Kleine Jugendreihe
L. Owalow
Die mexikanische Agave Erzählungen über Major Pronin
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERL...
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Kleine Jugendreihe
L. Owalow
Die mexikanische Agave Erzählungen über Major Pronin
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1959
10. Jahrgang, 2. Märzheft
Gekürzte Fassung Veröffentlicht 1959 im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin W 8, Taubenstraße 10 Lizenz Nr. 3 – 285/64/59 Alle Rechte vorbehalten Umschlag und Illustrationen; Karl Fischer Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden m-9-5 185
Inhalt des l. Teils der Abenteuer Major Pronins Im Jahre 1919 erhält der junge Tschekist Pronin den Auftrag} sich als Untermieter bei einer ehemals reichen Petersburgerin namens Borezkaja einzuquartieren und ihr Haus zu beobachten. In diesem Haus versammelt sich nachts die weißgardistische Verschwörergruppe „Blaue Schwerter“, doch Pronin merkt nichts davon. Nichtsahnend schläft er sogar in einem Zimmer mit dem Organisator der konterrevolutionären Umtriebe, den ihm Frau Borezkaja als ihren Neffen vorstellt. Schließlich gelingt es Pronin aber doch, die Verschwörer unschädlich zu machen. Lediglich der „Neffe“ entgeht der Verhaftung, und, im Winter desselben Jahres stehen sich die beiden Widersacher erneut gegenüber. Diesmal sucht Pronin nach wichtigen Dokumenten, die über die Grenze geschmuggelt werden, während der „Neffe“ sich für einen Rotarmisten ausgibt. Wiederum glückt dem „Neffen“ die Flucht, doch aus den sichergestellten Schriftstücken geht hervor, daß er Bogers heißt und ein ausländischer Agent ist. Drei Jahre später kommt Pronin einer Diversantengruppe auf die Spur, die im Ural Bergwerksstollen sprengt. Die Gruppe tarnt ihre Zusammenkünfte als Märchenabende, sogar ein Märchensammler ist zugegen. Pronin erkennt in ihm den „Neffen“, wird jedoch niedergeschlagen. Als er im Krankenhaus zu sich kommt, erfährt er, daß man den „Märchensammler“ als einzigen hat laufen lassen, da er zufällig in die Gesellschaft der Diversanten geraten zu sein schien. Pronins bester Freund ist Viktor, den er als dreizehnjährigen Jungen im Jahre 1919 kennenlernt und der ihm mehrmals aus der Bedrängnis hilft. Viktor ist fest entschlossen, ebenfalls Tschekist zu werden.
Die Hühner der Dusja Zarewa Es war Anfang der dreißiger Jahre. Viktor kehrte aus einer der Unionsrepubliken zurück, wo sowjetische Funktionäre einem feindlichen Anschlag zum Opfer gefallen waren. Nach der Berichterstattung begab er sich sofort zu Pronin. Im Wohnzimmer des Majors befand sich noch alles an seinem alten Platz. Der Tisch war bis auf die kleine Puschkinbüste wie immer leer. Die Wand hinter dem Schreibtisch bedeckte eine Landkarte. Neben der Tür hing die alte Gitarre, ein Geschenk der Zigeunersängerin Olga Wassiljewna, der Pronin einst das Leben gerettet hatte. An dem einen Fenster stand der Diwan, über dem ein kostbarer Wandteppich mit einem altertümlichen Säbel und vielen Pistolen hing. Sogar ein kleiner Krummdolch befand sich darunter – als Erinnerung an einen weit zurückliegenden Fall, bei dem Pronin beinahe das Leben eingebüßt hätte. Der Hausherr lag auf dem Diwan, umgeben von einigen Dutzend Broschüren und Heftchen. Nach dem offenstehenden Hemdkragen der Uniformbluse und den Hausschuhen zu schließen, nahm er es mit dem Lesen sehr ernst. „Hast dich ja reichlich lange nicht blicken lassen, mein Lieber“, rügte er Viktor gutmütig, ohne sich zur Begrüßung zu erheben. „Möchtest du Tee trinken?“ „Das müssen Sie doch zugeben, Iwan Nikolajewitsch“, klagte Viktor, „es lohnt sich wirklich nicht, mich wegen so einer Lappalie in den Himmel zu heben…“ Fast von seinem dreizehnten Lebensjahr an war Viktor Pronins Zögling. Früher hatte er ihn geduzt, doch später, als er herangewachsen war und unter Pronins Leitung arbeitete, mußte er ihn gemäß der Dienstvorschrift mit Sie anreden; diese Anredeform war ihm so in Fleisch und Blut überge-
gangen, daß er sie auch im privaten Umgang gebrauchte, während Pronin bei dem alten Du geblieben war. „Ja, ja“, unterbrach ihn Iwan Nikolajewitsch, „ich habe schon von deinen Heldentaten gehört. Wenn ich mich auch auf dem Diwan aale – über dich bin ich stets auf dem laufenden. Sag mir lieber, was für Ungeziefer auf Geflügel schmarotzt.“ Viktor beugte sich über die ringsum verstreuten Broschüren und las: „Geflügelzucht“, „Industrielle Geflügelzucht“, „Der Mechanismus der Inkubatoren“, „Die Hühner und ihre Pflege“, „Die Pflege von Hausvögeln“, „Hühnerwürmer und ihre Bekämpfung“. „Agascha, bitte Tee!“ rief Iwan Nikolajewitsch durch die Tür seiner Haushälterin zu. Dann kniff er verschmitzt die Augen zusammen und fragte: „Sag mal, Viktor Petrowitsch, weißt du eigentlich, wodurch sich Plymouth-Rocks von Rhodeländern unterscheiden? Was für eine Temperatur in den Inkubatoren herrscht? Womit eben ausgeschlüpfte Küken gefüttert werden?“ Agascha, eine gemütliche ältere Frau, brachte den Tee und ging wieder hinaus. Pronin aber holte einen Stoß Schulhefte aus dem Schreibtisch hervor und legte sie mit den Worten „Amüsier dich damit!“ vor Viktor hin. „Ich versteh nichts“, sagte Viktor verärgert, während er in den Heften blätterte. „Hühner, nichts als Hühner, Hühnerherzen, Hühnermagen. Was soll das?“ „Die Sache ist die“, erklärte ihm Pronin schulmeisternd, „daß ein gewöhnlicher Bürger drei, vier oder mehr Jahre studiert, um auf einem beliebigen Gebiet Fachmann zu werden, während ein Tschekist fähig sein muß, sich binnen einer Woche zu spezialisieren… Selbstverständlich würde ich einem solchen Sieben-Tage-Arzt nicht empfehlen, sich an die
Behandlung von Kranken zu wagen“, meinte Pronin, „doch er muß sich in Gesellschaft anderer Ärzte so bewegen können, daß niemand den Verdacht schöpft, einen Schuster vor sich zu haben.“ „Deshalb also…“ „Ja, ich habe mir vorgenommen, in einer Woche ein einigermaßen erträglicher Ornithologe zu sein.“ Viktor rührte nachdenklich mit dem Teelöffel im Glas… Er hatte im Laufe der langen Jahre, die er mit Pronin zusammen war, immer wieder den Fleiß und die Energie dieses Menschen bewundert, der nur eine Grundschule besucht hatte. Man mußte schon die Begabung eines Pronin haben, um sich so viel Kenntnisse anzueignen, daß man sogar Gespräche mit Fachleuten wagen konnte. „Darf ich wissen, was für Hühner Sie eigentlich veranlaßt haben, sich mit Ornithologie zu befassen – sofern das kein Geheimnis ist?“ fragte Viktor. „Für dich nicht, du sollst mir sogar helfen, diese ganze Hühneraffäre aufzuklären“, antwortete Pronin. „Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, daß sich unweit von“ – er nannte eine Stadt in Zentralrußland – „eine große Geflügelsowchose befindet. Eines Tages ging dort innerhalb weniger Stunden ein ganzer Hühnerstall ein. Und zwar an bösartiger Geflügelcholera! Was da los war, warum diese Krankheit plötzlich auftrat, das weiß kein Mensch. Quarantäne wird verhängt, der befallene Hof isoliert, und die Gefahr scheint lokalisiert. Eine Woche vergeht, und plötzlich fegt wieder eine unsichtbare Hand einen ganzen Hühnerhof leer. Es vergeht noch eine Woche, und dieselbe Geschichte passiert zum drittenmal. Die Geflügelcholera ist es, sagen die Fachleute. Aber woher kommt sie? Die Leiter der Farm zucken die Achseln: Was soll man tun, Epidemie ist Epidemie. Aber wir, wir ha-
ben uns die Sache durch den Kopf gehen lassen und sind zu dem Schluß gekommen, daß es nicht schaden dürfte, sich mal näher damit zu befassen. Die Bakteriologen stellen zur Zeit zahlreiche Versuche an, Mittel zur Bekämpfung von Epidemien ausfindig zu machen. Aber könnte es nicht sein, daß sich unsere Feinde mit entgegengesetzten Experimenten befassen? Kurzum, Vorbeugungsmaßnahmen würden nicht schaden. Deshalb soll noch ein Beauftragter von unserer Dienststelle in die Sowchose fahren…“ „Und der wäre?“ „Der Mann, der vor dir sitzt.“ „Womit sich unsereins doch alles befassen muß“, sagte Viktor seufzend. „Wann wollen Sie fahren?“ Iwan Nikolajewitsch warf einen Blick auf die Heftchen und Broschüren. „Wenn ich das alles gelesen habe…. so in drei Tagen.“ „Und was soll ich damit?“ Viktor wies auf die Broschüren. „Soll ich das vielleicht auch alles lesen?“ Agascha unterbrach ihr Gespräch. „Iwan Nikolajewitsch, ein Bote steht draußen. Ein dringender Brief von Ihrer Arbeitsstelle.“ Pronin ging in den Flur, quittierte den Empfang und kam ins Zimmer zurück. Ohne Hast öffnete er den versiegelten Umschlag, ließ das darin enthaltene Telegramm auf den Tisch fallen und las das Begleitschreiben. Er zog die Brauen zusammen, seine Augen wurden dunkel, dann reichte er Viktor das Blatt. Das Telegramm kam aus der Sowchose und hatte folgenden Wortlaut: „Geflügelwärterin Zarewa gestern unter Anzeichen Arsenvergiftung verstorben. Untersuchung eingeleitet.“ „Tja“, stieß Iwan Nikolajewitsch gedehnt hervor. „Da werd ich die Lektüre wohl aufstecken müssen. Noch heute fahre
ich in die Sowchose.“ Auf dem Bahnhof fand sich niemand, der Pronin in die verseuchte Sowchose gefahren hätte, er mußte zu Fuß gehen. Noch bei Tageslicht kam er an. Der Flechtzaun, der um die Wirtschaftsgebäude, Häuser und Gemüsegärten gezogen war, reichte weit hinaus aufs Feld. Vor dem niedrigen Staketentor saß ein alter Wächter. „Wohin, mein Lieber?“ Er hielt Pronin an. „In der Sowchose ist Quarantäne…“ Der Major mußte lange auf den Alten einreden, bis dieser ihm schließlich Einlaß gewährte. Dabei war das eine höchst merkwürdige Quarantäne, brauchte man doch nur ein paar Schritte seitwärts zu gehen, um ohne jegliche Erlaubnis an einer beliebigen Stelle über den Zaun zu klettern. Pronin sah lange Reihen von Inkubatoren und Geflügelställen, ein Kühlhaus, Schuppen, Lager, Kuh- und Pferdeställe und ganz hinten die Wohnhäuser der Arbeiter und Angestellten. An Pferchen mit Tausenden gackernden Hühnern vorbei ging Pronin zu einem Teich hinab, den knorrige Silberweiden umstanden, und stieg über eine Erdböschung zu dem einstöckigen Balkenhäuschen hinauf, in dem sich das Büro und die Wohnung des Direktors befanden. Pronin traf ihn im Büro an. Kowalenko – so war sein Name – trug eine verblichene grüne Militärbluse; mit seinen strengen blauen Augen schien er kein sehr freundlicher Mensch zu sein. Als er erfuhr, daß Pronin aus Moskau gekommen war, teilte er ihm mit, was für Maßnahmen man zur Bekämpfung der Seuche getroffen hatte, und fragte ihn um Rat. Aber Pronin bat zunächst nur um die Fragebogen der Arbeiter und Angestellten. Kowalenko konnte seine Enttäuschung über den Moskauer kaum verbergen. Die Sowchose brauchte die Hilfe eines tüchtigen Geflügelzüchters, statt dessen kam
ein x-beliebiger Mann, der sich nicht einmal fürs Federvieh interessierte. Nach allem, was Pronin schon in Moskau über Kowalenko in Erfahrung gebracht hatte, hielt er es für ausgeschlossen, daß dieser an einem Verbrechen beteiligt war. Ehemaliger Rotarmist, hatte er sich mit den Krasnow- und Denikinleuten geschlagen und erfüllte jetzt als guter Kommunist die ihm übertragene Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen. Der Lebensweg von Kowalenko war geradlinig und klar. Dennoch ließ es sich Pronin nicht nehmen, ihn noch einmal auf Herz und Nieren zu prüfen, obwohl er sah, daß Kowalenko während des Gesprächs nur mit Mühe seinen Ärger unterdrückte. Erst nachdem Pronin sich zwei Stunden mit dem Direktor unterhalten hatte, gab er sich schließlich zu erkennen. „Verdammt noch mal!“ rief der Direktor erleichtert aus. „Und ich wollte Ihnen schon den Kopf waschen!“ Er war offenkundig geschmeichelt durch das Vertrauen, das ihm der Major erwies. Pronin nahm an, irgendein übriggebliebener Kulak habe sich in seinem Rachedurst die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Hühner zu verseuchen. Daher erkundigte er sich bei Kowalenko eingehend nach allen Mitarbeitern der Sowchose und besonders nach der Zarewa. „Sehen Sie“, sagte der Direktor, „ich hab mich verpflichten müssen, nicht darüber zu sprechen. Ihnen aber, denke ich, darf ich es anvertrauen. Beim Sezieren der Leiche hat sich herausgestellt, daß die Zarewa an Cholera gestorben ist. Die asiatische Cholera und die Geflügelcholera sind verschiedene Dinge. Letztere überträgt sich nicht auf Menschen, also hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Aber Tatsache bleibt Tatsache. Wir wollen keine Panik verbreiten. Alle
notwendigen Maßnahmen sind natürlich getroffen worden. Wir haben die Quellen und Brunnen untersucht – nirgends ist was zu finden. Neue Krankheitsfälle sind auch nicht aufgetreten. Das Zimmer der Zarewa wurde versiegelt. Drei Tage sind bereits vergangen. Es scheint, die Gefahr ist vorüber – wozu die Leute also unnütz beunruhigen? Die Symptome bei Arsen Vergiftung und Cholera sind fast die gleichen, und so ist niemand darauf gekommen, daß hier ein Fall von Cholera vorliegt. Für unsere Mädels stand sofort fest: Die Zarewa hat sich vergiftet; gewissenhaft, wie sie war, konnte sie sich ihre vermeintliche Fahrlässigkeit nicht verzeihen. Die Menschen lassen ja, wie Sie wissen, nur zu gern ihre Phantasie spielen.“ „Ich habe eine große Bitte an Sie“, wandte sich Pronin an den Direktor. „Erzählen Sie doch überall herum, ich hätte einen überwältigenden Eindruck auf Sie gemacht. Sie müssen sagen: Dieser Bursche wird bestimmt dahinterkommen, warum sich die Zarewa vergiftet hat; dem bleibt nichts verborgen. Verbreiten Sie das überall, und setzen Sie die Leute gleichzeitig davon in Kenntnis, daß ich alle zu mir bitte, die mir auch nur das Geringste über die Zarewa mitteilen können.“ Viktor hatte von Pronin den Auftrag erhalten, alle Bakteriologen ausfindig zu machen, deren Spezialgebiet die Geflügelseuchen waren; der Verbrecher konnte sich ihre Forschungsergebnisse zunutze gemacht haben. Geduldig fuhr nun der junge Mann von einem Bakteriologen zum anderen. Er gab sich als Mitarbeiter der Sowchose aus, erzählte den Gelehrten von der Epidemie, die die Hühner seiner Sowchose befallen habe, stellte allen die gleichen Fragen und bekam von allen den gleichen Rat: sich umgehend an die zuständige tierärztliche Behörde zu wenden.
Wahrend er so kreuz und quer durch Moskau fuhr, gelangte er auch zu Professor Poltorazki, einem alten Gelehrten und erfahrenen Pädagogen, der schon manche Generation von Wissenschaftlern erzogen hatte. Viktor wurde in das Laboratorium geführt. Das Zimmer war mit hohen weißen Tischen vollgestellt, auf denen unzählige Behälter, Glaskolben, Reagenzgläser und Meßgefäße standen. Trotzdem machte es einen geräumigen und freundlichen Eindruck, der wohl von dem feinen und durchsichtigen Glasgeschirr herrührte, das in Fülle vorhanden war. Poltorazki, ein graubärtiger alter Mann mit frischem Gesicht, stand in einem weißen Kittel neben einem Spirituskocher und wärmte ein Kolbenglas, das mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt war. Um ihn herum drängten sich Studenten; aufmerksam hörten sie ihrem Mentor zu. „Na, mein Lieber, was haben Sie denn auf dem Herzen?“ fragte der Professor seinen Besucher in jenem gönnerhaft nachlässigen Ton, in dem manche älteren Professoren mit ihren Studenten zu reden pflegen. „Ich brauche dringend Ihren Rat“, sagte Viktor. „In so einem Fall sollten Sie am besten mein Schüler werden.“ Der Professor lachte. „Wir bilden Sie aus, und alle Konsultationen erübrigen sich.“ Er stellte den Glaskolben ab, blies den Brenner aus und verteilte die Flüssigkeit aus dem Kolben auf mehrere Reagenzgläser. „Und nun, Genossen“, sagte er, an die Studenten gewandt, „versuchen Sie mal, diese Brühe zu beleben! Wem das als erstem gelingt, der…“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, rief den Studenten nur noch zu: „Nehmen Sie die Mikroskope zu Hilfe!“ und trat zu Viktor. „So, jetzt können wir miteinander reden.“ Er setzte sich auf einen Schemel und bot dem Besucher eine ebensolche Sitzgelegenheit an. Wieder erzählte Viktor pe-
dantisch und monoton die Geschichte von den erkrankten Hühnern. Der Professor machte ein nachdenkliches Gesicht, wurde dann plötzlich lebhaft, als habe er sich auf etwas besonnen, und fragte seinerseits den Besucher: „Die Geflügelcholera sagen Sie? Interessant! Zwei, drei Stunden vergehen, und alle Hühner liegen auf dem Rücken? Wie die Infektion eingeschleppt wurde, scheint mir weniger wichtig, vielleicht durch eine Taube, rein zufällig – das spielt keine Rolle. Viel wichtiger ist der schnelle Krankheitsverlauf. Sie haben sich doch nicht geirrt: Ist es wirklich die Cholera und keine Vergiftung?“ Er sprang auf und rief die Studenten zu sich. „Der Genosse hier berichtet über einen höchst interessanten Cholerafall mit außergewöhnlich raschem Verlauf. Drei Hühnervölker waren sofort tot. Die gewöhnliche Cholera verläuft weniger intensiv…“ Viktor begriff nicht, was den Professor so erregte, aber schon die Tatsache, daß er auf seine Standardfragen keine Standardantworten erhielt, gab ihm Auftrieb, und er hörte dem Gelehrten aufmerksam zu. „Vor etwa fünfzehn Jahren arbeitete ein Doktor Burzew unter meiner Leitung“, fuhr der Professor fort und ließ sich wieder auf dem Schemel nieder. „Ein talentierter, vielversprechender Bakteriologe. Später trennte er sich von mir und begann selbständig zu arbeiten, ich interessierte mich aber auch weiterhin für seine Experimente. Vor sieben oder acht Jahren… ja, vor acht Jahren unternahm Burzew Versuche mit Bakterien der asiatischen Cholera und choleraartigen Erkrankungen. Zuerst machte er seine Experimente an Kaninchen und Hühnern, dann nur noch an Hühnern. Er erzielte erstaunliche Resultate: Die Krankheit verlief ungewöhnlich intensiv, das infizierte Huhn verreckte binnen einer Stunde.
Burzew forschte nach einem Serum gegen diese Art Cholera…“ Der Professor hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Da ereignete sich in Burzews Laboratorium ein tragischer Fall: Seine Assistentin und zwei Laboranten, die mit ihm gearbeitet hatten, erkrankten plötzlich und starben. Aus Fahrlässigkeit? Vermutlich. Wer war der Schuldige? Keiner wußte es zu sagen. Das Unglück war für Burzews Nerven zuviel, vielleicht aber hatte er auch Angst vor der Verantwortung; kurzum, er nahm sich das Leben, er ertränkte sich.“ Der Professor hielt nachdenklich ein Reagenzglas gegen das Licht und stellte es dann wieder auf den Tisch. „Schauen Sie“ – es klang, als wollte er sich rechtfertigen – , „jeder von uns hat mit seinen eigenen Forschungen den Kopf voll. Niemand führte Burzews Arbeit fort. Seine Aufzeichnungen und Hefte sind im Besitz seiner Frau, sie enthalten aber nur Hypothesen, nichts Präzises, nichts Konkretes. Aber wenn sich etwas Derartiges nicht nur im Laboratorium ereignet hat, sind wir verpflichtet, uns damit zu beschäftigen. Man sollte Burzews Hinterlassenschaft noch einmal durchsehen, vielleicht…“ Fragend blickte er Viktor an. „Ich möchte heute abend Burzews Witwe einen Besuch abstatten. Wollen Sie mitkommen?“ Im Büro der Sowchose erschien ein ganzer Schwarm Freundinnen der Zarewa. Zögernd blieben sie auf der Schwelle stehen und stießen einander verlegen an. Die bevorstehende Aussprache mit einem Fremden und der ernste Anlaß, aus dem man sie hatte rufen lassen, machte sie etwas befangen. Doch Pronin gewann rasch ihr Vertrauen, und nicht lange, so wußte er alles über die Zarewa, was er zu erfahren wünschte. Das Mädchen stammte aus dem Nachbardorf, ihre Eltern waren schon lange tot, der Bruder arbeitete in einem Rostower Werk. Sie war vier Jahre in der Sow-
chose Geflügelwärterin gewesen, und man hatte sie sehr geschätzt. Im vergangenen Jahr wurde sie sogar als Aktivistin ausgezeichnet. Sie hatte aber nicht die Absicht, ihr Leben lang Geflügelwärterin zu bleiben. Es war ihr Wunsch, in der Stadt an der Feldscherschule oder auf dem tierärztlichen Technikum zu studieren. Daher besuchte sie im Winter Abendkurse für Erwachsene, die in Lipezki, dem Kreiszentrum, stattfanden. Außerdem ging sie regelmäßig ins nächste Dorf zum Feldscher, der ihr half, sich zur Aufnahme in die Schule vorzubereiten. „Vielleicht war sie in ihn verliebt und hat sich aus unglücklicher Liebe vergiftet?“ fragte Pronin unvermittelt. Da prusteten die Mädels vor Lachen. „Wo denken Sie hin, der ist doch steinalt!“ Kowalenko hatte sein Bestes getan, um Pronins Bitte zu erfüllen, und so riß der Besucherstrom bei ihm vom frühen Morgen an nicht ab. Aber alle Aussagen liefen auf das eine hinaus: Wahrscheinlich hatte das Mädchen den Kopf verloren, sich an den Vorfällen auf der Hühnerfarm die Schuld gegeben und aus Kummer darüber Gift genommen. Der Gemüsegärtner Silantjew äußerte flüsternd den Verdacht, womöglich habe Aljoscha Korschunow das Mädchen heimlich vergiftet, er sei seit langem erfolglos hinter ihr her gewesen. Man hätte Silantjew sofort beruhigen können, wenn man ihm gesagt hätte, daß Dusja Zarewa gar nicht durch Arsen umgekommen war. Aber Pronin ließ auch Korschunow rufen, mit dem er dann allerdings weniger streng als mit den anderen sprach, tat ihm doch der Bursche, der vom Weinen ganz rote, geschwollene Lider hatte, aufrichtig leid. Es fiel Pronin nicht schwer, bei seinen Gesprächspartnern den Eindruck eines außerordentlich scharfblickenden Menschen zu hinterlassen, was sich dann auch schnell in der
Sowchose und im Dorf herumsprach. Gegen vier Uhr erschien ein stämmiger Mann von etwa vierzig Jahren bei Pronin. Er hatte ein verwittertes, ausgemergeltes Gesicht, und seine fahlen Wangen waren mit rötlichen Stoppeln übersät. Unter den dichten dunklen Brauen blickten kluge graue Augen hervor. Er trug einen billigen blauen Anzug und an den bloßen Füßen Sandalen. „Feldscher Gorochow“, stellte sich der Eintretende vor. „Ist es gestattet?“ „Natürlich, das trifft sich ja ausgezeichnet!“ rief Pronin erfreut. „Ich hatte mir gerade vorgenommen, am Abend mal bei Ihnen vorzusprechen!“ „Sie wollten sich wohl mit mir über die Zarewa unterhalten?“ fragte Gorochow. „Schade um sie, jammerschade, so ein prachtvolles Mädel! Sie sind sicherlich über das Sektionsresultat unterrichtet…“ „Ja.“ „Ich halte es natürlich für richtig, daß die Todesursache geheimgehalten wird, es ist nicht notwendig, die Bevölkerung unnütz zu beunruhigen“, fuhr Gorochow fort… „Aber alles, was man bei uns macht, macht man falsch. Die Zarewa ist bereits begraben, aber ihre Wohnung wurde noch nicht desinfiziert. Aus diesem Grunde bin ich eigentlich zu Ihnen gekommen. Obwohl bei uns bisher kein einziger verdächtiger Fall von Magenerkrankung vorliegt, ist und bleibt es eine Unvorsichtigkeit. Es ist doch schließlich keine große Sache, eine Desinfektion vorzunehmen…“ Gorochow unterhielt sich noch lange mit Pronin. Er berichtete über die Sowchose, über seine Praxis, und als er nach Hause ging, nahm er Pronin das Versprechen ab, die Erlaubnis zu erwirken, das Zimmer der Zarewa zu desinfizieren. Früh am nächsten Morgen traf sich Pronin mit dem Unter-
suchungsrichter. Dieser entsiegelte das Zimmer der Zarewa, und Pronin äußerte den Wunsch, es selbst in Augenschein zu nehmen. Während er dort zwei volle Stunden zubrachte, wartete der Untersuchungsrichter auf der Vortreppe, fest davon überzeugt, daß die Haussuchung ergebnislos verlaufen würde. Erst als Pronin fertig war, schickten sie nach dem Feldscher, der auch nicht lange auf sich warten ließ und mit einer großen Flasche Formalin erschien. Sie setzten zu dritt ein Protokoll über das Hab und Gut der Zarewa auf, wobei jedes Kleidungsstück, jeder Kissenbezug, jede Halskette, sämtliche Hefte und Bücher, Briefe des Bruders, Puderdöschen, leere Flakons, die den Nachttisch zierten, einzeln aufgezählt wurden – mit einem Wort alles, bis zur letzten Haarnadel und Heftzwecke. Dann schickte der Direktor dem Feldscher zwei Frauen zu Hilfe, die das Zimmer gründlich reinigten. Pronin und der Untersuchungsrichter gingen inzwischen spazieren. Kurz darauf blitzte Dusjas Zimmer vor Sauberkeit und roch so infam nach Formalin, daß jeder, der es betrat, Kopfschmerzen bekommen mußte. Die Sachen der Zarewa wurden auf einen Lastwagen verladen, und der Untersuchungsrichter forderte Gorochow auf, mit ihm nach Lipezki zu fahren, um dort eine Akte über die Beschlagnahme der Sachen und die durchgeführte Desinfektion aufzusetzen. Pronin, der bereits vor Müdigkeit gähnte, verabschiedete sich von ihnen, doch zum Erstaunen Kowalenkos ging er nicht ins Büro zurück, wo schon sein Nachtlager gerichtet war, sondern erklärte, vor dem Schlafengehen noch ein wenig frische Luft schnappen zu wollen. Erst beim Morgengrauen langte er in der Sowchose an, Kowalenko hörte den Gast behutsam die Vortreppe heraufstei-
gen. Als aber einige Stunden später der Lastkraftwagen am Büro vorfuhr, trat Pronin frisch und munter aus dem Hause. Er begrüßte den ihm auf dem Fuße folgenden Kowalenko, nahm von Gorochow die Kopie der Akte in Empfang, die der Untersuchungsrichter mitgeschickt hatte, und konstatierte wie beiläufig, ihm sei das Bild dessen, was sich in der Sowchose abgespielt habe, völlig klar, er werde nach Moskau zurückfahren. Dann bat er, ihn bis zur Station zu bringen. Jelisaweta Wassiljewna Burzewa war eine blasse Frau, Anfang der Vierzig, aber früh gealtert, mit feinem, leicht ergrautem Haar, das sie altmodisch in Flechten um den Kopf gewunden trug. In dem halbdunklen Vorraum konnte sie den Professor nicht sogleich erkennen und fragte daher kühl nach seinem Begehr. Als er seinen Namen nannte, wurde sie rot vor Verlegenheit. Aufgeregt bat sie Poltorazki und Viktor herein. „Es ist aber nicht schön von Ihnen, Jelisaweta Wassiljewna, daß Sie Ihre alten Bekannten vergessen haben“, scherzte Poltorazki. Dann stellte er ihr Viktor vor. „Aber Jakow Sacharowitsch, ich freue mich riesig über Ihr Kommen“, sagte Frau Burzewa, noch verlegener als zuvor. Eine Weile unterhielten sie sich über Jelisaweta Wassiljewnas Leben. Nach dem Tode ihres Mannes hatte sie Stenographiekurse besucht und dann in einem großen Maschinenbaubetrieb zu arbeiten begonnen. Sie lebte mit ihrer älteren Schwester zusammen, die den Haushalt führte. Ganz unvermittelt aber brach Poltorazki dieses Thema ab und sagte: „Wir sind nämlich in einer bestimmten Angelegenheit zu Ihnen gekommen. Erinnern Sie sich, Ihr Mann besaß doch allerhand Hefte mit Aufzeichnungen über seine Experimen-
te. Warum soll seine Arbeit vergeblich gewesen sein? Wir wollen einige seiner Versuche wiederholen. Ich möchte Sie daher bitten, mir seine Aufzeichnungen mal für kurze Zeit zu leihen.“ „Gern“, erwiderte Jelisaweta Wassiljewna schlicht. „Sie liegen noch in seinem Schreibtisch.“ Sie verschwand im Nebenzimmer und tuschelte dort mit ihrer Schwester. Gleich darauf hörte man das Klappern von Schlüsseln, eine Schublade wurde herausgezogen… Plötzlich schrie Jelisaweta Wassiljewna leise auf und sprach dann erregt und lauter als vorher mit ihrer Schwester. Ganz verstört erschien sie wieder bei ihren Gästen, hinter ihr im Türrahmen tauchte die Schwester auf. „Es ist mir unbegreiflich, Jakow Sacharowitsch!“ rief Burzews Frau aus. „Die Schublade ist leer! Und Olga sagt, sie habe die Aufzeichnungen nicht angerührt. Jahrelang hat keiner von uns das Schreibfach aufgemacht!“ Der Professor blickte Viktor verblüfft an. Dieser erhob sich. „Gestatten Sie uns bitte, den Schreibtisch anzusehen?“ „Ich wollte Sie gerade dazu auffordern“, rief Jelisaweta Wassiljewna hastig. „Es ist kaum zu glauben!“ Der Professor und Viktor folgten den Frauen ins Nebenzimmer. Die Schubladen des Schreibtisches waren herausgezogen. Bücher, Briefe, Muscheln, eine getrocknete Krabbe lagen darin. Zwei Laden waren völlig leer. Viktor besah sie sich genauer: die Ränder bedeckte eine feine Staubschicht. Das Schloß war intakt. Viktor, der seine Rolle als Poltorazkis Begleiter ganz vergaß, fing an, die Frauen auszufragen. Diese aber waren so betroffen und aufgeregt, daß sie gar nicht schnell genug aussprechen konnten, was sie über das merkwürdige Ver-
schwinden der Papiere dachten. Fast immer war eine von ihnen zu Hause. Jelisaweta Wassiljewna ging des Morgens zur Arbeit, Olga Wassiljewna verließ die Wohnung nur kurz, um einzuholen. Hin und wieder sahen sie sich abends einen Film an. Aber sie schlossen die Wohnung stets sorgfältig ab. Selten hatten die beiden Frauen Gäste. Ein Einbruchsversuch war niemals vorgekommen, und auch sonst konnten sie sich an nichts Verdächtiges erinnern. Viktor aber ließ nicht locker und forschte weiter: Wer konnte, während ihrer Abwesenheit, in ihren Zimmern gewesen sein? Schließlich erinnerte sich Olga Wassiljewna daran, daß seit sieben Jahren ein Mann zu ihnen kam, der die Fußböden bohnerte. Aber niemals war etwas abhanden gekommen. Vor sechs Monaten war auch noch ein Installateur dagewesen, er hatte die Heizkörper nachgesehen. Beide Frauen waren so außer sich über das geheimnisvolle Ereignis, daß nicht viel fehlte, und sie hätten losgeweint. Viktor und der Professor konnten sie nur mit Mühe beruhigen. Sie verabschiedeten sich. Wieder auf der Straße, geleitete Viktor den Professor zum Wagen und ließ ihn einsteigen. „Und Sie?“ fragte dieser. „Entschuldigen Sie bitte – ich möchte hier in der Nähe noch einen Bekannten aufsuchen.“ „Aber lassen Sie sich unbedingt bei mir sehen“, bat der Professor. „Ganz bestimmt!“ rief ihm Viktor nach. Jelisaweta Wassiljewna hatte ihm die Anschrift des „Bohnermannes“ gegeben, und Viktor wollte sich noch beim Hausverwalter nach dem Heizungsinstallateur erkundigen. „Wir holen uns immer einen aus dem Nachbarhaus“, erhielt
er zur Antwort. „Was wollen Sie denn von ihm? Die Heizkörper werden immer im Herbst nachgesehen.“ „Und was wollte er vor einem halben Jahr?“ „Was meinen Sie damit? Der Heizungsinstallateur kommt nur einmal im Jahr.“ „Nun, in einigen Wohnungen wurden doch die Heizkörper vor einem halben Jahr nachgesehen.“ „Wir bevorzugen niemand“, entgegnete der Verwalter abschließend. „Die Heizkörper sind bei uns recht gut instand.“ Viktor aber suchte trotzdem den Installateur auf, und dieser versicherte ihm, daß er die Wohnung der Frau Burzewa nahezu ein ganzes Jahr nicht betreten habe. Zu Hause angelangt, überlegte Viktor, ob er zu Pronin fahren oder den rätselhaften Installateur suchen sollte. Da es aber so gut wie unmöglich ist, in Moskau einen Menschen zu finden, von dem man nur weiß, er ist groß, mittleren Alters und sieht jugendlich aus – mehr hatte er von den beiden Frauen nicht erfahren können – , entschloß sich Viktor, Pronin in der Sowchose aufzusuchen. Gerade in dem Augenblick, als er sich das vornahm, klopfte es an die Tür, und Pronin stand auf der Schwelle. „Sie brauche ich gerade!“ entfuhr es Viktor mit einem Seufzer der Erleichterung. „Ich war eben auf dem Sprung, zu Ihnen zu fahren.“ Pronin drückte Viktor herzlich die Hand und bat: „Kann ich Tee haben?“ „Ich war der Sache schon auf der Spur“, rief Viktor. „Und auf einmal… trete ich auf der Stelle.“ Rasch deckte Viktor den Tisch und schaltete den elektrischen Teekessel ein. Bis das Wasser kochte, erzählte er kurz von seinem Besuch bei Poltorazki und den verschwundenen Aufzeichnungen.
„Aber ist wirklich ein Installateur bei den Frauen gewesen? Vielleicht haben sie nur die Papiere nicht herausrücken wollen? Haben dir nur die leeren Schubladen vorgeführt?“ „Und der Staub?“ ,,Was hat das zu besagen? Vielleicht haben sie die Aufzeichnungen schon früher irgendwohin versteckt?“ Viktor schüttelte den Kopf. „Nein, ein Heizungsinstallateur ist bestimmt dort gewesen. Andere Mieter haben ihn ebenfalls gesehen.“ „Nun gut. Aber muß er unbedingt der Dieb sein?“ „Glauben Sie, daß er es nicht gewesen ist?“ „Und was hast du getan, um ihm auf die Spur zu kommen?“ Viktor zuckte die Achseln. „Ich brauche Ihren Rat!“ Pronin lächelte: „Ich bin ja schließlich kein Sherlock Holmes, es genügt mir nicht, irgendwo auf der Treppe ein einzelnes Härchen zu finden, um an seiner Farbe das Aussehen und den Charakter des Verbrechers festzustellen. Aber ich habe einen anderen Auftrag für dich.“ Er breitete ein sorgsam zusammengefaltetes Taschentuch aus und wies auf eine Ampulle, die mit einer farblosen Flüssigkeit angefüllt war. „Erstens mußt du ein Geschäft für Laboratoriumsausrüstung aufsuchen und hundert solcher Ampullen kaufen. Dann begibst du dich ins bakteriologische Laboratorium und läßt den Inhalt dieser Ampulle hier prüfen. Am nächsten Morgen bringst du mir die Analyse und die Ampullen in meine Wohnung, und im Laufe des Tages ziehst du über sämtliche Mitarbeiter Erkundigungen ein, die in den letzten zwei, drei Jahren vor Burzews Tod mit ihm zusammen gearbeitet haben. Am Abend fahre ich dann in die Sowchose zurück.“ Nachdem Pronin seinem Assistenten all diese Aufträge erteilt hatte, ging er nach Hause, legte sich schlafen und wurde
erst durch Viktors Erscheinen wach. Er nahm die Analyse in Empfang, las sie durch und stieß einen Pfiff aus. Dann betrachtete er eingehend die Schachteln mit den Ampullen. Er schien zufrieden zu sein. „Das klappt ja alles ausgezeichnet“, lobte er Viktor. „Und jetzt beeil dich, damit du den letzten Auftrag noch schaffst. Komm nicht später als gegen sieben Uhr zu mir.“ Viktor aber tauchte schon wesentlich vor der Zeit auf. „Burzew hatte ein ganz kleines Laboratorium“, berichtete er schuldbewußt, denn er spürte, daß Pronin eine solche Antwort nicht erwartete. „Mit ihm zusammen arbeiteten nur eine Assistentin und zwei Laboranten – einer davon war Feldscher gewesen. Alle drei sind umgekommen und längst unter der Erde. Die Fragebogen habe ich auf alle Fälle an mich genommen.“ Viktor reichte Pronin die Personalakten, auf die er seine Bemerkungen gekritzelt hatte. „Schade.“ Pronin schien bestürzt. „Ich hatte angenommen, Burzew habe wesentlich mehr Mitarbeiter gehabt!“ Schweigend las er Viktors Bemerkungen durch und versank in Nachdenken. „Nun, macht nichts, irgendwie werden wir schon weiterkommen“, meinte er schließlich zuversichtlich. Am Abend des nächsten Tages saßen bei Kowalenko zwei Gäste – Pronin und der Untersuchungsrichter. „Lassen Sie morgen früh noch einmal Gorochow kommen“, sagte Pronin zu dem Untersuchungsrichter, als Kowalenko nach dem Essen den Raum verließ. „Unterhalten Sie sich wiederum über die Zarewa mit ihm, und setzen Sie irgendein Protokoll auf. Halten Sie den Feldscher so an die drei Stunden fest – die brauche ich unbedingt, um noch eine weitere Nachprüfung vorzunehmen.“ „Sie glauben doch nicht gar, daß Gorochow etwas mit der
Vergiftung dieser Hühner zu tun hat?“ fragte der Untersuchungsrichter mißtrauisch. „Er lebt schon bald zehn Jahre hier, und alle kennen ihn. Ihr Verdacht scheint mir wenig begründet.“ „Das wird sich herausstellen“, wich Pronin aus. „Ich muß Sie dennoch bitten, meine Anordnung auszuführen.“ „Nun gut, nehmen wir an, Sie haben recht“, erwiderte der Untersuchungsrichter. „Wird ihn aber die übermäßige Beachtung nicht stutzig machen?“ „Mir scheint, er hat hinsichtlich unserer Fähigkelten keine allzu hohe Meinung. Ihnen kann ich es ja sagen: Wenn mich nicht alles täuscht, wird er sich erst aus dem Staube machen, nachdem ich ihm einen bestimmten äußerlich harmlosen Satz gesagt habe…“ Am nächsten Morgen verließ Pronin die Sowchose, noch bevor der Feldscher erschien. Um ihm nicht zu begegnen, machte er einen Umweg ums Dorf. Er ging zur Sanitätsstelle. Im Ambulatorium tröstete gerade die Krankenschwester Marusja eine alte Frau, die einen vereiterten Finger hatte. „Ist Kusma Petrowitsch da?“ fragte Pronin nach Gorochow. „Er ist in die Sowchose gegangen“, antwortete Marusja. „Nun, da warte ich eben draußen auf ihn“, sagte Pronin, ging hinaus und betrat vom Flur aus Gorochows Zimmer. Er hielt sich dort nicht lange auf, kehrte ins Ambulatorium zurück, plauderte eine Weile mit Marusja und ging schließlich wieder, ohne den Feldscher abgewartet zu haben. Als Pronin in der Sowchose anlangte, saß Gorochow immer noch bei dam Untersuchungsrichter. „Ich bin bei Ihnen gewesen, Genosse Gorochow“, sagte Pronin freundlich, als er das Zimmer betrat. „Guten Tag.“ „Sehr angenehm“, antwortete Gorochow höflich und lächelte Pronin ruhig zu. „Man ist Ihnen zuvorgekommen, hat
mich hierherbestellt. Wenn Sie mich aber brauchen, stehe ich jederzeit…“ „Danke sehr, es ist auch so schon alles klar“, entgegnete Pronin. „Höchste Zeit, die Sache zu beenden oder – wie man so sagt – den Kreis zu schließen.“ „Es ist gut, daß dieser traurige Fall seinen Abschluß findet.“ „Ja“, stimmte Pronin ihm zu. „Morgen abend trifft nämlich Professor Poltorazki ein.“ „Was ist denn das für ein Poltorazki?“ fragte der Untersuchungsrichter. „Ein bekannter Bakteriologe“, erklärte Pronin. „Wir haben in Moskau beschlossen, unser Gutachten von einem anerkannten Spezialisten bestätigen zu lassen. Wir wollen ganz sicher gehen.“ „Sehr richtig“, bemerkte Gorochow. „Ein Professor ist in diesem Fall wirklich die größte Autorität.“ „Eben deshalb bin ich bei Ihnen gewesen. Bereiten Sie sich auf eine Unterhaltung mit ihm vor. Wer weiß, für welche Einzelheiten er sich interessiert, und Sie sind schließlich hier der einzige, der etwas von Medizin versteht!“ „Es wird mir eine Ehre sein“, sagte Gorochow. Dann ließ der Untersuchungsrichter den Feldscher gehen. Ohne besondere Eile überquerte er den weiten Hof der Sowchose. Noch lange blickten ihm die beiden durchs Fenster nach. „Nun?“ fragte der Untersuchungsrichter, nachdem er mit Pronin allein geblieben war. „Stimmt Ihre Vermutung?“ „Fast. Hoffen wir, daß er heute nacht versucht, das Dorf zu verlassen.“ „Sollte ihm dieser Professor Poltorazki einen solchen Schrecken einjagen?“
„Der Professor ist gar nicht eingeladen. Sein Name genügt.“ „Ich habe eigentlich keine Reaktion bei dem Feldscher bemerkt“, konstatierte der Untersuchungsrichter. „Sie wird wohl noch diese Nacht erfolgen!“ schloß Pronin das Gespräch. Das Dorf erwachte. Graue Rauchwölkchen stiegen aus den Schornsteinen empor. Pronin und der Untersuchungsrichter fuhren zum Ambulatorium. Der Major sprang aus dem Wagen, lief die Vortreppe hinauf und klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Marusja kam gerade mit einem Wassereimer hinter dem Haus hervor. „Ihr schlaft aber lange!“ schrie ihr Pronin entgegen. „Kusma Petrowitsch ist fortgefahren“, antwortete Marusja in der gleichen Lautstärke. „Er wurde dringend in die Abteilung Gesundheitswesen gerufen. Es war noch dunkel, als er zum Zug gegangen ist.“ „Na sehen Sie!“ rief Pronin dem Untersuchungsrichter zu. „Führen Sie bitte gleich eine sorgfältige Haussuchung durch und geben Sie mir Nachricht.“ Er drückte dem Untersuchungsrichter die Hand. „Ich fahre gleich zum Bahnhof.“ Pronin ließ den Chauffeur kurz vor dem Bahnhof umkehren und ging zu Fuß zum Haus des Stationsvorstehers. Bald darauf setzte zwischen dessen Wohnung und dem Bahnhof ein ungewöhnliches Treiben ein. Der Vorsteher rannte zur Kasse, kam wieder zurück und lief noch einmal hin, um einen Telegraphisten zu dem Major zu schicken. Als endlich der Moskauer Zug einfuhr, stieg Pronin nicht wie üblich von der Bahnsteigseite aus in sein Abteil, sondern von hinten. Während der Fahrt spielte er unbekümmert mit seinen Reisegefährten Karten oder hielt ein kurzes Nickerchen. Kaum war der Zug in Moskau angelangt, da mischte sich
Pronin auch schon unter die Menge, die sich auf dem Bahnsteig drängte. Ununterbrochen beobachtete er einen der Waggons und seufzte erleichtert auf, als endlich Gorochow in der Tür erschien, in grauem, zerschlissenem Mantel, eine zerknautschte Mütze auf dem Kopf. In der Hand hielt er einen altmodischen Reisesack aus Segeltuch. Er blickte sich griesgrämig um, stieg ohne Eile die Wagenstufen hinab und mischte sich ebenfalls unter den Menschenstrom, der zum Ausgang drängte. Pronin folgte ihm in zwanzig Schritt Entfernung, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sich in dem Gewimmel langsam vorwärts bewegend, sah Gorochow angespannt geradeaus. An der Sperre staute sich die Menge der Reisenden. Nachdem auch Pronin die Sperre passiert hatte, biß er sich vor Wut auf die Lippen: Gorochow schritt bereits ohne Reisesack dem Ausgang zu; der Mann, den Pronin suchte, hatte sich schon längst aus dem Staube gemacht. Pronin überlegte nicht lange. Er beschleunigte den Schritt und holte Gorochow ein. „Genosse Gorochow“, rief er. „Guten Tag!“ Gorochow drehte sich schnell um. „Ach, Sie sind es, Genosse Pronin!“ sagte er. „Sie sind wohl auch mit diesem Zug angekommen? Komisch, ich habe Sie gar nicht gesehen!“ „So was kann passieren“, bemerkte Pronin und fragte dann rasch: „Und wo haben Sie Ihren Reisesack gelassen?“ „Großer Gott!“ rief Gorochow entsetzt. „Wie habe ich das nur nicht bemerken können! Der ist mir bestimmt gestohlen werden!… Es war allerdings nichts Besonderes darin.“ Pronin nahm Gorochow unauffällig bei der Hand. „Darf ich Sie bitten, mit mir zu fahren.“ „In die Verwaltung für Geflügelzucht?“ fragte Gorochow
mit leisem Spott. „Beinahe getroffen!“ antwortete Pronin. „Kommen Sie.“ Sie betraten den Bahnhofsplatz. Dort wartete bereits Viktor mit einem Wagen. Einige Minuten später hielten sie vor der Kommandantur. Pronin flüsterte Viktor einen Befehl zu, und der Wagen setzte sich wieder in Fahrt. Der Major führte Gorochow in sein Arbeitszimmer und wies auf einen Stuhl. „Setzen Sie sich. Unterhalten wir uns ein wenig miteinander. Vielleicht erzählen Sie mir noch einmal, was Ihnen über den Tod der Hühner bekannt ist?“ Gorochow blickte Pronin böse an. „Ich weiß nichts“, entgegnete er patzig. „Ich habe nicht das geringste damit zu tun.“ „Nun, dann will ich Ihnen auf die Sprünge helfen.“ Pronin telefonierte nach einer Stenotypistin. Sie setzte sich an einen kleinen, abseits stehenden Tisch. Alle schwiegen. Es hatte den Anschein, als warte Pronin auf irgend etwas. Nach einer kleinen Weile läutete das Telefon. Pronin nahm den Hörer ab, lauschte und sagte kurz: „Bitte.“ Die Tür wurde ohne vorheriges Anklopfen geöffnet, und in Begleitung von Viktor trat eine Frau Anfang der Vierzig ins Zimmer, mit krankhaft blassem Gesicht und leicht ergrautem Haar, das in Flechten um den Kopf gewunden war. „Jelisaweta Wassiljewna Burzewa“, stellte Pronin laut und vernehmlich vor, obwohl er die Frau selbst das erstemal zu Gesicht bekam. Jelisaweta Wassiljewna lächelte verlegen und sah die Anwesenden schüchtern der Reihe nach an. Plötzlich blieb ihr Blick an Gorochow haften, und wie ein Schatten lief es über ihr Gesicht. „Aljoscha!“ schrie sie auf, taumelte, und hätte Viktor sie nicht aufgefangen, wäre sie bestimmt zu Boden gesunken.
Gorochow, der sich erhoben hatte, ließ sich sogleich wieder in den Sessel fallen. „Aljoscha, wo warst du denn die ganzen Jahre?“ fragte Jelisaweta Wassiljewna leise. Sie erhielt keine Antwort. „Na, wollen Sie Ihrer Gattin nicht etwas über Ihr Leben erzählen?“ fragte Pronin kalt. „Ich hab auf dem Lande gelebt…“, stammelte Gorochow unsicher. „Verzeih mir, Lisa… aber ich konnte nicht. Ich lebte auf dem Lande und konnte nicht… Ich bitte dich, mir zu verzeihen…“ „Nicht ein einziges Mal… nicht ein einziges Mal…“, sagte die Frau bitter. Dann wandte sie sich mit einem kurzen Ruck an Pronin und fragte mit dumpfer Stimme: „Was wünschen Sie eigentlich von mir?“ „Wir wollten nur feststellen, ob es Ihr Mann ist“, erläuterte Pronin. „Sie dürfen mit ihm sprechen.“ Jelisaweta Wassiljewna sah ihren Mann nicht mehr an. „Wir haben uns nichts zu sagen“, antwortete sie mit sichtbarer Selbstbeherrschung. „Dieser Mensch hat mich verlassen, und ich sollte glauben, er sei tot. Das liegt bereits acht Jahre zurück… Wenn Sie also etwas von mir wollen, rufen Sie mich, wenn er nicht hier ist.“ „Wir werden uns nach Ihrem Wunsch richten“, sagte Pronin. „Entschuldigen Sie bitte, aber es ging nicht anders.“ Er geleitete Jelisaweta Wassiljewna zur Tür und setzte sich dann wieder an den Schreibtisch. „Und jetzt, Doktor Burzew, reden wir offen miteinander!“ „Es gibt nichts zu reden, und ich werde auch nichts aussagen“, sagte Burzew verstockt und blickte weg. „Das heißt also, daß ich beginnen muß. Gut. Aber wo ich mich Ihrer Meinung nach irre, berichtigen Sie mich bitte; Sie
sind ja besser informiert als ich. Vor acht Jahren forschte der junge Gelehrte Burzew nach den Erregern der asiatischen Cholera und choleraähnlicher Erkrankungen. Er errang beachtliche Erfolge und erfand sogar ein Verfahren, die Züchtung der Bakterien sowie den Krankheitsverlauf zu beschleunigen. In wissenschaftlichen Kreisen wußte man von den Versuchen Burzews, selbst in ausländischen Fachzeitschriften wurde darüber berichtet. Besonders interessierte sich aber eine kapitalistische Großmacht für Burzews Entdeckung. Natürlich nicht, weil sie ihre Untertanen vor dieser Krankheit schützen wollte, diese Erfindung sollte zur Vernichtung der Menschheit dienen. Ausländische Gelehrte und wißbegierige Touristen besichtigten Burzews Laboratorium, unter ihnen auch eine Person, die zu einem bestimmten Zweck geschickt worden war. Burzew setzte seine Versuche fort und führte sie an Menschen durch. Wir wissen nicht, ob er dazu provoziert wurde oder sich selbst dazu entschlossen hat – jedenfalls mußten seine drei engsten Mitarbeiter ihr Leben lassen…“ „Das ist ein Produkt Ihrer lebhaften Phantasie“, unterbrach Burzew Pronins Erzählung und starrte auf seine Schuhspitzen. „Es ist einfach nicht wahr!“ „Vielleicht fahren Sie besser selbst fort?“ fragte Pronin. „Nein“, antwortete Burzew starrköpfig. „Ich höre.“ „Mag sein, daß ich mich irre“, sagte Pronin. „Es ereignete sich also besagter Unglücksfall. Nun aber packte Burzew die Furcht vor der Verantwortung, vielleicht war auch jemand da, der ihn damit einzuschüchtern versuchte. Jedenfalls zog er es vor, zu verschwinden und damit gleichzeitig der Person, die ihn eingeschüchtert hatte, zu entwischen. Er eignete sich die Papiere seines verstorbenen Laboranten, eines ehe-
maligen Feldschers, an, täuschte einen Selbstmord vor und tauchte schon nach kurzer Zeit unter falschem Namen auf. Jahrelang ließ man Burzew völlig in Ruhe, und er selbst schien sich mit seiner bescheidenen Lage abgefunden zu haben. Aber einige Staaten bereiteten sich von neuem auf einen Krieg vor, und dort erinnerte man sich auch an Doktor Burzew. Es war nicht schwer, ihn ausfindig zu machen, wußte doch eine gewisse Person, unter welchen Umständen er verschwunden war. Eines schönen Tages also wurde die Sanitätsstelle von einem Inspektor der Abteilung Gesundheitswesen aufgesucht. Er stellte sich als eben der Mann heraus, der Burzew schon einmal besucht hatte. Dem Bakteriologen Burzew wurde befohlen, Choleraimpfstoff herzustellen. Ich nehme an, daß Burzew sich anfangs widersetzte, aber da wurde ihm mit Enthüllungen gedroht. Nun erklärte er, ihm würden seine Aufzeichnungen und Tagebuchblätter fehlen. Dieselben wurden gestohlen und mitsamt einer primitiven Laboratoriumseinrichtung ins Dorf gebracht. Burzew fügte sich und nahm seine ehemaligen Versuche wieder auf. Die Wirksamkeit des Impfstoffs mußte unbedingt in der Praxis überprüft werden. Mit ein paar Hühnern zu Hause zu experimentieren genügte nicht mehr. Daher beschloß Burzew, Dusja Zarewa für seine Zwecke auszunutzen. Wahrscheinlich hat sich Burzew dem Mädchen gegenüber nicht schlecht verhalten, hat mit ihr gelernt und sie ermuntert, immer noch weiterzulernen. Es ist natürlich, daß Dusja ihren Lehrer verehrte – so ging es übrigens allen, die mit diesem klugen, gebildeten Feldscher zu tun hatten. Dusja vertraute Gorochow, und dieser wiederum verließ sich auf
das Madchen. Er gab ihr ein Präparat und redete ihr zu, es in das Wasser der Hühnerfarm zu schütten. Wahrscheinlich erzählte er ihr, er habe ein Mittel gefunden, das Wachstum des Geflügels zu beschleunigen, oder zumindest etwas in der Richtung. Belogen hat er sie bestimmt, denn es ist nicht anzunehmen, daß Dusja Zarewa der Sowchose Schaden zufügen wollte. Die Hühner gingen ein, und das Mädchen lief aufgeregt zum Feldscher. Er faselte ihr aber irgend etwas vor, wandte alle seine Überzeugungskünste an, und so erreichte er schließlich, daß sie seinen Rat noch zweimal befolgte. Nach dem dritten Experiment aber erkannte Dusja, daß sie ein Verbrechen begangen hatte. Sie wollte ihre Schuld bekennen. Da führte Gorochow einen neuen Versuch an Dusja selbst durch. Die gerichtliche Untersuchung begann, Gorochow verfolgte sie von weitem und gelangte zu der Überzeugung, daß ihm nicht die geringste Gefahr drohe. Burzew verstand es meisterhaft, sich zu beherrschen, als er vernahm, Professor Poltorazki würde kommen. Eine Zusammenkunft mit dem Gelehrten mußte aber unweigerlich zu seiner Entlarvung führen. Daher faßte er den Entschluß, nach Moskau zu flüchten, den hergestellten Impfstoff abzugeben und darum zu ersuchen, ihn fernerhin in Frieden zu lassen. Von der Bahnstation aus teilte er seine Ankunft in einem Telegramm mit. Leider ist uns die Anschrift des Empfängers nicht bekannt, das Telegramm wurde postlagernd aufgegeben. In Moskau übergab er den Impfstoff einer Person, die ihn auf dem Bahnhof erwartet hatte.“ Pronin erhob sich und legte den Briefbeschwerer an einen anderen Platz, als wollte er einen Schlußstrich unter die Erzählung ziehen. „Was sagen Sie nun?“ fragte er Burzew.
„Es stimmt“, bekannte Burzew kaum vernehmbar. Er bat um Wasser. „Viktor“, ordnete Pronin an, „seien Sie so freundlich…“ Viktor schenkte Wasser in ein Glas und stellte es vor Burzew hin, der es aber nicht trank. Er schien seine Bitte plötzlich vergessen zu haben. „Jetzt aber teilen Sie uns mit, wer dieser Mensch gewesen ist“, verlangte Pronin streng. „Ich kenne niemand. Lassen Sie mich in Ruhe!“ „Aber Sie sind Gorochow gewesen, haben den Impfstoff hergestellt und die Zarewa umgebracht – das können Sie nicht leugnen.“ „Ich gebe alles zu“, sagte Burzew gleichgültig. „Ich habe die verbrecherischen Versuche durchgeführt und die Hühner vergiftet. Aber niemand hat mir den Auftrag dazu erteilt. Den Reisesack hat man mir gestohlen.“ Pronin lächelte. „Ich kann Ihnen versichern, wir werden den Dieb mit Ihrer Hilfe ausfindig machen…“ Er stockte mitten im Satz und beugte sich so heftig über den Schreibtisch, daß der Bleistiftständer umfiel. Aber zu spät! Burzew hatte blitzschnell die Hand zum Munde geführt und etwas mit einem Schluck Wasser hinuntergespült. „Einen Arzt, Viktor!“ rief Pronin. „Verdammter Blödsinn…“ Er packte Burzew am Arm. „Lassen Sie mich los“, rief dieser, „schließlich bin ich ja selbst… Arzt.“ „Wer, wer hat Sie auf dem Bahnhof abgeholt?“ schrie Pronin.
Burzew aber gab keine Antwort mehr. Seine Augen quollen
glasig hervor, und er sank bewußtlos in Pronins Arme. Am Abend gingen Pronin und Viktor alle Einzelheiten des Falls Burzew in Pronins Wohnung noch einmal durch. „Der Feldscher verlangte also eine Desinfektion“, erzählte Pronin. „Das war vernünftig, doch für den Fall, daß ihn sonst noch etwas in Dusjas Zimmer interessierte, wollte ich lieber selbst vorher alles in Augenschein nehmen. Ich kroch in sämtliche Ecken und Winkel, sah in den Ofen, untersuchte alle Kleidungsstücke, die Nippsachen, sogar den Kehricht vor der Tür. Endlich fiel mein Blick auf ein paar winzige Glassplitter im Nachttisch, zwischen Ketten, Haarnadeln und Knöpfen; bei der ersten Haussuchung hatte man sie wohl gar nicht bemerkt. Ich legte die Splitter fein säuberlich wieder an ihren Platz zurück. Dann kam Gorochow aus dem Dorf, und zusammen mit ihm und dem Untersuchungsrichter durchsuchte ich das Zimmer noch einmal. Jetzt beging Burzew seinen ersten Fehler: Die Splitter – zweifellos stammten sie von einer Ampulle – verschwanden unbemerkt.“ „Ja“, fuhr Pronin nach einer kleinen Pause fort, „es ist gefährlich, zu dem hinterlassenen Corpus delicti zurückzukehren! Aber so ist nun einmal die Psychologie des Verbrechers: Verliert er einen Knopf, so bildet er sich ein, alle müßten diesen Verlust sofort bemerken, obwohl Dutzende ebensolcher Knöpfe in derselben Zeit von Dutzenden anderer Menschen verloren werden. Ich wollte aber ganz sicher gehen, daher beschloß ich, heimlich die Sanitätsstelle und die Wohnung Gorochows zu durchsuchen. Damit der Feldscher mich dabei nicht überraschte, bat ich den Untersuchungsrichter, ihn bis zum Morgen in Lipezki aufzuhalten. Die ganze Nacht suchte ich, bis ich in einem Verschlag hinter dem Wohnzimmer ein richtiggehendes kleines Laborato-
rium entdeckte. Ich fand mehrere Schachteln mit leeren Ampullen und in einem besonderen Versteck dreiundsiebzig volle. Da mich der Inhalt dieser Ampullen interessierte, nahm ich eine davon mit und legte an ihre Stelle eine wassergefüllte. Die Untersuchungen im Moskauer Labor ergaben, daß die Ampulle einen außergewöhnlich wirksamen Choleraimpfstoff enthielt. Es war aber weder die Geflügelcholera noch die asiatische Cholera, sondern eine weit heftiger verlaufende, bisher unbekannte choleraähnliche Krankheit, der sowohl Hühner wie Menschen befallen konnte. Als du mir über deine Nachforschungen erzähltest, nahm ich anfangs an, Gorochow sei einer der ehemaligen Mitarbeiter Burzews. Sie waren aber alle tot, und bei mir tauchte die Vermutung auf, ob es nicht vielleicht Burzew selbst sein könnte. In Gorochows Geheimlabor fiel mir noch etwas auf: Die Schachteln mit den Ampullen waren in eine diesjährige Nummer der Zeitung „Moskau am Abend“ eingewickelt. Er aber hatte das Dorf jahrelang nicht verlassen und auch keinerlei Pakete erhalten, folglich mußte ihm jemand die Ampullen gebracht haben. Es fiel nicht schwer, unter dem Deckmantel harmloser Gespräche in Erfahrung zu bringen, daß vor etwa fünf, sechs Monaten die Sanitätsstelle von einem Inspektor der Abteilung Gesundheitswesen überprüft worden war. Auf meine Rückfrage, wann diese Überprüfung stattgefunden habe, antwortete die Abteilung Gesundheitswesen, die Sanitätsstelle unterstehe dem Leiter des Bezirkskrankenhauses, würde also nicht unmittelbar von ihr kontrolliert. Wer also hatte Gorochow besucht? Wahrscheinlich derselbe Mann, dem er das Telegramm schickte, bevor er nach
Moskau abreiste. Natürlich habe ich angeordnet, den Menschen, der das Telegramm abholt, beobachten zu lassen, aber bisher hat keiner nach der Depesche gefragt. Sie ist auf den Namen Korotschkin adressiert. Wahrscheinlich hat der Mann, der das Telegramm holen sollte, einen ähnlichen Familiennamen genannt und, während der Schalterbeamte den Stapel durchsah, gemerkt, daß für Korotschkin etwas dabei war. Das genügte ihm, um zu wissen, daß Burzew nach Moskau kommen würde… Ja, Burzew kann nun keinen Schaden mehr anrichten. Doch der andere, sehr viel gefährlicher und wendiger als er, befindet sich noch immer auf freiem Fuße. Er versteht es, sich zu maskieren, es wird nicht leicht sein, seiner habhaft zu werden.“
Die mexikanische Agave Pronin saß in seinem Dienstzimmer am Schreibtisch und zeichnete spielerisch rote und blaue Quadrate auf ein Blatt Papier. „Ich verstehe Sie nicht, Iwan Nikolajewitsch!“ rief Viktor gereizt aus und sprang vom Sofa auf. „Sie wissen, daß sich irgendwo in Moskau ein gefährlicher Verbrecher versteckt, aber das rührt Sie gar nicht.“ „Geduld, mein Lieber“, beschwichtigte ihn Pronin. „Zugegeben, jemand hat von Burzew Impfstoffampullen erhalten, zugegeben, ich habe nicht aufgepaßt. Aber jetzt ist Burzew tot, und ich habe keinerlei Anhaltspunkte… Wie willst du den Mann mit den Ampullen suchen? Natürlich muß man einen Verbrecher finden, aber einem Verbrechen vorbeugen, es verhüten – das ist das Wichtigste in unserer Arbeit.“ „Aber davon rede ich doch die ganze Zeit!“ ereiferte sich
Viktor. „Der Verbrecher ist auf freiem Fuß, in seinen Händen befindet sich solch ein furchtbares Mittel…“ „Nichtsdestoweniger müssen wir abwarten“, unterbrach Pronin ihn hartnäckig. „Du hast zuwenig Geduld.“ Lange noch wären sie in ihrem Streit fortgefahren – Viktor ließ sich nicht so leicht matt setzen – , doch da klingelte das Telefon und machte dem Gespräch ein Ende. Pronin nahm den Hörer ab. „Ja, ich komme“, sagte er und legte wieder auf… „Der Abteilungsleiter ruft mich“, erklärte er Viktor. „Vorläufig werden wir uns mit anderen Dingen beschäftigen müssen. Warte auf mich.“ Bald kehrte Pronin zurück, bereits ganz im Bann des neuen Auftrags. „In einem Amt“, erzählte er und nannte den Namen, „ist ein staatswichtiges Schriftstück verlorengegangen. Eben hat Stschurowski von dort angerufen. Jetzt steht uns also bevor, nach diesem Papier zu forschen statt nach einem lebendigen Menschen!“ Schon wenige Minuten später standen Pronin und Viktor am Eingang des Instituts. Nachdem sie sich beim Pförtner ausgewiesen hatten, gelangten sie über eine breite Treppe in den vierten Stock. Sie fanden ohne Mühe Stschurowskis Zimmer und klopften an. Sogleich griff jemand auf der anderen Seite nach der Klinke, der Schlüssel drehte sich im Schloß, und die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Stschurowski lugte heraus. Er war ein großer, kräftiger Mann, gut und doch einfach gekleidet. „Na endlich!“ sagte er mit sorgenvoller Stimme, als er die unbekannten Besucher in Uniform erblickte. „Bitte!“ Pronin und Viktor traten in einen großen Raum, der mit altertümlichen geschnitzten Möbeln ausgestattet und mit Tep-
pichen ausgelegt war. Der riesige, mit grünem Tuch bespannte Schreibtisch ähnelte mehr einem Billardtisch. Viktor sah sich erstaunt um. War das ein Arbeitszimmer? Stschurowski bemerkte den Blick Viktors. „Das ist mein Empfangszimmer“, beeilte er sich zu erklären. „Gehen wir in das Arbeitszimmer.“ Sie betraten den nächsten, viel einfacher eingerichteten Raum. Hier standen zwei Schreibtische, einige Schränke und Stühle, ein Schreibmaschinentischchen – kurz, hier sah es wirklich nach Arbeit aus. In einer Wand war ein riesiger feuersicherer Tresor eingebaut. Neben dem Tresor stand ein junger Mann. Sein Gesicht war totenblaß. Als die Gäste eintraten, blickte er sie lediglich fragend an und schwieg. „Mein Sekretär, Genosse Iwanow“, stellte ihn Stschurowski vor. Doch Iwanow blieb weiterhin wortlos stehen. Pronin ging durch den Raum. „Wollen wir nicht Platz nehmen?“ schlug er vor und ließ sich nieder. Auch Stschurowski und Viktor setzten sich. Nur Iwanow rührte sich nicht. Da wies Pronin auf den neben ihm stehenden Stuhl und lud den Sekretär ein, ebenfalls Platz zu nehmen. Iwanow lebte auf, sein Gesicht bekam Farbe, und er sank auf den ihm zugewiesenen Stuhl. Viktor fand ihn recht sympathisch. Sein rundes Gesicht, der offene Blick, das gewellte schwarze Haar und das gestickte ukrainische Hemd, – alles gefiel ihm. „Beginnen Sie!“ forderte Pronin Stschurowski auf und richtete seinen Blick zur Decke, als unterstreiche er dadurch seine unvoreingenommene Haltung gegenüber den Ge-
sprächspartnern. „Eigentlich gibt es nicht viel zu erzählen“, meinte Stschurowski. „Wie Sie schon wissen, ist ein Dokument von ungeheurer Wichtigkeit abhanden gekommen. Sein Inhalt ist nur wenigen bekannt, darüber darf ich also nicht sprechen. Umsichtige Politiker jedoch könnten die Existenz eines solchen Schriftstücks vermuten, und ein bestimmter Staat ist überaus daran interessiert, es in seinen Besitz zu bekommen. Kopien, Fotokopien und ähnliches davon sind wertlos. Lediglich dem Original mit den echten Unterschriften und Siegeln kommt Bedeutung zu. Dieses Original ist in zwei Exemplaren vorhanden, eins wird an einem anderen Ort aufbewahrt, das zweite befand sich vorübergehend hier… Und nun ist dieses Exemplar verschwunden!“ „Unter welchen Umständen konnte das passieren?“ fragte Pronin. „Ja, unter welchen Umständen“, wiederholte Stschurowski. „Dieser Tresor ist nur wenigen zugänglich, und wie Sie selbst sehen, ist das Schloß so kunstvoll, daß niemand es öffnen oder aufbrechen kann, es sei denn, er kennt das Geheimnis. Gestern hatten wir zwar dienstfrei, arbeiteten aber hier an einer Terminsache. Gegen Abend brauchte ich für meinen schriftlichen Bericht einige Auszüge aus dem unglückseligen Dokument. Die Zeit war schon recht vorgeschritten. Genosse Iwanow rief Petrenko herbei, den Mitarbeiter, der die Schlüssel in Verwahrung hat. Wir öffneten den Schrank, ich nahm in Anwesenheit Iwanows und Petrenkos das Schriftstück heraus, dann schlossen wir den Schrank wieder zu. Petrenko verließ das Zimmer, und Iwanow nahm wieder an seinem Tisch Platz. Wir haben noch etwa eine Stunde gearbeitet. Während dieser Zeit lag das Papier auf meinem Tisch. Sodann wurde Petrenko abermals
gerufen, ich legte das Dokument in die dazu bestimmte Mappe, wir öffneten den Schrank, und ich übergab sie Iwanow, der sie an ihren Platz legte. Petrenko schloß den Schrank und ging. Wir hatten noch zu tun und fuhren erst gegen drei Uhr morgens heim. Sie müssen noch wissen, daß Iwanow dann und wann in meiner Wohnung übernachtet – zum Beispiel, wenn wir bis in die Nachtstunden arbeiten und am nächsten Morgen wieder früh im Amt sein wollen. So war es auch diesmal. Wir kamen in meiner Wohnung an, die Haushälterin begrüßte uns – meine Frau und meine Tochter sind verreist – ; wir aßen in aller Eile und gingen zu Bett – ich in meinem Schlafzimmer, Iwanow nebenan im Arbeitszimmer auf dem Sofa. Morgens frühstückten wir, Iwanow bestellte den Wagen, und wir fuhren zum Amt. Weder gestern abend noch heute morgen hat jemand, außer uns und Petrenko, dieses Arbeitszimmer betreten – das heißt, die Putzfrau war noch da, aber sie hielt sich nur einige Minuten hier auf. Diese Zeit verbrachte ich im Nebenraum, Iwanow aber verließ das Arbeitszimmer überhaupt nicht. Bald brauchte ich das Schriftstück noch einmal; Petrenko wurde gerufen, wir öffneten den Schrank, ich griff nach der Mappe und nahm vor den Augen Iwanows und Petrenkos statt des Dokuments… ein leeres Blatt Papier heraus!“ „Sie behaupten, seit gestern abend sei, außer Ihnen dreien, niemand hier gewesen?“ „Ja, mit Ausnahme der Putzfrau“, entgegnete Stschurowski. „Doch auf sie fällt kaum ein Verdacht…“ „Haben Sie sich während dieser Zeit von Iwanow getrennt?“ wollte Pronin wissen. „Nein“, erklärte Stschurowski. „Freilich schliefen wir in zwei verschiedenen Räumen, benutzten einzeln das Bad, und während des Aufräumens ging ich einige Minuten hinaus.“
„Iwanow hat sich also nirgendwohin entfernt?“ „Nein. Lediglich morgens, auf dem Wege hierher, sprang er für einen Augenblick aus dem Wagen, um für mich eine Karte in den Postkasten zu werfen – ich hatte nämlich an eine Buchhandlung geschrieben.“ „Haben Sie einen Verdacht?“ interessierte sich Pronin. „Nein.“ Stschurowski zuckte mit den Schultern. „Ich habe Ihnen die Tatsachen geschildert, alles Weitere ist Ihre Angelegenheit…“ „Hat Genosse Stschurowski alles richtig dargelegt?“ wandte sich Pronin an Iwanow. Dieser blickte seinen Vorgesetzten an, senkte den Kopf und sagte zögernd: „Ja, es war alles richtig.“ „Und Petrenko?“ fragte Pronin. „Was kann schon Petrenko damit zu tun haben?“ erwiderte Stschurowski ungehalten. „Petrenko wußte nichts von dem Schriftstück, er hat es nicht einmal berührt…“ „Nun, das werden wir prüfen“, fiel Pronin ein. „Jetzt müssen Sie uns aber noch einiges über das Schriftstück erzählen. Nicht den Inhalt wollen wir wissen, unbedingt aber die äußere Form. Wie sollen wir es sonst suchen?“ „Es ist ein gefalteter Bogen aus festem Papier mit Text auf der ersten und zweiten Seite“, berichtete Stschurowski. „Dann folgen einige Unterschriften, die dritte und die vierte Seite sind leer…“ Pronin erhob sich. „Wir müssen Sie festnehmen…“, sagte er zu Iwanow. „Ich bin unschuldig“, beteuerte dieser, doch dann winkte er resigniert ab. Die Argumente sprachen gegen ihn. Ohne Widerstand ließ er sich von Viktor abführen. „Ich hoffe, daß sich alles aufklären wird“, rief Stschurowski seinem Sekretär nach. Dann wandte er sich wieder
Pronin zu. „Iwanow hat gut gearbeitet, und… und er war ehrlich“, fügte er ein wenig verwirrt hinzu. „Glauben Sie wirklich, daß er es getan hat? Ich habe ihm sehr vertraut…“ „Sie sehen ja, was Sie davon haben“, entgegnete Pronin kühl. „Das Schriftstück ist weg.“ „Wo mag er es aber gelassen haben? Er war doch immer in meiner Nähe!“ „Haben hier Fremde Zutritt?“ Stschurowski schüttelte den Kopf. „Na, dann ist wohl anzunehmen, daß er es in Ihrer Wohnung versteckt hat.“ „In meiner Wohnung?“ rief Stschurowski erstaunt aus. „Ich begreife nicht…“ „Es gibt drei Möglichkeiten“, erklärte ihm Pronin. „Hier, im Wagen oder in Ihrer Wohnung. Daß man beim Aufdekken des Verlustes vor allem diesen Raum durchsuchen würde, war so gut wie sicher. Sie meinen, er könnte das Dokument der Putzfrau übergeben haben? Gut, wir werden uns die Frau mal vornehmen; allein, es ist unwahrscheinlich, daß er die Urkunde so lange bei sich behielt. Der Verlust hätte nämlich eher entdeckt werden können. Dann wären das Zimmer und er selbst noch vor Ankunft der Putzfrau durchsucht worden. ‘ Und im Wagen? Ein solches Unterfangen hätte womöglich die Aufmerksamkeit des Fahrers erregt, sofern er nicht sein Helfershelfer ist, und natürlich auch die Ihre. Ein hohes Risiko! Am einfachsten war es, das Schriftstück in Ihrer Wohnung zu verstecken. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß Iwanow es aus dem Fenster geworfen oder in einen Umschlag gelegt und zusammen mit Ihrer Karte in den Postkasten gesteckt hat. Er kann es schließlich auch Ihrer Haushälterin übergeben haben…“ „Aber ich bitte Sie!“ antwortete Stschurowski entrüstet.
„Sie ist bereits vierzehn Jahre in unserer Familie, ich bürge für sie wie für mich selbst!“ „Seien Sie nicht voreilig“, ermahnte ihn Pronin. „Lassen Sie das Bürgen sein, überlegen wir lieber weiter. Es ist doch wohl unwahrscheinlich, daß Iwanow seine Beute aus dem Fenster geworfen hat. Auch konnte er nicht ahnen, daß Sie eine Karte aufgeben wollten. Er mußte für das Dokument schon ein anderes Versteck ausgedacht haben. Die Haushälterin? Nein, die Urkunde liegt an einem bestimmten Platz in Ihrer Wohnung, wo sie Iwanows Helfer abholen soll, sobald er in die Wohnung gelangt.“ Stschurowski zog die Stirn in Falten. „Sie haben wohl recht. Das bedeutet eine Haussuchung bei mir.“ „Auf keinen Fall“, widersprach Pronin. „Wir würden Ihre Wohnung durchwühlen und höchstwahrscheinlich nichts finden. Außer dem Schriftstück wollen wir aber auch den Empfänger fassen. Dieser wird vermutlich noch heute von Iwanows Festnahme erfahren, sich aber nicht beirren lassen, denn damit mußte er ja von vornherein rechnen. Nehmen Sie es uns daher nicht übel, wenn wir eine Zeitlang Ihre Wohnung, Sie selbst und auch Ihre Haushälterin beobachten.“ Stschurowski verzog das Gesicht, lächelte aber dann und sagte: „Tun Sie, was Sie für richtig halten. Ich sehe ein, es läßt sich nicht vermeiden.“ So ging denn Pronin an die Arbeit. Fast ein Dutzend Menschen wurden beauftragt, nach dem Schriftstück zu forschen. Einige erfahrene Mitarbeiter durchsuchten den Raum, wo sich der Panzerschrank befand, den Nebenraum und den Wagen. Außerdem wurde in sämtlichen Buchhandlungen nach der am Morgen aufgegebenen Postkarte gefragt.
Pronin selbst verhörte Iwanow, Petrenko, die Putzfrau und den Fahrer. Petrenko war technischer Mitarbeiter und hatte keine Ahnung von den im Panzerschrank aufbewahrten Schriftstücken. Auch die Putzfrau und der Fahrer konnten nicht verdächtigt werden. Iwanow gab sich Mühe, ruhig zu scheinen, doch gelang es ihm. nur schlecht, er war niedergedrückt. Seine Aussagen stimmten mit denen Stschurowskis völlig überein, aber er bekannte sich nicht schuldig, obwohl er einsah, daß die Tatsachen gegen ihn sprachen. Pronin suchte auch Iwanows Mutter und seine Frau auf. Sie machten einen guten Eindruck auf ihn. Die Nachforschungen mußten in einer anderen Richtung geführt werden. Er fuhr zu Stschurowskis Wohnung. Viktor öffnete die Tür, und sie flüsterten eine Weile miteinander. „Was gibt es Neues?“ „Nichts.“ „Ist Stschurowski zurückgekehrt?“ „Ja.“ „Und was tut er jetzt?“ „Er hat zu Mittag gegessen und schläft.“ „Und wie verhält er sich dir gegenüber?“ „Er ist freundlich und hat mich zum Essen eingeladen.“ „Und die Haushälterin?“ „Macht sich in der Küche zu schaffen.“ Pronin horchte. Es herrschte eine Stille, als wäre niemand zu Hause. „Zeige mir die Wohnung“, forderte er seinen Assistenten auf. Fast lautlos durchschritten sie das Eßzimmer und das Zimmer der Tochter und betraten den Arbeitsraum. Viktor wies auf eine Tür.
„Dort ist das Schlafzimmer“, flüsterte er. Pronin interessierte sich für die Ausstattung der Wohnung. Das Mobiliar war wertvoll und schwer, doch nicht mehr neu, es paßte besser zu größeren Räumen. Lediglich das Arbeitszimmer sah einfacher aus; hier standen Bücherschränke, hinter deren Glasschiebetüren in der hereinbrechenden Dämmerung die vergoldeten Einbände matt leuchteten. Ohne Licht einzuschalten, betrachtete Pronin die Bücher genauer. Russische und fremde Klassiker, ein alter Brockhaus und noch ein weiteres Lexikon, die Große SowjetEnzyklopädie und, dicht zusammengedrängt, viele Broschüren… Pronin fuhr der Gedanke durch den Kopf, daß in einem der Bücher sehr wohl das gesuchte Dokument liegen könnte, aber sogleich verwarf er diese Vermutung wieder, zu naiv wäre es, ein so wichtiges Dokument im Bücherschrank zu verstecken. Pronin und Viktor bewegten sich sehr leise, dennoch hatte Stschurowski ihre Schritte vernommen. Er hustete, das Bett knarrte, und schon hörte man ihn eilig über die Diele schlurren. Die Tür ging auf, und Stschurowski knipste das Licht an. „Ach, Sie sind es, Genosse Pronin!“ brachte er ohne Verwunderung hervor. Er stand in Socken da und blinzelte gegen das Licht. „Verlaufen Ihre Nachforschungen erfolgreich?“ „Nun, wir studieren gerade Ihr Arbeitszimmer. Hier hat doch Iwanow übernachtet, nicht wahr?“ „Studieren Sie, studieren Sie“, meinte Stschurowski herablassend. „Mich stören Sie nicht. Ich habe trotz Ihrer Anwesenheit mein Schläfchen gemacht… Spielen Sie Schach?“ „Da ist ein Partner für Sie!“ Pronin klopfte Viktor auf die Schulter. „Ich aber werde mich verabschieden. Meine kleine
Aufgabe ist erledigt, und nichts hindert mich daran, mich auszuruhen…“ Am nächsten Tag geschah nichts Neues. Pronin erfuhr lediglich, daß die Suche nach Stschurowskis Postkarte erfolglos verlief. Zwei Tage danach aber teilte Viktor Pronin mit, daß Stschurowski aus einer Buchhandlung zwei Bände eines Lexikons erhalten habe – den ersten und den achten, offensichtlich diejenigen, die er mit seiner Postkarte angefordert hatte. „Diese Bände möchte ich mir mal ansehen“, sagte Pronin, als er Viktor gleich darauf in Stschurowskis Wohnung aufsuchte. „Wo sind sie?“ „Auf der Flurgarderobe, vor dem Spiegel. Stschurowski wunderte sich sehr, als er sie erblickte. Ständig werde etwas in den Buchhandlungen verwechselt, es sei noch keine Verkaufskultur zu bemerken, meinte er. Wir haben uns eine überflüssige Arbeit gemacht, als wir nach der Postkarte ganz Moskau absuchten. Hier ist die Anschrift der Buchhandlung und der Name des Verkäufers. Die Bände sollen zurückgeschickt werden, Stschurowski besitzt die gleichen bereits.“ „Hat er in den Büchern gelesen oder sie gar nicht angerührt?“ „Er hat sie in sein Arbeitszimmer mitgenommen und darin geblättert, etwa eine Stunde.“ „Was meinst du, kann in einem der Bände das Dokument versteckt sein?“ „Verdächtigen Sie etwa Stschurowski?“ stieß Viktor hervor. „Überprüft werden muß alles. Also: Kann das Dokument darin liegen oder nicht?“ „Natürlich kann es“, gab Viktor zu. „Aber Stschurowski… Nein, dazu müßte er etwas vom Buchbinden verstehen.“
„Und warum sollte er das nicht?“ entgegnete Pronin. „Übrigens kann er die gebrachten Bände gegen die entsprechenden aus seiner eigenen Bibliothek eingetauscht haben.“ Pronin machte eine Pause und verfügte dann: „Gib irgend jemand den Auftrag, rasch den ersten und achten Band des Lexikons hierherzuschaffen, ich aber nehme auch die Bände mit, die im Arbeitszimmer stehen.“ Mit allen vier Bänden zog Pronin ab, und Viktor bekam ihn an diesem Tag nicht mehr zu Gesicht. Erst am nächsten Tag mittags klingelte das Telefon. Außer Viktor befand sich niemand in der Wohnung. Er nahm den Hörer ab. Am Apparat war Pronin. „Fahre gleich zu mir“, klang es kurz. „Und die Wohnung?“ „Die sollen andere bewachen“, antwortete Pronin gleichgültig. „Die ist jetzt nicht mehr so wichtig.“ Viktor forderte Bewachung für die Wohnung an, ließ den Wagen kommen und stand eine Viertelstunde später bei Pronin. „Haben Sie das Schriftstück gefunden?“ war seine erste Frage. „Übermorgen werden wir es finden“, sagte Pronin überzeugt. „Da will ich mit Stschurowski durch Moskau bummeln. Ich nehme fest an, wir werden den Botanischen Garten aufsuchen. Kennst du ihn? Nein? Ich habe schon immer gesagt, daß du zu wenig wißbegierig bist! Jetzt mußt du ihn dir aber ansehen, heule oder morgen, und zwar gründlich. Fahre in Zivil. Such die mexikanische Agave. Du wirst sie wohl finden, ohne zu fragen. Jede Pflanze ist mit der lateinischen Bezeichnung versehen. Ich hoffe, daß du klarkommst. Übermorgen aber halte dich von früh an in der Nähe der Agave auf. Stschurowski und ich werden auch hinkommen.
Doch wird es besser sein, wenn wir dich nicht bemerken. Wenn wir weg sind, geh unverzüglich an die Agave heran und…“ – Pronin nahm vom Tisch einen länglichen verschlossenen Briefumschlag ohne Anschrift und reichte ihn Viktor – „und versteck diesen Umschlag unbemerkt zwischen den Blättern. Sodann laß die Pflanze nicht aus den Augen. Verfolge denjenigen, der den Umschlag an sich nimmt… So, und jetzt geh nach Hause und ruh dich aus. Die Aufgabe – ich mache dich darauf aufmerksam – ist durchaus nicht leicht.“ „Gut.“ Viktor erhob sich. „Und die Wohnung Stschurowskis?“ „Warum wiederholst du dich?“ brummte Pronin. „Kümmre dich nicht um die Wohnung, dort sind doch andere geblieben! Mach dich auf den Heimweg. Ich fahre jetzt zu der Buchhandlung und gebe die beiden Bücher zurück, die Stschurowski nicht haben will.“ Die Buchhandlung erwies sich als ein kleines Antiquariat. Die Kunden drängten sich an den Ladentischen und Regalen, blätterten in Büchern und tauschten Meinungen über deren Wort aus. Die Verkäufer kannten bereits viele Kunden und unterhielten sich mit ihnen. Pronin schlängelte sich zum Ladentisch durch und fragte nach Kopelewitsch. Er wurde an einen kleinen, schlecht rasierten Mann verwiesen, mit spärlichem, pomadisiertem und sorgfältig gescheiteltem Haar. „Was wünschen Sie?“ fragte Kopelewitsch. Seine Stimme war laut und kreischend. „Falls Sie sich für Dostojewski interessieren – den haben wir nicht mehr!“ „Ich muß Sie sprechen“, lautete Pronins Antwort. Leise fügte er hinzu: „Etwas Geschäftliches.“
„Wollen Sie anbieten?“ Kopelewitsch wurde lebhafter und blickte auf das Paket unter dem Arm des Besuchers. „Bitte.“ An Bücherregalen vorbei gingen sie in einen Kellerraum, das winzige verglaste Büro der Buchhandlung. „Worum handelt es sich?“ „Stschurowski schickt mich zu Ihnen.“ „Welcher Stschurowski?“ Kopelewitsch schien nicht zu begreifen, von wem die Rede war. „Er hat Ihnen vorgestern eine Postkarte geschrieben“, brachte ihm Pronin in Erinnerung. „Sie haben ihm auch die Bücher zugestellt…“ „Ach ja, jetzt entsinne ich mich, gewiß, gewiß.“ Kopelewitschs Gesicht hellte sich auf. „Ihm fehlten irgendwelche Bände eines Lexikons.“ Geringschätzig winkte er mit dsr Hand ab. „Ein kleiner Auftrag!“ „Wissen Sie genau, daß es sich um ein Lexikon handelte?“ „Natürlich.“ „Aber Stschurowski behauptet doch, er habe sie nicht bestellt!“ Pronin legte beide Bände auf den Tisch. „Er bat mich, sie Ihnen sofort zurückzugeben.“ „Das verstehe ich nicht“, murmelte Kopelewitsch. „Ich habe ja noch nicht den Verstand verloren. Er hat doch selbst geschrieben…“ Kopelewitsch suchte in seinen Taschen und holte mit einigen Zetteln eine zerknüllte Postkarte hervor. „Hier ist sie!“ Er glättete die Karte und klatschte mit der Handfläche darauf. „Nein, ich bin ja noch nicht verrückt!“ Pronin zog die Karte vorsichtig unter Kopelewitschs Hand hervor. „Genosse Kopelewitsch!“ stand da geschrieben. „Ich bitte Sie, schicken Sie mir die telefonisch bestellten Bücher in die Wohnung. W. Stschurowski.“ „Hier sind die Bücher vorsorglich nicht genannt“, meinte
Pronin. Kopelewitsch blickte seinen Gesprächspartner scharf an. „Und was halten Sie davon, daß wir miteinander telefoniert haben?“ „Sparen Sie sich dieses Theater“, entgegnete Pronin ärgerlich. „Wer hat Ihnen die Bücher gebracht?“ „Wie soll ich das wissen!“ rief Kopelewitsch aus. „Viele Menschen bringen und holen Bücher! Ich bin kein Gott, daß ich mich an jeden Besucher erinnern kann…“ „Sparen Sie sich dieses Theater“, wiederholte Pronin. „Uns ist alles bekannt. Sie haben Postkarten empfangen und an die Absender Bücher überbracht, die Ihnen jemand gab. Wer gab Ihnen die Bücher?“ „Das ist eine Herausforderung! Ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen!“ „Nicht so laut“, ermahnte ihn Pronin. „Wir fahren sofort von hier ab…“ „Sie verhaften mich?“ Kopelewjtschs Stimme klang heiser. „Mich trifft aber keinerlei Schuld!“ „Sie haben Bücher weitergeleitet“, erklärte Pronin. „Eben in diesen Büchern befindet sich der unumstößliche Beweis Ihrer Schuld.“ „Ich weiß nichts“, krächzte Kopelewitsch. „Ja, ich habe Bücher weitergeleitet, aber das ist alles. Der Mann rief bei mir an und fragte, ob ich die Postkarten erhalten hatte. Ich bejahte. Er brachte Bücher, sagte mir, wer sie bekommen sollte, und ich gab sie ab. Mein Ehrenwort, mehr weiß ich nicht…“ Pronin war bereit, ihm zu glauben. Wohl kaum würde jemand einen solchen Feigling ins Vertrauen ziehen. „Das heißt also, Sie haben nur die Rolle eines Postkastens gespielt?“
„Sie können mich verhaften, doch beleidigen dürfen Sie mich nicht“, jammerte Kopelewitsch. „Ich habe auch meine Würde…“ „Ziehen Sie sich an. Nehmen Sie die beiden Bücher mit, und folgen Sie mir unauffällig.“ „Aber ich weiß wirklich nichts, mein Ehrenwort.“ Kopelewitsch legte seinen blauen Kittel ab und zog das Jackett an, wobei er mit den Armen nicht in die Ärmel fand. „Ich kenne auch den Namen des Betreffenden nicht. Er ist groß, sieht gut aus und macht einen seriösen Eindruck. Wer hätte das gedacht!… Er versicherte, mir drohe keine Gefahr. Weshalb sollte ich ihm nicht einen Dienst erweisen? Ich stellte Bücher zu, und man gab mir einmal fünfzig, ein andermal sechzig Rubel. Und Sie nennen mich .Postkasten’, als hätte ich irgendwelche Briefe befördert!“ Er klagte und murrte, verstellte sich auch ein wenig, doch Pronin glaubte ihm im wesentlichen, weil Menschen, die ihre Pflicht als „Postkasten“ erfüllen, in der Regel kaum wissen, wofür sie mißbraucht werden. Zwei Tage später ging Pronin auf Stschurowski zu, gerade als dieser sein Haus verließ. „Fast hätten wir uns verfehlt!“ rief Pronin erfreut aus. „Ich bin auf dem Wege zu Ihnen!“ „Wollen wir zurückkehren?“ schlug Stschurowski vor. „Nein, nein, ich möchte Sie nicht stören.“ „Wieso stören?“ fragte Stschurowski liebenswürdig. „Ich bin ein wenig überarbeitet und wollte gerade etwas frische Luft schöpfen.“ „Ich fürchte, Sie sind meiner überdrüssig. Sonst würde ich mich Ihnen anschließen, und wir könnten uns unterwegs unterhalten.“ „Aber gewiß doch, kommen Sie nur mit, zu zweit ist es
nicht so langweilig“, lud Stschurowski Pronin ein. Sie stritten sich zum Scherz, wessen Wagen sie fahren sollten. „Wir nehmen meinen“, beharrte Pronin auf seinem Vorschlag. „Heute bin ich einmal der Gastgeber, und Sie sind der Gast.“ Stschurowski lehnte sich in die Polster zurück, blickte ohne sonderliche Anteilnahme nach links und rechts, unterhielt sich mit Pronin über gleichgültige Dinge und genoß, wie es schien, die Erholung. Erst als sie die Leningrader Chaussee entlangfuhren, schlug er plötzlich vor: „Wollen wir nicht den Botanischen Garten besuchen?“ Pronin triumphierte. Also doch! „Lohnt es sich?“ fragte er widerstrebend. „Fahren wir dorthin“, bat Stschurowski und erteilte dem Chauffeur die Anweisung. Nachdem sie Eintrittskarten erworben hatten, passierten sie gemeinsam mit Schülerinnen das Portal und blieben stehen, unschlüssig, welche Richtung sie einschlagen sollten. „Gehen wir, wohin uns die Augen führen“, schlug Stschurowski vor. und sie schlenderten die Gartenpfade entlang, vorbei an farbenprächtigen Blumen und seltenen Sträuchern und Bäumen. Dabei gelangten sie in das Viertel der südamerikanischen Flora. Mitten auf einer kleinen Anhöhe stand eine Agave mit ihren blaugrünen, fleischigen und saftigen, am Rande gezackten Blättern. Stschurowski wünschte, hier zu verweilen, und sie ließen sich auf einer Bank nieder. „Haben Sie Zigaretten?“ „Ich rauche nicht“, gab Pronin zur Antwort. Stschurowski erhob sich. „Ich werde welche besorgen.“
Aber Pronin stand auch auf. „Ich gehe mit.“ Sie holten die Zigaretten. „Laden Sie Ihren Fahrer hierher ein.“ „Das ist bei uns nicht üblich“, meinte Pronin. „Er ist ja im Dienst.“ „Ach, da fällt mir ein, ich muß mal schnell im Amt anrufen!“ „Hier gibt es keine Telefonzelle“, versetzte Pronin. Er ließ seinen Partner keinen Augenblick allein. „Wollen wir noch ein wenig Spazierengehen?“ fragte Stschurowski schließlich. Pronin war einverstanden. Sie schritten wiederum die Wege entlang, kehrten zur Agave zurück. Vergeblich bemühte sich Stschurowski, von Pronin loszukommen. „Wollen wir fahren?“ schlug Pronin vor. „Fahren wir.“ Ungern willigte Stschurowski ein. Sie kehrten zum Wagen zurück. „Fast hätte ich es vergessen!“ rief Pronin, nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. „Ich muß Sie unbedingt um vier Uhr zu uns bringen. Es liegt eine höchst interessante Mitteilung vor…“ Bald darauf waren sie in der Kommandantur. „Sie sind pünktlich, Genosse Pronin“, begrüßte der Abteilungsleiter den Major. „Wie vereinbart, um vier Uhr.“ Er begrüßte auch Stschurowski und wies auf einen Stuhl. Dann blickte er Pronin an. „Sie können berichten.“ „Mein Bericht wird kurz sein. Das Dokument ist gefunden.“ „Wahrhaftig?“ Stschurowski stand fast vom Stuhl auf. „Es ist gefunden und befindet sieh in unseren Händen“, be-
stätigte Pronin. „Wer kann nur der Täter gewesen sein?“ fragte Stschurowski lebhaft. „Dürfen wir das erfahren?“ Pronin wandte sich an den Abteilungsleiter. „Gestatten Sie?“ „Bitte.“ „Ich werde Ihnen nicht viel Zeit rauben“, begann Pronin seinen Bericht. „Vor fünfzehn Jahren hat sich dieser Mann unseren Feinden angeschlossen, denen die Tatkraft mißfiel, mit der die Partei unser Land umgestaltete. Später bereute er seinen Schritt, doch seine Reue war offensichtlich unecht, und allmählich gelangte er sogar in den Dienst einer ausländischen Spionagezentrale.“ Stschurowski sprang auf. „Ist es etwa Iwanow?“ „Lassen Sie diese Komödie!“ entgegnete Pronin. „Sie, Sie sind es, Bürger Stschurowski! Legen Sie das Dokument auf den Tisch, und dann erzählen Sie Ihre Biographie selbst weiter.“ Stschurowski preßte die Lippen zusammen und holte aus seiner Brusttasche einen festen hellblauen Umschlag hervor. Er reichte ihn Pronin, der ihn schweigend seinem Vorgesetzen gab. „Mit mir sind Sie fertig geworden“, sagte Stschurowski haßerfüllt. „Ob es Ihnen aber gelingen wird, den zu fassen…“ „Der zur mexikanischen Agave kommt?“ ergänzte Pronin belustigt. „Sie kennen ihn? Nun gut. Den kriegen Sie nicht. Sie sind intelligent, doch ihm sind Sie nicht gewachsen.“ Viktor und Pronin stießen im Korridor des Dienstgebäudes aufeinander. „Komm, erzähle“, forderte Pronin den Assistenten auf.
Sie gingen in sein Arbeitszimmer und setzten sich aufs Sofa. „Haben Sie es gefunden?“ fragte Viktor. „Erzähl du erst“, wiederholte Pronin. „Nur ein Wort – haben Sie es gefunden oder nicht?“ „Ja.“ „Also hören Sie zu“, begann Viktor. „Wie ein Idiot schlenderte ich den ganzen Tag im Park umher; die Blumen hab ich bewundert, ein Buch gelesen, ja sogar versucht mit Kindern zu spielen… Schließlich sind Sie mit Stschurowski gekommen. Ich wartete, bis Sie wieder weg waren. Dann schob ich den Umschlag heimlich zwischen die Blätter und begann zu schmachten. Für Ihren Umschlag hat sich aber niemand interessiert. Der Abend kam, und das Publikum wurde gebeten, den Park zu verlassen…“ „Und du?“ fragte Pronin erschrocken. „Ich habe mich zwischen die Dahlien versteckt. Es war eine unangenehme Nacht. Ich fror, doch nicht einmal ein Köter näherte sich dem Brief! Frühmorgens kamen die ersten Arbeiter. Ich verkroch mich hinter einem Treibbeet, den Blick immer auf einen Punkt geheftet. Die Arbeiter sprengten die Pflanzen und säuberten die Pfade, endlich wurde der Garten wieder geöffnet. Ich konnte mein Versteck verlassen und meine Glieder recken. Sogleich trat ich an die Agave heran… Der Umschlag war weg!“ „Du hast nicht aufgepaßt!“ Pronins Stimme klang hohl, wie immer, wenn er heftig erregt war. „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, ich habe diese verdammte Agave keine Sekunde aus den Augen gelassen! Nach Schluß des Publikumsverkehrs war der Umschlag noch da. Nachts näherte sich niemand der Pflanze. Morgens gingen eine wissenschaftliche Mitarbeiterin und zwei Arbeiter vorbei, und
der Gärtner stutzte in der Nähe die Sträucher. Sonst habe ich niemand bemerkt. Auf alle Fälle habe ich die Namen und Adressen der vier Personen festgestellt, aber…“ „… aber ich selbst glaube wenig daran, daß einer von ihnen den Umschlag an sich genommen hat“, ergänzte Pronin. „Schade. Wiederum warten, warten. Alles von neuem beginnen, unbekannt, von welchem Ende…“ „Und wie ist es Ihnen ergangen?“ Viktor war ungeduldig. Pronin merkte, daß der junge Mann sich schuldig fühlte, doch empfand er keinen Groll gegen ihn. Er war überzeugt davon, daß Viktor alles in seinen Kräften Stehende getan hatte. „Sei nicht traurig“, sagte er seufzend. „Jeder Mensch erlebt Mißerfolge. Und damit es dir klar ist, wen wir entwischen ließen, höre jetzt, was es mit dem Umschlag und der Agave auf sich hatte… Stschurowski – er ist nämlich der Dokumentendieb ~ wußte, auf welche Weise er Ort und Form für die Übergabe des Schriftstücks erfahren würde. Du erinnerst dich: Ich hatte die beiden Bücher mitgenommen. Die ganze Nacht quälte ich mich mit ihnen ab, durchleuchtete sogar die Einbände, fand aber nichts. Auf einer Seite entdeckte ich einen Tintenklecks, aber was war schon daran zu enträtseln! Da beschloß ich, die Blätter gegen das Licht zu halten, und schließlich bemerkte ich in einem eine winzige Öffnung, verursacht durch eine Nadel oder Stecknadel. Angestochen war das Wort ,mexicana’. Ich suchte weiter, ich mußte mindestens noch ein zweites Wort finden. Meine Mühe hatte Erfolg: das Wort lautete .botanisch’ und stand im anderen Band. Beides waren Beiwörter: ,mexicana’ gehörte zu ,Agave’, ,botanisch’ zu ,Garten’. Ich habe diesen Text sinngemäß als: ,Botanischer Garten, mexikanische Agave’ gelesen. Alles
andere war klar: Würde Stschurowski den Botanischen Garten besuchen, war mein Verdacht gerechtfertigt. Er tat es. Übrigens hatte er sich das Versteck für das Dokument nicht schlecht ausgedacht. Während voller fünf Tage trug er die Urkunde in seiner Jackentasche. Das vermutete natürlich niemand; außerdem konnte er sich den Anschein geben, als habe er das Dokument während der Arbeit aus Zerstreutheit in die Tasche gesteckt… Ja, leider blieb uns die Antwort versagt, für wen das Schriftstück bestimmt war. Was machen wir nun, Viktor? Warten?“ Viktor stand auf und schritt im Zimmer umher. „Nein, Iwan Nikolajewitsch“, antwortete er. „Sie wissen, ich schätze Sie sehr, aber ich bin des fortwährenden Wartens müde. Vielleicht ist Ihre Methode richtig, aber ich werde anders handeln. Obgleich mir nach der schlaflosen Nacht fast die Augen zufallen, werde ich sofort wieder in den Botanischen Garten gehen und nach dem Verbrecher suchen.“ „Ich wünsche dir viel Erfolg“, meinte Pronin freundlich. „Ich selbst ziehe im Augenblick allerdings vor, einmal gründlich auszuschlafen.“ Übersetzt von Margarete Valouch Ein Glas Wasser Viktor trat in Pronins Zimmer. „Jetzt langt es mir aber“, rief er und warf wütend seine Mütze auf den Diwan. Dann rieb er sich mit dem Taschentuch die schwitzende Stirn. „Einen ganzen Monat habe ich vertrödelt, ohne einen Schritt weiterzukommen.“ Pronin stand mitten im Zimmer und betrachtete aufmerksam ein Paar weiße Panamahosen. „Na, was meinst du?“ fragte er statt einer Antwort. „Sehen sie gut aus oder nicht?“
Viktor zog polternd einen Stuhl heran, nahm rittlings darauf Platz und legte die Arme auf die Lehne. „Einen ganzen Monat beobachte ich nun schon diese vier Leute aus dem Botanischen Garten. Und wozu?“ Seine Stimme klang ärgerlich. „Ich bin kein Schriftsteller, um Studien an irgendwelchen Leuten zu treiben, die für uns völlig ohne Bedeutung sind…“ „Du bist ja ganz mit den Nerven herunter“, sagte Pronin ruhig. Er legte die Hosen auf die Sofarolle und trat ans Fenster. „Sieh, was für herrliches Wetter wir haben. Die Sonne brennt, die Steine glühen fast vor Hitze. Kein Lüftchen weht, keine Wolke ist am Himmel. Du mußt mal ausspannen, deine Nerven kurieren. Wie schön ist es jetzt auf dem Lande. Man sitzt irgendwo am Fluß. Gras ist da, Sand, über die Halme kriechen Käfer…“ „Iwan Nikolajewitsch, ich bitte Sie ganz ernst: Sprechen Sie vernünftig mit mir!“ „Na, na, reg dich nicht auf.“ Pronin ging zu Viktor und legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter. „Ich will nämlich auch ganz vernünftig mit dir reden. Im Laufe eines Monats hast du die Leute beobachtet, die dir verdächtig erschienen waren. War das richtig? Jawohl. Du hast dich davon überzeugt, daß sie ehrlich und anständig sind. Was ärgerst du dich da? Das ist doch sehr erfreulich! Du weißt nicht, was nun weiter werden soll? Darauf gibt es nur eine Antwort: Du bist überarbeitet und mußt mal ausspannen. Dann stellen sich die Gedanken auch wieder ein, und du weißt plötzlich weiter. Fahren wir ans Meer, in die Sonne, lassen wir uns schmoren, baden wir, aalen wir uns im Sand.“ „Sie spotten, Iwan Nikolajewitsch!“ antwortete Viktor. „Schön war’s, aber ich kann doch nicht auf halbem Wege alles hinwerfen…“
„Ach, mein Bester“, gab Pronin zu bedenken. „Krankheit überfällt uns auch auf halbem Wege, und unsere Aufgabe ist es, achtzugeben, daß sie uns nicht einholt. Ich mache wirklich keinen Spaß. Wir fahren zusammen ans Meer, und zwar heute noch. Die Fahrkarten habe ich schon in der Tasche. Der Zug fährt heute abend um halb acht. Du hast nur noch vier Stunden Zeit, um Turnschuhe und Zahnbürste in den Koffer zu stecken. Um sechs Uhr, keine Minute später, holst du mich ab.“ „Aber Iwan Nikolajewitsch…“ „Keine Widerrede! Bin ich dein Vorgesetzter oder nicht? Also, ich befehle es dir. Um sechs Uhr holst du mich ab, und zwar in Zivil. So, und jetzt mach, daß du fortkommst.“ In Pronins Gesicht trat ein nachdenklicher Zug. Viktor schaute Iwan Nikolajewitsch verwirrt an, griff aber dann nach seiner Mütze, stülpte sie ärgerlich auf den Kopf und knallte die Hacken zusammen. „Zu Befehl, Genosse Vorgesetzter!“ knurrte er zwischen den Zähnen, ohne sich Mühe zu geben, seinen Ärger zu verbergen. „Darf ich gehen?“ Er wartete aber erst gar keine Antwort ab, machte eine halbe Wendung und verließ das Zimmer. Sechs Uhr abends, pünktlich auf die Minute, klopfte er wieder an die Tür. Pronin war schon reisefertig. In seinem hellgrauen Anzug, einen weichen Filzhut auf dem Kopf, den Mantel über dem Arm, sah er wirklich aus wie ein Mensch, der eine Urlaubsreise vor sich hat. „Der Wagen ist vorgefahren, Genosse Vorgesetzter“, meldete Viktor sachlich. Sein Ärger auf Iwan Nikolajewitsch war noch immer nicht verflogen. „Laß schon gut sein“, meinte Pronin gutmütig. „Sei nicht
mehr so bockig und nenn mich Iwan Nikolajewitsch. Du mußt dich besser beherrschen lernen. Das kannst du gleich als Befehl auffassen. Wenn du immer noch böse mit mir bist – von mir aus. Aber untersteh dich, das zu zeigen. Wir fahren nämlich in die Sommerfrische… Kapiert?“ „Gut, Genosse…“ „Viktor!“ „Gut“, wiederholte Viktor brummig. Sie gingen auf die Straße hinunter. „Zur Jakimanka“, sagte Pronin zum Chauffeur. Viktor warf Iwan Nikolajewitsch einen fragenden Blick zu. „Ich habe ganz vergessen, dir mitzuteilen, daß wir zu dritt fahren“, erklärte er. „Uns begleitet noch jemand.“ In der Jakimankastraße befahl Pronin, vor einem alten einstöckigen Haus zu halten. „Ich komme gleich wieder!“ sagte er und verschwand hinter dem Tor. Voller Spannung erwartete Viktor das Auftauchen des rätselhaften Reisegefährten und schaute ungeduldig auf die Uhr. Aber es vergingen fünf Minuten, zehn Minuten, fünfzehn, eine halbe Stunde – Pronin kam und kam nicht. Endlich tauchte er auf – mit einem Hund an der Leine, einem alten krummbeinigen Dackel. Der Hund zog an der Leine und trippelte gerade auf den Wagen zu, als wüßte er bereits, daß dieser extra seinetwegen vorgefahren war. Iwan Nikolajewitsch packte ihn, kletterte in das Auto und setzte ihn zwischen sich und Viktor. „Das ist unser Reisegefährte“, erklärte Pronin. „Sei nett zu ihm. Er heißt Jean und ist ein sehr kluges und gutes Tier. Jean wird mit uns baden und sich in der Sonne wärmen.“ Der Hund lag auf dem Sitz und ließ gleichgültig die Lippen hängen, als ob gar nicht die Rede von ihm sei.
„Was soll das eigentlich bedeuten?“ fragte Viktor ärgerlich. „Wo haben Sie den Hund her, und warum nehmen Sie ihn mit?“ „Beruhige dich“, antwortete Pronin. „Das ist eine ganz einfache Geschichte. Jeans Herrchen hält sich im Süden auf. Er bat mich, ihm einen Dienst zu erweisen und den Hund mitzubringen.“ Nach der langen Reise, auf der sich Jean über alle Maßen manierlich benahm, ließ Pronin Viktor mit Hund und Koffern auf dem Bahnhof allein. „Ich gehe eine Viertelstunde weg“, sagte er. „Will nach dem Zimmer sehen und einen Wagen anfordern.“ Aber es vergingen bald zwei Stunden, bis er endlich zurückkehrte. Viktor traf er nicht mehr in der Bahnhofshalle an. Er fand ihn erst nach einer Weile auf dem staubigen Platz hinter der Station neben einem Beet mit großen hellroten Blumen. Im Staub der Straße standen die Koffer, Jean ließ die Zunge hängen. „Ihren Hund soll der Teufel holen!“ wurde Pronin von Viktor begrüßt. „Hier bin ich gelandet, nur wegen des Köters.“ „Was ist denn passiert?“ „Er hat so gewinselt…“ „Hat sich nach mir gesehnt?“ vermutete Pronin. „Tiere gewöhnen sich schnell an Menschen, die gut zu ihnen sind.“ „Pah. Eine Pfütze wollte er machen! Kaum waren wir aus dem Bahnhof heraus, da fing er an…“ „Richtig!“ stimmte Pronin zu. „Du hättest wissen müssen, daß Hunde mal auf die Straße müssen. Für deine Mühe wirst du gleich belohnt. Der Wagen ist da, das Zimmer wartet auf uns, und ich versprech dir sogar, Jean nicht mit an den Strand zu nehmen, um deine Laune nicht zu verderben.“ Sie luden ihre Sachen in das Auto, nahmen Platz und fuh-
ren, los. Der Wagen raste an kleinen Stadthäusern vorüber, durch enge, staubige Straßen, wandte sich den Bergen zu, fuhr auf eine Chaussee hinaus und jagte auf einer kurvenreichen Straße hinunter zum Meer, zu den Gärten und Parks, aus denen die prächtigen Gebäude der Sanatorien im Vorübersausen aufblitzten. Am Ortsrand, in einer schattigen Kastanienallee, befand sich ein kleines rötliches Haus, das mit wildem Wein bewachsen war. Der Fahrer bremste scharf. „Wir sind da!“ erklärte Pronin und sprang mit Jean aus dem Auto. Eine besorgte Wirtin führte die Gäste in ein helles, freundliches Zimmer. An der einen Wand standen zwei Betten mit blauen Decken. Der Tisch war mit hellem Wachstuch bespannt. Weißgestrichene Hocker ersetzten die Stühle. Die Fenster führten aufs Meer hinaus. „Sie haben einen Hund mit?“ fragte die Wirtin nicht sehr erfreut. „Wird er auch nichts…“ – sie suchte nach einem feineren Ausdruck – „beschmutzen?“ „Jean ist ein guterzogener Hund“, erklärte Pronin. „Er ist stubenrein und ruhig. Niemand bereitet er Unannehmlichkeiten.“ Der Dackel kehrte sich nicht im mindesten daran, daß man von ihm sprach. Er schnüffelte gewichtig in alle Ecken, blickte in den offenen Kleiderschrank, kratzte sich, sprang auf eins der Betten und streckte sich seelenruhig auf der sauberen himmelblauen Decke aus. „Da haben Sie’s!“ rief die Wirtin erschrocken und wollte zum Bett hinstürzen. „Lassen Sie ihn.“ Pronin hielt sie zurück. „Nur eine Angewohnheit. Jean schläft schon zehn Jahre lang zu meinen Füßen.“ Es dauerte auch gar nicht lange, da hatte sich die Wirtin an
Jean gewöhnt und brachte ihm selbst sein Futter. Als aber Iwan Nikolajewitsch und Viktor zum Strand aufbrachen, nahm Pronin, wie versprochen, Jean wirklich nicht mit. Im Gegenteil: Er schloß Fenster und Türen, damit der Hund nicht etwa weglief. Sie führten ein ruhiges Leben. Morgens badeten sie, ließen sich braun brennen, frühstückten im Hause, gingen wieder ans Meer, aßen zu Mittag, schliefen – es war ein richtiger Erholungsurlaub. Zweimal ging Iwan Nikolajewitsch in den Ort, Jeans Herrchen zu suchen, wie er erklärte. Aber er blieb jedesmal nur so kurze Zeit weg, daß sogar Viktor kaum Notiz davon nahm. Erst am siebenten Tag, nach dem Mittagessen, störte Pronin Viktors Ruhe. „Ich habe einen Auftrag für dich“, sagte er. „Du kennst doch den Eisstand am Strand, unterhalb des Gasthauses?“ „Ja“, sagte Viktor und löffelte sein Kompott. „Soll ich Eis holen?“ „Später“, entgegnete Pronin. „Wir gehen so gegen sechs Uhr hin. Um diese Zeit treffen sich dort zwei Leute. Der eine, der Uniform trägt, braucht dich nicht zu interessieren, aber den andern merk dir genau.“ „Iwan Nikolajewitsch!“ Viktor schob das Schüsselchen mit dem Kompott so heftig fort, daß das Tischtuch bespritzt wurde. „Wir sind also doch nicht zu unserem Vergnügen hierhergefahren?“ „Sachte, sachte“, antwortete Pronin. „Wir wollen nur ein bißchen die Augen aufhalten in unserem Urlaub.“ Aber Viktor mehr zu sagen, bedurfte es nicht. Er war wie neubelebt und gab sich sogar mit Jean ab, was nicht wenig Verwunderung von dessen Seite hervorrief, hatte sich doch Viktor bislang kaum um ihn gekümmert.
Zum Kiosk gingen sie getrennt. Das Handtuch über der Schulter, spazierte Viktor als erster zum Strand. Er streckte sich im Sand aus, ganz in der Nähe des Kiosks, und ließ sich von der prallen Sonne verbrennen. Dieser Leichtsinn schien sich schon auszuwirken, Viktor machte einen von der Hitze völlig erschöpften Eindruck. Pronin dagegen griff zu der rettenden Zeitung. Er setzte sich auf eine etwas erhöht stehende Bank, von der er den Platz vor dem Kiosk gut übersehen konnte, und versteckte sich hinter den aufgeschlagenen Seiten, ein Mittel, zu dem schon Hunderte mehr oder weniger erfahrene Detektive gegriffen hatten. Am Kiosk fanden sich Badegäste ein; sie kauften Eis und erweckten nicht im geringsten Pronins Aufmerksamkeit. Der Mann, der ihn interessierte, erschien pünktlich um sechs Uhr. Auch er kaufte Eis, entfernte sich aber nicht vom Kiosk, sondern blieb stehen und stocherte gelangweilt mit dem Papplöffelchen in seinem Eisbecher. Es war ein großer, kräftiger Mann mittleren Alters mit einem klugen, noch jungen Gesicht. Geringschätzig schaute er mit seinen durchdringenden blauen Augen auf die Vorübergehenden. Ein wenig später tauchte der zweite auf, den Pronin erwartete. Er trug eine Fliegeruniform. Ebenfalls kräftig gewachsen, wenn auch nicht so groß, wirkte er neben dem Unbekannten in Zivil nahezu schmächtig. Der Mann in Uniform kaufte gleichfalls Eis. Der Unbekannte in Zivil warf dem Ankömmling einen raschen Blick zu, tat wie unbeabsichtigt einen Schritt auf ihn zu, sagte etwas, und plötzlich lachten sie beide und schlenderten langsam den Strand entlang. Iwan Nikolajewitsch nahm an, daß Viktor gleich losstürzen und hinter ihnen herlaufen werde, aber dieser rührte sich nicht von seinem Platz, und Pronin lobte ihn in Gedanken.
Zu Hause trafen sie einander wieder. „Na, hast du ihn dir genau angesehen?“ fragte Pronin. „Von morgen an wirst du mit diesem Mann spazieren und baden gehen. Du kennst doch das Erholungsheim oben auf dem Berg? Dort wohnt er. Sieh zu, daß er Gefallen an dir findet, und verbring soviel Zeit als möglich mit ihm. Aber gib acht, daß er keinen Verdacht schöpft. Sonst bleibt alles beim alten: Bade, leg dich in den Sand, iß, schlaf und erhol dich.“ Am nächsten Morgen traf Viktor seinen Unbekannten am Strand. Dieser schwieg, und Viktor schwieg. Der Unbekannte sprang ins Wasser, Viktor sprang ins Wasser. Der Unbekannte schwamm einen halben Kilometer hinaus ins Meer, Viktor ebenfalls. „Sie schwimmen nicht schlecht“, sagte der Unbekannte schließlich, als sie nebeneinander auf den Wellen schaukelten. „Aber Sie kann ich doch nicht einholen“, entgegnete Viktor und warf dem Schwimmer einen Blick ehrlicher Bewunderung zu. „Na, na! Schwimmen wir um die Wette!“ Der Fremde drehte sich dem Ufer zu, schwamm aber nicht an den Strand, sondern auf einen steilen, aus dem Wasser ragenden Felsen zu. Viktor holte den Fremden nur schwer ein. „Klettern wir hinauf“, rief dieser aus und kroch an dem glitschigen Felsen empor. Viktor schrie laut: „Klettern Sie nicht weiter! Sie werden abstürzen!“ Doch der Unbekannte hörte nicht auf ihn. Viktor konnte nicht umhin, die Kraft und Geschicklichkeit des Fremden zu bewundern. Am nächsten Tag schwammen sie noch weiter ins Meer hinaus, und der Fremde setzte Viktor erneut mit seinen Klettertouren in Erstaunen. Am dritten Tag wiederholte sich das-
selbe. Viktor merkte, daß Iwan Nikolajewitsch über die Art, wie er mit dem Fremden die Zeit totschlug, recht zufrieden war. Pronin selbst spazierte viel in der Umgebung umher, er legte sich fast gar nicht mehr an den Strand. Eines Tages erzählte er, daß er mit einem Motorboot gefahren sei. Viktor wunderte sich darüber. Gewöhnlich machte sich Pronin nichts aus diesen Fahrten, er ruderte lieber. Nach einer Woche – sie hatten gerade zu Mittag gegessen – ließ Iwan Nikolajewitsch Viktor nicht ans Meer hinunter. „Schlaf dich aus“, sagte er. „Heute abend haben wir viel Arbeit.“ Pronin weckte Viktor, als es bereits dunkel wurde. Sie aßen in aller Ruhe zu Abend. Dann sagte Pronin: „Es ist soweit.“ Er machte die Leine an Jeans Halsband fest. „Kommt Jean vielleicht mit?“ fragte Viktor erstaunt. „Ja“, bestätigte Pronin. „Es ist jetzt Zeit, daß er an der Sache teilnimmt.“ Sie verließen zu dritt das Haus. Eine warme südliche Nacht lag über der Erde. In den Büschen zirpten Grillen. Am schwarzen samtenen Himmel glitzerten Sterne. Dumpf rauschte das Meer. Aus den Erholungsheimen drangen durch das Grün der Gärten Stimmen und das Klappern von Geschirr. „Wohin gehen wir?“ fragte Viktor. „Zur Fliegerschule“, antwortete Pronin. „Sie liegt ungefähr fünf Kilometer von hier entfernt. Dein neuer Bekannter wird schon dorthin unterwegs sein.“ „Kommen wir nicht zu spät?“ fragte Viktor besorgt. „Nein, er schwimmt“, erklärte Pronin. „Wenn wir auch langsam gehen, wir kommen immer noch zurecht.“ Sie erreichten die Chaussee, die sich grau aus dem Dunkel
abhob. Der Lärm der menschlichen Ansiedlungen blieb zurück. Vom Meer her wehte der Wind. Die Brandung rauschte lauter. „So, jetzt will ich dir mal erzählen, auf wen wir Jagd machen“, begann Pronin. „Als im Botanischen Garten der Umschlag unter deinen Augen verschwand, ohne daß du das geringste merktest, fiel natürlich auf alle Verdacht, die sich in der Nähe der Agave aufhielten. Vier Leute hast du beobachtet, und ich muß dir gestehen, daß ich mich ebenfalls für sie interessiert habe. Aber bald ließ ich den Verdacht gegen sie fallen und befaßte mich mit den anderen Mitarbeitern des Botanischen Gartens. Alle waren rechtschaffene Menschen und gewissenhafte Arbeiter. Da wurde ich plötzlich auf einen Hund aufmerksam. Du hattest einmal erwähnt, daß sich nicht einmal ein Hund der Agave genähert habe. Wenn nun aber wirklich ein Hund den Umschlag gestohlen hat? dachte ich und sah mir die Mitarbeiter etwas näher an, die Hunde besaßen. Dabei fiel mir besonders der Gärtner Korobkin auf, der gleich am Garten in einem der Dienstgebäude wohnte. Er besaß einen ungewöhnlich gut dressierten und klugen Dakkel. Ein wenig seltsam mutete mich sein Familienname in Verbindung mit dem fremdländischen Namen des Hundes an. Hatte doch Gorochow an einen Mann mit ähnlichem Namen ein Telegramm gesandt.“ Viktor ergriff Pronins Hand. „Das heißt also, der Dieb, den ich suchte…“ „… war Jean“, bestätigte Pronin. „Sieh ihn dir nur genau an!“ „Ja, wahrhaftig!“ rief Viktor begeistert aus. „Er läuft nebenher und fällt gar nicht auf – so dunkel ist sein Fell.“ „Jean gehorchte seinem Herrn aufs Wort“, fuhr Pronin fort. „Der Dackel war glänzend dressiert und ungewöhnlich klug
und folgsam. Korobkin selbst war gebildeter als die anderen Gärtner, seine Lebensweise war einfach und ohne Makel. Bei der mir eigenen Pedanterie fuhr ich aber fort, ihn zu beobachten. Eines schönen Tages gab er ein Telegramm auf. An irgendeinen Awdejew in der hiesigen Fliegerschule: ,Vergessen Sie nicht, Lusja zum siebzehnten Geburtstag zu gratulieren.’ An diesem Telegramm war nichts Besonderes. Wie viele haben gemeinsame Bekannte. Aber gleichzeitig war mir zu Ohren gekommen, daß Korobkin in Urlaub fahren wollte. Er hatte einen Ferienplatz in einem hiesigen Erholungsheim erhalten. Abreisen sollte er am 15. ankommen demnach am 17. Ich entschloß mich, ihm nachzufahren. Im Süden wäre der Hund Korobkin nur zur Last gefallen, so gab er Jean für die Dauer der Reise einem Mitarbeiter des Botanischen Gartens. Vielleicht konnte uns Jean einen Dienst erweisen? Ich fuhr zu diesem Mitarbeiter, sagte ihm, daß ich mit Korobkin zusammen verreise und er es sich anders überlegt habe: Er wolle Jean mitnehmen und habe mich gebeten, den Hund zu holen. Zur Bestätigung zeigte ich ihm die Fahrkarte. Eine Stunde später als Korobkin, mit dem nächsten Zug, fuhren auch wir nach dem Süden. Was Awdejew anbelangt, so dient er in der Fliegerschule als Bordmechaniker. Vorher arbeitete er als Techniker in einer Fabrik. Er war ein recht leichtlebiger Bursche, besuchte unermüdlich alle möglichen Tanzabende, galt als Trunkenbold und Schürzenjäger und ging verschwenderisch mit seinem Geld um. Eines Tages geriet er in eine Situation, die ihn zwang, das Werk zu verlassen… Aber all das stellte sich erst jetzt heraus. Das Werk hatte ihm nämlich dennoch ein befriedigendes Zeugnis mitgegeben. Er wurde in die Fliegerschule aufgenommen und verstand es, einen zuverlässigen und sympathischen Eindruck zu erwecken.
Am Tag nach der Ankunft Korobkins erhielt Awdejew eine Postkarte. Darauf stand: .Lieber Fedja! Kommen Sie morgen an den Strand. Ich erwarte Sie um 6 Uhr neben dem Eiskiosk. Ihre Lusja.’ Wer zu diesem Stelldichein erschien, hast du gesehen. Nach der Art, wie sie einander begegneten, nahm ich nicht an, daß sie sieh früher schon getroffen hatten. Awdejew wurde sicherlich durch einen anderen angeworben. Vielleicht wußte er nur, daß man nötigenfalls mit ihm unter dem Namen Lusja Verbindung aufnehmen würde. Was mochte Korobkin von Awdejew wollen? Irgendwelche Pläne? Nein, Awdejew hatte zu keinerlei Plänen Zugang. Diversionsakte? Unsinn! In Korobkins Händen befand sich – das nahm dieser jedenfalls an – ein wichtiges Dokument, mit dem er so schnell wie möglich über die Grenze mußte. Er brauchte ein Flugzeug.“ „Nein, das glaube ich nun doch nicht!“ wandte Viktor ein. „Wie soll er das machen?“ „So ein Mensch wie Korobkin bringt manches fertig“, sagte Pronin. „Awdejew beauftragte er, den Raub eines Flugzeugs in die Wege zu leiten. Die Fliegerschule wird schärfstens bewacht, und Fremden ist es unmöglich, das Gelände ohne eine besondere Erlaubnis zu betreten. Die Gebäude und der Flugplatz nehmen eine große Fläche ein, von der ein Teil als Steilhang ins Meer ragt. Ich hab mir die ganze Küste angesehen, bin mit einem Motorboot entlanggefahren. Das Kap ist die einzige unbewachte Stelle, denn ohne Hilfe von oben kann sowieso niemand den Steilhang erklimmen.“ Viktor stockte der Atem vor Aufregung. „Deshalb also ist er auf den Felsen herumgeklettert!“ rief er aus. „Und Sie glauben, daß ihm heute…“ „… jemand hilft“, ergänzte Pronin. „Heute erhielt Korobkin
ein Telegramm aus dem Ort. Ein Soldat hatte es aufgegeben, und wieder war darin von der Lusja die Rede. ,Lusja fährt abends fort, treffen uns 20.15 Uhr’, lautete der Text. Heute abend befindet sich Korobkin auf dem Territorium der Schule…“ „Und was geschieht weiter?“ fragte Viktor ungeduldig. „Was weiter geschieht, werden wir bald erleben“, erklärte Pronin. „Jean wird uns helfen. Wir ertappen Korobkin auf frischer Tat…“ „Noch eine Frage, Iwan Nikolajewitsch“, sagte Viktor. „Warum riskiert Korobkin soviel? Erstens die Verbindung mit Awdejew, den er nicht kennt und auf den er sich nicht völlig verlassen kann, dann der Raub des Flugzeugs… Wäre es nicht gescheiter von ihm, einfach so schnell wie möglich über die Grenze zu gehen?“ „Gescheiter schon, aber nicht so einfach. Korobkin weiß genau, daß wir nach Verlust des Dokuments die Grenzen zu Lande und zu Wasser sehr gut gesichert haben. Nur ein Weg steht ihm offen – durch die Luft. Ob er wollte oder nicht, er mußte das Risiko eingehen.“ Vor ihnen blinkten Lichter. „Da ist die Schule“, sagte Pronin. Sie langten am Eingangstor an, über dem eine elektrische Lampe brannte. Ein Soldat versperrte ihnen den Weg. Pronin nannte seinen Namen, der Diensthabende klingelte beim Stab an und führte die Ankömmlinge dann selbst zum Schulleiter. Der Schulleiter stand in seinem Arbeitszimmer am Tisch. Auch der Chef des Stabes und der Kommissar hatten sich eingefunden und warteten auf Pronin. Sie kannten ihn bereits und empfingen ihn wie einen alten Freund. „Spät kommt ihr, doch ihr kommt“, sagte der Schulleiter im
Scherz. „Wir kommen immer noch dahin, wo wir hinwollen“, entgegnete ihm Pronin im gleichen Ton. Er hob Jean hoch, drückte ihn an sich, ging zu allen und reichte ihnen die Hand. Dann stellte er Viktor vor. Jean saß ruhig in Pronins Arm und schaute sich neugierig die unbekannten Leute an. „Was ist denn das für eine kleine Mißgeburt?“ fragte der Kommissar geringschätzig. Pronin lächelte. „Sie beleidigen ihn zu Unrecht. Dackel sind sehr gute Jagdhunde. Wir jagen Füchse und Dachse und sogar Bären. Und manchmal führen wir noch schwierigere Aufgaben durch.“ Der Schulleiter schaute auf die Uhr. „Ist es soweit?“ fragte Pronin. „Nur keine Hast. Wir haben noch viel Zeit.“ Alle traten auf die Außentreppe hinaus, stiegen die betonierten Stufen hinab, und schon hatte sie die Dunkelheit verschluckt. „Eine herrliche Nacht“, flüsterte Pronin. „Das gibt gutes Flugwetter.“ „Ja“, bestätigte der Schulleiter. „Morgen früh starten die Maschinen.“ Der Schulleiter ging voran, neben ihm schritt Pronin mit Jean im Arm. Der Kommissar, der Chef des Stabes und Viktor folgten in einiger Entfernung und sprachen leise miteinander. Dumpf rauschte das Meer. Am Himmel verblaßten die Sterne. Die Luft war schwül. Sie traten auf das Kap hinaus und erreichten die Felswand, die senkrecht ins Meer fiel. Pronin ließ Jean auf die Erde und tätschelte ihm die Schnauze. „Jean, mein Liebling, such, such! Sei ein kluger Hund.“
Jean stürzte davon in die Dunkelheit, aber Pronin hielt das Ende der Leine fest in der Hand, und der Hund kehrte zu seinen Füßen zurück. „Such, such!“ wiederholte Pronin; „Such!“ Langsam führte er Jean am äußersten Rand des Steilhangs entlang. Die anderen folgten ihnen geduldig. Plötzlich riß Jean so stark an der Leine, daß Pronin ausglitt. Beinahe wäre er in eine kleine Felsspalte gerutscht, doch er konnte sich fangen und stieg hinter Jean hinab. Der Hund beschnüffelte etwas. Pronin hockte sich neben ihm nieder. In der Spalte lag ein zusammengerolltes Seil. Jean war nicht davon wegzubringen, er schnüffelte und schnüffelte. „Ein riskantes Unternehmen, hier herauf zuklettern“, murmelte Pronin. „Dazu noch in so einer Dunkelheit!“ Er streichelte den Hund und lobte ihn leise: „Bist ein gutes Hundchen.“ Pronin holte aus der Tasche ein in Papier eingewickeltes Taschentuch, das er von der Hausmeisterin des Erholungsheims aus der schmutzigen Wäsche Korobkins erhalten hatte. Er wickelte das Taschentuch aus und hielt es Jean an die Schnauze. Dieser wedelte erfreut mit dem Schwanz. „Such, Jean!“ Der Hund schaute unentschlossen einmal nach unten, einmal noch oben. „Such, Jean!“ wiederholte Pronin und stieß den Hund nach oben. Da wußte Jean, was man von ihm wollte. Er trippelte weiter in die Dunkelheit. Pronin rannte hinter ihm her und hielt ihn an der gespannten Leine. So liefen sie über das ganze Kap: vorn Jean, hinter ihm Pronin, dann die anderen. Sie entfernten sich immer weiter vom Meer, stiegen über einen kleinen
Hügel in ein Tal, liefen am Klubhaus vorbei, am Wohnheim, am Wirtschaftsgebäude. Dann strebte Jean einer kleinen Erhöhung zu. „Da ist ein Brunnen“, klang hinter Pronins Rücken die Stimme des Schulleiters. „Der Hund will nur trinken“, meinte der Kommissar. „Nein, Jean sucht seinen Herrn“, entgegnete Pronin überzeugt. „Er wird doch nicht in den Brunnen gesprungen sein!“ Der Kommissar schüttelte ungläubig den Kopf. Jean lief wirklich bis zum Brunnen und blieb dann stehen. „Was hast du, Jean?“ fragte Pronin zärtlich. Der Hund lief um den Brunnen herum und kratzte an einer Stelle mit den Pfoten. „Viktor“, rief Pronin, „gib mir mal die Taschenlampe.“ Er knipste sie an und beugte sich über Jean, um ihm die Pfoten anzuleuchten. Neben dem Brunnen lagen in einer Pfütze Wasser winzige Glasstückchen. „So etwas hab nicht mal ich erwartet“, murmelte Pronin. Er hob ein Stückchen an die Augen. „Viktor!“ rief er. „Siehst du, was das ist?“ Er zeigte auf die herumliegenden Scherben. Viktor beugte sich darüber, begriff aber nichts. „Das sind doch die Ampullen, die Ampullen!“ rief Pronin aus. „Verstehst du nicht?“ Viktor verschlug es den Atem. Pronin befahl ihm, den anderen alles zu erklären, und beugte sich wieder zu Jean. „Jean, mein gutes Hundchen! Such, such…“ Wieder ging es am Wirtschaftsgebäude vorüber, am Klubhaus, irgendwohin ins Unbekannte…
In der Ferne, über dem Horizont, begann sich der Himmel aufzuhellen. Die erste graublaue Dämmerung breitete sich auf der Erde aus. „Bald wird es Tag“, sagte der Schulleiter. „Ich werde an dem Brunnen einen Wachposten aufstellen.“ „Meinetwegen“, entgegnete Pronin. Er zeigte mit einem Kopfnicken auf Jean. „Wo will er hin?“ „Anscheinend zum Flugplatz“, antwortete der Stabschef. Jean führte sie wirklich dorthin. Der Wachhabende rannte ihnen entgegen, erkannte den Schulleiter und machte kehrt. Jean trippelte eilig an den kalten, schweigenden Maschinen entlang. Vor einem Flugzeug blieb er plötzlich stehen und war nicht mehr zum Weitergehen zu bewegen. „Eine neue Maschine“, sagte der Schulleiter. „Wir haben zwei davon erhalten. Warum läuft er nicht weiter?“ „Er bleibt stehen, weil Awdejew der Bordmechaniker dieser Maschine ist“, erklärte Pronin. „Das stimmt“, antwortete der Schulleiter. „Aber woher wissen Sie das?“‘ „Rufen Sie bitte einige ihrer Kommandeure und auch Awdejew“, bat Pronin halblaut, ohne vorerst auf die Frage einzugehen. Der Schulleiter wandte sich an den Diensthabenden, der sich zu ihnen gesellt hatte, und übermittelte ihm den Befehl. Eilig rannte dieser davon. Jean zerrte an der Leine. Pronin ging mit ihm um das Flugzeug herum. Plötzlich sprang Jean hoch, kratzte an der metallenen Verkleidung und bellte hell auf. „Leise, leise“, beruhigte ihn Pronin. Da kamen auch schon die Kommandeure über den Platz gelaufen, mit ihnen Awdejew. Der Bordmechaniker trat vor.
„Melde mich zur Stelle, Genosse Schulleiter!“ „Sagen Sie bitte“, wandte sich Pronin an ihn, „wen haben Sie da in der Maschine versteckt?“ Awdejew blieb ruhig, im grauen Frühlicht konnten die Umstehenden seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. „Niemand“, antwortete er und bekräftigte: „Niemand.“ Plötzlich bückte sich Pronin und löste die Leine von Jeans Halsband. Sofort schoß der Dackel auf das Flugzeug zu, sprang daran hoch und jaulte. „Sehen Sie doch bitte nach, wer sich da versteckt haben könnte“, bat Pronin den Schulleiter. Der Schulleiter ging zu dem Flugzeug und blieb neben dem bellenden Jean stehen. Eine Weile fingerte er an der Verkleidung herum, dann riß er blitzschnell eine kleine Luke auf, und alle erblickten in der Öffnung ein Paar Stiefel. Sie bewegten sich nicht. „He, Sie!“ rief Pronin. „Kriechen Sie heraus, es bleibt Ihnen ja doch nichts anderes übrig! Zwingen Sie uns nicht, Sie an den Füßen herauszuziehen.“ Die Stiefel rührten sich, schoben sich vor, ihnen folgte ein Körper, und auf die Erde sprang der Fremde, mit dem Viktor Im Meer geschwommen war. Er trug eine Fliegeruniform, die ihm nicht ganz paßte. „Unser Bordmechaniker scheint kein schlechter Kammerunteroffizier zu sein“, bemerkte Pronin. „Jemand wird heute seine Uniform vermissen.“ Jean lief freudig winselnd auf den Fremden zu und sprang an ihm hoch, doch der fuhr zurück, kniff die Lippen ein und schleuderte das Tier mit einem Fußtritt beiseite. „Festnehmen!“ rief Pronin. „Festnehmen! Das ist ein gefährlicher…“ Er brauchte nicht zu Ende zu sprechen. Die Kommandeure
packten den Fremden an den Armen, und Viktor durchsuchte ihn. „Zwei Revolver“, meldete er. „Das ist nicht viel“, meinte der Major, „aber in Meisterhänden…“ Wiederum kam er nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Ein dünner, langgezogener Klagelaut unterbrach ihn, so, als weine ein Kind oder winsele ein Hund. Pronin wandte sich unwillkürlich um. Das Gesicht an das Flugzeug gelehnt, stand Awdejew und weinte. „Genosse Major, was unternehmen wir nun?“ fragte der Schulleiter. „Wer ist der Kommandeur dieser Maschine?“ erkundigte iich Pronin seinerseits. „Genosse Steschenko!“ rief der Schulleiter zu den Kommandeuren hinüber. Steschenko trat vor, klein, stämmig, mit finsterer Miene. „Guten Tag, Genosse Steschenko!“ begrüßte ihn Pronin. „Begreifen Sie, was Ihnen heute drohte? Nach dem Start hätte Ihr Bordmechaniker Sie kaltblütig umgelegt und Ihr ungebetener Fahrgast Ihren Platz eingenommen. Er ist in so vielen Dingen beschlagen, daß er ohne Zweifel auch etwas von der Luftfahrt versteht. Wäre der Flugzeugraub geglückt – was ich übrigens bezweifle – , hätten wir ein Kriegsgeheimnis eingebüßt und Sie, einen tüchtigen Kampfflieger, für einen Verräter und Überläufer gehalten. Verstehen Sie, Genosse Steschenko?“ Steschenko schwieg. Alle hatten den Worten Pronins aufmerksam zugehört. „Gehen wir jetzt zum Stab“, forderte Pronin auf. „Es ist Zeit, mit dieser Geschichte Schluß zu machen.“ Die Gruppe überquerte den Flugplatz, den Fremden und Awdejew in
ihrer Mitte. Unmerklich war es hell geworden; rosige Streifen zerteilten den Himmel, Vögel zwitscherten. Ein neuer Tag begann. „Die Posten am Brunnen sind schon aufgestellt“, sagte der Schulleiter. „Soll ich nicht Bakteriologen rufen lassen? Das Wasser muß desinfiziert werden.“ „Darüber sprechen wir noch“, antwortete Pronin. „Vorläufig sollen die Posten niemand an den Brunnen heranlassen“, fügte er so laut hinzu, daß der Fremde es hören mußte. Die beiden Verhafteten wurden zum Stabsgebäude gebracht und in ein Zimmer geführt. „Nehmen Sie bitte Platz“, forderte Pronin 4en Fremden auf. Der Mann setzte sich. „Werden Sie uns sagen, wer Sie sind?“ fragte Pronin. „Nein“, erwiderte der Fremde. In diesem Augenblick fiel Sonnenlicht durchs Fenster, tanzte an den Wänden und erhellte das Gesicht des Fremden. „Warten Sie!“ rief da Pronin aus. „Warten Sie – wir kennen uns doch!“ Jäh erinnerte sich der Major an das hungernde Petrograd, an die Schneewehen im Walde, an die dunklen Schächte – und er erkannte den Mann! „Natürlich kennen wir uns“, wiederholte er überzeugt. „Im Jahre neunzehn waren Sie Leutnant, aber inzwischen sind Sie sicher die Rangleiter emporgeklommen, nicht wahr – Hauptmann Rogers?“ „Major Rogers“, verbesserte der Fremde kühl. „Um so besser!“ rief Pronin. „Dann haben wir ja beide den gleichen Rang. Angenehm, Sie wiederzusehen, Major Rogers.“ Rogers antwortete nicht. Er warf einen Blick auf die Wasserkaraffe, die auf dem Fensterbrett stand, überlegte kurz
und streckte dann die Hand aus. Aber Pronin hatte den Blick erhascht, sofort ergriff er die Karaffe. „Ich hoffe, Sie wollen nicht in Burzews Spuren treten?“ meinte er. „Nein, ich bin Soldat“, versetzte Rogers hart. „Ich habe einfach Durst.“ „Einen Augenblick!“ Pronin beugte sich aus dem Fenster, goß das Wasser auf die Erde und trat mit der leeren Karaffe in der Hand zum Schulleiter. „Bitte, schicken Sie jemand zum Brunnen nach frischem Wasser.“ Der Schulleiter sah den Major verdutzt an, zögernd reichte er die Karaffe einem Soldaten. Pronin wandte sich wieder Rogers zu. „Sie sind sicher der beste Rußlandspezialist?“ „Ja, ich verstehe etwas von meinem Fach“, stimmte Rogers ihm bei. „Dann kennen Sie ja Rußland gut?“ „Ich kenne es.“ „Wissen Sie, was ein Ipostas ist?“ fragte Pronin. „Nein“, erwiderte Rogers. „Was ist es denn?“ „So heißen in der orthodoxen Terminologie die drei verschiedenen Gesichter Gottes“, erklärte Pronin. „Auch Sie sind mir in verschiedenen Ipostassen erschienen: als Lehrer aus einem Dorf bei Pskow, als Rotarmist von der Grenzwache, als Märchensammler und Installateur, als Gärtner und Dokumentendieb… Entsinnen Sie sich noch?“ „Natürlich.“ „Sie hatten sich zuviel vorgenommen, Major“, fuhr Pronin pört. „Ihr Dokument hat keinen Wert, das Flugzeug zu rauben ist Ihnen auch nicht geglückt, und schließlich…“ In diesem Augenblick trat der Soldat ein, der das Wasser geholt hatte. Pronin goß ein Glas voll und reichte es Rogers.
„Bitte, Major, Sie hatten Durst.“ „Ein schlechter Witz“, sagte Rogers. „Sie können mich erschießen, aber dieses Wasser trinke ich nicht.“ „Sie fürchten wohl, in die Grube zu fallen, die Sie anderen gegraben haben?“ fragte Pronin. „Ganz wie Sie wünschen. Bei uns ist es eigentlich üblich, zuerst die Gäste zu bewirten, aber da Sie ablehnen, will ich meinen eigenen Durst löschen.“ Pronin ergriff das Glas, setzte es an die Lippen und begann zu trinken, langsam und mit Genuß. Rogers starrte ihn entsetzt an. „Iwan Nikolajewitsch!“ schrie Viktor, „Was tun Sie?“ „Reg dich nicht auf“, sagte Pronin und stellte das leere Glas auf den Tisch. „Glaubst du denn, ich hätte auch nur eine einzige ruhige Minute gehabt, wenn sich in unserem Lande ein Fremder mit Choleraimpfstoff umhergetrieben hätte? Als ich das zweite Mal in der Sowchose war, habe ich die Ampullen mit den Bakterien gegen Ampullen mit harmlosem Seifenwasser ausgetauscht.“ Übersetzt von Erna Linde
Eine interessante Neuerscheinung Johann Gutenberg OLGA SLJOSKINA DIE ZINNERNE HAND Etwa 288 Selten, Ganzleinen, etwa 6.50 DM Erscheint im März 1959 Wenn wir eine Zeitung oder ein Buch zur Hand nehmen, denken wir nicht mehr daran, welch umwälzende Erfindung es war, einen handgeschriebenen Text in beliebig hoher Anzahl zu vervielfältigen. Heute gibt es dafür schnelle und moderne Maschinen. Erst im 15. Jahrhundert haben viele Männer versucht, durch eine schnelle Art der Vervielfältigung von Schriften den Menschen Lehrbücher und Unterhaltungslektüre zu-gängig zu machen. Bis dahin mußten alle Bücher mit der Hand geschrieben werden. Johann Gutenberg unternahm als erster den Versuch, mit beweglichen Lettern mehrere Abzüge von einer Schrift zu machen. Er ist der Erfinder der Buchdruckerkunst. Mehr über das wechselvolle Leben Johann Gutenbergs erfahrt Ihr in diesem spannenden historischen Roman. VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN