte er nach einer Weile. „Aber Sie haben
sicher auch oft Gelegenheit dazu.“
„Nein, eigentlich nicht. Ich gehe hin und wieder auf Partys. Manchmal lädt mein
Freund mich auch zum Tanzen ein.“
Befremdliches Schweigen folgte.
„Sie haben einen Freund? Erzählen Sie mir von ihm“, bat er dann.
Sie blickte kühl zu ihm auf. Fasziniert sah er sie an.
„Das kann Sie doch gar nicht interessieren“, wich sie aus.
„Im Gegenteil, es interessiert mich sogar sehr. Sind Sie verlobt? Wollen Sie ihn
heiraten?“
Roxanne schüttelte den Kopf.
„Noch nicht. Aber irgendwann wollen wir natürlich heiraten.“
Seine Lippen zogen sich spöttisch nach oben. Roxanne hatte den Eindruck, daß
dieses humorlose Lächeln eher ihm selber galt.
„Und wann soll diese Heirat stattfinden?“
„Sobald Joel genug Geld verdient.“
„Ist Geld für Sie so wichtig?“
„Für mich nicht“, erwiderte sie arglos. „Ich würde sofort heiraten, wenn Joel will.“
Juan sah in ihr glühendes Gesicht. Sie überlegte, ob er die Lippen bei ihren
Worten wirklich zusammengepreßt hatte, oder ob sie es sich nur einbildete.
„Sie müssen sehr verliebt sein.“
„Natürlich! Sonst würde ich Joel ja kaum heiraten.“
Er nickte geistesabwesend. Ob er jetzt an seine Verlobte dachte, die gestorben
war?
„Wie lange kennen Sie Joel?“
Warum interessierte er sich eigentlich so für ihr Privatleben? Sie zögerte, seine
Frage zu beantworten. Es machte den Eindruck, als wolle er sich wenig über Joel
als vielmehr über sie informieren. Sie fühlte wieder diese fremde beherrschende
Kraft, die sie festhielt, als sei sie eine Gefangene. Warum hatte sie nicht den Mut,
diesem Fremden klarzumachen, daß sie ein für alle Mal keine weiteren Fragen
dieser Art wünsche?
„Seit drei Monaten.“
„Drei Monate“, wiederholte er mehr für sich. „Das ist aber noch nicht sehr lange.“
Roxanne versuchte ihre Ruhe wiederzufinden. Aber die Art, wie er zu sich selbst
sprach, erregte sie. Jetzt kam auch noch eine unerklärliche Angst hinzu. Sie
schluckte ein paarmal. Endlich gelang es ihr zu sagen:
„Bitte… bitte, macht es Ihnen etwas aus, wenn wir aufhören zu tanzen? Ich… mir
ist nicht besonders gut.“ Die Lüge trieb ihr das Blut ins Gesicht. In seinen
schwarzen Augen war ein Flackern, der schmale Mund schloß sich fest. Aber die
dunkle Stimme klang freundlich: „Wenn Sie möchten – bitte, Miss Hutton.“
Wenn sie jedoch angenommen hatte, ihn jetzt loszuwerden, befand sie sich im
Irrtum. Er wich nicht von ihrer Seite.
„Ich sagte vorhin, daß ich mich mit Ihnen unterhalten möchte“, erinnerte er sie.
Ohne zu fragen, führte er sie zu einer kleinen Nische, in der ein Tisch für zwei
Personen stand. Hilfesuchend sah sie sich um. Wovor hatte sie eigentlich Angst?
Es waren doch so viele Menschen um sie herum. „Sie sind sehr schön“, sagte er,
während er ihr Platz anbot. „Wie alt sind Sie?“
„Neunzehn.“ Roxanne war böse auf sich selbst, weil sie ihm schon wieder so
bereitwillig antwortete.
„Ein zauberhaftes Alter für eine Frau:“ Er atmete tief. Instinktiv begriff Roxanne,
daß seine Verlobte sicher auch neunzehn gewesen war, als sie starb. „Ihre Augen
haben eine ungewöhnliche Farbe, zwischen blau und violett. Sie wechseln die
Farbe – wissen Sie das eigentlich?“
Sie nickte scheu.
„Joel liebt das“, fügte sie hinzu, ohne zu wissen warum. Doch vielleicht gab es ihr
einen gewissen Schutz, wenn sie von Joel sprach. Schutz? Wovor eigentlich?
Es war, als ob Juan ihre letzte Bemerkung überhört hätte.
„Ihr Haar ist prachtvoll. Eine ungewöhnliche Farbe, dieser Kupferton…“ Plötzlich
schien ihr, daß er gar nicht sie meinte. Sein Blick war starr, völlig abwesend, sein
Geist bewegte sich in weiter Ferne. Hatte seine Braut etwa die gleiche Haarfarbe
gehabt? Auf einmal war Roxanne der Grund für sein Interesse klar. „Ihre Figur,
Ihr Gesicht…“
Roxanne vereiste. Sie stand auf.
„Ich möchte jetzt wieder zu den anderen“, sagte sie. „Bitte, würden Sie mich
zurückbringen?“
Er kam wieder zu sich und sah sie überrascht an.
„Was ist denn los?“ Er erhob sich ebenfalls. „Fühlen Sie sich wirklich nicht gut?“
Die Frage verriet alles. Natürlich wußte er genau, daß sie ihn vorher angelogen
hatte, als sie den Tanz mit ihm abbrach.
„Ich bin… ich bin müde“, erwiderte sie schwach.
„Müde – von meiner Gesellschaft?“
„Nein, das nicht. Ich möchte aber lieber wieder zu den anderen“, fügte sie
ziemlich taktlos hinzu, denn er war schon drauf und dran gewesen, sie wieder mit
Beschlag zu belegen.
„Gut, Miss Hutton. Darf ich vielleicht später noch einmal mit Ihnen tanzen?“
„Ich – ich…“ Sie hätte nur zu gerne abgelehnt, aber dazu war sie zu gut erzogen.
Wenn Joel doch da wäre! Warum hatte sie nicht auch abgesagt? Jetzt stand sie
hier allein mit diesem seltsamen Fremden. Der Kontakt zu Martin hatte diesen
Eigenbrötler aus seiner Abgeschlossenheit den weiten Weg nach England
gebracht, wo er ausgerechnet sie treffen mußte. Sie fühlte, daß etwas
Sensationelles geschehen würde, etwas, das ihr Schicksal beeinflußte. Es war wie
ein Damoklesschwert, das über ihr hing.
„Sie haben doch vor irgend etwas Angst, nicht wahr?“ Er sprach ruhig und leise,
mit einer Spur Akzent, aber auch mit unbestimmbarer Emotion. „Wovor fürchten
Sie sich, Miss Hutton?“
Sie schüttelte verwirrt den Kopf. „Ich weiß es nicht“, murmelte sie. Ihr schöner
Mund zuckte. Er blickte ihr tief in die Augen, und sie meinte zu hören, wie er den
Atem anhielt.
„Aber Sie haben doch Angst?“ fragte er hoch einmal. Sie nickte automatisch.
„Warum, mein Kind?“
Mein Kind… Er hatte eine außergewöhnliche Art, sich auszudrücken. Schließlich
war er doch ein völlig Fremder.
„Ich weiß es wirklich nicht“, antwortete sie tonlos. „Ich glaube, dieser Abend ist
einfach zuviel für mich.“
Die schwarzen Augen sahen sie eindringlich an, als ob er Gedanken lesen könnte.
„Habe ich etwas damit zu tun?“
Was sollte sie darauf erwidern.
„Ich habe noch nie einen Menschen wie Sie getroffen“, gab sie schließlich
freimütig zu. Sie sah etwas wie Freude in den schwarzen Augen aufleuchten.
„Ich bin befremdend für Sie, im Vergleich zu Ihren fröhlichen, gutaussehenden
Freunden.“
Sie hatte diese Offenheit nicht erwartet und befand sich erneut in einer
Zwickmühle.
„Sie sind anders, ja, das stimmt, ganz anders...“ Abrupt brach sie ab. Jetzt hatte
sie doch fast zugegeben, daß er nicht so gut aussah, wie die Männer, die sie
kannte.
Juan blickte sie unverwandt an. Er machte sich keine Illusionen über sein
Aussehen, das merkte sie sofort.
„Wollen wir in den Ballsaal zurückgehen?“ fragte er. „Ich werde Sie auch nicht
wieder zum Tanzen auffordern, da es für Sie ja eine’ ziemliche Überwindung zu
sein scheint.“ Etwas wie Hoffnungslosigkeit klang aus seinen Worten. Roxannes
weiches Herz gab nach. Sie dachte an die Braut, die er verloren hatte. Wie würde
ihr zumute sein, wenn sie Joel nicht mehr hätte? Ganz impulsiv und mitfühlend
rief sie:
„Nein, nein, das dürfen Sie nicht sagen, Mr. – ich meine, Don – mein Gott, wie
rede ich Sie denn an?“ Endlich brachte sie es fertig zu lachen. Es wirkte
befreiend. Die Härte aus seinem Blick verschwand. Er lächelte.
„Juan würde doch gut klingen. Besonders, wenn Sie es sagen.“
Sie zuckte zurück, eine Geste, die Joel sofort begriffen hätte.
„Oh, aber...“ Sie schüttelte den Kopf. „Das kann ich doch nicht.“
„Warum denn nicht? Juan“, sagte er sanft, und wieder fühlte Roxanne die Macht,
die von ihm ausging. Gehorsam wiederholte sie:
„Juan.“
Er schien dem Klang ihrer Stimme nachzulauschen. Dann fragte er:
„Roxanne, wollten Sie mir vorhin nicht etwas sagen?“
Roxanne war überrascht, wie vertraut und zärtlich er ihren Namen aussprach.
Verwirrt wandte sie das Gesicht ab. Er sollte, nicht sehen, daß sie wieder
errötete.
„Ja? Ach ja, natürlich! Ich wollte sagen, daß es mich wirklich keine Überwindung
kostet, mit Ihnen zu tanzen.“
„Ist das wahr?“ Er beugte sein scharfgeschnittenes Gesicht zu ihr herunter, und
als sie den Blick hob, sah sie ihm direkt in die Augen. „Wenn es so ist, Roxanne,
werde ich Sie später noch einmal auffordern.“
Sie nickte. Juan trat zur Seite, um ihr Platz zu machen, damit sie zwischen Tisch
und Stuhl herauskommen konnte. Sie stieß mit dem Knöchel gegen eines der
Tischbeine, stolperte und schrie leise auf. Juan umfaßte sie und führte sie in den
Ballsaal.
„Roxanne, haben Sie sich verletzt?“
Seine Besorgtheit erstaunte sie.
„Es war nur ein momentaner Schmerz, gar nicht der Rede wert.“ Ihre Stimme
klang unsicher, hoch und verschreckt. Sie fühlte die Berührung seiner Hände
durch den Stoff ihres Kleides. Und dann den Druck seiner Lippen, als er rasch
einen Kuß auf ihr Haar drückte.
2. KAPITEL Die Hacienda Ramires lag auf einem Hügel, von dem aus man weit ins Tal sehen konnte. Hinter dem riesigen Besitz ragte die Sierra Madre mit schroffen Felsspitzen empor. Roxanne sah gedankenverloren auf das Gebirge. Sie nahm nichts von all der Schönheit wahr, die sie umgab. Seit dem schicksalhaften Tag, an dem man sie gezwungen hatte Juan zu heiraten, war es immer nur das Bild ihres geliebten Joel, das sie vor Augen hatte. Nie würde sie den Ausdruck seines Gesichts vergessen, nie seine tiefe Enttäuschung, die Proteste und endlich seine Resignation. „Roxanne, der Lunch ist serviert!“ Die harte, eiskalte Stimme ihres Mannes deprimierte sie noch mehr. Sie wandte sich um. Da stand er, groß und schlank, die Hände in den Taschen des Jacketts vergraben. „Warum wanderst du eigentlich ständig hier draußen herum? Was ist los mit dir?“ Sie war von jeher gehorsam gewesen. Diese anerzogene Tugend hatte sie in die Ehe mit Juan getrieben. Aber jetzt begann ihr Selbstbewußtsein, sich langsam zu entwickeln. Sie lebte nur für den Tag, an dem sie ihren ganzen Mut aufbringen und Juan verlassen würde. Herausgefordert durch ihre bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der toten Verlobten, hatte er eine Situation geschaffen, die ihr nur eine Wahl ließ: Entweder sich selbst, den Vater und Deborah für den Rest des Lebens unglücklich zu machen, oder Juan zu heiraten. Vom Vater und Deborah in die Enge getrieben, hatte sie die Heirat gewählt. Außerdem war sie sich ganz klar darüber, daß Joel, obwohl er sie immer noch liebte, niemals eine Frau geheiratet hätte, die sich mit einem anderen Manli kompromittiert hatte. Auch Juan wußte das, er hatte die Situation ja mit voller Absicht herbeigeführt und ihr dann die Heirat angeboten. „Ich kann mit meiner Zeit anfangen, was ich will und bin niemandem Rechenschaft schuldig“, antwortete sie auf seine Frage. Für jemand, der immer unterdrückt worden war, immer älteren Menschen gegenüber Respekt gezeigt hatte, nahm sie sich viel heraus. Ihre Worte waren um so riskanter, da sie den schwierigen Charakter Juans kannte. Er hatte mehr als einmal die Geduld verloren, und sein Jähzorn war beängstigend. „Ich bin lieber hier draußen – allein.“ „Lieber als bei deinem Mann soll das heißen – nehme ich an.“ Er stand mit dem Rücken gegen den dekorativen Springbrunnen, eines der schönsten und wertvollsten Stücke in dem riesigen Park. Die strahlende Sonne ließ die Fontäne in allen Regenbogenfarben schimmern. „Ja, ich bin lieber allein.“ „Weißt du, wie lange wir verheiratet sind, Roxanne?“ Ihr Gesicht wurde eine Nuance blasser, als sie antwortete. „Das werde ich nie vergessen. Zwei Monate, drei Tage und...“ sie sah auf ihre Armbanduhr, „zweiundzwanzig Stunden.“ Er wandte sich ab. Sie fühlte, daß er seine Enttäuschung nicht zeigen wollte. „Du zählst die Stunden?“ „Ich werde sie bis zu meinem Todestag zählen – hoffentlich ist er nicht mehr weit.“ Sie hatte nicht die Absicht gehabt, so etwas Böses zu sagen. Aber sie wollte ihn verletzen, damit er immer wieder an seine Niederträchtigkeit erinnert wurde, die für sie so schreckliche Konsequenzen gehabt hatte. Er sollte nie vergessen, daß sie Joel liebte, nicht ihn, den dunklen Mann, der sich wie ein Adler auf sie gestürzt hatte. Trotz ihrer Aversion gegen ihn, kam er jede Nacht zu ihr, fordernd und erobernd. Seine Arroganz steigerte sich mit dem Bewußtsein, sie zu besitzen.
„Ich verbiete dir, so etwas zu sagen!“ Seine Stimme hatte den schneidenden Ton eines Befehls. Roxanne mußte an Marta denken, deren Foto ihr die alte Hexe gezeigt hatte, die als Haushälterin auf der Hacienda fungierte. Diese Alte schien so vernarrt in Juans verstorbene Braut gewesen zu sein, daß sie alles, was ihr von Martas Sachen in die Hände gefallen war, wie einen Schatz hütete. Juan kam auf sie zu. Sie wich einen Schritt zurück. Doch er umklammerte ihren Arm und schüttelte sie: „Du darfst nicht sterben! Nicht vor mir, hörst du? Du darfst nie wieder vom Sterben sprechen!“ Weiß bis in die Lippen stand Roxanne vor ihm. Als er sie losließ, schwankte sie, Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie ließ den Arm fallen, den sie zur Verteidigung gehoben hatte. Es war besser, ihn nicht zu reizen. Wie oft in der Vergangenheit hatte sie sich von anderen überrumpeln lassen und die eigene Schwäche verflucht. Immer wieder hatte sie sich mehr Selbstvertrauen gewünscht. Jetzt war sie etwas sicherer geworden, wahrscheinlich durch den Einfluß wachsender Fraulichkeit. Trotzdem tat ihr jede Rebellion gegen Juan sonderbar weh. Denn der Abgrund, der zwischen ihnen klaffte, wurde dadurch immer größer. „Wollen wir hineingehen?“ Sie versuchte, beherrscht zu sprechen und die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „Das Essen wird sonst kalt.“ Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte, war er mit großen Schritten vorangegangen. Ohne Hast folgte sie ihm durch den Garten. Diese herrliche parkähnliche Anlage wurde von fünf Gärtnern betreut. Die ersten Jahre nach Martas Tod waren sie beschäftigungslos gewesen, Juan hatte ihnen ein Ruhegehalt gezahlt’ Besitz und Haus verkamen langsam. Jetzt sah alles wieder gepflegt aus und wirkte wie ein bezauberndes Bild in einem schönen Rahmen. Das Haus, ein zweistöckiger Palacio, hatte hohe französische Fenster und Säulen, die von Bougainvilleen umrankt waren, eine sonnenüberstrahlte Loggia und einen Patio in maurischem Stil. Die Fassade stammte aus dem sechzehnten Jahrhundert, sie zeigte stark aztekischen Einfluß. Die gewölbten Decken im Innern wiesen herrliche Ornamente auf, die Türen waren aus wertvollem Schnitzwerk. Die kultivierte Einrichtung verriet den Reichtum des Eigentümers. „Wo bist du gewesen?“ fragte Juan mürrisch, als sie das Eßzimmer betrat. Sie hatte sich in ihrem Zimmer oben frisch gemacht und frisiert. „Inzwischen ist eine Viertelstunde vergangen.“ Höflich schob er ihr den Stuhl zurecht. „Verzeih, daß ich dich solange warten ließ“, sagte sie und warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Dann entfaltete sie ihre Serviette. „Sei vorsichtig, Roxanne“, warnte er sie. „Meine Geduld hat Grenzen, das wirst du schön festgestellt haben.“ Blaß und schweigend begann sie zu essen. Luis, der Diener, servierte. Während der ganzen Mahlzeit wechselte das Ehepaar kein Wort miteinander. Endlich erhob sich Roxanne. Sie holte erleichtert Luft und folgte Juan in einen kleinen Salon, wo der große, ernste Luis den Kaffee auftrug. Seit sie hier auf der Hacienda war, zogen sich die Mahlzeiten immer unerträglich lange hin. Zumindest kam ihr das so vor, weil sie alle in völligem Schweigen eingenommen wurden. Manchmal überlegte Roxanne, wie viele Mahlzeiten sie noch ertragen mußte, ehe sie vor diesem Mann fliehen konnte. Während sie Kaffee tranken, teilte er ihr mit, daß er am nächsten Morgen geschäftlich in der Stadt zu tun hätte. „Vielleicht möchtest du mitkommen, Roxanne. Es wäre für dich eine Abwechslung. Du könntest in den wirklich schönen und eleganten Geschäften Einkäufe machen.“
Sie schüttelte den Kopf ohne überhaupt auf seinen Vorschlag einzugehen.
„Ich brauche nichts. Ich hab’ ja alles.“
Wieder peinliches Schweigen.
„Aber, Roxanne, du hast doch gar nicht viel anzuziehen. Darf ich dir nicht ein
paar hübsche Dinge kaufen? Kleider, Schuhe, Wäsche?“
Verächtlich blitzten ihre Augen ihn an.
„Wäsche? Damit ich mich dann vor dich hinstellen kann und du mich
bewunderst? Für dich bin ich nur ein Spielzeug, das weiß ich inzwischen. Aber
etwas Stolz habe ich noch. Ich denke nicht daran, mich für dich an und
auszuziehen!“
Die schwarzen Augen verengten sich, die Kaffeetasse in seiner Hand klirrte.
Roxanne erschrak. Warum war sie wieder so unbesonnen gewesen?
„Spielzeug?“ wiederholte er hart. „Du hast das Gefühl, daß ich mit dir spiele?“
Sie sah ihn ganz fest an.
„Nein, aber du…Was bin ich denn sonst?“ stieß sie hervor.
Juan schwieg. Sie wurde rot, weil er es nicht für nötig hielt, ihr zu antworten.
„Woher weißt du überhaupt, was ich dir kaufen wollte?“ fragte er statt dessen.
„Natürlich solche Sachen, die Ehemänner an ihren Frauen gerne sehen.“
Er schien amüsiert.
„Also mußt du genau wissen, was Ehemänner an ihren Frauen gerne sehen“,
kommentierte er leicht sarkastisch. „Wann hast du das gelernt?“
„Ich weiß, was ich gerne für Joel getragen hätte.“ Sie hielt den Atem an. Wie
unklug war diese Bemerkung. Warum ging sie immer wieder ein Risiko ein? Ihre
Augen weiteten sich unter dem drohenden Ausdruck in den seinen. In den
schwarzen Tiefen glomm es gefährlich, der Mund war ein wenig geöffnet, sie sah
die starken, weißen, fest zusammengebissenen Zähne.
„Mein Gott, Roxanne, deine spöttischen, verletzenden Bemerkungen werden dir
eines Tages leid tun. Ich bin dein Mann, und je eher du das zur Kenntnis nimmst,
desto harmonischer wird dein Leben sein. Reize mich nicht, es könnte einmal
gefährlich für dich sein.“
Sie hatte einen schlimmeren Ausbruch erwartet. Lässig griff sie nach der
silbernen Kaffeekanne und goß ihre Tasse voll. Nach einer Weile begann Juan,
wieder zu sprechen. Er forderte sie auf, am nächsten Morgen mit ihm in die Stadt
zu fahren.
„Und“, fügte er hinzu, „du wirst dir ein paar von den hübschen Dingen kaufen,
die einem Ehemann Freude machen.“
Wieder errötete sie. Ihr fielen sofort die Nachthemden ein, die sie trug, lang und
hochgeschlossen, mit Ärmeln, die an den Handgelenken zugeknöpft wurden.
„Du bestimmst also, daß ich mit dir in die Stadt fahre?“ fragte sie. Er nickte.
„Wenn du es so siehst, Roxanne – ja, ich bestimme, daß du mitkommst.“
Wie hätte eine andere, willensstärkere Frau sich in diesem Moment verhalten?
Claire, zum Beispiel. Claire, die immer behauptete, daß kein Mann sie jemals
beherrschen würde. Könnte ein Mädchen, eine kleine Persönlichkeit wie Claire,
mit einem Mann wie Juan fertigwerden? Roxanne schüttelte den Kopf.
Keine Frau konnte die Kraft dieses dunklen Fremden niederzwingen. Er hatte
zuviel von seinen gefährlichen, unbarmherzigen Ahnen geerbt, dieser Mann, den
die Dorfbewohner den .schwarzen Adler’ nannten. Roxanne sah ihn an. Ja, sein
Profil glich einem Adler, einem mitleidlosen Raubvogel. Wenn seine
Zornausbrüche ihren Höhepunkt erreichten, wurde sein Gesicht zu einer
unheimlichen Maske.
In solchen Augenblicken lief Roxanne einfach weg, und er hatte niemals den
Versuch gemacht, ihr zu folgen. Wenn sie sich am nächsten Tag begegneten,
schien es, als ob er einen Schleier über die Episode zöge. Er wollte jeden Gedanken daran ersticken. Aber sie konnte nicht vergessen. Alles, was er ihr angetan hatte, war unauslöschbar in ihrem Gehirn aufgespeichert. Und sie registrierte weiter, tagein, tagaus. So blieb der Haß auf ihn lebendig. Niemals würde sie die Grenze überschreiten, die zum Vergeben führte. Als er den Kaffee ausgetrunken hatte, stand er auf und ging in das kleine Zimmer, das er so oft aufsuchte. Roxanne hatte dieses Zimmer nie gesehen. Es interessierte sie auch nicht, ob es ein Studio oder ein Wohnraum war. Sie verbrachte die meiste Zeit damit, im Park spazierenzugehen, oder in ihrem Schlafzimmer mit hochgezogenen Beinen auf der Fensterbank zu sitzen und zu lesen. Hier, am offenen Fenster, fand sie wenigstens etwas Frieden. Sie lauschte den Vögeln, die in den alten Bäumen zwitscherten und atmete den Duft der Blumen ein. Es war März. Der Jacarandabaum vor ihrem nach Süden gelegenen Fenster war übersät mit gelblichvioletten Blüten. Diese Bäume säumten auch einen der vielen, breiten Wege. Eine andere Allee war von Zypressen eingefaßt, links und rechts lagen Rasenflächen, Rosengärten und Blumenbeete. In der Ferne erblickte sie die Berge im Sonnenschein, das grüne Tal und den goldenen Sand von Acapulco, Mexikos tropischem Ferienparadies am Pazifik. Juan hatte sie einmal gebeten, mit ihm hinzufahren, aber sie hatte abgelehnt. Vielleicht kam einmal der Tag, an dem sie beginnen würde, sich für dieses Land zu interessieren. Dann wollte sie allein hinfahren. „Senora!“ Roxanne wandte den Kopf, als sie die leise Stimme hörte. Sie saß noch immer an dem kleinen Tisch im Salon. Ihre Gedanken waren zu Hause. Sie zuckte zusammen, als sie die alte Haushälterin Lupita sah. „Ja?“ „Wenn Sie fertig sind, möchte ich abräumen.“ „Wo ist Luis?“ fragte Roxanne. „Heute ist sein freier Nachmittag, das wissen Sie doch, Senora.“ Roxanne hob das Kinn. Der freche Ton der Alten paßte ihr nicht. „Ich bin noch nicht fertig“, erklärte sie, nahm die Kanne und goß sich noch etwas kalten Kaffee in ihre Tasse. „Pardon, Senora.“ Die alte Lupita war langsam an den Tisch gekommen und blieb dort stehen. „Möchten Sie frischen Kaffee? Dieser ist doch kalt.“ Roxanne sah beharrlich in ihre Tasse. „Nein, danke, Lupita, er schmeckt noch sehr gut. Sie können gehen.“ Die dunkelgrauen Augen der Frau, die tief in den Höhlen lagen, blickten auf Roxannes gesenkten Kopf. „Sie sind eine stolze Frau, Senora. Aber englische Frauen sind wohl alle stolz.“ Roxanne fuhr hoch. „Hinaus!“ rief sie in einem Ton, der sie selbst erschrecken ließ, so verschieden war er von ihrer sonst so sanften Stimme. „Und kommen Sie nicht wieder, bis ich dieses Zimmer verlassen habe!“ Voller Verachtung blickte die Alte sie an. Dann verließ sie mit einer übertriebenen Verbeugung das Zimmer. Roxanne stand auf, ging in ihr Schlafzimmer und schloß die Tür. Hier war sie sicher – wenigstens tagsüber. Eine hohe Eichentür führte ins Schlafzimmer ihres Mannes. Sie hatte es noch nie gesehen. Wie unter einem inneren Zwang ging sie jetzt auf die Tür zu und öffnete sie. Das wohlbekannte Knarren verursachte ihr Unbehagen. Jede Nacht lag sie mit weit offenen Augen im Bett und wartete auf dieses Geräusch. Juan hatte einmal gesagt, die Angeln müßten geölt werden, aber er hatte es wieder vergessen. Immer noch war es dieses Knarren, das den
nächtlichen Besuch Juans bei ihr ankündigte.
Sie blieb an der Türschwelle stehen. Mit einem Blick umfaßte sie das große Bett,
den schweren eichenen Kleiderschrank, den Toilettetisch. Die Fenster gingen auf
die Hinterfront der Hacienda. In der Ferne sah man auch von hier Berge.
Sie ging zum Toilettetisch. Die Schublade in der Mitte war die einzige, die ein
Schloß hatte. Die anderen waren mit ornamentalen, goldenen Griffen versehen.
Ihre Hand berührte die Schublade. Sie zog sie heraus und wunderte sich, daß sie
nicht abgeschlossen war. Ein Paar goldene Manschettenknöpfe lagen darin, eine
goldene Krawattennadel. Dann erblickte sie eine kleine, schwarze Mappe. Sie
konnte ihre Neugier nicht bezähmen, nahm sie heraus und öffnete sie. Es waren
nur Papiere darin. Sie legte die Mappe zurück und schloß die Schublade.
Sie ging wieder in ihr Zimmer. Erschrocken blieb sie stehen.
„Was tun Sie denn hier?“ Mit blitzenden Augen starrte sie Lupita an. „Gehen Sie
hinaus!“
„Ich habe nur die Post gebracht, Senora. Zwei Briefe liegen auf Ihrem
Schreibtisch.“
Wütend richtete Roxanne den Blick auf den kleinen, wunderschön eingelegten
Sekretär.
„Danke“, sagte sie kurz.
„Ich kann mir schon denken, was Sie in Don Juans Zimmer wollten. Die Mappe,
wie? Sie wollten sehen, was darin ist.“ Und ehe Roxanne etwas entgegnen
konnte, setzte Lupita hinzu: „Fotos, Senora… Fotos!“ Damit zog sie sich zurück.
Leise schloß sie die Tür hinter sich.
Fotos… Lange blickte Roxanne auf die Verbindungstür. Mit einem Achselzucken
wandte sie sich dann dem Sekretär zu. Zuerst öffnete sie Deborahs Brief und las:
Meine liebe Roxanne!
Ich hoffe, Du bist gesund und so glücklich wie möglich unter den gegebenen
Umständen. Ich war traurig, als ich Deinen letzten Brief las. Aber weder Dein
Vater noch ich bedauern unser Verhalten. Es gab nur einen Weg: Den Mann zu
heiraten, dem Du Dich hingegeben hast. Verstehen können wir es nicht, Du warst
doch so glücklich mit Joel. Er war zufällig letzten Freitag bei mir. Dein Vater war
nicht zu Hause. Joel hat Dich mit keinem Wort erwähnt. Er ist hagerer geworden.
Aber Männer kommen ja besser über seelischen Schmerz hinweg. Paß auf Dich
auf, mein Kind, und schreibe bald.
Deine Dich innig liebende
Deborah.
Das war alles. Roxanne biß sich auf die Lippen. Nur mühsam konnte sie die
Tränen zurückhalten. Eine Welle von Selbstmitleid stieg in ihr hoch. Alle, die sie
so sehr liebte, hatten sie verlassen. Sie brauchte Briefe von zu Hause, auch wenn
sie voller Vorwürfe waren. Sie gaben ihr doch wenigstens etwas Trost. Warum
hatte Deborah nicht ausführlicher geschrieben?
Roxanne las den Brief noch einmal. Eine Träne fiel auf den Bogen und verwischte
die Schrift. Sie steckte das Schreiben wieder in den Umschlag und wollte gerade
den zweiten Brief öffnen, als sie jemanden in Juans Zimmer hörte. Noch ehe sie
aufstehen konnte, ging die Tür auf, und Juan kam herein.
„Hast du gehört, daß jemand in meinem Zimmer war?“ fragte er. Roxanne
schüttelte den Kopf. „Nein, keine Ahnung. Ich habe nichts gehört.“
„Lupita klopfte bei mir im Studio an, sie wollte wissen, ob ich da sei. Dann
behauptete sie, jemand wäre in meinem Zimmer. Sie sei in der Halle gewesen,
und hätte Schritte gehört.“
Beide schwiegen. Die Fotos, dachte Roxanne. Sie begriff, was los war. „Sie muß ja ein außergewöhnlich gutes Gehör haben. Die Decke in der Halle ist hoch, außerdem liegen in deinem Zimmer dicke Teppiche.“ Sie blickte zu Boden. Hoffentlich fragte Juan jetzt nicht, woher sie das wußte. „Ja, ich gebe zu, daß ich es auch nicht ganz verstehe. Du hast recht, Lupita muß ein beachtliches Gehör haben.“ Er zuckte die Achseln und ging wieder hinaus. Roxanne lehnte sich im Sessel zurück, den Brief ihres Vaters in der Hand. Lupita hatte ihr vorsätzlich eine Falle gestellt, als sie die Fotos erwähnte. Überzeugt davon, daß Roxanne nochmals ins Zimmer ihres Mannes gehen und die Mappe aus der Schublade nehmen würde, hatte sie Juan bereits gemeldet, daß jemand in seinem Zimmer sei. Wenn sie nun von Juan beim Betrachten der Fotos erwischt worden wäre? Allein bei dem Gedanken daran, klopfte ihr Herz wie wild. Er liebte dieses tote Mädchen immer noch. Roxanne war fest davon überzeugt, daß er sich jede Nacht, wenn er sie in den Armen hielt, einbildete, es sei Marta. Sie begann die Zeilen ihres Vaters zu lesen. Dieser Brief war eine reine Pflichterfüllung, sie merkte es sofort. Er schrieb genauso kurz und lieblos wie Deborah. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und weinte. Es war weniger die Enttäuschung über den Inhalt der beiden Briefe von zu Hause, als die Tatsache, daß Deborah und ihr Vater sich von ihr verraten glaubten. Sie konnten ihr die Nacht mit Juan nicht verzeihen, einem Mann, den sie erst ein paar Tage vorher auf einem Ball kennengelernt hatte. Sie begriffen einfach nicht, daß ihre über alles geliebte Roxanne, die sie doch so streng erzogen hatten, so etwas tat. Nicht einmal an den Jungen, den sie liebte, hatte sie gedacht. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Auf einmal rollten diese schrecklichen Stunden ihres Lebens genau wie ein Film wieder vor ihren Augen ab. Einzig und allein die Tatsache, daß sie Juans verstorbener Braut so ähnlich sah, hatte alle ihre Träume zerstört. Claires Party, der letzte gemeinsame Tanz mit Juan. Er stand vor ihr, sah sie an und verabschiedete sich von ihr. Der Ausdruck seiner schwarzen Augen hatte sie geängstigt, und diese Angst nahm zu, als er mit so ernster Überzeugung sagte, sie würden sich bald wiedersehen. Sie hatten sich wiedergesehen – vor ihrer eigenen Haustür. „Guten Abend“, hatte er sie kühl begrüßt. „Ich kam gerade hier vorbei und wollte Sie besuchen. Ich hoffe, ich störe Sie nicht?“ Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Was sollte sie machen? Deborah war nicht da, sie besuchte ihre Schwester. Ihr Vater war geschäftlich unterwegs. Sie war ganz allein zu Hause. Als sie Juan dort stehen sah, hätte sie ihm am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen. Aber sie unterdrückte diesen Impuls und brachte irgendeine Höflichkeit über die Lippen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was sie gesagt hatte, aber eine Aufforderung hereinzukommen war es bestimmt nicht gewesen. Er kam dennoch einfach mit ihr ins Haus, machte es sich in einem der Sessel im Wohnzimmer bequem und streckte die langen Beine auf dem Kaminteppich aus. Sie hatte wohl Kaffee gemacht, denn sie erinnerte sich, daß er bei der Unterhaltung Kaffee trank. Und dann stellte er die fatale Frage, die ihr ganzes Leben veränderte: „Roxanne, Sie sind heute abend genauso allein wie ich. Darf ich Sie zum Essen einladen?“ Ihr war bei der Frage seine Verlobte eingefallen und das Eigenbrötlerdasein, das er nach ihrem Tod geführt hatte. Er war ein unheimlicher Mann, sie hatte Angst vor ihm. Aber gleichzeitig tat er ihr leid. Daher fiel ihre Antwort weniger
bestimmt aus, als sie beabsichtigt hatte. „Es tut mir leid, Juan, aber ich kann Ihre Einladung nicht annehmen. Sie wissen doch, daß ich mit Joel so gut wie verlobt bin.“ „So gut wie ist nicht endgültig“, sagte er. Damals hatte Roxanne den Eindruck, daß sich hinter der düsteren Verschlossenheit seiner Züge doch ein wenig Güte verbarg. Seine Stimme klang weich, die schwarzen Augen blickten beinahe liebevoll. Der sonst so fest zusammengepreßte Mund lächelte und verriet im Lächeln keinen Anflug von Grausamkeit mehr. „Es ist doch nichts Unrechtes dabei, wenn Sie mit mir essen, meine Liebe. Ich fahre bald wieder zurück nach Mexiko und werde diesen Abend als schöne Erinnerung mitnehmen.“ Ihr war keine passende Erwiderung eingefallen. Sie wußte nur, daß sie auf Claires Party die Vermutung gehabt hatte, seiner verstorbenen Braut ähnlich zu sehen. Seine Fragen, sein offensichtliches Interesse an ihr, hatten sie in dieser Annahme bestärkt. „Aber… aber ich weiß nicht, ich… ich glaube, es geht nicht“, hatte sie gestottert und ihre großen veilchenfarbenen Augen sahen ihn flehend an. Die unausgesprochene Bitte, sie nicht weiter zu bedrängen, stand darin. Sie kannte sich selbst zu genau. Sie fühlte sich rätselhaft zu ihm hingezogen und sein Wunsch, ein paar Stunden in ihrer Gesellschaft zu sein, war ja eigentlich nicht so abwegig. Hatte Deborah nicht oft gesagt, daß man niemals eine Gelegenheit versäumen sollte, jemandem Freude zu machen? „Sie sind hinreißend in Ihrer Gewissenhaftigkeit, Roxanne“, hatte er bemerkt und in der Tiefe der schwarzen Augen war ein Aufleuchten. „Es ist so erfreulich, einem Mädchen wie Ihnen zu begegnen, ich bin echt froh darüber.“ Diese Ehrlichkeit ließ die Waagschale zu seinen Gunsten ausschlagen. Vielleicht war es auch Schmeichelei, die ihr zu Kopf stieg, sie konnte es nicht mehr sagen. Verkehrt schien es ihr damals jedenfalls nicht, sein Angebot anzunehmen – trotz der nicht zu leugnenden Tatsache, daß sie Angst vor ihm hatte. Möglicherweise lag es an seiner fremdartigen Erscheinung, dem brennendem Blick der schwarzen Augen, oder sogar an der Geschichte seiner Abstammung von diesen barbarischen Vorfahren, die ihm den Namen .Schwarzer Adler’ eingetragen hatte. Sie ging hinauf und zog sich um. Hinterher wurde ihr erst klar, daß soviel Vertrauen nicht gerechtfertigt war. Schließlich war es ein Fremder, den sie dort unten allein ließ, während sie sich oben in ihrem Schlafzimmer frisch machte und umkleidete. Als sie dann wieder in der Tür zum Wohnzimmer auftauchte, hatte er sie minutenlang angesehen, unverhüllte Bewunderung im Blick. „Sie schauen aus wie ein Traum, meine Liebe.“ Er kam auf sie zu. Sie war unfähig, sich vom Fleck zu rühren. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Wange und die Berührung seiner Lippen auf ihrer Stirn. In dem Augenblick spätestens hätte Mißtrauen in ihr aufkommen müssen, aber dieser Mann schien ihren Willen zu lähmen. Sie hatte überhaupt nicht den Wunsch, ihm auszuweichen, zu protestieren. Auch als er ihr wenig später in der Halle den Mantel umlegte und sie noch einmal küßte, wehrte sie sich nicht. „Ich muß Deborah eine Nachricht hinterlassen“, sagte sie plötzlich. Sofort gab Juan ihr einen Stift und riß einen Zettel aus seinem Notizbuch heraus. „Genügt das?“ fragte er. Sie nickte und schrieb eine kurze Notiz auf den Zettel, den sie dann auf den Tisch in der Halle legte, damit Deborah ihn bei ihrer Rückkehr gleich fand. „Ich habe geschrieben, daß ich mit einem Freund ausgehe“, informierte sie ihn. „Donnerstags treffe ich mich nämlich nie mit Joel, weil er an dem Tag immer mit
seiner Mutter zur Schwester fährt. Das war von jeher so, seit wir uns kennen.“
Juan lächelte. Er sagte nichts. Sie war überzeugt davon, daß es ihm nicht gefiel,
von Joel zu hören. Sie wollte Joel an diesem Abend auch nicht mehr erwähnen.
Zu diesem Zeitpunkt wünschte sie noch, daß der Abend so harmonisch wie
möglich werden sollte, damit Juan eine angenehme Erinnerung daran mit nach
Hause nehmen konnte.
Sie gingen in eines der teuren Luxushotels. Roxanne genoß es, wie eine Königin
behandelt zu werden. Als das Essen vorbei war und Juan sie in dem Wagen, den
er für seinen Aufenthalt in England gemietet hatte, nach Hause fuhr, fühlte sie
eine seltsame Traurigkeit. Sie wußte, daß auch sie diesen Abend noch lange in
Erinnerung behalten würde.
Wann dann das erste Mißtrauen in ihr aufkam, daran konnte sie sich nicht mehr
klar erinnern. Wahrscheinlich in dem Moment, als er zum zweitenmal in die
verkehrte Richtung fuhr. Zuerst war er von der Hauptstraße links abgebogen,
statt rechts.
„Bei der nächsten Kreuzung können Sie in die entgegengesetzte Richtung fahren,
dann sind wir wieder auf dem rechten Weg“, hatte sie zu ihm gesagt. Aber er
reagierte überhaupt nicht. Sie fuhren durch eine einsame Straße. Auf einmal hielt
er an und schaltete die Scheinwerfer ab. Sie sah die Umrisse eines großen
Hauses. Verzweifelt wehrte sie sich, als er sie hochhob und auf seinen starken
Armen in dieses Haus trug.
Später erfuhr sie, daß Juan es für die Dauer seines Aufenthalts möbliert gemietet
hatte. Doch im ersten Schreck verlor sie beinahe die Besinnung. Er trug sie in ein
Zimmer, schloß die Tür ab und stellte sie auf ihre Füße.
„Lassen Sie mich sofort gehen!“ schrie sie.
Aber er schüttelte den Kopf. Sie hatte das Gefühl, daß in seinem Innern ein
Kampf tobte. Flehentlich bat sie noch einmal, er möge sie gehen lassen. Er
versicherte ihr jedoch nur, daß er nichts von ihr wolle. Sie glaubte ihm nicht.
„Natürlich wollen Sie etwas von mir! Weshalb haben Sie mich sonst hierher
gebracht?“
„Weil du mir gehörst, Roxanne – nur mir, hörst du? Dieser Joel ist nicht der
richtige Mann für dich. Ich will dich heiraten. Ich meine es ehrlich, und bevor wir
nicht verheiratet sind, werde ich dich nicht – “
„Ehrlich?“ rief sie. „Dieses Wort wagen Sie in dieser Situation zu gebrauchen?“
„Ich verstehe, daß du mir nicht glauben kannst, Roxanne. Aber meine Absichten
sind ehrlich. Ich möchte dich heiraten. Da es für mich keinen anderen Weg gibt,
muß ich dich kompromittieren. Ich weiß, wie streng du erzogen wurdest. Ich
baue mein Glück auf der Tatsache auf, daß dein Vater unsere Heirat verlangen
wird, wenn er erfährt, daß du die Nacht über bei mir geblieben bist.“
Für ein paar Sekunden war Roxanne sprachlos. Sie hielt es nicht für möglich, daß
er diese hinterhältige Absicht in die Tat umsetzen wollte. Fieberhaft überlegte
sie, wie sie ihn davon abbringen konnte.
„Warum sind Sie eigentlich nach England gekommen?“ fragte sie. „Nach Ihrem
Einsiedlerleben müssen Sie doch einen bestimmten Grund dafür gehabt haben,
oder nicht?“
„Woher wissen Sie, daß ich ein Einsiedlerleben geführt habe?“ versetzte er
stirnrunzelnd.
Roxanne erklärte es ihm. Juan sah in ihre Augen, die sich mit Tränen füllten.
„Martin zeigte mir eine Fotografie von dir, als er bei mir in Mexiko war“, sagte er.
„Da wußte ich, daß ich dich in Fleisch und Blut kennenlernen mußte, Roxanne.“
Wie hypnotisiert starrte sie ihn an.
„Ihre Verlobte...“
„Das weißt du auch?“ Seine Stimme klang so unbeteiligt, daß es sie überraschte.
Trauerte er nicht mehr um sie? Sie verstand Juan nicht, am allerwenigsten
seinen Heiratsantrag.
„Martin hat mit einem Dorfbewohner gesprochen, der ihm viel von Ihnen
erzählte. Er berichtete es seiner Schwester Claire, und ich erfuhr es von ihr.“
„War dein Interesse denn so groß, daß du sie über mich ausgefragt hast?“ Nicht
für den Bruchteil einer Sekunde wandte er den Blick von ihr.
Roxanne wich einer direkten Antwort aus. Sie fragte: „Ich sehe Ihrer
verstorbenen Braut ähnlich, nicht wahr?“
Jetzt kam seine Antwort spontan und ehrlich: „Ja, Roxanne, du siehst ihr
unglaublich ähnlich.“
„Deshalb wollen Sie mich heiraten?“
„Ja, Roxanne.“
Es überlief sie eiskalt. Irgend etwas Krankhaftes lag in diesem Wunsch. Sie wich
in die äußerste Ecke des Zimmers zurück. Er beobachtete sie.
„Lassen Sie mich gehen, bitte.“ Sie war kreideweiß.
Ohne zu zögern, schüttelte er den Kopf. Wenn er für einen kurzen Moment
unentschlossen gewesen war, dann hatte er sich jetzt wieder ganz in der Gewalt.
„Nein, Roxanne, ich lasse dich nicht gehen. Ich will, daß du meine Frau wirst.“
„Mein Vater wird nie zulassen, daß ich Sie heirate. Ich werde ihm alles erzählen,
was heute passiert ist. Wie Sie mich gezwungen haben, hierher zu kommen. Er
wird gerichtlich gegen Sie vorgehen.“
„Willst du ihm wirklich alles erzählen, Roxanne?“ fragte er leise und kam auf sie
zu. „Willst du, daß ich ins Gefängnis komme?“ Seine Stimme war dunkel, der
Blick seiner Augen unbeweglich auf sie gerichtet. Roxanne war zu deprimiert, um
ihm die Antwort zu geben, die er verdient hätte. Sie fühlte seine Macht, diese
unheimliche Gewalt, die er über sie hatte. Es war irgendwie geisterhaft,
andererseits aber wieder erregend real und lebendig. „Er wird nur erfahren, daß
du die Nacht hier bei mir verbracht hast. Ich biete als ehrenhafte Lösung die
Heirat an, und du wirst sie nicht ausschlagen – nein, Roxanne, du wirst mich
heiraten müssen.“
„Mein Vater weiß genau, daß ich das nicht tue, denn ich liebe einen anderen.“
„Das bildest du dir ein. Aber du bist für mich gemacht – für mich ganz allein.
Unsere Schicksale sind eins. Ich wußte es vom ersten Moment an, als ich in deine
Augen sah, in dem großen Ballsaal. Du kannst deinem Schicksal nicht entfliehen,
Roxanne, also nimm es hin…“
Er hatte sie in ein wunderschönes Schlafzimmer geführt. Sie sperrte die Tür
hinter ihm ab. Aber sie fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Der Morgen
dämmerte, und sie lag immer noch wach.
Spät am folgenden Tag brachte Juan sie nach Hause. Ihr Vater war
zurückgekommen. Juan hatte genau gewußt, zu welchem Zeitpunkt sie ihn
zurückerwartete.
Nie würde Roxanne die Szene vergessen. Sie hatte versucht, dem Vater und
Deborah den Sachverhalt zu erklären. Aber der unheimliche fremde Mann übte
eine derartige Faszination auf sie aus, daß sie nur stotterte und sich verhaspelte.
Ganz im Gegensatz zu ihrer sonstigen offenen frischen Art verhielt sie sich
schuldbewußt. Wie eine Sünderin, mit niedergeschlagenem Blick, stand sie da.
„Du wirst es nicht bereuen“, hatte Juan am Tage der Hochzeit gesagt. „Es war
dein unabwendbares Schicksal, und du warst klug genug, nicht davor zu fliehen.“
3. KAPITEL Am nächsten Morgen fuhren Juan und Roxanne mit dem großen Wagen in die Stadt. Er hielt im Einkaufsviertel. „Ich hole dich in zwei Stunden wieder ab. Wir wollen dann essen und vielleicht noch gemeinsam einige Einkäufe machen. Sei vorsichtig. Um diese Zeit ist ziemlich viel Verkehr, und du kennst dich noch nicht so aus.“ „Ich lasse mich schon nicht überfahren, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Er sagte nichts. „Oder hast du Angst, ich könnte mit dem vielen Geld durchbrennen, das du mir gegeben hast?“ fragte sie in spöttischem Tonfall. Er schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Angst, daß du mir weglaufen könntest, Roxanne. Ich habe dir von Anfang an gesagt, daß es uns vorbestimmt war zusammenzukommen und beieinander zu bleiben. Wir werden uns niemals trennen! Wenn du nur so fest daran glauben könntest wie ich, würdest du vielleicht glücklicher sein. So, und nun hab’ Freude bei deinen Einkäufen.“ Damit gab er Gas und fuhr los. Roxanne sah dem Wagen nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Dann ging sie in das große Kaufhaus, vor dem sie stand. Sie dachte über seine Worte nach. Er schien tatsächlich davon überzeugt zu sein, daß sie ihm nicht weglaufen würde. Plötzlich fiel ihr ein, daß Juan immer noch im Besitz ihres Passes war. Er mußte ihn ihr zurückgeben, sonst fühlte sie sich wie eine Gefangene in diesem fremden Land. Lustlos ging sie durch das Kaufhaus. Juan hatte gesagt, daß sie nachher gemeinsam Besorgungen machen wollten. Was sollte sie also hier? Sie verließ das Gebäude und promenierte durch die engen Straßen. Händler, die Obst und Gemüse verkauften, hatten ihre Stände aufgebaut. Langsam erwachte Interesse an dieser neuen Umgebung in ihr. Unendlich viele Menschen verschiedener Hauttönungen sah man hier; kastanienfarbene, strahlend kupferfarbene und so bronzebraune wie Juan. Sie mußte zugeben, diese bronzene Sonnenbräune war die attraktivste. Ein Mann mit milchkaffeefarbener Haut ging an ihr vorbei und ein anderer, dessen Gesicht eine schmutziggelbe Tönung hätte. Sie kam zu einer kleinen Buchhandlung und erblickte im Innern den Besitzer. Endlich ein Weißer, dachte sie, wie sie. Interessiert betrat sie das Geschäft. „Sind Sie vielleicht Engländer?“ fragte sie und bevor der junge Mann antworten konnte, fuhr sie fort: „Gehört dieser Laden Ihnen?“ Sie sah, daß sich unter den vielen Büchern auch eine Menge in englischer Sprache befanden. „Ja, ich bin der Besitzer.“ Neugierig musterte er sie. Sein Blick drückte Bewunderung aus. „Ich habe meinen Job in England aufgegeben und bin hierher ausgewandert. Ich bin jetzt naturalisierter Mexikaner.“ „Wirklich?“ wunderte sie sich. „Sind Sie gerne hier?“ „Ich liebe Mexiko und würde niemals wieder nach England zurückkehren.“ Er sah sie immer noch an. „Wer sind Sie, und was tun Sie hier?“ „Ich bin mit einem Mexikaner verheiratet.“ Sie sagte es etwas zögernd. Es war das .erste Mal, daß sie mit einem Fremden von ihrer Ehe sprach. „Seit wann sind Sie hier?“ „Seit ungefähr zwei Monaten.“ „Mir scheint, Sie haben sich noch nicht eingewöhnt.“ „Nein, es ist alles so anders.“ Sie war noch nicht oft außerhalb der Hacienda gewesen. Und heute war das erste Mal, daß sie Stadtluft schnupperte.
„Sie werden Mexiko bald genauso lieben, wie ich, wenn Sie sich erstmal
akklimatisiert haben. Man braucht etwas Zeit, zugegeben. Aber das ist schließlich
immer so, wenn man in ein fremdes Land kommt, nicht wahr?“
Beide blickten sich prüfend an. Er sah gut aus, war schlank und nicht besonders
groß, das Haar hellbraun, die Augen graugrün. Er lächelte amüsiert. Sie wurde
ein wenig rot und wandte sich den Regalen zu. „Ich möchte ein Buch kaufen.“
„Wo wohnen Sie?“ fragte er, ohne darauf einzugehen.
„Auf dem Lande. Hacienda Ramires. Wahrscheinlich haben Sie noch nie davon
gehört.“ Sie war recht glücklich, einen Landsmann getroffen zu haben. Es schien
ihr wie ein Hoffnungsschimmer. Vielleicht entwickelte sich eine Freundschaft aus
dieser Begegnung.
„Hacienda Ramires?“ Er hielt inne und starrte sie an. „Die Hacienda vom alten
Ramires? Ist er etwa fort? Er kann doch den Besitz nicht verkauft haben, der
gehört doch seit undenklicher Zeit der Familie.“
„Er ist nicht alt!“ rief sie entrüstet. „Mein Mann ist erst dreiunddreißig!“
„Ihr Mann – meinen Sie Don Juan?“
„Ja.“
Der Buchhändler schien nicht zu begreifen.
„Don Juan ist doch nicht verheiratet – das darf nicht wahr sein!“
„Es ist aber wahr. Ich bin seine Frau“, entgegnete sie mit Nachdruck.
Verwundert schüttelte er den Kopf.
„Das müssen Sie mir näher erklären. Doch zuerst möchte ich mich vorstellen. Ich
heiße Tom – Tom Wakefield. Ich bin über einundzwanzig, aber unter dreißig,
ledig. Und nun erklären Sie mir bitte, wieso Sie mit dem alten – “ Erschrocken
brach er ab. „Verzeihen Sie, aber Sie müssen wissen, daß Don Juan Ramires
jahrelang wie ein Einsiedler gelebt hat. Wußten Sie das?“
Roxanne nickte.
„Er war verlobt und seine Braut starb.“ Sie wunderte sich, weshalb sie zu diesem
Mann, den sie gerade erst kennengelernt hatte, solches Vertrauen faßte.
Wahrscheinlich weil er ein Landsmann und sie einsam war. Es war schön, daß
außer ihrem Mann noch jemand ihre Muttersprache verstand.
„Ja, so, war das. In den letzten Jahren hatte er sich völlig auf der Hacienda
eingekapselt. Daher kam man auf die Idee, daß er alt sei – ein junger Mann
würde so etwas doch nicht tun. Wie haben Sie ihn bloß kennengelernt?“
„Er machte in England Ferien.“ Das war eine glatte Lüge. Aber sie konnte diesem
jungen Mann doch beim besten Willen nicht sagen, daß er nur ihretwegen
gekommen war und schon die feste Absicht gehabt hatte, sie als Frau nach
Mexiko zu holen.
„Also, mich haut das glatt um! Alle waren überzeugt davon, daß er nie wieder
aus seinem Versteck ans Tageslicht kriechen würde. Und jetzt ist er verheiratet –
tolle Geschichte. HappyEnd und alles, was dazu gehört!“
„Ja, es ist eine tolle Story“, bestätigte Roxanne lakonisch.
„Gut, Sie sind Senora Ramires. Und wie heißen Sie mit Vornamen?“
„Roxanne.“
„Das ist hübsch. Wahrscheinlich nennt Ihr Mann Sie Roxy?“
„Nein, das tut er nicht.“
„Darf ich es denn?“
„Ach bitte – nein, ich möchte es nicht.“
Sie stellte fest, daß die Unterhaltung inzwischen reichlich intim geworden war.
Andererseits war sie so froh, Tom kennengelernt zu haben, daß sie sich keine
weiteren Gedanken darüber machte.
„Und wo ist Ihr Mann?“
„Er hat eine geschäftliche Besprechung. Wir treffen uns zum Lunch.“
Tom sah auf seine Uhr.
„Es ist fast ein Uhr“, stellte er fest.
Sie erschrak. „Wirklich? Dann muß ich schleunigst gehen.“
„Die liebende junge Frau…“ Er lachte. „Aber vergessen Sie nicht, mich einmal
wieder zu besuchen.“
„Bestimmt nicht“, rief sie im Hinausgehen. Später erinnerte sie sich, daß sie in
der Eile vergessen hatte, ein Buch zu kaufen.
Juan wartete am verabredeten Platz. Sie sah ihn schon von weitem und ihr Herz
begann zu klopfen. Lächerlich, dachte sie, es wird langsam Zeit, daß ich nicht
immer Angst habe, wenn er vor mir auftaucht.
Als sie atemlos neben ihm stand, sah er sie befremdet an.
„Hast du nichts gekauft? Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?“
Roxanne konnte vor Erregung kaum schlucken.
„Ich bin spazierengegangen“, sagte sie obenhin, „und habe mir alles angesehen.“
„Was hast du dir angesehen?“ wollte er wissen. Seine Stimme klang ganz ruhig.
„Die… die Menschen, die Marktstände… und alles andere.“
„Bist du zufällig in einem Buchladen gewesen, Roxanne?“
Sie erschrak und errötete.
„Ja – ja, das stimmt.“
„Hast du die ganze Zeit in diesem Laden verbracht?“
„Nein, Juan. Ich war zuerst dort in dem Kaufhaus und dann bin ich so
herumgeschlendert.“
„Und beim Herumschlendern bist du zufällig auf diesen Engländer gestoßen?“
„Mr. Wakefield – ja.“
Langes unerträgliches Schweigen. Roxanne spielte mit dem Verschluß ihrer
Handtasche. Als er sie prüfend ansah, hielt sie die Hände still.
„Wir sollten jetzt lieber essen gehen.“ Besitzergreifend umfaßte er ihren Arm.
„Ich hoffe, du hast Appetit.“
Gehorsam bejahte sie die Frage. Sie war erleichtert, daß er nicht weiter über
diesen Engländer sprach.
„Hier ist es aber hübsch“, bemerkte sie impulsiv, als Juan mit ihr das große Hotel
betrat. „Ich bin jetzt wirklich hungrig.“
„Du sagtest es schon, oder war das nur so eine mechanische Antwort, um mich
abzulenken?“
„Wovon abzulenken?“
„Roxanne, du weißt sehr gut, was ich meine.“
Sie biß sich auf die Unterlippe. „Ich hoffe, du bist nicht böse, daß ich mit Mr.
Wakefield geplaudert habe.“ Sie war gewillt, den Stier bei den Hörnern zu
packen. „Ich habe mich so gefreut, mit einem Landsmann sprechen zu können.“
„Wahrscheinlich war es amüsanter, als mit mir zu sprechen, nicht wahr?“ Es
klang kühl, doch ein beunruhigender Unterton war in seiner Stimme. „Bitte,
geben Sie uns einen separaten Tisch“, sagte er, als der Kellner an einem Tisch in
der Mitte des Restaurants stehenblieb.
Der Mann antwortete auf Spanisch und ging weiter zu einer Nische, in der ein
Tisch für zwei Personen gedeckt war.
„Danke schön.“ Sie saßen einander gegenüber. Juan hatte den Blick auf Roxanne
geheftet. „Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Also?“
„Wir beide haben uns nicht viel zu sagen“, antwortete sie. Sie fühlte sich
mutiger.
„Anscheinend fehlen uns die Themen zur Unterhaltung“, stimmte er zu. „Aber
warum versuchen wir es nicht, Roxanne? Alles geht, wenn man es nur versucht.“
„Sicher. Nur will ich es gar nicht versuchen.“ „Bist du eigentlich mit deiner Art zu leben zufrieden? Die Hacienda muß doch sehr eintönig für dich sein.“ „Ich ziehe sie allem anderen vor, was ich in diesem Land finden könnte.“ In den Augen Juans glomm es gefährlich. „Dieses Land ist deine Heimat. Je eher dir das klar wird, desto besser. Du treibst es immer wieder bis an die Grenze meiner Geduld!“ Er atmete einmal tief durch. „Ich habe dich bereits ein paar Mal gewarnt, Roxanne. Niemand hat mich jemals geringschätzig behandelt, und meine Frau ist die letzte, von der ich eine derartige Behandlung hinnehme. Ich bitte dich in Zukunft um etwas mehr Respekt, hast du mich verstanden?“ Es kostete sie ungeheure Überwindung, jetzt Haltung zu bewahren. Sie hob den Kopf. Ich darf mich von ihm nicht unterkriegen lassen, sagte sie zu sich. Sie mußte ihre anerzogene Unterwürfigkeit ablegen, denn sie konnte sich doch nicht ihr ganzes Leben lang dem Willen anderer unterwerfen. Sehnsüchtig dachte sie an Joel. Er hätte sie nie unterdrückt, im Gegenteil. Er war immer böse geworden, wenn sie vor den Anordnungen ihres Vaters kapitulierte. Hätte sie in der Vergangenheit mehr Charakter bewiesen, wäre sie jetzt nicht mit diesem Mann verheiratet. Kein Mädchen ihres Alters hätte es sich gefallen lassen, zu etwas Derartigem gezwungen zu werden. Sie sah den Mann an, der ihr gegenüber saß. Welche Arroganz lag in diesem Gesicht und sogar in der Art, wie er mit dem langen, schmalen Finger auf das weiße Tischtuch trommelte. „Ich sehe nicht ein, weshalb ich dir Respekt schulde“, sagte sie und war selbst überrascht von der klirrenden Härte in ihrer Stimme. „Deine Art, mich zu überlisten, war ja schon fast kriminell. Du hast meinen Vater belogen und bekommen, was du wolltest.“ Hier stockte sie, denn sie scheute sich immer noch, an gewisse Dinge zu rühren, die Sex betrafen. Aber sie riß sich zusammen und fuhr fort: „Du pochst auf deine ehelichen Rechte. Ich finde, ein Gentleman sollte nicht so handeln.“ Sie sah ihm fest in die Augen. Ja, jeden Tag gewann sie mehr Sicherheit, mehr Rückgrat und Entschlossenheit. Gewiß, es waren immer noch zwei Schritte vorwärts und einer zurück, aber es war auf alle Fälle ein Gewinn. „Du hältst dich selbst für das Gesetz. Doch ich bin nicht bereit, dieses Gesetz auf mich zu beziehen.“ Die schwarzen Augen verengten sich, die Hand, die auf dem Tisch lag, ballte sich zur Faust. Verzweifelt versuchte Roxanne, ihren Mut zusammenzunehmen. Es gelang ihr nicht. Dieser Mann war zu dominierend für sie. Manchmal ließ sein bloßer Anblick sie schon erschauern. Gerade jetzt hätte auch ein stärkerer Mensch als Roxanne unter dem starren Blick dieser schwarzen Augen den Kampf aufgegeben. Es war eine jener Situationen, bei denen sie zu Hause vor ihm geflohen wäre. „Du wirst dich diesem Gesetz beugen, Roxanne.“ Seine Stimme klang flach vor Zorn. Jetzt war er wirklich der Raubvogel, dessen Namen er trug. Roxanne war überzeugt, daß es seine Absicht war, sie völlig kleinzukriegen. „Ich weiß, was richtig ist für dich und mich. Unser Schicksal ist seit langen Zeiten vorgezeichnet…“ Er brach ab und machte eine ärgerliche Handbewegung. „Du weißt das alles. Und was meine Rechte betrifft – natürlich nehme ich sie in Anspruch. Aus dem einfachen Grund, weil du dich weigerst, freiwillig zu mir zu kommen.“ „Das kannst du wohl kaum erwarten!“ rief sie aufgebracht. „Ich habe noch nie etwas so Lächerliches gehört, Nimmst du etwa an, ich…ich wünschte mir deine
Liebesbezeugungen?“ Rot vor Verlegenheit senkte sie den Kopf.
„Würdest du die Liebenswürdigkeit haben, etwas leiser zu sprechen? Ich hasse
schreiende Frauen.“
Bei dieser Zurechtweisung schoß ihr noch eine tiefere Blutwelle ins Gesicht.
„Du übertreibst, ich. habe nicht geschrien.“
Juan schob ihr wortlos die Menükarte hin.
„Ich habe keinen Hunger“, sagte sie wie ein kleines Kind. Wieder wanderten ihre
Gedanken zu Joel und dem hübschen, kleinen Restaurant, in dem sie immer
gegessen hatten, an einem ähnlich separaten Tisch wie diesem. „Ich möchte
nichts essen.“ Damit schob sie ihm die Karte wieder hin. Sie fühlte sich bis zum
äußersten erschöpft, ihr war alles egal.
In der Stimme Juans war nichts Drohendes mehr, als er sagte: „Sieh mich an,
Roxanne.“ Sie schüttelte den Kopf und fühlte auf einmal seine Hand unter ihrem
Kinn. Instinktiv wollte sie den Kopf wegdrehen, aber sie durfte ihn nicht wieder
herausfordern. In dem eleganten Restaurant hier würde er sich zurückhalten.
Aber später auf der Hazienda bekäme sie seine ganze aufgespeicherte Wut zu
fühlen. Daher hielt sie still und sah ihn gehorsam an, mit Tränen in den Augen.
Wieder wurde sie an einen Adler erinnert. Und doch – war es Einbildung oder
nicht? – Blick und Mund waren weicher geworden, beinahe zärtlich. Diese sanfte
Zärtlichkeit hatte sie schon öfter an ihm bemerkt. „Du weinst ja, Roxanne. Bitte,
Kind, weine doch nicht. Du hast wirklich keinen Grund dazu.“
Ihre Unterlippe zitterte. „Du glaubst es sicher nicht, aber ich muß oft weinen.“
„Warum denn, Roxanne?“ Er hatte die Hand weggezogen und betrachtete seine
Finger, die in Berührung mit ihrer Haut gekommen waren. Was für ein
merkwürdiger Mann, dachte sie. Er schien etwas auf seinen Fingern zu sehen,
was nicht da war.
Plötzlich kam ihre angeborene Liebenswürdigkeit wieder zum Vorschein. „Juan,
du weißt es doch. Du hast mich weggeholt von zu Hause, von meinem Vater,
meinen Freunden und…von dem Mann, den ich liebe.“
Er wandte sich ab. In diesem Moment kam der Kellner. Roxanne hatte den
Eindruck, als sei Juan erleichtert über diese Unterbrechung. Ohne sie zu fragen,
bestellte er eine Flasche Wein. Der Kellner verschwand.
Juan sah Roxanne an. „Grübelst du eigentlich die ganze Zeit nur über die
Vergangenheit nach?“ fragte er.
„Ja. Worüber sonst?“
„Aber du hast eine Zukunft! Schau doch einmal nach vorn“, sagte er.
„Ich habe keine Zukunft, nicht einmal eine Gegenwart“, erwiderte sie ganz leise.
Aber er verstand jedes Wort.
Er schien beeindruckt von ihrer Äußerung. Erst nach einer Pause sprach er. „Du
mußt daran glauben, Roxanne. Das Leben ist lang, und es kann oftmals
unerträglich ermüdend sein…“
Seine Stimme verebbte. Es schien, als sei er allein mit sich und habe sie und
seine Umgebung vergessen. Roxanne fühlte, daß die Vergangenheit in ihm
wieder lebendig wurde, die Jahre selbstgewählter Isolation, der völligen
Einsamkeit, durch die er für die Leute hier fast ein Schemen geworden war. Wie
sehr mußte er das Mädchen Marta geliebt haben – dieses Mädchen, dem sie
anscheinend in allem so ähnlich war.
Für einen Moment überlegte Roxanne, welches Foto von ihr Martin eigentlich
Juan gezeigt haben mochte. Sie wußte, er hatte einige Farbaufnahmen von ihr
gemacht, vermutlich war es eine von diesen gewesen. Sonderbar, daß dadurch
der Wunsch in Juan geweckt wurde, aus seinem Einsiedlerleben auszubrechen
und sie kennenzulernen. Das Mädchen, das seiner toten Geliebten so ähnlich sah
und vielleicht Martas Platz einnehmen konnte. Der Gedanke empörte Roxanne ständig von neuem. Wenn er sie nachts mit seiner Leidenschaft quälte, war sie doch immer nur ein Werkzeug – ein Werkzeug seiner Einbildung. Er bildete sich ein, das Mädchen zu besitzen, das seit zehn Jahren tot war. „Ja“, sagte Juan und riß Roxanne aus ihren Gedanken, „das Leben kann lang und unerträglich ermüdend sein. Und doch kann es uns den Himmel geben, wenn wir es uns wünschen, wenn wir es wollen – du und ich, Roxanne.“ Verwundert sah Roxanne diesen seltsamen Mann an. Seine Worte paßten so gar nicht zu dem Bild, das sie sich eben noch von ihm gemacht hatte. Dem Bild eines Mannes, der ein Mädchen benutzt, um seine Sehnsucht nach einem anderen zu stillen. Sie widersprach mit Überzeugung: „Es gibt keine Zukunft für dich und mich. Ich liebe einen anderen.“ Sie wollte noch hinzufügen: und du liebst auch eine andere’. Aber sie unterließ es. Es war besser, Marta nicht zu erwähnen, es hätte ihn nur verletzt. Auf diese Art wollte sie ihn nicht kränken. In jedem anderen Fall wäre sie bereit gewesen, ihm weh zu tun. Doch nicht auf Kosten einer Liebe, die sein Leben so einsam gemacht hatte. „Du liebst Joel immer noch?“ Der scharfe, bösartige Ton in seiner Stimme war wieder da. „Natürlich, ich werde ihn immer lieben.“ Juan schüttelte den Kopf. „Wie stark eine Liebe auch immer ist, die Zeit nimmt einem viel davon. Glaube mir.“ Sie sah ihn erstaunt an. Bedeutete das etwa, daß seine Liebe zu Marta vergangen war? Aber diese Heirat hatte doch bewiesen, daß er sie immer noch liebte. Hätte Juan sonst ein Mädchen geheiratet, das seine konstante Erinnerung an Marta wachhielt? „Meine Liebe zu Joel ist so stark, daß sie alles überdauern wird.“ Sie beobachtete Juan, der den Wein probierte, ehe die Gläser gefüllt wurden. „Bitte, dein Wein.“ Er hob sein Glas. „Ich möchte nichts trinken.“ „Bitte, dein Wein“, wiederholte er. „Ich möchte mit dir trinken.“ Sie nahm ihr Glas und nippte daran. „Und jetzt wollen wir etwas zu essen bestellen. Was hättest du gerne?“ Der strenge Ton deutete an, daß er nicht beabsichtigte, ihre Unterhaltung fortzusetzen. „Roxanne, du wirst auch etwas zu dir nehmen, denn ich habe keine Lust, allein zu essen.“ Anderthalb Stunden später machten sie einen Einkaufsbummel. Obwohl, sie sich zuerst weigerte, etwas zu essen, hatte ihr die Mahlzeit in Gesellschaft ihres Mannes dann vorzüglich geschmeckt. Er konnte lebendig und interessant erzählen; von der Hazienda, von den Änderungen, die er durchgeführt hatte, als er sie vor zwölf Jahren erbte, von den Anbauten und Renovierungen. Roxanne erfuhr auch, daß er noch jüngere Brüder und Schwestern hatte sowie fünf Vettern. Es überraschte sie, denn sie hatte bisher angenommen, daß Juan ohne jegliche Familienangehörige war. Warum hatten diese Menschen sich nicht um ihn gekümmert, ihn nicht aus seiner Einsamkeit gelockt? Aber wahrscheinlich hatte er seine Lebensweise jedem gegenüber verbissen verteidigt. „Warum besuchen deine Geschwister dich nicht?“ fragte sie. „Ich habe es ihnen verboten“, erklärte er. „Aber jetzt würden sie vielleicht kommen. Doch vorher muß zwischen dir und mir alles in Ordnung sein.“ Mit dieser Feststellung hatte Juan das Thema beendet. Er war vom Tisch aufgestanden. „So, und nun wollen wir hübsche Sachen für dich kaufen. Ich hoffe, Roxanne, du kommst nicht wieder mit Gegenargumenten.“
Ihr alter Gehorsam brach sich wieder Bahn. Warum konnte sie nicht über ihren
Schatten springen? Sie hatte ihm doch gesagt, daß sie nicht beabsichtige, sich
für sein Amüsement an und auszuziehen. Aber sie wollte die augenblickliche
harmonische Stimmung nicht zerstören. Außerdem war sie zu müde, eine
Debatte anzufangen, die sie nie gewinnen würde.
Sie kauften Unterwäsche, die er aussuchte, und in einem Modesalon vier Kleider,
die auch wieder seinen guten Geschmack bewiesen. Juan bezahlte alles, obwohl
er ihr doch am Morgen eine stattliche Summe Geld gegeben hatte, extra für die
Einkäufe. Er überhörte ihren schwachen Protest. Sie würde das Geld sparen,
nahm sie sich vor. Es war die erste größere Summe, die er ihr gegeben hatte. Sie
konnte das Geld brauchen, für einen dringenden Notfall – oder für die Flucht.
Am Abend zog sie wie üblich ein dunkles, nicht sehr elegantes Kleid an. Kaum
hatte sie das Eßzimmer betreten, sagte Juan:
„Bitte, zieh dich um, Roxanne.“
Sie hob den Kopf.
„Ich spare die neuen Kleider noch, ich will sie jetzt nicht tragen.“
„Du wirst jetzt eins davon anziehen – das Grüne.“
Das Grüne! War Grün Martas Lieblingsfarbe gewesen?
„Warum? Ich will nicht!“ rief sie wütend. „Grün steht mir nicht!“
Verblüfft über ihren Eigensinn sah er sie an.
„Bist du abergläubisch? Wir haben ja noch andere Kleider gekauft.“
Sie fühlte Erleichterung. Also hatte der Wunsch, sie in Grün zu sehen, nichts mit
Marta zu tun.
„Gut, ich gehe und ziehe mich um. Aber abergläubisch bin ich nicht“, fügte sie
hinzu.
„Leg ein wenig Rouge auf, du bist viel zu blaß“, sagte er noch.
Als sie wieder herunterkam, war Bewunderung in seinem Blick.
Roxanne fühlte sich eigentümlich berührt. Das erstemal hatte er sie in der Nacht
der Entführung so sonderbar angesehen. Auch auf Claires Party waren seine
Blicke voll Bewunderung gewesen, aber nicht so wie jetzt. Was hatte dieser
Ausdruck zu bedeuten? War es Begierde? Verwirrt und mit dem unbewußten
Wunsch, daß dieses undefinierbare Leuchten in seinen Augen anhielte, wartete
sie darauf, daß er sprach. Zum erstenmal seit ihrer Heirat war sie neugierig, was
er sagen würde.
„Meine Frau – meine Roxanne, du bist bezaubernd. Komm her zu mir.“
Wie eine aufgezogene Puppe ging sie zu ihm hin. Wieder übten seine
magnetischen Kräfte diese Macht über sie aus.
„Es… es ist etwas zu weit…“, stotterte sie, „ich hätte es bei der Anprobe sehen
müssen.“
Juan umfaßte ihre Taille. Die Wärme seiner Hände drang durch den dünnen Stoff
– sie bebte. Sein dunkles Gesicht war über ihr, die Adlernase, die Stirn mit dem spitzen Haaransatz, der ihm etwas Teuflisches verlieh. Er sprach kein Wort, und sie hatte das Gefühl, daß er nur Marta in ihr sah. Er neigte den Kopf und küßte sie auf den Mund. Roxanne ließ es ohne Widerstreben geschehen. Aber sie erwiderte Seinen Kuß nicht. Er preßte sie fester an sich. „Du sollst mich küssen!“ fuhr er sie an und legte seine Lippen wieder auf ihren Mund. Seine Sinnlichkeit war eine Qual für Roxanne. Ihre sensible Natur sträubte sich gegen seine brutale Behandlung, ihr Gefühl revoltierte. Sie blieb zwar in seinen Armen, aber sie verhielt sich passiv. Er würde schon aufhören, wenn er merkte, daß seine Leidenschaft nicht erwidert wurde. Doch das Gegenteil geschah. Ihre Kälte schien ihn noch mehr zu reizen. Roxanne
glaubte fast, die Besinnung zu verlieren. Ihr Mund war geschwollen. Ihr ganzer Körper schmerzte, so heftig stemmte sie sich gegen seine übermächtigte Kraft. Eine ihrer zarten Brüste umfing seine Hand, die andere wurde gegen ihn gedrückt. „Du sollst mich küssen!“ forderte er erregt. Er schüttelte sie. „Und wenn ich dich die ganze Nacht hier festhalte! Küß mich, sage ich!“ Roxanne schauderte vor dieser heiseren Stimme. So mußte eine Morddrohung klingen, dachte sie. Warum quälte er sie so? Himmel, was war das bloß für ein Mann! Seine Vorfahren konnten nur Barbaren gewesen sein. Mit zusammengebissenen Zähnen sah er sie an. In seinen schwarzen Augen glitzerte Böses. „Küß mich, Roxanne“, drohte er wieder. Seine tiefe Stimme klang guttural, wie das Knurren eines Raubtieres, ehe es zum Sprung auf sein Opfer ansetzt. Wieder fühlte Roxanne seinen leidenschaftlichen Kuß. Endlich gab sie nach und gehorchte ihm. Er schien befriedigt und ließ sie los. Leicht schwankend griff sie nach einer Stuhllehne. Sie setzte sich. Ihr Handgelenk war wund. Auf ihren Schultern hatten sich die Spuren seiner Fingernägel eingegraben. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Wenn sie sich bewegte, tat alles weh. Vorsichtig lehnte sie sich zurück. War dieses Leben mit Juan überhaupt noch zu ertragen? Sie überlegte, wieviel Geld sie inzwischen hatte. Dabei fiel ihr Tom ein, der Engländer. War er ein Freund? Würde er ihr zur Flucht verhelfen? Er lebte doch schon lange hier und wußte sicher, wie sie ohne Paß das Land verlassen konnte. „Woran denkst du?“ fragte Juan lauernd. Sie hatte das Gefühl, daß er ihre Gedanken zu lesen vermochte. „Daran, wie du mich eben behandelt hast.“ „Das ist gar nichts, gemessen an dem, was passiert, wenn du diese passive Haltung beibehältst“, sagte er scharf. „Du bist meine Frau und ich verlange, daß du dich entsprechend benimmst. Ich habe genug von deiner eiskalten Mißachtung. Du wirst dich endlich einmal auf mich einstellen. Schließlich bist du doch eine Frau und kein Eisberg. Ist das klar?“ Sie hatte sich wieder gefaßt und streifte ihn mit einem Blick voller Verachtung. „Meine Selbstachtung wirst du niemals zerstören, damit wirst du dich abfinden müssen.“ Seine Lippen wurden schmal. Keine Spur von Arroganz oder Bosheit lag in seiner Stimme, als er nach einer Weile sagte: „Wir werden sehen, Roxanne. Die Zeit, deinen Willen zu beugen ist noch nicht gekommen – aber es dauert nicht mehr lange. Ich gebe dir den gutgemeinten Rat, über alles nachzudenken, ehe du meine Warnung in den Wind schlägst.“
4. KAPITEL Roxanne schlenderte durch die Avenida San Miguel in Richtung des Zocalo. Hier in der Nähe befand sich die Straße, in der Toms Buchladen lag. Sie bemerkte nicht, daß sie verfolgt wurde. Daran hätte sie sowieso niemals gedacht. Juan war schon ganz früh nach Mexico City gefahren, wo er geschäftliche Besprechungen hatte. Die Idee, daß er vier Tage fortblieb, machte sie glücklich. Leicht und beschwingt ging sie durch die Straßen. Sie dachte nicht mehr an die schweren Stunden, an ihre unglückliche Ehe. Alles war in weite Ferne gerückt. „Hallo“, begrüßte Tom sie, „komm herein.“ Er hob die Klappe zum Tresen. Sie schlüpfte durch und ging in das gemütliche Zimmer, das hinter dem Laden lag. „Setz dich, Roxanne. Ich schließe in einer Stunde. Bleibst du zum Essen?“ „Oh, gerne, Tom.“ Sie hatte nichts dagegen, daß er zu ihr „du“ sagte, sie fand es ganz richtig. Sie wollte ja seine Freundschaft. Sie lehnte sich auf der Couch zurück, während er in die Küche ging, um Kaffee zu machen. Einmal hörte sie, wie die Ladentür aufging. „Eine alte Frau war eben im Geschäft – ulkige Type“, erzählte Tom, als er kurz ins Zimmer kam. „Was wollte sie denn?“ Roxanne sah ihn überrascht an. „Sie scheint den Laden verwechselt zu haben, öffnete nur die Tür und schloß sie gleich wieder. Dann sah ich sie weitergehen. Solche Art Menschen wie die kaufen keine Bücher. Eher etwas zu essen – Papaya, Limonen oder ähnliches Zeug.“ Er ging wieder in die Küche und kam wenig später mit Kaffee und Geschirr auf einem Tablett zurück. „Ich glaube, ich kann jetzt schließen. Es ist sowieso nichts los.“ „Hast du immer nur den halben Tag geöffnet?“ fragte sie. „Ja, ich möchte auch noch etwas Zeit für mich haben.“ Er schien einen Moment zu überlegen. „Hättest du nicht Lust, heute mit mir wegzufahren?“ Roxanne rief ohne zu zögern: „Klar, Tom! Das wäre eine herrliche Abwechslung.“ Tom goß den Kaffee ein. „Don Juan fährt sicher nicht oft mit dir fort?“ „Es würde mir sowieso keine Freude machen, Tom.“ Er schüttelte den Kopf. „Das klingt ja nicht gerade enthusiastisch. Warum verläßt du ihn eigentlich nicht, Roxanne?“ Seine Frage gab ihr einen Stich. In den letzten Monaten hatte sie versucht, ihre Unterhaltungen allmählich auf diesen einen Gedanken auszurichten, ohne ihn direkt auszusprechen. Ihr Vater und Deborah hätten sich über ihre Raffinesse bestimmt gewundert. Obwohl sie Tom inzwischen fast alles erzählt hatte, fühlte Roxanne, daß er ihr wohl niemals zur Flucht vor ihrem Mann verhelfen würde, auch wenn sie ihm noch so sympathisch war. Ihre Freundschaft und ihr großes Vertrauen zu Tom hatten sich an dem Tag bestätigt, als sie, auf dem äußersten Tiefpunkt angelangt, mit einem Weinkrampf in seinem Laden zusammengebrochen war. Er hatte sie in sein „Heiligtum“ geführt, das kleine Zimmer hinter dem Geschäft. Bei einer Tasse Kaffee hatte sie sich alles von der Seele geredet. Noch ehe sie begriff, was sie tat, brach es aus ihr hervor, was sich so lange aufgestaut hatte. Nachher machte sie sich Vorwürfe. Aber Tom versicherte ihr, daß er nichts von dem Gehörten weitergeben würde. Er tröstete sie, und sie fühlte sich erleichtert. Von diesem Tag an hatte sie ihm öfter ihr Herz ausgeschüttet. Er war wirklich ein Freund, auf den sie sich verlassen konnte. „Ich würde lieber heute als morgen fortgehen, Tom, aber ich habe meinen Paß
nicht.“
„Wieso nicht? Wo ist er denn?“
„Juan hat ihn.“
„Du kannst ihn doch darum bitten.“
Roxanne schüttelte den Kopf. „Das wage ich nicht. Er wäre sofort mißtrauisch.“
Tom überlegte. Er schien sie nicht zu begreifen. „Warum denn? Dagegen kann er
doch nichts einwenden.“ Nach einer Pause fragt er: „Willst du ihn tatsächlich
verlassen?“
„Ja, Tom. So kann es nicht weitergehen.“
„Ich verstehe überhaupt nicht, warum du ihn geheiratet hast.“
„Es war ein Fehler. Aber du weißt doch, daß ich von meinem Vater und Deborah
dazu gezwungen wurde.“
„Mädchen in deinem Alter lassen sich doch heutzutage nicht mehr zu etwas
zwingen, wenn sie nicht wollen.“
„Ich bin eben streng erzogen, Tom. Man muß Mut haben, sich gegen die
Menschen aufzulehnen, die einen beherrschen.“
„Aber Joel – was hat er zu der ganzen Angelegenheit gesagt?“
„Er war natürlich entsetzt. Er konnte nicht begreifen, daß ich Juan heiraten
wollte. Nur fürchte ich, er hat dann sehr schnell das Interesse an mir verloren.“
Es war das erste Mal, daß Roxanne zugab, sich in Joel getäuscht zu haben. Sie
hatte sich lange eingeredet, daß Joel noch zu ihr hielt. Daß er sie auch immer
noch liebte, obwohl sie ihn von einem Tag zum andern fallengelassen hatte.
„Er hat doch sicher gewußt, daß du diesen Entschluß nicht von dir aus gefaßt
hast.“
„Doch, Tom. Vater hat mit ihm gesprochen und ihn anscheinend von
meiner…meiner Treulosigkeit überzeugen können.“
„Dann hat er dich nicht wirklich geliebt. Ich hätte mich nicht ohne weiteres
überzeugen lassen. Ich wäre der ganzen Sache auf den Grund gegangen.“
„Das glaube ich dir, Tom. Es wirkte aber alles so verdammt überzeugend. Ich
hatte zugegeben, daß ich mit Juan abends zum Essen war. Das allein schockte
schon jeden, weil es mir so gar nicht ähnlich sah, mit einem fremden Mann
auszugehen. Vater und Deborah konnten es einfach nicht glauben. Und wenn ich
heute darüber nachdenke, geht es mir genauso.“
Tom sah sie nachdenklich an.
„Don Juan ist ein merkwürdiger Mensch“, sagte er. „Mir kommt es vor, als ob er
irgendeine Macht über dich hat, stimmt das?“
Roxanne konnte Toms Vermutung nur bestätigen.
„Sag mal“, fuhr Tom fort, „hat Don Juan deinen Vater tatsächlich belogen? Du
hast dich nie ganz klar ausgedrückt.“
Sie wollte diese Frage auch jetzt nicht beantworten. Es erstaunte sie selbst, daß
sie ihren Mann nicht zu sehr belasten wollte, wenn sie mit Tom über ihn sprach.
Sie schuldete Juan weiß Gott keine Loyalität. Sie haßte ihn mehr als irgend
jemanden auf der Welt. Dennoch hatte sie Tom die Tatsache immer vorenthalten,
daß Juan ihren Vater nur belogen hatte, um sie zur Frau zu bekommen.
„Damals war alles so verworren, Tom.“ Wenn diese Feststellung auch mehr wie
eine Ausflucht klang, so lag doch ein gut Teil Wahrheit darin. „Zuviel stürmte auf
mich ein. Ich weiß nur noch, daß Vater auf unserer Heirat bestand, weil ich die
Nacht mit Juan verbracht hatte.“
Die ganze Zeit hatte Tom sie nachdenklich angesehen. Als sie nun schwieg, sagte
er etwas, das sie unheimlich erschreckte. Sie konnte es lange Zeit nicht
vergessen.
„Bist du sicher, Roxanne, daß du im Unterbewußtsein nicht den Wunsch hattest,
Juan zu heiraten?“ „Wunsch?“ Sprachlos starrte sie ihn an. Langsam und verwirrt schüttelte sie den Kopf. Toms Frage hatte sie tief getroffen. Und doch – war es nicht eine unbestreitbare Tatsache? Wo war ihre Widerrede, die sie im umgekehrten Fall sofort empört geäußert hätte? Den Wunsch, ihn zu heiraten… Mit wachsendem Staunen begann Roxanne, Toms Bemerkung ernsthaft in Betracht zu ziehen. Es war absurd, aber dennoch fiel ihr ein, daß sie sich ja von Anfang an zu Juan hingezogen gefühlt hatte. Sogar der erste Kuß auf ihr Haar war nicht unangenehm gewesen. Als er sie dann zum Essen eingeladen hatte an dem Abend, an dem weder ihr Vater noch Deborah zu Hause waren, empfand sie keinerlei Abneigung. Seine Komplimente gefielen ihr – trotz eines gewissen Angstgefühls, das sie nicht unterdrücken konnte. Sie hatte nicht protestiert, als er sie auf die Stirn küßte, während er ihr in den Mantel half. Beim Dinner und später im Auto, als sie noch nicht ahnte, was sie erwartete, hatte sie Joel vollkommen vergessen. Das Essen, das Beisammensein mit Juan war so harmonisch und schön gewesen, daß sie nur den einen Wunsch gehabt hatte, es möge nie aufhören. Formten sich all diese Erinnerungen und Zugeständnisse nun zu der Tatsache, daß sie den unheimlichen Don Juan Armando Ramires in ihrem Unterbewußtsein doch mochte? Spürte sie ihn in ihrem Blut? Wogegen lehnte sie sich dann auf? Nein, das alles war unmöglich! „Ich habe niemals den Wunsch gehabt, ihn zu heiraten!“ rief sie verstört. „Wie konnte ich denn? Ich liebte Joel!“ Tom lächelte. „Ich habe auch einmal ein Mädchen geliebt“, sagte er nachdenklich. „Dann traf ich eine andere – und noch eine. Die erste Liebe ist vergessen.“ „Das finde ich oberflächlich“, sagte Roxanne ernst. „Man muß der Realität ins Auge sehen, Roxanne. Wenn ich das erste Mädchen geheiratet hätte, wären wir beide todunglücklich geworden.“ Gott sei Dank hatte sie ihn vom Thema Juan abgelenkt. „Was war denn mit der zweiten?“ „Sie wollte nicht heiraten. Sie war der unabhängige Typ, der sehr gut allein mit dem Leben fertig wird. Phil fand einen gutbezahlten Job, der ihr wichtiger war. Für mich war es eine große Enttäuschung. Als ich einigermaßen darüber hinweg war, emigrierte ich. Ich nahm eine Weltkarte, steckte irgendwo eine Nadel hinein – und hier bin ich nun. Phil hat meine Adresse. Sie versprach zu schreiben. Sie weiß, daß ich jederzeit für sie da bin, falls sie ihre Meinung einmal ändert.“ Roxannes weiches Herz floß über. Mitfühlend sagte sie zu Tom: „Das tut mir leid. Ich hoffe sehr, daß Phil dich eines Tages doch heiratet.“ „Ich auch, aber ich warte nicht darauf. In jenem Teil der Welt sind die Frauen viel zu selbständig. Es ist nicht wie hier, wo der Mann immer noch dominiert.“ Roxanne schwieg. Jetzt kam Tom wieder auf seine vorherige Bemerkung zurück. „Trotz allem, was du sagtest, Roxanne, scheint es mir doch so, als ob du den Wunsch hattest, Don Juan zu heiraten.“ Sie schüttelte matt den Kopf. Sie wunderte sich über sich selbst, weil sie unfähig war, seine Bemerkung mit Bestimmtheit zu widerlegen. „Ich verachte ihn“, sagte sie. „Verachten… Frauen sind seltsame Geschöpfe, Roxanne. Aus meinen Erfahrungen habe ich eine Menge gelernt. Sie haben eine fixe Idee, die sich in ihren Köpfen festsetzt. Früher oder später, durch einen Schock oder aus Angst, kommen sie dahinter, daß diese Idee völlig verkehrt war. Vielleicht irre ich mich, aber es könnte sein, daß du dir über deinen Mann solche falschen Vorstellungen gemacht
hast – daß du auch von irgendeiner fixen Idee besessen bist.“
Warum ritt Tom so beharrlich auf diesem Thema herum? Sie beeilte sich zu
sagen, daß sie sich keinerlei falsche Vorstellungen von Tom gemacht habe.
„Ich möchte ihn wirklich verlassen, Tom. Bitte, hilf mir.“
Nach einigen Zögern sagte er:
„Bevor du deiner Sache nicht ganz sicher bist, möchte ich dir davon abraten.
Prüfe dich noch einmal ganz genau. Wenn du später immer noch den Wunsch
hast, helfe ich dir. Aber, Roxanne, kein Wort zu irgend jemandem. Wenn Juan
jetzt oder später einen Hinweis bekommt, hätten wir beide darunter zu leiden. Er
hat hier überall eine ungeheure Macht, das weißt du ja inzwischen. Ihm gehört
nicht nur das ganze Land um euer Dorf herum, er ist auch Eigentümer von
ungefähr einem Viertel dieser Stadt. Außerdem besitzt er Zuckerplantagen und
noch vieles mehr. Ich glaube, niemand weiß, wo er seine Hände überall drin hat,
und wie reich er ist.“
„Tom, ich könnte niemandem gegenüber unser heutiges Gespräch erwähnen,
selbst wenn ich es wollte.“ Sie war enttäuscht, denn sie hatte doch gehofft, daß
Tom eine schnelle Lösung für sie parat gehabt hätte.
„Ja, Roxanne, so liegt der Fall. Ich würde an deiner Stelle versuchen, so schnell
wie möglich an deinen Paß heranzukommen. Das gibt dir eine gewisse Sicherheit.
Aber du darfst kein Risiko eingehen.“
„Ich habe keine Ahnung, wo er ihn aufbewahrt. Kann ich keinen neuen
bekommen?“
„Das geht nicht. Du mußt eben etwas diplomatisch sein und versuchen, es aus
ihm herauszubekommen oder auf die Suche gehen, wenn er nicht da ist.“
Sie nickte. Gleich morgen wollte sie damit beginnen.
„Übrigens, Tom, mach dir keine Sorgen, wenn ich nächste Woche nicht
herkomme. Juan war diese Woche wieder öfter zu Hause, daher werde ich
wahrscheinlich nicht fort können.“
„Und was für eine Entschuldigung hattest du ihm gegenüber?“ fragte er
neugierig.
„Ich brauchte keine. Juan hat sich immer in dem kleinen Zimmer aufgehalten.
Jetzt weiß ich auch, daß es sein Studio ist. Zwischen Frühstück und Mittagessen
hat er sich dahin zurückgezogen und dann wieder, bis es Zeit für ihn war, sich
zum Abendessen umzuziehen. Nach dem Lunch war ich fünf Stunden sicher.“
„Hat er seine Gewohnheiten denn jetzt geändert?“
„Ja, seit letzter Woche. Donnerstag konnte ich kommen, weil er mit dem Wagen
wegfuhr und sagte, vor sieben Uhr abends sei er nicht zurück.“
„Vielleicht ist das nur vorübergehend“, meinte Tom nachdenklich. „Schließlich ist
er ein vielbeschäftigter Mann. Ich glaube, daß er nicht mal während seines
Einsiedlerlebens versäumt hat, seinen Geschäften nachzugehen. Daher ist es gut
möglich, daß er an seiner Gewohnheit festhält, den größten Teil des Tages mit
Arbeit zuzubringen.“
„Ich hoffe es. Ich komme so gern hierher. Für mich ist es eine zweite Heimat.“
Sie sah ihn scheu an und fügte hinzu: „Ich habe schon an dem Tag, als wir uns
kennenlernten, das Gefühl gehabt, wir könnten Freunde werden – und so ist es
auch gekommen.“
„Ich hatte damals den gleichen Wünsch und hoffte, daß wir beiden Engländer uns
verstehen würden.“ Tom stellte das Kaffeegeschirr auf ein Tablett und sah auf die
Uhr. „Ich glaube, ich schließe den Laden, wir essen zusammen und fahren weg.
Es ist schön, daß du heute Zeit hast. Wann mußt du wieder auf der Hazienda
sein?“
„Nicht zu spät, Tom. Um zehn möchte ich zu Hause sein.“
„Das können wir schaffen.“ Nach dem Essen wuschen beide noch das Geschirr ab. Dann fuhren sie in Toms kleinem Wagen los. Tom bat sie, mehr von Joel zu erzählen. Sie tat ihm den Gefallen, obwohl es ihr schwerfiel. Ein oder zweimal wischte sie verstohlen mit der Hand über die Augen, damit er ihre Tränen nicht sah. „Wollen wir nach Acapulco fahren?“ fragte Tom, als sie schwieg. „Du kennst es doch noch nicht.“ „Ist es auch nicht zu weit?“ „Für einen Nachmittag sicher, aber wir haben ja genügend Zeit. Ich habe mein Badezeug mit. Schade, daß du nicht vorbereitet warst, sonst hätten wir zusammen schwimmen können.“ Die Idee, in der warmen, tropischen See zu schwimmen, war so verlockend, daß Roxanne darauf bestand, einen Badeanzug zu kaufen, wenn sie an einem Laden vorbeikämen. „Umziehen können wir uns doch sicher irgendwo, nicht wahr?“ „Natürlich.“ Als Roxanne außer dem einteiligen Badeanzug auch noch Frottiertücher kaufen wollte, sagte Tom, daß er ein großes Badelaken im Wagen hätte. Roxanne war erleichtert. Sie vermied es, zuviel Geld auszugeben, denn sie mußte es für viel wichtigere Dinge sparen. Der Gedanke an die Flucht ließ sie nicht los. Obwohl die Gärten der Hazienda ein einziger Farbenrausch waren, begeisterte Roxanne sich auf der Autofahrt an der phantastischen Vegetation. „Was sind das dort für Bäume?“ fragte sie. Eigentlich wußte sie nach vier Monaten Aufenthalt in Mexiko viel zu wenig. „Es sind Brotbäume. Und dort drüben siehst du Vanillepflanzen.“ „Da stehen Granatapfelbäume, die haben wir auch auf der Hazienda!“ rief sie. Endlich erreichten sie die Straße, die zum Strand führte. Tom fuhr auf den Parkplatz eines großen Hotels. Etwas entfernt am Strand standen Badekabinen. „Es ist sagenhaft schön!“ begeisterte sich Roxanne, als sie etwas später neben Tom in dem klaren, ruhigen Wasser schwamm. „Heute morgen hätte ich nicht im Traum gedacht, daß wir heute nachmittag hier im Ozean schwimmen würden!“ Beim Frühstück war Juan bedrückend still gewesen. Später hatte er sie gefragt, was sie den Tag über machen wolle. „Dasselbe was ich tue, wenn du zu Hause bist“, hatte sie geantwortet, „mich irgendwie beschäftigen.“ „Du hast dir deine Einsamkeit ja selbst gewählt.“ „Ich ziehe sie deiner Gesellschaft vor!“ Juan hatte ihr einen vernichtenden Blick zugeworfen, aber kein Wort gesagt. Er hatte sich allmählich an die verletzenden Antworten seiner Frau gewöhnt. Ihre langsame Wandlung war von Woche zu Woche, von Tag zu Tag auffälliger geworden. Obwohl sie ihre Schüchternheit noch nicht abgelegt hatte, gewann sie immer mehr Selbstvertrauen. Ihr zwanzigster Geburtstag stand bevor, und die Tatsache, daß sie bald kein Teenager mehr war, trug offensichtlich dazu bei. Eins war ihr klar: Die Trennung vom Vater und von Deborah hatte ihr gutgetan. Übergroße Vorsicht, dazu die militärische Strenge des Vaters waren zweifellos die Hauptfaktoren für ihre Charakterschwäche und Unsicherheit gewesen. Wer weiß, wohin alles das geführt hätte, wenn sie zu Hause geblieben wäre? In einer Ehe mit Joel hätte sie sich allerdings ganz anders entwickeln können. Sie wäre voll erblüht, während sie jetzt gewissermaßen noch eine Knospe war, die vergebens versuchte, sich zu öffnen. Wie dem auch sei, überlegte Roxanne, ein Fortschritt war zu merken. Die Streitereien mit Juan waren auch nicht mehr ganz so einseitig wie zu Beginn ihrer Ehe.
Gewiß, wenn er es für nötig hielt, zeigte er deutlich, daß er der Herr war. Aber
andererseits schien er die Änderung in ihrem Charakter nicht ungern zu sehen,
im Gegenteil. Sie war fast sicher, daß er eine Frau, die ihm Widerstand leistete,
mehr schätzen würde.
„Du bist so still, Roxanne.“
Es war eine Stunde später, sie lag auf dem herrlichen, goldenen Sand, neben
sich einen Tisch mit geleerten Limonadegläsern. Dieser Tisch hatte, wie alle
anderen am Strand, ein kleines Dach aus Palmwedeln. Das Wasser sah aus wie
indigofarbener Sand. Etwas entfernt fand ein WasserskiWettbewerb statt. Es
sonnten sich viele Menschen hier, aber es war keineswegs überfüllt. Der Himmel
war klar und blau. Heiß brannte die Sonne auf Sand und Wasser.
„Ich habe nachgedacht“, sagte sie verträumt.
„Worüber?“ Tom legte sich neben sie, achtete aber auf gebührenden
Zwischenraum. „Hoffentlich ist es nicht etwas, das diesen märchenhaften Tag
verdüstert.“
„Ach, über Juan.“
„Juan? Ach so.“ Jetzt dachte Tom einen Moment nach. „Er hat sich ziemlich
verändert, nicht wahr? Das hast du fertiggebracht, Roxanne.“
„Wieso?“ Sie richtete sich auf und sah auf das Meer. Die Gischtspuren der
WasserskiLäufer funkelten in der Sonne.
„Er war ein Einsiedler – und jetzt? Keiner hätte doch gedacht, daß er jemals
wieder ein normales Leben führen würde.“
„Ich habe dir doch erzählt, wie das war. Ich meine, warum er nach England
gekommen ist.“
„Ja, er hatte dein Foto gesehen.“
„Und festgestellt, wie sehr ich Marta ähnelte.“
Tom sah sie von der Seite an. „Bist du sicher, ob diese Ähnlichkeit wirklich so
frappierend ist?“
„Natürlich. Juan hat doch zugegeben, daß es der Grund für unsere Heirat war.
Außerdem habe ich ein Bild von Marta gesehen.“
„Hat die alte Hexe es dir gezeigt?“
„Woher weiß du, daß sie wie eine Hexe aussieht?“
„Gerede! Die Leute tratschen gern. Lupita muß dieses Mädchen abgöttisch geliebt
haben. Damals, als Marta geboren wurde, arbeitete Lupita bei deren Eltern. Jeder
wunderte sich, als sie diese Stellung aufgab und zu den Ramires ging. Zu der
Zeit lebte der Vater deines Mannes noch. Seltsamerweise blieb sie die ganze Zeit
über Martas Mutter freundschaftlich verbunden. Die Leute hier erinnern sich, daß
sie jede freie Minute bei dem Kind verbrachte, mit ihm spielte, es ausfuhr.“
„Und das Kind?“ warf Roxanne ein. „Hing das auch so an Lupita?“
„Anscheinend doch. Nach Martas Tod jedenfalls soll sich Lupita lange Zeit in einer
Art Dämmerzustand befunden haben und sehr krank gewesen sein. Es heißt, Don
Juan hätte sich rührend um sie gekümmert.“
„Seit wann weißt du das alles?“ fragte Roxanne erstaunt. „Du hast mir niemals
etwas davon erzählt.“
„Na, ich will ehrlich sein. Ich habe mich erkundigt“, gab er zu. „Deine
Erzählungen haben mich neugierig gemacht, verstehst du? Ein alter Bediensteter
von Don Juan unterhielt sich neulich mit mir. Ich stellte ihm ein paar ganz
unverfängliche Fragen, und innerhalb von Minuten wußte ich alles. Er war es
auch, der mir dieses anschauliche Hexenporträt von Lupita malte.“
„Weißt du, wie alt sie ist?“
„Ende fünfzig – älter keinesfalls, obwohl sie wie hundert aussieht.“
Roxanne nickte geistesabwesend.
„Sie ist furchterregend“, sagte sie plötzlich. „Manchmal denke ich, mein Leben
wäre nicht ganz so unerfreulich, wenn sie die Hazienda verließe. Warum setzt sie
sich nicht zur Ruhe?“
„Weil die Hazienda ihr Zuhause ist, etwas Schöneres wird sie nicht bekommen.
Wahrscheinlich hat sie auch keinen Menschen sonst auf der Welt.“
„Doch, Martas Mutter. Oder lebt sie nicht mehr?“
„Sie starb, als sie vom Tode ihrer Tochter erfuhr. Vermutlich durch einen
Schock.“
Roxanne runzelte die Stirn.
„Es ist wirklich eine makabre Geschichte.“
„Ja, du hast vollkommen recht“, pflichtete er ihr bei. „Erst der Tod des Mädchens,
dann stirbt die Mutter, Lupitas Krankheit und das seltsame Verhalten Don Juans.
Ich meine, ich verstehe vollkommen, daß ein Mann sich eine Weile abkapselt,
wenn er leidet – aber doch nicht jahrelang!“
„Ich habe manchmal das Gefühl, also ob Marta – als ob sie noch da ist“,
murmelte Roxanne vor sich hin. Im nächsten Moment schreckte sie hoch. Waren
ihre Worte nicht absurd?
„Glaubst du, sie spukt auf der Hazienda herum?“ fragte Tom spöttisch.
Er hatte ihre Bemerkung offensichtlich nicht ernst genommen.
„Irgendwie fühlt man ihre Gegenwart überall“, erwiderte Roxanne und setzte
schnell hinzu: „Freilich nicht immer.“
Er überlegte. „Vielleicht nur, wenn Lupita in der Nähe ist?“
„Ja!“ rief sie. „Woher weißt du das?“
„Da hast du doch die Erklärung. Lupita hat dir das Bild von Marta gezeigt. Und
immer wenn du Lupita jetzt siehst, denkst du automatisch an Marta. Das hat mit
Spuk überhaupt nichts zu tun.“ Roxanne schwieg und Tom fuhr fort: „Wie kam
die Alte überhaupt dazu, dir das Bild zu zeigen?“
„Sie hat, glaube ich, die ganze Zeit nur auf eine passende Gelegenheit gewartet.
Eines Nachmittags, ich war gerade im Garten, kam sie zu mir. Ohne die geringste
Ermunterung meinerseits begann sie zu reden. Ich konnte sie nämlich von
Anfang an nicht leiden, irgendwie strömt sie Böses aus.“ Ein Schauder überlief
Roxanne. Lupita war sicher für Juan die passende Gesellschaft während seiner
Einsiedlerjahre gewesen. „Sie sprach von Marta – von ihrer großen Schönheit.“
Roxanne hielt inne. Vor ihren Augen spielte sich die Szene ab, während sie
weitersprach…
„Sie sind lange nicht so schön, Senora! Don Juan hat gedacht, Sie könnten ihren
Platz einnehmen. Aber er wird bald erkennen, daß er sich geirrt hat. O ja, Sie
gleichen Marta in vielem, doch es wird auf dieser Erde niemals wieder ein Wesen
wie sie geben. Sie war ein Engel, ein himmlisches Geschöpf. Ihr Geist war so rein
wie ihr Körper, das war auch der Grund ihrer makellosen Schönheit. Fleckenlos,
Senora, sie war fleckenlos. Aber Sie?“ Verächtlich spuckte Lupita vor Roxanne
aus. „Sie können ihr nicht das Wasser reichen! Sie sind häßlich!“
„Niemand hat jemals zu mir gesagt, daß ich häßlich bin!“
„Dann wissen Sie es jetzt! Soll ich Ihnen zeigen, wie sie ausgesehen hat?“ Ohne
eine Antwort abzuwarten, zog Lupita eine lederne Brieftasche aus den Falten
ihres Rockes. Sie war abgegriffen und dreckig. Angewidert wandte Roxanne sich
ab. Ihre Reaktion wirkte wie ein elektrischer Schlag auf die Frau. Mit einem
katzenhaften Sprung war sie neben Roxanne und umklammerte mit ihren langen,
knochigen Fingern deren Arm. Die kralligen Nägel drangen in Roxannes Fleisch.
„Das wird Sie lehren, sich von meinem bezaubernden Kind abzuwenden! Sehen
Sie, sehen Sie nur her. – “ Sie hielt Roxanne das Foto, das genauso speckig und
abgegriffen war wie die Brieftasche, dicht vor die Augen. „Da! Was sagen Sie
jetzt?“ „Zugegeben, sie war wirklich sehr schön.“ „War? Mein süßes Kind ist hier, sie wird immer hier sein, in meinem Herzen – und in dem ihres Liebhabers!“ Die dunklen Augen funkelten bösartig, das zerknitterte Gesicht war verzerrt. Lupita schien wie vom Teufel besessen. Es war, als ob etwas ihre Stimmbänder blockierte, sie versuchte zu schlucken, sie wollte weitersprechen – es gelang ihr nicht. Sie hielt das Foto immer noch vor Roxannes blutleeres Gesicht, das Bild zitterte in der knochigen Hand. Roxanne fuhr entsetzt zurück. Doch bevor sie die Absicht der Alten erkannte, hatte diese ihr mit der ledernen Brieftasche ins Gesicht geschlagen. „Was fällt Ihnen ein?“ Fassungslos starrte Roxanne die alte Frau an, eine Hand gegen die schmerzende Wange gepreßt. „Wie können Sie es wagen, mich zu schlagen? Ich werde alles meinem Mann erzählen! Scheren Sie sich weg, hören Sie? Mitsamt Ihrem kostbaren Foto!“ Lupita richtete sich auf. Schaum stand ihr vor dem Mund, sie verfiel in eine Art Krampf. Die Lippen färbten sich blau, die fleischlosen Wangen dunkelrot. Plötzlich aber schien die Verkrampfung sich zu lösen, wie ein Orkan, der abebbt, ihr Mund öffnete sich wieder. „Sie sehen ihr ähnlich, wie?“ zischte sie. „Haben Sie die Ähnlichkeit bemerkt? Und nur deshalb hat Don Juan Sie geheiratet! Aber wenn Sie sich auch noch so sehr bemühen, Sie werden ihn nie erobern, niemals seine Liebe erringen. Sie sind für ihn nur Ersatz! Sie können seine körperlichen Bedürfnisse befriedigen, doch nicht mehr, Senora, nicht mehr.“ Roxanne hatte ihr Erzählung beendet. Tom schwieg lange. Endlich sagte er: „Du hattest recht, glaube ich. Dein Leben wäre viel erträglicher, wenn dieses Weib verschwände. Mein Gott, Roxanne, wie kannst du die Person ertragen? Du mußt deinen Mann veranlassen, sie rauszuwerfen. Er weiß doch von dem allen nichts. Warum sagst du es ihm nicht? Lupita ist doch direkt eine Gefahr für dich. Wer weiß, wozu die fähig ist.“ „Er würde sie niemals entlassen, Tom. Und offengestanden, ich sehe ja nicht viel von ihr. Sie hält sich meistens in der Küche auf.“ Roxanne erinnerte sich unwillkürlich an den Zwischenfall, als sie in Juans Toilettentisch die kleine Mappe gefunden hatte und Lupita sie dabei überraschte. Die alte Frau hatte gehofft, Juan würde in sein Zimmer gehen und Roxanne dort finden. Sie erwähnte Tom gegenüber nichts davon. Er saß kerzengerade in seinem Stuhl und überlegte immer noch. „Du hast Lupita ungeheuer anschaulich geschildert.“ Er brach ab, als ob er seine Worte bedaure. Aber Roxanne ahnte gar nicht, was er hatte sagen wollen. Erst viel später erfuhr sie von ihm, daß es Lupita gewesen war, die an jenem Nachmittag in seinem Laden auftauchte. Lupita war ihr heimlich gefolgt, um ihr nachzuspionieren.
5. KAPITEL Roxanne sah den Wagen ihres Mannes auf die hohen Tore der Hazienda zufahren. Sie schloß einem Moment die Augen. Es war so ruhig und friedlich gewesen, während er fort war. Jetzt würden die ewigen Auseinandersetzungen wieder anfangen. Sein unbarmherziges, leidenschaftliches Verlangen; die Forderung, daß sie die hauchdünnen Spitzen und Nylongespinste trug, die er ihr geschenkt hatte. Wie haßte sie das alles! Sie haßte es, weil sie in seinen Augen Marta war, seine einzige wahre Liebe. Was für ein unmenschlicher Impuls hatte ihn veranlaßt, solch einen Plan auszudenken? Er hatte ihr Bild gesehen, ihre Ähnlichkeit mit Marta festgestellt und darauf mit Martin einen Besuch in England verabredet, um sie zu treffen. Das alles gipfelte dann in der Entführung, um die Heirat zu erpressen. Nur ein Teufel konnte soweit gehen, oder ein Mann, den man den .Schwarzen Adler’ nannte. Der Wagen hielt vorm Haus. Ein arroganter Blick streifte sie, als er ausstieg. Er blieb am Fuß der weißen Marmorstufen stehen und sah zu ihr hinauf. Ihre Blicke trafen sich, Juans kohlschwarze Augen sahen in die blauvioletten Roxannes. Sein Mund war schmal, der ihre voll und schön geschwungen; Härte prägte seine Züge, die ihren Weichheit, Nachgiebigkeit. Es gab kaum zwei Menschen, die in Aussehen und Charakter so verschieden waren. Jeder, der sie sah, hatte Roxanne oft überlegt, müßte sofort denken: Die beiden passen überhaupt nicht zusammen. Sie schwiegen immer noch. Juan hatte etwas Statuenhaftes, wie er dort an der Treppe stand, die von zwei riesigen italienischen Urnen flankiert war. Nopals wuchsen darin, blühende Kakteen mit runden, flachen Blättern und gelben und orangefarbenen Blüten. In den schräg fallenden Sonnenstrahlen sahen sie aus wie Feenlichter, die über einen Christbaum verstreut waren. Hinter Juan, etwas weiter entfernt, sah man die hohen Bogen eines schmiedeeisernen Tores, dessen weiße Pfeiler von scharlachroten Bougainvilleen überwuchert waren. Alles wirkte wie ein schöner Rahmen, der so gar nicht zu diesem Mann paßte. Unbewußt lächelte Roxanne. „Wirke ich so lächerlich, Roxanne? Ist irgend etwas?“ Die schneidende Stimme wischte das Lächeln von ihrem Gesicht. Als er mit großen Schritten die Stufen emporkam, wich sie zur Seite. „Nun?“ fragte er in anmaßendem Ton. Sie konnte es nicht verhindern, daß sie rot wurde. „Habe ich gelächelt? Das wird wohl unbewußt gewesen sein“, sagte sie und wollte ins Haus gehen. Aber er packte ihr Handgelenk. „Hast du mich vermißt, Roxanne?“ War er etwa nur deswegen fortgefahren? Damit sie ihn vermissen sollte? Sie hätte beinahe laut gelacht, hielt sich aber zurück. „Ich habe deine unerwünschten leidenschaftlichen Ausbrüche vermißt, Juan. Falls du das hören wolltest.“ Ein bedrückendes Schweigen folgte. „Treib es nicht zu weit“, warnte er sie mit gefährlich ruhiger Stimme. „Du bist anders geworden. Wo ist das alles geblieben, was man dir anerzogen hat?“ Sie wollte ihn unterbrechen, aber er fuhr fort: „Eine geistvolle Frau ist angenehm und interessant, das toleriere ich. Aber ich lehne jede Art von Unverschämtheit ab. Gewöhne dir an, mich zu respektieren, oder ich verliere die Geduld!“ Sie spürte, daß sie etwas blasser wurde. Aber sie versuchte, ihre Furcht zu verbergen. „Ja, Juan, ich bin anders geworden. Damals hast du mich überwältigt, ich gebe
es zu. Du hast es fertiggebracht, mich zur Heirat zu zwingen, weil ich schwach war. Wäre die ganze Geschichte jetzt passiert, glaube mir, ich hätte anders reagiert. Vom ersten Moment unseres Zusammentreffens an wärst du der Unterlegene gewesen. Und diese Rolle hätte dir kaum gepaßt, weil du sie nicht gewohnt bist. Heute habe ich den Mut, mein Leben selber in die Hand zu nehmen. Ich lasse mich nicht mehr von anderen wie eine Schachfigur hin und her schieben. Hätte ich diese Einstellung ein paar Monate früher gehabt, wäre ich einfach von zu Hause weggegangen und hätte mir einen Job gesucht.“ Er sah auf ihre Hand, die er immer noch umklammert hielt. Er drehte sie um und betrachtete interessiert die Innenfläche. Sie beobachtete sein Gesicht, den brütenden Blick, die spöttisch nach oben gezogenen Lippen. „Laß uns hineingehen“, sagte er endlich. „Hattest du eine erfolgreiche Reise?“ fragte sie, um überhaupt etwas zu sagen. „Interessiert dich das wirklich?“ Sie zuckte die Achseln. „Nicht besonders.“ Feuer brannte plötzlich in den unergründlichen Tiefen seiner Augen. „Hör auf!“ stieß er hervor. „Vergiß nicht, daß ich dein Mann bin!“ Er hob ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Willst du, daß ich die Beherrschung verliere und dich schlage, Roxanne?“ Sie erschrak maßlos. Sie zuckte zusammen und starrte ihn ängstlich an. Wo war ihr eben noch so beherzter Mut? Aber sie zweifelte keine Sekunde, daß er seine Drohung in die Tat umsetzen würde. Sie durfte ihn also nicht weiter provozieren. Ruhig sagte er: „Du hast mir noch nicht geantwortet, Roxanne.“ „Mußt du mich immer demütigen, indem du mich zwingst, die Unterwürfige zu spielen?“ Er ließ ihr Kinn los. Sie blickte zu Boden und spürte, .wie er sie forschend musterte. Was sollte bloß werden? Sie wußte, einmal würde bestimmt der Tag kommen, an dem er die Kontrolle über sich verlor. Was dann? Es blieb ihr nur die Flucht, überlegte sie verzweifelt. Tom mußte ihr helfen. „Nein, Roxanne“, kam die überraschende Antwort auf ihre Frage. „Ich will dich nicht demütigen.“ Juan machte den Eindruck, als sei die soeben zwischen ihnen geführte Debatte für ihn restlos abgeschlossen. Mit einer liebevollen Gebärde legte er den Arm um ihre Schultern und ging mit ihr ins Haus. Als sie sich später zum Dinner umzog, fiel ihr wieder diese wunderlich zärtliche Gebärde ein. Warum hatte sie sie geduldet? War er in diesem Moment nicht der liebende Ehemann gewesen, der nach längerer Geschäftsreise zurückkommt und seine Frau glücklich in die Arme schließt? Warum spielte er dieses Theater? Und sie hatte es sich gefallen lassen, hatte nicht den leisesten Versuch gemacht, sich ihm zu entziehen, im Gegenteil. Seine Berührung war ihr aus unerfindlichen Gründen gar nicht unangenehm gewesen. Als sie herunterkam, stand er am Fuß der Treppe. Es schien fast, als habe er auf sie gewartet. Er lächelte, wie sie ihn noch nie hatte lächeln sehen – wenigstens nicht seit ihrer Hochzeit. Auch in der bewußten Nacht, als das ganze Unglück begann, hatte er so rätselhaft gelächelt. Um sie zu beruhigen, dachte sie bisher immer, damit sie ihm vertraute. „Du siehst hinreißend aus, Roxanne.“ Sie war erneut überrascht. Aus weiten Augen sah sie ihn an, überwältigt nicht nur von seiner Haltung, sondern auch von ihrer eigenen Reaktion. Mit einem Male hatte sie nicht mehr den Wunsch, ihn zu provozieren, ihm haßerfüllte Antworten zu geben. Sie dachte nicht weiter über den Grund nach, sondern gab sich damit zufrieden, daß es so war. Sein Kompliment freute sie. Sie erwiderte sein Lächeln und sagte beinahe scheu: „Danke schön.“
„Wir nehmen die Drinks auf der Veranda.“
Diese Veranda lag in demselben Flügel wie das Eßzimmer. Von hier aus blickte
man auf den südlich gelegenen Teil des Besitzes. Im Vordergrund war ein Teich.
Bewegungslos lag die Wasseroberfläche im matten Silbergrau des schwindenden
Tageslichtes. Man konnte den prachtvollen Garten trotz der rasch
fortschreitenden Dämmerung noch erkennen.
Die verschiedenartigsten Blumen verströmten ihren süßen, betäubenden Duft,
Tuberosen und Zitronenblüten, hin und wieder ein Hauch von Jasmin.
Indianischer Lorbeer zeichnete bizarre Muster gegen den dunkler werdenden
Himmel. Palmen und Zypressen wiegten sich sanft im Abendwind, der von der
tiefer gelegenen Küste kam. Ein Vogel mit korallenfarbenem Schnabel flog zu den
purpurnen Bougainvilleen, die eine niedrige Mauer hinter dem Teich bedeckten.
„Möchtest du noch einen Drink, Roxanne?“ Juans Stimme klang so anders als
sonst, so ungewöhnlich liebenswürdig.
„Gerne, Juan.“
„Warum bist du so nachdenklich?“
„Es ist so wunderschön hier draußen – und so friedlich.“
„Du willst es in Ruhe genießen, nicht wahr?“
Sie wandte sich ihm zu. Er sah großartig aus in dem weißen Dinnerjacket, mit
seiner sonnengebräunten Haut und dem tiefschwarzen Haar. Allerdings änderte
das nichts daran, daß seine Nähe zugleich beunruhigend und nach wie vor
angsteinflößend war, „Möchtest du dich lieber unterhalten?“ fragte sie.
„Ja, das wäre schön“, meinte er, indem er neue Drinks zurechtmachte.
Sie fuhr nach einer kleinen Pause fort:
„Haben wir beide überhaupt etwas, worüber wir miteinander reden könnten?“
„Sicher gibt es Themen, die uns beide interessieren.“
Sie holte tief Luft.
„Das glaube ich kaum.“
„Heißt das, du willst dich nicht mit mir unterhalten, Roxanne?“
Sie war verwirrt. Er war so anders, weicher, zugänglicher. Plötzlich fiel ihr Toms
Bemerkung wieder ein, daß sie im Unterbewußtsein den Wunsch gehabt hätte,
Juan zu heiraten. Es war doch eine absurde Annahme – oder? Sie war sich nicht
sicher. Als sie jetzt mit ihm in der warmen purpurnen Dämmerung saß, erfüllte
sie diese Unsicherheit mit Schrecken. Liebte sie Joel denn nicht mehr?
Merkwürdig, Joels Gesicht war in ihrer Erinnerung verschwommen, als ob sie ihn
langsam vergäße.
Sie hatte Juans Frage noch nicht beantwortet. Mit einem bewußt reizenden
Lächeln sagte sie:
„Oh, doch, Juan, natürlich möchte ich mich mit dir unterhalten. Aber ich habe
nicht viel zu erzählen, wenigstens nichts Interessantes.“
Er hob die Schultern. „Ich finde, wir benehmen uns ziemlich albern, nicht wahr?“
Diese Bemerkung paßte kaum auf ihn, dachte Roxanne. Albern war höchstens
sie. Sie gab sich einen Ruck.
„Wie war es in Mexico City? Was hast du die ganze Zeit gemacht?“ fragte sie.
„Es war hauptsächlich eine Geschäftsreise. Ich habe aber auch noch meine
verheiratete Schwester Margarita besucht.“
„Wirklich?“ Auf einmal zeigte Roxanne lebhaftes Interesse. „Wie sieht sie aus?
Wie lange ist sie verheiratet? Wie alt ist sie?“ Lachend unterbrach er sie. Wie
anders wirkte sein Gesicht gleich, ohne den Ausdruck von Härte und
Überheblichkeit.
„Roxanne, ich wußte gar nicht, daß du so neugierig bist. Margarita sieht mir gar
nicht ähnlich. Sie hat hellbraunes Haar und blaue Augen, außerdem ist sie sehr,
sehr hübsch, wenigstens finde ich es. Sie ist zweieinhalb Jahre verheiratet und hat einen Sohn, der gerade ein Jahr geworden ist, also bist du Tante. Margarita ist jetzt fünfundzwanzig.“ „Sie hat ein Kind“, sagte Roxanne leise mit einem verzückten Lächeln. Sie hatte oft mit Joel über Kinder gesprochen – zwei wollten sie mindestens haben. „Du magst Kinder gern?“ fragte Juan. Sie nickte. „Vielleicht werden wir eines Tages – .“ „Nein!“ Dieses eine kleine Wort sprach Bände. Sofort hatte Juans Gesicht wieder den verschlossenen, harten Ausdruck. Roxanne biß sich auf die Lippen. Die unbedachte Äußerung tat ihr leid. Warum eigentlich? Sie wünschte sich doch wirklich kein Kind von Juan. „Es wird Zeit, daß wir hineingehen“, forderte er sie nach einer Weile auf. „Trink bitte aus.“ „Verzeih’…“ Diese Entschuldigung war genauso unbedacht wie ihre eisige Ablehnung vorhin. „Warum entschuldigst du dich, Roxanne? Das brauchst du nicht, außerdem ist es völlig wirkungslos.“ Sie nahm ihr Glas und trank es leer. Auf einmal fühlte sie sich todunglücklich. Jetzt waren sie beide wieder genau dort angekommen, wo es begonnen hatte, einzig und allein durch ihre Schuld. Warum war sie so traurig? Sie hatte doch gar nicht den Wunsch, die Beziehungen zu ihrem Mann zu vertiefen. Oder doch? Ihre Unsicherheit wuchs. Joel, lieber Joel… Sie versuchte, sein vertrautes Bild in sich wachzurufen, aber es gelang nicht. Was war mit ihr los? Sie sah den Fremden an, der ihr Mann war. Er hielt sein Glas in der Hand und beobachtete sie düster. Sie konnte es kaum glauben, aber er machte den Eindruck eines einsamen, traurigen Menschen. Konnte ein Mann, der es gelernt hatte, allein zu leben, überhaupt einsam sein? Wahrscheinlich bildete sie sich alles nur ein. Und doch ergriff ein unkontrollierbares Gefühl von Mitleid Besitz von ihr. Gleichzeitig hatte sie den zwingenden Wunsch, seine Traurigkeit – und ihre eigene – zu mildern. „Müssen wir schon hineingehen?“ fragte sie zaghaft, denn sie wußte nicht, wie sie ihren Wunsch in die Tat umsetzen sollte. „Es ist so wunderschön heute abend. Können wir nicht wenigstens den Sonnenuntergang abwarten?“ Der Blick der dunklen Augen heftete sich auf sie. Juan schien verwirrt. Dieser Umstand erstaunte Roxanne, denn es paßte so gar nicht zu seiner Strenge und Unbeugsamkeit. „Wenn du es möchtest, Roxanne, warten wir eben noch.“ Er sprach ihren Namen rollend und geheimnisvoll aus. Es war das erstemal, daß ihr das auffiel. Wahrscheinlich hatte sie ihm nie konzentriert zugehört. „Ja, Juan, die Sonnenuntergänge hier sind ein Schauspiel. Aber wenn du lieber hineingehen möchtest?“ Juan lächelte etwas gezwungen. „Wir bleiben noch ein wenig draußen, Roxanne.“ Er füllte noch einmal ihre Gläser und sah sie mit einem langen Blick an. In diesem Moment wich alle Angst von ihr. Unermeßliche Freude breitete sich in ihr aus, wie lebenspendendes Blut, das den Körper nach einer tiefen Ohnmacht wieder durchpulst. Es grenzte an ein Wunder. Sie mochte nicht nachdenken, was diese Stimmung auslöste, sie wollte den Augenblick festhalten. Sie trank einen Schluck, setzte das Glas ab und sagte ganz gelöst und heiter: „Ich möchte deine Schwester gerne kennenlernen, Juan. Deine anderen Verwandten auch.“ „Wirklich?“ Es klang ungläubig, aber nach kurzem Überlegen meinte Juan: „Ich
werde Margarita und ihren Mann einmal einladen. Sie brennen natürlich darauf, dich zu sehen.“ „Finden sie es nicht merkwürdig, daß du mich ihnen noch nicht vorgestellt hast?“ „Ach, Roxanne, sie haben sich damit abgefunden, daß ich ein etwas schwieriger Mensch bin, jemand, der zurückgezogen lebt, ein Introvertierter. Sie kennen meine Eigenheiten. Selbstverständlich sind sie neugierig auf ihre Schwägerin, aber sie würden nie in mein Privatleben eindringen. Ohne Einladung schon gar nicht. Sie haben noch nicht einmal gefragt, ob sie kommen dürften.“ Roxanne konnte es einfach nicht begreifen. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe mir immer viele Brüder und Schwestern gewünscht. Daher kann ich nicht verstehen, warum du dich so völlig von ihnen zurückgezogen hast.“ „Ich hatte Grund dazu, das weißt du doch.“ Wie eigenartig, daß sie sich plötzlich so gut mit Juan unterhalten konnte. Als sie das Gespräch nun indirekt auf Marta gebracht hatte, war sie eigentlich überzeugt, daß Juan sich wieder in sein Schneckenhaus zurückziehen würde. Statt dessen schien er völlig unberührt. Konnte es sein, daß der Kummer, der so lange auf ihm gelastet hatte, langsam nachließ? Die Sonne sank. Der Himmel begann zu glühen. Roxanne war ganz versunken in dieses Naturphänomen. „Schau, Juan“, rief sie lebhaft, „sieht es jetzt nicht aus wie ein phantastischer Spitzenfächer?“ Er sagte nichts. Sie wandte sich zu ihm. Aber er sah nur in ihr Gesicht, auf dem der Widerschein der Glut lag. Ihr wurde heiß, sie senkte die langen dunklen Wimpern. Sein leises Lachen unterbrach das Schweigen, er streckte eine Hand aus und liebkoste ihre Wange. Zum ersten Male zuckte sie bei dieser Berührung nicht zusammen. Was war nur mit ihr los? „Nirgendwo kannst du solche Sonnenuntergänge erleben wie hier, Roxanne.“ „Wieso bilden sich so unendlich viele Farben?“ fragte sie. Atemlos, mit weit geöffneten Augen starrte sie auf den Spitzenfächer, der langsam in ein kräftigeres Farbmuster wechselte; von Blaßrosa über Scharlachrot bis zum tiefen Bronzebraun. Ein großer Bogen aus Licht und Farbe spannte sich jetzt über den Himmel, wie die offenen Schwingen eines Fabelvogels. Der Horizont war gänzlich eingehüllt, die glatte See, kaum sichtbar in der Ferne, schien ein einziges Feuer. „Die Natur ist etwas Wunderbares.“ Juans Stimme klang sanft. Sie wandte den Kopf. Er reichte ihr die Hände und zog sie vom Stuhl hoch. Er legte den Arm um ihre Schultern, nicht besitzergreifend wie sonst. Sie spürte eine neue Zärtlichkeit. Juan forderte nichts, er wartete ab. Sie lächelte. Er beugte sich rasch vor und küßte sie leicht auf den Mund. „Es ist vorbei, Roxanne. Jetzt wird es dunkel. Wir können hineingehen.“ Sie saß am Toilettetisch und kämmte ihr Haar. Dieser Abend war eine einzige Freude gewesen, und sie hatte den Wunsch gehabt, er möge nie enden. Aber im Hintergrund hatte doch immer das Gefühl gelauert, daß alles auf Messers Schneide stand. Eine falsche Bemerkung von ihr konnte seine Kälte, seine Wut wieder herausfordern. Es gab ein Sprichwort: ,Dem Teufel die Kerze halten’. Das hatte sie getan. Warum? Sie fand keine Erklärung dafür. Aber eine Erkenntnis hatte sie gewonnen: Die Beziehung zwischen Juan und ihr war derart, daß sie sich entweder mit gekünstelter Freundlichkeit begegneten oder durch ein einziges unbedachtes Wort Streit, fast Haß auslösten. Es war ein Balancieren am Abgrund. Doch an diesem Abend .hatten sie beide bewiesen, daß ihr Leben mit etwas gutem Willen positiver sein konnte. Außerdem kam es ja nur darauf an, den Zeitraum bis zu dem Moment zu überbrücken, wo sie in der Lage sein würde, ihren Mann zu verlassen.
Das Knarren der Verbindungstür riß sie aus ihren Gedankengängen. Im Spiegel sah sie Juan im Türrahmen stehen. Sie senkte den Blick. Plötzlich war die ganze Abneigung wieder da, die sie gegen ihn hatte. Sie fröstelte. Im stillen hoffte sie, daß er es nicht merkte. Sie hatte immer noch Mitleid mit ihm. „Ich bin sehr müde, Juan“, sagte sie leise. Er kam ins Zimmer und blieb hinter ihr stehen. „Soll ich nicht bleiben?“ Sie stieß einen kleinen Seufzer aus. Es war das erste Mal, daß er überhaupt fragte. Wo war der Mann, der mit anmaßender Arroganz auf seine Rechte pochte? Seine Frage berührte sie, löste die Angst und hinderte sie daran, die Antwort zu geben, die er sonst bestimmt gehört hätte: „Ich hatte noch nie den Wunsch, daß du bleiben sollst!“ So wiederholte sie nur: „Ich bin sehr müde.“ „Nun gut.“ Damit beugte er sich zu ihr und küßte sie aufs Haar. „Gute Nacht, Roxanne“, sagte er sanft und verließ sie. Ungläubig blickte sie auf die geschlossene Tür. Was war mit ihm los? Wo war seine Herrschsucht, sein Besitzergreifen und seine Gleichgültigkeit ihrem Kummer gegenüber? Sonst hatte er sie immer mit der erbarmungslosen Art eines Eroberers genommen. Endlich stand sie auf und ging ins Bett. Zum ersten Mal seit ihrer Heirat, ausgenommen die Tage, an denen Juan nicht zu Hause gewesen war, fühlte sie sich ganz ruhig. Entspannt lag sie im Dunkel, ohne auf das Knarren der Tür zu lauschen. Keine Haßgefühle, kein Schaudern wie sonst, wenn Juan neben ihr ins Bett schlüpfte. Mit einem langen tiefen Atemzug schmiegte sie das Gesicht in die Kissen und war nach wenigen Minuten fest eingeschlafen. Am folgenden Morgen ging Roxanne schon vor dem Frühstück in den Garten. Sie wanderte durch die Alleen, über die samtweichen Rasenflächen, schattigen Pfade und Terrassen. Die Privatkapelle der Hazienda lag weiter entfernt in den Wäldern. Aus unerfindlichen Gründen zog es sie dorthin. Sie war erst einmal dort gewesen. Damals hatte der Innenraum einen vernachlässigten Eindruck gemacht. Sie hatte vermutet, daß die Kapelle lange Jahre nicht benutzt worden war. Jetzt stand die Tür offen. Roxanne wollte sie im Vorbeigehen schließen. Ihre Augen weiteten sich, sie hielt den Atem an. Vor dem Altar kniete ihr Mann. Fassungslos zuckte sie zusammen. Juan kniete betend vor dem Altar! Das hätte sie nie für möglich gehalten. Gebete paßten nicht zu ihm – dem .Schwarzen Adler’! Lange stand sie wie angewurzelt. Sie konnte nicht begreifen, was sie mit eigenen Augen sah. Er bewegte sich. Sie kam wieder zur Besinnung, ging weiter, langsam zuerst, dann begann sie zu laufen. Er durfte niemals erfahren, daß sie ihn dort gesehen hatte. Warum betete er? Aus welchen Gründen flüchtete ein Mann wie Juan sich ins Gebet? Sie fand keine Antwort auf diese Frage. Später am Frühstückstisch fühlte sie sich ihm gegenüber gehemmt. Als er ihr guten Morgen wünschte, wurde sie rot und bekam keinen Ton heraus. Er fragte, was los sei. Sie versuchte zu lächeln. „Nichts, Juan“, murmelte sie und setzte sich auf ihren Platz. „Ich habe vor, mit dir Margarita und ihren Mann zu besuchen“, sagte er. „Es wird für die beiden bequemer sein. Mein Schwager ist ein vielbeschäftigter Geschäftsmann. Er kann sich schwer freimachen, es würde seinen ganzen Arbeitsplan durcheinanderbringen.“ „Ach, ist er nicht angestellt?“ „Nein, er ist Besitzer einer Fabrik für Elektrozubehör.“ „Ich möchte sie beide schrecklich gerne kennenlernen. Wann wollen wir
hinfahren?“
„Jederzeit, wann du willst.“
Roxanne fiel Tom ein, die regelmäßigen Besuche in seinem Laden. Aber sie hatte
ihn ja schon darauf aufmerksam gemacht, daß sie in nächster Zeit nicht so oft
kommen könnte. Also würde er sich sicher keine Sorgen machen.
„Könnten wir nächste Woche fahren?“
„Ja, gut – Montag.“
Sie nickte.
„Und wie lange werden wir bleiben?“
„Ein paar Tage, höchstens eine Woche.“
Nach dem Frühstück ging er in sein Studio. Roxanne holte sich ein Buch, das sie
bei Tom gekauft hatte, und machte es sich im Wohnzimmer gemütlich. Sie hatte
sich eben hingesetzt, als Lupita erschien, ein Staubtuch in der Hand.
„Senora… Ich wußte nicht, daß Sie hier sind.“ Der Blick der dunklen,
eingesunkenen Augen musterte sie ziemlich unverschämt. „Ich wollte gerade
aufräumen.“
Roxanne sah sich um. „Hier ist schon aufgeräumt, Lupita. Dolores macht es
immer vor dem Frühstück.“
Die Augen der Alten begannen zu glitzern.
„Na gut,“ sagte sie. „Ich kam auch nicht, um zu arbeiten. Ich wollte mit Ihnen
sprechen.“
Roxannes Nerven spannten sich fast schmerzhaft, aber sie bemühte sich,
gelassen zu bleiben.
„Worüber, Lupita?“
Die Alte schlich näher, Roxanne wandte das Gesicht ab, als Lupita sich zu ihr
vorbeugte.
„Über Sie und Ihren Freund – Ihren Liebhaber!“
Verständnislos sah Roxanne auf.
„Was reden Sie denn da? Sie sind ja verrückt, Lupita! Bitte, gehen Sie!“
„Verrückt? Sie sagen, ich sei verrückt? Senora, diese Beleidigung werden Sie
bereuen!“
„Ich sagte, Sie sollen gehen.“
„Wenn ich fertig bin, Senora. Wenn ich alles losgeworden bin, was ich zu sagen
habe.“
„Dann bitte schnell.“
Einen Moment war Stille. Dann fing die Alte an:
„Ich bin Ihnen zum Laden Ihres Liebhabers gefolgt.“
„Sie?“ Roxanne stutzte. Ein Schauer überlief sie. „Sie meinen, Sie sind mir zum
Buchladen gefolgt? Was unterstehen Sie sich!“
„Buchladen, Senora?“ schnurrte Lupita. „Sie sind doch nicht zu Ihrem Liebhaber
gegangen, um Bücher zu kaufen...“
„Raus mit Ihnen!“ Roxanne stand auf, das Buch fiel auf den Boden. Panische
Angst hatte sie erfaßt. Sie wußte genau, daß die Alte sich die Gelegenheit nicht
entgehen lassen würde, auch Juan zu informieren. „Raus mit Ihnen – lassen Sie
mich allein!“
Die Alte durchschaute sie. „Angst?“ fragte sie. „Angst vor dem .Schwarzen
Adler’?“ Sie stieß ein boshaftes Triumphgelächter aus. „Angst sollen Sie auch
haben, denn er wird Sie töten! Ah, Senora, Sie hätten ihn nie geheiratet, wenn
Sie alles wüßten. Don Juan hat einen Mann erwürgt!“
„Erwürgt?“ Roxannes Gesicht war kreideweiß. „Ich…das glaube ich nicht.“ Sie
dachte daran, wie sie ihn in der Kapelle knien und beten gesehen hatte. Betete er
für die Vergebung seiner schrecklichen Schuld?
„Aber das ist jetzt ganz unwichtig, Senora. Ich möchte über diese Affäre
zwischen Ihnen und Tom Wakefield sprechen.“
„Mein Mann weiß, daß ich in seiner Buchhandlung gewesen bin“, erklärte
Roxanne.
„Sie haben doch Angst, daß ich Ihrem Mann alles erzähle!“ rief Lupita.
„Ich sagte doch gerade, er weiß es.“
„Er weiß vielleicht, daß Sie in dem Laden waren. Aber weiß er auch, daß Sie in
das kleine Hinterzimmer gegangen sind? Weiß er, wie oft Sie sich dort
aufgehalten haben? Immer wenn er verreist war. Weiß er, daß Sie mit Mr.
Wakefield in Acapulco schwimmen waren?“
„Woher wissen Sie das alles?“
„Solche Neuigkeiten verbreiten sich schnell, Senora. Es war nicht klug von Ihnen,
so leichtsinnig zu sein. Auch Ihr Liebhaber sollte vorsichtiger sein, er ist in
tödlicher Gefahr. Don Juan wird ihn umbringen, wenn er alles erfährt.“
Trotz ihrer ungeheuren Angst brachte Roxanne es fertig, nicht den Kopf zu
verlieren. Sie flüchtete sich in Hochmut.
„Sie sind unverschämt, Lupita! Wie können Sie es wagen, solche Dinge von mir
zu behaupten? Ich bin Ihre Herrin! Ich verlange, daß Sie sich sofort
entschuldigen.“ Sie hielt inne. Bei dem Wort „Herrin“ hatte Lupitas Gesicht sich
höhnisch verzerrt. Roxanne fuhr fort: „Entschuldigen Sie sich, Lupita, aber gleich
– auf der Stelle!“
„Entschuldigen? Ich soll mich bei Ihnen entschuldigen? Niemals, Senora! Wenn
Sie behaupten, Sie wären hier die Herrin, dann sind Sie verrückt! Wissen Sie
nicht, daß es hier nur eine Herrin gegeben hat? Und sie ist nach wie vor in den
Herzen aller, die sie geliebt haben – nein, nicht nur geliebt, verehrt wie eine
Heilige!“
Zorn erfaßte Roxanne. Ihr Zorn war größer als ihre Angst vor Juan und ihr
Abscheu vor Lupita. Mit erhobenem Arm deutete sie auf die Tür.
„Verlassen Sie das Zimmer!“ rief sie. „Und merken Sie sich ein für allemal: Ich
möchte allein sein, egal, wo ich mich auch aufhalte.“
„Spielen Sie nicht die englische Lady. Ihre Arroganz wird Ihnen schon vergehen,
wenn ich Don Juan von Ihren Eskapaden erzählt habe.“
„Ich sagte Ihnen, Sie sollen endlich das Zimmer verlassen.“
Lupita ignorierte diesen Befehl und spie verächtlich aus.
„Ich habe gehört, wie er mit Ihnen einen Besuch bei seiner Schwester besprach.
Als ob Sie zur Familie gehörten! Ich werde das verhindern – ich jage Sie fort aus
diesem Haus! Ja, ja Senora, meine Augen schauen durch Wände. Ich weiß, daß
zwischen Ihnen und Don Juan alles kaputt ist. Das muß ja auch so sein.
Manchmal tun Sie mir direkt leid – aber ich hasse Sie trotzdem. Marta hat hier
regiert. Ein Jahr lang war sie mit Don Juan glücklich. Jede Woche kam sie mit
ihrer Mutter für ein paar Tage her. Marta lief durch den weiten Park und Don
Juan jagte sie, fing sie, küßte sie. Ich habe sie so oft beobachtet.“
Die Alte schien in die Vergangenheit zu versinken. Roxanne hörte zu, unfähig,
sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Sie war fasziniert von allem, was sie hörte
und doch eigentlich gar nicht hören wollte.
Lupita sprach weiter:
„Niemand hat sich so geliebt wie die beiden. Ihre Augen leuchteten auf, wenn
Juan auf sie zukam. Und sein Gesicht kann man einfach nicht beschreiben,
verklärt von Liebe zu Marta. Es war eine reine Liebe, keine laszive Leidenschaft,
wie Don Juan sie für Sie empfindet. Dann riefen die Engel sie zu sich. Don Juans
Herz brach.“ Lupita hielt inne, ihr Blick war starr und glasig als sei sie in Trance.
„Er verbrachte die ganze Zeit in der Kapelle, sicher betete er zu Gott, flehte
darum, ihn auch sterben zu lassen.“ Jetzt belebte sich ihr Blick wieder. Roxanne
hatte den Eindruck, daß alles, was Lupita gesagt hatte, auf diesen einen Satz
ausgerichtet war: „Und er betet noch immer – ganz früh jeden Morgen, damit Sie
ihn nicht sehen. Er betete um Erlösung von der Qual.“
Bedrückendes Schweigen folgte. Roxanne sah Juan vor sich – am Morgen in der
Kapelle knieend, in sein Gebet vertieft. Hatte Lupita recht? Betete er um
Erlösung? Sie mochte es einfach nicht glauben. Der Gedanke, daß er sterben
wollte, war unerträglich. Sie war doch da, die Frau, die er ausgewählt hatte, den
Platz Martas auszufüllen! Aber auf einmal fühlte sie sich schuldig. Hätte sie ihn
besser behandelt, dachte sie, wäre vielleicht alles anders.
Sie wußte selbst nicht, was mit ihr los war. Warum dieses Schuldgefühl? Juan
hatte sie doch überlistet, als er sie aus ihrer Heimat wegholte. Und jetzt fühlte
sie sich plötzlich verantwortlich dafür, daß er den Lebenswillen verloren hatte?
Sie runzelte die Stirn. Irgend etwas stimmte nicht. Juan war nicht der Typ der
sterben wollte. Ihr Gehirn arbeitete fieberhaft. Sie fand die Lösung nicht.
Noch einmal befahl sie Lupita das Zimmer zu verlassen. Keine Reaktion. Lupita
schien erst gehen zu wollen, wenn sie selbst es für richtig hielt.
„Ich sagte schon, daß meine Augen alles sehen“, fuhr sie in geiferndem Ton fort.
„Ich weiß, daß es hier nicht stimmt. Aber seit gestern abend, seit Don Juan
zurückkam, ist alles anders. Er ist verändert – seit dem Abendessen, nein, es fing
schon vorher auf der Veranda an.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“ unterbrach sie Roxanne. Etwas Unheimliches lag
in dem Wissen dieser Frau.
„Ich beobachte, Senora, und ich lausche. Das bin ich meiner lieben Marta
schuldig, ich muß ihr treu bleiben, meiner Herrin!“ Wieder spuckte sie aus. „Ja,
ich lausche, und es war klar, daß er sich verändert hat.“
„Wieso verändert, Lupita, auf welche Art? Seien Sie auf der Hut, denn Sie
widersprechen sich jetzt.“
„Widersprechen?“ Obwohl Lupita sehr gut Englisch sprach, schien sie das nicht zu
verstehen.
„Sie sagten vorhin, mein Mann liebe Marta immer noch. Und jetzt behaupten Sie,
er habe sich verändert. Heißt das, er ist jetzt an mir interessiert?“
„Niemals! Ich wollte Sie nur informieren, daß er jetzt versucht, Ihnen zu
schmeicheln. Er will Sie rumkriegen. Sie sollen seiner Leidenschaft nachgeben –
das ist alles, was er jemals für Sie empfinden wird.“
Roxanne war entsetzt.
„Sie lauschen an meiner Schlafzimmertür?“ fragte sie.
Lupita zuckte nur die Achseln und schnippte mit den Fingern.
„Ich muß alles für meine Herrin herausbekommen.“
„Sie sind wirklich total übergeschnappt!“ rief Roxanne außer sich.
Lupita berührte ihre Aufregung nicht. Sie hatte ihr Ziel und verfolgte es:
„Dieses Einschmeicheln jetzt, dazu zählt übrigens auch der Besuch bei seiner
Schwester, will ich nicht Juan muß seiner einzigen Liebe die Treue halten. Dafür
bin ich da, dafür setze ich mich ein. Ich habe Sie in der Hand, Senora, wegen der
Affäre mit Tom Wakefield.“
„Lupita, Sie wissen ganz genau, daß es keine Affäre gibt, nicht wahr?“
„Kümmern Sie sich nicht um das, was ich weiß, oder nicht weiß. Don Juan wird
kaum annehmen, daß es keine Affäre ist. Er wird Sie beide bestrafen. Aber ich
mache Ihnen ein Angebot. Ich bin bereit, Ihnen bei der Flucht zu helfen. Ich kann
alles für eine Flucht aus Mexiko für Sie arrangieren.“
„Und angenommen, ich will Mexiko gar nicht verlassen?“
„Sie wollen es nicht. Aber meine Herrin will es, verstehen Sie? Ich höre ihr
Lachen nicht mehr im Park, wie all die Jahre, Sie weint jetzt, weil Sie hier sind –
ein Eindringling! Sie werden einwilligen, Mexiko zu verlassen, oder ich erzähle
Don Juan alles über Sie und Tom Wakefield. Überlegen Sie es sich, Senora. Ich
gebe Ihnen nur zwei Wochen Zeit!“
Mit dieser Drohung wandte sie sich um und verließ das Zimmer.
6. KAPITEL Zwei Wochen… Lange nachdem Lupita gegangen war, klang ihre Drohung noch in Roxanne nach. Sie hatte von Anfang an über diese Flucht nachgedacht. Jetzt aber zögerte sie, den Plan zu verwirklichen. Daß ihre Gefühle für Juan sich gewandelt hatten, konnte sie nicht leugnen. Und doch wußte sie, daß er immer unerreichbar bliebe, auch wenn sie ein ganzes Leben mit ihm verbringen würde. Sein Herz war mit Marta gestorben, dachte Roxanne. Er hatte weiblichen Trost gebraucht oder einfach Befriedigung, dazu diente sie ihm. Weiter nichts – es war eiskalt berechnet. Sie müßte ihn dafür hassen, wie sie es anfangs getan hatte. Aber die Zeit verging und der Haß wurde schwächer. Es schien so, als kämen sie einander näher. Lupita hatte behauptet, er täusche sie nur. Das konnte stimmen. Es lag ihr nichts daran, es herauszufinden. Eins wußte sie auf jeden Fall: Den Wunsch zu sterben, hatte Juan ganz gewiß nicht. Im Gegenteil. Er war heiter, er lachte mehr als früher, und wenn er abends mit ihr durch den Garten ging – eine ganz neue Angewohnheit – , machte er einen zufriedenen, ausgeglichenen Eindruck. Er betete in der Kapelle nicht um Erlösung. Juans Härte gegen sich selbst stand im Gegensatz zu demütiger Frömmigkeit. Worum betete er dann? Um die Vergebung eines Mordes? Auch diese Bemerkung Lupitas hatte Roxanne nicht vergessen. Aber Lupitas Gehirn war verwirrt durch die unnatürliche Schwärmerei für das tote Mädchen. Sicher war der Mord ein Hirngespinst der Alten, um sie zu ängstigen. Wenn er mich doch nur ein wenig gern haben könnte, dachte Roxanne, wir würden dann eine einigermaßen gute Ehe führen. Diese und ähnliche Gedanken beschäftigten sie an dem Morgen, als sie mit Juan zu seiner Schwester fahren sollte. Sie war in ihrem Zimmer. Juans Stimme riß sie aus ihrem Sinnen. Er kam herein. „Bist du fertig?“ Sie nickte und deutete auf den Koffer, der offen auf dem Bett lag. „Ich wollte gerade etwas herausnehmen, weil er nicht schließt.“ Er kam näher. „Was willst du herausnehmen?“ „Diese beiden Kleider.“ Eins war das Grüne, das er so gern mochte. Plötzlich schien es ihr wichtig, gerade dieses besondere Kleid doch mitzunehmen. „Ich packe alles noch mal aus« Da sind sicher andere Dinge, die ich nicht brauche.“ Aber Juan schüttelte den Kopf. „Hier sind doch sicher noch mehr Koffer.“ „Ich habe nicht nachgesehen, diese beiden habe ich mitgebracht.“ Sie deutete auf den anderen, der schon geschlossen neben der Tür stand, um zum Auto gebracht zu werden. „In meinem Koffer ist noch Platz. Gib mir die beiden Kleider.“ Sie war glücklich, weil Juan so guter Stimmung war. Selbst wenn Lupita vorhatte, ihre Drohung wahr zu machen, mußte sie sehr behutsam sein. Juan würde genau wissen wollen, woher sie ihre Informationen hatte, und ihr ihre böse Geschichte nicht ohne weiteres abnehmen. Roxanne fühlte, daß sie zunehmend sicherer wurde. Sie konnte die momentanen Sorgen von sich schieben und sich auf das Neue freuen, das vor ihr lag. Margaritas Haus lag in San Angel, einem Landstrich etwa dreißig Minuten Fahrt hinter Mexico City. Sie kamen sehr spät an. „Bist du müde, Roxanne?“ fragte Juan. Seine Stimme klang besorgt. Sie schüttelte den Kopf. „Wir sind gleich da“, fügte er hinzu. Er bog in einen mit runden Pflastersteinen belegten Weg ein. Rechts und links erhoben sich hohe
Mauern.
Er bremste. „Wir sind da.“
Das schmiedeeiserne Tor wurde von einem blassen Mexikaner geöffnet, der
anscheinend auf ihre Ankunft gewartet hatte. Juan fuhr durch, der Mexikaner
schloß das Tor wieder. Im Mondlicht sah Roxanne ein weißes Haus, groß und
prächtig, Juan hielt. Die große schwere Tür, ebenfalls aus Schmiedeeisen,
bewegte sich lautlos in den Angeln. Margarita und ihr Mann kamen heraus.
Bruder und Schwester begrüßten sich auf Spanisch. Dann stellte Juan seine Frau
vor.
„Wir sind glücklich, dich endlich kennenzulernen, Roxanne!“ Es klang ehrlich und
erfreut. Margarita blickte sie an. Roxanne wagte kaum zu atmen. Ob sie eine
Ähnlichkeit mit Marta entdeckte? Aber Margarita ließ sich nichts anmerken.
Sie gingen in die Halle: Schimmernder Fußboden, polierte Möbel, Gemälde in
schweren, vergoldeten Rahmen, Wandleuchter aus Kristall.
„Es ist schön, daß ihr hier seid.“ Eduardo hatte eine wohlklingende Stimme. Er
war groß und breitschultrig. Roxanne wurde warm ums Herz. Sie war angenehm
überrascht von Juans Familie.
„Setzt euch. Ihr müßt ja müde und steif von der langen Fahrt sein – und
hungrig.“
„Überhaupt nicht“, sagte Juan. „Wir haben uns zwischendurch etwas ausgeruht,
gegessen und sind ein Stück spazierengegangen.“
„Trotzdem möchtet ihr vielleicht etwas essen. Und Roxanne will sich sicher erst
frisch machen“, sagte Margarita.
Sie plauderten noch ein paar Minuten. Roxanne merkte, daß sie ab und an
prüfend gemustert wurde. Dann brachte Margarita sie in ihr Zimmer. Die Koffer
waren bereits oben.
„In zwanzig Minuten ist das Abendbrot fertig. Genügt euch die Zeit?“ fragte die
Schwägerin.
„Aber sicher, Margarita, danke schön“, erwiderte Juan höflich.
Margarita lächelte Roxanne charmant zu und ging hinaus.
„Sie ist entzückend“, sagte Roxanne begeistert. „Eduardo gefällt mir auch gut.“
„Das Baby siehst du sicher morgen früh.“ Juan nahm seinen Handkoffer und
stellte ihn auf einen Stuhl. „Es ist zwar schon spät, aber ich muß mich nach der
Fahrt umziehen.“
Roxanne schwieg. Sie hatte sich noch nie vor Juan ausgezogen.
„Kann ich das Badezimmer zuerst benutzen?“ fragte sie.
„Es ist noch ein zweites hier am Korridor. Ich ziehe mich dort um, damit du dich
nicht gestört fühlst.“
Sie errötete ein wenig und lächelte dankbar:
„Das ist lieb von dir, Juan.“
Als er gegangen war, starrte sie auf die Tür. Immer wieder überraschte er sie in
diesen Tagen durch seine Rücksicht, Liebenswürdigkeit und Höflichkeit. Es
machte sie fast unsicher.
Das Essen dauerte lange, die Konversation war lebhaft. Es war bereits zwei Uhr
morgens, als sie in ihre Zimmer gingen. Genau wie vorher benutzte Juan das
andere Bad. Als er später neben ihr im Bett lag, den Arm um ihre Schultern,
mußte sie sich die größte Mühe geben, nicht von ihm wegzurücken.
Der nächste Tag verging wie im Fluge: Plaudern, Kaffeetrinken, Essen. Roxanne
war begeistert von dem kleinen Enrique. Übermütig spielte sie mit dem Jungen.
Um acht wurde er zu Bett gebracht. Juan und Roxanne machten einen
Spaziergang. Als sie zurückkehrten, war Eduardo aus seinem Stadtbüro
eingetroffen und bereits umgezogen. Roxanne ging hinauf, um sich ebenfalls
umzukleiden. Kaum hatte sie das Schlafzimmer betreten, als es an der Tür
klopfte und Margarita hereinkam.
„Wir haben noch etwas Zeit“, sagte sie strahlend. „Ich möchte dich endlich
einmal für mich haben. Zuerst, Roxanne, will ich dir gestehen, wie glücklich
Eduardo und ich waren, als wir von Juans Heirat hörten.“
„Danke, Margarita.“
„Es ging ja alles ziemlich schnell.“ In Margaritas Miene trat ein etwas furchtsamer
Ausdruck. „Was hast du eigentlich von Juan gewußt?“ Diese vorfühlende Frage
kam nach einer kleinen Pause.
„Gewußt? Was meinst du damit?“ Roxanne war unwillkürlich wachsam. Sie hatte
das Gefühl, daß Juan seiner Schwester gegenüber ziemlich verschlossen war.
„Juan war jahrelang allein – abgekapselt von allem. Hat er dir das erzählt?“
„Ja, das weiß ich.“
Margarita schien erleichtert. Also hatte sie kein Geheimnis ausgeplaudert.
„Weißt du auch warum?“
„Ja, Margarita.“
„Dann hat er dir von seiner ersten Verlobung erzählt?“
„Ich habe es von jemand anderem gehört. Aber Juan weiß, daß ich alles über
Marta erfahren habe.“
„Macht dir das nichts aus?“
„Es ist doch so lange her“, erwiderte Roxanne ruhig.
„Wir waren verzweifelt, daß er nicht darüber hinwegkam, Roxanne….“ Tränen
glänzten in Margaritas Augen. „Es war schrecklich. Es schien, als ob er allein
bleiben wollte, abgeschnitten auch von seiner Familie – für immer.“
Roxanne schwieg, sie wußte nichts darauf zu sagen. Nach einer Weile hatte
Margarita sich wieder gefaßt.
„Es ist wie ein Wunder“, sagte sie. „Er hat sich so verändert, ist wieder ein
normaler Mensch. Er spricht und lacht und – oh, er ist glücklich. Ich auch,
Roxanne. Wir alle haben dir zu danken. Du hast es geschafft.“
Mehr wurde darüber nicht gesprochen. Die beiden jungen Frauen gingen zum
Dinner hinunter. Juan schien etwas ungehalten, als sie zusammen eintraten.
Später fragte er Roxanne:
„Margarita war bei dir?“
„Ja, wir haben uns unterhalten.“
„Sie hat dich sicher viel gefragt.“
„Gott – natürlich wollte sie ein paar Dinge wissen.“
„Was, zum Beispiel?“
Roxanne berichtete.
„Also sie sind froh, daß ich glücklich bin…“, wiederholte er nachdenklich. „Ach ja
– “, er brach ab. „Morgen fahren wir in die Stadt“, wechselte er abrupt das
Thema, „Margarita sagte mir, ihr hättet es besprochen.“
„Sie meinte, es sei mal eine Abwechslung. Sie kommt ja auch nicht allzuoft hin.
Aber wenn du nicht willst...“
„Selbstverständlich will ich“, warf er ein. „Du kannst doch nicht nach Hause
fahren, ohne Mexico City gesehen zu haben.“
„Oh, ich freue mich schon!“ rief Roxanne impulsiv. „Bleiben wir den ganzen Tag?“
„Wenn du möchtest, gern. Eduardo will mit uns essen.“
Roxanne nickte. „Zu schade, daß er arbeiten muß. Margarita sagte, daß er
gerade jetzt soviel zu tun hätte.“
„Da er sich nicht mal einen Tag freimachen kann, wird es wohl so sein.“
Roxanne erwachte sehr früh am folgenden Morgen. Leise, um Juan nicht zu
wecken, stand sie auf. Einen Moment blickte sie auf das dunkle Gesicht in den
weißen Kissen. Eine Faust hatte Juan gegen die Wange gepreßt, die Lippen
bewegten sich. Sie fühlte eine unerklärliche Erregung und wandte sich ab. Sogar
im Schlaf zeigte er noch Kraft. Sie ging durchs Zimmer, warf die Vorhänge
zurück, und öffnete die Glastüren.
Dann trat sie auf den sonnenbeschienenen Balkon hinaus. Eine scharlachrote
Bougainvillea hing über das Dach und streifte ihre Schläfe. Ihr Blick ging über
Rasenflächen und Blumenbeete. Sie war fasziniert von den Luffahschwämmen,
die wie Eierkürbisse aussahen. Kleine Vögel mit scharlachroten Schwänzen flogen
hin und her. Sie atmete die klare Luft ein und hatte das Gefühl, dieses helle,
tropische Land allmählich lieben zu lernen. Wenn sie doch nur unter günstigeren
Umständen hergekommen wäre!
Ein Geräusch veranlaßte sie, sich umzudrehen. Juan beobachtete sie. Er hatte
sich auf die Ellbogen gestützt. Sie genierte sich etwas, denn über ihr lächerlich
kurzes Nachthemd hatte sie nicht mal ein Neglige gezogen.
„Schon so früh auf, Roxanne?“
Sie ging hinein und suchte ihren Morgenmantel. Er hing hinter der
Badezimmertür.
„Ich bin eben erst aufgestanden. Ein herrlicher Morgen!“
Juan nahm jede Linie, jede Kurve ihres Körpers mit den Augen auf.
„Du siehst reizend aus, Roxanne.“
„Danke schön“, sagte sie in abwehrendem Ton. Er runzelte die Stirn.
„Für Komplimente hast du nicht viel übrig, nicht wahr?“
„Ich… ich mache mir nichts daraus.“
„Wenn sie von mir kommen, wie?“
Sie nickte. „Ja, offengestanden.“
Juan warf die Bettdecke zurück. „In dem Fall sprechen wir lieber von etwas
anderem. Wir wollen uns den heutigen Tag nicht verderben, nicht wahr? Zumal
du dich mit Margarita so darauf freust.“
„Freust du dich nicht?“ Es war ihr auf einmal wichtig, daß auch er diesen Tag
genießen sollte.
„Doch, natürlich.“ Er schlüpfte in seinen Morgenmantel. „Aber das ist dir doch im
Grunde ganz egal, oder?“
„Nein, ich möchte schon, daß du Spaß daran hast, mit Margarita und mir
auszugehen.“
„Immer mußt du einer direkten Antwort ausweichen.“ Juan nahm ein kleines
Ledernecessaire und ging hinaus ins Badezimmer.
„Guten Morgen, ihr zwei“, begrüßte Margarita sie eine halbe Stunde später. „Ich
hoffe, ihr habt gut geschlafen!“
„Wunderbar, Margarita.“ Juan lächelte seiner Schwester zu. „Und du?“
„Auch glänzend. Eduardo mußte schon zeitig fort. Er bittet um Entschuldigung,
daß er nicht mit uns frühstücken konnte.“
Orangen, Ananassaft und Papayascheiben standen auf dem gedeckten Tisch.
Roxanne nahm sich eine Scheibe und träufelte Zitronensaft darauf. Margarita aß
süße Pasteten. Mercedes, das Mädchen mit der schneeweißen Schürze, das die
Koffer hinaufgetragen hatte, brachte Toast und Eier.
Um zehn waren sie in der Stadt. Sie schlenderten durch eine kleine Straße mit
Häusern in spanischem Stil, rosa gestrichen, mit schmiedeeisernen Türen und
Gittern. Jedes Haus hatte einen hübschen Garten, Leute arbeiteten darin oder
sprengten den Rasen.
Die Hauptverkehrsstraße der Stadt, die prächtige Avenue Paseo de la Reforma,
lag ganz in der Nähe. Eschen und Eukalyptusbäume standen an beiden Seiten.
Am Ende lag ein großer Platz mit einem Denkmal. Leute saßen auf Steinbänken
und ließen ihre Schuhe von zerlumpten, barfüßigen Jungen putzen, die die Schuhcreme mit den Fingern auftrugen. „Ich glaube, wir nehmen lieber den Wagen, sonst werden wir nie mit der Stadtbesichtigung fertig“, meinte Juan, nachdem sie bereits über eine Stunde herumgegangen waren. „Du hast doch immer die besten Ideen“, stimmte Margarita zu. „Meine Füße tun nämlich schon weh.“ „Deine auch, Roxanne?“ erkundigte Juan sich fürsorglich. Sie lachte. „Nein, es ist alles so interessant. Ich komme gar nicht dazu, an meine Füße zu denken.“ „Gefällt es dir?“ Sie nickte. „Es ist einfach wunderbar!“ Juan fuhr sie zum Einkaufszentrum, ein riesiges Gebiet, das sich nach allen Seiten ausdehnte. Er parkte das Auto. Dann gingen sie zur Avenida Francisco I. Madero, an der die teuersten, elegantesten Läden lagen. „Das ist das Gegenstück zu eurer Bond Street“, erklärte Margarita. Sie sah ihren Bruder von der Seite an: „Können Roxanne und ich ein bißchen allein herumbummeln, Juan? Unsere Schaufensterguckerei langweilt dich doch sicher.“ „Wie du willst, Margarita“, antwortete er bereitwillig. „Wir treffen uns dann in einer Stunde – aber bitte nicht später. Eduardo will um eins im Hotel sein. Wir wollen ihn nicht warten lassen, seine Zeit ist kostbar.“ Roxanne und Margarita blieben vor der Auslage eines Lederwarengeschäfts stehen. „Ist das alles Handarbeit?“ fragte Roxanne. „Ja – findest du die Sachen teuer?“ „Verglichen mit England sind sie spottbillig. Ich finde dieses Land unheimlich interessant und schön.“ „Roxanne, du bist ein Schatz“, rief Margarita impulsiv. „Mein Bruder ist zu beneiden – und wir auch! Meine Brüder und Schwestern werden wirklich neidisch sein, wenn sie hören, daß ihr bei uns wart. Ich werde ihnen erzählen, daß du die beste Schwägerin bist, die man sich wünschen kann!“ „Nein, bitte nicht…“ Roxanne hielt inne, als sie Margaritas erstaunten Blick sah. „Ich meine, ich bin wirklich nicht außergewöhnlich.“ „Das glaubst du! Mein Bruder hat doch jahrelang keine Frau angeschaut. Du mußt etwas Außergewöhnliches an dir haben – etwas, das ihn gefesselt hat.“ Schweigend ging Roxanne weiter. Was würden diese lieben Menschen denken, wenn sie Juan verließ? Sie waren überzeugt, sie hätten es ihr zu danken, daß Juan wieder ein normaler Mensch geworden war. Sicher wären sie maßlos enttäuscht und würden sie sogar hassen, wenn sie ihren Plan ausführte. Margarita plauderte weiter. Sie wollte wissen, weshalb Juan so plötzlich die weite Reise nach England gemacht hatte. „Er ist mit dem Bruder meiner Freundin bekannt geworden“, erklärte Roxanne. „Martin kam zufällig an der Hacienda vorbei. Das Tor stand offen. Er war lange gewandert, hatte Durst, ging hinein und bat um etwas zu trinken. Das Resultat war, daß Juan ihn aufforderte zu bleiben. Als Martin wieder abreiste, versprach Juan, ihn in England zu besuchen.“ „Ach, das hat Juan mir nie erzählt. Auf jeden Fall war die Reise ein Glücksfall – er hat dich kennengelernt und geheiratet. Er hat sich so verändert, Roxanne. Wir haben ihn in den vergangenen Jahren nicht oft gesehen, mußt du wissen. Er hat uns nie eingeladen. Letztes Jahr, als ich ihn kurz besuchte, sah er schrecklich aus. Aber jetzt finde ich, daß er jeden Tag jünger wird.“ Sie lachte. Roxanne stimmte in Margaritas Lachen ein. „Das freut mich“, sagte sie. Sie
meinte es ehrlich.
Nach einer Stunde trafen sie Juan. Er hatte eingekauft und hielt ein Paket in der
Hand. Roxanne konnte ihre Neugier nicht bezähmen.
„Was hast du denn gekauft?“
„Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten“, erwiderte Juan humorvoll.
„Kann man denn keine Besorgungen machen, ohne von euch neugierigen Frauen
sofort bestürmt zu werden?“
Gemeinsam gingen sie zum Hotel, in dem sie sich mit Eduardo zum Lunch
verabredet hatten. Ab und zu warf Roxanne einen verstohlenen Blick auf Juans
Paket. Es war nicht sehr groß, ging aber nicht in seine Tasche. Ob Margarita
absichtlich darauf bestanden hatte, mit Roxanne alleine zu bummeln, damit Juan
einkaufen konnte? Wahrscheinlich hatten die Geschwister es vorher besprochen.
Zwei Tage später nahmen sie Abschied von Margarita und Eduardo, der den
kleinen Enrique auf dem Arm hielt.
„Adios, liebe Schwägerin.“ Margarita küßte Roxanne herzlich auf beide Wangen.
„Wir kommen sehr bald zu euch, nicht wahr, Eduardo?“
„Ja, gewiß, meine Liebe.“
Auch Eduardo gab Roxanne einen Kuß auf die Wange. Er sprach nie viel, war
eher ein guter Zuhörer, aber ein liebenswerter Mensch.
„Adios!“ rief Juan aus dem langsam anfahrenden Auto. „Wir erwarten euch bald
auf der Hacienda Ramires!“
Der Wagen beschleunigte das Tempo. Roxanne winkte aus dem Fenster.
„Adios!“ rief Margarita immer wieder. „Paß gut auf meinen Bruder auf, Roxanne!“
Juan streifte Roxanne mit einem flüchtigen Blick.
„Sie mögen dich“, sagte er.
7. KAPITEL Lupita kam leise ins Gartenhaus.
Roxanne, ein geöffnetes Buch auf dem Schoß, schreckte aus ihren Träumen
hoch.
„Was wollen Sie?“ fuhr sie Lupita an, ehe die etwas sagen konnte.
„Sie wissen, weshalb ich komme, Senora. Haben Sie sich entschieden?“
„Entschieden? Wofür? Reden Sie! Und dann verschwinden Sie.“
Die Augen glitzerten bösartig. „Seien Sie vorsichtig, Senora, Sie rennen
geradewegs in Ihr Unglück.“ Lupita preßte die knochigen Fäuste gegen die Brust.
„Soll ich Don Juan von Ihrer Affäre erzählen?“
„Würden Sie sich bitte etwas klarer ausdrücken, Lupita?“
„Hahaha! Hochmütig auch noch, wie? Wissen Sie, daß Don Juan – “
„Für Sie ist er immer noch mein Mann – nicht Don Juan!“
„Niemals! Er wird niemals Ihr Mann sein! Er gehört Marta!“
„Lupita, Sie sind wahrhaftig nicht normal! Ich werde meinem Mann sagen, daß er
Sie entlassen soll.“ Diese Absicht hatte Roxanne zwar keinesfalls, dazu fehlte ihr
der Mut. Aber nachsichtig, wie Juan geworden war, würde er das Theater von
Lupita nicht mitmachen und die Konsequenz ziehen.
„Sie“, fauchte Lupita. „Sie werden noch bedauern, daß Sie mich als verrückt
hinstellen. Ich bin normaler als Sie!“ Sie kam näher und neigte ihr zerknittertes
Pergamentgesicht nahe zu Roxanne. „Glauben Sie allen Ernstes, daß Don Juan
mich entläßt? Mich? Seine einzige Verbindung zu unserer geliebten Marta?“
Roxanne stand auf. Sie ging zur Tür und atmete die frische Luft ein.
„Sie können gehen“, sagte sie dann.
„Wenn ich fertig bin. Ich habe Ihnen zwei Wochen Frist gegeben, eine lange Zeit.
Entweder Sie verlassen die Hazienda, oder ich berichte Don Juan alles.“
„Sind Sie sich eigentlich klar darüber, daß mein Mann Aufklärung darüber
verlangen wird, wie Sie zu diesen Informationen gekommen sind? Sind Sie bereit
zu gestehen, daß Sie mir nachspioniert haben? Und noch etwas, Lupita“, fuhr
Roxanne in dem gleichen sanften Tonfall fort, der ihr bei Juan oft mehr Angst
eingejagt hatte, als seine laute Stimme. „Werden Sie meinem Mann dann auch
sagen, daß Sie an unserer Schlafzimmertür gelauscht haben?“
Die Alte wich zurück.
„Ach, Sie glauben, Sie hätten mich in der Hand? Deshalb sind Sie so sicher.“
Roxanne wunderte sich, daß Juan noch nicht bemerkt hatte, wie verrückt Lupita
war. Aber die alte Hexe war gerissen, wie oftmals Verrückte. Bei Juan benahm
sie sich natürlich ganz anders.
„Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Darum brauche ich auch keine
Angst zu haben.“ Roxanne war ganz ruhig. „Mein Mann wird mir glauben, daß ich
nichts Unehrenhaftes getan habe.“
„Ist es etwa ehrenhaft, zu einem anderen Mann zu gehen, sich mit ihm
auszuziehen und fast nackt herumzulaufen?“
„Woher wissen Sie das?“
„Haha – Sie sind also doch nicht so klug, wie Sie glauben, Senora. Sie haben Ihre
Sachen im Badezimmer zum Trocknen aufgehängt – dieses Nichts von einem
Bikini! Ich habe alles gesehen.“
Trotz ihres guten Gewissens wurde Roxanne unruhig. Ein leichtes Frösteln
überlief sie.
„Werden Sie Ihre Schnüffelei zugeben, wenn mein Mann danach fragt?“
„Ich habe das Recht, in Ihr Badezimmer zu gehen, Senora, ich muß es schließlich
saubermachen.“
„Das stimmt allerdings. Aber auf alles andere haben Sie keine glaubwürdige Antwort. Mein Mann wird Sie auf der Stelle entlassen, wenn Sie es wagen, etwas zu berichten, das Sie heimlich hinter meinem Rücken ausspioniert haben.“ Allmählich schien Lupita nicht mehr weiterzuwissen. Offenbar befand sie sich in einer Zwickmühle. Roxanne überlegte, ob sie jetzt den Spieß umdrehen und wieder Haßtiraden gegen sie loslassen würde. Aber Lupita sagte nichts mehr. Sie verließ das Gartenhaus und schlurfte zur Hazienda zurück. Endlich ein Sieg! Roxanne triumphierte. Aber bald sah sie den Realitäten ins Auge. Dieser Sieg würde nicht von Dauer sein. In ihrem krankhaften Hirn fand Lupita sicher einen Weg, das klug aufgebaute Hindernis einzurennen. Und wenn das geschah, war die momentane Atempause vorbei. Roxanne hatte zwar behauptet, ihr Mann hege keinerlei Zweifel gegen sie und würde nicht zulassen, daß man sie verleumdete. Aber sie war nicht sicher, ob er so fest von ihrer Schuldlosigkeit überzeugt wäre, wenn Lupita sie anklagte. Juan hatte sich verändert, das stimmte. Er war weniger besitzergreifend, überfiel sie nicht mehr brutal mit seinem Verlangen. Er war rücksichtsvoll. Ihr Widerstand gegen seine Liebkosungen schwand immer mehr. Ihr fiel ein, wie zärtlich er jetzt manchmal sein konnte, sogar Angst hatte er um sie. Hätte sie nie etwas von seiner tiefen Liebe zu Marta gehört, könnte sie manchmal glauben, daß er um ihre Zuneigung kämpfte. Aber wenn er von ihrer Fahrt mit Tom nach Acapulco erführe, hätte sie nichts Gutes zu erwarten. Besonders, da sie sich immer geweigert hatte, mit ihm dort hinzufahren, so oft er den Vorschlag machte. Sie stand immer noch an der Tür des Gartenhauses. Plötzlich erblickte sie Juan. Er betrachtete seine leuchtenden Blumen. Wie einsam er war… Roxanne hatte eine Vision: Sie sah Marta, schön und jung, und einen glücklichen Juan, der ihr durch den Park nachjagte. Er küßte sie, wie Lupita es beschrieben hatte. Warum mußte sie sich gerade jetzt ein anderes Mädchen in Juans Armen vorstellen? Im Moment war doch alles recht harmonisch zwischen ihnen. Sie ging zum Haus hinüber. Juan bemerkte sie. Von weitem sah sie sein Lächeln. „Ich wußte gar nicht, wo du gesteckt hast“, sagte er, während er neben ihr herging. „Weißt du, was ich mir gerade überlegt habe? Wir könnten doch einen Swimmingpool brauchen. So etwas ist schon lange fällig, nur bestand bis jetzt keine Notwendigkeit dafür. Komm, hilf mir einen Platz aussuchen.“ „Ich?“ Er fragte sie um Rat. Wußte er, wie froh er sie machte? „Ich soll dir wirklich dabei helfen?“ fragte sie noch einmal. „Aber natürlich.“ Er faßte sie unter. „Wie findest du den Platz dort drüben?“ Er griff nach ihrer Hand. Zum ersten Mal seit ihrer Heirat war Roxanne wieder so glücklich wie in jener fernen Ballnacht, als Juan mit ihr getanzt hatte. Damals jedoch hatte eine seltsame Furcht noch ihre Freude überschattet. Heute war sie frei von Angst. „Ach, Juan, hier ist es idyllisch“, sagte sie, als er an einem großen Rasenplatz stehenblieb, der fast ganz von exotischen Bäumen und Sträuchern umgeben war. „Ich habe mir schon mal gedacht, daß es ein einmaliger Platz für einen Swimmingpool sein müßte.“ „Tatsächlich? Du auch? Wie seltsam.“ Er sah sie nachdenklich an. Wenn wir einen Swimmingpool haben, überlegte sie, ist das etwas, was Marta niemals gesehen hat. Es gehört nur zu mir. Sie stutzte. Waren das Gedankengänge einer Frau, die sich geschworen hatte, ihren Mann zu hassen? „Der Platz ist so abgeschirmt – so privat.“ Sie war begeistert.
„Wir könnten zu beiden Seiten noch ein paar Zierbäume pflanzen, deren Zweige
dann ins Wasser hängen“, meinte er.
„Wird das nicht zuviel? Die Vegetation ist doch ohnehin so verschwenderisch
hier.“
Er streichelte den Rücken ihrer Hand mit den Fingern.
Sie redete weiter, leicht verwirrt von dieser zärtlichen Berührung. „Ich glaube,
Bäume würden an den Seiten nicht gut aussehen. Was für eine Form soll der
Swimmingpool haben?“
„Ich dachte an einen nierenförmigen .’.“
„Paßt gut hierher“, nickte sie. „Dann hätten wir auch noch Platz für ein paar
Bäume.“ „Und wie wäre es mit kleinen Felsen? An den Rundungen des Pools zum Beispiel?“ „Wunderbar! Und vielleicht MiniaturWasserfälle… eine richtige kleine Landschaft.“ „Ja, das Wasser rinnt über die Felsen.“ „Oh, ich finde den Plan einfach sensationell!“ Sie sah sich um. Der Platz war traumhaft schön. Jasminbäume mit ihren zerbrechlichen Blüten, orangefarbene Poincianas und gelblichviolette Bougainvilleen. Niedrige Hecken von rosa Oleander gaben den Blick auf Rosen, Nelken und leuchtenden Mohn frei. Dahinter standen riesige Bäume und stattliche Palmen. „Wann könnten die Arbeiten beginnen?“ fragte Roxanne. „Sofort. Ich werde gleich einen Bauunternehmer beauftragen.“ „Und wie lange wird es dauern?“ „Das weiß ich nicht, Roxanne.“ Ihre Ungeduld amüsierte ihn. Seine schwarzen Augen strahlten. „Wir werden Dampf dahinter machen und sie ein wenig zur Arbeit antreiben – wie Sklaven auf einer Galeere.“ Er lachte vergnügt. Roxanne lachte auch. Die Art wie Juan sie ansah, wie er mit ihr sprach, frei von jedem Druck, hatte sie überwältigt. Plötzlich senkte sie den Kopf. Sie konnte das Strahlen seiner Augen nicht ertragen. Sanft hob er ihr Gesicht. Sie war gezwungen, ihm direkt in die Augen zu sehen. „Was ist denn, Juan?“ „Du bist so schön. Dein Haar, dieser Kupferton darin, und deine Augen… Sie wechseln die Farbe…“ „Oh, laß mich!“ Plötzlich war der Widerstand gegen ihn wieder da. „Ich hasse dich!“ rief sie mit tränenerstickter Stimme. Diese leisen Worte über ihr Haar und ihre Augen, die Juan mehr zu sich selbst gesprochen hatte, riefen nochmals die Erinnerung an ihre erste Begegnung wach – an den gemeinsamen Tanz, als Roxanne so schnell begriff, daß nur ihre Ähnlichkeit mit Marta ihn anzog. „Ich hasse dich, ich werde dich immer hassen!“ Ohne auf seine völlig fassungslose Reaktion zu achten, lief Roxanne über den Rasen und verschwand im Haus. In ihrem Zimmer angelangt, brach sie in Tränen aus. Warum das Gespräch über den gemeinsamen Swimmingpool, warum seine verstohlenen Zärtlichkeiten, wenn immer wieder die Vergangenheit ihn überwältigte? Ihre Schönheit, ihre Haarfarbe, ihre Augen – alles, alles war Marta, nicht sie selber, Roxanne. Sie war eben nur das Abbild seiner großen Liebe, sie würde es immer bleiben. Welch unselige Leidenschaft hielt den Geist dieses Mädchens in ihm wach? Juan war nicht nur ein Barbar, wie seine Vorfahren, er war ein Teufel, unsauber in seinen Gedanken, in seinem Handeln. Er war sadistisch. Jetzt wurde ihr auch klar, daß er diesen Swimmingpool schon mit Marta geplant hatte. Und sie war so
dumm gewesen zu glauben, daß sie diejenige sein würde, die diese Freude mit ihm teilte. Er wollte mit ihr beobachten wie der Pool entstand, mit ihr darin schwimmen – nein! Niemals! Sie würde ihn nie benutzen. Jetzt wollte sie den Kampf gegen ihn aufnehmen und ihn verlassen. So bald wie möglich. Der Entschluß war jetzt endgültig gefaßt. Nichts konnte sie mehr davon abbringen. Es gab zwei Alternativen: Tom oder Lupita. Aber diese ewigen Auseinandersetzungen mit Lupita waren Roxanne zuwider. Nur, Tom hatte nicht die Möglichkeit, ihr zu helfen. Sie hatte ja den Paß immer noch nicht. Das war jetzt das wichtigste. Sie mußte ihn finden. Entweder war er in Juans Schlafzimmer oder im Studio. Wenn er wegfuhr war die beste Gelegenheit, danach zu suchen. Sie mußte jedoch vorsichtig sein, denn Lupita würde sofort wieder hinter ihr herspionieren. Gespannt lauschte Roxanne. Ohne anzuklopfen stand Juan in ihrem Zimmer. Er sah böse aus. „Roxanne, was sollte diese lächerliche Szene?“ „Du weißt sehr gut, daß ich nicht mit dir darüber sprechen will.“ Ironisch zog er die Brauen hoch. „Woher soll ich das wissen? Ich habe keine Ahnung, Roxanne.“ Vorwurfsvoll maß sie ihn. „Es ist sinnlos, etwas abzustreiten.“ Sie konnte seinen Blick nicht ertragen und wandte sich ab. „Du weißt, warum du mich geheiratet hast. Das ist eine ausreichende Erklärung für meine .lächerliche Szene’, wie du es nennst. Und jetzt laß mich bitte allein“, fügte sie hinzu. Sie ahnte, wie seine Miene sich jetzt veränderte. Aber sie machte keine Anstalten, sich umzudrehen. „Der Grund, aus dem ich dich geheiratet habe, soll etwas mit der Szene vorhin zu tun haben? Roxanne, du bist kindisch. Das begreife ich nicht.“ „Mach mir doch nichts vor“, stieß sie ärgerlich aus. „Das ist Zeitverschwendung. Du hast eben gehört, daß ich nicht wünsche, darüber zu sprechen.“ „Dreh dich um“, befahl er leise. „Nein! Ich bat dich, mich allein zu lassen.“ Sie war den Tränen nahe. Und doch, trotz ihrer aussichtslosen Lage fühlte sie Kraft in sich. Noch vor ein paar Wochen hätte sie nicht gewagt, so mit ihm zu sprechen. „Dreh dich um!“ donnerte er. Ehe sie gehorchen konnte, packte er ihre Arme und drehte sie zu sich. „Ich will endlich wissen, was das eigentlich alles soll!“ Geringschätzig ließ sie ihren Blick an ihm herabfallen. „Laß mich allein – verschwinde aus meinem Zimmer!“ „Verschwinden?“ Jetzt war sein Temperament auf dem Siedepunkt. Sein brutaler Griff verursachte ihr Schmerzen. Sie begann zu weinen. „Wage ja nicht, so mit mir zu sprechen! Ich werde dieses Zimmer verlassen, wenn du mir eine ausreichende Erklärung gegeben hast!“ Sein Gesicht war dunkel vor Zorn, der Mund schmal und hart. Eine Ader an seinem Hals pulste. Roxannes Mut sank. Doch nur für Sekunden. Sie wollte, sie mußte sich ihm gegenüber behaupten. Wenn sie sich jetzt wieder von ihm kleinkriegen ließ, wie sollte sie ihn dann zurückweisen, wenn er in der Nacht in ihr Zimmer kam? Und sie wollte ihn zurückweisen. Ihr Entschluß, allem ein Ende zu machen, stand felsenfest. Aber wie sollte sie ihm ihr Verhalten vorhin erklären? Sie beabsichtigte nicht, seine tote Verlobte zu erwähnen. Endlich brachte sie es fertig, sich aus seinen Armen zu befreien. „Wenn du es wissen willst, ich verachte dich! Alles, was du mir eben wieder an Schmeicheleien gesagt hast, erinnerte mich an unsere erste Begegnung – an das, was du mir angetan hast. Ich hasse dich, Juan.“ Ihr Gesicht war blaß. „Jetzt geh, bitte“, murmelte sie. „Du lügst!“ fuhr er sie an. Er packte sie wieder. Diesmal schrie sie auf vor
Schmerz. „Ich will die Wahrheit wissen, hörst du, die Wahrheit!“ „Das ist die Wahrheit. Ich schwöre, es ist die Wahrheit!“ Sie bebte am ganzen Körper. Es stimmte – aber es war nicht die volle Wahrheit. „Ich verstehe.“ Seine Stimme klang wieder ruhiger. Auf einmal stieß er sie mit solcher Heftigkeit von sich, daß sie beinahe gefallen wäre. Im letzten Moment fing er sie auf. Er zog sie fest an seinen muskulösen Körper. Seine Lippen preßten sich auf die ihren. „Du verachtest mich?“ fragte er heiser. „Dann sind wir wieder da, wo wir begonnen haben, wie?“ All sein Charme, die kleinen Aufmerksamkeiten, die besorgten Blicke, wenn sie müde war – alles das war vorbei. Aber was machte es ihr schon aus? Für sie gab es nur noch eines: ihn zu verlassen. Er ging hinaus. Sie hörte ihn hinuntergehen. Dann blickte sie auf die Verbindungstür. War ihr Paß dort in seinem Zimmer? Überzeugt davon, daß Juan nicht so bald wieder heraufkäme, betrat sie sein Schlafzimmer. Die Schublade, die sie schon einmal geöffnet hatte, enthielt nur Manschettenknöpfe und seine Krawattennadel. Juan mußte die Fotos herausgenommen haben. Sie öffnete eine Schublade nach der anderen, aber es waren nur Kleinigkeiten darin. In einer lagen Tagebücher. Ohne hineinzusehen, schloß sie diese wieder. Nun war nur noch der Kleiderschrank übrig, doch hier hatte er den Paß sicher nicht versteckt. Trotzdem öffnete sie die Tür und sah hinein. Anzüge, Borde gefüllt mit Pullovern und Unterwäsche, alles sauber gefaltet. Sie fuhr mit der Hand unter jeden Stapel. Erfolglos. Sie seufzte. Also war der Paß im Studio. Die Gelegenheit, dorthin vorzudringen, war wesentlich schwieriger. Das Studio lag im Erdgeschoß, und Lupita war in der Nähe. Als sie die Tür schon schließen wollte, entdeckte sie ein Paket auf dem Boden des Schrankes. Es lag in einer Ecke. Seltsam fasziniert starrte sie darauf. Es war geschmackvoll eingewickelt, mit einem blauweißrosa Band zugebunden, dessen Enden zu einer Rosette verschlungen waren. Verwundert berührte sie es. Sie erinnerte sich wieder an das Paket, das Juan damals beim Stadtbummel in Mexico City in der Hand gehabt hatte. Es war die gleiche Größe – wie ein Geschenk verpackt. Sie war sicher, daß es das gleiche Paket war und ebenso sicher, daß es ein Geburtstagsgeschenk für sie enthielt. Betroffen schloß sie den Schrank und ging wieder zurück in ihr Zimmer. Er hatte ein Geschenk für sie, das war klar. Nein, im Grunde war es wahrscheinlich für seine unvergessene Liebe. Als er in dieser Nacht ihr Zimmer betrat, empfing sie ihn völlig angezogen. „Du kannst nicht hierbleiben“, sagte sie eiskalt. Es verschlug ihm die Sprache. Und wieder sah sie die unheimliche Starre in seinen Augen, die sie so oft erschreckt hatte. Aber jetzt straffte sie die Schultern, reckte ihr Kinn. Sie wich seinem Blick nicht aus. „Was hast du gesagt, Roxanne? Ich glaube, ich habe mich verhört.“ Diese unerträgliche Arroganz! Wut stieg in ihr auf und gab ihrem Mut neuen Auf trieb. „Du hast vollkommen richtig gehört. Ich bin nicht mehr bereit zu ertragen, was ich verabscheue. Ich bin keine Marionette, die sich beliebig an Fäden ziehen läßt. Du hast mich zur Heirat gezwungen, weil ich schwach war. Das ist vorbei. Mein Leben gehört mir, du kannst es nicht nach deinen Wünschen manipulieren.“ Äußerlich war sie völlig beherrscht. Aber sie wußte, wenn er jetzt wieder Gewalt anwendete, wäre sie hilflos. Konnte dieser physische Sieg ihn befriedigen? „Das Wort Abscheu’ scheinst du gern zu gebrauchen.“ Er kam auf sie zu. Instinktiv zog sie sich zurück. Ihr Herz klopfte bis in den Hals hinauf. Unbewußt hob sie die Hand, als ob sie einen Schlag abwehren wolle. Er blieb jäh stehen,
sein Atem ging schwer. Überrascht sah sie ihn an. Er schien einen inneren Kampf auszufechten. Auf einmal ließ er die Arme sinken, die Hände waren noch zu Fäusten geballt. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um. Die Schlafzimmertür wurde zugedrückt, der Schnapper klickte. Lange blickte Roxanne auf die Tür. Sie faßte nicht, daß er derjenige war, der den Kampf aufgab. In dieser Situation hätte sie erwartet, daß er mit herrischer Miene den siegreichen Angreifer hervorkehrte. Statt dessen ging er hinaus und ließ sie allein. Warum die Kapitulation? Roxanne begriff Juan nicht. Er hatte sie in Ruhe gelassen. Sie war sicher, daß er nicht mehr zurückkam – jetzt nicht und auch in Zukunft nicht. Langsam zog sie sich aus und ging zu Bett. Aber sie konnte nicht einschlafen. Während sie im Dunkel lag, sah sie immer wieder die kniende Gestalt ihres Mannes vor dem Altar, den Kopf im Gebet geneigt. Eine Woche später dämmerte der Morgen ihres zwanzigsten Geburtstages herauf. Die Fluchtpläne waren noch nicht weiter gediehen. Irgend etwas war wieder anders geworden. Würde sie entdecken was, wenn sie auf der Hacienda blieb? Juan kam nicht mehr in ihr Zimmer, wie sie es vorhergesehen hatte. Sie zögerte, ihn zu verlassen. Welches Motiv ihr Zögern hatte, wußte sie nicht genau. Es kam ihr nicht in den Sinn, es zu ergründen – wenigstens nicht zu dieser Zeit. Sie hatte Tom in der vergangenen Woche besucht. Seine Freundin hatte ihm geschrieben. Ein Wiedersehen war zwar noch nicht vereinbart, doch Tom war offensichtlich optimistisch. Erst jetzt begriff Roxanne, wie sehr er dieses Mädchen liebte. „Glaubst du, daß ihr Brief etwas Gutes bedeutet?“ hatte er sie gefragt. Was sollte sie ihm sagen? Sie erriet, was er hören wollte. „Ganz bestimmt, Tom. Ich habe das Gefühl, sie hat dir nicht nur aus einer Laune heraus geschrieben, sondern sie hat sich etwas dabei gedacht.“ Natürlich wollte Tom wissen, wie es mit ihr und Juan ging. Aber Roxanne war dem Thema ausgewichen. Es hatte Tom überrascht. „Roxanne, du scheinst dir nicht mehr so sicher zu sein, ob du Juan verlassen sollst“, sagte er. Sie gab es zu. „Ich habe meine Meinung geändert und möchte ihn jetzt nicht verlassen.“ Roxanne lag im Bett und überlegte. Ja, sie hatte ihre Meinung geändert. Sie liebte ihren düsteren, geheimnisvollen Mann! Wie war das gekommen? Sie hatte diesen Gedanken immer als total abwegig verworfen. Und doch schien es, als ob alles, was er ihr angetan hatte, geringfügig zu werden begann. Sie wünschte sich verzweifelt, einen Weg zu Juans Herz zu finden. Was konnte sie tun, damit er seine alte Liebe endlich vergaß? So lange hatte er Marta geliebt. Welche Chance hatte sie, ihn nach so kurzer Zeit für sich zu gewinnen? – „Ich will es versuchen“, sagte sie halblaut zu sich, und ihre Gedanken wanderten weiter: Wenn er ihr heute das Geschenk gab, wollte sie ihm zeigen, wie sehr sie sich darüber freute. Sie wußte ja, daß er es für sie gekauft hatte und nicht für Marta. Es ist mein Geschenk, dachte sie. Auf einmal war ihr leichter. Sie stand auf und ging ins Badezimmer. Während der letzten Wochen hatten Juan und sie kaum zehn Worte gewechselt. Der Graben zwischen ihnen war noch tiefer geworden. Juan hatte sich zurückgezogen, und sie bedauerte es jetzt. Aber vielleicht war sie sich dadurch erst ihrer Liebe zu ihm bewußt geworden. Als sie zum Frühstück herunterkam, brachte Luis auf einem Tablett Geburtstagspost. Glückwünsche von ihrem Vater, Deborah und Tom. Auch Claire und Margarita hatten geschrieben. Völlig unerwartet lag noch ein Gruß von Joel dabei: „Ich wünsche dir viel Glück zum Geburtstag, Joel.“
Sie fühlte weder Sehnsucht noch Trauer, als sie es las. Warum auch? Sie liebte Juan. Aber wo war sein Glückwunsch? Sie wartete aufgeregt, daß er herunterkam. Wie sollte sie reagieren, was sollte sie sagen? Alles war doppelt schwer seit der Szene in der bewußten Nacht, als sie ihn aus ihrem Zimmer verwiesen hatte. Ob sie ihn bitten sollte, mit ihr in den Park zu gehen, zu der Stelle, die sie für den Swimmingpool ausgesucht hatte? Die Bauarbeiten waren noch nicht im Gange, obwohl Juan gleich einen Bauunternehmer beauftragt hatte. Warum nur hatte sie sich damals so unmöglich benommen? Sie mußte es wiedergutmachen. Als Juan das Frühstückszimmer betrat, wandte sie sich um. Ihr Herzschlag setzte beinahe aus. Wo war das Geschenk? Er konnte es doch nicht vergessen haben! Andererseits hielt sie es aber für möglich, daß er ihren ganzen Geburtstag vergessen hatte. „Guten Morgen, Roxanne.“ Seine Stimme klang kalt, unpersönlich. „Verzeih, daß ich mich verspätet habe. Du hast hoffentlich nicht zu lange gewartet.“ Alle Vorfreude war wie weggewischt. „Guten Morgen, Juan. Nein… nein, ich bin noch nicht lange unten.“ Sie fühlte Tränen aufsteigen. Schließlich sagte sie sich ehrlich, daß sie kaum eine Geburtstagsfreude von ihm verdient hatte. Und doch – er hatte das Geschenk gekauft, es extra hübsch einpacken lassen, und nun geschah nichts. Wie gewöhnlich rückte er ihr den Stuhl zurecht. Sie setzte sich. Sollte sie ihn vielleicht darauf bringen, daß heute ein besonderer Tag für sie Avar? Aber sie traute sich nicht. Er würde sich gewiß später daran erinnern. Der Tag verging ohne besondere Ereignisse. Sie war inzwischen zu der Überzeugung gekommen, daß er ihren Geburtstag entweder tatsächlich vergessen hatte oder keine Notiz davon nehmen wollte. Nachmittags ging sie zu Tom. Ihr war kreuzelend zumute, als sie sich in dem kleinen Zimmer auf die Couch setzte. „Ich danke dir für deine Karte, ich habe mich so gefreut“, sagte sie mit gezwungenem Lächeln. „Das solltest du auch, zumal du doch so weit von zu Hause fort bist. Hast du hübsche Geschenke bekommen?“ Sie befeuchtete die Lippen. „Ich… nein – keine.“ „Nicht eines?“ Er runzelte die Stirn. „Auch nicht von deinem Mann?“ Forschend sah er sie an. „Bis jetzt nicht. Vielleicht kommt’s später!“ Sie konnte sich plötzlich nicht mehr beherrschen. Sie vergrub das Gesicht in beide Hände und weinte. „Bitte, verzeih…“ „Armes Kind, hast du dich also doch in den ,Schwarzen Adler’ verliebt? Warum hat er dir nichts geschenkt?“ „Er hat meinen Geburtstag anscheinend vergessen“, schluchzte sie. „Und ich hatte so sehr das Gegenteil erhofft.“ Tom versuchte sie zu trösten. „Hast du denn von zu Hause etwas bekommen?“ „Nein, nur unpersönliche Karten.“ „Die Post hier ist ziemlich langsam, Roxanne. Im Laufe der Woche bekommst du bestimmt noch ein Paket.“ Sie nickte und suchte nach einem Taschentuch. „Das glaube ich fast auch. Vater und Deborah schicken sicher noch etwas. Es ist nur… ich hatte mir gerade etwas von Juan zum Geburstag gewünscht. Ich hatte so auf diesen Tag gebaut…“ Sie fing wieder an zu weinen. Tom nahm sie in den Arm.
„Wein doch nicht, Roxanne. Dein Mann hat zuviel mit seinen Geschäften um die Ohren. Aber es wird ihm plötzlich einfallen, und er wird alles wiedergutmachen. Männer vergessen solche Dinge zu oft, das ist einer ihrer prägnantesten Fehler.“ Doch Roxanne schüttelte den Kopf. Es war ja nicht nur das Vergessen, das sie unglücklich machte. Es war die verlorene Gelegenheit, die sie sich so gewünscht hatte. Die Gelegenheit, den ersten Schritt zu tun, um ihr desolates Verhältnis wieder einzurenken. Sie barg ihr Gesicht an Toms Schulter und weinte wie ein Kind. „Die Ladenglocke“, sagte er plötzlich. als sie die Tür schon aufgehen hörten. „Ich muß nach vorn, Roxanne...“ Tom hielt abrupt inne. Die Tür zum Zimmer wurde aufgestoßen – Juan stand auf der Schwelle. „Juan!“ Roxanne schwankte. Ein paar Augenblicke drehte sich alles um sie, ihr wurde fast übel. Sie wurde blaß bis in die Lippen. „Woher weißt du, daß ich –? Ich meine, was… was willst du hier?“ Finster starrte er sie an. Mit einer instinktiv beschwichtigenden Gebärde trat Tom zwischen das Paar. Das schürte Juans Wut noch mehr. Er packte Tom und schleuderte ihn durchs Zimmer. Roxanne schrie auf. Im nächsten Moment ergriff Juan ihr Handgelenk und zog sie zur offenen Tür. „Raus!“ knirschte er voller Wut. „Setz dich ins Auto und warte auf mich!“ „Don Juan“, begann Tom, „um Himmels willen, lassen Sie sich erklären...“ Roxanne konnte nicht mehr hören, was weiter gesprochen wurde. Sie gehorchte und ging hinaus zum Auto. Sie zitterte am ganzen Körper, das Herz klopfte ihr wie wild gegen die Rippen. Sie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen und zu ersticken. Warum diese unheimliche Angst? Sie wollte doch stark sein und kämpfen, nicht mehr gegen Juan, sondern für ihre Liebe. Aber hatte es denn noch einen Sinn? War es nicht zu spät? Juan war groß und stark, er hatte die Kraft eines Löwen. Sie war völlig in seiner Gewalt und erinnerte sich, daß Lupita ihr erzählt hatte, Juan habe einen Mann erwürgt. Jetzt glaubte sie, daß er dazu fähig war. Sie zitterte immer noch, als Juan aus Toms Laden kam. Sie drückte sich in eine Ecke, und er nahm hinter dem Lenkrad Platz. Sie spürte seinen aufgestauten Zorn. Die schweigsame Fahrt zur Hacienda war eine der schlimmsten Prüfungen, die sie jemals durchgemacht hatte – und es waren nicht wenige seit ihrer Heirat. Sie machte ein paarmal Ansätze, ein Gespräch anzufangen, zu erklären, daß ihre Besuche bei Tom Wakefield völlig harmlos waren. Aber Angst schnürte ihr die Kehle zu. Tränen brannten ihr in den Augen. Am Morgen hatte sie sich noch geschworen, um ein wenig Zuneigung von Juan zu werben. Alles hatte sie daransetzen wollten, damit es gut wurde zwischen ihnen. Wenn er doch nur ihren Geburtstag nicht vergessen hätte. Dann wäre sie niemals zu Tom gegangen. Sie hätte diesen Tag mit Juan verbracht. Vielleicht wäre es der Wendepunkt in ihrem Leben geworden… Als sie endlich vor der Hacienda ausstiegen, bemerkte Roxanne, daß sich an einem der Fenster im ersten Stock etwas bewegte. Lupita! Roxanne erkannte einen Moment lang das hämisch verzogene Gesicht der Alten, bevor sie schnell hinter dem Vorhang verschwand.
8. KAPITEL Die Szene, die sich dann im Haus abspielte, erregte Roxanne so sehr, daß sie mittendrin in ihr Zimmer hinauflief und sich aufs Bett warf. Sie heulte hemmungslos. Das war nun ihr Geburtstag… Sie fühlte sich krank, wie zerschlagen. Der Entschluß, Juan zu verlassen, gewann wieder die Oberhand. Sie konnte es einfach nicht mehr verkraften, mit ihm zusammenzuleben. Alles, was er zu sagen hatte, waren Beschuldigungen, Beleidigungen. Sie habe ihn lächerlich gemacht, behauptete er und verlangte zu erfahren, was alles sie in jenem Hinterzimmer des Buchladens über ihre Ehe ausgeplaudert hätte. In ihrer völligen Verwirrung gab sie zu, Tom ins Vertrauen gezogen zu haben. Juan raste vor Zorn. Sie versuchte mehrere Male, ihn zu unterbrechen, wieder zu Wort zu kommen, es gelang ihr nicht. Selbstverständlich erfuhr sie auch nicht, wer ihn darüber informiert hatte, daß sie in Toms Geschäft war und ihn regelmäßig sah. Daß es nur Lupita gewesen sein konnte, stand außer Frage. Aber wie hatte die Alte es fertiggebracht, ihn darüber aufzuklären, ohne daß Juan darauf kam, sie müsse ihr dauernd nachspioniert haben? Doch was machte das jetzt noch aus? Roxanne stand nicht der Sinn danach, über Dinge nachzugrübeln, die sie doch niemals erfahren würde. Es sei denn, Lupita beantwortete die Frage selbst. Kurz vor sieben am Abend kam sie in ihr Zimmer. Roxanne setzte sich im Bett auf und starrte sie mit fiebriger Wut an. „Hinaus!“ schrie sie, ehe Lupita etwas gesagt hatte. „Gehen Sie von selbst, oder ich werfe Sie hinaus!“ Einen Moment fragte sie sich, ob sie rein körperlich mit Lupita fertigwerden könnte: Doch der Haß gab ihr ungeahnte Kräfte, ihre Drohung auszuführen. „H i n a u s!“ „Senora“, sagte Lupita mißbilligend, „so spricht doch eine Lady nicht.“ Ein kurzer Seitenblick, dann kam Lupita schleichend näher zum Bett. „Ich bin hier, um Ihre Neugier zu befriedigen, Senora. Sie wollen doch sicher wissen, wie ich es geschafft habe, Don Juan mein Wissen mitzuteilen, ohne seinen Verdacht zu erregen, ich hätte hinter Ihnen herspioniert.“ Pause. Das war es, was Roxanne hören wollte. „Sie ließen Ihre Geburtstagsbriefe auf dem Toilettetisch liegen. Ich nahm den Ihres Liebhabers und – ganz zufällig natürlich – “, fügte sie mit höhnischem Gelächter hinzu, „ja, ganz zufällig fiel er mir aus den Händen. Genau vor Don Juans Füße fiel er, als er in der Halle stand.“ „Sie haben den Brief aus meinem Zimmer geholt?“ Roxanne konnte sich kaum beherrschen. „Sie haben ihn einfach entwendet?“ „Das mußte ich, Senora, um meine Pläne voranzutreiben. Natürlich ließ Don Juan es nicht zu, daß ich mich danach bückte. Er hob den Brief auf, sah ihn an und öffnete das Kuvert. Sein Gesicht, Senora! Die Augen hätten Sie sehen sollen – Mord war in seinem Blick.“ „Weiter“, befahl Roxanne, als die Alte schwieg. „Weiter! Das interessiert mich.“ Ihre Stimme klang fremd und merkwürdig gefaßt. War es überhaupt ihre Stimme? „Er war außer sich, das können Sie sich denken. Er wollte wissen, wie ich zu dem Brief kam. Ich sagte, Sie hätten ihn im Wohnzimmer liegenlassen, und ich sei im Begriff, ihn in ihr Zimmer zu bringen. Ich war unsicher, Senora, wie eine Bedienstete eben ist, die das Schuldgeheimnis ihrer Herrin teilt. Ich bin eine gute Schauspielerin, glauben Sie mir. Ich tat verlegen, und Don Juan witterte, das etwas dahintersteckte. Selbstverständlich bemühte ich mich, ihn von seinem Verdacht abzubringen.“ „Klar. Auf eine Weise, daß sein Verdacht sich noch verstärkte, nicht wahr?“
„Sie haben völlig recht, Senora, sein Verdacht wuchs. Er zwang mich, ihm alles zu erzählen, was ich wußte – unglücklicherweise.“ Lupita preßte in dramatischer Gebärde eine Hand auf ihr Herz, und wieder erfüllte ihr höhnisches Gelächter den Raum. „Wollte mein Mann wissen, woher Sie Ihre Informationen hatten?“ fragte Roxanne. Lupita nickte. „Ich sagte, eine Frau aus dem Dorf hätte über Ihre Affäre Bescheid gewußt und mir alles haarklein berichtet.“ Roxanne war angewidert von dieser unglaublichen Lüge. Kein Wunder, daß Juan vor Wut tobte. Er mußte ja annehmen, jedermann im Dorf und in der ganzen Umgebung klatsche längst über ihn und die Affäre seiner Frau. Nun verstand sie seine bösen Beschuldigungen. „Hat mein Mann nicht nach dem Namen der Frau gefragt, die Ihnen diesen Klatsch angeblich erzählt hat?“ „Nein, mit keiner Silbe.“ „Aha. Weiter, Lupita!“ „Ich habe Don Juan gestanden, daß ich mit Ihnen über die ganze Sache gesprochen und Sie beschworen hätte, diesen Engländer aufzugeben. Aber dazu waren Sie nicht bereit. Ich habe ihm gesagt, wie traurig ich darüber sei, da ich doch gehofft hatte, er würde mit dem hübschen Mädchen aus England wieder glücklich werden. Don Juan wollte wissen, wo Sie wären. Ich ahnte es, mochte Sie jedoch nicht verraten und bat ihn, gehen zu .dürfen. Aber er behauptete, ich wüßte ganz genau, wo Sie steckten. Ja – und weil er so zornig war und ich Angst vor ihm hatte, gab ich zu, daß Sie sicher wieder bei dem Engländer wären.“ „Sie Heuchlerin!“ schrie Roxanne. „Ich möchte wissen, ob Sie überhaupt eine Ahnung haben, wie gemein Sie» sind!“ „Seien Sie vorsichtig, Senora, ich könnte Ihnen vielleicht helfen, von hier wegzukommen!“ „Sie können mir nicht mehr drohen, mich auch nicht noch mehr verletzen, als Sie es bereits getan haben. Nur einen neuen Verdacht habe ich, Lupita. Ich fürchte nämlich, Sie können meinen Mann nicht leiden. Vielleicht hassen Sie Don Juan sogar?“ sagte Roxanne in schwebendem Ton, wie zu sich. Sie erschrak maßlos, als sie aufblickte. Lupita schien den Verstand verloren zu haben. Wie eine Wahnsinnige starrte sie sie an. Noch nie hatte sie so hexengleich ausgesehen. „Er hätte meinem Liebling die Treue halten sollen!“ zischte sie. „Als er Sie heiratete, hat er Marta betrogen!“ Die Frau war in der Tat gespenstisch. Es schien lächerlich, aber auf einmal hatte Roxanne die Idee, daß Juan von Lupita Gefahr drohte. Lupita hatte sich halb abgewandt. Schaum stand in ihren Mundwinkeln, sie murmelte zusammenhangloses Zeug vor sich hin. Roxannes erste Reaktion war, das Angebot anzunehmen. Aber sie zögerte. Kurz vorher hatte sie noch überlegt, daß ein Bleiben auf der Hazienda unmöglich war, das Leben mit Juan ein ewiger Tanz auf dem Vulkan. Die paar glücklichen Momente wogen die Stunden der Unruhe, der Angst nicht auf, die sie immer wieder überkam. Er würde ihr niemals ganz gehören. Jetzt mußte er sie verachten, denn wenn sie ihm die Wahrheit über Lupitas Lügengeschichte erzählte, würde er ihr nie glauben. „Ich kann Ihnen Ihren Paß verschaffen, Senora“, fuhr Lupita fort. „Ich kann auch eine günstige Reise für Sie arrangieren. Sie gehören nicht hierher, das haben Sie ja nun begriffen. Don Juan fühlt nichts für Sie – höchstens Haß, weil Sie ihn dem Gespött ausgeliefert haben. Er wird froh sein, wenn Sie weg sind!“
In Gedanken nickte Roxanne. „Sie wissen, wo mein Paß ist?“ Im Grunde widerstrebte es ihr, mit dieser Kreatur gemeinsame Sache machen zu müssen. Und doch brauchte sie den Paß. Wenn sie ihn erstmal wieder in Besitz hatte, konnte sie abreisen. Also was machte es schon aus? Unter den gegebenen Umständen war Lupitas Hilfe notwendig. „Ja, Senora, ich weiß, wo Ihr Paß ist.“ „Gut, Lupita, Sie geben ihn mir und ich verlasse die Hazienda Ramires.“ „Das ist richtig, Senora. Daß Sie sich endlich dazu entschlossen haben. Sonst hätte ich Sie getötet, mit einem Gewehr – . ich hatte schon oft die Absicht.“ „Sie haben ein Gewehr?“ „Ich werde eins bekommen, Senora. Aber wenn Sie freiwillig gehen, werde ich es nicht gebrauchen…“ Ihr Gerede ging wieder in ein unverständliches Brabbeln über. Roxanne beugte sich vor. „Was sagen Sie? Sprechen Sie lauter!“ Lupita starrte sie an. „Es betrifft Sie nicht, Senora“, antwortete sie weniger feindselig als vorher. „Ich werde alles für Ihre Rückkehr in die Heimat arrangieren.“ Roxanne schwieg. Wenn sie erst einmal ihren Paß hatte, würde sie ihre eigenen Arrangements für die Rückkehr nach England treffen. Sie blieb in ihrem Zimmer, beruhigt, daß Juan niemanden heraufschickte. Sie wußte, daß er jetzt beim Abendessen saß, nahm einen Schal und ging in den Garten. Ihr einziger Wunsch war es, allein zu sein, Ruhe zu haben. Haus und Park waren von Mondlicht überglänzt. Sie hatte die Hazienda geliebt, es war ein herrlicher Besitz. Die ganze Landschaft sah jetzt in dem Silberlicht unwirklich aus. Roxanne verließ das Grundstück und kletterte den kleinen Ausläufer des im Dunst daliegenden Gebirges empor. Niemand begegnete ihr, die Stille war ein wenig beklemmend. Je weiter sie ging, desto gelöster wurde sie jedoch. Sie begann wieder, über ihre Pläne nachzudenken. Sie wollte ihrem Vater und Deborah nichts von ihrer Heimkehr nach England mitteilen, ehe sie nicht eine eigene Wohnung gefunden hatte. Andernfalls hätten sie nur darauf bestanden, daß sie wieder bei ihnen lebte. Sie war jetzt unabhängig und wollte es auch bleiben. Es war ihr gleichgültig, wie ihr Vater reagieren würde, wenn er erfuhr, daß sie Juan verlassen hatte. Auf seinen Befehl mußte sie ihn heiraten. Es sollte das letzte Mal gewesen sein, daß sie ihm blindlings gehorchte. Langsam wanderte Roxanne den Hügel hinauf und dachte dabei an ihre Zukunft. Claire war ihre beste Freundin, sie würde ihr sicher helfen, sobald sie erst einmal wieder in England war. Bestimmt war es nicht schwer, einen Job und bald auch eine kleine Wohnung zu finden. Bis dahin konnte sie sicher bei Claire wohnen. Claires Familie hatte sie immer in ihrem Haus willkommen geheißen. Roxanne blieb stehen und sah sich um. Tiefes Schweigen umgab sie. Sie hatte das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein. Nur der Mond erhellte die Gegend, nirgendwo ein Licht in einem Fenster. Massive Felsen ragten in den dunkel purpurnen Himmel; sie sahen aus wie groteske, versteinerte Ungeheuer mit mißgestalteten Köpfen. Riesige Kakteen standen wie Orgelpfeifen vor ihr, ragten messerscharf in den leeren Raum zwischen Himmel und Erde. Die ganze unwirkliche Landschaft glich einem Silbermosaik, geschaffen vom Mond, der wie eine große, runde Scheibe über den Bergen hing. Sie drehte sich um und ging den gleichen Weg zurück. Ihre Gedanken kreisten nun um Juan. Immer wieder sah sie ihn in der Kapelle knien. Wenn sie wüßte, warum er betete, wäre ihr eigener Weg vielleicht weniger dornenvoll gewesen. Aber jetzt hatte sie sich entschieden. Ihre Pläne standen fest. Sie würde ihn
verlassen und nie wiedersehen, solange sie lebte. Tränen liefen ihr plötzlich über die Wangen. Juan niemals wiedersehen? Den Mann, den sie unter quälenden, erniedrigenden Umständen lieben gelernt hatte und der durch sie vielleicht glücklich geworden wäre, wenn er es nur selbst gewollt hätte. Er konnte die Vergangenheit nicht abschütteln. Aber stimmte das? Er schien doch in letzter Zeit weicher, glücklicher; als sie Margarita besucht hatten, konnte er sogar lachen. Doch jetzt war er wieder der .Schwarze Adler’, hart und verschlossen. Er stieß jeden weg, ließ niemand an sich heran. Ohne auf den Weg zu achten, war Roxanne immer weiter gelaufen. Die Gegend sah gar nicht mehr einladend aus. Tagsüber war sie schon öfter hier spazierengegangen und kannte so gut wie alle Pfade. Aber jetzt schien sie vom Weg abgekommen. Sie blieb in dem knöchelhohen Gras stehen und sah sich um. Alles war viel schwerer zu erkennen als bei Tageslicht. Sie wurde unsicher, eine Welle von Furcht überlief sie. Sie blickte auf ihre Armbanduhr und stellte fest, daß es schon nach zehn war. So spät war sie sonst nie unterwegs. Wenn sie nur irgendwo ein Licht sehen könnte! Zwischen ihr und dem Haus mußten zu viele Erhebungen sein. Sie ging weiter. Nach einer Stunde setzte sie sich nieder. Juan hatte ihre Abwesenheit wahrscheinlich noch gar nicht bemerkt. Er kam ja nie mehr in ihr Zimmer. Sicher nahm er an, daß sie bereits im Bett lag. Vor morgen früh würde kaum jemand sie vermissen. Morgen früh! Roxanne fröstelte, die Nächte waren kühl. Ihr fiel auch ein, daß in Mexiko wilde Tiere lebten, allerdings im Urwald, kaum hier in der Gegend. Dennoch lief ihr bei dem Gedanken ein Kälteschauer über die Haut. Sie erhob sich wieder. Irgendwann mußten Lichter auftauchen, an denen sie sich orientieren konnte. Aber sie vermochte sich vor Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen zu halten. Als sie an eine kleine Lichtung gelangte, bedeckt von vertrocknetem Gras, legte sie sich erschöpft hin. Verzweifelt und doch voller Vertrauen wartete sie auf die Morgendämmerung. Es war ein trüber Morgen. Roxanne erwachte, blinzelte. Wo war sie? Schlagartig kam ihr alles wieder zu Bewußtsein. Ihre Glieder schmerzten, als sie aufstand. Die Kleidung war feucht, sie mußte niesen und husten. Klar, daß sie sich erkältet hatte. In der Helle des anbrechenden Tages erkannte sie sofort, wo sie sich befand. Sie hatte sich ziemlich weit von der Hacienda entfernt. Sie machte sich auf den Weg. Die Sonne ging gerade auf, und trotz ihrer Schmerzen genoß sie das Naturereignis. Die Wolken am östlichen Horizont waren in tiefes Rosa getaucht und rahmten den großen Feuerball ein. Der Himmel sah aus wie glänzende Seide. Die Berge schienen Übergossen von flüssigem Kupfer, die Täler lagen noch im Schatten. Langsam stieg die Sonne höher. Der Himmel schimmerte orange und gold, an einigen Stellen tief bronzefarben. Die Seitentäler leuchteten auf. Müde, mit wundgelaufenen Füßen schleppte Roxanne sich weiter. Die Luft trocknete ihre Kleider, sie spürte die Sonne auf ihrer Haut. Aber in ihrer Brust war ein Rasseln. Sie konnte gar nicht begreifen, wie weit sie in der Nacht gegangen war. Es dauerte zwei Stunden, bis sie an einen Weg kam, den sie kannte. Gegen halb neun traf sie endlich zu Hause ein. Leise stieg sie die Treppe hinauf. Auf Zehenspitzen schlich sie in ihr Zimmer. Sie hörte, wie Juan sich im Nebenzimmer bewegte und ließ heißes Wasser in die Badewanne laufen. Nachdem sie gebadet und sich umgezogen hatte, ging sie zum Frühstück hinunter. Wäre sie oben geblieben, hätte Juan bestimmt jemanden geschickt, sie zu holen, besonders, da sie ja am Abend vorher nicht zum Essen erschienen war.
Wie üblich rückte Juan ihr den Stuhl zurecht. Sie setzte sich und fragte sich, wie
dieses Frühstück verlaufen würde nach allem, was gestern zwischen ihnen
vorgefallen war.
Seine Miene gab ihr keinen Aufschluß. Doch in seinen Augen war die gleiche tiefe
Traurigkeit, die auch sie erfüllte. Er schien müde zu sein. Seine Lider waren
gerötet, vermutlich hatte er wenig geschlagen. Er aß kaum und trank nur eine
halbe Tasse Kaffee. Sein Blick ging an ihr vorbei. Woran dachte er?
Sollte sie ihm die Wahrheit sagen über ihren nächtlichen Ausflug? Die Wahrheit
über alles? Liebe und Sehnsucht nach ihm kämpften mit der Überzeugung, daß
ein Leben mit Juan unmöglich war. Was hätte es für einen Sinn, wenn sie ihm
von Tom erzählte? Es stimmte ja, daß sie ihn regelmäßig besucht hatte und mit
ihm am Strand von Acapulco gewesen war. Sie hatte Tom anvertraut, wie es zur
Heirat mit Juan gekommen war. Nie würde er ihr das vergeben. Sein Stolz war
verletzt.
Juan wollte gerade aufstehen, als Roxanne einen Hustenanfall bekam. Sie preßte
die Hand gegen ihre Brust, wie ein Messerstich durchfuhr sie der Schmerz.
„Bist du krank?“ fragte er behutsam.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube nicht.“
Es wirkte nicht überzeugend. „Diesen Husten hattest du gestern aber noch nicht.
Wie kommst du zu der Erkältung?“
Wieder schüttelte sie den Kopf. Er schien besorgt und sah sie prüfend an. Sie
merkte, daß sie rot wurde.
„Ich bin gestern abend noch spazierengegangen“, gestand sie. „Es wurde dann
ziemlich kühl.“
„Hattest du keinen Mantel mit?“
„Nein.“
„Du bist doch lange genug hier, um zu wissen, daß man abends einen Mantel
braucht.“
„Entschuldige, aber so gut habe ich mich noch nicht akklimatisiert. Außerdem
wollte ich gar nicht so lange Spazierengehen.“
„Wie weit bist du denn gegangen?“
Sie warf ihm einen Blick zu. Ahnte er etwas?
„Ich weiß es nicht genau“, erwiderte sie. „Jedenfalls war ich ganz allein.“
„Bitte, leg dich wieder hin und bleibe heute im Bett.“
„Aber das ist doch wirklich nicht notwendig.“
„Doch. Du mußt heute im Bett bleiben, Roxanne. Auch morgen, wenn es dir nicht
besser geht.“
Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Das brachte ihre Pläne durcheinander.
Eigentlich hatte sie sich heute nach Linienflügen und den Preisen für Flugtickets
erkundigen wollen. Sie mußte auch sicher sein, daß keine anderen
Schwierigkeiten unversehens auf sie zukommen konnten. Vor Aufregung mußte
sie wieder husten.
Sie griff nach der Karaffe. „Ich bin so durstig, muß etwas trinken .<.“
„Aber kein kaltes Wasser, Roxanne.“ Juan faßte über den Tisch hinweg rasch
nach ihrer Hand. „Bitte, leg dich jetzt wieder hin. Ich schicke dir Tee hinauf und
Hustenmedizin.“
„Danke“, sagte sie. Was blieb ihr anderes übrig? Sie stand auf und verließ das
Frühstückszimmer.
Als sie am Fenster in ihrem Schlafzimmer stand, kam Juan herein. In der Hand
hielt er ein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit.
„Warum bist du nicht im Bett?“
„Juan, ich…“
„In einer halben Stunde ist der Arzt hier“, sagte er. Sie wollte protestieren.
„Bitte, geh ins Bett und trinke erst mal das hier.“ Er stellte das Glas auf den
Nachttisch. Sie stand immer noch unschlüssig am Fenster. „Hast du nicht gehört,
um was ich dich gebeten habe?“
„Ja“, nickte sie. Allmählich fühlte sie sich wirklich miserabel. Sie brachte kaum
noch ein Wort heraus, ohne von einem Hustenanfall geschüttelt zu werden.
„Soll ich dir Dolores schicken, damit sie dir beim Ausziehen hilft?“
„Nein, danke, Juan, das kann ich allein.“
Er nickte kurz und ging hinaus. Roxanne zitterten die Knie. Ihre Zähne schlugen
aufeinander. Zu dumm, daß sie diesen langen Nachtspaziergang gemacht hatte.
Warum war sie nicht eher umgekehrt?
Obwohl die Sonne warm ins Zimmer schien, fror sie. Auch im Bett wurde ihr nicht
wärmer.
Der Arzt, den Juan kurze Zeit später zu ihr ins Zimmer führte, war ein großer
Mexikaner mit einem kleinen Schnurrbart und braunem, zerknittertem Gesicht.
Er untersuchte sie wortlos, horchte sie ab, fühlte den Puls. Dann mußte sie Fieber
messen. Er runzelte die Stirn.
„Wo haben Sie sich diese Erkältung zugezogen, Senora?“ fragte er in
gebrochenem Englisch. „Sie müssen mindestens eine Woche im Bett bleiben.“
„Eine ganze Woche?“ Sie war entsetzt. Sie konnte doch nicht eine Woche lang im
Bett bleiben. „Herr Doktor, Sie können mir doch sicher etwas verschreiben, was
mich schneller wieder auf die Beine bringt.“
Er blickte sie durchdringend an. Ihr Zustand schien ihm nicht zu gefallen.
„Wo haben Sie sich das nur geholt?“
„Meine Frau ist gestern abend ohne Mantel spazierengegangen“, beantwortete
Juan die Frage des Arztes.
„Ist das alles? Haben Sie Schmerzen?“
Roxanne nickte.
„Wo?“
„In den Beinen hauptsächlich. Aber auch in der Brust.“
„Senora, ich glaube, Sie haben mir nicht die ganze Wahrheit gesagt“, meinte er
nachdenklich.
Sie starrte den Arzt hilflos an. Bevor ihr eine Antwort einfiel, mischte Juan sich
wieder ein. Seine Stimme klang etwas gereizt. Was immer er auch denken
mochte, er wollte den Arzt nicht glauben lassen, seine Frau habe ihn angelogen.
„Selbstverständlich hat meine Frau die Wahrheit gesagt.“
„Verzeihen Sie, Don Juan, aber meiner Meinung nach ist eine längere
Unterkühlung die Ursache der Krankheit.“
Juan warf Roxanne einen kurzen Blick zu. Sie senkte die Wimpern, es war wie
das Eingeständnis einer Schuld.
„Längere Unterkühlung?“ wiederholte Juan und sah den Arzt an.
„Mehrere Stunden – viele Stunden, würde ich sagen.“
Betretenes Schweigen folgte. Dann hob Juan die Schultern. „Nun gut, Doktor,
das ist jetzt völlig unwichtig. Hauptsache, meine Frau wird bald wieder gesund
und Sie verschreiben ihr etwas, das die Schmerzen in der Brust lindert.“
„Natürlich.“
Zehn Minuten, nachdem Juan den Arzt hinausbegleitet hatte, kam er wieder in
ihr Zimmer.
„Nun, Roxanne? Wie war das gestern?“ fragte er. Er blieb neben dem Bett stehen
und blickte aus halbgeschlossenen Augen auf sie herab.
Sie erzählte ihm alles.
„Ich konnte es doch nicht vor dem Doktor sagen“, erklärte sie, „du hättest dich in
einer peinlichen Lage befunden, nicht wahr? Weil ich dir vorher nicht die Wahrheit gesagt hatte.“ „Und warum hast du das nicht getan?“ „Ich hielt es nicht für nötig. Ich meine, als ich zum Frühstück kam, dachte ich nicht daran, die Sache zu erwähnen. Aber dann fing dieser Husten an, und du stelltest mir Fragen…“ „Die du nicht aufrichtig beantwortet hast.“ Seine Stimme war leise, beinahe sanft. Ein Beben ging durch Roxannes Körper – diesmal waren es aber keine Fieberschauer. „Ich weiß auch nicht, warum ich nicht ehrlich zu dir war, Juan. Ich – ich kann es einfach nicht erklären.“ Sie wischte sich mit der Hand über die Augen und wandte das Gesicht ab. „Es tut mir leid“, fügte sie kaum vernehmbar hinzu. Sie wollte sich mit ihm versöhnen, sie sehnte sich danach, seine kühle Hand auf ihrer heißen Stirn zu fühlen. Wie von selbst kamen auf einmal die Worte: „Wenn – wenn wir uns nicht gestritten hätten, wäre ich überhaupt nicht fortgegangen, Juan. Ich hätte auch Tom nie besucht. Aber ich war so unglücklich… so schrecklich unglücklich. Siehst du, es war doch mein Geburtstag, und – und ich hatte so gehofft, daß du dich daran erinnerst…“ Sie drehte den Kopf aus dem Kissen und verstummte. Das Geständnis war umsonst gewesen. Juan hatte es gar nicht gehört. Geräuschlos war er aus dem Zimmer gegangen. Um die Mittagszeit wurde ihr ein Tablett mit Essen gebracht – von Lupita. Es gab lecker zubereiteten Fisch, frischen Salat, und zu kleinem Gebäck Tee mit Zitrone. Außerdem stand noch eine Pillenschachtel dabei. „Würden Sie sich bitte aufsetzen, Senora?“ „Stellen Sie alles auf den Tisch, Lupita.“ Roxanne konnte den Anblick der Alten nicht ertragen. „Sie können gehen.“ „Gehen, Senora? Ich möchte mit Ihnen reden.“ „Ich bin nicht in der Verfassung, Ihnen zuzuhören. Verlassen Sie bitte mein Zimmer – und in Zukunft schicken Sie Dolores mit dem Essen zu mir.“ „Ich habe Sie vorige Nacht fortgehen sehen, Senora.“ Lupita ignorierte, wie immer, Roxannes Anweisungen. „Ich habe lange gewartet, aber Sie kehrten nicht zurück. Um vier Uhr früh kam ich hier herein, weil ich dachte, Sie wären inzwischen da. Waren Sie bei Ihrem Liebhaber, Senora? Ich hörte, wie Sie Don Juan sagten, Sie hätten sich verlaufen – doch er hat es nicht geglaubt. Ich sah sein Gesicht, das kenne ich gut, denn ich bin ja lange genug mit ihm zusammen. Er glaubt, Sie waren bei dem Engländer, verstehen Sie? Daher müssen Sie ganz schnell verschwinden – sobald Sie sich halbwegs gesund fühlen. Wenn Sie nicht weggehen, wird er Sie umbringen?“ „Sie wissen, daß ich die ganze Nacht fort war? Kam Ihnen nicht die Idee, ich hätte mich wirklich verlaufen und läge hilflos irgendwo?“ Lupita schloß die Augen, es sah aus, als sei sie in Trance. „Gerade das hatte ich gehofft… Und daß Sie nie den Weg zurückfänden! Was für eine Möglichkeit, wenn Sie da draußen gestorben wären, bevor man Sie gefunden hätte…“ Sie öffnete die Augen und starrte Roxanne an. „Dann wäre meine Marta wieder froh gewesen!“ Lupita hätte sie also in der Wildnis verkommen lassen! Grauen erfüllte Roxanne. „Sie wußten genau, daß ich mich verirrt hatte, nicht wahr?“ „So etwas weiß ich immer, Senora. Allerdings hätten Sie mit Ihrem Liebhaber auch in die Felder gegangen sein können.“ In Roxannes Entsetzen mischte sich ein Anflug von Mitleid. Lupitas Geist war verwirrt. Der Tod des Mädchens, das sie geliebt hatte, war zweifellos die Ursache
für ihre Gestörtheit. Roxanne begriff, daß die Frau gelitten hatte und immer noch litt. So würde es bleiben, bis der Tod sie erlöste. Für einen kurzen Moment vergaß sie ihren Haß. Ihr, als normalem Menschen, kam es absurd vor, daß Lupitas Dasein gewissermaßen um den Geist eines Mädchens kreiste, das nicht einmal ihre eigene Tochter gewesen war, sondern die ihrer ehemaligen Dienstherrin. Ganz und gar unverständlich überhaupt, daß sie die Familie des Mädchens damals verlassen hatte, anstatt dicht in Martas Nähe zu bleiben. Aber es war so vieles unverständlich. Roxanne beobachtete, wie Lupita die Hand auf ihr Herz legte und die langen Dürren Finger sich krampfhaft öffneten und schlossen. Sie sagte freundlich: „Bitte, gehen Sie jetzt, Lupita. Ich möchte jetzt essen.“ Lupitas Augen glitzerten. „In ein bis zwei Tagen werden Sie wieder gesund sein, Senora. Ich bereite Ihre Abreise vor – machen Sie sich bitte keine Sorgen.“ „Gehen Sie“, sagte Roxanne noch einmal. Ohne ein weiteres Wort ging die Alte. Nachdem Roxanne den Text auf der Pillenschachtel gelesen hatte, nahm sie zwei Tabletten. Sie legte sich hin und zog die Decke bis über die Schultern. Als Juan ein paar Minuten später an ihr Bett kam, war sie eingeschlafen. Er blickte lange auf ihr fieberheißes Gesicht. Dann nahm er das Tablett mit dem unberührten Essen und ging leise aus dem Zimmer.
9. KAPITEL Ein paar Tage hatte Roxanne hohes Fieber. Sie merkte nicht, was um sie herum vorging. Aber immer, wenn sie kurz die Augen öffnete, sah sie Juan neben ihrem Bett sitzen. Und wie durch dichten Nebel glaubte sie, seine Stimme zu hören, ganz leise und zart: „Roxanne, meine Liebste…“ Dann seufzte sie zufrieden und sank wieder in einen tiefen Abgrund. Der Tag kam, an dem sie sich viel besser fühlte. Sie erinnerte sich an die Träume, in denen sie die verzweifelte Stimme ihres Mannes gehört hatte. Warum konnte es nicht so weitergehen? Seine Verzweiflung und seine Zärtlichkeit hätten ihr Trost und Hoffnung gegeben. Aber die harte Wirklichkeit war wieder da. Sie dachte nur noch daran, wie Juan angewidert das Zimmer verlassen hatte an dem Tag, an dem sie ihm die ganze Wahrheit gestand. Sie nahm ihre Umwelt wieder deutlicher wahr. Das erste, was sie bemerkte, war Juans Aussehen. Seine Züge waren schmaler, schärfer, dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Die Kupferbräune seiner Haut war verschwunden, er wirkte fahl. Was war los mit ihm? Ob er auch krank gewesen war? Sie fragte ihn. „Nein, Roxanne, ich hatte Angst um dich“, antwortete er. „Angst? Um mich?“ Sie war noch zu schwach, um dieser Äußerung besondere Tragweite beizumessen. „Lieb von dir, daß du dir Sorgen gemacht hast“, sagte sie und wollte nicht, daß ihre Stimme zu gleichgültig klang. Sie möchte ihn nicht vor den Kopf stoßen – im Gegenteil. „Du bist meine Frau, Roxanne…“ Er sah sie an und atmete schwer. „Da ist es doch nur natürlich, daß ich mir Sorgen mache.“ Seine Frau… Die Frau, die den Platz seiner alten Liebe einnahm. Deswegen hatte er Angst gehabt. Marta sollte kein zweites Mal sterben. Daß ihre Überlegung gemein und unvernünftig war, kam Roxanne nicht zu Bewußtsein. Sie bildete sich ein, die Situation klar und deutlich zu durchschauen. Sie wollte die Hacienda verlassen und in ihr Heimatland zurückkehren. Ihre Genesung machte Fortschritte. Sie war dünn geworden, die Haut durchsichtig, mit blauen Adern an den Schläfen. Zart und zerbrechlich sah sie aus. Doch sie erholte sich. Auch Juan schien aufzuleben. Nur seine Augen blickten unverändert düster. Sie vermutete, daß ihre Krankheit ihm die qualvollen Tage in Erinnerung gebracht hatte, die er damals mit Marta durchstehen mußte. Marta war immer noch der Mittelpunkt, um den sich bei ihm alles drehte. Und weil sie das mit einem Male wieder so fest glaubte, behandelte sie ihn kühler denn je. Wurde es jetzt nicht langsam Zeit, daß er sich von der Vergangenheit freimachte? Eins wußte sie jedoch genau: Wenn es endlich soweit wäre, wollte sie die ganze Kraft ihrer Liebe einsetzen, um ihn zu gewinnen. Dann würde er nur noch sie lieben, und es gäbe für sie beide eine gemeinsame, glückliche Zukunft. Aber wann? Eines Tages, Roxanne ruhte auf einem Liegestuhl im Garten, kam Lupita auf sie zu. Juan war wieder einmal in Mexico City. Er rief jeden Tag an. Roxanne wollte schon aufstehen, weil sie annahm, Lupita meldete ein Telefongespräch von Juan. Aber sie kam, um über den Paß und ihre Abreise zu sprechen. „Es ist ganz einfach, Senora. Ich besorge Ihnen das Flugticket, wenn Sie das Geld dafür nicht haben – Ich verlange nur meinen Paß, Lupita. Sie haben gesagt, Sie wüßten, wo er ist. Im Studio meines Mannes?“ fragte Roxanne. Wenn sie ihn sich selbst holen konnte, brauchte sie Lupitas Hilfe überhaupt nicht in Anspruch
zu nehmen. „Da war er, Senora. Aber jetzt habe ich ihn.“ „Wieso kommt mein Eigentum in Ihre Hände? Was wird mein Mann sagen, wenn er erfährt, daß Sie den Paß aus seinem Zimmer geholt haben?“ Keine Antwort. Lupita schien geistesabwesend. „Er wird Sie entlassen!“ Roxannes Stimme klang scharf. Die Alte kam wieder zu sich. „Niemals! Gehen Sie doch endlich. Mich allein braucht er – ich bin die einzige Verbindung zu seiner geliebten Marta.“ Roxanne schwieg. Ihre Krankheit war die Folge tiefer Depressionen gewesen, die sie immer noch nicht abgeschüttelt hatte. Wie ein Gewicht lag das alles auf ihr: Ihre Ehe mit Martas Schatten, der nie auszulöschen war. Er war lebendig in der Gestalt von Lupita – der einzigen Verbindung zu seiner toten Geliebten, wie die Alte mehr als einmal erwähnt hatte. Roxanne gab sich geschlagen. Sie hatte nur noch den einen Wunsch, endlich zur Ruhe zu kommen. Sie bat Lupita, alles für ihre Abreise zu arrangieren. Der Entschluß war unumstößlich. Sie verließ die Hacienda, Juan, Mexiko. Roxanne kehrte nach England zurück. Über ein Monat war vergangen seit ihrer Abreise aus Mexiko. Sie hatte sich von der Krankheit noch nicht völlig erholt, war noch immer blaß und dünn. Aber inzwischen hatte Roxanne einen Job gefunden, sie arbeitete als Kindermädchen bei einem jungen Ehepaar. Claires Mutter hatte ihr den Rat gegeben, eine Stellung zu suchen, die ihr die Möglichkeit gab, gleichzeitig dort wohnen zu können. „Wenn du erst einmal etabliert bist, kannst du dich in Ruhe um etwas Besseres bemühen.“ Selbstverständlich hatte sie Roxanne sofort bei sich aufgenommen und ihr auch angeboten, solange wohnen zu bleiben, wie sie wollte. Aber auf Wohltätigkeit mochte Roxanne nicht angewiesen sein. Sie wollte arbeiten. Ihr ganzes Geld war für den Flug nach England draufgegangen. So hatte sie gleich die erste Stellung angenommen, die sich ihr bot. Sie hatte viel zu tun, und der Tag war lang. Die Kinder wachten früh auf und gingen nicht vor acht Uhr abends ins Bett. Aber Roxanne war froh, daß es soviel Arbeit gab, dadurch kam sie kaum dazu, an Juan zu denken. Bis jetzt hatte sie sich noch nicht mit ihrem Vater in Verbindung gesetzt. Heute war ihr freier Tag, der Dienstag, und sie hatte das Gefühl, daß sie ihn nach vier Wochen doch einmal besuchen müßte. Sie sprach mit ihrer Chef in. „Ich werde erst am Abend zurück sein“, sagte sie. „Oh – wirklich?“ Mrs. ThorpeUtkinson sah Roxanne stirnrunzelnd an. Sie war jung verheiratet mit einem wohlhabenden Geschäftsmann. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Reiten, Bridge spielen oder auf Teepartys bei ähnlich situierten jungen Frauen. Ryewood in Shropshire war voll von diesen „grünen Witwen“, die zu laute Stimmen, ein leeres Lachen und viel zuviel freie Zeit hatten. Die Langeweile stand ihnen im Gesicht geschrieben. Eine überaus tüchtige Geschäftsfrau, die in dem Städtchen einen Schönheitssalon eröffnet hatte, verdiente Unsummen damit, diesen faden Gesichtern etwas Kontur zu geben. „Ich hoffte, Sie blieben heute hier“, fuhr Mrs. ThorpeUtkinson fort. „Ich möchte einkaufen gehen. Ich habe nichts anzuziehen und bin nächste Woche auf drei DinnerPartys eingeladen. Können Sie Ihre Verabredung nicht aufschieben? So wichtig wird es doch nicht sein!“ „Doch, Mrs. ThorpeUtkinson, ich möchte meinen Vater besuchen.“ „Das ist alles? Sie können nächste Woche zwei freie Tage haben.“
Roxanne zögerte. Es war blamabel, so von einer Frau behandelt zu werden, die kaum älter war als sie selber. Trotzdem hatte sie Angst, diese Stellung zu verlieren. „Ich möchte aber heute gehen, Mrs. ThorpeUtkinson“, sagte sie ruhig. „Können Sie Ihre Einkäufe nicht auf morgen verschieben?“ Hochmütig schüttelte die junge Frau den Kopf. „Morgen schließen die Läden früher.“ „Natürlich…“ Roxanne zögerte wieder. Aber dann schüttelte sie entschieden den Kopf. „Ich habe heute meinen freien Tag. Es ist wohl am besten, daß wir die Abmachungen, die wir getroffen haben, auch einhalten. Sonst weiß ich überhaupt nicht mehr, woran ich bin.“ Die junge Frau starrte sie an, sagte aber kein Wort mehr. Jetzt war es Roxanne klar, daß es heutzutage nicht so leicht war, ein Kindermädchen zu bekommen. Andere Jobs wurden häufiger angeboten. Mit einem gewissen Angstgefühl läutete Roxanne, nachdem sie langsam die Auffahrt zum Haus ihres Vaters hinaufgegangen war. Sie hatte ihm noch nicht einmal mitgeteilt, daß sie in England war und die Verbindung mit Juan endgültig gelöst hatte. Sie wußte, ihr Vater war altmodisch. Aber sie hatte nicht vor, sich noch von ihm tyrannisieren zu lassen. Sollte ihr Vater versuchten, sie zurechtzuweisen, würde sie sein Haus verlassen. Deborah erschrak, als sie die Tür öffnete. Sie fuhr zurück und traute ihren Augen nicht. „Roxanne! Ich kann es nicht glauben!“ „Aber ich bin es wirklich, Deb“, lachte Roxanne. „Willst du mich denn nicht hereinlassen?“ fragte sie, während Deborah sie immer noch wie einen Geist anstarrte. „Natürlich.“ Verwirrt machte sie die Tür weiter auf. „Du lachst! Dann kann ja nichts Schlimmes passiert sein. Wo ist dein Mann?“ „Er ist nicht mitgekommen.“ Roxanne betrat die Halle. Überrascht stellte sie fest, daß die altgewohnte Umgebung ihr fremd geworden war. „Kommt er denn später?“ Deborah konnte diesen unerwarteten Besuch immer noch nicht fassen. „Mein Gott, wie wird dein Vater sich freuen!“ Wolken hatten vom frühen Morgen an den Himmel verdüstert. Die Halle war auch düster. Erst im Licht des Wohnzimmers sah Deborah, wie blaß und dünn Roxanne aussah. Roxanne spürte die prüfenden Blicke der alten Kinderfrau. Sie erzählte von ihrer Krankheit. „Ich hatte mich bei einem Spaziergang verirrt und verbrachte eine ganze Nacht im Freien. Da habe ich mir eine schwere Erkältung geholt und mußte drei Wochen im Bett bleiben. Jetzt geht es mir wieder besser. Die verlorenen Pfunde hole ich auch langsam auf.“ „Aber du solltest nicht so herumrennen, wenn du so krank warst, meine Kleine.“ Roxanne machte eine beschwichtigende Handbewegung. Typisch die alte Deborah: Immer noch Vorschriften, wie die „Kleine“ sich zu benehmen hätte. „Ich sagte dir doch, es geht mir viel besser. Wirklich, Deborah, ich bin wieder ganz fit.“ Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Ich arbeite ja auch – als Kindermädchen bei einer Familie mit zwei kleinen Kindern.“ Deborah war sprachlos. Anscheinend war diese Neuigkeit zuviel für sie. „Das verstehe ich nicht. Du hast doch einen Mann! Warum mußt du dann arbeiten?“ „Ich habe meinen Mann verlassen und arbeite hier in Shropshire.“
„Verlassen?“ – Deborah warf entsetzt ihre Hände hoch. „Nein! Mein Himmel, dein
Vater wird vor Scham sterben!“
„Wieso Scham? Weil ich auf ehrliche Art mein Geld verdiene? Was für ein
Blödsinn!“ Roxanne wandte sich ab. Sie legte Mantel und Handschuhe in der
Halle auf einen Stuhl. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und setzte sich.
„Wo ist Vater, Deb?“
„Fort, Gott sei Dank! Erzähle mir alles, Kind. Du arbeitest als Kindermädchen?
Warum kommst du denn nicht nach Hause? Sag mir den Namen dieser Dame, bei
der du angestellt bist. Ich rufe sie gleich an. Arbeiten – als Kindermädchen! Das
ist doch unmöglich, das gibt es doch nicht! Dein Vater wird es nicht dulden.“
Roxanne mußte lächeln.
„Es tut mir leid, Deborah, aber ich muß dich enttäuschen. Ich bin jetzt mein
eigener Herr und beabsichtige, meinen Job zu behalten.“
Sprachlos sah Deborah sie an.
„Du bist immer noch krank“, erklärte sie mit Nachdruck. „Ja, das ist es! Sonst
würdest du nicht so mit mir sprechen. Und wieso hast du deinen Mann verlassen,
Roxanne? Ich möchte alles wissen.“
Roxanne berichtete ihr, was sie für notwendig hielt. Marta wurde nicht erwähnt,
da Deborah weder von ihr, noch von der Tatsache etwas wußte, daß Juan sie im
Grunde noch liebte. Roxanne sagte nur, daß sie nicht zusammenpaßten und sie
sich entschlossen hätte, ihr eigenes Leben zu führen – egal, ob es Juan gefiele
oder nicht. Sie wollte endlich auf eigenen Beinen stehen und nicht mehr
herumgestoßen, kommandiert oder bevormundet werden.
„Meine Kleine“, begann Deborah sanft nach einer langen Pause, „du mußt wieder
nach Hause kommen. Laß deinen Vater und mich für dich sorgen. Sicher bist du
durch die schwere Krankheit noch etwas verwirrt. Du brauchst Ruhe und viel
liebevolle Pflege! Dann wird dir auch klar sein, daß du zu deinem Mann
zurückkehren mußt.“
Roxanne schüttelte den Kopf. „Ich bin völlig in Ordnung, Deb, und weiß genau,
was ich will. Das bedeutet, daß ich auf keinen Fall das Leben wieder aufnehmen
werde, das ich vor meiner Heirat mit Juan geführt habe.“
Die alte Kinderfrau starrte sie aus trüben Augen an. Sie konnte offensichtlich die
totale Verwandlung Roxannes nicht begreifen.
„Du bist so unheimlich ruhig, Kind. Macht dich der Gedanke an deine zerbrochene
Ehe nicht unglücklich?“
Roxannes Kehle war wie zugeschnürt. Tränen traten in ihre Augen. Aber sie
nahm sich zusammen und sagte:
„Zerrüttete Ehen sind heutzutage keine Seltenheit. Wenn du wüßtest, wie viele
junge Frauen so etwas erleben wie ich. Ich schaffe es schon, mir ein neues Leben
aufzubauen.“
Roxanne fühlte, daß sie Deborah mit allem, was sie sagte, kränkte. Das wollte sie
eigentlich nicht, aber es war schwer, alten Leuten so etwas verständlich zu
machen. Freilich bekümmerte es sie, daß sie Deborah, die sie wie ein eigenes
Kind liebte, enttäuschen mußte.
„Es tut mir leid, Deb, wenn du jetzt unglücklich bist. Aber Juan und ich konnten
so nicht weiterleben.“
Das stimmte nicht, Juan hätte dieses Leben sicher weiter aufrechterhalten.
„Eine zerbrochene Ehe…“ murmelte Deborah. „Dein armer Vater wird das nie
verwinden.“
Jetzt wurde Roxanne böse.
„Dann hätte er mich nicht zu dieser Ehe zwingen dürfen!“
„Zwingen?“
„Ja! Ihr beide, Vater und du, habt Druck auf mich ausgeübt!“ „Aber, Kind“, ermahnte sie Deborah, „du scheinst die Umstände vergessen zu haben, die dieser Heirat vorausgingen.“ „Diese Umstände waren in euren Gehirnen entstanden. Ihr habt euch total falsche Dinge eingebildet. Ich habe damals versucht, alles zu erklären, aber weder du noch Vater habt mir überhaupt zugehört. Ich dachte, daß du mir zur Seite stehen würdest, doch du hast mich fallenlassen. Was blieb mir übrig? Da war ich eben wieder das brave, gehorsame Kind, das sich eurem Willen beugte. Nun siehst du das Resultat! Nur ein Gutes hat diese ganze Katastrophe: Ich lasse mich nicht mehr von anderen beherrschen. Ich weiß jetzt selbst, was ich tun und lassen kann.“ „Wie sprichst du denn mit mir?“ Deborah hatten Roxannes Worte anscheinend sehr mitgenommen. „Du bist nicht mehr die gleiche, die damals fortging.“ „Nein – Gott sei Dank.“ Es klang erleichtert. „Ich habe mich verändert, und das macht mich froh.“ „Und Juan? Er war doch sicher außer sich über das Unglück eurer Ehe.“ Keine Antwort. Roxanne hatte keine Lust, Deborah darüber aufzuklären, daß sie einfach fortgegangen war, als ihr Mann nicht zu Hause war. Der Tag lief noch einmal vor ihr ab: Das Kofferpacken, Lupita, die ihr erst im letzten Moment den Paß gab, das Taxi vor der Tür. Lupita hatte auf den Stufen gestanden und die Abfahrt verfolgt. Während der ganzen Taxifahrt hatte Roxanne geweint. Sie mußte sich sehr zusammennehmen, um dem Fahrer nicht die Anweisung zu geben, wieder umzukehren. Juans Macht wirkte immer noch. Es war, als ob er sie wie an einer Leine zurückzog. Und auch jetzt, tausend Meilen von ihm entfernt, war diese Macht so stark, daß Roxanne manchmal glaubte, davon überwältigt zu werden. „Unsere Ehe war von Anfang an zum Scheitern verurteilt“, sagte sie endlich. „Ich nehme an, Juan weiß das jetzt auch.“ „Es ist so traurig – unglückliche Ehen sind immer traurig.“ Roxanne hatte keine Lust mehr, diese unerfreuliche Diskussion fortzusetzen. Sie fragte: „Willst du mir keine Tasse Kaffee anbieten, Deb? Schließlich bin ich doch Gast.“ Vorwurfsvoll sah Deborah sie an. „Sag so etwas nicht, Roxanne. Ich bin mehr als schockiert über dein Verhalten. Ich habe ganz den Eindruck, du gehörst zu diesen modernen, emanzipierten Frauen.“ „Warum nicht, Deb? Unabhängigkeit ist eine gute Sache. Im Augenblick habe ich diesen Job, später werde ich mir etwas anderes suchen. Dann miete ich mir auch ein nettes, kleines Apartment.“ „Du wirst wieder nach Hause kommen, Kind“, erklärte Deborah mit tieftrauriger Stimme. „Du weißt gar nicht, was es heißt, auf sich selber gestellt zu sein.“ „Aber ich bin doch bereits auf mich selbst gestellt, Deb.“ „Du bist nicht mehr die alte.“ Mit diesen Worten ging Deborah in die Küche, um Kaffe zu machen. Während sie dann gemeinsam Kaffee tranken, kam Roxannes Vater. Sie hörten, wie er die Haustür aufschloß. Roxannes Nerven waren zum Zerreißen gespannt, aber sie hatte keine Angst. Sie sah hoch, als ihr Vater ins Wohnzimmer trat. Mit weit aufgerissenen Augen sah er sie an. „Hallo, Vater“, sagte sie lächelnd. „Ich habe gerade der guten Deborah einen tüchtigen Schrecken versetzt, als ich ihr erzählte, daß ich Juan verlassen habe.“ Mr. Hutton, groß und aufrecht, ein alter Militarist, schien für einen Moment in sich zusammenzusinken.
„Was sagst du, Roxanne? Habe ich dich richtig verstanden?“ fragte er fassungslos. „Juan und ich haben uns getrennt, Vater. Ich bin wieder in England, für immer.“ „Das Kind arbeitet – als Kindermädchen“, warf Deborah mit . tragisch umflorter Stimme ein. „Und bevor wir weiterreden, Vater“, sagte Roxanne, „nimm bitte zur Kenntnis, daß ich nicht die Absicht habe, wieder hier einzuziehen. Von jetzt an will ich meinen eigenen Weg gehen.“ Früher wäre sie beim Blick in seine grauen Augen zusammengezuckt. Nun aber blieb Roxanne ruhig und gefaßt. Sie sah nicht weg, wich dem Blick ihres Vaters nicht aus. Mit erhobenem Kopf und vorgerecktem Kinn saß sie da. Ihre Haltung ließ keinen Zweifel an ihrem festen Willen aufkommen. „Bist du dir im klaren, daß du mit deinem Vater sprichst?“ fuhr er sie an. „Das ist keine Mißachtung, Vater“, antwortete sie. „Ich will dir nur deutlich machen, daß ich mich keinesfalls mehr deinem selbstherrlichen Willen unterordnen werde. Ich habe mich entschlossen, auf eigenen Füßen zu stehen. Weder du noch Deb können mich davon abbringen.“ „Ich verstehe.“ Seine Würde beherrschte immer noch die Situation. Aber er war tief verletzt, genau wie Deborah. Es tat Roxanne leid, aber sie ließ sich nicht unterkriegen. „Du willst also weder zu deinem Mann, noch nach Hause zurückkehren?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin mein eigener Herr, Vater.“ Er stand noch in der offenen Wohnzimmertür, keinen Schritt war er ihr entgegengekommen. „Welchen Grund hattest du, deinen Ehemann zu verlassen?“ fragte er. „Roxanne sagte, sie hätten nicht zusammengepaßt“, warf Deborah ein. „Ist es für diese Erkenntnis nicht etwas zu spät?“ versetzte der Vater sarkastisch. Mit einem tiefen Atemzug stand Roxanne auf. „Die Unterhaltung ist für keinen von uns sehr erfreulich, Vater. Ich werde lieber gehen. Wenn du möchtest, daß ich dich einmal besuche, erreichst du mich unter dieser Telefonnummer.“ Sie zog einen kleinen Block aus ihrer Handtasche. Nachdem sie die Nummer aufgeschrieben hatte, riß sie den Zettel heraus und hielt ihn dem Vater hin. Er warf nur einen kurzen Blick darauf, sah sie an und trat an ihr vorbei ins Zimmer. Roxanne legte den Zettel auf den Tisch. Wortlos ging sie hinaus in die Halle, nahm Mantel und Handschuhe. „Mein Liebes…“ Weinend folgte ihr Deborah. „So kannst du doch nicht fortgehen.“ „Deb, weder du noch Vater haben mir ein verständnisvolles Wort gesagt. Ihr seid verbohrt. Für euch gilt nur, was ihr selbst für richtig haltet. Daß ich vielleicht unglücklich bin, kommt euch nicht in den Sinn. Ich weiß jetzt auch, daß alle Liebe, die ich euch gegeben habe, niemals erwidert wurde. Ihr habt mich nur behütet – übermäßig behütet.“ Trotz dieses Vorwurfs umarmte Roxanne ihre alte Kinderfrau und küßte sie. „Besuch uns bitte, Kind“, bat Deborah, als Roxanne die Haustür öffnete. „Wenn Vater mich in dieses Haus einlädt, komme ich – sonst nicht.“ Damit lief sie die Stufen hinunter zur Bushaltestelle. Das Herz war ihr schwer, aber ihr Entschluß stand fest. Sie war eine verheiratete Frau, trotz der Tatsache, daß sie ihren Mann verlassen hatte. Als verheiratete Frau war ihr gestattet, ihr Leben so einzurichten, wie sie es für gut befand. Und das wollte sie, selbst auf die Gefahr hin, daß es zum endgültigen Bruch mit ihrem Vater kam.
10. KAPITEL Es war unvermeidlich, daß Joel von Roxannes Rückkehr nach England erfuhr.
Vierzehn Tage nach dem Besuch bei ihrem Vater teilte ihre Chefin Roxanne mit,
daß ein junger Mann sie besuchen möchte.
„Ich hoffe, Sie werden ihm zu verstehen geben, daß ich solche Besuche nicht
wünsche“, sagte Mrs. ThorpeUtkinson scharf. „Ich habe es mir zur Regel
gemacht, den Freunden meiner Angestellten nicht zu erlauben, in mein Haus zu
kommen.“
Das Gespräch fand im Kinderzimmer statt. Roxanne hatte gerade die zweijährige
Rita und Baby Emma zum Nachmittagsschlaf ins Bett gebracht. Sie suchte die
Kleider zusammen, die sie waschen wollte, und sah ihre Chefin überrascht an.
„Ein junger Mann?“ fragte sie stirnrunzelnd.
„Ein Mr. Joel Bowyer.“
„Joel?“ rief Roxanne. „Ich komme sofort. Wo ist er?“
„Im Garten. Haben Sie gehört, was ich eben sagte?“
„Ja, Mrs. ThorpeUtkinson“, erwiderte Roxanne kühl.
Es war ihr ganz egal, denn sie hatte sich bereits um eine neue Stellung bemüht.
Am liebsten wollte sie in einem Büro arbeiten, aber sie hatte ja keinerlei
Erfahrung. Selbst wenn sie Glück hatte und eine Stellung fand, wo sollte sie
wohnen? Vorübergehend konnte sie bei Claires Mutter unterschlüpfen, doch
solange sie noch Geld hatte, behagte ihr das weniger.
Sie lief hinaus zu Joel.
„Roxanne!“ Voller Freude kam er auf sie zu. „Ich habe gehört, daß du deinen
Mann verlassen hast und – und – .“ Er hielt inne und breitete beide Arme aus.
„Ich liebe dich noch immer.“ Er sah sie an. „Haben wir noch eine Chance? Wirst
du dich scheiden lassen?“ ‘ Sonderbar, dachte Roxanne, ich fühle nichts mehr für
ihn, keine Sehnsucht, kein Verlangen. Sie hatte Juans Bild vor sich, ganz
deutlich. Es war, als wolle er sie daran erinnern, daß sie nur ihm gehöre.
„Juan und ich haben nicht über Scheidung gesprochen.“
„Aber – ist es denn keine endgültige Trennung?“
„Wer hat dir eigentlich gesagt, daß ich wieder in England bin?“ fragte Roxanne.
„Ich habe eine Freundin von Claire getroffen. Sie sagte mir, daß du bei Mrs.
ThorpeUtkinson arbeitest. Die Adresse habe ich aus dem Telefonbuch. Ich hoffe,
du hast nichts dagegen, daß ich dich besuche, oder?“
„Nein, ich nicht – aber die Dame!“
Er sah ihr in die Augen. „Du hast dich verändert, Roxanne.“
„Ich habe viel erlebt“, erwiderte sie.
„Es war wohl doch nicht das Richtige. Wie konnte es auch? Die Ehe mit einem
Fremden, dessen Leben von unserem so verschieden ist.“ Sie gingen den
kiesbestreuten Weg entlang, und Joel sprach weiter: „Ich weiß, Roxanne, daß ich
dich im Stich gelassen habe. Aber ich konnte das alles damals nicht begreifen.
Ich durfte dich nicht besitzen – ihm hast du alles erlaubt. Erst später, erst als es
zu spät war, wurde mir klar, daß ich dich nicht hätte gehen lassen dürfen, trotz
allem, was geschehen war. Du mußtest einen Mann heiraten, den du nicht
liebtest. Ich glaube, es war richtig, daß du ihn jetzt verlassen hast.“
Roxanne sagte ehrlich: „Ich hatte ein Recht, ihn zu verlassen, das stimmt. Aber
der Grund war nicht, daß ich ihn nicht liebe.“
Verständnislos sah Joel sie an.
„Du meinst – du liebst ihn?“
„Ja, Joel, genau das meine ich.“
„Aber warum bist du dann hier?“
„Ich sagte doch, ich hatte einen Grund, ihn zu verlassen.“
Joel schüttelte den Kopf. Dann schien er zu begreifen. „Also liebt dein Mann dich
nicht? Ist es das?“
Sie nickte. „Ja, das ist es.“
„Sonst wäre er dir auch nachgereist, nehme ich an.“
„Bestimmt, Joel, das wäre er“, gab sie traurig zu.
„Hast du es im stillen gehofft, Roxanne?“
Roxanne schluckte. Es fiel ihr schwer, sich nichts anmerken zu lassen. Jetzt
erkannte sie, wie stark der Wunsch im Unterbewußtsein gewesen war, ihren
Mann plötzlich auftauchen zu sehen. Weil er sie liebte und zurückholen wollte.
Wäre sie mitgegangen? Ja bis ans Ende der Welt! Doch Juan war nicht
gekommen.
„Ich hatte gehofft, daß er käme“, gestand sie.
Die Falten auf Joels Stirn vertieften sich. „Vergiß ihn, Roxanne. Reich die
Scheidung ein. Dann können wir bald heiraten. Wir fangen da an, wo wir
aufgehört haben – .“
„Man soll niemals wieder da anfangen, wo man aufgehört hat“, unterbrach sie
ihn. „Das wird nichts. Man hat sich doch inzwischen weiterentwickelt. Ich bin
hier, weil ich nicht wieder das Leben anfangen will, das ich vor meiner Ehe
führte.“
„Willst du denn für den Rest deines Lebens wie eine Sklavin arbeiten?“
„Ich arbeite nicht wie ein Sklavin“, erklärte sie. „Wie kommst du denn darauf?“
„Na, diese Freundin von Claire sagte, daß Mrs. ThorpeUtkinson nicht gerade sehr
liebenswürdig zu dir ist.“
„Das ist sie auch nicht. Aber deswegen macht sie noch lange keine Sklavin aus
mir. Glaubst du, das ließe ich mir gefallen?“
„Roxanne“, versuchte Joel sie zu überzeugen, „bitte, überlege dir meinen
Vorschlag.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Es ist zu spät, Joel. Ich liebe meinen Mann und werde ihn immer lieben.“
Sie blieb stehen und blickte ihm nach, wie er aus der Gartentür ging. Als sie
wieder ins Kinderzimmer kam, schliefen die beiden kleinen Mädchen noch. Vom
Fenster aus sah sie die Mutter zur Garage laufen und etwas später mit dem Auto
fortfahren. Sicher war sie wieder zu einer TeeParty eingeladen. Abends trafen
die jungen Frauen dann alle wieder zeitig zu Hause ein, machten sich schön und
begrüßten ihre Ehemänner, wenn diese mit dem Zug aus der Stadt kamen.
Roxanne nahm gerade die Kindersachen aus der Waschmaschine, als Dora, die
Putzfrau, in die Küche kam und ihr ein Telegramm gab.
„Für mich?“ Roxanne faßte sich an den Hals. Instinktiv wußte sie, daß dieses
Telegramm von Tom war. Sie hatte ihm regelmäßig geschrieben, von ihrem
Leben und ihrer Arbeit. Er hatte anscheinend wenig Zeit gehabt, ihre Briefe zu
beantworten. Ungeduldig riß sie das Telegramm auf. Jeder Blutstropfen wich aus
ihrem Gesicht, als sie las:
„Don Juan von Lupita angeschossen. Ernsthaft verletzt.“
Lupita… Dieses unverständliche Gemurmel von einem Gewehr, ihr Wahnsinn und
ihr Haß auf Juan…
„Ich habe es geahnt!“ stieß Roxanne gequält hervor. „Dora, kommen Sie bitte
her!“
„Ist etwas?“
„Ein ganz dringender Fall… Sie müssen auf die Kinder aufpassen, Dora, bis die
Mutter zurück ist.“
„Ausgeschlossen, Roxanne. Sie wissen sehr gut, daß ich nur bis halb drei bleiben
kann.“
„Sie müssen bleiben, Dora! Mein Mann ist ernstlich erkrankt. Ich muß zu ihm!“
„Ihr Mann? Ich wußte gar nicht, daß Sie verheiratet sind.“
„Bestellen Sie mir bitte ein Taxi, und rufen Sie dann den Flughafen an.“ Im
Hinauf laufen setzte Roxanne noch hinzu: „Wenn Sie die Verbindung mit dem
Flughafen haben, rufen Sie mich.“
„Sie können doch nicht einfach...“
„Ich kann!“ rief Roxanne. „Ich muß! Beeilen Sie sich, Dora, bitte!“
„Schon gut, schon gut“, murmelte Dora.
Roxanne lief in ihr Zimmer hinauf. Sie stopfte das ganze Geld, das sie besaß, in
eine kleine Reisetasche. Außerdem noch ihr Nachthemd und ein paar
Toilettesachen. Als letztes nahm sie ihren Paß. Sie riß ihren Mantel vom Bügel
und lief hinunter. Dora hatte endlich die Verbindung mit dem Flughafen.
Zwanzig Minuten später saß Roxanne im Taxi auf dem Weg dorthin.
Juan lag in einem Hospital in Mexico City. Man hatte ihn dorthin transportiert, als
man feststellte, daß er ein zweites Mal operiert werden mußte. Roxanne hatte
Tom vom Londoner Flughafen aus telegrafiert. Sie war ein wenig erleichtert, daß
er sie abholte.
„Was ist mit Juan?“ fragte sie sofort. „Sag mir die Wahrheit, Tom. Wird er –?“ Die
schreckliche Frage hatte sie die ganze Nacht im Flugzeug gequält.
„Ich weiß nur, daß er schwer verwundet ist. Die Kugel konnte entfernt werden.
Aber dann gab es Komplikationen, und man brachte ihn hierher ins Hospital zu
einer weiteren Operation. Es tut mir leid, Roxanne, daß ich dir nichts Genaues
sagen kann. Ich höre selbst nur auf Umwegen davon. Ein Mann, der auf der
Hazienda arbeitet, kam in meinen Laden. Von ihm habe ich die Informationen,
verstehst du? Darauf rief ich verschiedentlich im Hospital an und erfuhr jedesmal,
daß sein Zustand bedenklich sei.“
„Wie ist es überhaupt passiert?“
„Lupita wurde plötzlich wahnsinnig. Irgendwoher hatte sie auf einmal ein Gewehr
und schoß blindwütig auf ihn.“
Tränen liefen Roxanne über die Wangen. Die ganze Nacht lang hatte sie sich die
furchtbare Szene ausgemalt.
„Ich kann es nicht ertragen“, schluchzte sie. „Warum hat er Lupita nicht längst
davongejagt?“
Tom schwieg. Als sie sich etwas beruhigt hatte, fragte sie, wann es denn
geschehen sei.
„Ungefähr vor einer Woche. Aber ich hörte es erst vorgestern morgen und
schickte dir gestern das Telegramm. Es war doch bestimmt in deinem Sinn.“
„Ja, danke, Tom, ich werde es dir nie vergessen.“
Sie bogen in die Hospitalauffahrt ein. Fünf Minuten später starrte Roxanne auf
den dunklen Kopf in den Kissen. War Juan bewußtlos oder schlief er? Die
Schwester, die sie ins Zimmer geführt hatte, sprach kein Wort Englisch. Aber
bald kam der Arzt. Er sah sie etwas überrascht an, stellte jedoch keine Fragen,
woher sie kam und weshalb sie jetzt erst auftauchte.
„Ich freue mich, Sie zu sehen“, sagte er. „Ich hoffe, Senora, Sie können Ihrem
Mann den Lebenswillen wiedergeben.“
Ihr Herz krampfte sich zusammen. „Ich will alles tun, was ich kann“, versprach
sie.
„Sie leben getrennt?“
Sie nickte und fragte sich, woher er das wußte.
Juan habe im Delirium von seiner Frau phantasiert, erklärte der Arzt, aber auf
jede direkte Frage geschwiegen. „Wenn er glauben kann, daß Sie ihn lieben, wird
seine Genesung rapide Fortschritte machen, denke ich. Komplikationen sind nicht
mehr zu erwarten. Ihm fehlt nur der Lebensmut.“
„Will er denn sterben?“ murmelte sie fassungslos. Wollte Juan den Kampf
aufgeben und seiner toten Geliebten folgen? Sie machte eine hilflose
Handbewegung. „Was soll ich tun?“ fragte sie.
„Das habe ich Ihnen doch eben gesagt, Senora.“
„Aber Sie verstehen mich nicht. Ich bin es ja gar nicht, die er – .“ Sie brach ab.
Juan hatte die Augen geöffnet. In einem unbezwinglichen Impuls warf sie sich
über ihn, ohne zu überlegen, ohne an seine Verletzungen zu denken. Sie weinte
hemmungslos. „Verlaß mich nicht, Juan! Bleib bei mir – ich liebe dich, ich
brauche dich doch…“ Tränen stürzten aus ihren Augen und fielen auf sein Gesicht
herab. „Verlaß mich nicht“, stöhnte sie. „Doktor, Sie müssen ihm helfen!“
Liebevolle Hände zogen sie hoch. Der Arzt hielt sie fest, als sie wieder auf den
Füßen stand. „Lassen Sie ihn nicht sterben – auch wenn er es will!“
„Roxanne.“ Es war nur ein heiseres Flüstern. Sie wandte sich um, wischte mit
dem Handrücken die Tränen von ihrem Gesicht.
„Juan!“
„Komm zu mir.“
Der Arzt ließ sie los, und sie trat an das Bett.
„Juan…“ Sie beugte sich zu ihm und küßte ihn auf den Mund. „Verlaß mich nicht –
ich liebe dich. Auch wenn du mich nicht lieben kannst, ich bleibe bei dir.“
„Dich nicht lieben?“ Er stand unter betäubenden Mitteln und schien sehr müde.
Roxanne sah den Arzt fragend an. Aber eine beruhigende Handbewegung gab ihr
Mut.
Noch einmal flüsterte Juan schwach: „Dich nicht lieben? Ich habe es dir so oft
gesagt…“ Er drehte den Kopf auf den Kissen hin und her. „Hast du es eben
wirklich ernst gemeint?“
Ihre Lippen strichen über seine Wange. „Daß ich dich liebe? Ja, Juan, das ist
wahr.“
Aber was meinte er? War er nicht bei vollem Bewußtsein? Sie sah den Arzt an,
doch der beobachtete vom Fenster her seinen Patienten. Er schien beruhigter, als
vor ein paar Minuten.
„Du hast mir oft gesagt, daß du mich liebst, Juan?“ fragte Roxanne leise.
„Wann?“
„Vielleicht im Traum…“ Es kostete ihn Mühe, sich zu konzentrieren. „Ich habe so
oft geträumt, daß du hier warst – bei mir – und sagtest, du liebst mich. Ich habe
es dir auch immer wieder gesagt…“ Seine Stimme erlosch.
Mit einer kleinen, erschrockenen Geste deutete Roxanne dem Arzt an, daß sie
lieber gehen wolle. Sie fürchtete, daß die Unterhaltung Juan zu sehr aufrege.
Offensichtlich war es eine große Anstrengung für ihn. Aber der Arzt schüttelte
den Kopf.
„Wenn ich aufwachte, warst du immer verschwunden. Träume…“ murmelte Juan
tonlos.
„Liebling“, flüsterte Roxanne, „das ist jetzt kein Traum. Ich bin wirklich hier.“ Sie
nahm seine Hände und drückte sie sanft. „Lieber Juan, ich bin hier.“
Sein verschwommener Blick suchte den ihren. Seine Finger tasteten über ihr
Handgelenk. „Ja, es stimmt…“ Er schloß zufrieden die Augen.
Roxanne sah wieder den Arzt an, ohne ihn zu sehen. „Er liebt mich“, murmelte
sie, „mein Mann liebt mich.“
„Natürlich liebt er Sie, Senora“, erwiderte der. Arzt mit einem geraden Blick in ihr
hübsches Gesicht. „Wie sollte es anders sein?“ Dann wandte er sich wieder
seinem Patienten zu, der tief und gleichmäßig atmete. Der Abglanz eines
Lächelns lag um seinen Mund. „Es muß Sie doch wundern, daß ich ihn verlassen habe, obwohl ich ihn liebe. Ich glaubte, er liebt mich nicht. Ich glaubte – .“ Sie brach ab und schwieg. „Wollten Sie noch etwas sagen, Senora?“ Sie schüttelte den Kopf. Ein stilles Glück erfüllte sie. Jetzt war alles andere nebensächlich. Juan hatte den Wunsch zu leben, das allein zählte. Es gab noch viel zwischen ihnen zu klären, Mißverständnisse und Böses. Jeden Tag, den Roxanne ihn nun im Hospital besuchte, kamen sie sich näher. So erfuhr sie auch, daß er gleich nach der Heirat angefangen hatte, sie zu lieben. Er war entsetzt, daß Roxanne glauben konnte, er habe nur ihren Körper genommen und in seinem Herzen Marta die Treue gehalten. Er wurde richtig wütend. Roxanne sah ein, daß sie behutsamer vorgehen mußte. Sie sprachen über die Szene am Swimmingpool und warum sie danach einfach fortgelaufen war. „Du hast tatsächlich gedacht, ich hätte denselben Plan schon mit Marta gehabt?“ „Ja, du fingst wieder von meiner Haarfarbe an, von meinen Augen… Und da – .“ „Da hast du gedacht, ich sehe Marta in dir? Das hast du all die Monate gedacht, Roxanne? Wie konntest du dich so quälen? Wenn ich dich anschaue, meine ich dich!“ Sie sagte nichts. „Ich werde immer über deine Schönheit sprechen“, fuhr er in zärtlichem Ton fort. „Ich liebe alles an dir. Versprich mir, Roxanne, daß du nie wieder etwas falsch auslegst, was ich auch sage.“ „Ich verspreche es. Ich war verrückt, Juan.“ Jetzt wagte sie es auch, von seinen gelegentlichen Grausamkeiten zu sprechen, und daß sie überzeugt gewesen war, ihn niemals ganz für sich gewinnen zu können. Er gab zu, daß er sie in der Tat nur wegen ihrer Ähnlichkeit mit Marta geheiratet hatte. „Das war unrecht, und dafür hättest du mich hassen können. Aber hast du nicht gemerkt, was dann geschah?“ fragte er. „War es dir nicht mehr möglich, zu erkennen, daß ich dich liebe? Ich liebte dich so sehr und mußte deine Verachtung ertragen, deinen Hochmut. Es war wie Schläge auf eine offene Wunde. Alles Schlechte in mir kam zum Vorschein. Verzeih mir, Roxanne, daß ich dir so weh getan habe. Ich hatte dir ein Geburtstagsgeschenk gekauft und wartete so voller Ungeduld auf den Moment, es dir zu geben…“ „Und ich habe es mir so verzweifelt gewünscht, Juan“, gestand sie unter Tränen. „Ich habe es in deinem Schrank gesehen, als ich meinen Paß suchte. Juan, was war es?“ „Eine Handtasche. Aber das wichtigste Geschenk war in der Tasche – es sollte dir meine Liebe beweisen. Ein Armband aus Diamanten und Rubinen. Wenn wir nach Hause kommen, sollst du es haben.“ „Ich verdiene überhaupt nichts“, meinte sie beschämt. „Ich hätte dir viel eher sagen sollen, wie ich dich liebe.“ Tränenüberströmt sah sie ihn an. Sie weinte viel in diesen Tagen des Glücks. Juan fand nun, daß er den ersten Schritt hätte tun sollen. „Aber ich konnte mich nicht überwinden. Das war meine Schuld. Ich wußte, ich hatte dich dem Mann weggenommen, den du liebtest – oder zu lieben glaubtest. Das ist auch der Grund, weshalb ich dir nicht nachgereist bin. Ich war der festen Überzeugung, ich würde dich bei dem anderen finden.“ „Ich liebte dich“, erinnerte sie ihn. „Übrigens war Tom der einzig Kluge und Vernünftige. Er hat längst vermutet, daß ich dich von Anfang an heiraten wollte.“ „Er hat sicher recht, Roxanne. Sonst hättest du dich bestimmt gegen den Zwang
aufgelehnt. Habe ich dir nicht gesagt, daß wir füreinander bestimmt sind?“ Er sah
ihr in die schönen Augen.
„Damals wußte ich es nicht, Juan.“
„Macht nichts, Liebes, es ist ja alles gut geworden.“
Bei einer anderen Gelegenheit sprachen sie über Lupita. Bisher hatten sie beide
dieses Thema wohlweislich ausgeklammert. Einmal erwähnte Roxanne mehr
zufällig etwas, das Lupita ihr erzählt hatte, und nun bestand Juan darauf, mehr
zu hören.
„Ich möchte alles wissen, Roxanne“, forderte er.
Sie hatte keine andere Wahl, sie mußte beichten.
„Du armes Kind“, sagte Juan, als sie geendet hatte. „Warum bist du nicht zu mir
gekommen? Wir hätten uns viel ersparen können.“
„Sie tat mir irgendwie leid.“
„Sicher mußte man Mitleid mit ihr haben.“ Und nach einer Pause kam die gar
nicht so unglaubliche Enthüllung: „Lupita war Martas Mutter.“
„Martas Mutter?“ Roxanne war starr. „Dabei hätte ich es eigentlich ahnen
müssen“, sagte sie. „Erzähl, Juan.“
„Lupita hatte ein uneheliches Kind, als sie die Stellung bei Senora Lopes antrat.
Senora Lopes hatte gerade ein Kind verloren, und so wurde Lupita überredet, ihr
Kind abzugeben. Ich kann mir denken, daß sie damals sogar froh darüber war.
Der Tausch wurde geheimgehalten. Nur diejenigen, die direkt damit zu tun
hatten, wußten Bescheid. Ich habe übrigens erst nach Martas Tod davon
erfahren. Ich merkte ja, daß Lupita vor Kummer ganz gebrochen war, und einmal
kam dann die Geschichte heraus.“
„Arme Lupita.“ Roxannes hübsches Gesicht drückte Mitgefühl aus. „Glaubst du,
daß sie jemals wieder Frieden finden wird?“
„Sie hat ihn gefunden“, sagte er leise. Als Roxanne ihn verwundert ansah, fuhr er
fort: „Ich erhielt heute morgen die Nachricht, daß sie nach einem Herzanfall
gestorben ist, eine Woche nachdem sie in die Nervenklinik kam.“
„Tot.“ Roxannes Augen füllten sich mit Tränen. Aber sicher war es das beste für
Lupita. Ihr Leben war jahrelang nur unglücklich gewesen.
„Wein doch nicht, mein Herz.“
„Es tut mir leid, wenn ich an ihr Schicksal denke.“
„Nach allem, was sie dir angetan hat?“
„Es war Eifersucht. Sie hat ihre Tochter geliebt und verloren. Zweimal verloren.
Das hat ihren Geist verwirrt.“
Nachdenklich nickte er. Dann sprach er zum erstenmal davon, wie er nach Martas
Tod geglaubt hatte, das Leben bedeute ihm nichts mehr.
„Daß es nach diesem Schmerz noch einmal ein neues Glück geben könnte, hätte
ich nie gedacht, Roxanne. Aber die Zeit heilt, eilt, teilt. Eines Tages fing ich an,
die vernachlässigte Hazienda und das Land drumherum in Ordnung zu bringen.
Es machte mir Freude, alles wieder in altem Glanz erstehen zu lassen. Lupita
fühlte, daß ich Marta zu vergessen begann. Deswegen haßte sie mich. Ich wollte
sie oft davonjagen, aber dann hatte ich wieder Mitleid mit ihr. Und so unternahm
ich nichts, oder erst zu spät!“
Da der Arzt Roxanne gebeten hatte, sich strikt an die Besuchszeiten zu halten,
wurde jeden Tag ein anderes Thema behandelt Juan sollte nicht zu sehr
beansprucht werden.
Irgendwann fiel Roxanne Lupitas böse Bemerkung ein, Juan habe einmal einen
Mann erwürgt. „Natürlich glaube ich das nicht“, sagte sie. „Aber wie kam sie
darauf?“
Juan klärte den Sachverhalt.
„Es war ein Einbrecher. Er wehrte sich wie irre. Bis, die Polizei endlich eintraf, mußte ich ihn im Clinch halten, damit er nicht entkam. Aber er hat es überlebt.“ Er lachte und fügte hinzu: „Du brauchst keine Angst zu haben, Roxanne. Es wird niemals dazu kommen, daß ich dich erwürge – obwohl du mich manchmal zur Weißglut getrieben hast.“ „Das wird nie wieder geschehen“, versprach sie. „Juan – ich sah dich einmal in der Kapelle…“ Sie brach ab und sah ihn fragend an. „Ich ging jeden Morgen hin und betete um deine Liebe, darum, daß du mir vergeben solltest“, sagte er einfach. Sie beugte sich vor und küßte ihn. „Seltsam“, sagte sie, „irgendwie fühlte ich, daß mein Weg klarer wäre, wenn ich gewußt hätte, warum du betest. Aber ich wußte es nicht.“ „Warum hast du mich verlassen, Roxanne?“ „Weil ich überzeugt war, dich nie ganz für mich zu haben – wegen Marta. Deshalb ging ich.“ Sie berichtete ihm auch, wie sie in den Besitz ihres Passes gekommen war. Er sah sie überrascht an. „Lupita erzählte mir, sie hätte dich mit dem Paß in der Hand aus meinem Studio kommen sehen. Das war, als ich sie fragte, wie und wann du gegangen wärst.“ „Sie wollte, daß ich verschwand und versprach, mir dabei zu. helfen. Ich bekam den Paß von ihr. Doch wir wollen nicht mehr darüber reden. Die arme Lupita, sie war schlecht zu uns, aber sie war ja krank. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie mir zumute wäre, wenn ich unser – ich meine, wenn ich ein Kind verlieren würde.“ Er nickte und nahm ihre Hand. „Du hast recht, Liebste, wir wollen nicht mehr von Lupita sprechen. Sie soll ihren Frieden haben.“ Endlich war der Tag gekommen, an dem sie beide auf die Hazienda zurückkehren konnten. Roxanne saß mit klopfendem Herzen neben Juan im Wagen – in Toms Wagen. Er hatte darum gebeten, sie auf die Hazienda fahren zu dürfen. „Du siehst wunderbar aus!“ hatte Roxanne begeistert gerufen, als sie Juan im Hospital abholte. Er stand fertig angezogen in seinem Zimmer. Sein Gesicht war wieder kupferbraun, er wirkte gesund und vital. Seine Augen leuchteten auf, als sie eintrat. „Ich fühle mich auch wunderbar“, lachte er und zog sie in seine Arme. „Sag mir, wie ist das alles nur gekommen?“ „Ganz allmählich, glaube ich. Eines Tages wußte ich dann Bescheid. Man weiß doch nie genau, wann etwas beginnt – oder? Wie war es denn bei dir?“ Er horchte, ob die Schwester kam, um zu melden, daß Tom mit dem Wagen vorgefahren sei. Es blieb still. „Ich habe dich am ersten Morgen nach unserer Heirat geliebt, Roxanne. Ich sah auf einmal überhaupt keine Ähnlichkeit mehr. Du warst nur du, Roxanne, eine eigene Persönlichkeit mit eigenen Gewohnheiten und bezaubernd schön.“ Er schloß sie fester in die Arme und sagte in ihre halbgeöffneten Lippen: „Du bist meine einzige Geliebte – meine Frau.“ Er küßte sie. Als die Schwester eintrat, fuhren sie auseinander. Der Abschied von ihr und den beiden Ärzten, die sie zum Ausgang begleiteten, war herzlich. Juan bedankte sich bei allen. Tom wartete vor dem Auto. Als Roxanne sein strahlendes Gesicht sah, fragte sie: „Hast du das Große Los gewonnen, Tom?“ „Mehr als das. Phil hat geschrieben, sie kommt. Sie will – kannst du es dir nicht denken, Roxanne?“ „Klar. Sie will dich heiraten.“ Während der Fahrt beugte Juan sich plötzlich zu Tom vor. „Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Tom.“
„Aber nein, ich bin so froh, daß alles ein gutes Ende gefunden hat.“
„Wenn ich mich nicht entschuldigen darf, möchte ich wenigstens meinen Dank
aussprechen. Das tue ich hiermit sehr herzlich. Roxanne und ich verdanken unser
Glück der Tatsache, daß Sie ihr das Telegramm nach London geschickt haben.“
Alle drei schwiegen. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt.
Nach einer Weile brach Juan das Schweigen.
„Ich hoffe, wir werden zur Hochzeit eingeladen“, sagte er lachend.
Tom war begeistert. „Wir würden uns sehr freuen, Don Juan.“
Vor der Eingangstür der Hazienda verabschiedete Tom sich von Roxanne und
Juan. Hand in Hand standen sie beide dann auf der Treppe und sahen Toms
Wagen nach, bis er verschwunden war.
„Wir sind wieder nach Hause gekommen.“ Roxannes ganzes Glück lag in diesen
Worten. Sie wandte sich zum Haus um, weiß und prachtvoll lag es im hellen
Sonnenschein.
„Ja, wir sind wieder zu Hause“, sagte Juan.
Hand in Hand stiegen sie die Marmorstufen empor, zu der weit geöffneten
Haustür.
Es war der schönste Tag im Leben des .Schwarzen Adlers’ und seiner sanften
englischen Frau.
Tage, Nächte, Wochen, Monate und Jahre lagen vor ihnen. Eine Zeit, die
unendlich schön werden sollte, nach allem, was sie hinter sich hatten.
Als erstes wollte Juan den Swimmingpool bauen lassen, so wie sie es seinerzeit
geplant hatten.
Die Freundschaft mit Tom und seiner zukünftigen Frau wollten sie pflegen, denn
gerade ihm hatten sie doch ihr Wiederfinden zu verdanken. Auch Juans Familie
würden sie in ihren engsten Kreis einbeziehen.
Der .Schwarze Adler’ hatte keine gebrochenen Schwingen, er war nur weiser
geworden.
Und zur Kapelle wollten sie jetzt gemeinsam gehen und für alle diejenigen beten,
die gewollt oder ungewollt versucht hatten, Schicksal zu spielen – die Toten, die
Unglücklichen, die an sich selbst Verzweifelten.
So begann ein neues Leben auf der Hazienda Ramires.