Einladung zur Literaturwissenschaft. Jochen Vogt Preis: EUR 14,90 Taschenbuch - 288 Seiten, 3. durchges. u. aktual. Aufl...
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Einladung zur Literaturwissenschaft. Jochen Vogt Preis: EUR 14,90 Taschenbuch - 288 Seiten, 3. durchges. u. aktual. Aufl. (2002) Uni-TB. GmbH., Stgt; ISBN: 3-82522072-9 Erhältlich im Buchhandel oder via Internet
Das Buch ist eine problemorientierte Einführung in die (nicht nur germanistische) Literaturwissenschaft; kein positivistisches Lernbuch, aber auch keine bloße Methodenrevue. Gestützt auf Erfahrungen aus langjähriger Lehre versucht der Autor, anhand anschaulicher Beispiele grundsätzliche Perspektiven und Fragestellungen der Literaturwissenschaft zu entfalten. Das Spektrum der Themen reicht von der antiken Rhetorik und Poetik über Begründungsfragen der modernen Literaturwissenschaft und exemplarische Strukturanalysen zu epischen, lyrischen und dramatischen Texten bis hin zu aktuellen Fragestellungen wie Lesesozialisation und "Literatur in der Medienkonkurrenz". Die leserfreundliche Anlage des Textes, mit erläuternden Marginalien, Begriffsdefinitionen, Schaubildern und Abbildungen soll den Studienanfängern den Einstieg erleichtern und sie ermuntern, die vielfältigen weiterführenden Anregungen und Hinweise selbständig zu verfolgen. Diesem Ziel dient (als Ergänzung zum Buch) dieses "Vertiefungsprogramm zum Selbststudium".
1. Aus Irrtum studiert? Größe und Krise der Germanistik 2.
Die Literaturwissenschaft auf der Suche nach ihrem Gegenstand
3. Regeln und Probleme des Textverstehens: Hermeneutik 4. Theorien der Textproduktion: Rhetorik und Poetik 5. Gattungen und Textstrukturen I: Epik 6. Gattungen und Textstrukturen II: Lyrik 7. Gattungen und Textstrukturen III: Dramatik 8. Zwischenbilanz: Was heißt nun "Literatur"? 9. Gibt es Methoden in der Literaturwissenschaft? 10.
Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte?
11. Von Lust und Frust der Lektüre 12. Ausblick: Literatur im Medienwandel 13. INDEX
1. Aus Irrtum studiert? Größe und Krise der Germanistik Geisteswissenschaften Naturwissenschaften Bücher zum Studienstart "Was sollen Germanisten lesen" "Schreiben im Studium"
Texte zur Diskussion Wilhelm Voßkamp: Bildung ist mehr als Wissen. Die Bildungsdiskussion in historischer Perspektive (word-Datei) Links Deutsch für die Primarstufe der Universität Essen
Geisteswissenschaften
Der Brockhaus verweist in seinem Eintrag zum Stichwort 'Geisteswissenschaften' darauf, daß darunter im deutschsprachigen Raum die Wissenschaften zusammengefaßt sind, die die Ordnungen des Lebens in Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte, Erziehung Wirtschaft, Technik und die Deutungen der Welt in Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaften zum Gegenstand haben. Die Engländer sprechen von 'Humanities' oder auch 'Social Sciences', während im französischsprachigen Raum 'Lettres' oder die 'Sciences humaines' darunter verstanden werden. Obwohl der Begriff bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts bekannt ist, kommt es erst ab etwa Mitte / Ende des 19. Jahrhunderts zu einer weiteren Verbreitung. Insbesondere im Zusammenhang mit der Auflösung der Hegelschen Philosophie erfahren die Geisteswissenschaften durch den Philosophen Wilhelm Dilthey ein eigenes Profil und eine eigene Methode. Im Rückgriff auf das Hegelsche System der Geistphilosophie konzipiert Dilthey eine philosophische Lehre, der es um nicht viel weniger geht als darum, die 'geistige Welt' systematisch zu erfassen. In einer Vielzahl von Monographien und Aufsätzen, beginnend mit der "Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1883) über die "Rede über die Entstehung der Hermeneutik" (1900) bis zum postum publizierten "Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften" (1910), sucht Dilthey die Geisteswissenschaften als "Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen" und als "Wissenschaft der geistigen Welt" zu verstehen. Kernbegriff seines hermeneutischen Verfahrens ist dabei das 'Verstehen' geistiger Zusammenhänge im Unterschied zu den Naturwissenschaften, die Dilthey - im übrigen ganz ähnlich wie seine an Kant orientierten Zeitgenossen Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert - über den Begriff des Erklärens fixiert. Während der Verstehensprozeß ein - bis zuletzt - psychischer Akt des Sich-Hineinversetzens, Nachfühlens und Nachbildens (eines Wegs von außen nach innen sozusagen) meint und damit - auf unaufhebbare Weise - subjektiv bleibt, sind die Naturwissenschaften in dem Sinne vermeintlich objektiv, daß sie (mit Kant) Natur als ein Dasein unter Gesetzen (mithin also den Weg wieder von innen nach außen) beschreiben. Eine besondere Bedeutung kommt noch im System dieser Philosophie der Kunst und Literatur zu, insofern diese als Spitzenleistungen des menschlichen Geistes - als dessen Höchstform gleichsam - den jeweiligen Index der Menschheitsentwicklung indizieren; in den Worten des ungarischen Philosophen und Literarhistorikers Georg Lukács, der in seiner Jugendzeit maßgeblich von Wilhelm Dilthey beeinflußt gewesen ist: Kunst und Literatur repräsentieren das "Gedächtnis der Menschheit". Im Anschluß an Dilthey hat sich das Konzept der Geisteswissenschaften samt ihrer hermeneutischen Methodik (mit eben dem Kernbegriff des Verstehens) in den Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften, aber auch in der Soziologie wie
auch in der Pädagogik durchgesetzt und spielt - mehr oder minder ungebrochen bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts methodisch die wichtigste Rolle, ja, beeinflußt sogar nachhaltig das marxistische Denken, das freilich eine andere Nomenklatur verwendet und anstelle des Begriffs der Geisteswissenschaften den der Sozial- bzw. Gesellschaftswissenschaften rückt. ©WJ
Sekundärliteratur: 1. Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte [1883], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I., 6. Aufl., Stuttgart 1966. 2. Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Freiburg u.a. 1896. 3. Manfred Riedel: Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, Stuttgart 1978. 4. Joachim Ritter: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, Münster 1961.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
* 27.08.1770, Stuttgart † 14.11.1831, Berlin Philosoph Hegel ist ein Hauptvertreter der Philosophie des deutschen Idealismus. "Das Geistige allein ist das Wirkliche" ist ein zentraler Satz in Hegels Denken, der diese idealistische Position auf den Begriff bringt. Die gesamte Wirklichkeit, alles das, was wir sehen, die Menschen, die Tiere, die Natur, die Welt sind letztlich geistigen Charakters. Der Logos ist vor allem, ist in allem. In dieser Gemeinsamkeit liegt auch die Einheit alles Getrennten, aller Dinge in der Welt. Dieses Alleben des Geistes wird von Hegel als Gottheit bezeichnet und führt ihn zur philosophischen Theologie. "Gott ist der absolute Geist", hören wir ihn sagen, jedoch nicht im Sinne eines transzendenten Schöpfergottes, sondern als "Gott der Welt". Dieses geistige Prinzip, der Weltgeist, liegt auch der historischen Entwicklung zugrunde, denn die historische Entwicklung ist nicht zufällig, sondern ist Manifestation des objektiven Geistes. Der Einzelne handelt nicht wie bei Kant als sittliche Einzelpersönlichkeit, sondern der Weltgeist handelt durch den Einzelnen als sein Werkzeug. Die handelnde Persönlichkeit – z.B. der Heerführer oder Fürst – mag glauben, er fördere durch seine Handlung nur rein persönliche Zwecke – wie die Machterweiterung - , aber dies ist nur eine "List der Vernunft", die über diese vorgestellten Zwecke hinweg durch den Handelnden das historisch Notwendige bewirkt. Auch eine moralische Beurteilung der Handlungen wird durch diese Betrachtungsweise uneindeutiger, denn Kriege und Greueltaten können auch im Einzelfall als vom Individuum unabhängige Objektivierungen des Weltgeistes interpretiert werden. Individuen, Völker, Epochen sind für Hegel nur notwendige Durchgangsstadien für den großen weltgeschichtlichen Prozeß. Diese Auffassung der Geschichte führte Hegel zu einer sehr positiven Bewertung des preußischen Staates, in dessen rationaler Verwaltung er ein hochentwickeltes geistiges Prinzip am Werke sah. Als Philosophieprofessor in Berlin verlieh er dem Staat, dem er diente, damit höhere geistige Weihen. Ganz anders waren die politischen Schlüsse, die ein berühmter Hegel-Schüler, nämlich Karl Marx, aus der Lehre des Meisters zog: bei Marx wird der Idealismus zum Materialismus gewendet, und aus den dialektischen Bewegungsgesetzen der Geschichte wird eine Abfolge von Klassenkämpfen, an deren Ende nicht der zu sich selbst gekommene Geist, sondern die befreite sozialistische Gesellschaft steht. Kunst, Religion und Philosophie stehen bei Hegel über dem weltgeschichtlichen
Prozeß, d.h. über den konkreten historisch-politischen Entwicklungen. Zwar sind sie unabhängig von der politisch-gesellschaftlichen Realität, aber trotzdem einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen, denn in ihnen findet die Selbstreflexion des absoluten Geistes statt. Der gestalterische Wandel im Bereich der Kunst ist dabei für Hegel nur von sekundärem Interesse. Obwohl er die Entwicklung vom antiken Epos zum modernen Roman seiner Zeit beschreibt und analysiert, interessiert ihn die Kunst vor allem in ihrer Funktion, Anschauung des absoluten Geistes zu sein. Dies gelingt ihr in der Antike, im Mittelalter hat sie ihre Stellung an die Religion verloren, die schon einen Schritt weiter geht und Anschauung und Denken (Begriffe) miteinander verbindet. Aber erst in der Philosophie seit der Aufklärung begreift der Weltgeist sich selber, kommt er zu sich selbst. Die moderne Kunst ist für Hegel nicht auf der Höhe des Weltgeistes, sie ist nur subjektivistische "faule Existenz", die nicht auf die objektiven Strukturen der Welt verweist. ©rein
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍
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Phänomenologie des Geistes (1807) Wissenschaft der Logik (1812/16) Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1817) Vorlesungen über die Ästhetik (gehalten 1817/18 bis 1828/29; herausgegeben 1835-1838) Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (gehalten 1822/23 bis 1830/31; herausgegeben 1837)
Sekundärliteratur: 1. F. Châtelet: G. W. F. Hegel, in: ders. (Hg.): Geschichte der Philosophie. Bd. V: Philosophie und Geschichte (1780-1880), Frankfurt/M. u.a. 1974, S. 150-180. 2. C. Peres: Die Struktur der Kunst in Hegels Ästhetik, Bonn 1983. 3. H. Schnädelbach: Hegel zur Einführung, Hamburg 1999.
Der objektive Geist
Das Reich des Geistes gliedert Hegel in drei Stufen: in den subjektiven, den objektiven und den absoluten Geist. Der Bereich des objektiven Geistes ist der der Gesellschaft, der Familie, des Staates, der Geschichte. Das einzelne Individuum – der subjektive Geist – tritt über die Familie, die Gesellschaft, den Staat in die nächsthöhere – objektivere - Sphäre ein. Er ordnet sich damit überindividuellen Gesetzen unter.
Der subjektive Geist
Das Reich des Geistes gliedert Hegel in drei Stufen: den subjektiven, den objektiven und den absoluten Geist. Der subjektive Geist ist die unterste Stufe, sie beinhaltet das Leben des einzelnen Menschen, des Individuums.
Karl Marx / Friedrich Engels
Karl Marx * 5.5.1818, Trier †14.3.1883, London Friedrich Engels, * 28.11.1820, Barmen †5.4.1895, London Philosophen, Politiker und Publizisten Karl Marx und Friedrich Engels sind bekannt als die Wissenschaftler und Publizisten, die der Arbeiterklasse eine theoretische Grundlage für ihren Emanzipationskampf erarbeiteten. Während sich die internationale Arbeiterbewegung in erster Linie auf die nationalökonomischen Werke von Marx (Das Kapital) und die politischen Propagandaschriften (Manifest der Kommunistischen Partei) stützte, haben einige ihrer erst spät gewürdigten "Frühschriften" im 20. Jahrhundert Bedeutung für den philosophischen Neomarxismus - und damit auch für den Problemkreis der Hermeneutik und Ideologiekritik gewonnen. Dazu zählt in erster Linie die von Marx und Engels gemeinsam verfaßte Deutsche Ideologie von 1845/46, die sowohl die Arbeit der älteren Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer) als auch die von Jürgen Habermas beeinflußt hat. Die deutsche Ideologie richtet sich gegen die philosophische Schule des Junghegelianismus. Dieser wird vorgeworfen, sich bei ihren Kämpfen lediglich auf das Reich der Gedanken, d.h. die Auseinandersetzung mit Hegels System des Idealismus zu beschränken. Richtig und nötig sei es jedoch, den Zusammenhang zwischen den Gedanken und den materiellen Lebensverhältnissen der Menschen zu begreifen. Demnach sind alle bisherigen Gesellschaften hierarchisch in Klassen von Menschen aufgegliedert, wobei die jeweils herrschende Klasse über die materielle Produktion verfügt. Zur Absicherung dieses Herrschaftverhältnisses, müssen die Gedanken (das Bewußtsein) der beherrschten Klassen kontrolliert werden. Um dies zu erreichen, werden die Interessen der herrschenden Klasse als die vorgeblich gemeinsamen aller Mitglieder der Gesellschaft dargestellt. Dies gelingt, weil mit den Mitteln zur materiellen Produktion zugleich die Mittel zur geistigen Produktion im Besitz der herrschenden Klasse sind. Wird diese Darstellung von den Mitgliedern der beherrschten Klassen angenommen, sind ihre Gedanken als ideologisch verzerrtes, falsches Bewußtsein zu verstehen, das wiederum durch Ideologiekritik aufdeckt werden kann.
© DS und JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Die deutsche Ideologie (1845/6) Manifest der Kommunistischen Partei (1848) Das Kapital, 3 Bde. (Bd.1 1867; Bde. 2. u. 3. 1885-94, hg. v. F. Engels)
Sekundärliteratur: 1. O.K. Flechtheim / H.-M. Lohmann: Marx zur Einführung, Hamburg 1988. 2. H. Fleischer: Marxismus und Geschichte, Frankfurt/M. 1972. 3. Sozialistische Studiengruppen: Die "Deutsche Ideologie" - Kommentar, Hamburg 1981.
Historischer Materialismus
Die von Marx und Engels begründete Lehre, nach der die Geschichte von den ökonomischen Verhältnissen bestimmt wird.
Der absolute Geist
Das Reich des Geistes gliedert Hegel in drei Stufen: in den subjektiven, den objektiven und den absoluten Geist. Über dem subjektiven und objektiven erhebt sich der absolute Geist. Erst in dieser Sphäre ist der Geist vom "Anders-Sein" zurückgekehrt, ist er ganz bei sich. Diese Selbstreflexion des Geistes manifestiert sich in den drei Bereichen Kunst, Religion und Philosophie.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (1835-1838)
Hegel spricht in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, die er zwischen 1817 und 1829 gehalten hat, nicht vom Schönen in der Natur, sondern vom Schönen in der Kunst. Dieses durch den Menschen gestaltete Schöne steht für ihn über dem Naturschönen, "weil [es] aus dem Geist geboren" ist. Dieser Argumentation folgend ist Kunst nicht nur Abbild/Mimesis von Natur, denn das würde bedeuten, daß die Kunst beim Natürlichen stehen bliebe und nicht zum Geistigen vordränge. Kunst geht vielmehr aus der absoluten Idee hervor, sie ist sinnliche Präsentation des absoluten Geistes als Ideal. Die Betonung liegt hier auf dem Adjektiv 'sinnlich', denn die eigentliche, reinste Darstellung der Wahrheit, der Ideen, des Geistes sieht Hegel in der Philosophie. Nur dort findet sich "das freie Denken des absoluten Geistes", nur dort "ist die Region der Wahrheit an sich selbst, nicht des relativ Wahren." Zwischen Philosophie und Kunst als Formen des absoluten Geistes steht die Religion. Der Mangel der Religion liegt nun darin, daß das 'Absolute' hier nicht, wie in der Philosophie begriffen, sondern bloß vorgestellt wird, für den endlichen Geist also noch ein An-sich-Seiendes ist. Diese Darstellung des Absoluten als Ideal muß wiederum als Idealziel der Kunst begriffen werden, das in den einzelnen Kunstepochen in der Menschheitsgeschichte mehr oder weniger verwirklicht wurde. Hegel unterteilt die "epochalen Formen der Kunst" in symbolische Kunst, klassische Kunst und romantische Kunst. Die kulturhistorisch früheste und in sich unentwickeltste Form des Kunstschönen ist die symbolische Kunst. Sie ist Ausdrucksform der orientalischen Früh- und Hochkulturen und entspricht einer – modern gesprochen – naturmagischen "Weltanschauung". Sie ist geprägt durch eine ausgeprägte Distanz zwischen der Idee, die selbst noch unbestimmt und unklar ist, und der Gestalt, die meist von Naturerscheinungen abgeleitet ist (z.B. Tiergestalt der Götter). Die Unangemessenheit von symbolischem Material und Idee, Ausdruck der Grenzenlosigkeit und Maßlosigkeit des Absoluten führt zu einer Gestaltung, die die Formen der Kunst ins Phantastische oder Gigantische verzerrt. Als dominierende Kunstgattung sieht Hegel auf dieser Stufe die Architektur und hierbei vor allem die Sakralbauten (z.B. die Pyramiden). Die klassische Kunstform ist nichts anderes als die historische Realisierung des zuvor schon philosophisch bestimmten Ideals: "die freie adäquate Einbildung der Idee in die zugehörige Gestalt, mit welcher sie deswegen in freien, vollendeten Einklang zu kommen vermag." Die historische Epoche, in der die klassische Kunst realisiert wird, ist die griechische Antike. Und diejenige Kunstgattung, in
der sie sich vor allem darstellt, ist die Skulptur. Denn diejenige "Gestalt, welche die Idee als geistige [...] an sich selbst hat, ist die menschliche Gestalt." Und die Bildhauerei ist – zumindest nach Hegels Auffassung – wie keine andere Kunst zur Darstellung dieser Gestalt prädestiniert. Das Zerbrechen der klassischen Kunstform und ihr Übergang in die romantische bedeutet bereits ein Überschreiten der Kunst innerhalb ihrer Grenzen. In der romantischen Kunst, die das europäische Mittelalter und die Neuzeit bis hin zu Hegels Gegenwart (also bis zur Romantik im engeren Sinne) umfaßt, macht sich "wenngleich auf höhere Weise", wiederum die Diskrepanz zwischen Idee und Gestalt geltend. Die Idee der christlichen Religion kann nicht mehr adäquat in individueller Gestalt dargestellt werden, denn sie ist nicht mehr individueller, besonderer Geist, sondern absoluter Geist, oder "selbstbewußte Innerlichkeit". Dem sinnlich gegenwärtigen Gott der klassischen Kunstform gesellt sich nun die "Gemeinde" als eben jene "beseelende Subjektivität und Innerlichkeit" bei. Die Einzelheit des Gottes in der Skulptur zerfällt in die "Vielheit vereinzelter Innerlichkeit", deren Einheit eine schlechte ideelle ist. Entsprechend wird für den Kunstinhalt wie für das Material die Partikularisation das bestimmende Prinzip. So sind es dann auch die weniger materiellen Künste, vor allem Poesie, sowie Malerei und Musik, in denen sich die romantische Kunst äußert. An ihnen erscheint der sinnliche Stoff (Farbe, Ton und Wort als Bezeichnung für innere Anschauungen) "an sich selbst gesondert und ideell gesetzt", so daß er dem Gehalt dieser Sphäre am meisten entspricht. Dabei sind es vor allem die aus der Dominanz der Innerlichkeit resultierenden subjektiven Verzerrungen, die Hegel "fratzenhaft" erscheinen und ihn zu seiner Abwertung dieser "subjektiven" Kunst nötigen (z.B. steht das mittelalterliche christliche Ritterepos für ihn weit unter dem antiken Epos, besonders den homerischen Epen). Nur in der Antike sieht Hegel also die Funktion der Kunst vollkommen erfüllt. Denn in der griechischen Antike gewannen die Menschen eine Vorstellung vom Absoluten als einer freien Subjektivität, und damit als einer Wirklichkeit, in welcher der Mensch bei sich selber ist. Sowohl in der Heroenzeit als auch in der Polis sieht er die Identität von Subjektivität und Substantialität verwirklicht. Die Kunst dieser Stufe ist eine objektive, denn die Durchdringung von Idee und Wirklichkeit, von Allgemeinem und Besonderem erlangt hier ihre Vollendung. Daher ist die Kunst auch die angemessenste Form, in der sich der absolute Geist entäußert. In den Tempel, ursprünglich hervorgebracht von der symbolischen Kunstform, "tritt sodann der Gott selber ein". Die drei Epochen der Kunst "bestehen im Erstreben, Erreichen und Überschreiten des Ideals als der wahren Idee der Schönheit." Mit dieser Hochschätzung gerade der griechisch-antiken Kunst steht Hegel nicht alleine, viele bedeutende Denker seiner Epoche (Goethe, W. v. Humboldt und sogar Marx) teilten diese Einstellung. Sie alle sahen in der griechischen Antike einen unwiederbringlich vergangenen Gipfel der Kulturentwicklung.
Trotzdem ist Hegels Wertschätzung der Antike eine besondere, denn sie basiert auf seiner These, daß die Kunst der Antike den Ausdruck des absoluten Geistes, der absoluten Wahrheit am vollkommensten leistet. Es geht also nicht nur um ästhetische Kategorien. Und wenn Hegel vom Ende der Kunst spricht, meint er nicht, daß die Kunst historisch absterbe, sondern nur, daß ihre Bedeutung für die Erkenntnis des Wahren sich relativiert hat. "Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein." ©JV/rein ● ● ●
Vorlesungen über die Ästhetik (zur Dramatik) Vorlesungen über die Ästhetik (zur Epik) Vorlesungen über die Ästhetik (zur Lyrik)
Mimesis
Der griechische Begriff 'Mimesis' wird häufig mit 'Nachahmung' übersetzt. Die literaturtheoretische Diskussion bezieht sich dabei - wie so oft - auf Aristoteles. Der hatte in seiner Poetik die "nachahmende Darstellung einer Handlung" als wichtiges Charakteristikum der Literatur bezeichnet. Die Motivation sieht er in einem allgemein-menschlichen Bedürfnis nach Nachahmung begründet. Sie funktioniert auf der Grundlage einer gewissen Ähnlichkeit (auch "Strukturhomologie") zwischen der realen und der fiktiven Welt (vgl. Fiktionale und faktuale Texte). Die 'mimetische' Darstellung hat zur Folge, daß sich der Zuschauer im Theater - denn Aristoteles hat vor allem die Tragödie vor Augen in eine Handlung einfühlen kann. Er empfindet gemeinsam mit den dargestellten Figuren "Furcht und Mitleid" und wird dadurch von solchen Gefühlen "geläutert". (Aristoteles spricht von Katharsis, was im Griechischen 'Reinigung' bedeutet.) Analog kann man auch von narrativen Texten sagen, daß 'mimetisches' Erzählen - also die möglichst genaue Darstellung der Wirklichkeit - dem Leser die Möglichkeit zur Identifikation mit den Figuren und der Handlung eröffnet. An dieser Problematik hat sich ein Streit entzündet, der bis heute anhält: Muß der Dichter die Wirklichkeit 'nachahmen', indem er sie gewissermaßen "kopiert"? Oder bedeutet 'Mimesis' nicht viel mehr eine "darstellende Hervorbringung", wobei der Akzent auf der Produktion einer neuen, literarischen Wirklichkeit liegt? Im Laufe der (Literatur-) Geschichte sind unterschiedliche Auffassungen vertreten worden. Viele Schriftsteller und Theoretiker - wie beispielsweise Brecht - haben sich sogar entschieden gegen eine ´mimetische´ Kunst ausgesprochen. Statt auf die "Nachahmung des Natürlichen" haben sie großen Wert gelegt auf den künstlichen Charakter, das Gemacht-Sein der Werke. Sie wollten gerade nicht, daß der Zuschauer oder Leser sich einfühlt, sondern daß er eine kritische Distanz zum Dargestellten entwickelt. Allerdings stößt die ´mimetische´ Darstellung in erzählenden Texten noch auf ein anderes, grundsätzliches Problem. Wenn 'Mimesis' die Nachahmung der Welt menschlicher Handlungen bedeutet, dann kann mit der Sprache eine Handlung, also eine nichtsprachliche Erscheinung, überhaupt nicht angemessen 'nachgeahmt'werden. Es sei denn, bei den dargestellten Handlungen handle es sich bereits um "Sprachhandlungen", also um die Wiedergabe von Worten, die von den Figuren gesprochen werden. Hinsichtlich der 'Mimesis' muß man also unterscheiden zwischen der Erzählung von Handlungen / Ereignissen und der Erzählung von Worten. Im Unterschied zur theatralischen Darstellung auf der Bühne, wo Handlungen tatsächlich 'nachgeahmt' werden, kann die Erzählung nur einen möglichst hohen Grad an Wirklichkeitsillusion erzeugen. Roland Barthes, ein französischer Zeichentheoretiker und Schriftsteller, hat in diesem Zusammenhang von einem "effet de réel", dem "Wirklichkeitseffekt" gesprochen.
Er kommt in narrativen Texten vor allem dadurch zustande, daß der Erzähler detaillierte Beschreibungen der Räume und der nichtsprachlichen Handlungen liefert. 'Mimesis' kann bei der Erzählung von Ereignissen also immer nur Mimesis-Illusion bedeuten. Anders verhält es sich bei der Erzählung von Worten. Hier wird die Figurenrede, also sprachlich bereits vorgefertigtes Material, in der Erzählung lediglich "wiederholt". Daher ist es möglich, in diesem Fall von 'Mimesis' im eigentlichen Wortsinne zu sprechen. Allerdings kann der Erzähler die Rede seiner Figuren unterschiedlich genau wiedergeben. Er kann sie originalgetreu "kopieren" oder auch zusammenfassen und kommentieren. Deswegen sollte man bei der Erzählung von Worten unterschiedliche Grade von 'Mimesis' unterscheiden (vgl. Formen der Redewiedergabe und Formen der Bewußtseinswiedergabe). © SR
Sekundärliteratur: 1. Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. v. M. Fuhrmann, Stuttgart 1982. 2. E. Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern und München 1964. 3. G. Genette: Die Erzählung, hg. v. J. Vogt, München 1994.
Johann Wolfgang Goethe
* 28.08.1749, Frankfurt am Main † 22.03.1832, Weimar Dichter und Schriftsteller, Naturforscher, Staatsminister Auch eine sehr kurze Charakteristik Goethes sollte nicht absehen von dessen Wirkungsgeschichte, besonders von der langfristig prägenden Kanonisierung, die ihn zwischen 1870/71 und 1918 zum deutschen Klassiker schlechthin, zum "Dichterfürsten" und "Olympier" stilisiert und überhöht hat. Ein teils nationalistischer, teils quasi-religiöser Klassikerkult machte die historischen Konturen und inneren Widersprüche von Person und Lebensleistung, aber auch die provokative Qualität eines Werkes unkenntlich, welche die zeitgenössischen Leser - sei es enthusiastisch, sei es irritiert - immer wieder erfahren haben. Auch eine heutige Goethe-Lektüre muß sich darum bemühen, seine Schriften der nachwirkenden Vernebelung zu entziehen und im Spannungsfeld von Historizität und Aktualität 'neu' auf sich wirken zu lassen. Richtig ist allerdings, daß Johann Wolfgang Goethe, der Bürgersohn aus Frankfurt, der schon in jungen Jahren zum (geadelten) Superminister eines deutschen Ministaates avancierte, auch jenseits seiner Amtspflichten eine außergewöhnliche Breite und Kontinuität von künstlerischen wie wissenschaftlichen Interessen, Aktivitäten und Projekten entfaltete. Verschiedentlich hat man ihn deshalb als den letzten 'universalen', alle Wissensbereiche umfassenden Geist gefeiert. Tatsächlich vollzieht und begleitet Goethe geradezu exemplarisch den Übergang aus einer überalterten Feudalordnung in die moderne bürgerliche Gesellschaft - anfangs mit großem Elan, später mit wachsender Skepsis. Die literarische Innovation ist dabei oft Indiz des mentalitätsgeschichtlichen Wandels. Erst "seit Goethes Straßburger Dichtungen", schreibt Walter Benjamin 1928, könne man "von der Befreiung der deutschen Lyrik aus den Kreisen der Beschreibung, Didaktik und Handlung reden"; und im Goethejahr 1932 bekräftigt der Festredner Thomas Mann: "Ein Befreier war er durch die Erregung des Gefühls und durch die analytische Erweiterung des Wissens vom Menschen." In den ausbalancierten ästhetischen Gebilden, die die Literaturgeschichte später der 'Weimarer' Klassik zuschlagen wird, ringt er der "unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen" (1780) utopische Momente der Versöhnung ab: erotisch als Selige Sehnsucht, zwischenmenschlich als "wahres Wort" und "reine Menschlichkeit" (so in Iphigenie auf Tauris), oder auch als elementarer Trost: "balde/ ruhest du auch."
Goethes Alterswerke, darunter zwei jahrzehntelang verfolgte Lebensprojekte Faust. Der Tragödie zweiter Teil (1831) und Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829) -, richten einen illusionslosen, aber keineswegs hoffnungslosen Blick auf die anbrechende "Zeit der Einseitigkeiten" und des "Maschinenwesens"; und bilanzieren zugleich, in individueller wie historischer Perspektive, die durchlebte Epoche (Dichtung und Wahrheit, 1831). In der deutschen Literaturgeschichte, oder genauer: in der Geschichte der Poetik und Literaturästhetik hat Goethe zweimal epochale Wirkungen gezeitigt: zuerst als der unbestrittene Star der Genieästhetik des Sturm und Drang (Rede zum Shakespeares-Tag, 1772), der auch seinen Vordenker Johann Gottfried Herder aussticht und der deutschen Literatur mit dem Werther-Roman von 1774 erstmals Anschluß ans Weltniveau verschafft. Sodann, im vergleichweise kurzen Zusammenwirken mit Friedrich Schiller, als Begründer einer deutschen Klassik, deren Programm freilich nur teilweise realisiert wurde. Immerhin wurzeln hier poetologische Konzepte wie das von den Naturformen der Dichtung (1819), das schnell Allgemeingut wurde. Bei genauer Betrachtung ist die 'Weimarer Klassik' aber weniger 'Ausdruck von' als vielmehr 'Einspruch gegen' die Tendenzen des Zeitalters, und als Versuch einer 'Geschmacksdiktatur' nicht ganz falsch beschrieben; unter diesem Gesichtspunkt verweist sie auf Goethes Alterswerk, das die Zeitgenossen eher verstört denn erbaut hat. Deutschlands größter Autor, und einer der wenigen mit unbezweifelter Weltgeltung, war nicht einfach nur ein bevorzugter Gegenstand deutscher Literaturwissenschaft: in der Abarbeitung an ihm hat sich die (Neu-)Germanistik im Kaiserreich, vom Positivismus bis zur Geistesgeschichte, erst als Fach konstituiert. Goethes Wirkungsgeschichte, sowohl die wechselnden Urteile über Person und Werk, als auch die Interpretation einzelner Texte, von Werther bis Faust, vom Heideröslein bis zu Wanderers Nachtlied, liest sich bis heute als exemplarisch-lehrreiche Methodengeschichte der germanistischen Literaturwissenschaft. ©JV
Wichtige Schriften: ❍
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. v. Erich Trunz, Hamburg/München 1948-1960. Neubearbeitung München 1981/1982.
Sekundärliteratur: 1. W. Benjamin: Goethe, in: W. B.: Gesammelte Schriften, Band II,2, Frankfurt/Main 1977, S.705-739. 2. K.O. Conrady: Goethe. Leben und Werk, 2 Bände, Königstein 1980 u.ö. 3. B. Jeßing: Johann Wolfgang Goethe, Stuttgart/Weimar 1995.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (Ausschnitt) Die dramatische Poesie (1835-1838)
Das Drama muß, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden. Denn den sonstigen sinnlichen Stoffen, dem Stein, Holz, der Farbe, dem Ton gegenüber, ist die Rede allein das der Exposition des Geistes würdige Element und unter den besonderen Gattungen der redenden Kunst wiederum die dramatische Poesie diejenige, welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik in sich vereinigt, indem sie eine in sich abgeschlossene Handlung als wirkliche, ebensosehr aus dem Inneren des sich durchführenden Charakters entspringende als in ihrem Resultat aus der substantiellen Natur der Zwecke, Individuen und Kollisionen entschiedene Handlung in unmittelbarer Gegenwärtigkeit darstellt. Diese Vermittlung des Epischen durch die Innerlichkeit des Subjekts als gegenwärtig Handelnden erlaubt es dem Drama nun aber nicht, die äußere Seite des Lokals, der Umgebung sowie des Tuns und Geschehens in epischer Weise zu beschreiben, und fordert deshalb, damit das ganze Kunstwerk zu wahrhafter Lebendigkeit komme, die vollständige szenische Aufführung desselben. Die Handlung selbst endlich in der Totalität ihrer inneren und äußeren Wirklichkeit ist einer schlechthin entgegengesetzten Auffassung fähig, deren durchgreifendes Prinzip, als das Tragische und Komische, die Gattungsunterschiede der dramatischen Poesie zu einer dritten Hauptseite macht. Aus diesen allgemeinen Gesichtspunkten ergibt sich für unsere Erörterungen nachfolgender Gang: Erstens haben wir das dramatische Kunstwerk im Unterschiede des epischen und lyrischen seinem allgemeinen und besonderen Charakter nach zu betrachten. Zweitens müssen wir auf die szenische Darstellung und deren Notwendigkeit unsere Aufmerksamkeit richten und drittens die verschiedenen Arten der dramatischen Poesie in ihrer konkreten historischen Wirklichkeit durchgehen.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über Ästhetik III: Werke 15, Frankfurt/M. 1970, S. 474-75. Wichtige Schriften:
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Vorlesungen über die Ästhetik (gehalten 1817/18 bis 1828/29; herausgegeben 1835-1838)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (zur Epik) (gehalten 1817-1829)
Hegel spricht in seinen Vorlesungen über die Ästhetik nicht vom Schönen in der Natur, sondern vom Schönen in der Kunst. Dieses durch den Menschen gestaltete Schöne steht für ihn über dem Naturschönen, "weil aus dem Geist geboren". Dieser Argumentation folgend ist Kunst nicht nur Abbild / Mimesis von Natur, denn das würde bedeuten, daß die Kunst beim Natürlichen stehen bliebe und nicht zum Geistigen vordränge. Kunst geht vielmehr aus der absoluten Idee hervor, sie ist sinnliche Präsentation des absoluten Geistes als Ideal. Diese Darstellung des Absoluten als Ideal muß wiederum als Idealziel der Kunst begriffen werden, das in den einzelnen Kunstepochen in der Menschheitsgeschichte mehr oder weniger verwirklicht wurde. Hegel unterteilt die "epochalen Formen der Kunst" in symbolische Kunst (Orient), klassische Kunst (Antike) und romantische Kunst (beginnend mit dem christlichen Mittelalter). Nur in der Antike sieht er die Funktion der Kunst vollkommen erfüllt. Die drei Epochen der Kunst "bestehen im Erstreben, Erreichen und Überschreiten des Ideals als der wahren Idee der Schönheit." Auch in ihrer sinnlichen Ausprägung sind sie unterschieden: Die symbolische Kunst materialisiert sich vornehmlich in der Architektur, die klassische Kunst vorwiegend in der Skulptur und die romantische Kunst in Malerei, Musik und Dichtung. Im Falle der Dichtkunst sieht Hegel im antiken Epos die Darstellung des Absoluten vollkommen ausgeformt, denn im antiken Epos wird prinzipiell die gesamte gesellschaftliche Realität dargestellt. Der Held des Epos kann wie eine griechische Statue immer Ausdruck der absoluten Individualität und des allgemeinen Ideals sein: "Was nun unseren jetzigen Gegenstand, die epische Poesie, betrifft, so geht es damit ohngefähr wie mit der Skulptur. Die Darstellungsweise dieser Kunst verzweigt sich zwar zu allerlei Arten und Nebenarten und dehnt sich über viele Zeiten und Völker aus; in ihrer vollständigen Gestalt jedoch haben wir sie als das eigentliche Epos kennenlernen und die kunstmäßigste Wirklichkeit dieser Gattung bei den Griechen gefunden. Denn das Epos hat überhaupt mit der Plastik der Skulptur und deren Objektivität, im Sinne sowohl des substantiellen Gehalts als auch der Darstellung in Form realer Erscheinungen, die meiste innere Verwandtschaft, so daß wir es nicht als zufällig ansehen dürfen, daß auch die epische Poesie wie die Skulptur bei den Griechen gerade in dieser ursprünglichen, nicht übertroffenen Vollendung hervorgetreten ist."
Diese Verwandtschaft des Epos zur vollkommenen Darstellung des Absoluten der Skulptur ist möglich, obwohl das Epos exemplarisch auswählt. Das Ideal konkretisiert sich im Geschehen einer Handlung. Diese Handlung ist in aller Regel ein Konflikt mit nationalgeschichtlicher Dimension, z.B. ein Befreiungskrieg. Die Beschreibung dieses Krieges beinhaltet die Gründung eines Staatswesens und wird damit zum Gründungsmythos. Das Epos ist damit die Bibel des Volkes. Solche Epen entstehen an einem historischen Ort mittlerer Zeit, in der sich ein Volksgeist schon ausgebildet, aber noch nicht staatlich und gesellschaftlich in Institutionen manifestiert hat. Für das moderne Europa wird diese 'Mittelzeit'für das 12. bis 16. Jahrhundert festgeschrieben. Sobald die bürgerliche Gesellschaft sich gefestigt hat, kann es kein Epos mehr geben: "Denn der ganze heutige Weltzustand hat eine Gestalt angenommen, welche in ihrer prosaischen Ordnung sich schnurstracks den Anforderungen entgegenstellt, welche für das echte Epos unerläßlich fanden, während die Umwälzungen, denen die wirklichen Verhältnisse der Staaten und Völker unterworfen gewesen sind, noch zu sehr als wirkliche Erlebnisse in der Erinnerung festhaften, um schon die epische Kunstform vertragen zu können." In den Kunstformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts – hier ist vornehmlich der Roman gemeint – fehlt die unmittelbare Einheit von Individuellem und Allgemeinem. Hegel schreibt über das Romanhafte: Die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates, so daß jetzt Polizei, Gerichte, das Heer, die Staatsregierung an die Stelle der chimärischen Zwecke treten, die der Ritter sich machte. Dadurch verändert sich auch die Ritterlichkeit der in neuen Romanen agierenden Helden. Sie stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins Unermeßliche in die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muß, weil sie sich gegen ihn sperrt und in ihrer spröden Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgibt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante, bürgerliche Verhältnisse usf. als ein Hindernis vorschiebt. Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen und es nun für ein Unglück halten, daß es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usf. gibt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen. Nun gilt es, ein Loch in diese Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern, oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie
es sein soll, sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen. Diese Kämpfe sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer sich auch noch soviel mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben sein – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister, so gut wie die anderen auch: die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da." Dieses Zitat macht deutlich, warum Hegel konstatiert, daß die Kunst als Ausdruck des absoluten Geistes an ihr Ende gekommen ist. Hier geht es nur noch um eine individuelle Bildungsgeschichte, um den Kampf gegen die Gesellschaft, der mehr oder weniger harmonisch endet. Im Roman wird der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse ausgetragen. Am Schluß steht die Versöhnung: Das Individuum akzeptiert die bestehenden Verhältnissen und wird zum Philister. ©rein
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen zur Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 1, Frankfurt/M. o. J., S. 567f. Wichtige Schriften: ❍
Vorlesungen über die Ästhetik (gehalten 1817/18 bis 1828/29; herausgegeben 1835-1838)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (zur Lyrik) (entstanden ab 1817)
Im Zentrum des Überlegungen Hegels zur Lyrik steht das dichterische Subjekt, dessen individuelle Weltbegegebung und -aneignung sich im Gedicht manifestiere. Elemente der objektiven Wirklichkeit können zu lyrischen Inhalten werden, indem der Dichter sie in ihrer Wirkung auf das Subjekt thematisiert und so gewissermaßen subjektiviert: "Denn in der Lyrik ist es eben nicht die objektive Gesamtheit und individuelle Handlung [wie im Epos], sondern das Subjekt als Subjekt, was die Form und den Inhalt abgibt. Dies darf jedoch nicht etwa so verstanden werden, als ob das Individuum, um sich lyrisch äußern zu können, sich von allem und jedem Zusammenhange mit nationalen Interessen und Anschauungen losmachen und formell nur auf seine eigenen Füsse stellen müsse. Im Gegenteil, in dieser abstrakten Selbständigkeit würde als Inhalt nur die ganz zufällige und partikulare Leidenschaft, die Willkür der Begierde und des Beliebens übrigbleiben und die schlechte Querköpfigkeit der Einfälle und bizarre Originalität der Empfindungen ihren unbegrenzten Spielraum gewinnen. Die echte Lyrik hat, wie jede wahre Poesie, den wahren Gehalt der menschlichen Brust auszusprechen. Als lyrischer Inhalt jedoch muß auch das Sachlichste und Substantiellste als subjektiv empfunden, angeschaut, vorgestellt und gedacht erscheinen. Zweitens ferner handelt es sich hier nicht um das bloße Sichäußern des individuellen Inneren, um das erste unmittelbare Wort, welches episch sagt, was die Sache sei, sondern um den kunstreichen, von der zufälligen, gewöhnlichen Äußerung verschiedenen Ausdruck des poetischen Gemüts." (S. 431) ©TvH
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik III. Werke Band 15, Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1993. Wichtige Schriften: ❍
Vorlesungen über die Ästhetik (gehalten 1817/18 bis 1828/29; herausgegeben 1835-1838)
Sekundärliteratur: 1. P. Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Hegels Lehre
von der Dichtung, hg. v. S. Metz und H.-H. Hildebrand, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1991.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837)
Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte gehen vom Vernunftprinzip aus, von der Vorstellung, daß es im Fortschreiten der Menschheitsgeschichte vernünftig zugehe. In seiner Einleitung schreibt er: "Der einzige Gedanke, den die Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei. Diese Überzeugung und Einsicht ist eine Voraussetzung in Ansehung der Geschichte als solcher überhaupt; in der Philosophie selbst ist dies keine Voraussetzung. Durch die spekulative Erkenntnis in ihr wird es erwiesen, daß die Vernunft – bei diesem Ausdrucke können wir hier stehenbleiben, ohne die Beziehung und das Verhältnis zu Gott näher zu erörtern , die Substanz wie die unendliche Macht, sich selbst der unendliche Stoff alles natürlichen und geistigen Lebens wie die unendliche Form, die Bestätigung dieses ihres Inhalts ist. Die Substanz ist sie, nämlich das, wodurch und worin alle Wirklichkeit ihr Sein und Bestehen hat – die unendliche Macht, indem die Vernunft nicht so ohnmächtig ist, es nur bis zum Ideal, bis zum Sollen zu bringen und nur außerhalb der Wirklichkeit, wer weiß wo, als etwas besonderes in den Köpfen einiger Menschen vorhanden zu sein; der unendliche Inhalt, alle Wesenheit und Wahrheit, und ihr selbst ihr Stoff, den sie ihrer Tätigkeit zu verarbeiten gibt, denn sie bedarf nicht, wie endliches Tun, der Bedingungen eines äußerlichen Materials gegebener Mittel, aus denen sie Nahrung und Gegenstände ihrer Tätigkeit empfinge, sie zehrt aus sich und ist sich selbst das Material, das sie verarbeitet; wie sie sich nur ihre eigene Voraussetzung und der absolute Endzweck ist, so ist sie selbst dessen Bestätigung und Hervorbringung aus dem Inneren in die Erscheinung, nicht nur des natürlichen Universums, sondern auch des geistigen – in der Weltgeschichte. Daß nun solche Idee das Wahre, das Ewige, das schlechthin Mächtige ist, daß sie sich in der Welt offenbart und nichts in ihr sich offenbart als sie, ihre Ehre und Herrlichkeit, das ist es, was, wie gesagt, in der Philosophie bewiesen und hier als bewiesen vorausgesetzt wird." (S. 48f.) Die Geschichte als "Produkt der ewigen Vernunft" schreitet in Richtung Freiheit. Die vollkommene Freiheit der Menschen ist das Ziel der Weltgeschichte. Hegel nennt dies auch das Ziel des Geistes, denn die Weltgeschichte ist ja nichts anderes als die Manifestation des Weltgeistes: "Die Natur des Geistes läßt sich durch den vollkommenen Gegensatz desselben erkennen. Wie die Substanz der Materie die Schwere ist, so, müssen wir sagen, ist die Substanz, das Wesen des Geistes die Freiheit. Jedem ist es unmittelbar glaublich, daß der Geist auch unter anderen Eigenschaften die Freiheit besitze;
die Philosophie aber lehrt uns, daß alle Eigenschaften des Geistes nur durch die Freiheit bestehen, alle nur Mittel für die Freiheit sind, alle nur diese suchen und hervorbringen; es ist dies eine Erkenntnis der spekulativen Philosophie, daß die Freiheit das einzige Wahrhafte des Geistes sei." (S. 58) Die Epochen der Weltgeschichte werden von Hegel als Stufen auf dem Weg zur Vervollkommnung der Freiheit begriffen. Von den Orientalen über die Griechen bis zur christlichen Welt führt in seiner Schematisierung diese Stufenleiter: "Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben. Mit dem was ich im allgemeinen über den Unterschied des Wissens von der Freiheit gesagt habe, und zwar zunächst in der Form, daß die Orientalen nur gewußt haben, daß Einer frei, die griechische und römische Welt aber, daß einige frei sind, daß wir aber wissen, alle Menschen an sich, das heißt der Mensch als Mensch sei frei, ist auch zugleich die Einteilung der Weltgeschichte." (S. 61) Der Weg zu dieser Freiheit führt über die Handlungen von Individuen, die durch die sogenannte "List der Vernunft" glauben, ihren eigenen Interessen zu folgen, jedoch nur Werkzeuge zur Verwirklichung des Welt- und Volksgeistes sind. Besonderen Augenmerk schenkt Hegel den "welthistorischen Individuen" wie Alexander, Cäsar, Napoleon, in denen dieser Weltgeist auf besondere Weise zum Ausdruck kommt. In ihren partikularen Interessen leuchtet das Allgemeine auf: "Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigne partikulare Zwecke das Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist. [...] Solche Individuen hatten in diesen ihren Zwecken nicht das Bewußtsein der Idee überhaupt, sondern sie waren praktische und politische Menschen. Aber zugleich waren sie denkende, die die Einsicht hatten von dem, was not und was an der Zeit ist. Das ist eben die Wahrheit ihrer Zeit und ihrer Welt, sozusagen die nächste Gattung, die im Innern bereits vorhanden war. Ihre Sache war es, dies Allgemeine, die notwendige nächste Stufe ihrer Welt zu wissen, diese sich zum Zwecke zu machen und ihre Energie in dieselbe zu legen. Die welthistorischen Menschen, die Heroen einer Zeit, sind darum als die Einsichtigen anzuerkennen; ihre Handlungen, ihre Reden, sind das Beste der Zeit." (S. 75) An dieser Stelle wird deutlich, daß der Mensch bei Hegel nicht nur bewußtloser Vollstrecker des Weltgeistes ist, sondern mittels seines Verstandes am Geistigen teil haben kann. ©rein
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1961.
Naturwissenschaften
Biologie, Physik und Chemie werden als Naturwissenschaften bezeichnet, weil sie die Natur und die in ihr waltenden kausalen Gesetzmäßigkeiten zum Gegenstand haben. Im Gegensatz dazu erforschen die spekulativen, d.h. interpretativ verfahrenden Geistes- oder Kultur wissenschaften den Menschen als ein historische Leistungen vollbringendes Wesen, welches gerade nicht durch allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten bestimmt werden kann. Naturwissenschaften werden im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften als "exakte Wissenschaften" bezeichnet, weil sie sich zur Formulierung ihrer Theorien mathematischer Methoden und Begriffe bedienen. Naturwissenschaften erheben damit Anspruch auf überprüfbare Ergebnisse. Das Beschreiben, Vergleichen und Ordnen sowie die Abstraktion von systematisch beobachteten Einzelerscheinungen sind seit der Antike Methoden der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung (Aristoteles). Das Experiment als gezielte Variation von bestimmten Parametern, verbunden mit der Messung der Ergebnisse, ist erst in der Neuzeit entwickelt worden (Francis Bacon). Weiterhin bilden Deduktion (logische Ableitung, zum Beispiel die regelkonform entwickelte Voraussage) und Induktion (Verallgemeinerung von Einzelergebnissen zu neuen Hypothesen oder allgemeinen Gesetzmäßigkeiten) als Kombination von Erfahrung und Verstand die grundlegende Vorgehensweise der Naturwissenschaften. Die Naturwissenschaften, die erst seit Ende des 18. Jahrhunderts als autonome Wissensgebiete ohne philosophischen Überbau gelehrt werden, wurden im 19. Jahrhundert vornehmlich aufgrund der nunmehr möglichen technischen Umsetzung ihrer Ergebnisse zu den dominierenden Wissenschaften. Gegen diese Dominanz haben sich die "Geisteswissenschaften" mit dem ihrerseitigen Vorwurf eines allumfassenden Reduktionismus unter physikalische bzw. mechanische Gesetzmäßigkeiten gewehrt (Dilthey). Tatsächlich haben im 20. Jahrhundert, gewissermaßen von innen heraus, Chaos- und Selbstorganisationstheorien den Absolutheitsanspruch eines mechanistischen Naturverständnisses der "exakten Wissenschaften" relativiert und ergänzt. © pflug Sekundärliteratur: 1. G. Frey: Erkenntnis der Wirklichkeit. Philosophische Folgerungen der modernen Naturwissenschaften, Stuttgart 1974. 2. J. Habermas: Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt/M. 1974.
3. B. Kanitschneider: Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, Berlin 1981.
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790)
Die 1790 erschienene Kritik der Urteilskraft ist die letzte der sogenannten drei 'Kritiken' Kants: Nachdem sich der Königsberger Philosoph in der Kritik der reinen Vernunft (1781) mit den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis auseinandergesetzt hat (was kann ich wissen?) und in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) moralphilosophisch nach den Grundlagen menschlichen Handelns gefragt hat (was kann ich tun?), wendet er sich in der Kritik der Urteilskraft den Möglichkeiten und Gründen von verbindlichen Urteilen zu (wie kann ich urteilen?). Als Urteilskraft begreift Kant "nicht bloß ein Vermögen, das Besondere unter dem Allgemeinen (dessen Begriff gegeben ist) zu subsumieren, sondern auch umgekehrt, zu dem Besonderen das Allgemeine zu finden." (S. 22) In der Kritik der Urteilskraft konzentriert er sich auf dieses zweite Vermögen, das er "reflektierende Urteilskraft" nennt: Sie bezeichnet die Gewohnheit des Menschen, hinter konkreten Erscheinungen Prinzipien und Begriffe zu vermuten, die mit Verstand und Vernunft erfaßt werden können. Ausgehend von den zwei Weisen der Urteilskraft, eine Verbindung zwischen Besonderem und Allgemeinem herzustellen, unterteilt Kant seine Kritik der Urteilskraft in zwei große Kapitel. In der Kritik der ästhetischen Urteilskraft analysiert er das Schöne, über das ein Urteil nur subjektiv, durch das Gefühl zustande komme; das ästhetische Urteil bezeichnet er daher auch als ein reines Geschmacksurteil. In der Kritik der teleologischen Urteilskraft wendet er sich den Gegenständen zu, deren Zweck bereits in ihrer Materialität begründet ist ("Naturzweck"), wo sich das Urteil also aus der Zweckmäßigkeit des Objektes selbst unmittelbar ergebe. Im Mittelpunkt von Kants ästhetischer Theorie steht neben der traditionellen Kategorie des Schönen die zeitgenössische Kategorie des Erhabenen. Beide Begriffe bestimmt er ausgehend vom Subjekt. Als schön werde beurteilt, was im Subjekt ein Lustgefühl erzeuge, obwohl es weder nützlich noch moralisch gut ist: Es löse ein "uninteressiertes Wohlgefallen" (S. 117) aus. Der Zustand, in den das Subjekt bei der Betrachtung des Schönen gelange, sei bestimmt durch eine Harmonie zwischen Einbildungskraft und Verstand. Diese Harmonie werde als lustvoll erfahren und das empfindende Subjekt unterstelle, daß es die Lust an diesem harmonischen Zustand und an dem ihn auslösenden Gegenstand, theoretisch mit allen anderen Menschen als Vernunft- und Sinnenwesen teile. Daraus schließt Kant: "Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt." (S. 134) Im Schönen werde also vom anschauenden Subjekt eine rein formale (nicht inhaltliche) Zweckmäßigkeit erkannt, die ohne Nutzen sei (weshalb man ihr interesselos begegnet); das Schöne sei daher charakterisiert durch eine "Zweckmäßigkeit ohne Zweck". (S. 136)
In seiner Bestimmung des Begriffs des Erhabenen lehnt sich Kant an die Überlegungen Edmund Burkes (1729-1797) an, der das Erhabene als eine gemischte Empfindung charakterisiert hatte: Das Riesige, Unendliche, Dunkle löse im Betrachter Furcht aus, die sich jedoch mit lustvollen Empfindungen mische, wenn er erkenne, daß er selbst nicht gefährdet ist ("delightful horror"). Kant nennt ein Objekt erhaben, wenn es erhabene Ideen im Betrachter hervorruft. Solche Gegenstände findet er vor allem in der Natur: "So kann der weite, durch Stürme empörte Ozean nicht erhaben genannte werden. Sein Anblick ist gräßlich; und man muß das Gemüt schon mit mancherlei Ideen angefüllt haben, wenn es durch eine solche Anschauung zu einem Gefühl gestimmt werden soll, welches selbst erhaben ist." (S. 190) Angesichts des unendlichen Meeres erkenne der Mensch einerseits seine physische Ohnmacht, andererseits könne er der Übermacht der Natur die Erkenntnis entgegensetzen, daß, "obgleich der Mensch jener Gewalt unterliegen müßte", seine "Menschheit", das Bewußtsein der "eigenen Erhabenheit der Bestimmung", davon unberührt bleibe. (S. 186) Diese geistige Überwindung der sinnlichen Natur des Menschen charakterisiere das Erhabene. Im zusammenfassenden Vergleich definiert Kant das Schöne und das Erhabenen wie folgt: "Schön ist das, was in bloßer Beurteilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen müsse. Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt." (S. 193) Kant hat mit seinem Theorem vom "uninteressierten Wohlgefallen" die Autonomie der Kunst begründet. Mit diesem Verständnis ist eine Kunst, die belehren und bessern soll, die also auf konkrete Zwecke ausgerichtet ist - wie beispielsweise Lessings Konzept vom Theater als einer moralischen Anstalt nicht mehr vereinbar. Eine Vermittlung zwischen diesem Prämissen Kants und einer moralischen Funktion der Kunst versuchte Schiller in seinen ästhetischen Schriften. ©TvH
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. v. W. Weischedel, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1996.
Sekundärliteratur: 1. G. Kohler: Geschmacksurteil und ästhetische Erfahrung. Ein Beitrag zur Auslegung von Kants Kritik der Urteilskraft, Berlin u.a. 1980. 2. J. Kulenkampff: Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt/M. 1978. 3. B. Scheer: Einführung in die Philosophische Ästhetik, Darmstadt 1997.
3. Regeln und Probleme des Textverstehens: Hermeneutik
1. Grundbegriffe der Hermeneutik Hermeneutische Differenz Hermeneutischer Zirkel / hermeneutische Spirale Kommentar Interpretation Ideologiekritik Wirkungsgeschichte
2. Positionen der allgemeinen / philosophischen Hermeneutik Baruch de Spinoza: "Theologisch-politischer Traktat" Johann Martin Chladenius: "Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften" Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: "Hermeneutik und Kritik" Wilhelm Dilthey: "Der Aufbau der historischen Welt in den Geisteswissenschaften" Karl Marx / Friedrich Engels: "Die Deutsche Ideologie" Sigmund Freud: "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" Martin Heidegger Hans-Georg Gadamer: "Wahrheit und Methode"
Jürgen Habermas: "Zu Gadamers 'Wahrheit und Methode'" Paul Ricoeur 3. Spezialhermeneutiken 3.1 Theologische Hermeneutik 3.2 Juristische Hermeneutik 3.3 Literarische Hermeneutik Werkimmanente Interpretation Emil Staiger Wolfgang Kayser Peter Szondi: "Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik" Uwe Japp Karlheinz Stierle Umberto Eco
4. Gegentendenzen und Kritik der Hermeneutik Ästhetisch fundierte Literaturkritik: Susan Sontag Strukturalismus Poststrukturalismus/Dekonstruktivismus Empirische Literaturwissenschaft
5. Erwähnte Autoren und literarische Texte
Georg Büchner: "Lenz" Paul Celan Hans Magnus Enzensberger Johann Wolfgang Goethe: "Über allen Gipfeln ist Ruh" Friedrich Hölderlin Friedrich Nietzsche Franz Kafka
6. Texte zur Diskussion Klaus L. Berghahn: "Wortkunst ohne Geschichte: Zur werkimmanenten Methode der Germanistik nach 1945" (WordDatei) Klaus-Michael Bogdal: "Kann Interpretieren Sünde sein? Literaturwissenschaft zwischen sakraler Poetik und profaner Texttheorie" (Word-Datei)
Aristoteles
* 384 v. Chr., Stageira in Thrakien † 322 v. Chr. Aristoteles kam in jungen Jahren nach Athen und wurde der bedeutendste Schüler Platons. Dennoch stehen seine Schriften durchaus im Gegensatz zu der Philosophie seines Lehrers. Ist Platon ein auch aus seiner Phantasie schöpfender Philosoph, Realist und Utopist, so ist Aristoteles der rationale Analytiker. Er sieht zwar auch in der Philosophie die Krone des Wissens, indem sie alles Bestehende unter einheitlichen Prinzipien ordnet, aber sein hauptsächlicher Ehrgeiz widmet sich der Beschreibung und Analyse der Welt sowohl im metaphysischen als auch im physischen Sinne. So kann man seine Werke unterteilen in Schriften zur Logik, zur Naturwissenschaft, zur Metaphysik, zur Ethik, zur Politik, zur Literatur und zur Rhetorik. Seine Bewertung der Dichtkunst ist im Gegensatz zu Platon durchaus positiv. Sie führe mit den Mitteln der Mimesis (Nachahmung) zu einer Katharsis (Reinigung) des Publikums. Auch die Rhetorik erfährt bei Aristoteles eine Aufwertung, indem sie sich von der rein instrumentellen Rhetorik der Sophisten entfernt und auf rational nachvollziehbare Glaubwürdigkeit anstelle von Überredung setzt. ©rein
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Rhetorik Poetik Poetik zum Drama
Sekundärliteratur: 1. U. Charpa: Aristoteles, Hamburg 1991. 2. M. Fuhrmann: Die antike Rhetorik, München u.a. 1990. 3. A. Hellwig: Untersuchungen zur Theorie der Rhetorik bei Platon und Aristoteles, Göttingen 1973.
Platon
* 427 v. Chr. † 347 v. Chr. Philosoph Der Philosoph Platon ist ein radikaler Feind der Sophistik. Zwar geht auch er wie die Sophisten - davon aus, daß unser Wissen von dem Sein der Welt, nicht vollständig mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Gewiß gibt es eine Art Überredung durch die sinnliche Wahrnehmung, die die Dinge nicht so erscheinen läßt wie sie sind, sondern in ihrer stets wechselnden Erscheinung. Doch hinter der Welt der Erscheinungen gibt es eine Welt der Ideen, die unwandelbar ist und deren Erkenntnis zur zeitlosen Wahrheit führt. So existiert z.B. in der moralischen Welt eine Vorstellung von Tugend, die sich entweder auf tradierte Werte der Vorväter stützt oder auf die vorbildliche Lebensweise eines Staatsmannes. Dieser der Erfahrungswelt abgewonnene Tugendbegriff wird von Platon mit Mißtrauen betrachtet. Denn diesem Begriff fehlt das Bewußtsein dafür, warum die eine Handlung gut und die andere Handlung schlecht ist. Aus dieser Relativierung der Wirklichkeit und der Tugend zieht die Sophistik nun den Schluß, daß es keine allgemeingültigen Maßstäbe für richtiges Denken und Handeln gibt und somit demjenigen alles erlaubt ist, der zu seiner Sicht der Dinge überreden kann. In Abgrenzung zu dieser Auffassung kommt Platon zu der Überzeugung, es sei die Aufgabe der Philosophie, eine Tugend jenseits der Sphäre der Erfahrung zu erkennen und dem Bürger aufzuzeigen. Diese Belehrung erfolgt im Interesse der sittlichen Grundlegung des Staates und der Erziehung der Bürger. ©rein
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Der Staat (um 387-367 v. Chr.) Gorgias Das Gastmahl (um 380 v. Chr.)
Sekundärliteratur: 1. J.F. Findlay: Platon und Platonismus. Eine Einführung, Weinheim 1994. 2. M. Suhr: Platon, Frankfurt/M.u.a.1992. 3. B. Zehnpfennig: Platon zur Einführung, Hamburg 1994.
Publikum
Dichtungen wurden in der Antike meist aufgeführt, Individualleser im heutigen Sinne gab es kaum. ©rein
Aristoteles: Rhetorik
War Rhetorik bei Gorgias noch die reine "Meisterin der Überredung" und damit in den Augen Platons ethisch nicht akzeptabel, wird sie bei Aristoteles zur "Fähigkeit, in jedem Einzelfall ins Auge zu fassen, was Glaubhaftigkeit bewirkt". In diesem Zitat tritt einerseits der psychologische Aspekt der aristotelischen Rhetorik zutage; es geht um das, "was Glaubwürdigkeit bewirkt". Der Redner muß also die psychische Beschaffenheit seiner Zuhörer kennen, um die Inhalte in der Form zu präsentieren, daß sie diese Glaubwürdigkeit beim Zuhörer bewirken; die Wirkung ist abhängig von der Einfühlung des Redners in die Stimmung, in die Individualität des Zuhörers. Andererseits geht es nicht mehr um Überredung jenseits der Wahrheit, sondern um "Glaubhaftigkeit", nicht nur im rein rhetorischen, sondern im tatsächlichen Sinne. So fordert Aristoteles eine Betonung der "technischen" zu Lasten der "untechnischen" Beweismittel in der rhetorischen Beweisführung. Unter technischen Beweismitteln versteht er Beweise durch logische Schlußfolgerungen und Überlegungen, durch schlagende Beispiele und einleuchtende Indizien. Unter den traditionellen "untechnischen" Beweismitteln werden die Zeugenaussage, Eide sowie die Anwendung von Gesetzes- und Vertragsklauseln verstanden. Dieser Betonung der Glaubhaftigkeit entsprechend, legt Aristoteles das Schwergewicht seiner Ausführungen auf die inventio, also die Erarbeitung des inhaltlichen Aspekts der rhetorischen Argumentation (Buch 1 und 2). Die sprachliche Ausarbeitung der Rede, also den Stil (elocutio) und die Anordnung des Stoffes (dispositio), behandelt er im dritten Band seiner Rhetorik. ©rein
Aristoteles: Poetik (nach 335 v. Chr.)
Die Poetik des Aristoteles beschäftigt sich in teils grundsätzlicher, teils spezieller Art und Weise mit der Dichtkunst und ihren Gattungen. Sie beschränkt sich nicht auf Texte in schriftlicher Form, sondern meint jede Art eines dichterischen Vortrags: "Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Weise voneinander: entweder dadurch, daß sie je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen." (S. 5) An dieser Stelle ist schon das zentrale Stichwort gefallen: Die Nachahmung ist das Wesen der Dichtung. Die Dichter "ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere fallen fast stets unter eine dieser beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder ebenso wie wir." (S. 7) Die Unterschiede der nachzuahmenden Charaktere konstituieren dann auch die Unterschiede der literarischen Gattungen: "Auf Grund desselben Unterschiedes weicht auch die Tragödie von der Komödie ab: die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen." (S. 9) Diese Unterscheidung Aristoteles behielt als sogenannte 'Ständeklausel' bis ins späte 18. Jahrhundert hinein Gültigkeit. Erst mit dem bürgerlichen Trauerspiel Lessings und der damit einhergehenden neuen Dramenpoetik brach diese Beschränkung der Tragödie auf adeliges Personal auf. Ein weiterer Unterschied der literarischen Gattungen liegt in der Art und Weise, wie sie nachahmen: "Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten – in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht – oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befíndliche auftreten lassen." (S. 9) Nun wendet sich Aristoteles der Frage zu, warum der Mensch zur Nachahmung neigt und Dichtkunst produziert: "Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen ist dem Menschen angeboren, es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen [...], als auch die Freude, die jedermann an Nachahmung hat. Als Beweis hierfür kann
eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellung von möglichst unansehnlichen Tieren und von Leichen." (S. 11) An dieser Stelle scheint es, als hätte Aristoteles unsere modernen Rezeptionsgewohnheiten schon mitgedacht. Was ist nun unter dieser Nachahmung, die anscheinend naturgegeben ist, zu verstehen? Geht es um die Nachahmung von tatsächlichen historischen Ereignissen oder (handelnden) Personen? Aristoteles gibt darauf eine eindeutige Antwort, die unsere Vorstellung vom logischen Status und den Grenzen der Literatur lange geprägt hat: "Es [ist] nicht Aufgabe des Dichters [...] mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere was geschehen könnte. Daher ist die Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen —das Besondere mit."(S. 29) Die Festschreibung der Dichtung auf etwas, das geschehen könnte, aber wahrscheinlich sein muß, stellt einerseits gegenüber der Wirklichkeit ein freiheitliches Moment dar, Literatur darf in diesem Moment Fiktion sein; andererseits gibt es für sie gegenüber dem potentiell Denkbaren jedoch ein Moment von Unfreiheit. Der Dichtung, so wie Aristoteles sie definiert, fehlt die Möglichkeit zur Utopie, zur Subversion, zur – zumindest gedanklichen – Zersetzung von gesellschaftlichen Gegebenheiten. ©rein
Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982.
Aristoteles: Poetik (zum Drama)
In der Poetik des Aristoteles werden sowohl die Lyrik, die Epik als auch die Dramatik als Nachahmungen charakterisiert. Tragödiendichtung ist Mimesis von Lebenswirklichkeit und handelnden Menschen, diese Menschen sind entweder gut oder schlecht. Die Scheidung von guten und schlechten Menschen konstituiert auch die poetologische Unterscheidung von Tragödie und Komödie: "Die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen." (S. 9) Hier finden wir die Keimzelle der bis ins 18. Jahrhundert vorherrschenden Ständeklausel, die die Tragödie für das adlige Personal reservierte, die Bürger und Bauern hingegen auf die Komödie verwies. Es ging darum, die schlechteren Menschen nicht in ihrer Schlechtigkeit an sich darzustellen, "sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Häßlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht." (S. 17) Der schlechtere Mensch soll in seiner Lächerlichkeit bloßgestellt und verlacht werden. Warum haben sich aber diese beiden Formen des Dramas entwickelt? Auch auf diese Frage hat Aristoteles eine Antwort: Es war das Wesen der Autoren, das die Tragödie von der Komödie schied, denn "die Dichtung hat sich hierbei nach den Charakteren aufgeteilt, die den Autoren eigentümlich waren. Denn die Edleren ahmten gute Handlungen und die von Guten nach, die Gewöhnlicheren jedoch die von Schlechten." (S. 13) Wichtigstes strukturelles Merkmal der Tragödendichtung ist die Geschlossenheit. Dies bezieht sich einerseits auf eine 'geschlossene Handlung': "Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache." (S. 19) Andererseits zeigt sich die Geschlossenheit der Tragödie in der 'Einheit der Zeit und des Ortes': Ihre zeitliche "Ausdehnung [...] versucht sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen." (S. 17) Sie besitzt als ein Ganzes Anfang, Mitte und Ende. "Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze halten." (S. 25) Welches Ziel verfolgt Aristoteles mit der Festschreibung dieser Grundsätze? Es geht ihm darum, eine größtmögliche Nachvollziehbarkeit der Handlung durch das Publikum zu erzeugen. Denn der Zweck der Tragödie ist es, Jammern (eleos) und Schaudern (phobos) hervorzurufen, um eine Reinigung (katharsis) des Zuschauers herbeizuführen.
©rein
Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982.
4. Theorien der Textproduktion: Rhetorik und Poetik 1. Rhetorik 1.1 Grundbegriffe der Rhetorik Redegattungen Redefunktionen Elemente der Rede Rhetorische Mittel: Tropen ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Metapher Katachrese Metonymie Synekdoche Emphase Hyperbel Periphrase Euphemismus Synonym
Wortfiguren ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Anapher Epipher Paronomasie Polyptoton Polysyndeton Asyndeton Ellipse Zeugma Hyperbaton Parallelismus Chiasmus
1.2 Die antike Rhetorik Gorgias von Leontinoi Platon: "Gorgias" Aristoteles: "Rhetorik" Marcus Tullius Cicero: "Über den Redner" Marcus Fabius Quintilian: "Ausbildung des Redners"
Sinnfiguren ● ● ●
● ● ●
Antithese Apostrophe Rhetorische Frage Permission Personifikation Allegorie
2. Poetik 2.1 Die antike Poetik Aristoteles: "Poetik" Platon: "Der Staat" Quintus Horatius Flaccus (Horaz): "Von der Dichtkunst" 2.2 Poetik der Renaissance Julius Caesar Scaliger: "Sieben Bücher über die Dichtkunst" Martin Opitz "Buch von der deutschen Poeterey" (zur Dramatik) "Buch von der deutschen Poeterey" (zur Lyrik) "Ständeklausel" 2.3 Krise und Fortleben der Poetik 2.3.1 Poetik im 18. Jahrhundert Johann Christoph Gottsched: "Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen" Christian Friedrich von Blanckenburg: "Versuch über den Roman" 2.3.2 Poetik des Sturm und Drang Johann Gottfried Herder Johann Wolfgang Goethe: "Zum Shakespeare-Tag" 2.3.3 Poetik der Klassik
Johann Wolfgang Goethe: "Naturformen der Dichtung" 2.3.4 Poetik der Romantik Friedrich Schlegel: "Progressive Universalpoesie" 2.3.5 Poetik im 19. und 20. Jahrhundert Georg Wilhelm Friedrich Hegel: "Vorlesungen über die Ästhetik" Georg Lukács: "Die Theorie des Romans" Walter Benjamin: "Der Erzähler" Theodor W. Adorno: "Standort des Erzählers im modernen Roman" Roman Jakobson: "Linguistik und Poetik" Manfred Bierwisch: "Poetik und Linguistik" 3. Immanente Poetik
Romantheorie im Roman Robert Musil: "Der Mann ohne Eigenschaften" (Ausschnitt) Thomas Mann: "Der Zauberberg" (Ausschnitt) Gedichte über Dichtung Gottfried Benn: "Fragmente" (Originaltext) Bertolt Brecht: "Über die Bauart langdauernder Werke" (Ausschnitt) 4. Erwähnte Autoren und literarische Texte Homer: "Ilias" "Odyssee" Sophokles: "König Ödipus" Miguel de Cervantes Saavedra "Don Quijote" Johann Wolfgang Goethe: "Die Leiden des jungen Werthers" "West-östlicher Divan" Marcel Proust Thomas Mann Robert Musil James Joyce Virginia Woolf Gottfried Benn Bertolt Brecht Ernst Jandl Umberto Eco
Wilhelm Dilthey
* 19.11.1833, Wiesbaden † 01.10.1911, Seis bei Bozen Philosoph, Psychologe und Pädagoge Wilhelm Dilthey war um 1900 die Zentralfigur der sosogenannten Lebensphilosophie in Deutschland. Schon früh hatte er sich intensiv mit Schleiermachers Hermeneutik befaßt. In seinem eigenen umfangreichen Werk behandelt er Fragen der Philosophie und Erkenntnistheorie, Psychologie und Pädagogik, aber auch der Kunst und Literatur. Die Vielfalt der Gegenstände und Disziplinen wird durch den Versuch verbunden, für sie eine gemeinsame, von den damals so erfolgreichen Naturwissenschaften unterschiedene Erkenntnismethode zu bestimmen. Während jene die physische Welt erklären, sollen die von Dilthey so genannten Geisteswissenschaften die menschliche Welt verstehen, und zwar "sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden." (S. 98) Der Dreischritt von Erleben, Ausdruck, Verstehen ist das Basismodell von Diltheys Hermeneutik. Es bewährt sich in "elementaren Formen des Verstehens" schon in den alltäglichen Interaktionen. Die Menschen "müssen sich gegenseitig verständlich machen", auch in nichtsprachlichen Ausdrücken: "Eine Miene bezeichnet uns Freude oder Schmerz." (S. 255) Dilthey konzentriert sich dann auf die "höheren Formen des Verstehens", auf die "dauernden geistigen Schöpfungen [...] oder die beständigen Objektivierungen des Geistes in gesellschaftlichen Gebilden." Ausgezeichneter Gegenstand des höheren Verstehens, der hermeneutischen Auslegungskunst, ist für Dilthey aber das Kunstwerk. "Wahrhaftig in sich, steht es fixiert, sichtbar, dauernd da, und damit wird ein kunstmäßig sicheres Verstehen desselben möglich." (S. 254) Auch das "höhere" Verstehen vollzieht sich wesentlich als "Hineinversetzen, Nachbilden, Nacherleben", eine Art Wiederholung und Nachvollzug des ursprünglichen Erlebnisausdrucks bzw. Schaffensvorgangs. Möglich ist das Verstehen von - individuellen, historischen und kulturellen - fremden Äußerungen auf der "Grundlage der allgemeinen Menschennatur"; so wird die monadische Existenz des Verstehenden, die "Determination" seiner Lebensmöglichkeiten geöffnet und bereichert. Für Dilthey ist "Verstehen ein Wiederfinden des Ich im Du". (S. 235) Dieses stark psychologisierende, die historischen Differenzen überspielende Konzept des Verstehens hat auf verschiedene Geisteswissenschaften, darunter auch auf die germanistische Literaturwissenschaft (besonders die
geistesgeschichtliche Schule der zwanziger und die werkimmanente Interpretation der fünfziger Jahre) außerordentlich stark eingewirkt. Ihr ahistorischer und im Bezug auf Kunst und Literatur deutlich klassizistischer Charakter hat später jedoch auch zu kritischer Auseinandersetzung mit den Grundsätzen von Diltheys Hermeneutik herausgefordert (Hans-Georg Gadamer, Jürgen Habermas u.a.). © DS und JV
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/M. 1968. Wichtige Schriften: ❍ ❍
Die Entstehung der Hermeneutik (1900) Das Erlebnis und die Dichtung (1906)
Sekundärliteratur: 1. J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1968, Kap. II, 7 u. 8. 2. E. Hufnagel: Wilhelm Dilthey. Hermeneutik als Grundlegung der geisteswissenschaften, in: U. Nassen (Hg.): Klassiker der Hermeneutik, Paderborn 1982. 3. M. Jung: Dilthey zur Einführung, Hamburg 1996.
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
* 21.11.1768, Breslau † 12.02.1834, Berlin Protestantischer Theologe, Philosoph und Pädagoge Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher war als erster Theoretiker bestrebt, eine allgemeine Hermeneutik zu entwickeln, die er definierte als "die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen" (S. 75). Er beschränkt sich dabei, der protestantischen Aufklärungshermeneutik folgend, auf einen einzigen Schriftsinn, den Wort- oder Literalsinn (sensus litteralis) des Textes und verwirft damit die Lehre des mehrfachen Schriftsinns und die ihr folgende Auslegepraxis. Weiterhin gewinnt bei ihm der Autor selbst und dessen Intention an Bedeutung für das Verständnis des Textes. Dies führt ihn dahin, innerhalb der Hermeneutik zwei Aufgabengebiete zu unterscheiden, die bei einer Interpretation Berücksichtigung finden sollten: einerseits die grammatische, andererseits die psychologische Interpretation. Die grammatische Interpretation deutet jede sprachliche Äußerung im Rahmen des vorgegebenen Sprachsystems. Insofern ist für sie jede sprachliche Äußerung etwas Überindividuelles; zugleich aber wird durch den jeweils individuellen Sprachgebrauch (etwa durch neuartige Wortverbindungen, sprachliche Bilder usw.) auch das gegebene sprachliche System innovativ verändert. Diese Weiterentwicklung sieht Schleiermacher in der Poesie besonders stark ausgeprägt: sie ist "eine Erweiterung und neue Schöpfung der Sprache". Die psychologische Interpretation soll erschließen, was der Autor aussagen möchte, denn sie faßt seinen Text als "Lebensmoment des Redenden" auf. Der Interpret muß dabei die Genese des Textes nachkonstruieren. Er muß die Bedingungen kennen, unter denen der Autor schrieb und die Gründe, die sein Schreiben veranlaßten, er muß sich in den Autor 'hineinversetzen' können. Auch wird er den einzelnen Text besser verstehen können, wenn er das gesamte Werk eines Autors kennt, etwa so, wie sich einem der Sinn eines Wortes erst durch den Satzzusammenhang, in den es jeweils gehört, wirklich erschließt. Schleiermacher fordert schließlich, der Interpret müsse "die Rede zuerst ebensogut und dann besser verstehen als ihr Urheber" (S. 94); er ist davon überzeugt, daß die angemessene Interpretation eines Textes nur durch einen Interpreten geleistet werden könne, den eine gewisse Seelenverwandtschaft mit dem Autor und die Fähigkeit zur Divination (Ahnung) auszeichne. Schleiermachers Bedeutung für die neuere Hermeneutik liegt nicht allein in der Überwindung der Spezialhermeneutiken und der Konzeption einer allgemeinen
Verstehenstheorie, sondern darin, daß er sie in einer allgemeinen Theorie der Sprache als System und als individuelle Hervorbringung fundiert. Mit dieser Wendung zu den sprachlichen Bedingungen von Textproduktion und Textverstehen, die auch ein neues Verständnis der spezifischen Leistung des poetischen Sprechens einschließt, kann Schleiermacher sogar als Vorläufer heutiger Sprach- und Literaturtheorien angesehen werden. Friedrich Schleiermacher hat eine ausgereifte Darstellung seiner hermeneutischen Theorie niemals drucken lassen. 1838 veröffentlichte jedoch sein Schüler Friedrich Lücke, dessen handschriftlichen Nachlaß und Vorlesungsmitschriften unter dem Titel Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. © DS und JV
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977. Wichtige Schriften: ❍
Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. Friedrich Lücke (1838). (Nachdruck 1977)
Sekundärliteratur: 1. H. Birus: Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik, in: H.B. (Hg.): Hermeneutische Positionen: Schleiermacher - Dilthey- Heidegger - Gadamer, Göttingen 1982. 2. M. Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. 1977. 3. P. Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt/M. 1975, Kap.8.
Werkimmanente Interpretation
Unter dieser (oft als 'Werkimmanenz' abgekürzten) Bezeichnung wird bis heute eine methodische (und weltanschauliche) Richtung der Literaturwissenschaft verstanden, die in den fünfziger und frühen sechziger Jahren die Germanistik der deutschsprachigen Länder (mit Ausnahme der DDR) beherrschte. Dies ist allerdings ein nachträglich geprägter und bereits kritisch akzentuierte Begriff; die Immanenz (nach lat. in und manere, bleiben, also etwa: im Innern bleibend) verweist selbst auf das Ausgeschlossene: in diesem Fall besonders auf die Geschichtlichkeit der Literatur. Die Repräsentanten jener Richtung sprachen denn auch lieber von Dichtungswissenschaft (Wolfgang Kayser) oder Stilkritik (Emil Staiger). Im kritischen Rückblick (der damaligen Studentengeneration) erscheint die Werkimmanente Interpretation oft als homogener (und daher leichter zu kritisieren) als es der Realität entsprach. Gemeinsam war ihren Vertretern sicher eine aus zeithistorischen Erfahrungen gespeiste Abwendung von Politik, Geschichte und Gesellschaft - und die komplementäre Hinwendung zum "sprachlichen Kunstwerk als solchem" (Kayser). Sie findet sehr oft in einer Demutshaltung statt, die (ästhetische oder ideologische) Kritik von vornherein unmöglich macht. Insofern darf man von einer Art Dichtungs-Religion sprechen, die die verlorene weltanschauliche Orientierung kompensieren sollte. Nur so ist es überhaupt erklärbar, daß unter dem Dach der Werkimmanenz viele ehemalige Nationalsozialisten wie Wolfgang Kayser, Erich Trunz, Benno von Wiese mit Kollegen aus 'sicheren Drittländern' (wie dem Schweizer Emil Staiger) und einzelnen Rückkehrern aus dem Exil (wie Richard Alewyn) zusammenfinden konnten. Dem genaueren Blick zeigen sich aber deutlich individuelle und methodische Varianten. Emil Staiger ist als Vertreter einer "konservativ-humanistischen Richtung" bezeichnet worden (Jost Hermand), die ganz aus der Betroffenheit durch die Gehalte der dichterischen Werke lebt und Berührungspunkte zur zeitgenössischen Existenzphilosophie aufweist. Für Wolfgang Kaysers bis heute verlegtes Lehrbuch Das sprachliche Kunstwerk (20. Aufl. 1992), das während seiner Zeit als NS-Gastdozent in Lissabon entstand, ist ein eher "sachlichzergliederndes" (Hermand) bzw. poetologisch-handwerkliches Interesse an der Literatur kennzeichnend. Damit werden übrigens auch ältere, speziell gattungsgeschichtliche Anregungen (etwa des Emigranten Karl Viëtor) aufgenommen. Ein ehemals bekennender Nationalsozialist wie Erich Trunz feiert ebenfalls die "innere Form" des Kunstwerks, zieht sich dann aber zunehmend auf ideologiefreie Editionsprojekte zurück (Hamburger Goethe-Ausgabe). Der fachpolitisch einflußreichste Ordinarius der fünfziger Jahre, Benno von Wiese, hat mit seinen gattungsgeschichtlichen Arbeiten und InterpretationsSammelbänden wesentlich zur Popularisierung der Werkimmanenten
Interpretation (auch im pädagogischen Bereich) beigetragen, ohne die historische Dimension ganz auszuklammern. Nach 1955, verstärkt nach 1960 erscheinen dann verschiedene Arbeiten, die Abstand zur Dichtungs-Ideologie nehmen und sachlich-analytisch die Strukturgesetze von Texten und Gattungen aufdecken. Die jüdische Emigrantin Käte Hamburger (Die Logik der Dichtung, 1957), aber auch Eberhard Lämmert, Vertreter der ersten Nachkriegs-Generation (Bauformen des Erzählens, 1955), sowie der Österreicher Franz K. Stanzel (Typische Formen des Romans, 1964) verschaffen der deutschsprachigen Literaturwissenschaft - zunächst im Bereich der Erzählforschung (vgl. Epik) - wieder Anschluß an das internationale Niveau. Was eine textimmanente Analyse im strengen Sinne - in der Verbindung literaturwissenschaftlicher und linguistischer Aspekte - leisten kann, zeigen die Texterklärungen des nach USA emigrierten Romanisten Leo Spitzer, die in Deutschland freilich erst verspätet rezipiert werden konnten. Im Rückblick erscheint die sogenannte Werkimmanenz, wie Klaus Berghahn gezeigt hat, in einer kaum aufhebbaren Ambivalenz: auf der einen Seite bleibt sie in einer spätbürgerlich-irrationalen Kunst-Ideologie befangen, auf der anderen Seite entwickelt sie zumindest Ansätze zu einer sachlich-detaillierten Analyse von einzelnen Texten und gattungsspezifischen Strukturen bzw. "Bauformen" (Lämmert). Damit bereitet sie längerfristig die Rezeption moderner Literaturtheorien, etwa der strukturalistischen Erzählforschung, vor. © JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk (1948) Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation (1955) Leo Spitzer: Texterklärungen. Aufsätze zur europäischen Literatur (1969)
Sekundärliteratur: 1. W. Barner/C. König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt/M. 1996 (darin die Beiträge von R. Baasner, B. Böschenstein, L.Dannenberg). 2. K. Berghahn: Wortkunst ohne Geschichte. Zur werkimmanenten Methode der Germanistik nach 1945, in: Monatshefte 71 (1979), S.387-398. 3. J. Hermand: Geschichte der Germanistik, Reinbek 1994, S.114-140.
Hans-Georg Gadamer
* 11.2.1900, Marburg † 13.3.2002, Heidelberg Philosoph 1960 veröffentlichte der Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer sein Hauptwerk Wahrheit und Methode, den großangelegten Versuch einer "philosophischen Hermeneutik". Darin geht es ihm um "Wahrheit" statt "Methode" (verstanden als Verfahrensweise, die sachliche oder symbolische Zusammenhänge nach intersubjektiv kontrollierten Regeln, also nach dem Vorbild der mathematisch-naturwissenschaftlichen "Methode" zu analysieren sucht). Dieses Werk löste in der Folgezeit auch eine verstärkte hermeneutische Reflexion in der deutschen Literaturwissenschaft aus. Hermeneutik ist für Gadamer mehr Geschehen als Verstehen. Sie ist die besondere Art und Weise, in der ein kulturell gewachsener Überlieferungs-, Traditions- und Normzusammenhang aufrechterhalten bzw. weiterentwickelt wird. Dabei akzentuiert Gadamer die Sprachlichkeit des hermeneutischen Geschehens, d.h.er betont die Vorgegebenheit eines Sprachsystems und die Teilhabe der Individuen daran. Durch das Lesen, Auslegen und Weitervermitteln von überlieferten Texten, vor allem auch durch ihre Neuinterpretation, schließen wir unsere Gegenwart immer aufs Neue an die soziokulturelle Tradition an. Gadamer hebt die Bedeutung hervor, die der historische Ort des Verstehenden für dessen Verstehen besitzt. Diese Bedeutung erläutert er am Begriff des "Vorurteils". Er wird bei ihm nicht, wie in der Tradition der Aufklärung und auch noch bei Schleiermacher, negativ verstanden als Quelle des Mißverstehens. Das "Vor-Urteil" ist bei Gadamer die durch Lebensgeschichte und Bildungsgeschichte vorstrukturierte Verstehensfähigkeit des jeweiligen Subjekts, die es nun versuchsweise auf das neu zu Verstehende "entwerfen" kann und meist korrigieren wird. In diesem Sinn ist das Vorurteil für ihn nicht Störung, sondern geradezu produktive Bedingung des geschichtlichen Verstehens. Produktiv und eine Bedingung fast allen hermeneutischen Geschehens ist für Gadamer daher auch der Zeitabstand (die hermeneutische Differenz) zwischen (gegenwärtigem) Leser und (überliefertem) Text, den ja noch Dilthey im Akt der Einfühlung überspringen wollte. Konkretisiert wird diese geschichtliche Grundstruktur des Verstehens von Gadamer in der Metapher des "Horizonts". Damit meint er den "Gesichtskreis, der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkte aus sichtbar ist" (S. 286). Der jeweils gegenwärtige Horizont ist in der historischen und kulturellen Traditon von früheren Horizonten jedoch nicht
grundsätzlich verschieden, denn er bildet sich gar nicht ohne die Vergangenheit. Tatsächlich ist er in steter Bildung begriffen, da wir alle unsere Vorurteile ständig erproben. Die hermeneutische Tätigkeit ist eine mehr oder weniger bewußte Konfrontation mit der Tradition, die im Vollzug des Verstehens eine "Verschmelzung" des gegenwärtigen mit dem vergangenen Horizont vollbringt. Wenn nun nicht allein die einzelne hermeneutische Situation (also z.B. die Lektüre oder Auslegung eines überlieferten Textes) betrachtet wird, sondern auch die Tatsache, daß sie in aller Regel auf eine ganze Reihe von entsprechenden Situationen folgt und ihrerseits wiederum neue, nachfolgende hervorrufen kann, so eröffnet sich eine Dimension, die Gadamer Wirkungsgeschichte nennt. (An diese Überlegungen knüpft in den siebziger Jahren besonders die literaturwissenschaftliche Schule der Rezeptionsästhetik und -geschichte an.) Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein hat die eigene Situation nicht naiv, sondern reflektiert an die Überlieferung anzuschließen. Es soll die Zugehörigkeit der Gegenwart zur Tradition artikulieren, aber nie vergessen, was sie von ihr trennt. Die Einschätzung Gadamers als eines eher konservativen oder eher vorwärtsweisenden Denkers hängt letzlich davon ab, wo der Akzent gesetzt wird: auf der Traditionsverbundenheit oder auf der Abgrenzung von der Tradition. © DS und JV
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl., Tübingen 1972. Wichtige Schriften: ❍
Gadamer Lesebuch. Hg. v. Jean Grondin (1997)
Sekundärliteratur: 1. J. Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, Kap.VI. 2. Hermeneutik und Ideologiekritik. Mit Beiträgen von K.O. Apel u.a., Frankfurt/M. 1971. 3. H. Turk: Wahrheit oder Methode? H.-G. Gadamers "Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik", in: H. Birus (Hg.): Hermeneutische Positionen. Schleiermacher - Dilthey - Heidegger - Gadamer, Göttingen 1982.
Jürgen Habermas
* 18.6.1929, Düsseldorf Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas hat keine eigenständige oder ausgearbeitete hermeneutische Theorie vorgelegt, weil sein wissenschaftlicher Anspruch weiter zielt - auf eine Theorie des gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses schlechthin und auf dessen Verflechtung mit anderen Instanzen der Vergesellschaftung, wie dem ökonomischen Prozeß und den sozialen und politischen Institutionen. In diesem Rahmen einer Theorie des kommunikativen Handelns haben dann allerdings auch hermeneutische Fragestellungen ihren Platz. Wie Gadamer bestimmt auch Habermas das hermeneutische Problem des Textverstehens als Sonderfall des Gesprächs, geht also von der Annahme einer Verständigungsgemeinschaft aus. Aber anders als Gadamer ist Habermas davon überzeugt, daß wir im Dialog oder Textverstehen nicht ohne weiteres den "Sinn der Sache" annehmen müssen. Wir leben zwar in einer sprachlich strukturierten Gemeinschaft, in der wir aber als "individuierte Einzelne" kommunizieren. Die intersubjektive Geltung sprachlicher Symbole ermöglicht zweierlei zugleich: die gegenseitige Identifikation "als gleichartige Subjekte", aber auch das Festhalten an der "Nicht-Identität des eigenen Ichs mit dem Anderen" (S. 199). Auf die Texthermeneutik bezogen, fordert Habermas' kommunikatives Modell daher eine doppelte Leistung: Rekonstruktion des historischen Sinns und eine gegenwärtige Stellungnahme zum Geltungsanspruch jenes Sinns, d.h. möglicherweise auch die im Horizont gegenwärtiger Erfahrung begründbare Abgrenzung von ihm. An Stelle von Sinnverstehen, das auf Einfühlung oder unbefragter Traditionsübernahme basiert, tritt eine geschichtsbewußte "Sinnkritik". (In diesem Sinn setzt sich Habermas in seinem Buch Erkenntnis und Interesse u.a. kritisch mit Diltheys Einfühlungshermeneutik auseinander.) Diese Forderung basiert auf der Überzeugung, daß Sprache als Instanz der Vergesellschaftung keineswegs jenes allumfassend-autonome System ist, als das Gadamer sie noch sieht ("Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache"). Zwar ist es richtig, daß Sprache einerseits das Umgreifende ist, andererseits aber ist sie zumindest partiell durch materielle Gewalt der beiden Instanzen Arbeit und Herrschaft bestimmt (zum Beispiel: Sprache als Medium von Politik, Werbung, Sprache am Arbeitsplatz, in der Prüfung usw.). Die Möglichkeiten der Hermeneutik sollen präzisiert und dadurch erweitert werden, daß sie die Dimension der Ideologiekritik in sich aufnimmt. Der Begriff "Ideologie" wird bei Habermas in dem auf die ältere Frankfurter Schule (Theodor W. Adorno, Max
Horkheimer) und weiter auf den frühen Karl Marx zurückgehenden Sinn von "notwendig falschem Bewußtsein" gebraucht. Gemeint ist in diesem Zusammenhang, daß reale Bedingungen der Vergesellschaftung (Familienstruktur, Arbeitsbedingungen, Klassenstruktur und politische Verfassung einer Gesellschaft usw.) in systematischer Weise ("notwendig") Bewußtseinsformen, Weltbilder und Deutungen hervorrufen, mit deren Hilfe die Individuen sich in jenen Verhältnissen zwar zurechtfinden, die ihnen aber zugleich die Einsicht in die tatsächlichen Strukturen verschleiern und verwehren. Für Habermas ist es nun gerade die relative Offenheit des Sprachsystems, die es ermöglicht, den Geltungsanspruch sprachlich fixierter Traditionsansprüche zu problematisieren. Aber nicht in der Weise, daß - wie bei Gadamer - die eindeutige Geltung des tradierten Sinnes bekräftigt wird; vielmehr so, daß im Verstehen bzw. in seiner sprachlichen Explikation (z.B. in einer TextInterpretation) gerade auch die Nicht-Identität, das Nicht-Einverständnis mit dem intendierten Sinn und seinem Geltungsanspruch artikuliert werden kann. Damit gewinnt auch das hermeneutische Verfahren Anteil am emanzipatorischen Erkenntnisinteresse. © DS/JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Erkenntnis und Interesse. Frankfurter Antrittsvorlesung (1968 a) Erkenntnis und Interesse (1968 b) Zu Gadamers "Wahrheit und Methode"; Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, beides in: Hermeneutik und Ideologiekritik (mit K.-O. Apel, H.-G. Gadamer u.a.) (1971)
Sekundärliteratur: 1. H. Gripp: Jürgen Habermas, Paderborn 1984. 2. D. Horster: Jürgen Habermas zur Einführung, Hamburg 1999. 3. A. Wellmer: Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Frankfurt/M. 1969.
Was sollen Germanisten lesen? Wulf Segebrecht Taschenbuch - 84 Seiten (2000) Erich Schmidt Verlag GmbH & Co., Berlin; ISBN: 3 503 04934 7
Erhältlich im Buchhandel oder weitere Informationen über www.erichschmidt-verlag.de Wulf Segebrechts "Leseliste" regt auch in der aktualisierten Fassung zum Lesen an. Mit Beiträgen zur Kanonisierung oder Vorschlägen zur Lektüre, gestreut durch die Zeitgeschichte vom Neunten bis zum Zwanzigsten Jahrhundert, bietet dieses Werk ein breites Spektrum für alle angehenden oder fortgeschrittenen Germanisten. Wulf Segebrecht beantwortet in vielerlei Hinsicht die Frage "Was sollen Germanisten lesen?"
Schreiben im Studium: mit Erfolg Ein Leitfaden
Karl-Dieter Bünting Axel Bitterlich Ulrike Pospiech Preis: DM 19,90 (EUR 10,17) Taschenbuch - 160 Seiten (2000) Cornelsen Scriptor. studium kompakt, Berlin; ISBN: 3-589-21417-1 Erhältlich im Buchhandel Das Buch ist eine elementare Arbeitshilfe für alle, die Geistes-, Sozial-, Wirtschafts-, Natur- und Ingenieurwissenschaften studieren. Vom ersten Protokoll im Proseminar bis zur Abschlussarbeit wird das ganze Spektrum des Schreibens behandelt - kompetent, praxisnah und mit Tipps, die sich sofort für die eigene Arbeit umsetzen lassen. ° Wie organisiere ich den Schreibprozess? ° Welche Techniken der wissenschaftlichen Arbeit muss ich beherrschen? ° Wie formuliere ich einen sachlich angemessenen Text? ° Worauf muss ich beim Exzerpieren, worauf beim Schreiben eines Berichts oder einer Hausarbeit achten? ° Wie kann ich den PC effektiv nutzen?
11. Von Lust und Frust der Lektüre 1. Vom Leser, vom Lesen und vom Werk. Der "fachmännische" Blick auf eine wunderbare Begegnung Aristoteles "Poetik" Immanuel Kant "Kritik der Urteilskraft" Georg Wilhelm Friedrich Hegel "Ästhetik" Roman Ingarden "Das literarische Kunstwerk" Bertolt Brecht "Über die Bauart langdauernder Werke" Jean-Paul Sartre "Was ist Literatur?" Hans Robert Jauß Wolfgang Iser Umberto Eco Rezeptionsästhetik
2. Von den Freuden und Gefahren des Lesens. Eine kleine Entwicklungsgeschichte
Homer "Ilias" "Odyssee" Dante, Alighieri "Göttliche Komödie" unbekannter Verfasser: "Lancelot" Johann Jacob Gutenberg Martin Luther Miguel de Cervantes Saavedra "Don Quixote" Bertolt Brecht "Terzinen über die Liebe" Oralität und Literalität
3. Der Dichter als Leser. Lektüreerlebnisse von Literaten Karl Philipp Moritz: "Anton Reiser" Johann Wolfgang Goethe: "Die Leiden des jungen Werthers" Heinrich Heine Heinrich Mann: "Professor Unrat" Walter Benjamin Wolfgang Koeppen Peter Weiss: "Abschied von den Eltern" 4. Wer sagt uns etwas über literarische Sozialisation?
Mediengeschichte Historische Leseforschung Buchmarktforschung Empirische Sozialwissenschaften Rezeptionsästhetik Entwicklungspsychologie (Lesealter) Psychoanalyse Deutschunterricht Lesebuch Sachbuch Schullektüre / Freizeitlektüre
5. Erwähnte Autoren und literarische Texte Homer Francesco Petrarca Miguel de Cervantes Saavedra Giovanni Boccacio Karl Philipp Moritz Heinrich Heine Heinrich Mann Walter Benjamin Wolfgang Koeppen Peter Weiss
Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk (1931)
Der polnische Philosoph Roman Osipovich Ingarden hat sich, angeregt durch die phänomenologische Schule in Deutschland (Promotion bei Edmund Husserl), mehrfach mit Grundproblemen der philosophischen Ästhetik, insbesondere mit der Frage nach der "Seinsweise" des Kunstwerks auseinandergesetzt. Seine wichtigste frühe Studie über Das literarische Kunstwerk hat dabei, sowohl wegen ihrer Zwischenstellung zwischen Philosophie und Literaturwissenschaft wie auch wegen der historischen Umstände (Ingarden war bis 1933 und nach 1945 Professor in Lwow/Lemberg), eine verzögerte und ehr unterschwellige Rezeption erfahren. Im Rückblick wird deutlich, wie viel sie auf Grund ihrer begrifflichen Schärfe zur Präzisierung des Literaturkonzepts der später so genannten werkimmanenten Interpretation hätte beitragen können. Tatsächlich wurden Ingardens Überlegungen, besonders sein Konzept der "Unbestimmtheitsstellen" im literarischen Werk, aber erst von der Rezeptions- und Wirkungsästhetik der siebziger Jahre aufgegriffen und weiter entwickelt. Ingarden bestimmt das literarische Kunstwerk zunächst grundsätzlich als "intentionalen Gegenstand" und grenzt es damit sowohl von materiellen Objekten wie von psychischen Zuständen ab. Seine Aussagen sind, logisch gesehen, scheinbare Behauptungen oder "Quasi-Urteile" (ähnlich formuliert das auch die neuere literaturwissenschaftliche Theorie der Fiktion.) Das literarische Werk ist weiterhin als ein "mehrschichtiges Gebilde" zu verstehen. Genauer gesagt wird es durch vier miteinander verklammerte Schichten konstituiert: erstens (gewissermaßen von unten gesehen) die Schicht der "sprachlichen Lautgebilde" (z.B. Wort, Rhythmus, Reim) zweitens die Schicht der "Bedeutungseinheiten" (z.B. Namen, Satz), drittens die Schicht der "dargestellten Gegenständlichkeit" (z.B. Raum, Figuren), viertens die "Schicht der schematisierten Ansichten" (perspektivische Präsentation des Gehalts). Die aus dem Zusammenwirken dieser Schichten resultierende Bedeutungsvielfalt oder "Polyphonie" versteht Ingarden als "das Wesentliche für das literarische Werk". (Der gleiche Begriff wird in etwas anderer Definition auch von dem Erzähltheoretiker Michail Bachtin benutzt). Der Kunstcharakter eines Werkes erfüllt sich für Ingarden sich in der "polyphonen Harmonie". Die polyphone Struktur des Werkes und sein vielfältiges Sinn-Angebot müssen von den Rezipienten jedoch erst 'konkretisiert' werden; in diesen "Konkretisationen" erfüllt sich erst das "'Leben' des literarischen Werkes". Sie sind unverzichtbar, weil das Werk als "schematisches Gebilde" notwendiger Weise stets "'Lücken', Unbestimmtheitsstellen, schematisierte Ansichten usw. in
sich enthält". Sie sind zugleich vielfältig (bei verschiedenen Rezipienten oder Rezeptionsakten), weil sie vom Werk her "in gewissen Grenzen vorgeschrieben sind, aber trotzdem von Fall zu Fall" - also bei verschiedenen Rezipienten oder auch bei verschiedenen Lektüren des gleichen Rezipienten - "variieren" können (S.353, 362). Hier wird der methodische Anschlusspunkt für die Argumentation der Rezeptionsästhetiker Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß besonders deutlich. Kritisch diskutiert wurde hingegen Ingardens Vorstellung von der "polyphonen Harmonie" des Kunstwerks. Sie erinnert an den Begriff der Dichtung als "in sich geschlossenes sprachliches Gefüge", den Wolfgang Kayser in Das sprachliche Kunstwerk (1948) verwendet. Beide sind deutlich von einer klassizistischen Kunstauffassung geprägt, mit der zumindest die moderne Kunst und Literatur (mit Stilmitteln der Diskrepanz, der Montage, der Verfremdung usw.) nicht mehr zu fassen ist. © JZ
Roman Ingarden: Das literarische Kunstwerk. Mit einem Anhang von den Funktionen der Sprache im Theaterschauspiel, 4. Aufl., Tübingen 1972.
Bertolt Brecht
* 10.02.1898, Augsburg + 14.0 8. 1956, Berlin/DDR Dramatiker und Regisseur, Lyriker, Essayist Brecht zählt neben Franz Kafka und Thomas Mann zu den wenigen deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, die eine dauerhafte weltliterarische Resonanz gefunden haben. Dabei hat er sein literarisches Schaffen - vor allem im Feld von Drama und Theater, aber auch in der Lyrik, der Literatur- und Medientheorie und der politischen Philosophie - besonders eng und bewußt mit der politischen Situation verbunden. Seit den späten zwanziger Jahren, als er die marxistische Theorie rezipierte, formulierte er seine Absicht, mit spezifisch literarischen Mitteln verändernd in Politik und Gesellschaft "einzugreifen". Brecht ist, nach einem Wort seines Freundes Walter Benjamin, der "Stratege im Literaturkampf". Das prägt den Stil seiner Arbeit vielfach: die mehrfache Umarbeitung von Texten, die kollektive Produktion, die Verwendung neuer Medien (Rundfunk, Film) betonen deren Projekt- und Prozeßcharakter. Nach einer 'anarchistisch-nihilistischen' Phase (Carl Pietzcker), die Brechts erstes Drama Baal (1918/19) wie auch die Gedichtsammlung Hauspostille (1927) prägt, entwickelt Brecht in seinem wichtigsten Arbeitsfeld, der Dramatik, verschiedene jeweils von den Zeitumständen abhängige - Modelle. Die sogenannten Lehrstücke (1929/30) sollten die zweieinhalbtausend Jahre alte Trennung von Bühne und Publikum auf radikale Weise aufheben: "Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird." Seit Beginn der dreißiger Jahre, verstärkt im skandinavischen und amerikanischen Exil, entwickelt Brecht dann eine Theorie und Dramaturgie des 'antiaristotelischen' oder 'epischen' Theaters. Sie bricht mit der seit Aristoteles geltenden Annahme, die Zuschauer sollten sich ins Bühnengeschehen einfühlen, um 'Furcht und Mitleid' (Lessing) nachzuerleben. Das Brecht-Theater will dagegen durch Verwendung sogenannter Verfremdungs-Effekte die Theaterillusion zerstören und die analytische Intelligenz des Publikums, insbesondere den Blick auf den "gesellschaftlichen Kausalkomplex", zu schärfen. Besonders in den 'großen' Stücken, die rund um 1940 entstehen - Mutter Courage und ihre Kinder, Leben des Galilei, Der gute Mensch von Sezuan u.a. - wird diese Intention der "Ideologiezertrümmerung" mit einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik und einer Parabel-Dramaturgie kombiniert. Nach seiner Rückkehr aus dem Exil erprobte Brecht sein Konzept vor allem in der praktischen Theaterarbeit am "Berliner Ensemble" und schuf mehrere Modell-Inszenierungen. Während die Faszination des Brecht-Theaters gegenwärtig ein wenig verblaßt ist,
hat seine Lyrik ihre poetische Frische und gedankliche Prägnanz behalten. Neben der Hauspostille ragen vor allem die Svendborger Gedichte (1939) aus der Exilzeit und die Altersgedichte - etwa der Zyklus der Buckower Elegien (1953) heraus, in denen individuelle und historische Erfahrung auf unnachahmliche Weise verdichtet sind. Von nachhaltigem Interesse erweisen sich weiterhin Brechts literatur-, theaterund medientheoretische Reflexionen seit den späten zwanziger Jahren. Sie liegen zumeist in Essayform vor - z.B. der Dreigroschenprozeß (1931) oder das Kleine Organon für das Theater (1948) - und untersuchen die Möglichkeiten bzw. Grenzen der Literatur im Griff der Politik wie auch in der Konkurrenz mit den neuen technischen Medien. ©JV/rein
Wichtige Schriften: ❍
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Anmerkungen zur Oper. Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny (1929/30) Lyrik als Ausdruck (1927) Das epische Theater (um 1936) Über experimentelles Theater (1939)
Sekundärliteratur: 1. W. Benjamin: Versuche über Brecht, Frankfurt am Main 1981. 2. J. Knopf: Bertolt Brecht, Stuttgart 2000. 3. J. Vogt: Bertolt Brecht, in: Kritisches Lexikon zur Gegenwartsliteratur (1984).
Bertolt Brecht: Über die Bauart langdauernder Werke (Ausschnitt) (1929)
I
Wie lange Dauern die Werke? So lange Als bis sie fertig sind. So lange sie nämlich Mühe machen Verfallen sie nicht. Einladend zur Mühe Belohnend die Beteiligung Ist ihr Wesen von Dauer, so lange Sie einladen und belohnen. Die nützlichen Verlangen Menschen Die kunstvollen Haben Platz für Kunst Die weisen Verlangen Weisheit Die zur Vollständigkeit bestimmten Weisen Lücken auf Die langdauernden Sind ständig am Einfallen Die wirklich groß geplanten Sind unfertig. Unvollkommen noch Wie die Mauer, die den Efeu erwartet (Die war einst unfertig Vor alters, vor dem Efeu kam, kahl). Unhaltbar noch Wie die Maschine, die gebraucht wird Aber nicht ausreicht Aber eine bessere verspricht So gebaut sein muß Das Werk für die Dauer wie Die Maschine voll der Mängel.
[...]
Bertolt Brecht: Gesammelte Werke 8: Gedichte 1, Frankfurt/M. 1967, S. 387388.
Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? (Qu´est-ce que la littérature?) (1947)
Sartres Essay Was ist Literatur? versucht die Forderung nach dem - moralischen wie politischen - Engagement des Schriftstellers für seine Epoche durch eine Wesensbeschreibung der Literatur zu begründen. Eine solche Forderung bezieht sich jedoch ausschließlich auf die Prosa, die insofern eine Sonderstellung innerhalb der Kunst einnimmt: Malerei, Musik und Skulptur bringen 'Dinge' hervor, ihre Werke sind darum vieldeutig, unerschöpflich und erlauben widersprüchliche Auslegungen. Klare und unmissverständliche Stellungnahmen und damit auch ein Engagement - sind aus diesem Grund ausgeschlossen. Dies gilt auch für die Poesie, da sie Wörter als 'Dinge' konstituiert und sie nicht, wie es die Prosa tut, als Zeichen verwendet, um den Blick des Lesers auf Sachverhalte in der Welt zu lenken. Wer etwas benennt, verändert es, indem er es ans Licht der Öffentlichkeit zieht, wodurch es dann nicht länger mit Stillschweigen übergangen und ignoriert werden kann. Wenn der Prosaist also eine Situation enthüllt, so kann man ihn fragen, warum er über Briefmarken und nicht über Antisemitismus schreibt, warum er also lieber diesen Aspekt der Welt al jenen verändern will. Von entscheidendem Einfluß auf die Rezeptionsästhetik (Iser, Jauß u.a.) sind Sartres Ausführungen zur Relevanz der Lektüre für die literarische Produktion. Für den Schriftsteller ist sein eigenes Werk niemals objektiv, d.h. es ist nicht unabhängig von ihm, da er immer nur das findet, was er selbst hineingelegt hat. Insofern er die Sätze kennt, bevor er sie aufschreibt, stößt er immer nur auf seine eigene Subjektivität und kann die Wirkung seiner Formulierungen nicht selbst empfinden. Nach Sartre kann der Autor sein Werk also nicht erfahren, weil er es erschafft. Nur der Leser ist imstande, den literarischen Text als Objekt aufzufassen: Für ihn zeigt sich in der Lektüre etwas Neues, er wird überrascht, er fiebert den Ereignissen der Erzählung entgegen usw., gerade weil sich das Werk von seiner Subjektivität unterscheidet. Der Bezug zum Anderen erweist sich daher als notwendig für die Kunst: Das Werk ist ein Appell an die Freiheit des Lesers, die literarische Schöpfung zum Abschluß zu bringen. Der Rezipient wird in der Lektüre zwar von den Vorgaben des Autors gelenkt, dennoch liefert sich das Werk dabei einem Sinn aus, den der Leser erfindet: "Lektüre ist gesteuertes Schaffen" (S. 40). Hier berühren sich Ästhetik und Moral: Insofern das Werk an die Freiheit des Lesers appelliert, verlangt jeder Schriftsteller auch ohne seinen Willen im Namen der Demokratie die wechselseitige Anerkennung der Freiheiten. Nach solchen eher philosophischen Betrachtungen wendet sich Sartre der historisch-gesellschaftlichen Dimension der Literatur zu: Indem der Schriftsteller über seine Gegenwart schreibt, beurteilt er sie im Namen der Hoffnungen und Leiden seiner Zeitgenossen. Der literarische Text definiert sich, indem er sein
Publikum definiert, und gerade darum können Bücher durchaus veralten: So kann der farbige Schriftsteller Richard Wright, da er in eine gesellschaftlich definierte Situation integriert ist, nur über eine mit den Augen eines Farbigen gesehene und von den Weißen dominierte Welt sprechen. Ihrem Wesen nach ist die Prosa mit den Unterdrückten und Ausgebeuteten solidarisch, insofern sie auch ohne und selbst gegen den Willen des Autors nach einem idealen Gesellschaftstyp verlangt, den Sartre näher als klassenlose sozialistische Demokratie charakterisiert. Die philosophischen Bestimmungen aus den ersten Teilen von Was ist Literatur? finden eine gesellschaftlich-historische Wendung in der Definition der Literatur "Subjektivität einer Gesellschaft in permanenter Revolution" (S. 122). Der letzte Teil des Essays beschreibt die Situation des Schriftstellers im Jahr 1947, zur Zeit der Publikation von Was ist Literatur? Im Unterschied zu ihren unmittelbaren Vorgängern hat Sartres eigene Schriftstellergeneration den massiven Einbruch der Geschichte erlebt: Eigene Erfahrungen als Mitglied der Résistance kommen ins Spiel, wenn Sartre Krieg und Folter als Themen beschreibt, die sich den zeitgenössischen Autoren aufzwingen. Die Menschen werden aus den vormals gesicherten bürgerlichen Verhältnissen herausgerissen und vor die Wahl gestellt, Verräter oder Held zu sein. Korrelativ zu den historischen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs erscheint eine den vorherigen Generationen unbekannte Literatur der Grenzsituationen, die die Tiefen der conditio humana auslotet. Ihre vorherrschenden Probleme sind der Mensch, der sich in der Geschichte realisieren muß, das Verhältnis von Moral und Politik sowie die Frage nach den objektiven Folgen menschlichen Handelns. Gerade die Rolle des Intellektuellen wird hier zum Prüfstein für eine eher ablehnende Haltung gegenüber der Kommunistischen Partei: So wie sich der Intellektuelle von keiner Partei seine Autonomie absprechen lassen dürfe, so dürfe sich auch niemals die Literatur irgendeiner Partei zu propagandistischen Zwecken unterwerfen. Die Freiheit der Person muß mit dem Sozialismus versöhnt werden, der lediglich eine Stufe auf dem Weg zu einer Herrschaft der Freiheit bzw. - wie es im Anschluß an Kant heißt - dem 'Reich der Zwecke' darstellt. Sartre selbst hat mit der Gründung einer nichtkommunistischen Linkspartei, des 'Rassemblement Démocratique Révolutionaire' (RDF), nach dem dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus gesucht. © JB q.gif (1003 Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Reinbek bei Hamburg 1981 Byte)
Hans Robert Jauß
* 12.12. 1921, Heidelberg † 01.03. 1997, Konstanz Romanistischer Literaturwissenschaftler Mit seiner Antrittsvorlesung an der Universität Konstanz im Jahr 1967 leitet Jauß unter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft einen bedeutenden Perspektivenwechsel innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung ein, deren Programm schnell mit dem Schlagwort Rezeptionsästhetik versehen wurde und auf internationaler Ebene Diskussion und Anregungen gestiftet hat. Jauß fordert die Abwendung von einer werkorientierten Interpretation, welche das einzelne Werk von seinem historischen Kontext abgelöst betrachtet, sowie von einer positivistisch orientierten Literaturgeschichtsschreibung, die den meist vieldeutigen Text auf eine, oft an der Autorenbiographie orientierte Bedeutung verengt. Dagegen beruft sich Jauß auf die philosophische Hermeneutik vor allem von Hans-Georg Gadamer. Er betont die Seite des Lesers, d.h. die dialogischen Erfahrungen der historischen Leser mit dem Text, die das gleiche Werk aufgrund des geschichtlichen Wandels ihres eigenen Vorverständnisses gegenüber Literatur (Erwartungshorizont) immer wieder anders lesen, neuen Sinn nicht finden, sondern verstehend herstellen. Die Vorstellung eines im Text enthaltenen, eindeutig bestimmbaren Sinns wird vor diesem Hintergrund unhaltbar. Dokumente solcher Leseerfahrungen sind besonders in der Literaturkritik und als produktive Rezeption - in neuen Fassungen eines Werkes durch spätere Autoren zu finden, wobei die Rezeptionsgeschichte vor allem die Vereinnahmung des Werkes unter die jeweils herrschenden Normen dokumentiert. Literaturgeschichte wechselt bei Jauß von der Werkgeschichte zur Wirkungsgeschichte, anstelle der Übernahme eines kanonisierten Erbes soll dessen ständige Neuaneignung rekonstruiert werden. In Ergänzung dieser neuorientierten Literaturgeschichtsschreibung ändert sich auch die Perspektive auf das einzelne Werk: Aus seiner Struktur soll das Gefüge der Konventionen und Erwartungen der Leser rekonstruiert werden, auf deren (implizite) Fragen das Werk eine (bestätigende oder negative) Antwort gewesen war. Neben einer Vielzahl von Aufsätzen im Rahmen des hier skizzierten Programms und der von ihm mitbegründeten interdisziplinären Kolloquienreihe Poetik und Hermeneutik ist Jauß unter dem Stichwort "ästhetische Erfahrung" zum maßgeblichen Vertreter einer Theorie der literarischen Hermeneutik geworden, in der er zunehmend auch affirmative Erfahrungsmöglichkeiten wieder aufgreift,
die beispielsweise in der kritischen Theorie Theodor W. Adornos zur literarischen Moderne keinen Platz finden durften. Diese Wendung äußert sich auch in einer offenen Haltung gegenüber postmoderner Literatur. Genußbildung tritt damit neben die Erzeugung kritischer Distanz; eine dritte Aufgabe in der ästhetischen Kommunikation zwischen Text und Leser stellt der Horizontwandel dar: Die Normen des Lesers, anhand derer er nicht nur literarische Texte beurteilt, werden aufgrund dieser Fremderfahrung erschüttert und ändern sich infolgedessen. Jauß' literarische Hermeneutik dient der Bewältigung von Differenz und Diskontinuität, schlägt 'Brücken' zu dem, was sich zeitlich oder kulturell nicht (mehr) von selbst versteht. Mit diesem hermeneutischen Wohlwollen (im Sinne eines Verstehen-Wollens) steht Jauß im radikalen Kontrast zur literarischen Dekonstruktion, deren Vertreter sich gerade um das Herausarbeiten derjenigen Differenzen bemühen, die ein Verstehen unmöglich machen. © pflug
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Literaturgeschichte als Provokation (1974) Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik (1991) Wege des Verstehens (1994)
Sekundärliteratur: 1. R. Galle: Zur Kafka-Rezeption, in: K.-M. Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien in der Praxis, Opladen 1993, S. 115-139. 2. J. E. Müller: Literaturwissenschaftliche Rezeptions- und Handlungstheorien, in: K.-M. Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 176-200. 3. P. V. Zima: Literarische Ästhetik, Tübingen 1995.
Wolfgang Iser
* 22.7.1926 in Marienberg Anglistischer Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser ist neben Hans Robert Jauß maßgeblicher Vertreter einer Literaturtheorie, die in den 1970er Jahren als Rezeptionsästhetik von Wissenschaftlern an der Universität Konstanz entwickelt wurde und weiten Einfluß gewann (Konstanzer Schule). Ebenso wie Jauß verneint Iser, daß eine in den literarischen Werken geschlossen vorliegende Wahrheit, ein bestimmbarer Sinn zu finden sei. Nicht jedoch die Möglichkeit von Sinn wird hinterfragt, sondern der Ort sowie die Art seiner Entstehung: Ästhetische Erfahrung entsteht der Theorie Isers zufolge im Fortgang der kommunikativen Interaktion zwischen Text und Leser; sie wird im buchstäblichen Sinn 'gemacht'. Während Jauß vor allem die "Erwartungshorizonte" der unterschiedlichen historischen Lesergruppen als Rezeptionsgeschichte rekonstruiert, läuft Isers theoretischer Entwurf auf die Beantwortung der Frage hinaus, wie die Textstruktur die geistigen Aktivitäten des Lesers beim Lesen festlegt. Iser verschiebt den Fokus von der Inhaltsebene der Werke zur Ausdrucksebene hin: Nicht Bedeutungen, sondern die im Text angelegten Bedingungen der Bedeutungsherstellung durch den Leser müssen rekonstruiert werden, um ästhetische Wirkung theoretisch beschreiben zu können. Diese dem Text "eingezeichnete Leserrolle" nennt Iser den "impliziten Leser", der keinesfalls mit Ansprachen an den fiktiven Leser durch den Erzähler zu verwechseln ist. Die Tätigkeit eines Lesers fiktionaler Texte ist vielmehr die "Konkretisation" von "Leerstellen" und "Unbestimmtheitsstellen" im Text: ein dialogischer Akt, der über das bloß imaginative Hinzufügen von ungenannten Figurenattributen (Augenfarbe o.ä.) hinausgeht. Der Leser reagiert dabei – oft unbewußt – auf das im Text enthaltene "Repertoire" von Normen (d.h. Sinnsystemen), Weltansichten und literarischen Bezugnahmen, auf die der Autor zurückgegriffen hat und die er in einen neuen Kontext – die von ihm geschaffene fiktionale Welt – stellt. Weiterhin kann und muß der Leser dabei Hypothesen über die Art der Verknüpfungen zwischen den unterschiedlichen Sichtweisen und Weltsichten herstellen, was durch die Text-"strategien" erleichtert und gleichzeitig gesteuert wird. Beispielsweise lassen sich außerliterarische Konventionen, die zueinander im Gegensatz stehen, im Gefüge der fiktiven Handlung auf verschiedene Figuren bzw. Perspektivträger verteilen. Durch den Wechsel der Figurenperspektiven im Textverlauf kann über die so ermöglichte 'gegenseitige Beobachtbarkeit' der Normen ihre Geltung für den Leser auch im Hinblick auf seine eigene Lebenswelt relativiert, das heißt als fragwürdig sichtbar gemacht werden. Iser zufolge basiert der "Akt des Lesens" auf dem Bedürfnis des Lesers nach einer
konsistenten Sinngestalt, wobei der im Verlauf gebildete Sinn als "Hintergrund" eine Folie bildet, vor der ständig neue Erwartungen (Protentionen) an den weiteren Ereignisverlauf und Korrekturen (Retentionen) des zuvor gebildeten "Sinnhorizontes" gebildet werden. Anders gesagt: Der Leser ist dazu gezwungen, unter den potentiellen Bedeutungen einzelner Textelemente unter Rückgriff auf das bisher Erfahrene selektiv auszuwählen, was wiederum seine Lesehaltung für die folgende Lektüre bestimmt. Schon vor der Formulierung seiner wirkungsästhetischen Theorie (Iser 1976) hat Iser zahlreiche Aufsätze veröffentlicht, in denen er eine Zunahme von Unbestimmtheitsstellen in der Literatur konstatiert (Iser 1972). Seit Anfang der 1980er konzentriert Iser sich zusehends auf die Etablierung des Forschungszweigs "Literarische Anthropologie", in dem angesichts einer universal erscheinenden Fiktionsbedürftigkeit des Menschen die Rolle und spezifische Leistung des Fiktiven für den Menschen untersucht wird. Isers (postmoderne) These (Iser 1991) ist dabei, daß die Literatur als freier Spielraum dasjenige Mittel ist, mit dem der Mensch den Konflikt zwischen dem Potential seiner Anlagen und den kulturellen Bedingungen seiner Zeit gefahrlos und zugleich konstruktiv erleben kann. Aufgrund dessen erscheint die letztendlich aufklärerisch-humanistische Vorstellung überholt, daß Literatur der (Aus-) Bildung einer geschlossenen Individualität diene. Dem setzt Iser das Konzept einer kontinuierlichen Selbsterweiterung als Vergewisserung der menschlichen Wandelbarkeit entgegen. © pflug
Wichtige Schriften: ❍
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Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett (1972) Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (1976) Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (1991)
Sekundärliteratur: 1. T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1992. 2. M. Richter: Wirkungsästhetik. In: H. L. Arnold / H. Detering (Hgg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 516-535. 3. P. V. Zima: Literarische Ästhetik, Tübingen 1995.
Umberto Eco: Semiotische Hermeneutik
* 05.01.1932, Alessandria italien. Zeichentheoretiker und Autor Umberto Eco ist – nicht zuletzt aufgrund seines Welterfolgs als Erzähler (Der Name der Rose, Das Foucaultsche Pendel) – der wohl bekannteste Zeichentheoretiker unserer Zeit. Im Mittelpunkt von Ecos Forschung steht das prinzipiell unabschließbare Projekt einer allgemeinen Theorie der Zeichen als Grundlage jeglicher Beschäftigung mit kulturellen Phänomenen. Daneben hat sich Eco immer wieder speziell mit Fragen der Poetik beschäftigt: Anders als manche strukturalistische Textinterpretation versteht Eco die Bedeutung eines Textes als das Ergebnis eines Kommunikationsprozesses zwischen Text und Leser. Insbesondere künstlerische Texte weisen – in unterschiedlichem Maße – Mehrdeutigkeiten auf, die ein Leser in beliebiger oder systematischer Weise auflösen kann. Die jeweilige Interpretation hängt demzufolge davon ab, welches Weltwissen und welche Codes der Leser an den Text heranträgt, um ihn zu verstehen. Eco interessiert dabei v.a. "die Art und Weise, in der der Text diese Art interpretativer Zusammenarbeit vorsieht und lenkt" (Eco 1987, S. 31), wie er also den Prozeß kontrolliert, in dem der Leser aufgrund seiner enzyklopädischen Kompetenzen die passenden Bedeutungen aus der Summe der vielen möglichen, aber kontextabhängigen Bedeutungen der einzelnen Textelemente wählt. Auf dem Gebiet der Hermeneutik nimmt Eco damit im Streit der Interpretationen eine mittlere Position ein zwischen der traditionelleren Ansicht, die behauptet, daß sich die eigentliche Bedeutung eines Textes als Autorintention oder Textstruktur feststellen lasse, und dem Gegenextrem der Dekonstruktion, daß jede Festlegung der Bedeutung eine vergebliche Bemühung sei, weil das Verstehen von Zeichen stets neue Zeichen erfordere und damit eine endlose (und beliebige) Interpretationsarbeit in Gang setze. Eco selbst unterscheidet zwischen dem Gebrauch eines Textes (zum Beispiel als Beleg für Spekulationen über Zusammenhänge zwischen dem Textinhalt und der Biographie des Autors) und der kritischen Interpretation, die sich bemüht, die ästhetischen Strategien des jeweiligen Textes aufzudecken (zum Beispiel als zweite Lektüre einer Kriminalgeschichte, wobei der Leser untersucht, wie er bei der ersten, naiven Lektüre vom Text gezielt fehlgeleitet worden ist). Der Unterschied zwischen Textgebrauch und Textinterpretation besteht darin, daß beim Gebrauch die vom Leser verwendeten Codes vom Text selbst weder gefordert noch gerechtfertigt werden, was bei der Interpretation hingegen der Fall ist. Die interne Kohärenz, d.h. eine ständige Überprüfung und Korrektur der im Verlauf des Leseprozesses
bereits realisierten Bedeutungen gilt dabei als Kriterium, gute (mögliche) Interpretationen von unzulässigen (schlechten) Interpretationen zu trennen. © pflug
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Streit der Interpretationen (1987) Lector in fabula (1994) Die Grenzen der Interpretation (1995)
Sekundärliteratur: 1. W. Nöth, Handbuch der Semiotik, Stuttgart 1999. 2. D. Mersch, Umberto Eco zur Einführung, Hamburg 1993. 3. P. Zima, Literarische Ästhetik, Tübingen 1995.
Rezeptions- und Wirkungsästhetik (engl.: reader-response-criticism)
Der Romanist Hans Robert Jauß stellt 1967 fest, daß Literaturgeschichtsschreibung und akademische Literaturinterpretation eine wesentliche Instanz vernachlässigten: den Leser. In seiner Rede Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft entwirft er das Projekt einer Literaturwissenschaft, die den Sinn eines Werkes weder in der bloßen Widerspiegelung gesellschaftlicher Realität (Produktionsästhetik [Querverweis Literatursoziologie]) verortet noch allein aus den Textstrukturen ableiten will (Darstellungsästhetik). Vielmehr wird der "ästhetische Gehalt" erst im Akt des Lesens (Wolfgang Iser), in einem ‚dialogischen‘ Kommunikationsprozeß zwischen Text und Leser hervorgebracht. Demzufolge gibt es kein richtiges oder falsches Verstehen, keinen objektiv-zeitlosen Sinn eines Werkes. Ebensowenig darf aber die Negation bzw. die völlige Beliebigkeit der Interpretation postuliert werden. Jauß plädiert statt dessen für die hermeneutische Rekonstruktion [Querverweis Hermeneutik-Übersicht] der historisch und sozial unterschiedlichen Voraussetzungen und Erfahrungen der Leser ("Erwartungshorizont"), d.h. für eine Rekonstruktion jener Fragen, "auf die der Text [den zeitgenössischen Lesern] eine Antwort gab." (Jauß, S. 136) Damit schließt er an die philosophische Hermeneutik und besonders an die von Hans Georg Gadamer entwickelte Kategorie der Wirkungsgeschichte an. Methodisch schlägt Jauß vor, die Literaturgeschichtsschreibung anhand der folgenden drei Aspekte neu zu formieren: 1. Die diachrone Betrachtung eines Werkes in einer literarischen Reihe, d.h. seine Beziehung zu vorhergehenden und ihm nachfolgenden Werken, denen es selbst wiederum als Folie oder als ‚Horizont‘ dient. 2. Die Untersuchung der strukturellen Beziehungen eines Werkes zu anderen – gleichzeitigen – Werken im literarischen System. 3. Die Rekonstruktion der Beziehung der Literaturgeschichte zur allgemeinen Geschichte. Es geht also nicht nur um die empirisch-historische Leserschaft eines Werkes, sondern zugleich um die in ihm entworfene Vorstellung dieser Leser und die ‚Appelle‘, die das Werk an sie richtet. Mit Blick auf die Rezeption weist Jauß jene Literaturgeschichtsschreibung als "Pseudogeschichte" zurück, die ‚objektive‘ Daten des Literaturbetriebs positivistisch verkettet. Dagegen stellt Jauß die Erforschung von kritischen oder affirmativen Bezugnahmen, der Überlieferungsprozesse oder der Abläufe von Vergessen und Wiederentdecken eines Werkes in den Vordergrund: "Es gibt Werke, die im Augenblick ihres Erscheinens noch auf kein spezifisches Publikum zu beziehen sind, sondern den vertrauten Horizont literarischer Erwartungen so völlig durchbrechen, daß sich
ein Publikum für sie erst allmählich heranbilden kann. Wenn dann der neue Erwartungshorizont allgemeinere Geltung erlangt hat, kann sich die Macht der veränderten ästhetischen Norm daran erweisen, daß das Publikum bisherige Erfolgswerke als veraltet empfindet und ihnen seine Gunst entzieht." (S. 135) Rezeption selbst faßt Jauß als "geschichtsbildende Energie" (S. 127) auf, die vermittels "fortgesetzter Horizontstiftung und Horizontveränderung" (S. 131) über die ästhetische Erfahrung hinausreicht: "Die gesellschaftliche Funktion der Literatur wird erst dort in ihren Möglichkeiten manifest, wo die literarische Erfahrung des Lesers in den Erwartungshorizont seiner Lebenspraxis eintritt, sein Weltverständnis präformiert und damit auch auf sein gesellschaftliches Verhalten zurückwirkt." (S. 148) Sein anglistischer Kollege Wolfgang Iser klammert hingegen die historischen Rezeptionsbedingungen aus und legt eine umfassende Theorie des Leseprozesses vor. Nicht das Werk, sondern der kommunikative Akt kennzeichne den ästhetischen Gegenstand, – ein Akt, der von der Textstruktur gelenkt wird. Denn dem Text ist eine Leserrolle eingeschrieben, der "implizite Leser", eine Dialogstruktur, die Iser analytisch rekonstruieren will. An jedem Punkt seiner Lektüre bildet der Leser – aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen mit dem Text – neue Hypothesen und Erwartungen an den Fortgang, die in der weiteren Lektüre bestätigt, modifiziert oder zurückgewiesen werden. "Der Leser reagiert im Rezeptionsvorgang fortwährend auf das, was er selbst hervorgebracht hat, denn er nimmt bestimmte Ausgleichsoperationen vor, welche die Tendenzen, die der gebildeten Konsistenz abträglich sind, zu integrieren versuchen." (Müller in Bogdal, S. 185f.) Während des Lesens wird der das Lesen regulierende Code also erst aufgebaut: Der Leser bringt sein Weltwissen und sein Kombinationsvermögen ins Spiel, um die im Textgefüge ausgesparten Anschlußmöglichkeiten und die seiner Ausfüllung überlassenen "Leerstellen" zu konkretisieren bzw. zu ‚füllen‘. Sein "Erwartungshorizont" setzt sich dabei nicht einfach durch, sondern wird durch den ‚Widerstand‘ des Textes gebrochen und erweitert, sowohl was die literarischen Verfahren, als auch was sein Weltwissen (z.B. seine moralische Einstellung) angeht. Sowohl Jauß‘ Rezeptionsästhetik als auch Isers Wirkungsästhetik – gelegentlich unter dem Begriff der ‚Konstanzer Schule‘ zusammengefaßt – haben die Methodenentwicklung der deutschen Literaturwissenschaft nachhaltig beeinflußt. © pflug
Wichtige Schriften ❍
W. Iser: Die Appellstruktur der Texte, in: R. Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik, München 41994, S. 228-252.
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H.R. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: R. Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik, München 41994, S. 126-162. H. Weinrich: Für eine Literaturgeschichte des Lesers, in ders.: Literatur für Leser, Stuttgart 1970, S. 23-34.
Sekundärliteratur 1. S. R. Suleiman, I. Crosman (Hg.): The Reader in the Text, Princeton 1980. 2. U. Eco: Lector in fabula, München 1990. 3. J. E. Müller: Literaturwissenschaftliche Rezeptions- und Handlungstheorien, in: K.-M. Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien, Opladen 1990, S. 176-200.
Homer: Ilias (2. Hälfte des 8. Jhs v. Chr.)
Das in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. entstandene Epos Ilias ist das früheste Zeugnis der griechischen und damit der abendländischen Dichtung überhaupt. Es besteht aus rund 15 500 Hexameterversen und ist in 24 Gesänge unterteilt. Die Handlung geht zurück auf den zehnjährigen Krieg zwischen griechischen Belagerern und troischen Verteidigern um die Stadt Troja (von deren zweitem Namen "Ilion" der Titel abgeleitet ist), der um 1200 v. Chr. mit der Zerstörung der Stadt endete. Am Anfang der Ilias, die nur einen Ausschnitt der Auseinandersetzungen während des letzten Kriegsjahres darstellt, steht ein Streit zwischen zwei Angehörigen des griechischen Heeres, nämlich zwischen Achilleus, dem besten Kämpfer der Griechen, und Agamemnon, ihrem obersten Heerführer. Dieser Streit endet damit, daß Achilleus erzürnt beschließt, an dem bevorstehenden Feldzug gegen Troja nicht teilzunehmen. Bereits im Musenanruf des ersten Verses der Ilias wird der Zorn des Achilleus als Leitmotiv beschworen: "Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus". (I, 1) Achills Mutter, die Meeresgöttin Thetis, bittet Zeus um Genugtuung für ihren Sohn und Zeus beschließt, im Kampf um Troja die Troer so lange zu unterstützen, bis das griechische Heer für die Beleidigung des Achilleus gesühnt hat. Diese Einmischung der Götter in Belange der Menschen und Heroen, die Steuerung der Ereignisse durch die Bewohner des Olymp, ist typisch für die Ilias. Insbesondere Athena auf der Seite der Griechen und Apollo auf der Seite der Troer greifen immer wieder direkt in das Geschehen ein und verleihen Menschen übermenschliche Kräfte, etwa wenn es dem Troerführer Hektor nur mit der Hilfe Apollons gelingt, den auf Troja drängenden Patroklos aufzuhalten und zu töten und damit den Fall Trojas für den Moment abzuwenden. Als Achill erfährt, daß sein Freund Patroklos im Kampf gegen die Troer gefallen ist, wendet sich sein Zorn von Agamemnon ab auf die Mörder seines Freundes und Achill beteiligt sich nun, um seinen Freund zu rächen, doch an den Kampfhandlungen. Damit aber ist das Ende der Troer besiegelt: Achill besiegt und tötet Hektor. Als er sich darüber hinaus auch an dem Leichnam des Feindes grausam rächen will, greifen die Götter ein letztes Mal ein und Apollon verhindert die entwürdigende Schändung. Mit den Leichenspielen zu Ehren Patroklos' und dem Leichenzug der Troer vom Lager der Griechen zurück in ihre Stadt endet die Ilias. Die Ilias ist ein Werk des Übergangs von der Oralität zur Literalität: in ihr finden sich viele formale Merkmale der Rhapsodentradition, also mündlich vorgetragener Geschichten. Vorgeprägte Muster und wiederkehrende Formeln hatten in den mündlichen Erzählungen die Funktion, dem Vortragenden das Memorieren der Texte zu erleichtern, sie bilden aber auch ein wesentliches Strukturelement der Ilias. Jahrhundertealt und bis heute nicht endgültig geklärt ist die damit in Zusammenhang stehende sogenannte ‚homerische Frage', nämlich
die Frage danach, ob die Ilias wirklich von einem einzigen Verfasser, Homer, geschrieben wurde, oder ob sie aus verschiedenen rhapsodisch überlieferten Erzählungen des troischen Mythos' besteht, die von unterschiedlichen Verfassern aufgezeichnet und erst nachträglich zu einem Ganzen gefügt wurden. In Deutschland setzte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der allgemeinen Rückbesinnung auf die griechische Antike eine intensive Beschäftigung mit den homerischen Epen ein. Der Göttinger Philologe Friedrich August Wolf bezog 1795 in seinen berühmten und folgenreichen Prolegomena ad Homerum zur ‚homerischen Frage' Stellung und vertrat die im folgenden kontrovers diskutierte These, die Ilias sei nicht von Homer verfaßt - den Schriftsteller Homer habe es nie gegeben, er sei vielmehr eine bloße Fiktion der Nachwelt. Johann Heinrich Voß schließlich förderte eine breitere literarische Rezeption der Ilias und der Odyssee durch seine kunstvollen, mittlerweile selbst zu Klassikern gewordenen Übersetzungen (Odyssee 1781, Ilias und Odyssee 1793). ©TvH
Homer: Ilias. Odyssee, übers. v. J.H. Voß, Frankfurt/M. 1990. Sekundärliteratur: 1. J. Latacz: Homer. Der erste Dichter des Abendlandes, 2. Aufl., München 1989. 2. K. Reinhardt: Die Ilias und ihre Dichter, hg. v. U. Hölscher, Göttingen 1961. 3. W. Schadewaldt: Der Aufbau der Ilias. Strukturen und Konzeptionen, Frankfurt/M. 1975.
Homer: Odyssee (um 700 v. Chr.)
Nach der Ilias ist die um 700 v. Chr. entstandene Odyssee das älteste Werk der griechischen und damit der abendländischen Literatur. Das aus 12200 Hexameterversen bestehende Epos erzählt in 24 Gesängen von der durch viele Irrwege verzögerten Heimfahrt des zum griechischen Heer gehörenden Trojakämpfers Odysseus. Wie die Ilias beginnt auch die Odyssee mit einem Musenanruf: "Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes." (I, 1) Die Erzählung setzt ein mit einer Sitzung der olympischen Götter, bei der die Göttin Athene dafür plädiert, den bereits im achten Jahr von Kalypso festgehaltenen Odysseus, König von Ithaka, zu seiner Gattin Penelope und seinem Sohn Telemachos zurückkehren zu lassen. Die Handlung wird zunächst in zwei Strängen geführt: Während Athene sich nach Ithaka begibt und Telemachos dazu bewegt, sich auf die Suche nach seinem Vater zu begeben, wird der Götterbote Hermes zu Kalypso gesandt, um Odysseus freizubitten. Odysseus begibt sich daraufhin mit einem Floß auf den Heimweg, erleidet aber bei einem vom Meeresgott Poseidon geschickten Unwetter Schiffbruch und erreicht mit letzter Kraft das rettende Ufer im Land der Phaiaken. Am Hof des Königs trägt bei einem festlichen Gastmahl ein Rhapsode (Sänger) Lieder über den durch die berühmten Krieger Achilleus und Odysseus herbeigeführten Untergang Trojas vor. Odysseus, der seine Identität bislang nicht preisgegeben hatte, wird durch die Erinnerung an seine Geschichte gerührt und beginnt zu weinen. Auf Wunsch des Königs des Phaiaken erzählt er nun seine Geschichte. Erst diese Rückblende, Erzählung in der Erzählung, unterrichtet den Leser von den Abenteuern, die Odysseus vor seinem Aufenthalt bei Kalypso bestanden hatte: die Blendung des Poyphem, die Überwindung der verführerischen Sirenen, der frevelhafte Diebstahl der Sonnenrinder, den die Gefährten des Odysseus mit dem Leben bezahlten und viele mehr. Im zweiten Teil des Epos wird nun die Heimkehr des Odysseus geschildert: Nachts fährt er vom Land der Phaiaken nach Ithaka, verkleidet sich dort auf Anraten Athenes als Bettler und begibt sich zu dem Sauhirten Eumaios, der ihn freundlich bewirtet, obwohl er ihn nicht als seinen König erkennt. Nun werden die beiden Erzählstränge zusammengeführt: Telemachos kehrt von seiner ergebnislosen Suche nach dem Vater zurück und trifft ebenfalls beim Sauhirten ein. Auf getrenntem Wege begeben sie sich in die Stadt und Odysseus kommt verkleidet in sein eigenes Haus, den Königspalast, wo unzählige Freier um die Hand seiner Frau Penelope anhalten und bei Gelagen seine Reichtümer verprassen. Die verzweifelte Penelope hat einen Wettkampf zur endgültigen Auswahl eines zukünftigen Ehemannes angesetzt: Aber es ist der Bettler Odysseus, der, nachdem alle anderen Bewerber die Aufgabe nicht lösen konnten, als einziger den mächtigen Bogen spannen und den Pfeil durch zwölf Äxte schießen kann. Nun gibt er sich zu erkennen und tötet gemeinsam mit Telemachos alle Bewerber. Seine Frau Penelope aber kann er nur dadurch davon
überzeugen, daß er wirklich Odysseus ist, daß er sein Wissen um das Geheimnis der Konstruktion des Ehebettes zu erkennen gibt. Stärker als die Ilias ist die Odyssee auf die Geschichte eines Helden ausgerichtet. Darüber hinaus ist Odysseus weniger ein strahlender Held, ein unerreichbarerer Heros, wie die Protagonisten der Ilias, sondern er ist ein vorbildlicher Charakter: er trägt die Beinamen "der Listenreiche" und "der göttliche Dulder" und zeichnet sich eher durch menschliche und soziale als durch heroische Züge aus. Gerade durch diese individualisierenden Tendenzen der Odyssee ist dieses Epos vielleicht noch einflußreicher für die Entwicklung der gesamten abendländischen Literatur geworden als die Ilias - nicht zufällig liest Goethes Werther die Odyssee (nicht etwa die Ilias) und schreibt James Joyce einen Ulysses. Hegel vertritt in seiner Ästhetik die These, daß der epische Held Odysseus kein individuelles Schicksal, sondern das der Gemeinschaft trage, und stellt dieses den heroischen Weltzustand kennzeichnende Entsprechungsverhältnis von Individuum und Ganzem ("Totalität") dem entwurzelten Subjekt des modernen Romans gegenüber. Adorno / Horkheimer schließlich zeigen in der Dialektik der Aufklärung am Beispiel des sich gegen mythische Naturgewalten behauptenden Odysseus, daß schon im Mythos Aufklärung steckt: Sie lesen die Odyssee als "Urgeschichte der Subjektivität". ©TvH
Homer: Ilias. Odyssee, übers. v. J.H. Voß, Frankfurt/M. 1990. Sekundärliteratur: 1. J. Latacz: Homer. Der erste Dichter des Abendlandes, 2. Aufl., München 1989. 2. U. Hölscher: Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman, München 1988. 3. Th.W. Adorno / M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 1988.
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie (entstanden um 1307-1321)
Dantes episches Gedicht Die Göttliche Komödie (La Divina Commedia), entstanden um 1307 bis 1327, ist das erste umfangreiche dichterische Werk in italienischer Sprache und bis heute ein Hauptwerk der italienischen Literatur. In der Göttlichen Komödie schildert Dante seine eigene Wanderung durch das Jenseits. Diese Reise wird notwendig, "Weil ich den rechten Weg verloren hatte" (I, 1, 3): Sie dient also der Läuterung und ist, weil Dante als Lebender in die Welt der Toten gelassen wird, eine große Gnade. Mit dem römischen Dichter Vergil als Führer durchschreitet Dante zunächst die Hölle (Inferno), angefangen vom Limbus, wo sich die unschuldig schuldig Gewordenen, die ungetauften Kinder sowie die antiken Dichter und Denker aufhalten, bis zur innersten Hölle, wo Lucifer die drei Erzverräter Judas, Brutus und Cassius zwischen den Zähnen zermalmt. Dann gelangen Dante und Vergil in das zweite Reich des Jenseits, auf den Läuterungsberg (Purgatorio). Hier befinden sich die Verstorbenen mit den größten Vergehen am Fuß des Berges; je höher die beiden Wanderer kommen, desto edler werden die Figuren, die sie am Wegesrand treffen. Auf dem Gipfel des Läuterungsberges, übernimmt Beatrice, eine engelsgleiche, idealisierte Frauengestalt die Führung Dantes. Mit ihr durchschwebt Dante das Paradies (Paradiso), wo er ganz zuletzt die Trinität und Gott selbst erahnen darf. Dantes Jenseits ist einerseits mit Zeitgenossen des Dichters bevölkert, die heute nur noch aus der Göttlichen Komödie bekannt sind (das Liebespaar Francesca da Rimini und Paulo Malatesta und verschiedene Florentiner Politiker), aber auch mit mythischen Gestalten (Odysseus), berühmten Herrschern (Barbarossa), Päpsten (Nikolaus III.), antiken Autoren (Homer, Platon, Cicero), mittelalterlichen Dichtern (Bertran de Born) und Malern (Giotto, Cimabue), die Dante je nach seiner persönlichen Einschätzung in den drei Reichen des Jenseits ansiedelt. Handelt es sich bei den Figuren der Göttlichen Komödie also beinah durchgängig um reale, historische Personen, so unternimmt Dante auch den Versuch, das Jenseits nach einem nachvollziehbaren, differenzieren Rechtssystem aufzuteilen und eine möglichst realistische, anschauliche Schilderung der jenseitigen Szenen zu geben. In der Hölle organisiert er die Strafen nach einem Entsprechungsverhältnis, das er contrapasso, angemessene Vergeltung, nennt: die Geizigen wälzen beispielsweise statt Goldbarren riesige, wertlose Steinmassen; die, die Zwietracht gestiftet haben, werden nun selbst zerstückelt. Diese drastische Anschaulichkeit verringert sich notwendigerweise spätestens im Paradies, wo mittelalterliche Scholastik, Astronomie und christliche Theologie dem heutigen Leser das Verständnis erschweren. Formal ist die Göttliche Komödie durch eine große harmonische Geschlossenheit charakterisiert: nach einem einleitenden Gesang werden Hölle, Fegefeuer und
Paradies in je 33 Gesängen durchwandert. Jedes der Reiche des Jenseits ist in neun Stufen gegliedert. Durchgängig bedient sich Dante der Strophenform der Terzine, wobei er die Elfsilbler über Vers- und Strophengrenzen hinweg mit einem Reim verkettet. Dantes Göttliche Komödie hat über Jahrhunderte hinweg bildende Künstler wie Sandro Botticelli (1480), William Blake (1827) und Gustave Doré (1861) zu Illustrationen inspiriert. Eine breitere Rezeption der Göttlichen Komödie setzte in Deutschland erst in der Romantik ein, als sich das Interesse von der Antike auf das Mittelalter und die christliche Tradition verlagerte. Dann folgte allerdings eine große Zahl von Übersetzungen und eine sehr intensive deutsche DanteForschung. Im 20. Jahrhundert gab u.a. Stefan George mit einer metrisch genauen Übersetzung einzelner Gesänge des Inferno neue Impulse zur Beschäftigung mit der Göttlichen Komödie. Peter Weiss schließlich setzte sich unter dem Eindruck von Auschwitz Zeit seines Lebens mit Dantes Topographie der Hölle auseinander. ©TvH
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Italienisch u. Deutsch, übers. v. H. Gmelin, 6 Bde., München 1988. Sekundärliteratur: 1. E. Auerbach: Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin u. Leipzig 1929. 2. H. Friedrich (Hg.): Dante Alighieri. Aufsätze zur Divina Commedia, Darmstadt 1968. 3. O. Lagercrantz: Von der Hölle zum Paradies. Dante und die Göttliche Komödie, Frankfurt/M. 1965.
[Anonym:] Lancelot (um 1250)
Lancelot ist der erste und bis ins 15. Jahrhundert hinein der einzige deutsche Prosaroman. Es handelt sich um eine nur in Handschriften überlieferte, fast wörtliche Übersetzung des ebenfalls anonym erschienenen altfranzösischen Lancelot du Lac (1215-1230). Lancelot führt in einem groß angelegten Panorama die figuren- und episodenreiche Welt der Artussagen und Gralsdichtung zusammen. Der extrem umfangreiche Roman berichtet in aufwendig verschlungener Handlungsführung und ambitionierter Erzählweise im ersten Teil von der Kindheit des Königssohns Lancelot, seinem Aufstieg zum besten Ritter der Artusrunde und seiner schicksalhaften Liebe zu Ginover, der Gattin des König Artus. Im zweiten Teil taucht mit dem Gral eine neue, geistliche Zielsetzung der Rittertums auf, der Lancelot selbst aber wegen seines Ehebruchs nicht genüge leisten kann. Vom Untergang des Artusreiches, der entscheidend durch Lancelots Verhältnis zu Ginover eingeleitet wird, berichtet der dritte Teil. Das altfranzösische Original besteht darüber hinaus aus zwei weiteren, vermutlich nachträglich hinzugefügten Teilen, die die Geschichte des Grals und das Leben Merlins erzählen. Repräsentativ für den weitausholenden, genealogische Linien nachvollziehenden Erzählgestus des Lancelot ist der Anfang des Romans: "Im Grenzland von Gallien und der Bretagne lebten in alter Zeit zwei Könige, die waren Brüder von Vater und Mutterseite, und ihre Frauen waren Schwestern. Der eine der beiden Könige hieß Ban von Bonewig, der andere hieß Bohort von Gaune. König Ban war ein alter Mann, seine Frau war jung und von aller Welt geliebt. Sie hatten nur ein Kind miteinander, einen kleinen, zarten Knaben, der den Beinamen Lancelot trug, doch getauft war er Galaad. Wie er aber den Namen Lancelot bekommen hat, wird dies Buch später berichten, denn jetzt haben wir dazu keine Gelegenheit, weil wir dem geraden Gang der Erzählung folgen müssen, wie wir sie begonnen haben." (S.11) Neben der souveränen Beherrschung eines mehrsträngigen Erzählens zeichnen den Lancelot lebendige Dialoge und eine beinah schon psychologisierend zu nennende Figurengestaltung aus. Als Liebesroman war Lancelot im Mittelalter in ganz Europa gleichermaßen beliebt: es ist Lancelot, der die beiden Liebenden Francesca da Rimini und Paulo Malatesta in Dantes Göttlicher Komödie zusammenführt und durch die Lektüre schuldig werden läßt. ©TvH
Lancelot und Ginover. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Derm. 147,
hg. v. Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. Allem. 8017-8020 der Bibliothèque de l'Arsenal Paris, übersetzt, kommentiert und herausgegeben v. Hans-Hugo Steinhoff, Frankfurt am Main 1995. Sekundärliteratur: 1. E. Köhler: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik, 2. Auflage Tübingen 1970. (Beihefte zur Zeitschrift für Philosophie 97) 2. R. Voß: Der "Prosa-Lancelot". Eine strukturanalytische und strukturvergleichende Studie auf der Grundlage des deutschen Textes, Meisenheim am Glan 1970. 3. G. Wild: Transformation von Erzählstrukturen. Erzählen als Weltverneinung im Lancelot-Gral-Zyklus, Essen 1992.
Johannes Gutenberg eigentlich: Johannes Gensfleisch zur Laden
*um 1400, Mainz † 03. 02. 1468, Mainz Erfinder des Buchdrucks Die Lebensgeschichte von Johannes Gutenberg läßt sich fast nur unter Rückgriff auf offizielle Einträge in Gerichtsakten und andere zeitgenössische Register rekonstruieren: Er wurde als drittes Kind einer Patrizierfamilie in der Stadt Mainz geboren. Im Rahmen des Mainzer Zunftstreits verließ er 1428 die Stadt in Richtung Straßburg, wo er verschiedene Handwerke lehrte und betrieb. Schon die dortige Produktion von Aachener Pilgerspiegeln weist auf sein Gespür für die Herstellung von Massenartikeln hin. Wieder in Mainz kaufte er 1448 mit geliehenem Geld verschiedene Geräte zur Einrichtung seiner ersten Druckerwerkstatt. Mit den angefertigten Druckwerken konnte er den Finanzier Johann Fust überzeugen, mit ihm gemeinsam ein Großprojekt zu wagen: die mechanische Herstellung von etwa 180 Prachtbibeln (aufwendig hergestellt und auf Pergament gedruckt). Mit mehreren Druckstöcken und etwa 20 Mitarbeitern arbeitete er von 1452-55 an diesem Unterfangen. Am Ende wurde Gutenberg von Fust unter finanziellen Druck gesetzt. Letzterer erstritt sich vor Gericht eine Anzahl der fertiggestellten Bibeln sowie den größeren Teil der Druckwerkstatt. Zusammen mit Schöffer, einem ehemaligen Mitarbeiter Gutenbergs, führte Fust die Druckerei - überaus erfolgreich - fort. Einige erhalten gebliebene sog. Inkunabeln (Frühdrucke) werden heute dennoch Gutenberg zugeschrieben, der mit Hilfe eines anderen Mainzer Geldgebers in einer bescheidenen Werkstatt weiterhin tätig sein konnte. 1462 wurde Mainz im Rahmen der Streitigkeiten um den Kurfürstensitz überfallen; die männliche Bevölkerung wurde getötet oder vertrieben. Wahrscheinlich liegt es auch daran, daß sich die Buchdruckerkunst so schnell verbreiten konnte: Die verstreuten Gesellen richteten in den verschiedensten Städten eigene Druckwerkstätten ein, darunter in damaligen Handelszentren wie Augsburg oder Venedig. Der verarmte Gutenberg wurde 1465 vom Kurfürsten in die Hofgesellschaft aufgenommen. Drei Jahre später starb er in Mainz. Gutenberg hat zwar nicht als erster Möglichkeiten gesucht, um das mühselige, teure, langwierige und auch fehleranfällige Abschreiben von Texten zu ersetzen: Schon eine Generation früher war der (europäische) Holzdruck erfunden wurden, der aber zum Druck von längeren Texten ungeeignet war (sog. Blockbücher, Spielkarten, Einblattdrucke von Heiligen). Genial war jedoch vor allem Gutenbergs Erfindung, mit beweglichen Lettern aus Metall zu drucken, wofür er neben einem leicht bedienbaren Handgießgerät experimentell auch eine
besondere Legierung und geeignete Farben entwickelt hat. Für die berühmte B42, die Gutenberg-Bibel, benötigte er etwa 290 verschiedene Lettern, um mit Hilfe zahlreicher Doppelbuchstaben, Abkürzungen und Sonderzeichen eine gleichmäßige Zeilenlänge zu erreichen. Zwar weiß man heute, daß auch in Asien der Druck mit beweglichen Lettern bekannt war. Da man dort aber für jedes Wort eine Matrize benötigte, breitete sich die Erfindung nicht weiter aus. Der Druckstock selbst, dessen Prinzip in den folgenden 350 Jahren kaum verändert wurde, basiert auf der Mechanik der Weinpresse, die Gutenberg mit einigen technischen Raffinessen versehen ließ. Gutenberg mußte die herkömmlichen edlen Handschriften nachahmen, wenn er mit der 'Kunst des künstlichen Schreibens' Erfolg haben wollte. Nur das Vollkommene galt. So wirkten seine Drucke wie Handschriften, und nur geübte Augen konnten erkennen, daß es sich um Druckwerke handelte. Nicht allein hinsichtlich der Schriftart ist sein Vorbild immer die Handschrift geblieben: Die Bibeln, die er auf Papier und Pergament gedruckt hatte, mußten danach noch in Handarbeit mit Illustrationen, Initialen und roten Textpartien versehen werden. Anekdoten erzählen, daß andernorts die Frühdrucke noch einzeln mit der handschriftlichen Vorlage verglichen worden seien. Von der auf 180 Exemplare geschätzten Auflage der sog. B42 sind heute noch 48 bekannt. Zwei davon kann man im Tresorraum des Gutenberg-Museums in Mainz besichtigen. Der Erfolg war durchschlagend: Etwa ein halbes Jahrhundert nach der Erfindung gab es in etwa 270 Städten Druckereien, bisweilen mehr als 30 an einem Ort. Sie hatten mehr als 40000 Titel mit über 10 Millionen Exemplaren hergestellt. Als geistige Bewegungen sorgten dann Übersetzungen von humanistischen Texten aus dem Italienischen und vor allem die Reformationsbewegung im 16. Jahrhunderts für die weitere Ausbreitung des Buchdrucks. © pflug Sekundärliteratur: 1. S. Füssel: Johannes Gutenberg, Reinbek 2000. 2. H. Presser: Gutenberg, Reinbek 1995. 3. http://www.gutenberg.de/
Martin Luther
* 10. 11. 1483, Eisleben † 18. 02. 1546, Eisleben Theologe, Bibelübersetzer, protestantischer Reformator Aus bäuerlich-bergmännischer Familie stammend, genoss der junge Luther eine vorzügliche Schulbildung und begann das Studium der Rechtswissenschaft, ehe er 1505 in den Augustinerorden eintrat und ein intensives theologisches Studium absolvierte. Als charismatischer Prediger und Professor der Theologie verschärfte er seit 1517 (Anschlag der 95 Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg) seine (zunächst interne) Kritik an der römisch-katholischen Kirche: an konkreten Missständen wie dem Ablasswesen, aber auch an ihren hierarchischen Prinzipien und ihrer theologischen Dogmatik. Kern der lutherischen Theologie, die sich aus dieser Kritik entwickelte, ist eine neue Rechtfertigungslehre: Nicht durch gottgefällige Werke, oder durch erkauften Ablass kann sich der sündige Mensch rechtfertigen, sondern allein durch den Glauben (sola fide) an die unverdiente Gnade Gottes (sola gratia). Zeugnis dieser wechselseitigen Bindung ist allein die Heilige Schrift (sola scriptura), die keiner Auslegung durch kirchliche Autorität bedarf, sondern sich selbst auslegt (sui ipsius interpres). In langwierigen Auseinandersetzungen, unterstützt von einer schnell wachsenden Gefolgschaft, darunter einige deutsche Regionalfürsten, kämpft Luther auf verschiedenen Ebenen für die theologische und institutionelle Durchsetzung der neuen Glaubensordnung. Diesem theologischen Ziel und dieser kirchenpolitischen Strategie sind auch Luthers vielfältige literarische Tätigkeiten untergeordnet, von denen die deutsche Übersetzung der Bibel die mit Abstand wichtigste war. Seit 1521 betrieb Luther mit mehreren Helfern (besonders Philipp Melanchthon) und großer Energie dieses Vorhaben, weil er einer volkssprachlichen und leicht zugänglichen Bibel zu Recht die entscheidende Rolle bei der Verbreitung des neuen Konfession zuschrieb. Nach elfmonatiger Arbeit lag 1522 das Neue Testament, 1534 dann die so genannte Vollbibel vor: Biblia, das ist, die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Luther hatte seiner protestantischen Theologie ein Massen-Medium von unabsehbarer Wirkung geschaffen. Die Charakteristika von Luthers Bibeltext ergeben sich aus seiner Schriftauffassung und theologischen Hermeneutik (Aufwertung des sensus litteralis gegenüber der Allegorese), aber auch aus seiner profunden rhetorischen Bildung (Quintilian) und vor allem aus seiner individuellen Sprachkraft.
Kennzeichnend sind Werktreue, Orientierung an der "Meinung" des Textes, aber auch große Anschaulichkeit, Bildhaftigkeit, Nähe zur alltäglichen Erfahrung, bewusste Aktualisierung und Akzentuierung der eigenen theologischen Position. Einen programmatischen Kommentar zur eigenen Übersetzung gibt seine Sendschrift vom Dolmetschen (1530) u.a. mit der erklärten Absicht, dem "Volk aufs Maul zu schauen". Alles in allem hat die Luther-Bibel nicht nur ihre theologisch-propagandistische Funktion voll erfüllt, sondern wesentlich zur Herausbildung einer überregionalen deutschen Schrift- und Literatursprache beigetragen, sie bildet inhaltlich wie sprachlich einen unerschöpflichen Fundus sowohl für die Alltagssprache (Redewendungen, Sprichwörter) wie auch für die nachfolgende deutsche Literatur (von Hans Sachs und Andreas Gryphius bis zu Bertolt Brecht) und darf in ihrer Sprachgewalt selbst als "einer der bedeutendsten Texte der Weltliteratur" gelten (H.-G. Roloff). Luthers sonstiges literarisches Werk ist außerordentlich umfangreich. Neben 473 Druckschriften, teils lateinisch, teils deutsch, umfasst es zahlreiche Briefwechsel und "Tischreden". Man hat 23 verschiedene Gattungen gezählt, von Vorlesungen und Predigten über theologische Abhandlungen und Pamphlete bis zum Flugblatt und zur Fabel. Mit seinen (nur) 24 Liedern für den volkssprachlichen Gottesdienst (darunter Ein feste Burg... und Vom Himmel hoch...) begründet Luther die Gattung des protestantischen Kirchenliedes, die im 16. und 17. Jahrhundert weiter aufblüht. Doch hat Luther diese ganze gewaltige Produktion rein funktional und pragmatisch verstanden, ausschließlich als Mittel (medium!) zur Verbreitung seiner theologischen Lehre. Dieses Paradox gehört untrennbar zum Autor Martin Luther: eines der größte Genies deutscher Sprache, dessen innovatorische Kraft erst von Lessing wieder erreicht, und erst von Goethe überboten wird, wollte um keinen Preis (wie er sagte) ein "Poeta", ein Dichter sein. © JZ
Wichtige Schriften: ❍
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D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. 2 Bde. U. Anhang. Hg. v. H.Volz, München 1972 u.ö. An den christlichen Adel deutscher Nation (1520) Von der Freyheit eines Christenmenschen Sendbrief D. M. Luthers. Von Dolmetschen und Fürbit der heiligenn (1530)
Sekundärliteratur: 1. R. Friedenthal: Luther. Sein Leben und seine Zeit, München 1967 2. B. Lohse: Martin Luther. Eine Einführung in Leben und Werk, München 1981. 3. H. Wolf: Martin Luther. Eine Einführung in germanistische Lutherstudien, Stuttgart 1980.
Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote (1605/1615)
Cervantes' Roman Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, kurz Don Quijote, ist das bekannteste Werk der spanischsprachigen Literatur und einer der bedeutendsten Romane der Weltliteratur. Mit seinem 1605 und 1615 in zwei Teilen erschienenen Don Quijote setzt Cervantes neue Maßstäbe für die Gattung Roman: nicht mehr das utopisch-idyllische Ambiente der Schäferromane und auch nicht die Welt der ritterlichen Abenteuerromane prägen Schauplatz und Handlungsstruktur des Don Quijote. Vielmehr spielt das Geschehen im zeitgenössischen Spanien, im Siglo de Oro, dem politisch von Philipp II., kulturell von den Malern Velásquez und El Greco und den Schriftstellern Lope de Vega, Calderón und Cervantes geprägten spanischen Goldenen Zeitalter. Der Roman erzählt die Geschichte der gleichnamigen Hauptperson, eines verarmten Junkers, der durch die Lektüre unzähliger Ritterromane den Verstand verliert und beschließt, nun selbst als Ritter auszuziehen, "um Abenteuer zu suchen und all das zu üben, was, wie er gelesen, die fahrenden Ritter übten, das heißt jegliche Art von Unbill wiedergutzumachen und sich in Gelegenheiten und Gefahren zu begeben, durch deren Überwindung er ewigen Namen und Ruhm gewinnen würde." (S. 23f.) Don Quijote holt seinen alten Klepper aus dem Stall, gibt ihm den klangvollen Namen Rosinante, stellt sich notdürftig eine Rüstung zusammen und bricht auf. Dieser erste Versuch scheitert kläglich: Der vermeintliche Ritter wird von Maultiertreibern zusammengeschlagen, halbtot von einem Nachbarn aufgefunden und nach Hause gebracht. Besorgte Freunde türmen den Großteil seiner Ritterbuch-Sammlung zu einem riesigen Scheiterhaufen auf und übergeben die unheilvollen Bücher den Flammen. Aber Don Quijote läßt sich nicht entmutigen. Nach seiner Genesung kann er einen Bauern des Dorfes, Sancho Pansa, als Knappen gewinnen und bricht gemeinsam mit ihm erneut auf. Die Windmühlen, denen sie bald darauf begegnen, hält Don Quijote trotz Sanchos Einwänden für Riesen und liefert sich mit ihnen seinen berühmtesten Kampf. Hier, wie in allen folgenden Abenteuern, 'liest' Don Quijote die Erscheinungen der Wirklichkeit als Motive der Ritterromane und interpretiert sie folglich als Handlungsaufforderung an sich selbst, den fahrenden oder "irrenden" Ritter. Immer wieder führt Cervantes im Don Quijote auf diese Weise vor, was passiert, wenn man die Regeln der phantastischen Ritterwelt auf die profane Wirklichkeit anwendet. Am Ende des ersten Teils kehrt Don Quijote nach vielen Abenteuern, bei denen er zumeist reichlich Prügel bezogen hat, erschöpft in sein Dorf zurück. Während Cervantes am zweiten Teil des Don Quijote arbeitete, veröffentlichte ein Zeitgenosse, Alonso Fernández de Avellaneda, eine apokryphe Fortsetzung
des ersten Teils. Cervantes setzt sich in den Anfangs- und Schlußpassagen des zweiten Teils explizit von diesem Werk ab. Darüber hinaus aber wird der literaturkranke Don Quijote nun damit konfrontiert, daß er selbst zu Literatur geworden ist, denn der erste Teil des Don Quijote wird zu einem Bestandteil der Fiktion des zweiten Teils: Hier nämlich unterhalten sich Sancho und sein Herr mit einigen Freunden über ein neues Buch, das ihre Geschichte enthält. Die beiden beschließen einen neuerlichen Aufbruch, um eine Fortsetzung zu ermöglichen: Im zweiten Teil des Don Quijote bringt Cervantes die Grenzen zwischen Literatur und Realität ins Schwanken. Die folgende lange Kette der Abenteuer findet ihr Ende in einem großen Duell, das Don Quijote seine letzte und entscheidende Niederlage beschert: Der Sieger verlangt von ihm, daß er nach Hause zurückkehrt. Auf dem Weg zurück in das Heimatdorf begegnen Don Quijote und Sancho Pansa den Figuren aus der gefälschten Fortsetzung Avellanedas - und lassen sich notariell bestätigen, daß sie nicht zu ihnen gehören. In der Heimat angelangt, erkrankt Don Quijote und erwacht auf dem Sterbebett endlich aus seinem literarischen Wahn; am Ende stirbt Don Quijote, aber er stirbt geheilt. In Deutschland setzt eine intensivere Rezeption des Don Quijote mit Ludwig Tiecks Übersetzung (1799-1801) ein; gerade die Erzählkunst der Romantik ist ohne die im Don Quijote angelegten Erzähltechniken der Illusionsbrechung (der Konflikt zwischen Wirklichkeit und Literatur) und des Spiels mit der Literarisierung ("Buch im Buch") nicht zu denken. Ganz in diesem Sinne vertritt Hegel in seiner Ästhetik die These, daß Cervantes den Roman als eine in sich selbst gebrochene, ironische Form geschaffen habe und Lukács zeigt in seiner Theorie des Romans auf, wie der Don Quijote als erster bürgerlicher Roman die Sehnsucht des modernen Subjekts nach der untergegangenen Totalität des Epos widerspiegelt. ©TvH
Miguel de Cervantes Saavedra: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, übers. v. L. Braunfels, München 1956. Sekundärliteratur: 1. C. Strosetzki: Miguel de Cervantes. Epoche - Werk - Wirkung, München 1991. 2. H. Hatzfeld (Hg.): Don Quijote. Forschung und Kritik, Darmstadt 1968. 3. V. Nabokov: Die Kunst des Lesens. Cervantes' Don Quijote, Frankfurt/M. 1991.
Bertolt Brecht: Terzinen über die Liebe (1928)
Sieh jene Kraniche in großem Bogen! Die Wolken, welche ihnen beigegeben Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen Aus einem Leben in ein andres Leben. In gleicher Höhe und mit gleicher Eile Scheinen sie alle beide nur daneben. Daß also keines länger hier verweile Daß so der Kranich mit der Wolke teile Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen Und keines andres sehe als das Wiegen Des andern in dem Wind, den beide spüren Die jetzt im Fluge beieinander liegen. So mag der Wind sie in das Nichts entführen; Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben So lange kann sie beide nichts berühren So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben Wo Regen drohen oder Schüsse schallen. So unter Sonn und Monds wenig verschiedenen Scheiben Fliegen sie hin, einander ganz verfallen. Wohin, ihr? Nirgendhin. Von wem entfernt? Von allen. Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Seit kurzem. Und wann werden sie sich trennen? Bald. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.
Bertolt Brecht: Gesammelte Werke Band 14: Gedichte 4, Frankfurt am Main 1989, S.15-16.
Oralität und Literalität
Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts äußert sich ein verstärktes interdisziplinäres Interesse an der Erforschung von oralen Kulturen; von Gesellschaften also, die nicht über Schriftsysteme als Speicher- und Kommunikationsmittel verfügen. Auch historische Dokumente werden verstärkt auf oral geprägte Merkmale und Ausdrucksformen untersucht. Dabei zeigt sich, daß die Einführung der Schrift in eine Gesellschaft mehr bedeutet als die bloße Verfügbarkeit eines neuen Handwerkzeugs: Vielmehr ist eine wesentliche Umstrukturierung von Denkweisen und Mentalitäten als Folge der Schriftlichkeit zu konstatieren. Zahlreiche komplexe Kulturleistungen sind mit der Verbreitung von Schriftsystemen verbunden. Mündlichkeit ist durch das Fehlen eines außerkognitiven Speichermediums geprägt. Geschichtliches Wissen erstreckt sich in der Regel nur über drei bis vier Generationen zurück, darüber hinausgehende Erfahrung wird in mythischen Erzählungen tradiert. Anders gesagt: Alles, was nicht gebraucht wird, wird vergessen. Das Erinnerte wird hingegen im Zuge gesellschaftlichen Wandels unmerklich den neuen Verhältnissen angepaßt (homöostatisches Gedächtnis). Es gibt keinen Urtext, an dem man sich orientieren kann: Änderungen im Wissensbestand sind daher nicht rückgängig zu machen. Wissen ist gemeinsamer Besitz, der an bestimmte Mnemotechniken (Erinnerungstechniken) und Darstellungsweisen gebunden ist: sprachrhythmische Formeln, Reim und Metrum, Wiederholungen, gestische und mimetische Darstellungsweisen im Vortrag. Der Erzähler, der nicht der kreative Urheber seiner Geschichte ist, lernt nicht den Wortlaut eines Textes auswendig, sondern die Handlungsketten und einen bestimmten Rhythmus. Abstraktes und formallogisches Denken sowie die Fähigkeit zur distanzierten Selbstanalyse scheinen an die Entwicklung von Schrift gebunden zu sein. Schreibund Leseprozesse trennen die jeweilige Person von sozialen Handlungen ab und ermöglichen zugleich den Zugriff auf räumlich oder zeitlich weit entferntes Geschehen. Ein permanenter Speicher ist verfügbar. Die Zweidimensionalität des Textes erlaubt neben Verweissystemen zunehmend komplexe mathematische Operationen. Ein detailreicheres Vokabular, systematische Ordnung, vielfältige Archive entstehen, die Einheit von Mythos und Logos bricht auf, an deren Ende das neuzeitliche Subjekt steht. Zahlreiche Aspekte von Schrift sind aber mit der Erfindung des Buchdrucks verbunden oder entfalten erst mit seiner Hilfe ihr Wirkung. Das stumme Lesen wäre hier zu nennen. Kanonische Texte wie die Bibel machen aufgrund des kontinuierlichen kulturellen Wandels eine Hermeneutik und zahlreiche kommentierende Schriften nötig, welche die Verstehenslücke zwischen den zwei Kulturzuständen überbrücken. Dies gilt dann allerdings auch für solche oralen Kulturen (wie beispielsweise im alten Indien),
die - anders als oben erwähnt - eine wörtliche Überlieferung gepflegt haben. Die starre Gegenüberstellung oraler und literaler Kulturen, wie sie unter anderem von Ong formuliert worden ist, wird heute, im Zeitalter multikultureller Gesellschaften mit ihren heterogenen kulturellen Praktiken, von unterschiedlichen Seiten als eurozentristischer Mythos dekonstruiert bzw. eingeschränkt. Es wird darauf verwiesen, daß Oralität und Literalität dialektisch aufeinander bezogen sind und deshalb in allen Kulturen Mischformen von 'Oraliteralität' auftreten, weshalb funktionale Betrachtungsweisen ein besseres Verständnis von Oralität und Literalität erlauben. Die jeweils eingenommene Position hat erhebliche Auswirkungen vor allem auf bildungspolitische Konzeptionen. © pflug Sekundärliteratur: 1. H. Günther / O. Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Berlin 1994. 2. D. R. Olson / N. Torrance (Hg.): Orality and Literacy, Cambridge 1991. 3. W. J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987.
Karl Philipp Moritz
* 15.09.1756, Hameln † 26.06.1793, Berlin deutscher Schriftsteller und Kunsttheoretiker Karl Philipp Moritz ist nicht nur der 'Erfinder' des "psychologischen" Romans, ein wichtiger Vorläufer der modernen Psychologie, ein Erforscher der griechischen Mythologie und Neudenker der deutschen Verslehre, er ist auch der erste Autonomieästhetiker vor Kant. All diese bedeutenden Leistungen wurden Moritz nicht in die Wiege gelegt: im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen beschirmte nicht der Schutzraum eines protestantischen Pfarrhauses seine Kindheit und Jugend, vielmehr wuchs er in ärmlichen Verhältnissen als Sohn eines Militärmusikers in Hameln auf, wurde geprägt und bedrängt vom fanatischen Quietismus seines Vaters, brach die bei einem Radikalpietisten angetretene Hutmacherlehre in Braunschweig 1770 nach einem Selbstmordversuch ab, durfte durch Fürsprache eines Garnisonspfarrers dann zwar in Hannover das Gymnasium besuchen, litt dort aber weiterhin unter den Demütigungen, die seine Armut mit sich brachte. Ein Theologiestudium in Erfurt beendete er vorzeitig und auch der Versuch, sich einer der vielen zeitgenössischen umherziehenden Theatertruppen anzuschließen, mißlang. In seinem großen autobiographischen Roman Anton Reiser schildert Moritz diese Leidensgeschichte seiner Jugendzeit in der Form eines Anti-Bildungsromans, dem er einen zweiten Roman, die (weniger bekannte) Parallelerzählung Andreas Hartknopf gegenüberstellt. Auch wenn Moritz während seines zweijährigen Italienaufenthaltes (1786-88) zum wichtigen Gesprächspartner Goethes in Rom wurde und auch wenn seine Ästhetikvorlesungen (seit 1789 als Professor für Theorie der schönen Künste an der Universität Berlin) von so berühmten Zeitgenossen wie Alexander von Humboldt, Wackenroder und Tieck besucht wurden: die Blessuren, die der trostlose Beginn seines Lebens bei ihm hinterlassen hatten, blieben unauslöschbar. Vermutlich waren es aber auch diese Erfahrungen, die Moritz' Interesse an der Psychologie wachriefen und ihn das Magazin für Erfahrungsseelenkunde gründen ließen, eine der ersten psychologischen Zeitschriften Deutschlands. Anknüpfend an die Experimentalseelen-Lehre des Halleschen Arztes Johann Gottlob Krüger markiert die neue Wissenschaft der Erfahrungsseelenkunde einen entscheidenden Entwicklungsschritt in der Geschichte der empirischen Psychologie. Das Magazin ist eine Sammlung von Lebensgeschichten, Therapiebeispielen und Beobachtungen, die sich in bester popularphilosophischer
Tradition als "Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte" versteht. Wichtige Impulse gab Moritz auch der Ästhetik als einer theoretisch anspruchsvollen Begründung der Kunst: in dem Aufsatz Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) bestimmte er in radikaler Abgrenzung zur tradierten Wirkungsästhetik das Kunstwerk als ein autonomes Werk, das nicht auf einen außerästhetischen Zweck hin, etwa nach seiner Nützlichkeit, betrachtet werden dürfe. Vielmehr bestehe "das Wesen des Schönen eben in seiner Vollendung in sich selbst" (S. 565) und könne daher auch allein durch einen schöpferischen Nachvollzug, der die engen Grenzen einer rein intellektuellen Annäherung hinter sich lässt, angemessen rezipiert werden. Moritz wurde unter seinen Zeitgenossen von Goethe über Schiller bis zu Jean Paul hochgeschätzt; seine ästhetische Theorie beeinflusste entscheidend die Autonomieästhetik der Klassik ebenso wie die Ästhetik-Konzepte der Romantik. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts geriet er zunächst mehr und mehr in Vergessenheit, bis Wilhelm Dilthey seine literatur- und geisteswissenschaftliche Wiederentdeckung einleitete. In jüngerer Zeit prägt vor allem das große Interesse am Anton Reiser und der Beginn eines psychologischen Erzählens die MoritzForschung. ©TvH
Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen, in: Werke, hg. v. Horst Günther, 2. Bd., Frankfurt/M. 1981, S. 549-578, hier S. 565. Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Magazin für Erfahrungsseelenkunde (1783-1793) Anton Reiser (1785-1790) Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788)
Sekundärliteratur: 1. R. Bezold: Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz. Würzburg 1984. 2. L. Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis. K. Ph. Moritz' "Anton Reiser", Frankfurt/M. 1987. 3. H. J. Schrimpf: Karl Philipp Moritz. Stuttgart 1980.
Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (1785-1790)
Karl Philipp Moritz veröffentlichte 1785-1790 in vier Teilen seinen unvollendet gebliebenen Roman Anton Reiser. Er erzählt die Kindheit und Jugend des aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Titelhelden, der, "von der Wiege an unterdrückt" (S. 12), aufwächst unter dem Eindruck der ewigen Zwietracht seiner Eltern und einer streng- religiösen, quietistisch-pietistischen Erziehung. Früh wird der introvertierte Anton nach Braunschweig in die Lehre zu einem Hutmacher geschickt, wo ihn fortwährende Erniedrigungen zu einem Selbstmordversuch treiben. Wieder zurück in Hannover macht er in der Armenschule durch seinen Fleiß auf sich aufmerksam. Als Talent von einem adeligen Gönner gefördert darf Anton schließlich das Gymnasium besuchen und träumt davon, eines Tages Theologie zu studieren. Aber die damit verbundenen "Freitische" bedeuten für ihn eine andauernde Demütigung, die schließlich sein Selbstbewußtsein zerstört, ihn depressiv und menschenscheu macht. Anton sucht Zuflucht in Romanen und Theaterstücken und richtet sich um so nachhaltiger in seiner inneren Lesewelt ein, je unerträglicher ihm die äußere Wirklichkeit erscheint. Zuletzt beschließt er, die Schule aufzugeben und Schauspieler zu werden: "Das Theater als die eigentliche Phantasienwelt sollte ihm also ein Zufluchtsort gegen alle diese Widerwärtigkeiten und Bedrückungen sein." (S. 382) Aber Anton Reiser, dem es von Kindesbeinen an nicht gelingt, in der Wirklichkeit Fuß zu fassen, und der sich nun aus Lebensunfähigkeit und nicht aus Berufung dem Theater zuwendet, findet auch in der Kunstwelt keinen Einlaß. Als er am Ende nach langen Fußmärschen endlich die Schauspieltruppe gefunden hat, bei der er auf eine Rolle hoffen kann (ein anderer Versuch bei der Truppe des berühmten Ekhof ist bereits gescheitert), steht diese vor der Auflösung, da der Prinzipal mit dem gesamten Besitz auf und davon ist. Lesewut und Theatromanie, zwei typische Phänomene der Spätaufklärung, werden im Anton Reiser thematisiert. Die Hinwendung zum Theater stellt hier jedoch nicht, wie in Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, eine zeitweilig produktive Stufe der Selbstausbildung dar, sondern ist ein Zeichen der Orientierungslosigkeit und tiefen Identitätsstörung Reisers. Moritz, der Herausgeber des Magazins für Erfahrungsseelenkunde - der ersten psychologischen Zeitschrift Deutschlands - nennt den Anton Reiser einen psychologischen Roman. Und in der Tat liest sich der Anton Reiser wie eine Fallgeschichte, in der detailliert "die innere Geschichte [eines] Menschen" (S. 6) aufgezeichnet wird. Hundert Jahre vor Sigmund Freuds Psychoanalyse versucht Moritz, durch einen genauen, psychologisch-analysierenden Blick die Gründe für das Scheitern des Antihelden Anton Reiser bis in dessen früheste Kindheit zurückzuverfolgen.
Darüber hinaus ist dieser psychologische Roman ein autobiographischer Roman: es ist nämlich größtenteils Moritz' eigene Kindheit und Jugend, die unter dem Deckmantel des anderen Namens und in distanzierter Er-Perspektive geschildert werden. Der Anton Reiser stellt in der Romanentwicklung einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur modernen, psychologisierenden Figurengestaltung dar, dieser psychologische Roman ist aber auch ein Muster fiktionalisierten autobiographischen Schreibens. ©TvH
Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman, hg. v. W. Martens. Stuttgart 1998..
Sekundärliteratur: 1. J. Fürnkäs: Der Ursprung des psychologischen Romans. Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, Stuttgart 1977. 2. L. Müller: Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis: Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, Frankfurt/M. 1987. 3. H.J. Schrimpf: Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, in: B. v. Wiese (Hg.): Der deutsche Roman vom Barock bis zur Gegenwart, Bd. 1, Düsseldorf 1963, S. 95-131.
Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (1774)
Goethes Roman endet (im Erstdruck von 1774) mit dem ärztlichen Blick auf die Leiche des Selbstmörders - "über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben" - und ohne moralische Wertung oder metaphysischen Trost: "Kein Geistlicher hat ihn begleitet". Die medizinische Perspektive und der Ausfall moralischer Bewertung oder religiöser Entlastung markieren drei Quellen der literarischen Innovationskraft und der euphorischen, ja skandalträchtigen Rezeption des Werkes, das seinen jungen Autor mit einem Schlag in ganz Europa berühmt machte. Die Geschichte des jungen Werther, der sich hoffnungslos in die "so gut als" verlobte Lotte verliebt und sich aus Verzweiflung über die Unmöglichkeit irdischer Wunscherfüllung erschießt, habe Goethe bewusst als eine historia morbi geschrieben, als eine Krankengeschichte "ohne unten angeschriebene Lehren, a. b. c. d." (Johann Caspar Lavater). Quelle dieser pathologischen Studie das ist um 1770 neu - ist die Wirklichkeit. Neben eigenen Erfahrungen, in erster Linie aus der Dreiecksbeziehung zwischen Goethe, Johann Christian Kestner und dessen Verlobter Charlotte Buff in Wetzlar, verarbeitet Goethe vor allem den Bericht Kestners über eine unglückliche Liebe und den Selbstmord des Carl Wilhelm Jerusalem, eines Kollegen Goethes am Reichskammergericht in Wetzlar. Goethe übernimmt Details des Falles zum Teil wortwörtlich. Trotz dieser Nähe zur Realität ist Goethes Werther ein hochartifizieller und durchkomponierter Text - weder bloße Selbstaussprache noch Schlüsselroman. Werthers "Krankheit zum Tode" beginnt nicht erst mit der unglücklichen Liebe zu Lotte; schon ganz zu Beginn gibt es Hinweise auf seine Todessehnsucht. Sein Grundproblem ist die typisch "moderne" Kluft zwischen Innen und Außen. Innen ist das "Herz", das unzählige Male angerufen wird - als Chiffre für das Wollen und Wünschen, das Sehnen und Begehren. Das Außen, das ebenso oft Male als "Einschränkung" oder "Enge" gefaßt wird, ist dem Herzen grundsätzlich fremd und feindlich.. Diese Kluft bedeutet, dass der Künstler Werther seine starken Empfindungen nicht entäußern, ins Bild umsetzen kann. Für den Liebenden heißt es, dass er sein Gefühl für grundsätzlich nicht in soziale Wirklichkeit übersetzbar hält. Aus dieser Innen-Außen Kluft entwickelt Werther zwei verschiedenen Glücksvorstellungen: Zum einen sieht er - in der Tradition Jean Jacques Rousseaus - in der natürlichen Naivität der Kinder und des einfachen Volks das verlorene Paradies. Zum anderen sehnt er sich nach der Aufhebung aller Einschränkungen, nach Totalität des Ausdrucks und der Ich-Empfindung. Vor diesem Hintergrund ist auch die "Gesandtschaftsepisode" zu Beginn des
zweiten Teils zu sehen. Werther ist nicht gewillt oder nicht fähig, sich in eine komplexe Welt aus Regeln und Rängen, Pflichten und Zwängen einzufügen. Der junge Bürger provoziert seinen Ausschluss aus der adeligen Abendgesellschaft, zieht sich gekränkt vom Hof und seinem Posten zurück, um schließlich wieder zu Lotte und Albert zurückzukehren. Dort steigert sich Werthers "süßes Gefühl", "diesen Kerker" jederzeit verlassen zu können, zum festen Entschluss zu sterben und zur Wunschvision der Aufnahme in eine imaginäre, jenseitige Familie, in der Werther sich endgültig auf die Position des Kindes/Sohnes festlegt. Die suggestive Form des Briefromans ist die für die ungeheure Wirkung des Werkes verantwortlich. Es besteht fast ausschließlich aus Briefen Werthers an seinen Freund Wilhelm, dessen Antwortbriefe aber ebenso fehlen wie die anderer Personen. Der Roman bietet, abgesehen von einigen auktorialen Passagen eines fiktiven Herausgebers, nur die Perspektive der Ich-Figur. Diesem Sog der Identifikation war und ist schwer zu entgehen, so daß die Zeichen der Distanzierung und der impliziten Kritik des Textes an seiner Hauptfigur leicht überlesen werden. So erzählt Goethe zwar eine Krankengeschichte, aber ohne Werther zu pathologisieren, vielmehr erreicht er gerade durch die Identifikation mit einem Selbstmörder, dessen Erleben als Grenzwert des Normalen zur Darstellung zu bringen. Den Sog der Identifizierung hat Goethe bereits in der 1775 erscheinenden zweiten Auflage angesichts des zeitgenössischen "Wertherfiebers" durch ein Motto zu mildern gesucht: "Sei ein Mann und folge mir nicht nach." In einer zweiten Fassung von 1787 hat er die Distanz zur Wertherfigur weiter vergrößert und Albert aufgewertet, so "daß ihn wohl der leidenschaftliche Jüngling, aber doch der Leser nicht verkennt." Neben leidenschaftlicher und enthusiastischer Feier des Romans und skeptischen bzw. satirischen Tönen aus dem Lager der Aufklärung gab es auch scharfe Kritik von kirchlicher Seite. Man befürchtete, dass Werthers Krankheit, sein Bewußtsein von der Kluft zwischen Innen und Außen, ansteckend sein könnte. Und in der Tat läßt sich behaupten, dieser erste deutsche Roman von weltliterarischem Rang sei nicht einfach nur 'modern' ist, sondern habe das spezifische Lebensgefühl der Moderne wesentlich geformt. ©JL
Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Paralleldruck der beiden Fassungen von 1774 und 1787, Stuttgart 1999 .
Heinrich Heine
* 11. 12. 1797, Düsseldorf † 17. 02. 1856, Paris Dichter und Schriftsteller Ohne Mühe kann man sich Heinrich Heine im Zeitalter des Internet vorstellen. Sein feiner Spürsinn für mediale Entwicklungen ließ ihn nicht nur Distanz zur elitären Kunstpraxis der Goethezeit gewinnen, die er anerkennend und herablassend zugleich die "Kunstperiode" nannte. Er bestimmte ihn auch dazu, sich ohne Vorbehalte auf Gegenwart und Zukunft einzulassen. Das zeigt sich bei seinen bevorzugten Genres, vor allem den journalismusnahen Prosaformen wie der Reiseskizze, und auch stilistisch: in der Vermischung verschiedener Stilebenen, in gewagten Metaphern und der Pflege von Doppeldeutigkeit, Ironie und Witz. Diese Schreibweise dokumentierte einerseits den Bruch mit dem Pathos und der Autonomieästhetik der Klassik und ermöglichte andererseits, trotz scharfer Zensurmaßnahmen in der Restaurationsperiode, den Anschluß an die Modernisierungs-tendenzen in der europäischen Literatur. Aber auch im elektronischen Zeitalter sollte man zuerst mit dem Lyriker Heine Bekanntschaft machen. Die feinste Beherrschung der Sprache, die Evokation 'poetischer' Szenen und Gefühle, der schmerzliche Stimmungsbruch - mit dieser Meisterschaft wurde das Publikum erstmals 1827 im Buch der Lieder konfrontiert - und gewonnen. Heines Beherrschung des Volksliedtons führte nicht zu 'neuen Volksliedern', aber doch zu Texten, die nicht weniger populär waren als die alten. Daß die Nationalsozialisten, die seine "artfremden" Werke aufs fanatischste verfolgt und unterdrückt hatten, sie schließlich doch wieder als "anonyme" Lieder in ihre Anthologien aufnahmen, belegt dies auf die nachhaltigste und absurdeste Weise. Als Prosaist und Essayist deckt Heine viele verschiedene Genres, Themen, Länder und Epochen ab, von düsteren Prophezeiungen bis hin zu anarchistischen Satiren und Possen. Seine Reiseberichte - seit der Harzreise, entstanden 1824 kombinieren Anekdotisches und Reflexion; man hat sie als "Aufbruch aus der Philisterwelt" bezeichnet. Seine kulturgeschichtlichen Schriften - unter ihnen Zur Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland (1835) und Die Romantische Schule (1833) - überraschen heute noch mit dem Nachweis, daß auch Literaturgeschichte spannend und amüsant sein kann. Als Vermittler zwischen Frankreich, wo er mehrere Jahrzehnte im Exil lebte, und seinem unter Schmerzen geliebten Deutschland wurde Heine zum Prototyp eines interkulturellen Autors - und in Paris ganz nebenbei auch zum Großstadtdichter
avant la lettre. Die satirischen Versepen Deutschland ein Wintermärchen (1844) und Atta Troll (1847) enthalten unvergessliche Szenen (etwa die Begegnungen mit Germania oder der Mutter) und drücken zugleich eine tiefe Skepsis aus gegenüber Deutschland "am Vorabend seiner Größe" (so der Zeitgenosse Karl Gutzkow). Nicht nur bei völkischen Deutschkundlern, sondern auch im germanistischen mainstream galt Heine lange als problematisch. "Ironie" und "Journalismus" lauteten die Hauptvorwürfe, also das Infragestellen einer erbaulich-sentimentalen Literaturfunktion und die Suche nach neuen Kommunikationsformen. Von der progressiven Seite her, und mit eben diesen Argumenten, konnte Heine immer wieder als Modellfall des engagierten Schriftstellers herausgestellt werden, so zuletzt 1986 von Jürgen Habermas. - Dabei muß man einräumen, daß Heine sich nicht immer politisch korrekt verhielt. Seine scharfe Polemik gegen Ludwig Börne (1840) und seine Attacke auf die Homosexualität des Dichterrivalen August von Platen lassen nach wie vor einen unangenehmen Geschmack zurück Seine Ambivalenz gegenüber dem Kommunismus, dessen theoretische Grundlegung und erste Kämpfe er verfolgte, hat sich inzwischen als weitsichtig, ja prophetisch erwiesen. So emphatisch er an der Zukunftsvision festhielt, "hier auf Erden schon/ das Himmelreich [zu] errichten" und so sehr er an der Notwendigkeit einer allgemeinen Emanzipation festhielt, so sehr beunruhigte ihn die Beobachtung, wie es sich noch eine jede Revolution auf ihren eigenen Errungenschaften bequem gemacht hatte. Heine aber bleibt unbequem - auch für Leser in der Mediengesellschaft. © HR
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍
Reisebilder (1826-1831) Die romantische Schule (1835) Ludwig Börne. Eine Gedenkschrift (1840) Deutschland. Ein Wintermärchen (1844)
Sekundärliteratur: 1. R. Schnell: Heinrich Heine zur Einführung, Hamburg 1996. 2. J. Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: J.H.: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Politische Aufsätze 1977-1990, Leipzig 1990, S.130-158. 3. G. Oesterle: Integration und Konflikt. Die Prosa Heinrich Heines im Kontext oppositioneller Literatur der Restaurationsepoche, Stuttgart 1972
Heinrich Mann
* 27.3.1871, Lübeck † 12.3.1950, Santa Monica, Kalifornien deutscher Schriftsteller, Publizist, auch Übersetzer Zeit seines Lebens stand Heinrich Mann im Schatten seines um vier Jahre jüngeren Bruders Thomas. Das sagt mehr über seine Leser als über sein schriftstellerisches Niveau aus, denn mit Professor Unrat (1905) und dem Untertan (1914/18) hat er unbestritten Meisterwerke des in Deutschland eher raren gesellschaftskritisch-satirischen Romans verfaßt, und sein Henri Quatre (1935/38) gilt zurecht als einer der bedeutendsten deutschen historischen Romane und als herausragendes Werk der Exilliteratur. Diese Romane zeugen aber auch vom dezidiert politischen Interesse des Autors, der - nach ästhetizistischen Anfängen um 1900 - längst vor dem Ersten Weltkrieg zum scharfen Kritiker der Wilhelminischen Zustände wurde. In zahlreichen Essays (Geist und Tat, 1910; Aufsatzsammlung 1931) begründete er seine Forderung nach der sozialen Verantwortung des Dichters wie der Literatur. In der kulturellen Tradition Frankreichs (beispielhaft in der Rolle Emile Zolas als Ankläger in der sog. Dreyfus-Affäre) sah er sein Ideal des in die Politik eingreifenden Literaten verwirklicht, und dies in Abgrenzung zur "machtgeschützten Innerlichkeit", wie sie Thomas Mann 1918 in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen in scharfer, stellvertretender Polemik gegen seinen Bruder entwickelt hat, den er einen "Zivilisationsliteraten" schalt. Seine unbeugsam republikanische, linksdemokratische und antifaschistische Überzeugung ließ Heinrich Mann zum kompromißlosen Verteidiger der Weimarer Republik und zum vehementen Verfechter einer Volksfront gegen Hitler werden. Bereits im Februar 1933 aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen, in der er 1931 den Vorsitz der Sektion Dichtkunst übernommen hatte, emigrierte er 1933 nach Frankreich, 1940 floh er in die USA. Dort verstarb er kurz vor seiner geplanten Übersiedlung nach Ost-Berlin, wohin ihn die DDR-Regierung eingeladen hatte, um die Präsidentschaft der neugegründeten Akademie der Künste zu übernehmen. Der politische Grundimpuls in Heinrich Manns vielfältigem Oeuvre - Romane, Erzählungen, Dramen, Essayistik und politische Publizistik, Autobiographik - hat nicht nur seine zeitgenössische Leserschaft sichtlich gespalten. Grund war das enge Verhältnis, das Heinrich Mann zwischen Literatur und Politik, zwischen Ästhetik und Engagement postulierte. Als ausgebürgerter Exilant und Linker hatte er es in der frühen Bundesrepublik schwer, überhaupt verlegt zu werden; in der DDR wurden seine Werke zwar gedruckt, wegen seines kosmopolitischen Demokratieverständnisses von offizieller Seite aber doch beargwöhnt und
insgesamt nur partiell rezipiert. Heute ist unstrittig, dass die genannten Romane, aber auch die frühen ästhetizistischen Novellen, die Göttinnen-Trilogie (1903), der Roman Die kleine Stadt (1909) sowie die Autobiographie Ein Zeitalter wird besichtigt (1945) aus eigenem Recht zum Kanon der deutschen Prosaliteratur des 20. Jahrhunderts zu zählen und eben nicht gegen seinen Bruder auszuspielen sind. Zudem ist sein essayistisch-publizistisches Werk wie auch der Briefwechsel über das Literarische hinaus eine Fundgrube für politische und kulturpolitische Entwicklungen vom Kaiserreich über die Republik bis zum Exil, nicht zuletzt auch im Blick auf den deutsch-französischen Austausch. ©WF
Wichtige Schriften: ❍
Heinrich Mann: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Hamburg u.a., 1959-1988.
Sekundärliteratur: 1. K. Schröter: Heinrich Mann, Reinbek 1967. 2. P. Stein: Heinrich Mann. Stuttgart u.a. 2002. 3. W. Emmerich: Heinrich Mann "Der Untertan", München 1980.
Heinrich Mann : Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen (1905)
Nicht zuletzt durch die Verfilmung wurde der Roman Professor Unrat zu einem der bekanntesten Werke von Heinrich Mann – der legendäre Blaue Engel von 1930 unter der Regie von Joseph von Sternberg mit Emil Jannings in der Titelrolle bedeutete übrigens für die Hauptdarstellerin Marlene Dietrich den Durchbruch zum Weltstar. Es geht um den alternden, durch und durch autoritären, machtbewußten Gymnasialprofessor Raat in einer kleinen Wilhelminischen Provinzstadt, die unschwer als Lübeck, Geburtstadt der Brüder Mann zu identifizieren ist. Raat drangsaliert seine Schüler auf höllische Weise, liebt nichts mehr als "Kirchhofsruhe herzustellen" und trägt den Spitznamen Unrat. Damit reiht sich dieser Roman ein in die Tradition sozialkritischer und satirischer Schul- und Schülerromane und -stücke, die ihren Auftakt mit Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891) nahm und über die Schulkapitel in Thomas Manns Buddenbrooks (1901) bis zu Robert Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß und Hermann Hesses Unterm Rad (beide 1906) reicht. Aber Heinrich Mann rechnet nicht allein mit dem autoritären Schulsystem des Wilhelminismus ab. Er verstrickt seinen Helden, der auf der Suche nach unbotmäßigen Schülern eher zufällig in das ihm gänzlich fremde, halbseidenerotische Milieu der attraktiven "Barfußtänzerin" Rosa Fröhlich gerät, in einen Konflikt, der weit über eine Schulsatire hinausweist. Unrats wachsende Zuneigung zur Tänzerin, deretwegen er seinen Beruf verliert und die er schließlich ganz und gar unstandesgemäß heiratet, erscheint als Prozeß, durch den er seine autoritäre Machtstellung selbst unterminiert. Er entfremdet sich dem von ihm so lange und heftig verteidigten Schul- und Gesellschaftssystem der strikten Ordnungen und Hierarchien, so daß er seiner bürgerlichen Identität letzten Endes verlustig geht (eine Entwicklung, die der Film in dieser Konsequenz nicht zeigt). Am Ende wird Unrat zum Kritiker jener Gesellschaft, die er als Professor mit Klauen und Zähnen so lange verteidigt hat. In seiner verruchten Villa, deren amoralisches Treiben die Bürger fasziniert, wird die "Entsittlichung" der Stadt vorangetrieben - vor dem Untergang aber wird die kleinstädtische Gesellschaft durch die Verhaftung Unrats bewahrt, als dieser bei einem Diebstahl ertappt wird. Insofern biegt die Satire das Geschehen in vermeintlich geordnete Bahnen zurück, nicht ohne aber mit der Karikierung der herrschenden Machtverhältnisse deren Strukturen schonungslos bloßgelegt zu haben. Mit dem weiter gefaßten Anspruch eines satirisch-analytischen Gesellschaftsromans setzte Heinrich Mann dann im Untertan (1914/1918) seine Kritik am autoritären und chauvinistischen Sozialcharakter des Wilhelminischen
(Klein-)Bürgertums mit großem Publikumserfolg zumal in der Weimarer Republik fort. ©WF q.gif (1003 Mann: Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen. Roman, Heinrich Byte) Frankfurt/M. 1989 u.ö.
Walter Benjamin
* 15.07.1892, Berlin † 26.09.1940, Port-Bou / Spanien Philosoph, Essayist und Literaturkritiker Der wichtigste Ideengeber der neueren deutschen Literaturwissenschaft war ein 'gescheiterter Germanist'. Walter Benjamins Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (1920) wurde von der Fachöffentlichkeit kaum wahrgenommen, seine Habilitationsschrift Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) von der Frankfurter Universität sogar abgelehnt. Unter immer schwierigeren Bedingungen schlug Benjamin sich in der Weimarer Republik und nach 1933 im Pariser Exil als Essayist (Einbahnstraße, 1928) und Literaturkritiker durch. Sieht man vom großen, allerdings fragmentarisch gebliebenen Projekt des sogenannten Passagenwerks ab (Nachlaßpublikation 1983), so mußte er seine theoretischen Ansprüche und Argumente nun in kurzen literarischen Essays und Rezensionen entfalten oder besser gesagt 'verstecken'. Dabei verbindet er auf überraschende Weise Denkmotive marxistischen wie auch jüdisch-messianischen Ursprungs. Stilistisch vollzieht er eine Wendung von der philosophisch-spekulativen Sprache des Frühwerks zu einer Ausdrucksweise, die deskriptiv und detailgenau, thesenhaft pointiert und 'einfach' zugleich ist (und deshalb bis heute so gern zitiert wird). Mit seinem Motto "Die entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand geführt" verstand Benjamin noch diesen schwierigen Schaffensbedingungen eine (geschichts-)optimistische Pointe abzugewinnen. Sie konnte der zunehmenden Verzweiflung über die persönliche wie die historisch-politische Lage freilich nicht standhalten: auf der Flucht vor den Nationalsozialisten wählte Benjamin 1940 im französisch-spanischen Grenzort Port Bou den Tod. Eine verspätete, dann aber umso intensivere Benjamin-Rezeption wurde in der Bundesrepublik Deutschland (und später auch international) durch die von seinem Freund Theodor W. Adorno bewerkstelligten Neuausgaben der Schriften und Briefe möglich. Die germanistische Literaturwissenschaft hat zunächst Benjamins Beiträge zu kanonischen Themen, also sein Trauerspiel-Buch oder seinen Essay über Goethes Wahlverwandschaften 'nachgearbeitet' und gewürdigt; im Kontext der Studentenbewegung und einer 'kritischen Germanistik' gewann auch seine Methodenkritik aus den zwanziger Jahren neue Aktualität. Die subtilen Essays zu Marcel Proust, Franz Kafka, Karl Kraus, Alfred Döblin und Bertolt Brecht konnten als Wegweiser zur Wiederentdeckung der klassischen Moderne gelesen
werden. Besonders aber waren es die von Benjamin selbst als marxistisch verstandenen Überlegungen zum historischen Funktions- und Medienwandel der Künste, die der Literaturwissenschaft neue Fragen und Horizonte öffneten. Abhandlungen und Aufsätze wie Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit oder Der Autor als Produzent, aber auch Der Erzähler (alle um 1935) sind für eine Mediengeschichte der Literatur bis heute durch ihre Fragestellungen, wenn auch nicht immer durch ihre 'Antworten', von erheblichem Anregungswert. "Ist Benjamin zu Lebzeiten als ein schwer einzuordnender Außenseiter erschienen und wie ein Verschollener gestorben, so hat die Rezeptionsgeschichte ihn als bedeutende, auf Dauer bleibende Gestalt der deutschen Literatur und Philosophie erkennbar gemacht, deren produktive Impulse noch nicht ausgeschöpft sind." Heutige Leser/innen sollten sich - ein Paradox der Wirkungsgeschichte - den direkten Weg zu seinen Texten, und den intellektuellen Gewinn und ästhetischen Genuß, den sie versprechen, nicht durch ein unaufhaltsam wachsende Gebirge von Benjamin-Sekundärliteratur versperren lassen. © JV
Burkhardt Lindner (Hg.): 'Links hatte noch alles sich zu enträtseln...' Walter Benjamin im Kontext, Frankfurt/M. 1985. Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Michail Lesskows (1936/37) Walter Benjamin. Ein Lesebuch (1996)
Sekundärliteratur: 1. K. Garber/L. Rehm (Hg.): global benjamin, 3 Bde., München 1999. 2. B. Witte: Walter Benjamin, Reinbek bei Hamburg 1985.
Wolfgang Koeppen
* 23.06.1906, Greifswald † 15.03.1996, München Romancier, Reiseschriftsteller Koeppen wuchs als uneheliches Kind im Haus seines Onkels in Ortelsburg in Masuren auf. Nach dem Abitur arbeitete er u.a. als Schiffskoch, Kinoplatzanweiser und Dramaturg. Er studierte in Greifswald und Berlin u.a. in Theaterwissenschaft, Literaturgeschichte und Philosophie und war danach zunächst als freier Journalist tätig. 1931-33 leitete er das Feuilleton beim Berliner Börsen-Courier. Nach einer Italienreise debütierte er 1934 mit dem Roman Eine unglückliche Liebe im jüdischen Verlag Bruno Cassirer (Berlin). Von einem langen Aufenthalt in den Niederlanden kehrte Koeppen 1935 nach Deutschland zurück, um dort Nationalsozialismus und Krieg im "Abseits" zu überstehen. Mit einer Roman -'Trilogie' aus den frühen fünfziger Jahren setzt Koeppen Maßstäbe für die sozialkritische Literatur der Bundesrepublik und sichert ihr zugleich den Anschluß an die Romanästhetik der klassischen Moderne (James Joyce, Alfred Döblin u.a.). Die Handlungsschicht seiner Nachkriegsromane Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Der Tod in Rom (1954) wird von Assoziationsströmen überlagert; Montagen beziehen Schlager, Werbung und Radiosendungen in die Romantexte ein. Koeppen rechnet in ihnen die Kosten von Wirtschaftswunder-Mentalität und bundesdeutscher Verdrängung der Zeit des Nationalsozialismus für Mensch und Gesellschaft vor. Den überall herrschenden Marktgesetzen und der nackten Gewalt entgehen weder Liebe noch Sexualität, noch politisches Handeln. Allein für die Kunst läßt der Erzähler Hoffnung aufscheinen, warnt aber zugleich vor der Gefährdung durch den Sog der Kulturindustrie. Seine melancholische Prosa wird so zum Rückzugsort einer Sehnsucht nach Alternativen, die sich in der Wirklichkeit nirgends abzeichnen. In seinem meisterhaften, teilweise autobiographischen Prosaband Jugend (1976) treibt Koeppen seine Schreibweise bis an den Rand der Fragmentarisierung. Koeppens Werk wird heute, nach anfänglicher Ablehnung der konservativen Kritik, allgemein als substantieller Beitrag zur Literatur der frühen Bundesrepublik geschätzt; es wurde mit mehreren wichtigen Preisen ausgezeichnet. Um Koeppens Genrewechsel zum Reisebericht seit Ende der fünfziger Jahre und die dann ausbleibenden Publikationen gab es immer wieder Spekulationen; 1962 etwa mit dem Georg-Büchner-Preis.
© JV
Wichtige Schriften: ❍
Gesammelte Werke. 6 Bde. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki (1986)
Sekundärliteratur: 1. K.-H. Götze: Wolfgang Koeppen "Das Treibhaus", München 1985. 2. U. Greiner (Hrsg.): Über Wolfgang Koeppen, Frankfurt am Main 1976. 3. M. Hielscher: Wolfgang Koeppen, München 1988.
Peter Weiss
* 08.11.1916, Nowawes Potsdam † 10.05.1982, Stockholm deutschsprachiger Schriftsteller Als Sohn eines jüdisch-ungarischen, zum Christentum konvertierten Textilingenieurs und einer süddeutschen Schauspielerin wuchs Weiss in Bremen, Berlin und Wansdorf in Böhmen auf; das lebenslange Selbstgefühl der "Unzugehörigkeit" sah er später schon in Herkunft und Kindheit begründet. Gegen den Widerstand der Eltern, jedoch ermuntert von Hermann Hesse, studierte Weiss 1937/38 Malerei an der Prager Kunstakademie und unternahm erste literarische Versuche. In Schweden, wohin die Familie 1939 emigrierte, suchte er eine Künstlerexistenz zu begründen, gab die Malerei jedoch bald auf. Beeinflusst von Psychoanalyse und Surrealismus, widmete er sich in den fünfziger Jahren, inzwischen schwedischer Staatsbürger, der Filmarbeit. Prosatexte und ein erstes Drama thematisieren den lebensgeschichtlichen Komplex von Außenseitertum, Isolation und Flucht, fanden jedoch weder in Schweden noch in Deutschland Resonanz. Mit der Publikation des schon 1952 verfaßten experimentellen Prosatextes Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) gewann Weiss erste Anerkennung. Sodann überraschte er mit dem Rückgriff auf die autobiographische Erzählform in der Erzählung Abschied von den Eltern (1961) und dem Roman Fluchtpunkt (1962). Nach dieser psychoanalytisch inspirierten Aufarbeitung der Sozialisationsgeschichte des Bürgerkindes und der Emanzipation des individualistischen Künstlers wandte Weiss sich historisch-kollektiven Problemen und Prozessen - und damit dem Theater zu. Sein Stück Die Verfolgung und Ermordung des Jean Paul Marat (1964), in dem er Widersprüche der Französischen Revolution und ihrer Folgezeit zuspitzte und spektakulär in Szene setzte, brachte ihm internationalen Erfolg ein. Mit dem nachfolgenden Dokumentarstück Die Ermittlung (1965), das sich auf den Auschwitz-Prozeß bezieht, gab Weiss hingegen der Aufarbeitung faschistischer Vergangenheit in beiden deutschen Staaten wichtige Impulse. Das jahrzehntelang von Weiss verfolgte Projekt eines modernen Gegenstücks zu Dantes Divina Commedia ist mit diesen Stücken allenfalls bruchstückhaft realisiert worden; modellhaft steht es dann auch hinter dem ehrgeizigen Erzählwerk, an dem Weiss von 1971 bis kurz vor seinem Tod arbeitet. Die Ästhetik des Widerstands (3 Bde., 1975, 1978, 1981) verbindet Elemente einer fiktiven Autobiographie, des historischen Romans, des Essays und des Dialogs zu einem differenzierten Gesamtbild des antifaschistischen Widerstands in Europa,
diskutiert Streitfragen, Krisen und Niederlagen der politischen Linken von 1918 bis 1945 und reflektiert über die Funktion der Kunst bzw. der künstlerischen Arbeit für diese Linke. Die ebenfalls 1981 publizierten Notizbücher 1971-1980 fügen dem Roman die Dokumentation und Reflexion seines Entstehungsprozesses hinzu. Nach anfänglich großem Unverständnis für das Werk hat Die Ästhetik des Widerstands in der Folgezeit ein breites Lesepublikum gefunden und lebhafte politisch-kulturelle Debatten ausgelöst. Das so neu erwachte Interesse an Weiss führte auch zu seiner frühen Malerei und Filmarbeit zurück. Im Rückblick erscheint Weiss als eine zentrale Figur der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur (zugleich als ein Nachzügler des antifaschistischen Exils). Im zunächst verwirrenden Wechsel der Medien, Gattungen, Schreibweisen vermag der genauere Blick doch eine fast existentielle Kontinuität zu entdecken: Die lebenslange Suche nach "Zugehörigkeit", nach einem "festen Ort" für das private wie das politische Handeln. ©JV
Sekundärliteratur: 1. R. Cohen: Peter Weiss in seiner Zeit, Stuttgart 1992. 2. J. Vogt: Peter Weiss, Reinbeck 1987. 3. H. Vornweg: Peter Weiss, München 1981.
Peter Weiss: Abschied von den Eltern (1961) Mit seiner zweiten deutschsprachigen Veröffentlichung gelang Weiss nach dem Insidererfolg von Der Schatten des Körpers des Kutschers (1960) der Durchbruch als Prosaautor. Wie der nachfolgende und die Handlung fortführende Roman Fluchtpunkt (1962) ist auch die Erzählung Abschied von den Eltern stark autobiographisch geprägt, dabei aber durchaus historisch repräsentativ. Beide Texte zusammengenommen beschreiben den Sozialisationsprozess des Erzählers von den ersten Erfahrungen des Kleinkindes über das Verlassen des Elternhauses bis hin zur qualvollen Herausbildung einer (stets brüchig bleibenden) Autonomie und Identität des dreißigjährigen Künstlers. Die Erzählung setzt ein mit dem fast gleichzeitigen Tod der Eltern und rekonstruiert das entfremdete Zusammenleben der gutbürgerlichen Familie vor und nach der Emigration aus Nazideutschland, die über mehrere Länder nach Schweden führt; sie zeigt die Auseinandersetzung mit dem Vater und die Schwierigkeiten der Berufsfindung; sie endet mit dem Aufbruch aus dem Elternhaus. In Rückerinnerung und analytischer Reflexion reihen sich diese Erlebnisse und Wahrnehmungen zu einem ununterbrochenen Erzählstrom. Dabei zeigt sich die Nähe des Autors und seiner Schreibweise zur psychoanalytischen Assoziations- und Deutungstechnik. Einzelne Bilder, Figuren und Situationen treten wie Traumbilder konturenscharf aus dem individualgeschichtlichen Handlungsrahmen heraus. Damit gewinnt die Erzählung exemplarischen Charakter: Sie entwirft und deutet Konstellationen des alltäglichen Schreckens, die weniger einem individuellen Lebensschicksal entspringen, sondern vielmehr in den grundlegenden Strukturen der Familie und anderer Sozialisationsinstanzen in der krisenhaft erschütterten spätbürgerlichen Gesellschaft wurzeln. Die Fortsetzung Fluchtpunkt bietet demgegenüber, bei genauer Fixierung von Zeit, Ort und einer Figurengestaltung, die sich erkennbar an reale Weggefährten von Weiss anlehnt, eine recht präzise Darstellung des weiteren Lebenswegs. Dieser Roman beschreibt für den Zeitraum vom 8. November 1940 bis zum Frühjahr 1947 die Versuche des Erzählers, nun selbständig, in Auseinandersetzung mit dem Exilland Schweden und mit verschiedenen sozialen Schichten (Waldarbeiter, politisierende Emigranten), die eigene Identität zu fassen. Wiederum sind es jedoch vor allem ästhetische Erfahrungen (u.a. die Lektüre von Romanen Franz Kafkas und Henry Millers), die dem Ich einen festen Ort versprechen. ©JV
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Peter Weiss: Abschied von den Eltern. Erzählung, Frankfurt /M. 1961 u.ö. Fluchtpunkt, Roman, Frankfurt/M. 1962 u.ö.
Sekundärliteratur: 1. A. Beise: Peter Weiss, Stuttgart 2002. 2. F. Radvan: Abschied von den Eltern, München 2003. 3. 2. J. Vogt: Peter Weiss, Reinbek 1987.
Historische Leseforschung
Die Kulturtechnik Lesen muß als Werkzeug der Welterschließung und Kommunikation nicht nur von jedem Individuum neu erlernt werden: Lesen als soziales Handeln ist unausweichlich auch vom historischen Wandel geprägt. Die Erforschung der Geschichte des Lesens erfolgt interdisziplinär im Rahmen der Medien- und Literaturgeschichte, der Sozial- und Mentalitätsgeschichte, der Geschichte des Buchdrucks und Buchhandels und nicht zuletzt der Bildungsgeschichte. Der Rückblick auf das Leseverhalten in früheren Zeiten zeigt, daß fast nichts, was an den heutigen Lesefertigkeiten und -gewohnheiten als "normal" gilt, selbstverständlich ist. Da hilft die Rekonstruktion vergangener Leseepochen in ihrer jeweiligen Besonderheit, auch die Eigenart heutiger Umgangsweisen mit Buch, Zeitung oder Bildschirm-Text staunend zu begreifen. Wer liest wann? wo? was? wie? wozu? und wieviel? Mit diesen Fragen werden einige Parameter des Wandels erfaßt. In der griechischen Hochkultur war das laute Lesen von Texten wenig mehr als eine Hilfestellung für die daraus erwachsende mündliche Rede. Bis in die Zeit nach der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern - Mitte des 15. Jahrhunderts durch Johannes Gutenberg in Mainz - legte das jeweilige Speichermedium die körperliche Rezeption der Botschaft fest: Die fragilen Papyrusrollen der Antike nahmen beide Hände zum Abspulen in Beschlag. Die schweren, großen (und teuren) Manuskriptbände (Kodizes) aus Pergament waren hingegen so eng und ohne Abstand zwischen den Einzelwörtern beschrieben, daß beim Lesen laut buchstabiert werden mußte, um die Sinneinheiten zu erfassen buchstäblich mit Hilfe des am Text entlang gleitenden Fingers. Der Kodex lag auf Tischplatte oder Lesepult und konnte nicht an beliebigen Orten gelesen werden. Bis ins Hochmittelalter wurde nur professionell gelesen: in den Klöstern, wo die kanonischen Texte (geistliche wie weltliche) aufbewahrt, abgeschrieben und studiert wurden. Zwischen 1500 und 1700 sind nur 2-4 % der Bevölkerung lesekundig, obgleich der frühbürgerliche Handel und das Rechtswesen in den Städten neue Lese- und Schreibanlässe schuf. Die Reformationszeit verstärkte die Lesebedürfnisse im privaten Raum. Religiös motivierte Lektüre, bis ins 18. Jahrhundert die Funktion des Umgangs mit Büchern, war eine ehrfurchtsvolle, laute und familiäre Wiederholungslektüre der Bibel und anderer vererbter Bücher mit einem als zeitlos begriffenen Gehalt. Diese Lektüre war oft zeitlich ritualisiert (Jahreszeiten, bestimmte Tage, Tageszeiten). Im 18. Jahrhundert, der Epoche der Aufklärung, entstehen in rasantem Tempo ein bürgerliches Lesepublikum und damit neue Leseformen. Während für männliche Leser nach dem Eintritt ins Berufsleben Sachbücher und informierende Schriften
im Vordergrund stehen, verbreitete sich die Lektüre von Belletristik, besonders der handlichen Romane, unter Mädchen und Frauen gehobeneren Standes immer weiter. Nicht wenige wollten im Zeitalter der Vernunft in der "Frauenzimmer"Lektüre Unmoral, Zeitverschwendung und Pflichtvergessenheit erkennen und versuchten, diese neue "Lesesucht" zu bekämpfen. Lesezirkel, Lesekabinette und Lesegesellschaften machten die noch immer sehr teuren Bücher, daneben auch Zeitschriften und Zeitungen den Männern in geselliger, oftmals demokratisch verfaßter Runde zugänglich. Hingegen konnten die Frauen ihre Benachteiligung im öffentlichen Leben bei der Lektüre belletristischer Texte zumindest vorübergehend kompensieren. Wie zeitgenössische Grafiken zeigen, fand damals eine starke Veränderung der körperlichen Lesehaltung statt: Stimme, Ohr und Hände treten zurück, das Lesen bleibt den Augen überlassen. Wer las, klinkte sich aus dem Erfahrungsraum seiner Um- und Mitwelt aus, um eigene Erfahrungen durch und mit dem jeweiligen Text zu machen. Im 19. Jahrhundert finden fast nur noch quantitative Verschiebungen im Leseverhalten statt: Ein Massenpublikum entstand, das mit Hilfe von neuen Erfindungen (Papier aus Zellstoff statt aus Lumpen, Schnellpresse, Gießmaschine, Setzmaschine, Rotationsmaschine etc.) schneller, billiger und effektiver bedient werden konnte: Die Lektüreindustrie bediente im letzten Drittel des Jahrhunderts sowohl die Bildungsbürger (v.a. Klassikerausgaben) als auch proletarische und kleinbürgerliche Schichten (Kolportageromane in fortlaufenden Teillieferungen) mit immer neuem Lesestoff. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde die Alphabetisierung fast vollständig erreicht. Neue, leichter konsumierbare Medien wie Rundfunk, Film und Fernsehen konkurrierten im 20. Jahrhundert mit der, obwohl es noch nie so viele neue Bücher gegeben hat wie im vergangenen Jahrhundert. Neue, oft medienintegrative Speichermedien wie der Computer und das Internet verändern die alltäglichen und populären Lesegewohnheiten derzeit abermals, bringen aber auch anspruchsvolle neue Formen wie Hypertext, Hyperfiction und Netzliteratur hervor. © pflug Sekundärliteratur: 1. B. Franzmann / K. Hasemann u.a.: Handbuch Lesen, München 1999. 2. H. Günther / O. Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and its use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationale Forschung, Berlin u.a. 1994-1996. 3. E. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987
Buchmarktforschung
Die B. ist eine Aufgabe der empirischen Sozialwissenschaften und wird meist von Umfrage-Institutionen (Allensbach, Infratest, Bertelsmannstiftung, Stiftung Lesen etc.) im Auftrag von Marktteilnehmern (Verlage, Buchclubs, Verbände) durchgeführt. Daneben gibt es auch universitäre Studien. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Frage nach der demographischen Verteilung von Lesegewohnheiten der Bevölkerung. Die gewonnenen Daten dienen mitunter wissenschaftlichen Fragestellungen, vor allem jedoch einer verbesserten Steuerung der Buchproduktion und -distribution. Relevante Fragestellungen zielen auf die Häufigkeit und den Anlass von Lektüren: Was wird gelesen? Belletristik oder Sachbücher oder Zeitschriften? Trivialliteratur oder anspruchsvolle Literatur? Wie verteilen sich die Lesestoffe über bestimmte Bildungsschichten? Bei welcher Gelegenheit wird gelesen? Wie lange? Wo? Wieviel? Warum? etc. Auch das Verhältnis von Lesen und anderen Mediennutzungen steht im Interesse der B., außerdem die Beantwortung der Frage, wie ein (das) Buch zum Leser kommt: Jeweils 30% der Befragten geben an, Bücher geschenkt oder geliehen zu bekommen, 40-60% (je nach Studie) kaufen Bücher. Die Buchwahl erfolgt in etwa 40% der Fälle aufgrund bestimmter Interessen, 60% erfolgen aufgrund der Vermittlung durch Freunde, Familie, Buchhandelsauslagen, Verfilmungen Rezensionen, Bestsellerlisten etc. Solche Ergebnisse sind allerdings mit Vorsicht zu betrachten, da die Institutionen, welche die Erhebungen durchführen, ihre Fragestellungen bis heute nicht vereinheitlicht haben. Dementsprechend liegen auch Daten vor, die andere Verhältnisse aufzeigen als die hier genannten. Relativ konstant bleibt in den zurückliegenden dreißig Jahren der Befund, dass etwa ein Drittel der Befragten Vielleser sind, ein weiteres Drittel den Nichtlesern zuzurechnen ist und die letzte Gruppe der gemäßigten Leser ebenfalls etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmacht. Die Konstanz dieser Zahlen lässt angesichts der rasch wachsenden Medienkonkurrenz durch das Fernsehen und andere elektronische Medien verwundern. Erstaunlich erscheint umgekehrt die Stabilität der (Nicht-) Leserschaft angesichts der Bildungsexpansion seit Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, zu deren Zielen auch die Ermöglichung eines allgemeinen Zugangs zur Kulturtechnik Lesen gehörte. Aufwendiger sind Studien zur Lesesozialisation, die den Wandel der Bedeutung des Lesens im Lebensverlauf rekonstruieren. ©pflug
H. Bonfadelli: Leser und Leseverhalten heute. In: B. Franzmann, K. Hasemann, D. Löffler, E. Schön (Hg.): Handbuch Lesen, München 1999. S. 86-144.
Sekundärliteratur: 1. B. Franzmann, K. Hasemann, D. Löffler, E. Schön (Hg.): Handbuch Lesen, München 1999. 2. H. Eggert, Ch. Garbe: Literarische Sozialisation, Stuttgart 1995.
Psychoanalytische Literaturwissenschaft
Die Anfänge der psychoanalytischen Literaturwissenschaft fallen mit der Entwicklung der Psychoanalyse um 1900 durch Sigmund Freud zusammen. Im Gegensatz zur Auffassung der Psychiatrie seiner Zeit geht er nicht mehr länger davon aus, daß es für nervliche Störungen organische Ursachen gibt, sondern führt sie auf unbewußte Wünsche, Konflikte und Traumata zurück. Eine Möglichkeit, diesem Unbewußten auf die Spur zu kommen, ist die Traumdeutung. In den Träumen, die seine Patienten ihm erzählen, versucht Freud, eine tieferliegende Problemstruktur zu erkennen. Dies kann zum Beispiel ein nicht verarbeiteter Ödipuskomplex sein. In seiner Traumdeutung interpretiert Freud dann auch zum ersten Mal einen literarischen Text - Shakespeares Hamlet psychoanalytisch. Literarische Texte werden als "Tagträume" den Träumen prinzipiell gleichgesetzt. Er deutet Hamlets Zögern, den Mörder seines Vaters zu töten, als Ausdruck des unbewußten Todeswunsches gegen den Vater, den Hamlet in der ödipalen Phase, als er seine Mutter begehrte, verspürte und noch nicht überwunden hat. Freud analysiert immer wieder literarische Werke, oft mit der Absicht, Teile seiner Theorie zu verdeutlichen. Hier ist er direktes Vorbild für eine psychoanalytisch orientierten Literaturwissenschaft, die mit den Werkzeugen der Psychoanalyse allerdings nicht nur literarische Texte, sondern auch Autoren und Leser verstehen will. Die Analyse der psychischen Verfassung des Autors wird möglich, weil die Werke ja als eine bestimmte Form des Tagtraums aufgefaßt werden. Und die Rezeption rückt insofern in das Zentrum des Interesses, als die emotionalen Reaktionen der Leser auf deren unterschiedliche seelische Entwicklung zurückgeführt werden können. Ein Hauptvertreter dieser psychologischen Rezeptionstheorie ist Norman N. Holland. Natürlich blieb diese an Freud orientierte psychoanalytische Methode nicht unkritisiert. Der Textinterpretation wirft man vor, die Komplexität eines literarischen Kunstwerks aus dem Blick zu verlieren und die heterogensten Geschichten, Handlungen und Personen immer wieder auf dieselben psychologischen Grundstrukturen zurückzuführen. Und die Analyse der Autorpsyche erscheint problematisch, weil eine Erzählung, ein Roman oder ein Drama mehr sind als halbbewußte Tagträume. Diese Texte sind bewußt erschaffen, bearbeitet und konstruiert worden und stehen mit der ursprünglichen Phantasie des Autors nur in einem mittelbaren Verhältnis. Neben diesen auf Freud aufbauenden literaturwissenschaftlichen Ansätzen gibt es auch Richtungen, die sich auf seinen Schüler Carl Gustav Jung beziehen oder auf den Poststrukturalisten Jacques Lacan. Jung sieht den literarischen Text als Möglichkeit, verschüttete Archetypen, das sogenannte kollektive Unbewußte, dem Leser wieder zugänglich zu machen. Er geht davon aus, daß bestimmte archaische Strukturen und Vorstellungen die Zeit zwar überdauern, aber für den Menschen nicht immer zugänglich, sondern vom Zeitgeist gleichsam verschüttet
sind. Dies berge die Gefahr einer Entfremdung von den eigentlichen Wurzeln der Existenz. Um dieser Entfremdung zu entgehen, wendet sich der einzelne an den Dichter, der jetzt zum Erzieher wird, indem er "sozusagen jedem ermöglicht [...], wieder den Zugang zu den tiefsten Quellen des Lebens zu finden". (S.38) Eine breite Aufnahme fanden psychoanalytische Ansätze auch in den Reihen der feministischen LiteraturwissenschaftlerInnen. Kein Wunder, wenn man an die spezifischen Frauen- und Männerbilder der Psychoanalyse denkt. Hier sind vor allem Simone de Beauvoir und Kate Millet zu nennen, die sich mit Freud kritisch auseinandersetzten, sowie Lucy Irigaray und Julie Kristeva, die stellvertretend für die neue französische Schule stehen und über Freud hinaus Jacques Lacan in den Blick nehmen. ©rein
Carl Gustav Jung: Über die Beziehung der analytischen Psychologie zum literarischen Kunstwerk [1920], in: Bernd Urban (Hg.): Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Texte zur Geschichte ihrer Beziehung, Tübingen 1973, S.18-39.
Sekundärliteratur: 1. T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1992. 2. H. Gallas: Psychoanalytische Positionen, in: H. Brackert/ J. Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1992, S.593-606. 3. L. Rühling: Psychologische Zugänge, in: H. L. Arnold/ H. Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S.479-497.
Deutschunterricht
Organisierte Unterweisung in der Volkssprache gibt es zwar seit dem Mittelalter, doch erst mit der Entwicklung der neuzeitlichen Schule gewinnt sie breitere Bedeutung. Dabei sind Elementar- und höheres Bildungswesen zu unterscheiden. Auch die staatliche Volksschule bleibt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein unter dem Einfluss der Kirchen (die sich traditionell um die Grundlagenbildung der Unterschichten kümmerten). Zwar wird mit der allgemeinen Schulpflicht im 19. Jahrhundert die Bibel als Medium der Leseerziehung durch Fibel und Lesebuch ersetzt. Pestalozzis Idee einer umfassenden Menschenbildung wird jedoch in der Volksschule nicht realisiert: sie soll zufriedene Untertanen produzieren. Schüler und Lehrer werden vor aufklärerischen Gedanken 'geschützt'. Deshalb ist preußischen Volksschullehren die Befassung mit pädagogischer Theorie und sogar die private Lektüre 'Klassischer Literatur' untersagt! Für die Volksschulen wird 1872 vorgeschrieben, "eine Anzahl poetischer Stücke durch gutes Memorieren zum bleibenden Eigentum der Schüler" zu machen, vor allem "Proben aus den Hauptwerken der vaterländischen, namentlich der volkstümlichen Dichtung". Der Deutschunterricht am Gymnasium hängt - wie die Entwicklung der Germanistik als Fachwissenschaft - eng mit dem nationalen Denken des 19. Jahrhundert zusammen. Zunächst wandelt sich der traditionelle Rhetorikunterricht an griechischen oder lateinischen Mustern zur interpretierenden Befassung mit deutscher Dichtung. Im Kontext einer nationalen Neubestimmung des Sprachunterrichts (R. Hildebrand, 1867) etabliert sich ein eigenständiges Fach Deutsch. Im neuen Reich soll das Realgymnasium sogar den "deutschmodernen Mittelpunkt" (Otto Lyon, 1893) bilden. Seit 1892 gilt - nach einer Intervention Kaiser Wilhelms II. - die Reifeprüfung ohne ausreichende Leistungen im Fach Deutsch als nicht bestanden. Gefördert wird allerdings nicht wissenschaftlich fundierte Interpretation oder Literaturgeschichte, sondern eine "Hingebung an die Betrachtung" literarischer Werke (Gymnasialrichtlinien 1862); die Klassenlektüre mündet gern in allgemeingültige, auswendig zu lernende Leitsätze. Später hat die 'Kunsterziehungsbewegung' Reformimpulse für eine ästhetische Bildung gegeben, ideologisch bleibt sie jedoch eine Variante obrigkeitsstaatlicher Nationalerziehung. Solche Tendenzen setzen sich in der Weimarer Republik fort: An der Volksschule pflegen Deutschunterricht und Heimatkunde eine bodenständige Heimatkultur (gegen Intellektualität und Internationalismus). Im höheren Schulwesen hat der 1912 gegründete "Deutsche Germanistenverband" mit seinem Kampf für eine 'Deutsche Oberschule' Erfolg. Um einen erneuerten Deutschunterricht (Sprach- und Literaturkunde mit starker Fundierung in der idealistischen Philosophie) gruppieren sich die "deutschkundlichen Fächer" (Geschichte, Erdkunde aber auch Naturwissenschaften). Der Übergang zum
Nationalsozialismus verläuft weitgehend störungsfrei; eine aggressive Nationalerziehung stellt - neben Geschichte, Biologie und Erdkunde - die literarische Unterweisung in den Dienst von völkischer Rasseerziehung und Propagierung eines Führer- und Heroenkultes. In der Nachkriegsdidaktik lassen sich eine idealistische, eine formalistische und eine kritische Phase unterscheiden. Das Beharren auf den zeitlos-humanen Werten des klassischen Menschenbildes (z.B. Robert Ulshöfer 1963) entspricht einer Politik, die jede Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte vermeidet. Doch wird ein Literaturunterricht, der Politisches idealisiert und die Natur idyllisiert, angesichts des technisch-ökonomischen Aufschwungs ('Wirtschaftswunder') anachronistisch. Seine Kritiker (z.B. Herrmann Helmers 1966) plädieren für eine präzise Analyse ästhetischer Strukturen. Impulse aus einer selbstkritisch gewordenen Germanistik und der Studentenbewegung führen schließlich zur grundlegenden Erneuerung des Deutschunterrichts, dessen Modernitätsrückstand immer offensichtlicher geworden waren (exemplarische Kritik bei Heinz Ide 1970). Unter dem Einfluss der Curriculumtheorie soll die schulische Vermittlung vor allem von gesellschaftsbezogener Literatur nun emanzipatorisch genutzt werden. Der heftig umstrittene hessische Entwurf für "Rahmenrichtlinien Deutsch (Sekundarstufe I)" formuliert 1972 die wichtigsten Tendenzen der kommenden Jahre: Abkehr von einem tradierten Werk-Kanon sowie Wiederentdeckung historisch oder sozial verschütteter Literatur; Ausrichtung des Unterrichts an Schülerinteressen (Lernziel- statt Stofforientierung); stärkere Betonung der mündlichen Kommunikation. Unter dem Einfluss der soziolinguistischen Forschung dominiert 'emanzipatorischer Sprachunterricht' zeitweise über einen Literaturunterricht, in dem ästhetische Texte ohnehin von Gebrauchstexten aller Art verdrängt zu werden drohen. In den 80er und 90er Jahren finden wir ein breites Spektrum konkurrierender Konzepte: Eine der Kritischen Theorie verpflichtete Didaktik, die Literaturunterricht als Medium historischer Aufklärung sieht (Christa Bürger, Jürgen Kreft); eine ästhetische Erziehung (Norbert Hopster), in der der Umgang mit Literatur Freiräume zur Selbstfindung schaffen soll; verschiedene Varianten projekt- und handlungsorientierten Umgangs mit Literatur (z.B. Ingo Schellers "erfahrungsbezogenes Lernen"). In jüngster Zeit verstärken sich - nicht zuletzt unter dem Eindruck der PISA-Studie - Tendenzen zu einer Rückkehr zum Kanon. Insgesamt herrscht ein Methodenpluralismus vor, der zwar bildungspolitischen Fortschritt signalisiert, aber auch ein Indiz für den Funktionsverlust der Literatur ist. An die Stelle der ideologischen Prägung durch Literatur tritt inzwischen ein vielfältiges Geflecht medialer Beeinflussung. © HK Sekundärliteratur:
1. K.-M. Bogdal / H. Korte (Hg): Grundzüge der Literaturdidaktik, München 2002. 2. H. J. Frank: Geschichte des Deutschunterrichts, München 1973. 3. E. K. Paefgen: Einführung in die Literaturdidaktik, Stuttgart u.a. 1999.
Lesebuch
Textsammlungen zum Einüben der Lesetechnik gab es schon in der mittelalterlichen Lateinschule; sie enthielten nur religiöse Texte. Im 15./16. Jahrhundert wurden sie durch - nicht auf die Schule beschränkte - Realienbücher ergänzt, die in Abgrenzung zu Bibel, Katechismus und Fibel Wissenswertes aus Naturkunde, Geografie und Geschichte versammelten. Prototyp des modernen Lesebuchs ist jedoch Eberhard von Rochows Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen (1776), das als erstes profanes Buch in den Mittelpunkt des Unterrichts rückt. Es präsentierte in kurzen, vom Herausgeber selbst verfassten Texten vorbildliche Gestalten und mahnende Beispiele - und verwies schon auf die künftige Sozialisations-Funktion des Mediums. Methodisch imitierte die Leseerziehung des 18./19. Jahrhunderts den Katechismus-Unterricht. Ein Text war eindeutig zu verstehen, sein Sinn abschließend in einer - auswendig zu lernenden - Sentenz zu formulieren. Im eigenständigen Deutschunterricht kam es seit dem 19. Jahrhundert zur Durchsetzung neuer Lesebücher. Die moderne Schule basierte nicht mehr auf Glaubensvermittlung, sondern auf der Tugendlehre des Bürgertums. Durch seine Textauswahl, Textaufbereitung und Textpräsentation war das Lesebuch geeigneter Vermittler eines neuen Wertesystems. Zunächst bemühte man sich um eine Auswahl mustergültiger Proben deutscher Dichtung ("deutsche Chrestomathie"). Der Versuch eines bayrischen Ministerialbeamten, Goethe persönlich als Herausgeber eines Lesebuchs zu gewinnen, ist 1808 zwar gescheitert, doch erschienen kurz danach die ersten Bücher, die sich in der Textauswahl an den literarischen Anthologien der Zeit orientierten. Als der Deutschunterricht Mitte des 19. Jahrhunderts stärker zum Instrument der Nationalerziehung wurde, geriet das literarische und aufklärerische Konzept in Vergessenheit. Neue Lesebücher (z.B. Philipp Wackernagels Deutsches Lesebuch von 1843) wurden bewusst zur Vermittlung bürgerlich-nationaler Tugenden eingesetzt. Um 1900 ist das Lesebuch eine der wichtigsten Quellen nationaler Bildung; der Blick auf die ältere, besonders auch mittelalterliche Literatur das 'deutsche Wesen' bewahren. In den Volksschul-Lesebüchern dominieren bis weit ins 20. Jahrhundert moralisierende Beispielgeschichten, die den Kindern ihre Haltung zu Gott, Kaiser und Eltern, zur Arbeit und zum eigenen sozialen Schicksal vorgaben und zu Fleiß, Gehorsam und sozialer Genügsamkeit erzogen. Besonders beliebt waren - neben den vom Herausgeber verfassten Originaltexten Sprichwörter, Fabeln oder Parabeln. Die Kritik fortschrittlicher Bildungspolitiker an der Agrarromantik und am monarchistischen Grundton auch der Lesebücher in der Weimarer Republik blieb erfolglos. Mit geringen Korrekturen und eingefügten Hitler-Zitaten konnten vertraute lesepädagogische Traditionen in die rassekundlich-völkische Erziehung des nationalsozialistischen Staates integriert werden.
Gegen die Abirrungen des Nationalsozialismus sollte nach 1945 eine unpolitische Bildung gesetzt werden. Unter dem Anspruch zeitlos-ewiger Werte dominierten in den Nachkriegs-Lesebüchern realitätsferne Texte, die einen verschwommenen Heimatgedanken pflegten. Die literarische Funktion von Lesewerken wie Sieben Ähren oder Silberfracht trat deutlich hinter ihre ideologiebildende zurück. Diese "Gesinnungslesebücher" wurden Mitte der 60er Jahre jedoch sowohl von Literaturwissenschaftlern (wegen ihrer ästhetischen Dürftigkeit) wie auch von Bildungspolitikern (wegen ihres anachronistichen Weltbildes) kritisiert. In der Folge entwickelten Fachdidaktiker wie Herrmann Helmers - analog zur Schule der werkimmanenten Interpretation in der Germanistik - das "Literarische Arbeitsbuch", dessen stoff- und formorientierte, vorgeblich ideologiefreie Konzeption einer emanzipatorischen Bildung dienen sollte. Im Kontext von Studentenbewegung und heftiger Diskussion um die Reform des Deutschunterrichts wurde aber auch dieses Modell in Frage gestellt. Kritikpunkte waren das gattungspoetische Gliederungsprinzip, der enge Literaturbegriff und der mangelnde Bezug der Texte zur sozialen Wirklichkeit, besonders auch zur Lebenswelt der Schüler/innen. Gefordert wurde die Berücksichtigung unterschiedlicher Schülererfahrungen bei der Textauswahl. Fächerübergreifende, "projektorientierte Lesebücher" mit einer weit gestreuten Textauswahl sollten dies leisten. In der Folge sind zahlreiche neue Lesewerke entstanden, die diesen Anspruch durchaus einlösten (z.B. Kritisches Lesen, Drucksachen). Um die Drucksachen gab es in den 70er Jahren, von konservativer Seite ausgelöst, nochmals eine heftige Kontroverse - aus heutiger Sicht ein NachhutGefecht. Das Thema "Lesebuch" hat in den letzten dreißig Jahren deutlich an Brisanz verloren. Das hängt sicher auch mit der zunehmenden Ersetzung durch Projektmaterialien, Arbeitsblätter und Fotokopien zusammen, aber auch mit einem objektiven Bedeutungswandel der Literatur. In einer von elektronischen Medien geprägten Gesellschaft haben Fernsehen, Werbung usw. schon einen großen Teil der Sozialisations-Funktion des Lesebuchs übernommen. Dennoch ist derzeit ein breites Angebot unterschiedlich konzipierter Bücher auf dem Markt, die die Schüler/innen weder indoktrinieren noch revolutionieren wollen. © HK
Sekundärliteratur: 1. H. Helmers (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch, Darmstadt 1969. 2. H. Helmers: Geschichte des deutschen Lesebuchs in Grundzügen, Stuttgart 1970. 3. H. Geiger (Hg.): Lesebuchdiskussion 1970-1975, München 1977.
Sachbuch engl.: non-fiction
Üblicherweise unterscheidet man das S. von Belletristik sowie dem wissenschaftlichen Fachbuch. Begrifflich löst S. das sog. populärwissenschaftliche Buch des 19. Jahrhundert ab, welches die Bildungsbedürfnisse des aufstrebenden Bürgertums bedient hatte. Als S. im engeren Sinne werden solche Texte bezeichnet, die in belehrender und zugleich unterhaltsamer Form wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Bereichen Politik, Kultur, Wirtschaft, Geschichte, Erdkunde Gesellschaft u.v.m. an einen nichtwissenschaftlichen Leserkreis (Laienpublikum) weitergeben. Die Verfasser sind oftmals selbst keine Wissenschaftler des präsentierten Gegenstandbereichs, sondern Journalisten oder Autodidakten, die im Auftrag eines Verlags ein Thema interessant darstellen sollen. Sachbücher weichen von wissenschaftlicher Systematik ab. Ihre Gestaltung zielt vielmehr darauf ab, bestimmten Erwartungen eines Publikums entgegenzukommen, das diese Bücher - wie Belletristik - freiwillig liest. In leicht konsumierbarem, teilweise literarisiertem Stil und mit Hilfe von 'schönen' Illustrationen soll ein Bildungserlebnis suggeriert und ein entspannender Genuß erzeugt werden. Sachbücher lassen sich unterscheiden in narrative (Wissenschaftsgeschichte, Reisebericht), dokumentarische (Museumsführer, Bildbände), biographische (Lebensgeschichten), anleitende (Ratgeber) und enzyklopädische (Darstellung eines Fachgebiets) Titel. Sachbuchtitel bilden den weitaus größten Anteil des Buchmarktes (1969: 80,5%). In zunehmendem Maße stehen Sachbücher heute unter Konkurrenz von Zeitschriften und Fernsehformaten - Massenmedien mit teilweise gleicher Funktion, aber besserer Zugänglichkeit und höherer Anschaulichkeit. © pflug Sekundärliteratur: 1. K. Doderer: Das Sachbuch als literaturpädagogisches Problem, Frankfurt am Main 1962. 2. L. Fischer et al. (Hg.): Gebrauchsliteratur. Methodische Überlegungen und Beispielanalysen, Stuttgart 1976. 3. R. Gläser: Kommunikative und ästhetische Funktionen des Sachbuchs der Gegenwart, in: J.-F. Leonhard et al. (Hg.): Medienwissenschaft. 2. Teilband, Berlin 1999.
Freizeitlektüre / Schullektüre
Kinder und Jugendliche lesen in ihrer Freizeit nicht nur anderes, sondern auch anders als in der Schule. Dieser Befund klingt trivial, stellt aber eine große Herausforderung für die schulische Leseförderung dar. Lesen in der Freizeit ist selbstbestimmt und häufig lustbetont. Zahlreiche empirische Untersuchungen aus der Buchmarktforschung bestätigen, daß die Befragten in der Vorpubertät geradezu lesesüchtig waren (dies wird im übrigen auch von älteren autobiografischen Zeugnissen, gerade auch von Schriftstellern, bestätigt). Die Lektüre von oftmals stereotypen Texten ("heile Welt" und happy-end, Abenteuerromane, Fantasy-Geschichten mit allmächtigem Helden und rigiden Normsystemen) wird als Rückzugsraum gegen die pädagogisch-moralisierenden Einwendungen Erwachsener verteidigt. Es wird daher vermutet, daß sich Jugendliche in ihren Lektüren mit den Normen der Erwachsenenwelt mehr oder weniger unbewusst auseinandersetzen. Deren Interessebekundungen gegenüber der jugendlichen Lektüre wird beargwöhnt: Zurecht oder jedenfalls verständlich, wie die historische Leseforschung zeigt; - dokumentiert sind jedenfalls die endlosen Bemühungen von Eltern, Lehrern, Pfarrern und anderen pädagogischmoralischen Instanzen, die Lektüren der Kinder und Jugendlichen einzudämmen und zu kanalisieren. Weniger triviale, ebenfalls oft anzutreffende Texte sind in der ausgehenden Pubertät zu finden, wo persönliche Identitätsfragen eine dominante Rolle spielen: z.B. Romane von Max Frisch oder Hermann Hesse, Autobiografien und Biografien. Erzieherische Versuche, diese Lektüren aktiv zu steuern, treffen auf erheblichen Widerstand. Dennoch gibt es nachweisbare Einflussfaktoren, die steuern, ob und was jemand liest: das Leseverhalten der Eltern, die besuchte Schulform, die soziale Schicht sowie das Leseverhalten im Freundeskreis. Auch das Geschlecht spielt eine wichtige Rolle: Mädchen lesen insgesamt mehr, aber auch deutlich mehr Unterhaltungs- und Trivialliteratur als Jungen und weniger Sachbücher. Die Grundschulzeit zeigt noch starke Überschneidungen zwischen Freizeitlektüre und Schullektüre, wobei die Schule immer mehr Aspekte literarischer Sozialisation übernehmen muss, die zuvor im Normalfall durch das (bürgerliche) Elternhaus vermittelt wurden. Überraschend einstimmig sind die Aversionen gegen die darauf folgende schulische Behandlung von Literatur, insbesondere in der Sekundarstufe I. Die an Sachlichkeit orientierte Methode der Interpretation im Unterricht werden oft als fremdbestimmtes "Zerreden" von Literatur wahrgenommen. Nicht nur sind die Texte andere als die, welche von den Jugendlichen in ihrer Freizeit gelesen werden – vor allem wird die Art und Weise der Auseinandersetzung mit Literatur, die zur autonomen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigen soll, entschieden abgelehnt: Triebgesteuerte Lektüre, die dem noch schwachen Ich Kompensation und Freiräume verschaffen kann, die den Text den eigenen Bedürfnissen unterordnen (und nicht umgekehrt),
können und wollen Schüler/innen aus ihrem persönlichen Entwicklungsprozess heraus nicht rational analysieren und kommunizieren. Versuche, sich den subjektiven Schülerinteressen anzunähern, indem die Freizeitlektüre in den Unterricht (oder gar in den Lehrplan) integriert wird, sind zwar gut gemeint, verfehlen aber aufgrund dieser unterschiedlichen Interessen und Funktionen zumeist das Ziel, die Lesemotivation der Schüler/innen zu steigern. Vielversprechender erscheinen deshalb Versuche, eine selbst bestimmte Lesekultur in der Schule zu entwickeln, die verstärkt auch ausserunterrichtliche Aktivitäten umfasst: Klassen- bzw. Schülerbibliothek, gemütliche Leseecken, gemeinsame Lesenächte, Autorenlesungen usw. sind entsprechende Aktivitäten. Im Unterricht soll die Besprechung von Texten der Kinder- und Jugendliteratur und eine größere Offenheit gegenüber subjektiven Lektüren und Textdeutungen das Dilemma mildern. © pflug Sekundärliteratur: 1. H. Eggert / Ch. Garbe: Literarische Sozialisation, Stuttgart 1995. 2. B. Franzmann / K. Hasemann / D. Löffler / E. Schön (Hg.): Handbuch Lesen, München 1999. 3. C. Rosebrock (Hg.): Lesen im Medienzeitalter, Weinheim 1995.
Homer: Ilias (2. Hälfte des 8. Jhs v. Chr.) Odyssee (um 700 v.Chr.)
Francesco Petrarca
* 20.7.1304, Arezzo † 18./19.7.1374, Arquà bei Padua
Mit Dante Alighieri und Giovanni Boccaccio bildet Francesco Petrarca jenes Dreigestirn, das dem italienischen Trecento, dem 14. Jahrhundert, den Ruf einer literarischen Blütezeit eingebracht hat. Auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Renaissance bildete sich mit dem humanistischen Lebensgefühl die Idee eines 'neuzeitlichen Menschen' heraus, die Petrarca in besonderer Weise verkörpert. Als Sohn eines aus Florenz verbannten Notars wuchs Petrarca teils in Italien, teils in der Umgebung des Papsthofes in Avignon auf. Nach einem Jurastudium erhielt er 1326 die Weihe zum Geistlichen. Allerdings stand ihm der Sinn mehr nach dem Studium der antiken Autoren und einer eigenen dichterischen Produktion. Neuzeitlich gesprochen: Petrarca setzte ganz auf eine philosophisch-literarische Karriere und begab sich auch immer wieder in Abhängigkeit von weltlichen und kirchlichen Herren, um die eigenen Projekte voranzutreiben. Seinem unsteten Leben, das von vielen Wohnortwechseln und Reisen geprägt war, entspricht ein vielgestaltiges Werk. Petrarcas Hauptaugenmerk galt der Wiederentdeckung antiker Autoren. Unermüdlich suchte er auf seinen Reisen nach verschollenen Handschriften. In seinen in lateinischer Sprache abgefaßten Schriften, dem weitaus größten Teil seines Werkes, waltet das Prinzip einer produktiven Auseinandersetzung mit den antiken Vorlagen. Beispielhaft in dieser Hinsicht sind das Epos Africa (1338-43) oder die Biographiensammlung De viris illustribus (dt. Von berühmten Männern, 1338 ff.). Weiterhin versuchte Petrarca, die antike Philosophie mit der zeitgenössischen christlichen zu verbinden. Mit dem Dialog Secretum (1342/43, dt. Gespräch über die Weltverachtung ) wandte er sich direkt an den Kirchenvater Augustinus, um das Verhältnis von Glauben und Dichtung zu diskutieren. In De vita solitaria (1346-56, dt. Vom einsamen Leben) oder De otio religiosorum (1347, dt. Von der Muße der Mönche) werden Weltflucht und Meditation beschworen, aber zunehmend in den Dienst der Dichtung gestellt. Petrarcas Bedeutung als führender Geist des Frühhumanismus liegt jedoch in seinen zahlreichen, oft in Hexametern abgefaßten Kunstbriefen. Sie richten sich an tote (Cicero, Seneca, Homer) oder lebendige (Boccaccio) Freunde und Verwandte des Dichters und bilden in ihrer Gesamtheit - trotz starker Selbststilisierung - eine erste moderne Autobiographie. Immer wieder wird die Schilderung seines Aufstiegs zum provencalischen Berg Mont Ventoux zitiert,
die Petrarca 1336 unternahm. Das Neuartige an dieser Schilderung besteht in der Naturwahrnehmung, die sich von der symbolischen Landschaftserfahrung des Mittelalters abhebt. Andererseits kommt hier ein Ich zur Sprache, welches das eigene konkrete Erleben von Raum und Zeit nicht mehr in einem göttlichen Zusammenhang aufgehoben sieht. Einige Interpreten haben diesen Brief deswegen auch als die Geburtsurkunde der modernen Subjektivität gelesen. Unserer Zeit ist Petrarca aber vor allem durch ein in der Volkssprache Italienisch abgefaßtes Werk in Erinnerung geblieben: den Canzoniere (1342-74, ersch.1470). Der vollständige Titel Des lorbeergekrönten Dichters Francesco Petrarca Bruchstücke in der Volkssprache scheint anzuzeigen, daß Petrarca seinen italienischen Dichtungen eine geringe Bedeutung zumaß. Tatsächlich aber war er immer wieder um Verbesserungen bemüht und starb schließlich über der neunten Fassung der Texte. Der Canzoniere mit seiner unsterblichen Figur der Geliebten Laura (der Petrarca 1327 erstmals begegnet sein will) weist seinen Autor als Meister der Liebeslyrik aus und macht ihn zum Vorbild für das folgende Jahrhundert. Die Sammlung besteht aus 366 Gedichten, von denen die meisten Sonette sind. Die "Seufzer des Herzens" gelten Laura, die eine Imagination des Dichters ist, aber ein Schönheitsideal der Renaissance verkörpert. Entscheidend ist, daß die Geliebte zum Spiegel der eigenen Seelenlage wird. Petrarca 'entdeckte' die moderne Innerlichkeit und fächert ihre konkreten Gemütszustände auf. Einzelne formale und inhaltliche Elemente dieser Lyrik (Sonettform, Antithetik, lautmalerisches Spiel mit dem Namen der Geliebten, der Attribute in Art eines 'Schönheitskatalogs' zugesprochen werden; sie ist ein bezauberndes, aber abweisendes Wesen, das den Dichter lustvollen Schmerz über die unerfüllte Liebe artikulieren läßt) haben in vielen Ländern Nachahmer gefunden. Diese Lyriktradition wird als Petrarkismus bezeichnet. Petrarca wurde mit Ruhm verwöhnt und genoß bereits zu Lebzeiten als Moralphilosoph und Humanist ein hohes Ansehen. 1341 wurde er in Rom zum Dichter gekrönt und durfte sich fortan "Poeta Laureatus" nennen. Erst nach seinem Tod setzte, mit dem Siegeszug der Volkssprache im 16. Jahrhundert, auch die Anerkennung als bahnbrechender italienischer Dichter ein. © SR
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍
Africa (1338-43) De viris illustribus (1338-53, dt. Von berühmten Männern) De otio religioso (1347, dt. Von der Muße der Mönche) Epistolae metricae (1333-52, dt. Metrische Briefe)
❍ ❍ ❍
Rerum familiarum libri (1366, dt. Freundschaftsbriefe) Canzoniere (1342-74) Trionfi (1351-74, dt. Triumphe)
Sekundärliteratur: 1. G. Hoffmeister: Petrarca, Stuttgart 1997. 2. J. Ritter: Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt am Main 1974. 3. K. Stierle: Petrarca. Fragmente eines Selbstentwurfs. Essay, Darmstadt 1998.
Giovanni Boccaccio * Juni/Juli 1313, Certaldo oder Florenz † 21.12.1375, Certaldo italienischer Erzähler und Humanist Das Leben Boccaccios verlief nicht so spektakulär, glamourös und voll amouröser Abenteuer, wie der Leser des berühmten Decameron es sich vorstellen mag. Im Gegenteil. In einem Brief hat er sich selbst als "Stiefkind des Glücks" bezeichnet. Der Ruhm eines Dante oder Petrarca blieb ihm zu Lebzeiten versagt. Beständig musste er um seinen Lebensunterhalt kämpfen. Nicht zuletzt machte ihm der "Makel" zu schaffen, als uneheliches Kind geboren zu sein. Boccaccios Vater war Kaufmann in Florenz, die Mutter könnte zur Dienerschaft gehört haben. Im Jahr 1327 ging der Vater im Auftrag des Bankhauses Bardi nach Neapel. Boccaccio lernte dort zunächst die Grundlagen des Bank- und Handelswesens kennen. Anschließend studierte er widerwillig Jura. Was ihn eigentlich interessierte, war das literarische Leben. Die reich ausgestattete Bibliothek König Roberts von Anjou, eines großen Förderers des Humanismus, wurde sein entscheidendes Bildungserlebnis. Nach dem Bankrott des Bankhauses kehrte Boccaccio mit seinem Vater 1340/41 aus dem monarchisch geprägten Neapel ins frühbürgerliche Florenz zurück. Für die Florentiner Regierung hat er verschiedene kleine Ämter bekleidet. Nach 1360 zog sich Boccaccio immer wieder in die Abgeschiedenheit von Certaldo bei Florenz zurück. Erst 1373, zwei Jahre vor seinem Tod, wurde ihm seitens seiner Heimatstadt Anerkennung als Dichter zuteil. In mehreren Vorträgen durfte er die Göttliche Komödie seines renommierten Kollegen Dante auslegen. Boccaccios Studien und seine literarische Produktion galten sowohl dem Lateinischen als auch dem "volgare", der italienischen Volkssprache. Erste Dichtungen in Latein, wie die an Ovid geschulte Elegie der Constanze (Elegia di Costanza), entstanden bereits in den dreißiger Jahren. Sein Hauptwerk bildet aber zweifellos das im toskanischen Italienisch abgefasste Decameron (1348-1353). Der Titel leitet sich aus dem griechischen "deka" (zehn) und "hemerei" (Tage) ab. Erzählt wird von sieben jungen Frauen und drei jungen Männern, die sich 1348 wegen einer Pestepidemie auf einen Landsitz bei Florenz zurückziehen. Dort verbringen sie vierzehn Tage. Zehn davon (Freitag und Samstag sind der religiösen Besinnung vorbehalten) vergehen mit Musik, Spiel, Tanz und vor allem mit dem Reihumerzählen von Geschichten. Jeder Tag steht unter einem besonderen Thema - etwa List, Edelmut, glückliche oder unglückliche Liebe. Eine Ballade beschließt jeden Reigen. Nach dem Vorbild des Novellino, einer Novellensammlung aus dem 12.
Jahrhundert, aber auch in Anlehnung an Dantes Göttliche Komödie mit ihren 100 Gesängen, finden sich also 100 Novellen im Decameron. Ihre Stoffe stammen aus dem Orient oder der Antike, meist aber aus der französischen, provenzalischen und italienischen Erzähltradition. Was in inhaltlicher Hinsicht Boccaccios Neuheit ausmacht, ist die gleichzeitige Präsenz von Tragik und Komik, von niederer und gehobener Handlung, von volkstümlichem, aristokratischem und bürgerlichem Personal. Die Vermischung der sonst getrennten Sphären lässt eine widerspruchsreiche Spannung zwischen Tugend und Laster, Gut und Böse entstehen. Trotz vieler mittelalterlicher Elemente ist die Darstellung von überbordender Lebensvielfalt und damit Ausdruck der neuen Welterfahrung, die das 14. Jahrhundert als Renaissance mit sich bringt. Auch formal hat Boccaccio Neuland betreten. Sein Novellenzyklus mit fester Rahmenhandlung wurde stilbildend in ganz Europa. Für viele spätere Autoren wie Geoffrey Chaucer in England, Miguel de Cervantes in Spanien, Marguerite de Navarre in Frankreich oder selbst für Lessing und Goethe in Deutschland ist er zum Bezugspunkt geworden. Allerdings sind Boccaccios Novellen noch nicht streng strukturiert. Ihrem Aufbau und ihrer Funktion nach sind sie oft Märchen, oder moralische Exempel. Das sprachliche Register reicht von einfachen bis zu hoch komplexen Konstruktionen. Vor allem in letzteren lässt sich die Absicht erkennen, das Italienische als eine dem Lateinischen ebenbürtige Literatursprache zu etablieren. Mit Boccaccio, hat der Romanist Erich Auerbach geschrieben, entsteht aus der rhetorischen Überlieferung, die "in der mittelalterlichen Praxis zu einem fast gespenstisch greisenhaften Mechanismus erstarrt" war, "die erste literarische Prosa des nachantiken Europa". In Boccaccios narrativem Werk - von der Jagd der Diana (Caccia di Diana, ca. 1334) bis zu Corbaccio oder Das Liebeslabyrinth (Il Corbaccio o labirinto d´amore, ca. 1365) - bricht sich ein neues Verständnis des Erzählens Bahn. Es soll nicht ausschließlich der Unterhaltung dienen, sondern auch der ethischen Bildung. Erzählen wird bei Boccaccio zu einer Form der menschlichen Selbsterfahrung, die nicht mehr nur auf Transzendentales zielt, sondern auf das sinnliche Leben der irdischen Existenz. Nachdem Boccaccio 1350 die persönliche Bekanntschaft Petrarcas gemacht hatte, wandte er sich wieder verstärkt humanistischen Aktivitäten zu. Dazu zählen die Sammlung von Codices antiker Autoren oder die Anregung einer wichtigen Homer-Übersetzung. Seine eigenen lateinischen Schriften über die Biographien berühmter Männer und Frauen sowie das enzyklopädische Verzeichnis aller Gestalten der griechisch-römischen Mythologie (Genealogia deorum gentilium, 1350-1375) dienen vor allem der Bewahrung und Vermittlung von antikem Wissen. ©SR
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
Troilus und Cressida (Filostrato, 1335-38) Filoloco (1336-39) Theseide (Teseida delle nozze d´Emilia, 1340/41) Fiammetta (Elegia di Madonna Fiammetta, 1343/44) Über berühmte Männer (De casibus virorum illustrium, 1356-60)
Sekundärliteratur: 1. K. Flasch: Vernunft und Vergnügen. Liebesgeschichten aus dem Decameron, München 2002. 2. H.-J. Neuschäfer: Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1983.
Hermeneutische Differenz
Der Ausdruck 'hermeneutische Differenz' oder auch 'Distanz' macht auf ein Grundproblem aller sprachlichen Kommunikation wie auch der reflektierten Interpretation aufmerksam: Das was verstanden bzw. gedeutet werden soll, ist zunächst fremd, abständig, distanziert, und muß erst im Verstehens- bzw. Deutungsakt 'angeeignet' werden. Dabei sind graduelle Unterschiede sehr erheblich: In der eingelebten Alltagskommunikation wird die hermeneutische Differenz nicht oder nur punktuell, im Falle einer Störung bewußt. Deshalb ist, wie schon der Philosoph Schleiermacher bemerkte, bei "Wettergesprächen" in der Regel keine Hermeneutik nötig (die Differenz gleich Null). Am anderen Extrem ist keine Hermeneutik möglich, wo die Differenz unendlich wird: etwa bei einer Äußerung in einer mir völlig unbekannten Sprache. Hermeneutik findet demnach, einer berühmten Formulierung von Hans-Georg Gadamer folgend, "zwischen Fremdheit und Vertrautheit" statt: "In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik." (S.279) In literaturwissenschaftlicher Sicht sind drei verschiedene Varianten oder Komponenten der hermeneutischen Differenz von besonderem Gewicht. Zunächst die linguistische Differenz: Verstehen und Auslegung setzten die Zugehörigkeit zur Sprachgemeinschaft der jeweiligen Äußerung bzw. die spezifische Sprachkompetenz voraus. Deshalb ist die Übersetzung von Werken in eine andere Sprache einerseits Voraussetzung der Interpretation, aber auch selbst schon ein interpretierender Akt. Sodann die historische Differenz. Sie gerät oft als erste in den Blick und bringt erhebliche Schwierigkeiten für Textverständnis und Interpretation dar: Jeder einmal fixierte Text altert unaufhaltsam - die historische Differenz zwischen ihm und dem (gegenwärtigen) Interpreten wächst also. Verständnisschwierigkeiten entstehen in sprachlicher Hinsicht (z.B. veraltete Wörter und Ausdrucksformen, Bedeutungsveränderungen) wie in sachlicher (z.B. erklärungsbedürftige Fakten, Namen, Zusammenhänge). Diese Erklärungen bereitzustellen ist traditionell Aufgabe des philologischen Kommentars Schließlich ist, besonders für die literaturwissenschaftliche Hermeneutik, auch eine poetologisch/rhetorische Differenz zum üblichen Sprachgebrauch relevant: die Tatsache also, daß besonders (aber nicht nur) dichterische Texte 'künstliche' Ausdrucksformen, z.B. rhetorische Mitteln benutzen. Deren Funktion und Bedeutungspotential muß erkennen, wer den Text verstehen und angemessen interpretieren will. Vielfach spielen diese Differenz-Komponenten ineinander: So muß etwa der Text
der Bibel aus dem Hebräischen bzw. Griechischen ins Deutsche übersetzt werden, um dort zur Textgrundlage einer theologischen Hermeneutik zu werden, die dann auch die inhaltlichen Verstehensprobleme bearbeiten kann und eine spezifisch protestantische Auslegung ermöglichen. Dabei sind auch die sprachlichen, peotologischen und rhethorischen Mittel des Textes zu beachten. So benutzt etwa das biblische Hohe Lied eine ausgeprägte erotische Metaphorik, die jedoch auf religiöse Sachverhalte verweist und deshalb angemessen ausgelegt werden muß. Wilhelm Dilthey glaubte noch, in einem Akt der Einfühlung die hermeneutische Differenz überspringen und unmittelbares Verstehen gewinnen zu könnnen. Seit Gadamer hat sich jedoch eine Auffassung durchgesetzt, die den "Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens" nutzbar zu machen und "immer auch [...] die geschichtliche Situation des Interpreten" zu reflektieren (S.280f.). Die Einsicht in diese historische Gebundenheit nicht nur des zu verstehenden Textes, sondern auch des jeweiligen Verstehens selbst öffnet Gadamer zufolge - die Dimension der Wirkungsgeschichte. © JV
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl. Tübingen 1972.
Wirkungsgeschichte
Der Begriff der Wirkungsgeschichte wird von Hans-Georg Gadamer an zentraler Stelle seines Hauptwerks Wahrheit und Methode eingeführt und erweist sich als eine tragende und - besonders auch in literaturwissenschaftlicher Hinsicht produktive Kategorie seines Hermeneutik-Konzepts. Dies gründet ja auf der Voraussetzung, daß das "nachkommende Verstehen" prinzipiell über eine "unaufhebbare Differenz zwischen dem Interpreten und dem Urheber" hinweg versucht werden muß, "die durch den geschichtlichen Abstand gegeben ist." (Noch Wilhelm Dilthey glaubte diesen Abstand durch 'Einfühlung' aufheben zu können.) Aber jenen Abstand darf man sich nicht als "gähnenden Abgrund" vorstellen - er "ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt." Das heißt: (fast) einer jeden Lektüre oder Interpretation gehen andere Lektüren und Interpretationen voraus, die - ihrerseits historisch gebunden unterschiedliche Aspekte des Textes ins Licht rücken können. "Der wirkliche Sinn eines Textes" ist keineswegs der, den der "Verfasser" intendierte oder den "sein ursprüngliches Publikum" (S.280f.) herauslas; er entfaltet sich vielmehr erst schrittweise, im Durchgang durch verschiedene, jeweils historisch standortgebundene Sinn-Entwürfe, noch konkreter: durch eine (tendenziell unendliche) Reihe von Interpretationen hindurch, die ihrerseits - direkt oder indirekt - auch den gegenwärtigen Interpretationsansatz mitbestimmen. "Der zeitliche Abstand [...] läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen. Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text oder einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß." (S.282) Mit solchen Formulierungen wird in diachronischer Hinsicht eine 'Hermeneutik der Entfaltung' anvisiert, wie sie in synchronischer Hinsicht durch den Strukturalismus angeregt und von Paul Ricoeur oder Uwe Japp genauer ausgeführt worden ist. Konkrete Gestalt gewinnt sie in der neueren Literaturwissenschaft vor allem mit dem Vorschlag von Hans Robert Jauß (1970), (eine) Literaturgeschichte nicht wie üblich aus der Sicht der Produktion von Literatur, sondern aus der "Dimension ihrer Rezeption und Wirkung" (S.168) heraus zu entwickeln. Dieses Konzept, das zumeist unter dem Sammelbegriff der Rezeptionsästhetik geführt wird, lehnt sich auch mit seinem Zentralbegriff des Erwartungshorizonts (S.176f.) erkennbar an Gadamers Terminologie und Metaphorik an. Wenn das umfassende Projekt einer 'Literaturgeschichte des Lesers' im Sinne von Jauß auch nicht realisiert werden konnte, so liegen in der germanistischen Literaturwissenschaft inzwischen doch eine ganze Reihe von exemplarischen Analysen vor, die etwa die Wirkungsgeschichte einzelner Autoren, vor allem des
klassischen Kanons, rekonstruieren und teilweise in die Perspektive der Ideologiekritik rücken. © JV
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Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl. Tübingen 1972. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/M. 1970.
Sekundärliteratur: 1. G. Grimm: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer Theorie, München 1977. 2. R. Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975.
Hermeneutischer Zirkel / Hermeneutische Spirale
Eine hermeneutische Grundregel besagt, daß das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstanden werden muß. Dieses Prinzip wird traditionell als hermeneutischer Zirkel bezeichnet. Es ist zurückzuführen auf die antike Rhetorik, genauer auf den Topos: Es kann von den Teilen auf das Ganze geschlossen werden. Die Autoren der philosophischen Hermeneutik definieren den Charakter und die Reichweite der Zirkelbewegung unterschiedlich. Schleiermacher sieht den hermeneutischen Zirkel sowohl in der "grammatischen Interpretation" (z.B. zwischen Wort und Satz, Satz und Absatz, Absatz und Textganzem usw.) als auch in der "psychologischen Interpretation" (zwischen dem Text als Ausdruck bzw. Teil des Seelenlebens des Autors und dem Ganzen seines Seelenlebens) gegeben. Für Gadamer beschreibt der Zirkel das Verstehen als Aneignung der Überlieferung durch den Interpreten, der sich zunächst in einer Position zwischen Fremdheit und Vertrautheit befindet. Die Vertrautheit, die sich aus seiner kulturellen Zugehörigkeit ergibt, erlaubt es ihm, den Sinn des Textes zu antizipieren, um dieses 'Vorurteil' mit zunehmendem Verständnis des Textes jeweils zu korrigieren. Jürgen Habermas möchte die Zirkelbewegung um die ideologiekritische Komponente erweitert wissen. Für ihn verläuft sie nicht einfach vom Ganzen zum Teil und zurück zum Ganzen des Textes, sondern von einem vorläufigen, sprachlich-grammatischen Verständnis über das Problem 'dunkler Stellen' zur sachlichen (historisch-empirischen) Klärung und schließlich zu einem komplexeren Textverstehen. Nach Habermas berücksichtigt die ideologiekritische Interpretation sowohl die Zeitgebundenheit eines Textes als auch seine (potentielle) Aktualität. Das kritische Verstehen historisch ferner Texte liefert demnach nicht lediglich Auskunft über die Vergangenheit, sondern auch über die Gegenwart. Diese dialektische Erfahrung ist gemeint, wenn Habermas von der "kritischen Selbstreflexion" spricht, die durch Hermeneutik und Ideologiekritik vorangebracht werde. Der Literaturwissenschaftler Karlheinz Stierle kritisiert die 'Methodenfeindlichkeit' der gegenwärtigen, durch Gadamer geprägten Hermeneutik. Für ihn ist es unerläßlich, den hermeneutischen Zirkel zu einem "struktural-hermeneutischen Zirkel" zu erweitern. In einem solchen Zirkel käme sowohl die methodenbezogene Erfassung der Struktur als auch die lebensweltliche Erfahrung literarischer Werke zur Geltung. Damit schlösse sich auch die Kluft zwischen sogenannter wissenschaftlicher Erkenntnis und ästhetischem Genuß.
Jürgen Bolten schließlich plädiert für den Begriff der "hermeneutischen Spirale", den er für angemessener hält als den des hermeneutischen Zirkels. Im Grunde, so Bolten, werde doch der Vorgriff auf das Ganze des Textes durch ein genaueres Verständnis des Einzelnen immerzu korrigiert. Der Verstehensprozeß führe genaugenommen stets zu einem Verstehenszuwachs und sei damit kein zirkuläres Zurückkehren zu seinem Ausgangspunkt. Um den Zuwachs an Verständnis im Rahmen der hermeneutischen Spirale zu forcieren fordert Bolten, die Entscheidung für philologisches oder literarisches oder wirkungsgeschichtliches Verstehen zugunsten eines "integrativen Verstehens" aufzuheben. "Einen Text verstehen heißt demzufolge, Merkmale der 'Textstruktur' bzw. des '-inhaltes' und der 'Textproduktion' unter Einbeziehung der 'Text-' und 'Rezeptionsgeschichte' sowie der Reflexion des eigenen 'Interpretationsstandpunktes' im Sinne eines wechselseitigen Begründungsverhältnisses zu begreifen. Daß es dabei weder 'falsche' noch 'richtige', sondern allenfalls mehr oder minder angemessene Interpretationen geben kann, folgt aus der [...] Geschichtlichkeit der Verstehenskonstituenten und der damit zusammenhängenden Unabschließbarkeit der hermeneutischen Spirale. [...] Der Spiralbewegung entsprechend, unterliegt die Interpretation hinsichtlich ihrer Hypothesenbildung diesbezüglich einem Mechanismus der Selbstkorrektur. Daß dieses Verfahren stets dem roten Faden eines spezifischen Erkenntnisinteresses folgen und man dementsprechend bei der Behandlung der Interpretationsaspekte nicht methodenpluralistisch-additiv, sondern durchaus selektiv vorgehen sollte, versteht sich von selbst." (S. 362f.) © DS
Jürgen Bolten: Die Hermeneutische Spirale. Überlegungen zu einer integrativen Literaturtheorie, in: Poetica 17 (1985), H. 3/4.
Ideologiekritik
Der Begriff "Ideologie" ist eine auf gr. idea, Erscheinung, und logos, Wort, zurückgreifende Neuprägung, die um 1800 in Frankreich entstand. Ursprünglich als neutrale Bezeichnung einer Wissenschaftsdisziplin gemeint, hat er in der Verwendung durch Karl Marx/Friedrich Engels (um 1848) bereits eine eindeutig negative Bedeutung. In ihren sogenannten Frühschriften, insbesondere der Deutschen Ideologie (1845/6), entwickeln sie ein Konzept von Ideologie als 'falschen', das heißt der (ökonomischen) Realität nicht entsprechenden Bewußtseinsformen, welche die Individuen über sich und ihre Lebensverhältnisse täuschen (diese verschleiern), ihre politische Kraft lähmen und damit faktisch die Macht der jeweils herrschenden Klasse stützen. Diesen Zusammenhang zu durchschauen, anzuprangern (und damit auch schon politisch zu bekämpfen) heißt im Sinne von Marx und Engels dann Ideologiekritik betreiben. Ein griffiges Beispiel: Der Konzernherr (Kapitalist) Krupp versteht es vor und nach 1900, den von ihm abhängigen (ausgebeuteten) Industriearbeitern (Proletariern) durch betriebliche Maßnahmen und eine entsprechende 'Öffentlichkeitsarbeit' das Gefühl zu vermitteln, Mitglieder einer großen Familie ('Kruppianer') zu sein - was (nach marxistischen Kriterien) am Tatbestand der Ausbeutung nichts ändert, aber den politischen Konflikt (Klassenkampf) verhindert. Ein Roman, in dem diese Familien-Ideologie in kritischer Perspektive (z.B. mit satirischen Techniken) aufgezeigt wird, wie etwa Union der festen Hand von Erik Reger (1931), darf dann 'ideologiekritisch' heißen. Das Konzept der Ideologiekritik wird im 20. Jh. von zahlreichen westeuropäischen Neomarxisten aufgenommen; so von Georg Lukács (Geschichte und Klassenbewußtsein, 1923) und von den Begründern der sogenannten Frankfurter Schule, Max Horkheimer und Thedor W. Adorno (Dialektik der Aufklärung, 1945). Auf diesem Wege wird Ideologiekritik besonders durch den 'Frankfurter Schüler' Jürgen Habermas um 1968 auch in die Hermeneutik-Debatte eingeführt und als kritisches Korrektiv gegen das affirmative Verstehenskonzept von Hans-Georg Gadamer gewendet. Durch Habermas und ganz allgemein durch die nachholende Marxismus-Rezeption um 1968 wird Ideologiekritik dann auch in der germanistischen Literaturwissenschaft, die nach der Selbstauflösung der werkimmanenten Interpretation neue (politische) Orientierung sucht, zu einem attraktiven neuen Paradigma. Dominierend ist dabei die Intention, die ideologische Funktion oder Qualität von Literatur kritisch aufzudecken. Das ist besonders im Falle von Massenliteratur/Trivialliteratur mit ihrer leicht erkennbaren ideologischen Qualität naheliegend. Daß auch 'große' Werke aus Vergangenheit und Gegenwart -
Texte des Kanons - in gewissem Maße 'Ideologie' (oder spezielle Ideologien, wie z.B. den Antisemitismus) transportieren, ist kaum zu bestreiten. Doch wäre es unzureichend, Literatur bzw. bestimmte Texte einfach nur ideologiekritisch abzuqualifizieren; schon deshalb, weil die wenigsten Werke ideologisch homogen sind. Schon Marx hatte bemerkt, daß die Romane des politisch erzkonservativen Honoré de Balzac die Bewegungsgesetze des modernen Kapitalimus aufdeckten - also 'ideologisch' und 'ideologiekritisch' zugleich waren. Oder denken wir an Brecht: Er entwickelt praktisch und theoretisch seit den frühen zwanziger Jahren eine Strategie der Ideologiekritik (oder wie er lieber sagt: der "Ideologiezertrümmerung") gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, dem Kapitalismus und dem Faschismus, - und ist in bestimmten Texten doch nicht resistent gegen die stalinistische Ideologie. Die ideologiekritische Perspektive auf literarische Werke kann also vernünftigerweise nur ein Element einer umfassenden Analyse sein, die der ideellen und formalen Komplexität jener Werke gerecht werden muß. Wichtig ist sicher auch, daß solche Ideologiekritik sich nicht in der pauschalen Abwertung von 'Meinungen', 'Weltbildern' usw. erschöpft, sondern textanalytisch konkret wird. Dabei können sich Verfahren der Textsemiotik und Diskursanalyse, etwa die genaue Untersuchung der Kollektivsymbolik eines Textes, als besonders produktiv erweisen. © JV
Sekundärliteratur: 1. K. Bauer, H. Geiger, H. Krauss, E. Schütz, J. Vogt: Literatur und Monopolkapital. Eine unvollendete Längsschnittstudie am Beispiel des Hauses Krupp. Mit einem methodenkritischen Nachwort von J.-B. Dôle und K. Räble; Dringenberg, Holzhausen, Havanna 2001. 2. T. Eagleton: Ideologie. Eine Einführung, Stuttgart 1993. 3. P.V. Zima (Hg.): Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt/M. 1977.
Karlheinz Stierle
* 22.11.1936 Romanistischer Literaturwissenschaftler Für eine Öffnung des Hermeneutischen Zirkels ist der Titel eines Vortrags, den Karlheinz Stierle im Jahr 1985 hielt. Darin nimmt er Bezug auf Gadamers Wahrheit und Methode (1960). Er kritisiert dessen Methodenfeindlichkeit, also die Abneigung, sachliche oder symbolische Zusammenhänge nach intersubjektiv kontrollierten Regeln zu analysieren und fordert eine neue, methodenfreundliche Hermeneutik: "Diese müßte an der von Heidegger postulierten und von Gadamer auf die Welt der überlieferten Texte zurückbezogenen Legitimität des hermeneutischen Zirkels festhalten und dennoch das von diesen Ausgegrenzte, die Methode, wieder in die hermeneutische Bewegung integrieren." (S. 49) Dabei sei in der Form des sogenannten "struktural-hermeneutischen Zirkels" zu verfahren, zu dem der hermeneutische Zirkel Gadamers - das "Sinngeschehens zwischen Überlieferung und Aneigung" - erweitert werden müsse. Hermeneutik hat sich für Stierle nicht - wie für Gadamer - allein auf der Ebene des "Geschehens" zu bewegen. Gadamer sieht in ihr die besondere Art und Weise, in der ein kulturell gewachsener Überlieferungs-, Traditions- und Normzusammenhang aufrechterhalten bzw. weiterentwickelt wird. Stierle sieht ihre zentrale Aufgabe eher auf der Metaebene. Seiner Ansicht nach hat Hermeneutik dieses Überlieferungsgeschehen in den Mittelpunkt zu stellen und seine Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen: "So liegt es nahe, als das eigentliche Thema der hermeneutischen Operation das Verhältnis von erster, gleichsam noch passiv erfahrener und mehr oder weniger bewußtloser Lektüre zur zweiten, bewußt aneignenden und durcharbeitenden Lektüre anzusehen. [...] Es geht also darum, das schon Verstandene zu verstehen und damit zugleich das Verstehen des schon Verstandenen zu verstehen." (S. 353) Dazu aber bedarf es einer wissenschaftlichen Methode. Stierle schlägt vor, bei der hermeneutischen Betrachtungsweise auf den Strukturalismus sowie die daraus abgeleitete Erzählanalyse und deren Einsichten in den Bau der Erzählformen zurückzugreifen. Hermeneutik könne sich aber nicht damit zufrieden geben, die Struktur des Textes offenzulegen, sondern müsse "in einem methodischen Gang der Betrachtung bis zur Komplexität des konkreten Textes und zur Vielfalt seiner Kontexte weiterführen", denn nur diese "Umkehrung" sei geeignet, "die ästhetische Erfahrung selbst immer bewußter zu machen" (S. 351). Schließlich plädiert Stierle - in seinem Buch Text als Handlung - für eine sogenannte "systematische Literaturwissenschaft", die der historischen Literaturwissenschaft "systematische Bezugsrahmen" erarbeiten und so von
"orientierender Kraft" für die Erfassung konkreter literarischer Manifestationen sein soll: "Weder die reine Intention noch die reine Rezeption können den Ausgangspunkt einer systematischen Literaturwissenschaft bilden. Sie bedürfen beide der Objektivation in einem Textschema, das der Produktion wie der Rezeption als verbindlich vorausliegt. Der Sinn des Handelns ist nie durch sich selbst evident, sondern durch seine Bezogenheit auf ein Handlungsschema, das seinen institutionellen Ort hat im Rahmen eines gegebenen kulturellen Handlungssystems." (S. 9) © DS
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Karlheinz Stierle: Für eine Öffnung des Hermeneutischen Zirkels, in: Poetica 17 (1985), H. 3/4. Karlheinz Stierle: Text als Handlung, München 1975.
Kommentar lat. commentarius, nach gr. hypomnema, Denkwürdigkeit, Erläuterung
In Presse und Publizistik ist der 'Kommentar' eine subjektiv bewertende und meinungsbildende Äußerung (eine 'Randbemerkung') zum aktuellen Geschehen. Ganz im Gegensatz dazu dient die Form des Kommentars in den Literatur- und Kulturwissenschaften der sachlich-objektiven Erläuterung von sprachlichen und sachlichen Einzelheiten, die zum Verständnis des Textes notwendig erscheinen. Formal erscheint er in den hauptsächlichen Varianten des InterlinearKommentars, der Randglosse und des Textanhangs. Bedarf nach Kommentierung entsteht vor allem bei Texten, die von Bedeutung für die kulturelle Identität einer Gemeinschaft (Nation, Religion usw.) sind; dringend wird die Kommentierung vor allem dann, wenn das Verständnis und der kulturelle Status solcher Texte über große Zeiträume, Kulturbrüche oder auch über Sprachgrenzen hinweg gesichert werden soll; im letzten Fall kann der Kommentar als Hilfsmittel oder Vorstufe der Übersetzung dienen. In jedem Fall trägt die Kommentierung relevanter Texte wesentlich zur Bildung eines Kanons bei. Die wichtigsten Beispiele dafür bieten im abendländisch-christlichen Kulturkreis die Epen Homers, die philosophischen Werke des Aristoteles und die Bibel (als Grundtext der theologischen Hermeneutik), die sämtlich eigene KommentierungsTraditionen ausgebildet haben Erwähnenswert ist weiterhin, im Rahmen der juristischen Hermeneutik, die bis heute wichtige Gebrauchform des 'Kommentars', der Gesetzestexte erläutert und anhand von Fallbeispielen mögliche Applikationen vorstellt. Der philologische Kommentar war Jahrtausende hindurch die dominierende Arbeitsform der philologischen Bemühung um einen bestimmten Text; erst die neuere Philologie wendet sich verstärkt der Form der Interpretation zu. Aber auch in der heutigen Literaturwissenschaft sind Kommentare unverzichtbare Arbeitsmittel, etwa in Gestalt von Studienausgaben. Als weit verbreitetes Beispiel kann die sogenannte Hamburger Goethe-Ausgabe, hg. v. Erich Trunz, betrachtet werden. Jeder Band enthält einen Anhang, der Entstehungsgeschichte und Überlieferung der Texte darstellt, ausführliche Wort- und Sacherklärungen liefert (dies ist der eigentliche Kern des Kommentars), sowie in zusammenfassenden Abschnitten die ästhetische Qualität einzelner Texte diskutiert - damit aber bereits die Grenze zur Interpretation überschreitet. Im 1. Band dieser Ausgabe (Gedichte und Epen) kommen auf 410 Seiten Text immerhin 320 Seiten - also ein recht ausführlicher - Kommentar. Das Mißtrauen gegen die - oft als willkürlich und autoritär bewertete - Form und
Praxis der Interpretation hat in der neueren Literaturwissenschaft eine (Wieder)Aufwertung des Kommentars bewirkt, die sich u.a. auf entsprechende Hinweise von Walter Benjamin stützt. Er unterscheidet zwischen dem Kommentar, dem es um den "Sachgehalt" - und der Kritik oder Interpretation, der es um den "Wahrheitsgehalt" eines Werkes gehe; und er betont, daß der Kommentar von der "Klassizität seines Textes und damit gleichsam von einem Vorurteil ausgehe" (S.539). Benjamins eigene Praxis, etwa in seinen Brecht-Kommentaren (entstanden 1938/39) oder in der kommentierten Briefanthologie Deutsche Menschen (1936), zeigt aber, daß er selbst jene Grenze subversiv unterläuft und die Form eines ästhetischen Kommentars entwickelt. Dieser bleibt nicht mehr 'dienend' wie der philologische, sondern entwirft eine sehr entschiedenen, bisweilen parteiliche Perspektive der Deutung. Von der Interpretation unterscheidet ihn aber, daß er diese Parteilichkeit explizit offenlegt und damit diskutierbar macht. - Die grundsätzliche Ablehnung der Interpretation als Form (wegen ihres Anspruchs auf 'Ganzheitlichkeit' und 'Sinnstiftung') hat schließlich in der neuesten Literaturwissenschaft, insbesondere im Umkreis des Dekonstruktivismus, zu einer Neubelebung und Neuakzentuierung kommentierender Formen geführt. © JV
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Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bdn. Hg. von Erich Trunz. Bd. 1: Gedichte und Epen. Walter Benjamin: Kommentare zu Gedichten von Brecht, in: W. B.: Gesammelte Schriften II, 2, Frankfurt/M. 1977, S. 539-572.
Sekundärliteratur: 1. A. Assmann / B. Gladigow (Hg.): Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV, München 1996. 2. M. Geier: Methoden der Sprach- und Literaturwissenschaft. Darstellung und Kritik (§7 Mimetischer Kommentar), München 1983, S. 159-172.
Kanon griech.: Richtschnur, Maßstab
Ein Kanon ist die als allgemeingültig und dauerhaft verbindlich gedachte Auswahl vorbildlicher dichterischer oder rednerischer Werke bzw. die Auswahl mustergültiger Autoren. Der Kanon – ein Phänomen, das in der Literaturwissenschaft vermehrt Beachtung findet. Er wird einerseits analysiert: Was ist ein Kanon, wie entwickelt er sich, welche Funktionen übernimmt er? Andererseits wird seine Gültigkeit hinterfragt: Brauchen wir heute noch einen Kanon? Ist der Kanon nicht nur ein Machtmittel herrschender kultureller Klassen, um unliebsame Gedanken und Ideen von der kulturellen Praxis auszuschließen? Beginnen wir mit der Analyse: Den literarischen Kanon verstand man in der Gesellschaft und Literaturwissenschaft lange als Durchsetzung zeitloser literarischer Qualität nach eigenen Gesetzen. Diese Gesetze – so glaubte man brachten eben gerade das qualitativ Hochwertige zur Geltung. Wer den Kanon kannte, der kannte die "gute" Literatur, diejenige, die es wert war, gelesen zu werden. Von dieser Vorstellung hat man sich in der Germanistik mittlerweile verabschiedet. Heute wird der Kanon als das Ergebnis eines Deutungs- und Selektionsprozesses begriffen, der nach bestimmten Selektionskriterien funktioniert. Dies können literaturinterne Kriterien sein, aber auch literaturexterne. Unter die literaturinternen Kriterien fallen ästhetische Programme, Gattungstraditionen und die Freiheit oder Unfreiheit von diesen Programmen oder Traditionen. Was dies für den Kanon bedeutet, wird deutlich, wenn man z.B. den Roman betrachtet. In einer Zeit, in der vor allem die Tragödie hoch bewertet wird – wir denken z.B. an die Antike und Aristoteles' Poetik, hätte ein Roman kaum Chancen gehabt, zum Kanon zu gehören, er hätte als ästhetisch minderwertig gegolten; heute hingegen muß er noch nicht einmal besondere formale Kriterien erfüllen, um kanonfähig zu werden. Er hat sich einerseits von Gattungstraditionen befreit und von der damit verbunden Wertigkeit der einzelnen Gattungen sowie von verbindlichen ästhetischen Programmen (Poetiken). Wie schon erwähnt, gibt es jedoch nicht nur literaturinterne Kriterien, die einen literarischen Text dem Kanon zuschlagen, sondern auch literaturexterne Gesichtspunkte. Darunter sind die politisch-kulturellen Bedingungen zu verstehen, die in einer Gesellschaft vorherrschen. Diese können zu einer Abwertung und Ausgrenzung einzelner Texte führen, z.B. mit den Mitteln der
Zensur. Für den Roman haben diese Ausschließungsmechanismen in der Vergangenheit unter anderem bedeutet, daß wir zwar die Romane der Romantiker von Tieck bis Eichendorff kennen, aber von Sophie MereauBrentano, eine der bekanntesten AutorInnen ihrer Zeit, oder von Dorothea Schlegel und ihrem Roman Florentin wissen nur SpezialistInnen. Daß sich ein solcher Kanon überhaupt bildet, hängt natürlich damit zusammen, daß er wichtige Funktionen übernimmt. Er sorgt für die Selbstdarstellung und Identitätsbildung einer Gruppe, indem er ihre Normen und Werte repräsentiert. Dabei übt er eine Legitimationsfunktion aus und sorgt für die Handlungsorientierung der Gruppenmitglieder. Der Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts sieht sich und seine Vorstellungen von Gesellschaft in der damals zum Kanon gehörenden Literatur repräsentiert. Dies kann die patriarchalische Familienstruktur, aber auch der militärische Habitus des Kaiserreichs nach 1870/71 sein. Sind im 19. Jahrhundert noch eindeutig die Deutungseliten – vor allem das Bildungsbürgertum – am Werke, wenn es um die Kanonbildung geht, so hat sich die Entstehung des Kanons heute zumindest tendenziell demokratisiert – vor allem wenn man an diesen oder jenen Gegenkanon denkt (Frauenliteratur, Ökologische Bewegung, Esoterik, etc.). Institutionen und Personen, die zur Kanonbildung beitragen, sind unter anderen Autoren, Kritiker, Literaturwissenschaftler, Medien, Preisverleihungen, Lehrbuchkommissionen und die Kultusbürokratie. Ablesen kann man den Kanon vor allem an Lehrplänen, Seminarangeboten, Theaterspielplänen, erhältlichen KlassikerAusgaben und den Ihnen allen bekannten Leselisten für Germanistik-Studenten. Bleibt zum Schluß die Frage: Warum überhaupt noch ein Kanon? Die Universitäten haben schon längst reagiert, indem sie auch die außerhalb des Kanons liegende Literatur in ihr Angebot integriert haben. So begegnet man Seminartiteln wie: "Frauentrivialliteratur der Jahrhundertwende" oder "Der Kriminalroman von Agatha Christie bis Amanda Cross". Trotzdem gibt es immer noch gute Argumente für den Kanon. Viele Texte sind nur zu verstehen, wenn man auch die sie umgebenden Texte berücksichtigt, die Texte, die der Autor kannte und mit denen er arbeitete. Stichwort ist hier die Intertextualität. Ein anderes Argument wäre, daß ein literaturwissenschaftliches Studium immer schwieriger wird, wenn es keine Texte gibt, die alle kennen, und über die man sich verständigen kann. Trotzdem darf der kritische Rezipient keine Sekunde den Konstruktionscharakter des Kanons aus den Augen verlieren. Der Kanon ist eine Auswahl, die viele Texte vergißt, die nicht unbedingt vergessen werden sollten. ©rein
Sekundärliteratur: 1. A. Assmann /J. Assmann (Hg.): Kanon und Zensur. Archäologie der
literarischen Kommunikation, II, München 1987. 2. R. Grübel: Wert, Kanon und Zensur, in: H.L. Arnold / H. Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 601-622. 3. S. Winko: Literarische Wertung und Kanonbildung, in: H.L. Arnold / H. Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 585-600.
Juristische Hermeneutik
Entwickelte Gesellschaften pflegen die Normen des Verhaltens, die ein möglichst konfliktarmes Zusammenleben sichern sollen, in Form von Texten zu fixieren, die Gesetze genannt werden. Gesetzestexte beanspruchen universelle Geltung, d.h. sie sollen alle vorkommenden Fälle, Zweifels-, Streit- und Konfliktfälle erfassen. Das kann aber nie völlig gelingen, weil es - wie der englische Philosoph John Locke schon im 18. Jahrhundert bemerkt hat - sehr viel mehr Sachen (also: Situationen, Fälle) gibt als Wörter (bzw. Gesetze). Wie läßt sich dieses Problem bewältigen? Die Deutschen haben sich, in der Tradition des Römischen Rechts und ihrer eigenen, idealistischen Philosophie dafür entschieden, ein möglichst differenziertes (aber notwendig abstraktes) System von normativen Begriffen zu erstellen. In der Rechtsprechung ist dann zu entscheiden, ob der konkrete Fall unter die abstrakte Norm fällt. Das erweckt oft den Anschein einer logischen Operation. Tatsächlich ist es aber eher eine hermeneutische, nämlich die versuchsweise Auslegung oder Interpretation eines Gesetzes auf eine konkrete Situation hin - eine Applikation, die als plausibel anerkannt wird oder nicht. Dabei gibt es eine Anzahl von Interpretationshilfen: Kommentare zu den Gesetzen, Gesetzeskommentare, Sammlungen von exemplarischen Fällen und Entscheidungen, umfangreiche Fachliteratur und schließlich die Orientierung an der herrschenden Meinung, also der Auslegung, die sich - aus welchen Gründen auch immer - durchgesetzt hat. Die zentrale hermeneutische Situation in Streitfällen ist das Gerichtsverfahren: Hier wird in einer mehr oder weniger geregelten Prozedur überprüft, ob der tatsächliche Fall unter die Geltung einer gesetzlichen Norm fällt oder nicht. Dabei dürfen von definierten Rollenträgern, etwa von den Rechtsanwälten streitender Zivilparteien, konkurrierende (und jeweils interessengeleitete) Interpretationen vorgetragen werden. Der oder die Richter entscheiden den Streit der Interpretationen (Paul Ricoeur), sie besitzen eine vom Staat und seinem Gewaltmonopol garantierte Interpretations- und Entscheidungsmacht; manchmal setzt sich allerdings der Streit der Interpretationen innerhalb eines Gerichts fort. Im modernen rechtsstaatlichen Verfahren wird die Gefahr der 'falschen' Interpretation durch ein mehrstufiges Verfahren eingegrenzt. Die Deutung bzw. das Urteil einer Instanz kann bestritten und gegebenenfalls revidiert werden. In jedem Fall aber ist es Ziel der Rechtssprechung, dem notwendig unspezifisch bleibenden Gesetzestext eine eindeutige Auslegung, Applikation oder Konkretisierung zu geben. Ein grundsätzliches Problem, das sich dabei stellen kann, ist das der Historizität. Gesetzestexte müssen ergänzt, verändert, "novelliert" werden, um die Vielfalt der Fälle, und die neuartigen Fälle zu erfassen, die unsere historisch sich wandelnde Lebenswelt hervorbringt. Anders als in der theologischen Hermeneutik hilft es in der Rechtssprechung nur sehr begrenzt, die alten Formulierungen auf neue Situationen zu übertragen, also
symbolisch zu interpretieren: das würde dem Gebot der Eindeutigkeit und Sachangemessenheit zuwiderlaufen. © DS und JV
Sekundärliteratur: 1. J. Esser: Die Interpretation im Recht, in: Studium Generale 7 (1954), S. 372-379. 2. M. Kriele: Besonderheiten juristischer Hermeneutik, ebd., S. 409-412. 3. D. Nörr: Triviales und Aporetisches zur juristischen Hermeneutik, in: M. Fuhrmann / H.R. Jauß / W. Pannenberg (Hg.): Text und Applikation. Theologie, Jurispudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, München 1981, S. 235-246.
Interpretation lat. interpretatio, Deutung, Übersetzung, Erklärung
Umgangssprachlich wird der Begriff 'Interpretation' für die sprachliche, theatralische oder musikalische Präsentation eines Kunstwerks verwendet. In der Terminologie der Kulturwissenschaften bezeichnet er ein bestimmtes Verfahren: die methodisch reflektierte Auslegung oder Deutung eines sprachlichen Textes, aber auch anderer sinntragender Strukturen wie z.B. von Gesten, Handlungen, Bild- und Tonwerken, selbst von historischen Verläufen und sozialen Strukturen. Die - nicht immer offengelegte - Grundannahme dabei ist, daß eine solche Struktur einen bestimmten 'Gehalt', eine 'Aussage' oder 'Bedeutung' zwar enthalte, aber nicht unmittelbar oder deutlich genug auspreche. Die Interpretation wäre demnach ein rational begründetes und kontrollierbares Verfahren zur Verdeutlichung dieses Gehalts und der ihn tragenden Zeichenstrukturen. Insofern sie selbst (zumeist) wieder die Sprache als Medium der Auslegung benutzt, produziert sie schließlich auch eine bestimmte Textsorte, die - nicht nur in der Literaturwissenschaft - eben als 'Interpretation' (vom kurzen Aufsatz bis zur großen Monographie) bekannt ist. In diesem Sinne prägt die Werk-Interpretation die Arbeitsweise der Literaturwissenschaft und von ihr abgeleiteter Institutionen, wie z.B. den schulischen Literaturunterricht, teilweise auch die Literaturkritik. Zugleich steht sie seit langem unter grundsätzlichen kritischen Vorbehalten. Einer ist der der Willkür: Das Werk hat ja keine Möglichkeit, einen einseitigen oder ganz unsachgemäßen interpretatorischen Zugriff abzuwehren oder zu korrigieren. Deshalb dichtete schon Goethe ironisch: "Im Auslegen seid frisch und munter/legt ihr's nicht aus, so legt was unter!" Dahinter erhebt sich die Frage, warum Werke, die selbst sprachlicher Natur sind und 'etwas aussagen', überhaupt von einem Interpreten 'zum Sprechen gebracht' werden müssen. Der Philosoph Odo Marquard hat dies zu der provokativen Formel zugespitzt, die Interpretation sei "die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: wozu, wenn man doch den Text hat - brauchte man sie sonst?" Vielleicht braucht man sie deshalb, weil es beim Interpretieren nicht so sehr um Erkenntnis, als vielmehr um die Interpretationshoheit, also um einen Machteffekt handelt. Diese Behauptung könnte man anhand der päpstlichen Dogmen ebenso diskutieren wie anhand des vom Lehrer korrigierten und benoteten Interpretations-Aufsatzes im Deutschunterricht. Gegen solche Einwände stellen Verteidiger der Interpretation die Forderung, sie müsse zunächst plausibel und konsistent sein, d.h. sich auf möglichst viele Beobachtungen am Text stützen und sie möglichst widerspruchsfrei verknüpfen. Daß eine solche Interpretation dennoch stets selektiv oder perspektivisch bleibe, indem sie mögliche andere Beobachtungen oder Verknüpfungen ausschließt, ist
unbestritten. Im "Wettstreit" verschiedener Interpretationen (Paul Ricoeur) werde solche Einseitigkeit relativiert und die Erkenntnis der Komplexität eines Werkes wie in einer Spiralbewegung (Hermeneutischer Zirkel/Hermeneutische Spirale) vorwärtsgebracht. Speziell in der Literaturwissenschaft kann dabei, wie Karlheinz Stierle u.a. ausführen, die Kombination von sinnverstehenden und von analytischen Verfahren, also von Hermeneutik und Strukturalismus, produktiv gemacht werden. Sowohl der genannte 'Wettstreit der Interpretationen' als auch die strukturanalytische Fundierung der Interpretation tragen zur Überwindung einer spezifisch deutschen Tradition bei, die seit dem Philosophen Wilhelm Dilthey die sogenannte Einfühlung ins Zentrum allen Interpretierens stellte und in der Werkimmanenten Interpretation der fünfziger Jahre, etwa bei Emil Staiger, auch in der Germanistik schulbildend wurde. Während eine textanalytisch fundierte "Hermeneutik der Entfaltung" (Uwe Japp) im Alltag der heutigen Literaturwissenschaft ohne Zweifel ihren Platz behält, werden auf der Grundlage neuerer (und sehr gegensätzlich orientierter) Literaturtheorien (Poststrukturalismus, Empirische Literaturwissenschaft) auch weiterhin sehr grundsätzliche Argumente zu eine 'Kritik der Interpretation' vorgetragen. © JV
Sekundärliteratur: 1. U. Japp: Hermeneutik. Der theoretische Diskurs, die Literatur und die Konstruktion ihres Zusammenhangs in den philologischen Wissenschaften, München 1977. 2. J. Schutte: Einführung in die Literaturinterpretation, Stuttgart 1985. 3. A. Spree: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn 1995.
Paul Ricoeur
*27.2.1913, Valence Philosoph Ricoeur zählt zu den wenigen bedeutenden Denkern, die außerhalb Deutschlands dezidiert hermeneutische Positionen zur Begründung und zur Methodik der Humanwissenschaften entwickelt haben. Dies geschieht zunächst in enger Berührung mit der theologischen Hermeneutik, der Existenzphilosophie Heideggers und der Psychoanalyse Freuds. Auch wenn er dabei Ziele einer allgemeinen Hermeneutik verfolgt, so entwickelt Ricoeur immer wieder Kategorien und Überlegungen, die für eine literarische Hermeneutik von hohem Anregungswert sind. Zunächst ist die grundlegende Vorstellung von der bedeutungsstiftenden Kraft symbolischer Formen zu nennen, also z.B. der erzählerischen Fiktion oder der Metapher, die Ricoeur der traditionell philosophischen, insbesondere der logischen Erkenntnis als gleichwertige Alternative an die Seite stellt (dazu Ricoeurs Bücher Die lebendige Metapher, 1975, und Zeit und Erzählung, 3 Bde., 1983ff.). Sodann trifft er eine fruchtbare Unterscheidung zwischen zwei hermeneutischen Traditionslinien, die er als "Sammlung des Sinns" und "Übung des Zweifels" bezeichnet. Der ersten geht es um Teilhabe an der Überlieferung, der zweiten um deren kritische Durchleuchtung. Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud sind für Ricoeur "drei große 'Zerstörer'", die "den Horizont für eine authentischere Sprache" freilegen; und "gegen die Vorurteile ihrer Zeit eine mittelbare Wissenschaft des Sinns schaffen, die nicht auf das unmittelbare Bewußtsein des Sinns zurückführbar ist." (Die Interpretation, S.46f.) Damit wird die auch in Deutschland diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Hermeneutik und Ideologiekritik ebenso berührt wie Jürgen Habermas' Erläuterung der Freudschen "Tiefenhermeneutik". Schließlich verweist Ricouer sehr nachdrücklich auf die Textauslegung (und damit auf die Lesesituation) als hermeneutisches Modell und deren Differenz zum (etwa von Hans Georg Gadamer favorisierten) Modell des Gesprächs. Sie weist "vier Grundzüge" auf: "1. Fixierung des Sinngehalts, 2. Trennung des Sinngehalts und geistiger Intention des Autors, 3. die Entfaltung von nichtostentativen Bezügen, 4. die unbegrenzte Reihe der Adressaten." - Diese "Objektivität des Textes" führt nun in doppelter Hinsicht über eine 'Einfühlungshermeneutik' im Sinne Diltheys (oder auch der werkimmanenten Interpretation) hinaus.
Zum einen ermöglicht sie eine Unterscheidung von Autor- und Werkintention (wie sie später Umberto Eco betonen wird) und öffnet die Dimension der Wirkungsgeschichte, in der "wir [...] die potentiellen, nicht-ostentativen Bezüge des Textes in einer neuen Situation, in der des Lesers, zum Leben erwecken." (Der Text als Modell, S.109) Damit wird Ricoeur zum Vordenker einer später von Uwe Japp so genannten "Hermeneutik der Entfaltung"; er selbst schreibt unter Anspielung auf eine berühmte Formulierung Schleiermachers: "Einen Autor besser verstehen als er sich verstanden hat, heißt, die in seinem Diskurs eingeschlossenen Bewußtseinsvorgänge über den Horizont seiner eigenen existenziellen Erfahrung hinaus zu entfalten." (S.113) Zum andern aber kann man den Text, unter Ausschaltung aller Bezüge zur Außenwelt, als ein in sich geschlossenes System ganz 'von innen' betrachten: dieser "Weg des Lesens wird heute durch die verschiedenen strukturalistischen Schulen der Literaturkritik exemplifiziert." (S.109) In der Kombination beider Zugänge, einer "Dialektik von Verstehen und Erklären", oder umgekehrt: von "Entschlüsselung und Aneignung" (S.113), ist Ricouers eigenständige hermeneutische Position zu fassen. In der (deutschen) Literaturwissenschaft ist das Konzept einer hermeneutischen Integration von analytischen Verfahren des Strukturalismus besonders von Karlheinz Stierle weitergeführt worden. © JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍
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Die Interpretation. Ein Versuch über Freud (1965) Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen (1969) Der Text als Modell (1972)
Sekundärliteratur: 1. U. Japp: Hermeneutik. Der theoretische Diskurs, die Literatur und die Konstruktion ihres Zusammenhanges in den philologischen Wissenschaften, München 1977. 2. J. Mattern: Paul Ricoeur zur Einführung, Hamburg 1996. 3. K. Stierle: Für eine Öffnung des hermeneutischen Zirkels, in: Poetica 17 (1985), S.340-371.
Strukturalismus
Als interdisziplinäre Forschungsrichtung, die ihren produktiven Höhepunkt in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte, beruft sich der Strukturalismus vor allem auf die Einsichten und Methoden des Linguisten Ferdinand de Saussure zum Aufbau von Sprachen und anderen Bedeutungssystemen (zum Beispiel eines literarischen Werkes). Im Mittelpunkt der strukturalistischen Literaturwissenschaft steht die einem Werk zugrundeliegende Struktur: Strukturen sind als regelhafte Zusammenhänge nicht sichtbar, sondern nur rekonstruierbar. Ziel einer Strukturanalyse ist es, sämtliche Einheiten eines Systems (einer Struktur) herauszuarbeiten und zu klassifizieren sowie die Regeln ihrer Kombination zu beschreiben. Struktur bezeichnet die Menge der Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems. Der Rückgriff auf Saussures relationales Zeichenmodell und auf die von ihm als willkürlich gesetzt erkannte Verbindung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem erlaubt es, die Bedeutung eines Zeichens nicht aus dem Bezug auf die außersprachliche Wirklichkeit (aus der Referenz) heraus zu verstehen, sondern allein aus seiner Stellung im Beziehungsgefüge der Struktur. Strukturalisten betonen daher die synchrone Untersuchung einer Werkstruktur und weisen außersystemische Determinanten wie beispielsweise die Biographie des Autors oder sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte zurück. Gleichzeitig liefern sie ein analytisches Handwerkszeug, mit dem die Mechanismen literarischer Werke untersucht werden können und tragen so zur 'Entmystifizierung der Literatur' (S. 86) und zu einer intersubjektiv nachvollziehbaren Interpretation bei. Am Inhalt eines Textes ist die Strukturanalyse nicht interessiert: Hat man mit den Beziehungen zwischen den Einheiten das formale Organisationsprinzip des Werkes erkannt und die Regeln ihrer Zusammenstellung benannt, so lassen sich die Einheiten (genau wie in einem Satzbaumodell) austauschen. "Wenn die spezifischen Inhalte eines Textes austauschbar sind, kann man in einem bestimmten Sinne sagen, daß der 'Inhalt'[der Erzählung ihre] Struktur ist. Ihr 'Thema' sind ihre eigenen internen Beziehungen, ihre eigenen Formen der Sinngebung." (S. 74) Eine Richtung innerhalb der strukturalistischen Literaturwissenschaft hat sich darauf konzentriert, die einen Text beherrschenden binären Oppositionen zu bestimmen, um das darin enthaltene Weltmodell zu rekonstruieren. Den wohl nachhaltigsten Einfluß hat die strukturale Methode aber – über den Umweg der Mythenforschung von Claude Lévi-Strauss – auf die Erzählforschung (Narratologie) ausgeübt . Sie ist darum bemüht, unter der Oberfläche des
Erzählten bestimmte Tiefenstrukturen zu erarbeiten, die für viele oder alle Erzählungen überhaupt gelten. R. Barthes, A.J. Greimas (Strukturale Semantik, 1975) und G. Genette sind die produktivsten Vertreter dieser Richtung. So erhellend gerade die erzähltheoretischen Einsichten – beispielsweise von Genette – auch sind, dem Strukturalismus wird zurecht zweierlei vorgeworfen: Erstens werden in seiner Betrachtungsweise individuelle Phänomene häufig zu bloßen Beispielsätzen eines Regelwerks reduziert. Zweitens gilt der "Strukturalismus als haarsträubend ahistorisch" (S. 89), weil er die historisch bedingte Entwicklung der angeblich universellen Strukturmuster nicht berücksichtigt und den Aspekt von "Literatur als einer sozialen Praxis" (S. 92) völlig ignoriert. © pflug
T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1994.
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
R. Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen (1987) G. Genette: Die Erzählung (1994) J. M. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes (1975)
Sekundärliteratur: 1. J. Culler: Structuralist Poetics, London 1975. 2. G. Schiwy: Der französische Strukturalismus, München 1973.
Emil Staiger
* 08.02.1908, Kreuzlingen † 28.04.1987, Horgen Germanistischer Literaturwissenschaftler Staiger war durch seine langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Zürich und durch Bücher wie Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters (1939) oder Grundbegriffe der Poetik (1946) seit den vierziger Jahren einer der renommiertesten deutschsprachigen Literaturwissenschaftler. Nach Ende des Zweiten Weltkrieg trug er maßgeblich zum methodischen Siegeszug der sogenannten werkimmanenten Interpretation auch in (West-)Deutschland bei. In literaturtheoretischer Hinsicht bemühte er sich um eine überzeitliche, anthropologische Bestimmung literarischer Kategorien, z.B. der dichterischen Gattungen, in denen er "fundamentale Möglichkeiten des menschlichen Daseins" ausgedrückt sah: - im Lyrischen etwa die Dimension der Vergangenheit, im Epischen die der Gegenwart und im Dramatischen die der Zukunft. Eine punktuelle Anlehnung an die philosophische Phänomenologie bzw. an die Existenzphilosophie Martin Heideggers ist nicht zu verkennen; dennoch bleibt die hermeneutische Reflexion - besonders was die Historizität von Text und Interpretation angeht - sehr verkürzt. Literaturhistorisch galt Staigers Interesse besonders der klassisschen und nachklassischen Literatur deutscher Sprache. Aufsehen erregte, im Kontrast dazu, 1967 seine scharfe Polemik gegen die Gegenwartsliteratur (sog. Zürcher Literaturstreit). Staigers Vortrag Die Kunst der Interpretation (1955) läßt die grundsätzliche Übereinstimmung mit (und einen gewissen Unterschied zu) Wolfgang Kaysers Position leicht erkennen: "Als wissenschaftliche Richtung [...] hat sich die Interpretation - die Stilkritik oder immanente Deutung der Texte - erst seit zehn bis fünfzehn Jahren durchgesetzt. Erst jetzt wird erklärt, den Forscher gehe allein das Wort der Dichter an; er habe sich nur um das zu kümmern, was in der Sprache verwirklicht sei." Staiger will im Meinungsstreit über diese Richtung "versuchen, ein Beispiel zu geben, eine Interpretation, und [...] bei jedem Schritt überlegen, wohin er führt und ob er wissenschaftlich verantwortet werden kann." Anhand von Eduard Mörikes Gedicht Auf eine Lampe zeigt Staiger nun seinen methodischen Weg vom naiven Wortverständnis über die affektive Einfühlung zur sogenannten Stilkritik. "Diese Verse bedürfen keines Kommentars. Wer Deutsch kann, erfaßt den Wortlaut des Textes." Aber der Interpret versucht "etwas über die Dichtung auszusagen, was ihr Geheimnis und ihre Schönheit, ohne sie zu zerstören, erschließt". Möglich scheint dies nur auf Grundlage einer
affektiven Wirkung: "die Verse sprechen uns an; wir sind geneigt, sie wieder zu lesen, uns ihren Zauber,ihren dunkel gefühlten Gehalt zu eigen zu machen. [...] Das allersubjektivste Gefühl gilt als Basis der wissenschaftlichen Arbeit! Ich kann und will es nicht leugnen." Allerdings soll das affektive Berührtsein, ja die 'Liebe' zum Text in analytische Erkenntnis umgesetzt werden. Staiger möchte "begreifen, was mich ergreift". Alle Beobachtungen am Text (etwa zu Wortwahl, Klang, Metrik und Rhythmus) haben ein gemeinsames Ziel: die stilistische Individualität des Werkes zu bestimmen. "Wir nennen Stil das, worin ein vollkommenes Kunstwerk - oder das ganze Schaffen eines Künstlers oder auch einer Zeit - in allen Aspekten übereinstimmt. [...] Im Stil ist das Mannigfaltige eins. Er ist die Dauer im Wechsel. Daher denn alles Vergängliche unvergänglichen Sinn gewinnt durch Stil. Kunstgebilde sind vollkommen, wenn sie stilistisch einstimmig sind." Solche Stilkritik ist nur teilweise erlernbar, zum anderen Teil bleibt sie intuitiv. Daraus folgt auch für Staiger: "Nicht jeder Beliebige kann Literarhistoriker sein. Begabung wird erfordert, außer der wissenschaftlichen Fähigkeit ein reiches und empfängliches Herz, ein Gemüt mit vielen Saiten, das auf die verschiedensten Töne anspricht." (S. 7ff.) Seit Mitte der sechziger Jahre wurde immer deutlicher Kritik an Staigers Positionen (wie auch an denen von Wolfgang Kayser) vorgetragen. Sie richtete sich gegen die ahistorische Vorstellung vom dichterischen Werk, die leitende Rolle des Gefühls bei der Interpretation, den engen, aber kaum begründeten Kanon der wertvollen Werke - und nicht zuletzt auch gegen die elitäre Bestimmung der literaturwissenschaftlichen Tätigkeit. Aus historischem Abstand hat später Klaus Berghahn eine abwägende Bewertung dieser Positionen vorgenommen. © JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters (1939) Grundbegriffe der Poetik (1946) Die Kunst der Interpretation (1955)
Sekundärliteratur: 1. M.B. Benn: Problematische Aspekte der Stilkritik. Bemerkungen zu der literaturwissenschaftlichen Methode Emil Staigers, in: R. Grimm / J. Hermand (Hg.): Methodenfragen der deutschen Literaturwissenschaft, Darmstadt 1973, S. 255-267. 2. B. Böschenstein: Emil Staigers "Grundbegriffe": ihre romantischen und klassischen Ursprünge, in: W. Barner / C. König (Hg.): Zeitenwechsel.
Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt/M. 1996, S. 268-281. 3. P. Salm: Drei Richtungen der Literaturwissenschaft: Scherer - Walzel Staiger, Tübingen 1970.
Uwe Japp
* 26.6.1948, Verden an der Aller Literaturwissenschaftler In seiner 1977 veröffentlichten Dissertation mit dem schlichten Titel Hermeneutik nimmt Uwe Japp Peter Szondis Forderung nach der Entwicklung einer literaturspezifischen Hermeneutik auf. "Die philologische Hermeneutik ist also, trotz ihrer langen Geschichte, immer noch ein Projekt." (S. 39) Japp geht von einer prinzipiellen Differenz zwischen Interpretation (Theoriesprache) und dichterischem Werk (Literatursprache) aus. Hermeneutik bzw. Interpretation kann demnach nicht naturwüchsige Einholung des Sinnes sein, sondern bleibt "Konstruktion" - und eben dies sollte jedem Interpreten bewußt sein. Die philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers hat zwar auch der Literaturwissenschaft zu hermeneutischer Reflexion verholfen; sie führt diese jedoch in Gefahr, als "Hermeneutik der Reduktion" auf den 'einzig gültigen Sinn' den tatsächlichen Charakter des literarischen Werkes zu verfehlen, dessen sprachliche Mehrdeutigkeit stets vielfachen Sinn produziert und deshalb eine "Hermeneutik der Entfaltung" (S. 47) erfordert. Sie hat die grundsätzliche Polysemie der Sprache, die Eigenheit der Schrift als Literaturmedium, die Zeitstruktur der Werke und ihren historischen Ort (in Distanz zum Interpreten) zu berücksichtigen. Natürlich kann eine bestimmte Interpretation nicht das ganze Bedeutungspotential eines Werks entfalten. Dies geschieht, wie schon Paul Ricoeur dargestellt hat, erst im "Wettstreit der Interpretationen". Um dabei mitreden zu können, muß sich jede konkurrierende Interpretation um größtmögliche "Konsistenz" und "Plausibilität", d.h. Dichte ihrer Beobachtungen und Widerspruchsfreiheit ihrer Argumentation bemühen. Nur so kann sie konkurrierenden Deutungen standhalten - wobei ihr immer nur der "Status der Wahrscheinlichkeit" zukommt, da sie von künftigen Interpretationen mit neuen Argumenten bzw. Beobachtungen in Frage gestellt und überholt werden kann. Mit der Einsicht in den Konstruktions-Charakter der Interpretation werden verschiedene ältere oder zeitgenössische Hermeneutik-Konzepte überholt bzw. revidiert. Ein Interpret kann immer nur selektiv vorgehen, unmöglich alle faktischen oder möglichen Kontexte eines Werks erfassen (Schleiermacher). Er vermag sich auch nicht in den Autor oder das Werk 'hineinzuversetzen' (Dilthey) oder den eigenen Verstehenshorizont tatsächlich mit dem kulturellen Horizont des Werkes zu "verschmelzen" (Gadamer).
Auch der "krasse Subjektivismus" der werkimmanenten Interpretation eines Emil Staiger erscheint Japp als vorhermeneutisches Mißverständnis (S. 111f.). Letzte Instanz aller Interpretationsbemühung bleibt der literarische Text in seiner (sprachlichen) Eigenheit und "Kohärenz" (Strukturzusammenhang). Zur Erkenntnis dieser Kohärenz tragen aber nichthermeneutische Verfahren, etwa die linguistischen Analysen des Strukturalismus, mehr und genaueres bei als die "traditionellen Verfahren der Hermeneutik" (S. 75); deshalb müssen sie in eine literarische Hermeneutik der Entfaltung methodisch integriert werden. © DS und JV
Uwe Japp: Hermeneutik. Der theoretische Diskurs, die Literatur und die Konstruktion ihres Zusammenhangs in den philologischen Wissenschaften, München 1977.
Poststrukturalismus auch: Neostrukturalismus, Dekonstruktivismus
"Was also ist ein Text? Ich werde nicht mit einer Definition antworten, das käme einem Rückfall in das Signifikat gleich. Der Text, im modernen Sinn, den wir diesem Wort zu geben versuchen, unterscheidet sich grundlegend vom literarischen Werk: Er ist kein ästhetisches Produkt, sondern eine signifikante Praxis; er ist nicht eine Struktur, sondern eine Strukturierung; er ist nicht ein Objekt, sondern eine Arbeit und ein Spiel; er ist nicht eine Menge geschlossener,mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen, sondern ein Volumen sich verschiebender Spuren; die Instanz des Textes ist nicht die Bedeutung, sondern der Signifikant in der semiotischen und psychoanalytischen Verwendung dieses Terminus; der Text geht über das frühere literarische Werk hinaus; es gibt zum Beispiel einen Text des Lebens, in den ich durch das Schreiben über Japan Eingang zu finden suchte." (Barthes, S. 11) Der Textbegriff spielt im Poststrukturalismus eine grundlegende Rolle. Roland Barthes benennt in dieser Beschreibung wesentliche Aspekte poststrukturalen Denkens und führt sie mit seiner Schreibweise gleichzeitig vor. Schon im sprachwissenschaftlich inspirierten Strukturalismus wurde bei Textanalysen der Rekurs auf eine außersprachliche Einbettung (Zeitgeschichte, Autorintention, Autorbiographie) abgelehnt: Das literarische Zeichen erschien als von der realen Welt des Autors und Lesers abgekoppelt. Die Bedeutung eines Werkes sollte nur aus seiner inneren Struktur heraus rekonstruiert werden. Die Poststrukturalisten radikalisieren und kritisieren die strukturale Herangehensweise, wenn sie die früher übliche Trennung von Form und Bedeutung (Signifikant und Signifikat) literarischer Zeichen mißachten, weil aus ihrer Sicht eine feste Bedeutung nicht feststellbar ist: Der Versuch, die Bedeutung eines Signifikanten festzustellen, führt nur zu weiteren Signifikanten, die man zu seinem Verständnis benötigt usf. Daraus folgt die Weigerung, den Sinn von Texten als buchstäblichen festzustellen, Definitionen zu geben und literarische Texte als geschlossene Werke zu betrachten: Die Grenze zwischen der (Literatur-) Wissenschaft als Theorie und der Literatur als ihrem Objekt wird dabei nicht einfach überschritten, sondern grundsätzlich negiert, was in den Schriften von Roland Barthes, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Jean Baudrillard besonders deutlich wird. Sie schreiben nicht über Literatur, sondern gehen in ihrer Lektüre den intertextuellen Beziehungen zwischen dem gelesenen Text und anderen Texten nach. Ging es in der strukturalen Textanalyse um die Entschlüsselung der literarischen
Codes, so verstehen die Poststrukturalisten ihre Tätigkeit als ‚subversiv‘, indem sie mit Hilfe der Texte selbst die in ihnen verwendeten Codes zerstören. Michel Foucault und Roland Barthes beantworten die Frage Was ist ein Autor? mit einer Absage an metaphysische Vorstellungen von Identität und Subjekt: Der Autor wird als Urheber eines Werkes negiert, da er – wie auch der Leser – von präexistierenden Codes abhängt: Es gibt somit kein 'Außerhalb' der Texte, was auch dazu geführt hat, daß die poststrukturale Theorie zu einer umfassenden Kulturtheorie weiterentwickelt wurde, in der die Welt als Text gelesen wird: Eine außersprachliche (eigentlich: außersemiotische) Wirklichkeit, auf die im Text Bezug genommen würde, existiert nicht, vielmehr sind Selbst- und Fremdbild ebenso codiert wie Texte und damit nie genau faßbar. Eine materialistische oder semiotische Kritik an Strukturen und Codes, die unsere Wahrnehmung eben nicht naturgemäß, sondern historisch entwickelt organisieren, ist nicht mehr möglich, da man sich nie jenseits von Strukturen befinden kann. Barthes ersetzt die bisherigen, nach den politischen Bewegungen um 1968 als gescheitert anzusehenden Versuche einer ideologiekritisch-aufklärerischen Codezerstörung durch ein subversives, die Codes verschiebendes Schreiben, Foucault entwickelt eine feinsinnige Analyse der Mikrophysik der Macht, die in den Strukturen enthalten ist. © pflug
Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988.
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
R. Barthes: S/Z, Frankfurt/M. 1976. R. Barthes: Das Reich der Zeichen, Frankfurt/M. 1981. M. Foucault: Was ist ein Autor?, In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, S. 233-247.
Sekundärliteratur: 1. J. Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek 1988. 2. T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1992. 3. S. Münker/A. Roesler: Poststrukturalismus, Stuttgart 2000.
Empirische Literaturwissenschaft
"Bekämpfen Sie das häßliche Laster der Interpretation! Bekämpfen sie das noch häßlichere Laster der richtigen Interpretation!" So lautet der programmatische Titel eines 1979 von Siegfried J. Schmidt verfaßten Aufsatzes, in dem er die Abschaffung der Interpretation für den Bereich des wissenschaftlichen Handelns fordert. Interpretation sei das subjektivistische und irrationalistische Privatvergnügen von Germanisten, das einer Prüfung auf Wissenschaftlichkeit nicht stand halten könne. Schmidt unterstellt hiermit, daß die Interpretation (die es in dieser Form als die Interpretation gar nicht gibt) theoretisch nicht genügend fundiert ist (also kein akzeptables wissenschaftliches Programm präsentiert), daß sie auf 'weichen' Kategorien wie "Einfühlung" oder "allersubjektivsten Gefühlen" fußt, und deshalb mehr Kunst als Wissenschaft sei. Auch unterstellt er, daß sie vornehmlich der Ermittlung der Autorintention und der richtigen Bedeutung des Textes diene. An dieser Stelle wird deutlich, daß sich die Vorwürfe Schmidts nicht generell auf literaturwissenschaftliche Verfahrensweisen applizieren lassen, sondern besonders die werkimmanente Interpretation Wolfgang Kaysers und Emil Staigers treffen. Vor allem das "Nicht-Lehrbare" der Interpretation, die Idee, daß "nicht alle (dazu) berufen" sind, wie es Wolfgang Kayser 1948 formulierte, ist im Sinne der Empirischen Literaturwissenschaft (ELW) nicht tolerabel. Gerade die Vermittelbarkeit von wissenschaftlichen Kategorien und damit das 'Erlernen-Können' einer wissenschaftlichen Methode ist eine Grundidee Schmidts. Möglich wird dies, indem der Literaturwissenschaftler sich radikal vom Text abwendet. Er versucht nicht mehr länger, den Text zu analysieren, sondern wendet sich der Analyse des 'Literatursystems' zu. Dieses Literatursystem gliedert sich in verschiedene Handlungsrollen - Produktion, Vermittlung, Rezeption, Verarbeitung - , auf die sich das Hauptaugenmerk richtet. Der Empirische Literaturwissenschaftler versucht, "das Verhalten von Teilnehmern am Literatursystem vor Ort (in der Schule, bei Autorenlesungen, Preisverleihungen, im Kindergarten, bei Literaturlesern zu Hause, usw.) oder im Untersuchungsraum der Hochschule fest(zu)halten." (S. 144). Methodisch bedient sich die ELW bei der empirischen Sozialforschung, der Psychologie und Psycholinguistik und favorisiert Beobachtung, Befragung oder Interview, Experiment, Gruppendiskussion, Sekundärauswertung und Computersimulation. Das Besondere an dieser Vorstellung von Literatur als einem System ist, daß die Vertreter der ELW davon ausgehen, daß das Literatursystem eigenständig neben anderen gesellschaftlichen Teilsystemen (Wirtschaft, Politik, Kunst) bestimmte Funktionen bzw. Leistungen für andere Teilbereiche der Gesellschaft übernimmt. Die Hauptfunktion des Literatursystems besteht nach Schmidt darin, das Individuum von Differenzierungsschäden zu heilen. Was haben wir uns darunter vorzustellen? Schmidt und andere Systemtheoretiker gehen davon aus, daß der Mensch beim Übergang zur modernen Gesellschaft immer häufiger sein Getrenntsein von der Welt erfährt. Er handelt tagtäglich in verschiedenen
sozialen Rollen, als Anwalt, Ehemann, Käufer, Antragsteller, Patient usw., ohne jemals als ganze Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Er empfindet sich häufig oder ständig nur als Bruchstück seines Ichs, er hat sich von der Welt entfernt. Diese Erfahrung, die sich im Gefühl der Entfremdung niederschlägt, soll nun durch die Literatur, durch Lektüre überwunden oder kompensiert werden. Bleibt die Frage, was für den Empirischen Literaturwissenschaftler als literarischer Text gilt. Die Antwort lautet, daß dies von der Beobachtung der Aktanten des Literatursystems abhängt. Behandeln sie einen Text als literarischen Text? Lesen sie ihn nicht in erster Linie auf Referenzialisierbarkeit in der Wirklichkeit hin? Wollen sie die Aussagen des Textes nicht auf ihren Wahrheitsgehalt, ihre Authentizität prüfen? Dann verhalten sie sich der sogenannten 'Ästhetikkonvention'gemäß, und die ELW hat ein erstes Indiz für einen literarischen Text gefunden. Das zweite Indiz zeigt sich, wenn der Leser den Text nicht auf eine feststehende Bedeutung hin liest, sondern viele mögliche Bedeutungen erwartet. Nun hat der Leser auch die 'Polyvalenzkonvention' erfüllt. Der Aktant hat den Text als literarischen Text behandelt, also handelt es sich um einen literarischen Text. Dabei kann es sich dann – rein theoretisch – auch um einen Einkaufszettel handeln, der einem bekannten Lyriker bei seinem freitäglichen Einkauf aus der Manteltasche fällt, von einem glühenden Fan aufgehoben wird und in der nächsten Ausgabe der lokalen Literaturzeitschrift als Sensation veröffentlicht wird. Der Einkaufszettel des Dichters wurde durch die Handlungen der Aktanten (Fan, Zeitschriftenredaktion, Leser) zu Literatur. Stellt man die Frage nach der Anwendbarkeit dieser Theorie, so ist es wohl am wichtigsten, das eigene Erkenntnisinteresse zu formulieren. Man muß sich klarmachen, daß der Text als Kunstwerk, als Botschaft der Geschichte oder der Geschichtenerzähler für die ELW nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses steht. Vielmehr ist es das soziale Handlungssystem Literatur, das im Fokus des Wissenschaftlers / Studenten erscheint. ©rein
Helmut Hauptmeister / Siegfried Schmidt: Einführung in die Empirische Literaturwissenschaft, 1985 Wichtige Schriften: ❍
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Siegfried J. Schmidt: Bekämpfen Sie das häßliche Laster der Interpretation! Bekämpfen Sie das noch häßlichere Laster der richtigen Interpretation!, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 8 (1979), S. 279-309. Siegfried J. Schmidt: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert (1989).
Sekundärliteratur: 1. N. Groeben: Empirisch-konstruktivistische Literaturwissenschaft, in: H. Brackert / J. Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1995, S. 619-629. 2. D. Schöttker: Theorien der literarischen Rezeption. Rezeptionsästhetik, Rezeptionsforschung, Empirische Literaturwissenschaft, in: H.-L. Arnold/ H. Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 537-554. 3. A. Spree: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn u.a. 1995.
Karl Marx / Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie (Ausschnitt) (1845/46)
Die Gedanken der herrschenden Klasse [...] Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft. Die Individuen, welche die herrschende Klasse ausmachen, haben unter Anderem auch Bewußtsein und denken daher; insofern sie also als Klasse herrschen und den ganzen Umfang einer Geschichtsepoche bestimmen, versteht es sich von selbst, daß sie dies in ihrer ganzen Ausdehnung tun, also unter Anderm auch als Denkende, als Produzenten von Gedanken herrschen, die Produktion und Distribution der Gedanken ihrer Zeit regeln; daß also ihre Gedanken die herrschenden Gedanken der Epoche sind. Zu einer Zeit z.B. und in einem Lande, wo königliche Macht, Aristokratie und Bourgeoisie sich um die Herrschaft streiten, wo also die Herrschaft geteilt ist, zeigt sich als herrschender Gedanke die Doktrin von der Teilung der Gewalten, die nun als ein "ewiges Gesetz" ausgesprochen wird. [...] Löst man nun bei der Auffassung des geschichtlichen Verlaufs die Gedanken der herrschenden Klasse von der herrschenden Klasse los, verselbständigt man sie, bleibt dabei stehen, daß in einer Epoche diese und jene Gedanken geherrscht haben, ohne sich um die Bedingungen der Produktion und um die Produzenten zu kümmern, läßt man also die den Gedanken zugrunde liegenden Individuen und Weltzustände weg, so kann man z.B. sagen, daß während der Zeit, in der die Aristokratie herrschte, die Begriffe Ehre, Treue etc., während der Herrschaft der Bourgeoisie die Begriffe Freiheit, Gleichheit etc. herrschten. Die herrschende Klasse bildet sich dies im Durchschnitt ein. [...] Nachdem einmal die herrschenden Gedanken von den herrschenden Individuen und vor allem von den Verhältnissen, die aus einer gegebenen Stufe der Produkionsweise hervorgehen, getrennt sind und dadurch das Resultat zustande gekommen ist, daß in der Geschichte stets Gedanken herrschen, ist es sehr leicht, aus diesen verschiedenen Gedanken sich "den Gedanken", die Idee etc. als das in der Geschichte Herrschende zu abstrahieren und damit alle diese einzelnen
Gedanken und Begriffe als "Selbstbestimmung" des sich in der Geschichte entwickelnden Begriffs zu fassen. Es ist dann auch natürlich, daß alle Verhältnisse der Menschen aus dem Begriff des Menschen, dem vorgestellten Menschen, dem Wesen des Menschen, dem Menschen abgeleitet werden können. Dies hat die spekulative Philosophie getan. [...] Während im gewöhnlichen Leben jeder Shopkeeper sehr wohl zwischen dem zu unterscheiden weiß, was Jemand zu sein vorgibt, und dem, was er wirklich ist, so ist unsere Geschichtsschreibung noch nicht zu dieser trivialen Erkenntnis gekommen. Sie glaubt jeder Epoche aufs Wort, was sie von sich selbst sagt und sich einbildet. [...] (S. 46ff.)
Karl Marx / Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, in: Karl Marx / Friedrich Engels: Werke, Bd. 3, Berlin 1969.
Georg Lukács
* 13.04.1885, Budapest † 04.06.1971, Budapest Philosoph und Literaturtheoretiker Das umfangreiche Lebenswerk des (zumeist deutsch publizierenden) Philosophen Georg Lukás umfaßt eine Reihe von Schriften, die sich in theoretischer, historischer oder auch aktuell politischer Hinsicht mit der Literatur befassen. Historisch sind die vormarxistischen Frühschriften (bis etwa 1918) und die im Moskauer Exil nach 1930 entstandenen, dezidiert marxistischen Werke zu unterscheiden. Mit diesen bezieht der KP-Funktionär Lukács nicht nur gegen die bürgerliche Ästhetik Stellung, sondern auch gegen konkurrierende marxistische Theoretiker oder Autoren. Eine Bewertung seiner zeitweise sehr einflußreichen Schriften muß deshalb historisch und literaturpolitisch sehr genau differenzieren. Der junge Lukács, Sohn eines Budapester Bankiers, lernt um 1910 in Berlin und Heidelberg den deutschen Idealismus, aber auch die aktuelle Lebensphilosophie kennen, wird von Georg Simmel und Wilhelm Dilthey inspiriert. Neben dem Essayband Die Seele und die Formen (1911) ragt unter den Frühschriften die Theorie des Romans (1916) hervor. Aus dem Krisengefühl des Ersten Weltkriegs heraus radikalisiert Lukács die bei Hegel vorgezeichnete Historisierung der Prosaformen und antizipiert wichtige Entwicklungslinien des modernen Romans. Seine Thesen werden u.a. von Walter Benjamin fortgeführt; selbst Theodor W. Adorno räumt bei aller Kritik an Lukács ein, die Theorie des Romans habe "durch Tiefe und Elan der Konzeption ebenso wie durch die nach damaligen Begriffen außerordentliche Dichte und Intensität der Darstellung einen Maßstab philosophischer Ästhetik aufgerichtet, der seitdem nicht wieder verloren ward." (S. 152) Seit 1930 versucht Lukács, zumeist von Moskau aus, mit programmatischen Aufsätzen die Literaturpolitik innerhalb der KPD auf einem der Parteiführung genehmen Kurs zu halten. Unter Titeln wie Tendenz oder Parteilichkeit? und Reportage oder Gestaltung? argumentiert er gegen 'modernistische' Formexperimente (Reportage, Montage, Verfremdung) und versucht die Autoren aufs Leitbild des bürgerlich-realistischen Romans (nach dem Vorbild Balzacs und Tolstois) zu verpflichten. Allein diesem Modell - so wird die nur auf den ersten Blick überraschende Traditionswahl begründet - sei es möglich, den historischen Gesamtprozeß differenziert widerzuspiegeln und zu perspektivieren. Unübersehbar ist freilich auch, daß es bruchlos in das Konzept des Sozialistischen Realismus (positiver
Held, fortschrittliche Zukunftsperspektive) einzupassen war, das Stalins oberster Literaturfunktionär Shdanow in der UdSSR durchgesetzt hatte. Die reglementierende, ja ausgrenzende Funktion von Lukács' Literaturtheorie wird in der Expressionismusdebatte von 1937/38 besonders deutlich. Seinem normativem Realismusbegriff fällt nicht nur die bürgerliche Avantgarde zum Opfer, von Proust und Joyce bis zum deutsche Expressionismus, den er als präfaschistisch versteht. Auch moderate Experimente sozialistischer Autoren werden quasi parteioffiziell diskreditiert - was zu entschiedenen bis polemischen Gegenreden der Betroffenen und ihrer Freunde - u.a. Anna Seghers, Bertolt Brecht, Hanns Eisler und Ernst Bloch führte. Nach 1940 hat Lukács diese Positionen in umfangreichen literarhistorischen Studien zum bürgerlichen Realismus, zum Historischen Roman, zu Goethe, Thomas Mann und anderen ausgearbeitet. In der DDR funktionierte die LukácsDoktrin noch als literaturpolitische Leitlinie, nachdem er selbst mit dem ungarischen Reformkommunismus von 1956 schon in Ungnade gefallen war. In der Bundesrepublik wurden seine Arbeiten als Alternative zur etablierten Literaturgeschichte rezipiert, wobei ihr ästhetisch konservativer Charakter auf Dauer freilich nicht zu übersehen war. © JV
Theodor W. Adorno: Erpreßte Versöhnung. Zu Georg Lukács: Wider den mißverstandenen Realismus, in: ders.: Noten zur Literatur II, Frankfurt/M. 1961, S. 152-187. Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Die Theorie des Romans (1916) Es geht um den Realismus (1938) Kurze Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur (1945)
Sekundärliteratur: 1. W. Jung: Georg Lukács, Stuttgart 1989. 2. H.-J. Schmitt: Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, Frankfurt/M. 1973.
Theodor W. Adorno
* 11.09.1903, Frankfurt am Main † 06.08.1969, Visp / Wallis Philosoph, Soziologe und Musiktheoretiker Der junge Philosophiedozent Theodor W(iesengrund) Adorno zählte vor 1933 zu einer Generation deutsch-jüdischer Intellektueller, die theoretische Einsichten des Marxismus, aber etwa auch der Psychoanalyse für die kritische Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft nutzen wollte. Mehr oder weniger enge Kontakte verbanden ihn mit Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Georg Lukács, Bertolt Brecht u.a. Mit seinem Freund Max Horkheimer, dem Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Frankfurter Universität, überstand Adorno das amerikanische Exil und reimportierte die sogenannte Kritische Theorie nach Westdeutschland. Ihre Frankfurter Schule gewann bald profilierte Köpfe aus der nächstjüngeren Generation (Jürgen Habermas, Oskar Negt) und wurde in den sechziger Jahren zum Kristallisationspunkt gesellschaftskritischen Denkens im (und gegen den) weithin immobilen CDUStaat - und damit zu einer theoretischen Quelle der Studentenbewegung von 1967/68. Adorno verstand sich als Fachphilosoph, der über Kant, Hegel, Husserl und Kierkegaard schrieb und die schwer lesbare Negative Dialektik (1966) als sein Hauptwerk betrachtete. Seit dem amerikanischen Exil war er auch mit aufwendigen empirisch-soziologischen Forschungen befaßt. Seine musikalische Begabung führte ihn jedoch von Anfang an auch zu Fragestellungen der allgemeinen Ästhetik sowie speziell zur Musiksoziologie (von wo sich Transfermöglichkeiten zur Literatur ergaben). Zentrales Moment in Adornos Ästhetik ist die Einsicht in den "Doppelcharakter der Kunst als autonom und als fait social" (soziale Tatsache) und die Konsequenz daraus: "Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form." (S. 16). Mit dieser dialektischen Verknüpfung von historischem Gehalt und ästhetischer Formsprache überholt Adorno sowohl die vulgärmarxistische Sicht des Kunstwerks als bloße Widerspiegelung der Sozialstruktur, als Reflex der Klassenkämpfe (z.B. im Sozialistischen Realismus), wie auch die spätbürgerliche Kunstreligion, die gegen alle Erfahrung noch an eine zeitenthobene Sphäre des Schönen (Wahren, Guten?) glaubt (z.B. die Werkimmanente Interpretation). Die erwähnte Dialektik zeigt sich darin, daß das Kunstwerk kritische, ja utopische Distanz zur schlechten historischen Realität halten kann - freilich nur, wenn es in seiner inneren Organisation auf dem Stand der gesellschaftlichen Entwicklung bleibt. Im Rahmen einer insgesamt pessimistischen Geschichtsphilosophie spitzt sich diese
Dialektik im 20. Jahrhundert derart zu, daß das "autonome Kunstwerk" zum einzigen Statthalter von Vernunft, Freiheit und Glück in einem universalen "Verblendungszusammenhang" wird. Adorno war kein Literaturwissenschaftler. Und wenn er oft als Vertreter der Literatursoziologie charakterisiert wird, so hat er sich doch zumindest von deren empirischen Schule scharf abgegrenzt. Seine Noten zur Literatur sind individuelle - im Sinne seines Freundes Benjamin "mit der linken Hand" geschriebene - Etuden eines an Tradition und Avantgarde geschulten Literaturliebhabers. Neben bestimmten Kapiteln aus der Dialektik der Aufklärung oder der fragmentarisch gebliebenen Ästhetischen Theorie haben gerade auch essayistische Miniaturen wie Standort des Erzählers im modernen Roman oder Rede über Lyrik und Gesellschaft durch prägnante und überraschenden Formulierungen eine (damals) neue Sicht auf die Literatur eröffnet. Daß sie eine ganze Generation jüngerer Literaturwissenschaftler/innen inspirieren konnten, spricht nicht nur für den Esprit des Verfassers, sondern auch gegen die geistige Dürre der fachlich zuständigen Germanistik jener Jahre. © JV
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970. Wichtige Schriften: ❍ ❍
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Noten zur Literatur I-IV (1958, 1961, 1965, 1974) Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen (1962/1968) Ästhetische Theorie (1970)
Sekundärliteratur: 1. B. Lindner / W.M. Lüdke: Materialien zur Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos. Konstruktion der Moderne, Frankfurt a. M. 1980. 2. H. Scheible: Theodor W. Adorno, Reinbek bei Hamburg 1989. 3. R. Wiggershaus: Theodor W. Adorno, München 1987.
Baruch de Spinoza
* 24.11.1632 † 20.02.1677 Philosoph Baruch (oder auch: Benedictus) de Spinoza stammte aus einer jüdischportugiesischen Familie, die in die (spanischen) Niederlande ausgewandert war und darf als einer der wichtigsten Vordenker und Wegbereiter der europäischen Aufklärung gelten. Seine staatsphilosophischen Überlegungen haben die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie vorgezeichnet; seine Naturphilosophie mit dem zentralen Gedanken einer universal schaffenden und insofern 'göttlichen' Naturkraft (anstelle eines persönlichen Gottes) hat die religiösen und naturphilosophischen Auffassungen Lessings und vor allem des jungen Goethe nachhaltig geprägt. Für den Problemkreis der Hermeneutik ist Spinoza durch eine gewisse Relativierung des bis dahin unbefragten normativen Anspruchs der Heiligen Schrift, also der Bibel, wichtig. Als einer der ersten stellt er Reflexionen an, die längerfristig zu einer allgemeinen - und wesentlich profanen - Hermeneutik führen. Nach Spinoza ist die Heilige Schrift nicht eigentlich als Wort Gottes zu verstehen, sondern als Verkündigung des göttlichen Willens durch Propheten also durch Autoren, die wie alle andern irren mögen und deren Werke im Laufe der Überlieferung verändert, korrumpiert, umgedeutet, mißverstanden werden können. Um dennoch einen "sicheren" und "deutlichen" Schriftsinn erfassen zu können (so wie der Zeitgenosse René Descartes "klare" und "deutliche" Begriffe für die Philosophie und die Naturwissenschaften verlangt), ist historischphilologische Überprüfung nötig. Um zum wahren Gehalt der Schrift - der göttlichen Offenbarung - vorzudringen, muß die "Geschichte der Schrift" rekonstruiert werden. Spinoza fordert, die interpretatio scripturae (Erkenntnis oder Deutung der Schrift) in Analogie zur Naturerkenntnis zu setzen. Damit ist ein Verfahren gemeint, das - mit modernen Begriffen gesagt - sowohl die Entstehungsgeschichte als auch die Wirkungsgeschichte des Textes rekonstruiert und kritisch prüft, um so zu einer tragfähigen Auslegung zu gelangen. © DS und JV
Wichtige Schriften: ❍
Theologisch-politischer Traktat (1670)
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Abhandlung vom Staate (1677) Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt (1677)
Sekundärliteratur: 1. R. Piepmeier: Baruch de Spinoza: Vernunftanspruch und Hermeneutik, in: U. Nassen (Hg.): Klassiker der Hermeneutik, Paderborn 1982. 2. H. Seidel: Spinoza zur Einführung, Hamburg 1994. 3. L. Strauss: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft, Darmstadt 1981.
Gotthold Ephraim Lessing
* 22.01.1729, Kamenz / Sachsen † 15.02.1781, Braunschweig Theaterautor, Dramaturg, Theoretiker und Kritiker Gotthold Ephraim Lessing gilt als der Erneuerer des deutschen Schauspiels. Er hat uns nicht nur die bürgerlichen Trauerspiele Miß Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1771), die Komödie Minna von Barnhelm (1764) und das Schauspiel Nathan der Weise (1779) hinterlassen - Stücke also, die immer noch die Spielpläne vieler Theater bereichern, sondern auch grundlegende theoretische Reflexionen zur Dramatik und zur Literaturkritik, so in den Briefwechseln über das Trauerspiel (1756) und später in der Hamburgischen Dramaturgie (1767). Was ist nun das Neue? Als Aufklärer verfolgt Lessing mit seiner Kritik am bestehenden deutschen Theater und der Schaffung alternativer Formen das Ziel, den Bürger mittels des Schauspiels moralisch zu heben. Es geht ihm – wie seinem Vorgänger Gottsched – um die Vermittlung einer aufgeklärten, vernünftigen Moral. Von der Vorschrift, das dramatische Geschehen habe wahrscheinlich zu sein, müsse sich also an den Möglichkeitsvorgaben der Wirklichkeit messen lassen – dies kennen wir von Gottsched wie von Aristoteles , weicht er nicht ab. Also, nichts Neues!? Ganz im Gegenteil. Obwohl es auch schon vor Lessing Dramatiker gab, die mit der Ständeklausel brachen, z.B. im 17. Jahrhundert Gryphius mit "Cardenio und Celinde", war er derjenige, der diese dramenpoetische Vorschrift endgültig zu Fall brachte. Dies hängt eng zusammen mit seiner Neuinterpretation der aristotelischen Poetik. Soll die Tragödie bei Aristoteles "Jammern" und "Schaudern" hervorrufen, um dadurch eine Katharsis zu erreichen, so will Lessing "Furcht" und "Mitleid" erzeugen. Der Zuschauer soll sich in die Figuren einfühlen, soll erleben, daß ihm ähnliches widerfahren kann; er wird vom Schicksal der Protagonisten gerührt, und die auf der Bühne dargestellten Leidenschaften verwandeln sich durch dieses dramatische Erlebnis in der Seele des Einzelnen in "tugendhafte Fertigkeiten". Dem Bürger, der sich einfühlen soll, gelingt dies natürlich leichter bei einem anderen Bürger als bei einem König oder Fürsten. Ein weiterer Bruch Lessings mit seinen Vorgängern ist die Ablehnung der drei Einheiten (Ort, Zeit, Handlung). Ein Stück, das "rühren" soll, das "Furcht und Mitleid" erzeugen soll, muß sich nicht zwangsläufig auf einen Ort und auf die Darstellung eines Tages begrenzen. Wenn die Einheit der Handlung gewährleistet ist, die ja die Nachvollziehbarkeit einer Darstellung garantiert, dann wird die Einheit des Ortes und der Zeit zu einem schematischen Zwang.
©rein
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
Miß Sara Sampson (1755) Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57) Laokoon: Oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) Hamburgische Dramaturgie (1767) Emilia Galotti (1772)
Sekundärliteratur: 1. P. J. Brenner: Gotthold Ephraim Lessing, Stuttgart 2000. 2. M. Hofmann: Aufklärung. Tendenzen - Autoren - Texte, Stuttgart 1999. 3. W. Jung: Lessing zur Einführung, Hamburg 2001.
Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat (Ausschnitt) (1677)
Von der Auslegung der Schrift Um es kurz zusammenzufassen, sage ich, daß die Methode der Schrifterklärung sich in nichts von der Methode der Naturerklärung unterscheidet, sondern vollkommen mit ihr übereinstimmt. Denn ebenso, wie die Methode der Naturerklärung in der Hauptsache darin besteht, eine Naturgeschichte zusammenzustellen, aus der man dann als aus sicheren Daten die Definition der Naturdinge ableitet, ebenso ist es zur Schrifterklärung nötig, eine getreue Geschichte der Schrift auszuarbeiten, um daraus als aus den sicheren Daten und Prinzipien den Sinn der Verfasser der Schrift in richtiger Folgerung abzuleiten. Auf diese Weise wird jeder [...] ohne die Gefahr eines Irrtums immer fortschreiten und das, was unsere Fassungskraft übersteigt, gerade so sicher besprechen können als das, was wir durch natürliche Erleuchtung erkennen. [...] Die Hauptregel der Schriftinterpretation besteht also darin, daß man der Schrift keine Lehre zuschreiben soll, die nicht mit völliger Deutlichkeit aus ihrer Geschichte sich ergibt. Wie aber ihre Geschichte beschaffen sein und was sie enthalten muß, davon soll jetzt die Rede sein. 1. muß sie die Natur und die Eigentümlichkeiten der Sprache, in welche die Bücher der Schrift geschrieben sind und deren sich ihre Verfasser zu bedienen pflegten, zu ihrem Gegenstand haben. Auf diese Weise werden wir imstand sein, den verschiedenen Sinn, den eine jede Rede nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch haben kann, ausfindig zu machen. [...] 2. muß die Geschichte die Aussprüche eines jeden Buches zusammenstellen und sie nach Hauptgesichtspunkten ordnen, damit man alles, was sich über einen und denselben Gegenstand findet, gleich zur Hand hat. Dann muß sie alle Aussprüche anmerken, die zweideutig oder dunkel sind oder sich zu widersprechen scheinen. Dunkel oder klar nenne ich Aussprüche, je nachdem ihr Sinn aus dem Zusammenhang schwer oder leicht mit der Vernunft zu verstehen ist; denn bloß um den Sinn der Rede, nicht um ihre Wahrheit handelt es sich. [...] 3. endlich muß diese Geschichte über die Schicksale sämtlicher prophetischer Bücher Auskunft geben, soweit wir noch davon wissen können, also über das Leben, die Sitten und die Bestrebungen des Verfassers der einzelnen Bücher, wer er gewesen ist, bei welcher Gelegenheit, zu welcher Zeit, für wen und schließlich in welcher Sprache er schrieb; dann über das Geschick jedes einzelnen Buches, nämlich wie man es zuerst erhalten hat und in wessen Hände es gekommen ist,
ferner, wieviel Lesarten es davon gibt und auf wessen Rat es unter die Heiligen Schriften aufgenommen wurde, und schließlich, auf welche Weise all die Bücher, die wir heute die heiligen nennen, zu einem Ganzen vereinigt worden sind. Das alles, meine ich, muß die Geschichte der Schrift enthalten. (S. 135-138)
Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat, hg. v. Carl Gebhardt, Leipzig 1908.
Johann Martin Chladenius
* 17.4.1710, Wittenberg † 10.9.1759, Erlangen Historiker Johann Martin Chladenius ist der Wissenschaftsgeschichte vor allem als ein Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung bekannt. Sein im engeren Sinne hermeneutisches Werk von 1742 ist eine (deutschsprachige) Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, also eine hermeneutica profana - denn Vernunft ist hier der Gegenbegriff zur göttlichen Offenbarung. Chladenius' besonderes Interesse gilt, wie er sagt, "historischen Büchern". Ob er die Bibel als ein solches sieht, bleibt ungeklärt. Nach Chladenius ist der Autoritätsanspruch der historischen Schriften aufgrund des subjektiven Faktors aller Geschichtsschreibung in Frage zu stellen. Damit relativiert er die aus der Antike überlieferte Vorstellung, die Schrift (der Text) sei gleichsam ein Abziehbild der Natur bzw. des historischen Geschehens. Er insistiert vielmehr darauf, daß durch die individuelle Urheberschaft des Geschriebenen notwendig eine Selektion (Auswahl) und Perspektivierung, sodann auch eine perspektivische Bewertung des Geschehens statthat. Dies alles faßt er zusammen in dem Begriff des "Sehe-Punktes". Allerdings ist er bemüht, durch die Berücksichtigung dieser subjektiven Verschiebung zu einer dahinterliegenden, objektiven Wahrheit des Geschehens vorzustoßen. Obwohl die Texte "dunkel" sind, so weisen sie doch den Weg zu einer "richtigen" und "deutlichen" Sache. Geschichte als eine Dimension der Natur steht unter dem Primat der Vernunft und Eindeutigkeit. Bleiben die Texte, die von ihr berichten, undeutlich, so ist dies in der Partikularität individueller Wahrnehmung gegenüber einer universalen Vernunft begründet. Chladenius' Bestimmung des Perspektivischen verweist auf eine epochale Wegscheide. Was er lediglich als handwerkliche Kategorie vorstellt, ist in größerem Zusammenhang ein Indiz für das zunehmende In-Frage-Stellen der einen unbezweifelbaren, d.h. göttlich verbürgten Wahrheit, und zwar im Namen vernunftgeleiteter Erkenntnis der empirischen Wirklichkeit. © DS und JV
Wichtige Schriften: ❍
Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742)
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Allgemeine Geschichtswissenschaft (1752)
Sekundärliteratur: 1. C. Friedrich: Johann Martin Chladenius: Die Allgemeine Hermeneutik und das Problem der Geschichte, in: U. Nassen (Hg.): Klassiker der Hermeneutik, Paderborn 1982. 2. C. Henn: "Sinnreiche Gedanken". Zur Hermeneutik des Chladenius, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 58 (1976), S. 240-264. 3. P. Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1975, Kap. 2-7.
Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742)
Die Überlegungen, die Chladenius zunächst zur methodologischen Grundlegung seiner eigenen Disziplin, der Geschichtsschreibung, anstellt, sind - wie insbesondere Peter Szondi hervorgehoben hat - auch für die Literaturwissenschaft von Bedeutung. Dies gilt vor allem von dem Prinzip perspektivischer Wahrnehmung, das Chladenius aus der Optik auf die Historik überträgt, das man aber durchaus auch auf die Produktion und die Rezeption ästhetischer Texte beziehen kann: "§ 308. Von einer Geschichte hat man mehr als eine richtige Vorstellung Das, was in der Welt geschieht, wird von verschiedenen Leuten auch auf verschiedene Art angesehen: daß, wenn viele eine Beschreibung von einer Geschichte machen sollten, in jeder etwas Besonderes würde angetroffen werden, wenn sie sich gleich insgesamt die Sache, soviel an ihnen gelegen, richtig vorgestellt hätten. Die Ursache dieser Verschiedenheit ist teils in dem Ort und in der Stellung unseres Leibes, die bei jedem verschieden ist, teils in der verschiedenen Verbindung, die wir mit den Sachen haben, teils in unserer vorhergehenden Art zu gedenken, zu suchen, vermöge welcher dieser auf das, der andere auf jenes Achtung zu geben sich angewöhnt hat. Man glaubt zwar gemeiniglich, daß jede Sache nur eine richtige Vorstellung machen könnte, und wenn daher in den Erzählungen sich einiger Unterschied befinde, so müsse die eine ganz recht und die andere ganz unrecht haben. Allein diese Regel ist weder andern gemeinen Wahrheiten noch einer genaueren Erkenntnis unserer Seele gemäß. Wir wollen jetzo mit einem gemeinen Exempel erweisen, wie verschiedene eine einzige Sache sich auf mancherlei Art vorstellen können. Gesetzt es befinden sich bei einer vorfallenden Schlacht drei Zuschauer, davon der eine auf einem Berge zur Seite des rechten Flügels der einen Armee, der andere auf einer Höhe zur Seiten des linken Flügels, der dritte hinter derselben Armee der Schlacht zusieht. Wenn diese drei ein genaues Verzeichnis von dem, was sich bei der Schlacht zugetragen, machen sollten, so wird allen Fleißes ungeachtet keines Erzählung mit den übrigen ganz genau übereinkommen. [...] Ebenso ist es mit allen Geschichten beschaffen; eine Rebellion wird anders von einem getreuen Untertanen, anders von einem Rebellen, anders von einem Ausländer, anders von einem Hofmann, anders von einem Bürger oder Bauern angesehen, wenn auch gleich jeder nichts, als was der Wahrheit gemäß ist, davon wissen sollte. Es ist zwar gewiß, daß alle wahren Erzählungen von einer Geschichte in gewissen Stücken derselben übereinkommen müssen, weil, wenn wir uns gleich gewissermaßen in verschiedenen Umständen befinden, und also
auch gewisse Stücke der Geschichte nicht auf einerlei Art ansehen, wir dennoch überhaupt in den Regeln der menschlichen Erkenntnis miteinander übereinkommen. Allein wir wollen dieses behaupten, daß, wenn verschiedene Personen, auch nach ihrer richtigen Erkenntnis, eine Geschichte erzählen, in ihren wahren Erzählungen sich dennoch ein Unterschied befinden könne. § 309. Was der Sehe-Punkt sei Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, daß wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punkt nennen. Wie nämlich der Ort unseres Auges, und insbesondere die Entfernung von einem Vorwurf, die Ursache ist, daß wir ein solches Bild und kein anderes von der Sache bekommen, also gibt es bei allen unseren Vorstellungen einen Grund, warum wir die Sache so und nicht anders erkennen: und dieses ist der Sehe-Punkt von derselben Sache. [...] Das Wort Sehe-Punkt ist vermutlich von Leibniz zuerst in einem allgemeinern Verstande genommen worden, da es sonst nur in der Optik vorkam. Was er damit anzeigen sollte, kann man am besten aus unserer Definition ersehen, welche denselben Begriff deutlich erklärt. Wir bedienen uns hier desselben Begriffs, weil er unentbehrlich ist, wenn man von den vielen und unzähligen Abwechslungen der Begriffe, die die Menschen von einer Sache haben, Rechenschaft geben soll." (S. 71-73)
Johann Martin Chladenius: Von Auslegung Historischer Nachrichten und Bücher, in: Seminar: Philosophische Hermeneuti, hg. v. Hans-Georg Gadamer u. Georg Boehm, Frankfurt/M. 1976.
Peter Szondi
* 27.03.29, Budapest † 18.10.71, Berlin Literaturwissenschaftler Peter Szondi konstatiert in seiner 1967/68 gehaltenen Vorlesung Einführung in die literarische Hermeneutik, daß es eine literarische Hermeneutik gegenwärtig kaum gebe. Damit spielt er auf die Tatsache an, daß weder einschlägige Überlegungen Schleiermachers und der Frühromantiker noch die textphilologischen Verfahrensweisen der klassischen Philologie im 19. Jahrhundert in der Literaturwissenschaft eine hermeneutische Tradition begründen konnten, die sowohl der Universalität des Verstehens als auch der Spezifik des literarischen Textes hätten Rechnung tragen können. Vor diesem Hintergrund kritisiert er vor allem die verschiedenen Varianten der Schulen der werkimmanenten Interpretation. Diese behaupteten zwar, das einzelne Kunstwerk könne adäquat nur aus sich selbst verstanden werden, interessierten sich aber keineswegs für die Bedingungen, die solches Verstehen überhaupt ermöglichen. Sie seien der Ansicht, diese Problematik sei von der Fundamentalontologie in der Nachfolge Martin Heideggers hinreichend geklärt, die schließlich festgestellt habe, daß "Da-sein" Verstehen schlechthin sei. Eine erkenntniskritische Analyse ihrer "Kunst der Interpretation" (Emil Staiger) komme für sie daher nicht in Frage. Weiter kritisiert Szondi die noch immer verbreitete Auffassung, das Ziel einer jeden Interpretation sei das Einholen der Intention des Autors. Dies ist nach Szondi unmöglich, weil das Verstehen des Lesers oder Hörers immer durch seinen eigenen historischen Standort geprägt ist. Jede in diesem Sinne behauptete Objektivität ist damit eine Selbsttäuschung. Letztlich fordert Szondi von einer literarischen Hermeneutik vor allem zweierlei: Einsicht in die sprachliche Bedingtheit von Literatur (z.B. durch die Integration der strukturalen Linguistik in die literarische Hermeneutik) und die Einsicht in die historische Bedingtheit auch der literarischen bzw. philologischen Erkenntnis. © DS und JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Einführung in die literarische Hermeneutik (1975) Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik (1970) Über philologische Erkenntnis (1970)
Sekundärliteratur:
1. N. Altenhofer: Geselliges Betragen - Kunst - Auslegung. Anmerkungen zu Peter Szondis Schleiermacher-Auslegung und zur Frage einer materialen Hermeneutik, in: U. Nassen (Hg.): Studien zur Entwicklung einer materialen Hermeneutik, München 1979, S. 165-211. 2. J. Bollack: Zukunft im Vergangenen. Peter Szondis materiale Hermeneutik, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), H. 1, S. 370-390.
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik (1838)
Schleiermacher hat seine Überlegungen zur Hermeneutik zwischen 1810 und 1830 regelmäßig in (theologischen) Vorlesungen vorgetragen, aber offensichtlich nie eine Publikation geplant. Für die Nachlaßedition von Hermeneutik und Kritik zeichnet sein Schüler Friedrich Lücke verantwortlich. Die Einleitung umreißt Schleiermachers wichtigste Ideen zur Hermeneutik in thesenhaft zugespitzter Form: "Einleitung 1. Die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existiert noch nicht allgemein, sondern nur mehrere spezielle Hermeneutiken. [...] 2. Es ist schwer, der allgemeinen Hermeneutik ihren Ort anzuweisen. [...] 3. Da Kunst zu reden und zu verstehen (korrespondierend) einander gegenüberstehen, Reden aber nur die äußere Seite des Denkens ist, so ist die Hermeneutik im Zusammenhang mit der Kunst zu denken und also philosophisch. [...] 4. Das Reden ist die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens [...]. 1. Reden ist freilich auch Vermittlung des Denkens für den Einzelnen. Das Denken wird durch innere Rede fertig, und insofern ist die Rede nur der gewordene Gedanke selbst. Aber wo der Denkende nötig findet, den Gedanken sich selbst zu fixieren, da entsteht auch Kunst der Rede, Umwandlung des urspünglichen, und wird hernach auch Auslegung nötig. 2. Die Zusammengehörigkeit der Hermeneutik und Rhetorik besteht darin, daß jeder Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das Bewußtsein kommen muß, welches Denken der Rede zum Grunde gelegen. [5.] 1. Jede Rede setzt voraus eine gegebene Sprache. Man kann dies zwar auch umkehren, nicht nur für den ganzen Verlauf, weil die Sprache wird durch das Reden; aber die Mitteilung setzt auf jeden Fall die Gemeinschaftlichkeit der Sprache, also eine gewisse Kenntnis derselben voraus. Wenn zwischen die unmittelbare Rede und die Mitteilung etwas tritt, also die Kunst der Rede anfängt: so beruht dies teils auf der Besorgnis, es möchte dem Hörenden etwas in
unserm Sprachgebrauch fremd sein. 2. Jede Rede beruht auf einem früheren Denken. Man kann dieses auch umkehren, aber in bezug auf die Mitteilung bleibt es wahr, denn die Kunst des Verstehens geht nur bei fortgeschrittenem Denken an. 3. Hiernach ist jeder Mensch auf der einen Seite ein Ort, in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigentümliche Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der Totalität der Sprache. Dann aber ist er auch ein sich stetig entwickelnder Geist, und seine Rede ist nur als eine Tatsache von diesem im Zusammenhang mit den übrigen. [...] [3.] Ebenso ist jede Rede immer nur zu verstehen aus dem ganzen Leben, dem sie angehört, d.h., da jede Rede nur als Lebensmoment des Redenden in der Bedingtheit aller seiner Lebensmomente erkennbar ist, und dies nur aus der Gesamtheit seiner Umgebungen, wodurch seine Entwicklung und sein Fortbestehen bestimmt werden, so ist jeder Redende nur verstehbar durch seine Nationalität und sein Zeitalter. 6. Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente (des grammatischen und psychologischen). [...] 7. Beide stehen einander völlig gleich, und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die niedere und die psychologische die höhere nennen. [...] 9. Das Auslegen ist Kunst. [...] 10. Die glückliche Ausübung der Kunst beruht auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschenkenntnis." (S. 75-82)
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg.v. Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977.
Wilhelm Dilthey: Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen (um 1910) "Hineinversetzten, Nachbilden, Nacherleben" Die Stellung, die das höhere Verstehen seinem Gegenstande gegenüber einnimmt, ist bestimmt durch seine Aufgabe, einen Lebenszusammenhang im Gegebenen aufzufinden. Dies ist nur möglich, indem der Zusammenhang, der im eigenen Erleben besteht und in unzähligen Fällen erfahren ist, mit all den in ihm liegenden Möglichkeiten immer gegenwärtig und bereit ist. Diese in der Verständnisaufgabe gegebene Verfassung nennen wir ein Sichhineinversetzen, sei es in einen Menschen oder ein Werk. Dann wird jeder Vers eines Gedichtes durch den inneren Zusammenhang in dem Erlebnis, von dem das Gedicht ausgeht, in Leben zurückverwandelt. Möglichkeiten, die in der Seele liegen, werden von den durch die elementaren Verständnisleistungen zur Auffassung gebrachten äußeren Worten hervorgerufen. Die Seele geht die gewohnten Bahnen, auf denen sie einst von verwandten Lebenslagen aus genoß und litt, verlangte und wirkte. Unzählige Wege sind offen in Vergangenheit und in Träumen der Zukunft; von den gelesenen Worten gehen unzählige Züge der Gedanken aus. Schon indem das Gedicht die äußere Situation angibt, wirkt dies darauf begünstigen, dass die Worte des Dichters die ihr zugehörige Stimmung hervorrufen. Auch hier macht sich das schon erwähnte Verhältnis geltend, nach welchem Ausdrücke des Erlebens mehr enthalten, als im Bewusstsein des Dichters oder Künstlers liegt, und darum auch mehr zurückrufen. Wenn nun so aus der Stellung der Verständnisaufgabe die Präsenz des eigen erlebten seelischen Zusammenhangs folgt, so bezeichnet man das auch als die "Übertragung" des eigenen Selbst in einen gegebenen Inbegriff von Lebensäußerungen. Auf der Grundlage dieses Hineinversetzens, dieser Transposition entsteht nun aber die höchste Art, in welcher die Totalität des Seelenlebens im Verstehen wirksam ist - das Nachbilden oder Nacherleben. Das Verstehen ist an sich eine dem Wirkungsverlauf selber inverse Operation. Ein vollkommenes Mitleben ist daran gebunden, dass das Verständnis in der Linie des Geschehens selber fortgeht. Es rückt, beständig fortschreitend, mit dem Lebensverlauf selber vorwärts. So erweitert sich der Vorgang des Sichhineinversetzens, der Transposition. Nacherleben ist das Schaffen in der Linie des Geschehens. So gehen wir mit der Zeitgeschichte vorwärts, mit einem Ereignis in einem fernen Lande oder mit etwas, das in der Seele eines uns nahen Menschen vorgeht. Seine Vollendung erreicht es, wo das Geschehnis durch das Bewußtsein des Dichters, Künstlers oder Geschichtsschreibers hindurchgegangen ist und nun in einem Werk fixiert und dauernd vor uns liegt. Das lyrische Gedicht ermöglicht so in der Aufeinanderfolge seiner Verse das Nacherleben eines Erlebniszusammenhangs: nicht des wirklichen, der den
Dichter anregte, sondern dessen, den auf Grund von ihm der Dichter einer idealen Person in den Mund legt. Die Aufeinanderfolge der Szenen in einem Schauspiel ermöglicht das Nacherleben der Bruchstücke aus dem Lebensverlauf der auftretenden Personen. Die Erzählung des Romanschriftstellers oder Geschichtsschreibers, die dem historischen Verlauf nachgeht, erwirkt in uns ein Nacherleben. Der Triumph des Nacherlebens ist, daß in ihm die Fragmente eines Verlaufs so ergänzt werden, daß wir eine Kontinuität vor uns zu haben glauben. Worin besteht nun aber dies Nacherleben? Der Vorgang interessiert uns hier nur in seiner Leistung; eine psychologische Erklärung desselben soll nicht gegeben werden. So erörtern wir auch nicht das Verhältnis dieses Begriffs zu dem des Mitfühlens und dem der Einfühlung, obwohl der Zusammenhang derselben darin deutlich ist, daß das Mitfühlen die Energie des Nacherlebens verstärkt. Wir fassen die bedeutsame Leistung dieses Nacherlebens für unsere Aneignung der geistigen Welt ins Auge. Sie beruht auf zwei Momenten. Jede lebhafte Vergegenwärtigung eines Milieus und einer äußeren Lage regt Nacherleben in uns an. Und die Phantasie vermag die Betonung der in unserem eigenen Lebenszusammenhang enthaltenen Verhaltungsweisen, Kräfte, Gefühle, Strebungen, Ideenrichtungen zu verstärken oder zu vermindern und so jedes fremde Seelenleben nachzubilden. Die Bühne tut sich auf. Richard erscheint, und eine bewegliche Seele kann nun, indem sie seinen Worten, Mienen und Bewegungen folgt, etwas nacherleben, daß außerhalb jeder Möglichkeit ihres wirklichen realen Lebens liegt. Der phantastische Wald in "Wie es euch gefällt" versetzt uns in eine Stimmung, die uns alle Exzentritäten nachbilden läßt. Und in diesem Nacherleben liegt nun ein bedeutender Teil des Erwerbs geistiger Dinge, den wir dem Geschichtsschreiber und dem Dichter verdanken. Der Lebensverlauf vollzieht an jedem Menschen eine beständige Determination, in welcher die in ihm liegenden Möglichkeiten eingeschränkt werden. Die Gestaltung seines Wesens bestimmt immer jedem seine Fortentwicklung. Kurz, er erfährt immer, mag er nun die Festlegung seiner Lage oder die Form seines erworbenen Lebenszusammenhangs in Betracht ziehen, daß der Umkreis neuer Ausblicke in das Leben und innerer Wendungen des persönlichen Daseins eingegrenzter ist. Das Verstehen öffnet ihm nun ein weites Reich von Möglichkeiten, die in der Determination seines wirklichen Lebens nicht vorhanden sind. Die Möglichkeit, in meiner eigenen Existenz religiöse Zustände zu erleben, ist für mich wie für die meisten heutigen Menschen eng begrenzt. Aber indem ich die Briefe und Schriften Luthers, die Berichte seiner Zeitgenossen, die Akten der Religionsgespräche und Konzilien wie seines amtlichen Verkehrs durchlaufe, erlebe ich einen religiösen Vorgang von einer solchen eruptiven Gewalt, von einer solchen Energie, in der es um Leben und Tod geht, daß er jenseits jeder Erlebnismöglichkeit für einen Menschen unserer Tage liegt. Aber nacherleben kann ich ihn. Ich versetze mich in die Umstände: alles drängt in ihnen auf eine so außergewöhnliche Entwicklung des religiösen Gemütslebens. Ich sehe in den Klöstern eine Technik des Verkehrs mit der unsichtbaren Welt, welche den mönchischen Seelen eine beständige Richtung des Blicks auf die jenseitigen Dinge gibt: die theologischen Kontroversen werden
hier zu Fragen de inneren Existenz. Ich sehe, wie, was sich in den Klöstern so bildet, durch unzählige Kanäle - Kanzeln, Beichte, Katheder, Schriften - in die Laienwelt sich verbreitet; und nun gewahre ich, wie Konzilien und religiöse Bewegungen die Lehre von der unsichtbaren Kirche und dem allgemeinen Priestertum überallhin verbreitet haben, wie sie zu der Befreiung der Persönlichkeit im weltlichen Leben in Verhältnis tritt; wie so das in der Einsamkeit der Zelle, in Kämpfen von der geschilderten Stärke Errungene der Kirche gegenüber sich behauptet. Christentum als eine Kraft, das Leben selbst in Familie, Beruf, politischen Verhältnissen zu gestalten - das ist eine neue Macht, der der Geist der Zeit in den Städten und überall, wo höhere Arbeit getan wird, in Hans Sachs, in Dürer entgegenkommt. Indem Luther an der Spitze dieser Bewegung dahingeht, erleben wir auf Grund eines Zusammenhangs, der vom Allgemeinmenschlichen zu der religiösen Sphäre und von ihr durch deren historischer Bestimmung bis zu seiner Individualität dringt, seine Entwicklung. Und so öffnet uns dieser Vorgang eine religiöse Welt in ihm und in den Genossen der ersten Reformationszeiten, die unseren Horizont in Möglichkeiten von Menschenleben erweitert, die nur so uns zugänglich werden. So kann der von innen determinierte Mensch in der Imagination viele andere Existenzen erleben. Vor dem durch die Umstände Beschränkten tun sich fremde Schönheiten der Welt auf und Gegenden des Lebens, die er nie erreichen kann. Ganz allgemein ausgesprochen: der durch die Realität des Lebens gebundene und bestimmte Mensch wird nicht nur durch das Verstehen des Geschichtlichen in Freiheit versetzt. Und diese Wirkung der Geschichte, welche ihre modernsten Verkleinerer nicht gesehen haben, wird erweitert und vertieft auf den weiteren Stufen des geschichtlichen Bewusstseins. "Die Auslegung oder Interpretation" Wie deutlich zeigt sich im Nachbilden und Nacherleben des Fremden und Vergangenen, daß das Verstehen auf einer besonderen persönlichen Genialität beruht! Da es aber eine bedeutsame und dauernde Aufgabe ist als Grundlage der geschichtlichen Wissenschaft, so wird die persönliche Genialität zu einer Technik, und diese Technik entwickelt sich mit der Entwicklung des geschichtlichen Bewußtseins. Sie ist daran gebunden, daß dauernd fixierte Lebensäußerungen dem Verständnis vorliegen, so daß dieses immer wieder zu ihnen zurückkehren kann. Das kunstmäßige Verstehen dauernd fixierter Lebensäußerungen nennen wir "Auslegung". Da nun das geistige Leben nur in der Sprache seinen vollständigen, erschöpfenden und darum eine objektive Auffassung ermöglichenden Ausdruck findet, so vollendet sich die Auslegung in der Interpretation der in der Schrift enthaltenen Reste menschlichen Daseins. Diese Kunst ist die Grundlage der Philosophie. Und die Wissenschaft dieser Kunst ist die Hermeneutik. Mit der Auslegung der auf uns gekommenen Reste ist innerlich und notwendig die Kritik derselben verbunden. Sie entsteht aus den Schwierigkeiten, welche die Auslegung bietet, und führt so zur Reinigung der Texte, zur Verwerfung von Aktenstücken, Werken, Überlieferungen. Auslegung und Kritik haben im
geschichtlichen Verlauf immer neue Hilfsmittel zur Lösung ihrer Aufgabe entwickelt, wie die naturwissenschaftliche Forschung immer neue Verfeinerungen des Experiments. Ihre Übertragung von einem Geschlecht der Philologen und Historiker auf das andere ruht vorwiegend auf der persönlichen Berührung der großen Virtuosen und der Tradition ihrer Leistungen. Nichts im Umkreis der Wissenschaft scheint so persönlich bedingt und an die Berührung der Personen gebunden als diese philologische Kunst. Wenn nun die Hermeneutik sie auf Regeln gebracht hat, so geschah das im Sinne einer geschichtlichen Stufe, welche Regelgebung auf allen Gebieten durchzuführen strebte, und dieser hermeneutischen Regelgebung entsprachen Theorien des künstlerischen Schaffens, welche auch dieses als ein Machen, das als Regel geschehen kann, auffaßten. In der großen Periode des Aufgangs zum geschichtlichen Bewusstsein in Deutschland ist dann diese hermeneutische Regelgebung von Friedrich Schlegel, Schleiermacher und Boeckh durch eine Ideallehre ersetzt worden, die das neue tiefere Verstehen auf eine Anschauung vom geistigen Schaffen gründet, wie sie Fichte möglich machte und die Schlegel in seinem Entwurf einer Wissenschaft der Kritik aufzustellen gedachte. Auf dieser neuen Anschauung vom Schaffen beruht der kühne Satz Schleiermachers, es gelte, einen Autor besser zu verstehen als er sich selbst verstand. […]
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften Bd. VII. 5. Aufl. Stuttgart, Göttingen 1968, S. 213-217.
Sigmund Freud
* 06.05.1856, Freiberg / Mähren † 23.09.1939, London Arzt und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud verstand die Psychoanalyse als eine naturwissenschaftliche Disziplin. Entgegen seiner Auffassung kann sie jedoch auch als Tiefenhermeneutik (Jürgen Habermas) angesehen werden, der es im wesentlichen darum geht, das vom Autor nicht bewußt Intendierte aus den Spuren, die es trotz oder gerade wegen dieser Unbewußtheit im Text hinterläßt, zu erschließen. Dies geschieht mit dem emanzipatorischen Ziel, Einsicht in den eigenen Verdrängungsprozeß bzw. in pathogene Elemente dieses Prozesses zu erlangen, also letztlich mit dem therapeutischen Ziel der Auflösung solcher Wirkung. Die Texte, um die es hier geht, sind natürlich keine geschriebenen bzw. veröffentlichten Texte, sondern 'Traumtexte', die in therapeutischer Absicht nach dem Verfahren der freien Assoziation in der psychoanalytischen Behandlung mündlich (re-)produziert werden. Die psychoanalytische Deutung eines solchen Textes unterscheidet sich wesentlich von einem Verstehen etwa durch "Nacherleben", wie Dilthey es fordert. Die traditionelle Hermeneutik hat die Entstellungen eines Textes als Überlieferungsfehler verstanden und der Hilfsdisziplin der Textkritik zur Bearbeitung zugewiesen, um dann an einem "gereinigten", nicht mehr "verderbten" Text ihre interpretatorische Kunst zu erproben. Der Psychoanalytiker vertritt dem gegenüber die Ansicht, daß hinter solch "dunklen Stellen" mehr steckt als sich die hermeneutische Vernunft eingestehen will. Im Traum, sagt Freud, wird die Zensur gelockert, die wir bei gutem Bewußtsein in unserem alltäglichen Verhalten an denjenigen Wünschen, Trieben und Regungen vornehmen, die uns zwar heimsuchen, die aber den Normen realitätsgerechten Verhaltens widersprechen. "Verdrängung" ist ein Begriff für eine solche Wunsch-Zensur. Sind die Kontrollen der Zensur gelockert, kommen die unbewußten, verdrängten Impulse zu einem Ausdruck bildlicher (bzw. indirekt sprachlicher) Art. Aber die Zensur ist nicht völlig ausgeschaltet: und so gelangen unsere Triebwünsche nicht zu ihrem "eigentlichen", sondern in aller Regel zu einem "uneigentlich-bildhaften", sozusagen "metaphorischen" Ausdruck. Die Traumsprache bzw. neurotische Symptome im weitesten Sinne sind insofern Ergebnis eines Kompromisses zwischen verdrängten Wünschen infantiler Herkunft und gesellschaftlich auferlegten Verboten der Wunscherfüllung. Freud unterscheidet den manifesten vom latenten Inhalt des Traumes. Der
manifeste Inhalt ist der, an den wir uns erinnern und in dem die Zensur durch die sogenannte 'Traumarbeit', vor allem durch Verdichtungen und Verschiebungen, den latenten Inhalt verdeckt hat. Dieser aber soll letztlich durch die Analyse erschlossen werden. Für die Literaturwissenschaft sind diese Auffassungen Freuds deshalb von Interesse, weil sie in gewisser Weise auch auf die Produktion poetischer Texte übertragen werden können. Verdichtung und Verschiebung, wie sie im VI. Kapitel der Traumdeutung entwickelt werden, lassen sich durchaus mit sprachlichen Verfahren vergleichen, die schon der antiken Rhetorik bekannt sind: Metapher und Metonymie. Sie sind Effekte von sprachlicher "Überdeterminierung" und erzeugen "Vieldeutigkeit" (so Freud über die Traumbilder). Es liegt daher nahe, diese Mechanismen auch bei der Analyse dichterischer Texte näher zu untersuchen - wobei sich eine überraschende Nähe zu textanalytischen Kategorien des Strukturalismus ergibt. © DS und JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Die Traumdeutung (1900) Der Dichter und das Phantasieren (1908) Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17)
Sekundärliteratur: 1. J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1968, Kap.10. 2. H.-M. Lohmann: Sigmund Freud zur Einführung, Hamburg 1999. 3. C. Pietzcker: Einführung in die Psychoanalyse des literarischen Kunstwerks, Würzburg 1983.
Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Ausschnitt) (1899)
Die Traumarbeit Meine Damen und Herren! Wenn Sie die Traumzensur und die Symboldarstellung bewältigt haben, haben Sie die Traumentstellung zwar noch nicht gänzlich überwunden, aber Sie sind doch imstande, die meisten Träume zu verstehen. Sie bedienen sich dabei der beiden einander ergänzenden Techniken, rufen Einfälle des Träumers auf, bis Sie vom Ersatz zum Eigentlichen vorgedrungen sind, und setzen für die Symbole deren Bedeutung aus eigener Kenntnis ein. [...] Lassen Sie sich auch noch einmal vorhalten, daß jene Arbeit, welche den latenten Traum in den manifesten umsetzt, die Traumarbeit heißt. Die in entgegengesetzter Richtung fortschreitende Arbeit, welche vom manifesten zum latenten gelangen will, ist unsere Deutungsarbeit. Die Deutungsarbeit will die Traumarbeit aufheben. [...] Die erste Leistung der Traumarbeit ist die Verdichtung. Wir verstehen darunter die Tatsache, daß der manifeste Traum weniger Inhalt hat als der latente, also eine Art von abgekürzter Übersetzung des letzteren ist. Die Verdichtung kann eventuell einmal fehlen, sie ist in der Regel vorhanden, sehr häufig enorm. Sie schlägt niemals ins Gegenteil um, d.h. es kommt nicht vor, daß der manifeste Traum umfang- und inhaltsreicher ist als der latente. Die Verdichtung kommt dadurch zustande, daß 1. gewisse latente Elemente überhaupt ausgelassen werden, 2. daß von manchen Komplexen des latenten Traumes nur ein Brocken in den manifesten übergeht, 3. daß latente Elemente, die etwas Gemeinsames haben, für den manifesten Traum zusammengelegt, zu einer Einheit verschmolzen werden. Wenn Sie wollen, können Sie den Namen "Verdichtung" für diesen letzten Vorgang allein reservieren. Seine Effekte sind besonders leicht zu demonstrieren. Aus Ihren eigenen Träumen werden Sie sich mühelos an die Verdichtung verschiedener Personen zu einer einzigen erinnern. Eine solche Mischperson sieht etwa aus wie A, ist aber gekleidet wie B, tut eine Verrichtung, wie man sie von C erinnert, und dabei ist noch ein Wissen, daß es die Person D ist. Durch diese Mischbildung wird natürlich etwas den vier Personen Gemeinsames besonders hervorgehoben. [...] Die zweite Leistung der Traumarbeit ist die Verschiebung. [...] Ihre beiden Äußerungen sind erstens, daß ein latentes Element nicht durch einen eigenen Bestandteil, sondern durch etwas Entfernteres, also durch eine Anspielung
ersetzt wird, und zweitens, daß der psychische Akzent von einem wichtigen Element auf ein anderes, unwichtiges übergeht, so daß der Traum anders zentriert und fremdartig erscheint. Die Ersetzung durch eine Anspielung ist auch in unserem wachen Denken bekannt, aber es ist ein Unterschied dabei. Im wachen Denken muß die Anspielung eine leicht verständliche sein, und der Ersatz muß in inhaltlicher Beziehung zu seinem Eigentlichen stehen. [...] Von beiden Einschränkungen hat sich aber die Verschiebungsanspielung des Traumes frei gemacht. Sie hängt durch die äußerlichsten und entlegensten Beziehungen mit dem Element, das sie ersetzt, zusammen, ist darum unverständlich, und wenn sie rückgängig gemacht wird, macht ihre Deutung den Eindruck eines mißratenen Witzes oder einer gewaltsamen, gezwungenen, an den Haaren herbeigezogenen Auslegung. Die Traumzensur hat eben nur dann ihr Ziel erreicht, wenn es ihr gelungen ist, den Rückweg von der Anspielung zum Eigentlichen unauffindbar zu machen. (S. 178ff.)
Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, hg. v. Alexander Mitscherlich u.a., Bd.1, Frankfurt/M. 1969.
Martin Heidegger
* 26.09.1889, Meßkirch † 26.05.1976, Freiburg Philosoph Martin Heidegger ist der wirkungsmächtigste Vertreter der sogenannten Existentialphilosophie, eines philosophischen Denkens, dessen Mittelpunkt die menschliche Existenz bildet. Die Existentialphilosophie ist für ihn jedoch nur ein Mittel, um zu einer Grundlehre vom Sein, einer Fundamentalontologie oder universalen Seinslehre vorzudringen. Im Zentrum seiner philosophischen Bemühungen stehen die Fragen nach dem "Sinn des Seienden" (des Mannigfaltigen) und dem "Sein des Seienden" (also nach dem, was sich hinter dem Mannigfaltigen verbirgt). Dem "Verstehen" räumt Heidegger in seinem Werk eine zentrale Position ein. In seinem Hauptwerk Sein und Zeit von 1927 lautet der Titel des § 31 Das Da-sein als Verstehen. "Verstehen" ist als "universale Bestimmtheit des Daseins" anzusehen. Nach Heidegger sind die Menschen in diese Welt "geworfen". Unmittelbar erfahrbar ist für sie nur, daß sie sind. Woher alles kommt und wohin alles führt, das bleibt im Dunkeln. Nur der Tod ist gewiß. Heidegger nennt dies "das Sein zum Tode". Dieses "Sein" konstituiert nun zusammen mit der "Befindlichkeit" - zu denken wäre etwa an 'die Furcht' - das "Verstehen". Dieses "Verstehen" zielt auf das Verständnis der Welt, der anderen und meiner selbst. Es ist ein "fundamentales Existential" (eine Kategorie des menschlichen Seins), sozusagen ein primäres Verstehen, von dem das "Verstehen" im Sinne einer möglichen Erkenntnisart unter anderen, etwa unterschieden von "Erklären", nur abgeleitet ist. Erst mit jenem primären Verstehen wird, wie Heidegger sagt, das "Worumwillen" und die "Bedeutsamkeit" des Daseins erschlossen, erst damit realisiert sich das "volle In-der-Welt-sein". Verbunden mit solchem "Verstehen" ist das Existential der "Möglichkeit". Das "Verstehen" als Entwerfen von Möglichkeiten ist darauf ausgerichtet, sozusagen versuchsweise das Woher und Wohin zu erschließen, d.h., die Menschen versuchen ihre faktisch-unabänderliche Einbindung in Überlieferung (das Herkommen) aufzuklären und ihre Weltdeutung bzw. auch ein Welthandeln prospektiv zu "entwerfen". Solches "Verstehen" versteht also nicht einfach nur das Vorhandene (z.B. die Rede oder den Text oder das Verhalten), es versteht immer auch das nicht oder nicht so Vorhandene, das nur Mögliche. Für Heidegger ist das Dasein "durch und durch geworfene Möglichkeit" (S. 144) und das "Verstehen" das anthropologische Organ oder Werkzeug, mit dem sich der Mensch in und zu dieser Lage verhält.
© DS und JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Sein und Zeit (1927) Der Ursprung des Kunstwerks (1936) Unterwegs zur Sprache (1959)
Sekundärliteratur: 1. P. Cardorff: Martin Heidegger, Frankfurt/M.u.a. 1991. 2. G. Figal: Die hermeneutische Position Martin Heideggers, in: H. Birus (Hg.): Hermeneutische Positionen. Schleiermacher - Dilthey - Heidegger Gadamer, Göttingen 1982. 3. O. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963.
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (1960)
Eine entscheidende Frage für die Hermeneutik ist ihr Umgang mit der sogenannten hermeneutischen Distanz, also etwa der historischen Differenz zwischen Text und Leser / Interpret. Hans-Georg Gadamer diskutiert diese Frage unter dem Begriff des Zeitabstands: "Die hermeneutische Bedeutung des Zeitabstandes Die Hermeneutik muß davon ausgehen, daß wer verstehen will, mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden ist und an die Tradition Anschluß hat oder Anschluß gewinnt, aus der die Überlieferung spricht. Auf der anderen Seite weiß das hermeneutische Bewußtsein, daß es mit dieser Sache nicht in der Weise einer fraglos selbstverständlichen Einigkeit verbunden sein kann, wie sie für das ungbrochene Fortleben einer Tradition gilt. Es besteht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründet, nur daß diese nicht mit Schleiermacher psychologisch als die Spannweite, die das Geheimnis der Individualität birgt, zu verstehen ist, sondern wahrhaft hermeneutisch, d.h. im Hinblick auf ein Gesagtes: die Sprache, mit der die Überlieferung uns anredet, die Sage, die sie uns sagt. Auch hier ist eine Spannung gegeben. Die Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, ist das Zwischen zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Traditon. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik. [...] Nun ist die Zeit nicht mehr primär ein Abgrund, der überbrückt werden muß, weil er trennt und fernhält, sondern sie ist in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in dem das Gegenwärtige wurzelt. Der Zeitabstand ist daher nicht etwas, was überwunden werden muß. Das war vielmehr die naive Voraussetzung des Historismus, daß man sich in den Geist der Zeit versetzen, daß man in deren Begriffen und Vorstellungen denken solle und nicht in seinen eigenen und auf diese Weise zur historischen Objektivität vordringen könne. In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht ein gähnender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt. Hier ist es nicht zuviel, von einer echten Produktivität des Geschehens zu sprechen. Jedermann kennt die eigentümliche Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeiten sichere Maßstäbe anvertraut hat. So ist das Urteil über gegenwärtige Kunst für das wissenschaftliche Bewußtsein von verzweifelter Unsicherheit. Offenbar sind es unkontrollierbare Vorurteile, unter denen wir an solche Schöpfungen
herangehen, Voraussetzungen, die uns viel zu sehr einnehmen, als daß wir sie wissen könnten und die der zeitgenössischen Schöpfung eine Überresonanz zu verleihen vermögen, die ihrem wahren Gehalt, ihrer wahren Bedeutung nicht entspricht. Erst das Absterben aller aktuellen Bezüge läßt ihre eigene Gestalt sichtbar werden und ermöglicht damit ein Verständnis des in ihnen Gesagten, das verbindliche Allgemeinheit beanspruchen kann. Es ist diese Erfahrung, die in der historischen Forschung zu der Vorstellung geführt hat, daß erst aus einem gewissen geschichtlichen Abstande heraus objektive Erkenntnis erreichbar werde. Es ist wahr, daß das, was an einer Sache ist, der ihr selbst einwohnende Gehalt, sich erst im Abstand von der aus flüchtigen Umständen entstandenen Aktualität scheidet. [...] Gewisse Fehlerquellen sind da von selbst ausgeschaltet. Aber es fragt sich, ob das hermeneutische Problem sich damit erschöpft. Der zeitliche Abstand hat offenbar noch einen anderen Sinn als den der Abtötung des eigenen Interesses am Gegenstand. Er läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen. Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß." (S. 279ff.)
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl., Tübingen 1972.
Jürgen Habermas: Zu Gadamers "Wahrheit und Methode" (1967)
In kritischer Auseinandersetzung mit Wahrheit und Methode, dem hermeneutischen Hauptwerk seines Förderers Hans-Georg Gadamer, gelangt Habermas dazu, Grundlinien seines eigenen, ideologiekritisch gewendeten Konzepts von Hermeneutik zu skizzieren: "[Sprache, Arbeit und Herrschaft] [...] Die Objektivität eines Überlieferungsgeschehens, das aus symbolischem Sinn gemacht ist, ist nicht objektiv genug. Die Hermeneutik stößt gleichsam von innen an Wände des Traditionszusammenhangs; sie kann, sobald die Grenzen erfahren und erkannt sind, kulturelle Überlieferungen nicht länger absolut setzen. Es hat einen guten Sinn, Sprache als eine Art Metainstitution aufzufassen, von der alle gesellschaftlichen Institutionen abhängen; denn soziales Handeln konstituiert sich allein in umgangssprachlicher Kommunikation. Aber diese Metainstitution der Sprache als Tradition ist ihrerseits abhängig von gesellschaftlichen Prozessen, die nicht in normativen Zusammenhängen aufgehen. Sprache ist auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht. Sie dient der Legitiomation von Beziehungen organisierter Gewalt. Soweit die Legitimationen das Gewaltverhältnis, dessen Institutionalisierung sie ermöglichten, nicht aussprechen, soweit dieses in den Legitimationen sich nur ausdrückt, ist Sprache auch ideologisch. Dabei handelt es sich nicht um Täuschungen in einer Sprache, sondern um Täuschungen mit Sprache als solcher. Die hermeneutische Erfahrung, die auf eine solche Abhängigkeit des symbolischen Zusammenhangs von faktischen Verhältnissen stößt, geht in Ideologiekritik über. Die nichtnormativen Gewalten, die in Sprache als Metainstitution hineinragen, stammen nicht nur aus Systemen der Herrschaft, sondern auch aus gesellschaftlicher Arbeit. In diesem instrumentalen Bereich erfolgskontrollierten Handelns werden Erfahrungen organisiert, die sprachliche Interpretationen offensichtlich motivieren und überlieferte Interpretationsmuster unter operationellem Zwang ändern können. Eine Veränderung der Produktionsweise zieht eine Umstrukturierung des sprachlichen Weltbildes nach sich. [...] Das läßt sich etwa an der Ausdehnung des Profanbereichs in primitiven Gesellschaften studieren. Gewiß sind Umwälzungen in den Reproduktionsbedingungen des materiellen Lebens ihrerseits sprachlich vermittelt; aber eine neue Praxis wird nicht nur durch eine neue Interpretation in Gang gebracht, sondern alte Muster der Interpretation werden auch 'von unten'durch eine neue Praxis angegriffen und umgewälzt. [...]
Eine verstehende Soziologie, die Sprache zum Subjekt der Lebensform und der Überlieferung hypostasiert, bindet sich an die idealistische Vorausetzung, daß das sprachlich artikulierte Bewußtsein das materielle Sein der Lebenspraxis bestimmt. Aber der objektive Zusammenhang sozialen Handelns geht nicht in der Dimension intersubjektiv vermeinten und symbolisch überlieferten Sinnes auf. Die sprachliche Infrastruktur der Gesellschaft ist Moment eines Zusammenhangs, der sich auch, wie immer symbolisch vermittelt, durch Realitätszwänge konstituiert: durch den Zwang der äußeren Natur, der in die Verfahren technischer Verfügung eingeht, und durch den Zwang der inneren Natur, der sich in den Repressionen gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse spiegelt. Beide Kategorien von Zwang sind nicht nur Gegenstand von Interpretationen; hinter dem Rücken der Sprache wirken sie auch auf die grammatischen Regeln selber, nach denen wir die Welt interpretieren. Der objektive Zusammenhang, aus dem soziale Handlungen allein begriffen werden können, konstituiert sich aus Sprache, Arbeit und Herrschaft zumal. An Systemen der Arbeit wie der Herrschaft relativiert sich das Überlieferungsgeschehen, das nur einer verselbständigten Hermeneutik als die absolute Macht entgegen tritt." (S. 52ff.)
Jürgen Habermas: Zu Gadamers "Wahrheit und Methode", in: Karl-Otto Apel u.a.(Hg.): Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt/M. 1971.
Fiktion lat. fictio: Erdichtung, von fingere: bilden, erdichten
Eine Fiktion ist eine Aussage bzw. Darstellung eines Sachverhalts oder Geschehens ohne überprüfbare Referenz (Wirklichkeitsbezug), die demnach weder "wahr" noch "falsch" genannt werden kann. Die literarische Fiktion im besonderen stellt, in Anlehnung an eine Formulierung Kants, "gedichtete und zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände" (Kritik der reinen Vernunft, B 799) vor und grenzt sich damit, in dramatischer wie epischer Ausformung, von der Wirklichkeitsaussage, insbesondere vom historischen Bericht ab. Geschichtsschreiber und Dichter unterscheiden sich bereits nach Aristoteles "dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte." (Poetik, Kap. 4) In dieser Nachahmung oder Darstellung (mimesis) des Möglichen sieht Aristoteles sogar die Überlegenheit der dichterischen Fiktion, im Sinne höherer Allgemeinheit, über die ans faktisch Besondere gebundene Geschichtsschreibung begründet. Damit widerspricht er der bei den Vorsokratikern entwickelten und von Platon resümierten Abwertung der Dichtung als "Lüge" und sichert ihr einen Eigenwert, der den abendländische Literaturbegriff bis heute prägt: "Literatur ist immer Erfindung. [...] Wer eine Erzählung 'wahr' nennt, beleidigt Kunst und Wahrheit zugleich." (Vladimir Nabokov). Die neuere Sprachphilosophie bestimmt die erzählerische Fiktion als "Behauptung" ohne "behauptende Kraft" (Gottlob Frege), als "pretended assertion" (John R. Searle), als Rede, die "keinen Anspruch auf Referenzialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt" (Gottfried Gabriel). Die angemessene Rezeption fiktionaler Texte setzt voraus, daß aufgrund einer unausgesprochenen 'Übereinkunft' eines 'Paktes' zwischen Autor und Leser der Anspruch auf Verifizierbarkeit, den wir sonst an informative Texte richten, "suspendiert" wird. Die "suspension of disbelief", von der bereits der englische Romantiker S.T. Coleridge sprach, realisiert sich in einer spezifischen Situation oder Institution (z.B. im Theater, wo Schauspieler ein Geschehen fingieren, das wir nicht als historische Behauptung verstehen, auch wenn die Hauptfigur Wallenstein oder Julius Cäsar heißt). Oder sie wird, insbesondere bei der Lektüre von Erzähltexten, durch Kontextangaben hervorgerufen, vor allem durch die gattungs-poetische Deklaration als "Roman", "Novelle" u.ä. Dies gilt auch für die - sehr zahlreichen - Fälle, wo Orte, Daten, Personen, Geschehnisse einer Erzählung oder eines Dramas der historischen Realität entlehnt sind. Zuschauer oder Leser beziehen einen Dramenhelden namens Wallenstein oder den Romanschauplatz Lübeck nicht - oder doch nur in einem sehr indirekten Sinn auf die historisch-empirische Realität. Sie akzeptieren, daß eine Bühnenfigur mit historisch verbürgtem Namen sich anders verhält als der historische Träger dieses Namens - oder auch, daß sich fiktive Personen namens Buddenbrook an historisch authentischen, heute noch auffindbaren Schauplätzen bewegen.
Bestimmend bleibt auch in solchen Fällen die rezeptionslenkende Deklaration als fiktionaler Text: "So wie der Löwe, [...], fast nur verdauter Hammel ist, so ist die Fiktion fast nur fiktionalisierter Wirklichkeitsstoff." (Gérard Genette) Zum logischen Status und zu den - textexternen und textinternen Unterscheidungsmerkmalen von fiktionalen und faktualen Texten haben u.a. Käte Hamburger (1957) und Gérard Genette (1991) anregende und lebhaft diskutierte Beiträge vorgelegt. Das Bewußtsein vom Eigenwert der Fiktion, das stets die Frage nach der besonderen Erkenntnisqualität oder Wirkungsmacht der künstlerischen Imagination berührt, ist historisch gewachsen und wandelbar. Im griechischen Altertum markiert, wie zuletzt Heinz Schlaffer gezeigt hat, die Poetik des Aristoteles eine Ausdifferenzierung des archaischen Mythos in wissenschaftliche Erkenntnis einerseits und (fiktionale) Dichtung andererseits, welche dann als Organ des "Möglichkeitssinns" (Robert Musil) zunehmend kompensatorische Funktionen übernimmt: so "ergänzt die Fiktion uns verstümmelte Wesen", die wir nur "ein einziges Leben haben und die Fähigkeit, tausend zu wünschen." (Mario Vargas Llosa) In der frühen Neuzeit wehrt sich fiktionale Erzählliteratur zwar durch nachdrückliche Authentizitätserklärungen gegen gattungspoetische Geringschätzung. Sie werden aber zunehmend - wie schon das "Es war einmal..." des Märchens - gegen ihren Wortlaut als Ankündigung von Fiktion verstanden. Die 'realistische' Literatur besonders des 19. Jahrhunderts verwendet die Verfahren fiktionalen Erzählens überwiegend mimetisch zur Erzeugung einer Realitätsillusion. So postuliert Theodor Fontane, der Roman solle uns "eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen lassen". Im 20. Jahrhunert mehren und verstärken sich dagegen die Versuche, den Charakter der Fiktionalität hervorzukehren und dadurch bewußt zu machen. Diese antimimetische Tradition des Erzählens, die einzelne Vorbilder schon im 18. und 19. Jahrhundert hat, prägt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunert insbesondere die angloamerikanische, französische und italienische Erzählliteratur. Metafiction wird zu einem Sammelbegriff "für fiktionale Erzähltexte, die selbstreflexiv und systematisch die Aufmerksamkeit auf ihren Status als Artefakte lenken, um damit die Beziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu problematisieren." (Patricia Waugh) Damit reagiert Gegenwartsliteratur zweifellos auch auf die zunehmende Schwierigkeit, innerhalb der Lebenswelt zwischen 'Wirklichkeit' und Fiktion zu unterscheiden. Was wir - insbesondere in der Vermittlung durch die modernen Massenmedien als 'Wirklichkeit' erleben, ist bereits medial produzierte Pseudowirklichkeit - also nicht mehr kenntliche Fiktion, sondern undurchschaubare, tendenziell allumfassende Simulation (Jean Baudrillard). © JV
Sekundärliteratur:
1. G. Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur, Stuttgart 1977. 2. H. Schlaffer: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt/M. 1990. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 7. Aufl., Opladen 1990.
Metapher gr. metaphor : Übertragung
Die Metapher wird traditionell als wichtigste der rhetorischen Figuren betrachtet. Nach älterer Auffassung handelt es sich um einen abgekürzten Vergleich bzw. eine Ersetzung des 'eigentlichen' durch einen metaphorisch 'uneigentlichen' Ausdruck nach dem Kriterium der Entsprechung bzw. der Ähnlichkeit. So ist seit Homer die Metapher vom Löwen für einen kämpfenden Helden üblich; wobei der Kontext das mögliche Mißverständnis verhindert: Achilles ist (wie) ein Löwe in der Schlacht. Die Metapher, so definiert Aristoteles, "ist die Übertragung eines Wortes (das somit in uneigentlicher Bedeutung verwendet wird) [...] nach den Regeln der Analogie. [...] das Alter verhält sich zum Leben, wie der Abend zum Tag; der Dichter nennt also den Abend 'Alter des Tages', oder, wie Empedokles, das Alter 'Abend des Lebens' oder 'Sonnenuntergang des Lebens'." (Poetik, Kap. 21) Aristoteles beobachtet freilich auch schon, daß metaphorische Wendungen semantische Leerstellen im 'eigentlichen' Wortschatz füllen können: so wenn man die "Tätigkeit der Sonne" als das "Säen" des Lichts bezeichnet. (ebd.) Tatsächlich werden ja bis heute naturwissenschaftliche und technologische Sachverhalte mit derartigen Metaphern bezeichnet: von den elektrischen Wellen über den Atomkern bis zum schnellen Brüter. Werden solche Ersetzungen über das Einzelwort hinausgeführt, dann entstehen Allegorien oder ganze Bildfelder. Von der (Einzelwort-) Metapher im engeren Sinn läßt sich also eine Strategie der Sprachverwendung, das metaphorische Sprechen unterscheiden, das unterschiedliche rhetorische Figuren (Metapher, Metonymie, Synekdoche u.a.) kombiniert. Herkömmlicher- wenn auch fälschlicherweise gilt solche Bildlichkeit als besondere Qualität poetischer Texte oder - schon bei Aristoteles - als Ausweis dichterischer Inspiration: "Denn dieses allein kann man nicht bei andern lernen, sondern ist das Zeichen von Begabung." (ebd) Unzweifelhaft ist die zentrale Rolle der dichterischen Metaphorik in bestimmten Epochen (etwa im Barock) und in spezifischen Gattungen (etwa in der Lyrik); ein Blick auf die Metapherndichte von politisch-journalistischen Gebrauchstexten, oder auch in der Werbung, sollte jedoch davor warnen, Bildlichkeit als zwingendes Kriterium von Poetizität aufzufassen. In der neueren Diskussion wird das Ersetzungsmodell zunehmend von einer sogenannten Interaktionstheorie abgelöst. So hat Peter Szondi im Anschluß an Chladenius und Schleiermacher darauf hingewiesen, daß literarische Metaphorik nicht als mechanische Ersetzung des 'eigentlichen' Ausdrucks verstanden (und damit tendenziell wieder aufgelöst) werden sollte, sondern als eigenständiger
"Modus der Wirklichkeitserfahrung" und als eine "Modifikation der vorgegebenen Sprache" (Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 89). Diese kommunikativen und sprachkreativen Leistungen der Metaphorik lassen sich in der modernen Literatur, insbesondere der Lyrik, am deutlichsten verfolgen, sei es in Form der hermetischen oder absoluten Metapher, die ihre Entschlüsselung verweigert (schon für Aristoteles grenzte die Metapher ans "Rätsel"); sei es in Form der Intertextualität, des Bildzitats und der metaphorischen Wechselrede zwischen Texten, Autoren und Epochen. Die Verwendung bzw. Bevorzugung bestimmter Metaphern oder Bildfelder bei einzelnen Autoren, oder ihre Standardisierung im allgemeinen Gebrauch, die sogenannte Kollektivsymbolik (Jürgen Link), lassen schließlich Rückschlüsse auf individuelle oder kollektive bzw. epochenspezifische Sichtweisen, Erklärungsmuster und 'Weltbilder' zu. Die Metapher ist insofern nicht mehr und nicht weniger als ein sprachlicher 'Mikrokosmos'. ©JV
Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1975. Sekundärliteratur: 1. A. Haverkamp: Theorie der Metapher, Darmstadt 1996. 2. G. Kurz: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 1982.
Theologische Hermeneutik
Das was wir heute als das Alte Testament bezeichnen, ist im Lichte der modernen Bibelwissenschaft als Kanon zu betrachten, u.a. insofern, als es in einem historisch-kulturell bestimmten Kommunikationszusammenhang - im religiösen Judentum - als normative Schrift gilt, die die Werte und Normen des religiösen und des sozialen Lebens für jeden Angehörigen der Glaubens- bzw. Kommunikationsgemeinschaft verbindlich regelt. Deshalb spricht das orthodoxe Judentum von dem Alten Testament als von dem Wort Gottes oder dem Gesetz . Es kann im buchstäblichen Sinne verstanden werden bzw. erfordert eine konkrete, wörtliche Gesetzesinterpretation. Dieser Sachverhalt ändert sich grundsätzlich mit dem historischen Auftreten des Christusglaubens, der vom Judentum nicht geteilt wird. Während dieses am Status des Alten Testaments festhalten kann, muß die neue christliche Glaubensgemeinschaft eine hermeneutische Aufgabe bewältigen, die man die Synthese der alttestamentarischen Verheißung mit der Verkörperung des Gotteswillens in der Person und Lehre Jesu Christi formulieren kann. Letzlich half man sich über die Jahrhunderte hinweg durch den Rückgriff auf eine linguistisch garantierte Möglichkeit: durch den doppelten oder mehrfachen Schriftsinn. Paßte das wörtliche Verständnis des Alten Testaments nicht in die christliche Lehre, nahm man einen übertragenen, metaphorischen Schriftsinn an und legte ihn aus. Dabei wird solche Auslegung einerseits in Texten realisiert, die man Interpretationen nennen kann (manche Partien des Neuen Testaments sind selbst solche), andererseits ist aber auch die damals stattfindende Übersetzung aus dem Hebräischen ins Griechische, die für die Ausbreitung des Christentums nötig war, ein wichtiges Organon der Umdeutung. Der weit gezogene Auslegungsspielraum und damit verbunden der Anspruch auf die unangreifbare Autorität der kirchenamtlichen Auslegung der Bibel, untermauert durch das Unfehlbarkeitsdogma der päpstlichen Autorität, führten dazu, daß der europäische Protestantismus in seiner Wendung gegen die Autorität der Römischen Kirche auch zu neuen Auslegungen und neuen hermeneutischen Prinzipien in Bezug auf die Heilige Schrift gelangt. So wie Luther eine christliche Existenz nicht im Gehorsam gegenüber den kirchlichen Anweisungen, sondern sola fide (allein durch den Glauben) bestimmt, so will er die christliche Glaubenslehre nicht aus den kirchenamtlichen Dogmen, sondern sola scriptura (allein durch die Schrift) gewinnen. Seine hermeneutischen Positionen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: ●
die prinzipielle Ablehnung der Allegorese (die praktisch aber immer noch eine gewisse Rolle spielt oder sie im späteren Protestantismus neu
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gewinnt), sein Verständnis der Schriftauslegung als Sprach- und Verstehenproblem im Sinne bewußter Hermeneutik, das ihn zu genauer philologischer Arbeit an den Urtexten bringt und schließlich zur deutschen Bibelübersetzung als einer hermeneutischen Leistung führt.
Diese Übersetzung ist Interpretation, Sinngebung durch Wortwahl - und für ein protestantisches Neuverständnis der Schrift wichtiger als explizite Auslegungen (Kommentare), die Luther ebenfalls gegeben hat. Es versteht sich daneben, daß erst eine volkssprachliche Bibel für eine kirchliche Praxis genutzt werden kann, die sich kritisch gegen die Bevormundung durch die Amtskirche absetzen will.
Bibel lat. biblia: 'Buch der Bücher', von gr. biblos 'Buch'
Die Bibel oder Heilige Schrift ist die Gesamtheit der Texte, in denen die Geschichte des frühen Judentums als des von Jehova 'auserwählten Volkes' sowie die Lebens- und Leidensgeschichte Jesu von Nazareth berichtet und die christliche Lehre, wie sie von seinen Jüngern verbreitet wurde, dargelegt wird. Die Bibel ist damit historische und dogmatische Grundlage des Christentums als 'Buchreligion' und (neben der griechisch-römischen Antike) ein kulturelles Fundament der abendländischen Kultur. Darüber hinaus dürfte sie das weltweit verbreitetste Buch überhaupt sein (Übersetzung in mehr als 1000 Sprachen). Die Bibel ist kein einheitlicher Text, sondern ein Aggregat von historisch und gattungspoetisch unterschiedlichen Texten zahlreicher (meist nicht mehr identifizierbarer) Verfasser. Die verbindliche Auswahl, also der biblische Kanon umfasst grundsätzlich die folgenden Textgruppen. (1) Im hebräisch verfassten Alten Testament ('Zeugnis'): die Gesetzesbücher (fünf Bücher Mosis, auch Tora (hebr. 'das Gesetz'); die Bücher der Propheten (Jesaja u.a.); die Schriften (Psalter u.a.). Eine vierte Gruppe, die Apokryphen (Weisheit Salomonis u.a.) wird von der protestantischen Tradition nur als 'Ergänzung' betrachtet. (2) Das Neue Testament, überwiegend griechisch abgefasst, enthält die Geschichtsbücher (vier Evangelien, Apostelgeschichte), die Briefe (vierzehn Paulus-Briefe u.a.) sowie die prophetische Offenbarung des Johannes (gr. Apokalypse). In dieser Form ist die Bibel Resultat eines jahrtausendelangen Kanonisierungsprozesses, der von zahllosen Abschriften (es gibt keine 'Originale'), vielen Übersetzungen, von kontroversen Auswahlentscheidungen und Interpretationen (theologische Hermeneutik) geprägt ist. Wichtigste Stufen sind dabei die Kanonisierung des AT um 90 n. Chr., des NT um 400 n. Chr.; die griechische Übersetzung des AT, die so genannte Septuaginta (Werk der 'siebzig' Übersetzer) um 100 v. Chr., die lateinische Vulgata des Hieronymus (ab 382), lange Zeit verbindlich in der römisch-katholischen Kirche. Im germanischen Sprachraum finden sich seit dem 4. Jh. (Teil-) Übersetzungen auf gotischer, althochdeutscher und mittelhochdeutscher Sprachstufe, daneben viele popularisierende Nacherzählungen und Bilderbibeln. Die Übersetzung zunächst des Neuen, dann des Alten Testaments durch Martin Luther (1522/34) war entscheidend für die Akzeptanz und kirchenpolitische Durchsetzung des protestantischen Glaubens in Deutschland, aber auch für die überregionale Vereinheitlichung der (neuhoch-)deutschen Sprache. Darüber hinaus hat die Bibel die deutsche Kulturgeschichte in ihren Grundlinien und unzähligen Einzelheiten geprägt. Weiterhin arbeiten kirchliche Institute an modernen Übersetzungen; allgemeine Anerkennung findet heute die
Einheitsübersetzung der so genannten Jerusalemer Bibel. Die literarische Wirkung der Bibel ist in Deutschland wie in anderen christlich geprägten Ländern kaum zu ermessen (und wurde Jahrhunderte lang durch Gottesdienst, religiöse Erziehung und die dort verwendete Textsorten wie Katechismus, biblische Geschichten, Kirchenlied verstärkt). Sie resultiert auch daraus, dass die Bibel nicht nur ein dogmatisches, sondern selbst ein eminent literarisches Werk ist, ein Ensemble von dichterischen und pragmatischen Gattungen (Mythos, Geschichtsbuch, Epos, Novelle, Lyrik, Brief, Predigt, Spruchdichtung, Vision u.a.). Weiterhin bieten sich die Figuren und Erzählstoffe (von der Schöpfungsgeschichte bis zur Kreuzigung Jesu) zur Nachdichtung an. Schließlich werden Einzelmotive, Sprachformen und Zitate in vielfältigen, auch nichtreligiösen Kontexten rezipiert und (bis hin zur Satire und Blasphemie) 'umfunktioniert'. Einige (willkürliche) deutsche Beispiele: Die Kirchenlieder Luthers (16. Jh.) sind weitgehend Umdichtungen von biblischen Psalmen. Die Dichtung des Barock ist überwiegend geistliche Dichtung, besonders in der Lyrik (Ode, Sonett), entwickelt aber auch neue Formen (z.B. Grabreden), selbst in den Schelmenroman wandern religiöse Themen ein. Das Hauptwerk von Friedrich Gottlieb Klopstock, der im 18. Jahrhundert die deutsche Dichtersprache revolutionierte, das Epos Der Messias (1743/77) hat die Passion Christi zum Thema. Goethe, lebenslang in Distanz zur kirchlichen Religiosität, bekennt in Dichtung und Wahrheit: "fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig, und die Begebenheiten, die Lehren, die Symbole, die Gleichnisse, alles hatte sich tief bei mir eingedrückt". In seinem Werk hat man mehr als eintausend Verweise auf die Bibel gezählt. Noch im fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert verfasst Friedrich Hebbel eine Judith-Tragödie, und 1928 antwortet der Erfolgsautor und Jungkommunist Bertolt Brecht auf die Frage nach dem Buch, das ihn am stärksten beeinflusst habe: "Sie werden lachen, die Bibel!" © JV
Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel, Freiburg u.a. 2000.
Sekundärliteratur: 1. R. Alter / F. Kermode (Hg.): The Literary Guide to the Bible, Cambridge, Mass. 1987. 2. J. Ebach / R. Faber (Hg.): Bibel und Literatur, München 1998. 3. K. Hennig: Jerusalemer Bibel-Lexikon, Neuhausen/Stuttgart 1998.
Wolfgang Kayser
* 24. 12. 1906, Berlin † 23. 01. 1960, Göttingen germanistischer Literaturwissenschaftler Ein aktuelles Interesse an Wolfgang Kayser resultiert vor allem aus der intensiven Wirkung, die er als Ordinarius an der Universität Göttingen (19501960) auf die deutsche Nachkriegsgermanistik ausübte. Besonders die überaus starke Resonanz seines Hauptwerks Das sprachliche Kunstwerk (1948) machte ihn zu einem der einflussreichsten Literaturwissenschaftler in der frühen Bundesrepublik und hat die methodische Ausrichtung des Faches bis weit in die sechziger Jahre hinein entscheidend geprägt. Kayers berufliche Biografie weist dabei einige für die deutsche Germanistik insgesamt und für seine Wissenschaftlergeneration typische Widersprüchlichkeiten auf. Mit seiner Dissertation Die Klangmalerei bei Harsdörffer (1932) trug er - ähnlich wie seine Studienkollegen Erich Trunz (nach 1933 bekennender Nationalsozialist) oder Richard Alewyn (nach 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft exiliert) zur Begründung einer ernsthaften Erforschung der Literatur des deutschen Barock bei. Seine Habilitationsschrift zur Geschichte der deutschen Ballade (1935) zeigt ihn mit der Betonung des "Völkischen" bereits linientreu im Sinne der Nazis und seines Lehrers Julius Petersen. Trotz Eintritts in die NSDAP (1937) erschien Kayser dem NS-Dozentenbund für eine Professur in Deutschland nicht geeignet. Hingegen konnte er, auf Grund einer zwischenstaatlichen Absprache und gefördert vom Auswärtigen Amt in Berlin, ab 1941 eine Dozentur (bzw. außerordentliche Professur) an der Universität Lissabon wahrnehmen, wo die Germanistik derzeit nicht vertreten war. So wirkte er als halboffizieller Repräsentant "deutscher Kultur" in einem Lande, in dem trotz der formalen Neutralität starke Sympathien für Nazi-Deutschland verbreitet waren. Allerdings gibt es keine Zweifel daran, daß Kayser in politischideologischen Fragen sehr zurückhaltend war und sich soweit möglich, auf Kultur und Literatur konzentrierte. So konnte er auch nach Kriegsende in Lissabon bleiben, obwohl die Dozentur nicht mehr verlängert wurde. Nachdem er 1946 bereits die (heute noch brauchbare) Kleine deutsche Versschule publiziert hatte, ermöglichte ihm ein staatliches Forschungsstipendium die Abfassung seines Buches Das sprachliche Kunstwerk, das 1948 zugleich portugiesisch und deutsch (in der Schweiz) erschien und lange Zeit als literaturwissenschaftliches Lehrbuch (nicht nur für Germanisten) auch an portugiesischen Universitäten in Gebrauch war. Von Lissabon aus bemühte sich Kayser um eine Berufung nach Deutschland, die
ihn (nach dem einen oder anderen Fehlschlag) 1950 nach Göttingen führte. Dabei haben Empfehlungen aus Lissabon, ein fachliches Gutachten des Züricher Ordinarius Emil Staiger und ein erfolgreich abgeschlossenes Entnazifizierungsverfahren geholfen. In Göttingen, wo er später auch das Amt des Rektors bekleidete, erwarb sich Kayser Achtung und Zuneigung von Kollegen und StudentInnen. In persönlicher Hinsicht wurde seine intensive pädagogische Zuwendung gerühmt; fachlich gesehen haben die Abkehr von der politisierten NS-Germanistik und die europäische Erweiterung des literarischen Horizonts, die er seiner Lissabonner Zeit verdankt, dabei auf produktive Weise zusammengewirkt. Wachsende internationale Anerkennung belegt eine Gastprofessur im Jahr 1955/56 an der Harvard University in Cambridge, Mass., die er zum Abschluss eines groß angelegten und fächerübergreifenden Werks über Das Groteske in Literatur und Kunst nutzen konnte. Die seit Mitte der sechziger Jahre wachsende Kritik an der Methode der Werkimmanenten Interpretation, die er so erfolgreich durchgesetzt hatte, erlebte Kayser nicht mehr. © JZ
Wichtige Schriften: ❍
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Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft (1948) Das Groteske. Seine Gestaltung in Dichtung und Malerei (1957) Die Vortragsreise. Studien zur Literatur (1958)
Sekundärliteratur: 1. W. Barner / Ch. König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, Frankfurt/M. 1996. 2. J. Hermand: Geschichte der Germanistik, Reinbek 1994. 3. T. Seruya: Wolfgang Kayser in Portugal. Zu einem wichtigen Kapitel der portugiesischen Germanistik, in: F. Fürbeth u.a. (Hg.): Zur Geschichte und Problematik der Nationaphilologien in Europa, Tübingen 1999, S. 715-725.
Käte Hamburger
* 21.09.1896, Hamburg † 08.04.1992, Stuttgart Literaturwissenschaftlerin Die wegen ihrer jüdischen Herkunft von den Nationalsozialisten ins Exil getriebene Germanistin lehrte nach ihrer Rückkehr an der Stuttgarter Universität und publizierte Studien u.a. zu Thomas Mann und Rainer Maria Rilke. In erster Linie hat jedoch ihre literaturtheoretische Untersuchung Die Logik der Dichtung von 1957 (erweiterte Neufassung 1968) die methodische Neuorientierung der deutschen Germanistik vorangetrieben. Es ist dies ein Versuch, durch Neufassung des aristotelischen Mimesis-Begriffs und in Anlehnung an Positionen der Sprachphilosophie (Karl Bühler u.a.) logische Grundstrukturen der dichterischen Gattungen, besonders aber der Erzählprosa zu bestimmen und von denen des pragmatischen Sprachgebrauchs trennscharf zu unterscheiden. Die Erzählprosa, oder wie Hamburger durchgehend formuliert, die "epische Fiktion" ist ihrer Erkenntnis nach "der einzige Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann" (S. 79). Aus dieser zentralen Bestimmung ergeben sich einige weitere, die insbesondere zur Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Texten dienen und inzwischen zum literaturanalytischen Grundwissen zählen: - Grundform des fiktionalen Erzählens ist das epische Präteritum, das nicht temporale Vergangenheit, sondern eben den fiktionalen Status des Textes anzeigt und sich auf überraschende Weise mit Zeitbestimmungen der Gegenwart oder Zukunft verbinden kann ("Morgen war der gefürchtete Dritte", H. v. Kleist, Die Marquise von O...). - Textinterne Fiktionalitätssignale stellen auch die erlebte Rede sowie die Verben des Wahrnehmens, Denkens und Fühlens in der dritten Person dar, die in nichtfiktionaler Sprachverwendung nicht 'erlaubt' bzw. plausibel sind (Kleists Marquise "litt an Übelkeiten, Schwindeln und Ohnmachten und wußte nicht, was sie aus diesem sonderbaren Zustand machen sollte"). Hamburgers theoretische Einsichten wurden in der deutschen Literaturwissenschaft bis in die siebziger Jahre hinein heftig, diskutiert, differenziert und in manchen Punkten überholt. Insbesondere ihre Ausklammerung der "Ich-Erzählung" aus dem Feld der erzählerischen Fiktion hat (berechtigten) Widerspruch erfahren. Dennoch (oder gerade wegen solcher intensiven Debatten) ist Die Logik der Dichtung ein herausragendes Beispiel für
die methodische Versachlichung und Modernisierung der Literaturwissenschaft in einer Zeit, die von der gefühlsorientierten, für Irrationalismen aller Art anfälligen werkimmanenten Interpretation dominiert wurde. Auch in der internationalen Narratologie gilt sie bis heute als wichtiger historischer Bezugstext. © JV
Die Logik der Dichtung (1957, 2. erw. Aufl. 1968), Frankfurt/Main 1980. Sekundärliteratur: 1. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, 7. Auflage, Opladen/Wiesbaden 1990, Kap. 1. 2. K. Weimar: Kritische Bemerkungen zur "Logik der Dichtung", in: DVjs 48 (1974), H.1, S.10-14. 3. H. Weinrich: Tempus. Besprochen und erzählte Welt, Stuttgart 1971.
Eberhard Lämmert
* 20.09.1924, Bonn Germanistischer Literaturwissenschaftler, Wissenschaftsorganisator "Das Erzählen aber ist ein zeitlicher Vorgang." Mit diesem ebenso grundlegenden wie banalen Satz hatte der Bonner Germanist Günther Müller in seiner Antrittsvorlesung von 1946 die Untersuchung der internen Zeitstrukturen von Erzähltexten angekündigt. Das war einerseits ein - durchaus generationstypischer Akt der Selbstentnazifizierung; aber doch auch - zaghafte - Hinwendung zu einem sachlich-analytischen Forschungsprogramm. In der Folge konzentrierte Müller sich auf die "Beziehung von Erzählzeit und erzählter Zeit" und versuchte unter Bezug auf Goethes Konzept von den "Naturformen der Dichtung" - eine Morphologische Poetik zu entwerfen. Mit größerer Konsequenz hat sich sein Schüler Eberhard Lämmert sodann um eine differenzierte Analyse der erzählerischen Zeitstrukturen bemüht und sie in seiner Doktorarbeit mit dem epochemachenden Titel Bauformen des Erzählens (1955) systematisiert. Damit zeichnet sich - wie auch in dem nur zwei Jahre später publizierten Werk Die Logik der Dichtung von Käte Hamburger - erstmals eine analytisch und funktional orientierte Variante innerhalb der stark gefühlsorientierten werkimmanenten Interpretation ab, eie Art deutscher Sonderweg zur strukturalen Analyse von narrativen Texten. (Für die wissenschaftshistorische Situation ist es jedoch typisch, daß beide Werke erst in den sechziger Jahren verstärkt rezipiert wurden.) Analytisches Kernstück von Lämmerts Untersuchung ist - wie von Müller proklamiert - die differenzierende und systematisierende Darlegung der "Beziehung von Erzählzeit und erzählter Zeit". Lämmert verweist auf die grundlegende Notwendigkeit temporaler Verkürzung im Erzählvorgang (der Zeitraffungen), die freilich auch ihre Ausnahmen kennt, er unterscheidet demnach zeitraffendes, zeitdeckendes und zeitdehnendes Erzählen, und weiterhin verschiedene, vielfach kombinierbare Raffungsformen und -intensitäten, die das 'Erzähltempo' eines Textes bestimmen. Auch die Umstellungen bzw. Diskrepanzen von Handlungs- und Erzählchronologie (Rückwendungen, Vorausdeutungen) werden näher bestimmt und in ihrer Funktion für die innere Gliederung eines Erzähltextes bzw. seine umfassende Erzählstrategie untersucht. Lämmerts analytische Begrifflichkeit hat sich seit den sechziger Jahren als literaturwissenschaftliches Elementarwissen durchgesetzt und wird erst in neuester Zeit durch die systematischere und trennschärfere Terminologie verdrängt, die der französische Literaturtheoretiker Gérard Genette entwickelt hat (auch bei ihm kommt den Zeitstrukturen besonderes Gewicht zu).
Insgesamt ist Bauformen des Erzählens heute wohl eher als Dokument des mühsamen Ablösungsprozesses der deutschen Germanistik von ihrer problematischen Tradition denn als systematisches Arbeitsbuch lesenswert. Unbestreitbar - und in der internationalen Erzählforschung unbestritten - ist aber der analytische Impuls, der von diesem Werk eines jungen Germanisten ausging, der sich in den folgenden Jahrzehnten vor allem durch sein institutionelles Wirken als eine herausragende Figur des germanistischen Fachs und des deutschen Wissenschaftssystems profilierte. © JV
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Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens (1955), Nachdruck der 8. Aufl. Stuttgart 1997. Günther Müller: Morphologische Poetik, Gesammelte Aufsätze, Bonn 1968.
Sekundärliteratur: 1. H. Bleckwenn: Morphologische Poetik und Bauformen des Erzählens, in: W. Haubrichs (Hg.): Erzählforschung, Bd.1, Göttingen 1976, S.184-223. 2. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, 7. Aufl. Opladen/Wiesbaden 1990, Kap. 3.
Franz K. Stanzel
* 04.08.1923, Graz Anglistischer Literaturwissenschaftler Der Österreichische Anglist Franz K. Stanzel hat sich in einer ganzen Reihe von Schriften, beginnend in den fünfziger Jahren, um die Ausarbeitung einer deskriptiven bzw. analytischen Typologie bemüht, mit der besonders die innere Perspektivierung und die spezifische Erzählweise von Romanen oder anderen narrativen Texten erfaßt werden kann. Unter (eher assoziativem) Verweis auf Goethes Konzept von den Naturformen der Dichtung (1819) entwickelt er eine kreisförmige Konstellation von "typischen", d.h. vielfach auffindbaren narrativen Modellen, für die er den (leicht mißverständlichen) Ausdruck "Erzählsituationen" durchsetzt. Der sogenannte "Typenkreis" von auktorialer, personaler und Ich-Erzählsituation gehört seit langem zum literaturanalytischen Grundwissen (und kann bei Bedarf noch um eine 'neutrale' Variante bzw. um vielfache Misch- und šbergangsformen ergänzt werden). Diese "Erzählsituationen" sind also komplexe Kategorien, die verschiedene Einzelmerkmale (z.B. grammatische Person; Begrenzung des erzählerischen Blickfeldes oder Wissens; Einsatz von reflexiven und kommentierenden Textelementen) in einer Art und Weise kombinieren, die dem historischen Stand der Erzähltechnik wie auch der jeweiligen Werkintention entspricht. Eben deswegen wird Stanzels Konzept verschiedentlich fehlende Systematik und mangelnde analytische Trennschärfe vorgeworfen - am plausibelsten wohl von Gèrard Genette, der Stanzels Typenkreis ein eigenes, eher binäres Schema von Fokalisierungstypen entgegensetzt. Auf der anderen Seite ist unbestreitbar, daß Stanzels Konzept gerade wegen seines synthetischen Charakters besonders brauchbar und anschaulich ist, wenn es um die strukturelle Beschreibung konkreter Texte geht. Besonders die anhaltende Verbreitung seines didaktisch angelegten Leitfaden Typische Formen des Romans (zuerst 1964) belegt diesen Gebrauchswert. Wissenschaftsgeschichtlich darf man Stanzels Arbeiten neben Käte Hamburgers Logik der Dichtung und Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens stellen, mit denen Mitte der fünfziger Jahre in Deutschland die Ausarbeitung einer rational und analytisch orientierten Literaturwissenschaft, zunächst vor allem auf dem Gebiet der Erzähltheorie, begann. In diesen Prozeß, den man auch als mühsame šberwindung der ideologischen Fixierung der deutschen Germanistik verstehen darf, konnte Franz K. Stanzel, der als Anglist zunächst in Göttingen und Erlangen lehrte, auch seinen fachspezifischen Kontakt zur angloamerikanischen Literaturwissenschaft im Sinne eines undogmatischen
Pragmatismus einbringen. © JV
Wichtige Schriften: ❍
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Franz K. Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Dragestellt an "Tom Jones", "Moby Dick", "The Ambassadors", "Ulysses" u.a., Wien/Stuttgart 1955. Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans, Göttingen 1964 u.ö. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen 1985.
Sekundärliteratur: 1. D. Cohn: The Encirclement of Narrative. On Franz K. Stanzel's "Theorie des Erzählens", in: Poetics Today 2 (1981), H.2, S.157-182. 2. G. Genette: Die Erzählung, München 1994, S.2679-278. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, 7. Aufl. Opladen/Wiesbaden 1990, Kap.2.
5. Gattungen und Textstrukturen I: Epik 1. Zum Status des Erzähltextes Mimesis Histoire und Discours Fiktion Fiktionalität (Fiktionale/faktuale Texte) Episches Präteritum Metafiction Intertextualität
2. Zur Zeitstruktur des Erzähltextes Erzählzeit und erzählte Zeit Zeitraffungen Rückwendungen und Vorausdeutungen Zeitstrukturen (nach G. Genette)
3. Wer erzählt? Erzählsituationen (nach F.K. Stanzel) personale auktoriale Ich-ES Fokalisierungstypen (nach G. Genette) Verstöße gegen die Fokuswahl Beispiele für Fokalisierunsgtypen Stimme des Erzählers Formen der Redewiedergabe Formen der Bewußtseinswiedergabe Beispiele für Formen der Rede- und Bewußtseinswiedergabe 4. Positionen der Erzähltheorie
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: "Vorlesungen über die Ästhetik (zur Epik)" Georg Lukács: "Theorie des Romans" Walter Benjamin: "Der Erzähler" Michail Bachtin Vladimir Propp Käte Hamburger Theodor W. Adorno: "Standort des Erzählers im modernen Roman" Roland Barthes Franz K. Stanzel Eberhard Lämmert Gérard Genette
5. Gattungsformen der Epik Schwank Legende Parabel Fabel Märchen Sage Anekdote Kalendergeschichte Kurzgeschichte Novelle Epos Roman Schäferroman Abenteuerroman Briefroman Bildungsroman Ehebruchroman Kriminalroman
Spionageroman Postmoderner Roman
6. Erwähnte Autoren und literarische Texte Tora Koran Bibel Till Eulenspiegel Miguel de Cervantes Saavedra Heinrich von Kleist Honoré de Balzac Edgar Allan Poe Gottfried Keller: "Die Leute von Seldwyla" Johanna Spyri: "Heidi" Mark Twain Emile Zola Sir Arthur Conan Doyle O. Henry Raymond Chandler Dashiell Hammett William Faulkner Ernest Hemingway Günter Eich Heinrich Böll Ingeborg Bachmann Peter Bichsel
7. Texte zur Diskussion
Anna Seghers: "Zwei Denkmäler" Jochen Vogt: "Was aus dem Mädchen geworden ist. Kleine Archäologie eines Gelegenheitstextes von Anna Seghers" (WordDatei)
Gattungen
Unter der Kategorie ´Gattung´ werden in der Regel Texte künstlich zusammengefaßt, die gemeinsame formale, strukturale oder inhaltliche Merkmale aufweisen. Für den deutschen Sprachraum ist Goethes Bestimmung der Gattungen folgenreich geworden. Für ihn gibt es nur "drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama" (Goethe, S. 187) Problematisch an Goethes Definition ist vor allem die Parallelisierung menschlicher Handlungen und literarischer Formen. Seine Einteilung aber kann sich teilweise auf Aristoteles berufen. Wenn von Lyrik bei ihm auch nicht die Rede ist, so hat er in seiner Poetik doch bereits eine wesentliche Unterscheidung zwischen dem Drama und dem Epos ausgemacht. Eine große Schwierigkeit bei der Einteilung der Literatur in Gattungen besteht häufig darin, daß strikte Klassifizierungen vorgeschlagen werden, in denen bei weitem nicht alle konkreten Texte ihren eindeutigen Platz finden. In der modernen Literaturentwicklung geht es zudem häufig darum, eben diese künstlich errichteten Gattungsschranken kreativ zu überwinden, wie z.B. in Baudelaires "poèmes en prose" ("Gedichte in Prosa") oder Brechts Konzept des "epischen Theaters". Daraus, daß die konkreten Texte sich oft nicht ohne Gewalt einem einheitlichen Oberbegriff zuordnen lassen, entspringt auch der Streit um die Gattungstheorien, der seit Jahrhunderten von Literaturhistorikern und Literaturtheoretikern kontrovers geführt wird, aber bislang zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen ist. Auf der einen Seite stehen die Befürworter, die Gattungen als notwendige Grundmuster ansehen, die für die Beschreibung von Literatur und die Unterscheidung der einzelnen Texte insgesamt von großer Bedeutung sind. Ihre Gegner bezweifeln demgegenüber den Sinn und Zweck eines allgemeinen Begriffs, der neben oder über den konkreten Texten steht. Die drei großen Bereiche der Literatur - Epik, Dramatik, Lyrik - bilden natürlich auch vielfältige Unterbereiche aus (auch ´Untergattungen´, manchmal auch ´Genre´). Im Bereich der erzählenden Literatur ist von "einfachen Formen" die Rede gewesen, die in ihren Form- und Ausdrucksmöglichkeiten relativ festgelegt sind (wie Schwank, Fabel, Parabel, Kalendergeschichte, Kurzgeschichte, Legende, Sage, Märchen, Anekdote). Zu ihnen gesellen sich die komplizierter strukturierten, damit aber auch wandlungsfähigeren "Großformen" (Epos, Novelle, Roman). In der Dramatik begegnet uns die Grundunterscheidung zwischen Tragödie und Komödie, eine Differenzierung, die noch sehr viele variable
Gestaltungsmöglichkeiten birgt. Die verschiedenen Untergattungen (Commedia dell’arte, bürgerliches Trauerspiel, Revolutionsdrama, lyrisches Drama, Dokumentartheater, Parabeltheater usw.) schränken dann diese Möglichkeiten weiter ein. Sie sind aber als historische Varianten ein Ausdruck für die Formenvielfalt und Wandlungsfähigkeit der Dramatik. Goethe bestimmt die Lyrik als "enthusiastisch aufgeregt" und bezieht sich damit auf den subjektiven Ausdruckscharakter vieler Gedichte, also primär auf den Inhalt; zugleich ist die Lyrik in ihrer historischen Entwicklung stärker als die anderen Gattungen geprägt von der Auseinandersetzung mit tradierten Formelementen (Metrum, Vers, Strophe, Reim) und Gedichtformen (Sonett, Ode, Ballade). Wichtig ist, in Gattungen keine unveränderlichen, geradezu "natürlichen" Systeme zu sehen. Wie die literarischen Formen selbst unterliegen sie einem Wandel, in dem sie entweder ihre Konstanz bewahren und weiter ausbilden, oder aber auch ein Ende finden können (wie das Epos, das vom Roman abgelöst wurde). Nicht zuletzt bringen die modernen Medien Bewegung in ein starr und unhistorisch gedachtes Gattungsschema. Das Film- oder Fernsehdrehbuch oder auch der Internet-Roman sind nur einige Beispiele dafür. Sicherlich ist es sinnvoll, von willkürlichen Setzungen abzusehen (z.B. der Zusammenfassung aller Texte, in denen eine Katze vorkommt, zu einer Gattung) und Werke anzuerkennen, die Merkmale mit mehreren Gattungen teilen können. Damit wird das Gattungsgefüge ein offenes, das als eine hilfreiche Konstruktion des Literaturtheoretikers, nicht aber als unhistorisches und quasi natürlich gegebenes Einteilungsschema von Literatur zu nehmen ist. © SR, rein und TvH
Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen, in: J.W. v. Goethe: Werke, hg. von E. Trunz, Band 2, Hamburg 1981. Sekundärliteratur: 1. A. Horn: Theorie der literarischen Gattungen. Ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft, Würzburg 1998. 2. A. Jolles: Einfache Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1974. 3. F. Martini: Literarische Form und Geschichte. Aufsätze zu Gattungstheorie und Gattungsentwicklung vom Sturm und Drang bis zum Erzählen heute, Stuttgart 1984.
Metrik griech. metrike techne: die das Silbenmaß / Metrum betreffende Kunst
Unter Metrik versteht man die Lehre vom Versmaß. Sie umfaßt nicht nur die Bestimmung der einzelnen Versfüße, vielmehr schreitet sie vom Versfuß als kleinster Einheit fort und untersucht deren Abfolge und Anzahl innerhalb eines Verses und fragt nach Zäsuren, um so schließlich das Versmaß eines ganzen Verses bestimmen zu können. Ein Vers von Gryphius aus dem Gedicht Es ist alles eitell beispielsweise lautet: "DU sihst / wohin du sihst nur eitelkeit auff erden." (S. 268f.) Eine metrische Beschreibung dieses Verses könnte etwa so aussehen: Es handelt sich um einen auftaktig alternierenden, d.h. jambischen, Sechsheber, der durch eine deutliche Zäsur nach der dritten Hebung unterteilt ist. Dieses Versmaß nennt man Alexandriner. Nachdem man einen einzelnen Vers analysiert hat, untersucht man den Aufbau einer Strophe. Die antiken Oden beispielsweise zeichnen sich durch strenge metrische Vorgaben für jeden einzelnen Vers aus, so daß man das dem jeweiligen Gedicht zugrundeliegende Odenmaß erst bestimmen kann, wenn man sämtliche Verse einer Strophe genau beschrieben hat. ©TvH
Andreas Gryphius: Es ist alles eitell, in: Das Zeitalter des Barock, hg. v. Albrecht Schöne, München 1988. Sekundärliteratur: 1. D. Breuer: Deutsche Metrik und Versgeschichte, München 1981. 2. D. Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart 1995. 3. C. Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung, München 1989.
Rhythmus lat.: gleichmäßige, Bewegung, Takt, Zeitmaß
In der Verssprache werden rhythmische Eigenschaften der Sprache bewußt verdichtet eingesetzt, etwa durch ein gleichmässiges und / oder effektvoll unterbrochenes Metrum, durch rhythmische Einheiten erzeugende Reime oder durch rhetorische Figuren wie Anapher und Epipher, die auf der syntaktischen Ebene rhythmisch strukturierend wirken. Der Begriff des Rhythmus umfaßt also das Zusammenwirken verschiedener Phänomene. Während beispielsweise das Metrum das abstrakte und klar bestimmbare Ordnungsschema eines Verses ist, faßt man unter dem Versrhythmus das Verhältnis dieses abstrakten Schemas zu seiner konkreten sprachlichen Realisation. Der Rhythmus eines Gedichtes ist somit nicht in gleicher Weise eindeutig objektivierbar wie Metrum, Reim und rhetorische Figuren und gehört aus diesem Grund zu den umstrittensten Begriffen der Verstheorie. Durch die Literaturwissenschaft zieht sich ein langer Streit über das Problem des Rhythmus in der Verssprache, angefangen von der Debatte über die etymologische Herleitung des Begriffs, über dessen Beziehung zum musikalischen Rhythmus, bis hin zu den Versuchen Wolfgang Kaysers, den Rhythmus klar vom Metrum zu trennen und verschiedene Rhythmustypen zu bestimmen. In seiner Kleinen deutschen Versschule unterscheidet Kayser fünf rhythmische Typen: einen "metrischen Rhythmus", bei dem der Rhythmus sich ausschließlich nach dem Metrum richtet und daher als solcher gar nicht existiere, einen "fließenden Rhythmus" (beispielsweise in den liedartigen romantischen Gedichten Clemens Brentanos), einen ausgewogen klassischen, "bauenden Rhythmus" (wie etwa im Alterswerk Goethes), einen "gestauten Rhythmus" (bei Annette von Droste-Hülshoff) und einen "strömenden Rhythmus" (in den Hymnen Hölderlins). Allerdings konnte sich diese Typisierung Kaysers nicht durchsetzen, wohl deshalb, weil der Rhythmus eines Gedichtes sich aus zu vielen Bestandteilen ergibt, so daß jedes Gedicht einen ganz eigenen, nur schwer in allgemeine Typisierungen einpaßbaren Rhythmus hat. ©TvH
Wolfgang Kayser: Kleine deutsche Versschule, 10. Auflage, Bern 1964. Sekundärliteratur: 1. F. Lockemann: Der Rhythmus des deutschen Verses, München 1960. 2. U. Müller: Der Rhythmus, Bernu.a. 1966.
Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. . Eine Einführung in die Literaturwissenschaft (1948)
Der deutsche Germanist Wolfgang Kayser, der sich 1936 an der Berliner Universität habilitiert hatte, verfasste dieses Werk während seiner Zeit als Dozent an der Universität Lissabon (1941-1946) und brachte es mit Hilfe eines portugiesischen Forschungsstipendiums zum Abschluss. Es erschien 1948 gleichzeitig in deutscher und portugiesischer Sprache, wurde als literaturwissenschaftliches Lehrbuch an portugiesischen Universitäten benutzt und war in der Bundesrepublik der fünfziger und frühen sechziger Jahren DAS Studienbuch, ironisch gesagt: "die blaue Bibel" aller Studierenden der Germanistik. - Im Jahr 1992 erschien, bei inzwischen fast unüberschaubarer Konkurrenz, die 20. Auflage! Neben - oder besser: noch vor den literarästhetischen Abhandlungen von Emil Staiger (u.a. Grundbegriffe der Poetik, 1946, Die Kunst der Interpretation, 1955) sowie den zahl- und umfangreichen Interpretationsbänden von Benno von Wiese prägte Das sprachliche Kunstwerk die methodische Ausrichtung und das analytische Handwerk der germanistischen Literaturwissenschaft in der frühen Bundesrepublik. Die Methodenbezeichnung (oder das Schlagwort) "Werkimmanente Interpretation", die Kayser selbst nicht benutzte, wird von diesem Werk am klarsten ausgefüllt. Diese enorme Wirkung hat einerseits historisch nachvollziehbare Gründe: Kaysers programmatische Begrenzung auf die Kategorien "Sprache" (als Material), "Werk" (als Gestalt oder "Gefüge") und "Kunst" (als ästhetisches Qualitätskriterium) sowie seine Ausgrenzung aller äußeren Faktoren und Bedingungen, insbesondere der historischen, erwies sich attraktiv für Dozenten und Studenten, die den politischen Missbrauch von Kunst und Wissenschaft durch die Nazis zum Teil noch selbst erfahren hatte. Die werkimmanente Interpretation Kaysers erschien als Weg, der Literatur ihre Autonomie und kulturelle Wertigkeit (und dem eigenen Tun die politische Unschuld) zurückzugewinnen. Zugleich konnte Wolfgang Kaysers vergleichsweise "sachlicher" Zugriff (auch im Kontrast zu Staiger) als allmähliche Hinführung zu strukturanalytischen Verfahren dienen, die seit Ende der fünfziger Jahre (z.B. im Bereich der Erzähltheorie von Käte Hamburger, Eberhard Lämmert u.a.) entwickelt wurden. Andererseits besitzt Das sprachliche Kunstwerk auch überdurchschnittliche
konzeptionelle und sprachliche Qualitäten. Sein Erfolg verdankt sich auch dem Doppelcharakter als theoretisch anspruchsvolle Neubegründung des Faches UND als Lehrbuch, das bereits für Studienanfänger verständlich ist. Der Buchtyp der Einführung wird hier, wie der Untertitel anzeigt, erfolgreich im Fach etabliert. Kayser gibt seinem Werk eine klare, systematisierende Gliederung, die sich an Kategorien der antiken Poetik und Rhetorik orientiert und sucht sie, besonders im Bereich der Stilistik, weiter zu entwickeln. Er will vom Einfachen zum Komplexen, von der "Analyse" zur "Synthese" führen, also z.B. von den "Grundbegriffen des Inhalts" zu den "Formen der Darbietung" und weiter zum "Gefüge der Gattung". Kayser schreibt ein klares und gepflegtes, aber unprätentiöses Deutsch. Er entlastet seine Ausführungen von überflüssigem Ballast (so gibt es z.B. keine Fußnoten). Er illustriert seine Systematik mit Textbeispielen aus verschiedenen Epochen und Nationalliteraturen, wodurch das Buch komparatistischen Charakter annimmt. Die exemplarisch eingestreuten Textanalysen nehmen teilweise die Form eigenständiger Interpretationen an, die auch dann noch anregend zu lesen sind, wenn man ihrer Argumentation nicht mehr folgen kann. Ein Beispiel ist die Analyse von Hugo von Hofmannsthals Gedicht Manche freilich... in Kapitel IX (S.311ff.). Alles in allem ist Das sprachliche Kunstwerk ein wichtiger Markstein in der Methodengeschichte der germanistischen Literaturwissenschaft, auch wenn es viele Aspekte des Literaturprozesses ausblendet, die heute im Mittelpunkt unseres Interesses stehen. © JZ
Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft, Bern 1948 (20. Aufl.: Bern u.a. 1992).
Barock evt. von portug. perola barocca: schiefe, unregelmäßige Perle
In der bildenden Kunst wurde die Bezeichnung Barock lange im abwertenden Sinn als Stilbegriff für Werke gebraucht, die sich den harmonisch-idealen, antikisierenden Formen der Renaissance verweigerten, so etwa die opulenten Bilder des flämischen Malers Peter Paul Rubens oder die ausladenden Skulpturen Giovanni Lorenzo Berninis. Auf die Literatur übertragen wurde der Barockbegriff zur Bezeichnung der Epoche zwischen Reformation und Humanismus einerseits und der beginnenden Aufklärung andererseits, also des 17. Jahrhunderts. Während diese Epoche in Spanien zur Blütezeit der Literatur schlechthin, dem siglo d’oro (goldenen Jahrhundert) avancierte (Cervantes, Calderon, Lope de Vega) und sich in Frankreich unter dem strengen Regiment Ludwig XIV. der französische Klassizismus (Corneille, Racine, Molière) als normsetzender Epochenstil herausbildete, ist die Barockepoche in Deutschland eine facettenreiche, in sich widersprüchliche Zeit, geprägt von Religiosität, Gelehrsamkeit, Glaubenskriegen und auch von Versuchen, Anschluß an die internationale literarische Entwicklung zu gewinnen. Martin Opitz fordert in seinem Buch von der Deutschen Poeterey eine Neubegründung der deutschen Verssprache, die in der Lyrik zu einer produktiven Auseinandersetzung mit traditionellen (antiken, italienischen, französischen) Formen unter Berücksichtigung der Eigenheiten der deutschen Sprache führt – wie sie dann von Gryphius und anderen realisiert wird. Während in der Prosa vor allem zwei Formen, der höfische Roman und der Pikaro- oder Schelmenroman (Grimmelshausen: Simplicissimus) vorherrschen, ist das deutsche Barockdrama durch die Vielfalt der Theaterformen gekennzeichnet: protestantisches Schultheater steht neben katholischem Ordensdrama, Hoftheater neben Festspielen, es gibt professionelle Wanderbühnen und Laienspiele. Die Trauerspiele Gryphius‘ und Lohensteins, geschrieben für das Schultheater und zweifellos Höhepunkte des barocken Dramas, können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Deutschland an der Blüte des europäischen Theaters im 17. Jahrhundert nur geringen Anteil hatte. ©TvH
Sekundärliteratur: 1. G. Hoffmeister: Deutsche und europäische Barockliteratur, Stuttgart 1987. 2. A. Meier (Hg.): Die Literatur des 17. Jahrhunderts (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 2), München 1999. 3. M. Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock, Stuttgart 1997.
2. Die Literaturwissenschaft auf der Suche nach ihrem Gegenstand 1. Das Studium vor 1800 Trivium 2. Anfänge der Germanistik Johann Gottfried Herder Johann Wolfgang Goethe "Sturm und Drang" Wilhelm von Humboldt Humboldtsche Universitätsreform Friedrich Heinrich von der Hagen Jacob und Wilhelm Grimm "Über den Werth der ungenauen Wissenschaften"
3. Wege der Germanistik nach 1945 3.1 Werkimmanente Interpretation Wolfgang Kayser "Das sprachliche Kunstwerk" Emil Staiger
3.2 Empirische Literaturwissenschaft Siegfried J. Schmidt Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft
4. Erwähnte Autoren und literarische Texte
Nibelungenlied Walther von der Vogelweide Peter Bichsel
5. Texte zur Diskussion Klaus L. Berghahn: "Wortkunst ohne Geschichte: Zur werkimmanenten Methode der Germanistik nach 1945" (WordDatei)
Peter Szondi: Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik (Ausschnitt) (1970)
Bei einem hermeneutischen Symposium sitzt neben dem Theologen und dem Juristen der Literaturwissenschaftler heute als armer Verwandter am Tisch. Sein Platz ist zwar angestammt und die Reihe seiner Ahnen weder die kürzeste noch die schlechteste. Beitragen aber kann er nicht viel. Keine der verschiedenen Schulen, welche die Neueren Philologien (und nur von diesen soll hier die Rede sein) seit ihrer Entstehung geprägt haben, war der Ausbildung einer spezifisch literarischen Hermeneutik förderlich. Die Positivisten beschäftigten sich nur mit Fakten, und da sie auch ihre Deutung der Fakten für etwas Gegebenes hielten, blieb die Frage nach der Entstehung dieser Deutung und der Erkenntnis der Fakten ungestellt. Der Geistesgeschichte ging es nur um Geistiges: was auszulegen gewesen wäre, galt als bloße Hülle des Eigentlichen. Die verschiedenen Schulen der immanenten Interpretation bemühten sich um den Nachweis, daß das einzelne Sprachkunstwerk adäquat nur aus sich selber verstanden werden kann: die Frage, wie solches Verstehen entsteht, hätte die Emphase dieses Bestrebens nur gestört. Daß "Da-sein" Verstehen ist, ließ sich die von der Seinsphilosophie geprägte Literaturwissenschaft nicht zweimal sagen und folgerte: wenn Verstehen Da-sein ist, sind die Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen Sache der Fundamentalontologie; eine Kritik der literarischen Vernunft wurde weniger als je zum Desiderat. Sieht man von einzelnen Versuchen ab, insbesondere auf dem Gebiet der Sprach- und Geschichtsphilosophie, so ist die Hermeneutik auf dem Gebiet der Philologie über den Stand des 19. Jahrhunderts kaum hinausgekommen, obgleich Verständnis sowohl von dem, was Literatur, als auch von dem, was historische Erkenntnis ist, in den letzten fünfzig Jahren so radikal sich gewandelt hat, daß das Studium etwa von Boeckhs eindrucksvoller "Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften" nicht so sehr lehrt, was der Titel verspricht, als vielmehr erkennen läßt, warum eine neue Methodenlehre der Philologie vonnöten ist. Zweierlei dürfte dies verdeutlichen: die Einsicht in die sprachliche Bedingtheit von Literatur und die These von der Bedingtheit historischer Erkenntnis durch die Historizität des Erkennens. [...] Aus der Konzeption der sprachlichen Bedingtheit von Literatur folgt, daß die Hermeneutik den Gegenstand des Verstehens nicht jenseits der Sprache ansetzen kann, wobei der Akt des Verstehens einer bloßen Dechiffrierung gleichkäme sondern in der Sprache selbst. Die Konzeption der historischen Erkenntnis als einer durch den historischen Standort des Erkennenden mitbedingten stellt die
literarische Hermeneutik vor die Aufgabe, Kriterien zu gewinnen, welche sie davor bewahrt, aus der als Selbsttäuschung erkannten Objektivität historischer Einfühlung in die Willkür aktualisierender Subjektivität zu geraten. Dies dürften die beiden Kristallisationspunkte einer neuen literarischen Hermeneutik sein. (S. 404f.)
Peter Szondi: Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik (1970), in: Jean Bollack und Helen Stierlin (Hg.): Peter Szondi. Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt/ M. 1975.
Literatursemiotik auch: Literatursemiologie, von gr. sema = Zeichen
Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichen, Zeichensystemen und Zeichenprozessen. Die Literatursemiotik betrachtet demgemäß literarische Texte als selbstreferentielle Zeichensysteme, deren Strukturen und Codes sie analysiert. Sie liefert in methodischer Hinsicht Beiträge zur literarischen Textanalyse sowie in theoretischer Perspektive zur Frage nach den ästhetischen Merkmalen von Literatur. Vertreter der Literatursemiotik werden teilweise auch den Strukturalisten oder Formalisten zugerechnet; eine exakte wissenschaftsgeschichtliche Abgrenzung zu ihren Ursprüngen fällt daher schwer. Die literatursemiotischen Ansätze sind zudem sehr unterschiedlich: Roland Barthes vertritt eine poststrukturalistische Position, von der aus er die Vieldeutigkeit eines Werkes betont, während Umberto Eco Barthes‘ Vorstellung einer grenzenlosen Offenheit der Bedeutung literarischer Werke korrigiert und die Rezeption literarischer Texte als Wechselspiel von Freiheit und Determiniertheit darstellt: Einerseits muß der Text eine Struktur aufweisen, sonst "gäbe es keine Kommunikation, sondern nur eine rein zufällige Stimulierung von aleatorischen Reaktionen" (Eco, S. 155). Andererseits entscheidet der Leser, welche Codes und welchen semantischen Rahmen er auf den Text anwenden soll, wodurch er im Verlauf seines Lektüreprozesses die weitere Aktualisierung von Bedeutungen maßgeblich beeinflußt. Dem gegenüber stehen Ansätze in der Tradition des Strukturalisten Algirdas J. Greimas, der über die Analyse der verschiedenen bedeutungstragenden, hierarchisch organisierten Ebenen eines Textes eine semantische Tiefenstruktur eindeutig rekonstruieren will. Es scheint trotz dieser Vielfalt einen Konsens darüber zu geben, daß ästhetische Objekte Zeichensysteme sind, die sich eines anderen Zeichensystems als Trägersystem, als Form bedienen: Im Fall der Literatur ist dies das überaus komplexe Zeichensystem Sprache. Es ist mithin die Aufgabe des Semiotikers‚ durch die 'Oberfläche' aus Sprachzeichen oder Denotationen hindurch die für die ästhetische Struktur verantwortlichen Konnotationen aufzudecken. Barthes löst in seinen Textanalysen die Textgrenzen auf, weil er die Konnotationen als Verweise der literarischen Zeichen über die Textstruktur hinaus betrachtet. In methodischer Hinsicht stärkere Resonanz finden jedoch solche Ansätze, die in Anlehnung an Greimas und den russischen Semiotiker Juri M. Lotman Konnotationen und andere Strukturen (lexikalische, graphische, metrische, phonologische, aktantielle etc.) textimmanent analysieren. Weil jedes Wort überdeterminiert ist, indem es
"durch eine ganze Reihe formaler Strukturen mit mehreren anderen Wörtern" verbunden ist, ist der poetische Text "die komplizierteste Diskursform: Er verdichtet auf kleinstem Raum mehrere Systeme, deren jedes seine eigenen Spannungen, Parallelismen, Wiederholungen und Oppositionen beinhaltet, und von denen jedes ständig alle anderen modifiziert." (Eagleton, S. 81) Als typische literarische Prinzipien werden Konvergenz von Ausdruck und Inhalt, Mehrdeutigkeit, Verfremdung, Selbstreferenz und Rekurrenz genannt. Es hat sich jedoch gezeigt, daß diese Prinzipien weder universal sind noch ausschließlich im Bereich der Literatur gelten: Auch textinterne Widersprüchlichkeiten können ein ästhetisches Prinzip darstellen. Roland Barthes hat – nicht zuletzt als Konsequenz aus diesen Schwierigkeiten der Literatursemiotik, eine allgemein gültige zeichentheoretische Definition dessen zu leisten, was Literatur sei (Literarizität / Poetizität) – die Grenze zwischen Literatur und Literaturwissenschaft aufgehoben und die Untersuchung derjenigen ästhetischen Erscheinungen gefordert, die sich dem wissenschaftlichen Zugriff entziehen: "Der Semiologe wäre im Grunde ein Künstler: er spielt mit dem Zeichen wie mit einem als solchen erkannten Köder, dessen Verlockung er auskostet, auskosten lassen und begreiflich machen möchte. [...] Die Semiologie [ist demnach] keine Hermeneutik: sie malt mehr, als daß sie nachgräbt." (Leçon/Lektion, S. 59) © pflug
Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987. Roland Barthes: Leçon/Lektion, Frankfurt/M. 1980. T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, 2. Aufl., Stuttgart 1992. Wichtige Schriften: ❍ ❍
J. M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, Frankfurt/M.1973. U. Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987.
Sekundärliteratur: 1. M. Titzmann: Literatursemiotik, in: R. Posner (Hg.): Semiotik, Bd. 3, Berlin (erscheint demnächst). 2. P. Zima: Literarische Ästhetik, 2. Aufl., Tübingen 1995. 130-158.
Dekonstruktion/Deconstruction
Dekonstruktion (dt.) dient als Schlagwort für eine ganze Reihe von Strömungen in Philosophie, Architektur, Kunst und Literatur seit den sechziger Jahren. Deconstruction (am.) soll hier im engeren Sinne als Kennzeichen für ein Lektüreund Analyseverfahren von Texten stehen, das sich von hermeneutischen Theorien und der Praxis der Interpretation abgrenzt. Der Unterschied zwischen hermeneutischen und dekonstruktiven (antihermeneutischen) Textbefragungen besteht darin, daß jene von einem quasi dialogischen Verhältnis zwischen Text und Interpret ausgeht, das auf ein zunehmend besseres Verständnis der im Text enthaltenen Botschaft abzielt. Dadurch wird letztlich eine rekonstruierbare Sinneinheit unterstellt. Dekonstruktivisten bemühen sich um das Gegenteil: den Nachweis, daß – und vor allem: wie – ein Text seine Bedeutung selbst hinterfragt, durchkreuzt und gerade mit solchen Paradoxien Sinn schafft. Dieses Nachspüren von im Text angelegten Widersprüchen wurde – unter Einfluß der des französischen Philosophen Jacques Derrida – zunächst in Nordamerika praktiziert: Literaturwissenschaftler wie Paul de Man, J. Hillis Miller und Geoffrey Hartman zeigen in ihren Analysen zumeist, wie die Bedeutungsebene (Textsemantik, die Signifikate) und die materiale Ebene (die rhetorische Figuralität, die Signifikanten gegeneinander arbeiten, indem auch über die materiale Form der Zeichen Bedeutung transportiert wird. "Jegliche Sprache ist, wie de Man richtig bemerkt, unausweichlich metaphorisch, arbeitet mit Tropen und Bildern, es ist ein Fehler zu glauben, daß irgendeine Sprache buchstäblich wörtlich ist." (Eagleton, S. 131) In literarischen Texten jedoch tritt die Unentscheidbarkeit zwischen 'wortwörtlichen' und figuralen Lesarten deutlicher hervor als in anderen. Als Wortneuschöpfung vereint der Begriff Dekonstruktion sowohl Sinnkonstruktion als auch Sinndestruktion. Auch eine dekonstruktive Lektüre kann nicht auf eine vorhergehende hermeneutische Interpretation verzichten. Üblicherweise wird dafür zunächst eine semantische bzw. referentielle Lesart vorgeschlagen, deren Vereinfachungstendenz in einer zweiten, die rhetorische Ebene des Textes betonenden Lesart aufgezeigt wird. Daraus ergeben sich verschiedene literaturtheoretische Einsichten: Literatur ist der Ort, an dem sich die Utopie der sprachlichen Referenz auf eine der Sprache präexistierenden Wirklichkeit zugleich mit der Einsicht in ihre Unmöglichkeit zeigt: "Von der Antike bis zu den Versuchen der Avantgarde ist die Literatur bemüht, etwas darzustellen. Was? Ich sage ganz hart: das Wirkliche. Das Wirkliche ist nicht darstellbar [...] Mit dem Umstand, daß es keine
Übereinstimmung zwischen dem Wirklichen und der Rede gibt, können die Menschen sich nicht abfinden, und diese Weigerung, die vielleicht so alt ist wie die Rede selbst, bringt in einem unablässigen Bemühen Literatur hervor. Man könnte sich eine Geschichte der Literatur vorstellen [...], die die Geschichte der – oft ganz aberwitzigen – verbalen Notbehelfe wäre, die die Menschen benutzt haben, um das zu reduzieren, zu zähmen, zu leugnen oder auch das auf sich zu nehmen, was immer ein Delirium ist, nämlich die fundamentale NichtAdäquatheit von Rede und Wirklichem." (Barthes, S. 32ff.) Weiterhin scheint es typisch für dekonstruktive Lesarten zu sein, binäre Oppositionen wie Buchstäblichkeit/Bildhaftigkeit, Wissenschaft/Literatur, Objektsprache/Metasprache, innen/außen, männlich/weiblich, Geist/Körper, Kultur/Natur, Subjekt/Objekt, Signifikat/Signifikant etc. außer Kraft zu setzen, weil sie nachweisen, daß bestimmte Regelmäßigkeiten, die einen der beiden Begriffe und damit die unterscheidende Grenze zum anderen Begriff kennzeichnen, gleichermaßen für den anderen gelten. Darin enthalten ist eine fundamentale Ideologie- und Kulturkritik, weil solche binären Oppositionen das Denken und die Wahrnehmung nicht nur als Vorstellung einer unüberbrückbaren Differenz zwischen den beiden Einheiten prägen, sondern weil zumeist einer der beiden Begriffe einen höhere Geltung erlangt als der andere. Dekonstruktion erklärt diese Opposition nicht nur für ungültig: Gezeigt wird auch, daß in – oft kanonischen – Texten Widerstände gegen diese Vereinheitlichung des Sinns eingeschrieben sind. Dekonstruktive Lektüren sind daher mittlerweile selbstverständlicher Bestandteil in den verschiedensten literatur- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen geworden (v.a. Postkolonialismus, Feministische Literaturtheorie, Psychoanalytische Literaturwissenschaft). © pflug
Roland Barthes: Leçon/Lektion, Frankfurt/M. 1980. Terry Eaglton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1992.
Wichtige Schriften: ❍ ❍
J. Derrida: Grammatologie (1974). P. de Man: Allegorien des Lesens (1988).
Sekundärliteratur: 1. J. Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek 1988. 2. T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1992.
3. P. V. Zima: Die Dekonstruktion, Tübingen 1994.
Ästhetische Interpretationskritik: Susan Sontag
Die prominente amerikanische Literatur- und Theaterkritikerin wendet sich im 1964 verfaßten Titelessay ihres Bandes Against Interpretation (1966 - dt. Kunst und Antikunst, 1980) sehr grundsätzlich gegen eine Weise der Interpretation, die hinter dem literarischen Text eine Art von Subtext zu erkennen sucht, der die 'eigentliche' Bedeutung enthalte. Solche Interpretationen beziehen sich also auf einen Sinn, der dem nicht interpretierenden Auge verborgen bleibt. Dabei hat Sontag vor allem inhaltsorientierte, beispielsweise marxistisch-ideologiekritische und psychoanalytische Interpretationen im Blick, die sie geradezu in der Rolle von Giftmördern sieht, die die ursprüngliche Sensibilität für Kunstwerke 'vergiften'. Die theoriegeleitete Suche nach dem 'eigentlichen' Text, dem Sinn hinter den Wörtern, entzieht nach Sontags Meinung die Kunstwerke der sinnlichen Wahrnehmung und der individuellen ästhetischen Erfahrung. Mit ihrer polemisch zugespitzten Forderung, die Hermeneutik durch eine "Erotik der Kunst", also eine sinnlich-genußvolle, durchaus auch körpergebundene ästhetische Erfahrung zu ersetzen, reagiert Sontag zweifellos zeit- und kontextgebunden auf eine bestimmte, theoriegeleitete und reduzierende Hermeneutik besonders in der Literaturkritik. Sie bringt ihre persönliche Affinität zur europäischen Avantgarde und zur amerikanischen Gegenwartskunst zur Geltung; und sie argumentiert aus der Sicht und im Interesse der Leser (Kunstrezipienten) wie auch der Autoren (so wie es in Deutschland später Hans Magnus Enzensberger tun wird). Im Bereich der Literatur- und Kunstkritik favorisiert Sontag einen mimetischdeskriptiven Zugang gegenüber der theoretischen Analyse; der Literaturkritiker soll zeigen "wie ein Kunstwerk ist, was es ist; auch daß es ist, was es ist; aber nicht, was es bedeutet." (S.##) Er soll vor allem die Form des Kunstwerks betonen, um es der sinnlichen Wahrnehmung in differenzierterer Weise zugänglich zu machen. Dies ist besonders bei älteren Texten nötig, deren ästhetische Kategorien heute nicht mehr unmittelbar erfahrbar sind. Zweck und (dienende) Funktion einer solchen Kunst- und Literaturkritik, die man in heutigter Terminologie vielleicht als historische Formsemantik bezeichnen könnte, ist also die Optimierung, Differenzierung und Vertiefung der individuellen Lektüre oder Kunstbetrachtung. © rein/JV
Wichtige Schriften: ❍
Kunst und Antikunst (1966/1980)
Sekundärliteratur:
1. H.M. Enzensberger: Bescheidener Vorschlag zum Schutz der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie, in: H. M. E.: Mittelmaß und Wahn, Frankfurt/M. 1991. 2. S. Sayres: Susan Sontag. The Elegiac Modernist, New York/London 1990. 3. A. Spree: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn 1995.
Ferdinand de Saussure
Genfer Sprachwissenschaftler (1857-1913), wird als Begründer der modernen Linguistik betrachtet. In seinen Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (1916/dt. 1967) entwickelt er eine allgemeine Theorie der Sprache und damit zugleich eine einfache Methode, Zeichensysteme zu analysieren. Sprache (langage) ist ihm zufolge zugleich von Konventionen gesteuert und soziales Produkt (langue), nicht unmittelbar sichtbar, aber aus den Äußerungen der Sprecher (parole) rekonstruierbar. Von ihm stammt die Unterteilung des Zeichens in eine Beziehung von Signifikat (Bezeichnetes) und Signifikant (Bezeichnendes) sowie die Betrachtung von Zeichen als relationale Einheiten: Die Bedeutung entsteht allein durch Differenz zu anderen Zeichen und haftet nicht den Dingen und Sachverhalten der Realität an. Aufgabe der Sprachwissenschaft ist es, die Einheiten der Sprache (Zeichen) zu identifizieren, zu klassifizieren und die Regeln ihrer Kombination in einer synchronen Struktur zu beschreiben. ©pflug
Relationales Zeichenmodell
Der Linguist Ferdinand de Saussure entwirft in seinen Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft einen Zeichenbegriff, der dem volkstümlichen Verstehen von Zeichen als ‚Zeichen für etwas‘ entgegensteht: Zeichen umfaßt bei ihm die konventionell festgelegte Verbindung von einem Bezeichnendem (materialer Signifikant) und einem Bezeichnetem (Vorstellung, Signifikat). Der Referent ist aus diesem Konzept ausgeschlossen. Bedeutung entsteht nach Saussure allein aufgrund von Differenzen der Zeichen untereinander: Zeichen teilen die Vorstellungswelt auf. Dies zeigt sich leicht in den bekannten Beispielen der Farbbezeichnungen oder der verschiedenen Schneesortenbezeichnungen die je nach Sprache unterschiedliche Geltung besitzen. © pflug
Binäre Opposition
Von der strukturalen Linguistik entwickeltes Klassifizierungs- und Beschreibungsverfahren, das komplexe (kontinuierliche) Sachverhalte auf die Opposition von zwei gegensätzlichen Werten zurückführt, beispielsweise innen/außen, weiblich/männlich.
Claude Lévi-Strauss (*1908)
* 1908, Brüssel frz. Ethnologe und Kulturtheoretiker Lévi-Strauss hat die strukturalen Beschreibungsverfahren von Ferdinand de Saussure verwendet, um kulturelle Phänomene wie zum Beispiel Verwandtschaftssysteme und Mythen als Bedeutungssysteme darzustellen, denen wie der Sprache eine unbewußte Struktur zugrunde liegt und "durch deren Anwendung die Mitglieder unterschiedlicher Kulturkreise die natürlich vorgefundene Wirklichkeit in eine begrifflich differenzierte Realität verwandeln." ( S. 9) © pflug
S. Münker, A. Roesler: Poststrukturalismus, Stuttgart 2000. Wichtige Schriften: ●
Mythologica (1995)
Sekundärliteratur: 1. E. R. Leach: Lévi-Strauss zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 1998.
Vladimir Propp
* 29.04.1895, St. Petersburg † 22.08.1970, Leningrad Folklore- und Märchenforscher Morphologie des Märchens (1928) ist eine frühe strukturalistische Arbeit zur Erzähltextanalyse, in welcher der russische Märchenforscher Propp sich nicht für die erzählten Begebenheiten der von ihm untersuchten russischen Zaubermärchen interessiert, sondern die gattungstypischen Einheiten der Handlung und die Regeln ihrer Zusammenstellung untersucht. Dabei stellt er fest, daß man auf der Handlungsebene (histoire, plot) eine Tiefenstruktur erkennen kann, deren Elemente in jedem Zaubermärchen in einer bestimmten Reihenfolge wieder auftauchen. Diese Tiefenstruktur ist jedem Leser intuitiv bekannt, der Zaubermärchen von anderen Textgattungen (z.B. der Fabel oder Kurzgeschichte) unterscheiden kann, ohne daß er sie sich bewußt machen müßte. Es ist Propps Ziel, die Merkmale der zugrundeliegenden Handlungsstruktur zu erkennen; er will in direkter Analogie zur Sprache und ihrer zugrundeliegenden grammatischen Struktur eine 'Grammatik des Zaubermärchens' entwerfen. Dabei zerlegt er z.B. das Motiv 'ein Drache entführt die Tochter eines Königs' in eine Kette kleinster Einheiten, die jeweils austauschbar sind: Der Drache könnte auch eine Hexe oder ein Riese sein, die Tochter jedes andere geliebte Wesen, der König ein anderer Vater und die Entführung eine andere Form des Verschwindens. Der Leser wird, unabhängig von der konkreten Ausfüllung im einzelnen Märchen, die gleiche Erwartungshaltung an den weiteren Handlungsverlauf haben. Kernthese der Morphologie des Märchens ist daher die Feststellung, daß es für die untersuchten russischen Zaubermärchen genau 31 (Handlungs-) Funktionen gibt, die zwar nicht immer in vollständiger Anzahl, aber stets in der gleichen Abfolge in jedem Märchen anzutreffen seien. Unter Funktion versteht Propp eine Aktion einer handelnden Person [...], die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird, zum Beispiel 'Kampf gegen das Böse', 'Rettung des Helden', 'Erfüllung einer auferlegten schwierigen Aufgabe'. Das heißt, daß die Handlungen wie auch die Handlungsrollen (sog. Aktanten: Held, Gegenspieler, Opfer und ihr Vater, falscher Held, Geber des Zaubermittels, Helfer, Aussender des Helden) in den Märchen an bestimmten Stellen austauschbar sind: Einerseits kann eine bestimmte Handlung verschiedene Funktionen annehmen, andererseits können verschiedene Handlungen funktional identisch sein. Der funktionale Wert eines konkreten Handlungselements (oder eines Aktanten) für den gesamten Handlungsverlauf läßt sich demnach nicht an diesem selbst ablesen, sondern ergibt sich erst aus der Position, die es in der
Struktur des ganzen Märchens durch die anderen Elemente zugewiesen bekommt. Der Held kann also ein Schloß bauen, um sich gegen einen Widersacher zu schützen oder um eine ihm auferlegte Aufgabe zu erfüllen, aber den Widersacher auch bekämpfen oder sich zum Schutz vor ihm mit einer Gegenmacht verbünden. Obwohl noch etwas schematisch (z.B. ohne Alternativen, was die Kette der Handlungsfunktionen betrifft), hat Propp mit Morphologie des Märchens den Grundstein zu einer strukturalen Analyse von Erzähltexten geliefert, die in den sechziger Jahren von der französischen Erzählforschung (Barthes, Bremond, Greimas, auch Eco in Italien) aufgegriffen und produktiv weitergeführt worden ist. Die Grenzen dieses Analysemodells sind allerdings schnell erreicht, wenn man die Rahmen formelhafter Literatur (Märchen, Abenteuerroman usw.) verläßt und komplexere, vor allem moderne Prosa untersuchen will. Sie scheint nicht nur neue Inhalte, sondern auch stetig neue Formen zu entwickeln, die die herkömmlichen Strukturerwartungen der Leser irritieren. ©pflug
Morphologie des Märchens (1928, dt. 1972), S. 27 und 79f. Sekundärliteratur: 1. R. Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1987, S. 102-143. 2. J. Culler: Structuralist Poetics, London 1975. 3. K. Eimermacher: Nachwort, in: Morphologie des Märchens, München 1972.
Roland Barthes
* 12.11.1915, Cherbourg † 26.03.1980, Paris Zeichen-, Kultur- und Literaturtheoretiker Roland Barthes gehört zu den neugierigsten und anregendsten französischen Denkern der Nachkriegszeit. In stets unorthodoxer und provozierender Weise ist es ihm gelungen, verschiedene Theorien (Marxismus, Strukturalismus, Psychoanalyse, Dekonstruktion) aufzugreifen und zu vermischen, ihre Anwendung an den unterschiedlichsten kulturellen Objekten (Texte, Filme, Mode, Liebe etc.) zu demonstrieren und in die Wege zu leiten, um sich bald darauf einem neuen Gebiet zu widmen. Durch die Lektüre seiner Arbeiten läßt sich daher auch ein umfassender Einblick in die Entwicklung der jüngeren Literaturwissenschaft gewinnen. Literatur ist für ihn jedoch nur ein Gegenstand unter vielen: Barthes ist Mitbegründer der Semiologie (Semiotik), der Wissenschaft vom Zeichen, die er zunächst als ideologiekritisches Mittel versteht, um die Mythen des Alltags in der französischen Gesellschaft aufzuspüren und ihre Funktionsweise unter Zuhilfenahme von sprachwissenschaftlichen Methoden aufzudecken: er betreibt "die subtile Analyse der Sinnprozesse, mit deren Hilfe die Bourgeoisie ihre historische Klassenkultur in universelle Natur verwandelte." (S.8 f.) Später dienen ihm die semiologischen Methoden zur Analyse literarischer Werke. Zunächst beteiligt er sich an dem Projekt der strukturalen Analyse von Erzähltexten, d.h. dem Versuch, im Rahmen einer Art Erzählgrammatik universale Verknüpfungsstrukturen von narrativen (erzählenden) Textbausteinen zu erarbeiten. Fundamental ist dabei die Unterscheidung von handlungsfreien Segmenten - beispielsweise zur Charakterisierung einer Figur (Indizien) - und den Funktionen. Mit den letzteren kennzeichnet Barthes alle Segmente einer Erzählung, die handlungslogisch mit früheren oder späteren Segmenten verbunden sind und unter anderem der Spannungserzeugung dienen: "Der Kauf eines Revolvers korreliert mit dem Augenblick, in dem man ihn benutzen wird (benutzt man ihn nicht, so kehrt sich die Anmerkung um und wird zum Zeichen des Zauderns usw.) [...] Manche Erzählungen sind hochgradig funktionell (etwa die Volksmärchen), andere wieder hochgradig indiziell (etwa der 'psychologische' Roman)." (S. 111f.) In seiner Studie S/Z distanziert sich Barthes von solchen Versuchen, das Besondere einer Erzählung auf das Erfassen allgemeiner Strukturprinzipien zu reduzieren. Dennoch folgt aus seiner Kritik an der formalistisch-strukturalen Werkanalyse keine Betonung des besonderen Inhalts eines Werkes. Vielmehr
versteht er Literatur als ein sekundäres Zeichensystem, das sich parasitär der Sprache als Trägermaterial bedient. Intertextualität wird zu einer zentralen Kategorie: Lesen wird verstanden als ein Akt der Dekomposition, in dem es darum geht, den vorliegenden Text aufzulösen, indem man den mannigfaltigen Spuren der älteren Texte sowie den zahlreichen und verschiedenartigen Verbindungen des Textes mit den Lesern über das Geflecht der Kultur nachgeht. Gleichzeitig zeichnet sich in S/Z Barthes‘ Entwicklung von einer wissenschaftlich-klassifizierenden zu einer literarisch-subversiven Schreibweise ab, was sich vor allem in der Aufhebung der Grenze zwischen dem Textgegenstand und der eigenen Schreibweise bemerkbar macht. Seine späteren Texte geraten zu Sammlungen von Fragmenten: voller Anspielungen und Spiegelungen der behandelten Gegenstände bereits auf der formalen Ebene, ohne jede hierarchische Ordnung umspielt und umschreibt Barthes Die Lust am Text sowie Fragmente einer Sprache der Liebe und macht in Über mich selbst das Schreiben des eigenen Lebens zum Gegenstand. ©pflug
Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988. Roland Barthes: Einführung in die strukturelle Analyse von Erzählungen, in: ders. Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988.
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Mythen des Alltags (1964, frz. 1957) S/Z (1987, frz. 1970) Das semiologische Abenteuer (1988, frz. 1985)
Sekundärliteratur: 1. O. Ette: Roland Barthes, in: Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. 2. O. Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/M. 1999. 3. T. Pflugmacher: Betrachtungen zum Werk von Roland Barthes unter besonderer Berücksichtigung des linguistischen Paradigmas nach Saussure, in: http://www.linse.uni-essen.de/esel//bartsau.htm
Gérard Genette
* 1930, Paris Literaturtheoretiker Wer sich erst einmal in das Universum von Genettes Arbeiten begeben hat, kommt so schnell nicht wieder heraus. Er / sie stößt auf grundlegende literaturtheoretische Fragen wie: Was macht einen fiktionalen Text aus? (vgl. Fiktionale und faktuale Texte) Wie funktioniert ein solcher Text? Welche Beziehungen unterhält er zu anderen Texten? Der Frage nach dem Status des literarischen Textes und der Unterscheidung zwischen Fiktion und Tatsachenbericht ist Genette vor allem in Fiction et Diction nachgegangen. Die größte Breitenwirkung hat jedoch sein zentraler Beitrag zur Erzählforschung (Narratologie) erlangt. In den Abhandlungen Discours du récit und Nouveau discours du récit entfaltet Genette seine Kategorien zur Erzähltextanalyse. Dabei folgt er einem strukturalistischen Ansatz, der seit Mitte der sechziger Jahre in Frankreich die literaturtheoretische Diskussion bestimmt hat. Er stellt Fragen der inhaltlichen Interpretation zurück und konzentriert sich auf die formale Verfassung der Texte. Das ist nicht unbedingt eine Einschränkung, kann doch die "Ansicht von der Welt", wie Genette formuliert, "auch eine Frage des Stils und der Technik sein." (vgl. Zeitstruktur bei Genette, Stimme des Erzählers, Fokalisierungstypen) Mit der 'Transtextualität' hat Genette (in Palimpsestes) einen Oberbegriff geschaffen, der verschiedene Beziehungen umfaßt, die über den manifesten Text hinausweisen (vgl. Intertextualität nach Gérard Genette). Im einzelnen unterscheidet er zwischen 'Intertextualität' im engeren Sinne (das Zitat und andere Formen der punktuellen Bezugnahme auf vorangehende Texte), 'Hypertextualität' (die stilistische oder thematische Umformung kompletter Texte), 'Metatextualität' (literaturwissenschaftliche oder -kritische Kommentare), 'Paratextualität' (was "das Buch zum Buch macht", also Titel, Motti, Vor- und Nachworte, der Schutzumschlag usw.) und 'Architextualität' (die Bezüge zu einer übergreifenden Kategorie, zum Beispiel einer Gattung, in die ein Text sich einschreibt). Die erste Begegnung mit dieser Begrifflichkeit kann sicherlich Befremden auslösen. Genette hat - vor allem für seine Erzähltextanalyse - ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, das fast wie eine Fremdsprache erlernt sein will. Hat man jedoch die ersten Lektionen seines Greco-Französisch (mit 'Analepsen', 'Prolepsen', 'Homodiegetizität' usw.) hinter sich, dann überzeugt die stringente Logik der Terminologie. Ihre außerordentliche Trennschärfe hat dazu geführt,
daß sie sich in der internationalen Erzählforschung als Standard-Vokabular weitgehend durchgesetzt hat. Auch wenn Genettes Systematik nicht jede Erscheinung der literarischen Praxis eindeutig definieren kann, so stellt sie doch ein Raster bereit, mit dessen Hilfe Sachverhalte und Probleme näher bestimmt und genauer eingegrenzt werden können. Für seine Arbeit ist kennzeichnend, daß er gewonnene Erkenntnisse nie als letzte Wahrheiten betrachtet. Das Arsenal der Beschreibungs- und Analysemethoden hat für ihn operativen Wert: eine Theorie muß nicht buchstabengetreu gehandhabt werden, sondern darf (ja muß) den praktischen Bedürfnissen gemäß abgewandelt, weiterentwickelt oder auch verabschiedet werden. Neben diesem "wissenschaftlichen Pragmatismus" zeichnet Genette aus, daß er die "trockene" formale Analyse mit einer kräftigen Prise Humor und Selbstironie würzt - eine in der (Literatur-) Wissenschaft nicht eben verbreitete Gabe, die vor allem dem Lesenden zugute kommt. Wann schmunzelt man schon bei der Lektüre wissenschaftlicher Texte? Genettes Arbeiten sind dem deutschsprachigen Publikum erst in den letzten zehn Jahren in einem breiteren Umfang bekannt geworden; auch weil die germanistische Literaturwissenschaft sich in den siebziger Jahren mit Konzepten der Sozialgeschichte und Ideologiekritik von der langen Vorherrschaft der werkimmanenten Interpretation erholte und Genettes formale Analysemethoden nur schwer Interesse finden konnten. Mittlerweile hat sich jedoch eine respektable Fan-Gemeinde gebildet, die die "Mischung von Rationalität und ésprit" (J. Vogt) durchaus zu schätzen weiß. Genette war Professor für französische Literatur an der Sorbonne und ist bis heute Forschungsdirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Gemeinsam mit Tzvetan Todorov und Hélène Cixous gibt er die renommierte Zeitschrift Poétique heraus. © SR
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
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Discours du récit (1972; dt. in: Die Erzählung, 1994) Nouveau discours du récit (1983; dt. in: Die Erzählung, 1994) Palimpsestes. La littérature au second degré (1982; dt. Palimpsestes. Die Literatur auf zweiter Stufe, 1993) Fiction et Diction (1991; dt. Fiktion und Diktion, 1993)
Sekundärliteratur:
1. J.D. Culler: Vorwort zu: G. Genette: Narrative Discourse. An Essay in Method, Ithaka, N.Y. 1980.
Signifikat und Signifikant lat. significare: bedeuten
Jedes Zeichen besteht aus zwei Komponenten: seiner Bedeutungsseite (Signifikat, das Bezeichnete, Vorstellung) und seiner Ausdrucksseite (Signifikant, das Bezeichnende).
Jacques Lacan
* 13. 04. 1901, Paris † 09. 09. 1981, Paris Psychoanalytiker Obwohl Jacques Lacan weder als Literaturwissenschaftler noch als Literaturtheoretiker gewirkt hat, ist sein Einfluss auf Theoriebildung und Interpretationspraxis in der Literaturwissenschaft beachtlich. Sein Verdienst ist es, unter Rückgriff auf Sprachtheorien von Ferdinand de Saussure und Roman Jakobson die psychoanalytischen Entwicklungsmodelle und Subjekttheorien Sigmund Freuds aus einer zeichentheoretischen Perspektive neu formuliert zu haben. Dieses Anliegen wird in der von Lacan geprägten Formel "das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache" zusammengefasst. Lacan behauptet, dass die primäre ('paradiesische') Mutter-Kind-Beziehung erst durch das Auftreten bzw. den "Namen des Vaters" beendet werde: Fortan muss sich das Kind der symbolischen Ordnung der Sprache unterwerfen und bedienen, um seine "Bedürfnisse" als "Verlangen" formulieren zu können. Gleichzeitig mit der Sprache entstehe das Unbewusste als "Begehren" des "Anderen", als "Urverdrängung" des Mangels, der mit dem Austritt aus der 'paradiesischen' Bedürfnisbefriedigung in der Mutter-Kind-Beziehung entstehe. Die halluzinatorische Wunscherfüllung des Begehrens – das Unbewusste – tritt nunmehr dem Subjekt als Sprache des Anderen nicht allein in Träumen, Fehlleistungen und Symptomen (wie Freud zeigt) entgegen, sondern artikuliere sich grundsätzlich bei jedem Sprechen in latenter Form, somit auch in poetischen Texten. Hatte de Saussure die Zeichentheorie strukturell reformuliert, indem er das Zeichen von seinem Referenten abkoppelte, so wird dessen Zeichenmodell bei Lacan in einer für poststrukturales Denken typischen Weise radikalisiert: Die grundlegende Annahme ist dabei, dass das Signifikat des Begehrens nicht zur Sprache komme, weil die Signifikanten der Sprache des Unbewussten wie in einem Zirkel aufeinander verweisen würden. Diesen Zirkulationsprozess der Signifikanten beschreibt Lacan mit Hilfe von Jakobsons Theorie der Metapher, die paradigmatische (Ersetzungs-) Beziehungen zwischen Signifikanten herstellt und somit Sigmund Freuds Prinzip der überlagernden "Verdichtung" entspricht -, sowie der Metonymie, welche syntagmatische Beziehungen zwischen Signifikanten erzeugt (Freuds Prinzip der "Verschiebung"). Anschaulich wird dies in der Traumlogik, wo zur Umgehung der "Zensurinstanz" Signifikant und Signifikat sich voneinander ablösen und gemäß dem Ähnlichkeitsprinzip ein Signifikant für einen anderen stehen kann (Metapher) bzw. ein Signifikant von
einem benachbarten ersetzt werden kann (Metonymie). Abgesehen davon, dass Lacans Thesen sehr umstritten sind – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass er seine Theorie der aufgeschobenen, zirkulierenden Bedeutung zur Grundlage seines eigenen metaphorisch-hermetischen Sprechund Schreibstils macht –, bergen sie eine enorme Sprengkraft in Bezug auf herkömmliche Verstehenstheorien: Das Subjekt wird als in der Sprache 'geboren' und 'gefangen' dargestellt, der Sprache jedoch Autonomie von dem sie artikulierenden Subjekt zugesprochen, was eine Rekonstruktion von Autorschaft und Autorintention letztlich überflüssig macht und die Möglichkeit einer 'objektiven' Metasprache negiert. Literaturwissenschaftler, die Lacans Theoreme anwenden, bemühen sich also nicht um die Rekonstruktion der Psychobiographie eines Autors, sondern spüren im doppelten Diskurs der Literatur das strukturelle System auf, in welchem die Signifikanten aufeinander verweisen. Bisweilen wird daran kritisiert, dass ihre Befunde über eine Allegorisierung der Psychoanalyse Lacans auf dem Feld der Literaturinterpretation hinaus wenig Neues hinzufügen würden. © pflug
Wichtige Schriften: ❍ ❍
Schriften I-III (1973-1980) Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar XI (1964) (1978)
Sekundärliteratur: 1. H. H. Hiebel: Strukturale Psychoanalyse und Literatur (Jacques Lacan), in: K.-M. Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 56-81. 2. F. A. Kittler / H. Turk (Hgg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt/M. 1977. 3. H. Lang: Strukturale Psychoanalyse, Frankfurt/M. 2000.
Jacques Derrida
* 15. 07. 1930 El Biar, Algerien Philosoph Wie kaum ein anderer Denker der letzten dreißig Jahre hat Jacques Derrida vom Bereich der Kulturwissenschaften über Architektur bis hin zu den Rechtswissenschaften Breitenwirkung erzielt, indem er gewohnte Grenzziehungen zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Körper, innen und außen, gut und böse, ja sogar zwischen wahr und falsch als von den herrschenden Kulturen gesetzte enthüllte, die von keinerlei letztem Sinn, keinem "transzendentalen Signifikat" oder Ursprung gestützt werden. Nicht die Rehabilitierung der in den oben genannten Gegensätzen negativ belegten Begriffe ist sein Ziel, auch wenn dieser Nebeneffekt vielfach zum Ziel der von seinem Denken inspirierten Forscherinnen und Forscher geworden ist, indem sie das Randständige, Dazwischenliegende (das Böse, das Verdrängte, das Andere/Fremde) zu ihrem Gegenstand gemacht haben. Vielmehr geht es Derrida selbst um die grundsätzliche Dekonstruktion des Denkens in Oppositionen überhaupt, die als Grundlage starrer Strukturen das abendländische Begriffssystem bestimmen. Themen findet er unter anderen in Literatur, Philosophie, Kunst, Psychoanalyse, Anthropologie, Linguistik und Pädagogik, wo er den Spuren des von ihm kritisierten metaphysischen Denkens nachgeht. Infolge seiner radikalisierenden Auseinandersetzung mit der Zeichentheorie von Ferdinand de Saussure geht in seinem Schreiben auch die Grenze zwischen philosophischem und literarischem Schreiben verloren. KritischGegenstandsbezogen und sprachliches Verweisungsspiel zugleich: Gerade diese Konsequenz, die Theorie zur Grundlage der eigenen Schreibpraxis zu machen, setzt ihn dem Irrationalismusverdacht aus. Diesem Verdacht wie auch dem Vorwurf, er würde antihumanistisch denken, begegnet Derrida einerseits mit seinem politischen und pädagogischen Engagement, andererseits mit seinen späteren ethischen Arbeiten zu Themen der Verständigung im weiteren Sinne, beispielsweise über die Paradoxien der Freundschaft, der Demokratie und der schenkenden Gabe. Grundlage der massiven Kritik seitens der etablierten Philosophie ist seine ablehnende Haltung gegenüber der Intention jeder Hermeneutik: seinen Gegenüber - sei es ein Sprecher, ein Text, eine Kultur - zu verstehen. Verständigung erscheint bei Derrida nicht als Suche nach Übereinstimmung, EinStimmigkeit im Wortsinn, sondern als Bemühung, sich die Unterschiede zu erarbeiten und vor Augen zu führen, als Versuch, mit der Fremdheit oder den Widersprüchen umzugehen, ohne sie dem eigenen Denken bzw. der eigenen Wahrnehmung anzuverwandeln.
Diese Negation fixierbarer Bedeutung beruht auf der von ihm mitentwickelten poststrukturalen Zeichentheorie, deren Kernthese in etwa besagt, daß die Bedeutung von Zeichen nicht aus einer Identität zwischen Signifikat und Signifikant entsteht, sondern allein aufgrund der Differenz zu (allen) anderen Zeichen. Da man neue Signifikanten benötigt, um den Sinn eines Zeichens anzugeben, ist der Verstehende der Bedeutung stets nur auf der "Spur", ohne diese 'Flucht' des Sinns jemals anhalten zu können. Derrida benutzt dafür das Verb différer, welches mit 'aufschieben' und mit 'verschwinden' zugleich übersetzt werden müßte, und erhält damit die für ihn typische Pointierung der Unentscheidbarkeit des Sinns in den von ihm verwendeten und dekonstruierten Begriffen aufrecht. Aus dieser Philosophie des Zeichens ergibt sich, daß Bedeutung keinen dem "Spiel" der Zeichen äußerlichen Ursprung haben kann. Seine Kritik der Zeichentheorie weitet Derrida aus, wenn bei ihm das Problem der Identität des Zeichens mit seiner Bedeutung zu einem Problem von Identität schlechthin wird, Identität als Einheit erscheint dann nur in Bezugnahme gerade auf das Ausgegrenzte möglich. © pflug
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Die Schrift und die Differenz (1976) Grammatologie (1974) Randgänge der Philosophie (1988)
Sekundärliteratur: 1. B. Menke: Dekonstruktion - Lektüre: Derrida literaturtheoretisch, in: K.M. Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 176-200. 2. N. Schneider: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung bis zur Postmoderne, Stuttgart 1996. 3. P. V. Zima: Literarische Ästhetik, Tübingen 1995.
Intertextualität (nach Julia Kristeva )
Seit den siebziger Jahren ist der Begriff der 'Intertextualität' zu einem zentralen Konzept der Literaturwissenschaft und vor allem der Erzählforschung (Narratologie) geworden. Grundsätzlich kann man zwei unterschiedliche Ansätze unterscheiden. Im ersten - eher theoretisch orientierten - wird 'Intertextualität' sehr weit gefaßt. Hier steht die Offenheit und der prozessuale Charakter der Literatur im allgemeinen im Mittelpunkt. Im zweiten Ansatz geht es eher darum, die Beziehungen zwischen konkreten Texten zu klären und zu systematisieren. Er ist besonders für Aspekte der praktischen Analysearbeit fruchtbar (vgl. Intertextualität - engere Begriffsfassung - nach Gérard Genette). Der erste, weit gefaßte Intertextualitätsbegriff geht auf die Theorie der Dialogizität von Michail Bachtin zurück. Bis in die sechziger Jahre hinein wurde der Literaturwissenschaftler und Philosoph in der Sowjetunion ausgegrenzt und verfolgt. Seiner Auffassung nach sind die Wörter, die wir benutzen, immer schon von den Spuren geprägt, die andere Sprecher mit ihren jeweiligen Absichten in ihnen hinterlassen haben. Im Roman sieht Bachtin demzufolge nicht mehr eine monolithische Einheit, sondern eine "künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt". (Bachtin, S. 157) Die bulgarische Kulturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva, die 1965 nach Paris emigrierte, hat Bachtin im Westen bekannt gemacht. Gemeinsam mit anderen Forschern entwickelte sie Bachtins Ideen weiter und prägte den Begriff der 'Intertextualität' als Zentralkategorie einer umfassenden Textwissenschaft. Ihr zufolge ist jeder Text ein "Mosaik von Zitaten". Im "Raum eines Textes überlagern sich mehrere Aussagen, die aus anderen Texten stammen und interferieren" (Kristeva, S. 245). Diese Theorie der 'Intertextualität' beschreibt also generelle Eigenschaften aller Texte und nicht nur die vom Autor beabsichtigten Beziehungen und Anspielungen auf andere Texte. © SR
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Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/M. 1979. Julia Kristeva: Probleme der Textstrukturation, Köln 1972.
Sekundärliteratur: 1. U. Broich / M. Pfister (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985.
2. H.F. Plett (Hg.): Intertextuality, Berlin u.a. 1991.
Michel Foucault: Was ist ein Autor? (1969)
"Wen kümmert's, wer spricht, hat jemand gesagt, wen kümmert's wer spricht." Dieses Zitat von Samuel Beckett kann als Leitsatz und Essenz des 1969 von Michel Foucault gehaltenen Vortrags Was ist ein Autor? gelten. Die betonte Gleichgültigkeit gegenüber den Autoren von literarischen, juristischen, medizinischen, philosophischen oder anderen Texten resultiert aus Foucaults spezifischem Zugriff auf Literatur. Der Diskursanalytiker verzichtet darauf, einzelne Texte in ihrer Ganzheit zu interpretieren (Hermeneutik), sondern fragt "viel bescheidener - nach den Funktionsbedingungen bestimmter diskursiver Praktiken." (Autor, S. 9) Es geht über das einzelne Werk hinaus um bestimmte Themen, denn die Diskurse sind ja immer thematisch gebunden. Bei Foucault sind es u.a. die Themen Strafvollzug, Wahnsinn und Sexualität. Er beobachtet diese Diskurse zwar in Texten, verfolgt sie aber über die Grenzen einzelner Texte hinaus. Der Text als Ganzes wird dann - ebenso wie sein Autor - unwichtig. Eine konsequente Diskursanalyse würde also grundsätzlich keine Autorennamen nennen. Ein Verfahren, das für die traditionelle Literaturkritik und -wissenschaft provokant und fast undenkbar ist, denn in unserer heutigen Zeit können "'literarische' Diskurse [...] nur noch rezipiert werden, wenn sie mit der Funktion Autor versehen sind: jeden Poesie- oder Fiktionstext befragt man danach, woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu welchem Zeitpunkt, unter welchen Umständen oder nach welchem Entwurf. Die Bedeutung, die man ihm zugesteht, und der Status oder der Wert, den man ihm beimißt, hängen davon ab, wie man diese Fragen beantwortet." (Autor, S. 19) Was Foucault hier als Funktion Autor definiert, wird von ihm als ein Konstrukt analysiert. Es handelt sich um einen Ordnungs- und Aussschließungsmechanismus, der dem Autordiskurs zu eigen ist. So hat der Autor die Funktion, Texte zu gruppieren und diese Texte einem vernunftbegabten individuellen Subjekt zuzuordnen. "Man verlangt, daß der Autor von der Einheit der Texte, die man unter seinen Namen stellt, Rechenschaft ablegt; man verlangt von ihm, den verborgenen Sinn, der sie durchkreuzt, zu offenbaren oder zumindest in sich zu tragen; man verlangt von ihm, sie in sein persönliches Leben, in seine gelebten Erfahrungen, in ihre wirkliche Geschichte einzufügen." (Diskurse, S. 19f). Wie kann diese Forderung etwas ausschließen, oder - um eine andere Formulierung Foucaults zu benutzen - den Diskurs verknappen? Wenn ein Autor und seine Texte als Einheit angesehen werden, und diesem Autor im Rahmen seiner individuellen Geschichte bestimmte Denkweisen zugeordnet sind, dann wird das, was in seinen Texten gesagt wird, verknappt. Denn jeglicher Sinn, der nicht in Bezug zum Autor steht, kommt nicht zur Geltung, obwohl er sprachlich gesehen vorhanden sein mag. So wird die Vieldeutigkeit eines literarischen Textes, das Beunruhigende seiner Sprache aufgelöst und in weniger bedrohliche Bahnen gelenkt. Will der Wissenschaftler etwas anderes oder mehr in den Texten lesen, muß er vom Autor abstrahieren. In Foucaults eigenen
Arbeiten resultiert daraus - wie schon oben erwähnt - die Konsequenz, daß er sowohl die Einheit von Autor und Werk wie auch die Einheit des Werkes auflöst, um Diskurse jenseits von Autoren und Textgrenzen zu analysieren. ©rein
Michel Foucault: Was ist ein Autor [1969], in: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main 1988, S.7-31. Michel Foucault: Die Ordnung der Diskurse [1970], Frankfurt am Main 1991.
Historische Diskursanalyse
Die historische Diskursanalyse beabsichtigt nicht, einen literarischen Text in seiner Ganzheit zu verstehen und zu interpretieren wie etwa die Hermeneutik. Der Diskursanalyse geht es vielmehr um Diskursformationen, die sich durch die unterschiedlichsten Texte hindurchziehen. Zunächst gilt es, den Diskursbegriff des französischen Historikers und Philosophen Michel Foucault mit Inhalt zu füllen. Der Begründer der historischen Diskursanalyse hat jedoch kein konsequent strukturiertes Theoriegebäude hinterlassen. Sein Diskursbegriff ist vieldeutig und erhält in verschiedenen Kontexten einen anderen Sinn. Deswegen hat Foucault seine eigene Theorie als Steinbruch bezeichnet, aus dem sich andere Wissenschaftler einzelne Steine zu ihren Zwecken herausbrechen können. So ist dann auch die Literaturwissenschaft verfahren und hat den Diskurs als eine Summe von sprachlichen Aussagen zu einem bestimmten Thema begriffen, der das Wahrnehmen, Denken und Handeln von Individuen steuert. Folglich steht der Diskurs nicht neben der Gesellschaft, sondern trägt dazu bei, sie zu konstituieren. Die Möglichkeiten des Diskurses - also des Sagbaren - werden immer von sogenannten Ausschließungsmechanismen wie Verboten, Grenzziehungen, Kommentaren, Methoden, Theorien, Ritualen und Doktrinen eingegrenzt. Als Beispiel für diese Eingrenzung nennt Foucault in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France am 2. Dezember 1970 die Mendelsche Vererbungslehre. In Die Ordnung des Diskurses heißt es: "Man hat sich oft gefragt, wie die Botaniker oder die Biologen des 19. Jahrhunderts es fertiggebracht haben, nicht zu sehen, daß das, was Mendel sagte, wahr ist. Das liegt daran, daß Mendel von Gegenständen sprach, daß er Methoden verwendete und sich in einen theoretischen Horizont stellte, welche der Biologie seiner Epoche fremd war [...]. Mendel sagte die Wahrheit, aber er war nicht "im Wahren" des biologischen Diskurses seiner Epoche: biologische Gegenstände und Begriffe wurden nach ganz anderen Regeln gebildet." (S. 24) Was zu einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Thema gesagt und gedacht werden kann, ist also immer strikt begrenzt. Feste Regeln sorgen dafür, daß nur bestimmte Dinge ‚wahr' sind, daß die Grenze zwischen Vernunft und Wahnsinn exakt fixiert ist, daß Sexualität eine genau definierte Bedeutung im gesellschaftlichen Zusammenleben hat. Die zugehörigen Diskursformation bilden diese Regeln und Grenzen ab und konstituieren sich gleichzeitig. Auffindbar sind sie in allen Texten und sonstigen sprachlichen Äußerungen, die dem entsprechenden Thema gewidmet sind. Welche Rolle spielt die Literatur in diesem Denkgebäude? In Foucaults Werk gibt es drei Antworten auf diese Frage, von denen zwei erwähnt seien. In seinen Schriften aus den Sechziger Jahren firmiert die Literatur als Gegendiskurs. Hier ist das "Andere" möglich, denn die Literatur befindet sich außerhalb der üblichen Diskurszwänge, sie kann die dort festgelegten Grenzen überschreiten. Die
Literatur stellt also die Wirklichkeit und die Muster ihrer Wahrnehmung in Frage. Sie verleiht dem Leser die Möglichkeit, über das Alltägliche hinauszublicken und besitzt damit subversive Kräfte. Später schätzt Foucault die Möglichkeiten der Literatur geringer ein. Auch sie wird Bestandteil der herrschenden Diskurse, bildet sie ab oder ist an ihrer Erzeugung beteiligt. Literatur wird durch poetologische Doktrinen und politische, ökonomische, juristische, medizinische Diskurse strukturiert. In der internationalen und deutschen Literaturwissenschaft haben seit etwa 1970 verschiedene theoretische Richtungen diskursanalytische Überlegungen einbezogen. So entstanden viele Bindestrich-Wörter: Friedrich A. Kittlers Ansatz wird als historisch-psychoanalytisch oder wahlweise als diskursanalytischmedientheoretisch bezeichnet; es gibt historisch-philologische, marxistische, semiotische (Jürgen Link) und feministische Diskursanalysen. Die Stellung der Diskursanalyse im Fach Literaturwissenschaft ist nicht unumstritten. Dies hängt nicht zuletzt mit der Fachgeschichte zusammen, die den hermeneutischen Verfahren, welche den einzelnen literarischen Text, seine spezifische Aussage und den jeweiligen Autor in den Mittelpunkt stellen, in den letzten Jahrzehnten eine bedeutende Rolle eingeräumt hat. Eine solche subjektzentrierte Herangehensweise wird nur schwer akzeptieren, daß es nun um Diskurse jenseits der Grenzen eines einzelnen Textes geht und daß sich auch die Kategorie des individuellen Autors aufzulösen beginnt. Trotzdem versuchen einige Hermeneutiker, die Diskursanalyse zu integrieren, indem sie z.B. ihr eigenes Tun als Verknappung des Diskurses beschreiben. Sie sehen ihre Interpretationen und Kommentare von literarischen Texten als Begrenzungen des im Text Lesbaren. In diesem Moment werden sie zu Diskursanalytikern, die sich selbst als Teilnehmer an einer diskursiven Praxis (Hermeneutik) beobachten und analysieren. Dadurch werden natürlich nicht ihre Literaturinterpretationen diskursanalytisch, sondern nur ihr Tun diskursanalytisch reflektiert. Eine hermeneutische Diskursanalyse, die mehr als Etikettenschwindel ist, kann es nicht geben. ©rein
Michel Foucault: Die Ordnung der Diskurse [1970], Frankfurt am Main 1991.
Sekundärliteratur: 1. K.-M. Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung, Opladen 1999. 2. C. Kammler: Historische Diskursanalyse (Michel Foucault), in: K.-M.
Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 31-55. 3. S. Winko: Diskursanalyse, Diskursgeschichte, in: H. L. Arnold / H. Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 463-478.
9. Gibt es Methoden in der Literaturwissenschaft?
1. Der Grundkonflikt: Naturwissenschaftliches versus geisteswissenschaftliches Denken Positivismus Wilhelm Scherer Hermeneutik Wilhelm Dilthey Jürgen Habermas
3. Literaturwissenschaft im Methodenpluralismus 3.1 Historische Marksteine: Von der geistesgeschichtlichen Methode zum Marxismus Geistesgeschichtliche Methode Russischer Formalismus Werkimmanente Interpretation Emil Staiger: "Grundbegriffe der Poetik" Wolfgang Kayser Marxismus und Literatur Georg Lukács Walter Benjamin 3.2 Gegenwärtige Konkurrenzmodelle: Von der Hermeneutik bis zum Poststrukturalismus
Literarische Hermeneutik Karlheinz Stierle Uwe Japp Peter Szondi Intertextualität (nach Julia Kristeva) Michail M. Bachtin Rezeptions- und Wirkungsästhetik Wolfgang Iser Wirkungsgeschichte Hans Robert Jauß Literatursemiotik Literatursoziologie Theodor W. Adorno Pierre Bourdieu Psychoanalytische Literaturwissenschaft Sigmund Freud Strukturalismus Poststrukturalismus Jacques Lacan Jacques Derrida Dekonstruktion / Deconstruction Historische Diskursanalyse Michel Foucault: Was ist ein Autor? Jürgen Link Systemtheorie und Literatur Niklas Luhmann Empirische Literaturwissenschaft Siegfried J. Schmidt Feministische Literaturwissenschaft / gender studies
Cultural Studies 4. Erwähnte Autoren und literarische Texte Johann Wolfgang Goethe: "Wanderers Nachtlied" Bertolt Brecht
Georg Büchner
* 17. 10. 1813, Goddelau bei Darmstadt + 19. 2. 1837, Zürich deutscher Revolutionär, Philosoph, Zoologe, Dramatiker, Erzähler Georg Büchner hat in nur 23 Lebensjahren ein zwar schmales, aber zweifellos zur Weltliteratur zählendes Werk geschaffen. Jenseits vorgegebener Sinnsysteme erkundet es die Grenzen und Abgründe des Menschen: Melancholie, Wahnsinn, Verbrechen, Sexualität. Büchner gilt heute als einer der größten deutschen Autoren des 19. Jahrhunderts und als Bahnbrecher der Moderne. Modern sind nicht nur seine Themen, sondern vor allem seine ästhetischen Verfahrensweisen (Zitat, Collage, Montage, Travestie) und seine metaphernreiche Sprache, die sich aus der grenzüberschreitenden Perspektive von Naturwissenschaft, Medizin, Philosophie und Psychiatrie ergibt. Büchner kommt nicht über die Teilnahme an literarischen Zirkeln zur Literatur, sondern von außen: Als Sohn eines Arztes kam Büchner früh mit Medizin und Naturwissenschaften in Kontakt. Er studierte zwischen 1831 und 1834 in Straßburg, Gießen und Darmstadt Medizin, während er gleichzeitig politisch agitierte und an der republikanischen Bewegung in Hessen teilnahm. "Die politischen Verhältnisse", so schrieb er im Dezember 1833, "könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen." Neben der Gründung einer "Gesellschaft für Menschenrechte" verfertigte Büchner zusammen mit seinem Freund, dem Butzbacher Rektor Friedrich Ludwig Weidig, im Frühjahr 1834 die revolutionäre Flugschrift Der Hessische Landbote. Unter dem Motto: "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" und gespickt mit statistischem Zahlenmaterial sowie den narrativen und sprachlichen Mustern vor allem der Bibel, versucht diese Schrift, die Landbevölkerung zur Revolution zu bewegen. Die Flugschrift wurde in etwa 1200-1500 Exemplaren gedruckt, konnte aber aufgrund einer Denunziation kaum verteilt werden. Dennoch entkam Büchner nur knapp einer Verhaftung und ging im September nach Darmstadt. Neben weiterer politischer Tätigkeit vertiefte er sich hier in die Geschichte der französischen Revolution, worauf er Anfang 1835 in nur fünf Wochen sein Revolutionsdrama Dantons Tod schrieb. Wie auch bei der Novelle Lenz und dem Dramenfragment Woyzeck benutzt Büchner auch hier historische Quellen, die er zum Teil wörtlich, zum Teil modifiziert, in seinen Text montiert. Gegenstand ist der historische Konflikt zwischen den radikalen Jakobinern um Robespierre und der gemäßigteren Gruppe um Danton, der mit der Hinrichtung der letzteren
endete. Das Stück, das man als Paradigma der offenen Form ansehen kann, kontrastiert Szenen, die in politischen Institutionen spielen, mit Volksszenen, in denen die politischen Reden freiwillig und unfreiwillig persifliert werden. Büchner analysiert so die Bedingungen und die Möglichkeiten der Sprache für politisches Handeln in und jenseits der Institutionen. Mit dem resignativen Hedonisten Danton und dem tugendrigorosen Robespierre stehen sich zugleich zwei Strategien der menschlichen Glückssuche gegenüber, die beide aber eine materielle Situation voraussetzen, wie sie dem Volk gerade fehlt: "das Volk ist tugendhaft d.h. es genießt nicht, weil ihm die Arbeit die Genußorgane stumpf macht, es besäuft sich nicht, weil es kein Geld hat und geht nicht in's Bordell, weil es nach Käs und Hering aus dem Hals stinkt und die Mädel davor einen Ekel haben." Im März 1835 floh Büchner nach Straßburg, da er in Deutschland wegen "Teilnahme an staatsverräterischen Handlungen" steckbrieflich gesucht wurde. Hier schrieb er nicht nur die Novelle Lenz und die lange unterschätzte Komödie Leonce und Lena, eine Travestie der romantischen Komödie, sondern er arbeitete auch intensiv an seiner Dissertation über die Schädelnerven der Fische. Büchner strebte nicht die Karriere eines freien Schriftstellers an, sondern eine Dozentur an der Universität Zürich, wohin er im Oktober 1836 übersiedelte. Hier entstand Woyzeck, sein letztes, Fragment gebliebenes, aber berühmtestes Werk. Die soziale und materielle Situation "der Geringsten", die Büchner im sogenannten "Kunstgespräch" in der Novelle Lenz als eigentlichen Gegenstand einer realistischen und anti-idealistischen Kunst faßt, ist hier die eines armen Soldaten, der - als Objekt medizinischer Experimente physisch ausgebeutet - aus Eifersucht seine Frau ermordet. Angelehnt an einen authentischen Fall und die psychiatrischen Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Täters baut Büchner knappe, hochverdichtete Szenen, die Woyzeck als Opfer von Armut und gesellschaftlichen Verhältnissen zeigen. Die Wirkung dieses Textes, der den Beginn des sozialen Dramas in Deutschland markiert, auf die Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere auf Naturalisten und Expressionisten, aber auch noch auf Bertolt Brecht und Max Frisch, ist nicht zu überschätzen. Georg Büchner ist Namensgeber des wichtigsten deutschsprachigen Literaturpreises (seit 1973). ©JL
Wichtige Schriften: ❍
G.B.: Werke und Briefe. Hg. v. K. Pörnbacher u.a., München 1988.
Sekundärliteratur:
1. J.-Ch. Hauschild: Georg Büchner: Biographie. Stuttgart 1993.
Flugblatt/Flugschrift
Der Begriff "Flugschrift" wird in doppeltem Sinn verwendet: Zum einen ist damit die mehrseitige Broschüre im Gegensatz zum Flugblatt (Einblattdruck) gemeint; zum anderen ist "Flugschrift" aber auch der Obergriff für eine bestimmte Publikationsform, die beide Varianten umfasst. In der deutschen Sprache erscheinen im 18. Jahrhundert zunächst die Begriffe "fliegendes Blatt" und "fliegende Schrift" als Lehnübersetzungen zu frz. feuille volante; angespielt wurde damit ursprünglich auf den losen, nicht gehefteten Zustand im Gegensatz zum gebundenen Buch. Gleichzeitig illustrierte diese Metapher aber auch schon die Reichweite und Beweglichkeit der Publikationsform. Ab Ende des 18. Jahrhunderts sind dann die Begriffe "Flugblatt" und "Flugschrift" nachweisbar. Die erste erhaltene Flugschrift, ein Einblattdruck, stammt von 1488. Flugschriften sind ein- oder zweiseitig bedruckt und können Illustrationen enthalten. Sie wurden ins Leben gerufen durch Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, der eine schnelle Produktion größerer Stückzahlen zu günstigem Preis erlaubt. Das handliche Format, die geringen Herstellungskosten und die im Vergleich zur Manuskriptkultur hohen Herstellungszahlen machten Flugblätter und Flugschriften zum ersten technisch hergestellten Massenkommunikationsmittel. Inhaltlich gibt es zwischen Flugblatt und Flugschrift im engeren Sinne keinen Unterschied; in beiden Fällen existiert eine beträchtliche thematische Spannweite (politische, religiöse, allgemein moralische, soziale, gesellschaftliche Stellungnahmen, aber auch Berichte über spektakuläre Ereignisse, Naturerscheinungen, Missgeburten usw.). Vor allem jedoch ermöglichte die kurze Herstellungszeit Aktualität, so dass Flugblätter als Vorläufer der Zeitungen gelten können; einige Flugblätter von Humanisten, in denen neue wissenschaftliche Erkenntnisse verbreitet wurden, führen auch explizit den Begriff Newe Zeitung im Titel. Flugblätter haben auch in späteren Zeiten ihre Eigenschaft als Kommunikationsmedium nie prinzipiell verloren. Seit der Institutionalisierung einer überregionalen Tagespresse und der Erfindung des Rundfunks ist man für großräumige Kommunikation auf sie nicht mehr angewiesen; sie haben aber nach wie vor Bedeutung für Gruppenkommunikation, kurzfristige Information, Propaganda, Produktwerbung und natürlich für alle Informationen, die den Weg in die öffentlichen Massenmedien nicht finden können oder nicht finden dürfen. Moderne Nachfahren des Flugblatts sind hektographierte oder fotokopierte Zettel. ©RB Sekundärliteratur:
1. H. Wäscher: Das deutsche illustrierte Flugblatt. 2 Bde, Dresden 1955, 1956. 2. K. Schottenloher: Flugblatt und Zeitung. 2 Bde, München 1922 (Nachdruck 1985). 3. R. Schenda: Blatt und Heft. In: C. Baumgärtner (Hg.): Lesen - ein Handbuch, Hamburg 1973, S. 26-47.
7. Gattungen und Textstrukturen III: Dramatik 1. Dramentheorien im historischen Überblick 1.1 Die Antike Aristoteles: "Poetik" (zum Drama) Horaz: "Über die Dichtkunst" 1.2 Das Barock Martin Opitz: "Buch von der Deutschen Poeterey" (zur Dramatik) 1.3 Die Aufklärung Johann Christoph Gottsched: "Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen" Gotthold Ephraim Lessing: "Hamburgische Dramaturgie" "Briefwechsel über das Trauerspiel" 1.4 Der Sturm und Drang Johann Wolfgang Goethe: "Zum Shakespeares-Tag" 1.5 Das 19. Jahrhundert Georg Wilhelm Friedrich Hegel: "Vorlesungen über die Ästhetik" (zur Dramatik) Gustav Freytag: "Die Technik des Dramas"
1.6 Das 20. Jahrhundert
Bertolt Brecht: "Das epische Theater" "Über experimentelles Theater" "Anmerkungen zur Oper 'Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny'" Volker Klotz: "Geschlossene und offene Form im Drama" 2. Dramatische Formen Tragödie Komödie Satyrspiel Passions- und Osterspiele Commedia dell’arte Shakespeare-Theater Bürgerliches Trauerspiel Historisches Drama Revolutionsdrama Lyrisches Drama Naturalistisches Drama Illusionstheater Episches Theater Dokumentartheater Parabeltheater Lesedrama Einakter Offenes und geschlossenes Drama 3. Elemente des Dramatischen Dialog Monolog Protagonist Chor Botenbericht Mauerschau Ständeklausel Die drei Einheiten
4. Erwähnte Autoren und literarische Texte Aischylos Sophokles: "König Ödipus" "Antigone" Euripides: "Iphigenie in Aulis" Jean Baptiste Racine Pierre Corneille Jean-Baptiste Molière William Shakespeare Johann Christoph Gottsched: "Der sterbende Cato" George Lillo: "Der Kaufmann von London" Gotthold Ephraim Lessing: "Miß Sara Sampson" "Emilia Galotti" Jakob Michael Reinhold Lenz: "Der Hofmeister" Johann Wolfgang Goethe: "Faust" "Götz von Berlichingen" "Iphigenie auf Tauris" Bertolt Brecht: "Leben des Galilei" "Mutter Courage und ihre Kinder" "Der gute Mensch von Sezuan" "Der kaukasische Kreidekreis" Max Frisch Peter Weiss Friedrich Dürrenmatt
Novelle ital. novella: Neuigkeit
Die Novelle ist eine kürzere Erzählung, die durch prägnante Struktur, dezidierten Kunstwillen und einen strengen Aufbau gekennzeichnet ist. Der Begriff stammt aus dem Italienischen und ist erst seit dem 18. Jahrhundert im Deutschen gebräuchlich. Ohne einen Vorläufer in der Antike bildet sie eine der ersten modernen literarischen Formen. Ihre Entstehung ist eng mit der sich emanzipierenden Bürgerwelt verbunden. Die Gesellschaft stellt sich in der Novelle selbst dar. Traditionellerweise lauscht das Publikum in einer Rahmenerzählung einer Geschichte, die ein fiktiver Erzähler aus seiner Mitte in Form der Binnenerzählung vorträgt. (vgl. Stimme, Metafiktionalität) Diese Rahmenstruktur trägt wesentlich zur geschlossenen Form der Novelle bei, aber auch zu einer spezifischen Perspektive, da das Erzählte aus der Distanz objektiviert erscheint und auch belehrend reflektiert werden kann. Diese Geschlossenheit wird aber bei rahmenlosen Novellen gewahrt. Formal sind hier ebenfalls eine erzählerische Einsträngigkeit, das Fehlen abschweifender Episoden und ein recht kontinuierlicher Zeitablauf kennzeichnend. Goethe sah im Zentrum der Novelle "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit" (Gespräch mit Eckermann vom 25.1.1827). Sie fungiert als Wendepunkt des Geschehens und wird bildhaft durch das Motiv des "Falken" veranschaulicht. (Dieses Motiv geht auf eine Novelle von Boccaccio zurück, in der ein Ritter all seinen Besitz aufbietet, um das Herz einer Dame zu gewinnen. Zum Schluß bleibt ihm nur noch sein Falke. Als er ihn opfert und seiner Dame zum Mahle vorsetzt, ist sie so gerührt, daß sie ihn schließlich erhört. Somit wird der Falke zum Wendepunkt der Geschichte. Die "Falkentheorie" zur Beschreibung der Form der Novelle ist durch Paul Heyse [1830-1914] berühmt geworden.) Die Zeichnung der Charaktere und ihrer Umwelt ist der Novelle weniger wichtig. Eher kommt es ihr darauf an, außergewöhnliche Begegnungen darzustellen, die allerdings nicht psychologisch motiviert sind, sondern ihren Grund im Einbruch schicksalhafter Mächte in scheinbar geordnete Lebensverhältnisse finden. Demzufolge spielt der Zufall eine bedeutende Rolle als Motor des Geschehens. Von novellenhaften Erzählungen (wie Tausendundeine Nacht aus dem orientalischen Bereich) abgesehen, tritt die Novelle als eine höchst formbewußte Erzählung in der italienischen Frührenaissance mit Giovanni Boccaccios Il Decamerone (1353) hervor. Die Rahmenerzählung führt eine Gesellschaft von sieben Damen und Herren vor, die vor der Pest von 1348 aus Florenz auf ein Landgut geflüchtet sind. Um die Wartezeit zu verkürzen, erzählen sie sich dort an zehn Tagen insgesamt hundert "novelle" mit meist erotischer Thematik. Diesem ersten Novellenzyklus folgen weitere in Italien, England (Geoffrey Chaucer mit den Canterbury Tales von 1387ff.) und Frankreich (Marguerite de Navarra mit
dem Heptaméron von 1558). In Spanien ist es Miguel de Cervantes, der mit den Novelas ejemplares (1613) den Schwerpunkt von der Handlung auf den Charakter der Figuren verlegt. In seinen "Musternovellen" werden Charaktere dargestellt, die sich in entscheidenden Situationen bewähren müssen. Christoph Martin Wieland übernimmt die Form und den Begriff der Novelle um 1760 in die deutsche Literatur. Während Goethes Novellen (z.B. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter von 1795 oder Novelle von 1827) mit der Darstellung eines gesellschaftlichen (Katastrophen-) Hintergrundes weitgehend dem Modell Boccaccios treu bleiben, fließen bei den Novellenautoren der Romantik (wie Ludwig Tieck, Clemens Brentano oder E.T.A. Hoffmann) märchenhafte und ironische Züge in die Form ein. Heinrich von Kleist dagegen führt in seinen überaus straff komponierten rahmenlosen Novellen (erschienen um 1810) die bei Cervantes angelegte Entwicklung weiter. Der deutschsprachige bürgerliche Realismus des 19. Jahrhunderts bevorzugte die Novelle - selbst gegenüber dem Roman - für die Darstellung seiner Lebenswelt und der Probleme des Individuums. Hier entwickelte sich eine bisher nicht gekannte stilistische und thematische Vielfalt: Charakterstudien und Naturschilderungen finden sich bei Anette von DrosteHülshoff (Die Judenbuche, 1842), Adalbert Stifter (Studien, 1844-50) und Theodor Storm (Immensee, 1849 und Der Schimmelreiter, 1888). Conrad Ferdinand Mayer gestaltet geschichtliche Stoffe mit kunstvollen Rahmenhandlungen. Gottfried Keller schreibt mit Die Leute von Seldwyla (185674) Zyklen von teils komischen, teils tragischen Novellen (wie Kleider machen Leute und Romeo und Julia auf dem Dorfe). Theodor Fontane veröffentlicht seine Gesellschaftsnovellen, die oft schon in der Nähe des Romans angesiedelt sind. Auch im 20. Jahrhundert bleibt die Novelle eine produktive Kunstform. Davon zeugen u.a. viele Texte von Thomas Mann, Günter Grass (Katz und Maus, 1961) oder Christoph Hein (Der fremde Freund, 1982). © JV und SR
Sekundärliteratur: 1. H. Aust: Novelle, Stuttgart 1995. 2. W. Freund (Hg.): Deutsche Novellen, München 1998. 3. H. Schlaffer: Poetik der Novelle, Stuttgart 1993.
Komödie
Werden in der Tragödie "handelnde Menschen" (Aristoteles‘ Poetik zum Drama) in tragischen, unlösbaren Konflikten gezeigt, die in jeder Sekunde ihres Handelns um dessen Aussichtslosigkeit wissen, so werden in der Komödie Menschen gezeigt, die sich in einem lösbaren Konflikt befinden, aber nicht unbedingt von dieser Lösbarkeit wissen. Sie sind faktisch dem Schicksal überlegen, obwohl die dargestellten Konflikte ebenso aussichtslos erscheinen wie in der Tragödie. Wie gelingt die Lösung der Konflikte? a) durch Zufall, b) durch persönliche Schläue oder Dummheit des 'Helden' oder c) durch persönliche Schläue oder Dummheit des Gegners des 'Helden'. Warum ist die Komödie aber "komisch", wenn sie doch ähnlich ernste Konflikte zeigt wie die Tragödie? Einerseits natürlich durch die Zeichnung der Charaktere, denn weder 'Schläue' noch 'Dummheit' sprechen für einen besonders edlen Charakter, andererseits wird die Komödie komisch durch eine übertriebene, geradezu groteske Darstellung des Konflikts. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts informierte schon die Liste der auftretenden Personen den Zuschauer darüber, ob er lachen oder weinen sollte. War das Drama mit bürgerlichen Figuren oder gar Bauern und Dienern bestückt, konnte es sich nur um eine Komödie handeln, war es mit adeligen Helden versehen, konnte es nur eine Tragödie sein. Diese sogenannte 'Ständeklausel' geht zurück auf die Poetik Aristoteles', der die Darstellung der schlechteren Menschen der Komödie überließ, die Tragödie hingegen für die besseren Menschen reservierte. Diese Vorschrift wurde dann im Barock von Opitz in seiner Poetik Über die deutsche Poeterey übernommen und explizit auf die Scheidung von guten / adeligen und schlechten / bürgerlichen Menschen übertragen. Noch der Aufklärer Gottsched steht 1730 in dieser Tradition und erst Lessing lehnte die Ständeklausel endgültig ab und schuf das Bürgerliche Trauerspiel. ©rein
Sekundärliteratur: 1. R. Grimm / K. Berghahn (Hg.): Wesen und Formen des Komischen im Drama, Darmstadt 1975. 2. B. Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung: Grundlagen und Interpretationen, Tübingen 1992. 3. W. Preisendanz: Das Komische, München 1976.
Realismus mlat. realis: wirklich, lat. res: Sache, Ding, Wesen
Der Begriff Realismus ist im literarischen Bereich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bekannt und im 19. Jahrhundert in der literaturtheoretischen, historischen und -kritischen Diskussion weit verbreitet: als poetologisches Programm, als Kunstprinzip, als stiltypologisches Kennzeichen oder auch zur Bezeichnung einer literaturgeschichtlichen Epoche. Dabei sind die Termini "Realismus" oder "realistisch" inhaltlich nicht nur sehr unterschiedlich, sondern geradezu kontrovers bestimmt worden. Das ergibt sich daraus, dass der Begriff von Anfang an das (vielschichtige) Verhältnis von Literatur und "Wirklichkeit" zu fassen versucht. Denn nicht nur das Wesen und die Funktion(en) der Literatur sind - seit sie überhaupt theoretisch reflektiert und wissenschaftlich untersucht werden - sehr unterschiedlich bestimmt worden. Auch das, was man unter "Wirklichkeit" oder "objektiver Realität" versteht, wird - mindestens seit dem Universalienstreit in der scholastischen Philosophie des Mittelalters (wo der Begriff Realismus zum ersten Mal auftaucht) und bis heute außerordentlich kontrovers diskutiert. In der Literaturgeschichte bzw. der literarhistorischen Debatte hat sich seit längerem eine weit gehende Übereinstimmung herausgebildet, Realismus als Epochenbegriff für weite Bereiche der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts - mit einem Kernbereich zwischen 1830/40 und 1880/90 - vor allem in Frankreich, England, Deutschland und Russland zu verwenden. Gattungspoetisch steht die erzählende Prosaliteratur, besonders in den Formen des Romans, der Novelle und der Erzählung, ganz eindeutig im Zentrum: sie erscheinen als besonders "welthaltig". Maßgebliche Autoren, die diesem Epochenbegriff Realismus und einer "realistischen" Erzählweise Profil gegeben haben, sind etwa Honoré de Balzac, Stendhal und Gustave Flaubert in Frankreich, Charles Dickens in England, Theodor Fontane, Theodor Storm, Wilhelm Raabe und Gottfried Keller in Deutschland bzw. der deutschsprachigen Schweiz, Lev N. Tolstoj und Fjodor M. Dostojevskij in Russland. Die stärksten Impulse für den Realismus des 19. Jahrhunderts, aber auch für das Weltbild und die Schreibweise der nachfolgenden Generationen ging dabei von den französischen und russischen Autoren aus. Unter dem Eindruck der im 19. Jahrhundert stark anwachsenden Autorität der Naturwissenschaften sowie neuer kritischer Gesellschaftstheorien als Ausdruck bürgerlichen Krisenbewusstseins entwickeln sich wesentliche Kennzeichen dieser Literaturepoche im Rahmen und in Abhängigkeit von unterschiedlichen nationalliterarischen Traditionen. Die erzählerische Entfaltung und Analyse sozialer Probleme der sich entfaltenden kapitalistischen Wirtschaftsform und
Lebensweise sowie der daraus sich ergebenden moralischen und individuellen Konflikte sind das innovative Zentrum der Literatur dieser Zeit. Die schärfsten sozialanalytischen und gesellschaftskritischen Positionen vertreten sicherlich die französischen Realisten, während die deutschsprachigen Autoren offensichtlich unter dem Eindruck eines Synthese-Modells von Idealismus und Realismus (wie es in anderem Zusammenhang bereits im Briefwechsel Goethes und Schillers erörtert wurde) nach einem "poetischen Realismus" suchen, der die Verbindung von Wirklichkeit und Ideal ermöglichen soll. Deshalb gestaltet sich auch der Übergang zur nächsten literarischen Epoche, dem Naturalismus, in beiden Ländern unterschiedlich: in Frankreich als Fortführung und Verschärfung des realistischen Konzepts, in Deutschland dagegen als deutlicher Bruch mit dem "poetischen Realismus" zugunsten einer an den Naturwissenschaften orientierten Objektivität, die die Subjektivität des künstlerischen Schaffens in Frage stellt. © HJ
Sekundärliteratur: 1. H. Aust: Literatur des Realismus. 3. Aufl., Stuttgart u.a. 2000. 2. S. Kohl: Realismus. Theorie und Geschichte, München 1977. 3. G. Plumpe: Realismus in Literatur und Kunst, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter / K. Gründer, Bd. 8, Basel 1992, Sp.169ff.
Naturalismus
Der Naturalismus ist eine wesentlich gesamteuropäische Literaturbewegung, die sich in ihrer deutschen Variante als Reaktion auf die Romane und die Literaturtheorie Emile Zolas entfaltete, dabei aber die Schwerpunkte der Theorie und der literarischen Produktion anders gewichtete. Das gemeinsame Erbe bestand aus der Verwissenschaftlichung der Literatur (einerseits durch sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, andererseits durch die darwinistische Entwicklungslehre). Die Gesellschaft insgesamt wurde positivistisch und materiell betrachtet; zur Erklärung gesellschaftlicher Phänomene wurden besonders die Theorien der Vererbung und der sozialen Determinierung herangezogen. So verstand sich auch die Kunst als soziales Experiment, was eine Intensivierung des in der deutschen Tradition ohnehin unterentwickelten Realismus bedeutete. Eine Erneuerung des Dramas speiste sich aus der Aufnahme kleinbürgerlich-großstädtischer und proletarischer Milieus (auch in Bezug auf die Sprache) einerseits, aus der Aktualisierung der Stoffe andererseits in enger Anlehnung an die sozialkritischen Dramen des Norwegers Henrik Ibsen. Die daraus resultierende Nähe zur Sozialdemokratie tritt in der deutschen Theorie stärker als in den Dramen hervor, die über eine rührselige Mitleidsstimmung kaum hinauskommen. Der deutsche Naturalismus erlebte 1890 mit der Berliner Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang einen gewissen Publikumserfolg, der sich mit Hauptmanns Die Weber (1892) noch steigerte und in einem Theaterskandal eskalierte. Zum programmatischen Drama des Naturalismus wurde Die Familie Selicke von Arno Holz und Johannes Schlaf. Im Roman erreichte Max Kretzer (der 'Zola Berlins') freilich nur geringe Resonanz interessante Formexperimente bieten die beiden Novellen Bahnwärter Thiel (Hauptmann, 1888) und Papa Hamlet (Holz und Schlaf 1889) - , aber die lyrischen Formexperimente von Arno Holz blieben Spezialistensache. Die Leistungen der naturalistischen Literatur-Kritik (z.B. Heinrich und Julius Hart, Kritische Waffengänge, 1882) prägten längerfristig den deutschen Literaturbetrieb. Der Naturalismus als Bewegung verebbte einerseits schnell. Bis 1893 war Hauptmann bereits als Vertreter der Neuromantik hervorgetreten (Hanneles Himmelfahrt); in der Theorie hatte Hermann Bahr mit seiner Überwindung des Naturalismus bahnbrechend den Impressionismus eingeleitet; in der Lyrik hatte sich der Symbolismus etabliert (Stefan George, Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal). Zola wurde in Frankreich durch seine führende Rolle in der Dreyfus-Affäre zum Modell des engagierten Intellektuellen - seine literarische Leistung wurde für die weitgehend unpolitischen deutschen Naturalisten durch das politische Element verdrängt. So war es eher die Nähe des Naturalismus zur
stockkonservativen, ja proto-rassistischen 'Heimatkunstbewegung', die die weiteren Entwicklungen des Romans bestimmte. Daß man Thomas Manns Budenbrocks (1901) als den einzigen naturalistischen deutschen Roman bezeichnet hat, ist in Kenntnis seiner weiteren Entwicklung zunächst überraschend, bei genauerer Überlegung (und einem Blick auf die zeittypischen Themen und Motive) aber doch plausibel. Den größten Erfolg hatte Wilhelm Bölsche mit seiner populärwissenschaftlichen Abhandlung Liebesleben in der Natur (1898), die in Richtung Naturreligion abzudriften drohte. Trotz dieser widersprüchlichen teils fortschrittlichen, teils reaktionären Ansätze ist dem Naturalismus eine Modernisierung und Internationalisierung der deutschen Literatur zu verdanken, ohne die etwa die späteren Leistungen der Brüder Mann wie auch anderer Erzähler des 20. Jahrhunderts undenkbar wären. ©HR
Sekundärliteratur: 1. C. Bürger / P. Bürger / J. Schulze-Sasse (Hg.): Naturalismus / Ästhetizismus, Frankfurt / M.1979. 2. R. Hamann / J. Hermand: Der Naturalismus, München 1972. (Epochen deutscher Kultur, Bd. 2). 3. E. Ruprecht: Literarische Manifeste des Naturalismus 1880-1892, Stuttgart 1962.
Expressionismus
Der deutsche Expressionismus läßt sich am besten nicht als präzise Stilbezeichnung, sondern als Epochenbegriff für den 'Aufbruch der Moderne' in den Jahren von 1910 bis 1924 verstehen. Der Name wurde im Gegensatz zum Impressionismus geprägt (ursprünglich in den bildenden Künsten, besonders in Zusammenhang mit der Malergruppe 'Der blaue Reiter'). Der Impressionismus förderte Empfindsamkeit für Nuancen und kleinste Impressionen, die von den Gegenständen ausstrahlen. Wenn Rilkes Romanfigur Malte Laurids Brigge darauf insistiert, sehen zu lernen, so ist der Abstand zu den Expressionisten deutlich. In den Worten von Kasimir Edschmid: Die Realität war für sie schon da, es wäre sinnlos, sie wiederholen zu wollen. Von den Expressionisten sagte er: "Sie schauten nicht, sie hatten Visionen". Der Transfer solcher Auffassungen und Haltungen aus der bildenden Kunst in die Literatur wurde 1912 vollzogen, als der Kritiker Kurt Pinthus in einer berühmten Rezension Walter Hasenclevers Stück Der Sohn mit den Methoden des malerischen Expressionismus gleichsetzte. Tatsächlich wollten die Expressionisten nicht nur auf Impressionen reagieren: sie wollten sich proaktiv selber zum Ausdruck bringen, sich aktiv erleben. Entscheidend war die Generationszugehörigkeit. Die Expressionisten zählten mit wenigen Ausnahmen - zu einer Generation, die erst um 1910 zu schreiben begann und die, - wenn es für sie überhaupt eine historische Heimat gab - durch den Ersten Weltkrieg geprägt wurde. Literaturgeschichtlich grenzten sie sich gegen die vorherige Literaturgeneration (Rilke, Hofmannsthal, Thomas Mann usw.) ab, andererseits definierten sie sich aus den Gegebenheiten moderner Existenz, wie etwa der Großstadt, die für die Impressionisten noch problematisch war. Das expressionistische Selbstgefühl war der Bruch mit der Vergangenheit, mit der Welt der Väter, und ein euphorischer Aufbruch in die moderne Zeit. Von daher ist es berechtigt, den deutschen Expressionismus mit der Moderne schlechthin zu identifizieren, als deutsche Form eines europäischen Modernismus, der sich in anderen Nationalkulturen, in anderen Spielarten und unter anderen Namen (Futurismus, Vortizismus, Surrealismus usw.) ausprägte. Die literarischen Schwerpunkte des Expressionismus lagen in der Lyrik und im Drama. In der Lyrik gab es, wie die klassische Anthologie der Zeit - Kurt Pinthus' Menschheitsdämmerung (1918) - deutlich macht, keinen einheitlichen Stil. Einige Lyriker (wie Ivan Goll oder Gottfried Benn) pflegten einen aggressivmodernen Stil, der brutal mit der Lyriktradition brach. Andere (am bekanntesten Franz Werfel) blieben innerhalb der Techniken und des Wortschatzes der herkömmlichen Lyrik. Im Höchstfall ließ sich (wie Pinthus in seinem Nachwort zur Anthologie meinte) die Intensität der Lyrik als gemeinsames Merkmal identifizieren. Im Drama bedeutete der Expressionismus einen wichtigen Bruch mit dem
Illusionstheater, wie es vom Naturalismus entwickelt worden war. Lag in den bevorzugten Themen (Leiden an der Gesellschaft, mißverstandene Jugend, der Künstler als Prophet) ein nicht immer modern anmutender Pathos, so wurden viele Stücke durch ihre Struktur, Dialogführung und spielerische Phantasie bahnbrechend für ein modernes Theater. Aus ihnen hat etwa der junge Bertolt Brecht - trotz prinzipieller Einwände - viele Ansätze gewonnen. Auch zeigte sich die expressionistische Bühne für wichtige Impulse des noch jungen Mediums Film offen; so wie andererseits gerade der 'expressionistische' deutsche Film neue ästhetische Maßstäbe setzte. Die große Katastrophe der Expressionistengeneration war der Weltkrieg. Viele begrüßten euphorisch 'den' Krieg, ohne seine Realität zu erkennen - sehr berühmt: Georg Heym Der Krieg (1910), Ernst Stadler Der Aufbruch (1914). Mit der Zeit dominierte (nicht nur bei den Expressionisten) eher der Protest gegen die Unmenschlichkeit des Krieges - Ernst Toller: Die Wandlung (1917) -, aus dem sich für einige selbstverständlich die Teilnahme an der Revolution von 1918 bis 1919 ergab. Man kann in der jeweiligen Reaktion auf die Revolution eine Probe des ursprünglich eher unpolitischen Aufbegehrens erblicken. Daß dem Lebenslauf von Johannes R. Becher (expressionistischer Lyriker, später führender kommunistischer Intellektueller in der Weimarer Republik und schließlich Kulturminister der DDR) dabei kein Modellcharakter zukommt, sollte die Bedeutung dieser Phase deutscher Geistesgeschichte nicht abschwächen. Die Polarisierung der deutschen Intelligenz zwischen Faschismus und Kommunismus geht in vielen Fällen (von rechts: Hans Johst, Arnolt Bronnen) auf den politischen 'Ausklang' des Expressionismus in den Revolutionsjahren zurück. Während viele Stilimpulse entweder im Dadaismus, in der Neuen Sachlichkeit oder im 'reifen' Schaffen etablierter Schriftsteller aufgingen, bleibt ein unbequemer Rest an Ideologie und politischer Kritik, der zur problematischen Erbschaft der Weimarer Republik noch gehört. ©HR
Sekundärliteratur: 1. R. Hamann / J. Hermand: Der Expressionismus. (=Epochen deutscher Kultur, Bd. 5). 2. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Der Expressionismus, Stuttgart 1982. 3. K. Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung, Reinbeck bei Hamburg 1959.
Max Frisch
* 15.01.1911, Zürich † 04.04.1991, Zürich Schrifsteller, Essayist, Architekt Max Frisch studierte zuerst Germanistik, später Architektur und betrieb zeitweilig ein Architekturbüro. Bereits in den dreissiger Jahren begann er mit dem Schreiben, seine ersten Erfolge erreichte er erst in den fünfziger Jahren. Schreiben hat für ihn mit "Zeitgenossenschaft" zu tun, erst sie gibt ihm die Legitimation zum Schreiben. Er sieht die Schweiz und die Welt mit kritischem Blick, bezieht Stellung in vielen Essays und Artikeln. Als Zeitgenosse schreibt er von sich und der Welt in Geschichten, weil die Wahrheit, das Eigentliche, nicht erzählbar ist. Aber "alle Geschichten sind erfunden, Spiele der Einbildung, Entwürfe der Erfahrung, Bilder, wahr nur als Bilder". Frisch geht es um Selbstdarstellung, wie im Tagebuch 1946-1949 (1950) zu lesen ist, "schreiben heißt: sich selber schreiben". Mit dieser Problematik verbunden ist eines der Hauptthemen des Autors: "Du sollst dir kein Bildnis machen", ein Bildnisverbot, um festgelegte Lebensmuster zu vermeiden. Jeder muss mit sich selbst identisch werden, damit das Leben authentisch wird. Bildnisse verpflichten die Menschen dazu, Rollen zu spielen. Im Theaterstück Andorra (1961) wird dieser Gedanke gleichnishaft zugespitzt: Ein normaler "Andorraner", Andri, wird zu einem Juden gemacht, d.h., er verinnerlicht die Eigenschaften, die die anderen einem Juden zuschreiben, obwohl Andri kein Jude ist. Er wird, genau wie viele Figuren dieses Autors, fremdbestimmt, auf Bildnisse festgelegt und geht daran zugrunde. Frischs Helden haben Angst vor der Wiederholung, vor einem immer gleich ablaufenden Alltag, der durch Rollenzuschreibungen und Bildnisse bestimmt ist. Der Roman Stiller (1954) fängt mit den Worten an: "Ich bin nicht Stiller". Aber die selbstzufriedenen Anderen sehen in ihm nicht den neuen Menschen, Mr. White, sie haben nur das alte Bild des Anatol Stiller vor Augen, bevor er verschollen ist. Auch in Mein Name sei Gantenbein (1964) flieht die Hauptfigur vor der Wiederholung: "Ich probiere Geschichten an wie Kleider". Die ErzählFigur hat die Möglichkeit, mit Rollen zu spielen, die Geschichten / Rollen verschachteln sich. Der Roman ist ein Anprobieren von Geschichten, von Biographien. Auch im Stück Biografie: Ein Spiel (1967) steht Kürmann vor der Möglichkeit einer Wahl: "Sie hatten die Wahl, Ihre Biographie zu ändern, das wünscht man sich manchmal, und was dabei herauskommt: Variationen des Banalen." Man flieht vor den Wiederholungen, kann ihnen aber nicht entfliehen. Im Roman Homo faber (1957) haben wir eine ähnliche Situation: Der Ingenieur Walter Faber ist ganz selbstsicher, steht im Bann der technologischen Euphorie. Sein Lebensweg wird jedoch ständig vom Zufall durchkreuzt, er wird zu einem
modernen Ödipus, als er seine Tochter trifft, von deren Existenz er bislang nichts wusste. Er interpretiert die Geschehnisse aber falsch, weil sein Diskurs eigentlich nur aus Bildern besteht, er keinen eigenen Standpunkt hat. Auch nicht, was Frauen angeht, obwohl sie eine so zentrale Rolle in seinem Leben spielen. Seine Reisen - auch sie eine Wiederholung - sind ein Prozess der Selbsterkenntnis, der Suche nach Identität. Hanna, Walters ehemalige Gefährtin, sagt: "Du behandelst das Leben nicht als Gestalt, sondern als bloße Addition, daher kein Verhältnis zur Zeit, weil kein Verhältnis zum Tod." In den parabolisch angelegten Theaterstücken konzentriert sich Frisch auf das Problem des "Ichs". Er zeigt, wie das Subjekt mit den Erfahrungen umgeht bzw. wie es die Außenwelt falsch interpretiert. So Herr Biedermann in Biedermann und die Brandstifter. Ein Lehrstück ohne Lehre (1958), der sich ständig anpasst, um Konflikte zu vermeiden, oder der Kaiser, der in Die Chinesische Mauer (1946, 1955) eine Mauer bauen lässt, um "die Zukunft zu verhindern", das heisst, um sein Bild der Welt (und seine Macht) nicht in Frage stellen zu müssen. Auch in Don Juan oder die Liebe zur Geometrie (1953) geht es um die Problematik der Rollenzuschreibung: die Hauptperson kann die nicht lieben, für die er mit seinem Name steht: Frauen. 33 Jahre alt, müde, entscheidet er sich für die Ehe, um sich damit seiner wahren Liebe widmen zu können, der Geometrie. Im Spätwerk geht Frisch besonders auf die Beziehungsunfähigkeit und auf die Vergänglichkeit ein. Herr Geiser in Der Mensch erscheint in Holozän (1979) merkt, "Erosion ist ein langsamer Vorgang". Um am Leben zu bleiben, baut er auf das Gedächtnis, er klebt sein Wissen als Notizzettel an die Wand. Er ahnt das immer näher kommende Ende und will es gleichzeitig nicht wahrnehmen: "Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht". Die Natur braucht ihn nicht. © GVB
Wichtige Schriften: ❍
Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Frankurt/Main, Suhrkamp
Sekundärliteratur: 1. A. Stephan: Max Frisch, München 1983 u.ö. 2. J.Petersen: Max Frisch, Stuttgart u.a. 2002. 3. L.Waleczek: Max Frisch, München 2001
Georg Büchner: Lenz (1839)
Georg Büchner (1813-1837), der sich als politischer Flüchtling, steckbrieflich gesucht, 1835 und 1836 in Straßburg aufhielt, kam hier mit Quellen über den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) und dessen psychischen Zusammenbruch 1777/1778 in Kontakt. "Ich habe mir hier allerhand interessante Notizen über einen Freund Goethes, einen unglücklichen Poeten Namens Lenz verschafft, der sich gleichzeitig mit Goethe hier aufhielt und halb verrückt wurde." (Brief an die Familie vom Oktober 1835). Gegenstand der Büchnerschen Erzählung, die in fortgeschrittenem Entwurfsstadium unvollendetes Fragment geblieben ist, ist nicht das Leben des Stürmer und Drängers insgesamt, sondern allein der kurze Aufenthalt (20.1. - 8.2.1778) Lenzens im vogesischen Steintal bei dem philanthropischen Pfarrer und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin (1740 - 1826). Die Hauptquelle Büchners ist - neben den herablassenden Bemerkungen Goethes über Lenz aus Dichtung und Wahrheit - der Rechtfertigungsbericht, den Oberlin über Lenzens Aufenthalt unmittelbar nach seinem Entschluß, den zunehmend psychotischen Lenz nach Straßburg bringen zu lassen, angefertigt hatte. Büchners Interesse an Lenz und dessen Wahnzuständen ist nicht nur dasjenige des Literaten und Lenzlesers, sondern zugleich das des Mediziners und Naturforschers. Aus Büchners naturwissenschaftlichen Studien (etwa zeitgleich mit der Erzählung Lenz arbeitete Büchner im Winter 1835/36 an seiner Dissertation über die Schädelnerven einer Karpfenart) resultiere, so formuliert es treffend Büchners Freund Karl Gutzkow (1811 - 1878), "Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben". (Gutzkow an Büchner am 10.6.1836). Diese naturwissenschaftliche Sehweise verbindet sich bei Büchner mit einer bis heute modern wirkenden poetischen Darstellungskraft innerer Zustände. Die Erzählung Lenz ist ein Text mit auf der Handlungsebene gleichsam abgeschnittenen Rändern, der ein intensives Konzentrat von Innenansichten liefert, die gleichwohl von Außen, mittels Bildern und Vergleichen, erzählt werden. Die immer wieder auftauchende Formel dafür lautet: Es war ihm als ob... : "Es war ihm alles so kein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen"; "Es war als ginge ihm was nach"; "Es war ihm als sei er blind"; "Es war ihm als müsse er sich auflösen" usw. Dadurch wird der Wahnsinn nicht als das Andere der Normalität, sondern als Grenzwert jeden menschlichen Erlebens gefaßt. Beispielhaft und einzigartig in der deutschen Literatur ist allein die erste Seite der Erzählung, die von Lenz' Wanderung durch die Vogesen nach Waldersbach berichtet. Hier ist die psychotische Wahrnehmung der Hauptfigur in
die Struktur der Naturbeschreibung eingelassen. Büchner stellt seinen Protagonisten hinein in einen riesigen Naturkosmos, dessen räumliche und zeitliche Parameter ("herauf" und "herab", "nahe" und "fern") eine totale Desorientierung und Haltlosigkeit markieren, in der keine Inversion der üblichen Ordnung mehr undenkbar ist: "Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte." Der so geschilderte Selbst- und Weltverlust führt zu Angstzuständen und masochistischer Selbstzerstörung, um im physischen Schmerz zur Realität zurückzufinden. Büchner hält sich, was die Chronologie der geschilderten Ereignisse angeht, sehr eng an seine Hauptquelle. Einzelne Dialogpassagen sind wörtlich übernommen. Nachdem Lenz zunächst freundlich im Pfarrhause Oberlin aufgenommen wird, er Oberlin bei seinen Ausritten in die umliegenden Dörfer begleitet und Sonntags die Predigt hält, stabilisiert sich sein Zustand. Eine entscheidende Zäsur auf der Handlungsebene stellt dann die Ankunft Christoph Kaufmanns (1753-1795) dar, der Pfarrer Oberlin zusammen mit seiner Braut besucht. Büchner fügt hier zum einen ein fiktives Gespräch über Kunst ein, in dem er Lenz seine eigene antiidealistische Kunsttheorie in den Mund legt. "Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur." Dabei trifft Büchner durchaus auch einen Kernpunkt der Lenzschen Poetik, die artikulierte Hoffnung nämlich, man könne sich "in das Leben des Geringsten" versenken und es darstellen, man könne, wie es bei Lenz heißt, sich "ganz in den Gesichtskreis dieser Armen herabniedrigen." (Lenz an Sophie La Roche im Juli 1775). Zum anderen schließt sich an die Ankunft Kaufmanns die Abreise Kaufmanns und Oberlins nach Emmendingen. Schon die Abwesenheit Oberlins wirkt destabilisierend auf Lenz, mehr aber noch Oberlins verfrühte Rückkehr. Oberlin, der in Emmendingen von Goethes Schwager, Johann Georg Schlosser (17391799), über die Hintergründe von Lenz Biographie informiert worden war, ändert nun sein Verhalten gegenüber Lenz. Hatte er ihn zu Beginn gewissermaßen vorurteils- und urteilslos angenommen, so verweist er ihn nun an den Vater und an Gott. Hart läßt Büchner die religiöse Dimension von Lenzens Depression mit der Hilflosigkeit Oberlins aufeinandertreffen, der ihn an eben jenen Gott verweist, den Lenz verloren hat. Zudem folgt Oberlin nach seiner Reise einem Kausalschema gemäß dem der Wahnsinn als Strafe für ein sündiges Leben anzusehen sei. Daraufhin verschlechtert sich Lenz' Zustand immer mehr, bis Oberlin sich gezwungen sieht, Lenz aus Waldersbach zu entfernen. Während Büchner einerseits durch die Erkundung der subjektiven Innensicht des psychotischen Erlebens die Frage nach der Ursache des Wahnsinns in seiner exakt-poetischen Beschreibung aufgehen läßt und in ihr aufhebt, zeigt er andererseits in der Figur Oberlin, wie der (moralische) Diskurs über die Ursache den Wahnsinn selbst verstärkt. Die Erzählung hat seit Ende des 19. Jahrhunderts (Gerhart Hauptmann, Hugo v. Hofmannsthal) eine bis heute (Peter Schneider) dauernde Nachwirkung entfaltet.
© JL
Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. München 1988. Schaub, Gerhard (Hg.): Georg Büchner. Lenz. Erläuterung und Dokumente, Stuttgart 1987.
Sekundärliteratur: 1. S. Damm: Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz, Frankfurt am Main u.a. 1992. 2. J. Hörisch: Pathos und Pathologie. Der Körper und die Zeichen in Büchners Lenz, in: Büchner. Katalog Darmstadt: Georg Büchner. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Katalog der Ausstellung Mathildenhöhe. Darmstadt 2.8.-27.9.1987, Frankfurt am Main 1987, S. 267-275. 3. Goltschnigg, Dietmar (Hg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentare, 2 Bde., Berlin 2001-2002.
Sturm und Drang
Die Epoche des "Sturm und Drang", deren Beginn zumeist auf das Jahr 1769 datiert wird (in diesem Jahr erscheint Johann Gottfried Herders Journal meiner Reise im Jahre 1769), ist eine auf Deutschland beschränkte literarischweltanschauliche Bewegung und besitzt keine Entsprechung in Musik, Malerei oder Architektur. Der Begriff war schon bald nach 1770 gebräuchlich, also vor der Veröffentlichung von Friedrich Maximilian Klingers gleichnamigen Drama (1777), das später der ganzen Epoche ihren Namen gab. Traditionellerweise wurde der Sturm und Drang durch den Gegensatz Rationalismus - Irrationalismus als Gegenbewegung zur vorangehenden Epoche der Aufklärung definiert. In der aktuellen Forschung wird dagegen das spannungsvolle Verhältnis von Aufklärung und Sturm und Drang betont, ein Festhalten der Stürmer und Dränger an Idealen der Aufklärung einerseits und eine radikale Kritik an aufklärerischem Gedankengut andererseits. Gegenüber dem aufklärerischen Konzept allgemein menschlicher Rationalität betont der Sturm und Drang insbesondere das Partikular-Menschliche: die Individualität des Einzelnen, die Sinnlichkeit, die Totalität von Herz und Geist, von Vernunft, Phantasie und Gefühl. Der ästhetische Zentralbegriff des Sturm und Drang: das Genie, theoretisch ausgearbeitet in Herders Shakespear (1773), Johann Wolfgang von Goethes Zum Shakespeare Tag (1771) oder Jakob Michael Reinhold Lenz’ Anmerkungen übers Theater (1774), weist über die Kunst hinaus auf ein neues Lebensverständnis jenseits ständischer und traditioneller Ordnungen. Gesellschaftspolitisch an die zunehmende Emanzipation des Bürgertums, literatursoziologisch an die Veränderungen des ‘literarischen Marktes’, ästhetisch an die Kritik der traditionellen Regelpoetik gekoppelt, konzipiert sich das Genie als naturgegebene ‘schöpferische Kraft’, die sich durch Spontaneität, Intensität und Originalität seiner Empfindungen auszeichnet. Damit steht es in enger Verbindung zum weltanschaulichen Zentralbegriff des Sturm und Drang: zur Natur. Der die Natur ‘nachahmende’ Künstler ist keiner, der Natur wiederholt (‘natura naturata’), sondern der analog zur Natur produziert (‘natura naturans’). Naturnachnahmung heißt, selbst schöpferisch zu werden. Diese ‘schöpferische Kraft’ wird in den literarischen Gattungen auf unterschiedliche Weise realisiert. Die Dramen gestalten vor allem soziale Konflikte zwischen einem vereinzelten Individuum und der Gesellschaft. Zu den wichtigen Beispielen gehören Goethes Götz von Berlichingen (1771), Friedrich Schillers Die Räuber (1776) und Klingers Die Zwillinge (1776). In der Prosa (z.B. Goethes Die Leiden des jungen Werther [1774], Jakob Michael Reinhold Lenz Der Waldbruder [1776]) wird ein reich entfaltete Subjektivität vorgeführt, die aber an der Realität zerbrechen kann. In der Lyrik steht das Verhältnis des
lyrischen Ich zu der ihn umgebenden, pantheistisch (Pantheismus = Lehre, in der Gott und Welt identisch sind) gedachten Natur zur Diskussion; zu nennen sind hier insbesondere Goethes frühe Gedichte, zum Beispiel Mailied (1771), Prometheus (1773) oder Ganymed (1773). Die Grenzen und die Gefährdungen des Genies kommen in diesen Texten zum Ausdruck. Der Selbstmord Werthers, das Scheitern Götz von Berlichingens oder Karl Moors (in Schillers Die Räuber) sind nicht zuletzt Resultat einer gesellschaftlichen Situation, in der sich die Individualitäts- und Geniegedanken der durchweg jungen, bürgerlichen Stürmer und Dränger nur im literarischkulturellen Bereich durchsetzen, im politischen und ökonomischen Bereich jedoch keinerlei Basis finden. CH
Sekundärliteratur: 1. A. Huyssen: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche, München 1980. 2. W. Hinck (Hrsg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, Kornberg/Ts. 1978. 3. B. Plachta (Hrsg.): Sturm und Drang: geistiger Aufbruch 1770 - 1790 im Spiegel der Literatur, Tübingen 1997.
Paul Celan
* 23.11.1920, Czernowitz / Bukowina † 20.04.1970, Paris
Paul Antschel (so der Familienname) wuchs in einer deutschsprachig-jüdischen Familie auf und zeigte früh große sprachliche Begabung und dichterische Interessen. 1938 begann er in Frankreich ein Medizinstudium, kam dort mit der surrealistischen Poesie in Kontakt, kehrte aber nach Czernowitz zurück, um Romanistik zu studieren. 1941 wurde die Stadt von deutschen und rumänischen Truppen besetzt, die ein jüdisches Ghetto einrichteten; die Eltern wurden 1942 deportiert und starben noch im selben Jahr. Celan selbst war bis 1944 in einem Arbeitslager, konnte dann aber sein Studium wieder aufnehmen und arbeitete in Bukarest als Lektor und Übersetzer. Nach einer Zwischenstation in Wien, wo es zu einer lang nachwirkenden Begegnung mit Ingeborg Bachmann kam, ging Celan nach Paris, wo er von 1959 an als Lektor für deutsche Sprache arbeitete. Neben seinem eigenen lyrischen Werk entstanden in dieser Zeit auch bedeutende Übersetzungen, z.B. von russischer Poesie. Celans Lyrik kann formal als kontinuierliche Ablösung von neuromantischsymbolistischen (Rilke) und surrealistischen Prägungen und als Suche nach einer ganz eigenständigen poetischen Sprache beschrieben werden, die durch radikale Reduktion (etwa im Syntaktischen) und bewußte Verletzung sprachlicher Konventionen eine ungeahnte semantische Vielschichtigkeit erreicht und den Leser/inn/en vielfältige Konnotationen anbietet. Dieser Prozeß kann durch insgesamt neun vom Autor selbst publizierte (oder zumindest noch zusammengestellte) Gedichtbände, von Der Sand aus den Urnen (1948) bis Schneepart (1971) verfolgt werden. Dabei ist besonders den späteren Texten der Vorwurf der Unverständlichkeit, dezenter: der Hermetik, nicht erspart geblieben; dagegen steht aber Celans energisches Beharren auf der appellativen, ja dialogischen Intention und Qualität seiner Dichtung - ausgeführt etwa in den poetologisch bedeutsamen Reden zum Bremer Literaturpreis (1958) und - unter dem Titel Der Meridian - zur Auszeichnung mit dem Georg-Büchner-Preis (1960). Inhaltlich ist es das Trauma von Verfolgung und Verlust, die leidvolle Erfahrung der Nazi-Opfer, die sich durch alle so sorgsam komponierten Gedichtbände zieht. Auch davon spricht die Meridian-Rede recht ausdrücklich in der Chiffre vom "20. Jänner". Eine zugleich bestürzende und faszinierende, ja in gewisser Weise 'eingängige' Fassung erhielt diese Thematik in dem frühen Gedicht Todesfuge man darf wohl annehmen, daß deren 'Erfolgsgeschichte' in deutschen Lesebüchern und Bundestagsfeierstunden Celan in der Absicht bestärkte, seine
Texte widerständiger und spröder zu machen - was ihre Faszination keineswegs beeinträchtigen sollte. Die Frage des Philosophen Theodor W. Adorno, ob Lyrik nach Auschwitz noch legitim sein könne, hat Celan durch seine Gedichte nach (und über) Auschwitz faktisch beantwortet. Aber er bekräftigt sie auch seinerseits, wenn er schreibt: "Welches der Worte du sprichst -/ du dankst/ dem Verderben." (1955). Daß sich Celan als Nazi-Opfer dichterisch für die Sprache der (deutschen) Mörder entschied, erscheint zunächst als Paradox - und erweist sich als unverdienter Glücksfall für die deutsche Literatur. Denn in dieser Sprache gelingt es Celan, nicht nur die antagonistischen Aspekte deutscher Tradition 'engzuführen', sondern auch den Assoziationsraum der europäischen Moderne und schließlich die (ost-)jüdische bzw. hebräische Überlieferung anklingen zu lassen. Die schönsten Textbeispiele dafür bieten vielleicht die Gedichtbände Die Niemandsrose (1963) und Atemwende (1967). Problematisch war und blieb, trotz früher Auszeichnungen, Celans Verhältnis zur (bundes-)deutschen Öffentlichkeit. Unter den Kriegsheimkehrern in der frühen "Gruppe 47" stieß der jüdische Exhäftling und Exilant auf Unverständnis und Ablehnung. Später schärfte ein bösartiger und völlig unbegründeter Plagiatsvorwurf, den die Dichterwitwe Claire Goll inszenierte, für weitere Verletzungen und das Gefühl, antisemitischem Ressentiment ausgesetzt zu sein. Man darf vermuten, daß dies alles Celans depressive Disposition verstärkt und zu seinem mutmaßlichen Freitod in der Seine beigetragen hat. - Drei Jahrzehnte später wird Paul Celan unbestritten zu den größten deutschsprachigen Lyrikern des katastrophischen 20. Jahrhunderts gerechnet. ©JV
Wichtige Schriften: ❍
J. Wertheimer (Hg.): Gesammelte Werke in 7 Bänden. suhrkamp 2000.
Sekundärliteratur: 1. W. Emmerich: Paul Celan, Reinbek bei Hamburg 1999. 2. P.H. Neumann: Zur Lyrik Paul Celans, Göttingen 1990. 3. J. Vogt: Treffpunkt im Unendlichen? Über Peter Weiss und Paul Celan, in: Peter Weiss-Jahrbuch 4 , Opladen 1995.
zu Kapitel 6: Lyrik
zu Kapitel 3: Hermeneutik
Ingeborg Bachmann
* 25.06.1926, Klagenfurt † 17.10.1973, Rom Lyrikerin, Erzählerin und Hörspielautorin Nach dem Schulabschluß 1944 und einem Jahr an einer NSLehrerbildungsanstalt konnte Ingeborg Bachmann 1945 mit dem Studium von Germanistik und Philosophie beginnen, das sie 1950 in Wien mit einer Dissertation über Martin Heideggers Philosophie abschloß. Zur gleichen Zeit bewegte sie sich in der Wiener Literaturszene und hatte erste literarische Arbeiten veröffentlicht. Bereits 1948 war sie dem Dichter Paul Celan begegnet, der auf dem Weg nach Paris war: "Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben." Seit 1951 arbeitet sie als Rundfunkredakteurin; 1952 liest sie (wie Celan und Ilse Aichinger) auf einer Tagung der Gruppe 47; im Jahr darauf erhielt sie den Preis der Gruppe und lebt künftig als freie Schriftstellerin. Obgleich sie Essays über Ludwig Wittgenstein und Robert Musil publiziert und auch Hörspiele verfasst, wird zunächst vor allem ihre Lyrik wahrgenommen und zwar auf eine Art, die sie selbst als verharmlosend empfindet. Bereits ihr erster Gedichtband Die gestundete Zeit (1953) hatte das Verhältnis von Mensch und Natur problematisiert und war thematisch von den kollektiven Ängsten der Zeit (insbesondere vor einem erneuten Atomkrieg) geprägt. Ähnlich wie Günter Eich und andere Generationsgenossen proklamiert sie die 'nonkonformistischen' Tugenden der Verweigerung und der "Flucht von den Fahnen". Auch in den Erzählungen des Bandes Das dreißigste Jahr (1961) wird eine politische Tiefendimension deutlich; das Nachleben des Faschismus - gerade auch in der selbsterlebten österreichischen Ausprägung - ist für Bachmann ebenso ein Dauerthema wie für ihre deutschen Kollegen aus der Gruppe 47, etwa Heinrich Böll oder Günter Grass. Im Alter von dreiunddreißig Jahren nutzt Ingeborg Bachmann 1959/60 die Gelegenheit der Frankfurter Poetik-Vorlesung zu einem kritischen Rückblick auf die ersten Erfolge; zugleich plädiert sie kenntnisreich für die Wiederaneignung der europäischen Moderne; 1964 hält sie eine engagierte Dankrede für den GeorgBüchner-Preis. Dennoch markieren die frühen sechziger Jahre eine Schaffenskrise; eine spannungsvolle Beziehung zu Max Frisch zerbricht 1962 danach lebt Bachmann in Berlin und Rom. 1968 wird sie mit dem Großen Österreichischen Staatspreis ausgezeichnet. 1971 erschien der Roman Malina, Teil des unvollendeten Romanzyklus Todesarten, der die Unterdrückung und Ausbeutung der gesellschaftlich
Schwachen dokumentieren und besonders auch spezifisch weibliche Wahrnehmungsweisen und Leidens-Erfahrungen thematisieren sollte. Vor allem dieser Aspekt, der in Malina thematisch zentral und strukturbestimmend ist, hat das von der Kritik zunächst mit Unverständnis bewertete Buch zum Bestseller und zu einem Zentraltext der feministischen Literatur werden lassen. Ingeborg Bachmann, die 1973 an den Folgen eines Brandunfalls verstirbt, gilt heute zweifellos als die wichtigste deutschsprachige Autorin der Nachkriegszeit. ©JZ
Wichtige Schriften: ❍ ❍
C. Koschel (Hg.): Werke, 4 Bände, München u.a. 1978. I. Bachmann: "Todesarten"-Projekt. Kritische Ausgabe, 4 Bände, München u.a. 1995.
Sekundärliteratur: 1. K. Bartsch: Ingeborg Bachmann, Stuttgart u.a. 1997. 2. H. Höller: Ingeborg Bachmann, Reinbek bei Hamburg 1999. 3. S. Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaft unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien 1999.
6. Gattungen und Textstrukturen II: Lyrik 1. Grundbegriffe der Metrik Metrum Vers ● ● ● ● ● ●
Alexandriner Blankvers Elfsilbler Knittelvers Hexameter Pentameter
Strophe ● ● ●
Chevy-Chase-Strophe Distichon Ode ❍ ❍ ❍
● ● ●
Alkäische Odenstrophe Asklepiadeische Odenstrophe Sapphische Odenstrophe
Stanze Terzine Volksliedstrophe
2. Weitere Strukturelemente der Lyrik Rhythmus Reim Enjambement Syntagma Zäsur 3. Gedichtformen
Ballade Sonett Freie Rhythmen 4. Zur Theorie der Lyrik 4.1 Barock Martin Opitz: "Buch von der Deutschen Poeterey" (zur Lyrik) 4.2 Aufklärung und Idealismus Johann Gottfried Herder: "Fragmente einer Abhandlung über die Ode" Georg Wilhelm Friedrich Hegel: "Vorlesungen über die Ästhetik" (zur Lyrik) 4.3 Das 20. Jahrhundert Bertolt Brecht: "Die Lyrik als Ausdruck" Emil Staiger: "Grundbegriffe der Poetik" (zur Lyrik) Gottfried Benn: "Probleme der Lyrik" Theodor W. Adorno: "Rede über Lyrik und Gesellschaft" 5. Erwähnte Autoren und literarische Texte
Francesco Petrarca Martin Luther Joachim du Bellay Luis de Camoes Pierre de Ronsard Andreas Gryphius Friedrich Gottlieb Klopstock Johann Wolfgang Goethe Friedrich Schiller Friedrich Hölderlin Eduard Mörike Gottfried Benn Johannes R. Becher Bertolt Brecht Günter Eich Paul Celan Ernst Jandl Robert Gernhardt
Denotation und Konnotation
Die beiden Begriffe wurden von dem Sprachwissenschaftler L. Hjelmslev eingeführt und dienen der Unterscheidung von Haupt- und Nebenbedeutung eines Zeichens.
Hans Magnus Enzensberger
* 11.11.1929, Kaufbeuren / Allgäu Lyriker, Essayist, Herausgeber und Übersetzer Als Gedichte eines "zornigen jungen Mannes" hat Alfred Andersch das LyrikDebüt Hans Magnus Enzenbergers verteidigung der wölfe (1957) gefeiert. 1963 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet, ist Enzensberger schon in jungen Jahren eine feste Größe, ja ein Klassiker der westdeutschen Nachkriegsliteratur geworden. Häufig will man sein Markenzeichen darin sehen, daß er keines besitzt, und sich allen dauerhaften Zuschreibungen entzieht. Tatsächlich fällt es schwer, aus der Fülle seiner schriftstellerischen Produktion einen 'gemeinsamen poetischen Nenner' zu bilden. Enzensberger ist zum Inbegriff literarischer Vielfältigkeit geworden: In erster Linie Lyriker und Essayist, hat er ebenso erzählende Prosa und Dramatik geschrieben, Hörspiele, Opernlibretti, Kinderbücher und Filmdrehbücher verfaßt. Der promovierte Literaturwissenschaftler ist ein Reisender auf vielen Kontinenten und einer der profiliertesten literarischen Übersetzer aus mehreren Sprachen. Er hat als Lektor beim Suhrkamp Verlag und Radioredakteur gearbeitet, ist Herausgeber der Buchreihe Die Andere Bibliothek (seit 1985) und Begründer der renommierter Zeitschriften Kursbuch (1965) und TransAtlantik (1980). Verbunden sind diese weitgefächerten Aktivitäten durch das Bestreben nach politischem und poetischem Nonkonformismus. Hierin erweist sich Enzensberger dann doch als ein 'typischer' Vertreter der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur. Wie seinen Generationsgenossen und Schriftstellerkollegen in der Gruppe 47 - etwa Günter Grass oder Heinrich Böll - ist ihm die Dissidenz, das Ausscheren aus der Phalanx der Meinungsblöcke oft oberstes Gebot gewesen. Die Haltung des Nonkonformismus entstand in Auseinandersetzung mit der Restaurationsära unter Konrad Adenauer. Enzensbergers Formel für die westdeutsche Wirtschaftswunderwelt der fünfziger Jahre lautete: "musterland, mördergrube". Von der verbreiteten Naturbeschwörung in der Nachkriegslyrik waren seine ersten Gedichte ebenso weit entfernt wie vom Ausschreiben der lyrischen Traditionslinien Bertolt Brechts und Gottfried Benns. Enzensbergers Poetik schöpfte schon früh aus einem sehr viel weiter gefaßten Traditionsrahmen, der auch die Experimente der europäischen Avantgarden mit einbezog. Die von ihm herausgegebene Anthologie Museum der modernen Poesie (1960) kann einen Eindruck davon vermitteln. Die zweite Hälfte der sechziger Jahre mit ihrer 'Politisierung' der Literatur steht
für Enzensberger ganz im Zeichen der Essayistik, die das Projekt einer "politischen Alphabetisierung Deutschlands" verfolgt. Im Kursbuch erscheinen zahlreiche Texte, die sich mit medien- und sprachkritischen Fragen beschäftigen und vor allem die Funktion der Literatur in einem sich wandelnden gesellschaftlichen Umfeld zur Disposition stellen. Seit seiner bekanntesten Intervention Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend geht Enzensberger der Ruf nach, er habe im Kursbuch 15 von 1968 den "Tod der Literatur" ausgerufen. Allerdings hatte er lediglich die gesellschaftliche Folgenlosigkeit der zeitgenössischen Kunstproduktion konstatiert und von einem notwendigen Funktionswandel der Literatur gesprochen. Das Verhältnis von Literatur und Politik, Dichtung und Engagement ist beständiger Gegenstand seines Nachdenkens geblieben. Die Texte der siebziger Jahre reflektieren den langen Abschied von der gesellschaftlichen Utopie. Während das Dokumentarstück Das Verhör von Habana (1970) und der Roman Der kurze Sommer der Anarchie (1972) noch nach der verschütteten revolutionären Glut fahnden, rückt in dem Poem Der Untergang der Titanic (1978) die Frage in den Mittelpunkt: Wie kann dem Scheitern, der Katastrophe mit den Mitteln der Kunst begegnet werden? Doch Enzensberger verfällt nicht der resignativen Geschichtsvergessenheit jenes Jahrzehnts der sogenannten 'Neuen Subjektivität'. Auch seine Lyrik dieser Zeit (Mausoleum, 1975) hebt sich mit dem Gestus des Lehrgedichts - ohne didaktischen Impetus - deutlich von der Alltags- und Ichversessenheit der zeitgenössischen lyrischen Produktion ab. Im darauffolgenden Jahrzehnt erscheinen die wichtigen Essaysammlungen Politische Brosamen (1982) und Mittelmaß und Wahn (1988). Enzensberger erweist sich in ihnen einmal mehr als ein feinsinniger Kommentator der literarischen Lage und der politischen Realität kurz vor der deutschen Wiedervereinigung. Er beobachtet das Ende der Gesellschaftskritik in ihrer traditionellen Form und ein Ankommen in der 'Normalität', ohne in ihr Beruhigung zu finden. Auch nach dem historischen Einschnitt der Wiedervereinigung ist Enzensberger von der kulturpolitischen Bühne nicht wegzudenken. In den letzten Jahren tritt die Reflexion über das eigene Leben und Werk immer stärker in den Vordergrund. Enzensberger inszeniert sich in vielerlei Gewändern. In den Büchern über andere Autoren und Werke (wie Denis Diderot und Clemens Brentano) ist das eigene immer mit gemeint. Wenn auch der Zorn des jungen Mannes gealtert sein mag, seine Ironie und die listige Vernunft des Aufklärers bleiben jung. Deswegen trifft die Gedichtzeile, die Ralf Zöller im Jahr 2000 für seinen Enzensberger-Film wählte, noch immer ins Zentrum: "Ich bin keiner von uns". © SR
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
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verteidigung der wölfe. Gedichte, 1957 landessprache. Gedichte, 1960 blindenschrift. Gedichte, 1964 Einzelheiten. Essays, 1962 Das Verhör von Habana, 1970 Der kurze Sommer der Anarchie. Roman, 1972 Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, 1975 Der Untergang der Titanic. Eine Komödie, 1978 Die Furie des Verschwindens. Gedichte, 1980 Politische Brosamen, 1982 Ach Europa! Wahrnehmungen aus sieben Ländern. Mit einem Epilog aus dem Jahre 2006, 1987 Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, 1988 Zukunftsmusik. Gedichte, 1991 Leichter als Luft. Moralische Gedichte, 1999 zahlreiche Übersetzungen (u.a. Pablo Neruda, Octavio Paz, Lars Gustafsson)
Sekundärliteratur: 1. R. Grimm (Hg.): Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1984. 2. J. Lau: Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben, Berlin 1999. 3. R. Wieland (Hg.): Der Zorn altert, die Ironie ist unsterblich. Über Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1999.
Günter Grass
* 16. 10. 1927, Danzig Erzähler und Essayist, Zeichner und Bildhauer Gemessen an der öffentlichen Wirksamkeit ist Grass nicht nur wichtigster Repräsentant einer 'zweiten'Generation in der Literatur der Bundesrepublik, sondern - neben Heinrich Böll - deren bedeutendster Autor. Auch bei ihm macht die erzählerische Aufarbeitung sozialer Milieus und zeittypischer Erfahrungen in Form des Romans den Grundstock seines Werkes aus. Die Herkunft aus dem katholisch geprägten Danziger Kleinbürgertum und die dort verlebte Kindheit prägen seine Erzählwelt regional und soziologisch. Jugendjahre im Dritten Reich, Erfahrungen als Luftwaffenhelfer und Soldat (Verwundung 1945) hinterließen nachhaltige Spuren. - Zur Grundhaltung des kritischen Pragmatismus trat dauerhaft die Betonung des Handwerklichen in der Kunst, die in entscheidenden Teilen aus der Steinmetzlehre und dem Studium von Malerei und Bildhauerei (seit 1947) abzuleiten ist. Mit dem Roman Die Blechtrommel gelang dem in Paris lebenden Grass 1959 ein Sensationserfolg, der den Durchbruch der westdeutschen Nachkriegsliteratur auf dem internationalen Markt belegte. In der Bundesrepublik zog er sich durch die Blechtrommel allerdings auch den Vorwurf der Blasphemie und Pornographie zu. Das gleichwohl andauernde Leserinteresse und der Welterfolg der Verfilmung (Regie: Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta, 1979) machten die Zugehörigkeit dieses Werkes zur Weltliteratur sichtbar. Anhand der Lebensgeschichte des 'Blechtrommlers' Oskar Mazerath wird darin, präzise und grotesk zugleich, ein Doppelbild von Nazi- und Nachkriegszeit gezeichnet. Fabulierlust und Sprachphantasie verbinden sich mit dem entlarvenden Blick für historische Situationen und Verhaltensweisen. Das gilt fast ebenso für die aus dem Blechtrommel-Komplex herausgelöste Novelle Katz und Maus (1961) und den Roman Hundejahre (1963): drei Bücher des Protests gegen Massensuggestion, Kriegswahn und Vergangenheitsverleugnung, die Grass nachträglich zu einer 'Danziger Trilogie' zusammenfaßte. Der darin spürbare anti-ideologische Affekt brachte Grass in den sechziger Jahren in Gegensatz zur Studentenbewegung. In Drama (Die Plebejer proben den Aufstand, 1966), Roman (Örtlich betäubt, 1969) und dem fiktionalisierten Tagebuch einer Schnecke, (1972) setzte er sich polemisch abgrenzend mit radikalen Konzepten der Linken auseinander; gleichzeitig engagierte er sich während der gesamten sechziger Jahre als Wahlkämpfer für die 'ES-PE-DE' und Willy Brandt.
In den siebziger und achtziger Jahren kehrte Grass zu seiner erzählerischen Grundsituation zurück, zum Ich-Erzähler, der sich erinnernd und fabulierend seiner Vergangenheit und Gegenwart versichert. Er erweitert dieses Modell jedoch erheblich: Im Roman Der Butt (1977) wird dieser Zeitraum gattungsgeschichtlich bis in die frühe Steinzeit ausgeweitet. Ein weiterer großangelegter Roman, Die Rättin (1986), entwirft einen apokalyptischen Zukunftshorizont für die Gattung Mensch und versucht, das Erzählen radikal an gegenwärtige Ängste heranzuführen. - Mit dem Roman Ein weites Feld (1995), der ironisch aktualisierend mit der Figur des preußischen Romanciers Theodor Fontane spielt, aber auch mit seinen kritischen, ja erbitterten Kommentaren zu den Prozeduren der deutschen Wiedervereinigung löste Grass wieder einmal heftige öffentliche Kontroversen aus. Zur Überraschung der deutschen Öffentlichkeit wie auch des Autors selbst wurde er im Jahr 1999 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, was allgemein als Anerkennung sowohl seines Erzählwerks wie auch seiner Rolle als politischer Intellektueller verstanden wurde. ©JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
Die Blechtrommel (1959). Über das Selbstverständliche (1969). Der Butt (1977). Die Rättin (1986). Ein weites Feld (1995). Der Schriftsteller als Zeitgenosse (1996). Der Autor als fragwürdiger Zeuge (1997) .
Sekundärliteratur: 1. D. Stolz: Günter Grass zur Einführung, Hamburg 1999. 2. V. Neuhaus: Günter Grass, 2. überar. und erw. Aufl., Stuttgart 1993. 3. H. Vormweg: Günter Grass. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 4. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1998.
Heinrich Böll
* 21.12.1917, Köln † 16.07.1985, Bornheim-Merten Erzähler und Essayist Im Rückblick darf der Kölner Heinrich Böll als der repräsentative Autor der westdeutschen Nachkriegsliteratur und der prominenteste literarische Intellektuelle der sogenannten 'Rheinischen' oder 'Bonner' Republik, also der Bundesrepublik vor 1989 gelten. Verschiedentlich hat man sein erzählerisches und publizistisches Werk als einen "fortlaufenden Kommentar" zu deren Geschichte charakterisiert. Dies lässt sich damit erklären, dass Böll grundsätzlich eine realistische, teils sentimental, teils ironisch eingetönte Schreibweise pflegte und seine Kurzgeschichten, Novellen und Romane als literarische Verarbeitung von zeitgeschichtlich bedingten, generationstypischen Erfahrungen anlegte. Böll selbst hat als Ausgangspunkte seines Schreibens die (biographische, regionale, zeithistorische) "Gebundenheit" und als Zielperspektive die aktualisierende "Fortschreibung" bestimmter Themen und Probleme benannt. Wie sehr ihm das gelang, haben nach anfänglicher Umstrittenheit nicht nur sein Erfolg beim Lesepublikum, sondern auch die wachsende Wertschätzung des politischen Publizisten und Menschenrechtlers Böll gezeigt. Äußerer Ausdruck dieser Geltung waren Funktionen wie der Vorsitz des Verbandes deutscher Schriftsteller und des Internationalen PEN (1971-74) und Auszeichnungen wie der GeorgBüchner-Preis (1967) und der Nobelpreis für Literatur (1972). Böll hatte schon vor und im Zweiten Weltkrieg mit literarischem Anspruch geschrieben, konnte aber erst ab 1946/7 publizieren. Seine frühen Kurzgeschichten (Wanderer, kommst du nach Spa...) und ersten Romanversuche (Wo warst Du, Adam?) versuchen die katastrophischen Erfahrungen von Krieg und Nachkriegszeit und die Suche nach Überlebensstrategien in eine lakonische Erzählsprache umzusetzen; später gelten sie als exemplarisch für die sogenannte 'Trümmerliteratur'. In den Romanen der fünfziger und frühen sechziger Jahre suchen Bölls sympathisch-durchschnittliche Anti-Helden nach Möglichkeiten des 'richtigen Lebens' in einer Gesellschaft, die von Konsumzwängen, Bürokratie, kirchenamtlicher Scheinheiligkeit und der Last einer kollektiv verschwiegenen Nazi-Vergangenheit geprägt war. Diese Problematik bestimmt den ein wenig artifiziell konstruierten Familienroman Billard um halbzehn (1959) wie den Monologroman Ansichten eines Clowns (1963), den man als "Generalabrechnung mit dem CDU-Staat" charakterisiert hat. Während der Erzähler Böll für längere Zeit verstummt, wächst die Produktivität des Essayisten und Publizisten Böll, der sich sehr persönlich und engagiert nicht nur zu spezifisch literarischen, sondern auch zu allgemein kulturellen und aktuell
politischen Themen äußert und manch eine öffentliche Kontroverse provoziert. Den gesellschaftlichen Umbruch, der mit der Chiffre "1968" bezeichnet wird, begleitet Böll mit distanzierter Sympathie, wie an den Novellen Ende einer Dienstfahrt (1966) und Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) sowie an dem Roman Gruppenbild mit Dame (1972) abzulesen ist, der zumeist als Bölls wichtigster und ästhetisch geglücktester Roman bewertet wird. In den frühen siebziger Jahren geriet Böll aufgrund politischer Stellungnahmen, die zur differenzierten Bewertung besonders des 'linken' Terrorismus jener Jahre mahnte, selbst ins Zentrum politisch-publizistischer Kontroversen. Eine unzweifelhafte Verdüsterung und Erstarrung prägt seine letzten 'politischen' Romane; zugleich gewinnt seine Publizistik eine neue Dimension aus der bewussten Rückwendung auf die erlebte und erinnerte Vergangenheit, etwa in der autobiographischen Skizze Was soll aus dem Jungen bloß werden? (1981). Heinrich Böll war kein Avantgardist oder Jahrhundertautor; seine Geschichten blieben sprachlich wie thematisch stets nahe an der Geschichte, an der Alltagsund Erfahrungswelt seiner Leser und Leserinnen, denen er Muster für die Deutung und Verarbeitung kollektiver Erfahrungen anbot. Das hat seinen Erfolg beim Publikum und die weit übers Literarische hinausgehende Wertschätzung seiner Person begründet; auf der anderen Seite wirft diese Zeit-"Gebundenheit" auch die Frage auf, ob und wie das Werk Heinrich Bölls auch heutige und künftige Lesergenerationen noch ansprechen und provozieren kann. ©JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍
B. Balzer (Hg.): Werke, 10 Bände, Köln 1978. Werke in Einzelausgaben im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv): 1. "Hierzulande. Aufsätze zur Zeit. München 1963. (=dtv sonderreihe 5311). 2. "Als der Krieg ausbrach. Erzählungen". München 1965. (=dtv 339). 3. "Das Heinrich-Böll-Lesebuch". Hg. von Viktor Böll. München 1982. (=dtv 10031). 4. "In eigener und anderer Sache. Schriften und Reden 1952-1985". Kassette mit 9 Bänden. München 1987. (=dtv 5962). 5. "Heinrich Böll zum Wiederlesen". München 1989. (=dtv großdruck 25023).
Sekundärliteratur: 1. W. Bellmann (Hg.): Heinrich Böll - Romane und Erzählungen, Stuttgart 2000.
2. J. H. Reid: Heinrich Böll. Ein Zeuge seiner Zeit, München 1991. 3. J. Vogt: Heinrich Böll, München 1987.
Gottfried Benn
* 02.05. 1886, Mansfeld † 07.07. 1956, Berlin Dichter (Lyrik, Prosa, Essays) und praktischer Arzt "Ach, vergeblich das Reisen", - wenn solche Benn-Zitate auch der jüngeren Generation bisweilen noch über die Lippen kommen, dürfte dies wohl ein (ironisch gebrochener) Reflex der ungebrochenen Benn-Begeisterung ihrer Eltergeneration aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sein. Und wie immer bei großen Dichtern (zu denen Gottfried Benn 'trotz allem' gehört) macht es Sinn zu fragen, welche Seiten von Biografie oder Werk auf dem Weg zum Ruhm vergessen, verschwiegen oder verloren wurden (werden mußten). Denn es ist schon erstaunlich, dass dieser Nihilist und Bürgerschreck des Jahres 1911, der Sensationsautor des Frühexpressionismus (immerhin neben Georg Heym oder Georg Trakl), der sich in der Weimarer Republik als radikalungemütlicher Konservativer neu zu positionieren suchte und dann (wenn auch nur für kurze Zeit) mit der NSDAP sympathisierte, zum weithin akzeptierten und zitierten Klassiker der frühen Bundesrepublik, von den späten vierziger bis zu den frühen sechziger Jahren, werden konnte. Tatsächlich hat Benn mit den Nationalsozialisten nicht nur sympathisiert, sondern sich rückhaltlos zu ihnen bekannt und Texte verfasst, über die humanistische Zeitgenossen je nach Temperament buchstäblich schäumten - oder weinten. Nach der unvermeidbaren Enttäuschung durch die Pöbelnazis verstand Benn sich als "Innerer Emigrant" und konservierte diese Haltung auch nach 1945 - und gerade damit, das heißt im Ausblenden oder "kommunikativen Beschweigen" (wie man später sagte) der eigenen Vergangenheit und Verstrickung paßte er prächtig in die Adenauer-Zeit hinein, die im Großen und Ganzen dasselbe tat. Unverwechselbar und unwandelbar war er wohl nur in der Zuneigung zu seiner Stadt Berlin und "Würzburger Hofbräu zwei..." heute noch - ihren Kneipen. Grundlage von Benns 'zweitem Ruhm' war der Lyrikband Statische Gedichte (1947) sowie die Rede Probleme der Lyrik (1951) die gern als eine horazische Ars poetica der Bundesrepublik bezeichnet wurde. Vor allem das einflussreiche Buch des Romanisten Hugo Friedrich zur Struktur der modernen Lyrik (seit 1956 in mehreren hunderttausend Exemplaren verbreitet) kanonisierte Benns späte Modernität. Hinzu kam, daß man Benns Texte als Gegenentwürfe zu den Werken und zur Poetologie von Bertolt Brecht lesen konnte, mit dem er seit den zwanziger Jahren in gepflegter Feindschaft verbunden war; also: "Abendland" gegen "Bolschewismus", "Kunst" gegen "Politik".
Was zeigt der Blick zurück? Gemessen an der Experimentierfreudigkeit der (bis heute unterschätzten) Bennschen Prosa (die sogenannten "Rönne"-Geschichten, ab 1916, oder Roman des Phänotyp, 1947) verblassen die Gedichte der späten Phase. Und die frühexpressionistischen Großstadt-Gedichte der ersten Sammlung Morgue (1912), verfasst zu einer Zeit, als es möglich schien, der Lyrik und der Literatur überhaupt eine ganz neue Richtung zu geben, haben bis heute eine einmalige Schärfe bewahrt. Im diffusen Licht der Postmoderne erscheint der Verfasser von "zwei Selbstdarstellungen" mit dem bezeichnenden Titel Doppelleben (1950) in einer angemessen doppelten oder auch paradoxen Rolle: als ein Wegbereiter der klassischen Moderne vor dem Ersten und als nachholender oder eher noch bremsender Spätmodernist nach dem Zweiten Weltkrieg. © HR
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
Morgue und andere Gedichte (1912) Gehirne (1915), auch bekannt als Rönne-Komplex Statische Gedichte (1947) Probleme der Lyrik (1951) Doppelleben. Zwei Selbstdarstellungen (1950)
Sekundärliteratur: 1. H. Brode: Benn-Chronik. Daten zu Leben und Werk, München 1978. 2. H. Ridley: Gottfried Benn. Ein Schriftsteller zwischen Erneuerung und Reaktion, Opladen 1990. 3. H. Steinhagen (Hg.): Gedichte von Gottfried Benn - Interpretationen, Stuttgart 1997.
Klassik lat. classicus: erstrangig, mustergültig
Der Begriff Klassik wird allgemein für geistesgeschichtliche Epochen verwendet, die rückblickend als vorbildlich und normbildend bewertet werden. Demzufolge besitzen die verschiedenen Nationalliteraturen ihre je eigene klassische Periode. Wird in Italien das 14. Jahrhundert, das "Trecento", mit Dante Alighieri, Giovanni Boccaccio und Francesco Petrarca als klassisch angesehen, so gilt in Frankreich das 17. Jahrhundert mit Autoren wie Racine, Corneille und Molière als das "siècle classique". In Spanien ist es die Zeit des 16./17. Jahrhundert, die mit Miguel de Cervantes und Calderon der la Barca als "siglo de oro" bezeichnet wird. In der deutschen Literatur meint der Begriff "Weimarer Klassik" in einem engeren Sinne die Freundschaft und gemeinsame Schaffensperiode von Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller zwischen 1794 bis 1805. Im Zentrum des klassischen Kunstkonzepts steht das Streben nach harmonischem Ausgleich der Gegensätze. Unter Anlehnung an das antike Kunstideal wird nach Vollkommenheit und der Übereinstimmung von Inhalt und Form gesucht. Wo Goethe in der Natur ein Modell für den universalen Zusammenhang aller Erscheinungen suchte, wurde für Schiller die Geschichte zum wichtigsten Bezugspunkt. Die poetischen Konzepte der Klassik sind durch die Idee geprägt, die Kunst schaffe sich ein autonomes Universum mit einer eigenen Wirklichkeit. Diese Idee von der Autonomie der Kunst ist mit einem außerordentlich hochentwickelten Formbewußtsein verbunden. In theoretischen Schriften bemühten sich beide Autoren um die Begründung ihres klassischen Kunstideals (u.a. Schillers über naive und sentimentalische Dichtkunst von 1795/96 und Goethes Aufsatz Literarischer Sansculottismus von 1795). Als beispielhafte Werke der Weimarer Klassik gelten Schillers Dramen Don Carlos (1787), seine Wallenstein-Trilogie (1798/99) oder Wilhelm Tell (1804). Im sogenannten "Balladenjahr" 1797 verfaßten Goethe und er eine Reihe wichtiger Texte (Der Taucher, Der Handschuh, Die Kraniche des Ibykus, Der Zauberlehrling). Zu den klassischen Dichtungen Goethes zählen seine Dramen Iphigenie auf Tauris (1787), Hermann und Dorothea (1798) und Faust I (1808). Auf dem Gebiet der Lyrik sind die Römischen Elegien (1788-90) und die Venetianischen Epigramme (1796) zu nennen. In der Epik wurde Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) zum einflußreichen Modell des deutschen Bildungsromans.
Wenn nur das Schaffen von Goethe und Schiller als die klassische Periode der deutschen Literatur betrachtet wird, findet natürlich eine starke Einengung des Blickfeldes und der Ausschluß anderer Autoren statt. Zumindest dürfen wichtige Vorläufer aus der Aufklärung und dem Sturm und Drang (v.a. Gotthold Eprahm Lessing, Christoph Martin Wieland, Johann Gottfried Herder) nicht vergessen werden. ©
SR
Sekundärliteratur: 1. A. Borchmeyer: Weimarer Klassik. Porträt einer Epoche, Weinheim 1998. 2. H.O. Burger (Hg.): Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen, Darmstadt 1972. 3. W. Vosskamp (Hg.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken, Stuttgart 1993.
10. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte 1. Grundbegriffe der Literaturgeschichtsschreibung Epoche Gattung Kanon 2. Schulen und Tendenzen der deutschen Literaturgeschichte 2.1 Geschichtsphilosophische Orientierung Johann Gottfried Herder: "Fragmente einer Abhandlung über die Ode" Georg Wilhelm Friedrich Hegel: "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" "Vorlesungen über die Ästhetik" Friedrich Schlegel: "Über das Studium der griechischen Poesie" 2.2 Vom liberalen Nationalismus zum Chauvinismus Georg Gottfried Gervinus: "Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen" August Friedrich Christian Vilmar: "Geschichte der deutschen Nationalliteratur" Adolf Bartels: "Geschichte der deutschen Literatur" Joseph Nadler: "Literaturgeschichte des deutschen Volkes" 2.3 Positivismus, Geistesgeschichte, Stilkritik
Wilhelm Scherer Wilhelm Dilthey Erich Auerbach 2.4 Sozialgeschichte der Literatur Arnold Hauser Rolf Grimminger
3. Epochen der Literaturgeschichte Renaissance Humanismus Reformation Barock Aufklärung Empfindsamkeit Sturm und Drang Klassik Französische Klassik Romantik Biedermeierzeit Vormärz Realismus Naturalismus Jahrhundertwende Expressionismus Neue Sachlichkeit Völkisch-nationale Literatur Exilliteratur Nachkriegsliteratur Gegenwartsliteratur
4. Erwähnte Autoren und literarische Texte
Homer: Ilias Odyssee Francesco Petrarca Dante, Alighieri William Shakespeare Martin Opitz Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote Andreas Gryphius Pierre Corneille Jean-Baptiste Molière Jean Racine Johann Wolfgang Goethe Heinrich Heine Virginia Woolf Franz Kafka Anna Seghers
5. Neuere Literaturgeschichten – eine pragmatische Auswahl 6. Texte zur Diskussion Heinrich Heine im Spiegel der Literaturgeschichte
Johann Wolfgang Goethe: Zum Shakespeares-Tag (1772)
Goethe hielt diese Rede zum Shakespeares-Tag am 14. Oktober 1771 in seinem Frankfurter Elternhaus anläßlich der ersten deutschen Shakespeare-Feier. Die Begegnung mit Shakespeares Werk wird von Goethe als ein Erweckungserlebnis beschrieben: "Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich auf zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborener, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu, unbekannt, und das ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen. Nach und nach lernt‘ ich sehen, und, Dank sei meinem erkenntlichen Genius, ich fühle noch immer lebhaft, was ich gewonnen habe." (S. 224f.) Das Skakespeare-Theater wird von der damaligen Generation als etwas vollkommen Neues begriffen. Im Anschluß daran bricht Goethe mit jeder Regelpoetik, vor allem mit den drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung. Eine Vorschrift, die Gottsched noch 1730 in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen hochgehalten hat. Goethe fährt fort: "Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wieviel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wieviel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte, ihre Türme zusammenzuschlagen." An dieser Stelle macht Goethe deutlich, daß es keine überzeitlichen Regeln für die Produktion von Dramen gibt. War die griechische Tragödie in der Antike eine angemessene Form, um die Gesellschaft zu ihrem Ausdruck zu bringen, wird sie – von den Franzosen im 17. Jahrhundert kopiert – zur Parodie ihrer selbst. "Und in was für Seelen! Griechischen! Ich kann mich nicht erklären, was das heißt, aber ich fühl’s und berufe mich der Kürze halber auf Homer und Sophokles und Theokrit, die haben’s mich fühlen gelehrt.
Nun sag' ich geschwind hintendrein: Französchen, was willst du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu groß und zu schwer. Drum sind auch alle französischen Trauerspiele Parodien von sich selbst." (S. 224f.) In Abgrenzung zu Aufklärern wie Lessing bricht Goethe dann auch mit der Vorstellung, im Drama müsse so etwas wie vernunftgemäße Erkenntnisse und vernünftige Moral vermittelt werden. Für Goethe ist klar, daß die Vernunft allein nicht zur totalen Welterkenntnis führt, vielmehr sind es die Empfindungen eines genialen Individuums, die die Welt erschließen: "Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne! So ruft jeder, der sich fühlt." (S. 224) Dies Postulat sieht Goethe vorbildlich im Shakespeare-Theater verwirklicht. "Shakespeares Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt. Seine Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt." (S. 226) Der Dichter ist zu einer Welterkenntnis fähig, die dem nur mit dem Verstand arbeitenden Philosophen versagt bleibt. Der Dramatiker zeichnet jedoch nicht nur ein Bild der Welt, sondern das besondere Verhältnis des Einzelnen zu ihr. An dieser Stelle wird schon angedeutet, was das Drama noch lange thematisch bestimmen wird: der Konflikt des Individuums mit der Gesellschaft. ©rein
Johann Wolfgang von Goethe: Zum Shakespeare-Tag, in: ders.: Goethes Werke. Kunst und Literatur, Bd. 12, hg. v. Erich Trunz und Hans Joachim Schrimpf, München 1981.
Johann Gottfried Herder
* 25.08.1744, Mohrungen / Ostpreußen † 18.12.1803, Weimar Kulturphilosoph und Theologe Herder leitet die historische Entwicklung – und damit auch die Entwicklung der Literatur - aus den Bedingungen der Natur ab. In der Geschichte wie in der Natur bildet sich alles nach festen Gesetzen aus natürlichen Bedingungen. Das Gesetz des geschichtlichen Fortschritts basiert also auf einem Fortschrittsgesetz der Natur. So begründet Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) die 'Erfindung' der Lautsprache mit der notwendigen Kompensation der mangelhaften Instinktausrüstung des Tieres Mensch. In dieser Schöpfung von Sprache in Lautformen sieht er den Urgrund für die Bildung des Bewußtseins und für die Entwicklung geistigen Vermögens überhaupt. Der studierte Theologe verläßt damit die Bahnen eines auf Gottes Eingriffe ausgerichteten Weltbildes. Diese Denkweise beherrscht auch seine psychologischphilologischen Analysen der Lieder alter Völker, in denen er zeigt, warum diese Lieder eine bestimmte, vollständig aus dem anthropologischen Ursprung der Sprache und des Kollektivverhaltens geprägte Form annehmen mußten. Auch in seinem Shakespeare-Aufsatz versucht er in Analogie zu dem in seiner Sprachschrift analysierten Kontrast zwischen der eingeschränkten Instinktsphäre der Tiere und der erweiterten Sphäre der Menschen, die Unterschiede zwischen den Dichtungen Sophokles' und Shakespeares durch einen 'naturgegebenen' – wir würden wohl sagen: einen gesellschaftlich bedingten - Unterschied in der Lebensrealität zu erklären. Sophokles lebt in der eingeschränkten Welt der antiken Stadtrepublik, Shakespeares 'polis' hingegen ist die ganze Welt. Die Erweiterung seiner Lebenssphäre dient als Erklärung für die Abkehr von einer antiken, klassizistischen Regelpoetik. Für Herder ist Literatur damit eine Form von "Ethopöie", d.h. eine Schöpfung, die durch die Lebensumstände und den Entwicklungsgrad einer Kulturgemeinschaft erzeugt wird. Innerhalb der gesamteuropäischen wie der deutschen Aufklärung nimmt Herder damit eine deutlich markierte, eigenständige Position ein. Im Blick auf die deutsche Literaturentwicklung ist er vor allem als Anreger und Vordenker, ja als 'Vaterfigur' der Sturm-und-Drang-Bewegung wichtig; eine Rolle, die später auch von Goethe selbst herausgestellt wird. ©rein
Wichtige Schriften: ❍
Über den Ursprung der Sprache (1772)
❍ ❍ ❍ ❍
Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) Stimmen der Völker in Liedern (1778-1791) Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) Fragmente einer Abhandlung über eine Ode (1765)
Sekundärliteratur: 1. J. Rathmann: Zur Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders, Budapest 1978. 2. G. Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder (1744-1803), Heidelberg 1987. 3. R. Wisbert: Das Bildungsdenken des jungen Herder, Frankfurt/M. 1987.
Johann Wolfgang Goethe: Naturformen der Dichtung (1819)
Goethe hat seinem großen lyrischen Alterswerk, dem durch die persische Dichtung des Hafis angeregten West-Östlichen Divan (1819) einen umfangreichen Kommentar oder besser: eine kulturhistorische Erläuterung beigegeben, die Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des westöstlichen Divans. Darin sind unter den Stichworten Dichtarten und Naturformen der Dichtung einige Überlegungen enthalten, die sehr stark auf das allgemeine Dichtungsverständnis, aber auch auf die Poetik als literaturwissenschaftliche Disziplin eingewirkt haben. Zunächst reiht Goethe die Vielfalt der literarischen Gattungen alphabetisch, um dann einen Systematisierungsversuch zu wagen: "Allegorie, Ballade, Kantate, Drama, Elegie, Epigramm, Epistel, Epopöe, Erzählung, Fabel, Heroide, Idylle, Lehrgedicht, Ode, Parodie, Roman, Romanze, Satire. Wenn man vorgemeldete Dichtarten, die wir alphabetisch zusammengestellt, und noch mehrere dergleichen methodisch zu ordnen versuchen wollte, so würde man auf große, nicht leicht zu beseitigende Schwierigkeiten stoßen. Betrachtet man obige Rubriken genauer, so findet man, daß sie bald nach äußeren Kennzeichen, bald nach dem Inhalt, wenige aber einer wesentlichen Form nach benamst sind. Man bemerkt schnell, daß einige sich nebeneinanderstellen, andere sich andern unterordnen lassen. Zu Vergnügen und Genuß möchte jede wohl für sich bestehen und wirken, wenn man aber zu didaktischen oder historischen Zwecken einer rationelleren Anordnung bedürfte, so ist es wohl der Mühe wert, sich nach einer solchen umzusehen. Wir bringen daher folgendes der Prüfung dar. Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebilde hervor, wie wir an den schätzenswertesten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. Im älteren griechischen Trauerspiel sehen wir sie gleichfalls alle drei verbunden, und erst in einer gewissen Zeitfolge sondern sie sich. Solange der Chor die Hauptperson spielt, zeigt sich Lyrik obenan; wie der Chor mehr Zuschauer wird, treten die anderen hervor, und zuletzt, wo sich die Handlung persönlich und häuslich zusammenzieht, findet man den Chor unbequem und lästig. Im französischen Trauerspiel ist die Exposition episch, die Mitte dramatisch, und den fünften Akt, der leidenschaftlich und enthusiastisch ausläuft, kann man lyrisch nennen.
Das Homerische ist rein episch; der Rhapsode waltet immer vor, was sich ereignet erzählt er; niemand darf den Mund auftun, dem er nicht vorher das Wort verliehen, dessen Rede und Antwort er nicht angekündigt. Abgebrochene Wechselreden, die schönste Zierde des Dramas, sind nicht zulässig. Höre man aber nun den modernen Improvisator auf öffentlichem Markte, der einen geschichtlichen Gegenstand behandelt; er wird, um deutlich zu sein, erst erzählen, dann, um Interesse zu erregen, als handelnde Person sprechen, zuletzt enthusiastisch auflodern und die Gemüter hinreißen. So wunderlich sind diese Elemente zu verschlingen, die Dichtarten bis ins Unendliche mannigfaltig, und deshalb auch so schwer eine Ordnung zu finden, wornach man sie neben oder nach einander aufstellen könnte. Man wird sich aber einigermaßen dadurch helfen, daß man die drei Hauptelemente in einem Kreis gegen einander über stellt und sich Musterstücke sucht, wo jedes Element einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beispiele, die sich nach der einen oder anderen Seite hinneigen, bis endlich die Vereinigung von allen dreien erscheint und somit der ganze Kreis sich schließt." (S.187-189) Goethes Idee eines Typenkreises ist in der Literaturwissenschaft verschiedentlich aufgegriffen und modifiziert worden; für die allgemeine Gattungstheorie etwa im bekannten Kreisschema von Julius Petersen; für den Bereich der Epik etwa von Franz K. Stanzel. © JVund rein
Johann Wolfgang von Goethe: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Diwans, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd.2, München 1981, S.187-189.
Positivismus
Philosophie, die ihre Forschung auf das Positive, Tatsächliche, Wirkliche und Zweifellose beschränkt, sich allein auf Erfahrung beruft und jegliche Metaphysik als theoretisch unmöglich und praktisch nutzlos ablehnt. Der Positivismus geht zurück auf Auguste Comte (1798-1857). Er formulierte die philosophische Prämisse, daß als Basis für wissenschaftliche Erkenntnis nur Tatsachen zugelassen sind. Unter Tatsachen versteht er wirklich Gegebenes, das man objektiv erkennen kann. Diese wissenschaftliche Vorgehensweise hat ihren Zielpunkt in der Aufstellung von Theorien, Gesetzen und Hypothesen. Hier findet eine methodische Angleichung der Kultur- und Geisteswissenschaften an die Naturwissenschaften statt, zu deren rasantem Aufschwung im 19. Jahrhundert der Positivismus gewissermaßen die Leitideologie liefert. Hauptvertreter des literarischen Positivismus in Deutschland waren Wilhelm Scherer (1841-1886) und seine Schüler (Richard Heinzel, Richard Meyer, Franz Muncker, Erich Schmidt). Die von ihnen betriebene positive Literaturwissenschaft beschäftigte sich vornehmlich mit der Autorenbiographie, einzelnen literarischen Texten und deren Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Um eine positive Materialbasis für ihre Untersuchungen zu schaffen, entstanden im Umfeld dieser literaturwissenschaftlichen Methode historisch-kritische Texteditionen (Herder, Goethe, Schiller, Kleist), faktenreiche Dichterbiographien (F. Muncker, E. Schmidt, R. Haym, J. Minor) und Stoff- und Motivgeschichten. ©rein
Friedrich Hölderlin
* 20.03.1770, Lauffen am Neckar † 07.06.1843, Tübingen Lyriker, Romanautor, Dramatiker und Übersetzer Friedrich Hölderlins lyrisches Werk ist ein Höhepunkt deutscher Dichtkunst. Dennoch erschienen zu Lebzeiten seine Hymnen, Oden und Elegien, abgesehen von einem schmalen, 1826 von Gustav Schwab und Ludwig Uhland zusammengestellten Gedichtband, nur vereinzelt in Zeitschriften und Almanachen. Erst nach seinem Tode wurde versucht, aus den handschriftlichen Manuskripten gültige Fassungen zu transkribieren und in Buchform zu publizieren. Die frühesten Gedichte Hölderlins, entstanden während der Schulzeit im pietistischen Maulbronner Kloster (1786-1788), sind geprägt vom religiösemphatischen Ton der Hymnen Klopstocks. In seinen Studienjahren am Tübinger Stift (1788-1793, Kommilitonen des Theologiestudenten Hölderlin waren u.a. Hegel und Schelling) verfaßt er politisch-religiöse Hymnen, in denen er die Französische Revolution als eine Offenbarung des Göttlichen feiert. Formal orientiert Hölderlin seine in achtzeiligen Reimstrophen verfaßten "Hymnen an die Ideale der Menschheit" (Dilthey) an Schillers idealistischer Lyrik (Die Götter Griechenlands, 1788). In der Tübinger Zeit setzt Hölderlins intensive Beschäftigung mit der griechischen Antike ein. Griechenland wird im folgenden zum zentralen Topos seines gesamten Werkes, zur geschichtsphilosophischen Utopie, denn nicht das reale Griechenland, das Hölderlin nie besucht hat, ist gemeint. Griechenland steht vielmehr für die Sehnsucht nach einem von Harmonie, Freiheit und Schönheit bestimmten ganzheitlichen Leben ohne die moderne Vereinzelung des Individuums. In seinen ab 1797 entstandenen Oden und Elegien orientiert sich Hölderlin auch formal an der Antike: Seine Oden dichtet er nach den strengen asklepiadeischen und alkäischen Odenmaßen, in seinen Elegien benützt er das Distichon, das klassische elegische Versmaß. Inhaltlich evoziert er ein Spannungsverhältnis zwischen einem harmonischen griechischen Weltzustand und der von Göttern verlassenen Gegenwart. In der Elegie Brot und Wein (entstanden um 1800) heißt es: "Aber Freund! Wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter, / Aber über dem Haupt droben in anderer Welt." (VII, 1-2) In den Jahren um die Jahrhundertwende kreist nicht nur sein lyrisches, sondern auch sein dramatisches (das 1797-1800 entstandene Fragment Der Tod des Empedokles) und episches Werk (der Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland, 1797-1799) in zunehmend verschlüsselterer Sprache um die Polarität von Griechenland und Gegenwart. Dabei mischen sich in seine Texte immer stärker Enttäuschung über die eigene Dichtung und Zweifel an seiner
Rolle als 'Verkünder': "Und sag ich gleich, / Ich sei genaht, die Himmlischen zu schauen / Sie selbst, sie werfen mich tief unter die Lebenden / Den falschen Priester, ins Dunkel, daß ich / Das warnende Lied den Gelehrigen singe. Dort" (Ende des Gedichtes Wie wenn am Feiertage.). Ab 1802 entstehen Übersetzungen der Tragödien von Sophokles (Antigone und Ödipus), die Hölderlin als Dramen des Übergangs von der antiken zur modernen Welt interpretiert. In den Vaterländischen Gesängen seines sogenannten Spätwerks (bis 1806) verortet Hölderlin die ersehnte Erneuerung der Welt nicht länger in Griechenland, sondern in konkreten historischen und antiken Gestalten, vor allem aber in Christus als Botengestalt des Abendlandes. 1806 wurde Hölderlin als Geisteskranker in die Klinik Tübingens eingewiesen und im Jahr darauf als unheilbar entlassen; bis zu seinem Tode im Jahr 1843 lebte Hölderlin in einem umgebauten Stadtturm, gepflegt vom Tischler Zimmer. Die während dieser Zeit entstandenen Gedichte wurden lange als Werke eines geistig Umnachteten abgetan. Auffällig an ihnen ist Hölderlins Abkehr von den komplizierten Formen hin zu einer formelhaften Einfachheit (z.B. An Zimmern, 1812). Hölderlins Werk wurde von der zweiten Generation der Romantiker (Brentano, Schwab, Uhland) hoch geschätzt, geriet im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts aber mehr und mehr in Vergessenheit. Erst um die Jahrhundertwende besann man sich im Umkreis Stefan Georges - freilich in mystifizierender Weise - auf den "großen Seher für sein volk" (George). In der neueren deutschen Lyrik finden sich viele Beispiele einer produktiven Auseinandersetzung, so die mittlerweile zu modernen Klassikern gewordenen Gedichte Latrine (1948) von Günter Eich, Variation auf "Gesang des Deutschen" von Friedrich Hölderlin (1962) von Peter Rühmkorf, Hölderlin in Tübingen von Johannes Bobrowski und Tübingen, Jänner von Paul Celan. ©TvH
: Friedrich Hölderlin: Gedichte, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt/M. 1984. Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Hymnen, Oden und Elegien (1788-1806) Der Tod des Empedokles (entstanden 1797-1800) Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797-1799)
Sekundärliteratur: 1. J. Schmidt: Hölderlins letzte Hymnen, Tübingen 1970. 2. P. Szondi: Hölderlin-Studien, Frankfurt/M. 1970. 3. S. Wackwitz: Friedrich Hölderlin, Stuttgart 1985.
Ode griech.: Gesang
In der griechischen Antike war der Begriff Ode ursprünglich eine Sammelbezeichnung für alle strophische Dichtung, die mit Musikbegleitung vorgetragen wurde. Blickt man heute auf die antiken Oden im engeren Sinne, so unterscheidet man die Chorlieder beispielsweise Pindars vom lyrischen Einzelgesang der äolischen Lyriker Sappho und Alkaios. Sind die Oden Pindars in Thematik und Ton meist Lobesänge auf Helden und Sieger, so zeichnen sich die lyrischen Einzelgesänge eher durch Leichtigkeit und alltägliche und private Inhalte aus. Horaz übersetzte die Oden der griechischen Antike ins Lateinische, dichtete nach diesen Vorlagen eigene Oden und entwickelte neue Odenstrophen. In Deutschland ist es, nach einigen Versuchen im Barockzeitalter, vor allem Klopstock, der die antiken Odenmaße zur Grundlage seiner Dichtung macht. Die langen und kurzen Silben des Griechischen ersetzt er durch betonte bzw. unbetonte Silben und versucht im übrigen, so genau wie irgend möglich die antiken Strophenformen nachzuahmen. Der Ton der Klopstockschen Oden ist pathetisch und oft hymnisch. Hölderlin, der einige Jahrzehnte nach Klopstock Deutschlands zweiter großer Odendichter wird, behält die von seinem Vorgänger eingeschlagene hohe Tonlage dieser Form bei. Die antiken Strophenformen zeichnen sich im Gegensatz zu den meisten neueren Formen durch Reimlosigkeit aus. Auch sind die Verse nicht alternierend, sondern setzen einfache und doppelte Senkungen nach relativ strikten, für die einzelnen Verse jeder Strophenform verschiedenen Regeln ein. In der deutschen Lyrik sind vor allem drei antike Odenformen rezipiert worden: die nach der griechischen Dichterin Sappho (600 v. Chr.) benannte sapphische Odenstrophe, die von Sapphos Zeitgenossen Alkaios bevorzugte alkäische Odenstrophe und eine von Asklepediades (270 v. Chr.) entwickelte Strophenform, die als asklepiadeische Odenstrophe in die Literaturwissenschaft eingegangen ist. ©TvH
Sekundärliteratur: 1. K. Vietor: Geschichte der deutschen Ode, München 1923 (Nachdruck Darmstadt 1961).
Friedrich Gottlieb Klopstock
* 02.07.1724, Quedlinburg † 14.03.1803, Hamburg Epiker und Lyriker Klopstock ist einer der einflußreichsten und bedeutendsten deutschen Schriftsteller des 18. Jahrhunderts. 1724 als ältestes von siebzehn Kindern geboren, erwirbt der begabte Schüler auf einem Freiplatz im berühmten Internat Schulpforta eine gründliche humanistische Ausbildung. Ein Theologiestudium bricht er 1748, nach der Veröffentlichung der ersten drei Gesänge seines Messias, zugunsten einer Schriftstellerkarriere ab. Nachdem er sich zunächst zwei Jahre als Hofmeister verdingt, folgt er der Einladung des Schweizer Gelehrten Johann Jakob Bodmer nach Zürich, der ihm ein privates Stipendium zur Fertigstellung seines Werks anbietet. 1751 nimmt Klopstock eine Hofratsstelle in Kopenhagen an, die er wegen der großen persönlichen Freiräume zwanzig Jahre lang innehat. Erst 1770 geht Klopstock nach Hamburg und wird zum geistigen Mittelpunkt eines Dichterkreises, veröffentlicht 1774 seine Deutsche Gelehrtenrepublik, in der er die Befreiung der Dichter vom Zwang zum Broterwerb fordert, und bleibt, von einigen Reisen abgesehen, bis zu seinem Tod im Jahr 1803 in der Hansestadt. Mit seinem zwischen 1748 und 1773 veröffentlichten und zeitlebens überarbeiteten Heldengedicht Der Messias knüpft Klopstock an die antike Form des Epos an und stellt in zwanzig Gesängen und knapp 20 000 Versen Passion und Auferstehung Christi dar. Den Inhalt des Messias prägen jedoch weniger epische Schilderungen von Begebenheiten als vielmehr religiös-ekstatische, von der Tradition des Pietismus geprägte Verkündigungen der christlichen Botschaft: "Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung" (I, 1). Der Messias wurde wegen seiner Unanschaulichkeit schon von Zeitgenossen kritisiert; dem Erfolg des Buches tat das aber zunächst keinen Abbruch: Es wurde als religiöses Erbauungsbuch gelesen und übte auf zeitgenössische Dichter wegen seiner formalen und sprachlichen Gestaltung einen großen Einfluß aus. Klopstock lehnt sich an das epische Versmaß des Hexameters an, handhabt es jedoch frei. Den hohen Ton des Hexameters kombiniert er mit einer syntaktisch komplexen Rhetorik der Innerlichkeit und des Gefühls, um eine suggestive Wirkung zu erzielen: Das Lesen, vor allem aber das Hören des Messias sollte einem Erweckungserlebnis gleichen. Ähnlich wie im Messias besinnt sich Klopstock auch in seinem lyrischen Werk auf die antike Formtradition. Bereits 1748 beginnt er in Zeitschriften Oden zu publizieren. In Buchform erscheint seine Lyrik aber erst 1771: Hier gliedert er
die Gedichte der letzten 23 Jahre in drei Teile. Am Anfang stehen religiöse Hymnen, deren berühmteste das 1759 entstandene Gedicht Das Landleben (überarbeitet unter dem Titel Die Frühlingsfeier) ist, auf das sich Goethe im Werther bezieht. Für die komplizierte Form der antiken Hymne findet Klopstock eine kongeniale Entsprechung: Er verfaßt seine Hymnen in freien Rhythmen, die nicht metrisch, wohl aber im Ton hymnisch sind. Im zweiten Teil des Odenbuches stehen die früheren Freundschafts- und Liebesoden wie Der Zürchersee (1750), ein Dokument des empfindsamen Freundschaftskultes, und das Liebesgedicht An Fanny (1748), in dem der Dichter voller Todessehnsucht auf die Geliebte blickt, die seine Gefühle nicht erwidert. In seinen Oden folgt Klopstock dem antiken metrischen Schema, entwirft aber auch selbst neue Odenmaße. Dabei gelingt es ihm, Form und Inhalt zu einem lebendigen Ganzen zusammenzufügen. Die vaterländischen Gesänge im dritten Teil zeigen Klopstock als freiheitlich gesinnten Nationaldichter (Mein Vaterland, 1768). Vom politischen Interesse Klopstocks zeugen auch seine späteren Gedichte: Als einer von wenigen deutschen Dichter bekannte er sich begeistert zu den Idealen der Französischen Revolution: "Frankreich schuf sich frei. Des Jahrhunderts edelste Tat hub da sich zu dem Olympus empor!" (Kennet euch selbst, 1789). Klopstock hat die deutsche Dichtersprache erneuert und erweitert, indem er die antike Tradition produktiv machte. In der folgenden Dichtergeneration übernahm der junge Goethe u.a. in seinem Prometheus-Gedicht Klopstocks hymnische Form der freien Rhythmen. Mit seinen Oden wurde er zum Vorbild der Dichter des Göttinger Hainbundes; am nachhaltigsten jedoch war Klopstocks Einfluß auf die Oden und Hymnen Friedrich Hölderlins. ©TvH
Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias. Ein Heldengedicht, in: Ausgewählte Werke, hg. v. K. A. Schleiden, Bd. 1. Wiesbaden o. J., S. 195-770. Wichtige Schriften: ❍
❍ ❍
Der Messias. Ein Heldengedicht (1748: 1.-3. Gesang; 1780: 1.-20. Gesang) Oden (1771) Die Deutsche Gelehrtenrepublik. Ihre Einrichtung, ihre Geseze, Geschichte des lezten Landtags (1774)
Sekundärliteratur: 1. G. Kaiser: Klopstock. Religion und Dichtung, 2. Aufl., Kronberg im
Taunus 1975. 2. K. L. Schneider: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1960. 3. H. Zimmermann: Freiheit und Geschichte. Friedrich Gottlieb Klopstock als historischer Dichter und Denker, Heidelberg 1987.
Asklepiadeische Odenstrophe
Nach dem um 270 v. Chr. lebenden griechischen Dichter Asklepiades ist die asklepiadeische Odenstrophe benannt. Beispielhaft für diese Odenstrophenform ist Klopstocks Gedicht Der Zürchersee: "Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch einmal denkt." (S. 53) Das zugrundeliegende Schema der asklepiadeischen Odenstrophe sieht so aus: −∪−∪∪−/−∪∪−∪− −∪−∪∪−/−∪∪−∪− −∪−∪∪−∪ −∪−∪∪−∪− Alle vier Verse beginnen auftaktlos: dem trochäischen Versfuß folgt jeweils ein Daktylus und eine zusätzliche Hebung. In den ersten beiden Versen folgt an dieser Stelle eine Zäsur, die in Klopstocks Zürchersee nach den Worten "Natur" und "verstreut" deutlich spürbar ist. Die zweite Hälfte der ersten beiden Verse ist ebenfalls metrisch gleich: an einen Daktylus schließt ein katalektischer, d.h. um eine Senkung verkürzter Trochäus an, so daß beide Verse betont enden. Die dritte Zeile ist der kürzeste Vers der asklepiadeischen Strophe: einem trochäischen Versfuß folgt ein Daktylus, dann endet der Vers wiederum mit einem trochäischen Versfuß. Der vierte und letzte Vers stimmt mit dem dritten bis auf eine zusätzliche Hebung am Versende vollkommen überein. ©TvH
Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke, hg. v. Karl August Schleiden, Wiesbaden o.J.
Alkäische Odenstrophe
Der um 600 v. Chr. lebende griechische Dichter Alkaios entwickelte eine eigene Odenstrophenform, die in der deutschen Literatur von Hölderlin häufig verwendet wurde, so etwa in dem Gedicht Die Götter: "Du stiller Aether! Immer bewahrst du schön Die Seele mir im Schmerz, und es adelt sich Zur Tapferkeit vor deinen Strahlen, Helios! Oft die empörte Brust mir." (S. 57) ∪−∪−∪/−∪∪−∪− ∪−∪−∪/−∪∪−∪− ∪−∪−∪−∪−∪ −∪∪−∪∪−∪−∪ Bis auf den vierten Vers beginnen bei der alkäischen im Unterschied zur sapphischen wie asklepiadeischen Odenstrophe alle Verse auftaktig. Die beiden ersten Verse stimmen metrisch überein und bestehen aus den sogenannten alkäischen Elfsilblern: nach zwei jambischen Versfüßen und einer zusätzlichen Senkung folgt eine Zäsur, an die sich ein Daktylus und ein vollständiger sowie ein verkürzter, unvollständiger (="katalektischer") trochäischer Versfuß anschließen. Der dritte Vers ist durchgehend jambisch vierhebig, mit einer auch hyperkatalektisch genannten überzähligen Senkung am Schluß, und wird als alkäischer Neunsilbler bezeichnet. Zwei Daktylen und zwei darauffolgende Trochäen bilden den vierten, alkäischen Zehnsilbler genannten Vers. ©TvH
Friedrich Hölderlin: Gedichte, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt/M. 1984.
Distichon griech. dis: doppelt; stichos: Vers
Das Distichon ist ein Doppelvers, der aus einem Hexameter und einem Pentameter besteht. Friedrich Schiller verfaßte ein Distichon mit dem Titel Distichon, das zugleich als Merkvers gelten kann: "Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule, Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab." −∪−∪∪−/∪−∪−∪∪−∪ −∪−∪∪−/−∪∪−∪∪− Es gibt zwei Gedichtformen, die durch das Distichon gekennzeichnet sind: das Epigramm und die Elegie. Während das Epigramm, das oft nur aus einem einzigen Distichon besteht, sich den verschiedenen Charakter von Hexameter und Pentameter für eine komprimierte anspielungsreiche Kurzaussage zunutze macht (z.B. Goethes und Schillers Xenien), ist die Elegie meist ein längeres Gedicht. Berühmt sind die Elegien Hölderlins, beispielsweise der Beginn des Gedichtes Menons Klagen um Diotima: "Täglich geh ich heraus, und such ein Anderes immer, Habe längst sie befragt, alle die Pfade des Lands; Droben die kühlenden Höhn, die Schatten alle besuch ich, Und die Quellen; hinauf irret der Geist und hinab" −∪−∪∪−/∪−∪−∪∪−∪ −∪−∪∪−/−∪∪−∪∪− −∪∪−∪∪−/∪−∪−∪∪−∪ −∪−∪∪−/−∪∪−∪∪− ©TvH
Friedrich Schiller: Das Distichon, in: Werke. Nationalausgabe, hg. v. Julius Petersen u.a. Weimar 1943 ff., Bd. 2.1, S. 324. Friedrich Hölderlin: Menons Klage an Diotima, in: ders.: Gedichte, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt/M. 1984, S. 102. Sekundärliteratur:
1. F. Beißner: Geschichte der deutschen Elegie, Berlin 1965.
Tragödie
Im Drama werden uns "handelnde Menschen" (Aristoteles‘ Poetik [Dramatik]) auf der Bühne vorgestellt. Wer handelt, muß sich stets entscheiden ("Tue ich dies oder jenes, was wird passieren, ist meine Entscheidung richtig?"). In diesem Zwang zur Entscheidung steckt eine grundsätzliche Spannung, denn die Entscheidungen können tragische Folgen haben und genau hierin liegt das Wesen der Tragödie: Der Protagonist der Tragödie befindet sich in einem Konflikt, in einer Grenzsituation, er ist zwischen Extremen gefangen und seine Gefangenschaft ist ohne Ausweg. Egal wie er sich verhalten wird, er wird scheitern. Diese faktische Unterlegenheit unter das Schicksal wird in der Tragödie kombiniert mit dem Wissen um diese Unterlegenheit. Der Held weiß, daß er scheitern muß, sein Aufbegehren gegen das Schicksal, denn er versucht ja zumindest, das Unglück abzuwenden, wird so besonders tragisch. Goethe schreibt dazu: "Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren Gegensatz. Sowie Ausgleichung eintritt oder möglich wird, schwindet das Tragische." Die Tragödie ist in der griechischen Antike modellhaft ausgebildet worden und wurde über Jahrtausende hinweg variiert. Oft galt sie als 'höchste' Gattung im poetischen Spektrum auch bei Hegel in seiner Ästhetik. Auslöser für tragische Konflikte kann a) eine tragische Schuld sein, die oft nicht durch eigene Handlungen des Protagonisten erworben wurde, aber trotzdem objektiv vorhanden ist (z. B. Ödipus), b) eine persönliche Schuld, die auf die Eigenverantwortlichkeit des Protagonisten zurückgeht (z. B. Schillers Die Räuber, 1781), c) das – wie immer auch geartete – Schicksal (z. B. Kleists Die Familie Schroffenstein, 1803) und d) Mißverständnisse, Irrtümer und Lügen (z.B. Shakespeares Othello, 1603). Etwas konkreter formuliert: Die Protagonisten können in einen Konflikt geraten zu Göttern, anonymen Mächten oder der Gesellschaft mit ihren Beschränkungen (z.B. Standesschranken, die Liebesehen verhindern, ökonomische Einschränkungen, kulturelle Grenzen, etc.). Durch Darstellung von Menschen in tragischen Konflikten, in Extremsituationen vermag die Tragödie, die Möglichkeiten des Menschseins zu zeigen. ©rein
Sekundärliteratur: 1. H. Geiger / H. Haarmann: Aspekte des Dramas. Eine Einführung in die Theatergeschichte und Dramenanalyse, 4. neub. u. erw. Aufl., Opladen 1996. 2. V. Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1960.
3. P. Szondi: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt/M. 1956.
Sophokles
* 497/96 v. Chr., Athen † 406/05 v. Chr., Athen Sophokles war unter den drei großen Tragikern jünger als Aischylos, aber älter als Euripides. Sein außergewöhnlich langes Leben umspannte fast das gesamte 5. vorchristliche Jahrhundert und damit den Aufstieg Athens zur politischen Führungsmacht in der Ägäis (der die Blüte der Demokratie zur Mitte des Jahrhunderts mit sich brachte) bis zum langsamen Niedergang und dem endgültigen Niederlage im Peloponnesischen Krieg (431-404). Sophokles selbst war ein engagierter Bürger seiner Heimatstadt, die er im Gegensatz zu den beiden anderen Tragikern trotz zahlreicher Angebote fremdländischer Potentaten nie verließ: Aufgrund seiner wohlhabenden Herkunft stand er in engem Kontakt zur Gruppe um Perikles, dem führenden Politiker zur Mitte des 5. Jahrhunderts, und übte auch selbst wichtige Ämter im Staat aus - etwa als einer der Schatzmeister oder als "Stratege" in der Kriegsführung, daneben wohl auch kultische Ämter. Bei den Dichterwettstreiten war er sehr erfolgreich. Seine besondere Leistung im Theaterwesen bestand jedoch, soweit man der Überlieferung glauben darf, in der Einführung des dritten Schauspielers und der Bühnenmalerei, sowie in der Erweiterung des Chores von 12 auf 15 Personen. Anders als Aischylos schrieb er keine Tetralogien, sondern verfaßte voneinander unabhängige Einzelstücke. Da auch von Sophokles nur 7 Tragödien (von insgesamt etwa 123) vollständig überliefert sind, die sich zudem über einen Schaffenszeitraum von fast 50 Jahren verteilen, sind Aussagen über seine künstlerische Entwicklung nur unter einem gewissen Vorbehalt möglich. Er selbst soll sein Schaffen in drei Phasen eingeteilt haben: Nach einem Selbstzeugnis, das Plutarch überliefert, will er sich zuerst aus der Abhängigkeit von Aischylos befreit, sodann das Harte und Gekünstelte der eigenen Art abgelegt und schließlich zu einem dem jeweiligen Charakter seiner Figuren angemessenen Ton gefunden haben. So schwierig dies zu verifizieren ist, kann man dann eine durchaus plausible Entwicklung sehen: von der starren und formalistischen Konzeption seiner frühen Stücke zu freieren und den stärker auf die Figurengestaltung abhebenden Spätwerken. Während Aischylos noch aus einem gesicherten mythischen Weltbild heraus schreibt, in dem der Wille der Götter die Welt und die Menschen in einen sinnvollen Kontext setzt, mußten sich Sophokles und Euripides mit der Herausforderung durch die Sophisten auseinandersetzen, die (vereinfacht gesagt) dem mythischen Weltbild ein rationalistisches entgegensetzten. Beide reagierten dabei auf sehr unterschiedliche Weise. Im Gegensatz zu Euripides hielt
Sophokles an einem religiösen Weltbild fest, das aber nicht mehr so optimistisch grundiert ist wie noch bei Aischylos. Die sophokleischen Figuren haben keinerlei Zugang mehr zur Sphäre der Götter. Diese offenbaren ihren Willen zwar in Orakelsprüchen (zumindest in allen 7 erhaltenen Stücken), aber die Menschen sind nicht in der Lage, diese ihnen fremd gegenüberste-henden Äußerungen zu verstehen, da sie sich in ihrem Hoffnungsdenken und ihrem beschränkten Wissen verfangen. © JK
Wichtige Schriften: ❍ ❍
Antigone (vermutlich 440 v. Chr.) König Ödipus (Datum umstritten, vermutlich 430er Jahre)
Sekundärliteratur: 1. B. Zimmermann: Die griechische Tragödie. Eine Einführung, 2. Aufl., München u.a. 1992. 2. W. Ries: Griechische Tragiker zur Einführung, Hamburg 2000. 3. G. A. Seeck: Die griechische Tragödie, Stuttgart 2000.
Sophokles: Antigone (vermutlich 440 v. Chr.)
Die Geschichte des König Ödipus ist spätestens durch Sigmund Freuds Deutung sprichwörtlich geworden. Bekanntlich hat Ödipus (unwissentlich) seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet. Genau gesehen stellt diese berühmte Geschichte jedoch nur einen Ausschnitt aus einem größeren mythologischen Erzählzusammenhang über das Geschlecht der Labdakiden (nach dem Stammvater Labdakos) dar. Darin wird berichtet, Ödipus habe mit seiner Mutter vier Kinder gezeugt: Die beiden Söhne Eteokles und Polyneikes, sowie die beiden Töchter Ismene und Antigone. Nach Ödipus' Tod überwerfen sich die beiden Brüder; es kommt zur Schlacht um Theben, in der sich Eteokles und Polyneikes gegenseitig töten. Daraufhin übernimmt Ödipus' Schwager Kreon die Herrschaft. An dieser Stelle setzt die Handlung der Antigone ein: Der neue König Kreon verweigert dem Angreifer Polyneikes das Begräbnis, da er Theben angegriffen hat; seine Leiche soll am Strand verrotten und von den wilden Tieren gefressen werden. Im griechischen Verständnis ist das eine schwere Strafe und ein Frevel gegen das göttliche Gesetz. Zumindest sieht die jüngste Schwester Antigone das so. Obwohl Kreon mit der Todesstrafe gegen alle droht, die der Leiche die letzte Ehre erweisen, übertritt Antigone das Verbot und beerdigt ihren Bruder. Zunächst gelingt ihr das im Schutz der Nacht; allerdings wiederholt sie ihre rituellen Handlungen nochmals bei Tage (als ob sie entdeckt werden will) und wird von den Wachen festgenommen. Der aufgebrachte Kreon läßt sie lebendig einmauern und läßt sich weder von ihrem Hinweis auf das göttliche Gesetz noch von den Bitten seines Sohnes Haimon umstimmen - das ist Antigones Verlobter, der den vom Frevel abgestoßenen Volkswillen auf seiner Seite weiß. Erst der Seher Teiresias kann Kreon zur Meinungsänderung bewegen, als er diesen verflucht und voraussagt, daß seine Tat einem Familienmitglied den Tod bringen werde. Kreon will nun alles rückgängig machen, aber es ist bereits zu spät: Antigone hat sich erhängt, Haimon mit dem Schwert selbst entleibt und aus Schrecken darüber gibt sich schließlich auch noch Kreons Frau Eurydike den Tod. Kreon bleibt als gebrochener Mann zurück - der Familienfluch hat schließlich auch ihn erreicht. Die Deutung der Antigone ist bis heute umstritten - vor allem, was die beiden Protagonisten angeht. Besonders umstritten ist dabei die Figur des Kreon: Ist er nur ein uneinsichtiger Tyrann, wider göttliches Recht und die Humanität frevelnd, den nach mehrfachen Warnungen schließlich die gerechte (wenn auch sehr harte) Strafe trifft? Oder ist er - der neue König, der sich zu Beginn seiner Herrschaft erst noch Respekt verschaffen muß und keine Rücksicht auf Verwandte nehmen darf - nicht auch seinem Volk gegenüber verpflichtet, einem Angreifer, der schließlich die Stadt plündern und die Tempel schänden wollte,
die unverdiente Ehre zu verweigern? Auf der anderen Seite ist aber auch die Figur der Antigone nicht unumstritten geblieben: Zwar wird sie oftmals zur exemplarischen Heldin stilisiert, die es als Einzelne wagt, nur ihrem Gewissen zu folgen und so das Recht der Humanität gegen den Tyrannen ohne Rücksicht auf das eigene Leben durchzusetzen. ("Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil." V. 523 - so lautet ihr berühmtes Diktum.) Diese Deutung findet sich in vielen Bearbeitungen des Stoffes auch im 20. Jahrhunderts: Beispielsweise wird im Prolog der Bearbeitung durch Bertolt Brecht davon berichtet, wie eine Schwester ihren 1945 als Deserteur gehenkten Bruder vom Baum abschneiden will. - Andererseits ist Antigone sehr starr und uneinsichtig in ihrer Argumentation: Grob weist sie die Hilfsangebote ihrer Schwester zurück und zeigt sich zunehmend von einer ausgeprägten Todessehnsucht bewegt. Daß bis heute noch über die Deutung der Tragödie gestritten werden kann - und das berechtigterweise und mit guten Argumenten -, zeigt vor allen Dingen eines: Es handelt sich um ein herausragendes dramatisches Kunstwerk, das auch nach fast 2500 Jahren noch nicht veraltet ist. © JK
Sophokles: Antigone. Tragödie, übers. v. Wilhelm Kuchenmüller, Stuttgart 1955..
Romantik
(1793-1830) Die Romantik gilt den Literaturhistorikern als eine literarische Epoche, die vornehmlich Romane, Erzählungen, Gedichte und einige Dramen hervorbrachte, in denen die Sehnsucht nach dem Verlorenen, nach einer verloren Zeit, einer verlorenen Harmonie des Menschen mit der Welt artikuliert wird. Der ‚romantische‘ Mensch sei rückwärtsgewandt, er wolle sich mit dem Verlust der religiösen Weltordnung (Säkularisierung) und mit der neu entstehenden Arbeitswelt (Industrialisierung, Rationalisierung) nicht abfinden. Das Mittelalter, das ‚goldene Zeitalter‘ wird ihm zur Projektionsfläche seiner Wünsche und Sehnsüchte. All dies ist richtig, trotzdem ist die Romantik eine Epoche, die nicht nur den Blick zurück wirft, sondern Ausdruck ihrer Zeit ist und Neues geschaffen hat. Die Romantik zeigt den Menschen an der Schwelle zur Moderne. Sie zeigt ihn in seiner Verunsicherung, auf der Suche nach sich selber und nach neuen Wegen. Sie versucht ihn und seine Welt – die immer komplexer wird – möglichst vollständig zu erfassen. Der Roman erscheint hier als die angemessenste literarische Form. Jahrhundertelang von der Poetik als minderwertig eingestuft, wird er aufgewertet. Er ist formlos genug, um sich der unüberschaubaren, irregulären, geheimnisvollen, wunderbaren, chaotischen, dunklen Wirklichkeit anpassen zu können. Kennzeichen des romantischen Romans ist die Vermischung der Gattungen. "Ja ich kann mir einen Roman kaum anders denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und anderen Formen", schreibt Friedrich Schlegel in seinem Gespräch über die Poesie. Die Romane und Erzählungen von Tieck, Novalis, Eichendorff, Hoffmann, Brentano oder Arnim kombinieren folgenreich erzählende Abschnitte, Lieder, Märchen, Gedichte, Briefe und dialogische Sequenzen. Diese Darstellungstechniken sollen eine Unabschließbarkeit des Erzählens suggerieren, die der Unendlichkeit des Weltgeschehens gerecht wird. Immer wieder werden neue Erzählstränge in die Haupterzählung eingeflochten, immer wieder eröffnen sich neue Perspektiven, auf neue, einzigartige Individuen und Lebensläufe. So besteht der Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores [1810] von Achim von Arnim aus annähernd 100 eigenständigen Elementen. Die Geschichte der Gräfin hat kaum zehn Seiten in Anspruch genommen, als sie von einer anderen Geschichte überlagert wird. Goethe verglich den Roman mit einem Faß, "das überall ausläuft, weil der Böttcher vergessen hat, die Reifen festzuschlagen." Romantiker wie Friedrich Schlegel verabschieden sich endgültig von den Beschränkungen der Regelpoetiken. Der Künstler ist frei tätig und schafft sich nach selbst gegebenen Regeln seine eigene künstlerische Wirklichkeit.
Der romantische Roman, der uns heute als eine revolutionäre Innovation in der Geschichte des Romans und der Poetik erscheint, ist nicht unbedingt diejenige literarische Gattung, die mit der Literatur der Romantik gleichgesetzt wird. Viel bekannter und erfolgreicher geworden aus der Perspektive des Publikums – teilweise aber auch aus der der Literaturwissenschaft - sind die Novellen und Gedichte. Romantische Natur- und Liebeslyrik ist aus keinem Schulbuch wegzudenken. Wahrscheinlich lag dies gerade an der komplexen Darstellungsweise, an der ‚Vermischung der Gattungen‘, die eine unübersichtlich gewordene Wirklichkeit darzustellen versuchte und hohe Anforderungen an den Leser stellte und stellt. ©rein
Sekundärliteratur: 1. D. Kremer: Prosa der Romantik, Stuttgart u. a. 1996. 2. L. Pikulik: Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung, München 1992. 3. E. Ribbat (Hg.): Romantik. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, Königstein/ Ts. 1979.
Günter Eich
* 01.02.1907, Lebus /Oder † 20.12.1972, Groß-Gmain bei Salzburg Lyriker, Hörspielautor und Prosaist Eich zählt zu den maßstabsetzenden Autoren der westdeutschen Nachkriegsliteratur, war wie die meisten von ihnen in der "Gruppe 47" aktiv und erhielt 1959 den Georg-Büchner-Preis, die wichtigste literarische Auszeichnung in der Bundesrepublik. Seine literarischen Anfänge liegen jedoch schon in der Vorkriegszeit. Eich hatte zunächst Volkswirtschaft und Sinologie in Berlin und Paris studiert und 1927 erste Gedichte veröffentlicht. Seit 1932 arbeitete er als freier Schriftsteller. Das Grundthema des Lyrikers, Hörspielautors und Erzählers ist das Leiden des Einzelnen an seiner Existenz. In der Natur suchte der frühe Eich Antworten auf seine Fragen nach dem Dasein. Eich wandte sich später enttäuscht und verbittert vom Menschen und der Schöpfung ab, da es ihm unmöglich schien, diese Sinnfragen zu beantworten. In der unmittelbaren Nachkriegszeit erlangte er mit seinem Gedichtband Abgelegene Gehöfte (1948) Bedeutung als exemplarischer Vertreter der sogenannten "Kahlschlag"-Literatur bzw. des "magischen Realismus". Während Eich stets auf ein offenes (partei-) politisches Engagement verzichtet hatte, benutzte er speziell die Form des Hörspiels, um seine, moralischen Appell zu politischer Aufmerksamkeit Ausdruck zu verleihen. Der produktivste Hörspielautor der Nachkriegszeit prägte diese literarische Form u.a. mit den radiophonen Arbeiten Träume (1951), Der Tiger Jussuf (1953) oder Die Brandung vor Setúbal (1957); für Die Andere und ich erhielt er 1952 den renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden. Sowohl die Hörspiele als auch die Lyrik der fünfziger Jahre dokumentieren Eichs Versuch, mit Hilfe der Sprache die Wirklichkeit zu enträtseln. In den sechziger Jahren wandelte sich seine Einstellung zu Natur und Sprache grundlegend. Der erste Lyrikband aus dieser Zeit, Zu den Akten (1964), macht dies ebenso deutlich wie die Prosa der letzten Jahre. So wird in Ein Tibeter in meinem Büro (1970) die Ordnung des Sprachsystems auf groteske Weise in Frage gestellt. ©JZ
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Fünfzehn Hörspiele (1966) Gedichte. Ausgewählt von Ilse Aichinger (1973) Gesammelte Werke. 4 Bde. Hg. v. Ilse Aichinger u.a. (1973)
Sekundärliteratur: 1. S. Müller-Hanpft (Hg.): Über Günter Eich, Frankfurt/ M.1970. 2. H.F. Schafroth: Günter Eich, München 1976. 3. Text + Kritik H. 5: Günter Eich, München 1979.
zu Kapitel 6: Lyrik
zu Kapitel 5: Epik
Friedrich Nietzsche
* 15. 10. 1844, Röcken/Sachsen † 25. 8. 1900,Weimar deutscher Philosoph und Schriftsteller Nietzsche ist weit über die Philosophie hinaus eine der faszinierendsten und zugleich problematischsten Figuren der deutschen Geistesgeschichte: ganz grundsätzlich, weil er wesentliche Konventionen und Denkweisen der europäischen Kultur in Frage stellt; und speziell für die Literaturwissenschaft wegen seiner Grenzgängerei als Autor zwischen Philosophie, Wissenschaft und Dichtung. Der sächsische Pfarrerssohn besucht das elitäre Gymnasium zu Schulpforta, studiert in Bonn und Leipzig Klassische Philologie und erhält bereits 1869 eine (außerordentliche) Professur an der Universität Basel, als Kollege berühmter Kulturwissenschaftler wie Jacob Burckhardt und Johann Jakob Bachofen. In dieser Zeit entsteht das erste Werk, das (mit einiger Verzögerung) seinen Ruhm begründet Die Geburt der Tragödie (1872) und das zugleich seine frühe Faszination durch die Musikdramen Richard Wagners offenbart. Die Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873/6), vier kultur- und zeitkritische Essays, münden in eine scharfe Abrechnung mit dem Geist des 19. Jahrhunderts im allgemeinen und dem deutschen Kaiserreich im besonderen. Um 1880 verfasst Nietzsche einige Schriften mit radikal aufklärerischer Intention: Menschliches, Allzumenschliches (1878/89), Morgenröte (1881) und Die fröhliche Wissenschaft (1882), in denen er gegen zeitgenössisch überschätzte Figuren und Denkmuster zu Felde zieht und sich den "freien Geistern" zugesellt (auch eine Anspielung darauf, dass er wegen seiner schwachen Gesundheit schon 1879 seine Basler Professur niederlegt und fortan eine Wanderexistenz führt). Ziel seiner Attacken ist in erster Linie das Christentum in seiner ideologischen wie institutionellen Dimension, das er für die Fesselung des "naturhaften" Empfindens der Menschen verantwortlich macht und als Machtinstrument einer ressentimentgeladenen Kaste entlarvt. Diese Attacken werden - unter der keineswegs neuen, aber sehr plakativen Formel "Gott ist tot" - in Jenseits von Gut und Böse (1886) und Zur Genealogie der Moral (1887) in ihren radikalen Folgen für Ethik und Moral noch schärfer formuliert, wobei auch wichtige Einsichten Sigmund Freuds antizipiert werden. Nietzsche selbst und seine zeitgenössischen Leser sahen in seiner Schrift Also sprach Zarathustra (1883/4) den Gipfel seines philosophisch-dichterischen Werkes. In Gleichnissen, 'Predigten' und Lebensmaximen, teilweise als
Kontrafaktur zu den Evangelien der Bibel angelegt, werden hier Ideen formuliert, die sich bald als besonders popularisierungsfähig, aber auch missverständlich erwiesen: die "ewige Wiederkehr des Gleichen", der "Übermensch", der "Tod Gottes" u.a. (Aus dem gleichen Jahrzehnt stammen auch die Texte, die unter dem Titel Der Wille zur Macht von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster posthum herausgegeben und antisemitisch verfälscht wurden.) Nietzsche hat, vermutlich aufgrund einer syphilitischen Infektion in seiner Studentenzeit, sein letztes Lebensjahrzehnt unter schweren Anfällen und in zunehmender geistiger Umnachtung verbracht (dieses Motiv übernimmt Thomas Mann in seinem Roman Doktor Faustus [1947] für den avantgardistischen Künstler Adrian Leverkühn). Nietzsches letzte Schriften besiegeln seine Abkehr von Richard Wagner und enden im Jahr vor seinem Tod mit einem letzten kulturkritischen Rundumschlag, der Götzendämmerung (1889). Der forciert antisystematische Denkstil Nietzsches und seine Neigung zum Aphorismus machen es schwer, sein Denken zu systematisieren. Man kann aber drei Tendenzen bestimmen: erstens eine anthropologisch und psychologisch fundierte Ästhetik mit den zentralen Begriffen des "Dyonisischen" und der Dekadenz; zweitens die Kritik der Moral, die auf verborgene Machtstrukturen zurückgeführt werden; und drittens sein "Existentialismus" (ein Wort, das Nietzsche allerdings noch nicht kannte!) als Frage nach der menschlichen Existenz unter Wegfall aller normativen Stützen wie Religion, Moral, Tradition. Gegenüber allen Wahrheitsansprüchen nimmt Nietzsche den Standpunkt eines stark relativierenden "Perspektivismus" ein. Ausgesprochen "perspektivisch", das heißt vielschichtig und widerspruchsvoll ist auch die Nietzsche-Rezeption verlaufen, in der sich die historischen und ideengeschichtlichen Strömungen des 20. Jahrhunderts niederschlagen und zu vielfachen Deutungen, Missverständnissen und bewussten Manipulationen führen. Literaturwissenschaftlich ist von besonderer Relevanz, dass Nietzschenachdem er zu Lebzeiten nur wenigen bekannt war - um und nach 1900 zum zentralen geistigen Erlebnis für eine ganze Generation von deutschsprachigen Autoren wird, die ihrerseits die klassische Moderne prägen: Heinrich und Thomas Mann, Gottfried Benn, Robert Musil, und sogar Bertolt Brecht. Für den orthodoxen Marxismus treibt Nietzsches Antirationalismus die "Zerstörung der Vernunft" (Georg Lukács, 1955) voran und arbeitet dem Nationalsozialismus vor. Dagegen entdecken ihn am Ende des 20. Jahrhundert insbesondere französische Theoretiker wie Jacques Derrida als radikalen Erkenntniskritiker, als "Lehrer des systematischen Verdachts" und Vorläufer der Dekonstruktion also, kurz gesagt, wieder einmal als Denker für "freie Geister". HR
Wichtige Schriften: ❍
Friedrich Nietzsche: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Karl Schlechta, München 1967.
Sekundärliteratur: 1. I. Frenzel: Friedrich Nietzsche in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1966. 2. B. Hillebrand (Hg.): Nietzsche und die deutsche Literatur, Tübingen 1978 3. W. Kaufmann: Nietzsche, Darmstadt 1982.
Predigt lat. praedicare: öffentlich ausrufen, laut verkündigen
Die Predigt ist in der/den christlichen Kirche/n eine institutionalisierte Form der Rede, in der das Wort Gottes an die Gemeinde übermittelt wird. Sie ist begründet "im Auftrag Christi an die Jünger, in alle Welt zu ziehen und allen Völkern zu predigen". Im Mittelalter unterschied man zwischen dem rhetorisch kunstvoll ausgearbeiteten Sermon (der Klerikerpredigt, von lat. sermo, Rede), die thematisch gefasst war, und der volkstümlicheren Homilie (Laienpredigt, von lat. humilis, niedrig, demütig), die als Textauslegung konzipiert ist und mit der Ausbreitung der Bettelorden im (späteren) Mittelalter größere Bedeutung gewann. Früheste Beispiele von deutschen Predigtübersetzungen (aus dem Lateinischen) sind die Monseer Fragmente vom Ende des 8. und die Wessobrunner Predigtsammlungen aus dem 11. Jahrhundert. Der bekannteste deutsche Volksprediger des Mittelalters ist Berthold von Regensburg (12101272). Die Wirkung der Predigt als wichtigster Form öffentlicher Rede (eines vorbildlich lebenden Predigers) bis in den Feudalismus hinein ist nicht zu überschätzen. Alle gesellschaftlichen Bereiche wurden von ihr erfaßt. Bedeutend war auch ihr Einfluß auf die Herausbildung der deutschen Sprache und Literatur. So konnten in der Homilie neue Prosaformen entwickelt werden: Satirische, humoristische und komische Elemente bildeten Alternativen zum starren Korsett der antiken Rhetorik. Schon früh gab es Sammlungen lateinischer Predigten als Vorbild oder Materialspeicher, später auch für den erbaulichen Hausgebrauch auf Deutsch (die sog. Postille). Dort findet man die Predigten sortiert nach Sonntagen und Festtagen des Kirchenjahres. Im Mittelalter war besonders die dominikanische Predigt an der Ausbildung der deutschen Mystik (Meister Eckhart) beteiligt. Zur Auseinandersetzung mit Martin Luther und seiner Theologie dient die (katholische) Predigt in der Reformationszeit (Thomas Murner, Abraham a Sancta Clara), während die protestantische Predigt als Auslegung einer Bibelstelle den Kern des Gottesdienstes und einen Modellfall theologischer Hermeneutik bildete. In immer neuen Varianten wurde im Barock die Predigt ausgeschmückt und in zahlreichen Sammlungen verbreitet; besonders populär wurde mit seinen drastisch-bildhaften Predigen gegen Pest und Türkengefahr der katholische Mönch Abraham a Sancta Clara (Johann Megerle). Die Gegentendenzen findet man in der Epoche der Aufklärung: Nüchterne Belehrung verdrängte das Ornament. Die pietistischen Predigten eines Hermann August Francke konzentrieren sich in eindringlich-einfacher Sprache auf den
einzelnen Gläubigen und seinen Weg zum Seelenheil. Im 19. Jahrhundert hat vor allem die protestantische Predigt enge Berührung mit der idealistischen Philosophie und der Literatur: Johann Gottfried Herder in Weimar und Friedrich Schleiermacher in Berlin gelten als die bedeutendsten Kanzelredner ihrer: stilistische Einflüsse der Predigt zeigen sich in den Werken von Johann Peter Hebel, Jeremias Gotthelf und Eduard Mörike. Bevor im frühen 20. Jahrhundert die Dichtung selbst quasi-religiöse Ansprüche formuliert (bei Rainer Maria Rilke, im Kreis Stefan Georges, und in nihilistischer Wendung auch beim frühen Bertolt Brecht), zeichnet sich jedoch ein immer breiterer Spalt zwischen bürgerlicher Kultur und der in den Predigten ausgedrückten christlichen Weltordnung ab. © pflug Sekundärliteratur: 1. K.F. Daiber: Predigt als religiöse Rede, München 1991. 2. F. M. Eybl: Predigt, katholische; W. Gräb: Predigt, protestantische, in: W. Killy (Hg.): Literaturlexikon, Bd. 14, München 1993, S.229-235. 3. G. Ueding: Grundriß der Rhetorik, Stuttgart 1994.
Thomas Mann
* 06.06.1875, Lübeck † 12.08.1955, Zürich/Kilchberg Schriftsteller und Essayist Leben und Werk verschränken sich bei Thomas Mann auf eigentümliche Weise. In der Stilisierung des eigenes Lebens im Kunstwerk, dem literarisierten Leben und der gelebten Literatur, war Mann der klassischen deutschen Dichtung und vor allem Goethes Dichtung und Wahrheit verpflichtet. Daneben prägte ihn ein Leben lang sein Ehrgeiz und sein Wunsch nach Bewunderung und Ruhm ("Bisweilen kehrt sich mir vor Ehrgeiz der Magen um" 1901 an Otto Grautoff). Das ersehnte internationale Ansehen brachte ihm der Nobelpreis für Literatur, der ihm 1929 für seinen Roman Buddenbrooks verliehen wurde. Seine Laufbahn als Schriftsteller begann 1893 mit der Prosaskizze Vision und endete kurz vor seinem Tod mit einem Geleitwort zur Anthologie Die schönsten Erzählungen der Welt (1955). Zum eigentlichen künstlerischen Durchbruch kam es mit der Erzählung Der kleine Herr Friedemann (1897): In den mehr als sechs Jahrzehnten schrieb Mann acht Romane, mehr als dreißig Novellen, ein Schauspiel, ein Versepos, zahlreiche Essays, autobiographische Schriften, Vorträge, Reden, politische Manifeste und an die dreitausend Briefe. Darüber hinaus führte er sein ganzes Leben lang Tagebuch. Nach dem Bekenntnis zum Exil (1936) setzte eine rege politische Publizistik ein und in den Kriegsjahren 1940 bis 1945 die monatlichen Radiobotschaften nach Deutschland (Deutsche Hörer!). Manns politische Reden sind der Ausdruck seines unmittelbaren Ringens mit der Zeit und seine "Notgedanken des Lebens" haben immer wieder den Kunstgedanken zurückgedrängt. "Euch zu warnen, ist der einzige Dienst, den ein Deutscher wie ich euch heute erweisen kann. [...] Die Quelle der Produktivität ist das individuelle Gewissen, und mag die Sympathie, die sie erregt, der Nation zugute kommen. [...] Ihr Deutsche dürftet mir heute mein Werk nicht danken, auch wenn ihr wolltet. [...] Aber etwas ist, das wirklich euretwillen, aus sozialem und nicht aus privatem Gewissen geschah, und täglich wächst meine Überzeugung, dass die Zeit kommen wird, wo ihr es mir danken und es mir höher anrechnen werdet als meine Geschichtenbücher: das ist, dass ich euch warnte." (1941, Deutsche Hörer, XI, S. 997-1019) Nach Abschluss der JosephRomane und dem Beginn der Niederschrift des Doktor Faustus lernte Mann im Mai 1943 Theodor W. Adorno kennen, der weit mehr als Schönberg eine Nachbemerkung in Roman über das geistige Eigentum verdient hätte, stammen doch manche Formulierungen wörtlich aus Adornos Philosophie der neuen Musik (Typoskript 1941). Später legt Mann darüber Rechenschaft ab (Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans 1949) und Adorno bestätigte in der "Eidesstattlichen Erklärung" (1957), dass die "Gestaltung der
musikalischen Partien des Romans in vollstem Einvernehmen zwischen uns beiden erfolgte." (Selbstkommentare, S. 370) Kaum ein anderer Autor hat sein Leben lang eine derartige Menge öffentlicher Kontroversen ausgelöst und geschürt wie Thomas Mann. Im wesentlichen geht es um zwei Grundtypen: In die Gruppe der künstlerischen Gegnerschaft, die im Kern von der expressionistischen Kritik am Stilkonservatismus und von einem bohème-nahen Künstlerbegriff ausgeht, gehört die Polemik der Lübecker gegenüber Manns Schlüsselroman Buddenbrooks, aber auch die Auseinandersetzungen mit dem Bruder Heinrich oder mit Bertolt Brecht. Der immer wieder vorgebrachte Vorwurf des Unschöpferischen entzündet sich an Manns Konterfeiverfahren, mit dem er Vorbilder aus der Wirklichkeit in seine Texte einmontiert. Die zweite Gruppe ist national und politisch motiviert und stößt sich an Manns Deutschland-Kritik sowie an seinen politischen Sympathien. Diese Gegner halten ihn für nihilistisch, zersetzend und politisch links orientiert. In diesen Kontext gehören die Kontroversen mit der konservativen Rechten wegen seiner Republikrede von 1922, der Kampf gegen die Nationalsozialisten, die Folgen des "Protests der Richard-Wagner-Stadt München" (1933), die Stellungnahme zur Emigration mit dem Brief an Korrodi und nach dem Krieg die Rückkehr-Debatte (Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe (1945) und die Auseinandersetzung mit der "inneren Emigration" (1945/46), die Kollektivschulddebatte (Die Lager 1945) und die Goethe-Reden, die Mann 1949 in beiden Teilen Deutschlands gehalten hat und auf die die westdeutsche Presse mit Angriffen reagierte. Das Thema des Verfalls, bei dem die dionysischen Kräfte die Oberhand behalten, bestimmt bis auf wenige Ausnahmen das gesamte literarische Werk Thomas Manns von den Buddenbrooks (1901) bis zu Doktor Faustus (1947). Manns Ironie, in der sich Skepsis und Distanz zur Wirklichkeit mit einer scharfen Beobachtungsgabe koppeln, zeigt sich auch im häufigen Wechsel der Erzählperspektive und bestimmt Manns Prosa als ein unentschiedenes und gleichzeitiges Neben- und Übereinander von Verschiedenem. Dieser Perspektivismus hat durch Friedrich Nietzsche in die literarische Moderne Eingang gefunden. Neben den Philosophien Nietzsche und Schopenhauer hat auch die Musik Richard Wagners Manns Denken geprägt. So sieht Mann die Literatur als eine Komposition, in der Personen und Gedanken, Orte und Requisiten die Funktion musikalischer Motive übernehmen und dennoch eine feste Struktur suggerieren. Vor diesem Hintergrund versucht sich Mann in Der Zauberberg (1924) auch "durch das Leitmotiv, die vor- und zurückdeutende magische Formel, die das Mittel ist, seiner inneren Gesamtheit in jedem Augenblick Präsenz zu verleihen" (Einführung in den Zauberberg, XI, 603), an der "Aufhebung der Zeit". Thomas Mann kann den Klassikern zugeschrieben werden, und zwar nicht nur wegen seines gepflegten Sprachstils, sondern auch wegen des von ihm gewählten "mittleren Wegs" und der humanistischen Haltung, welche die meisten seiner Werke durchzieht. Als "konservativer Erneuerer" ist Mann zwar von den großen Realisten wie Fontane, Flaubert, Tolstoi und
Dostojewski beeinflusst und seine Romane lassen sich als Geschichten lesen, in denen die Erzähler eine fiktionale Welt in der Weise des Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts hinzustellen scheinen, doch ist Manns literarisches Werk nicht der Ausdruck einer bekannten Welt, selbst wenn die Störmomente des fiktionalen Weltzusammenhangs, anders wie bei Joyce, Dos Passos, Döblin oder Musil nicht an der Textoberfläche liegen, sondern in der Struktur verborgen sind. Vor allem in den Romanen der letzten Schaffensperiode setzt Mann neue erzähltechnische Mittel ein (wie Intertextualität, Perspektivismus). © EBL
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Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff 1894-1901 und Ida Boy-Ed 19031928, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt/M 1975. Thomas Mann: Einführung in den Zauberberg (1939) Thomas Mann: Deutsche Hörer! Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland (1940-1945) Thomas Mann: Selbstkommentare: Doktor Faustus. Die Entstehung des 'Doktor Faustus', hg. v. Hans Wysling, Frankfurt/M. 1992.
Wichtige Schriften: ❍ ❍
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T. Mann, Gesammelte Werke in 13 Bänden, I-XIII, Frankfurt/M. 1974. T. Mann, Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Frankfurt/M. (demnächst) T. Mann, Tagebücher, 1918-1921; 1937-1955, Frankfurt/M. 1979-1995.
Sekundärliteratur: 1. Thomas Mann-Handbuch, hg. H. Koopmann, Stuttgart 1995. 2. Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register, hg. H. Wysling, Bd IV, Frankfurt/M. 1980. 3. H. Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999.
Roman afrz. roman: in romanischer Volkssprache (nicht in Latein) verfaßte Dichtung
Der Roman ist eine der formenreichsten und wandlungsfähigsten epischen Dichtarten. Als legitimer Erbe des Epos ist er zur literarischen Form des bürgerlichen Zeitalters schlechthin geworden. In ihm wird in epischer Breite eine Realität entfaltet, die aber nicht mehr über die Homogenität und selbstverständliche Sinnhaftigkeit des Epos verfügt. Der Prosa-Roman setzt eine Welt voraus, die nicht mehr von Idealen, sondern von Nützlichkeiten bestimmt ist. Deren Abbildung und zugleich Kritik ist die Darstellungsabsicht des Romans. Sie wird - ungeachtet aller stofflichen und strukturellen Vielfalt - in der Gestaltung eines konfliktreichen Weges sichtbar, den ein einzelner durch die als fremd und feindlich empfundene Welt antritt. Dieser Weg kann als Desillusionierungs- und zugleich Bewußtwerdungsprozeß verstanden werden, den das "problematische Individuum" durch die "kontingente Welt" (Lukács, S. 67) beschreitet. Hegel sah im "Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse" sowohl den Gegenstand als auch den Motor des Romans. Die Autonomie des Individuums, die von der bürgerlichen Epoche erst entdeckt worden war, wird von dieser selbst im Medium des Romans in ihrer Problematik und Scheinhaftigkeit gezeigt. Dabei gewinnen Einzelwerke wie auch traditionsstiftende Romantypen ihr jeweiliges Profil aus der spezifischen Anlage des Konflikts und den verschiedenen Möglichkeiten seiner Lösung. Vor allem ist es die geschichtlich fortschreitende Differenzierung der Perspektivik, der Zeitgestaltung, der Motivgestaltung und der Redeverwendung, die der Romanprosa ungeahnte und immer neue Darstellungsqualitäten erschließt. Als eigenständige epische Art bildet sich der Roman allmählich im 13. bis 16. Jahrhundert, zum Teil aus den Prosaauflösungen der höfischen Epen, heraus. Mit den Erzählungen von Rittertugend und -liebe wird weiterhin ein gebildetes Publikum aus der Oberschicht unterhalten. Große Wirkung haben dabei - auch in Deutschland - zum Beispiel der abenteuerliche Ritterroman Amadis de Gaule des Spaniers G. Rodriguez de Montalvo (um 1490) oder der französische Schäferroman Astrée (1607-27) von Honoré d'Urfé. In der Unterschicht entstehen zur gleichen Zeit die sogenannten 'Volksbücher', die schwank- und märchenhafte Stoffe mit abgesunkenem höfischen Erzählgut vermischen. Die neue Technik des Buchdrucks verschafft ihnen bald eine weite Verbreitung. Durch ihre Konzentration auf eine Hauptfigur und die Reihung ihrer verschiedenen Abenteuer bereiten sie zugleich einem Romantyp den Weg, der durch die Jahrhunderte hindurch einen großen Erfolg haben wird: dem Picaro-Roman (Schelmenroman). In seinem Zentrum steht ein Desillusionserlebnis des Helden, der fortan die Welt bereist und in einer Reihe von Abenteuern die Gesellschaft
teils satirisch, teils kritisch "von unten" unter die Lupe nimmt. Nach dem Erfolg des anonymen spanischen Lazarillo de Tormes (1554) und Mateo Alemáns Guzman de Alfarache (1599-1604) erschienen in Frankreich unter anderem der Gil Blas (1717-35) von Alain-René Lesage und in Deutschland der Abenteuerliche Simplicissimus (1669) von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen als Gipfelpunkte pikaresken Erzählens. Mit zwei Einzelwerken von weltliterarischem Rang werden im 17. Jahrhundert die verschiedenen Möglichkeiten der Romanform deutlich. In Miguel de Cervantes' Don Quijote (1605/15) findet nicht nur eine Abrechnung mit den immer noch beliebten Ritterromanen statt. Darüber hinaus wird die groteske Tragik eines Individuums gestaltet, das keinen Bezug mehr zur Wirklichkeit finden kann. Lukács sah in diesem Roman den "ersten großen Kampf der Innerlichkeit gegen die prosaische Niedertracht des äußeren Lebens" (Lukács, S. 104). Madame de La Fayettes La Princesse de Clève (1678), hingegen entwirft ein Seelendrama von Leidenschaft und Konvention, das die psychologischen Analysen im Roman des 18. Und 19. Jahrhunderts wesentlich vorbereitet. Galt der Roman bisher als eine minderwertige Form, so wird er im 18. Jahrhundert zur führenden epischen Dichtart. Das auf Innerlichkeit gerichtete Interesse eines nun meist kleinbürgerlichen Publikums findet sein Medium vor allem im Briefroman. Dessen Struktur erlaubt Ich-Analysen von größter Unmittelbarkeit. In ihm ist sentimental-moralisierendes Erzählen (wie in Samuel Richardsons Pamela von 1740) ebenso möglich wie umfassende Kulturkritik (in Jean Jacques Rousseaus Nouvelle Héloise von 1761) oder die Darstellung des tragischen Scheiterns an der gesellschaftlichen Umwelt (Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werthers von 1772). Trotz des großen Erfolges dieses sehr subjektivierten Romantyps wird die deutsche Tradition von einer anderen Variante geprägt werden, die in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) beispielhaft ausgeprägt ist: vom Entwicklungsroman (Bildungsroman). Er beschreibt den Weg eines jungen Menschen durch die Gesellschaft und ihre Institutionen und seine Entfaltung in der Begegnung mit den geistigen Mächtigen der Epoche. Das darin postulierte Ideal der "allseitigen Bildung" wird von Goethe selbst in den Wanderjahren (1829) zugunsten der Forderung nach gesellschaftlich nützlicher Arbeit zurückgenommen. Die realistischen deutschen Erzähler bleiben dem Modell des Entwicklungsromans im 19. Jahrhundert weitgehend verpflichtet (z.B. Gottfried Keller mit Der grüne Heinrich von 1855/80, Adalbert Stifter in Der Nachsommer von 1857, oder auch Wilhelm Raabe). Die Autoren des französischen Realismus hingegen bilden den Roman zu einem wichtigen Instrument der Gesellschaftsanalyse aus. So beispielsweise Gustave Flaubert, der in Madame Bovary (1857) oder L'education sentimentale (1870) das Scheitern illusionierter Individuen gestaltet, so auch Honoré de Balzac und Stendhal, die in ihrem breiten Romanwerk die Mechanismen und Gesetze einer korrupten bürgerlichen Gesellschaft offenlegen. Diese Form des Gesellschaftsromans findet in
Deutschland relativ wenige Nachfolger. Allenfalls Theodor Fontane oder die späteren Romane Heinrich Manns (Der Untertan, 1916) mit ihrer satirischen Zuspitzung können genannt werden. Der realistisch-kritische Ansatz des Romans verschärft sich im 20. Jahrhundert zur Skepsis gegenüber der eigenen Form - und zum Mißtrauen gegen die realistisch erzählbare äußere Wirklichkeit. Es entwickelt sich ein Bewußtsein, mit solcher Wirklichkeitsschilderung weder die Unmittelbarkeit subjektiven Erlebens noch tatsächlich die Wahrheit umfassender gesellschaftlicher Prozesse erfassen zu können. Daher drängt der Roman zur Zerschlagung seiner herkömmlichen Form, was zu einer nochmaligen Erweiterung seiner Darstellungsmöglichkeiten führt. Beispielhaft geschieht das etwa in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (1913-27), der den Ich-Roman zum höchst differenzierten Instrument der Selbst- und Zeitanalyse ausbildet. Bei James Joyce (Ulysses, 1922) oder Alfred Döblin (Berlin Alexanderplatz, 1929) werden die Kontinuität und Eindeutigkeit der Handlung aufgelöst in ein Ineinanderfließen verschiedener Zeit- und Realitätsebenen. Mit neuartigen Stilmitteln wie dem "stream of consciousness" (vgl. Formen der Bewußtseinswiedergabe) wird versucht, den Bereich des Unbewußten immer stärker in die epische Handlung mit einzubeziehen. Die Entwicklung dieses modernen Romans geht einher mit der Rede von seiner "Krise". Die Unsicherheit gegenüber seiner eigenen Form drückt sich häufig darin aus, daß selbstreflexive, erörternde Elementen oder gar weite essayistische Passagen in den Text aufgenommen werden. (vgl. Romantheorie im Roman) Der sogenannte postmoderne Roman, etwa in der Ausprägung, die Umberto Eco dem Begriff gegeben hat (Il nome della rosa von 1980), integriert spielerisch die verschiedensten Elemente und versucht, mit metafiktionalen Verfahren (vgl. metafiction) das schon Erzählte doch noch einmal anders und neu zu sagen. Der Roman, der ursprünglich eine naive Erzählung ritterlicher Abenteuer war, hat sich als ein äußerst leistungsfähiges literarisches Medium erwiesen und scheint sich auch gegen konkurrierende Erzähl-Medien wie den Film zu behaupten. Immer noch wird in ihm der Versuch unternommen, in kritischer, utopischer oder spielerischer Absicht die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu führen. Zu recht kann er immer noch als Experimentierfeld des menschlichen "Möglichkeitssinns" (Robert Musil) gelten. © JV und SR
Georg Lukács: Theorie des Romans, Darmstadt u.a. 1987. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesung über die Ästhetik. Sekundärliteratur:
1. M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/M. 1989. 2. B. Hillebrand: Theorie des Romans, München 1980. 3. J. Schramke: Zur Theorie des modernen Romans, München 1974.
Robert Musil
* 06.11. 1880, Klagenfurt † 15. 04 1942, Genf Dichter, Schriftsteller, Maschinenbauingenieur und "Eigenschaftler" Bereits seine Erstlingserzählung Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906; 1965 verfilmt durch Volker Schlöndorff) ist mehr als die reflektierte Adoleszenzgeschichte vom Drill und Thrill einer Kadettenanstaltsjugend. Schon hier deutet sich das später bestimmende Thema einer 'zweiten imaginären Wirklichkeit' und die Suche nach dem 'anderen Zustand' an: "Das sich unverstanden Fühlen und das die Welt nicht Verstehen begleitet nicht die erste Leidenschaft, sondern ist ihre einzige nicht zufällige Ursache. Und sie selbst ist eine Flucht, auf der das Zuzweiensein nur eine verdoppelte Einsamkeit bedeutet." (Bd. 6, S. 30) Große Teile von Robert Musils dichterischem und essayistischem Werk thematisieren "das ungeheure Mißtrauen gegen die geistigen Hervorbringungen" (Ludwig Marcuse) seiner Zeit. Die lakonisch inszenierte Meteorologie eines Sommertags 1913, die den berühmten Auftakt des gigantischen Romanfragments Der Mann ohne Eigenschaften (1930-42) bildet, hat Aufsehen erregt und zusammen mit Musils ausgiebiger, spielerischer Ouvertüre, "Eine Art Einleitung", einigen Nachhall gefunden - noch in Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel (dt. 1989) ist eine respondierende Anspielung darauf entdeckt worden. Eher reservierte Kritiker wie Rolf Vollmann störte hingegen "immer öfter der Eindruck einer gewissen Frostigkeit des hier angewandten Witzes; die Lässigkeit ist ein kleines bißchen zu großstädtisch, der Himmel ist ein wenig sehr ubahnweit weg von den Köpfen der Leute." (S. 1033) Musils grotesker Kakanien-Kosmos rund um das fiktive Projekt einer deutschösterreichischen 'Parallelaktion' im Jahre 1918 leugnet mit der paradoxen Formel, dass aus ihr 'bezeichnender Weise nichts hervorgehe', jede propädeutische Erzählfunktion und weist auf den gewollten Bruch mit dem linearen Erzählen voraus. Nur: wie läßt sich in einer Zeit der Krise des Romans überhaupt in diesem Medium noch erzählen? Im Kapitel 122 findet sich eine poetologische Selbstdefinition dessen, was der Roman narrativ versuchen will, woran er sich (ohne zum Abschluß zu gelangen) abarbeitet. Der radikale Gefühlsanarchist, Dauerdenker und galante Nichtstuer Ulrich, der sich eine Auszeit vom Berufsalltag genehmigt und allenfalls diplomatisch dilettiert, wird eines Nachts mehr von seinem Gedankenspiel als von der Animationskunst einer Hure erregt. Was sein Möglichkeitsdenken als Alternative zum Wirklichkeitssinn ersinnt (vgl. Kap. 6), das endet vor der dunklen Fläche einer Riesenpfütze, die den Schritt hemmt und zu Beobachtungen von Narrationsgesetzmäßigkeiten überleitet: "Die
meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig ‚weil' und ‚damit' hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen ‚Lauf' habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‚Faden' mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet." (Bd. 2, S. 650) Wer sich auf diese spiegelglatte Erzähl- und Reflexionsfläche des Romans begibt, mit dem Vivisekteur Ulrich durch Pfützen und Denkabenteuer stakst, hochfliegende und banale Projekte zerstieben sieht, zahllose Politikpläne und Liebesverhältnisse voyeuristisch belauscht, Raum- und Denkordnungen durchfährt, der beschreitet als ein aus dem Möglichkeitsdenken kaum mehr entlassener Leser, jene "Reihen von Übergängen" (Bd. 8, S. 1088), in den sich vormalige Gegensätze flächig auflösen, um allenfalls noch einen "Ordnungsschein über einem Chaos" (Bd. 8, S. 1066) zu gewähren. Eine so sich entfaltende Utopienlandschaft von "Andersheiten" (R. von Heydebrand) beherrscht den Roman durch die ständigen Versuchsanordnungen 'anderer Wahrnehmung', durch ein Ausprobieren 'anderen Denkens' und das Durchspielen von Gefühlsexperimenten (wie mystische Fernliebe, dauerhafte Ekstase oder auch Formen von Selbstliebe). Das flächige Riesenwerk verlangt einiges an Ausdauer und wiederholender Lektüre: Wem bei dem Gedanken- und Gefühlskorso schwindlig wird, der darf sich allerdings auch mit Musil trösten und es stückweis versuchen, der angesichts eigener Erfahrungen gegenüber der Literaturgeschichte 1926 die Auskunft gab, "seit Jahren selten ein Buch zu Ende gelesen zu haben, außer es war ein wissenschaftliches oder ein ganz schlechter Roman, in dem die Augen stecken bleiben, als ob man einen großen Teller in Schnaps getränkter Makkaroni hinterschlingen würde. Wenn ein Buch dagegen wirklich eine Dichtung ist, kommt man selten über die Hälfte; mit der Länge des Gelesenen wächst in steigenden Potenzen ein bis heute unaufgeklärter Widerstand. Nicht anders, als ob die Pforte, durch die ein Buch eintreten soll, sich krampfhaft gereizt eng verschließen würde. Man befindet sich, wenn man ein Buch liest, alsbald in keinem natürlichen Zustande mehr, sondern fühlt sich einer Operation unterworfen. Da wird ein Nürnberger Trichter an den Kopf gesetzt, und ein fremdes Individuum versucht, seine Herzens- und Gedankenweisheit einem einzuflößen; kein Wunder, daß man sich diesem Zwange entzieht, sobald man nur kann!" (Bd. 8, S. 1160) Wer vom "Mann ohne Eigenschaften"-Komplex überwältigt auf Rückzug sinnt, könnte zu Musils Anthologie kleiner Prosa greifen und im Nachlaß zur Lebzeiten (1936) stöbern; dort trifft er auf gemeißelte Kurztexte wie Das Fliegenpapier,
Kann ein Pferd lachen? oder Hasenkatastrophe - vor allem aber lohnt hier der in der Debatte um eine öffentliche 'Erinnerungspolitik' von Kunstmanagern und Kulturpolitikern nachhaltig zitierte Beitrag Musils über "Denkmale".
Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden, hg.v. Adolf Frisé, 2. verb. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1981. Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) Der Mann ohne Eigenschaften (1930-1942) Nachlaß zur Lebzeiten (1936)
Sekundärliteratur: 1. Helmut Arntzen: Musil. Kommentar zu dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, München 1982. 2. Wilfried Berghahn: Robert Musil, 17. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1993. 3. Renate Schröder-Werle: Robert Musil. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2001.
Marxismus und Literatur
Der Marxismus ist im Kern eine Theorie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die von der 'letztinstanzlichen' Determinationskraft der ökonomischen Basis gegenüber dem sogenannten 'Überbau' politischer, sozialer, kultureller und künstlerischer Gebilde ausgeht. Ausgearbeitet wurde sie von Karl Marx und Friedrich Engels in erklärt praktischer Absicht: um diese Gesellschaftsform, die auf der Ausbeutung der proletarischen Klasse beruhe, umzustürzen und durch eine sozialistische Gesellschaft ohne Klassenkonflikte zu ersetzen. Unter diesem Primat der Praxis kann Kunst und Literatur bestenfalls als "Nebenprodukt bei der Veränderung der Welt" (Brecht) verstanden werden. Insofern bieten auch nur wenige Sektoren marxistischer Theoriebildung Ansatzpunkte für eine spezifische Theorie der Kunst oder die Analyse von Kunstwerken: in erster Linie die Geschichtsauffassung und das Ideologiekonzept der Marxschen Frühschriften. Die Äußerungen der marxistischen Gründerväter über Kunst und Literatur sind zumeist sehr zeitgebunden. Als umfassend gebildete Bürger teilen Marx und Engels die ästhetischen Maßstäbe und Vorlieben, die schon in der Goethezeit geprägt wurden. So preisen sie die Kunst der griechischen Antike mit ähnlichen Worten wie Winckelmann, Goethe, Humboldt und Hegel. Manche pointierten Äußerungen können bestenfalls als Anregungen dienen, wie z.B. Marxens berühmte Reflexion über "das unegale Verhältnis [...] der materiellen Produktion, z.B. zur künstlerischen": "Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die 'Iliade' mit der Druckerpresse oder gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Preßbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie? Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehn, daß griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten." (S. 125) Eine materialistische Literaturtheorie entwickelte sich nur mühsam und diskontinuierlich. Im bürgerlichen Wissenschaftsbetrieb bleibt marxistisches Gedankengut weithin ausgegrenzt; in marxistischen Parteien oder sozialistischen Staaten wird Literatur- und Kunsttheorie zumeist willkürlich an Herrschaftsinteressen ausgerichtet - wie im Sozialistischen Realismus der StalinÄra, der - mit Hilfe von Theoretikern wie Georg Lukács - die kommunistische Zukunftsvision ins Gewand eines abgenutzten bürgerlichen Realismus kleidete (zugleich aber abweichende und konkurrierende Positionen unterdrückte).
Von wesentlich höherem Anregungswert waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deshalb die Versuche westlicher Neomarxisten, zumeist kreativer Einzelgänger, die einerseits an den hegelschen, d.h. prozeßorientierten Elementen der Marxschen Theorie ansetzten, andererseits die Breite und Vielfalt der zeitgenössischen Kunstformen und -medien in den Blick nehmen. Persönlich halten sie zumeist einen minimalen Sicherheitsabstand zur kommunistischen Partei ein. Gemeinsam ist den verschiedenen, teilweise sogar konträren Versuchen und Entwürfen von Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno, daß sie die Produktivkraft Kunst ernst nehmen und gegenüber den ökonomischen Zwängen aufwerten. Damit öffnen sie den Blick für die Zeit-, Material- und Mediengebundenheit des künstlerischen Schaffens, aber auch für die Bedeutung des subjektiven Faktors in diesem Produktionsprozeß. In Deutschland war die marxistische Theorietradition seit 1933 unterbrochen; auch nach 1945 wurde sie im Westen noch pauschal ausgegrenzt, im Osten nur selektiv zugelassen und dogmatisch umgesetzt. Die intensive MarxismusRezeption seit den sechziger Jahren hatte deshalb eine wichtige 'nachholende' Funktion. In der Literaturwissenschaft hat sie zur definitiven Ablösung der werkimmanenten Interpretation beigetragen, ohne selbst dauerhaft ein eigenes Paradigma ausbilden zu können. Inhaltliche Anregungen sind aber in die Sozialgeschichte der Literatur bzw. die Literatursoziologie eingeflossen. Ein ungelöstes Problem bleibt nach wie vor die Verbindung mit einer Sprachtheorie, die erst die schlüssige Vermittlung historischer und ideologischer Aspekte mit der ästhetischen Struktur eines Werkes leisten könnte. © JV
Karl Marx/Friedrich Engels über Kunst und Literatur 2 Bde. 1968 Wichtige Schriften: ❍ ❍
Fritz J. Raddatz (Hg.): Marxismus und Literatur (3 Bde. 1969) H. Ch. Buch (Hg.): Parteilichkeit der Literatur oder Parteileiteratur? Materialien zu einer undogmatischen marxistischen Ästhetik (1972)
Franz Kafka
* 03. 07.1883, Prag † 03. 06.1924, Kierling bei Wien Jurist und deutschsprachiger Schriftsteller Die Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland hemmte die Verbreitung der drei Romane Der Verschollene (früher Amerika), Der Process und Das Schloss die der frühverstorbene Autor hinterlassen und die sein Freund Max Brod erst 1925-27 ediert hatte. Zu Lebzeiten waren von Franz Kafka nur einige Erzählungen und Kurzprosa im Druck erschienen. Die Rezeption seiner Werke erfolgte in Europa erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und fiel so zusammen mit der Aufnahme der Existenzphilosophie und der 'existentialistischen' Autoren Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Kafka erhielt den Stempel des "Dichters der Angst", der die Verhängnisse der Moderne früh zum Ausdruck gebracht und die Auswirkungen des mechanisierten und bürokratisierten Lebens auf die Menschen bereits vorweggenommen habe. Er wurde alsbald von den verschiedensten literarischen und weltanschaulichen Strömungen als Repräsentant beansprucht. Dies ignoriert sowohl die realistisch-naturalistische Tradition (Flaubert, Dostojewski, Dickens) als auch den Kontext der Kulturszene von Berlin, Prag und Wien, in denen Kafka stand. Einen entscheidenden Einfluss hatte zweifellose seine Zwischenstellung als jüdischer, deutschsprachiger Tscheche - als zwischen den Nationen, Religionen und Sprachen stehender Intellektueller, der sich nirgendwo zugehörig fühlte. Seine schwache Konstitution erschwerte ihm seinen Beruf als Versicherungsbeamter. Neben dem Grundkonflikt, sein dichterisches Schaffen mit dem Brotberuf zu kombinieren und sich in zäher Arbeit Texte abzuringen, schwankte Kafka lebenslang zwischen dem Wunsch, nur für das Schreiben zu leben, und der selbstkritischen Angst, diesem Anspruch nicht zu genügen, aber auch im bürgerlichen Leben zu versagen - etwa durch die Unfähigkeit, eine Familie zu gründen. Kafkas Versuche, aus seiner Schreibwelt auszubrechen und eine Liebesbeziehung zu etablieren, resultierten in mehreren Leidensgeschichten und aufrührenden Briefen (Briefe an Felice, Briefe an Milena). Gleichzeitig lösten diese Beziehungskrisen bei Kafka Schreibimpulse aus, die in der frühen Phase zu Erzählungen wie Das Urteil, Die Verwandlung (1912), oder den Romanfragmenten Der Verschollene (1912) und Der Process (1914) führten. Einen zweiten Produktionsschub erlebte er 1916-17 (Landarzt-Erzählungen, Aphorismen). Seine letzte Schreibphase setzte 1922 ein, als er mit dem SchlossRoman begann und später die letzten Erzählungen (Ein Hungerkünstler, Josefine, die Sängerin) schrieb. Die kreativen Perioden gaben Kafka die Genugtuung,
seinen Lebenszweck zu erfüllen, zugleich aber fürchtete er den Verlust des Schreibvermögens. Um dem Versiegen der Inspiration vorzubeugen, hielt er den Schreibprozess mit Tagebucheinträgen in Gang. Kennzeichnend für Kafka ist seine Sprachkunst, in der sich syntaktische Klarheit und große Detailgenauigkeit mit Rätselhaftigkeit des Inhalts verbindet, was zu Ambivalenzen führt, die sich kaum auflösen lassen. Eben darin liegt die Faszination dieses epochalen Werkes: Es appelliert an Leser aller Kulturen und verlangt Sinnzuweisungen, ohne sein Geheimnis preiszugeben oder sich festlegen zu lassen. Je nach Blickwinkel sind unterschiedliche Lesarten möglich, ohne das eine "richtige" Interpretation zu ermitteln ist. So kann Der Process gelesen werden als der vergebliche Kampf eines von anonymen Mächten bedrohten Individuums, das zuletzt dem Druck der Schuldzuweisung nachgibt und sich der Hinrichtung unterwirft, wofür die Gründe wiederum auf verschiedenen Ebenen gesucht werden können. Kafkas Texte kreisen um problematische Familienstrukturen, Berufs- und Privatleben, paradoxe Alltagssituationen, Kunstausübung (Ein Hungerkünstler, Josefine, die Sängerin). In der mittleren Schreibphase beschäftigt er sich u.a. mit mythischen Figuren (Odysseus, Jäger Gracchus) oder mit religiösphilosophischen Gedanken in den Aphorismen. Das Schloss mit seinem verwirrenden Handlungsgang, den zahlreichen Figuren und den endlosen Gesprächen folgt der labyrinthischen Grundstruktur all seiner Werke: der 'Held' stößt stets auf neue Hindernisse, sein Ziel zu erreichen. Die Helfer, die er gewinnt, bringen ihn nur scheinbar weiter. Das Bewusstsein, im Kampf auf sich allein gestellt zu sein, übersteigt schließlich die Kräfte: die Texte brechen ab oder enden mit dem Tod des Protagonisten. ©BS
Wichtige Schriften: ❍
Franz Kafka: Gesammelte Werke in 12 Bänden nach der Kritischen Ausgabe, hg. von Hans-Gerd Koch, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1994.
Sekundärliteratur: 1. H. Binder (Hg.): Kafka-Handbuch, 2 Bde, Stuttgart 1979. 2. R. Speirs / B. Sandberg: Modern Novelists: Franz Kafka, London 1997. 3. K. Wagenbach: Franz Kafka, Reinbek 1992.
Brief von lat. breve scriptum: kurzes Schreiben
Als schriftliche Mitteilung an einen/mehrere räumlich entfernte/n Adressaten ist der Brief in pragmatischer wie in kulturgeschichtlicher Hinsicht eine der wichtigsten literarischen Gebrauchsformen; er besitzt eine deutlichen Affinität zur Fiktionalisierung. In rudimentärer Form ist die briefliche Mitteilung so alt wie die Schrift überhaupt - Briefe herrschaftlichen oder auch ökonomischen Charakters kennen bereits die orientalischen Hochkulturen (seit dem 3. Jahrtausend v. Chr.). Auch im klassischen Altertum und noch im Mittelalter dominieren offizielle oder geschäftliche Schreiben als Medium von Verwaltung, politischer und wirtschaftlicher Information. Langsam aber sicher entwickelt sich jedoch auch eine persönliche Briefform: Francesco Petrarcas Entdeckung der Briefe Ciceros wirkt in der Renaissance als kräftiger Impuls. Die Briefe, die Madame de Sévigné am Hof von Versailles schreibt, markieren im 17. Jahrhundert einen ersten Gipfelpunkt des literarisch verfeinerten Briefes. Währenddessen dominiert in Deutschland noch das amtliche Schreiben oder der schwerfällige Gelehrtenbrief. Erst Gottsched, Lessing und Gellert ermuntern ihre Zeitgenossen, den Brief als Ausdruck der Persönlichkeit, ja der "Seele" zu nutzen - und so entwickelt sich auch in Deutschland eine "empfindsame" Briefkultur, an der Goethe und seine Zeitgenos/inn/en mit Begeisterung teilnehmen. Das achtzehnte Jahrhundert ist "das Jahrhundert des Briefes" schlechthin. Goethe selbst hat seine vielfältigen Briefwechsel sorgfältig gepflegt und gesammelt: in privater Hinsicht ragen die Briefe an Charlotte von Stein, in literaturgeschichtlicher Hinsicht der Briefwechsel mit Friedrich Schiller heraus. Als literarische Gebrauchsform ist der Brief sehr offen und dadurch vielfältig in seiner Verwendung und Leistung. Er kann narrative, deskriptive, reflexive, appellative Funktion annehmen oder auch - sehr häufig - verschiedenen Funktionen bzw. Textpartien miteinander kombinieren. Die meisten Briefe sind bei genauerer Betrachtung "multifunktional". - Seit der Antike wird die Form des Briefes auch als Anlass oder Rahmen (um nicht zu sagen: als Vorwand) für philosophische oder literarische Erörterungen, also eigentlich für Abhandlungen oder Essays benutzt, die (über den möglicherweise bezeichneten Adressaten hinaus) an ein allgemeines Publikum gerichtet sind. Schon die so genannte Ars poetica des Horaz ist als Versepistel abgefasst und trägt den Titel Ad Pisones (an Vater und Sohn Piso). Im Jahr 1795 handelt Schiller Über die Ästhetische Erziehung des Menschen, und zwar in einer Reihe von Briefen. Hugo von Hofmannsthal geht mit Ein Brief (1902) noch einen Schritt weiter, wenn er seine Reflexion der modernen Sprachkrise dem englischen Renaissance-Autor Lord Chandos zuschreibt, sie also zugleich historisiert und fiktionalisiert.
Die literarhistorisch wichtigste Fiktionalisierung der Gebrauchsform Brief ist der Briefroman, der als Brieffolge eines einzigen Schreibers (wie Goethes Leiden des jungen Werthers, 1774) oder als Briefwechsel zweier oder mehrerer Personen (wie die auch für Goethe maßstabsetzenden Briefromane von Samuel Richardson) angelegt sein können. Während der Briefroman schon im 19. und erst recht im 20. Jahrhundert als überholt erscheint; zeigt der authentische Privatbrief, insbesondere als Medium der persönlichen, historischen und ästhetischen Reflexion, eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit gegenüber den modernen Kommunikationsmedien, die seine ursprüngliche Mitteilungsfunktion übernehmen. Philosophen, Politiker, Wissenschaftler - Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Friedrich Engels, Otto von Bismarck, Sigmund Freud - geben sich und ihren Vertrauten brieflich Rechenschaft. Künstler - insbesondere auch Maler und Musiker - nutzen den Brief als flexible Form für ästhetische Erörterung und Selbstdeutung. Nicht alle, aber doch sehr viele Schriftsteller pflegen den privaten Brief und seine vielseitigen Möglichkeiten, sei es mit oder ohne Seitenblick auf Öffentlichkeit und Veröffentlichung. Jede Auswahl - von Gottfried Keller und Theodor Fontane über Rainer Maria Rilke, Thomas Mann und Franz Kafka bis zu Gottfried Benn und Paul Celan muss in dieser Hinsicht unvollständig bleiben. ©JZ
Sekundärliteratur: 1. H. Belke: Literarische Gebrauchsformen, Düsseldorf 1973. 2. K. Ermert: Briefsorten, Tübingen 1979. 3. R. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991.
Tagebuch
Als Tagebuch bezeichnet man regelmäßig (im Idealfall täglich) fortgeführte und zumeist datierte Aufzeichnungen, in denen der/die Verfasser/in Begebenheiten des persönlichen Lebens festhält, die eigenen Gedanken und Gefühle, Erinnerungen und Wünsche niederschreibt, aber auch von historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ereignissen berichtet und seine persönlichen Kommentare und Bewertungen dazu abgeben kann. Das Tagebuch ist also nach Themen und Schreibweisen (z.B. narrativ, deskriptiv, reflexiv) ähnlich offen und multifunktional wie der Brief (von dem es jedoch seine prinzipiell monologische Struktur unterscheidet). Die chronologische Abfolge des Tagebuchs erinnert an Chronik und Autobiographie - anders als diese wird es aber (im Prinzip) nicht retrospektiv, sondern mit den Ereignissen fortlaufend aufgezeichnet. Empfindung und spontane Ausdruck sind deshalb meist stärker ausgeprägt als kritische Distanz. Alles in allem ist das Tagebuch ein sehr flexibles "Aufschreibsystem", das für unterschiedliche Interessen und Intentionen genutzt werden kann. Ganz ähnlich wie der Brief ist es als alltägliche Gebrauchsform verbreitet, kann aber leicht und vielfältig literarisiert oder fiktionalisiert werden. Kultur- und mentalitätsgeschichtlich setzt das Tagebuch wie Brief oder Autobiographie die bewusste Individualität des Schreibenden voraus, sein Interesse, sich selbst zum Thema zu machen. Historisch gesehen tritt es also in Europa in entwickelter Form erst mit und nach der Renaissance in Erscheinung. In der Folge kann man, speziell auch in der deutschen Literatur, vom Barock über die Aufklärung bis zur Empfindsamkeit und Romantik eine zunehmende Intensivierung des subjektiven Faktors beobachten, die mit entsprechenden Entwicklungen der Religiosität, der Psychologie, der Briefkultur und des Romans korrespondiert. Schriftsteller nutzen die vielfältigen Möglichkeiten der Tagebuchliteratur oder Diaristik (nach lat. diarium, von lat. dies 'der Tag') sowohl thematisch wie auch funktional besonders vielfältig. Johann Gottfried Herders Journal meiner Reise im Jahre 1769 ist nicht nur ein Beispiel für die Variante des Reisetagebuchs, sondern (nachträglich aufgezeichnet), ein anthropologischer Essay, der sich tendenziell an ein größeres Publikum richtet. Goethes Tagebücher von 1775 bis 1832 sind dagegen eher alltäglicher Rechenschaftsbericht und Materialfundus für das "durchgearbeitete" autobiographische Werk. Die europäische Romantik kultiviert hingegen das "journal intime", also das Seelen- und Gefühlstagebuch mit selbstanalytischen Aspekten. Diese dominieren auch das bedeutendste deutsche Werk des 19. Jahrhunderts, die Tagebücher von Friedrich Hebbel (verfasst 1835 bis 1863), die er als "Reflexionen über Welt, Leben und Bücher, hauptsächlich aber über mich selbst" versteht. Sie weisen damit schon voraus auf die Tagebücher Franz Kafkas (zuerst 1937 publiziert), die als radikale
Selbstanalyse und zugleich als Fortsetzung des erzählerischen Werkes zu verstehen sind. Doch werden auch im 20. Jahrhundert verschieden Varianten der Diaristik nebeneinander praktiziert: Thomas Mann hält, ein wenig in Goethes Nachfolge, eher buchhalterisch die Geschäfte und Sorgen des Tages fest, bis hin zu den Verdauungsbeschwerden. Bertolt Brecht legt sein Arbeitsjournal in der Exilzeit als Material- und Ideensammlung für seine Projekte an und schließt (fast) alles Private aus. (Beide werden erst posthum publiziert.) Ganz im Bannkreis der historisch politischen Ereignisse stehen Tagebücher aus Krieg und Gefangenschaft - von Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920) bis zum Tagebuch der Anne Frank (1946). Ähnlich erfolgreich wie diese beiden sehr verschiedenen Titel war auch das sorgfältig komponierte Nachkriegs- Tagebuch 1946 -1949 von Max Frisch, das u.a. Skizzen seiner späteren Werke enthält. Schließlich kann das Tagebuch (ähnlich wie der Brief oder die Autobiographie) auch als Strukturmodell für fiktionales Erzählen benutzt werden: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge von Rainer Maria Rilke sind das klassische Beispiel eines solchen Tagebuchromans (in dem die subjektive Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit ihrerseits in eine Krise gerät). Max Frisch (Stiller, 1954, Homo Faber, 1957) und Uwe Johnson (Jahrestage, 1970-83) experimentieren ebenfalls mit dieser Form. Immer wieder einmal erregen nichtliterarische Tagebücher wegen der (sensationellen) Informationen, die sie versprechen, öffentliches Aufsehen. Ein besonders grotesker Fall waren in den neunziger Jahren die angeblich entdeckten Tagebücher Adolf Hitlers, die sich jedoch sehr schnell als betrügerische Fälschung herausstellten. © JZ Sekundärliteratur: 1. P. Boerner: Tagebuch, Stuttgart 1969. 2. M. Jurgensen: Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch, Bern u.a. 1979. 3. R. Görner: Das Tagebuch, München u.a. 1986.
Platon: Der Staat
Platon entwirft in seinem philosophischen Dialog Politeia (Der Staat) das Bild eines idealen Staates. Ausgehend von der Kritik an den herkömmlichen Regierungsformen (Oligarchie, Demokratie, Tyrannis), zeichnet er als Gegenentwurf das Bild eines Staates, in dem Gerechtigkeit und Glück die konstitutiven Elemente sind. Dieser Staat besteht aus drei Ständen: den Gewerbetreibenden, denen die Aufgabe der Ernährung und des Erwerbs zukommt, und die insofern die Grundlage des Staates sind; den "Wächtern" oder Kriegern, welche die Aufgabe haben, die Verteidigung nach außen zu gewährleisten; den Herrschenden, die nach den Prinzipien von Gerechtigkeit und Vernunft die Leitung übernommen haben. Es stellt sich nun die Frage, nach welchen Prinzipien die Herrschenden ausgewählt werden. Platon antwortet: Nach dem Prinzip einer Auslese durch Erziehung. Zunächst sollen alle Kinder gleich sein. Durch die Konfrontation mit den Grundelementen der Erziehung – Gymnastik und Musik – soll eine erste Charakterbildung vorgenommen werden. Darauf folgen Rechnen, Mathematik, Vorübungen in Dialektik, das Aushalten von Schmerzen, Entbehrungen und Anstrengungen und die Probe der Standhaftigkeit gegenüber der Versuchung. Im Alter von zwanzig Jahren dann eine erste Prüfung: Nur die besten werden die Anwärter für die höchsten Ämter. Diese Auslese wiederholt sich immer wieder bis zum Alter von fünfzig Jahren, erst dann darf der so Erzogene Verantwortung übernehmen. Zentrales Element der weiteren Bildung war bis dahin die Philosophie, deswegen spricht man auch vom "Herrscher als Philosophen". In dieser zentralen Idee der philosophischen Bildung liegt auch die Ablehnung der Dichtung durch Platon begründet, denn er fürchtet, daß bestimmte literarische Werke der Erziehung zur Tugend und der Eindämmung des Lasters nicht förderlich sind. Deswegen lehnt er auch einige der bedeutendsten Schöpfungen seiner eigenen Kultur ab, z.B. die Dichtungen Homers. Gleichzeitig huldigt Platon den poetischen Mitteln, die seine Dichterkollegen benutzen und schafft selber philosophische Werke von höchster literarischer Meisterschaft. Eine weitere Eigenheit dieses Entwurfs eines idealen Staatswesens ist die Idee, daß der Stand der später Herrschenden ein völlig besitzloser sein soll. Sowohl der materielle Besitz (Haus, Gold, Güter) als auch der familiäre Besitz (Ehefrau, Kinder) soll den Staatslenkern verweigert werden, um die allzumenschliche Habgier zu verhindern: "Würden sie aber jemals ein eigenes Heim oder Land oder Gold erwerben, so würden sie zu Hausherren und Gutsbesitzern statt Wächtern werden, rauhe Gebieter statt Verbündete der anderen Bürger sein; sie würden die anderen hassen und sie belauern und wären selber Gegenstände des Hasses und der Belauerung und würden ihr Leben in größerer Angst vor in- als vor ausländischen Feinden verbringen; und die Stunde des Zusammenbruchs für
sie selbst und für den Staat wird nahe sein." ©rein
Platon: Gorgias
In seinem Dialog Gorgias verwirft Platon die sophistische Idee eines naturgegebenen Rechtes des Stärkeren, der sich mittels seiner rhetorischen Fähigeiten Vorteile verschafft. In der für Platon typischen Dialektik läßt er verschiedene Positionen in Gestalt unterschiedlicher Redner aufeinandertreffen. Hier findet man eines der wenigen direkten schriftlichen Zeugnisse der Sophistik: "Wenn man durch Worte zu überzeugen imstande ist, sowohl vor Gericht die Richter als in der Ratsversammlung die Ratsherren und in der Volksversammlung das Volk [...]. Denn hast du dies in deiner Gewalt, so wird der Arzt dein Knecht sein, der Turnmeister dein Knecht sein, und auch bei dem Bankier wird sich zeigen, daß er für andere erwirbt und nicht für sich, sondern für dich, der du verstehst zu sprechen und die Menge zu überzeugen" (S. 19) Über den Stellenwert von Recht und Gesetz sagt der Sophist Kallikles: "Gesetz und Brauch stellen immer die Schwachen und die Menge auf. [...] Dadurch wollen sie die stärkeren Menschen, die die Kraft besäßen, sich mehr Vorteile zu verschaffen als sie, einschüchtern und, damit sie dies nicht tun, sagen sie, es sei häßlich und ungerecht, auf mehr Vorteile auszugehen [...]. Denn sie, meine ich, sind ganz zufrieden, wenn Gleichheit herrscht, weil sie die Minderwertigen sind [...]. Meines Erachtens beweist aber die Natur selbst, die Gerechtigkeit bestehe darin, daß der Edlere mehr Vorteile hat als der Geringere, und der Leistungsfähigere mehr als der minder Leistungsfähige. An vielen Fällen, sowohl bei den übrigen Lebewesen als auch bei den Menschen, an ganzen Staaten und Geschlechtern sieht man, daß es sich so verhält: daß nämlich das als gerecht anerkannt wird, daß der Stärkere über den Schwächeren herrscht [...]. Oder welches Recht konnte Xerxes für sich in Anspruch nehmen, als er gegen Griechenland zu Felde zog [...]? – man könnte ja tausend solche Beispiele anführen! Wahrhaftig, ich meine, diese Männer handeln so nach der Natur der Gerechtigkeit und – beim Zeus! – nach dem Gesetz der Natur, freilich nicht nach dem Gesetz, das wir fingieren, die wir die tüchtigsten und stärksten Persönlichkeiten unter uns schon in der Jugend vornehmen und wie Löwen bändigen, indem wir sie hypnotisieren und ihnen suggerieren, es müsse Gleichheit bestehen, und das sei gut und recht. Wenn aber, mein' ich, ein Mann ersteht, der die genügende Kraft dazu hat, dann schüttelt er das alles ab, zerreißt seine Bande [...], tritt unser Buchstabenwerk, unsere Hypnose, Suggestion und die sämtlichen naturwidrigen Gesetze und Bräuche mit Füßen, unser bisheriger Sklave tritt auf einmal vor uns hin und erweist sich als unser Herr, und da leuchtet in seinem Glanz das Recht der Natur" (S. 29f). ©rein
Platon: Gorgias, in: ders.: Hauptwerke, ausgewählt und eingeleitet von Wilhelm Nestle, Leipzig 1931.
Fiktionale und faktuale Texte
Als fiktional (von lat. fingere: bilden, erdichten, vortäuschen) werden Texte bezeichnet, die keinen Anspruch darauf erheben, an der außersprachlichen Wirklichkeit überprüfbar zu sein. Somit gilt 'Fiktionalität' als eines der wichtigsten Kriterien für literarische Texte und zur Unterscheidung vom 'Wirklichkeitsbericht' bzw. faktualen Texten (von lat. factum: Geschehen, Tatsache). Erstmals hat Aristoteles in seiner Poetik (4. Jh. v. Chr.) auf diesen Unterschied hingewiesen. Nicht an der sprachlichen Form könne man die Erzählung von 'erfundenen' und 'tatsächlichen' Begebenheiten unterscheiden, sondern daran, was erzählt werde: "Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt [...]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte." (Aristoteles, S. 29) Gérard Genette hat in seinem Buch Fiktion und Diktion (1991) diese Unterscheidung ausgebaut und erzähltheoretisch begründet. Mit ihm haben die Begriffe fiktional und faktual weitgehende Anerkennung gefunden. Dennoch ist eine Trennungslinie zwischen fiktionalen und faktualen Texten nicht immer eindeutig zu ziehen. Einerseits wird in vielen faktualen Textsorten mit Techniken gearbeitet, die als charakteristisch für fiktionale Literatur gelten. So verwenden z.B. Reportagen oder auch die Geschichtsschreibung häufig "fiktionalisierende" Strategien. Andererseits beziehen sich viele fiktionale Texte auf Orte, Zeiten und Sachverhalte, die unbestreitbar in der außersprachlichen Wirklichkeit ihren Platz haben. Der Vergleich des französischen Schriftstellers Paul Valéry bringt das Problem auf den Punkt: So wie der Löwe kaum mehr als verdautes Lamm sei, so bestehe die Fiktion fast ausschließlich aus fiktionalisiertem Realen. Das Ganze, so könnte man sagen, ist fiktionaler als seine Teile. Entscheidend für die Einordnung eines Textes als fiktional oder faktual ist in vielen Fällen das Wissen des Lesers um die Hintergründe seiner Entstehung und Rezeption. Häufig bestimmt bereits die Situation, d.h. der Kontext im weitesten Sinne darüber, wie man einen Text liest. Wenn in einem Literaturseminar an der Universität über Homo Faber von Max Frisch gesprochen wird, kann zunächst einmal mit dem Vorwissen gerechnet werden, daß Max Frisch ein schweizerischer Schriftsteller, also ein Verfasser fiktionaler Texte ist. Außerdem legt schon die 'Institution' "Literaturseminar an der Universität" nahe, daß es sich um einen fiktionalen Text handelt. Sollten der Name Max Frisch nicht bekannt sein und in dem Seminar auch seine Tagebücher behandelt werden, gibt es immer noch ein wichtiges Indiz, das keinen Zweifel am Status des Textes läßt: Indem der Autor seinen Text mit einer Gattungsangabe - nämlich 'Roman'- versieht,
schließt er gewissermaßen einen 'Pakt' beziehungsweise einen 'Fiktionsvertrag' mit seinen Lesern. Er gibt ihnen zu verstehen, daß er seinen Text als Roman, als eine erfundene Geschichte gelesen wissen möchte. Solche eindeutigen, die Lektüre steuernden Gattungsangaben kann man mit Genette 'Paratexte' (in etwa: was neben dem Text steht) nennen (vgl. Intertextualität). Das Kontextwissen, die Lektüresituation in einer bestimmten 'Institution' und paratextuelle Angaben können in ihrer Gesamtheit als 'textexterne' (außerhalb des Textes angesiedelte) Fiktionalitätssignale verstanden werden. Ob auch im Text selbst Anzeichen für seinen fiktionalen oder faktualen Charakter zu finden sind, hat die Germanistin Käte Hamburger (1896-1992) intensiv untersucht. In ihrem vieldiskutierten Buch Die Logik der Dichtung (zuerst 1957) versucht sie, den fiktionalen Status eines Textes aus ihm selbst zu begründen, also 'textinterne' Fiktionalitätssignale aufzufinden. Hamburger zufolge gibt es vor allem drei Charakteristika, die einen fiktionalen Text von einem faktualen unterscheiden: Erstens bedient sich der epische Erzähler "Verben der inneren Vorgänge" (Hamburger, S. 72) - oder genauer: des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens -, um Gedanken und Gefühle von Figuren mitzuteilen, die er in der dritten Person eingeführt hatte. Sätze wie der folgende werden dadurch möglich: "Beim Anblick der Leiche dachte Sherlock Holmes an die vorangegangene Mordserie und kam nicht umhin, sich an diesem neuerlichen Verbrechen mitschuldig zu fühlen." Während der Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt einer in der dritten Person Singular beschriebenen Figur in einem fiktionalen Text problemlos akzeptiert wird, müßte sich der Autor eines Wirklichkeitsberichts fragen lassen: Woher wissen Sie das? Ein weiteres Indiz für den fiktionalen Charakter eines Textes ist die Verwendung der sogenannten 'erlebten Rede' (vgl. auch: Formen der Bewußtseinswiedergabe). Dabei handelt es sich um eine sprachliche Konstruktion, in der die Aussage einer Figur (in direkter Rede) mit der des Erzählers (im Imperfekt und der Dritten Person) überblendet wird. Hamburger zufolge findet man diese Form ausschließlich in fiktionaler Prosa. Ein drittes 'textinternes' Fiktionalitätssignal ist der Gebrauch eines ganz bestimmten Erzähltempus. Wie im Französischen üblicherweise im passé simple oder im Italienischen im passato remoto erzählt wird, ist das typische Erzähltempus im Deutschen das Imperfekt bzw. Präteritum. Während das normale, sogenannte "historische" Präteritum in einem Wirklichkeitsbericht etwas unzweifelhaft Vergangenes bezeichnet, geht ihm diese zeitliche Dimension in einem fiktionalen Text verloren: Man liest einen Roman - trotz Präteritum - so als laufe das Geschehen im Hier und Jetzt ab. Dieses epische Präteritum sei, meint Hamburger, für die "Zeitlosigkeit der Fiktion" (Hamburger, S. 78) verantwortlich. Allerdings ist diese Ansicht lebhaft bestritten worden. Jochen Vogt vollzieht in seinen Aspekten erzählender Prosa diese Auseinandersetzung
ausführlich nach. © SR
Aristoteles: Poetik, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1968.
Sekundärliteratur: 1. G. Genette: Fiktion und Diktion, München 1992. 2. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, Kap.1.
Katharsis
emotionale und psychische Reinigung
Formen der Redewiedergabe
Ein Erzähler kann entweder von Handlungen berichten oder er kann seine Figuren selbst zu Wort kommen lassen. Im ersten Fall kann man von der Erzählung von Ereignissen im herkömmlichen Sinne sprechen, während im zweiten "sprachliche Ereignisse" in Form von Worten und Gedanken der Figuren wiedergegeben werden. Die Erzählung ist also in jedem Fall der Sprechakt eines Erzählers, der allerdings wiederum Sprechakte seiner Figuren enthalten kann. Eine Figur kann sogar innerhalb eines Textes selbst zum Erzähler einer ausführlichen Geschichte werden - und zwar auf einer zweiten Erzählebene (vgl. Stimme des Erzählers). Wo der Erzähler selbst über nicht-sprachliche Ereignisse berichtet, haben wir es mit einem sogenannten 'Erzählerbericht' zu tun. Bei der Wiedergabe der Rede oder der Gedanken von Figuren gilt es, wesentlich genauer zu unterscheiden. Der Erzähler kann durch die Wahl eines bestimmten Blickwinkels den Informationsfluß zwischen seiner Geschichte und dem Leser qualitativ regulieren (vgl. Fokalisierungstypen). Er kann aber auch mehr oder weniger nachdrücklich erzählen, indem er die Worte oder die Gedanken seiner Figuren mehr oder weniger originalgetreu wiedergibt. Wenden wir uns zunächst den verschiedenen Formen der Redewiedergabe zu. Je weniger ein Erzähler sich zwischen die Worte seiner Figuren und den Leser stellt, desto unmittelbarer erscheint uns diese Rede und desto ausgeprägter ist ihre 'mimetische' Qualität (vgl. Mimesis). Im Falle der 'direkten Rede' sprechen die Figuren selbst - also ohne Umformungen durch den Erzähler. Der beschränkt sich darauf, ihre Worte zu wiederholen, ohne etwas hinzuzufügen. Genette spricht deswegen auch von 'berichteter Rede'. Bestenfalls ist der Erzähler noch spürbar in Wendungen, die die Rede ankündigen wie 'sagte, zeterte, flüsterte, schrie .. sie oder er'. Bei der lauten Rede wird diese Redeankündigung (die sogenannte 'inquit-Formel') durch ein 'verbum dicendi', also ein Verb des Sagens gebildet. Bei der 'indirekten Rede' (in Genettes Terminologie 'transponierte Rede') werden die ursprünglichen Worte der Figur aus dem grammatischen Modus Indikativ bekanntlich in den Konjunktiv und das Redesubjekt von der ersten in die dritte Person verschoben. Auch wenn der Erzähler sich weitgehend an den Wortlaut der "originalen" Rede hält, ist er doch schon stärker präsent. Prinzipiell könnte er die gesamte Figurenrede wiedergeben, doch meist bearbeitet und verdichtet er sie etwas und paßt sie seinem eigenen Stil an. Im 'Redebericht' schließlich ist der Erzähler allgegenwärtig. Er faßt die Worte
seiner Figuren zusammen und kommentiert sie nach Belieben. Die originale Rede ist dabei nicht mehr wiederzuerkennen. Man könnte fast sagen, daß der Erzähler seine Figuren bevormundet. Genette nennt diese Redeform 'narrativisierte Rede', weil die Worte hier wie ein ganz normales Ereignis behandelt werden. (vgl. Beispiele für Formen der Rede- und Bewußtseinswiedergabe) Wie verhält es sich nun mit der Wiedergabe von Gedanken und Gefühlen der Figuren? Verschiedene Erzähltheoretiker vertreten die Ansicht, daß nicht nur Gedanken, sondern größtenteils auch Gefühle als sprachlich formulierte Rede betrachtet werden können. Nur daß diese "Rede" nicht laut ausgesprochen wird, sondern sozusagen "stumm" bleibt. Also kann man bei diesen unausgesprochenen Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen - etwas paradox - auch von "stummer Rede" sprechen. Die Techniken ihrer Wiedergabe ähneln denen der Rede, so daß beide Formen nebeneinandergestellt werden können (vgl. Formen der Bewußtseinswiedergabe). © SR
Sekundärliteratur: 1. G. Genette: Die Erzählung, hg. v. J. Vogt, München 1994. 2. M. Martinez / M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, Kap. 4.
Formen der Bewußtseinswiedergabe
Ein Erzähler kann entweder von Handlungen berichten oder er kann seine Figuren selbst zu Wort kommen lassen. Im ersten Fall kann man von der Erzählung von Ereignissen im herkömmlichen Sinne sprechen, während im zweiten "sprachliche Ereignisse" in Form von Worten und Gedanken der Figuren wiedergegeben werden. Die Erzählung ist also in jedem Fall der Sprechakt eines Erzählers, der allerdings wiederum Sprechakte seiner Figuren enthalten kann. Eine Figur kann sogar innerhalb eines Textes selbst zum Erzähler einer ausführlichen Geschichte werden - und zwar auf einer zweiten Erzählebene (vgl. Stimme des Erzählers). Wo der Erzähler selbst über nicht-sprachliche Ereignisse berichtet, haben wir es mit einem sogenannten 'Erzählerbericht' zu tun. Bei der Wiedergabe der Rede oder der Gedanken von Figuren gilt es, wesentlich genauer zu unterscheiden. Der Erzähler kann durch die Wahl eines bestimmten Blickwinkels den Informationsfluß zwischen seiner Geschichte und dem Leser qualitativ regulieren (vgl. Fokalisierungstypen). Er kann aber auch mehr oder weniger nachdrücklich erzählen, indem er die Worte oder die Gedanken seiner Figuren mehr oder weniger originalgetreu wiedergibt. Die Mimesisfähigkeit (vgl. Mimesis) der verschiedenen Formen von Rede- und Bewußtseinswiedergabe steigt mit abnehmender Erzählerpräsenz an (vgl. für alle nachfolgenden Bestimmungen die Formen der Redewiedergabe). Wie verhält es sich nun mit der Wiedergabe von Gedanken und Gefühlen der Figuren? Verschiedene Erzähltheoretiker vertreten die Ansicht, daß nicht nur Gedanken, sondern größtenteils auch Gefühle als sprachlich formulierte Rede betrachtet werden können. Nur daß diese "Rede" nicht laut ausgesprochen wird, sondern sozusagen "stumm" bleibt. Also kann man bei diesen unausgesprochenen Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen - etwas paradox - auch von "stummer Rede" sprechen (vgl. Beispiele für Formen der Rede- und Bewußtseinswiedergabe). Halten wir zunächst fest, daß auch die "stumme Rede" oftmals durch eine 'inquit-Formel' angekündigt wird. In diesem Fall handelt es sich um ein 'verbum credendi', also ein Verb des Denkens, wie 'dachte, überlegte, glaubte ... sie oder er'. Auf diesem etwas unübersichtlichen und heiß umstrittenen Gebiet der Erzählforschung hat sich die amerikanische Germanistin Dorrit Cohn mit ihrem Buch Transparent Minds von 1978 sehr verdient gemacht. Deswegen wird neben den deutschen Bezeichnungen auch ihre Begrifflichkeit zu Rate gezogen. Im einzelnen ist vor allem zwischen Gedankenbericht, erlebter Rede und Innerem Monolog zu unterscheiden. Zwischen den Formen der Rede- und Bewußtseinswiedergabe und anderen Kategorien der Erzähltextanalyse bestehen natürlich vielfältige Verbindungen. So
wie beispielsweise der 'Rede-' und der 'Gedankenbericht' mit seiner starken Dominanz des Erzählers eng mit der auktorialen Erzählsituation verbunden ist, so bietet sich die Technik der erlebten Rede natürlich in der personalen Erzählsituation an (vgl. Erzählsituationen, Fokalisierungstypen). Außerdem dient beispielsweise der 'Innere Monolog' dem 'zeitdehnenden', der 'Gedankenbericht' dagegen dem 'zeitraffenden' Erzählen (vgl. Zeitraffung). © SR
Sekundärliteratur: 1. D. Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton, N.J. 1978. 2. M. Martinez / M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, Kap. 4.
Gorgias von Leontinoi
* etwa 480 v. Chr. † etwa 380 v. Chr. Philosoph Der Philosoph Gorgias gehört zu den griechischen Sophisten, er gilt als Begründer der rhetorischen Stilistik. In erkenntnistheoretischer Hinsicht vertritt er einen radikalen Skeptizismus. Wer davon ausgeht, daß nichts Gültiges existiert, und daß dieses, selbst wenn es existieren würde, nicht zu erkennen wäre, und selbst wenn es erkannt würde, nicht mitteilbar wäre, für den kann es keine objektive Erkenntnis, keine Wahrheit und kein Recht geben. Menschen, Politiker, Staatenlenker setzen sich nicht durch, weil sie Recht haben, denn dieses objektive Im-Recht-Sein gibt es ja nicht, sondern weil sie sich mittels ihrer Reden Recht verschaffen. Das bedeutet, daß der Einsatz der Rhetorik von allen moralischen Beschränkungen vollkommen frei ist. Diese Ansicht ist grundlegend für die Sophistik; sie drängte sich den Philosophen dieser Schule förmlich auf, weil sie von Stadtstaat zu Stadtstaat zogen, um ihre rhetorischen Fähigkeiten zu 'verkaufen'. Sie erlebten auf ihren Reisen, daß die Regeln des Zusammenlebens überall andere waren. Deswegen gebe es keine allgemeine, ewig geltende Moral, schlußfolgerten sie. Und wenn es sie gäbe, könnte man sie – siehe oben – nicht erkennen. Die Aufgabe der Rhetorik ist folglich die 'Kunst der Überredung'. Der Mensch muß zur Akzeptanz bestimmter Annahmen überredet werden. Gorgias beachtet nun vor allem die sinnliche Seite der Sprache, die Wirkung von Rhythmus und Klang, die in den Dienst der Überredung gestellt wird. Die einzige Grenze für die Anwendung rhetorischer Mittel ist das Gewaltverbot; Täuschung und Betörung sind erlaubt, um dem stärkeren Rhetoriker zu seinem (politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen) Sieg zu verhelfen. Die Sophisten sind vor allem dadurch berühmt geworden, daß Platon in direkter Abgrenzung von ihnen seine philosophischen Auffassungen entwickelt hat. © rein
Sekundärliteratur: 1. O. A. Baumhauer: Die sophistische Rhetorik, Stuttgart 1986. 2. M. Fuhrmann: Die antike Rhetorik, München u.a. 1990.
Ständeklausel
Die Ständeklausel ist ein dramenpoetisches Prinzip, das die dramatische Produktion über mehr als zwei Jahrtausende beeinflußte. Sie geht auf Aristoteles zurück, der in seiner Poetik die Tragödie für die Darstellung der Konflikte und Probleme der "guten" Menschen reservierte, die "schlechteren Menschen" jedoch auf die Komödie verwies, in der sie mit ihren Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten dargestellt und verlacht werden sollten. Opitz greift diese Scheidung dann 1624 in seinem Buch von der Deutschen Poeterey auf und definiert den guten als den adeligen Menschen, den schlechteren als den Bürger. Auch Gottsched hält mehr als hundert Jahre später in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen an dieser Vorschrift fest. Erst mit Lessing findet ein Umdenken statt. Er entwickelt das bürgerliche Trauerspiel, eine spezifisch aufklärerische Form der Tragödie, in der die Bürger mit ihren Problemen dramatisch präsentiert werden. Es ist kaum noch der Erwähnung wert, daß die Ständeklausel im 20. Jahrhundert natürlich keine Rolle mehr spielt. ©rein
Bürgerliches Trauerspiel
Das bürgerliche Trauerspiel trägt seine Programmatik und seine neue Qualität schon im Namen. Es ist ein bürgerliches Trauerspiel, die Protagonisten sind Bürger, es geht um bürgerliche Probleme und sie werden in der Form eines Trauerspiels – also tragisch – dargestellt, und das ist neu. Zumindest im 18. Jahrhundert, als Lessing diese Form der Tragödie in Deutschland etabliert. Noch sein Vorgänger Gottsched hatte 1730 im Anschluß an die Poetik des Aristoteles in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen die Tragödie mit ihren tragischen Konflikten für den Adel reserviert und damit die sogenannte Ständeklausel hochgehalten. Nur der Adel durfte tragisch dargestellt werden, für die Bürger blieb nur die Komödie, in der sie mit ihren Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten verlacht wurden. Das aufstrebende Bürgertum im 18. Jahrhundert wollte sich mit dieser Rolle nicht mehr länger zufrieden geben. Als Reaktion darauf entstand das bürgerliche Trauerspiel. In einer ersten Entwicklungsphase diente es in Deutschland vornehmlich der moralischen Selbstvergewisserung des Bürgertums und der Darstellung von Willkürakten des Adels, z.B. in Emilia Galotti (1772) von Lessing oder in Kabale und Liebe (1783) von Schiller. Eine zweite Entwicklungsphase setzte dann mit Hebbels Maria Magdalena (1844) ein, hier wurde nicht mehr der Konflikt des Bürgertums mit dem Adel thematisiert, sondern eine kleinbürgerlichpedantische Moral präsentiert, die sich gegen die Mitglieder der eigenen Gruppe wandte. Als dritte und abschließende Entwicklungsphase werden oft die naturalistischen Dramen von Hauptmann oder Ibsen genannt, in denen die Lebenslügen des selbstzufriedenen Bürgers offenbart und Forderungen der Arbeiterklasse gegenüber dem Bürgertum formuliert werden. ©rein
Sekundärliteratur: 1. R. Daunicht: Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland, Berlin 1965. 2. K.S. Guthke: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, Stuttgart 1980. 3. P. Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1973.
Redegattungen
Die antike Rhetorik umfaßt traditionell drei Redegattungen: ● ● ●
die Gerichtsrede (genus iudiciale) die Beratungsrede (genus deliberativum) die Lobrede (genus demonstrativum).
Diese drei Formen der Rede unterscheiden sich nach den möglichen Wirkungen beim Zuhörer. Die Lobrede hört man, um sie zu genießen, die Beratungs- und Gerichtsrede wird in der Versammlung bzw. im Gerichtssaal gehalten, um ein Urteil zu fällen. Dabei zielt die Beratungsrede auf zukünftiges Handeln, die Gerichtsrede betrachtet und analysiert vergangenes Handeln und die Lobrede kann als gegenwärtiges Handeln aufgefaßt werden, denn ihr Genuß fällt ja in die Gegenwart. Diese drei Redegattungen wurden von Aristoteles kanonisiert, von Quintilian kritisiert. Er erhob den Vorwurf der Vereinfachung und schlug eine Unterteilung der Lobrede in eigenständige Gattungen vor: z. B. Klage-, Trost-, Glückwunschoder Empfehlungsrede. Diese stärkere Betonung der Lobrede verwundert nicht, wenn man an das Scheitern der römischen Republik denkt und die damit einhergehenden Aufwertung der Lobrede zu Lasten der Beratungsrede. Unter dem Einfluß des Christentums entstand in der Spätantike als vierte Redegattung ●
die geistliche Rede oder Predigt (genus praedicandi),
in der die christliche Botschaft den Gläubigen und Ungläubigen verkündigt wird sowie Glaubensfragen diskutiert werden sollten. Redegattungen Gerichtsrede (genus iudiciale)
Beratungsrede (genus deliberativum)
Urteil fällen vor Gericht
Lobrede (genus demonstrativum)
geistliche Rede (genus praedicandi)
Genießen
Erbauung Bekehrung
in der Versammlung
Vergangenheit Zukunft
Gegenwart ©rein
Sekundärliteratur: 1. M. Fuhrmann: Das rhetorische System: ein Querschnitt, in: ders.: Die antike Rhetorik, München u.a. 1990, S. 75-145. 2. K.-H. Göttert: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe, Geschichte, Rezeption, München 1991. 3. G. Ueding: Das System der antiken Rhetorik, in: ders.: Klassische Rhetorik, München 1995, S. 53-78.
Redefunktionen
Die grundlegende Funktion der Rede besteht natürlich darin, den Zuhörer für die Meinung des Redners zu gewinnen. Er soll von der Schuld oder Unschuld eines Angeklagten überzeugt, für eine politische Vorgehensweise erwärmt werden oder seine Zustimmung für ein Lob, eine Klage oder ähnliches erteilen. Bei Cicero lesen wir zu dieser Wirkungsfunktion: "Wenn ich nun die Art des Rechtsfalles vernommen und erforscht habe und zur Behandlung der Sache selbst schreite, so setzte ich vor allem den Hauptgegenstand fest, auf den ich meine ganze Rede, die der gerichtlichen Untersuchung angemessen sein muß, zu richten habe. Dann ziehe ich zweierlei auf das sorgfältigste in Erwägung: erstens, was mir und dem, den ich verteidige, zur Empfehlung gereichen könnte; zweitens, was geeignet sei, die Gemüter derer, vor denen ich rede, für meine Wünsche zu stimmen. So stützt sich die ganze Kunst der Rede auf drei zur Überredung taugliche Mittel, indem wir zuerst die Wahrheit dessen, was wir verteidigen, erweisen, dann die Zuneigung der Zuhörer gewinnen, endlich ihre Gemüter in die Stimmung, die jedesmal der Gegenstand der Rede verlangt, versetzen sollen." (2, 114) Dieses Zitat macht schon deutlich, daß die Wege, auf denen diese Überzeugung bewirkt werden, sich grundlegend voneinander unterscheiden. Es gibt die Möglichkeit, den Zuhörer intellektuell anzusprechen, ihn also auf der Ebene der Logik über den Gegenstand der Rede zu belehren (docere) oder eine Argumentation zu beweisen (probare). In einem heutigen Strafprozeß würden zu einer solchen argumentativen Beweisführung Indizien zählen, z.B. ein Fingerabdruck, den ein Einbrecher in einer Wohnung hinterlassen hat, oder eine Zeugenaussage, die dem Verdächtigen attestiert, am Tatort zum Tatzeitpunkt gewesen zu sein, oder ein Geständnis des Täters, also – mehr oder weniger beweisbare Tatsachen, auf die dann der Verteidiger oder der Staatsanwalt in ihren Schlußplädoyers hinweisen könnten. Aber man kann den Zuhörer nicht nur intellektuell ansprechen, sondern auch auf der Ebene der Emotionen. Diese Ansprache kann einerseits besänftigend wirken, indem sie versucht, den Zuhörer zu gewinnen (conciliare) oder zu erfreuen (delectare), andererseits auf Erregung zielen, indem sie den Zuhörer bewegt (movere) oder anstachelt (concitare). Übertragen auf unser Beispiel des modernen Strafprozesses, würde der Verteidiger wahrscheinlich eher die Besänftigungsmöglichkeiten mittels seiner Rede bevorzugen, indem er den Angeklagten zum Beispiel zum Sympathieträger stilisiert, der in einer schwierigen Lebenssituation nicht 'aus noch ein' wußte (conciliare), und der durch sein zukünftiges vorbildliches Verhalten eine Stütze für die Gesellschaft sein könnte (delectare). Der Staatsanwalt hingegen würde wahrscheinlich eher versuchen, auf die Erregung des Zuhörers zu zielen, indem er den erlittenen Schaden des Opfers nachvollziehbar macht (movere) oder den Zuhörer von dem ständig brodelnden kriminellen Potential des Angeklagten
überzeugt (concitare). Dabei stehen sowohl dem Verteidiger als auch dem Staatsanwalt grundsätzliche alle Redefunktionen zur Verfügung. Zurück zur Antike: Die ausgewogenste Darstellung der verschiedenen Redefunktionen findet sich bei Aristoteles, während Cicero in seinen Ausführungen die Erregung der Emotionen deutlich in den Vordergrund stellt. Redefunktionen belehren (docere) beweisen (probare)
gewinnen (conciliare) bewegen (movere) erfreuen (delectare) aufstacheln (concitare)
intellektuell
emotional
Einsicht
Besänftigung
Erregung
Logik
Ethos
Pathos © rein
Cicero: Über den Redner, übers. von Wilhelm Binder, München o. J. Sekundärliteratur: 1. M. Fuhrmann: Das rhetorische System: ein Querschnitt, in: ders.: Die antike Rhetorik, München u.a. 1990, S. 75-145. 2. K.-H. Göttert: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe, Geschichte, Rezeption, München 1991. 3. G. Ueding: Das System der antiken Rhetorik, in: ders.: Klassische Rhetorik, München 1995, S. 53-78.
Elemente der Rede
Eine Rede besteht aus verschiedenen Elementen. Mit Elementen sind hier die verschiedenen Arbeitsphasen gemeint, die notwendig sind, um eine Rede hervorzubringen. Am Anfang steht der Gedanke, d.h. die Erfindung der Gedanken (inventio), die Erfindung des Themas der Rede und ihres Inhaltes. Dieses Thema kann sich dem Redner mehr oder weniger aufdrängen, z.B. dem Vater einer Braut, der auf der Hochzeitsfeier einige Worte – eine Lobrede - über die Ehe im allgemeinen, seine Tochter und den Schwiegersohn im besonderen formulieren muß! Das Thema ist ihm klar, was er sagen soll jedoch noch lange nicht. Wird er die Sandkastenliebe seiner Tochter erwähnen, von der sich der nun gewählte Gatte zumindest von den Tischmanieren her gesehen positiv unterscheidet? Oder soll er die 'Verdienste'der Heiratswilligen in Schule und Beruf hervorheben, um auf ihren untadeligen Charakter hinzuweisen? Oder soll er die Geschichte ihrer Liebe erzählen? Fragen über Fragen, die nicht beendet sind, wenn sich der Vater z.B. für die Geschichte der Liebe des Hochzeitspaares entschieden hat, denn nun heißt es, womit beginnen? Soll er chronologisch erzählen oder in Rückblicken? Mit der Geburt beginnen und mit dem Festtag enden, mit dem Festtag beginnen und einige Spotlights in die Vergangenheit werfen? Egal wie er sich entscheidet, er muß seine Gedanken gliedern (dispositio). Aber mit der Gliederung der Gedanken ist die Rede leider immer noch nicht vollbracht, nun muß sie formuliert werden, müssen die Gedanken sprachlich dargestellt werden (elocutio). Auch hier muß der zukünftige Redner wieder viele Entscheidungen treffen bezüglich der zu wählenden rhetorischen Mittel. Er kann seine Tochter als Blume bezeichnen, die jetzt endlich aufgeblüht ist (Metapher). Er kann zum Abschluß die Festgemeinde fragen, ob sie sich überhaupt ein wunderbareres Paar vorstellen könnte (rhetorische Frage). Und er kann auch seine Tochter und seinen zukünftigen Schwiegersohn als die Liebe an sich darstellen (Allegorie)! Sind dann auch diese Entscheidungen gefällt worden, dann muß die Rede memoriert werden (memoria), denn nichts wirkt grauenvoller, als eine mehr schlecht als recht holprig abgelesene Rede. Der freie Redner ist der überzeugende Redner. Der freie Redner ist es dann auch, der sich auf den Vortrag seiner Rede (pronuntiatio) – und damit auf das fünfte und letzte Element der Rede – vollkommen konzentrieren kann, und nicht mit der mittlerweile unleserlichen Schrift oder der schlechten Beleuchtung des Katheders zu kämpfen hat. In der Rhetoriklehre werden diese verschiedenen Elemente der Rede in die Bereiche der res - also der Gedanken – und der verba – also der Sprache –
unterschieden. Die Erfindung und Gliederung der Gedanken sowie das Memorieren der Rede gehört zur sachlich-argumentativen Seite der Rede (res), die sprachliche Darstellung der Gedanken sowie der Vortrag der Rede zur sprachlichen Seite. Diese Differenzierung geht auf Cicero zurück. Elemente der Rede Gedanken (res) 1. Erfindung der Gedanken (inventio)
2. Gliederung der Gedanken (dispositio)
Sprache (verbum) 4. Memorieren der Rede (memoria)
3. sprachliche Darstellung der Gedanken (elocutio)
5. Vortrag der Rede (pronuntiatio)
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Sekundärliteratur: 1. M. Fuhrmann: Das rhetorische System: ein Querschnitt, in: ders.: Die antike Rhetorik, München u.a. 1990, S. 75-145. 2. K.-H. Göttert: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe, Geschichte, Rezeption, München 1991. 3. G. Ueding: Das System der antiken Rhetorik, in: ders.: Klassische Rhetorik, München 1995, S. 53-78.
Rhetorische Mittel
Auf dieser Seite finden Sie eine Auswahl rhetorischer Mittel. Sie können jeden Begriff in dieser Tabelle anklicken und erhalten dann sowohl eine genaue Definition des rhetorischen Mittels, Informationen über seine Verwendungsart und Wirkung, als auch viele anschauliche Beispiele. Rhetorische Mittel Einzelwörter
Wortverbindungen
Tropen Metapher Katachrese Metonymie Synekdoche Emphase Hyperbel Periphrase Synonym
Wortfiguren
Sinnfiguren
Anapher Ellipse Hyperbaton Antithese Epipher Zeugma Parallelismus Apostrophe Paronomasie Chiasmus Rhetorische Frage Polyptoton Permission Polysyndeton Personifikation Asyndeton Allegorie
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Sekundärliteratur: 1. M. Fuhrmann: Die antike Rhetorik. Eine Einführung, München u.a. 1990. 2. H. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960. 3. J. Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Eine programmierte Einführung auf strukturalistischer Basis, München 1974.
Katachrese griech. Katachresis: Mißbrauch
Unter einer Katachrese versteht man in der antiken Rhetorik die 'schlechte Nachahmung', eine unstimmige Metapher bzw. Metaphernverbindung. Sie ist in sich widersprüchlich gefügt, d.h. es kommt zu einer Bildvermengung, einem Verstoß gegen die Einheit eines Bildes durch Vermischung nicht zusammenpassender sprachlicher Elemente. In der Antike war sie nur erlaubt, um Komik zu erzeugen, meist tritt sie jedoch als unfreiwilliger und lächerlich wirkender Stilfehler auf, z.B:"Der Zahn der Zeit, der schon so manche Träne getrocknet hat, wird auch über diese Wunde Gras wachsen lassen." Ein anderes schönes Beispiel ist die Äußerung des ehemaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard: "Es ist erfreulich, daß die politischen Extremitäten in Deutschland keinen Fuß fassen konnten." Erst wenn man diese Bilder genau nachvollzieht, offenbaren sie sich in ihrer Absurdität. Der Begriff Katachrese steht aber auch für eine verblaßte Bildlichkeit, eine erloschene Metapher: z.B. Bein des Tisches.P. Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main 1975. ©rein
Metonymie griech. metonymia: Namensvertauschung, Umbenennung
Bei der Metonymie grenzen das verwendete Wort und das ersetzte noch aneinander. Das eigentliche Wort wird durch ein anderes ersetzt, das zu ihm in realer Beziehung steht, also in einem zeitlichen, räumlichen, ursächlichen, logischen oder erfahrungsmäßigen Zusammenhang im Gegensatz zum bloßen Vergleich bei der Metapher. So kann die Metonymie die Ursache benennen und die Wirkung meinen, oder umgekehrt. Nach Quintilian können eintreten: 1. Erzeuger für Erzeugnis, Erfinder für Erfindung, Autor statt Werk ('im Vergil lesen'), Gottheit für ihren Funktionsbereich (Neptun für das Meer, Amor für Liebe, Mars für Krieg), homerische Helden für ihre Tugenden und Fehler, Ursache für Wirkung, 2. Erzeugnis für Erzeuger: 'Wunden abschießen' (statt: Pfeile), 3. Rohstoff für Fertigware: Eisen = Dolch, 4. Besitzer für Besitztum ('unser Nachbar ist abgebrannt'), Person für die Sache, Feldherr für die Truppe ('Hitler marschierte...'), 5. Kollektivabstraktum für Konkretum in Mehrzahl (Nachbarschaft = die Nachbarn), 6. Gefäß, Ort, Land, Zeit für Inhalt bzw. Person ("Trink noch ein Glas!" - "England fürchten..." - "Das Theater applaudiert." "Das 18. Jahrhundert glaubte..." - "Das Weiße Haus schwankt noch.") und 7. Sinnbild für Abstraktum (Lorbeer = Ruhm). ©rein
Synekdoche griech.: Mitverstehen, Mitaufnehmen eines Ausdrucks durch einen anderen
Bei der Synekdoche sind der verwendete Begriff und das Bezeichnete eng miteinander verwandt. Aber die Synekdoche verkörpert nur einen Teil des Bezeichneten, ist sozusagen weniger ("Er steht unter dem Pantoffel", Pantoffel = Frau), oder geht weit über das Bezeichnete hinaus ("Er kam um durch das Eisen", Eisen = Schwert). "Man versteht unter einem kleinen Teil das Ganze oder unter dem Ganzen einen Teil", so brachte es Cicero dies Verfahren auf den Punkt. Statt des Vielfachen steht das Einfache ("der Römer" für die Gesamtheit aller Römer), statt der Einzahl die Mehrzahl ("Wir haben das Volk beeindruckt und uns als Redner erzeigt", sagte Cicero, obwohl er nur von sich sprach), statt der Gattung die Art (Sterbliche für Menschen), statt der Art ein Exemplar, statt der Art die Gattung (Brot für den gesamten Lebensunterhalt), und ein Teil steht statt des Ganzen ("Komm unter mein Dach", Dach = Haus). Diese besonders häufige Variante ist auch als pars pro toto bekannt.
Emphase griech. emphasis: Verdeutlichung, Erscheinen
Die Emphase ist die betonte Verwendung eines Begriffs, häufig durch phonetische Stilmittel (Stimmhebung, Betonung). Sie akzentuiert ein Merkmal des verwendeten Begriffs. Ein Beispiel: "Männer sind nicht immer Soldaten, Soldaten aber immer Männer" (Bundeswehranzeige). Die zweite Verwendung des Begriffs "Männer" steht für bestimmte Eigenschaften des Mannes an sich: hier Tapferkeit und Treue. Ein auf Quintilian zurückgehendes Beispiel wäre: "Man muß leben" für "Man muß sich durchschlagen".
Hyperbel griech. hyperbole: Darüberhinauswerfen, Übermaß
Bei der Hyperbel wird eine Form der Übertreibung gewählt, die weit über das zu Bezeichnende hinausgeht. So wird die Bestellung im Restaurant nach den Aussagen des Kellners "blitzschnell" erledigt, und Beamte arbeiten – der landläufigen Meinung entsprechend - seit jeher im "Schneckentempo". An diesen Beispielen wird schon deutlich, daß die Hyperbel im heutigen Sprachgebrauch oft konventionell und abgegriffen ist und vielfach in ironischer – teilweise beleidigender - Einbettung gebraucht wird. In der antiken Rhetorik durfte sie den eigentlichen Ausdruck nur leicht variieren.
Periphrase griech. periphrasis: Umschreibung
Die Periphrase umschreibt ein Bezeichnetes mit mehreren Wörtern. Sie kann die Beschreibung eines Begriffs, einer Person ("der Vater des Wirtschaftswunders" = Ludwig Erhard), eines Gegenstandes ("gepreßte Milch" = Käse, bei Vergil) oder einer Handlung ("Scipios Klugheit vernichtete Karthagos Macht" statt "Scipio vernichtete Karthago" [Metonymie], Cicero) leisten. Die Periphrase wird häufig benutzt, um Wiederholungen zu vermeiden (z. B. "jenes höhere Wesen, das wir verehren" anstelle von "Gott"), oder als Euphemismus, um anstößige und tabuisierte Wörter nicht aussprechen zu müssen ("Die Natur ruft" als Periphrase für "ein dringendes Bedürfnis"), als Möglichkeit größerer Ausführlichkeit oder einer poetisch-rhetorischen Gestaltung der Rede bzw. eines literarischen Textes ("Ratgeber der Anmut" = Spiegel).
Euphemismus griech. euphemein = Worte guter Vorbedeutung gebrauchen
Mildernde oder beschönigende Umschreibung für ein anstößiges oder unangenehmes Wort (z.B. verscheiden = sterben, vollschlank = dick). ©rein
Synonym griech. synonymos: gleichnamig
Unter dem Synonym versteht man ein gleichbedeutendes Wort. Für ein Signifikat gibt es also mehrere Signifikanten. Das bedeutet jedoch nicht, daß der Sinn eines Synonyms vollkommen mit dem Sinn des Wortes übereinstimmt, mit dem es bedeutungsverwandt ist. Es gibt – teilweise deutliche, teilweise schwache – Unterschiede im Begriffskern, Sprachniveau oder Gefühlsgehalt. Es ist gewiß ein Unterschied, ob man seinen Ehemann als Gatten, bessere Hälfte oder 'meinen Ollen' tituliert. Zwar handelt es sich zweifellos immer um das gleiche Signifikat, aber die Bedeutungsvariationen der Signifikanten bzw. 'Synonyme'sind unübersehbar. Als Nutzer moderner Textverarbeitungsprogramme haben Sie diese Variationsmöglichkeiten im schnellen Zugriff. Ein sehr verbreitetes Textprogramm bietet z.B. als Synonyme für das Wort "hören": vernehmen, verstehen, wahrnehmen, akustisch aufnehmen. Hier werden die Variationen schnell klar: 'vernehmen' hat eindeutig einen feierlicheren Klang als 'hören', 'verstehen' geht semantisch weit über 'hören' hinaus, denn es impliziert kommunikationstheoretisch den nächsten Schritt, nämlich das Verstehen des Gehörten, 'wahrnehmen' wiederum ist viel unspezifischer als 'hören' und könnte sich auch auf visuelle, olfaktorische oder taktile Wahrnehmung beziehen, 'akustisch aufnehmen' ist dann eindeutig ein sehr steifer und technischer Ausdruck. ©rein
Anapher griech. anaphora: Beziehung, Zurückführung, Wiederaufnahme
Die Anapher ist die Wiederkehr desselben Wortes oder derselben Wortgruppe zu Beginn aufeinanderfolgender Sätze oder Verse, um die Gedanken durch die rhythmische Wiederholung gleichsam einzuhämmern. Zwei Beispiele aus der Lyrik sollen dies verdeutlichen: "Ich hör die Bächlein rauschen Im Walde her und hin, Im Walde in dem Rauschen Ich weiß nicht, wo ich bin." (Eichendorff) "Ja, da kann man sich doch nur hinlegen, Ja, da muß man kalt und herzlos sein. Ja, da könnte so viel geschehen. Ach, da gibt’s überhaupt nur: nein!" (Brecht) Ein Prosa-Beispiel aus der aus der antiken Rhetorik: "Scipio hat Numantia vernichtet, Scipio [hat] Karthago zerstört, Scipo [hat] Frieden gebracht..." (Cicero). © rein
Epipher griech. epiphora: Herzubringen, Zugabe
Die Epipher ist die Wiederkehr desselben Wortes oder derselben Wortgruppe zum Ende aufeinanderfolgender Sätze oder Verse. Sie ist die Umkehr der Anapher, jedoch jünger und künstlicher als sie. "Sturm und Meeresgefährde trifft nie Dich den Klugen, der geschifft nie; Wer in Furcht sogar den Wein scheut, trinkt das eingemischte Gift nie." (Platen) ©rein
Paronomasie griech. paronomasia: Wortumbildung zur Erreichung eines Nebensinns
Die Paronomasie ist ein Wortspiel, das auf einer Klangähnlichkeit beruht: "Eile mit Weile" oder "Der Rheinstrom ist worden zu einem Peinstrom, die Klöster sind ausgenommene Nester, die Bistümer sind verwandelt in Wüsttümer..." (Schiller, Wallensteins Lager). ©rein
Polyptoton griech.
Ein Polyptoton ist die Wiederholung desselben Wort(stamm)es in verschiedenen Kasus. Bei Cicero lesen wir beispielsweise: "Wie ich damals einem Greise als Greis etwas über das Greisenalter dargelegt habe, so in diesem Buch einem Freunde als engster Freund etwas über die Freundschaft." ©rein
Polysyndeton griech. polys: viel; syndetos: zusammengebunden
Das Polysyndeton steht im Gegensatz zum Asyndeton. Es dient der Betonung eines Satzes oder Sachverhaltes durch die Hemmung des Redefortschritts, d.h. es wird durch ständige ungewöhnliche Wiederholung derselben Konjunktion eine Verbindung zwischen Wort- und Satzreihen vorgenommen, z.B: "Und es wallet und siedet und brauset und zischt" (Schiller). ©rein
Asyndeton griech.: Unverbundenes
Ein Asyndeton ist eine gleichgestellte Wort- oder Satzreihe, deren Glieder nicht durch eine Konjunktion miteinander verbunden sind. Ein Beispiel findet sich bei Schiller im vierten Akt der Räuber: "Stehlen, morden, huren, balgen – Heißt bei uns nur die Zeit zerstreuen. – Morgen hangen wir am Galgen, - drum laßt uns heute lustig sein"; ein anderes bei Klopstock im Messias: "Rufts, trank, dürstete, bebte, ward bleicher, blutete, rufte". Aber auch schon Cicero verwandte diese Stilfigur: "Die Begierde überwand die Scham, die Tollheit die Scheu, der Wahnwitz die Vernunft." Als Wirkung ist oftmals die Dynamik oder Hast eines Geschehens impliziert oder auch die innere Spannung einer Situation. Eine asyndetische Reihung hat oft etwas Irrationales, Nicht-Geordnetes, was ihr im Textganzen eine herausragende Bedeutung verleiht. ©rein
Ellipse griech. elleipsis: Auslassung, Mangel
Die Ellipse ist eine rhetorische Figur, deren Wurzeln in der Umgangssprache zu suchen sind. Es ist eine klassische Auslassung, wenn man z.B. "Was nun?" fragt, anstelle von "Was machen wir nun?" Es wird etwas ausgelassen, was jeder wie selbstverständlich dazu denkt, etwas leicht gedanklich zu Ergänzendes. Besonders häufig begegnen wir dieser Stilfigur im 'Sturm und Drang', wenn eine besonders leidenschaftliche und bewegte Rede vorgetragen wird. ©rein
Zeugma griech.: Zusammengefügtes
Unter dem Zeugma versteht man die rhetorische Figur der Worteinsparung. Meist sind mehrere Objekte – d.h. gleichgeordnete Wörter (Hauptwörter) – mit nur einem Prädikat – also einem syntaktisch übergeordneten Satzteil (Adjektiv, Verb) – verbunden. Die Besonderheit ist nun, daß das Prädikat nur zu einem dieser zugeordneten Objekte im eigentlichen Sinne paßt. Ein Beispiel von Cornelius Nepos (um 100-25 v. Chr.) aus dem Hannibal: "Von Mago überliefern einige, er sei durch einen Schiffbruch, andere, er sei von seinen eigenen Sklaven ermordet worden." Bei Laurence Sterne lesen wir: "Er hob den Blick und ein Bein gen Himmel." Dieses zweite Beispiel macht deutlich, daß das Zeugma nicht nur aus Bequemlichkeit verwendet wird, sondern vor allem, um bewußt Komik zu erzeugen. ©rein
Hyperbaton griech.: Übersteigendes
Das Hyperbaton ist eine Abweichung von der üblichen Wortstellung. Häufig wird eine syntaktisch zusammenhängende Wortgruppe (z.B. Substantiv und Adjektiv) durch ein eingeschobenes Wort ( z.B. Verb) oder die Voranstellung eines betonten Wortes 'getrennt'. Bei Goethe finden sich die Beispiele: "Wenn er ins Getümmel mich von Löwenkriegern reißt..." statt, der normalen Wortstellung entsprechend: 'Wenn er mich ins Getümmel von Löwenkriegern reißt', oder "Der Worte sind genug gewechselt" statt: 'Es sind genug Worte gewechselt'. Die Anwendung des Hyperbatons ist jedoch oft problematisch, weil es in der Prosa meist nur als Fehler erkannt wird. Erst wenn sein spezifischer Kunstcharakter deutlich wird, kann es als rhetorische Figur Verwendung finden. ©rein
Parallelismus griech. parallelos: gleichlaufend
Der Parallelismus ist im Gegensatz zum Chiasmus die Wiederholung derselben Wortreihenfolge in aufeinanderfolgenden Sätzen oder Satzteilen: "Heiß ist die Liebe, kalt ist der Schnee". Die Wirkung der Wiederholung liegt in der Verstärkung. Der zweite Aussagenteil lenkt die Aufmerksamkeit wieder zurück auf den ersten Aussagenteil. Der Parallelismus hat seine Wurzeln vornehmlich in der griechichen Literatur und in der Sakralsprache. So bietet vor allem die Bibel eine Fundgrube für Beispiele: "Die früher leckere Speisen aßen, verschmachten jetzt auf den Gassen; die früher auf Purpur getragen wurden, die müssen jetzt im Schmutz liegen." (Klagelieder 4,5) – "Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindliche Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindlich war." (1. Korinther 13,11)
Chiasmus griech. chiasmos: Gestalt eines Chi: X
Unter einem Chiasmus versteht man die (meist) spiegelbildliche Anordnung einander entsprechender Worte bzw. Satzglieder. Der Chiasmus präsentiert sich meist in der sogenannten a + b: b + a Form. Beispiele dafür: Von Essen nach London und von London bis Essen. a b b a "Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen." (Marx). a b b a Die Funktion des Chiasmus zielt häufig auf die Verdeutlichung einer Antithese oder auf den hemmenden Abschluß einer Reihe von Parallelismen. ©rein
Antithese griech.: Gegensatz
In der rhetorischen Figur der Antithese wird ein semantischer Gegensatz scharf herausgearbeitet, häufig in Form der Wortfiguren Parallelismus, Chiasmus oder Hyperbaton. Meist können die Begriffe, Urteile oder Aussagen der Einzelwörter unter einem (nicht genannten) Oberbegriff zusammengefaßt werden: "Gut und Böse, Tugend und Laster" oder "In Ruhezeiten bist du aufrührerisch, im Aufruhr ruhig; in einer eiskalten Situation bist du hitzig, in einer glühendheißen eiskalt" (Cicero). Die Darstellung der menschlichen Zerrissenheit, des Widerspruchs, die in diesem Cicero-Zitat hervortritt, ist auch im weiteren Verlauf der Rhetorikgeschichte ein zentrales Verwendungsgebiete der Antithese. Vor allem aus der Barocklyrik Gryphius‘ ist sie nicht wegzudenken: "Du sihst/ wohin du sihst nur Eitelkeit auf erden. Was dieser heute bawt/ reist jener morgen ein: Wo itzund städte stehn/ wird eine wiesen sein Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden." (S. 268f.)
Andreas Gryphius: Es ist alles eitell, in: Das Zeitalter des Barock, hg. v. Albrecht Schöne, München 1988. © rein
Apostrophe griech.: das Abwenden
Die Apostrophe ist eine rhetorische Figur, die meist in der Dramatik als Abwendung des Redners, der Figur bzw. des Dichters vom anwesenden Publikum erscheint. Der Sprecher wendet sich gewissermaßen vom Publikum ab und einem zweiten – imaginären – Publikum zu. Dieses Publikum können sowohl abwesende lebendige Personen sein, als auch tote Dinge, die durch eine sehr emphatische Ansprache personifiziert werden, z. B. bei Walther von der Vogelweide: "Sagt an, Herr Stoc..." oder bei Cicero: "Denn euch, ihr Höhen und Haine von Alba, ja euch flehe ich jetzt an und bitte um Zeugenschaft...". Aber auch Götter und Musen können angerufen werden oder der Dichter spricht sich selbst an. Die Wirkungsabsicht der Apostrophe liegt in einer Verinnerlichung und Verlebendigung, um dem Gesagten eine eindringlichere Wirkung zu verschaffen. ©rein
Rhetorische Frage
Die rhetorische Frage ist eine Frageform, die keine Antwort erwartet. Sie dient lediglich dazu, eine Aussage stärker zu betonen oder eine implizite, unausgesprochene Verneinung zu erzeugen. "Wie lange noch, Catilina, willst du unsere Geduld mißbrauchen?", Cicero ('Gebrauche unsere Geduld nicht länger, Catilina') – "Bin ich etwa deine Putzfrau?" ('Ich bin doch nicht deine Putzfrau!') – In der antiken Rhetorik wurde die rhetorische Frage vornehmlich zum Ausdruck von Unwillen, Verwunderung, Gehässigkeit oder Mitleid benutzt. ©rein
Permission griech.: Anheimstellung
Ein Redner stellt dem Zuhörenden anheim, seine Entscheidung (z.B. die eines Richters oder Gegners) in voller Freiheit selber zu treffen. Ein angesprochener Richter wird z.B. nach dem Schlußplädoyer des Staatsanwalts aufgefordert, sein Urteil völlig unabhängig von dem Gesagten zu fällen, obwohl der Staatsanwalt zuvor mit seinem Plädoyer ja gerade erreichen wollte, daß der Richter von der Argumentationsweise der Anklage überzeugt wurde. Der Redende ist überzeugt, daß ein Urteil, das nicht seiner Empfehlung folgt, zum Nachteil des Angeredeten ist, trotzdem läßt er dem Angeredeten als 'letztes Mittel' der Rhetorik scheinbar die volle Freiheit, ungefähr nach dem Motto: "Wer nicht hören will, muß fühlen." ©rein
Personifikation lat. persona: Person; facere: machen
Unter der Personifikation ist die Einführung von abstrakten Begriffen, konkreten Gegenständen und Tieren in Gestalt von handelnden und sprechenden Personen zu verstehen. Bei Platon und Cicero sowie in der mittelalterlichen und barocken Literatur werden das Gesetz ('Justitia') bzw. das Vaterland personifiziert. Aus der heutigen Zeit kennen wir solche Personifikationen eher als karikierende nationale Stereotypen wie 'Uncle Sam'oder 'der deutsche Michel'. In der Dichtung gibt es den sprechenden Mond oder Wald, und in der Fabel wird der 'schlaue Fuchs' zum Ausdruck für einen intelligenten Menschen. ©rein
Allegorie griech.: bildlicher Ausdruck; allegorein: anders, bildlich reden
Bevor es die Allegorie als Mittel der literarischen Rhetorik gab, entstand ihr Pendant – die Allegorese – als hermeneutische Methode. Man verteidigte die 'skandalösen homerischen Göttergeschichten', indem man darauf verwies, daß die Texte etwas anderes meinen, als sie im eigentlichen Wortsinn ausdrücken. Die Texte sind also eine Allegorie, ihre Bedeutung offenbaren sie erst auf einer zweiten, hinter dem direkten Wortsinn liegenden Ebene. Diese zweite Ebene steht jedoch zur ersten Ebene in einem Ähnlichkeitsverhältnis. Auch die BibelAllegorese arbeitet nach diesem Prinzip, wenn z.B. die Liebesdichtung des Hohen Liedes aus dem Alten Testament von Geistlichen umgedeutet wird. Die Allegorie ist also eine bildliche Darstellung eines Gedankens bzw. eines Begriffs. Sie wird oft vom Symbol (Goethe) dadurch abgegrenzt, daß sie im Gegensatz dazu nicht nur das 'bedeutet', was sie darstellt, sondern es geradezu 'ist'. Dies wird besonders offensichtlich, wenn die Allegorie als Personifikation auftritt: Liebe als Amor, Justitia, Frau Welt etc. Charakteristische allegorische Gattungsformen sind das Sprichwort ('Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht'), Satire und Parodie (z.B. Orwells "Animal Farm"), die Fabel sowie das biblische Gleichnis (z.B. Gleichnis vom Sämann, Markus 4, 3-8). Aber auch in der Dramatik können allegorische Strukturen sichtbar werden, z.B. in Brechts Drama "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" als Allegorie auf die bürgerliche Gesellschaft. Selbst Science Fiction und Western sind literarische Formen mit allegorischer Qualität. Das Leben auf einem fernen Planeten, in einer fernen Zeit oder im 'Wilden Westen' kann zum Sinnbild bestehender oder vergangener gesellschaftlicher Verhältnisse werden. © rein
Marcus Tullius Cicero
* 106 v. Chr. † 43 v. Chr. Redner, Staatsmann und Schriftsteller Cicero wird von der Philosophiegeschichte als einer der Hauptvertreter des 'römischen Eklektizismus'gewertet. Der Redner, Staatsmann und Schriftsteller hatte sich in Griechenland gebildet und bemühte sich, römische und griechische Kulturtraditionen zu verbinden. In seinen philosophischen Schriften versucht er auf der Grundlage seines weltmännischen Skeptizismus verschiedene philosophische Schulen miteinander zu verquicken und zu popularisieren. Für die Literaturwissenschaft ist besonders seine Schrift "De oratore" ("Über den Redner") von Bedeutung, mit der er einerseits an die antike Rhetoriktradition anschließt (z.B. Aristoteles), andererseits die nachfolgende Rhetoriklehre maßgeblich beeinflußt (z.B. Quintilian). ©rein
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
Über den Redner (55 v. Chr.) Akademische Bücher (46-45 v. Chr.) Über das höchste Gut und das höchste Übel (45 v. Chr.) Über das Wesen der Götter (45 v. Chr.) Über die Pflichten (44 v. Chr.)
Sekundärliteratur: 1. M. Fuhrmann: Cicero und die römische Republik. Eine Biographie, München 1992. 2. M. Giebel: Marcus Tullius Cicero in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg, 1977.
Cicero: Über den Redner (55 v. Chr.)
Im Jahre 55 v. Chr. entstanden, versucht die Rhetorik Ciceros an zwei verschiedene Traditionen anzuknüpfen. Sie gibt sich einerseits philosophisch reflektierend – verweist damit auf Aristoteles und spart andererseits auch die technisch-praktische Seite der Rhetorik nicht aus – zeigt damit ihre Nähe zu Isokrates. Daß in dieser Verbindung der zentrale Gedanke seiner Rhetorik liegt, macht Cicero schon in der Vorrede zum ersten Band deutlich, wenn er sich wie folgt an seinen Bruder Quintus wendet: "Auch pflegst du zuweilen in unseren Unterhaltungen darin von mir abzuweichen, daß, während nach meinem Urteil die Beredsamkeit auf den wissenschaftlichen Kenntnissen der eindrucksvollsten Männer beruht, du hingegen der Ansicht bist, sie müsse von der gründlichen Gelehrsamkeit getrennt und als das Erzeugnis einer gewissen natürlichen Geistesanlage und Übung angesehen werden." (2, 5) Natürliche Bildung und Übung in den rhetorischen Mitteln reicht dementsprechend nicht aus, um dem Ideal des umfassend gebildeten Redners gerecht zu werden. Cicero stellt vielmehr die Forderung auf, daß der Redner nicht nur die Kunst der Rede beherrschen, sondern vielmehr auch in Philosophie, Geschichte und den Rechten gebildet sein sollte. Erst wenn er diese universelle Bildung besitzt, ist er in der Lage, den Gegenstand seiner Rede vollständig zu erfassen und mehr als "kindisches Gerede" zu produzieren: "Und nach meiner Ansicht wenigstens wird niemand ein in jeder Hinsicht vollkommener Redner sein können, wenn er sich nicht Kenntnisse von allen wichtigen Gegenständen und Wissenschaften angeeignet hat. Denn aus der Erkenntnis der Sachen muß die Rede erblühen und hervorströmen. Hat der Redner die Sachen nicht gründlich erfaßt und erkannt, so ist sein Vortrag nur ein leeres und kindisches Gerede. Nicht jedoch will ich den Rednern, zumal den unsrigen, deren Zeit von den Geschäften des Staatsleben so sehr in Anspruch genommen wird, eine so große Last aufbürden, daß ich ihnen nicht vergönnen sollte, einiges nicht zu wissen; wiewohl der Begriff des Redners und sein Beruf, selbst gut reden, das auf sich zu nehmen und zu verheißen scheint, daß er über jeden Gegenstand, der ihm vorgelegt wird, mit Geschmack und Fülle reden könne." (1, 21f.) Im zweiten Buch geht Cicero auf vier der klassischen fünf Pflichten des Redners ein: inventio (Stoffauffindung), dispositio (Gliederung), elocutio (sprachliche Ausformulierung) und memoria (Mnemotechniken). Die fünfte Pflicht des
Redners, der actio (Vortrag), wird im dritten Buch neben Fragen zur Wortstellung, zum Rhythmus, zu den Stilarten und den rhetorischen Figuren behandelt. ©rein
Cicero: Über den Redner, übers. v. Wilhelm Binder, München o. J.
Quintilian: Ausbildung des Redners (95 n. Chr.)
Das in zwölf Bücher gegliederte Lehrbuch der Rhetorik ist die umfassendste Darstellung der Rhetorik in der Antike. Quintilian schließt mit diesem Werk an seine zwanzigjährige Erfahrung als Rhetoriklehrer an. Er will die Rhetorik weniger revolutionieren, als vielmehr das Wissen seiner Zeit darstellen. Dabei greift er immer wieder auf Cicero zurück, wobei er jedoch das sittliche Fundament der Rhetorik stärker zu akzentuieren versucht. Er wendet sich radikal gegen die Traditionen der Sophistik, wenn er sich gegen die Auffassung verwahrt, Rhetorik sei die Kunst der Überredung. Hier reagiert Quintilian auf die Erfahrungen, die er und seine Zeitgenossen mit den Künsten der Redner im Rom seiner Zeitmachte. Nach der politischen Entmachtung des Bürgertums gab es kein zwingendes Anwendungsgebiet der Rhetorik mehr. Das hatte zur Folge, daß in der Öffentlichkeit zu bestimmten (erfundenen) Fällen 'rhetorische Duelle' ausgefochten wurden. Dabei ging es im Grunde nicht mehr um die Inhalte der Reden, sondern lediglich um ihre Form. Der Redner wollte folglich im Rededuell vornehmlich glänzen, was zu einem sittlichen Verfall der Beredsamkeit führte, auf den Quintilian in seiner verlorengegangenen Schrift Von den Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit einging. In seiner Ausbildung des Redners zeigt Quintilian den Gang einer von frühester Kindheit an gestuften Ausbildung zum Redner auf. Er beginnt mit der Elementarausbildung (erstes Buch), geht über zu den rhetorischen Anfangsgründen, um dann in den Büchern drei bis elf die klassischen rhetorischen Pflichten des Redners zu behandeln: inventio (Stoffauffindung), dispositio (Gliederung), elocutio (sprachliche Ausformulierung), memoria (Mnemotechniken) und actio (Vortrag). Im zwölften Buch zeichnet er abschließend das Bild des 'sittlich vollkommenen Redners'. Vor allem das zehnte Buch ist wirkungsgeschichtlich für die Literaturwissenschaft wichtig geworden, denn hier wird die antike römische und griechische Literatur im Hinblick auf ihren Vorbildcharakter für die Rhetorik behandelt. Es ist vor allem Quintilians Werk (und zahllose darauf beruhende didaktische Leitfäden und Lehrbücher), das die rhetorische Tradition über den Zerfall der römischen Kultur hinaus gerettet hat. Vom christlichen Mittelalter über Renaissance und Barock bis zur Goethezeit liefert Quintilian das Fundament des rhetorisch ausgerichteten Rede- und Schreibunterrichts. ©rein
Horaz: Von der Dichtkunst (De arte poetica) (veröffentlicht 14 v. Chr.)
Der römische Dichter Horaz (65–8 v. Chr.) hat mit seiner knappen Schrift Von der Dichtkunst zwar keine einheitliche Poetik geschaffen, aber durch diesen in Hexametern verfaßten Lehrbrief prägenden Einfluß auf die Poetiken des Mittelalters, der Renaissance und noch des Klassizismus ausgeübt. In assoziativer Manier beschäftigt er sich zunächst mit den Anforderungen, denen ein dichterisches Werk genügen muß, um anerkannt zu werden; in einem zweiten, kürzeren Teil dann mit dem Dichter. Was macht ihn überhaupt zum Dichter, dies ist die leitende Frage. Horaz‘ grundlegende Forderung an Dichtung lautet: "Sei das Werk, wie es wolle, nur soll es geschlossen und einheitlich sein." (S. 5) Diese Betonung von Ganzheit und Geschlossenheit ist schon aus der Poetik des Aristoteles bekannt. Von der Literaturwissenschaft wird immer wieder betont, daß die lange Zeit unbekannte Poetik (erste dt. Übersetzung 1753) indirekt durch Horaz gewirkt habe. An diese Forderung Horaz‘ nach Einheitlichkeit und Geschlossenheit des dichterischen Werkes knüpft auch seine Vorstellung, "eine Dichtung [solle] wie ein Gemälde" (S.27 "ut pictura poeisis") sein, an. Hier zielt er auf eine größtmögliche Anschaulichkeit und ästhetische Qualität des Textes. Ähnlich wie Aristoteles fordert Horaz, daß der Dichter ein "kundiger Nachahmer" (S. 25) werden solle. Die Wirklichkeit sei mimetisch abzubilden. Die Dichtung wird somit 'wahrscheinlich', sie stellt das Mögliche dar. Daraus folgt, daß das Produkt schöpferischer Bemühungen den historischen Zeitumständen angemessen sein muß: "Die Eigentümlichkeit jeder Altersstufe mußt du kennzeichnen, mußt den sich wandelnden Naturen und Jahren das, was sie auszeichnet, geben." (S. 15) Aber nicht nur der Inhalt soll die dargestellte Zeit historisch einwandfrei abbilden, auch der Stil muß dem Gegenstand, der Situation, der Gattung und dem Alter sowie dem Charakter der handelnden Personen angemessen sein. Dies führt Horaz am Beispiel des Dramas aus, dessen Versmaß und Stilhöhe nicht nur zu den Untergattungen Komödie und Tragödie 'passen muß', sondern zu Stoff, Figuren und Handlungsgang. Auch die Vorschrift des fünfaktigen Dramas ist zum ersten Mal bei Horaz bekundet: "Ein Stück bleibe nicht unter dem fünften Akt noch gehe darüber, welches verlangt, daß man es zu sehen begehrt und wiederaufführt." (S. 17) Außerdem formuliert Horaz den Grundsatz, daß der Dichter sich einen Stoff wählen solle, den er selber bewältigen kann - im Zweifel solle er lieber einen bereits bekannten Stoff bearbeiten, als "Unbekanntes und Ungesagtes als erster [vorzulegen]". (S. 13)
Immer vorausgesetzt, der bekannte Stoff wird zeitgemäß präsentiert. Die wichtigste Feststellung aber, die Horaz im Blick auf Literatur machte, war, daß die Dichter, "entweder nützen [prodesse] oder erfreuen [delectare] wollen [...] oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen." (S. 25) Produktion und Rezeption sind von einer Gefühls- und einer Verstandesseite getragen. Erstmalig werden bei Horaz Gefühl und Verstand als Kriterien der Dichtkunst miteinander verbunden. Außerdem formuliert er explizit die Funktion, die Literatur durch diese Vermischung erfüllen kann: Der Dichter soll "Süßes und Nützliches misch[en und] den Leser ergötzte(n) und gleichermaßen belehr(en)." (S. 27) Wer bis dato unter der Funktion von Dichtung nur die Unterhaltung und die Darstellung einer möglichen Wirklichkeit verstand, wird nun von einer neuen Funktion der Literatur: der Belehrung, überrascht - und neu herausgefordert. Wie muß nun der Dichter beschaffen sein, der diesen Anforderung an die Gestaltung des dichterischen Werkes gerecht wird? Horaz antwortet darauf im zweiten Teil seiner Dichtkunst. Zunächst muß der Dichter, der die Welt nachahmen will, diese kennen, um vorbildliche Figuren wirklichkeitsgerecht zeichnen zu können. Horaz schreibt: "Wer gelernt hat, was man dem Vaterland schuldet, was seinen Freunden, wie man den Vater lieben soll, wie Bruder und Gastfreund, was die Pflicht des Senators, was die des Richters ist, welches die Rolle des Feldherrn, den man in den Krieg schickt – der versteht es bestimmt, einer jeden Person, was ihr zukommt, zu geben." (S. 25) Auch darf der Literat sich nicht auf seinen Kunstverstand oder sein Genie allein verlassen. Nur harte Arbeit, stetes Lernen und Begabung führen zur Vollkommenheit. Damit unterscheiden sich die römischen von den griechischen Dichtern: "Den Griechen verlieh die Muse Talent [...]. Römische Knaben erlernen, in langwieriger Rechnung, ein Ganzes in hundert Teile teilen." (S. 25) Dennoch bleibt die Dichtung der Griechen die Meßlatte für die römische Literatur. Die Römer werden damit zu Nachahmern im dreifachen Wortsinne: Sie ahmen die Natur, die Welt und – in stilistischer Hinsicht - die großen griechischen Vorbilder nach. ©rein
Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst, Lateinisch / Deutsch, übers. u. mit einem Nachwort versehen von Eckart Schäfer, 2. Aufl., Stuttgart 1984.
Julius Caesar Scaliger: Sieben Bücher über die Dichtkunst (lat.: Poetices libri septem) (1561)
* 1484, Riva / Italien † 1558, Agen / Frankreich Dichtungstheoretiker Julius Scaligers postum erschienene Dichtkunst gilt als die einflußreichste Regelpoetik ihrer Zeit. Geprägt vom Humanismus und der italienischen Spätrenaissance, stellt Scaliger Normen für das literarische Schaffen auf, die sich vor allem an die Poetik des Aristoteles anlehnen. Diese Orientierung an den Schriften des Aristoteles ist jedoch nicht durchgängig. Scaliger zielt auf eine Synthese klassischer Poetiken und Rhetoriken. So ist der Einfluß der Dialoge Phaidros und Ion von Platon nicht zu übersehen. Ihnen entnimmt er die Vorstellung einer göttlichen Inspiration des Dichters. Auch Horaz‘ Lehre vom moralischen Nutzen der Dichtung im Gegensatz zur aristotelischen Katharsis nimmt Scaliger in sein Denkgebäude auf. Die Mimesis, bei Aristoteles zentraler Aspekt der Dichtung, wird bei ihm zum bloßen Mittel. Und auf der obersten Sprosse der Stufenleiter der literarischen Gattungen steht das Epos und nicht die Tragödie, womit die Prosa noch ausgeschlossen ist. Eine weitere Besonderheit ist die Idee, die Dichtung durch Verwendung der Versform zu bestimmen. Bei Aristoteles spielt dies nur eine sekundäre Rolle. Obwohl sie als Leitfaden für die neulateinische Dichtung gedacht war, hat Scaligers Dichtkunst vor allem auf die volkssprachliche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts Einfluß genommen. In Deutschland nahmen hauptsächlich das Barock und die frühe Aufklärung seine Impulse auf. Zu nennen sind hier vor allem Opitz und Gottsched. © rein
Sekundärliteratur: 1. C. Berger: Die Nachwirkungen der Poetik Julius Caesar Scaligers auf die Dramentheorie der "doctrine classique", Bielefeld 1975. 2. E. Brinkschulte: Julius Caesar Scaligers kunsttheoretische Anschauungen und deren Hauptquellen, Diss. Bonn 1914. 3. A. Buck / K. Heitmann / W. Mettmann: Dichtungslehren der Romania aus
der Zeit der Renaissance und des Barock, Frankfurt/M. 1972.
Martin Opitz
* 23.12.1597, Bunzlau † 20.08.1639, Danzig Diplomat, Gelehrter, Dichter Martin Opitz, von seinen Zeitgenossen als "Fürst und Phönix der Poeten" gefeiert, erlangte Rang in der Literaturgeschichte vornehmlich durch seine poetologische Schrift Buch von der Deutschen Poeterey. Schon in seinem Jugendwerk Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae (Von der Verachtung der deutschen Sprache, 1617) hatte er den Wunsch formuliert, die deutsche Sprache auch als Kunstsprache zu etablieren, die es dem Französischen und Italienischen gleichtun würde und aus dem Schatten des Lateinischen heraustreten könnte. 1624 versucht er mit seiner Poetik die deutsche Dichtung durch eine Anlehnung an die Literatur der Klassik - sprich: der Antike - endgültig aufzuwerten. Die Wurzeln seiner Überlegungen lassen sich bei Aristoteles, Horaz und Scaliger finden. Von den Dichtern verlangt er das Studium der antiken und westeuropäischen Poesie, nicht nur um die Qualität der dichterischen Erzeugnisse zu erhöhen, sondern auch, um den Dichter in seiner universellen Kompetenz den Fürsten als souveränen Partner zu empfehlen. Damit hat Opitz auch die Verankerung der Poesie im höfischen Milieu gefördert. Opitz fordert eine sich an der natürlichen Wortbetonung der jeweiligen Sprache orientierende Metrik. Für das Deutsche bedeute das ein von den antiken Versmaßen radikal unterschiedenes, streng alternierendes Metrum, dessen reinste Verkörperung der Alexandriner sei. Wie einflußreich Opitz' Werk war, zeigt sich daran, daß ein so berühmter zeitgenössischer Dichter wie Georg Rudolf Weckherlin sich nach dessen Erscheinen zur Überarbeitung seiner Gedichte gezwungen sah. Opitz selbst realisierte seine poetologischen Forderungen in seinem 1621 entstandenen, jedoch erst 1633 anonym publizierten Trost Gedichte jn Widerwertigkeit dess Krieges: das Lehrgedicht besteht aus 2308 durchgehend jambischen Alexandrinern, die sich abwechselnd in betonten und unbetonten Paaren reimen. Besonderes Interesse brachte Opitz dem Drama entgegen. Zwar versuchte er sich nicht an eigenen dramatischen Dichtungen, aber er übersetzte die Trojanerinnen Senecas (1625) und die Antigone von Sophokles (1626) ins Deutsche. ©rein und TvH Wichtige Schriften:
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Buch von der Deutschen Poeterey (1624) allgemeine Poetik Buch von der Deutschen Poeterey (1624) Dramatik Buch von der Deutschen Poeterey (1624) Lyrik Acht Bücher Deutscher Poematum (1625)
Sekundärliteratur: 1. B. Becker-Cantarino (Hg.): Martin Opitz, Amsterdam 1982. 2. K. Garber: Martin Opitz, in: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon, Bd. 8, S. 504ff. 3. M. Szyrocki: Martin Opitz, München 1974.
Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (zur Dramatik) (1624)
Martin Opitz, der mit seiner Poetik die gesamte Barockdichtung beeinflußte und vornehmlich poetologische Regeln für die lyrischen Formen aufstellte, hat auch die Tragödie, als die höchste Kunstform, in seiner Schrift Von der Deutschen Poeterey betrachtet: "Die Tragedie ist an der maiestet dem Heroischen getichte gemeße / ohne das sie selten leidet / das man geringen standes personen vnd schlechte sachen einführe: weil sie nur von Königlichem willen / Todtschlägen / verzweiffelungen / Kindervnd Vatermorden / brande / blutschanden / kriege vnd auffruhr / klagen / heulen / seuffzen vnd dergleichen handelt. Vor derer zugehör schreibet vornehmlich Aristoteles / vnd etwas weitleufftiger Daniel Heinsius; die man lesen kan." (S. 27) In deutlichem Kontrast dazu wird die Komödie definiert: "Die Comedie bestehet in schlechtem wesen vnnd personen: redet von hochzeiten / gastgeboten / spielen / betrug vnd schalckheit der knechte / ruhmrätigen Landtsknechten / buhlersachen / leichtfertigkeit der jugend / geitze des alters / kupplerey vnd solchen sachen / die täglich vnter gemeinen Leuten vorlauffen. Haben derowegen die / welche heutiges tages Comedien geschrieben / weit geirret / die Keyser vnd Potentaten eingeführet; weil solches den regeln der Comedien schnurstracks zuewieder laufft." (S.27f.) Dieser Ausschnitt aus Opitz‘ Poetik macht deutlich, wie stark Aristoteles‘ Unterscheidung von Tragödie und Komödie – bis ins 17. und 18. Jahrhundert fortgewirkt hat. In der Tragödie werden die Adeligen (bei Aristoteles die "guten Menschen") mit ihren erhabenen Problemen dargestellt. Es geht um Machtkämpfe, höfische Intrigen, Morde und Kriege. In der Komödie erscheinen die 'kleinen Leute' (bei Aristoteles die "schlechten Menschen") mit ihren alltäglichen Erlebnissen. Diese reichen von Hochzeiten, Kuppeleien, Betrügereien über Liebesgeschichten, Jugendsünden bis zu den Absonderlichkeiten des Alters. Als 'Ständeklausel' zieht sich diese Trennung des Personals für die Tragödie und die Komödie durch die Geschichte der Dramatik. Erst mit Lessings Konzept des bürgerlichen Trauerspiels beginnt eine schrittweise Überwindung dieser Vorschrift. Ihre Mißachtung wird von Opitz noch als Regelverstoß gewertet. ©rein
Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, hg. v. Cornelius Sommer, Stuttgart 1970.
Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (zur Lyrik) (1624)
Martin Opitz‘ berühmtestes Werk, das 1624 veröffentlichte Buch von der Deutschen Poeterey, ist die richtungsweisende Poetik des deutschen Barock, in der Opitz Regeln und Grundsätze einer neu zu begründenden hochdeutschen Dichtkunst formuliert. Diese solle sich nicht nach den überlieferten antiken Versmaßen richten, sondern eine eigene, der deutschen Sprache angemessene metrische Form finden: "Nachmals ist auch ein jeder verß entweder ein iambicus oder trochaicus; nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse groesse der sylben koennen inn acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen / welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden. Ein Jambus ist dieser: 'Erhalt vns Herr bey deinem wort.'Der folgende ein Trocheus: 'Mitten wir im leben sind.' Dann in dem ersten verse die erste sylbe niedrig / die andere hoch / die dritte niedrig / die vierde hoch / vnd so fortan / in dem anderen verse die erste sylbe hoch / die andere niedrig / die dritte hoch / etc. außgesprochen werden. Wiewol nun meines wissens noch niemand / ich auch vor der zeit selber nicht / dieses genawe in acht genommen / scheinet es doch so hoch von noethen zue sein / als hoch von noethen ist / das die Lateiner nach den quantitatibus oder groessen der sylben jhre verse richten vnd reguliren." (S. 49) Opitz fordert eine sich an der natürlichen Wortbetonung der jeweiligen Sprache orientierende Metrik und bestimmt die deutsche Metrik im Unterschied zur lateinischen, quantifizierenden, als eine qualifizierend-akzentuierende. Diese Differenz markiert und im Bewußtsein der Dichter verankert zu haben ist das eigentliche Verdienst der Opitzschen Poeterey. Opitz formuliert die folgenreiche These, daß das natürliche, der Sprachbetonung angemessene, Metrum im Deutschen ein streng alternierendes sei, so daß es gelte, die antiken Versfüße Anapäst und Daktylus zu vermeidenden. Vielmehr müsse der Alexandriner das wichtigste deutsche Versmaß werden – eine Forderung, die sich zunächst durchsetzte. Allerdings bezieht Opitz sich mit diesen Gedanken nicht nur auf die Lyrik, sondern auf jegliche Dichtung in gebundener Sprache, also auch auf Epos und Drama. Im fünften Kapitel, in dem Opitz einen Abriß der zeitgenössischen Gattungen gibt, zeigt sich, daß er den uns geläufigen, übergeordneten Gattungsbegriff Lyrik nicht kennt, sondern nur eine Vielzahl einzelner, meist inhaltlich bestimmter, Gedichtformen nebeneinander aufführt. "Das Epigramma setze ich darumb zue der Satyra / weil die Satyra ein lang
Epigramma / vnd das Epigramma eine kurtze Satyra ist: denn die kuertze ist seine eigenschafft / vnd die spitzfindigkeit gleichsam seine seele vnd gestallt. [...] Die Eclogen oder Hirtenlieder reden von schaffen / geißen / seewerck / erndten / erdgewächsen / fischereyen vnnd anderem feldwesen; vnd pflegen alles worvon sie reden / als von Liebe / heyrathen / absterben / buhlschafften / festtagen vnnd sonsten auff jhre baewrische vnd einfaeltige art vor zue bringen. In den Elegien hatt man erstlich nur trawrige sachen / nachmals auch buhlergeschäffte / klagen der verliebten / wündschung des todes / brieffe / verlangen nach den abwesenden / erzehlung seines eigenen Lebens vnnd dergleichen geschrieben. [...] Hymni oder Lobgesaenge waren vorzeiten / die sie jhren Goettern vor dem altare zue singen pflagen / vnd wir unserem GOtt singen sollen. Dergleichen ist der lobgesang den Heinsius vnserem erloeser / vnd der den ich auff die Christnacht geschrieben habe. Wiewol sie auch zuezeiten was anders loben; wie bey dem Ronsard ist der Hymnus der Gerechtigkeit / Der Geister / des Himmels / der Sternen / der Philosophie / der vier Jahreszeiten / des Goldes / etc. Sylven oder waelder sind nicht allein nur solche carmina / die auß geschwinder anregung vnnd hitze ohne arbeit von der hand weg gemacht werden [...] sondern / wie jhr name selber anzeiget / der vom gleichniß eines Waldes / in dem vieler art vnd sorten Baewme zue finden sindt / genommen ist / sie begreiffen auch allerley geistliche und weltliche getichte / als da sind Hochzeit- vnd Geburtlieder / Glueckwuendtschungen nach außgestandener kranckheit / item auff reisen / oder auff die zuerueckkunft von denselben / vnd dergleichen. Die Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kan / erfodern zuefoerderst ein freyes lustiges gemuete / vnd wollen mit schoenen spruechen vnnd lehren haeuffig geziehret sein: wieder der andern Carminum gebrauch / da man sonderliche masse wegen der sententze halten muß; damit nicht der gantze Coerper vnserer rede nur lauter augen zue haben scheine / weil er auch der andern glieder nicht entberen kan. Ihren inhalt betreffendt [...]; buhlerey / taentze / banckete / schoene Menscher / Gaerte / Weinberge / lob der maessigkeit / nichtigkeit des todes / etc. Sonderlich aber vermahnung zue froeligkeit." (S. 28-31) Die lyrischen Gedichte, die "Lyrica" bestimmt Opitz ganz im Sinne der Antike als musikalische Gedichte (griech. lyra = Leier), als Gedichte, die mit Musikbegleitung vorgetragen werden können. Eklogen, Elegien und Hymnen fallen nicht unter diese Kategorie. ©TvH
Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, hg. v. Cornelius Sommer, Stuttgart 1970. Sekundärliteratur: 1. D. Breuer: Deutsche Metrik und Versgeschichte, München 1981. 2. H. Entner: Der Weg zum "Buch von der Deutschen Poeterey". Humanistische Tradition und poetologische Voraussetzungen deutscher Dichtung im 17. Jahrhundert, in: Studien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert, hg. v. W. Lenk, Berlin u.a. 1984, S. 11-144.
Johann Christoph Gottsched
* 02.02.1700, Juditten / Ostpreußen † 12.12.1766, Leipzig Dichtungstheoretiker, Dramatiker, Übersetzer und Herausgeber Johann Christoph Gottsched ist als Reformator des deutschen Theaters und als 'Regelpoetiker' in die Literaturgeschichte eingegangen. Das Theater, wie es sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts präsentierte, war ihm zuwider. Über die Erfahrungen seiner Theaterbesuche schreibt er: "Lauter schwülstige und mit Harlekinslustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsaktionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebesverwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man daselbst zu sehen bekam." Als Aufklärer dem Vernunftprinzip und der Moral verpflichtet, sah er in diesen Verwilderungen einen negativen Einfluß auf das Publikum. Dichtung – in seinem Sinne – müsse den Menschen erziehen und moralische Grundsätze vermitteln. Die literarische Formvorgabe für diese Aufgabe sieht Gottsched im französischen Klassizismus und der Antike. In seinem 1730 erschienen Werk Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen,"darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besonderen Gattungen der Gedichte, abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden: Uberall aber gezeigt wird Daß das innere Wesen der Posie in einer Nachahmung der Natur bestehe. Anstatt einer Einleitung ist Horatii Dichtkunst in deutsche Verße übersetzt und mit Anmerckungen erläutert [...]" versucht Gottsched, Grundregeln für alle literarischen Gattungen zu bestimmen. Schon der Titel ist Programm: Es werden – grundsätzlich erlernbare – Regeln vorgestellt, nach denen der Dichter ein lyrisches, dramatisches oder episches Werk kunstvoll erschaffen kann. Das Wesen der Kunst, die Aufgabe des Künstlers ist Nachahmung / Mimesis von Natur. Das kennen wir von Aristoteles, auf den sich Gottsched explizit bezieht, und anstelle eines Vorwortes begegnet dem Leser eine Übersetzung von Horaz' Über die Dichtkunst; also wieder ein antiker Poetiker als Vorbild. Aber warum wendet sich Gottsched den antiken Vorbildern zu? Die Antwort auf diese Frage erklärt den Zusatz critisch vor Dichtkunst, denn die Regeln der Alten werden nur befolgt, weil die Vernunft es gebietet; die Natur der Dinge / des Menschen ist unwandelbar, deswegen kann die Welt mit Hilfe von überzeitlichen Regeln kunstvoll ausgedrückt werden. Und die Poetiker der Antike haben die bislang besten Regeln erstellt. Gottsched begründet den Rückgriff auf die Antike also geradezu philosophisch (critisch).
In diesen Überlegungen gibt es andererseits noch kein Bewußtsein von historischen Veränderungen. Hier begegnet uns die Welt als unwandelbare Natur; es gibt keine 'neuen' Probleme, die in einer bestimmten historischen Epoche auftauchen und von der Kunst eine neue Form des Ausdrucks verlangen. Deswegen können die Regeln, die vor über zweitausend Jahren für die künstlerische Produktion geschaffen wurden, immer noch Bestand haben. Auf der gleichen Vorstellung basiert Gottscheds 1736 erschienene Ausführliche Redekunst. Auch hier bezieht er sich auf die tradierten Regeln der Rhetorik, die aus der "unveränderlichen Natur des Menschen" resultieren. ©rein
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
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Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) Ausführliche Redekunst (1736) Deutsche Schaubühne nach den Regeln und Exempeln der Alten (174045) Sterbender Cato – Trauerspiel (1731)
Sekundärliteratur: 1. W. Bender: Johann Christoph Gottsched, in: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon, Bd. 4, S. 287ff. 2. K.O. Conrady: Gottsched 'Sterbender Cato', in: B. v. Wiese (Hg.): Das Deutsche Drama, Bd. 1, Düsseldorf 1958, S. 61ff. 3. W. Rieck: Johann Christoph Gottsched. Eine kritische Würdigung seines Werkes, Berlin 1972.
Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730)
Johann Christoph Gottsched hat in seiner Poetik nicht nur Regeln für die Produktion von lyrischen und epischen Werken bereitgestellt, sondern auch für das Drama, dessen Hauptaufgabe er in der sittlich-moralischen Erziehung der Deutschen sieht. Deshalb fordert er den Dichter auf, zunächst die von ihm gewünschte Aussage festzulegen: "Zuallererst wähle man sich einen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich zu erlangen vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worin eine Handlung vorkommt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt." (S. 96f.) Die Handlung muß nach dem Vorbild der Wirklichkeit, der Natur dargestellt werden. Der Dichter muß das Gegebene nachahmen (Mimesis) und darf mit seiner Darstellung das Wahrscheinliche nicht überschreiten. Götter, die in das Geschehen im Drama eingreifen, sind völlig unglaubwürdig und sollen von der Bühne verbannt werden. Bei der Unterscheidung der beiden dramatischen Grundformen – Tragödie und Komödie – bleibt Gottsched ganz der bekannten Ständeklausel verhaftet: "Die Tragödie ist von der Komödie nur in der besondern Absicht unterschieden, daß sie anstatt des Gelächters die Verwunderung, das Schrecken und Mitleiden zu erwecken sucht. Daher pflegt sie sich lauter vornehmer Personen zu bedienen, die durch ihren Stand, Namen und Aufzug mehr in die Augen fallen und durch große Laster und traurige Unglücks-Fälle solche heftige Gemüts-Bewegungen erwecken können. [...] Die Personen, die zur Comödie gehören, sind ordentliche Bürger, oder doch Leute von mäßigem Stand: Nicht, als wenn die Großen dieser Welt etwa keine Torheiten zu begehen pflegten, die lächerlich wären; nein, weil es wider die Ehrerbiethung läuft, die man ihnen schuldig ist, sie als auslachenswürdig vorzustellen." (S. 99) Auch die drei Einheiten (Handlung, Zeit, Ort), die wir aus der Poetik Aristoteles‘ kennen, werden von ihm als Grundprinzipien des Dramas festgeschrieben. Dies ist nur konsequent, wenn man bedenkt, daß das Drama einen moralischen Satz illustrieren soll. Also muß die Handlung übersichtlich bleiben und stets mit der gewünschten Aussageabsicht korrespondieren:
"Die ganze Fabel hat nur eine Haupt-Absicht: nämlich einen moralischen Satz; also muß sie auch nur eine Haupt-Handlung haben, um derentwegen alles übrige vorgehet. Die Neben-Handlungen aber, die zur Ausführung der Haupt-Handlung gehören, können gar wohl andre moralische Wahrheiten in sich schließen [...]. Alle Stücke sind also tadelhaft und verwerflich, die aus zwoen Handlungen bestehen, davon keine die vornehmste ist." Die Einheit der Zeit wird von Gottsched mit der Einhaltung des Wahrscheinlichkeitsprinzips begründet: "Die Einheit der Zeit ist das andre, so in der Tragödie unentbehrlich ist. Die Fabel eines Helden-Gedichtes kann viel Monate dauren [...]: das macht, sie wird nur gelesen: Aber die Fabel eines Schau-Spieles, die mit lebendigen Personen in etlichen Stunden lebendig vorgestellet wird, kann nur einen Umlauf der Sonnen, wie Aristoteles spricht, das ist einen Tag dauren. [...] Die besten Fabeln sind also diejenigen, die nicht mehr Zeit nötig gehabt, wirklich zu geschehen, als sie zur Vorstellung brauchen; das ist etwa drei oder vier Stunden: Und so sind die meisten griechischen Tragödien. Kommt es hoch, so bedörfen sie sechs, acht oder zum höchsten zehn Stunden zu ihrem ganzen Verlauf: Und höher muß es ein Poet nicht treiben, wenn er nicht wider die Wahrscheinlichkeit handeln will." Auch die Einheit des Ortes begründet Gottsched mit dem obersten Prinzip der Dichtung: Das Werk muß wahrscheinlich sein. "Zum dritten gehört zur Tragödie die Einigkeit des Ortes. Die Zuschauer bleiben auf einer Stelle sitzen, folglich müssen auch die spielenden Personen alle auf einem Platze bleiben, den jene übersehen können, ohne ihren Ort zu ändern [...]. Es ist also in einer regelmäßigen Tragödie nicht erlaubt, den Schau-Platz zu ändern. Wo man ist, da muß man bleiben; und daher auch nicht in der ersten Handlung im Walde, in der andern in der Stadt, in der dritten im Kriege und in der vierten in einem Garten oder gar auf der See sein. Das sind lauter Fehler wider die Wahrscheinlichkeit: Eine Fabel aber, die nicht wahrscheinlich ist, taugt nichts: weil dieses ihre vornehmste Eigenschaft ist." (S. 163-167) ©rein
Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, in: ders. Schriften zur Literatur, hg. v. Horst Steinmetz, Stuttgart: 1972.
Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman (1774)
Die Abhandlung Versuch über den Roman (1774 anonym erschienen) von Christian Friedrich von Blanckenburg (1744-1796) ist die erste deutsche Romantheorie. Blanckenburg hat den Roman (der Aufklärung, angeregt durch Fieldings Tom Jones, 1749 und Wielands Agathon, 1766/67) erstmalig als eigenständige und ästhetisch wertvolle Gattung beschrieben. Er sieht den Roman als historischen Nachfolger des antiken Epos. Anders als später bei Hegel wird der 'individuelle' Roman gegenüber dem 'repräsentativen' Epos nicht ästhetisch abgewertet, sondern als zeitgemäße Wandlung dieser Gattung analysiert. Stellte das Epos noch "öffentliche Thaten und Begebenheiten des Bürgers" in den Vordergrund, so werden im Roman die "Handlungen und Empfindungen des Menschen" akzentuiert. Auf der einen Seite steht der Mensch als öffentliches, politisches Wesen, auf der anderen Seite als fühlendes und handelndes Individuum. Das "Seyn des Menschen, sein innrer Zustand" wird zum Hauptthema des Romans. Diese Ablösung des Epos durch den Roman begründet Blanckenburg historisch, wenn er von der Differenz "der Sitten und Einrichtungen der damaligen und der jetzigen Welt" spricht. Im Zeitalter des entstehenden modernen Individualismus, der Selbstverantwortung des Einzelnen, erstarkt eine literarische Gattung, die exemplarisch einen Blick in das Innere eines Helden gewährt, die seine Charakterbildung zeigt, seine Selbstwerdung in Auseinandersetzung mit der Welt. Der Roman ermöglicht dem Leser den Blick auf das "Werden" des Helden als einen "möglichen Menschen der wirklichen Welt". Es geht um die "innere Geschichte" eines Menschen, um seine "Denkungsund Empfindungskräfte". Dieser Blick auf den Bildungsweg des Protagonisten dient der Vervollkommnung des Lesers. Die Selbstfindung der Romanfigur wird zum Vorbild der eigenen. Wer dem Roman diese Funktion zuschreibt, muß sich auch Gedanken über die erzählerischen Mittel machen, die ihr dienen sollen. Blanckenburg nimmt Abstand vom 'reinen' Erzählen, d.h. von der Berichtform. Er will dem Dargestellten stärkere Unmittelbarkeit geben und den Nachvollzug der Ursachen von Handlungen und Empfindungen des Helden ermöglichen. Die probaten Formen dafür findet er im 'dramatischen' Erzählen (Dialog, Monolog, szenische Darstellung). Der Briefroman scheint ihm nicht geeignet, um den inneren Bildungsgang eines Menschen adäquat zu beschreiben - eine Auffassung, der er 1775 in seiner bekannten Werther-Rezension dann selber widerspricht. © rein
Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman [1774], hg. v. Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965. Sekundärliteratur: 1. J. Sang: Christian Friedrich von Blanckenburg und seine Theorie des Romans, München 1966. 2. W. Voßkamp: Romantheorie in Deutschland von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973. 3. K. Wölfel: Friedrich von Blanckenburgs "Versuch über den Roman", in: R. Grimm (Hg.): Deutsche Romantheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Romans in Deutschland, Frankfurt/M. 1968, S. 29-60.
Friedrich Schlegel
* 10.03.1772, Hannover † 12.01.1829, Dresden Kritiker, Philosoph, Literaturtheoretiker und Erzähler Friedrich Schlegel ist eine der widersprüchlichsten Figuren der deutschen Geistesgeschichte. Er wandelte sich vom Befürworter der Französischen Revolution (Jakobiner), der mit seinem Roman Lucinde (1799) auch die freiheitliche, gesellschaftsunabhängige Gestaltung von Liebe und Ehe propagierte, über den ironisch distanzierten Liberalen zum Konservativen, der nach seiner Konversion zum Katholizismus (1808) die restaurative Politik Metternichs unterstützte. Von besonderem Interesse für die heutige Literaturwissenschaft sind seine Bemühungen auf dem Gebiet der Literaturgeschichtsschreibung (Über das Studium der griechischen Poesie, 1797; Geschichte der alten und neuen Literatur, Vorlesung 1812) und seine programmatischen Entwürfe einer neuen, fragmentarischen – heute als Romantik bekannten - Literatur, welche Natur und Kunst, Realität und Idealität zu vereinigen suchte. Der von Schlegel geforderte fragmentarische Charakter der modernen Literatur ist auch seinem philosophischen Schaffen zueigen. Ausgehend von der Einsicht, daß die Neuzeit, in der alte Sinnkontinuitäten wie die unbeschränkte Gültigkeit von Religion und Ständewesen zerbrochen sind, daß eine immer unübersichtlicher werdende Epoche im Umbruch ist, glaubt er nicht mehr daran, daß der Philosoph ein zusammenhängendes, alles erklärendes und einschließendes System erschaffen kann. Die Welt ist zu komplex und unübersichtlich – um es modern auszudrücken -, als daß man sie systematisch erklären könnte. Das Fragment wird deshalb für Schlegel zum "System" seiner Wahl. Es symbolisiert die Unabschließbarkeit und Unendlichkeit der Welterkenntnis. Hier geht es dem philosophischen Fragment ähnlich wie dem Fragment als Prinzip des literarischen Werkes. Indem der romantische Roman nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern immer wieder neue Geschichten in die eine Geschichte einbindet, weist er auf die Unerzählbarkeit der Welt hin – kein Roman ist so lang, daß er alles erzählen könnte -, hier vermag das Fragment auf einer symbolischen Ebene die prinzipielle Unendlichkeit der Erzählung auszudrücken. Dadurch findet der romantische Roman zu einer Totalität zurück, die Georg Lukács als Idealziel des modernen Romans definiert hat. ©rein
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍
Über das Studium der griechischen Poesie (1797) Athenäums-Fragment 116 (1798) Gespräch über die Poesie (1800) Geschichte der alten und neuen Literatur (2 Bände, 1815)
Sekundärliteratur: 1. E. Behler: Friedrich Schlegel, Reinbek bei Hamburg 1966. 2. H. Dierkes: Literaturgeschichte als Kritik – Untersuchungen [...] zu Friedrich Schlegel, Tübingen 1980. 3. J. Hörisch: Die fröhliche Wissenschaft der Poesie – Der Universalitätsanspruch von Dichtungen der frühromantischen Poetologie, Frankfurt/M.1976.
Friedrich Schlegel: Progressive Universalpoesie (1798)
Friedrich Schlegel gründet 1797 zusammen mit seinem Bruder August Wilhelm Schlegel die Zeitschrift Athenäum. Obwohl sie nur drei Jahre erscheint, gewinnt sie große Bedeutung. Sie ist das Organ der Frühromantiker (Schleiermacher, Novalis, Caroline Schlegel). Vor allem in den Fragmenten, die noch im ersten Band des Athenäums ohne Nennung des Verfassers als Gemeinschaftswerk Friedrich und August Wilhelm Schlegels sowie Novalis‘ und Schleiermachers erscheinen, werden grundlegende Vorstellungen zu einer Poetik der Romantik formuliert. Besondere Bedeutung für die Entwicklung poetologischer Vorstellungen erlangt das 116. Athenäums-Fragment, in dem Friedrich Schlegel die Programmatik der romantischen Poesie formuliert. Diese sogenannte Progressive Universalpoesie fordert die Vermischung aller Gattungen. Im romantischen Roman schlägt sich dieses Diktum in einem steten Wechsel der Formen nieder: Erzählende Passagen werden von dramatischen, dialogischen Sequenzen abgelöst; Gedichte, Lieder oder Briefe durchbrechen den Erzählfluß. Aber auch die Erzählung an sich ist nicht "aus einem Guß". Es gibt immer wieder kleinere Subtexte (Märchen, Exkurse, Erinnerungen etc.), die die Haupterzählung unterbrechen. So besteht der Roman Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores [1810] von Achim von Arnim aus fast 100 eigenständigen Erzählelementen. Dies ist ein Gegenschlag gegen alle schematisierenden Poetiken, die den Dichter in ein enges Regelkorsett zwängen. Schlegels Poetik steht jedoch nicht nur für die Vermischung der Gattungen, sondern auch für den Grundsatz, daß Poesie nicht nur – im engen Sinne – alle poetischen Elementen integrieren soll, sondern auch Philosophie, Rhetorik und Kritik: "Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang." Indem die Universalpoesie sich möglichst viele Bereiche des Lebens aneignet,
wird das Leben selbst zur Dichtung; ein Leben, dessen Totalität, als Bild des Zeitalters, sich wiederum nur in der Poesie wiederfindet. Nur in ihr kann der Mensch alles überblicken. "Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. [...] Die romantische Poesie ist unter den Künsten, was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art und gleichsam die Dichtkunst selber ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein." (S. 38f.) Die absolute Freiheit des Dichters meint also nicht nur Freiheit von tradierten poetologischen Konventionen – für deren Außerkraftsetzung die Romantik seit jeher bekannt ist -, sondern Freiheit von jeder Poetik, auch der romantischen. Die poetische Unfreiheit besteht in dem Zwang zur Freiheit. Die historische Bedeutung dieser neuen Poetik liegt also in der radikalen Abkehr von jeglicher Regelpoetik. Der Dichter wird zu einem in Freiheit schaffenden Genie. Nur er selber ist für die Gestalt seines Werkes verantwortlich. Damit einher geht die Aufwertung des Romans als literarische Form, denn in seiner flexiblen Hülle ist nicht nur die Vermischung der Gattungen möglich. Auch die Abkehr von der Idealvorstellung, daß im Epos (Aristoteles, Hegel) oder im Roman gesellschaftliche Totalität abgebildet werden kann und muß, beginnt Schlegel mit seiner progressiven Universalpoesie vorzubereiten, ohne es zu wollen. Zwar glaubt er noch, in der Unabschließbarkeit des romantischen Romans Unendlichkeit auszudrücken und damit auf die Ganzheit der Erscheinungen der Menschen und der Gesellschaft zu verweisen, aber dieser fragmentarische Charakter des Romans bereitet schon moderne und postmoderne Formen literarischen Schaffens vor, die ja nicht nur durch ihre stilistische Freiheit, sondern oft auch durch die radikale Begrenzung ihrer Perspektive gekennzeichnet sind. Wir erleben die Wirklichkeit dort nur noch als Ausschnitt, begrenzt auf die Sicht eines orientierungslosen Subjekts, für das sich die Welt längst auf ungeordnete Eindrücke reduziert hat. Hier verweist das Fragmentarische nicht mehr auf die Welt, sondern nur auf das Individuum. © rein
Friedrich Schlegel: Kritische Schriften, hg. v. Wolfdietrich Rasch, 2. Aufl., München 1964.
Georg Lukács: Die Theorie des Romans (1916)
In der ebenso anregenden wie umstrittenen Schrift (verfaßt 1914/15) orientiert sich der ungarische Philosoph - in seiner vormarxistischen Phase - an Hinweisen Hegels zum historischen Ort und zur Leistung der "Formen der großen Epik", also des Epos und des Romans. Sein teils pathetisch, teils lyrisch gefärbter Stil macht dabei Die Theorie des Romans auch formal bemerkenswert. Wie Hegels Ästhetik sieht Lukács im Epos die 'natürliche' Entsprechung zur "homogenen", "abgerundeten" Welt der griechischen Antike, die dem Menschen eine "urbildliche Heimat" gibt. Die "Produktivität des Geistes" (Erkenntnis und Arbeit) sprengt aber jene Geschlossenheit auf: die (moderne) Welt wird "unendlich groß [...] und reicher an Geschenken und Gefahren" - sie verliert ihre 'heimatliche' Qualität. Diese "transzendentale Obdachlosigkeit" ist nun der historische Ort für die Form des Romans: "Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat." (S. 47) So strebt der Roman vergeblich nach Sinnerfüllung, seine Helden sind stets auf der Suche, seine innere Form ist die "Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst"; und deshalb tritt an die Stelle 'naturhafter' 'Geschlossenheit' die reflektierte "Komposition des Romans", d.h. "ein paradoxes Verschmelzen heterogener und diskreter Bestandteile zu einer immer wieder gekündigten Organik". (S. 73) Dieser idealtypische, ja spekulative Kontrast von Antike und Moderne, von Epos und Roman läßt die Differenzierung vermissen, die literaturhistorisch erforderlich wäre. Doch werden wesentliche Strukturen und Tendenzen des modernen Romans prägnant erfaßt - etwa in der Forderung, "das Unabgeschlossene, Brüchige und übersichhinausweisende der Welt bewußt und konsequent als letzte Wirklichkeit" (S. 61) zu setzen. Im zweiten Teil des Essays entfaltet Lukács eine Typologie der Romanformen, die an Hegels Bemerkungen über tragische, komische und versöhnliche Konfliktlösung anschließt. Entscheidend ist nach Lukács die Relation "Seele" (des Helden) und "Außenwelt". (S. 83) Im Roman des "abstrakten Idealismus" (S. 83) - exemplarisch im Don Quijote des Cervantes - ist der Held wegen der "Verengung" seiner Seele der Komplexität der äußeren Welt nicht gewachsen, muß notwendig an ihr scheitern - und zwar
auf komische Weise, wie jener 'Ritter von der traurigen Gestalt'. Wo die "Seele breiter und weiter angelegt ist als die Schicksale, die ihr das Leben zu bieten vermag", geht es um den "Desillusionsroman". Der Verlust der (geistigen, politischen, erotischen) Ideale im Zusammenprall mit einer feindlichen und 'prosaischen' Welt führt den (oft jungen) Romanhelden ins Scheitern oder in die Resignation. Dieser Typus ist unter den europäischen Romanen des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet. Als (deutsche) Kompromißform sieht Lukács den "Erziehungsroman" (S. 120) später meist Bildungsroman genannt - und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als Idealtypus: "sein Thema ist die Versöhnung des problematischen, vom erlebten Ideal geführten Individuums mit der konkreten, gesellschaftlichen Wirklichkeit." (S. 117) Ein fortdauerndes Interesse an der Theorie des Romans speist sich - gegen alle Kritik - aus ihrer prognostischen Schärfe: Viele der beobachteten Strukturen (z.B. die Thematik und Behandlung der Zeit) prägen sich deutlich erst im modernen Roman des 20. Jahrhunderts aus - also in Werken, die Lukács bei der Abfassung noch nicht kannte. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, daß Argumente der Theorie des Romans von nachfolgenden Theoretikern wie Walter Benjamin und Theodor W. Adorno aufgenommen werden. ©JV
Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt / Neuwied 1982. Sekundärliteratur: 1. R.-P. Janz: Zur Historizität und Aktualität der "Theorie des Romans" von Georg Lukács, in: Jahrbuch d. dt. Schillergesellschaft 22 (1978), S. 674699. 2. J. Schramke: Zur Theorie des modernen Romans, München 1974. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 7. Aufl. Opladen 1990, Kap.V.
Walter Benjamin: Der ErzählerBetrachtungen zum Werk Michail Lesskows (1936/37)
Die Beiträge Walter Benjamins zur Poetik und Theorie des Romans sind in literaturkritischen Arbeiten etwa zu Franz Kafka, Marcel Proust oder Alfred Döblin sowie in seinem Essay Der Erzähler von 1936/37 enthalten. Darin verbindet er ein Porträt des russischen Novellisten Michail Lesskow mit sehr weitreichenden Reflexionen über die historische Transformation und den aktuellen Status des Erzählens. Dabei schließt er grundsätzlich an Hegels Historisierung der epischen Gattung und - direkt zitierend - an Georg Lukács' Theorie des Romans (1916) an. Eine eigenständige und bis heute anregende Position wird aber unter den folgenden Gesichtspunkten deutlich. Zunächst geht er nicht wie Hegel vom Epos aus, sondern von der vielgestaltigen mündlichen Erzählpraxis in traditionalen Gesellschaften ("Märchen, Sage, Sprichwort, Schwank, Witz"), die er wesentlich als Medium für den Ausdruck und Austausch von sozialer Erfahrung ansieht. Methodisch führt er, ohne diese Begriffe zu verwenden, damit den Gegensatz von Oralität (Mündlichkeit) und Literalität (Schriftlichkeit) ein. Der mündliche Erzähler ist für Benjamin schlichtweg "ein Mann, der dem Hörer Rat weiß". Mit der "Mitteilbarkeit der Erfahrung" gerät in der modernen Gesellschaft aber auch die traditionelle "Kunst des Erzählens" in eine Funktionskrise. Die "Erfindung der Buchdruckerkunst" macht sodann ein neues, spezifisch modernes Erzählen und die "Ausbreitung des Romans" erst möglich. Seine massenhafte Verbreitung bedeutet aber nicht, daß er in kollektiver Erfahrung wurzelt. Ganz im Gegenteil - und im Sinne von Lukács: "Die Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Einsamkeit, das sich über seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben. Mitten in der Fülle des Lebens und durch die Darstellung dieser Fülle bekundet der Roman die tiefe Ratlosigkeit des Lebenden." (Der Erzähler, S. 443) Schließlich glaubt Benjamin zeigen zu können, daß das historisch neue System der "Information" und "Zerstreuung", also der modernen Massenkommunikation, den Roman seinerseits "einer Krise zuführt". Benjamin spricht im Blick aufs ausgehende 19. Jahrhundert von der "Presse"; aber wir dürfen durchaus auch an Massenmedien wie Rundfunk, Film und Fernsehen denken. Ob der Roman als literarische Form dieser neuen Medienkonkurrenz wird trotzen können, ist für Benjamin noch nicht entschieden. Anhand von Proust, Kafka und Döblin diskutiert er ganz unterschiedliche Strategien der Krisenüberwindung: die
subjektivistische Vertiefung (Proust), die Rückwendung auf mündliche Formen wie Rätsel und Gleichnis (Kafka) und die Öffnung des Romans für ein filmisches Verfahren (Döblin): "Die Montage sprengt den 'Roman', sprengt ihn im Aufbau wie auch stilistisch, und eröffnet neue, sehr epische Möglichkeiten." (Krisis des Romans, S. 232) © JV
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Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, Frankfurt/M. 1977, S. 438-465. Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, ebd., S. 409-438. Walter Benjamin: Krisis des Romans. Zu Döblins "Berlin Alexanderplatz", in: Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt/M. 1972, S. 230-236.
Sekundärliteratur: 1. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, 7. Aufl., Opladen 1990, Kap. V. 2. B. Witte: Walter Benjamin, Reinbek bei Hamburg 1985. 3. I. Wohlfarth: Krise des Erzähelns, Krise der Erzähltheorie. Überlegungen zu Lukács, Benjamin und Jauá, in: R. Kloepfer / G. Janetzke-Dillner (Hg.): Erzählung und Erzählforschung, Stuttgart 1981, S. 281-288.
Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im modernen Roman (1954)
In diesem kurzen, aber anregenden Essay, der später im ersten Band der Noten zur Literatur (1958) erscheint, stellt sich Adorno (wie auch in dem dort vorausgehenden Aufsatz Über epische Naivität) in die von Hegel begründete und von Lukács fortgeführte Tradition einer Geschichtsphilosophie der Erzählformen. Wenn er einleitend vom Roman sagt, er "war die spezifische literarische Form des bürgerlichen Zeitalters" (S. 61), dann verweist er - ähnlich wie sein Freund Walter Benjamin im Erzähler-Aufsatz, schon darauf, daß der erzählenden Literatur im 20. Jahrhundert durch "die Reportage und die Medien der Kulturindustrie, zumal den Film" viele ihrer "traditionellen Aufgaben" entzogen wurden (S. 62). Zugleich ist ein epochaler Erfahrungsverlust zu konstatieren; beides zusammen führt den Romancier in eine Zwickmühle: "es läßt sich nicht mehr erzählen, während die Form des Romans Erzählung verlangt." (S. 61) Damit rückt für Adorno die Frage nach der gegenwärtig und künftig noch möglichen (Erkenntnis-)Leistung des Romans ins Zentrum: "Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft." (S. 64) Mit diesem im Original optisch herausgehobenen Programmsatz fordert Adorno die Überwindung der von Balzac und Flaubert exemplarisch entwickelten erzählerischen "Illusionstechnik", die freilich auch noch vom späteren Lukács für sein Konzept des Sozialistischen Realismus propagiert wurde. Wenn Adorno nun vom modernen Roman erwartet, die "Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Individuen, [...] die universale Entfremdung und Selbstentfremdung" (S. 64) aufzudecken, dann findet er sich unversehens an der Seite seines Lieblingskontrahenten Brecht (der von seinem Epischen Theater ja etwa ganz ähnliches erwartet). Warum aber gerade der Roman? Man darf, ohne daß Adorno hier explizit würde, an die außerordentliche Flexibilität, Integrations- und Innovationskraft der Prosaform denken, wie sie etwa von dem Romancier Henry James oder dem Literaturtheoretiker Michail Bachtin beschrieben worden ist. Gerade die von Adorno geschätzten und erwähnten Romanciers der klassischen Moderne haben durchaus unterschiedliche - Techniken ausgebildet, die ihre Leser/innen 'hinter die realistische Fassade' blicken lassen: Prousts "subjektivistisch extreme" Erinnerungsprosa; das schon von Lukács beobachtete und benannte "Reflektierenmüssen" - etwa bei Musil oder Thomas Mann; schließlich (und nur scheinbar im Gegensatz dazu) "Kafkas Parabeln" und die "epischen Kryptogramme von Joyce" (S. 66ff.).
Dem soeben aus den USA zurückgekehrten Exilanten Adorno geht es im Jahr 1954 - hier wie in ähnlichen Arbeiten - wesentlich darum, die ästhetische Tradition der klassischen Moderne wieder einzubürgern, die von den Nazis zerstört worden und der Nachkriegsgeneration (etwa auch den jungen Autoren) kaum mehr bekannt war. Wie nötig dies war, zeigt sich, wenn man Adornos Standort-Essay mit Ausführungen des damals tonangebenden Germanisten Wolfgang Kayser parallel liest, der im gleichen Jahr 1954 den "Tod des auktorialen Erzählers" (also die strukturelle Modernisierung der Romanform seit dem 19. Jahrhundert) kurzerhand mit dem "Tod des Romans" gleichsetzt. © JV
Theodor W. Adorno: Standort des Erzählers im modernen Roman, in: ders: Noten zur Literatur I, Frankfurt/M. 1958, S. 61-72. Sekundärliteratur: 1. N. Bolz: Geschichtsphilosophie des Ästhetischen. Hermeneutische Rekonstruktion der "Noten zur Literatur" Th. W. Adornos, Hildesheim 1979. 2. H. Schäble: Theodor W. Adorno, Reinbek bei Hamburg 1989. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie, 7. Aufl., Opladen 1990, Kap. V.
Roman Jakobson: Linguistik und Poetik (1960)
* 23.10.1896, Moskau † 18.07.1982, Boston Linguist und Philologe Roman Jakobson ist einer der einflußreichsten Vertreter des Strukturalismus. Er gehörte zunächst dem Kreis der Russischen Formalisten an, später im Exil den Prager Strukturalisten. Schließlich emigrierte er in die USA und verhalf dort dem ursprünglich linguistischen Strukturalismus zum Rang einer interdisziplinär anwendbaren Erkenntnismethode. Ausgehend von Forschungsergebnissen der Phonologie hat Jakobson linguistische Konzepte auch für die Analyse von literarischen Werken verwendet, was vor allem der Literaturtheorie zu neuen Begriffen und Vorstellungen im Hinblick auf die "Poetizität (Poesiehaftigkeit)" von Literatur verholfen hat: Ein literarisches Werk wird erst aufgrund seiner sprachlichen Struktur, d.h. seiner formalen Gestaltung, zu einem Kunstwerk. Aus dieser Auffassung folgt, daß sich die spezifischen Kennzeichen der poetischen Struktur objektiv beschreiben bzw. analysieren lassen. Mit diesem Anspruch setzt sich Jakobson gezielt von einer das Subjekt einbeziehenden Literaturinterpretation (Hermeneutik) ab, und auch für die Literaturgeschichtsschreibung fordert er, daß sie "auf einer Reihe von sukzessiven synchronischen Beschreibungen aufbauen" müsse. (S. 145) Jakobson erweitert in dem Aufsatz Linguistik und Poetik (1960) zunächst das dreigliedrige Organon-Modell der Sprache von Karl Bühler (1933) zu einem Sprachkonzept mit sechs Funktionen (Jakobsonsches Kommunikationsmodell). Demzufolge spielen in jeder (sprachlichen) Kommunikation sechs Faktoren eine Rolle: der Sender, der Empfänger, der Kanal, die Botschaft, der Kontext und schließlich der Code, den beide Teilnehmer beherrschen müssen. Nur die "referentielle Funktion" umfaßt dabei den Bezug auf das sprachlich vermittelte Dritte, den "Inhalt" oder die "Wirklichkeit"; die "konative Funktion" vermittelt durch die Botschaft eine Aufforderung (Appell) an den Empfänger; die "phatische Funktion" dient der Herstellung und Aufrechterhaltung der Sprachverbindung zwischen den Gesprächsteilnehmern; die "emotive (expressive) Funktion" drückt die Haltung des Sprechers zum Gesagten sowie seine Befindlichkeit aus; die "metalinguale Funktion" umfaßt die Thematisierung des Codes, d.h. die Zuordnung von Bedeutung; die "poetische Funktion" schließlich macht die Botschaft selbst zum Thema.
Zwar ist die poetische Funktion als "Zentrierung auf die Sprache um ihrer selbst willen" (S. 151) ein allgemeines Kennzeichen von Sprache, doch sie tritt in der Literatur in besonderem Maße zutage und macht literarische Texte der linguistischen Analyse zugänglich, denn - so eine viel zitierte Feststellung: "Die poetische Funktion überträgt das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination." (S. 153) In anderen Worten: Während Sprecher einer Sprache gewöhnlich zwischen solchen Wörtern wählen müssen, die sich in ihrer Lautung, Bedeutung oder ihrer syntaktischen Funktion ähneln, aber aufgrund der jeweils anderen Kriterien doch unterscheidbar sind, werden diese Wörter in der Literatur (eigentlich: in der gebundenen Rede der Lyrik) hintereinander verwendet (prominentes Beispiel ist der Reim). Darüber hinaus benutzt Jakobson die Sprachfunktionen zur Unterscheidung literarischer Genera: "Epische Dichtung, die besonders auf die dritte Person bezogen ist, impliziert vor allem die referentielle Sprachfunktion; die sich auf die erste Person richtende Lyrik ist eng verbunden mit der emotiven Funktion; Dichtung von der zweiten Person ist von der konativen Funktion durchdrungen und ist entweder als flehend oder ermahnend charakterisiert." (S. 152) Neben der Möglichkeit der "Erwartungstäuschung" von etablierten sprachlichen oder poetischen Konventionen betont Jakobson, daß die Analyse nicht auf der Strukturebene stehenbleiben darf. Hat man einmal strukturelle Verbindungen herausgearbeitet, muß man in einem zweiten Schritt untersuchen, welche Bezüge auf der Bedeutungsebene damit impliziert werden. Strukturale Analysen literarischer Werke haben zur 'Versachlichung' intuitiv hermeneutischer Zugangsweisen beigetragen, sind aber - vor allem wegen der Ausblendung kommunikativer Aspekte zwischen Text und Leser – auch scharf kritisiert worden. ©pflug
Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt/M. 1971, S. 142-178. Wichtige Schriften: ❍
Poetik. Ausgewählte Ausätze 1921-1971 (1979)
Sekundärliteratur: 1. R. Barthes: Elemente der Semiologie, Frankfurt/M. 1979. 2. J. Culler: Structuralist Poetics. Structuralism, Linguistics and the Study of Literature, London 1975. 3. G. Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin 1992.
Manfred Bierwisch: Poetik und Linguistik (1965)
* 28.07.1930, Halle Linguist Bierwisch entwickelt in seinem Aufsatz Poetik und Linguistik das Programm einer exakten empirischen Literaturwissenschaft in Anlehnung an linguistische Sprachtheorien und Methoden. Anders als Roman Jakobson bezieht er sich nicht auf den Strukturalismus, sondern geht von dem Modell der generativen Transformationsgrammatik aus, das nicht Regeln der Sprachstruktur, sondern der Hervorbringung wohlgeformter Sätze beschreibt. Wie auch Jakobson grenzt er seinen Entwurf der Poetik als eine "Theorie der Struktur literarischer Texte" (S. 568) von der hermeneutischen Textinterpretation ab. Er räumt aber ein, daß die Hermeneutik zu gleichen Ergebnissen hinsichtlich der "Poetizität (Poesiehaftigkeit") (Jakobson) eines literarischen Werkes kommen kann, und außerdem, daß eine linguistisch orientierte Poetik nicht alle literarischen Phänomene erfassen kann: "Es ist also nur ein Teilbereich des komplexen, von historischen und soziologischen Fakten mitbestimmten Problems literarischer Wirkung, der durch die Poetik erklärt werden kann. Es scheint mir aber ein entscheidender Bereich zu sein, der Voraussetzung für die Erklärung weiterer Zusammenhänge sein kann." (S. 585) Denn der Hermeneutik fehlt der Blick für allgemeine Prinzipien: "die Hermeneutik [kann] jedes einzelne Objekt beliebig genau umschreiben, die für sein Verständnis, seine Wirkung wichtigen Eigenschaften herausfinden, ohne jemals zu einer Theorie dieser Eigenschaften zu kommen." (S. 569) In Analogie zum linguistischen Konzept der grammatischen Kompetenz benennt er für die Poetik eine "poetische Kompetenz als Untersuchungsgegenstand, d.h. die menschliche Fähigkeit, solche (poetischen) Strukturen zu produzieren und ihre Wirkungen zu verstehen." (S. 570) Poetische Strukturen wie Vers, Reim, Alliteration bedienen sich "parasitär" der sprachlichen Struktur, indem sie diese überlagern oder von ihr abweichen. Ist aber dann jede grammatische Abweichung bereits poetisch? Bierwisch gibt als Kriterium der Poetizität einer grammatischen Abweichung ihre Regelhaftigkeit an und führt zugleich das Modell einer "Skala der Poetizität" ein, ohne dessen weitere Ausarbeitung jedoch zu skizzieren. Neben der sekundären Textstrukturierung und den regelhaften Abweichungen von der Grammatik bestimmt Bierwisch als drittes Mittel der Poetizität die
Abweichung von älteren poetischen Strukturen: "Die Trivialisierung zahlreicher poetischer Regularitäten führt zur Etablierung stets neuer Abweichungsregeln." (S. 582) Da solche regelhaften poetischen Abweichungen oft erst mit dem Werk selbst entstehen, also noch gar nicht codiert sind, bedeutet dies für den Leser, "daß er erst im Prozeß des Verstehens das Regelsystem erwirbt, demgemäß er den Text versteht" (S. 583): Er muß den Code auf der Grundlage seiner Kenntnis anderer, älterer poetischer Codes brechen. ©pflug
Manfred Bierwisch: Poetik und Linguistik, in: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt/M., S. 568-586.
Romantheorie im Roman
In der Entwicklungsgeschichte des modernen Romans ist die wachsende Bedeutung erörternder, reflektierender, essayistischer (und insofern nichtnarrativer) Textelemente in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht auffällig. Formal können solche Reflexionen entweder den Figuren (in Form von Gedankenberichten, inneren Monologen usw.) zugeordnet werden oder von der Erzählinstanz selber verantwortet werden (als auktoriale Reflexion, als einmontierter Essay usw.). Inhaltlich können sie das Verhalten und die Psychologie der Handlungsfiguren betreffen, aber auch grundsätzliche Probleme aus allen Lebensbereichen - vom alltäglichen Leben bis zu den 'letzten Fragen' von Philosophie und Religion. In unserem Zusammenhang interessiert vor allem die implizite Poetik, besonders die implizite Romanpoetik, die in solchen Partien entwickelt werden kann. Gerade weil der Roman lange Zeit als Gattung ohne Poetik (im traditionellen Sinn) zurechtkommen muß, wächst das Bedürfnis, über die eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu reflektieren. Besonders umfangreich und intensiv geschieht dies in vielen Romanen der sogenannten Klassischen Moderne, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein ganzes Kapitel aus dem Roman von Thomas Mann: Der Zauberberg (1924) ist beispielsweise der Frage gewidmet, ob man "die Zeit erzählen" kann - also einer poetologischen Grundfrage besonders der epischen Dichtung. In einem nicht weniger wichtigen Erzählwerk der Zwischenkriegszeit, dem (fragmentarisch gebliebenen) Roman von Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (1. Bd. 1930) thematisiert eine kleine Episode ebenfalls die chronologische Struktur des Romans (bzw. der Erzählung), darüber hinaus aber auch das grundlegende, fast anthropologische Bedürfnis nach Erzählung. Ein Vergleich beider Partien könnte neben den inhaltlichen Gesichtspunkten auch die Frage der (erzähltechnischen) Einbindung in den Rahmen des narrativen Textes berücksichtigen. © JV
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften(Ausschnitt) (1930-1952)
[...] als einer jener scheinbar abseitigen und abstrakten Gedanken, die in seinem Leben oft so unmittelbare Bedeutung gewannen, fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: "Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!" Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten "Faden der Erzählung", aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann "als", "ehe" und "nachdem"! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen. Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: der Wanderer mag bei strömenden Regen die Landstraße reiten oder bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute, und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste "perspektivische Verkürzung des Verstandes" nicht schon zum Leben selbst gehörte. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig "weil" und "damit" hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen "Lauf" habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem "Faden" mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet. Als er sich mit dieser Erkenntnis wieder in Bewegung setzte, erinnerte er sich allerdings, daß Goethe in einer Kunstbetrachtung geschrieben hat: "Der Mensch ist kein lehrendes, er ist ein lebendes, handelndes und wirkendes Wesen!"
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952, S. 649-650.
Thomas Mann: "Der Zauberberg" (Ausschnitt) (1924)
Strandspaziergang Kann man die Zeit erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich? Wahrhaftig, nein, das wäre ein närrisches Unterfangen! Eine Erzählung, die ginge: "Die Zeit verfloß, sie verrann, es strömte die Zeit" und so immer fort, - das könnte gesunden Sinnes wohl niemand eine Erzählung nennen. Es wäre, als wollte man hirnverbrannterweise eine Stunde lang ein und denselben Ton oder Akkord aushalten und das - für Musik ausgeben. Denn die Erzählung gleicht der Musik darin, daß sie die Zeit erfüllt, sie "anständig ausfüllt", sie "einteilt" und macht, daß "etwas daran" und "etwas los damit" ist, - um mit der wehmütigen Pietät, die man Aussprüchen Verstorbener widmet, Gelegenheitsworte des seligen Joachim anzuführen: längst verklungene Worte, - wir wissen nicht, ob sich der Leser noch ganz im klaren darüber ist, wie lange verklungen. Die Zeit ist das Element der Erzählung, wie sie das Element des Lebens ist, - unlösbar damit verbunden, wie mit den Körpern im Raum. Sie ist auch das Element der Musik, als welche die Zeit mißt und gliedert, sie kurzweilig und kostbar auf einmal macht: verwandt hierin, wie gesagt, der Erzählung, die ebenfalls (und anders als das auf einmal leuchtend gegenwärtige und nur als Körper an die Zeit gebundene Werk der bildenden Kunst) nur als ein Nacheinander, nicht anders denn als ein Ablaufendes sich zu geben weiß, und selbst, wenn sie versuchen sollte, in jedem Augenblick ganz da zu sein, der Zeit zu ihrer Erscheinung bedarf. Das liegt auf der flachen Hand. Daß aber hier ein Unterschied waltet, liegt ebenso offen. Das Zeitelement der Musik ist nur eines: ein Ausschnitt menschlicher Erdenzeit, in den sie sich ergießt, um ihn unsagbar zu adeln und zu erhöhen. Die Erzählung dagegen hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann. Ein Musikstück des Namens 'Fünf-Minuten-Walzer' dauert fünf Minuten, - hierin und in nichts anderem besteht sein Verhältnis zur Zeit. Eine Erzählung aber, deren inhaltliche Zeitspanne fünf Minuten betrüge, könnte ihrerseits, vermöge außerordentlicher Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung dieser fünf Minuten, das Tausendfache dauern - und dabei sehr kurzweilig sein, obgleich sie im Verhältnis zu ihrer imaginären Zeit sehr langweilig wäre. Andererseits ist möglich, daß die inhaltliche Zeit der Erzählung deren eigene Dauer verkürzungsweise ins Ungemessene übersteigt, - wir sagen "verkürzungsweise", um auf ein illusionäres oder, ganz deutlich zu sprechen, ein krankhaftes Element hinzudeuten, das hier offenbar einschlägig ist: sofern nämlich dieses Falls die Erzählung sich eines
hermetischen Zaubers und einer zeitlichen Überperspektive bedient, die an gewisse anormale und deutlich ins Übersinnliche weisende Fälle der wirklichen Erfahrung erinnern. Man besitzt Aufzeichnungen von Opiumrauchern, die bekunden, daß der Betäubte während der kurzen Zeit seiner Entrückung Träume durchlebte, deren zeitlicher Umfang sich auf zehn, auf dreißig und selbst auf sechzig Jahre belief oder sogar die Grenze aller menschlichen Zeiterfahrungsmöglichkeit zurückließ, - Träume also, deren imaginärer Zeitraum ihre eigene Dauer um ein Gewaltiges überstieg und in denen eine unglaubliche Verkürzung des Zeiterlebnisses herrschte, die Vorstellungen sich von solcher Geschwindigkeit drängten, als wäre, wie ein Haschischesser sich ausdrückt, aus dem Hirn des Berauschten "etwas hinweggenommen gewesen wie die Feder einer verdorbenen Uhr". Ähnlich also wie diese Lasterträume vermag die Erzählung mit der Zeit zu Werke gehen, ähnlich vermag sie sie zu behandeln. Da sie aber "behandeln" kann, so ist klar, daß die Zeit, die das Element der Erzählung ist, auch zu ihrem Gegenstande werden kann; und wenn es zuviel gesagt wäre, man könne "die Zeit erzählen" so ist doch, von der Zeit erzählen zu wollen, offenbar kein ganz so absurdes Beginnen, wie es uns anfangs scheinen wollte, - so daß denn also dem Namen des "Zeitromans" ein eigentümlich träumerischer Doppelsinn zukommen könnte. Tatsächlich haben wir die Frage, ob man die Zeit erzählen könne, nur aufgeworfen, um zu gestehen, daß wir mit laufender Geschichte wirklich dergleichen vorhaben. Und wenn wir die weitere Frage streiften, ob die um uns Versammelten sich noch ganz im klaren darüber seien, wie lange es gegenwärtig her ist, daß der unterdessen verstorbene ehrliebende Joachim jene Bemerkung über Musik und Zeit ins Gespräch flocht (die übrigens von einer gewissen alchimistischen Steigerung seines Wesens zeugt, da solche Bemerkungen eigentlich nicht in seiner brave Natur lagen), - so wären wir wenig erzürnt gewesen, zu hören, daß man sich wirklich im Augenblick nicht mehr so recht im klaren darüber sei: wenig erzürnt, ja zufrieden aus dem einfachen Grunde, weil die allgemeine Teilnahme an dem Erleben unseres Helden natürlich in unserem Interesse liegt und weil dieser, Hans Castorp, in beregtem Punkte durchaus nicht ganz fest war, und zwar schon längst nicht mehr. Das gehört zu seinem Roman, einem Zeitroman, - so - und auch wieder so genommen. Wie lange Joachim eigentlich hier oben mit ihm gelebt, bis zu seiner wilden Abreise oder im ganzen genommen; wann, kalendermäßig, diese erste trotzige Abreise stattgefunden, wie lange er weggewesen, wann wieder eingetroffen und wie lange Hans Castorp selber schon hier gewesen, als er wieder eingetroffen und dann aus der Zeit gegangen war; wie lange, um Joachim beiseite zu lassen, Frau Chauchat ungegenwärtig gewesen, seit wann, etwa der Jahreszahl nach, sie wieder da war (denn sie war wieder da), und wieviel Erdenzeit Hans Castorp im 'Berghof' damals verbracht gehabt hatte, als sie zurückgekehrt war: bei all diesen Fragen, gesetzt, man hätte sie ihm vorgelegt, was aber niemand tat, auch er selber nicht, denn er scheute sich wohl, sie sich vorzulegen, hätte Hans Castorp mit den Fingerspitzen an seiner Stirn getrommelt und entschieden nicht recht Bescheid gewußt, - eine Erscheinung, nicht weniger beunruhigend als jene
vorübergehende Unfähigkeit, die ihn am ersten Abend seines Hierseins befallen hatte, nämlich Herrn Settembrini sein eigenes Alter anzugeben, ja, eine Verschlimmerung dieses Unvermögens, denn er wußte nun allen Ernstes und dauernd nicht mehr, wie alt er sei!
Thomas Mann: Der Zauberberg, Frankfurt/M. 1991, S. 738-741.
Gedichte über Dichtung
Bertolt Brecht (1898-1956) und Gottfried Benn (1886-1956) sind nicht einfach nur zwei herausragende Lyriker deutscher Sprache im 20. Jahrhundert. Sie haben sich im Literaturbetrieb vor 1933 als Konkurrenten wahrgenommen, sind aber politisch wie poetisch sehr unterschiedliche Wege gegangen: Benn, ein schnell enttäuschter Sympathisant der Nationalsozialisten, verstummte für lange Zeit und erlebt erst in den frühen Jahren der Bundesrepublik eine zweite Blütezeit; der Marxist Brecht wurde von den Nazis ins Exil gezwungen, aus dem er - zögernd ins kommunistische Teil-Deutschland zurückkehrt. Für Brecht ist Literatur - und damit auch die Lyrik - eine Form "eingreifenden Denkens"; Benn neigt von Beginn an zu einer ahistorischen, in gewisser Weise 'a-sozialen', radikal individualistischen Dichtungsauffassung und -praxis. Gemeinsam ist beiden Kontrahenten aber, daß sie die Form der Lyrik auch zur Reflexion des poetischen Schaffens und seiner Wirkungsmöglichkeiten selbst benutzen - also ihre je eigene implizite Poetik entwickeln. Ein Vergleich der Gedichte Über die Bauart langdauernder Werke (1929) von Brecht und und Fragmente (1950) von Benn kann die grundlegenden poetologischen Differenzen deutlich machen. Dabei wäre zu klären, welchen Stellenwert die Qualität des 'Unfertigen' bzw. 'Fragmentarischen' im einen wie im anderen Fall besitzt; auch der unterschiedliche historische Kontext beider Gedichte wäre zu bedenken. ©JV
Gottfried Benn: Fragmente (Originaltext) (1950)
Fragmente Fragmente, Seelenauswürfe, Blutgerinnsel des zwanzigsten Jahrhunderts Narben - gestörter Kreislauf der Schöpfungsfrühe, die historischen Religionen von fünf Jahrhunderten zertrümmert, die Wissenschaft: Risse im Parthenon, Planck rann mit seiner Quantentheorie zu Kepler und Kierkegaard neu getrübt zusammen aber Abende gab es, die gingen in den Farben des Allvaters, lockeren, weitwallenden, unumstößlich in ihrem Schweigen geströmten Blaus, Farbe der Introvertierten, da sammelte man sich die Hände auf das Knie gestützt bäuerlich, einfach und stillem Trunk ergeben bei den Harmonikas der Knechte und andere gehetzt von inneren Konvoluten, Wölbungdrängen, Stilbaukompressionen oder Jagden nach Liebe. Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik: das ist der Mensch von heute, das Innere ein Vakuum, die Kontinuität der Persönlichkeit wird gewahrt von den Anzügen, die bei gutem Stoff zehn Jahre halten. Der Rest Fragmente, halbe Laute,
Melodienansätze aus Nachbarhäusern, Negerspirituals oder Ave Marias.
Gottfried Benn: Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, Frankfurt/M. 1982, S. 379.
Sophokles: König Ödipus
"Father, I want to kill you - mother, I want to f....." - das Unaussprechliche mündet ein in einen langgezogenen, ekstatischen Schrei, Gesang löst Sprache ab Jim Morrison von den Doors ist nicht der Einzige, der die ödipale Konstellation mit einer eigenen Stimme neu belebt. Noch immer strahlt die Geschichte des Ödipus eine große Faszination aus, noch immer bietet das Geschehen um den Vatermörder und Muttergeliebten wider Willen einen wunderbaren Projektionsraum für Kunst, Philosophie und Psychologie: Ödipus ist überzeitlicher und unauslöschlicher Bestandteil unseres kollektiven Bewusstseins. Die Geschichte des Ödipus, so wie wir sie bis heute kennen, wurde nachhaltig durch das Drama des Sophokles bestimmt. Denn noch bei Homer und seiner wenigzeiligen Erwähnung in der Odyssee im elften Gesang ist die Geschichte nur wenig ausgeschmückt - im Zentrum steht lediglich der Vatermord und der Inzest mit der Mutter, die sich jedoch sofort (und kinderlos) das Leben nimmt, während Ödipus in Theben weiter regiert. Erst in der nachhomerischen Dichtung wird der Kern des Mythos mit zusätzlichen Geschichten angereichert, die schließlich Eingang finden in die wirkungsmächtigste Verschriftlichung durch Sophokles. Über die Entstehung und Uraufführung des König Ödipus gibt es keine verlässlichen Informationen. Die sich widersprechenden Theorien orientieren sich zumeist an der Pest: 430 v. Chr. tritt sie in Athen auf, ein Jahr später, 429, stirbt Perikles daran. Die Streitfrage ist nun, ob die Tragödie im Todesjahr des Perikles, der eng mit Sophokles befreundet war, oder zwei Jahre später, 427, zur Aufführung kam. Letztlich ist die Frage nicht beantwortet worden, auffällig ist in jedem Fall die Engführung von Fiktion (Sophokles lässt sein Drama mit der Pest in Theben beginnen) und Geschichte (Pest in Athen), die in beiden Fällen zur politischen Krise innerhalb der polis führte. Sophokles erzählt seine Ödipus-Version nicht chronologisch. Die Handlung setzt mit der Schilderung der Pest in Theben ein, und entfaltet von hier aus allmählich die Gesamtgeschichte. Aus verschiedenen (Figuren-)Perspektiven wird das zurückliegende Geschehen in einzelnen Erzählfragmenten zusammengetragen. In dem Maße, in dem Ödipus zur Selbsterkenntnis, das heißt zum Wissen über sein wahres Ich gelangt, gewinnen die ZuschauerInnen Einblick in den Gesamtzusammenhang des Erzählten, in die Geschichte. Selbsterkenntnis und Geschichtsschreibung fallen auf diese Weise zusammen und ergänzen sich. Wie ist jedoch die jahrhundertlange Faszination für den Stoff und das Drama zu erklären? Auf der Ebene der Theatergeschichte lässt sich der große Erfolg der Tragödie wesentlich auf zwei pragmatische Gründe zurückführen: Erstens ist das
Ödipus-Stück erhalten geblieben (zum Beispiel im Gegensatz zu jenem früheren des Aischylos von 467 v.Chr.). Zweitens verdankt sie Aristoteles ihre Sonderstellung: Die Poetik, die Aristoteles in Kenntnis der Geschichte und Praxis des antiken Theaters geschrieben hat und von da aus seine Theorie entwickelte, stützt sich in der Argumentation wesentlich auf den König Ödipus; umgekehrt ist es eben die Poetik, die das Drama damit als das Vorbild antiker Bühnenkunst vorstellt und zum allgemeingültigen Maßstab erhebt. Es gibt aber auch inhaltliche Gründe, die mit verantwortlich sind für die Erfolgsgeschichte des König Ödipus - im Vordergrund stehen wesentlich zwei Aspekte. Erstens die Frage nach der Schuld bzw. Unschuld des Ödipus. Der Held erkennt bei Sophokles das Ausmaß und Grauen seiner Tat, sieht sich aber nicht als Schuldigen, eher als Schuldbeladenen, als 'Kind von Frevlern'. Diskutiert wird damit das Verhältnis von Wissen und Schuld, vor allem aber die Frage nach der Möglichkeit und den Bedingungen individuellen Handelns angesichts einer strukturell komplexen Objektwelt, in die das Subjekt notwendig und unentrinnbar eingebunden ist. Zweitens wird der Drang des Ödipus, Licht in die (eigene) Geschichte zu bringen, als zentrale Thematik des Dramas begriffen. Die menschliche Erkenntnisfähigkeit im Allgemeinen, der Wille zur Selbsterkenntnis im Besonderen strukturieren das Drama, sorgen auf der plot-Ebene für Spannung. Auf der Metaebene führen sie erstens zur grundlegenden Diskussion von 'Schein und Sein', zweitens zur Sinnhaftigkeit einer selbstzerstörerischen und damit auch utopielosen Selbsterkenntnis, drittens zum Prozess der Erforschung tiefverborgener Wünsche, Ängste und Abwehrmechanismen. Be- und hinterfragt werden damit die Rolle der Selbsterkenntnis - der Mündigkeit - und die damit immer latent präsente Gefahr des Selbstverlusts als einem zentralen Moment (moderner) Subjektbildung. ©AE Sekundärliteratur: 1. H. Flashar: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen, München 2000. 2. J. Pfeiffer: Arbeit am Mythos. Ödipus in der deutschsprachigen Literatur, in: Freiburger Universitätsblätter 148 (2000) 2: Oedipus und seine Brüder, S. 35-47. 3. R. v. Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 337-342.
Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan (1819)
Der Gedichtzyklus West-östlicher Divan (1819) gehört zum Spätwerk Goethes. Ab 1815 versenkt sich der Dichter immer mehr in die fremden Literaturen, insbesondere in die orientalischen. Schon 1814 hatte er sich der altpersischen Dichtung gewidmet, besonders dem Divan Hafis' (14.Jahrhundert), den Goethe in der Übersetzung Josef v. Hammers kannte. Daneben liest er Reisebeschreibungen des 17. Jahrhunderts: Della Valle, Olearius, Tavernier und Chardin - Gelehrte, die den fernen Orient darstellen. Das neue Interesse, das Goethe selbst programmatisch als "Hegire" (arab. higra: Migration) bezeichnet, bereichert seinen Begriff einer "Weltliteratur": "Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen". In der Tat bedeutet west-östlich: deutsch-orientalisch, lateinisch-arabisch, christlichmohammedanisch. Mit dieser weltanschaulichen Auffassung stimmt auch die Breite der Gattungen, Motive und Formen des Divan überein: Spruchdichtungen (Buch der Betrachtungen, Buch der Sprüche), Invektiven (Buch des Unmuts), historische Anspielungen (Buch Timur) und Parabeln als "Übersicht des Weltwesens" (Buch der Parabeln) wechseln sich dort ab. Ganz eigentümlich und erstmalig ist aber, wie das Arabeskenspiel von geschichtlichen Studien, Übersetzung und Aneignung alter Poesie sich ineinander verwebt. Lehr- und mystische Dichtungen, Rätsel, Balladen vermischen sich kreisförmig mit den rein lyrischen Strophen des Buchs Suleika, wo Goethe die ganze Spannweite der erotischen Lyrik ausbreitet. Wichtig ist, auf die ganz besondere Entstehungsgeschichte dieses Buchs hinzuweisen. Der literarische Aufbruch in den "reinen Osten", in die "Urheimat der Menschheit", verdankt sich auf der existentiellen Ebene dem Impuls einer (deutschen) Liebeserfahrung. Vom 12. August bis zum 18. September 1815 wohnt Goethe bei dem Ehepaar Willemer, zumeist auf deren Landgut, der Gerbermühle am Main. Der Mann ist ein älterer Bankier, der vor kurzem Marianne, eine lebenssprühende junge Frau geheiratet hat. Es ist eine Reihe von festlichen Tagen für den alten Dichter. Sein Geburtstag - 28. August - wird schöner gefeiert, als er es bisher je erlebt hat. Abends singt Marianne zur Gitarre und Goethe liest Liebesgedichte an Jussuf und Suleika vor - das Liebespaar in seiner west-östlicher Liedersammlung, die er indessen fleißig vermehrt. Später nennt er den Liebhaber Hatem. Goethe entgeht es nicht, daß Marianne neben anderen Gaben auch ein poetisches Talent hat. Und schreibt entzückt: "Aber daß du /Feurige Jugendblicke mir schickst / […] Das sollen meine Lieder preisen, / sollst mir ewig Suleika heissen"
(Einladung). Nun knüpft die junge Frau Willemer an einige Liebesgedichte Goethes an, und antwortet ihm als Suleika: "Hochbeglückt in deiner Liebe…". Es ist ein chiffriertes Liebespiel, versteckt in Zitate des persischen Dichters (vgl. dazu Vollmondnacht). So ergibt sich vor allem im Buch der Liebe und Buch Suleika ein zauberhaftes Geflecht von intimen, wechselseitig aufeinander verweisenden Motiven, die der Freundeskreis nicht entziffern kann. Die Töne der Liebeslyrik reichen vom Anakreontisch-Scherzhaften (An vollen Büschelzweigen) bis zum Mystisch-Kosmischen (Wiederfinden). Ein Zwiegespräch, das mit Goethes Rückkehr nach Weimar aufhört. Er muß fliehen. Der Hof, seine Frau Christiane warten auf ihn. Briefe und Tagebücher zeigen nun seine Wehmut. Direkt an Marianne darf er nicht schreiben, er muß sich förmlich getarnt an das Ehepaar Willemer wenden: "So verlebe ich nun schon bald ein Vierteljahr, ohne mir fremd und ohne mir selbst zu sein". Goethe versenkt sich in die Arbeit. Sein häufiges Diktum: Bevor ein Werk in der Welt sei, habe keiner eine Ahnung davon, erweist sich abermals als wahr. September 1816, aus dem Tagebuch: "Divan in [12] Bücher eingeteilt". Er lebt "in der Erinnerung" und sucht die "Erfahrungen zum Besten zu leiten" (21. Oktober an Knebel). Aus "Entsagung" entsteht nun eine gewaltige historische Reflexion über den dichterischen Zyklus: Die Noten und Abhandlungen begleiten die Publikation des Divan (1819). Das erste Exemplar geht an das Ehepaar Willemers. Was den Divan heute noch nicht ganz durchschaubar macht, ist dieses höchst raffinierte Versteckspiel, das persönliche Erlebnisse in eine fremdartige und fast nur der Gelehrsamkeit zugängliche Maskierung verhüllt. Dazu kommt, daß die Noten keineswegs den Kommentar zu den Versen enthalten. Goethe erläutert zwar einzelne Ausdrücke und Anspielungen, vermeidet es aber, auf das eigentlich Rätselvolle einzugehen. Man nehme das Gedicht Dir zu eröffnen, das im Kapitel Chiffer erscheint: Es ist die Umarbeitung eines Briefes von Marianne, die HafisHammer-Passagen verwendet hatte. Wer spricht hier von wem? Rätsel finden sich übrigens auch im Nachlaß von Marianne. Das sollte auch so bleiben, weil das Maskenspiel dem Wesen der Lyrik überhaupt gemäß ist. Mit einem Vers aus dem Divan: "Manchmal ist ein Wort vonnöten, / Oft ist's besser, daß man schweigt". © AC
Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd.2, München 1981.
Marcel Proust
* 10.07. 1871, Auteuil † 18.11. 1922, Paris französischer Romancier "Mit Recht hat man gesagt, daß alle großen Werke der Literatur eine Gattung gründen oder sie auflösen, mit einem Worte, Sonderfälle sind. Unter ihnen ist aber dieser einer von den unfaßlichsten. Vom Aufbau angefangen, welcher Dichtung, Memoirenwerk, Kommentar in einem darstellt, bis zu der Syntax uferloser Sätze [...] ist alles außerhalb der Norm. Daß dieser große Einzelfall der Dichtung gleichzeitig ihre größte Leistung in den letzten Jahrzehnten darstellt", ist eine Behauptung Walter Benjamins (1929), die im Kern auch heute noch gelten darf. Proust Werk, genauer: sein siebenbändiges Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (A la recherche du temps perdu), das zwischen 1913 und 1927 (in wesentlichen Teilen also posthum) erschien, ist ein herausragendes Monument europäischer Romankunst des 20. Jahrhunderts. Neben ihm können sich - was ästhetischen Anspruch, innovative Ausführung und internationale Wirkung angeht - allenfalls James Joyce und Franz Kafka behaupten. Wo aber bei Kafka die Schreibbewegung immer wieder abbricht, gelingt es Proust, zuletzt ein wenig gewaltsam, seinen gigantischen Roman zu Ende zu führen. Das ist deshalb wichtig, weil der wesentlich von diesem Ende, von der "wiedergefundenen Zeit" her konstruiert ist: Die erzählte Handlung endet damit, dass der Erzähler beschließt, den Roman zu schreiben, den wir gerade gelesen haben... Es handelt sich, sehr schematisch gesehen, um einen autobiographischen Roman, in dem der Ich-Erzähler mit seinen Erlebnissen seit der frühesten Kindheit zugleich die unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten "erzählt", eben diese Erlebnisse zu erinnern. Die inzwischen legendären Anfangspartie - "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen" - demonstriert das Versagen des willentlichen oder bewussten Erinnerns und die geheimnisvolle Kraft der "unwillkürlichen Erinnerung" (mémoire involontaire), die in den Tiefen des Vorbewussten gespeichert ist und durch zufällige Sinneswahrnehmungen: einen bestimmten Geschmack, Geruch, eine Tonfolge, eine Farbe, eine Berührung - ausgelöst wird und dadurch auch den Schreibfluss in Gang setzt. Tatsächlich lagern die dreitausend Seiten des Romans und die Fülle seiner Personen und Ereignisse auf einer Reihe solcher "Epiphanien" wie eine Kuppel auf ihren Säulen. Den Stoff des Erzählens, gewissermaßen das Baumaterial liefert des Verfassers "Pariser Kindheit um 1900", d.h. die Sozialisationsgeschichte eines kränkelnden jungen Mannes aus jüdisch-großbürgerlicher Familie, der die ländliche Sommerfrische
(Bd. I: In Swanns Welt) und ausgedehnte Ferienaufenthalte an der See genießt (Bd. 2: Im Schatten junger Mädchenblüte), der sich in Paris sehr bald in bürgerlichen und aristokratischen Gesellschaftszirkeln bewegt und am Kunstleben des fin de siècle - Musik, Oper, Malerei, Literatur - teilnimmt (Bd.3: Die Welt der Guermantes). Verstrickungen in Erotik und Eifersucht (Bd.5 und 6: Die Gefangene, Die Entflohene) und die Schattenwelt der Perversionen (Bd.4: Sodom und Gomorra) rücken in den Vordergrund, bevor - nun schon nach dem Ersten Weltkrieg - der Erzähler im 7. und letzten Band (Die wiedergefundene Zeit) mit der Einsicht in die unaufhaltsame Vergänglichkeit paradoxerweise auch den Ansatz zu seiner Niederschrift findet, in welcher (wie es im letzten Satz des Romans heißt) alle "Menschen", die ihm einst begegneten, ihren "Platz" finden werden "in der ZEIT." Dass diese Handlung nur den "Unterbau" darstellt, versteht sich bei einem Roman der klassischen Moderne von selbst. Was Proust unverwechselbar macht, und womit er über seine Vorläufer (René de Chateaubriand, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert) weit hinausgeht, ist eine bislang kaum gekannte Präzision und Differenziertheit in der Beschreibung von Dingen, Wahrnehmungen und Empfindungen. Sie kann zum Instrument der psychologischen Ich-Erkundung oder der satirischen Gesellschaftszeichnung werden, aber auch - quasiessayistisch - der kunsttheoretischen und philosophischen Reflexion dienen. Neben dieser syntaktischen Differenzierung sind ausgesuchte, bisweilen preziöse Vergleiche und Metaphern für Proust Stil typisch, die bisweilen zu die wahren Exkursen oder Miniatur-Essays ausgefaltet werden. Proust Recherche ist, nach einer kurzen Phase der Irritation von Publikum und Kritik, seit dem Prix Goncourt von 1919 in Frankreich und dann auch international zur Kenntnis genommen und bewundert worden. Als bezeichnendes Beispiel darf Samuel Becketts Essay Proust (1931) gelten. Im deutschsprachigen Bereich wurden Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal auf Proust aufmerksam, ehe der Romanist Ernst Robert Curtius (1925) und der Kritiker Walter Benjamin (der an der ersten Übersetzung von 1925/26 beteiligt war) sich für ihn einsetzten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die durch Theodor W. Adorno angeregte Neuübersetzung von Eva Rechel-Mertens (1957) das deutsche Lesepublikum wieder mit dem französischen Jahrhundertautor bekannt gemacht. © JZ
Wichtige Schriften: ❍
Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Deutsch von Eva Rechel-Mertens, 3 Bde., Frankfurt/M. 1989.
Sekundärliteratur:
1. S. Beckett: Proust. Essay, Frankfurt/M. 1989. 2. A. Corbineau-Hoffmann: Marcel Proust: A la recherche du temps perdu. Einführung und Kommentar, Tübingen u.a. 1993. 3. K.Kemp: Der Roman von Proust. Ein Überblick, Basel u.a. 1988.
James Joyce
* 2.2.1882, Dublin † 13.01.1941, Zürich irischer Schriftsteller und Journalist Im Dubliner Stadtteil Rathgar wird James Augustine Joyce am 2. Februar 1882 als ältester überlebender Sohn des Zinseintreibers John Stanislaus Joyce und seiner Frau Mary Jane geboren. Seine Jugend in der zwölfköpfigen Familie ist geprägt durch ständige Wohnungswechsel, permanente Geldnot und eine streng katholische Erziehung. Für das Amt des Priesters bestimmt, wendet er sich jedoch schon früh vom katholischen Glauben ab. 1904 reist Joyce mit seiner Lebensgefährtin Nora Barnacle nach Triest, um - wie so viele Schriftsteller mit irischen Wurzeln - der heimatlichen Enge zu entfliehen. In Italien werden seine beiden Kinder Giorgio und Lucia geboren. Ab 1915 lebt die Familie in Zürich, ab 1920 in Paris und ab 1940 wiederum in Zürich. Häufige Wohnungswechsel und unsichere finanzielle Verhältnisse bestimmen auch hier den Alltag. 1941 stirbt Joyce in Zürich an einem Darmleiden. Durch Joyces gesamtes Werk zieht sich die kritische, oft auch polemische Auseinandersetzung mit der irischen Gesellschaft und ihrem Katholizismus: "Ireland is the old sow that eats her farrow". Im Gegensatz zu der (teilweise idealisierenden) Rückbesinnung auf die irische Tradition, die von der "Celtic Revival"-Bewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts propagiert wird, versucht Joyce bewusst über den nationalen Tellerrand hinaus zu schreiben und spezifisch irische Inhalte oder Sprachformen mit europäischen und klassischen Stoffen zu verknüpfen; so wenn er seinen wichtigsten Roman Ulysses schon im Titel als moderne Odyssee avisiert. Schon in seinem Erstlingswerk, dem Kurzgeschichten-Band Die Dubliner (1914) beweist Joyce seine Beobachtungsgabe und porträtiert eindringlich, wenn auch noch recht konventionell, Dubliner Zeitgenossen zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Kurzroman Ein Porträt des Künstlers als junger Mann (1916) ist autobiographisch geprägt und bildet die Keimzelle seines zeitgenössisch sehr umstrittenen Meisterwerks Ulysses (fertiggestellt 1918). Nach einem Vorabdruck in der amerikanischen Zeitschrift Little Review konnte es 1922 in Paris nur in einer zensierten Form gedruckt werden. (Die einflussreiche deutsche Übersetzung erschien 1927.) Der Roman skizziert einen Tag im Leben des modernen "Odysseus" Leopold Bloom in Dublin. Interessant ist dabei die Verquickung des modernen Großstadtalltags mit dem tradierten mythologischen Stoff. In jedem der 18 Kapitel erprobt Joyce, nach einem genauen Schema und in Anspielung auf Homers Odyssee, eine andere Erzählweise (z.B. Kap. 17: Fragen und Antworten in Art eines Verhörs oder eine Beichte), so dass eine Pluralität
von Stimmen, Perspektiven und Redeweisen entsteht. Besonders ausdrucksstark und wirkungsgeschichtlich folgenreich ist dabei die Bewusstseinswiedergabe in Form des so genannten stream of consciousness (Bewusstseinsstrom): Er bringt die Gedankengänge und Empfindungen der drei Protagonisten (Leopold und Molly Bloom, Stephen Dedalus) völlig ungefiltert zum Ausdruck und durchbricht damit sprachliche Konventionen. Skandalös erschien das Buch vielen Zeitgenossen besonders wegen der nicht nur sexuell expliziten Sprache. Ein berühmtes Beispiel für die Verbindung von revolutionäre Form und provokativem Inhalt ist der Schlussmonolog/Gedankenstrom der Molly Bloom, mit dem James Joyce ohne Interpunktion und sehr assoziativ auf ungefähr hundert dahinfließenden Seiten seinen Ulysses enden lässt. Über seinen Themen- und Stoffreichtum hinaus kann und muss Ulysses als ein Prototyp des modernen experimentellen Romans gelesen werden, wobei die Grenze zwischen klassischer Moderne und postmodernem Roman fließend wird. Der vehement-innovative Sprachduktus wird in Joyces Alterswerk Finnegans Wake (1939) noch weiter gesteigert. Hier sind Form (z.B. durch die Kombination verschiedener Sprachen) und Inhalt so schwer zugänglich und quasi "autonomassoziativ" gesetzt, dass viele zeitgenössische Kritiker dieses Buch als unlesbar einstuften. Joyce schrieb immerhin 17 Jahre an dieser Geschichte über eine schlafende Familie, die - viel kryptischer als Ulysses - eine noch gewaltigere Stoffmenge zu verarbeiten sucht. So erkennt man z. B. Anklänge an ägyptische und indische kulturelle Traditionen und Religionen. Nicht nur mit seinem vielzitierten und adaptierten stream of consciousness, sondern mit seiner radikal experimentellen Haltung gegenüber Sprache und Welt war Joyce (auch über Sprachgrenzen hinweg) wichtigster Anreger für Schriftsteller/innen wie Virginia Woolf, Alfred Döblin und viele andere, die auf der Suche nach neuen Formen des Erzählens in der Moderne waren. ©BB Wichtige Schriften: ❍
James Joyce: Werkausgabe 2002.
Sekundärliteratur: 1. D. Attridge: The Cambridge Companion to James Joyce, Cambridge 1990. 2. U. Multhaup: James Joyce, Darmstadt 1980. 3. A. Schmidt: James Joyce/Stanislaus Joyce, Zürich 1994. [Der deutsche Erzähler und Joyce-Bewunderer Arno Schmidt berichtet Schmidt über seine (Lese-)Erfahrungen mit Joyce]
Virginia Woolf
* 25. 01. 1882, London † 28. 03. 1941, Freitod in der Ouse bei Lewes, Sussex englische Schriftstellerin, Essayistin, Literatur- und Kulturkritikerin Adeline Virginia Stephens wird kurz vor 1900 in die Ober- und Bildungsschicht der spätviktorianischen Gesellschaft Londons hineingeboren. Ihre labile psychische Verfassung lässt sie nach dem Tod des Vaters 1904 einen ersten Suizidversuch unternehmen. Danach zieht sie mit ihren Brüdern und ihrer Schwester Vanessa nach Bloomsbury, wo sie den Mittelpunkt der avantgardistisch-intellektuellen "Bloomsbury Group" bilden. 1912 heiratet Virginia den Schriftsteller Leonard Woolf. Ihr Leben wird immer wieder durch mentale Zusammenbrüche erschüttert und bleibt von Todessehnsucht geprägt. Ihr Werk ist avantgardistisch: eine Reaktion gegen literarische Tradition und Versuch, neue Wege des Erzählens zu finden. Sie zählt als erste Frau zu den Vertretern der klassischen Moderne und entwickelt (etwa zeitgleich mit James Joyce) die Erzähltechnik des "stream of consciousness" (Bewusstseinsstrom oder innerer Monolog) - bahnbrechend und radikal vor allem in dem Roman Die Fahrt zum Leuchtturm (To the Lighthouse) von 1927. Ähnlich wie Joyce und in gewisser Weise auch in der Tradition von Henry James werden mit ihrer Hilfe kleine Zeitausschnitte aus dem Leben der Figuren beschrieben: in Mrs. Dalloway (1925) zwölf Stunden aus dem Leben der Titelfigur; in Die Fahrt zum Leuchtturm zwei Tage aus dem Leben der Familie Ramsay, die multiperspektivisch, als Montage verschiedener "Bewusstseinsströme" erzählt werden. Nur aus dem Kontext ergibt sich, welche Person gerade 'spricht'. Gern spielt Woolf auch mit dem Missverhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, der "discrepancy between the time on the clock and the time on the mind". Die Intensität räumlichen Empfindens - beispielsweise in Die Wellen (1931) unterscheiden ihren Stil klar von dem eines James Joyce. Oft wird ihre Schreibweise daher mit Malerei verglichen; insgesamt ist sie dezidiert modernistisch zu nennen: die Empfindungen der einzelnen Personen, die Spiegelung ihres Inneren werden wichtiger als äußere Handlung. Ihre biographischen Arbeiten umfassen Werke wie den Publikumsschlager Orlando (1928), zu dem sie durch die Liebesbeziehung zu Vita Sackville-West angeregt wird, aber auch Flush (1933), ein Porträt des Hundes von Elizabeth Barrett-Browning. Essayistisch setzt sich Woolf vor allem mit Schriftstellerinnen wie Jane Austen, Dorothy Wordsworth und George Eliot - nicht selten auch kritisch - auseinander. In (auto)biographischer Hinsicht notiert sie einmal in ihrem Tagebuch: "Besitze ich die Kraft, die wahre Wirklichkeit wiederzugeben? Oder schreibe ich nur Essays über mich selber?"
Modernistisch ist auch die ständige Reflexion der eigenen schriftstellerischen Produktion und ihrer Probleme in Essays und Vorträgen wie Mr Bennet und Mrs Brown (1924), in dem sie über die Personen im modernen Roman spricht. In dem Band Der gewöhnliche Leser (1925) erscheint der schon 1919 geschriebene Essay Moderne Romankunst, der die Bewusstseinstrom-Technik im Ulysses begeistert kommentiert und Joyce einen Spiritualisten nennt, der sich mutig über alle Konventionen der "Leserführung" hinwegsetzt. Für die feministische Literatur(wissenschaft) und die Frauenbewegung insgesamt hat vor allem der Essay Ein Zimmer für sich allein (A Room of One's Own, 1929) gewonnen, der fordert, dass auch die Frau einen "Raum für sich allein" beanspruchen soll, besonders, wenn sie Schriftstellerin werden will. Dabei müssen Frauen bewusst neue Wege gehen: "The values of a woman are not the values of a man." Oft wird Virginia Woolf mit Ingeborg Bachmann verglichen. Dies ist nicht nur wegen der thematischen Hinwendung zu einem weiblichen Bewusstsein plausibel, sondern weil beide auch formal eine weibliche Produktionsästhetik verfolgen bzw. um innovative (weibliche) Wege einer Darstellung der (weiblichen) Wahrnehmung ringen. In Virginia Woolfs gesamtem Werk wird ihre Entfremdung von der patriarchalen britischen Gesellschaft - und ihr ästhetischer Widerstand gegen sie - deutlich: durch ihre radikale Abkehr von traditionellen Schreibweisen wie auch durch die deutliche Akzentuierung frauenspezifischer Themen und die Betonung einer speziell weiblichen Sicht der Dinge, einer durchweg weiblichen Subjektivität. © BB
Wichtige Schriften: ❍
Virginia Woolf: Gesammelte Werke. Essays, Prosa, Tagbücher, 19 Bde., Frankfurt/M. 1994.
Sekundärliteratur: 1. A. Lavirazzi (Hg.): Virginia Woolf, Frankfurt/M. 1991. 2. N. Marsh: Virginia Woolf. The Novels, London 1998. 3. Ch. Schöneich: Virginia Woolf, Darmstadt 1989.
Ernst Jandl
* 01.08. 1925, Wien † 09.06. 2000, Wien österreichischer Lyriker, Hörspielautor und Dramatiker Erst im Jahr 1957 gelang es Ernst Jandl nach eigener Einschätzung, die Gedichte zu schreiben, die ihm vorschwebten, seitdem er 1952 intensiv mit der dichterischen Arbeit begonnen hatte: Verse, die mit dem Wohlklang in der Lyrik brachen und den tödlichen Krach seiner und unserer Zeit in Wort und Lauf aufnahmen. Damals stieß er auf eine Sorte von Gedichten, die "erst durch lautes Sprechen wirksam werden" (Jandl), und für die er zu Recht berühmt werden sollte: die Sprechgedichte. In nur wenigen Monaten entstand eine große Anzahl von Gedichten, von denen manche wie wien : heldenplatz oder lichtung inzwischen zum festen Bestand der deutschsprachigen Poesie des 20. Jahrhunderts gehören und auf neue Art die Experimente der frühen literarischen Avantgarden (Expressionismus, Dada) fortsetzten. Viele dieser Gedichte erschienen in dem Band Laut und Luise (1969), wenig später folgte der künstliche baum (1970) und machte den Autor einem breiten Publikum bekannt. Für sein erstes Hörspiel Fünf Mann Menschen, das er mit seiner langjährigen Lebengefährtin, der Autorin Friederike Mayröcker, schrieb, wurde er 1968 mit dem renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden ausgezeichnet. Jandl aber wollte von Anfang an nicht ausschließlich als experimenteller Schriftsteller gelten. Er schrieb auch traditionelle Gedichte; soziale Erfahrungen in ihrer erkennbaren Form zählten für ihn stets zu jenem Material, das Dichtung ermöglichte. An dem französischen Poeten Jacques Prévert hatte sich Jandl früh ein Vorbild genommen, auch an dem amerikanischen Lyriker Carl Sandburg, der den sozialen Bezug seiner Gedichte stark betonte. Diese Art zu schreiben hatte Jandl nie aufgegeben und daran knüpfte er seit Mitte der siebziger Jahre verstärkt an, ohne seine Erfahrungen als Autor von formal kompromisslosen Gedichten aufzugeben. 1976 war er als Gymnasiallehrer für Englisch und Deutsch aus der Schule ausgeschieden, und mit diesem Datum begann sein zweites Leben als Schriftsteller. Die eigene Biographie als Material für seine Dichtung wurde ihm zunehmend wichtig. Obwohl sich Jandl vorgenommen hatte, das Personalpronomen "ich" möglichst fern von seinen Gedichten zu halten, schrieb er seit dieser Zeit fast ausschließlich Gedichte, in denen er selber unverstellt vorkommt: Gedichte in "heruntergekommener sprach"; sie erinnern an den
gebrochenen Duktus von Ausländern. Auch eine Sprechoper im Konjunktiv entsteht: Aus der Fremde (1976). Der Dichter wird in den unzumutbaren Dimensionen seines Lebens sich selber zum Ärgernis. Jandls Sicht der Welt verfinstert sich dramatisch, und einem seiner Gedichtbände gibt er deswegen den Titel der gelbe hund (1980), weil er nicht mehr in jedem Fall erkennen kann, dass sich die Sicht des Menschen über die der Tiere zu erheben vermag. Entsprechend geht er in dem Band idyllen (1989) auf grotesk überzeichnete Distanz zu dem, was üblicherweise mit dem Wort Idylle gemeint ist. So sehr Jandl seine Dichtung auch fortentwickelt hat, in einem blieb er sich treu: Die Stimme gehört zu den wesentlichen Elementen seiner Poesie – und Jandls Stimme hatte längst ein eigenes Leben zu führen begonnen. Seine Gedichte werden von Generation zu Generation, inzwischen multimedial, weitergegeben. In den Schulen ist er längst ein Klassiker (man weiß nicht, ob es ihn freuen würde). Aber auch die freie Literaturszene weiß ihn zu schätzen: "Cyper Punk" habe Jandl geschrieben, behaupten heute seine Enkel. © KS
Wichtige Schriften: ❍
poetische werke in 10 bänden, hg. v. K. Siblewski, München 1997. Autor in Gesellschaft. Poetische Werke Bd.11, München 1999.
Sekundärliteratur: 1. K. Siblewski (Hg.): Ernst Jandl - Texte, Daten, Bilder, Hamburg 1990. 2. Text + Kritik, Heft 129: Ernst Jandl, München 1996. 3. M. Vogt (Hg.): stehn JANDL groß hinten drauf. Interpretationen zu Texten Ernst Jandls, Bielefeld 2000.
Trivium lat.: Dreiweg
Das Trivium bezeichnet die ersten drei Disziplinen der mittelalterlichen "freien Künste" oder Artes Liberales: Die Rhetorik, die Grammatik und die Dialektik letztere bezeichnet eine Vorform der modernen Logik. Die "redenden" Künste des Triviums wurden den "rechnenden" Künsten des Quadriviums entgegengesetzt, beide Teile zusammen machten die Artes der sogenannten Artistenfakultät aus. In unterschiedlichen Varianten orientierte sich der mittelalterliche Elementarunterricht wie das Universitätsstudium an dem aus der Antike stammenden und veränderten Schema. Im 12. Jahrhundert wurde im lateinischen Westen das Gesamtwerk des Aristoteles wiederentdeckt, das in der arabischen Gelehrtenwelt tradiert worden war, während es nach den Verwerfungen der Spätantike in den Nachfolgegebieten des Römischen Reichs in weiten Teilen verloren ging. Durch die kaum zu überschätzende Wirkung insbesondere der aristotelischen Logik wurde die Dialektik zur Leitdisziplin des Triviums, ihre Methodik durchdrang alle anderen Disziplinen. © JK Sekundärliteratur: 1. K. Grubmöller: Der Lehrgang des Triviums und die Rolle der Volkssprache im späten Mittelalter, in: B. Möller u.a. (Hg.): Studien zum ständischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Göttingen 1983,S. 371-397. 2. R. Köhn: Schulbildung und Trivium im lateinischen Hochmittelalter und ihr möglicher praktischer Nutzen, in: J. Fried (Hg.): Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, Sigmaringen 1986, S. 203-284. 3. W. Rüegg (Hg.): Geschichte der Universität in Europa. Bd. 1.: Mittelalter, München 1993.
Jürgen Link
* 1940 Literaturwissenschaftler Jürgen Link ist der prominenteste Vertreter einer semiotisch arbeitenden historischen Diskursanalyse. Ausgangspunkt ist für Link der Diskursbegriff Michel Foucaults; als Diskurse gelten Systeme von Aussagen, die das gesellschaftliche Handeln organisieren. Der Diskurs ist unmittelbar mit einer Praxisform verknüpft, d.h. die sprachlichen Strukturen existieren nicht neben der Gesellschaft, sondern sind der sozialen Praxis unmittelbar eingeschrieben und machen ihre Steuerung erst möglich. Diskurse sind immer thematisch gruppiert. Es gibt politische, wissenschaftliche, juristische, medizinische Diskurse, die sich wiederum zu bestimmten, gesellschaftlich zentralen Themengebieten formieren wie: Wahnsinn, Sexualität oder Krieg. Aus der zunehmenden Divergenz der verschiedenen Handlungsfelder in der arbeitsteilig organisierten modernen Gesellschaft resultiert auch ein Auseinanderdriften der Diskurse. So haben die Spezialisten für unterschiedliche Diskurse Schwierigkeiten, sich miteinander zu verständigen, und den Individuen, die prinzipiell an all diesen Diskursen mehr oder weniger partizipieren müssen, fällt es zunehmend schwer, sich zu orientieren. Sie sind auf die vermittelnde Leistung des Interdiskurses - eine Begriffsprägung Links - angewiesen, der als zusätzliche sprachliche Formation zwischen den Spezialdiskursen eingeschaltet wird. Ein Interdiskurs muß sich also an mehrere Spezialdiskurse ankoppeln können. Um dies zu leisten, bringt er sich zu den Spezialdiskursen in ein Verhältnis von Bild und Abgebildetem: Der Interdiskurs stellt einen Bildraum bereit, auf den der Spezialdiskurs per Analogie bezogen werden kann, und er bezieht sich dabei nicht nur auf einen Spezialdiskurs, sondern sogleich auf mehrere. Er steht als ein vermittelndes Symbol zwischen den Diskursen. Dabei geht es nicht nur um eine irgendwie zu leistende Integration der Diskurse, sondern zugleich um die Durchsetzung eines Sinnschemas, das bestimmte Logiken in die Spezialdiskurse hineinprojiziert. Wenn heutzutage der Sportinterdiskurs in aller Munde ist ("Die SPD hat die Nase bei der letzten EmnidUmfrag vorn.", "VW hat sich an die Spitze der deutschen Autohersteller vorgekämpft.") dann soll das auch heißen, daß sich Politiker wie auch Ökonomen an bestimmte Regeln halten und die 'sportliche Fairneß' nicht vernachlässigen. Das bevorzugte Medium des Interdiskurses ist für Link die Literatur. In literarischen Texten werden Interdiskurse kreiert und weiterbearbeitet. Zu ihren wichtigsten Elementen gehören die sogenannten Kollektivsymbole. In seinen Studien zur Literatur des 19. Jahrhunderts beschäftigt Link sich unter anderem
mit dem Kollektivsymbol des Ballons. Bei demokratischen, liberalen und sozialistischen Autoren verkörpert der Ballon vor allem die Möglichkeiten des Menschen, durch Vernunft, Arbeit und Technik die Natur zu beherrschen und den ewigen Menschheitstraum vom Fliegen zu erfüllen. Die konservativen Kräfte sehen in ihm hingegen eine - im wahrsten Sinne des Wortes - windige Erscheinung wie die Aufklärung und der technische Fortschritt insgesamt. Als ein nicht zu kontrollierender Spielball der Lüfte und der Winde ist er das Symbol für einen zügellosen Fortschritt, der die Bodenhaftung buchstäblich verloren hat. Im Anschluß an Link entstanden unterschiedliche literaturwissenschaftliche Arbeiten. So zeigt Rolf Parr in seiner Studie zum Bismarckmythos im Kaiserreich, wie auch historische Persönlichkeiten zu Interdiskurselementen stilisiert werden können. Ute Gerhard verweist auf die enge Verbindung zwischen literarischem Interdiskurs und politischer Sprache, wenn sie Diskursfragmente Friedrich Schillers in den Reden der Abgeordneten der Paulskirche nachweist. Frank Becker untersucht schließlich, wie der Sport in den Jahren der Weimarer Republik zu einem zentralen Interdiskurs für die moderne Industriegesellschaft aufgebaut wird. ©rein
Wichtige Schriften: ❍
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Die Struktur des Symbols in der Sprache des Journalismus. Zum Verhältnis literarischer und pragmatischer Symbole (1978) Elementare Literatur und generative Diskursanalyse (1983)
Sekundärliteratur: 1. F. Becker: Amerikanismus in Weimar. Sportsymbole und politische Kultur 1918-1933, Wiesbaden 1993. 2. U. Gerhard: Schiller als "Religion". Literarische Signaturen des XIX. Jahrhunderts, München 1994. 3. R. Parr: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust. Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarks (1860-1918), München 1992.
Signifikat
Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens. ©rein
Signifikant
Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens. ©rein
Eklektizismus
Der Begriff Eklektizismus wird heute meist abwertend verwendet im Sinne einer unorginellen, unschöpferischen geistigen Arbeitsweise, bei der Ideen anderer übernommen werden oder zu einem System zusammengetragen werden. ©rein
Renaissance frz. renaissance /ital. rinascità : Wiedergeburt
Der Begriff der Renaissance bezeichnet als historische Epoche den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, der zwischen 1400 und 1600 stattfand. In kultureller Hinsicht meint er eine Wiederbelebung antiker Ideale in Literatur, Philosophie, Wissenschaft und besonders in der Malerei und der Architektur. Ihren Ursprung nimmt die Renaissance in Italien, wo es bereits weit entwickelte Stadtkommunen und ein selbstbewußtes Handelsbürgertum gab. Der Mensch der Renaissance wurde sich seiner Freiheit und seiner schöpferischen Möglichkeiten bewußt, ja entdeckte sich erstmals als Individuum. Nach dem als "dunkel" und sinnenfeindlich empfundenen Mittelalter setzte sich ein dem Diesseits und natürlicher Sinnlichkeit zugewandtes Lebensgefühl durch. Dem theozentrischen, auf Gott bezogenen Weltbild wurde ein anthropozentrisches, auf den Menschen bezogenes, entgegengestellt. In den Wissenschaften vollzog sich die Abtrennung der Philosophie von der Theologie. Mit der wiederentdeckten Diesseitsfreude verbindet sich ein Denken, das auf Vernunft und Erfahrung basiert, so wie es der Humanismus formuliert hatte. Die kunstgeschichtliche Epoche der Renaissance wird in Frührenaissance (ab 1420), Hochrenaissance (ab 1500) und Spätrenaissance (ab 1520/30) untergliedert. Hauptauftraggeber und Mäzene der Renaissance-Kunst waren die Papstkirche und verschiedene Fürstenhöfe (vor allem jener der Medicis in Florenz). In der Literatur gelten die Werke Dante Alighieris (La Divina Commedia, 1307-21), Franceso Petrarcas (Canzoniere, 1470) und Giovanni Boccaccios (Il Decamerone, 1353) als bahnbrechend. Zu den bedeutendsten Werken der bildenden Kunst zählen Michelangelo Buonarrotis Skulptur David (1501-04) und seine Fresken der Sixtinischen Kapelle (1508-12), die Mona Lisa (1503-06) des italienischen Malers, Bildhauers, Baumeisters und Naturforschers Leonardo da Vinci sowie Raffaels Sixtinische Madonna (um 1513). Beispiele für die reiche RenaissanceArchitektur bieten die Peterskirche in Rom (nach einem Entwurf von Donato Bramante; als Bauleiter waren später auch Raffael und Michelangelo beteiligt) und die venezianische Kirche San Giorgio Maggiore (1566-79) von Andrea Palladio. © SR
Sekundärliteratur:
1. H.O. Burger: Renaissance, Humanismus, Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext, Bad Homburg u.a. 1969. 2. P. Burke: Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien, München 1998. 3. D. Hay (Hg.): Die Renaissance. Die Rückwendung zur Antike, München 1980.
Oligarchie
Unter Oligarchie versteht Platon diejenige Verfassung, "die sich auf die Schätzung des Vermögens gründet, in der die Reichen herrschen, die Armen aber von der Regierung ausgeschlossen sind."
Demokratie
Die Demokratie entsteht für Platon aus dem in der Oligarchie herrschenden Klassenkampf. "Eine Demokratie also entsteht, denke ich, wenn die Armen den Sieg davontragen und von der Gegenpartei die einen hinrichten lassen, die anderen verbannen und den übrigen Bürgern gleichen Anteil an der Staatsverwaltung und an den Ämtern geben." Zentrales Kennzeichen und problematischstes Element der Demokratie ist die Freiheit, die – so Platons Befürchtung – zur Beliebigkeit führt. Hält der Staat Krieg oder Frieden, gehorcht der Einzelne den Führern oder nicht, sieht der Schüler den Lehrer als Vorbild oder nicht, alles ist möglich und damit beliebig.
Tyrannis
Die Tyrannis (Gewaltherrschaft) folgt nach Platon der Demokratie, indem sich der zunächst demokratische Volksführer zum Tyrannen erhebt: "Stellt das Volk nicht gewöhnliche einen Mann als einen besonderen Führer an die Spitze, den es dann hegt und pflegt und großmächtig macht?" Von dieser Großmacht kostet der Volksführer und will sie fortan immer in seinen Händen wissen. Das ist das Ende der Demokratie.
Dialektik
Philosophische Arbeitsmethode, die ihre Ausgangsposition durch gegensätzliche Behauptungen (These -> Antithese) in Frage stellt und in der -> Synthese beider Positionen eine Erkenntnis höherer Art zu gewinnen versucht.
Hexameter griech. hex: sechs; metron: Maß
Der Hexameter ist der Grundvers des antiken Epos. Homers Ilias und Odyssee, die ersten schriftlich fixierten Heldenepen der Menschheit, stehen ebenso in Hexametern, wie die einige Jahrhunderte später entstandene Aeneis von Vergil. Klopstock entdeckte den Hexameter für das deutsche Epos: in seinem Messias wird er zum Versmaß religiös-hymnischer Gesänge und verdrängt den bis dahin vorherrschenden Alexandriner. Goethe hingegen popularisiert in seinem Reinecke Fuchs das antike Versmaß. Eine andere Verwendung des Hexameters ist die Kombination mit dem Pentameter zum Distichon. Der Hexameter ist ein auftaktloser Sechsheber, der in der strengsten Variante ausschließlich aus Daktylen besteht, die jedoch teilweise durch einen Spondeus ersetzt werden, um Eintönigkeit zu vermeiden. Der Vers endet mit einem katalektischen, d.h. mit einer einfachen Senkung nur unvollständigen Daktylus. Durch die Vielzahl der Doppelsenkungen übertrifft der Hexameter selbst den Alexandriner an Länge. Im Jahr 1781 übersetzte Johann Heinrich Voß die Odyssee in einer bis dahin für unmöglich gehaltenen metrischen Formtreue: "Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung." (S. 487, V. 1f.) − ∪ ∪ − ∪ ∪ − ∪ ∪ − (− ) − ∪ ∪ − ∪ − ∪ ∪ − ∪ ∪ − (− ) − ∪ ∪ − ∪ ∪ − ∪ Metrisch unterscheiden sich diese beiden Verse nur im dritten und vierten Versfuß: im ersten Vers wird die rein daktylische Struktur nach dem dritten Versfuß durch einen Spondeus unterbrochen, d.h. statt einer betonten und zwei unbetonten Silben stehen zwei betonte Silben. Im zweiten Vers steht der Spondeus schon an dritter Stelle. Da es im Deutschen einen reinen Spondeus nicht gibt, weil von zwei aufeinanderfolgenden Silben immer eine, meistens die erste, Silbe stärker betont ist, läßt sich das antike Versmaß an diesen Stellen nur bedingt nachahmen. ©TvH
Homer: Ilias. Odyssee, in der Übertragung von Johann Heinrich Voß, Frankfurt/M. 1990. Sekundärliteratur:
1. H. Drexler: Hexameterstudien, 6 Bde., Madrid 1953-1956. 2. W.-H. Friedrich: Über den Hexameter, in: Herbert Anton u.a. (Hg.): Geist und Zeichen. Festschrift für Arthur Henkel, Heidelberg 1977, S. 98-120.
Humanismus lat. humanitas: Menschlichkeit
Als Humanismus wird eine Geisteshaltung bezeichnet, die zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert die historische und kulturelle Epoche der Renaissance kennzeichnete. In Anlehnung an die Antike zielte sie auf ein Idealbild des Menschen, der seine Persönlichkeit auf der Grundlage allseitiger theoretischer und moralischer Bildung frei entfalten kann. Als Humanisten galten zunächst die Männer, die sich wissenschaftlich mit der Kultur und vor allem den Sprachen der Antike (zunächst dem Lateinischen, später auch dem Griechischen) beschäftigten. Eine verstärkte Hinwendung zur Naturwissenschaft und die (häufig satirische) Kritik an kirchlichen Dogmen charakterisieren die Schriften vieler Humanisten. Ausgangspunkt der humanistischen Bewegung war Italien, wo Francesco Petrarca mit seinem Canzoniere (1470) das innerweltliche Schönheitsideal seiner Geliebten Laura pries und Giovanni Boccaccio in Il Decamerone (1353) die Sinnenfreude feierte. Zum führenden Kopf des Humanismus wurde Erasmus von Rotterdam, dessen anti-klerikale Satire Das Lob der Torheit (1509) zur europaweiten Verbreitung humanistischen Denkens beitrug. Im deutschen Sprachraum gelten unter anderen Johannes Reuchlin als Begründer der hebräischen Sprachforschung und Ulrich von Hutten mit seinen teils auf Deutsch verfaßten satirischen Dialogen als wichtige Vertreter des Humanismus. © SR
Sekundärliteratur: 1. A. Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen, Freiburg im Breisgau. 1987. 2. H. Engler: Humanuismus in Europa, Heidelberg 1998.
Epos griech. epos: das Berichtete, Wort, Erzählung
Das Epos ist die historisch früheste narrative Großform. Stofflich ist es an geschichtliche, mythologische oder märchenhafte Überlieferungen gebunden, die in mündlicher Form weitergegeben wurden. Auch das Epos selbst wurde dem Publikum von einem Sänger (griechisch: Rhapsode) mündlich vorgetragen. Geschichtlich kann man das antike und mittelalterliche Epos verstehen als Selbstdarstellung vorbürgerlicher Gesellschaften mit ihren Normen und Werten. Es entfaltet die Weltordnung vor allem der kriegerisch-höfischen Oberschicht in Abenteuerfahrten und kämpferischen Auseinandersetzungen, die ein Held unternimmt, der als Leitbild der jeweiligen Gesellschaft dient. Der Held dieser Epopöe, wie man nach älterem Sprachgebrauch auch sagte, ist in der an Hegel anschließenden Formulierung von Georg Lukács, "strenggenommen, niemals ein Individuum. Es ist von alters her als Wesenskennzeichen des Epos betrachtet worden, daß sein Gegenstand kein persönliches Schicksal, sondern das einer Gemeinschaft ist." ( S. 64f.) Das Epos wird kollektiv hervorgebracht, handelt von diesem Kollektiv und seiner Geschichte und ist auch an dieses Kollektiv adressiert. Dadurch, daß es ein Identitätsbewußtsein spiegelt und schafft, erhält es eine wichtige Funktion für ganze Kulturkreise oder Nationen (Nationalepos). Dabei sind Helden und Stoffe überwiegend im Grenzbereich von Geschichte, Mythos und Sage angesiedelt. Mythische Figuren und Götter greifen in das Geschehen ein, historisch verbürgte Personen gewinnen als epische Helden eine sagenhafte Eigenexistenz. Kennzeichnend für die erzählerische Darbietungsweise sind der gehobene, oft pathetische und damit den heroischen Taten angemessene Sprachstil. Dabei verzichtet das Epos jedoch auf die Problematisierung der erzählten Welt- und Wertordnung. Reflexion oder Ironie sind ihm fremd. Die Form der lockeren Aneinanderreihung von Abenteuern ist offen für Einschübe, Episoden oder sekundäre Erzählstränge. Diese tendenzielle Formlosigkeit wird jedoch meist durch äußere Gliederung - in Bücher oder Gesänge - sowie durch einen formelhaften Stil gebändigt. Darunter sind vor allem stehende Wendungen, typisierende Attribute (sogenannte Epitheta wie "der listenreiche Odysseus" oder "Zeus' blauäugichte Tochter Athene") oder der Anruf der Musen durch den epischen Erzähler zu verstehen. Aus der vielfältigen frühorientalischen Epik ragt das Gilgamesch-Epos heraus, das die Heldentaten und das Schicksal des Sumererkönigs Gilgamesch und seines Freundes Enkidu (3. Jahrtausend v. Chr.) erzählt. Im europäischen Raum werden die beiden ältesten Literaturwerke zugleich als der Höhepunkt epischer Dichtung überhaupt angesehen: Es handelt sich um die griechischen Hexameterdichtungen Ilias und Odyssee. Sie beruhen zwar auf älteren Überlieferungen, wurden aber in
ihrer heute bekannten Form im 8. Jahrhundert v. Chr. schriftlich fixiert. Traditionell werden sie dem blinden Rhapsoden Homer zugeschrieben, um dessen Existenz und Autorschaft jedoch bis heute gestritten wird. Während die Ilias eine einundfünfzigtägige Episode aus dem Kampf der Griechen gegen die Stadt Troja beschreibt, ist die Odyssee der zehn Jahre dauernden Heimkehr des Odysseus von Troja nach Ithaka gewidmet. Für die griechisch-lateinische Antike waren diese Epen in hohem Maße traditionsstiftend, sie wurden zum Inbegriff von Dichtung schlechthin. Für das Mittelalter hingegen wird diese Funktion von einem lateinischen Epos, der Aeneis des Vergil eingenommen. Vergil schließt bewußt an die "homerischen" Epen an, wenn er in seiner Hexameterdichtung die Irrfahrten des aus Troja geflohenen Aeneas erzählt. Zugleich wird dieser Bericht von der Landnahme des Aeneas in Latium und der Vorausdeutung auf die römische Weltherrschaft zu einem römischen Nationalepos. Ähnlich verhält es sich mit dem Nibelungenlied (13. Jahrhundert) im deutschsprachigen Raum oder mit den verschiedenen Chansons de geste (z.B. der Chanson de Roland um 1100) und den Versepen Chrétien de Troyes um den keltischen König Artus für Frankreich. An der Schwelle zur Renaissance entstand Dantes christliches Monumentalwerk La Divina Commedia (1307-21), das die italienische Literatur begründete. Die verbreitete Rückbesinnung auf die Antike in der Renaissance und dem Humanismus beförderte in der Folge die Entstehung verschiedener epischer Dichtungen, die nicht selten ein bewußter Versuch waren, ein Nationalepos zu schaffen. So zum Beispiel die italienischen Ritterepen von Ariosto (L´Orlando furioso) und Torquato Tasso (La Gerusalemme liberata), in England Edmund Spensers The faerie queen oder John Miltons biblisches Epos Paradise lost. Zunehmend wurde jedoch im 18. und 19. Jahrhundert sichtbar, daß die überkommene Form des Epos zur Darstellung der differenzierter werdenden Wirklichkeit nicht mehr in der Lage war. Immer spürbarer wurde das Bedürfnis, die epische Perspektive auf begrenzte Realitätsausschnitte zu richten und die Aussageabsichten spezieller zu gestalten (z.B. religiös, politisch, satirisch, idyllisch). Zur umfassenden Darstellung dieser neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit bedurfte es einer anderen Form. An die Stelle des Epos war bereits der Roman getreten. © JV und SR
Georg Lukács: Theorie des Romans, Darmstadt u.a. 1987. Sekundärliteratur: 1. M. Bachtin: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung, in: ders.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt/M. 1989, S. 210-251. 2. J. Latacz: Homer. Vater des Abendlands, München, Zürich 1989.
Aufklärung
"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." (S. 9) So beantwortete der Philosoph Immanuel Kant (17241804) im Jahre 1783 die Frage, was Aufklärung sei. Heute gebrauchen wir das Wort als Sammelbegriff, der verschiedene philosophische und literarische Strömungen im Europa des 18. Jahrhunderts umfaßt, deren gemeinsamer Impuls die Emanzipation von der geistigen Vorherrschaft der Kirche ist (Säkularisierung). Da im Mittelpunkt des aufklärerischen Denkens der Mensch (und nicht länger Gott) steht, spricht man auch von einer anthropologischen Wende. Betont der Rationalismus (Leibniz /Wolff) die Möglichkeiten des Menschen, als Verstandeswesen die Welt zu erfassen, so stehen im Sensualismus die Sinne, im Empirismus die Erfahrung im Vordergrund. Alle Denkrichtungen sind gekennzeichnet durch den optimistischen Glauben an die Perfektibilität (fortschreitende, ja unendliche Vervollkommnungsfähigkeit) des Menschen. Entscheidend für die literarische Entwicklung in Deutschland ist die Rezeption englischer Philosophie (Shaftesbury) und Literatur (Romane von Richardson, Fielding, Sterne) sowie französischer Theoriebildung (Batteux, Diderot) und Dichtung (Prévost, Rousseau). Betrachtet man die Literatur der deutschen Aufklärung, so steht der Gedanke der Belehrung des Lesers im Vordergrund. So etwa im Lehrgedicht der Frühaufklärung (Haller, Brockes), im Bildungsroman (Wieland, Gellert) und in den zunächst noch französisch-klassizistischen Dramen (Gottsched), die sich dann zum bürgerlichen Trauerspiel (Lessing) fortentwickeln. Unter den weit gefaßten Begriff der aufklärerischen Literatur fallen so verschiedene Tendenzen wie das Rokoko (Gessner), die Empfindsamkeit (Goethes Werther, Gellert) und der Sturm und Drang (Goethes Prometheus, Herder). Löst die Weimarer Klassik in Deutschland die Aufklärung im engeren Sinne in den achziger Jahren ab, so gibt es doch bis in die neunziger Jahre hinein eine sich vor allem mit der französischen Revolution auseinandersetzende Spätaufklärung (Forster). ©TvH
Was ist Aufklärung? Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland, hg. v. Ehrhard Bahr, Stuttgart 1996. Sekundärliteratur: 1. P.-A. Alt: Aufklärung, Stuttgart 1996. 2. R. Grimminger (Hg.): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789 (=Hansers Sozialgeschichte der Literatur, Band 3
[2 Teilbände]), München 1980. 3. M. Hofmann: Aufklärung. Tendenzen – Autoren – Texte, Stuttgart 1999.
Metrum lat.: Vers-, Silbenmaß
Das Metrum ist das abstrakte Schema der in sogenannten Versfüßen gemessenen Silbenabfolge und war bereits im antiken Griechenland struktureller Bestandteil des Verses. Im Griechischen und Lateinischen unterscheiden sich die Silben durch ihre Länge; die verschiedenen Metren kommen hier durch die Kombination von kurzen und langen Silben zustande. Für das Deutsche, darauf weist schon Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) hin, gilt: "nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse groesse [d.i. Länge] der sylben koennen in acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen, welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden." (S. 49) Im Deutschen steht also (wie im übrigen auch in der englischen Sprache) eine betonte Silbe (−), wo die Griechen und Lateiner eine lange Silbe setzten, und eine unbetonte (∪ ) statt einer kurzen. Ganz im Sinne Opitz‘ spricht man bei betonten Silben von Hebungen, bei unbetonten Silben von Senkungen. Man unterscheidet zwei- und dreisilbige Versfüße. Die wichtigsten Versfüße sind: Name Jambus Trochäus Spondeus Daktylus Anapäst
Schema ∪− −∪ −− −∪∪ ∪∪−
Beispiel Vernúnft Láger Vóllmònd Wíederkehr Zauberéi
Jambischer wie trochäischer Versfuß sind gekennzeichnet durch den ständigen Wechsel von betonter und unbetonter Silbe. Anders ausgedrückt: beide Versfüße sind streng alternierend, nur beginnt der jambische im Unterschied zum trochäischen auftaktig. Der dritte zweisilbige Versfuß, der Spondeus, ist, wie auch im Beispiel "Vollmond" graphisch angedeutet, im Deutschen kaum möglich, denn von zwei aufeinanderfolgenden Hebungen wird immer eine etwas stärker akzentuiert. Im dreisilbigen Daktylus erkennt man schnell einen Dreivierteltakt – einer Hebung folgt eine Doppelsenkung. Diese Reihenfolge kehrt sich beim Anapäst um. Der Versfuß ist in der antiken Verslehre nicht immer gleichbedeutend mit dem Metrum: ein jambisches oder trochäisches Metrum besteht aus zwei jambischen oder trochäischen Versfüßen. Der antike Tragödienvers, der jambische Trimeter, besteht also aus drei jambischen Metren (tri-meter), aber sechs jambischen Versfüßen. Beim Spondeus, Daktylus und Anapäst hingegen entspricht ein Versfuß dem Metrum.
©TvH
Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, hg. v. Cornelius Sommer, Stuttgart 1970.
Alexandriner
Der Alexandriner läßt sich erstmalig in der französischen Epik des frühen 12. Jahrhunderts (im Roman d‘Alexandre von Lambert le Torts) nachweisen, eigentliche jedoch ist er nur eine Variante des klassischen antiken Tragödienverses (Sophokles), des jambischen Trimeters. Seit dem 16. Jahrhundert wird der Alexandriner zum bevorzugten Vers der französischen Tragödien (Corneille / Racine), ein Jahrhundert später erklärt ihn Martin Opitz in geringfügig abgewandelter Form zum Hauptversmaß deutscher Dichtung. Und in der Tat handelt es sich beim Alexandriner um den wichtigsten Vers der barocken Verssprache – nicht nur in der Lyrik, sondern auch in Epik und Dramatik. Der Alexandriner ist ein jambisch alternierender, sechshebiger Reimvers: er beginnt auftaktig, also mit einer unbetonten Silbe, dann wechseln sechs Hebungen mit je einer Senkung. Die sogenannte Kadenz, das Versende, kann sowohl aus einer betonten ("männlichen") als auch aus einer unbetonten ("weiblichen") Silbe bestehen. Je nach Endung ist der Alexandriner damit zwölfoder dreizehnsilbig. In der Mitte, nach der dritten Hebung, ist der Vers durch eine Zäsur deutlich unterteilt, die zu einer antithetischen oder auch parallelen Gestaltung der beiden Vershälften einlädt. So beispielsweise bei Gryphius in dem Gedicht Es ist alles eitell: "DU sihst / wohin du sihst nur eitelkeit auf erden. Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein: Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden." (S. 268f.) ∪−∪−∪−/∪−∪−∪−∪ ∪−∪−∪−/∪−∪−∪− ∪−∪−∪−/∪−∪−∪− ∪−∪−∪−/∪−∪−∪−∪ Die antithetischen Möglichkeiten des Alexandriners macht der zweite Vers besonders deutlich, indem das konstruktive Bauen der Städte dem destruktiven Einreißen gegenübergestellt wird. Die Querstriche, die in diesem Fall mit der Zäsur zusammenfallen, sind als von Gryphius gesetzte Satzzeichen zu verstehen, die Zäsur liegt immer in der Mitte der Verse (vgl. metrisches Schema), also nach "sihst", "bawt", "stehn" und "kind". Liest man das Gedicht laut, macht man an diesen Stellen unwillkürlich eine Pause. Die Versenden sind in diesem Gedicht gekennzeichnet durch einen umarmenden oder Schweifreim, bei dem sich jeweils die beiden unbetonten (1. und 4. Vers) und die beiden betonten (2. und 3. Vers) Endungen miteinander reimen. Es gibt aber auch Gedichte in Alexandrinern, die in Paarreimen geschrieben sind.
©TvH
Andreas Gryphius: Es ist alles eitell, in: Das Zeitalter des Barock, hg. v. Albrecht Schöne, München 1988. Sekundärliteratur: 1. Th. Buck: Die Entwicklung des deutschen Alexandriners, Tübingen 1957.
Jambus
Der Jambus (∪ − ) ist ein Versfuß, der aus einer Senkung (∪) und einer Hebung (− ) besteht, wie beispielsweise das Wort Vernunft: die erste Silbe ist unbetont, die zweite Silbe hingegen betont. ©TvH
Anapäst
Der Anapäst (∪ ∪ −) ist ein Versfuß, der aus zwei Senkungen (∪ ∪) und einer Hebung (−) besteht, wie beispielsweise das Wort Zauberei: die Betonung liegt auf der dritten Silbe, während die ersten beiden Silben unbetont sind. ©TvH
Daktylus
Der Daktylus (− ∪ ∪) ist ein Versfuß, der aus einer Hebung (−) und zwei Senkungen (∪ ∪) besteht, wie beispielsweise das Wort Wiederkehr: die erste Silbe ist betont, die zweite und dritte Silbe hingegen sind unbetont. ©TvH
Die drei Einheiten
Die drei Einheiten sind eine dramentheoretische Vorschrift, die auf die Poetik des Aristoteles zurückgeht. Sie besagt, daß jedes Drama eine einheitliche, geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende besitzen muß (Einheit der Handlung), an einem einzigen überschaubaren Ort spielen soll (Einheit des Ortes) und eine angemessene zeitliche Ausdehnung nicht überschreiten darf (Einheit der Zeit) – bei Aristoteles ist es ein einziger Sonnenumlauf. Dies alles dient dazu, der Wahrscheinlichkeit der dramatischen Darstellung Plausibilität zu verleihen. Noch Gottsched bekräftigt diese Vorstellung 1730 in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Die Anwendung des Prinzips der drei Einheiten ist streng mit der Vorstellung vom 'geschlossenen Drama' verbunden, das bis ins 18. Jahrhundert in Deutschland die vorherrschende dramatische Form bleibt. Erst Lessing lehnt mit seinem bürgerlichen Trauerspiel die Anwendung der drei Einheiten ab. Er glaubt, daß die Erzeugung von Wahrscheinlichkeit einer szenischen Präsentation nicht von der Einheit der Zeit und des Ortes abhängig ist, sondern nur von der Einheit der Handlung. Heute spielen die drei Einheiten meist keine Rolle mehr. Hält der Dramatiker an ihnen fest, dann sind sie eine freiwillige Variation der dramatischen Produktion des 20. Jahrhunderts und kein 'Muß' mehr, das auf die verpflichtende Befolgung einer Regelpoetik zurückgeht. ©rein
Sekundärliteratur: 1. V. Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1969.
Dialog griech. dialogos: Unterredung
Das Drama besteht aus Handlung, Rede und Gegenrede. Vielfach wird der Dialog, das Gespräch als das Charakteristikum der dramatischen Form begriffen. So schreibt Hegel in seiner Ästhetik: "Die vollständige dramatische Form ist der Dialog." Das Wechselgespräch, das Zwiegespräch zwischen zwei oder mehreren Personen wird zum wichtigsten Element des Dramatischen. Aber kein Drama ohne Ereignisse (sieht man einmal von Sonderformen des Dramas ab, z.B. dem lyrischen Drama), ohne Handlung. Deswegen ist der Dialog oft aktionaler Dialog, in ihm vollzieht sich ein situationsveränderndes Handeln. Jede Rede und Gegenrede verändert das Handlungsgeschehen, treibt es voran, so steigert der Dialog einen Streit zwischen Widersachern bis zum Kampf, der wiederum von Rede und Gegenrede begleitet wird, oder der Dialog vergrößert, wie in Shakespeares Romeo und Julia, die Verzweiflung von Liebenden über die feindliche Welt, die ihrer Liebe entgegenwirkt und sie bis zum Selbstmord treibt, damit sie im Tode vereint sind und ihre Liebe leben können. Aber es gibt im Drama auch den nichtaktionalen Dialog, der keine Handlungen auslöst, für sich steht und etwa einer Figur zum subjektiven Ich-Ausdruck verhilft. Historisch geht der Monolog dem Dialog voraus, denn im antiken Drama gab es bis zur Einführung eines zweiten Schauspielers bei Aischylos nur die Wechselrede zwischen Chor und Protagonist. Die große Zeit des aktionalen Dialoges war theatergeschichtlich die Zeit des geschlossenen Dramas. ©rein
Sekundärliteratur: 1. D. Bauer: Zur Poetik des Dialoges, Darmstadt 1969. 2. V. Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1980. 3. J. Mukarovsky: Dialog und Monolog, Frankfurt/M. 1967.
Monolog griech.: monos: allein; logos: Rede
Der Monolog ist im Gegensatz zum Dialog ein 'Selbstgespräch' und findet vor allem im Drama Verwendung. Er richtet sich nicht direkt an einen Zuhörer, sondern an eine imaginäre Person. Faktisch ist natürlich das Publikum Adressat des Monologisierenden. Eine Sonderform des Monologs ist der "Innere Monolog" in der Erzählprosa. Die Funktionen des Monologs im Drama sind so vielfältig wie seine Erscheinungsweisen. Klassisch ist eine Kategorisierung, die die inhaltliche Seite betont. So wird ein Monolog, in dem sich der Held mit all seinen Gefühlen offenbart, als lyrischer Monolog bezeichnet. Der Reflexions-Monolog dagegen bietet den Figuren die Möglichkeit, das vergangene und das zukünftige Geschehen sowie die gegenwärtige Situation aus ihrer individuellen Perspektive zu bedenken. Damit übernimmt er die Funktion der vermittelnden Kommentierung des antiken Chors. Als epischen Monolog bezeichnet man die Darstellung von Nicht-Darstellbarem, die Zusammenfassung der bisherigen Handlung und die informierende Vorbereitung eines neuen Aktes oder des gesamten Stückes. Letzteres wird in der Literatur auch Expositionsmonolog genannt, der den Zuschauer vor allem in die historische Zeit des Dramas und in die Gefühlslagen der Handelnden einführen soll. Eine eher prosaische Monologform ist der Brücken- und Übergangsmonolog, der verhindern soll, daß die Bühne zu irgendeinem Zeitpunkt leer ist. Er ermöglicht also das Auf- und Abtreten von Personen. Das Verbot der verwaisten Bühne finden wir etwa bei Gottsched, der es von der französischen tragédie classique übernommen hat. Den dramatischsten und wahrscheinlich bekanntesten Monolog nennen wir zum Schluß: den Konflikt-Monolog. Er wird zumeist auf dem Höhepunkt der dramatischen Entwicklung vom Helden gesprochen. In ihm wägt er das Für und Wider bestimmter Handlungsmöglichkeit ab, bedenkt er Alternativen, verwirft sie wieder und kommt letztendlich zu einer Entscheidung. Diese Entscheidung führt entweder die Lösung eines Konfliktes herbei oder bereitet die Katastrophe vor. Ein berühmtes Beispiel ist der Monolog des Prinzen von Homburg aus Kleists gleichnamigen Drama, in dem dieser zur Einsicht seiner Schuld kommt und den großen Kurfürsten nun dazu zu bewegen beschließt, das Todesurteil gegen ihn aufrecht zu erhalten. Ein anderes, eher struktural orientiertes Kategorisierungsschema unterscheidet nur zwei Monologformen: die aktionalen und die nicht-aktionalen Monologe. Manfred Pfister beschränkt sich in diesem Sinne auf die Differenz von situationsverändernden Monologen (Konflikt-Monolog) und informierenden oder kommentierenden Monologen, die keine direkte Handlungsauswirkungen haben. Hierzu können wir den informierenden epischen Monolog und den
kommentierenden Reflexions-Monolog rechnen. Die Stellung des lyrischen und des Brückenmonologs in diesem Schema bleibt offen; die Entscheidung bleibt dem Einzelfall überlassen. Festzuhalten ist, daß beide Ordnungsschemata in den dramatischen Werken nur selten ihre ideale Ausprägung erhalten. Wir begegnen vielmehr stets Mischformen. Es gibt weder den reinen nicht-aktionalen Monolog noch den reinen lyrischen Monolog. Den vorläufigen Höhepunkt der Entwicklung des Monologs als eines Elements der dramatischen Form bilden die Monodramen des 20. Jahrhunderts, so z.B. von Peter Handke (Kaspar, 1968) oder Franz Xaver Kroetz (Wunschkonzert, 1972). Sie gelten als plakativer Ausdruck gestörter Kommunikation und als Abbild des entfremdeten und vereinzelten Individuums. © rein
Sekundärliteratur: 1. V. Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1980. 2. P. v. Matt: Der Monolog, in: Keller (Hg.): Beiträge zur Poetik des Dramas, Darmstadt 1976. 3. M. Pfister: Das Drama, München 1977.
Briefroman
Sonderform des Romans, die als Abfolge bzw. Wechsel von fingierten Briefen eines bzw. einer oder mehrerer Korrespondent(inn)en komponiert ist. Bisweilen werden sie durch andere autobiographische Zeugnisse (Tagbuchnotizen) oder Kommentare eines "Herausgebers" ergänzt. Der Briefroman erlebte seine Ausprägung und Blütezeit im Europa des 18. Jahrhunderts, in engem Zusammenhang mit der lebhaften Briefkultur der Zeit. "Empfindsame" Briefe und Briefwechsel waren für das neue Lesepublikum, besonders auch das weibliche, ein faszinierendes Medium der Gefühlserkundung, -verfeinerung und mitteilung. Die Kunstform solcher Brieffolgen oder -wechsel, eben der Briefroman, steigerte diese Funktion noch und modellierte sie nach den Bedürfnissen der Leser(innen). Damit gewann auch der Roman eine neue Dimension und Intensität: Die erzählerische Ich-Form und die besondere ZeitStruktur erlaubten offenere und subtilere Selbstdarstellung als im herkömmlichen Er/Sie-Roman; sie förderten die zunehmende Verlagerung der "Handlung" nach innen (Psychologisierung); sie erlaubten unmittelbarere Anteilnahme der Lesenden am Geschehen, ja sie provozierten häufig deren distanzlose Identifikation, sei es mit den Schreibenden, sei es mit den Briefempfängern. Das "Streben nach dieser psychologischen Distanzlosigkeit" veränderte das literarische Gefüge tiefgreifend: Der "Autor macht den Leser zum Vertrauten" (Arnold Hauser), und diese neue Intimität ist idealer Ort für die diskursive Herausbildung neuer, wesentlich bürgerlicher Normen in Moral und Ästhetik. Maßstabsetzend und in ganz Europa viel gelesen, nachgeahmt und parodiert wurden die Briefromane von Samuel Richardson (Pamela, 1740; Clarissa, 1748). Die Briefe Pamelas erzählen die Geschichte der "belohnten Tugend" und wehrhaften Unschuld als sozialen Aufstieg des Dienstmädchens zur gutbürgerlichen Ehefrau. In den Folgewerken, die mehrperspektivisch die Psychologie der Verführung und des Lasters ausbreiten, wird immer deutlicher, wie das Leseinteresse sich (unterhalb der moralisierenden Programmatik) durchaus auch auf die Darstellung der Unmoralität richtete. Während Jean-Jaques Rousseau mit seiner Nouvelle Héloïse (1761) das Genre weiter verinnerlichte und um den Kern des "empfindsamen Geständnisses" organisierte, entwickelte Choderlos de Laclos in den Liaisons Dangereuses (1782; dt. Gefährliche Liebschaften, 1783) analytisch kühl einen multiperspektivischen Mechanismus der Intrige und der Ausschweifung, der thematisch stark auf die Romane des Marquis des Sade eingewirkt hat. In Deutschland markierte nach mehr oder weniger populären Werken wie Sophie v. La Roches Fräulein von Sternheim (1771) Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) einen weltliterarisch bedeutsamen Gipfelpunkt der Gattung. Er radikalisierte die monoperspektivische Form und die Problematik des Individuums bis hin zum krisenhaften Zerfall von Briefform und Ich-Identität: Werthers Scheitern wird zuletzt nur noch in fragmentarischen Notizen bzw. den Eingriffen des
"Herausgebers" faßbar. Im Roman des 19. Jahrhunderts wurde die Briefform von Deskription, Dialog und Innerem Monolog fast vollständig zurückgedrängt. ©JV
Sekundärliteratur: 1. D. Kimpel: Entstehung und Formen des Briefromans in Deutschland, 1962. 2. K.R. Mandelkow: Der deutsche Briefroman, in: Neophilologus, 1960.
"Gottes Eingriffe"
Herder schreibt im dritten Band der Ideen zur Philosophie der Menschheit (17841791): "Humanität ist Zweck der Menschnatur, und Gott hat unserm Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben."
Johann Gottfried Herder: Fragmente einer Abhandlung über die Ode (1765)
Herder bestimmt in seinen etwa 1765 entstandenen Fragmenten einer Abhandlung über die Ode die Lyrik als ursprüngliche Ausdrucksform der Empfindung, die der "Logik des Affekts", nicht der Vernunft, gehorche. Diese Definition von Lyrik als ursprünglichster, subjektivster Gattung wurde nicht nur von Herders Zeitgenossen aufgenommen, sondern beieinflußte bis ins 20. Jahrhundert das Verständnis von Gedichten: "Das erstgeborne Kind der Empfindung, der Ursprung der Dichtkunst und der Keim ihres Lebens ist die Ode. [...] In jeder Ode zeigt sich also der Faden der Leidenschaft: und so wie man allerdings Schönheit und Vollkommenheit unterscheidet: so ist Pindars Logik der Aristotelischen in gewissem Verstande eben zuwider, und Pindarn eine philosophische Ordnung und Gründlichkeit schuld geben zu wollen, wird beinahe lächerlich. Die heißeste Leidenschaft und die kälteste Empfindung der Vernunft sind in ihrer Wahrheit und Form so weit verschieden, daß ihr Maß verschwindet: Vernunft und Gefühl bleiben die beiden Ende der Menschheit. Eine deutliche, durch Worte bewiesene Empfindung ist ebenso ein Unding als der feurige Gang der Leidenschaft, der abgemessen, wie ein Philosoph, gehen soll. Die Logik des Affekts – man verzeihe mir diesen anscheinenden Widerspruch – ist die kürzeste und schwerste aller Logiken im Reich der Wirklichkeit und Möglichkeit. In ihm empfindet man die sinnlich größte Einheit, ohne sie mit der Übereinstimmung des Verstandes vergleichen zu können; die wahrste Sinnlichkeit, unter der ein Beweis beinahe bis zum Lächerlichen erniedrigt ist: die rührendste Mannichfaltigkeit ohne Kette des Mathematikers." (S. 62, 73) ©TvH
Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 32, Berlin 1899. Sekundärliteratur: G. Sauder (Hg.): Johann Gottfried Herder 1744-1803, Hamburg 1987.
Shakespeare-Theater
Das Shakespeare-Theater wird um 1770 für Dramatiker wie Lessing und Goethe zum Vorbild für eine neue dramatische Entwicklung, die mit der antiken – auf Aristoteles und seine Poetik zurückgehenden - Tradition bricht. Was war das neue und andere des Shakespeare-Theaters? William Shakespeare (1564-1616) hat im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert eine dramatische Form geschaffen, die neue Themen bearbeitete, neue Figuren vorstellte, Hoch- und Alltagssprache miteinander verband und auf einmalige Art und Weise ein breites Publikum ansprach. Shakespeares Grundthemen waren Treue und Verrat, der Sinn der Macht und des Lebens trotz Todesgewißheit, die Überwindung des Bösen in einer abgrundtief schlechten Welt, der Konflikt zwischen Denken und Handeln, Leidenschaften, der Zwiespalt zwischen Vernunft und Gefühl, usw. Dies sind natürlich Themen der Dichtung seit ihren Anfängen. Neu ist aber die Art und Weise, wie die Menschen, die in diese allgemeinmenschlichen Grundkonflikte hineingeraten, mit ihnen umgehen. Bei Shakespeare gibt es keine grundsätzlichen moral-theologischen Dogmen oder eine allgegenwärtige Vernunft, die den Protagonisten den Weg weisen. Der Mensch ist in seinen Handlungsmöglichkeiten nicht prinzipiell festgelegt, sondern er entwickelt sich von Augenblick zu Augenblick, und auch Irrationales kann die Entscheidung für ein bestimmtes Vorgehen beeinflussen. Die Figuren haben also eine völlig neue Qualität von Individualität, sie entwickeln und verändern sich. Sie sind Ausdruck eines neuzeitlichen Menschenbildes. Zu Recht werden in den Stücken Shakespeares die Wurzeln des psychologischen Dramas erkannt. Die breite Akzeptanz des Shakespeare-Theaters durch die Zeitgenossen, sowohl durch die einfachen Menschen als auch durch den Hof, resultiert aus der Kunst, in ein und demselben Stück unterschiedlichste Publikumsinteressen anzusprechen. So hat Shakespeare in den frühen Historiendramen (z.B. Henry IV., Henry V.) nicht nur die englische Geschichte auf die Bühne gebracht und damit so etwas wie eine nationale Selbstvergewisserung erzeugt, sondern das Publikum zusätzlich unterhalten, indem er dem adeligen Personal komische Figuren zur Seite stellte. Hier wird schon deutlich, daß Shakespeare Regeln wie eine Ständeklausel nicht sehr hochschätzte. Auch die späteren Tragödien, wie z.B. Hamlet, können als Melodramen rezipiert werden. Dort geht es um Mord, Selbstmord und Wahnsinn, an sich schon höchst unterhaltende Sujets. Es werden aber auch Charakteranalysen geboten und für den Ästheten bietet die vollendete Verskunst höchsten Kunstgenuß. Auch die drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung finden bei Shakespeare keine Berücksichtigung. Prägend für nachfolgende Generationen von Theatermachern wurde zudem die charakteristische Shakespearebühne. Sie besteht aus drei Elementen: der
Vorderbühne, sie ragt in den Zuschauerraum hinein und kann von drei Seiten eingesehen werden, der guckkastenähnlichen Hinterbühne und der balkonartigen Oberbühne. ©rein
Sekundärliteratur: 1. J. Schabert (Hg.): Shakespeare-Handbuch. Die Zeit - der Mensch - das Werk - die Nachwelt, 3. Aufl., Stuttgart 1992. 2. U. Suerbaum: Shakespeares Dramen, Tübingen 1996. 3. R. Weimann: Shakespeare und die Macht der Mimesis. Autorität und Repräsentation im elisabethanischen Theater, Berlin u.a.1988.
Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie (1797)
Obwohl Schlegel im Titel seines Essays nur die griechische Poesie erwähnt, hat er im Grunde einen geschichtlichen Überblick über die griechische und moderne Literatur gestaltet. Er kontrastiert die griechische Literatur mit der neueren Literatur seit dem Mittelalter, die Klassik mit der Romantik. Griechenland dient auch ihm, wie vor ihm schon Winckelmann und nach ihm Hegel, als Ideal allen künstlerischen Schaffens. Für Schlegel war die "Griechenheit [ein] Bild vollendeter Menschheit [und ihre Literatur ein] Maximum und Kanon der natürlichen Poesie, [als] eine allgemeine Naturgeschichte der Dichtkunst, eine vollkommene und gesetzgebende Anschauung." (S. 307f.) Die antike Poesie erscheint bei ihm als die objektive, die moderne Poesie als die bloß subjektive, das wahrhaft Schöne steht im Gegensatz zum bloß Interessanten. Als absolutes Ideal erscheint ihm die Tragödie bei Sophokles, in der "die göttliche Trunkenheit des Dionysos, die tiefe Erfindsamkeit der Athene, und die leise Besonnenheit des Apollo gleichmäßig verschmolzen [sind]. Hier ist auch nicht die leiseste Erinnerung an Arbeit, Kunst und Bedürfnis. [...] Wir werden das Medium nicht mehr gewahr, die Hülle schwindet, und unmittelbar genießen wir die reine Schönheit." (S.298) Diese Feier der reinen Schönheit sieht er in der modernen Literatur nicht verwirklicht. In ihr meint er, dem Häßlichen, Grausamen, Zerreißenden zu begegnen. Sie ist bloße Darstellung interessanter Individualität. Insgesamt betrachtet, zeige die romantische Literatur "das totale Übergewicht des Charakteristischen, Individuellen und Interessanten [und] endlich das rastlose unersättliche Streben nach dem Neuen, Piquanten und Frappanten, bei dem dennoch die Sehnsucht unbefriedigt bleibt." (S. 228) Auf die moderne Poesie lasse sich jeder Begriff anwenden, nur nicht der des Schönen. Mit einer Ausnahme: Goethe. Denn Goethe habe seinen Platz "in der Mitte zwischen dem Interessanten und dem Schönen, zwischen dem Manirierten und dem Objektiven. [Er führte] aus der Krise des Interessanten" heraus. Deshalb verwundert es nicht, wenn Schlegels Charakterisierung Goethes darin gipfelt, daß er "Göthens Poesie [als] die Morgenröte echter Kunst und reiner Schönheit" bezeichnet. (S. 259ff.) Verglichen wurde Schlegels Studium der griechischen Poesie immer wieder mit Schillers Studie Über naive und sentimentalische Dichtung (1795), deren Scheidung naiver und sentimentaler Dichtung an Schlegels Kontrastierung von objektiver und subjektiver Dichtung erinnerte. Mittlerweile ist klar, daß er diesen Text Schillers zunächst nicht kannte, jedoch geht er in seiner nachträglich geschriebenen Vorrede auf Schillers Abhandlung ein, und räumt ein, daß, "hätte [er] sie eher gelesen, [...] so würde besonders der Abschnitt von dem Ursprunge,
und der ursprünglichen Künstlichkeit der modernen Poesie ungleich weniger unvollkommen gewesen sein." (S. 209) ©rein
Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hg. v. Ernst Behler, Paderborn u.a. 1958, Bd. 1.
Honoré de Balzac
* 20.05.1799, Tours † 18.08.1850, Paris Einen "Sittenmaler unserer Zeit" hat der einflußreiche französische Literaturkritiker Sainte-Beuve seinen Zeitgenossen Balzac kurz nach dessen Tod genannt. Gemeinsam mit seinem Schriftstellerkollegen Stendhal gilt er auch in unserem Jahrhundert als der Begründer des kritischen oder auch soziologischen Realismus im Roman. Balzac studierte zunächst Jura und arbeitete in einer Anwaltskanzlei bevor er sich für ein Leben als Schriftsteller entschied. Parallel verlaufende Versuche, als Verleger oder Besitzer einer Druckerei seinen Lebensunterhalt zu verdienen, führten allesamt in den Bankrott. Die Schulden haben ihn sein Leben lang begleitet. Noch kurz vor seinem Tod heiratete Balzac 1850 die ukrainische Gräfin Evelina Hanska, mit der er achtzehn Jahre lang fast ausschließlich in brieflichen Kontakt gestanden hatte. Nach einer Reihe pseudonym veröffentlichter Werke und Mißerfolgen als Theaterdichter hatte er mit Le dernier chouan (1829) erstmals einen Erfolg beim Publikum. Um 1834 entwickelte er - in Anlehnung an Dantes Divina Comedia das Projekt der Comédie humaine (Menschliche Komödie), das seinem Werk fortan Struktur und Zusammenhang geben sollte. Ihm liegt die Idee zugrunde, mit den Mitteln des Romans, der in diesen Jahren zur führenden Literaturgattung aufstieg, ein großangelegtes Gesellschaftspanorama seiner Epoche zu zeichnen. Zwei- bis dreitausend Figuren, so meinte Balzac, sollten genügen, um alle gesellschaftlichen Schichten exemplarisch zu porträtieren. Um in jedem Einzelschicksal etwas Allgemeines erkennbar zu machen, arbeitete er mit dem Mittel der Typisierung. In einem Typ - wie beispielsweise dem Bankier, dem Journalisten, der Kurtisane oder dem Geistlichen - verbinden sich der individuelle Charakter einer Figur und ihre soziale Rolle. Aber Balzac interessierte nicht nur der Zustand der Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt, sondern auch ihre Entwicklung. Deshalb führte er die Geschichte seiner Figuren über die Grenzen eines einzelnen Romans hinaus fort. Der Emporkömmling Rastignac, der Bandit Vautrin oder der Geizhals Grandet tauchen so in verschiedenen Phasen ihres Lebens in mehreren Romanen auf. Von den geplanten 135 Romanen und Erzählungen der Comédie humaine hat Balzac bis zu seinem Tod 90 vollendet. Seine Erzählweise, in der er die menschliche Gesellschaft gottgleich wie auf einer Bühne präsentiert und ausleuchtet, gilt als Inbegriff des auktorialen Erzählens. Für einige experimentelle Autoren des 20. Jahrhunderts (vor allem im französischen "nouveau roman") avancierte er dadurch zeitweise zum
ästhetischen "Hauptfeind Nummer eins". Er sei nur der Sekretär seines Werkes, hat Balzac bescheiden vermerkt. Der eigentliche Autor hingegen sei die französische Geschichte. Diesen historischen Hintergrund der Balzacschen Romane liefert der Aufstieg des Bürgertums nach der Großen Französischen Revolution (1789-1799). Im Kaiserreich Napoleons (1804-1815), während der politischen Restauration (1815-1830) unter den Königen Ludwig XVIII. und Karl X. aus Frankreichs altem Herrschergeschlecht der Bourbonen und schließlich zur Zeit des "Bürgerkönigs" Louis-Philippe (18301848) verschärfen sich die Auseinandersetzungen zwischen untergehendem Adel und aufstrebendem Finanzbürgertum. Detailliert beschreibt Balzac die ideelle Ausrichtung der Gesellschaft auf Ruhm, Macht, den Schein des Dekors und vor allem die immer stärkere Durchdringung aller Lebensbereiche durch das Geld. Im Aufstieg und Fall einzelner Figuren spiegelt sich das Bewegungsgesetz der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts. In ihr führen Balzacs leidenschaftliche Naturen einen Lebenskampf, der zunächst der Eroberung der Hauptstadt Paris, dem Herzen einer Frau, Geld oder Ruhm gilt. Das eigentlich existentielle Problem zeigt sich erst, wenn diese Eroberungen geglückt sind, denn der Willenskraft des Menschen sind natürliche Grenzen gesetzt: Sie verzehrt die Lebenskraft und sieht sich bald ihrem ärgstem Feind gegenüber, dem Tod. Je intensiver der Mensch sein Leben lebt, um so stärker verbraucht er es. © SR
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
Die menschliche Kommödie (1829-1850) mit u.a. den Romanen: Das Chagrinleder (1831) Vater Goriot (1835) Verlorene Illusionen (1837-1844) Glanz und Elend der Kurtisanen (1838-1847)
Sekundärliteratur: 1. H.-U. Gumbrecht, K. Stierle, R. Warning (Hg.): Honoré de Balzac, München 1980. 2. G. Picon: Honoré de Balzac, Hamburg 1994.
/www/www-data/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/dramatik/goetheshak.htm /www/www-data/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/dramatik/main.html
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36 )
Der unter schwierigen Bedingungen 1935/36 im Pariser Exil entstandene Aufsatz des Philosophen und Kulturkritikers Walter Benjamin kann als zentraler Text der modernen Kultur- und Medientheorie gelten. Angesichts der historischen Situation, die Benjamin, aus materialistischer Sicht, als einen katastrophalen Rückfall hinter die Möglichkeiten eines revolutionären sozialen Wandels deutet, richtet er sich am Beispiel des faschistischen Führerkults gegen die "Ästhetisierung der Politik"(S. 168). Diese Ästhetisierung basiere auf einer vormodernen Rezeptionshaltung des Publikums, während das "Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit" nicht allein neue Rezeptionsweisen, sondern auch eine neue Kunst (Film) erzeugt sowie den "Verfall der Aura" (S. 142) bewirkt habe. Aura - die "einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag" (142) - der Begriff ist verbunden mit dem Kultwert eines Kunstwerks, seiner Einmaligkeit und seiner Dauer. Diese Unnahbarkeit spiegelt sich in seiner ursprünglichen Aufgabe im Ritual, zeigt sich aber noch beim zeitgenössischen Kunstsammler. Die massenhafte technische Reproduktion, die mit der Erfindung der Fotografie 1839 begann und von Benjamin vor allem anhand der neuen Filmkunst diskutiert wird, beendet die daraus erwachsenen Vorstellungen von "Schöpfertum und Genialität" (S. 137), von Originalität und Ursprung: "die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn" (S. 145) mehr. Die Aufforderung an den Betrachter, sich kontemplativ in ein Gemälde zu versenken, tritt in umgekehrter Form in fotografischen Bildern wieder auf: "Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht angemessen. Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muß er einen bestimmten Weg suchen. Wegweiser beginnen ihm gleichzeitig die illustrierten Zeitschriften aufzustellen. Richtige oder falsche - gleichviel." (S. 148) Extremer ist die "Chockwirkung" noch im Film, dessen Bilder wie ein "Geschoß" dem Betrachter entgegentreten, im nächsten Augenblick aber dem Massenpublikum, schon wieder entrissen werden und "wie jede Chockwirkung [nur] durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen" (S. 165) werden können. Benjamin behauptet eine neuartige, von "Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit" (S. 143) geprägte Wahrnehmungsweise, "deren ‚Sinn für das Gleichartige in der Welt' so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt." (S. 143) Überkommene Vorstellungen von Tradition sind damit grundsätzlich in Frage gestellt. Vorformen der mit der Kunstform Film verbundenen Wirkung finden sich in Werken der künstlerischen Avantgarde, beispielsweise im Dadaismus: Dort wurde mit allen (handwerklichen!) Mitteln
versucht, dem Kunstwerk den Charakter eines Originals zu nehmen und eine physisch-moralische "Chockwirkung" beim Publikum zu erzeugen. Auch die Aura des Schauspielers - seine unmittelbare Präsenz im Hier und Jetzt - geht durch den Filter der Apparatur im Film verloren: "Das Publikum fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt." (S. 151) Positiv bewertet Benjamin die Verquickung von Kunst und Wissenschaft im Film, der aufgrund seiner objektiven Registrierung aller Details der sozialen Analyse der Wirklichkeit genauere Dienste leisten könne als Malerei oder Theater. Bizarr erscheint in diesem Zusammenhang, daß die Filmindustrie mit allen Mitteln versucht, gegen die von ihrem Medium geprägte Wahrnehmungsweise auratische Wirkungen auszulösen. Der von ihnen gepflegte Starkult unterlaufe, so Benjamin, das revolutionäre Potential des Films. © pflug
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I, Frankfurt/M. 1977, S. 136-169. .
Sekundärliteratur: 1. N. Bolz / W. van Reijen: Walter Benjamin, Frankfurt/M. 1991. 2. V. Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1990. 3. M. Opitz / E. Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe, Frankfurt/M. 2000.
Rundfunk
Rundfunk existiert als Hörfunk seit Beginn, als Fernsehen seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts und dient der drahtlosen Übermittlung von Ton und Bild mit dem Anspruch, die Öffentlichkeit zu informieren und zu unterhalten. Ausgangspunkt des Hörfunks oder (wie es umgangssprachlich zumeist heißt) des "Radios" sind in Deutschland die Versuche mit Röhrensendern und Rückkoppelungsempfängern, die Hans Bredow und Alexander Meißner gegen Ende des Ersten Weltkrieges in Form von Musikübertragungen an der deutschen Front durchführten. 1920 wurde erstmals ein Konzert vom Langwellensender Königs Wusterhausen ausgestrahlt. 1925 wurde die Reichs-RundfunkGesellschaft gegründet, die auch für viele Autoren der Weimarer Republik von Interesse war - und zwar sowohl ökonomisch wie auch kulturell und politisch (Bertolt Brecht: Radiotheorie). Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Reichs-RundfunkGesellschaft vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda abgelöst. Um den Massenzugriff auf die Hörerschaft zu gewährleisten, sollte ein billiges Gerät geschaffen werden, das sich alle privaten Haushalte leisten konnten. Es war die Geburtsstunde des "Volksempfängers", der innerhalb von zehn Jahren eine Steigerung der Radioteilnehmer von mehr als 12 Millionen ermöglichte und auch noch nach dem Krieg für die große Popularität des Mediums Radio mitverantwortlich sein sollte. Parallel zum Krieg mit den Waffen führten die Nationalsozialisten einen Krieg im Äther, indem sie im Inland täglich Erfolgsmeldungen über den Aufbau des nationalsozialistischen Staates und später Durchhalteparolen ausstrahlten, im Ausland ihr Programm in über 20 Fremdsprachen sendeten und gleichzeitig jedes Abhören von sogenannten Feindsendern unter strenger Strafandrohung untersagten. Nach dem Sieg der Alliierten lag die Rundfunkhoheit zunächst bei den Besatzungsmächten, die für die demokratische Umorganisation der verschiedenen Reichssendeanstalten verantwortlich waren. Hieraus entwickelten sich in den Westzonen weithin nach britischem Vorbild die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in Anlehnung an die föderalistische Struktur gegliederten (heute: BR, HR, MDR, NDR, ORB, RB, SFB, SR, SWR, WDR), die der Kontrolle eines Rundfunkrates unterliegen und durch Gebühren und Werbeeinnahmen finanziert werden. Gemeinsam mit der Deutschen Welle, dem Deutschland Radio und dem Deutschlandfunk sind sie in der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (ARD) zusammengeschlossen. Artikel 5 des Grundgesetzes regelt die 'Rundfunkfreiheit', die eine freie Berichterstattung gewährleisten und die staatliche Einflussnahme sowie die Behinderung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen verhindern soll. Neben seiner journalistischen Funktion im engeren Sinne (Information,
Meinungsbildung, Unterhaltung) hat das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem der Bundesrepublik zweifellos eine bedeutende Rolle für die Entwicklung einer politischen Kultur in der Bundesrepublik gespielt (wobei ihm die relative Unabhängigkeit vom Staat förderlich war). Eine besondere Rolle spielte "der Funk" bei der Förderung der westdeutschen Nachkriegsliteratur: Während Zeitungen und Verlage noch in Trümmern lagen, konnten die Radioanstalten bereits Aufträge vergaben. Die Erfolgsgeschichte der Kurzgeschichte und des Hörspiels, die neue Form des Features, oder auch die Karrieren von Autoren wie Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Günter Eich, später Hans Magnus Enzensberger wären nicht möglich gewesen ohne dieses neuartige "Mäzenat" der Rundfunkanstalten - wobei einige Autoren zugleich als Rundfunkredakteur (Alfred Andersch und Helmut Heißenbüttel in der Bundesrepublik, Ingeborg Bachmann in Österreich) konzeptionellen Einfluss nehmen konnten. Seit 1984 hat sich in Deutschland das duale Rundfunksystem durchgesetzt, in dem neben dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch privatwirtschaftlich organisierte Sender ihr Programm ausstrahlen. Die grundlegenden Unterschiede von privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern liegen in der Finanzierung. Überspitzt formulierte Gerd Bacher (Generalintendant des ORF in Wien): "Öffentlichrechtlicher Rundfunk braucht Geld, um Programm zu machen. Privatfernsehen braucht Programm, um Geld zu machen." Unbestritten ist jedenfalls, dass damit die politisch-publizistische und kulturelle Dimension des Rundfunks zurücktritt während die aktuelle Information, auch lokal- oder zielgruppenspezifisch, mit Unterhaltungselementen, besonders der populären Musik in allen Spielarten, einen engen Verbund eingeht (und übrigens auch die HörerInnen verstärkt einbezogen werden). Mit Wohlwollen kann man dies "Serviceradio" nennen, Kritiker sprechen abschätzig vom "Dudelfunk". Der kommende, in seinen Folgen noch nicht abzusehende Entwicklungsschritt ist die in Ansätzen schon realisierte Digitalisierung des Rundfunks, die theoretisch die Ausstrahlung von mehreren hundert Kanälen erlaubt, zudem die Aufhebung starrer Programmschemata ermöglicht. ©HKö
Sekundärliteratur: 1. G. Schäffner: Hörfunk, in: W. Faulstich (Hg.): Grundwissen Medien, München 1998. 2. ARD und ZDF (Hg.): Was Sie über Rundfunk wissen sollten, Berlin 1997. 3. H. Bausch (Hg.): Rundfunk in Deutschland. 5 Bde, München 1980.
Film
Als Geburtsstunde des Films gilt das Jahr 1895, als am 1. November in Berlin die Gebrüder Skladanowsy ihre "lebenden" Fotografien präsentierten, und am 28. Dezember die Gebrüder Lumière im Grand Café von Paris ihren "Cinématographen" vorstellten. Diese Erfindungen markierten jedoch bereits den Höhepunkt einer langen und stürmischen Entwicklungszeit. Um 1500 wird in Europa die Camera obscura (Lochkamera) bekannt, und aus dem 17. Jahrhundert stammt der erste Beleg für eine Laterna magica (eine Art früher Diaprojektor). Damit war im Prinzip das Problem der Umwandlung eines dreidimensionalen Raumes in eine zweidimensionale Fläche gelöst und das Projizieren von Bildern an eine Wand möglich. Seit ca. 1826 gelang es sogar, die mit Kameras eingefangenen Bilder auf lichtempfindlichem Papier zu speichern. Andere zentrale Fragestellungen, wie man z.B. die Bewegung in fotografierbare Phasen zerlegen könnte ohne den kontinuierlichen Bewegungseindruck zu zerstören, blieben aber noch etliche Jahre ungelöst. Eine Legion von Bastlern arbeite im 19. Jahrhundert in diesem vielfältigen Aufgabenfeld. Der Cinémathograph der Gebrüder Lumière war schließlich diejenige "Spitzentechnologie", welche die unterschiedlichen Erkenntnisse praktisch so erfolgreich umsetzte, dass sie bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts im Grundsatz die für die Filmproduktion und das Kino gebräuchliche Technik darstellte. Der Film und das Kino (als die wichtigste Form seiner sozialen und kulturellen Institutionalisierung) zielten von Anfang an auf Entertainment, Unterhaltung. Zunächst zeigten die Cinématographen "Sensationen" des Alltags: die Ankunft eines Zuges am Bahnsteig, aufgequirlter Zigarrenqualm, zusammenbrechende Mauern. Hinzu kam Exotik: das boxende Känguruh, Elefantenparade in Indien, der Besuch des Monarchen. Bald wurden auch erste Spielhandlungen für den Film aufgeführt. Der französische Schausteller Méliès stellte am Anfang des 20. Jahrhundert den Ausbruch eines Vulkans nach und ließ eine seiner Spielhandlung sogar auf dem Mond spielen. Die Kinos wandelten sich schnell vom kleinen Wanderkino zum großen Filmtheater. Der Film und das Kino entsprachen auf damals optimale Weise dem Bedürfnis breiter Bevölkerungsschichten nach Zerstreuung, und so wundert es nicht, dass Spielfilme bald zur populärsten Kulturerscheinung des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts wurden. Erst relativ spät entdeckten einige Filmemacher, dass mit dem Cinémathographen mehr als Klamauk anzustellen war. Das gebildete Bürgertum verlangte nach "gehaltvollen Films", wie man damals auch sagte. In Deutschland ist es der Theaterschauspieler Paul Wegener, der nach 1910 Jahren sein Prestige als Theaterstar riskierte, um den Film für die Kunst zu gewinnen. Für den frühen deutschen Film, mit Querverbindungen zum Expressionismus, sind insbesondere
die Regisseure Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang und Georg Wilhelm Pabst herauszustellen. Gleichzeitig wird der Film zur Konkurrenz der Literatur und zur Faszination für die Autoren, wie man u.a. an Äußerungen von Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht ablesen kann. Um eine grundsätzliche Reflexion der Wahrnehmungsweise und der Gestaltungsmöglichkeiten des neuen Mediums, also um eine Filmtheorie oder ästhetik bemühen sich Regisseure, Kunstwissenschaftler oder Soziologen wie Eisenstein, Belas Balasz, Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin. Stellvertretend für die internationale Legion großer Filmkünstler seien Erich von Stroheim, Charles Chaplin, Sergej Eisenstein, Jean Renoir, Orson Welles, Yasujiro Ozu, Alfred Hitchcock, Ingmar Bergman und Jean-Luc Godard genannt. In den letzten Jahren bieten der New Yorker Hal Hartley, der Däne Lars von Trier und der Finne Aki Karusmäki interessante Einstiege in die Welt des Autorenfilms, der jedoch nicht als dominierende Variante innerhalb der Filmproduktion angesehen werden darf. Denn schon in den 20er Jahren etablierte sich "Hollywood", das heißt eine Gruppe von großen Produktions-Studios (MGM, Warner Brothers u.a.) als das weltbeherrschende System des international erfolgreichen Films. Der Erfolg Hollywoods gründet in der kompromisslosen Entscheidung, nur solche Filme zu produzieren, die einen breiten Geschmack treffen. Kennzeichen der großen Hollywoodfilme sind Stars, Opulenz der Ausstattung und ein immer wiederkehrendes Handlungsgerüst, welches gemäß bestimmten Genreregeln modifiziert wird. Zur Perfektion wird dieses Produktionssystem in den sogenannten "blockbusters" (wörtlich "Bomben") entwickelt, die heutzutage am ersten Vorführwochenende mehr Einnahmen erbringen als die frühen Filme während ihrer gesamten Vorführlebenszeit. Zudem erwirtschaft die Mehrfachauswertung (Video, Computerspiele, Puppen, Events usw.) inzwischen oftmals ebenso viel Gewinn wie der Film selbst. © TS
Sekundärliteratur: 1. R. Arnheim: Film als Kunst, Frankfurt/M. 1979. 2. L. Engell: Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt/M. 1992. 3. R. Rother (Hg.): Sachlexikon Film, Reinbek 1997.
Episches Theater
Das Modell des 'epischen Theaters' wurde von Bertolt Brecht begründet, indem er einen radikalen Bruch mit der Tradition der Dramatik vollzog. Er wendet sich explizit gegen Aristoteles und Lessing, wenn er als Wirkungsabsicht des Dramas nicht länger die Einfühlung des Zuschauers in die Protagonisten und die damit einhergehende Katharsis sowie das Erlebnis von 'Furcht' und 'Mitleid' postuliert. Er will verhindern, daß der Zuschauer im Miterleben seine Aktivität verbraucht. Verhindert werden soll der Gedanke: "So ist es, so wird es immer sein, das kann mir auch passieren, ich kann nichts daran ändern". Vielmehr soll der Zuschauer erleben, daß das Dargestellte auch anders möglich ist, daß er Handlungsmöglichkeiten hat, daß er etwas verändern kann. Ein solches Theatererlebnis muß das, was auf der Bühne gezeigt wird, 'verfremden', es darf nicht als perfekte Illusion präsentiert werden, denn dann würde sich der Zuschauer wieder einfühlen, sondern muß den Zuschauer auf Distanz halten. Diese Distanz wird erzeugt durch den sogenannten 'Verfremdungseffekt', der aus Illusionsbrechungen wie einem Ansager oder einem kommentierenden Erzähler, zusätzlichen Informationen durch Spruchbänder, Plakate, Chöre, Projektionen besteht. ©rein
Zusätzliche Querverweise: ❍ ❍ ❍
Bertolt Brecht: Das epische Theater (um 1936) Bertolt Brecht: Über das experimentelle Theater (1939) Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" (1929)
Sekundärliteratur: 1. W. Hecht (Hg.): Brechts Theorie des Theaters, Frankfurt/M.1985. 2. J. Knopf: Brecht-Handbuch Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche, Stuttgart 1980.
Michail M. Bachtin
* 17.11.1895, Orel † 08.03.1975, Klimovsk / Moskau Philosoph, Sprach- und Literaturtheoretiker Der unter Stalins Gewaltherrschaft im Jahr 1929 nach Kasachstan verbannte russische Wissenschaftler mußte / konnte dort jahrzehntelang ohne Publikationsmöglichkeiten und öffentliche Anerkennung arbeiten. Nach Stalins Tod sorgten Schüler Bachtins in den sechziger Jahren für dessen politische und wissenschaftliche Rehabilitierung. International wurde er zunächst von französischen Theoretiker/inne/n im Umkreis des Strukturalismus entdeckt und übersetzt; nach seinem Tode wurde sein Einfluß auch auf die angloamerikanische Literaturwissenschaft immer stärker. Mit Bachtin war ein Theoretiker neu zu entdecken, der in der lebenslangen Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Hegels, dem Marxismus, der Psychoanalyse, dem Russischen Formalismus und dem Strukturalismus eigenständige und vielseitige Positionen entwickelt hat und sich immer deutlicher als ein 'großer Anreger' der gegenwärtigen Literaturwissenschaft erweist. Dies gilt grundsätzlich für die texttheoretischen Konzepte der Intertextualität und Dialogizität die u.a. von seiner französischen Übersetzerin Julia Kristeva ausgearbeitet wurden. Im Blick auf eine Theorie des Romans hatte Bachtin schon in seinem ersten Buch Probleme der Poetik Dostojewskis (1929) auf das Strukturmoment der Polyphonie, also der Vielstimmigkeit hingewiesen: "Die Vielfalt selbständiger und unvermischter Stimmen und Bewußtseine, die echte Polyphonie vollwertiger Stimmen ist tatsächlich die Haupteigenart der Romane Dostojewskis." (Probleme, S. 10) Über die unbestreitbare Vorliebe gerade dieses Romanciers für die vielfache und direkte Personenrede hinaus wird man die immer stärkere Entfaltung einer strukturellen "Vielstimmigkeit" des erzählerischen Diskurses als wesentliches Kriterium des modernen Romans schlechthin ansehen dürfen. Bei Bachtins Zeitgenossen James Joyce, John Dos Passos oder Alfred Döblin drückt sie sich auch in verschiedenen Formen der Montage aus. Bachtins Studie Epos und Roman (1941) weist Berührungspunkte mit den ihm bekannten Theorien von Hegel und Lukács auf; doch übertrifft er diese in der Betonung der Offenheit und Innovationskraft des Romans wie auch in der Verschränkung von geschichtsphilosophischen und strukturanalytischen Kategorien. Und auch den historischen Ort des Romans bezeichnet er präziser, nämlich medienhistorisch: "Einzig der Roman ist unter den großen Genres
jünger als Schrift und Buch, und er allein hat sich organisch den neuen Formen der stummen Wahrnehmungsweise, d.h. dem Lesen, angepaßt." (Epos, S. 210) Im Gegensatz zum Epos ist für Bachtin der Roman ein in vielfachem Sinne offenes Genre. Er vermag die "sozial mannigfaltige und durch eine Vielzahl von Redeweisen differenzierte Welt der Gegenwart" (Epos, S. 236) wiederzugeben. Er steht den "außerliterarischen Genres" (Epos, S. 243), also den Gebrauchsformen wie Brief und Autobiographie nahe und kann sie nachahmen bzw. integrieren. Und er gibt "keiner seiner Spielarten die Möglichkeit, sich zu stabilisieren", sondern treibt die Entwicklung durch "Parodieren und Travestieren von vorherrschenden und in Mode gekommenen Spielarten" vorwärts (Epos, S. 213). Kurz und gut: "Der Roman ist das einzige im Werden begriffene und noch nicht fertige Genre." (Epos, S. 210) Von hier aus läßt sich - im Jahr 1941 - eine Prognose wagen, die auch im 21. Jahrhundert noch bedenkenswert erscheint: "Der Prozeß des Werdens des Romans ist nicht beendet. Er tritt jetzt in eine neue Phase. Für die Epoche ist charakteristisch, daß die Welt auf ungewöhnliche Weise an Komplexität und Tiefe gewonnen hat, daß die Menschen in ungewöhnlichem Maße anspruchsvoller, nüchterner und kritischer geworden sind." (Epos, S. 251) © JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Probleme der Poetik Dostojewskis (1929) Die Ästhetik des Wortes [dt. 1979] Epos und Roman (1941)
Sekundärliteratur: 1. D. Lodge: After Bakhtin. Essays on fiction and criticism, London/ u. a. 1990. 2. T. Todorov: Mikhail Bakhtin. The Dialogical Principle, Minneapolis, Mn. 1984. 3. P.V. Zima: Roman und Ideologie. Zur Sozialgeschichte des modernen Romans, München 1986.
Russischer Formalismus
Russischer Formalismus ist die Bezeichnung für eine Bewegung von Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern, die zwischen 1916 und 1930 wirkten und starken Einfluß auf die Entwicklung des Strukturalismus in der Literaturwissenschaft ausgeübt haben. Formalisten wie Viktor Šklovškij, Roman Jakobson, Osip Brik, Jurij Tynjanov, Boris Ejchenbaum oder Boris Tomasevškij betrachteten Literatur als eine besondere Art der Sprachverwendung, welche die Alltagssprache intensiviert, von ihr abweicht und sie verändert. Ihr Interesse richtet sich auf die Verfahren, in denen die poetische Funktion (Jakobson) der Sprache zum Ausdruck kommt: die Eigenschaft, selbstreflexiv auf ihre formale Gestaltung zu verweisen. Mit diesem linguistisch orientierten Ansatz, der die literarischen Verfahren und Wirkungstechniken zum ausschließlichen Gegenstand der Literaturwissenschaft und zur Kennzeichnung der Literarizität überhaupt macht, wenden sich die Formalisten gegen gängige Vorstellungen von literarischen Werken als Träger von Ideen oder als realistische Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die bis dato übliche Ansicht zum Verhältnis von Ausdruck(sträger) und Inhalt wird von ihnen umgekehrt: "Beispielsweise handelt 'Don Quijote' [...] nicht 'von' der gleichnamigen Figur: Die Figur ist nur ein Verfahren, um die verschiedenen Erzähltechniken zusammenzuhalten." (Eagleton, S. 3) Den literarischen Verfahren (Klang, Metrum, Bildlichkeit, Erzähltechniken etc.) ist ihre Fähigkeit zur Verfremdung gemeinsam. Sie ermöglichen die bewußte Wahrnehmung der sonst automatisch verwendeten Alltagssprache. Dabei gehen die Formalisten allerdings nicht von einer statischen, sondern von einer dynamischen Sprache aus, die sich ständig wandelt: Nur vor dem Hintergrund einer Norm kann die Normbrechung verfremdend wirken. Im Laufe der Zeit wird die Normbrechung allmählich zur Norm; nun kann sogar die alte Norm wieder verfremdende Funktion erhalten. Zweck der Verfremdung ist es, die (im Werk gerade nicht thematisierte) konventionelle Wahrnehmung der eigenen Umwelt und andere Lebensgewohnheiten bewußt zu machen und alternative Vorstellungen anzuregen. Dies bedeutet, daß sich nur vor einem bestimmten (sozialen, historischen) Hintergrund feststellen läßt, ob eine Aussage literarisch ist oder nicht: "literarische Evolution als eine 'Tradition des Traditionsbruchs': Da jedes Kunstwerk nur als Form, jede Form aber nur als 'Differenzqualität', als 'Abweichung' von einem 'geltenden Kanon' angemessen wahrgenommen werden kann, muß das Vorgegebene jeweils mit berücksichtigt werden. Das bloße Konstatieren bestimmter Verfahren genügt nicht mehr, zusätzlich ist nach ihrer jeweiligen Intention und Funktion im Kunstwerk zu fragen; diese ist aber nur feststellbar im Bezugssystem der literarischen Evolution, wodurch der
literaturhistorische Blick unerläßlicher Bestandteil formaler Analyse wird." (Striedter, S. XXIV u. XXX-XXXI) Auch für die Abfolge von Stilen und Gattungen werden Gesetzmäßigkeiten formuliert. Im Russischen Formalismus ist also – anders als oft behauptet – sowohl die synchrone Untersuchung der literarischen Kunstwerke als einer Summe von Verfahren (Šklovškij) als auch eine diachrone Betrachtung des Einzelwerks im Verlauf des Wandels des Literatursystems angelegt. Damit sind die Russischen Formalisten wichtige Wegbereiter einer Literaturwissenschaft, die über spekulative Aussagen und "das bloße Sammeln wenig relevanter biographischer, historischer und soziologischer Fakten" (Striedter, S. XV) hinausweist: Sie haben Fragestellungen und methodische Ansätze entwickelt sowie eine weitreichende Selbstreflexion über den wissenschaftstheoretischen Status philologischen Arbeitens ausgelöst, die noch heute andauert. Erfahrungsbezogene, einfühlende Verstehensmethoden werden von ihnen allerdings zu stark vernachlässigt. © pflug
T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1994. Jurij Striedter: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution, in: ders. (Hg.), Russischer Formalismus, München 1994. Wichtige Schriften: ❍
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V. Šklovškij: Die Kunst als Verfahren, in: J. Striedter (Hg.): Russischer Formalismus, München 1994, S. 3-35. R. Jakobson: Über den Realismus in der Kunst, in: J. Striedter (Hg.): Russischer Formalismus, München 1994, S. 373-391. J. Tynjanov: Über die literarische Evolution, in: J. Striedter (Hg.): Russischer Formalismus, München 1994, S. 433-461.
Sekundärliteratur: 1. V. Erlich: Russischer Formalismus, Frankfurt/M. 1973.
Phonologie
Die Phonologie untersucht die sprachlichen Laute aus systematischer Sicht. Dabei werden die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten einer bestimmten Sprache mit Hilfe der Bildung von Minimalpaaren festgestellt. Ein Minimalpaar ist beispielsweise [a] und [a:] in den Wörtern Lack und lag. Darüber hinaus werden die Kombinationsregeln der lautlichen Einheiten untersucht. ©pflug
Organon-Modell
In seinem Organon-Modell des sprachlichen Zeichens definiert Karl Bühler 1934 das sprachliche Zeichen hinsichtlich seiner Funktionen der Darstellung, des Appells und des Ausdrucks, welche zugleich den jeweiligen Beziehungen des sprachlichen Zeichens zu den bezeichneten Gegenständen und Sachverhalten, dem Empfänger sowie dem Sender entsprechen. ©pflug
Wichtige Schriften: ❍
Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (1934, 21965)
Reim
Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter einem Reim den Endreim, der durch den Gleichklang der Versenden zweier oder mehrerer Verse vom letzten betonten Vokal an zustandekommt. Steht am Versende eine betonte Silbe, spricht man von einem einsilbigen Reim (Buch / Tuch), endet der Vers mit einer einfachen Senkung, heißt der Reim zweisilbig (leben / geben). Dreisilbige Reime sind relativ selten (Widerhall / Niederfall). Die entscheidende Bedeutung spielt beim Reim der Klang, nicht das Schriftbild des Wortes: "bellt" reimt sich, trotz der völlig anderen Schreibweise, korrekt auf "hält"; es handelt sich um einen sogenannten reinen Reim. Unreine Reime entstehen, wenn sich die Versenden klanglich unterscheiden, weil etwa ein Vokal und ein Umlaut (Riegel / Bügel) oder ein kurzer und ein langer Vokal (Kuß / Mus) miteinander kombiniert werden. Die häufigsten Reimstellungen sind der Paarreim bei dem sich jeweils die beiden aufeinanderfolgenden Verse reimen (man kennzeichnet die Reimpaare mit kleinen Buchstaben, in diesem Fall also: aabb), der Kreuzreim, bei dem der Reim erst in der übernächsten Zeile folgt (abab) und der umarmende oder Schweifreim, der von der ersten Zeile einen den zweiten und dritten Vers umarmenden Bogen zum vierten Vers schlägt (abba). Der Endreim ist zwar die bekannteste, nicht aber die einzige Reimform. Neben dem seltenen Anfangsreim gibt es auch Binnenreime, bei denen sich Worte innerhalb eines Verses, mit Worten desselben oder eines folgenden Verses reimen. Ein gutes Beispiel für einen Binnenreim ist die zweite Strophe von Oskar Kokoschkas Gedicht Die träumenden knaben: "rot fischlein / fischlein rot / mein messerlein ist rot / meine fingerlein sind rot / in der schale sinkt ein fischlein tot /" (S. 578) Die sich reimenden Worte "fischlein", "messerlein" und "fingerlein" stehen jeweils in der Mitte des Verses. Eine abgeschwächte Form des Reims, ist die Assonanz, bei der Worte durch Vokalgleichheit aufeinander bezogen werden (Bogen / Wolken), und durch die häufige Wiederkehr eines Vokals eine gleichmäßige Grundstimmung erzeugt wird. In Bertolt Brechts Gedicht Die Liebenden lassen sich Endreime, Binnenreime und Assonanzen aufspüren: "Sieh jene Kraniche in großem Bogen! (a) Die Wolken, welche ihnen beigegeben (b) Zogen mit ihnen schon als sie entflogen (a)
Aus einem Leben in ein anderes Leben." (b) (S. 1129f.) Ähnlich wie die Assonanz durch Vokalgleichheit, erzeugt die Alliteration durch Parallelität der anlautenden Konsonanten reimähnliche Strukturen. Einfacher gesagt: bei der Alliteration beginnen mehrere, nicht unbedingt direkt aufeinanderfolgende Worte eines Verses mit demselben Buchstaben. Dieses rhetorische Mittel ist auch in der Alltagssprache präsent, so etwa in der Wendung "Kinder, Küche, Kirche" oder in Kindersprachspielen wie dem Zungenbrecher "Zehn Ziegen zogen zehn Zentner Zucker zum Zoo". Eine unkonventionelle Einführung nicht nur in alle Probleme des Reims, sondern in die Lyrik überhaupt bietet das von Hans Magnus Enzensberger unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr veröffentlichte Buch Das Wasserzeichen der Poesie. ©TvH
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Oskar Kokoschka: Die träumenden knaben, in: Die deutsche Literatur Bd. VII, hg. v. Walther Killy, München 1988. Bertolt Brecht: Die Liebenden, in: ders.: Die Gedichte, Frankfurt/M. 1986.
Sekundärliteratur: 1. B. Nagel: Das Reimproblem in der deutschen Dichtung. Vom Otfridvers zum freien Vers, Berlin 1985. 2. C. Schuppenhauer: Der Kampf um den Reim in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Bonn 1970. 3. A. Thalmayr: Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen, Frankfurt/M.1989.
Generative Transformationsgrammatik (GTG)
Als GTG bezeichnet man Grammatikmodelle im Anschluß an Theorien des Sprachwissenschaftlers Noam Chomsky, die nicht - wie sonst üblich - versuchen, Kombinationsregeln sprachlicher Zeichen aus der Struktur eines Textes heraus zu analysieren. Ziel ist vielmehr die Rekonstruktion von Regeln und Bedingungen, die jeder Sprecher einer Sprache bei der Erzeugung von komplexen sprachlichen Strukturen (beispielsweise eines Satzes) benötigt (Transformation). ©pflug
Vers lat. versus: Linie, Zeile sowie lat. vertere: kehren, wenden, drehen
Die einzelnen Zeilen eines Gedichtes nennt man Verse. Die im allgemeinen Sprachgebrauch übliche, der literaturwissenschaftlichen Praxis entgegenstehende, synonyme Verwendung von Vers und Strophe entstammt der Tradition des Kirchenlieds, in dem ein vertonter Bibelvers einer Strophe entspricht. Den Vers kennzeichnet ein mehr oder weniger strenges Metrum sowie eine im Schriftbild durch das Zeilenende repräsentierte Endpause. Man unterscheidet verschiedene Versformen, so etwa die antiken Verse Hexameter und Pentameter, die der romanischen Tradition entstammenden Versformen des Alexandriners und des Elfsilblers, den volkstümlichen deutschen Knittelvers und den englischen Blankvers. ©TvH
Sekundärliteratur: 1. H. Blank: Kleine Verskunde. Einführung in den deutschen und romanischen Vers, Heidelberg 1990. 2. W. Kayser: Kleine deutsche Versschule, Bern 1946.
Autobiographie von gr. autos: selbst, bios: Leben, graphein: schreiben
Die Autobiographie ist dem Wortsinne nach eine retrospektive Darstellung des eigenen Lebenslaufes, eine "Selberlebensbeschreibung", wie der Dichter Jean Paul anschaulich übersetzte. Doch kann sie in sehr verschiedener Gestalt auftreten: Zum Beispiel haben Bertolt Brecht (Vom armen B.B.; An die Nachgeborenen) und Gottfried Benn (Teils-teils) eindrucksvolle autobiographische Gedichte verfasst. In der Kurzprosa, auch in Briefen und Tagebüchern, sind autobiographische Skizzen häufig (z.B. Anna Seghers: Zwei Denkmäler). Eine selbst illustrierte Folge solcher Skizzen nennt Günter Grass Mein Jahrhundert. Aber die Normalform des Genres ist ohne Zweifel der umfangreiche Prosabericht, der das eigene Leben oder seine 'Formierungsphase' im Rückblick und mit Anspruch auf Authentizität rekonstruiert; bewertet und deutet (üblich geworden ist dabei die Abgrenzung zu den Memoiren). Autor, 'Erzähler' und Hauptfigur tragen in der Autobiographie den gleichen Namen Damit ist sie als faktuale Erzählform den literarischen Gebrauchsformen zuzurechnen. Sie überschreitet allerdings auch sehr häufig die Grenze zur erzählerischen Fiktion, also zum Roman. Vorformen autobiographischen Schreibens kennt schon die Antike. Für den europäischen Kulturkreis besonders wichtig sind später die Bekenntnisse (Confessiones) des Kirchenvaters Augustinus (um 400) und der Lebensbericht von Francesco Petrarca (um 1370). Im 17. Jahrhundert dominiert zumindest in Deutschland die Gelehrten-Autobiographie. Eine Subjektivierung und zunehmende Komplexität der Form, bringt - ähnlich wie beim Brief (der selbst oft autobiograpische Funktion übernimmt) - das 18. Jahrhundert mit sich. Von europäischer Ausstrahlung sind die Bekenntnisse (Les Confessions) von Jean-Jacques Rousseau (1782ff.) Häufig wird die protestantische, speziell pietistische Selbsterforschung als Wurzel der neueren deutschen Autobiographie angesehen. In Johann Heinrich Jung-Stillings vielbändigen Lebenserinnerungen (ab 1777) wird das auf konventionelle Weise deutlich. Seine Zeitgenossen erproben bereits den Spielraum der Gattung: Johann Wolfgang Goethe entwirft in Dichtung und Wahrheit. Aus meinem Leben ein Modell der miteinander verschränkten Selbst- und Epochendeutung, das stilbildend wirkt (auch in der Beschränkung auf die prägende Lebensphase, die mit dem Eintritt in Beruf und Verantwortung abschließt). Andererseits schreibt sein Freund Karl Philipp Moritz unzweifelhaft autobiographisches Material einem stellvertretend-symbolischen Anton Reiser zu und präsentiert es unter der (treffenden, aber auch verdeckenden) Bezeichnung Ein psychologischer Roman. Damit sind die Fluchtlinien der literarischen Autobiographie bezeichnet:
Repräsentative Selbstdeutung und Selbststilisierung einerseits; psychologische Analyse und romanhafte Camouflierung, bzw. der Schritt über die Fiktionalitätsgrenze andererseits. Das erste Modell gerät spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Kategorie des autonomen Subjekts in eine ernsthafte Krise. Das zweite Modell wird aus eben diesen Erfahrungen heraus radikalisiert zu einer 'negativen' Autobiographie, in der die Autonomie und Identität des Subjekts höchst gefährdet - und oftmals nur im Schreibakt selber erreichbar - ist. Dabei kann eine faktuale Variante mit hohem literarischem Anspruch (Jean Paul Sartre: Die Wörter, 1964; Elias Canetti: Die gerettete Zunge, 1976) ebenso gewählt werden wie die fiktionalisierende Einkleidung (Peter Weiss: Abschied von den Eltern. Erzählung, 1961). Vom autobiographischen Roman wird man definitiv dann sprechen, wenn der Autor das Material seiner Lebenserfahrung konsequent in einen fiktionalen Rahmen umsetzt und integriert. Unter den stilbildenden Werken der klassischen Moderne ragt in dieser Hinsicht Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit heraus (1913-1926). Auch in der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur ist eine fortdauernde Attraktivität autobiographischer Themen und Schreibweisen festzustellen, die sich aber aus dem Gattungsrahmen lösen (können). Im formalen Spektrum lässt sich dabei der Versuch romanhafter Rückbindung (Christa Wolf: Kindheitsmuster, 1976) ebenso finden wie das buchstäbliche Zerbrechen der Gattungsform (Bernward Vesper: Die Reise, 1977) oder eine Vielfalt von kleineren und thematisch begrenzten Texten - wie etwa die Betroffenheitstexte der Frauenbewegung oder die so genannten 'Väterbücher' seit den siebziger Jahren. ©JZ Sekundärliteratur: 1. M. Holdenried: Autobiographie, Stuttgart 2000. 2. Ph. Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt/M. 1994. 3. M. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, Stuttgart 2000.
Erzählsituationen (nach F.K. Stanzel)
Bei der Lektüre eines fiktionalen Textes schaltet sich sowohl zwischen den Autor und die erzählte Geschichte ('histoire') als auch zwischen die Geschichte und den Leser eine Vermittlungsinstanz ein, die man als Erzähler oder zumindest Erzählinstanz bezeichnen kann. Der reale Autor, der nicht selbst zu Wort kommt, delegiert seine Erzählung gewissermaßen an einen Stellvertreter, den Erzähler, den er mit unterschiedlich großen "Vollmachten" hinsichtlich der zu erzählenden Geschichte ausstatten kann. Dieser Erzähler kann beim Lesen in einem Extremfall geradezu wie eine "Person" faßbar werden, im anderen scheint er vollständig hinter das Erzählte zurückzutreten. Dennoch ist zumindest seine Stimme vernehmbar, welche die Geschichte aus einer bestimmten Perspektive, einem bestimmten Blickwinkel erzählt. Der österreichische Anglist Franz Karl Stanzel (geboren 1923) hat sich in mehreren Büchern mit dieser Vermittlungsrolle des Erzählers ausführlich beschäftigt (Die typischen Erzählsituationen im Roman, 1955; Typische Formen des Romans, 1964; Theorie des Erzählens, 1979). Er arbeitet verschiedene Elemente heraus, die für die Stellung des Erzählers in und zu seiner Geschichte bestimmend sind. Dazu rechnet er vor allem den 'Modus' (d.h. das Überwiegen von berichtendem Erzählen durch eine 'Erzählerfigur' oder von szenischer Darstellung durch eine 'Reflektorfigur'). Weiter die 'Person', womit vor allem die Unterscheidung zwischen einer Erzählung in der ersten oder der dritten Person Singular gemeint ist (Ich- oder Er- / Sie-Erzählung), also die Frage, ob der Erzähler mit seinen Figuren einen gemeinsamen 'Seinsbereich' teilt oder nicht. Bei der 'Perspektive' unterscheidet Stanzel zwischen einer 'Innensicht', die dem Leser Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren eröffnet, und einer 'Außensicht', die lediglich das wiedergibt, was ein außenstehender Beobachter wahrnehmen kann. Aus den möglichen Kombinationen dieser Elemente ergeben sich für ihn die drei "typischen Erzählsituationen". Er ordnet sie graphisch in einem "Typenkreis" an, der Übergänge und Überschneidungen zwischen diesen Situationen sichtbar macht. Diesem Modell lassen sich dann die konkreten Erzählungen zuordnen. Im einzelnen unterscheidet Stanzel die auktoriale Erzählsituation, die personale und die Ich-Erzählsituation. Stanzels Ensemble von Erzählsituationen ist auch über den deutschsprachigen Raum hinaus rezipiert, diskutiert und kritisiert worden (vor allem von Gérard Genette mit seinen Fokalisierungstypen). Dennoch erweist sich sein Modell im konkreten Umgang mit literarischen Texten noch heute als brauchbar. Über die Positionen Stanzels und die seiner Kritiker kann man sich im Kapitel Die typischen Erzählsituationen von Jochen Vogts Aspekte erzählender Prosa (S. 4194) informieren. © SR
Sekundärliteratur: 1. F.K. Stanzel: Typische Formen des Romans, Göttingen 1964. 2. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen 1989. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998.
Parabeltheater
Die Bezeichnung Parabeltheater geht auf die Charakterisierung einiger Stücke Bertolt Brechts zurück (z. B. Der gute Mensch von Sezuan, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui), deren Handlung als Parabel konzipiert ist. Die Stücke sind nicht durch den konkret dargestellten 'Fall' von Bedeutung, sondern werden zu vereinfachten Beispielen für die Zusammenhänge von Macht und Moral, Gewalt und Güte, Massenwahn und individueller Verantwortung. Bekannte parabolische Stücke der Nachkriegsdramatik sind Andorra (1961) von Max Frisch und Die Physiker (1962) von Dürrenmatt. In Andorra geht es um die Entwicklung eines fiktiven Modellstaates zum Antisemitismus und die allgemeinmenschliche Frage: Wie ist so etwas möglich? Frisch fragt nicht: Wie ist dieser spezifische Antisemitismus möglich? In Die Physiker dreht sich dann alles um die Frage der Selbstverantwortung des Individuums. Was macht ein Physiker, ein Naturwissenschaftler mit seinem Wissen, wenn er weiß, daß er mit der Preisgabe dieses Wissens die menschliche Selbstzerstörung ermöglicht? Wird er schuldig, wenn auf der Grundlage seiner Forschungen eine Bombe (o.ä.) hergestellt wird, die Millionen von Menschen tötet (töten kann)? Geht es in diesem konkreten Fall um die Kernphysik, steht das Stück jedoch beispielhaft – in Form einer Parabel – für ein grundsätzliches Problem moderner Wissenschaften: für Wissenschaftsethik. ©rein
Sekundärliteratur: 1. W. Brettschneider: Die moderne deutsche Parabel, Berlin 1971. 2. H. Geiger: Parabeltheater. Frisch und Dürrenmatt, in: E. Schütz / J. Vogt u.a.: Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 3: Bundesrepublik und DDR, Opladen 1980, S. 140-152.
Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" (1929/30)
Mit seiner Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny entwickelt Brecht in den späten zwanziger Jahren sein Konzept des 'epischen Theaters'. Den radikalen Bruch mit der traditionellen dramatischen Form verdeutlicht er durch die tabellarische Darstellung der Gewichtsverschiebung von der dramatischen zur epischen Form: Dramatische Form des Theaters
Epische Form des Theaters
Die Bühne "verkörpert" einen Vorgang
sie erzählt ihn
verwickelt den Zuschauer in eine Aktion macht ihn zum Betrachter, aber verbraucht seine Aktivität
weckt seine Aktivität
ermöglicht ihm Gefühle
erzwingt von ihm Entscheidungen
vermittelt ihm Erlebnisse
vermittelt ihm Kenntnisse
der Zuschauer wird in eine Handlung hineinversetzt
er wird ihr gegenübergesetzt
es wird mit Suggestion gearbeitet
es wird mit Argumenten gearbeitet
die Empfindungen werden konserviert
bis zur Erkenntnis getrieben
der Mensch wird als bekannt vorausgesetzt
der Mensch ist Gegenstand der Untersuchung
der unveränderliche Mensch
der veränderliche und verändernde Mensch
Spannung auf den Ausgang
Spannung auf den Gang
eine Szene für die andere
jede Szene für sich
die Geschehnisse verlaufen linear
in Kurven
natura non facit saltus
facit saltus
die Welt, wie sie ist
die Welt, wie sie wird
was der Mensch soll
was der Mensch muß
seine Triebe
seine Beweggründe
das Denken bestimmt das Sein
das gesellschaftliche Sein bestimmt das Denken
Bertolt Brecht: Anmerkungen zur Oper "Aufstieg und Fall der Stadt
Mahagonny", in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 17, Frankfurt/M. 1967, 1009f.
Bertolt Brecht: Die Lyrik als Ausdruck (1927)
Gegen das traditionelle Verständnis von Gedichten als reinem Ausdruck des Gefühls wendet sich Brecht schon in seinem 1927 entstandenen kurzen Text Die Lyrik als Ausdruck. Brecht kritisiert eine rein ästhetizistische Rezeption von Gedichten, die das Gedicht ausschließlich als schönes Kunstwerk betrachtet und damit seinen Wirklichkeitsbezug negiert. Wie jede Form des Ausdrucks sei aber auch das Gedicht nicht nur Sprache, sondern auch Handlung. In diesem Gedanken leuchtet schon Brechts spätere Konzeption einer engagierten, "eingreifenden" Lyrik auf. "Wenn man die Lyrik als Ausdruck bezeichnet, muß man wissen, daß eine solche Bezeichnung einseitig ist. Da drücken sich Individuen aus, da drücken sich Klassen aus, da haben Zeitalter ihren Ausdruck gefunden und Leidenschaften, am Ende drückt 'der Mensch schlechthin' sich aus. Wenn die Bankleute sich zueinander ausdrücken oder die Politiker, dann weiß man, daß sie dabei handeln; selbst wenn der Kranke seinen Schmerz ausdrückt, gibt er dem Arzt oder den Umstehenden noch Fingerzeige damit, handelt also auch, aber von den Lyrikern meint man, sie gäben nur noch den reinen Ausdruck, so, daß ihr Handeln eben nur im Ausdrücken besteht und ihre Absicht nur sein kann, sich auszudrücken. Stößt man auf Dokumente, die beweisen, daß der oder jener Lyriker gekämpft hat wie andere Leute, wenn auch in seiner Weise, so sagt man, ja, in dieser Lyrik drücke sich eben der Kampf aus. Man sagt auch, der oder jener Dichter hat Schlimmes erlebt, aber sein Leiden hat einen schönen Ausdruck gefunden, insofern kann man sich bei seinen Leiden bedanken, sie haben etwas zuwege gebracht, sie haben ihn gut ausgedrückt. Als er sie formulierte, hat er seine Leiden verwertet, sie wohl auch zum Teil gemildert. Die Leiden sind vergangen, die Gedichte sind geblieben, sagt man pfiffig und reibt sich die Hände. Aber wie, wenn die Leiden nicht vergangen sind? Wenn sie ebenfalls geblieben sind, wenn nicht für den Mann, der gesungen hat, so doch für die, welche nicht singen können? Aber dann gibt es noch andere Gedichte, die etwa einen Regentag schildern oder ein Tulpenfeld, und sie lesend oder hörend verfällt man in die Stimmung, welche durch Regentage und Tulpenfelder hervorgerufen wird, d.h., selbst wenn man Regentage und Tulpenfelder ohne Stimmung betrachtet, gerät man durch die Gedichte in diese Stimmungen. Damit aber ist man ein besserer Mensch geworden, ein genußfähigerer, feiner empfindender Mensch, und dies wird sich wohl irgendwie und irgendwann und irgendwo zeigen." (S. 310f.) ©TvH
Bertolt Brecht: Lyrik als Ausdruck, in: Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart, hg. v. Ludwig Völker, Stuttgart 1990, S. 310-311.
Bertolt Brecht: Das epische Theater (um 1936)
In seinem Essay Das epische Theater wendet sich Bertolt Brecht gegen die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen dramatischer und epischer Form. Seit der Entwicklung des bürgerlichen Romans beobachtet er eine langsame Verwischung der Gattungsgrenzen (Gattungen), die sich auch immer stärker in der Dramatik bemerkbar macht und machen soll, denn diese Grenzverwischung ist inhaltlich motiviert und notwendig: "Die wichtigsten Vorgänge unter Menschen [können] nicht mehr so einfach dargestellt werden". (S. 53). In einer immer unübersichtlicher und komplexer werdenden Welt reicht es nicht mehr aus, die Handlung eines Einzelnen auf die Bühne zu bringen. Die einfache Darstellung von handelnden Personen läßt das, was ihre Handlungen hervorruft – also die Gesellschaft mit ihren spezifischen Gesetzen – nicht mehr selbstverständlich transparent werden. Der Zuschauer weiß nicht mehr, warum sich der Held so oder so entscheidet: "Zum Verständnis der Vorgänge war es nötig geworden, die Umwelt, in der die Menschen lebten, groß und 'bedeutend' zur Geltung zu bringen." (S. 53f.) Hier setzt das epische Theater an: "Die Bühne begann zu erzählen. Nicht mehr fehlte mit der vierten Wand zugleich der Erzähler. Nicht nur der Hintergrund nahm Stellung zu den Vorgängen auf der Bühne, indem er auf großen Tafeln gleichzeitige andere Vorgänge an anderen Orten in die Erinnerung rief, Aussprüche von Personen durch projizierte Dokumente belegte oder widerlegte, zu abstrakten Gesprächen sinnlich faßbare, konkrete Zahlen lieferte, zu plastischen, aber in ihrem Sinn undeutlichen Vorgängen Zahlen und Sätze zur Verfügung stellte – auch die Schauspieler vollzogen die Verwandlung nicht vollständig, sondern hielten Abstand zu der von ihnen dargestellten Figur, ja forderten deutlich zur Kritik auf." (S. 54) Das Drama bietet bei Brecht mehr als die Darstellung von "handelnden Personen" (Aristoteles in seiner Poetik), es gibt vielmehr einen Erzähler und den informierenden Zwischentitel. Auch der Schauspieler wird nicht mehr nur zur Figur, sondern bleibt Schau-Spieler. Dies soll nicht nur der besseren Verständlichkeit der Handlungen der Figuren in einer hochkomplexen Gesellschaft dienen, sondern auch die von Aristoteles bis Lessing bekannte 'Einfühlung' des Zuschauers in den Protagonisten verhindern: "Von keiner Seite wurde es dem Zuschauer weiterhin ermöglicht, durch einfach Einfühlung in dramatische Personen sich kritiklos (und praktisch folgenlos) Erlebnissen hinzugeben. Die Darstellung setzte die Stoffe und Vorgänge einem Entfremdungsprozeß aus. Es war die Entfremdung, welche nötig ist, damit verstanden werden kann. Bei allem 'Selbstverständlichen' wird auf das Verstehen einfach verzichtet. [...]
Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. – So bin ich. – Das ist natürlich. – Das wird immer so sein. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt. – Das ist große Kunst: da ist alles selbstverständlich. – Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden. Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muß aufhören. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. – Ich lache mit den Weinenden, ich weine über den Lachenden." (S. 54f.) Die 'Einfühlung' wird bei Brecht zur problematischen Kategorie, weil sie die Möglichkeit verdeckt, daß es auch einen anderen Handlungsverlauf hätte geben können. Die dargestellte Situation, hätte nicht zwangsläufig in der Katastrophe – auf die nach Gustav Freytag jedes Drama zusteuert – enden müssen. Dieses neue Lehrtheater soll jedoch nicht nur über das grundsätzliche Vorhandensein von Handlungsmöglichkeiten 'belehren', den Zuschauer also nicht nur über seine eigenen – auch politischen – Möglichkeiten aufklären, sondern auch – und vielleicht sogar vornehmlich – unterhalten: "Das Theater bleibt Theater, auch wenn es Lehrtheater ist, und soweit es gutes Theater ist, ist es amüsant." (S. 58) Theater, das Theater bleibt, ist für Brecht nicht nur unterhaltend, sich der Einfühlung widersetzend, sondern ist gleichzeitig "Theater für ein wissenschaftliches Zeitalter". Was ist darunter zu verstehen? Brecht beschreibt das Verhältnis von Theater und Wissenschaft wie folgt: "Kunst und Wissenschaft wirken in sehr verschiedener Weise, abgemacht. Dennoch muß ich gestehen, so schlimm es klingen mag, daß ich ohne Benutzung einiger Wissenschaften als Künstler nicht auskomme. Das mag vielen ernste Zweifel an meinen künstlerischen Fähigkeiten erregen. Sie sind es gewohnt, in Dichtern einzigartige, ziemlich unnatürlich Wesen zu sehen, die mit wahrhaft göttlicher Sicherheit Dinge erkennen, welche andere nur mit großer Mühe und viel Fleiß erkennen können. Es ist natürlich unangenehm, zugeben zu müssen, daß man nicht zu diesen Begnadeten gehört. Aber man muß es zugeben [...]. Ich muß sagen, ich benötige die Wissenschaften [...]." Brecht kommt zu der Überzeugung, daß der Dichter in einer so komplexen Gesellschaft wie der des 20. Jahrhunderts mit all ihrem Expertenwissen und Spezialistentum, nicht länger durch Gefühl, Intuition, Phantasie, Genialität in der Lage ist, sich in jede Situation hineinzuversetzen, um sie zu schildern. Die politischen oder wirtschaftlichen Strukturen sind so komplex, daß man sich auch
als Dichter der Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften bedienen muß, um wirtschaftliche und / oder politische Prozesse verstehen und beschreiben zu können. Selbst die menschliche Psyche, z.B. der Seelenzustand eines Mörders, ist nur durch die moderne Psychoanalyse zu begreifen. ©rein
Bertolt Brecht: Das epische Theater, in: ders.: Schriften zum Theater 3, Frankfurt/M. 1963.
Bertolt Brecht: Über experimentelles Theater (1939)
Brechts theoretische und praktische Theaterarbeit hat seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts besondere Aufmerksamkeit erregt, weil sie mit althergebrachten Traditionen radikal gebrochen hat. Brecht negierte das seit der Antike unangefochtene erste Ziel einer dramatischen Aufführung: die Einfühlung des Zuschauers in die Protagonisten. "Die Einfühlung ist das große Kunstmittel einer Epoche, in der der Mensch die Variable, seine Umwelt die Konstante ist. Einfühlen kann man sich nur in den Menschen, der seines Schicksals Sterne in der eigenen Brust trägt, ungleich uns. Es ist nicht schwer, einzusehen, daß das Aufgeben der Einfühlung für das Theater eine riesige Entscheidung, vielleicht das größte aller denkbaren Experimente bedeuten würde. Die Menschen gehen ins Theater, um mitgerissen, gebannt, beeindruckt, erhoben, entsetzt, ergriffen, gespannt, befreit, zerstreut, erlöst, in Schwung gebracht, aus ihrer eigenen Zeit entführt, mit Illusionen versehen zu werden. All dies ist so selbstverständlich, daß die Kunst geradezu damit definiert wird, daß sie befreit, mitreißt, erhebt und so weiter. Sie ist gar keine Kunst, wenn sie das nicht tut. Die Frage lautet also: Ist Kunstgenuß überhaupt möglich ohne Einfühlung oder jedenfalls auf einer andern Basis als der Einfühlung? Was konnte eine solche neue Basis abgeben? Was konnte an die Stelle von 'Furcht' und 'Mitleid' gesetzt werden, des klassischen Zwiegespanns zur Herbeiführung der aristotelischen Katharsis? [...] Ich kann die neue Technik des Dramenbaus, des Bühnenbaus und der Schauspielweise, mit der wir Versuche anstellten, hier nicht beschreiben. Das Prinzip besteht darin, anstelle der Einfühlung die Verfremdung herbeizuführen." (S. 300f.) Wer ein wenig mehr zu dieser besonderen dramatischen Technik und anderen Aspekten des Brechtschen Theaters erfahren möchte, der klicke einfach auf: Brecht: Das epische Theater, aber nun zunächst weiter mit dem O-Ton über das experimentelle Theater: "Was ist Verfremdung? Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem
Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen. Nehmen wir [...] den Zorn des Lear über die Undankbarkeit seiner Töchter. Vermittels der Einfühlungstechnik kann der Schauspieler diesen Zorn so darstellen, daß der Zuschauer ihn für die natürlichste Sache der Welt ansieht, daß er sich gar nicht vorstellen kann, wie Lear nicht zornig werden könnte, daß er mit Lear völlig solidarisch ist, ganz und gar mit ihm mitfühlt, selber in Zorn verfällt. Vermittels der Verfremdungstechnik hingegen stellt der Schauspieler diesen Learschen Zorn so dar, daß der Zuschauer über ihn staunen kann, daß er sich noch andere Reaktionen des Lear vorstellen kann als gerade die des Zornes. Die Haltung des Lear wird verfremdet, das heißt, sie wird als eigentümlich, auffallend, bemerkenswert dargestellt, als gesellschaftliches Phänomen, das nicht selbstverständlich ist. Was ist damit gewonnen? Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer die Menschen auf der Bühne nicht mehr als ganz unänderbare, unbeeinflußbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht. Er sieht: Dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Und die Verhältnisse sind so und so, weil der Mensch so und so ist. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind. Damit ist gewonnen, daß der Zuschauer im Theater eine neue Haltung bekommt. Er bekommt den Abbildern der Menschenwelt auf der Bühne gegenüber jetzt dieselbe Haltung, die er als Mensch dieses Jahrhunderts der Natur gegenüber hat. Er wird auch im Theater empfangen als der große Änderer, der in die Naturprozesse und die gesellschaftlichen Prozesse einzugreifen vermag, der die Welt nicht mehr hinnimmt, sondern sie meistert. Das Theater versucht nicht mehr, ihn besoffen zu machen, ihn mit Illusionen auszustatten, ihn die Welt vergessen zu machen, ihn mit seinem Schicksal auszusöhnen. Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff." (S. 301ff.) Das Ideal des Brechtschen Theaters macht die Menschen handlungsfähig. Sie erkennen, daß die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Situation, in der sie sich befinden, nicht gott- oder naturgegeben so sein muß. Sie kann anders sein, und sie kann durch Handlungen – auch von Einzelnen – verändert werden. Mit dieser Funktion des Theaters – Menschen zu (politischen) Handlungen anzuregen - wendet sich Brecht gegen den von ihm schon erwähnten Aristoteles mit seiner Poetik, der als Ziel der Dramatik die Reinigung (Katharsis) von Erregungszuständen genannt hatte - Erregungszuständen, von denen der Mensch dann in seinem alltäglichen Leben befreit ist, die ihm und anderen also nicht mehr 'gefährlich' werden können. Ein weiterer Vorgänger, von dem sich Brecht abgrenzt, ist Lessing, der als erhoffte Wirkung der Dramatik die Erzeugung von "Furcht" und "Mitleid" ansieht, die den Einzelnen zu mehr Tugend erziehen soll. Wie bei Aristoteles bleibt die Wirkung des Dramas zunächst auf das Innere des Individuums bezogen, obwohl Lessing als zusätzliche Idealwirkung – über das bürgerliche Publikum hinausgehend - die Fürstenerziehung ansieht. Trotzdem
gibt es keine direkte, unmittelbare Konsequenz für gesellschaftliche Prozesse. Obwohl auch Lessing gesellschaftliche Mißstände anklagt, z.B. die Willkür eines Prinzen in Emilia Galotti (1772), fordert er nicht zum Widerstand gegen den Feudalstaat auf, sondern will primär eine moralische Selbstvergewisserung seines bürgerlichen Publikums herbeiführen. ©rein
Bertolt Brecht: Über das experimentelle Theater [1939], in: ders: Gesammelte Werke, Bd. 15., Frankfurt/M.
Aischylos
* 525/24 v. Chr, Eleusis † 456/55 v. Chr., Gela Hätte Aischylos wohl weiterhin an die göttliche Vorsehung geglaubt, wenn er im Voraus gewußt hätte, welch eines überaus skurrilen Todes er sterben würde? Es wird nämlich berichtet, daß er durch eine Schildkröte erschlagen wurde, die einem Raubvogel aus den Klauen fiel. Wahrscheinlich stimmt diese Geschichte nicht - aber zumindest ist sie gut erfunden. Interessant wäre diese Frage aber, weil Aischylos als erster der drei bereits zum Ende des fünften vorchristlichen Jahrhunderts kanonisierten "großen" Tragiker (vor dem eine Generation jüngeren Sophokles und dem wiederum jüngeren Euripides) noch am stärksten in einem religiösen Weltbild verankert war: Zwar ist auch bei ihm der Mensch Spielball des undurchschaubaren Willens der Götter und in tragische und aussichtslose Entscheidungssituationen geführt; aber im Gegensatz zur Weltsicht der jüngeren Dramatiker, kann der Mensch (also der dramatische Heros) in den Tragödien des Aischylos davon ausgehen, daß durch den Willen der Götter ein (ihm selbst nicht einsichtiger) Sinnzusammenhang gestiftet wird, in dem der Mensch berechtigterweise auf göttliche Gnade hoffen kann. Er soll "durch Leid lernen!", wie es im Agamemnon heißt. Dieses letztlich doch optimistische Weltbild mag seinen Ursprung darin haben, daß Aischylos' Leben und Werk in die Zeit des Aufstiegs Athens zur politischen und kulturellen Vormacht in der Ägäis fiel (damals mehr oder weniger das Zentrum der gesamten bekannten Welt). An beiden Entwicklungen hatte Aischylos seinen Anteil. So beteiligte er sich an den beiden Schlachten bei Marathon (490 v. Chr.) und Salamis (480 v. Chr.), in denen die Hegemonie des Perserreiches gebrochen wurde; vor allem aber betätigte er sich als Reformator des Theaterwesens: Die jährlich stattfindenden Theaterfeste dienten nicht mehr nur zur Ehrung des Dionysos, sondern bald auch als Bühne für die Präsentation der athenischen Vormachtstellung in Griechenland. Die Tragödien des Aischylos zeichneten sich dabei durch eine patriotische und ausgleichende Tendenz aus. Den damaligen Gepflogenheiten entsprechend arbeitete Aischylos nicht nur als Autor und wahrscheinlich auch als Schauspieler an der Aufführung mit, sondern war als Regisseur auch für das Einstudieren des Textes wie der vielfältigen Gesangs- und Tanzfiguren für Chor und Schauspieler zuständig, die das Publikum erwartete. Indem er den zweiten Schauspieler einführte und die Bedeutung des Chores einschränkte, gewann er Raum zu einer genaueren Zeichnung der Figuren, die allerdings nicht mit einem modernen psychologischen Realismus zu verwechseln ist. Zweifellos wirken seine Figuren auch starrer als die des Euripides. Aischylos soll auch als erster die vom Dichter geforderten und an einem Tag hintereinander aufgeführten drei Tragödien und ein Satyrspiel (eine
Art heiterer Ausklang des Tages) zu einer thematischen Einheit in "Tetralogien" verbunden haben. Dadurch war es ihm etwa möglich, die Geschichte eines mythischen Geschlechts über mehrere Generationen zu verfolgen und theologische Fragestellungen auch in einem größeren Rahmen darzulegen. Von den 80 Stücken, die Aischylos verfaßt haben soll, sind gerade einmal sieben vollständig überliefert worden. Das ist keine so geringe Zahl, wenn man bedenkt, daß von vielen anderen Dichtern, die sich an den Theaterwettstreiten beteiligt haben, oft nicht einmal die Namen, geschweige denn Textfragmente die Zeit überstanden haben. Auch dies ist der großen Beliebtheit des Aischylos bereits im 5. Jahrhundert geschuldet: Als erstem Dichter überhaupt wurde ihm postum das Wiederaufführungsrecht für seine Tragödien zugesprochen. Diese waren damit ständig auf der Bühne präsent und zwangen so die nachfolgenden Autoren, sich mit dem bald zum großen demokratischen Vorbild Stilisierten auseinanderzusetzen. Der damit zusammenhängende Einfluß auf die Entwicklung des griechischen Dramas und damit des gesamten europäischen Theaters läßt sich deshalb heute nur mehr erahnen. © JK
Wichtige Schriften: ❍ ❍
Die Perser (472 v. Chr.) Die Orestie [Trilogie] (458 v. Chr.)
Sekundärliteratur: 1. B. Zimmermann: Die griechische Tragödie. Eine Einführung, 2. Aufl., München u.a. 1992. 2. W. Ries: Griechische Tragiker zur Einführung, Hamburg 2000. 3. G. A. Seeck: Die griechische Tragödie, Stuttgart 2000.
Abenteuerroman
Der Abenteuerroman läßt sich für das 20. Jahrhundert nur schwer als ein feststehendes Genre mit eindeutigen Konventionen beschreiben. Doch ist die Abenteuerhandlung in viele andere Romantypen eingezogen und verhilft ihnen zu großem Erfolg beim Lesepublikum - vom abenteuerlichen Film ganz zu schweigen. Wichtigstes Kennzeichen des klassischen Abenteuerromans ist die realistische Darstellung eines an Handlungsfülle orientierten Geschehens. Schnell wechselnde Situationen und Schauplätze sowie fremdartiges Ambiente, in dem sich teils phantastische Ereignisse zutragen, erzeugen Spannung und sorgen für Unterhaltung. Natürlich reicht die Darstellung von Abenteuerhandlungen weit in der Literaturgeschichte zurück: Das babylonisches Gilgamesch-Epos (2. Jt. v.Chr.) oder die antike Hochliteratur mit den Homerischen Epen (8. Jh. v.Chr.) können durchaus als Vorläufer angesehen werden. Im Mittelalter sind es die auf keltischen Sagen beruhenden Artus-Romane des Chrestien de Troyes (und seine zahlreichen Nachbildungen und Bearbeitungen), die vielfältige Abenteuerstoffe transportieren. Ähnlich verhält es sich mit der mittelalterlichen Spielmannsdichtung (Herzog Ernst, 1186), den frühbarocken Ritterromanen des 16. Jahrhunderts (wie dem Amadis von Gallien, 1508) sowie den gleichzeitigen entstandenen Volksbüchern (Fortunatus, 1509). Sinnvoll läßt sich allerdings erst von einem Genre des Abenteuerromans sprechen, wenn die Abenteuerhandlung einen eigenständigen Unterhaltungswert besitzt und nicht im Dienste anderer (religiöser, ritterlicher, identitätsbildender usw.) Paradigmen steht. Im Abenteuerroman werden bestimmte Situationen nicht mehr als Bewährungsproben gesucht, sondern die Ereignisse stoßen den Figuren zu, sie sind ihnen ausgesetzt. Diese Konstellation läßt sich erstmals deutlich am Schelmenroman beobachten, wie er im spanischen Barock entsteht. Hier sind die unterschiedlichen Begebenheiten nur locker miteinander verbunden. Immer wieder durchkreuzen eingeschobene Geschichten und Episoden den einsträngigen Handlungsverlauf, der ein vorgegebenes Ziel nicht mehr erkennen läßt. Der Held dieses Romantyps bricht auf in die Fremde und bleibt ein Umherziehender in einer fremden, zu erobernden Welt. Er muß Prüfungen bestehen, doch durchläuft er keineswegs eine Entwicklung, an deren Ende eine reife und gefestigte Persönlichkeit steht (wie sie dem späteren Bildungsroman vorschwebt). Den Prototyp des Schelmenromans bildet der anonyme Lazarillo de Tormes (1554). Er hat zahlreiche Nachahmungen erfahren wie den Gil Blas des Franzosen Alain-René Lesage (1715) oder Johann Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus (1669). Der wiederum wurde für die sogenannten 'Simpliziaden' prägend.
Andere Formen nehmen Abenteuerstoffe z.B. in den 'Robinsonaden' an, die sich von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719/20) herschreiben. Eine in Deutschland erfolgreiche Version dieses Typs wurde Johann Gottfried Schnabels Die Insel Felsenburg (1731-42). Auch Räuber- und Lügenromane des 18. Jahrhunderts können dem Abenteuergenre zugerechnet werden. Zudem entsteht nach 1800 der Western (von James Fenimore Cooper bis Karl May), der sich bis ins 20. Jahrhundert - nicht zuletzt im Medium des Films - größter Beliebtheit erfreut. Mit historisierenden Abenteuerromanen wie Der Graf von Monte Christo (1846) oder Die drei Musketiere (1844-47) feierte Alexandre Dumas d.Ä. im 19. Jahrhundert große Erfolge. Durch die Publikation als Fortsetzungsroman im Feuilleton und die zunehmende literarische Massenproduktion haftet dem Genre aber seit dieser Zeit der Ruf des Trivialen an. Beispiele für Abenteuerromane aus dem Bereich der sogenannten Hochliteratur finden sich aber auch noch im 20. Jahrhundert. Landstreicher (Hermann Hesses Knulp, 1915), Hochstapler (Thomas Manns Felix Krull, 1954) oder sozialkritische Schelme (Günter Grass´ Oskar Matzerath in der Blechtrommel, 1959) haben ihren Autoren immerhin Nobelpreise eingebracht. © SR Sekundärliteratur: 1. V. Klotz: Abenteuer-Romane: Sue, Dumas, Ferry, Retcliffe, May, Verne, München 1979. 2. O.F. Best: Abenteuer. Wonnetraum aus Flucht und Ferne. Geschichte und Deutung, Frankfurt/M. 1980. 3. H. Pleticha und S. Augustin: Lexikon der Abenteuer- und Reiseliteratur von Afrika bis Winnetou, Stuttgart u.a. 1999.
Auktoriale Erzählsituation
Die 'auktoriale Erzählsituation' ist in erster Linie durch einen "allwissenden" Erzähler gekennzeichnet. In ihr dominiert die 'Außenperspektive', das berichtende Erzählen einer 'Erzählerfigur' (das in der englischsprachigen Erzählforschung auch als 'telling' bezeichnet wird) und die Er- oder SieErzählung, in der ein Erzähler bekanntlich außerhalb des Universums seiner Figuren steht. In diesem Fall spricht man von der 'epischen Distanz', über die der Erzähler zu seiner Geschichte verfügt. Diese fast "göttlich" anmutende Übersicht kann er nutzen, um ohne Einschränkungen die Schauplätze seiner Geschichte zu wechseln oder die chronologische Abfolge der erzählten Ereignisse zu verändern, gewissermaßen zwischen den Zeiten "hin- und herzuspringen" (vgl. Rückwendungen und Vorausdeutungen). Er verfügt aber nicht nur souverän über Zeit und Raum, er kann auch die Worte, Gedanken und Gefühle seiner Figuren nach Belieben ausbreiten, zusammenfassen oder verschweigen. Dieser auktoriale Erzähler ist es, der dem Leser nahezu als "Person" entgegentritt, ihn anspricht und über sich selbst und sein Erzählen reflektieren kann. In der Regel spart er nicht mit Wertungen oder Urteilen und gelegentlich macht er auch von seiner Möglichkeit Gebrauch, die Figuren oder ihre Ansichten ironisch zu kommentieren. Daher ist ihm eine Tendenz zu humoristischem Erzählen eigen. Die auktoriale Erzählsituation herrscht vor allem im Roman des 17. und 18. Jahrhunderts vor. © SR
Sekundärliteratur: 1. F.K. Stanzel: Typische Formen des Romans, Göttingen 1964. 2. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen 1989. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, Kap.2.
Ich-Erzählsituation
Neben die auktoriale Erzählsituation und personale Erzählsituation stellt Stanzel mit der Ich-Erzählsituation einen dritten 'typischen' Fall: In ihr dominiert das berichtende Erzählen durch eine 'Erzählerfigur' (also 'telling') und die 'Innensicht' auf das Figurenbewußtsein. Unter der Kategorie 'Person' ist diese Erzählsituation immer mit einem Erzähler in der Ich-Form verbunden. Da aber auch ein auktorialer Erzähler durchaus "Ich" sagen kann, muß eine Abgrenzung vorgenommen werden: In der Ich-Erzählsituation bezeichnet die erste Person Singular sowohl den Erzähler als auch eine Handlungsfigur, der Erzähler und die Figur gehören also dem selben 'Seinsbereich' an. Die Ich-Erzählsituation vereint mehrere, scheinbar widersprüchliche Aspekte: Zum einen scheint die 'epische Distanz' vollständig aufgehoben zu sein, steht der Erzähler doch als ein Handelnder mitten im Geschehen. Zum anderen aber ist dieselbe Distanz geradezu konstituierend für ihn, da er doch nur erzählen kann, was zeitlich schon vergangen ist. Wie man sieht, ist der Ich-Erzähler eine "gespaltene Persönlichkeit", deren eine Seite als "erlebendes Ich", die andere als "erzählendes Ich" bezeichnet wird. Diese Aufteilung erlaubt es ihm auf der einen Seite, sehr authentisch und unmittelbar über sein Innenleben zu reflektieren. Doch ist diese Möglichkeit zur ausgiebigen Introspektion durch ein sehr enges Blickfeld - eben nur das seine - erkauft, das erfordert, andere Figuren lediglich von außen zu beschreiben. Eine gewisse Nähe zur personalen Erzählsituation liegt hier auf der Hand. Auf der anderen Seite aber erzählt er seine Geschichte häufig sein Leben oder doch wenigstens Episoden daraus - aus einem mehr oder weniger großen zeitlichen Abstand. Das befähigt ihn, kommentierend und wertend, zuweilen reuevoll, auf sein Leben zurückzublicken, was seine Perspektive wiederum an die des auktorialen Erzählers annähert. Um dieses unübersichtliche Feld zu systematisieren, kann man innerhalb der IchErzählsituation noch einmal vier unterschiedliche Formen voneinander abgrenzen. Als Unterscheidungskriterium dient dabei zum ersten, ob der zeitliche Abstand, aus dem erzählt wird, groß genug ist, um dem Erzähler eine Übersicht über die Geschichte zu gestatten. Es handelt sich also darum, ob mit oder ohne eine ausgeprägte Retrospektive erzählt wird. Zum zweiten kann das Erzähler-Ich entweder seine eigene Geschichte erzählen (Zentralstellung) oder aber auch als Zeuge ('I as witness' oder 'Je témoigne') die Geschichte eines anderen erzählen. Aus diesen zwei Kriterien ergeben sich vier mögliche Formen der IchErzählsituation: 1) Retrospektive mit Zentralstellung des Ich-Erzählers (z.B. im autobiographischen 'Memoirenroman' wie Thomas Manns Felix Krull); 2) Retrospektive mit Randstellung des Ich-Erzählers (z.B. in Thomas Manns Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde, nämlich dem Ich-Erzähler Dr. phil. Serenus Zeitblom); 3) keine ausgeprägte Retrospektive bei Zentralstellung des Ich-Erzählers (wie im
Briefroman, z.B. Die Leiden des jungen Werthers von Goethe); und 4) keine ausgeprägte Retrospektive bei Randstellung des Ich-Erzählers (z.B. in den Detektivgeschichten von Arthur Conan Doyle, in denen Dr. Watson als IchErzähler über die Recherchen seines Freundes Sherlock Holmes erzählt). Diese vier Möglichkeiten der Ich-Erzählung lassen sich auch in erzählerischen Gebrauchsformen wiederfinden. Der erste Fall in Memoiren oder der Autobiographie (1), der zweite in der Biographie (2), der dritte im Brief (3) und der vierte in Reportage oder Bericht (4). © SR
Sekundärliteratur: 1. F.K. Stanzel: Typische Formen des Romans, Göttingen 1964. 2. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen 1989. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, Kap. 2.
8. Zwischenbilanz: Was heißt nun "Literatur"? 1. Gattungen Epik Lyrik Dramatik Johann Wolfgang von Goethe "Naturformen der Dichtung" 2. Epische, dramatische, lyrische Formen epische Formen ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
Epos Märchen Fabel Legende Sage Kalendergeschichte Schwank Anekdote Novelle Parabel Roman Schäferroman Abenteuerroman Briefroman Bildungsroman Ehebruchroman Kriminalroman Spionageroman Kurzgeschichte
dramatische Formen ● ● ● ● ●
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3. Strukturbildende Texte
Tragödie Komödie antike Tragödie Satyrspiel Passions- und Osterspiel Commedia dell´arte Shakespeare-Theater historisches Drama bürgerliches Trauerspiel lyrisches Drama Revolutionsdrama naturalistisches Drama episches Theater Lehrstück Dokumentartheater Parabeltheater Lesedrama Einakter Illusionstheater
lyrische Formen ● ● ●
Sonett Ballade Freie Rhythmen
Briefroman Goethe:"Die Leiden des jungen Werthers" Bildungsroman Goethe: "Wilhem Meisters Lehrjahre"
4. Die "vierte Gattung" Sach- und Gebrauchstexte private Gebrauchstexte wissenschaftliche Gebrauchstexte ● ● ● ●
Brief Tagebuch Autobiographie Memoiren
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Traktat Abhandlung Aufsatz Essay Monographie Biographie Rezension Kommentar Protokoll
didaktische Gebrauchstexte ● ● ● ● ● ● ●
Rede Predigt Vortrag Vorlesung Referat Sachbuch Schulbuch
publizistische Gebrauchstexte ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ●
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5. "Elementare Literatur" Jürgen Link Kollektivsymbolik 6. Literarische Wertung Literaturkritik Literaturgeschichte Literaturunterricht Trivialliteratur
7. Erwähnte Autoren und literarische Texte
Nachricht Chronik Bericht Reportage Interview Leitartikel Glosse Kolumne Feuilleton Flugblatt/Flugschrift Pamphlet Anzeige Werbetexte Porträt Kommentar, journalistischer Feature
Salman Rushdie Günter Grass Heinrich Böll
8. Texte zur Diskussion Jürgen Link: "Was heißt elementare und was institutionalisierte Literatur, und wie ist ihr Verhältnis zu denken?"(Word-Datei)
Ballade
Wie viele andere Gedichtformen auch, ist die Ballade ursprünglich ein von Tanzenden gesungenes Gedicht, das seine Wurzeln in den romanischen Ländern hat. In England wurde der Begriff Ballade im 18. Jahrhundert auf Volkslieder übertragen, die ein dramatisches Ereignis, auch mithilfe der Personenrede, erzählen. Seither ist die Ballade definiert als ein längeres Gedicht, das lyrische, epische (narrative) und dramatische Elemente verbindet. Im 18. Jahrhundert wurde die volkstümlich-traditionelle Ballade in Deutschland von Dichtern des Göttinger Hains (Höltys Romanzen, Bürgers Lenore) aber auch von Goethe (Der Erlkönig) und Schiller (Die Bürgschaft) zu einer neuen kunstvollen Form weiterentwickelt. Diese Tradition wurde von Heine (Atta Troll) und Fontane (Die Brück‘ am Tay) im 19. Jahrhundert, von Brecht und Biermann mit Rückbesinnung auf die volkstümlichen Wurzeln des Bänkelsangs im 20. Jahrhundert fortgesetzt. ©TvH
Sekundärliteratur: 1. W. Hinck: Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht. Kritik und Versuch einer Neuorientierung, Göttingen 1968. 2. H. Laufhütte: Die deutsche Kunstballade. Grundlegung einer Gattungsgeschichte, Heidelberg 1979. 3. W. Müller-Seidel (Hg.): Balladenforschung, Königstein im Taunus 1980.
Strophe griech.: Wendung
Die aus mehreren Versen bestehende, sich mehrfach wiederholende metrische Einheit eines Gedichts heißt Strophe. Die einzelnen Strophen sind durch eine Leerzeile voneinander getrennt. Von Strophen im strengeren Sinne spricht man, wenn diese sich durch strukturelle Übereinstimmungen in Metrum, Rhythmus und / oder Reim wiederholen. Anderenfalls, wie häufig in der modernen Lyrik, nennt man die deutlich voneinander abgesetzten Einheiten präziser Abschnitte. In den traditionellen lyrischen Formen sind Strophen durch ein streng geregeltes Metrum oder zusätzlich durch ein bestimmtes Reimschema charakterisiert. Wichtige Strophenformen sind: die antike Odenstrophe, die in der italienischen Lyrik entwickelten Terzine und Stanze, die konventionelle Volksliedstrophe und die aus der englischen Balladendichtung stammenden Chevy-Chase-Strophe. ©TvH
Sekundärliteratur: 1. F. Schlawe: Die deutschen Strophenformen. Systematischchronologische Register zur deutschen Lyrik 1600-1950, Stuttgart 1972.
Kurzgeschichte
Die Kurzgeschichte tritt im 20. Jahrhundert als kurze Prosaform in Konkurrenz zur Novelle. In ihr wird eine alltägliche Begebenheit erzählt, die einen charakteristischen Ausschnitt aus dem Leben der handelnden Figuren darstellt. (Deswegen hat man das Lesen einer Kurzgeschichte auch mit dem Aufspringen auf einen fahrenden Zug verglichen.) Ihre Wirkung entfaltet sich aus der Verdichtung des Geschehens, der Herausstellung des Alltäglichen als etwas Besonderen und aus ihrem meist lakonischen Sprachstil. Die auf das Wesentliche ausgerichtete Handlung der Kurzgeschichte ist klar und linear strukturiert. Das Erzählen setzt unvermittelt ein und führt mit dem ersten Satz oft mitten in die Geschichte hinein. Der Schluß wird offen gestaltet, um die "Mitarbeit" des Lesers anzuregen. Formal ist die Kurzgeschichte gekennzeichnet durch Aussparungen bei der Zeit-, Raum- und Figurendarstellung. Statt ausführlicher Beschreibungen dominieren Andeutung und Skizzenhaftigkeit. In Deutschland wurde die Kurzgeschichte durch den Einfluß amerikanischer Autoren nach 1945 sehr populär. Vor allem Ernest Hemingway, der als Meister der amerikanischen short story gilt, wurde deutschen Schriftstellern wie Heinrich Böll, Alfred Andersch oder Wolfgang Weyrauch in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum Vorbild. © SR
Sekundärliteratur: 1. K. Doderer: Die Kurzgeschichte in Deutschland. Ihre Form und ihre Entwicklung, Darmstadt 1973. 2. M. Durzak: Die Kunst der Kurzgeschichte, München 1994. 3. L. Marx: Die deutsche Kurzgeschichte, Stuttgart 1985.
Postmoderner Roman
Spätestens seit Umberto Eco 1983 eine Nachschrift zu seinem Weltbestseller Der Name der Rose publizierte, war der Begriff des "postmodernen Romans" in aller Munde. Obwohl Eco "Postmoderne" eher als "Geisteshaltung" denn als Epochenbezeichnung verstehen wollte, lieferte er folgenreiche Stichwörter für eine Diskussion, die in den USA in den Sechzigern begonnen hatte und in der Bundesrepublik etwa bis zur Jahrtausendwende virulent war. "Postmoderne Literatur", erklärte Eco, zeichne sich zunächst durch die Wiederentdeckung der Handlung (histoire) und des Vergnügens aus. Ihr Modus sei die Ironie, die jedem Authentizitätsanspruch eine Absage erteilt. Nicht zuletzt antworte der "postmoderne Roman" auf die experimentellen Ästhetiken moderner Avantgarden, die sich den Bruch mit der Vergangenheit auf ihre Fahnen geschrieben und die Literatur bis "zum Verstummen oder zur leeren Seite" getrieben hätten. Es versteht sich von selbst, dass die Bestimmung eines "postmodernen Romans" vom Verständnis des modernen abhängt. Weil die unterschiedlichen nationalliterarischen Traditionen mit sehr verschiedenen, teils einander entgegen gesetzten Moderne-Begriffen operieren, lässt sich auch das schillernde Konzept der "Postmoderne" kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen. In den USA hatte der Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler 1969 seinen programmatischen Aufsatz Überquert die Grenze, schließt den Graben bezeichnenderweise im Playboy veröffentlicht. Sein Ziel bestand darin, eine Verbindung zu schaffen zwischen populären Texten (etwa eines Mark Twain oder James Fenimore Cooper) und der so genannten Hochliteratur (eines James Joyce oder T.S. Eliot). "Postmodern" bedeutete in diesem Kontext also die Überwindung einer Epoche vermeintlich elitärer Kunstproduktion. In der spanischsprachigen Welt dagegen gilt schon die Literatur seit den dreißiger Jahren als "postmodern". Also auch der "Magische Realismus" lateinamerikanischer Autoren (wie Jorge Luis Borges und Julio Cortázar) mit seiner Vermischung von Fiktion und Realität. In Frankreich wiederum ist der Begriff - mit Ausnahme von Jean-François Lyotards wichtiger Schrift Das postmoderne Wissen - weniger breit diskutiert worden. Weil avantgardistische Bewegungen, vor allem der Nouveau Roman, das Bild der modernen französischen Nachkriegsliteratur entscheidend geprägt haben, wird dort eher von "postavantgardistisch" statt "postmodern" gesprochen. Für deutsche Leser blieb "postmoderne" Literatur lange Zeit diffus und suspekt nicht zuletzt, weil der einflussreiche Philosoph Jürgen Habermas die "Postmoderne" in die Nähe antiaufklärerischer Bestrebungen gerückt hatte. Dennoch lässt sich die Vielfalt der Konzepte versuchsweise synthetisieren. Ausgangspunkt ist eine Bestimmung des modernen Romans. Er reagiert auf den
Sinnverlust, auf Industrialisierung, Krieg und Entfremdung, die das Individuum in der modernen Massen- und Mediengesellschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfährt. In ästhetischer Hinsicht ist dieser moderne Roman gekennzeichnet durch den tiefen Zweifel, der Welt mittels Sprache habhaft zu werden. Permanente Selbstreflexionen über seinen Status als Sprachkunstwerk und Fiktion sowie über die Krise des Erzählens gehören zu den Kernpunkten seiner immanenten Poetik. Sie ist verbunden mit erzähltechnischen Experimenten, die das narrative Formenarsenal erweitern - sei es bei der Wahl der Erzählperspektive, der Darstellung von Zeit und Raum oder von Rede- und Bewusstseinsvorgängen. Dieser moderne Roman, so seine Kritiker, habe oft selbstbezügliche Textgebilde hervorgebracht, die keinerlei Bezug zur Realität aufweisen, also der mimetischen Illusion abschwören. Zudem hätten die avantgardistische Forderung nach Originalität und die daraus resultierende Logik der permanenten Selbstüberbietung zur Erschöpfung der literarischen Mittel geführt. Der "postmoderne Roman" führe aus der Krise. Er rückt ab vom Postulat der unbedingten Neuheit und Authentizität und arrangiert stattdessen bekanntes Material neu. Seine ausgeprägte Zitatkultur ist Ausweis des Bewusstseins, nicht mehr unschuldig erzählen zu können. Mit der Hochschätzung von Intertextualität geht ein Hang zu verschachtelten metafiktionalen Konstruktionen einher. Der aufklärerische Anspruch auf Weltdeutung wird weitgehend abgelöst von der Aufwertung des Spielerischen und des vollmundigen Fabulierens, das der Unterhaltungsfunktion von Literatur gerecht zu werden versucht. Populäre Genres wie der Kriminal- und der Abenteuerroman, aber auch Genremischungen, stehen hoch im Kurs. Autobiographische und fiktive Elemente gehen unauflösliche Verbindungen ein. Im Ergebnis solcher auf Pluralität abgestellter Textstrategien lassen sich die Romane auf verschiedenen Ebenen lesen (der Name der Rose also beispielsweise als Kriminalroman oder geschichtsphilosophische Abhandlung). Die Suche nach "Tiefe" und "Sinn" wird häufig durch "Ästhetiken der Oberfläche" ersetzt, die dem Charakter der zeitgenössischen Konsum- und Mediengesellschaft Rechnung tragen. Zu den wichtigsten Autoren, die dem "postmodernen Roman" zugerechnet werden, zählen John Barth und Thomas Pynchon in den USA, Italo Calvino und Umberto Eco in Italien, Patrick Süskind und Christoph Ransmayr im deutschsprachigen Raum. Natürlich sind die poetologischen Vorstellungen all dieser "postmodernen Romanciers" oft äußerst unterschiedlich. Zudem lassen sich zahlreiche Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche zu beobachten. Der forcierte Einsatz intertextueller Verfahren ist beispielsweise auch für avantgardistische Ästhetiken charakteristisch (Poststrukturalismus). Nicht zuletzt macht sich angesichts von unterstellter oder tatsächlicher Unverbindlichkeit Unbehagen breit. Seit Ende der neunziger Jahre hat das Konzept des "postmodernen Romans" jedenfalls spürbar
an konjunktureller Schwungkraft verloren. Was die Debatten indes geleistet haben, ist eine kulturelle Selbstverständigung über die offenbar bei weitem nicht ausgeschöpften Möglichkeiten, Formen und Funktionen des Romans. ©SR
Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose. München1986, S. 78.
Sekundärliteratur: 1. K.W. Hempfer (Hg.): Poststrukturalismus - Dekonstruktion Postmoderne, Stuttgart 1992. 2. U. Schulz-Buschhaus / K. Stierle (Hg.): Projekte des Romans nach der Moderne, München 1997. 3. Postmoderne. Eine Bilanz. Merkur 594/595, September/Oktober 1998.
Innerer Monolog/ quoted monologue
Mehr noch als die erlebte Rede haben die unterschiedlichen Arten der ´stummen direkten Rede´ die Funktion, das Denken oder Fühlen einer Figur möglichst unvermittelt wiederzugeben. Der Erzähler tritt in den Formen des ´quoted monologue´, wie Cohn sie nennt, also gänzlich zurück und überläßt der Figur das Terrain. Allen Varianten ist gemeinsam, daß sie syntaktisch wie direkte Rede konstruiert sind, nur eben nicht ausgesprochen werden. Es bietet sich an, diese Techniken nach historischen und grammatischen Gesichtspunkten zu unterscheiden. Die einfachste und älteste Form der direkten Gedankenwiedergabe ist das ´Selbstgespräch´. Es ist aus dem dramatischen Monolog bekannt und tritt meist mit Einleitungsformeln auf, die heute etwas altertümlich anmuten (wie: ´sagte er zu sich selbst´) oder sogar paradox erscheinen (wie: ´rief er in Gedanken aus´). Der ´Innere Monolog´ ist grammatisch durch die direkte Personenrede - im Indikativ des Präsens mit Aussagesubjekt in der ersten Person - und eine unabhängige Syntax gekennzeichnet. Im Unterschied zum ´Selbstgespräch´ werden hier weder ein ´verbum credendi´ noch Anführungszeichen der stummen Rede vorangestellt. Die Rede selbst ist durch den Stil der Figur sehr persönlich gefärbt. Mit dem ´Inneren Monolog´ hat der ´stream of consciousness´ (´Bewußtseinsstrom´) als die radikalste Form der ´stummen direkten Rede´ gemeinsam, daß er ohne einen Rahmen, den der Erzähler liefert, nur sehr schwer bestehen kann. Zwar erhält der Leser hier den unmittelbarsten Einblick in das Figurenbewußtsein, doch ist es fast unumgänglich, daß der Erzähler Informationen gibt, die über das Bewußtsein einer einzigen Figur hinausgehen. Praktisch wird die ´stream-of -consciousness´-Technik meist auch nur punktuell und in Verbindung mit anderen Formen der Gedankenwiedergabe eingesetzt. Als erster hat sie der Franzose Émile Dujardin in seinem Roman Der geschnittene Lorbeer (1888) verwendet. Ihren Siegeszug im modernen Roman hat sie allerdings mit dem Ulysses von James Joyce (1922) angetreten. Im ´stream of consciousness´ wird versucht, komplexe gedankliche Abläufe möglichst authentisch und realistisch wiederzugeben. Dies geschieht auf direktem Wege, d.h. ohne die ordnende Hand eines Erzählers. Statt der regelrechten Syntax des ´Inneren Monologs´ herrschen hier die Prinzipien der freien Assoziation, des Sprachspiels und der Lautmalerei. © SR
Sekundärliteratur:
1. D. Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton, N.J. 1978. 2. M. Martinez / M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, Opladen 1998, Kap.4.
Erzählzeit und erzählte Zeit
Analog zu den Strukturebenen 'histoire' und 'discours', die jeden narrativen Text konstituieren, kann man auch von einer 'doppelten' Zeit der Erzählung sprechen. Schon der "Praktiker" Thomas Mann stellte in dem Roman Der Zauberberg (1924) solche Beobachtungen an: "Die Erzählung", so konstatierte er, "hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann." (Mann, S. 570) (vgl. Romantheorie im Roman) Den Unterschied zwischen "musikalisch-realer" Zeit der Erzählung und Zeit "ihres Inhalts" hat aus literaturwissenschaftlicher Sicht erstmals Günther Müller (1946) genauer bestimmt. Seine entsprechenden Begriffe, nämlich 'Erzählzeit' und 'erzählte Zeit', haben in der Folge - nicht zuletzt durch seinen Schüler Eberhard Lämmert - große Verbreitung innerhalb der deutschsprachigen und internationalen Erzählforschung gefunden. 'Erzählte Zeit' meint dabei die Zeit, die in der Geschichte selbst, also auf der Ebene der 'histoire' vergeht (die Zeit des 'Inhalts'). Sie kann in der Regel durch fiktionsinterne Datierungen bestimmt werden. Beispielsweise vergehen in der biblischen Schöpfungsgeschichte (1. Buch Mose) 6 Tage zur Erschaffung von "Himmel und Erde und ihrem ganzen Heer" und ein siebenter Tag, an dem Gott ruht. Die 'Erzählzeit' hingegen meint die Spanne, die von der sprachlichen Realisierung, der Lektüre, erfüllt wird. Sie ist also eng verbunden mit der Ebene des 'discours'; bei der Schöpfungsgeschichte könnte man eine 'Erzählzeit' von 3 bis 5 Minuten festlegen. Da aber die individuellen Lesegeschwindigkeiten zu stark voneinander abweichen, ist es sinnvoll, diese Kategorie an der räumlichen Ausdehnung des Textes (also Seiten oder Zeilen) zu messen. Damit stehen einer 'erzählten Zeit' von 7 Tagen in diesem Beispiel eine 'Erzählzeit' von ca. 125 Zeilen gegenüber. Das Verhältnis dieser beiden Größen bezeichnet man als 'Erzählgeschwindigkeit' oder 'Erzähltempo'. Nun ist ersichtlich, daß diese Zahlen allein noch wenig Aufschluß über den Charakter einer Erzählung geben können. Interessant wird das Verhältnis 'Erzählzeit / erzählte Zeit' vor allem dann, wenn man unterschiedliche Texte oder verschiedene Partien eines längeren Textes (einer Erzählung oder eines Romans) miteinander in Beziehung setzt. So kann eine Erzählung beispielsweise auf 5 Seiten die gesamte Kindheit und Jugend einer Figur (ca. 20 Jahre) abhandelt, um sich dann auf 100 Seiten einem einzigen Jahr aus ihrem Leben zu widmen. Hier stehen sich verschiedene 'Erzählgeschwindigkeiten' gegenüber, die den 'Rhythmus' der Erzählung wesentlich bestimmen. Man könnte sagen, daß die Erzählung auf den ersten 5 Seiten sehr 'schnell' beginnt und dann auf den
folgenden 100 Seiten wesentlich 'langsamer' wird. Solche 'Rhythmuswechsel' sind der Regelfall einer jeden Erzählung. Beim Lesen bemerkt man sie meist nur intuitiv, doch mit dem Verhältnis 'Erzählzeit / erzählte Zeit' kann man sie genauer bestimmen und ihre Funktionen erklären. Die Tatsache, daß das Verhältnis von 'Erzählzeit' und 'erzählter Zeit' sehr stark variieren kann - von ihrem Zusammenfallen bis hin zur "sternenweiten Entfernung", wie Thomas Mann sagt - hat Eberhard Lämmert zum Ausgangspunkt genommen, um die unterschiedlichen Formen der Zeitraffung genauer zu untersuchen. © SR
Thomas Mann: Der Zauberberg, Frankfurt/M. 1986. Sekundärliteratur: 1. E. Lämmert: Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1967. 2. G. Müller: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze, Darmstadt 1968. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, Kap. 1.
Vortrag
Ein Vortrag ist die monologische mündliche Rede vor einem Publikum. Der Vortragende ist meist ein Experte, der sein Publikum über ein bestimmtes Thema belehren bzw. es dafür interessieren möchte. Im akademischen Kontext nennt man den Vortrag Vorlesung und unterscheidet die eigentliche, regelmäßige Vorlesung einerseits sowie die Bewerbungsvorlesung als Vortrag einer Arbeitsprobe, die Antrittsvorlesung als Präsentation eines zukünftigen Forschungsgebiets und den Gastvortrag eines externen Forschers zu einem bestimmten Thema. Ein Vortrag kann frei, anhand von Notizen oder auf Basis eines fertig ausgearbeiteten Textes gehalten werden. Den Vortrag einer Dichtung vor Zuhörern nennt man "Lesung", Deklamation oder Rezitation. Mittelalterliche Dichtung war explizit für den Vortrag bestimmt und dementsprechend aufgebaut. In der Rhetorik bezeichnet Vortrag (lat. actio, pronuntiatio) den eigentlichen Redeakt als fünften und letzten Schritt der sorgfältigen Ausarbeitung einer Rede. Während des Vortrags kann (und sollte) der Sprecher mit sprachlichen, gestischen und mimischen Mitteln seine Rede der gegebenen Stimmung im Publikum anpassen, um seine Wirkung zu steigern. © pflug Sekundärliteratur: 1. K.-H. Göttert: Einführung in die Rhetorik, München 1994. 2. H. F. Plett: Systematische Rhetorik, München 2000. 3. G. Ueding: Grundriß der Rhetorik, Stuttgart 1994.
Feministische Literaturwissenschaft / gender studies
Die feministische Literaturwissenschaft einheitliche Methode gibt es nicht; es gibt allenfalls viele heterogene Ansätze, die zeitweise unter dem Oberbegriff "Feminismus" zusammengefaßt wurden. Dabei reichen die methodischen Vorlieben und Anknüpfungspunkte von der Psychoanalyse über die historische Diskursanalyse bis zum Poststrukturalismus. Gemeinsam haben die feministisch arbeitenden LiteraturwissenschaftlerInnen zweifellos ein Interesse für frauenspezifische Themen; oftmals fühlen sie sich auch an die politische Frauenbewegung gebunden. Wer genauer über feministische Literaturwissenschaft sprechen will, muß sowohl eine diachrone als auch eine synchrone Perspektive in den Blick nehmen: die historische Entwicklung und die methodische Vielfalt. Als Geburtsurkunde der feministischen Literaturbetrachtung wird häufig Virginia Woolfs 1929 veröffentlichter Essay Ein Zimmer für sich allein genannt. Ihr geht es vor allem um die Fragen nach den historischen Bedingungen weiblicher Autorschaft, nach einer Literaturgeschichte der Frauen und nach der besonderen Qualität weiblichen Schreibens. Einen weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einer feministisch orientierten Literaturwissenschaft markierte Simone de Beauvoir 1949 mit ihrem Buch Das andere Geschlecht. Sie analysiert u.a. in literarischen Texten von Stendhal bis Lawrence die spezifischen Frauenbilder. In einer patriarchalischen Gesellschaft wird die Frau stets als das Andere imaginiert. Die Frau ist im Gegensatz zum männlichen Kulturmenschen ein Naturwesen, repräsentiert eine bedrohliche Sinnlichkeit oder ist ein schlechtes Beispiel, von dem sich der dargestellte Mann positiv abhebt, resümiert Beauvoir. Sowohl die von Woolf angeregte Frauenliteraturgeschichte (Archäologie weiblichen Schreibens) als auch die Frauenbildforschung bestimmen in den Siebziger- und Achtzigerjahren die feministische Literaturwissenschaft. Vor allem die letztere entwickelt sich zu den sogenannten weiter, indem sie nach dem Konstruktionscharakter von Frauen- und Männerbildern fragt, nach den literarischen Mechanismen, mit denen diese erzeugt werden, und nach den Strategien einer solchen Bildproduktion. Diese Forschungen machen deutlich, daß es sich bei den Kategorien Weiblichkeit und Männlichkeit (gender) um soziale Konstruktionen handelt, die sich je nach historischer Situation verändern können und nicht um biologisch determinierte Naturgegebenheiten (sex). Ein Beispiel für eine solche strategische literarische Konstruktion ist das Frauenbild der Aufklärung. Hier wird die Frau zum Naturwesen stilisiert und damit ihre neue Rolle als Hausfrau, Mutter und Heilerin des Mannes vorbereitet, der als Kulturmensch im Zuge eines fortschreitenden gesellschaftlichen Wandels die Gemeinschaft des ganzen Hauses verlassen muß, um sich in einer sich industrialisierenden arbeitsteiligen Welt den Verletzungen der öffentlichen Sphäre auszuliefern. Die Frau wird also nur scheinbar naturgegeben, tatsächlich
aber durch ihren (konstruierten) Geschlechtscharakter auf das Leben im Haus, in der privaten Sphäre festgelegt. Methodisch sind diese Arbeiten häufig der Diskursanalyse oder der Deconstruction orientiert. Eine grundlegend andere Denkrichtung schlagen poststrukturalistisch arbeitende französische Theoretikerinnen wie Helen Cixoux oder Lucy Irigaray ein, wenn sie nach einem spezifischen weiblichen Schreiben fragen, das sie nicht nur in der Literatur von Frauen und Männern aufzufinden glauben, sondern dieses Schreiben auch als das Ziel von Schreibprozessen ansehen. Sie versuchen mit Wortspielen, unkonventioneller Zeichensetzung und eigenwilligem, gebrochenen Stil die phallozentristische Logik zu durchbrechen und damit ein neues bzw. verschüttetes weibliches Schreiben und Denken zu etablieren. Fraglich bleibt dabei, ob sie von einer biologisch bestimmten Weiblichkeit ausgehen, die von der phallozentristischen Weltordnung unterdrückt wurde und die es im Schreiben wiederzuerlangen gilt, oder ob sie nicht vielmehr selbst wieder einer Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit folgen, die den Männern rationales, logisches Denken und Schreiben zuweist und den Frauen emotionales, unlogisches Denken und Schreiben. © rein Sekundärliteratur: 1. W. Erhart / B. Herrmann: Feministische Zugänge - >Gender studies<, in: H. L. Arnold / H. Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S.498-515. 2. B. Hahn: Vom Mittelweg der Frauen in der Theorie, in: K. - M. Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S.218234. 3. S. Weigel: Geschlechterdifferenz und Literaturwissenschaft, in: H. Brackert / J. Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1992, S.686-698.
Hörspiel
Das Hörspiel ist eine Kunstgattung, die durch die Erfindung des Rundfunks entstand und sich ganz allgemein zwischen Literatur und Musik verorten lässt. Als rein akustische Kunstform versucht das Hörspiel mit Stimmen, Geräuschen, Musik, radiophonen Effekten und Raumklang inneres und äußeres Geschehen darzustellen. Raum und Kulisse, Handlungen, Gedanken und Emotionen müssen im Hörspiel allein durch akustische Prozesse zum Ausdruck kommen; damit tritt an die Stelle des optisch Wahrnehmbaren die Imagination. In Differenz zum Feature sind es vornehmlich fiktionale Geschichten, die im Hörspiel im Vordergrund stehen, dabei oftmals aber einen direkten historischen Bezug erkennen lassen. Durch die Organisation des Rundfunks umfassen die Hörspiele i.d.R. einen Zeitraum von knapp einer Stunde, Kurzhörspiele und mehrteilige Produktionen werden weitaus seltener produziert. Bereits die ersten Hörspiele Mitte der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts verweisen auf zwei Formvarianten: Einerseits das traditionelle und bis heute dominierende, sich am Drama und der erzählenden Literatur orientierende Hörspiel, das versucht eine spannende und gleichsam 'unterhaltsame' Geschichte mit Hilfe unterschiedlicher akustischer Gestaltungsmittel zu erzählen. Diese Hörspiele sind häufig von Literaten verfasst, die auch im allgemeinen Literaturgeschehen von Bedeutung sind. So war etwa Alfred Andersch über Jahre hinweg in verschiedenen Redaktionen unterschiedlicher Rundfunkhäuser tätig und produktiv als Hörspielautor, was seinen Ruf ebenso begründete wie seine Tätigkeit als Schriftsteller. - Und andererseits gibt es das experimentell ausgerichtete, sich an neue Kunstformen annähernde Hörspiel, das sich mit Avantgardekunst auseinandersetzt und Verbindungen zu experimentellen Formen in Film, Musik, Sprach- und Bildender-Kunst herstellt und nutzt. Dementsprechend sind die Produzenten des experimentellen Hörspiels oftmals Musiker, Komponisten oder auch Filmemacher: Zu nennen sind z.B. Autoren wie Walter Ruttmann (Weekend, 1930), Franz Mon (das gras wies wächst, 1969), John Cage (Roaratorio, 1979) oder Andreas Ammer/F.M. Einheit (Crashing Aeroplanes, 2001). Beim Hörspiel sind entsprechende Entwicklungen wie in der Literaturgeschichte zu erkennen, was sich möglicherweise dadurch begründet, dass ein Großteil der Hörspielautoren in erster Linie Schriftsteller sind - im Bereich aller drei Literaturgattungen -, die damit auch gleichermaßen das Hörspielgeschehen beeinflussen. Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Friedrich Wolf gehören zu den frühen Jahren, Günter Eich, Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann sind wichtig für das Hörspiel der Nachkriegszeit, Tim Staffel, John von Düffel und Raoul Schrott für die Gegenwart. In der bisher unerwähnt gebliebenen Zeit des Nationalsozialismus nimmt das
Hörspiel eine Sonderstellung ein. Der politisch und ideologisch gleichgeschaltete Rundfunk produzierte weitaus weniger Hörspiele als das in der Weimarer Republik der Fall war, da nach Maßgabe des Propagandaministeriums Hörspiele nicht als geeignete Kunstform angesehen wurde, um die Massen zu bewegen. Dennoch wurden sie vereinzelt in Auftrag gegeben, wie dies an Günter Eichs Rebellion in der Goldstadt von 1940 zu erkennen ist. Höchste Auszeichnung für eine Hörspielproduktion im deutschsprachigen Raum ist der Hörspielpreis der Kriegsblinden, der seit 1950 alljährlich ein im vorherigen Jahr erstmals ausgestrahltes Hörspiel auszeichnet. HKö
Sekundärliteratur: 1. Döhl, Reinhard: Das Hörspiel zur NS-Zeit. Darmstadt 1992. 2. Schöning, Klaus: Neues Hörspiel. Essays, Analysen, Gespräche. Frankfurt/M 1970. 3. Würffel, Stephan Bodo: Das deutsche Hörspiel. Stuttgart 1978.
Biographie griech. bios gráphein: Lebensbeschreibung
Der Begriff Biographie wird heutzutage nur noch als Bezeichnung für die literarisch-künstlerische oder wissenschaftliche Beschreibung eines fremden Lebens verwendet, da die Selbstbeschreibung seit dem 18. Jahrhundert in der Autobiographie eine eigenständige Form mit ausgeprägtem Profil entwickelt hat. Einige Nebenformen innerhalb der Biographik sind der biographische Essay, das literarische Porträt oder auch der biographische Roman. Biographien stehen stets in einem Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Gebrauchs- und fiktionalen Texten - und historisch gesehen auch zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft. Weiter ist zu fragen, inwieweit sich das Verhältnis vom Einzelnen zum Allgemeinen auswirkt - also: kann ein einzelnes Leben als exemplarisch für eine Epoche gelten? Machen wirklich "große Männer die Geschichte"? Im Fall einer literaturwissenschaftlichen Dichterbiographie d.h. einer Biographie, die sich unter streng wissenschaftlichen Ansprüchen (etwa in Fragen der genauen Quellenkritik) Leben und Werk eines Autors widmet stellt sich zudem stets die Frage, inwieweit das Leben des Autors und sein Werk gleichzusetzen sind bzw. wie deren Verhältnis zueinander auszutarieren ist. Die Biographie in ihrer historischen Entwicklung ist stets Spiegel der herrschenden Auffassungen vom Individuum. Die relativ konstanten Muster der biographischen Formen in Antike und Mittelalter erklären sich vor dem Hintergrund festgefügter Weltbilder und relativ stabiler Sozialbeziehungen des Einzelnen. Biographien führen dann - vereinfacht gesagt - exemplarisch vorbildliche oder abschreckende Lebensverwirklichungen vor. In diesem Verständnis konnten sich auch Sammelbiographien (etwa nach Berufsgruppen strukturiert) einer gewissen Beliebtheit erfreuen. Erst in der Moderne lösen sich die starren Formen auf, da jetzt in komplexen und differenzierten Gesellschaftsformen weit unterschiedlichere Möglichkeiten der Lebensführung deutlich werden. Eine durch Anonymisierung und Entfremdung bestimmte Welt steigert das Interesse an Beispielen individueller Lebensgestaltung. Das führt zu der These, die Biographie sei ein Produkt gesellschaftlicher Krisenzeiten. Wir finden deshalb noch in den Massenmedien Schwundformen der Biographie in Interviews, Klatschspalten, biographischen Reportagen und Filmen (sog. Biopics). Die Geschichte der biographischen Formen beginnt in der Antike mit den zahlreichen rhetorischen Formen der Würdigung öffentlicher Personen (z.B. Toten- oder Festreden). Vor allem Sanmelbiographien waren bis weit ins Mittelalter beliebt, in dem vor allem Heiligenviten (mit Übergang zur Legende) gesammelt wurden. In der Renaissance verlagert sich der Blickwinkel auf bürgerliche Berufsgruppen, aber erst im 18. Jahrhundert beginnt sich die Form der Biographie eines herausragenden (bürgerlichen) Individuums durchzusetzen,
zumeist noch in biographischen Kleinformen wie etwa dem Essay. Das 19. Jahrhundert vollzieht den Schritt zur "großen" Biographie mit zwei Schwerpunkten: In der politischen Biographie wird das Leben "großer Männer" beschrieben, die "die Geschichte machen"; in den geisteswissenschaftlichen Biographien stehen herausragende Künstler und Wissenschaftler im Mittelpunkt. Während positivistisch orientierte Biographen ganze Faktenberge ansammeln, unter denen das beschriebene Individuum zu verschwinden droht, gibt es auf der anderen Seite eine Fülle von trivialen historisch-biographischen Romanen. Im 20. Jahrhundert lebt diese Form biographischer Belletristik fort: Die Popularbiographie, die sich - mal rührselig, mal voyeuristisch - den "Großen" dieser Welt nähert, beherrscht bis heute den Büchermarkt. Daneben gab und gibt es aber auch sehr anspruchsvolle Formen (psychologisierender) Biographien, die sich um eine Vermittlung zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Ansprüchen bemühen. © JK
Sekundärliteratur: 1. H. Koopmann: Die Biographie, in: K. Weissenberger (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen, Tübingen 1985, S. 45-65. 2. H. Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979. 3. H. Scheuer: Biographie. Überlegungen zu einer Gattungsbeschreibung, in: R. Grimm / J. Hermand (Hg.): Vom Anderen und vom Selbst, Königstein/Ts. 1982, S. 9-29.
metafiction
Als 'metafiktional' bezeichnet Patricia Waugh "fiktionale Erzähltexte, die selbstreflexiv und systematisch die Aufmerksamkeit auf ihren Status als Artefakte lenken, um damit die Beziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu problematisieren." (Waugh, S. 2) Häufig werden in diesen Texten die narrativen Konventionen bewußt durchbrochen, um die Illusion einer geschlossenen fiktiven Welt zu zerstören und ihre Künstlichkeit, ihr Gemachtsein zur Schau zu stellen (vgl. Mimesis). An sich ist dieses Verfahren schon sehr alt, wie ein Blick in Miguel de Cervantes' Don Quijote (1605-15) oder Laurence Sternes Tristam Shandy (1759-67) zeigt. Allerdings ist seine Bedeutung im sogenannten postmodernen Roman (wie Umberto Ecos Der Name der Rose von 1980) enorm angewachsen. In technischer Hinsicht läßt sich das Phänomen als eine Vermischung verschiedener narrativer Ebenen erhellen. Genauer: Die Grenzen, die der Autor mit dem Leser im Rahmen eines 'Fiktionsvertrages' (vgl. fiktionale und faktuale Texte) festlegt, und die üblicherweise als undurchlässig gelten, werden überschritten - und zwar in verschiedene Richtungen. Jeder Erzähltext erschafft ein räumlich-zeitliches Universum, in dem sich die Geschichte abspielt. Dieses Universum wird auch als 'Diegese' bezeichnet. Wenn nun innerhalb einer Erzählung ein zweiter Erzähler mit einer separaten Geschichte zu Wort kommt, haben wir es schon mit zwei 'Diegesen' und einer zweiten Erzählebene zu tun. Die zweite wird dabei von der ersten eingeschlossen.(Das sagt noch nichts über ihren verschiedenen Stellenwert aus die 'innere', die 'Binnenerzählung', kann weitaus wichtiger sein als die dazugehörige 'äußere', die 'Rahmenerzählung'). Diese Verschachtelung läßt sich theoretisch - bis ins Unendliche fortsetzen. Wo also eine Erzählung eine zweite hervorbringt, spricht Gérard Genette von 'metadiegetischer' Erzählung. Solange beide Universen säuberlich getrennt sind, ergeben sich daraus auch keinerlei Probleme. Verwirrungen verschiedenster Art treten erst auf, wenn die Grenzen zwischen ihnen durchlässig werden. Das geschieht z.B. in Michael Endes Unendlicher Geschichte. Hier wird der Leser Bastian in die Geschehnisse eines Buches hineingezogen, in dem er gerade liest. Von seinem ersten 'diegetischen' Universum, das er als Leser bewohnt, wechselt er in das zweite, nämlich das, von dem er liest. Der Übergang zwischen diesen zwei Ebenen wird häufig nicht einmal eigens angezeigt. (In der Unendlichen Geschichte sind die beiden Welten durch verschiedenfarbigen Druck voneinander abgesetzt.) In der Erzählung Park ohne Ende des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar findet eine Bewegung in die Gegenrichtung statt: Ein Mann, der im Sessel sitzend ein Buch liest, wird von einer Figur ermordet, die aus eben diesem Buch - und damit ihrem angestammten 'diegetischen' Universum - heraussteigt.
Diese vielfältigen Grenzüberschreitungen bezeichnet Genette als 'Metalepsen'. Allesamt sind sie dadurch gekennzeichnet, daß eine Schwelle überschritten wird, nämlich die "bewegliche, aber heilige Grenze zwischen zwei Welten: zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird". (Genette, S. 168f.) Natürlich müssen diese 'metafiktionalen' Verfahren nicht zwischen zwei Buchdeckel eingesperrt bleiben. Der italienische Erzähler Italo Calvino entzündet in seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht ein regelrechtes 'metafiktionales' Feuerwerk. Es beginnt mit den Worten: "Du schickst dich an, den neuen Roman ´Wenn ein Reisender in einer Winternacht´ von Italo Calvino zu lesen." Er läßt also nicht nur Figuren innerhalb eines Buches Grenzen überschreiten, sondern bezieht den realen Leser und den realen Autor mit ein. Neben vielen spielerischen und märchenhaft-phantastischen Effekten läßt 'Metafiktionalität' auch die klare Trennung zwischen realer und fiktiver Welt fragwürdig erscheinen. Selbstverständlich bleiben 'metafiktionale' Verfahren nicht auf die Literatur beschränkt. In Peter Weirs Film The Truman Show (1998) lebt die Figur Truman - lange Zeit ohne es zu wissen - in einem eigens für ihn eingerichteten gigantischen Fernsehstudio, dessen Kameras ständig auf ihn gerichtet sind. Tatsächlich ist er der Protagonist eines 24-StundenFernsehprogramms, das in alle Welt ausgestrahlt wird. Erst am Ende wird er sich seiner Scheinwelt bewußt und es gelingt ihm, die Grenze zur Realität, eine Betonkulisse, zu überwinden. Während es hier noch zweifelsfrei eine 'reale' Welt jenseits der Fiktion gibt, wird diese Sicherheit in der Literatur dagegen öfters verweigert. (z.B. in den Texten des Argentiniers Jorge Luis Borges) © SR
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Gérad Genette: Die Erzählung, hg. v. J. Vogt, München 1994. Patricia Waugh: Metafiction. The theory and practice of Self-Conscious Fiction, London u.a. 1984.
Schwank mhd. swanc: schwingende Bewegung, Streich (auch in übertragener Bedeutung)
Unter einem Schwank versteht man die kurze Erzählung (vor allem in Prosa) einer komischen Begebenheit aus dem Volksleben. Hier treten sich meist zwei Figuren gegenüber, von denen die eine der anderen scheinbar oder tatsächlich überlegen ist (z.B. Herr und Knecht, Kleriker und Laie, pfiffiger Student und einfältiger Bauer, Verführer und Naive usw.). Stofflich stehen bei den Konflikten zwischen beiden oft realitätsgebundene, derbe Situationen im Mittelpunkt, die auch Tabuthemen wie Sexualität und Körperfunktionen mit einbeziehen. Die Komik, die dabei entsteht, ist - anders als beispielsweise bei der Anekdote häufig aus der Situation geboren und hat nur selten einen intellektuellen Hintergrund. In ihrer sprachlichen Struktur führt die Schwankerzählung geradlinig und straff auf die Zuspitzung des Geschehens hin, das oft in einem witzigen, überraschenden Schluß, der sogenannten Pointe, gipfelt. Der Grundtypus mit nur einem Höhepunkt folgt dem Schema: Ein Einfältiger wird betrogen. In einem zweiten, komplizierteren Revanche-Typus überlistet der zuerst Betrogene anschließend seinerseits den Betrüger. Schwankhaftes Erzählen ist wohl in allen, auch sogenannten primitiven Kulturen bekannt. Die deutsche Schwankerzählung hat ihre Quellen unter anderem in lateinischen Lügenmärchen des 10./11. Jahrhunderts, mittelalterlichen Predigtmärlein und französischen Fabeln. Im 13. Jahrhundert wird sie zu einer selbständigen epischen Kleinform. In seinem Zyklus vom Pfaffen Amis bündelt der 'Stricker' verschiedene Schwänke und bezieht sie auf eine einheitliche Figur. In den Sammlungen des 16. Jahrhunderts (wie Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein von 1555 und den Werken von Hans Sachs, der die Struktur des Schwanks für seine dramatischen Werke nutzt) ist der Schwank nicht mehr nur ein lehrhaftes Prosastück. Immer stärker drückt er das entstehende bürgerlichliterarische Selbstbewußtsein aus. Schwanksammlungen wie Till Eulenspiegel (Erstdruck 1515) mit seinem durch intellektuelle Schärfe ausgezeichneten Helden, oder das Lalebuch (1597) mit der einfältig-passiven Figurengruppe der Schildbürger bilden später eigene Traditionsstränge in der Jugendliteratur heraus. © JV und SR
Sekundärliteratur: 1. E. Straßner: Schwank, Stuttgart 1978. 2. W. Theiss: Schwank, Bamberg 1985. 3. W. Wunderlich (Hg.): Eulenspiegel-Interpretationen. Der Schalk im Spiegel der Forschung 1807-1977, München 1979.
Fabel lat. fabula: Erzählung, Sage
Neben der (strukturellen) Handlungsebene des literarischen Textes (vgl. histoire und discours) meint der Begriff der Fabel (gattungspoetisch) eine scharf konturierte, wenn auch historisch wandelbare Kurzform der Epik. In diesem zweiten Sinne ist die Fabel eine lehrhaft-sozialkritische, notwendigerweise kurze Beispielerzählung in Versen oder Prosa. An ihrem Schluß wird meist eine Morallehre formuliert, die der Leser auf konkrete Fälle seines eigenen Erfahrungsbereiches anwenden kann. Die Handlung der Fabel findet meist in einem unrealistisch kulissenhaften Raum statt, der oft von einer angedeuteten Naturszenerie gebildet wird. Als Figuren treten vorwiegend Tiere, seltener Pflanzen und Dinge auf. Sie sind unterschiedlich stark vermenschlicht, besitzen also neben ihren natürlichen Eigenschaften auch Vernunft und Sprache. Menschen, verkörperte Abstrakta oder mythische Gestalten treten dagegen sehr selten auf. Die Fabelfiguren sind nicht psychologisch, sondern mechanistisch konstruierte Wesen, die bestimmte Eigenschaften verkörpern. Diese Qualitäten können den Figuren traditionell relativ fest zugeordnet sein (wie die Schlauheit dem Fuchs oder die Einfalt dem Esel). Die Handlung der Fabel verläuft linear und zeichnet soziale Konstellationen und politische Bewegungen nach - wie in den häufigen Szenen der Gerichtsverhandlung oder dem Reichstag im fiktiven Tierreich. Die Figuren fungieren dabei als Träger wichtiger sozialer Eigenschaften, wobei der Löwe häufig als König dargestellt wird. Es sind also häufig gesellschaftliche Konflikte, Episoden aus dem Kampf zwischen Mächtigen und Machtlosen, die die Fabelhandlung konstituieren. Dabei können sich die anfänglichen Machtverhältnisse entweder bestätigen und verschärfen, sie können aber auch in der Pointe in ihr Gegenteil umschlagen. Dementsprechend lassen sich die Lehren der Fabeln als Lebensregeln für konkrete Situationen verstehen, die zu Akzeptanz oder Kritik der bestehenden Verhältnisse anregen. Formal ist die Variationsbreite der Fabel begrenzt. Im typischen Bauschema folgt auf das "Beispiel" die "Lehre". Es gibt aber auch Formen mit vorangestellter "Lehre" und solche mit zweifacher "Lehre". In struktureller Hinsicht können Fabeln stärker dramatisiert (mit dialogischen Zuspitzungen) oder stärker episiert (mit ausschmückenden Beschreibungen der Situation) erscheinen. Letztlich entscheidet die Absicht des Autors darüber, ob der belehrende, kritisierende, satirische oder auch fabulose Stil in der Darstellung überwiegt. Die ältesten Fabeltexte stammen aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. aus Mesopotamien. Die europäische Tradition ist durch die Rezeption orientalischer Sammlungen, aber vor allem durch die griechischen Fabeln des Sklaven Äsop (6.
Jahrhundert v. Chr.) geprägt. Durch die Vermittlung des lateinischen Dichters Phaedrus und die Auflösung seiner Verse in Prosa gelangte das äsopische Fabelgut ins Mittelalter. Bedeutende Dichter des deutschen Spätmittelalters sind der 'Stricker' mit seinen religiös motivierten bíspeln (mhd.: Beispiele) um 1230, der eher sozialkritische Hugo von Trimberg (um 1310) und Ulrich Boner mit seiner sehr populären Sammlung Der Edelstein (gegen 1350). Eine erste Blüte erlebte die Fabeldichtung in der Zeit der Reformation und des Humanismus. Im neuen Medium des gedruckten Buches veröffentlichten Heinrich Steinhöwel (um 1480) oder auch Martin Luther (postumer Druck 1557) ihre Werke. Während das deutsche Barock die Fabel verachtete, führte sie der französische Dichter Jean de La Fontaine mit seinen Fables (1668-1694) auf einen weltliterarischen Höhepunkt. Als klassischer englischer Fabelautor steht John Gay (1685-1732) neben ihm. Der Rationalismus der Aufklärungsepoche brachte der deutschen Fabel, besonders zwischen 1740 und 1770, eine zweite Blütezeit. Neben Friedrich von Hagedorn, Christian Fürchtegott Gellert und anderen ragt vor allem Gotthold Ephrahim Lessing hervor. Er kritisierte La Fontaines Auffassung der Fabel als gefällig-amüsante und episch ausgeschmückte Erzählung und entwickelte eine eigene Theorie, in der er eine prägnat-intellektuelle Kurzform forderte und auch selbst praktizierte. Lessing definierte die Fabel so: "Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Fall die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine Fabel." (Abhandlungen zur Fabel, 1759) Von einigen Autoren wie August Christian Fischer mit seinen Politischen Fabeln von 1796 oder Gottlieb Konrad Pfeffel - wurde die Sozialkritik der Fabel bis zu einem revolutionären Antifeudalismus verschärft. Im 19. Jahrhundert gilt der Russe Iwan A. Krylow (1768-1843) als ein hervorragender Fabeldichter. In Deutschland wird die Fabel zur gleichen Zeit immer mehr als Lesegut für Kinder festgelegt, so in Wilhelm Heys zum Sentimentalen neigenden Fünfzig Fabeln für Kinder aus dem Jahr 1835. © JV und SR
Gotthold Ephraim Lessing: Abhandlung zur Fabel. Sekundärliteratur: 1. R. Dithmar: Die Fabel. Geschichte, Struktur, Didaktik, Paderborn 1997. 2. P. Hasubek (Hg.): Die Fabel. Theorie, Geschichte und Rezeption einer Gattung, Berlin 1982. 3. E. Leibfried: Fabel, Stuttgart 1982.
Parabel griech. parabole: Gleichnis
Die Parabel ist eine Gleichniserzählung und wird häufig zur didaktischen Literatur beziehungsweise zur sogenannten Lehrdichtung gezählt. Im Unterschied zu der verwandten Kleinform der Fabel, in der die Bedeutung des Erzählten formelhaft und explizit zugespitzt wird, werden in der Parabel Begebenheiten der menschlichen Welt erzählt, deren Bedeutung der Leser durch Analogieschluß ermitteln muß. Ebenso wie in der Fabel umfaßt diese Bedeutung oft ein bestimmtes Sozialverhalten (wie Nächstenliebe oder Toleranz). Allerdings ist seine Grundlage nicht in der Sphäre der Machtpolitik, sondern ursprünglich in einer meist religiösen Sittlichkeit angesiedelt. Die literarische Tradition der Parabel ist im Vergleich zur Fabel weit weniger kontinuierlich und breit. Sie tritt nur selten als isolierte epische Form auf, dagegen findet man sie häufig als gleichnishafte Episode in eine epische, dramatische oder pragmatische Großform eingebettet. Dies gilt zum Beispiel für die Gleichniserzählungen des Neuen Testaments (wie das Gleichnis vom Verlorenen Sohn oder das vom barmherzigen Samariter), aber auch für die daran anknüpfenden parabolischen Exempla (Beispiele) in der mittelalterlichen Predigtliteratur bis hin zur Ringparabel in Lessings dramatischen Gedicht Nathan der Weise (1779), die ihrerseits aus der Novellensammlung Il Decamerone von Giovanni Boccaccio (um 1350) entlehnt ist. Mit dem wichtigsten Strukturmerkmal des Vergleichs von zwei unterschiedlichen Gegenstandsbereichen ist die Parabel besonders dazu geeignet, den Rezipienten zu aktivieren und auf eine künstlerische Weise verschiedene Erkenntnisprozesse zu befördern. Brechts "Parabelstücke", aber auch seine kurzen "Prosaparabeln" (wie zum Beispiel Geschichten vom Herrn Keuner, entstanden nach 1930) werden so zum Medium von Reflexion und Instruktion über das Verhalten in der Gesellschaft. Mit Franz Kafkas Parabelerzählungen dagegen wird die Zweideutigkeit, die mit dieser Form verbunden ist, zur prinzipiellen Unabschließbarkeit des Gleichnisses gesteigert. Ein einziger Sinn oder eine einzige schlüssige Interpretation läßt sich nicht mehr ermitteln. Der Sinn der Parabel selbst wird zum Ausdruck des "Verblendungszusammenhangs" einer entfremdeten Gesellschaft. © JV und SR
Sekundärliteratur: 1. J. Billen (Hg.): Die deutsche Parabel. Zur Theorie einer modernen Erzählform, Darmstadt 1986. 2. T. Elm (Hg.): Die Parabel. Parabolische Formen in der deutschen Literatur
des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1986. 3. T. Elm: Die moderne Parabel. Parabel und Parabolik in Theorie und Geschichte, München 1991.
Kalendergeschichte
Der Begriff Kalendergeschichte ist eine Sammelbezeichnung für kürzere Prosaerzählungen, die Elemente des Schwanks, der Anekdote, der Parabel und andere in sich vereinigen. In ihnen werden heitere oder merkwürdige Begebenheiten erzählt, die meist aus dem volkstümlich-alltäglichen Erfahrungsbereich stammen. Sie werden in einer an die mündliche Überlieferung angelehnten Sprache mit meist unterhaltsamer, besinnlicher oder belehrender Absicht erzählt. Vereinzelt schon im 17. Jahrhundert, vor allem aber ab dem 18. Jahrhundert ergänzen Kalendergeschichten den kalendarisch-informativen Teil des (besonders südwestdeutschen) Volkskalenders. Damit waren sie - neben der Bibel und dem Gesangbuch - meist das einzige Literaturmedium der bäuerlichen Bevölkerung. Kennzeichnend für die Kalendergeschichte ist nicht die durchgehend strukturelle Einheitlichkeit, sondern eher eine individuelle, stilistisch-gehaltliche Homogenität. Vor allem Johann Peter Hebel hat mit seinen gesammelten Kalendergeschichten im Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes von 1811 diese epische Form geprägt und die ursprüngliche Verschiedenheit der Texte vergessen lassen. Die besondere Qualität der Hebelschen Geschichten wurde sowohl von Zeitgenossen wie Goethe, Tieck und Jean Paul als auch von späteren Lesern wie Ernst Bloch immer wieder herausgestellt. Ihre Originalität besteht in der paradoxen Verbindung von Volksnähe und aufklärerischer Urbanität, dialektnaher Sprache und erzähltechnischem Raffinement, von anarchischen Impulsen, Frömmigkeit und Einverständnis mit dem Bestehenden. Die sich an Hebel anschließende Tradition der Kalendergeschichte fiel im 19. Jahrhundert allerdings wieder in die ideologische Enge der sogenannten "Dorfgeschichte" (z.B. bei Berthold Auerbach oder Peter Rosegger) zurück. Im 20. Jahrhundert interessierten sich u.a. Franz Kafka und Walter Benjamin für diese epische Kurzform. Bertolt Brecht "zitierte" mit seinen um 1940 entstandenen Kalendergeschichten die Form und ihre zuweilen antiautoritäre Lehrhaftigkeit, um sie für sein Projekt einer gegenbürgerlichen sozialen Verhaltenslehre zu nutzen. ©JV und SR Sekundärliteratur: 1. J. Knopf: Die deutsche Kalendergeschichte. Ein Arbeitsbuch, Frankfurt/M. 1983. 2. L. Rohner: Kalendergeschichte und Kalender, Wiesbaden 1978. 3. H. Schlaffer (Hg.): Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes. Ein Werk in seiner Zeit. Mit Bilddokumenten, Quellen,
historischem Kommentar und Interpretationen, Tübingen 1980.
Legende lat. legenda: das zu Lesende
Legenden waren ursprünglich mittelalterliche Leidensgeschichten von Märtyrern, Heiligen und religiösen Autoritäten, die bei kirchlichen Anlässen verlesen wurden. Später wurde der Begriff vor allem zur Sammelbezeichnung für die schriftlich fixierten 'Viten' (Lebensgeschichten) der Heiligen. Schon im 15. Jahrhundert tauchen Legenden jedoch auch im außerkirchlichen Bereich auf. Hier meinen sie nichtbeglaubigte Berichte oder unwahrscheinliche Geschichten, die eng mit einem volkstümlichen, später auch mit einem kunstvoll-literarischen Erzählen verbunden sind. In dieser verweltlichten Form werden die Legenden zu moralisch-didaktischen Erzählungen über außergewöhnliche Schicksale, die nicht nur im Rationalen gründen. Eine der frühesten Legendensammlungen sind die Dialogi demiraculis patrum Italicorum (590/604) von Papst Gregor. Die Sammlung Acta Sanctuorum, 1643 von J. Bolland begonnen, vereinigt chronologisch geordnete Legenden und wird bis heute fortgeführt. Während die sakralen Legenden für den liturgischen Gebrauch meist weiterhin in Versen verfaßt wurden, entstanden im weltlichen Bereich immer mehr Prosa-Legenden, die sich mit der Form des höfischen Epos vermischten (wie beispielsweise in Hartmann von Aues Der arme Heinrich von 1195 oder Wolfram von Eschenbachs Parzival von 1200/10). In der Zeit der Renaissance und der Reformation hingegen wurde die Prosa-Legende öfters zur volkstümlichen Form, die andere Elemente in sich aufnahm (z.B. schwankhafte bei Hans Sachs: Schwänke von St. Peter, 1553-57). Während die rationalistisch ausgerichtete Aufklärung oft nur Spott und Verachtung für diese Form übrig hatte, kam sie in der Klassik und Romantik wieder zu größerer Geltung. Danach diente sie (in ihrer verweltlichten Variante) noch des öfteren zur Darstellung außergewöhnlicher psychologischer oder historischer Konflikte (z.B. bei Gottfried Keller oder Conrad Ferdinand Mayer). Brecht benutzte ihre Form (wie so viele andere) zitierend und parodierend und schrieb ihr seine eigenen sozialkritischen Absichten ein (Legende vom toten Soldaten von 1918). © JV und SR
Sekundärliteratur: 1. H.P. Ecker: Die Legende. Kulturanthropologische Annäherung an eine literarische Gattung, Stuttgart 1993. 2. H. Rosenfeld: Legende, Stuttgart 1982. 3. H. Walz (Hg.): Legende, Berlin 1986.
Sage
Die Sage ist eine zunächst mündlich wiedergegebene volkstümliche Erzählung, die in allen Kulturen anzutreffen ist. Anders als dem Märchen liegt ihr eine wirkliche Begebenheit an einem realen Ort zugrunde. Trotz aller Phantastik, die ihr eigen ist, wird sie deshalb - wiederum im Unterschied zum Märchen - für 'wahr' gehalten. Obwohl es meist einen persönlichen, wenn auch anonymen Verfasser gibt, kann der Erzähler der Sage als die Stimme eines bestimmten Kollektivs verstanden werden. Von dessen Wirklichkeit erzählt er nicht zuletzt, um zuweilen recht wunderbare Lösungen für reale Probleme der Gemeinschaft zu finden. Als Erzählung unwirklicher Ereignisse steht die Sage natürlich in enger Beziehung zum Märchen, in der kollektiven Rezeption und der Einlassung mythischer Elemente (wie Wassergeister, Hexen und Götter) ist sie dem Epos verwandt. Beide Formen können sich beispielsweise in Gestalt der mittelalterlichen Heldensagen vermischen. Allerdings sind Sagen meist kürzere Erzählungen; vor allem sind sie eng an ihre Entstehungsregion gebunden (im deutschen Sprachraum etwa thüringische, erzgebirgische, nordfriesische Sagen). Durch die ursprünglich mündliche Weitergabe entstanden viele verschiedene Variationen des selben Stoffes. Da die Sage nicht nur der volkstümlichen Unterhaltung dient, sondern auch historisches Wissen übermittelt, wird sie wichtig für die Bildung regionaler und nationaler Identitäten. Erst unter dem Einfluß der nationalen Strömungen begann man in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der gezielten Sammlung und Herausgabe von Sagen. Ähnlich wie bei den Märchen haben sich hier die Brüder Grimm mit ihren Deutschen Sagen von 1816/18 oder auch Ludwig Bechstein mit seinen eigenständigen Bearbeitungen von Sagenstoffen verdient gemacht. Sagenhafte Elemente sind seitdem in andere Erzählformen eingegangen, wie zum Beispiel in Theodor Storms Schimmelreiter von 1888 oder Gerhart Hauptmanns Der arme Heinrich von 1902. Wie auch Märchen und Mythen werden die Sagen in der Gegenwart von verschiedenen Schriftstellern teils für Kinder, teils für Erwachsene nacherzählt. Auch spielen Neueditionen von Sagen im Zuge der Entwicklung eines Regionalbewußtsein heute wieder eine größere Rolle. © JV und SR
Sekundärliteratur: 1. L. Petzoldt: Märchen, Mythos, Sage. Beiträge zur Literatur und Volksdichtung, Marburg 1989. 2. L. Röhrich: Sage und Märchen. Erzählforschung heute, Freiburg 1976.
3. H.G. Rötzer (Hg.): Sage, Berlin 1982.
Märchen mhd. maere: Kunde, Nachricht
Das Märchen ist eine kürzere Prosaerzählung, die wunderbare Begebenheiten zum Gegenstand hat. Im Unterschied zur Sage sind sie frei erfunden und knüpfen nicht an tatsächlich Vorgefallenes an. Die Märchenhandlung ist weder zeitlich noch räumlich festgelegt. Das phantastische Element kommt in sprechenden Tieren und Gegenständen, Verwandlungen und Verzauberungen zum Ausdruck. Grausame Elemente (wie harte Strafen) weisen auf die Verwandtschaft mit dem Mythos hin. Während im Mythos allerdings das Gute und das Böse noch unterschiedslos vereint ist, werden die verschiedenen Kräfte im Märchen in der Regel säuberlich getrennt (oft in Form guter und böser Figuren). Diese klare Aufteilung und die relativ einfache Struktur prägen die Form des Märchens. Inhaltlich steht meist ein Held im Mittelpunkt, der Auseinandersetzungen mit guten und bösen, natürlichen und übernatürlichen Kräften bestehen muß. In sprachlicher Hinsicht finden sich viele Redensarten und Sprichwörter. Der russische Folklore-Forscher Vladimir Propp untersuchte 1928 einhundert russische Zaubermärchen und kam zu dem Resultat, daß sie alle ihrer Struktur nach einem gemeinsamen Typ angehören. Immer wieder treten die selben Figuren (nämlich sieben Handlungsträger oder "Aktanten") auf. Die Handlungselemente ("Funktionen") lassen sich zwar in verschiedenen Kombinationen finden, sind aber in ihrer Zahl prinzipiell begrenzt (auf einunddreißig - wozu die Ausfahrt des Helden, der Kampf mit seinem bösen Gegenspieler und schließlich die Heirat mit der "Zarentochter" gehören). Auch wenn Propp sich bewußt auf Zaubermärchen aus der russischen Überlieferung beschränkte, können doch ähnliche Strukturen und Stoffe in verschiedenen Sprachgemeinschaften auftreten und auf einen eventuellen gemeinsamen Ursprung zurückverweisen (internationale Typen sind beispielsweise Dornröschen oder Aschenputtel). Eine wichtige Rolle spielten die Märchen für die Entwicklung des Nationalbewußtseins und der Nationalliteraturen. Vor allem in der Romantik wurden zahlreiche Sammlungen von Volksmärchen angelegt (hier ragen die Volksmärchen der Deutschen von J.K.A. Musäus aus den Jahren 1782/87 heraus). Die Begründer der Germanistik, Wilhelm und Jakob Grimm, verbanden ihre berühmte Märchensammlung Kinder- und Hausmärchen (1812/15) mit wegweisenden Verfahren der wissenschaftlichen Editionstechnik. Zu erwähnen ist auch Ludwig Bechsteins Deutsches Märchenbuch von 1845. Dem anonymen und mündlich überlieferten Volksmärchen, das einem festen narrativen Schema folgt und sich an ein jugendliches Lesepublikum wendet, steht die stärker literarisierte Form des Kunstmärchens gegenüber. Hier ist es ein klar
identifizierbarer Autor, der seine Märchenerzählungen schriftlich fixiert. Diese häufig an symbolischer Darstellung interessierte Form verbindet sich mit dem Anspruch auf geistvolle Unterhaltung. Einer der wesentlichen Initiatoren der Kunstmärchenproduktion war Johann Gottfried Herder. Wichtige Autoren sind Goethe (Märchen, 1795) und wiederum vor allem romantische Schriftsteller wie Ludwig Tieck, Adalbert von Chamisso, E.T.A. Hoffmann, Clemens Brentano und Wilhelm Hauff. Im Unterschied zu ihnen, die eher ein erwachsenes Publikum im Blick hatten erzählte der dänische Dichter Hans Christian Andersen seine Märchen für Kinder (Eventyr fortalte for børn, 1835/41). Im 20. Jahrhundert beschäftigten sich Schriftsteller im Zusammenhang mit der Nacherzählung von Mythen auch mit dem Märchen, wie zum Beispiel Franz Fühmann. © JV und SR
Sekundärliteratur: 1. C. Gansel (Hg.): Zwischen Märchen und modernen Welten. Kinder- und Jugendliteratur im Literaturunterricht, Frankfurt/M. 1998. 2. M. Lüthi: Märchen, bearbeitet v. H. Rölleke, Stuttgart 1996. 3. V. Propp: Morphologie des Märchens, Frankfurt/M. 1975.
Anekdote griech. andekdoton: das nicht Herausgegebene
Als 'anekdoton', also 'das nicht Herausgegebene', hatte Prokopios im 6. Jahrhundert ein kritisches Geschichtswerk mit Indiskretionen über den Kaiser Justinian bezeichnet, das erst nach dessen Tod erschien. Seither gilt die Anekdote als eine zunächst mündlich verbreitete Erzählung einer Episode aus dem Leben einer bekannten historischen Persönlichkeit (meist ein Herrscher, Militär oder Künstler). Ihr strukturelles Merkmal besteht darin, an einem scheinbar zufälligen Detail - wie einer Äußerung oder einer Handlungsweise - die charakteristische Eigenart dieser Person zu verdeutlichen, eine repräsentative Momentaufnahme zu entwerfen. Im Mittelalter wurde sie noch - wie der Schwank - als Exempelerzählung genutzt. Oft ist der knappe Handlungsverlauf von einer überraschenden Wendung am Ende gekennzeichnet. Heinrich von Kleist hat diese literarische Form, die Unterhaltung durch eine Neuigkeit und Phantasie auf Seiten des Rezipienten miteinander verbindet, in den Anekdoten fruchtbar gemacht, die er um 1811/12 in seinen Berliner Abendblättern veröffentlichte. Andere wichtige Autoren sind beispielsweise Johann Peter Hebel (Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes, 1811) und im 20. Jahrhundert Wilhelm Schäfer, dessen Anekdoten mit Tendenz zur Form der Novelle ab 1908 erschienen. Neben ihrem Fortbestehen als eigenständiger Kunstform hat die anekdotische Darstellung Eingang in vielerlei verschiedene Literaturformen gefunden. © JV und SR
Sekundärliteratur: 1. H. Grothe: Anekdote, Stuttgart 1984. 2. S. Hilzinger: Anekdotisches Erzählen im Zeitalter der Aufklärung. Zum Struktur- und Funktionswandel der Gattung Anekdote in Historiographie, Publizistik und Literatur des 18. Jahrhunderts, Mainz 1997. 3. V. Weber: Anekdote, die andere Geschichte. Erscheinungsformen der Anekdote in der deutschen Literatur, Geschichtsschreibung und Philosophie, Tübingen 1993.
Commedia dell’arte
Die Commedia dell’arte ist eine besonders interessante Variante des Schauspiels in der Theatergeschichte. Sie ist eine im Italien des 16. Jahrhunderts erfundene Stegreifkomödie, die den Berufsschauspielern keinen feststehenden Text vorgab, sondern nur Typen und stereotype Handlungsabläufe sowie Verwicklungen, die spontan auf der Bühne variiert und sprachlich ausgestaltet wurden. Es gibt folglich keine überlieferten Stücke, sondern nur Modellbücher zur Improvisation bestimmter Szenen. Die Typen der Commedia dell’arte sind in Italien fast sprichwörtlich geworden: der Dottore, ein schwatzhafter, gelehrter Pedant aus Bologna, oder Pantalone, der einfältige Vater, der vornehme Kaufmann und der geprellte Ehemann aus Venedig. Aber nicht nur für die Italiener erlangte die Commedia dell’arte Bedeutung, sie übte auch Einfluß auf die Theaterentwicklung anderer europäischer Länder aus, indem Wandertruppen durch ganz Europa reisten. Noch Gottsched versuchte mit seinen Reformen in Leipzig den Einfluß der Commedia dell’arte mit ihren eingestreuten Witzen, Tanz-, Musik- und Zaubereinlagen, ihrer Akrobatik und ihren mimischen Scherzen zurückzudrängen. Selbst in unserem Jahrhundert ist die Commedia dell’arte noch von Bedeutung, nach 1947 wurde sie z.B. von Giorgio Strehler – dem führenden italienischen Regisseur und Theaterleiter - wiederbelebt. ©rein
Sekundärliteratur: 1. P. Larivaille: Commedia dell’arte, in: M. Branneck / G. Schneilin (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, Reinbek bei Hamburg 1986. 2. W. Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie, Stuttgart 1965.
Revolutionsdrama
Das Revolutionsdrama ist eine Variante des historischen Dramas. Dient die Revolutionsdichtung meist der direkten Agitation, versucht sie also unterstützend in das Revolutionsgeschehen einzugreifen, so beschränkt sich das Revolutionsdrama auf die Darstellung revolutionärer Umwälzungen aus einer bereits historischen Distanz. Berühmte Beispiele für deutsche Revolutionsdramen sind Büchners Dantons Tod (1835) und Peter Weiss‘ Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1964). ©rein
Sekundärliteratur: J. Rühle: Literatur und Revolution, o.O. 1960.
Lyrisches Drama
Der Begriff lyrisches Drama hat in der deutschen Theatergeschichte zwei Bedeutungen: Einerseits sind lyrische Dramen im 18. Jahrhundert Textvorlagen für die Vertonung, dienen also als Grundlage für eine Oper oder ein Singspiel mit melodramatischen Themen, die das Gefühl stark in den Vordergrund stellen, so z.B. Goethes Proserpina (1778). Andererseits versteht man unter der Bezeichnung lyrisches Drama ein sehr handlungsarmes Schauspiel, das sich durch eine lyrisch-stilisierte Sprache auszeichnet und meist durch den Monolog einer Hauptperson tief in seelische Zustände blicken läßt. Einer der Hauptvertreter im 18. Jahrhundert war Klopstock, um 1900 gilt Hofmannsthal als der 'lyrische Dramatiker' schlechthin. ©rein
Sekundärliteratur: 1. A. Köster: Das lyrische Drama im 18. Jahrhundert, in: Preußisches Jahrbuch 68 (1891). 2. P. Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle, 1975.
Dokumentartheater
Das Dokumentartheater ist eine Sonderform des politischen Theaters der 1960er Jahre. Es steht in der Tradition Brechts und seines 'epischen Theaters', das mittels der Bühnenpräsentation dramatischer Werke das Publikum zu politischen Handlungen motivieren wollte. Die Vertreter des Dokumentartheaters sind enttäuscht von der Wirkungslosigkeit der Brechtschen Parabel und sie setzen auf eine neue Form der Dramatik, indem sie mehr oder weniger unverändert historisch-authentische Szenen oder Quellen auf die Bühne bringen. Das bekannteste Beispiel eines dokumentarischen Theaterstücks ist Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen (1965) von Peter Weiss, das den Versuch einer Darstellung des Auschwitz-Prozesses (1963-65) unternimmt. Weiss präsentiert den Prozeß nicht in seiner Gänze, sondern wählt aus den Aussagen der 18 Angeklagten, die Angehörige des Aufsichts-, Sanitäts- und Wachpersonals von Auschwitz waren, und der 300 Zeugen ein Konzentrat aus. Das Dokumentartheater ist immer wieder kritisiert worden, es sei nicht künstlerisch, es wähle die Dokumente subjektiv aus und verfälsche damit die Wirklichkeit, es überschätze die Wirkungsmächtigkeit der Realität und verfehle damit die intendierte Wirkungsabsicht, usw. Gegen diese kritischen Argumente kann man nicht nur die große öffentliche Resonanz des Dokumentartheaters ins Feld führen, sondern auch die Bedeutung einer Thematisierung verschwiegener bzw. verdrängter historischer Problemkomplexe. ©rein
Sekundärliteratur: 1. B. Barton: Das Dokumentartheater, Stuttgart 1987. 2. H. Geiger: Dokumentartheater: Hochhuth und Weiss, in: E. Schütz / J. Vogt u.a.: Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts. Bd. 3: Bundesrepublik und DDR, Opladen 1980, S. 153-167. 3. K.H. Hilzinger: Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, Tübingen 1976.
Sonett
Ursprünglich eine italienische Gedichtform (mit einem Höhepunkt im Canzionere Petrarcas), breitete sich das Sonett schnell über ganz Europa aus. Das vierzehnzeilige Gedicht besteht aus zwei über Reime miteinander verbundenen Quartetten und zwei anschließenden Terzetten. Keine andere lyrische Form ist derart strikt festgelegt wie das Sonett, denn Versmaß, Reim, Strophenform und Länge des Gedichtes sind vorgegeben. Martin Opitz beschreibt in seinem Buch von der Deutschen Poeterey die komplizierte Form des Sonetts: "Ein jeglich Sonnet [sic!] aber hat viertzehen verse / vnd gehen der erste / vierdte / fuenffte vnd achte auff eine endung des reimens auß; der andere / dritte / sechste vnd siebende auch auff eine. Es gilt aber gleiche / ob die ersten vier genandten weibliche termination haben / vnd die andern viere maennliche: oder hergegen. Die letzten sechs verse aber moegen sich zwar schrencken wie sie wollen; doch ist am braeuchlichsten / das der neunde vnd zehende einen reim machen / der eilffte vnd viertzehende auch einen / vnd der zwoelffte vnd dreyzehende wieder einen." (S. 53) Das klassische Versmaß der italienischen Sonette ist der Endecasillabo oder Elfsilbler, im Französischen herrscht der Alexandriner vor. Shakespeare entwickelte eine eigene Form des Sonetts, das durch drei kreuzgereimte Quartette ohne Reimwiederholung und ein abschließendes Reimpaar gekennzeichnet ist. In Deutschland wurde im Barock die französische Variante nachgeahmt, während das Zeitalter der Aufklärung, in der Folge von Gottscheds Verurteilung des Sonetts, diese Form eher meidet. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Sonett von Gottfried August Bürger - nun allerdings in seiner italienischen Form rehabilitiert. Die Begeisterung der Romantiker für das Sonett inspirierte auch die nachfolgenden Dichtergenerationen: berühmt sind die Sonette Rilkes (Sonette an Orpheus). So sehr die moderne Lyrik sich einerseits von althergebrachten, strengen Formen abwendet, so sehr fordert das Sonett andererseits doch immer wieder zu neuer Auseinandersetzung heraus (Robert Gernhard). ©TvH
Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, hg. v. Cornelius Sommer, Stuttgart 1970. Sekundärliteratur: 1. J.-U. Fechner (Hg.): Das deutsche Sonett. Dichtungen, Gattungspoetik, Dokumente, München 1969. 2. H. Kircher: Nachwort, in: ders. (Hg.): Deutsche Sonette, Stuttgart 1979.
Epoche griech.epoche: Haltepunkt, Zeitpunkt eines bedeutsamen Ereignisses als Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung
Eine (literarische) "Epoche" wird als abgrenzbarer Zeitraum verstanden, in dem bestimmte Merkmale als repräsentativ für die zugehörigen literarischen Texte angenommen werden, und diese so eindeutig von Texten anderer Zeiträume / Epochen unterschieden werden können. Der Epochenbegriff scheint zunächst unproblematisch. Er ist allgegenwärtig in der Literaturwissenschaft und es gehört zu den Grundübungen in den Proseminaren, die zu besprechenden literarischen Texte einer literarischen Epoche zuzuordnen. Aber zumeist beginnen hier schon die Probleme. Der Text ist in der Regel komplexer oder weniger komplex, als die Kategorien der Epoche es zulassen, oder er trägt noch Eigenschaften einer vergangenen Epoche in sich, beziehungsweise schon Eigenschaften einer folgenden. Die eindeutige Zuordnung eines Textes bleibt ein Ideal. Woran liegt das? Bei den literarischen Epochen handelt es sich nicht um natürliche Periodisierungen – wie sie z. B. in der Realgeschichte aus den politischen Dynastien abgeleitet werden - , sondern um mehr oder minder künstliche Setzungen. Die uns geläufige Einteilung in Reformation / Renaissance – Barock – Aufklärung – Klassik / Romantik – Realismus gibt es z.B. erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie ist entstanden im Zuge der immer populärer werdenden Literaturgeschichtsschreibung, die das Material einteilte und auf einen abstrakten Nenner zu bringen versuchte. Die Eingrenzung der Romantik auf den Zeitraum von 1794 bis 1830 – dies nur als Beispiel einer zeitlichen Zuordnung – bleibt immer die Dramatisierung eines Datums, von dem an und bis zu dem man bestimmte Dominanzen feststellen kann. Viele Texte dieser Zeit haben romantische Merkmale, aber sie können auch noch auf den empfindsamen Diskurs oder schon auf realistisches Erzählen verweisen. Es gibt also nur sogenannte 'Kernzonen' romantischer oder realistischer Literatur, die Bestimmung der literarischen Epoche bietet eine grobe Orientierungshilfe, besitzt jedoch keine Objektivität. In der (deutschen) Literatur des 20. Jahrhunderts wird die stilgeschichtliche Periodisierung zunehmend von einer 'realhistorischen' überlagert: In der Literatur der "Weimarer Republik" (1918-1933) ist die sogenannte "Neue Sachlichkeit" nur eine Stilrichtung neben anderen. Trotz dieser Ambivalenzen und Überlagerungen scheinen die Epochenbegriffe der Leseerfahrung und Rezeptionsgeschichte nicht grundsätzlich zu widersprechen, davon zeugt schon ihre lange Lebensdauer. Sie werden zwar stets
erweitert, differenziert und modifiziert, aber in den seltensten Fällen völlig verworfen. ©rein
Sekundärliteratur: 1. M. Brunkhorst: Die Periodisierung in der Literaturwissenschaft, in: M. Schmeling (Hg.): Vergleichende Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1981, S. 25-48. 2. J. Grimm: Theorie und Praxis der literaturhistorischen Periodisierung, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 8 (1984), S. 124-140. 3. R. Rosenberg: Epochen, in: H. Brackert und J. Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 269280.
Intertextualität (nach Gérard Genette)
Seit den siebziger Jahren ist der Begriff der ´Intertextualität´ zu einem zentralen Konzept der Literaturwissenschaft und vor allem der Erzählforschung geworden. Grundsätzlich kann man zwei unterschiedliche Ansätze unterscheiden. Im ersten eher theoretisch orientierten - wird ´Intertextualität´ sehr weit gefaßt. Hier steht die Offenheit und der prozessuale Charakter der Literatur im allgemeinen im Mittelpunkt (vgl. Intertextualität - weitere Begriffsfassung - nach Julia Kristeva). Im zweiten Ansatz geht es eher darum, die Beziehungen zwischen konkreten Texten zu klären und zu systematisieren. Er ist besonders für Aspekte der praktischen Analysearbeit fruchtbar. Dabei sind die Klassifizierungsversuche, die der französische Literaturwissenschaftlers Gérard Genette vorgeschlagen hat, gut zu handhaben. Genette versucht die Relationen verschiedener Texte zueinander zu systematisieren und diese Beziehungen zu erklären. Sein Oberbegriff der ´Transtextualität´ faßt fünf unterschiedliche Formen textübergreifender Beziehungen zusammen. Die erste ist die ´Intertextualität´ in einem engeren Sinne. Genette unterscheidet innerhalb der "effektiven Präsenz eines Textes in einem anderen" drei Erscheinungsformen: das Zitat (in Anführungszeichen, mit oder ohne genaue Quellenangabe), das Plagiat (nicht deklarierte, aber wörtliche Übernahme) und die Anspielung (fragmentarische, nicht deklarierte Entlehnung, die der Leser nur erkennt und versteht, wenn ihm der Bezugstext bekannt ist; ansonsten wird die Anspielung überlesen oder kann nur vermutet werden). (Genette, S.10) Eine zweite Form textübergreifender Beziehungen ist die ´Paratextualität´ (griechisch ´para´ bedeutet ´neben, über ... hinaus´) Der Paratext bildet einen Kommentar zum eigentlichen Text, indem er ihm Informationen hinzufügt, die die Lektüre steuern können. Hinsichtlich seiner räumlichen Nähe zum Buch gliedert sich der Paratext für Genette zum einen in den ´Peritext´, der - wie Schutzumschlag, Titel, Gattungsangabe, Vor- und Nachwort oder auch verschiedene Motti - relativ fest mit dem Buch verbunden ist. Zum anderen gibt es den ´Epitext´, der Mitteilungen über das Buch enthält, die in der Regel an einem anderen Ort plaziert sind - wie Interviews, Briefwechsel oder Tagebücher. Die ´Metatextualität´ (griechisch ´meta´: ´zwischen, hinter, nach´) als dritte Art der ´transtextuellen´ Beziehungen meint den Kommentar eines Textes durch einen anderen, wie das beispielsweise in Form der Literaturkritik oder des wissenschaftlichen Schreibens über Literatur geschieht. Mit der ´Hypertextualität´ beschäftigt sich Genette ausführlicher in seinem Buch Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Diese vierte Erscheinungsform der
´Transtextualität´ meint die komplette Umformung eines Ausgangstextes. Sie kann auf zwei verschiedenen Wegen vonstatten gehen: Entweder mittels der Technik der ´Transformation´, wobei das Thema das selbe bleibt, jedoch in einem anderen Stil behandelt wird (z.B. die Umformung der Homerischen Odyssee im Ulysses von James Joyce). Mit der Technik der ´Imitation´ hingegen wird der Stil beibehalten, aber das Thema verändert. (Genettes Beispiel ist Vergils Aeneis, wo im Stile von Homers Odyssee ein anderes Thema behandelt wird.) Diese beiden Beziehungstypen sind relativ stabil und gut voneinander abgrenzbar. Dagegen gehen die verschiedenen funktionalen Arten, in denen sich der Hypertext auf seinen Ausgangstext beziehen kann (spielerisch, satirisch, ernst), eher ineinander über und sind in der Praxis mitunter schwer auseinanderzuhalten. Register
spielerisch
satirisch
ernst
Beziehung
ironisch
polemisch
humoristisch
Transformation
Parodie
Travestie
Transposition
Imitation
Pastiche
Persiflage
Nachbildung
(Die Tabelle stammt aus Genette, Palimpseste, 1993, S.44.) Die fünfte und letzte Form ´transtextueller´ Beziehungen sieht Genette in der ´Architextualität´ (griechisch ´archein´: ´der erste sein´). Hier geht es vor allem darum, wie ein Text sich in eine übergreifende Kategorie, zum Beispiel die Gattung einschreibt. Das mag recht abstrakt klingen. Tatsächlich denken wir aber ständig und mit Selbstverständlichkeit über Gattungsbezüge nach, wenn wir den Unterschied oder die Gemeinsamkeiten eines Textes von und mit anderen beschreiben. © SR
Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993. Sekundärliteratur: 1. G. Genette: Einführung in den Architext, Stuttgart 1990. 2. G. Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993. 3. G. Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main 1992.
Georg Gottfried Gervinus
* 20.05.1805, Darmstadt † 18.03.1871, Heidelberg Germanist und Publizist Gervinus hat sich seinen Platz in der Geschichte der Germanistik mit einer zwischen 1835 bis 1842 erschienenen fünfbändigen Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen – seit der vierten Auflage (1853) trägt sie den Titel Geschichte der deutschen Dichtung - gesichert. Zu einer Besonderheit unter den damals erschienenen Literaturgeschichten wird sie einerseits durch ihre im Grunde erstmalige Konzentration auf die deutsche Literatur – die auch von Friedrich Schlegel, der als einer der Begründer der deutschen Literaturgeschichtsschreibung gilt, in dieser Form nicht durchgehalten wurde - , andererseits durch ihr spezifisches Programm, das weniger einer ästhetischen Vorstellung als vielmehr der Idee einer historischen Entwicklung verpflichtet war. So lesen wir bei ihm den programmatischen Satz: "Mit ästhetischer Kritik hat der Literaturhistoriker garnichts zu tun." Ihm geht es vielmehr darum, wie die literarischen Darstellungen "das Leben selbst, durch die scheinbar chaotischen Mannigfaltigkeit aus der Ferne ein Gesetz der Entwicklung [...] blicken lassen." Der Literaturhistoriker wird an dieser Stelle zum allgemeinen bzw. politischen Historiker, der sich nicht um den ästhetischen Gehalt eines literarischen Werkes sorgt, sondern seine Bezüge zur Zeit und sein Resultieren aus der Zeit analysiert. Literatur wird bei Gervinus zum kulturellen Medium, das den nationalen Formationsprozeß abbildet. Dieser historische Prozeß wird bei ihm in Anlehnung an die Geschichtsphilosophie Hegels als ein vernünftiges Fortschreiten in Richtung der Freiheit verstanden. Aber nicht nur Hegels Verständnis der geschichtlichen Entwicklung hat Gervinus beeinflußt, auch wichtige Gedanken aus der Ästhetik finden wir bei ihm wieder, denn den Weg der Literatur sieht er in seiner Gegenwart enden. Die Literatur habe die Aufgabe, als Ersatz politischer Emanzipation des Bürgertums zu dienen, erfüllt, die Ideen der politischen und sozialen Freiheit seien in ihr formuliert (Lessing, Schiller), nun gehe es darum, zum Zwecke der Bildung der Nation, diese Ideen in praktische Handlungen zu überführen. Hier wird deutlich, warum Gervinus als der 'politische Professor' Einzug in die Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Germanistik fand. Für ihn war ein enger Bezug der Wissenschaft zum praktischen Leben bzw. zur Politik unerläßlich. ©rein
Wichtige Schriften: ❍ ❍
Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen (1835-1842) Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts (1853)
Sekundärliteratur: 1. K. Hennies: Fehlgeschlagene Hoffnung und Gleichgültigkeit. Die Literaturgeschichte von Georg Gottfried Gervinus im Spannungsverhältnis zwischen Fundamentalphilosophie und Historismus, Frankfurt/M. u. a. 1984. 2. G. Hübinger: Georg Gottfried Gervinus. Historisches Urteil und politische Kritik, Göttingen 1984. 3. G. Hübinger: Literaturgeschichte als geisteswissenschaftliche Disziplin. Ihre Begründung durch Georg Gottfried Gervinus, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 5-25.
Georg Gottfried Gervinus: Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen (1835-1842)
Gervinus weist dem Literaturhistoriker eine politische Aufgabe zu. In einer historischen Situation, in der Deutschland durch staatliche Zerstückelung gekennzeichnet ist, kann nur im Kulturellen die Einheit beschworen werden: "[Es] scheint doch endlich einmal Zeit zu sein, der Nation ihren gegenwärtigen Wert begreiflich zu machen, ihr das verkümmerte Vertrauen auf sich selbst zu erfrischen, ihr neben dem Stolz auf ihre ältesten Zeiten Freudigkeit an dem jetzigen Augenblick und den gewissesten Mut auf die Zukunft einzuflößen. Dies aber kann nur erreicht werden, wenn man ihr die Geschichte bis auf die neuesten Zeiten vorführt, wenn sie aus ihr und der vergleichenden Geschichte anderer Völker sich selbst klargemacht wird. [...] Keine politische Geschichte, welche Deutschlands Schicksale bis auf den heutigen Tag erzählt, kann je eine rechte Wirkung haben, denn die Geschichte muß, wie die Kunst, zu Ruhe führen, und wir müssen nie von einem geschichtlichen Kunstwerke trostlos weggehen dürfen. Den Geschichtskünstler möchte ich doch sehen, der uns von einer Schilderung des gegenwärtigen politischen Zustandes von Deutschland getröstet zu entlassen verstände. Die Geschichte der deutschen Dichtung dagegen schien mir mit ihrer inneren Beschaffenheit nach ebenso wählbar als ihrem Werte und unserem Zeitbedürfnis nach wählenswert. Sie ist, wenn anders aus der Geschichte Wahrheiten zu lernen sind, zu einem Ziele gekommen, von wo aus man mit Erfolg ein ganzes überblicken, einen beruhigenden, ja einen erhebenden Eindruck empfangen und die größten Belehrungen ziehen kann. Die Wahl eines Geschichtsstoffes mit den Forderungen und Bedürfnissen der Gegenwart in Einklang zu bringen, scheint mir aber eine so bedeutende Pflicht des Geschichtsschreibers, daß, hätte ich die politische, die religiöse, die gesamtliterarische oder irgendeine andere Seite der Geschichte unseres Volkes für passender und dringender zur Bearbeitung gehalten, ich diese andere ergriffen haben würde, weil auch kein Lieblingsfach den Historiker ausschließlich fesseln soll." (S. 178f.) Zur Zielgruppe seiner so gearteten Literaturgeschichtsschreibung erklärt Gervinus die Nation: "Ich will nicht für die Bearbeiter und gelehrten Kenner dieser Literatur schreiben, nicht für eine besondere Klasse von Lesern, sondern, wenn es mir gelingen möchte, für die Nation." (S. 184) Als wichtigsten Unterschied zu üblichen Literaturgeschichten nennt Gervinus selber das Fehlen des ästhetischen Interesses zugunsten der Geschichte: "Es [d.i. seine Literaturgeschichte] weicht besonders darin von allen
literarischen Handbüchern und Geschichten ab, daß es nichts ist als Geschichte. Ich habe mit der ästhetischen Beurteilung der Sachen nichts zu tun, ich bin kein Poet und kein belletristischer Kritiker. Der ästhetische Beurteiler zeigt uns eines Gedichtes Entstehung aus sich selbst, sein inneres Wachstum und Vollendung, seinen absoluten Wert, sein Verhältnis zu seiner Gattung und etwa zu der Natur und dem Charakter des Dichters. Der Ästhetiker tut am besten, das Gedicht so wenig als möglich mit anderen und fremden zu vergleichen, dem Historiker ist diese Vergleichung ein Hauptmittel zum Zweck. Er zeigt uns nicht eines Gedichtes, sondern aller poetischen Produkte Entstehung aus der Zeit, aus dem Kreise ihrer Ideen, Taten und Schicksale, er weist darin nach, was diesen entspricht oder widerspricht, er sucht die Ursachen ihres Werdens und ihre Wirkung nach und beurteilt ihren Wert hauptsächlich nach diesen, er vergleicht sie mit dem Größten der Kunstgattung gerade dieser Zeit und dieser Nation, in der sie entstanden, oder, je nachdem er seinen Gesichtskreis ausdehnt, mit den weiteren analogen Erscheinungen anderer Zeiten und Völker." (S. 181f.) Gervinus‘ Idee der Literaturgeschichte führt ihn zu dem Ergebnis, daß die deutsche Literatur um 1800 eine Blüteperiode erlebt habe bzw. erlebe. In Anlehnung an Hegels Ästhetik, geht er zunächst davon aus, daß die Literatur ihre ideale Ausformung bei den Griechen gefunden hat: "Was unseren Gegenstand angeht, so war die Poesie, wie alle Kunst, bei den Griechen allein von keiner Religion und von keinem Stande und keiner Wissenschaft eingeengt, nur da konnte sie ihre edelsten Kräfte im vollesten Maße entwickeln, nur da Sitten, Glauben und Wissen gestalten und für alles echte Bestreben in der Kunst späterer Zeiten und Völker gesetzgebend werden." (S. 179) Für seine Gegenwart konstatiert Gervinus schließlich die Blüte und damit das Ende der deutschen Literatur, die sich der griechischen Vollkommenheit angenährt habe: "Italiener, Spanier, Franzosen und Engländer blieben in verschiedener Weise bei der griechisch-römischen oder bei der alexandrinischen Bildung haften, und die Deutschen allein setzten den steileren, aber belohnenderen Weg fort und gelangten zur schönsten Blütezeit griechischer Weisheit und Kunst, wo dann im vorigen und in diesem Jahrhundert jeder große Mann des hellenischen Altertums seinen Übersetzer, seinen Schüler oder sein Ebenbild bei uns erhielt. Goethe und Schiller führten zu einem Kunstideal zurück, das seit den Griechen niemand mehr geahnt hatte. [...] Sie leiteten mit Bewußtsein auf die Vereinigung des modernen Reichtums an Gefühlen und Gedanken mit der antiken Form, und dies eben war der Punkt, nach dessen Erreichung bei den Griechen, wie ich andeutete, die Kunst ausgeartet war." (S. 180f.) ©rein
August Friedrich Christian Vilmar
* 21.11.1800, Solz bei Bebra † 30.07.1868, Marburg Literarhistoriker und evangelischer Theologe Sind wir mit Gervinus einem national-liberalen Literaturgeschichtsschreiber begegnet, der sich mit seiner Geschichte der poetischen Nationallitteratur der Deutschen (1835-1842) an die Nation wendet und geradezu zu politischem Aktivismus aufruft, so lernen wir mit dem Marburger Professor August Friedrich Christian Vilmar und seiner Geschichte der deutschen Nationalliteratur (1845) einen Germanisten kennen, der eine konservative Wende vollzogen hat. Seine Literaturgeschichte ist nicht dem liberal-nationalen Denken verbunden, sondern dem christlich-nationalen. Alle republikanischen und / oder früh sozialistischen Ideen, die vor 1848 entwickelt wurden, galten ihm als Teufelswerk. Für ihn gilt es vielmehr, die von Gott eingesetzten Monarchen zu legitimieren. Da kann es kaum noch verwundern, daß Vilmars Geschichte der deutschen Nationalliteratur bis zum Jahr 1913 in 27 Auflagen erschienen ist, also von dem allgemeinen politischen Klimawechsel nach der Enttäuschung der 48er Revolution profitiert hat und noch im Wilhelminischen Kaiserreich ein weitverbreitetes "Hausbuch" war. ©rein
Wichtige Schriften: ❍ ❍
Geschichte der deutschen Nationalliteratur (1845) Lebensbilder deutscher Dichter und Germanisten (1869)
Sekundärliteratur: W. Hopf: August Friedrich Christian Vilmar, 2 Bde., Marburg 1913.
August Friedrich Christian Vilmar: Geschichte der deutschen Nationalliteratur (1845)
Die Deutschen als ein besonderes, ein herausragendes Volk – auch in ihrer literarischen Produktion - , diese Konstruktion finden wir in der christlichnationalen Literaturgeschichtsbetrachtung August Friedrich Christian Vilmars. In seiner Einleitung zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur wird deutlich, daß diese Einschätzung aus einem tiefverwurzelten Minderwertigkeitsgefühl resultiert. Vilmar schreibt: "Wessen Selbstgefühl hätte es nicht verletzt, wenn uns, wie gar oft von Unkundigen geschehen, bei aller Anerkennung unserer Klopstock, Lessing, Schiller und Goethe, vorgehalten worden ist, daß wir doch nur durch die Voltaire, Corneille und Racine, durch die Shakespeare, die Tasso und Ariost das geworden seien, was wir wirklich sind, und daß wir, nachdem alle anderen Nationen längst ihr Blütenalter gefeiert, erst spät und gar langsam, als die allerletzten, gleichsam als träge Nachzügler, und nur angefeuert durch den Stachel der Treiber, auch uns auf die Höhe unseres literarischen Selbstbewußtseins erhoben hätten?" (S. 2) Vilmar sieht die Deutschen hingegen als literarische Vorreiter, die längst, "nicht allein vor Tasso und Ariost, sondern auch vor Dante und Petrarca [ihren] Walther von der Vogelweide, [ihren] Wolfram von Eschenbach, [ihre] Gudrun und [ihr] Lied von der Nibelungen Not gehabt haben." (S. 2) Diese unvergleichliche Leistung stellt er auf eine Stufe mit der Ilias der Griechen und hat sich damit eines der beliebtesten Maßstäbe des 19. Jahrhunderts bedient. Die Antike dient Vilmar auch im weiteren Verlauf seiner Argumentation als Anschauungsmaterial, wenn er den Untergang der griechischen Kultur mit ihrer Unfähigkeit, sich mit dem Fremden auseinanderzusetzen, in Zusammenhang bringt. Im Gegensatz hierzu haben sich die Deutschen in einem steten Kampf mit dem Fremden befunden, den sie in einem positiven Sinne "gewinnen", indem sie sich das Fremde aneignen, um sich selber weiterzuentwickeln: "Berufen zum Träger des Evangeliums, hat das deutsche Volk niemals in einseitiger Abgeschlossenheit, hochmütiger Selbstbespiegelung und eigensinnigem Nationaldünkel sich gefallen können, vielmehr willig und offen sich hingegeben und jedem fremden Eindruckes sich bloßgestellt, willig das Fremde anerkannt und aufgenommen, zuweilen bis zum Selbstvergessen des eigenen Wertes; fähig, alle eigenen Ansprüche an das Objekt fahren zu lassen, und sich ganz in dasselbe zu versenken, ist das deutsche Volk durch diese erste und größte Dichterfähigkeit das eigentliche Dichtervolk unter den Nationen der Erde." (S. 3) Diese Auseinandersetzung mit dem eindringenden Fremden hat dann laut Vilmar zu den beiden klassischen Perioden der deutschen Literatur geführt (zur
Staufischen Klassik des Mittelalters und zur Weimarer Klassik), und hebt damit die deutsche Literatur über alle anderen Nationalliteraturen hinaus. ©rein
August Friedrich Christian Vilmar: Geschichte der deutschen Nationalliteratur [1845], Berlin 1907.
Adolf Bartels
* 15.11.1862, Wesselburen/ Dithmarschen † 07.03.1945, Weimar Lyriker, Erzähler, Dramatiker und Literaturhistoriker Adolf Bartels gilt als der Ideologe der NS-Germanistik. In seiner Geschichte der deutschen Literatur (erstmals Leipzig 1901/1902; neue Ausgabe in 3 Bänden, Leipzig 1924-1928) setzt er sich schon im ersten Satz mit der Herkunft der arischen Rasse auseinander ("nordischer Ursprung der Germanen") und nutzt die erste Seite, um die Germanen positiv von den Mittelmeervölkern abzugrenzen: "So treten sie [die Germanen] den Mittelmeervölkern, die, mochten sie zunächst auch arischer Herkunft sein, unter dem Einfluß eines milderen Himmels längst das Ideal einer harmonisch ausgeglichenen Kultur geschaffen und zum Teil verwirklicht hatten, nun aber auch schon an der Entartung oder an zu starker Mischung mit weniger edlem Blut zugrunde zu gehen drohen, entgegen als die Bringer neuer Natur und Lebenskraft und weiterhin einer neuen Kultur, die männlicher, freier und dabei seelischer und sittlicher war als die alte". (S. 9) Die unbestreitbar völkisch-rassistische Einstellung tritt hier unverhüllt zu Tage. Da mag es nicht wundern, daß Bartels von sich behauptete, daß eines seiner besonderen Verdienste die Scheidung von Deutschem und Jüdischem in der Literaturgeschichte gewesen sei. ©rein
Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur [1901/1902], Hamburg u.a. 1919. Wichtige Schriften: ❍
Geschichte der Deutschen Literatur (1901/ 1902)
Sekundärliteratur: 1. C.O. Conrady: Vor Adolf Bartels wird gewarnt. Aus einem Kapitel mißverstandener Heimatliebe, in: ders.: Literatur und Germanistik als Herausforderung, Frankfurt/M 1974. 2. S.N. Fuller: The Nazis‘ literary grandfather. Adolf Bartels and cultural extremism, 1871-1945, New York u.a. 1996. 3. T. Neumann: Völkisch-nationale Hebbelrezeption. Adolf Bartels und die Weimarer Nationalfestspiele, Bielefeld 1997.
Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur (1901/1902)
In seiner Geschichte der deutschen Literatur deutet Adolf Bartels nicht nur die völkische Entwicklung der Deutschen als Kulturvolk aus der Vermischung mit Romanen, Slaven, Kelten – hier befindet er sich noch in relativer Nähe zu dem frühen Josef Nadler – sondern zeichnet die Deutschen in jeder Hinsicht als dominant, sowohl was ihre rassische als auch ihre literarische Entwicklung angeht. "Im Kern bleiben wir immer das alte nordische Volk der männlichen und sittlichen Instinkte, die uns die fremden Beobachter von alten Zeiten her bis in die Gegenwart, von Tacitus bis Taine, zuschreiben, im Grunde bleibt unsere Kultur erdgeboren, bodenständig, viel individualistischer als die irgendeines anderen Volkes." (S. 4f.) In der Literatur als "Spiegelbild" des deutschen Wesens und der deutschen Kultur zeige sich diese Dominanz darin, daß die deutsche Literatur Vorgängerin aller anderen nationalen literarischen Entwicklungen sei: "Die Geschichte der deutschen Literatur (ist), obschon sie doch auch ihre Gesetze hat, vielfach eine Geschichte der Überraschungen. Man kann bei uns nie sagen, was kommt: plötzlich treten Erscheinungen auf, die ganz neue Richtungen vorbilden, die alles das schon haben, was dann die allgemeine Literaturentwicklung langsam nachholt, ja, die oft so vereinzelt, so erdgebunden sind, daß sich ihnen in den fremden Entwicklungen gar nichts vergleichen läßt; man kann dies sogar als die Regel hinstellen. Welche neuere europäische Nation hat noch ein wirkliches Volksepos auf mythischer Grundlage wie wir Deutschen? Bei welcher fände sich ein Volksschriftsteller wie Luther? Bei welcher ein universaler Poet wie Goethe? Aber selbst minder bedeutende Erscheinungen sind oft von überraschender Selbständigkeit und viel früher da als die verwandten Erscheinungen bei anderen Nationen. So gibt Grimmelshausen, mag er immerhin von dem spanischen Schelmenroman angeregt sein, den ersten psychologischen Entwicklungsroman, lange vor Lasage und Fielding, und nimmt sogar die Robinsonade vorweg, so schreibt Lessing, ob er auch von Diderot und den Engländern Einflüsse erfahren hat, die erste wirklich moderne Tragödie ('Emilia Galotti'), so begründet Jeremias Gotthelf im letzten Jahrhundert den Naturalismus und die Heimatkunst, und Friedrich Hebbel schafft lange vor Ibsen das Problemdrama – von so allgemeinen in Deutschland entstehenden und dann ganz Europa nach sich ziehenden Bewegungen wie die Romantik ganz abgesehen. [...] Das ist die große Ursprünglichkeit der deutschen Dichtung, die zuletzt auf die unverändert starke Wirkung des germanischen Blutes zurückzuführen ist." (S. 7f.)
Und es ist genau dieses "germanische Blut", daß Bartels mit seiner Literaturgeschichte zu stärken gedenkt. In dem Vorwort zur ersten Auflage schreibt er 1901 zur Funktion seines Werkes: "[Ich mußte] jede Gelegenheit benutzen, den Stolz auf unser deutsches Volkstum zu stärken und das nationale Gewissen zu schärfen – ist doch vielleicht die Zeit nahe, wo deutsche Natur und Kultur die letzte und schwerste Probe zu bestehen haben wird." (S. VII) Auf wessen Kosten diese Stärkung vornehmlich stattfindet, erfährt man nicht nur in den einzelnen Kapiteln von Bartels Geschichte der deutschen Literatur, wenn er z.B. Heinrich Heine als "verbummelte[n] freche[n] kleine[n] deutsche[n] Jude[n]" bezeichnet, sondern schon in seinem Vorwort zur dritten und vierten Auflage (1904), wenn er sich mit den Reaktionen auf seine Literaturgeschichte auseinandersetzt: "Im übrigen weiß ich natürlich und weiß auch jeder mit den heutigen deutschen Verhältnissen einigermaßen Vertraute, daß der Kampf gegen mein Buch im Grunde nicht wissenschaftliche, sondern persönliche und 'rassenhafte' Motive hat – man liebt mein gerades Urteil nicht, und wer das Judentum, und sei es auch notgedrungen, angreift oder nur richtig charakterisiert, wird in Deutschland ja ohne weiteres verdammt. Einstweilen wenigstens noch nicht verbrannt, und so will ich denn ruhig fortfahren, wie ich begonnen habe: Unser geistiges Leben darf nicht den Geschäftsinteressen einer fremden Rasse ausgeliefertwerden." (S. X) ©rein
Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur [1901/1902], 5. u. 6. Aufl., Leipzig 1909.
Joseph Nadler
* 23.05.1884, Neudörfl/Böhmen † 14.01.1963, Wien Literaturhistoriker Joseph Nadler hat als einer der "Blut und Boden"-Germanisten Einzug in die Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung gehalten. Seiner eigenen Einschätzung nach zu Unrecht als Nationalsozialist diffamiert, hat er unzweifelhaft in die vierte Auflage seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (Regensburg 1938-1941, 1. Auflage 1912-28) faschistisches Gedankengut eingebracht, obwohl dieses objektiv betrachtet seinen Grundthesen durchaus widersprach. Zwar kann man von einer Ähnlichkeit der Blickrichtung und verwandter imperialer Siedlungsvorstellungen sprechen, aber Nadler war ein Theoretiker der Rassenvermischung, die natürlich auf eine geistige Hegemonie Deutschlands zuschritt. Die Germanen – als "ein Naturvolk" - , so analysiert Nadler, hatten sich unter den Römern und Romanen niedergelassen, "unter einem Kulturvolk als Wirt und Besiegtem. Gast und Wirt vermischten sich körperlich miteinander." Dieser "völkische Vorgang wandelte sich zu einem geistesgeschichtlichen. Der Gast, körperlich aus dem Blute des Wirtes wiedergeboren, nahm nun in geistiger Wiedergeburt Glauben, Bildung, Schrifttum des besiegten Kulturvolkes in sich auf". (S. 2f.) Die Germanen waren folglich in der Lage, die besten Eigenschaften der anderen "Rasse" in ihre Entwicklung aufzunehmen. Die Literaturgeschichte ist für Nadler nun abhängig von der Entfaltung der deutschen Stämme und Landschaften. Für die Literatur der Klassik zeichnen zum Beispiel die sogenannten "Altstämme" (Franken, Thüringer, "Alemannen") verantwortlich, die Romantik hingegen ist ein Produkt der Entwicklung der "Neustämme", die jedoch zunächst die "Eindeutschung der Slavenwelt von der Elbe bis zur Memel" leisten mußten. Die Romantik wird von Nadler verstanden als das "Erwachen des deutschen Blutes in den eingedeutschten Völkern": Sie "ist die Krönung des ostdeutschen Siedelwerkes, als das gemischte Blut langsam zur Ruhe gekommen war, die Verdeutschung der Seele nach der Verdeutschung der Erde und des Blutes". (S. 6) Dementsprechend kann man "einen Schlesier nie für einen Klassizisten erklären, weil er ein halbes hundert Sechsfüßler schrieb, oder einen Schwaben für einen Romantiker, weil ihn eine Märchennovelle freute oder weil er mit Schleiermacher oder Hardenberg einen flüchtigen Händedruck wechselte." (S. 10) ©rein
Joseph Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 1, 3. Aufl., Regensburg 1929. Wichtige Schriften: ❍
Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften [1912-1928], 4. Auflage 1938-1941 mit neuem Titel: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften
Sekundärliteratur: 1. D. Kelling: Joseph Nadler und der deutsche Faschismus, in: Brücken. Germanistisches Jahrbuch DDR-CSSR, Prag 1986/87, S. 132-147. 2. S. Meissl: Zur Wiener Neugermanistik der 30er Jahre: Stamm, Volk, Rasse, Reich. Über Joseph Nadlers literaturwissenschaftliche Position, in: K. Amann u.a. (Hg.): Österreichische Literatur der 30er Jahre, Wien 1985, S. 130-146. 3. V. Suchy: Joseph Nadler und die österreichische Literaturwissenschaft, in: Wort in der Zeit 9 (1963), S. 19-30.
Joseph Nadler: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften (1938-1941)
Beschrieb Joseph Nadler in den drei vor dem Dritten Reich erschienenen Auflagen seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften die Entwicklung des deutschen Volkes als eine Geschichte der Rassenvermischung, so suchte er in der vierten Auflage die Durchsetzung der nordisch-germanischen Rasse entgegen aller Blutsvermischungen zu beschwören. Der Deutsche habe sich zwar sowohl mit dem Slaven als auch mit dem Römer vermischt, er konnte "sich dennoch in den Grundbeständen seiner Rasse [...] behaupten." (Band 1, S. 3) Trotzdem sei er nun einer neuen Gefahr ausgesetzt: dem Judentum. "Seit dem siebzehnten Jahrhundert schwoll der geistige Einfluß der Juden mächtig an", eine Entwicklung, die Nadler augenscheinlich unheimlich ist, denn der Jude finde sich nicht ab mit seinem Judentum, sondern "setzt dagegen seinen Tatwunsch: ich will ein Deutscher sein. Das kann aber nicht in der Wirklichkeit, sondern nur in einem Wunschbilde statthaben. Dieses 'als ob' hat einen Doppelsinn. Man schob mit Absicht, um die Kluft so harmlos als möglich erscheinen zu lassen, die wirklichen Unterschiede beiseite und bildete scheinbar leicht zu lösende: Jude, eine Bekenntnissache; Jude, eine Frage der bürgerlichen Rechte; Jude, eine bloß geistige Frage. Und so setzte man den ganzen Übergang ins Geistige: denken, reden, handeln, sich geben, wie man es für wesenhaft deutsch hält. Man kam in der Annahme überein, als löse man eine völkische Aufgabe, da man doch bestenfalls eine Bildungsfrage zu lösen vermochte. [...] Aus diesem Widerspruch zwischen Naturgesetz und Wille, zwischen dem Gesetz des Körpers und dem Wunsch des Geistes, zwischen 'sich fühlen' und 'sich wissen', zwischen Wirklichkeit und Einbildung stimmt sich die tragische Seelenlage der Juden, die sich als Deutsche 'imaginierten'. " (Band 3, S. 6f.) Aber diese "imaginierten Deutschen" täuschten die "wahren Deutschen" nicht darüber hinweg, daß durch die "Vermischung" des Deutschen mit dem Jüdischen die Reinheit gefährdet sei. Diese "Vermischung" wird geradezu als Bedrohung empfunden: "Man sah das bisher eingekapselte Gastvolk langsam in den Körper des Wirtes zerfließen, eine Wirklichkeit, gegen die es keine Abwehr gab. Während das fremde unerwünschte Blut von Altersstufe zu Altersstufe immer tiefer in den Volkskörper drang nach den unentrinnbaren Gesetzen der Ahnentafel, rief man gegen das Schicksal den Willen auf. Aber so wenig der Einzelne für sich Glied eines anderen Volkes werden kann, so wenig läßt das Blut sich ausstoßen, das uns in den Leib gezeugt wurde. Wird die Tragik dort durch den Wunsch
ausgelöst, so hier durch den Widerstand. Ein Volk, das keinen inneren Widerwillen empfindet, wird Blutmischung niemals tragisch nehmen, sondern nur eines, das bleiben will, was es ist, und vom Schicksal gezwungen wird, zu werden, was es nicht sein will." (S. 7) Und ein solches Volk sei das Volk der Deutschen. Diese Zitate heben sehr plastisch hervor, was es bedeutet, wenn ein totalitärer Staat eine bestimmte Ideologie vorgibt. Sie pflanzt sich fort bis in die kleinsten Teilbereiche der Wissenschaften. Bereits bestehendes Wissen wird umgedeutet, wissenschaftliche Werke werden umgeschrieben. Josef Nadler ist hier nur ein sehr deutliches Beispiel – auch durch seinen schon vormals völkisch gefärbten Zugang – er ist sozusagen die Spitze eines Eisberges. Aber auch andere Germanisten, deren Arbeiten aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik noch heute unter Literaturwissenschaftlern Beachtung finden, haben sich diesen faschistischen Deutungsvorgaben nicht entzogen. ©rein
Joseph Nadler: Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften, Bd. 1, Berlin 1939.
Positivismus
Der Positivismus geht zurück auf Auguste Comte (1798-1857). Er formulierte die philosophische Prämisse, daß als Basis für wissenschaftliche Erkenntnis nur Tatsachen zugelassen sind. Unter Tatsachen versteht er wirklich Gegebenes, das man objektiv erkennen kann. Diese wissenschaftliche Vorgehensweise hat ihren Zielpunkt in der Aufstellung von Theorien, Gesetzen und Hypothesen. Hier findet eine methodische Angleichung der Kultur- und Geisteswissenschaften an die Naturwissenschaften statt. Das Kulturelle und Geistige wird als von der Natur abhängig begriffen und deswegen mit den Mitteln der Naturwissenschaft, diesem "Triumphator auf dem Siegeswagen", wie Wilhelm Scherer es ausdrückt, untersucht. Als Hauptvertreter des literaturwissenschaftlichen Positivismus in Deutschland sieht Scherer im späten 19. Jahrhundert die Literatur als Produkt individueller und gesellschaftlicher Gegebenheiten an. Die Werke sind keine in Freiheit entstandenen literarischen Produkte, sondern sind gesellschaftlich und biographisch determiniert. Dieser Gedanke hat in seiner berühmten Formel vom "Erlebten, Erlernten und Ererbten" seinen Niederschlag gefunden. Es geht also um die Erforschung der Bildungs-, Stoff-, Ideen und Formerlebnisse (Erlebtes) des Autors, um die Aufdeckung seiner Bildungsgeschichte (Erlerntes) und um die historische Situation in der er lebt, um ihre Gegenwart und ihre Wurzeln. Aufgrund dieser Materialbasis können einzelne Erscheinungen im literarischen Werk erklärt werden. Es gibt eine eindeutige Kausalbeziehung zwischen Ursache ("Erlebtem, Erlerntem, Ererbtem") und Wirkung (Kunstwerk). Der französische Kritiker Hyppolite Taine formuliert den daraus resultierenden Auftrag für den Philologen in seiner Philosophie der Kunst wie folgt: "Die Kunstwerke [sind] als Erzeugnisse und Tatsachen anzusehen, deren Wesen zu bestimmen und deren Ursachen zu erforschen sind." Die von Scherer und seinen Schülern (u.a. Richard Heinzel, Richard Meyer, Franz Muncker, Erich Schmidt) betriebene positivistische Literaturwissenschaft beschäftigte sich demzufolge vornehmlich mit Autorenbiographien sowie der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von literarischen Texten. Um eine positive Materialbasis für ihre Untersuchungen zu schaffen, entstanden im Umfeld dieser literaturwissenschaftlichen Methode historisch-kritische Texteditionen (Herder, Goethe, Schiller, Kleist), faktenreiche Dichterbiographien (F. Muncker, E. Schmidt, R. Haym, J. Minor) und Stoff- und Motivgeschichten. In die Kritik geriet der Positivismus u.a. aus der Perspektive der Hermeneutik. Mit seiner Konzentration auf das biographische und auf das Ursache-WirkungsPrinzip, das nur Ausschnitte des Werkes erhellt, gehe der Werkzusammenhang verloren. Auch die moderne Literaturwissenschaft grenzt sich vom historischen Positivismus ab. Er begebe sich in eine Sackgasse, wenn er nur die Beziehungen
zwischen Autor und Gesellschaft auf der einen, dem Werk auf der anderen Seite sieht. Der sogenannte Biographismus., die Erklärung des Werkes aus der Biographie des Autors, gilt seit längerem als überholt. Hier bleibt nicht nur der Text als Ganzes, seine Motive, Themen und ihre Traditionen, sondern auch der Leser vollkommen außerhalb des Blickfelds. Trotz dieser Kritik am historischen Positivismus gibt es einige neopositivistische Methoden, die dem Faktischen bei der Literaturbetrachtung einen breiten Raum geben. Als Beispiele wären derzeit bestimmte Strömungen der Literatursoziologie und der Medientheorie zu nennen. ©rein
Wilhelm Scherer
* 26.04.1841, Schönborn / Niederösterreich † 06.08.1886, Berlin Germanist Obwohl sich Wilhelm Scherer als Literaturhistoriker ähnlich wie seine Kollegen Gervinus und Vilmar dem Nationalen – hier wohlgemerkt dem preußischnationalen – verschrieben hat, kennt ihn die Geschichte der Germanistik aufgrund einer anderen charakteristischen Eigenschaft seiner Studien: Er gilt als der führende und einflußreichste Positivist der frühen deutschen Literaturwissenschaft. Ihn interessiert vornehmlich das "Warum" eines literarischen Textes, "die Ursachen dessen zu ergründen, was geschieht". Warum begegnet uns Literatur in der vorhandenen Form und in keiner anderen? Warum hat Goethe den "Faust" so geschrieben wie wir ihn kennen und nicht anders? Scherer bedient sich nun vornehmlich des Positiven, d.h. des Tatsächlichen, um diese Fragen zu beantworten. Er untersucht die Zeitumstände, die Traditionen, die Biographie des Autors, aber auch seine Psyche – und geht damit schon wieder einen Schritt über den Positivismus hinaus. In einer Rezension zur Literaturgeschichte Hermann Hettners schreibt er: "Die wahre Methode litterarhistorischer Forschung geht von den überlieferten Schicksalen und von der schärfsten Analyse des geistigen Inhaltes der Individuen aus; sucht aus jenen die natürlichen Anlagen und äußerlichen Lebensbedingungen, aus dieser die treibenden Einflüsse am Einzelnen zu erspähen; steigt durch die Zusammenfassung des Verwandten, das sich bietet, zu einem realen Allgemeinen auf, und stellt dieses als bewegende Kraft hin, deren Entstehung aus einer Summe individueller Leistungen ein weiteres Object der Forschung, ein vorausgehendes Moment der Darstellung bildet." Endpunkt von Scherers Literaturgeschichtsbetrachtung "ist ein System der nationalen Ethik". Dies wird vor allem in seiner populären Geschichte der deutschen Literatur (Berlin 1880-1883) deutlich. Die Literaturgeschichte soll nicht das Ziel einer Nation formulieren, sondern vielmehr einen ethischen Verhaltenskodex begründen, an dem sich die Nation orientiert. ©rein
Österreichische Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und öffentliches Leben. (1865) H.5. Wichtige Schriften:
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Über den Ursprung der deutschen Literatur (1864) Geschichte der deutschen Sprache (1868) Geschichte der deutschen Literatur (1880-1883) Poetik (1888)
Sekundärliteratur: 1. J. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, Stuttgart 1989. 2. P. Salm: Drei Richtungen der Literaturwissenschaft. Scherer – Walzel – Staiger, Tübingen 1970. 3. J. Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germansitik bei Wilhelm Scherer, Frankfurt/M. 1979.
Erich Auerbach
* 09.11.1892, Berlin † 13.10.1957, Wollingford / Connecticut Vergleichender Literaturwissenschaftler und Romanist Der Literaturwissenschaftler Erich Auerbach ist vor allem durch seine im Istanbuler Exil geschriebene Literaturgeschichte Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946) bekannt geworden. Wie im Titel schon angedeutet, setzt er sich mit der Nachahmung von Wirklichkeit auseinander, also mit dem Realismus in der Literatur. Die antike Mimesisvorstellung und Poetik (z.B. Aristoteles´ Poetik) dienen ihm als Bezugspunkte. Die dort festgeschriebene Verknappung der Darstellung des Alltäglichen auf das Komische, des Bürgerlichen auf die Komödie, sieht er im Realismus des 19. Jahrhunderts überwunden: "Indem Stendhal und Balzac beliebige Personen des täglichen Lebens in ihrer Bedingtheit von den zeitgeschichtlichen Umständen zu Gegenständen ernster, ja sogar tragischer Darstellung machten, zerbrachen sie die klassische Regel von der Unterscheidung der Höhenlagen, nach welcher das alltägliche und praktisch Wirkliche nur im Rahmen einer niederen oder mittleren Stilart, das heißt entweder als grotesk komisch oder als angenehme, leichte, bunte und elegante Unterhaltung seinen Platz in der Literatur haben dürfe." (S. 515) Im modernen Realismus werde eine Entwicklung abgeschlossen, die sich in Deutschland vor allem mit dem Sturm und Drang und der Vorromantik vorbereitet habe. Aber der moderne "ernste Realismus" hat nach Auerbach noch andere Wegbereiter. Diese Revolution gegen die Antike, gegen die "Lehre der Höhenlagen", die seit dem 16. und 17. Jahrhundert die Poetiken und die Literaturproduktion bestimmen, findet ihre Vorläufer auch in der Bibel und in mittelalterlichen Texten: "Vorher, sowohl während des ganzen Mittelalters wie auch noch in der Renaissance, hatte es einen ernsten Realismus gegeben; es war möglich gewesen, die alltäglichsten Vorgänge der Wirklichkeit in einem ernsten und bedeutendem Zusammenhang darzustellen, in der Dichtung und auch in der bildenden Kunst. Die Lehre von den Höhenlagen hatte keine allgemeine Geltung." (S. 516) Die Bildung dieses "ernsten Realismus" wird als Resultat der "Geschichte Christi" gesehen, die "mit ihrer rücksichtslosen Mischung von alltäglich Wirklichem und höchster, erhabenster Tragik, die [...] antike Stilregel überwältigte." (S. 516)
Um die Entwicklung dieses "ernsten Realismus" nachzuzeichnen und damit eine Literaturgeschichte des Realismus zu schreiben, bedient sich Auerbach einer ungewöhnlichen Methode. Er sucht nicht nach Vollständigkeit – wie die meisten seiner Vorgänger – sondern sucht eine Anzahl von Texten heraus, die ihm im Laufe seiner philologischen Tätigkeit vertraut geworden sind. Seine Literaturgeschichte besteht folglich aus Einzeluntersuchungen (von Homer über Schiller bis zu Proust), die er jedoch als repräsentativ für eine bestimmte Wirklichkeitsdarstellung annimmt. Hier scheint er aus der Not eine Tugend gemacht zu haben, denn Auerbach war in Istanbul von der gesamten neueren internationalen Forschung ausgeschlossen. Die Verbindungen waren gekappt, der Wissenschaftler mußte sich mit dem ihm verbleibenden Material begnügen. ©rein
Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946], 3. Aufl., Bern u.a. 1964. Wichtige Schriften: ❍
Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländlischen Literatur (1946)
Arnold Hauser
* 08.05.1892, Temesvar / Ungarn † 28.01.1978, Budapest Literatur- und Kunstsoziologe Arnold Hauser war einer der ersten Autoren, der - ganz frei von dogmatischen sozialistischen Tendenzen (vgl. Georg Lukács) - dezidiert soziologische Fragestellungen in die Literaturgeschichtsbetrachtung integriert hat. In seiner umfassenden Sozialgeschichte der Kunst und Literatur (1953) beschäftigt er sich grenzüberschreitend mit der Entwicklung von bildender Kunst, Literatur, Musik, Theater und Film. Theoretisch dem historischen Materialismus verpflichtet, lehnt er jedoch die Prämissen der dogmatischen marxistischen Kunstsoziologie ab. Sowohl von der Widerspiegelungstheorie, dem rein ökonomischen Determinismus als auch von der Bedeutungslosigkeit der einzelnen Künstlerpersönlichkeit will er nichts wissen. Hauser beschäftigt sich hingegen mit den Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Kunst, Basis und Überbau – dabei spricht er der Kunst eine weitgehende Autonomie zu, ohne sie als von den sozialen Bedingungen gänzlich frei zu denken. ©rein
Wichtige Schriften: ❍
Sozialgeschichte der Kunst und Literatur (1953) [Die englische Originalausgabe erschien schon 1951 unter dem Titel The Social History of Art]
Sekundärliteratur: 1. D.D. Egbert: English Art Critics and Modern Social Radicalism, in: The Journal of Aesthetics 26 (1967), S. 29-46. 2. K.J. Lebus: Eine Sozialhistorische Sicht auf Kunst und Gesellschaft, in: Bildende Kunst 12 (1988), S. 572. 3. J. Scharfschwerdt: Arnold Hauser, in: A. Silbermann (Hg.): Klassiker der Kunstsoziologie, München 1979.
Rolf Grimminger u.a.
* 1941 Literaturwissenschaftler Der Bielefelder Germanist Rolf Grimminger ist vor allem als Herausgeber von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur hervorgetreten. In diesem umfassenden Projekt versuchten zahlreiche Autoren die Entwicklung der deutschen Literatur von den ersten Anfängen einer 'bürgerlichen Gesellschaft' im 16. Jahrhundert bis heute darzustellen. Grimminger steht hier also stellvertretend für eine ganze Autorengruppe. Dieses Prinzip der Preisgabe der individuellen Autorschaft zugunsten der Herausgeberschaft ist in den letzten Jahrzehnten zu einem verbreiteten Modell bei der Erstellung breitangelegter, mehrbändiger Literaturgeschichten geworden. Es gibt nicht mehr den einzelnen Wissenschaftler, der im Stile eines Lebenswerks eine definitive Literaturgeschichte seiner Zeit zu schreiben versucht, sondern das Autorenkollektiv, das arbeitsteilig und mit größtmöglicher Spezialkompetenz ausgestattet gemeinsam an einem Projekt arbeitet. Das Besondere an der von Grimminger herausgegebenen Sozialgeschichte der deutschen Literatur ist, daß sie Literatur nicht nur unter ästhetischen oder philosophischen Aspekten darstellt, sondern vielmehr unter Einbeziehung der sie umgebenden Kultur und der sozialen Bedingungen ihres Entstehens zu beschreiben versucht. Wie dieses Vorhaben genau angelegt ist, sollen einige Auszüge aus den Vorbemerkungen des dritten Bandes, der sich mit der Literatur von der deutschen Aufklärung bis zur Französischen Revolution beschäftigt, verdeutlichen: "'Sozialgeschichte‘ wird hier nicht als Begriff für eine Sektorwissenschaft, sondern in ihrer umfassenden Bedeutung verstanden. Sie schließt also mit der Geschichte gesellschaftlichen Handelns auch politische, Wirtschafts- und Bewußtseinsgeschichte so weit ein, als dies für ein angemessenes Verständnis von Literatur erforderlich ist. Denn selbst literarische Kunstwerke oder philosophische Literatur können ohne Kenntnis jener sozialen Wirklichkeit, die sie in ihren Sprachformen stets schon zu Sinnzusammenhängen verarbeitet haben, nur unzureichend oder gar falsch verstanden werden. Insofern ist nicht nur pragmatische oder rein 'unterhaltsame', sondern auch die sogenannte Höhenkammliteratur unmittelbar auf die historisch bestehenden Möglichkeiten des Bewußtseins und Handelns in der Gesellschaft bezogen. Zugleich aber sind literarische Texte nie schlechterdings damit identisch, und gerade die 'hohe' Literatur weicht wegen ihrer ästhetischen und philosophischen besonderen Qualität sowohl von den Bestimmungen sozialer Praxis als auch vom
Bewußtsein, das dieser zugeordnet zu sein pflegt, meist erheblich ab. Insofern verhält sie sich auch negativ dazu. Solche Übereinstimmungen und Differenzen zwischen der Literatur und der Lebenspraxis einer Gesellschaft sind für jeden Leser wichtig und daher selbst als soziale Tatsache zu bewerten: Sie steuern seinen Willen zur Lektüre, zur Teilhabe an der literarischen Kommunikation." (S. 7) An dieser Stelle wird schon deutlich, daß es diesem literaturgeschichtlichen Projekt nicht um den Nachweis der Widerspiegelungstheorie geht, also um das einfache Ineinssetzen von gesellschaftlichen Phänomen und ihrem literarischen Ausdruck, sondern der Literatur eine spezifische Qualität zugesprochen wird: die des 'Hinausweisens' über die gesellschaftliche Praxis, natürlich immer gebunden an das, was der Autor als gesellschaftliche Realität vorfindet. Auch wird der Literatur ihre spezifische ästhetische Qualität nicht abgesprochen, denn sie soll in der "Eigenart ihres unmittelbar an Sprache und künstlerische Ausdrucksformen gebundenen Bewußtseins beschrieben werden." (S. 7) Trotzdem interessieren ja gerade die Bedingungen des literarischen Schaffens; deswegen wird jeder Band der von Grimminger herausgegebenen Literaturgeschichte von Kapiteln zur politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Situation der Zeit, zur sozialen Mentalität und literarischen Kultur einer Epoche eingeleitet. Aber auch die "Institutionen der Öffentlichkeit – so der literarische Markt, die Bildungsinstitutionen und Medien" (S. 8) – werden dargestellt. Diese Institutionen werden nicht verstanden als etwas der Literatur Äußerliches, "sondern prägen ihre Qualität und ihren Umfang sowie die Art ihrer Rezeption in jeder Epoche entscheidend." (S. 8) Diesen einleitenden, sozialgeschichtlichen Teilen folgen Untersuchungen zu literarischen Gattungen, einzelnen Autoren und Werken sowie zu gesamteuropäischen Konstellationen der Literatur. Diese Zweiteilung der Darstellung soll jedoch auf keinen Fall den herzustellenden Gesamtzusammenhang aus dem Auge geraten lassen: "Erst der Gesamtzusammenhang – signalisiert auch durch zahlreiche Querverweise – ermöglicht eine begründete 'Sozialgeschichte der Literatur'. Er besteht in der Einheit der beiden Teile, die sowohl vom Verstehen und Bewältigen der stets problematischen historischen Wirklichkeit durch Literatur als auch von dieser Wirklichkeit selbst handeln. Literaturgeschichte wird also nicht an Sozialgeschichte angehängt, und Sozialgeschichte wird nicht nach der beliebten Metapher des 'Hintergrunds' der Interpretation von Literatur ferngehalten. Daß gleichwohl zwei voneinander unterscheidbare Teile vorhanden sind, ergibt sich aus dem Erkenntnisinteresse und den Darstellungszwängen sozialgeschichtlich betriebener Literaturgeschichtsschreibung selbst. Sie läßt sich nämlich weder in den bloßen Kategorien zum historischen Gesamtprozeß noch im puren Material der literarischen Werke allein betreiben. Sie braucht jene notwendige Verbindung zwischen beiden, die in der Gliederung abgebildet ist." (S. 8f.)
Daß die hochgesteckten Ziele dieses literaturgeschichtlichen Projektes notwendig bei der Anzahl der beteiligten Wissenschaftler nicht immer vollkommen verwirklicht werden konnten, versteht sich von selber. ©rein
Rolf Grimminger (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution. 1680-1789, 1. Teilband, München 1980. Wichtige Schriften: ❍
Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1980) Gesamtherausgabe
Sekundärliteratur: 1. R. von Heydebrand (Hg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf, Tübingen 1988. 2. W. Schieder (Hg.): Literatur und Sozialgeschichte, Göttingen 1983. 3. E. Schön: Sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft, in: H. Brackert / J. Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 606-619.
Reformation lat. reformatio: Neugestaltung, Erneuerung
Die 'protestantische' Reformation ist eine christliche Erneuerungsbewegung, die entscheidend zur Neugestaltung der Kirchen- und Weltordnung in der Frühen Neuzeit beigetragen hat. Kritik an der Kirche und vor allem am Anspruch des Papsttums auf weltliche Herrschaft hatte es schon lange vor dem 16. Jahrhundert gegeben. John Wiclif und Jan Hus gelten als wichtige Vorläufer, die auch das Denken Martin Luthers beeinflußt haben. Zum Auslöser der Reformation wurde Luthers Protest gegen den Ablaßhandel, den er 1517 in 95 Thesen verbreitete. Dem Reformator kam die Entwicklung der "modernen" Medien zugute: Durch den um 1450 erfundenen Buchdruck mit beweglichen Lettern fanden seine Thesen schnell Verbreitung. In späteren Schriften (wie z.B. Von der Freiheit eines Christenmenschen oder An den christlichen Adel deutscher Nation von 1520) weitete Luther seine Kritik zu einem generellen Angriff auf Dogmen der katholischen Kirche (wie den Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes oder die Sakramentenlehre) aus. Im Zentrum von Luthers reformatorischen Überzeugungen steht die Rechtfertigungslehre. Ihr zufolge kann der Mensch nicht durch seine guten Werke, sondern einzig durch den Glauben erlöst werden. Zu den größten literarischen Leistungen Luthers zählt zweifellos seine deutsche Bibel-Übersetzung. In der Tradition des Humanismus stehend griff er als Textgrundlage für das Alte Testament auf die hebräische Fassung, für das Neue Testament auf die griechische zurück. Vollständig erschienen beide Bücher erstmals 1534 in Wittenberg. Die Bedeutung der Bibel-Übersetzung für die Entwicklung einer überregionalen deutschen Hochsprache ist unbestritten. Außerdem hat sich Luther sehr um das protestantische Kirchenlied (z.B. Ein' feste Burg ist unser Gott) verdient gemacht. Der Name 'Protestanten' leitet sich von den reformatorischen Fürsten und Reichsstädten ab, die auf dem Reichstag zu Speyer 1529 gegen das Verbot der Reformation protestierten. Seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 unterliegt die Reformation nicht mehr der päpstlichen Rechtsprechung. Damit war die juristische Teilung der christlichen Kirche vollzogen. Außerhalb Deutschlands schlug die Reformation zum Teil eigene Wege ein. In Frankreich z.B. entwickelte sich unter dem Einfluß des Reformators Johannes Calvin die protestantische Bewegung der Hugenotten, in England bildete sich die anglikanische Kirche heraus. © SR
Sekundärliteratur: 1. P. Blickle: Die Reformation im Reich, Stuttgart 1992. 2. H.A. Obermann: Die Reformation von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986. 3. L. Schorn-Schütte: Die Reformation. Vorgeschichte - Verlauf - Wirkung, München 1996.
Empfindsamkeit
1740-1780 Die deutsche Empfindsamkeit ist eine literarische Strömung der Aufklärung. In ihr stellt sich der moralisch selbstgewisse Bürger, der seine ethischen Grundsätze einem natürlichen Menschsein und damit einer natürlichen Vernunft verdankt, gegen die materielle und ideelle Vorherrschaft von Adel und Klerus. Die Moral des Bürgers gründet sich weder auf religiöse Dogmen noch andere gesellschaftliche Vorgaben, sie ist vielmehr das Ergebnis vernünftigen Nachdenkens eines mit gesundem Menschenverstand ausgestatteten Individuums. Dieser ist dem Adel aber nicht nur moralisch, sondern auch durch die Stärke seiner Empfindung überlegen. Die empfindsamen Prosaisten, Lyriker und Dramatiker sowie ihre Rezipienten erleben einen Gefühlsüberschwang, sind gerührt, in Tränen aufgelöst, ja sie erfahren die Welt mit ganzem Herzen. Zum Gefühlsauslöser kann alles werden, vom Natur- bis zum Kunsterlebnis, von der Darstellung eines gerechten Familienvaters, dessen Familie durch die Willkür eines Fürsten zerstört wird (Lessings Emilia Galotti, 1772), bis zum Selbstmörder, dessen Liebe unerfüllt bleibt, weil sie nicht in eine Ehe münden kann (Goethes Werther, 1774). Auch wenn es äußere Anlässe sind, welche die Rührung auslösen, so sind die inneren Erlebnisse der Protagonisten und der Zuschauer doch das Eigentliche. Das innere Leben des einzelnen Bürgers, seine komplexe Erfahrungsfähigkeit machen ihn zu einem aus sich selbst heraus konstruierten Individuum, mit eigenen Werten, Gefühlen und Wahrnehmungen. Entstanden ist die Empfindsamkeit unter dem Einfluß von moralischen Wochenschriften, die ursprünglich in England ihre erste Verbreitung fanden. Die populären Journale erfreuten sich im Deutschland des 18. Jahrhunderts einer großen Beliebtheit. Selbst relativ ungebildete Schichten wurden von ihnen erreicht. Meist wurden in diesen belehrenden und unterhaltenden Zeitschriften Alltagssituationen in literarisierter Form dargestellt, um Fallbeispiele für den Leser zu liefern. Wichtige Impulse gab auch die pietistische Bewegung, deren Wurzeln schon im ausgehenden 17. Jahrhunderts lagen; diese Bewegung gründete das Glaubenserlebnis auf eine direkte, bis zur Ekstase verstärkte individuelle Beziehung zu Gott. Direkte literarische Vorbilder waren die Tugendund Familienromane Englands (Richardsons Pamela, 1740, und Clarissa Harlowe, 1749) und der Einfluß Laurence Sternes mit seiner Sentimental Journey (1768). Die Übersetzung des Begriffs "sentimental" durch "empfindsam" (1768 durch Lessing) brachte den Begriff zum ersten Mal in die literarische Diskussion. Als wichtigster Vertreter der lyrischen Empfindsamkeit gilt Friedrich Gottlieb Klopstock, der in seinem Messias (1748-1773) vor allem durch die Darstellung des Seelenzustands seiner Gestalten beeindruckt. Im Drama finden wir die bürgerlichen Tugendideale vor allem im "weinerlichen" Lustspiel bei Christian
Fürchtegott Gellert (Die zärtlichen Schwestern, 1747) und in Lessings bürgerlichen Trauerspielen (u.a. Miß Sara Sampson, 1755) verwirklicht. Der empfindsame Roman zeigt sich in ersten Ansätzen in der Robinsonade Die Insel Felsenburg (1731-1742) von Johann Gottfried Schnabel. Die Insel wird für die Schiffbrüchigen zum "Asyl der Redlichen", wo ohne feudale und klerikale Herrschaftsstrukturen ein Zusammenleben auf die Vernunft gegründet werden kann. In Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G*** setzt sich dann das Verdienstprinzip als natürlicher Adel des Bürgers gegen den ererbten Adel des Feudalismus durch. Hervorzuheben ist auch Sophie von Laroches Roman Geschichte des Fräulein von Sternheim (1771), in dem die Heldin ihr Glück nur durch das Beharren auf bürgerlichen Tugenden findet, nachdem sie von den Intrigen und Ränkespielen des Hofes schon fast ins Unglück gestoßen worden war. © rein
Sekundärliteratur: 1. E. von Borrie/E. von Bories: Deutsche Literaturgeschichte Bd.2. Aufklärung und Empfindsamkeit, Sturm und Drang, 3. Aufl., München 1996. 2. G. Kaiser: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, 5. Aufl., Tübingen 1996. 3. N. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988.
Französische Klassik (Siècle classique / doctrine classique)
Als "siècle classique" (klassisches Jahrhundert) wird in Frankreich das 17. Jahrhundert bezeichnet, in dem Kunst und Kultur in beeindruckender Blüte standen. Der Hof Ludwigs XIV. (1638-1715), der sich gern als Sonnenkönig und Nachfahr der antiken römischen Herrscher sah, genoß in ganz Europa hohes Ansehen und galt als nachahmenswert. Seinen gewaltigen politischen, aber auch kulturellen Einfluß verdankte er vor allem der frühen nationalstaatlichen Einigung. Die Kardinäle Richelieu (1585-1642) und Mazarin (1602-1661), die für Ludwig XIII. und den bis 1661 noch unmündigen Ludwig XIV. die Staatsgeschäfte lenkten, bereiteten den Weg zu einer zentral organisierten (und überwachten) absoluten Monarchie. Neben der Ausschaltung ihrer Feinde durch die Niederschlagung der sogenannten Parlaments- und Adelsaufstände ("Fronde") spielte die Kunst und insbesondere das Theater dabei zumindest für Richelieu eine bedeutende Rolle. Die Bühne galt ihm als ein Medium der Propaganda, das mit seinen Stücken eine Ideologie der Ordnung zu etablieren und bewahren hatte. Aus diesem Grund hob er gesetzlich sogar die lange Zeit staatlich sanktionierte soziale Diskriminierung des Schauspielerberufes auf. Klarheit im Ausdruck und Eindeutigkeit in der Wirkung hießen die erklärten Ziele dieser Kunstpolitik. Die als "doctrine classique" (klassische Kunstlehre) zusammengefaßten Normen sind beispielhaft in Nicolas Boileaus Werk Art poétique von 1674 versammelt. Diese aus der Antike abgeleiteten Dichtungsregeln schreiben dem Drama die berühmten drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung vor (von denen sich bei Aristoteles nur die der Zeit findet). Die dargestellte Handlung hat den Gesetzen der "vraisemblance", der Wahrscheinlichkeit, zu genügen und die Natur nachzubilden - freilich eine von allem Häßlichen und Unedlen gereinigte und somit stilisierte Natur. Auch die Sprache sollte dem als "bon usage" kodifizierten sogenannten "guten Gebrauch" entsprechen. Hinter dem Gebot der "bienséance" verbirgt sich die Forderung nach Darstellung dessen, was vor allem die höfische Gesellschaft im 17. Jahrhundert als angemessen und "schicklich" empfand. Gemeinsam mit gehobenen bürgerlichen Schichten - Kaufleuten, Händlern, Beamten und Gelehrten - bildete der politisch vom Monarchen domestizierte Adel das Publikum dieser Kunst ("le cour et la ville": der Hof und die Stadt). Wichtig war vor allem ihre angestrebte Wirkung: Vergnügen am Dargestellten und Rührung über die miterlebten Schicksale sollten eine sittlichen Besserung bewirken und das Theater zur Schule der "honnêteté" (Rechtschaffenheit, Anständigkeit) umfunktionieren. Insgesamt handelt es sich also um eine ungemein restriktive Regelpoetik, die zudem einem politischen Kalkül folgte. Dennoch hat der französische
Schriftsteller Paul Valéry durchaus Recht, wenn er in diesen Vorschriften auch etwas Positives sehen möchte. Das Wesentliche an der Regel, sagt Valéry, sei ihr Widerstand. Erst die produktive Reibung an diesem Widerstand hat die Werke von Corneille, Racine oder Molière entstehen lassen und sie zu den französischen Klassikern des 17. Jahrhunderts gemacht.
Sekundärliteratur: 1. F. Nies, K. Stierle (Hg.): Französische Klassik. Theorie. Literatur. Malerei, München 1985. 2. R. Bray: La formation de la doctrine classique en France, Paris 1983. (zuerst 1927)
Biedermeierzeit
Unter diesem Titel wird die Periode von 1815 bis in die fünfziger Jahre bezeichnet. Andere Bezeichnungen - wie etwa 'Restaurationsepoche' - heben den realgeschichtlichen Rahmen hervor, vor allem die Wiedereinsetzung (Restauration) der alten Herrschaftsstrukturen nach dem Ende der napoleonischen Zeit (1806-1813) und enden entsprechend mit der Revolution von 1848. Der Stilbegriff 'Biedermeier' erkennt solche Zäsuren nicht an, sondern versucht einen Epochenstil zu identifizieren. (Bei den Fragen der literarischen Periodisierung sind die drei Bände von Friedrich Sengles Biedermeierzeit unverzichtbar; für den alltäglichen Gebrauch bietet der dritte Band nützliches Material zu den Autoren der Epoche.) Eine Konzentration auf einzelne Autoren ist wohl am sinnvollsten, wenn man die Epoche unter diesem Begriff sehen will. Es sind dann Figuren wie Annette von Droste-Hülshoff, Eduard Mörike, Jeremias Gotthelf, Franz Grillparzer und Adalbert Stifter, die für den Biedermeierstil als typisch und stilbildend angesehen werden. Gattungspoetisch liegen seine Schwerpunkte in der Novelle und in der Lyrik; das Weltbild des Biedermeiers hängt sehr eng mit Tradition und Regionalität zusammen. Ein einheitlicher Stil läßt sich jedoch nicht feststellen, allenfalls eine mittlere und vermittelnde Ästhetik, zwischen romantischer Stimmung und realistischem Objektivismus, eine Vermenschlichung der Klassik, eine gewisse Idealisierung des als materialistisch empfundenen Jahrhunderts. Vieles spricht jedoch gegen die Anwendung dieses Epochenbegriffs. Es gibt in der Tat eine Vielzahl von Kleinperioden zwischen 1815 und 1850, der ein einziger Begriff kaum Rechnung trägt. Die erste steht unter dem Einfluß des Goetheschen Alterswerkes sowie der Spätromantik. Die überragende Figur der Epoche - Heinrich Heine - paßt ohnehin kaum in den Rahmen des Begriffs. Die Spannung zwischen dem rigiden Konservatismus der Metternich-Ära und der Zurückhaltung der meisten Schriftsteller läßt sich nur schwer unter einem übergreifenden Stilbegriff untersuchen. Das andere - für ein Verständnis des ganzen 19. Jahrhunderts absolut zentrale - Verhältnis zwischen der 'Biedermeierzeit' und der Zeit nach 1848, dem sogenannten Nachmärz, wird durch den Epochenbegriff verdunkelt. Die unaufhaltsamen Ausbrüche von politischer Unzufriedenheit, die die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts markieren, treten nur sehr episodisch auf, wenn man sie durch die Behauptung stilistischer Kontinuität ausblendet. Man muß keine emanzipatorisch-revolutionäre Erfolgsgeschichte proklamieren (Hambacher Fest, Göttinger Sieben, MärzRevolution usw.), um der Epoche gerecht zu werden; aber das Interesse an ihr darf nicht von den realpolitischen Entwicklungen abgesehen, zu denen die Literatur und die Literaten in einem besonders faszinierenden und lehrreichen Spannungsverhältnis standen. Auch bietet diese Zeit, als Geburtsstunde der späteren Germanistik, erste Reflexionen über das Verhältnis Deutschlands zu seiner literarischen Tradition - ein kulturpolitischer Reflexionsprozeß, der
wesentlich zum Bild der Epoche gehört. Von kaum überschätzbarer Wichtigkeit ist auch die Entwicklung eines modernen auf ein Massenpublikum zielenden 'Literaturbetriebs' mitsamt einer scharfen Medienkonkurrenz in Deutschland. Die Auswirkungen solcher Entwicklung auf das Selbstverständnis der Schriftsteller und den Stellenwert von Kunst in der Gesellschaft reizen schließlich immer wieder zum Vergleich mit der heutigen Situation. ©HR
Sekundärliteratur: 1. J. Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: ders.: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Leipzig 1992, S. 130-158. 2. E. Neubuhr: Begriffsbestimmung des literarischen Biedermeier, Darmstadt 1971. 3. F. Vaßen: Restauration, Vormärz und 48er Revolution, Stuttgart 1975.
Vormärz
Der März 1848 - also der Monat, in dem die in Paris ausgebrochene Revolution nach Berlin kam - dient als Endpunkt dieses Epochenbegriffs, der in der französischen Juli-Revolution 1830 seinen Ausgangspunkt hat. In allen europäischen Ländern wurde die Epoche von zwei großen historischen Kräften erfaßt: vom Nationalismus, dessen Verhältnis zur tatsächlichen deutschen Reichsgründung 1871 zum Problem werden sollte, und vom Liberalismus, der in verschiedenen Schattierungen, vom gemäßigten Konstitutionalismus bis hin zum Kommunismus, an der Überwindung des Feudalsystems bzw. des Absolutismus arbeitete. Die traditionelle Literaturgeschichtsschreibung hebt im Vormärz besonders die Gruppierung "Junges Deutschland" hervor. Diese Gruppe - 1835 unter gesamtdeutsches Publikationsverbot gestellt - war aber weitgehend eine Erfindung der Zensur, denn die Beziehungen unter den Autoren - Karl Gutzkow, Heinrich Heine, Heinrich Laube, Theodor Mundt, Ludolf Wienbarg - waren äußerst locker. Dennoch markieren diese Autoren (wie etwa auch Ludwig Börne und Georg Büchner) einen entscheidenden Wendepunkt im deutschen Kulturleben, und zwar unter drei verschiedenen Aspekten: 1. Aktualisierung und Politisierung der schriftstellerischen Praxis: Sie zeigte sich in der Fortführung und im Ausbau der publizistischen Tradition seit der Aufklärung und in der aktiven Teilnahme am Literaturmarkt. Der diesbezügliche Lernprozeß, den viele - in erster Linie aber Heine und Börne - in ihrem Exil in Paris durchmachten, wirkte sich auf die ganze Gruppe aus. Dies war - unter anderem - der Grund für den immer wieder gemachten Vorwurf einer 'Überfremdung' der Gruppe. 2. Orientierung der Literatur an Zeit - und Gesellschaftskritik - hier versuchten die Autoren, die weltfremd gewordenen Traditionen der deutschen Klassik und Romantik durch die Teilnahme an der - von den Bürgern bewußt mitzugestaltenden - Geschichte zu erneuern. 3. Teilnahme von Schriftstellern an den modernen, sozial orientierten philosophischen Strömungen der Zeit: Hier spielten nicht nur der SaintSimonismus, sondern auch die Religions- und Moralkritik im Umkreis der Junghegelianer (besonders Ludwig Feuerbach) eine bedeutende Rolle. Viel wichtiger aber als die kleine Literatengruppe selbst war die Verbreitung der drei genannten Tendenzen in den vierziger Jahren, die man immer stärker als vorrevolutionäre Zeit empfand. Ausgelöst wurde die Politisierung der Dichtung (gegen die Heine in bekannt gewordenen Texten, vor allem seinem satirischen
Versepos Atta Troll durchaus Protest einlegte) 1840 durch die sogenannte RheinKrise (Protest gegen die mögliche Annexion des Rhein-Gebiets durch Frankreich), in der die nationale Tendenz des Vormärzes deutlich zum Ausdruck kam. Das heute noch umstrittene Deutschlandlied (1841) von Hoffmann von Fallersleben ist Produkt dieser Stimmung. 1844 zeigte sich im Elend der schlesischen Weber die soziale Dimension der Krisenhaftigkeit der Zeit. Heines Weberlied - wie auch seine Nähe zu Karl Marx - hat exemplarischen Charakter, obwohl auf einer qualitativen Ebene weder die vielen Weber-Texte (z.B. Ernst Willkomms Romane) noch die zahlreichen Beschwörungen einer sozialen Revolution an Heine heranreichen. Die Vormärz-Forschung hing - in ihren Tendenzen und in ihrem Ausmaß - immer von der jeweiligen Einstellung zu Heine ab. Zu Zeiten, als der Antisemitismus bzw. die Ablehnung jeder Form von Sozialismus Heine ungern in die deutsche Tradition aufnehmen wollte, lag der Schwerpunkt dieser Epoche im nationalen, teilweise auch liberalen Schrifttum. In der Bundesrepublik der frühen siebziger Jahre sowie generell in der DDR stieg das Interesse an der Periode, nicht nur unter ideologischen Aspekten, sondern aus der Perspektive einer materiellen Erforschung des frühen Literaturmarktes. ©HR
Sekundärliteratur: 1. J. Hermand: Der deutsche Vormärz, Stuttgart 1976. 2. H. Koopmann: Das Junge Deutschland, Stuttgart 1970. 3. W. Wülfing: Junges Deutschland, München 1978.
Jahrhundertwende
Welche Jahrhundertwende? Natürlich die vom 19. zum 20. Jahrhundert! Aber warum wird ein kalendarischer Begriff (und noch dazu ein nicht ganz eindeutiger) zur Bezeichnung einer literarischen Epoche verwendet? Offensichtlich, weil die Zeit der homogenen Epochenstile in der deutschsprachigen Literatur endgültig vorüber ist. Schon der kurzlebige Naturalismus der 1890er Jahre drückt nur noch eine literarische Perspektive unter anderen aus. Und in den Jahren um 1900 zeigt die deutschsprachige Literaturszene unübersehbar eine bis dahin ungekannte Pluralität der Stilrichtungen. Ein Anfänger von damals, Thomas Mann, hat dies später rückblickend beschrieben: "Merkwürdig genug: der Naturalismus war an der Tagesordnung, und Gerhart Hauptmann galt als sein Fahnenträger [...] die geisterhaften Suggestionen der späten Ibsen-Stücke waren da; die vom französischen Parnaß herstammende, esoterische Spracherneuerung Stefan Georges [...]; die kulturgesättigte [....], wienerisch-mürbe Kunst Hugo von Hofmannsthals; der pathetisch-moralisierende Sexual-Zirkus Frank Wedekinds; Rilke und sein so neuer, so verführerischer lyrischer Laut, all das behauptete Gleichzeitigkeit, war Willensausdruck dieser sehr reich bewegten Zeit [...]." Und das Bild wird noch vielfältiger, wenn man z.B. die damals so erfolgreiche, zivilisationskritische "Heimatkunstbewegung" hinzunimmt, oder die Tradition der proletarischen Literatur, oder die beiden großbürgerlichen Jungautoren Thomas und Heinrich Mann, oder auch einen Zeitgenossen wie Karl May... Zu konstatieren ist, dass die Literatur dieser Jahre weder eine einheitliche Weltsicht noch eine gemeinsame Sprache besitzt; das kann man sehr allgemein als fortschreitende Differenzierung erklären, wie sie für alle Bereiche moderner Gesellschaften kennzeichnend ist. Eine spezifischere Erklärung könnte darauf abheben, daß all die genannten Autoren und literarischen Strömungen sich in einer kritischen Spannung und Distanz zur Realität des wilhelminischen (oder auch habsburgischen) Kaiserreichs befinden und sie auf die eine oder andere Weise auch artikulieren. Dabei geht es an der Oberfläche gegen die geistfeindliche, autoritäre und waffenstarrende Fassade des Kaiserreichs, in der Tiefenstruktur aber gegen den gerade um 1900 kulminierenden Prozeß der ökonomischen, industriellen und technologischen Modernisierung, der Entwicklung zum Finanz- und Monopolkapitalismus. Damit geraten die Künstler, die sich bislang noch als Repräsentanten des gesellschaftlichen Ganzen fühlen durften, endgültig ins Abseits, sie werden - auf jeweils verschiedene Art - zum "Opponenten der Gesellschaft, zu ihrem Außenseiter" (Hans Schwerte). Als Abgrenzungs- und Kampfbegriff für die meisten dieser Tendenzen gewinnt der aus dem französischen Symbolismus übernommene - Begriff der "Moderne" an Faszinationskraft. (Die künstlerische "Modernität" war insofern, auch wenn das heute seltsam klingt, Gegenprogramm zur gesellschaftlichen "Modernisierung".)
Der "Stilpluralismus" der Jahrhundertwende (Viktor Zmegac) ist insofern nicht nur ein ästhetisches Oberflächenphänomen, sondern Resultat eines grundsätzlich neuen, sagen wir ruhig: modernen Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft. Die Literatur wird hier auf bisher ungekannte Weise mit ihrer eigenen Machtlosigkeit angesichts der harten gesellschaftlichen Tatsachen konfrontiert und reagiert darauf mit experimenteller Pluralisierung. Eben dies macht die Literatur der Jahrhundertwende um 1900 auch und gerade für die Beobachter an der Jahrhundertwende von 2000 zu einem faszinierenden und vielleicht lehrreichen Gegenstand. ©JV
Sekundärliteratur: 1. H. Kaufmann: Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger, Berlin u.a. 1976. 2. E. Schütz / J. Vogt u.a.: Einführung in die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Kaiserreich, Opladen 1977. 3. V. Zmegac: Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, Hanstein 1981.
Neue Sachlichkeit
(1924-1932) Die literarische Strömung der Neuen Sachlichkeit vollzieht einen radikalen Bruch mit dem im 19. Jahrhundert vorherrschenden Bild vom Menschen als Gefühlswesen und Individuum. Die Autoren entwerfen ‚sachliche‘ Typen, die zwar Gefühle haben, aber sie kaum artikulieren dürfen. So entstehen Romane, Erzählungen, Dramen und Gedichte, in denen die Dinge, die Wirklichkeit nüchtern und objektiv dargestellt werden - sie werden nicht dadurch verfälscht, daß sie gleichsam durch das fühlende Herz eines individuellen Helden wahrgenommen werden. Der Wald wird als Wald dargestellt und nicht als Auslöser innerer Erlebnisse (z. B. Liebe oder Selbsterkenntnis). Die Literaten fühlen sich an ihre Zeit gebunden und beschreiben sie in ihren Texten. Es geht ihnen um die Darstellung der wirtschaftlich-sozialen Realität und der Befindlichkeit einer ganzen Generation. Sie schreiben über die Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges (Zweig, Roth), über die Industrie der Weimarer Republik (Jung, Reger), über ‚die Angestellten‘ (Kracauer, Keun, Fallada, Kästner, Fleißer) und ihre Lebensweise. Sie bejahen das mechanische Zeitalter, den technischen Fortschritt und zeigen Menschen, die mit der fortschreitenden Industrialisierung in Einklang leben – oder an ihr zerbrechen. Auf den Besetzungslisten der neusachlichen Texten stehen Ingenieure, Sekretärinnen, kaufmännische Angestellte, Arbeitslose, ‚girls‘, Filmschaupieler/innen, Boxer, Sportmädel, Rennfahrer, Kinogänger und Liebespaare. Die Sprache der Neuen Sachlichkeit ist eine Alltagssprache, leicht verständlich und für jeden zugänglich. Es ist eine Sprache, die dem Verstehen der dargestellten (literarischen) Wirklichkeit nicht im Wege steht. Die Werke zielen auf Massenwirksamkeit und bieten den Menschen in der Weimarer Republik längst überfällige Leitbilder für ein Leben in der modernen Massen- und Mediengesellschaft. ©rein
Sekundärliteratur: 1. S. Becker: Neue Sachlichkeit im Roman, in: dies./ C. Weiß (Hgg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zu Romanen der Weimarer Republik, Stuttgart 1995, S.7-26. 2. H. Lethen: Neue Sachlichkeit 1924-1932. Studien zur Literatur des Weißen Sozialismus, Stuttgart 1970. 3. M. Lindner: Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und
die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne, Stuttgart u. a. 1994.
Völkisch-nationale Literatur (1890 - 1945)
Es herrscht in der Literaturwissenschaft kein Konsens, wie die Grenzen dieses Komplexes einer kleinbürgerlichen Literatur der Antimoderne genau zu ziehen sind. Ketelsen spricht von einer "völkisch-national-konservativen und nationalsozialistischen Literatur" in der Zeit von 1890 bis 1945. Der gemeinsame Nenner der verschiedenen literarischen Strömungen, die hier zusammengefasst sind, sind Antimodernismus und antidemokratische Tendenzen. Große wie leere Vokabeln umreißen das Motiv der völkischen Opposition: Heimat, Blut und Boden, und Nation. Mit dem Sammelbegriff werden verschiedene Phasen und Richtungen vereint; vor allem sind dies die frühe "Heimatkunstbewegung" im Umkreis von Ludwig Ganghofer, Hermann Stehr und Hermann Löns, die Literatur der "konservativen Revolution", die "Blut- und Boden-Literatur" und die "soldatische Literatur" (die Kriegs- und Freikorpsromane von Walter Beumelburg, Erich Edwin Dwinger, Ernst von Salomon u.a.). Wir finden in der völkisch-nationalen Literatur weniger geschlossene Theorieentwürfe als eine Fundamentalopposition gegen die Literatur des Naturalismus, gegen die Großstadt als "Ort der Moderne" und deren dekadente Literatur, gegen die Schmach von Versailles und die Gefahr der Amerikanisierung ("Verniggerung"). Der antiindustrielle Romantizismus, die Beschwörung von Schwelle, Scholle und Wurzel, von Nähr- und Wehrstand, der regressive Eskapismus (die Flucht in angeblich heile Ganzheiten), die Erzählung vom "Segen der Erde" oder dem "einfachen Leben" war oft auch mit Antisemitismus und Verherrlichung der germanischen Rasse verbunden. Auch wenn die Erzählungen, Balladen und Weltanschauungsromane sich in der Regel traditionsorientierter Muster bediente, konnte sich die antimoderne Geschichtsdeutung auch mit modernen Literaturkonzepten verbinden. Nationalistische und reaktionäre Autoren schlossen sich schon in den Jahren der Weimarer Republik zu Interessenverbänden zusammen, beispielsweise in dem 1927 von Alfred Rosenberg gegründeten "Kampfbund für deutsche Kultur". Auch die bekanntesten Werke der völkisch-nationale Literatur, die 1933 zur Staatsliteratur erhoben wurde, sind schon vor 1933 erschienen: Adolf Bartels' "Die Dithmarscher" (1898), Hermann Löns' "Der Wehrwolf" (1910), Hermann Burtes "Wiltfeber der Deutsche" (1912), Hermann Grimms Kolonialroman "Volk ohne Raum" (1926) oder Will Vespers "Das harte Geschlecht" (1931). ©MiR Sekundärliteratur:
1. U. Hass: Vom "Aufstand der Landschaft gegen Berlin", in: Hanser Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd.8: Literatur der Weimarer Republik 1918-1933, München 1995. 2. U.-K. Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890-1945, Stuttgart 1976. 3. K. Theweleit: Männerphantasien, 2 Bde., Frankfurt/M. 1978.
Exilliteratur
Im Kontext der deutschsprachigen Literaturgeschichte meint Exilliteratur in erster Linie die literarische Produktion der unter dem Nazi-Regime emigrierten AutorInnen. Quantitativ um ein vielfaches geringer ist die literarische Emigration aus der DDR. Der Begriff Exilliteratur schließt aber auch die im deutschsprachigen Raum als Aufnahmeland entstandene Literatur ein. Durch die Nationalsozialisten wurden mehr als eine halbe Million Menschen aus Deutschland vertrieben. Darunter waren etwa 30.000 politisch Verfolgte, an die 5.500 Kulturschaffende und unter diesen wiederum 2.500 SchriftstellerInnen und PublizistInnen. Den größten Teil unter den Emigrierten stellten die Menschen jüdischer Herkunft und solche, die von den Nazis aufgrund rassistischer Gesetze zu 'Nichtariern' erklärt worden waren. Die EmigrantInnen waren in jeder Hinsicht eine äußerst heterogene Gruppe. Was sie letztlich verband, war die Gegnerschaft zu den Nazis und der Anspruch, das 'andere Deutschland' zu repräsentieren. Die antifaschistisch-sozialistischen AutorInnen organisierten sich früh in Paris und Prag und schufen sich sie Foren für die Unterstützung der Volksfront in Frankreich und des Kampfes der Republikaner in Spanien, wo auch deutsche Emigranten kämpften. Der Verlust der deutschen Sprache, die Trennung vom Publikum und die äußerst geringen Veröffentlichungsmöglichkeiten schränkten die Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten der SchriftstellerInnen und PublizistInnen drastisch ein. Nur ganz wenige - wie etwa Vicki Baum, Lion Feuchtwanger, Thomas Mann, Anna Seghers, Franz Werfel - konnten sich mit ihren Veröffentlichungen den Lebensunterhalt sichern; die meisten lebten unter materiell dürftigsten Bedingungen. Literarische Zeitschriften wie Die Sammlung (Amsterdam), Neue deutsche Blätter (Prag), Das Wort (Moskau) und Zeitungen wie das Pariser Tageblatt und Der Aufbau boten in begrenztem Umfang Publikationsmöglichkeiten, und Verlage wie Querido und Allert de Lange (Amsterdam), Oprecht (Zürich), Berman-Fischer (Stockholm), Little & Brown (Boston) und El libro libre (Mexico) verlegten Bücher von EmigrantInnen, darunter solche Weltbestseller wie Das siebte Kreuz. Roman aus Hitlerdeutschland (1942) von Anna Seghers. Die dominierende Gattung war eindeutig die Erzählprosa, und zwar vor allem in zwei Varianten: als Zeitroman, der sich je nach Schauplatz wiederum differenzierte in den Deutschlandroman und den Exilroman, und als historischer Roman (z.B. die beiden Henri IV.-Romane von Heinrich Mann). Während in der ersten Phase des Exils die Aufklärungsabsicht über das Dritte Reich sich in Dokumentation, Reportage und Erlebnisbericht als bevorzugter Form des Deutschlandromans niederschlug (z.B. Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland
(1934) von Lilli Körber), war für die zweite Phase charakteristisch das Nebeneinander von zeitgeschichtlichen und historischen Stoffen. Der Deutschlandroman bildete sich hier in zwei Varianten aus: als Darstellung der Vorgeschichte des Nazi-Regimes (z.B. Der Kopflohn (1933) und Die Rettung (1937) von Anna Seghers) und als dessen modellhafte Abbildung (z.B. Nach Mitternacht (1937) von Irmgard Keun). Daneben trat der Exilroman, als dessen berühmtestes Beispiel Seghers´ Transit (1944) gelten kann. In der dritten und letzten Phase des Exils bildete sich im Bewußtsein der Zeitenwende die Epochenbilanz aus als Autobiographie, als Familien- oder Generationenroman oder als Deutschland-Allegorie. Gegenüber der Prosa nimmt sich die Lyrik des Exils quantitativ bescheiden aus. Publikationsmöglichkeiten gab es fast nur in der Exilpresse, gelegentlich in Anthologien. Etwa 200 Gedichtbände einzelner LyrikerInnen wurden in Exilländern veröffentlicht, der weitaus größere Teil erschien erst nach 1945. Das Gesamtbild der Exillyrik zwischen 1933 und 1945 wurde von jenen DichterInnen bestimmt, die bereits vor 1933 hervorgetreten waren wie Bertolt Brecht, Johannes R. Becher, Karl Wolfskehl und Else Lasker-Schüler. Für DramatikerInnen war die Exilsituation besonders schwierig - was sie schrieben, blieb in der Regel ohne Aussicht auf Aufführung. Zu den wenigen Ausnahmen gehören z.B. Die Gewehre der Frau Carrar und Furcht und Elend des Dritten Reiches von Bertolt Brecht und Margarete Steffin im französischen Exil. Die journalistische Arbeit im Exil umfaßte redaktionelle Beiträge für die Exilpublizistik bzw. die Presse des Exillandes, Essays, Reportagen, Kritiken, Reisebeschreibungen, Berichte aus Nazi-Deutschland, Feuilletons, Kurzprosa und Fortsetzungsromane. Ein Großteil der in der Emigration entstandenen Literatur kam erst lange nach 1945 oder auch bis heute nicht zur Veröffentlichung. Weitaus häufiger war ein anderer Fall: Die extremen (Über)Lebensbedingungen verhinderten das Entstehen literarischer Texte. Hinzu kam eine Verschärfung der traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Exilsituation: Durchweg waren es die Frauen, auf denen die Hauptlast der Alltagsorganisation lag. Zahlreiche Autobiographien geben darüber Auskunft. Für die meisten der emigrierten Autorinnen bedeutete die Vertreibung zugleich das Verstummen als Schriftstellerin, als Dichterin (z.B. Mascha Kaléko). Aus dem Verstummen unter den Bedingungen des Exils wurde allzu oft ein dauerhaftes. Dazu trugen auch die Nachkriegsverhältnisse im Westen Deutschlands bei, wo man die EmigrantInnen 'vergaß' und die Exilliteratur bis in die achtziger Jahre kaum beachtet wurde. Anders war die Situation in der DDR, wo die RemigrantInnen sich am Aufbau des 'anderen' Deutschland beteiligten (ein eigener Komplex, der hier ausgespart bleiben muß, ist die Problematik des Exils in der Sowjetunion).
Nun endet die Exilliteratur nicht mit dem Jahr 1945. Aus verschiedenen Gründen setzte die Aufarbeitung der Erfahrung Exil erst mit zeitlicher Verzögerung ein. Zwei größere Bereiche sind hier zu nennen: autobiographische Schriften und deutsch-jüdische Lyrik. In beiden Gattungen dominieren Autorinnen. Ein wichtiger Unterschied zur Autobiographik von Männern besteht darin, daß Frauen in ihrer rückblickend erzählten Lebensgeschichte das Private und Persönliche nicht aussparen (vgl. z.B. die Erinnerungen von Karola Bloch, Margarete Buber-Neumann, Eva Busch, Lisa Fittko, Ruth Klüger, Lola Landau, Salka Viertel, Charlotte Wolff). Seit Beginn der nazistischen Verfolgung und Vertreibung spielte gerade Lyrik eine große Rolle: als operative, subjektive, komprimierte, leicht tradierbare und zu rezipierende Form. Selbst aus den Internierungs- und in Konzentrationslagern sind lyrische Zeugnisse überliefert (wie z.B. von Selma Meerbaum-Eisinger, Sylvia Cohn, Ilse Blumenthal-Weiss). Für die meisten jüdischen Lyrikerinnen dieser Generation wurde die Erfahrung des Gerettetseins angesichts der Shoah zum lebenslangen Trauma, das sie schreibend zu bewältigen suchten. Neben den bekannteren Dichterinnen wie Nelly Sachs, Rose Ausländer und Hilde Domin, die erst nach 1945 hervortraten, gehören etwa auch Stella Rotenberg oder Jenny Aloni zu diesem Kreis von Lyrikerinnen. Die Mehrzahl der jüdischen EmigrantInnen ist im Exilland - häufig Israel - geblieben, schreibt aber weiterhin in deutscher Sprache. © SH Sekundärliteratur: 1. E. Koch / F. Trapp (Hg.): Exil. Forschung. Erkenntnisse. Ergebnisse, Hamburg 1980ff. 2. C. D. Krohn / P. von zur Mühlen / G. Paul / L. Winckler (Hg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998. (v.a. Kapitel V: Literarisches und künstlerisches Exil). 3. Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945 in sechs Bänden, hg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, Leipzig 1979ff.
Nachkriegsliteratur
Diese Bezeichnung hat sich zunächst im Tagesgeschäft des Literaturbetriebs eingebürgert und erst allmählich als literaturwissenschaftlicher Epochenbegriff verfestigt. Heute ist damit zumeist - und auch hier - die deutschsprachige Literatur gemeint, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den sog. Westzonen, der späteren Bundesrepublik (ab 1949) sowie in Österreich und der deutschsprachigen Schweiz verfasst und veröffentlicht wurde. Das lässt sich damit begründen, dass - trotz erkennbar unterschiedlicher Traditionen und Mentalitäten in diesen drei Gesellschaften - die Autoren und Autorinnen der Jahre nach 1945 sehr ähnliche Positionen, Themen und Schreibweisen entwickelten und auf ökonomischer Ebene (z.B. im Verlagswesen) wie auch persönlich und berufsständisch (z.B. in der Gruppe 47) eng miteinander vernetzt waren. Die in der Sowjetischen Besatzungszone und ihrem Folgestaat entstandene Literatur war dagegen sehr bald einer intensiven politischen Lenkung unterworfen und sollte schon deshalb gesondert betrachtet werden. Die Nachkriegsliteratur setzt angesichts der materiellen Zerstörung jedenfalls in Deutschland verzögert ein: ihre ersten bedeutenden Texte (z.B. Wolfgang Borcherts Hörspiel Draußen vor der Tür) stehen 1946/47 in seltsamer Gleichzeitigkeit mit den letzten großen Werken der Exilliteratur (Thomas Mann: Doktor Faustus). Die Erfahrungen von Krieg und Nachkriegs dominieren thematisch bis in die fünfziger Jahre hinein (Heinrich Bölls Romane und Kurzgeschichten); verbreitet ist das Bewusstsein eines Traditionsbruchs und Neuanfangs (Schlagwörter: Trümmerliteratur, Stunde Null, Kahlschlag). Dem entspricht eine lakonisch reduzierte, pathos-resistente Sprache, die u.a. von der modernen amerikanischen Kurzprosa inspiriert ist. In den fünfziger Jahren äußern sich, im Schatten von Atombombe und KoreaKrieg, Ängste vor einem Dritten Weltkrieg, aber auch das Misstrauen gegen die vor allem in Westdeutschland sich durchsetzende Wirtschaftswunder-Mentalität (Ingeborg Bachmann, Günter Eich). Die Autoren verstehen sich als "Nonkonformisten" , kritische Außenseiter der Wohlstandgesellschaft, die sie in zunehmend komplexeren Prosawerken durchleuchten (Martin Walser). Dabei rückt dann auch die Vorgeschichte des Nachkriegs, also die Zeit des Nationalsozialismus - zumindest in ihren alltäglichen Erscheinungsformen - in den Blick (Günter Grass: Die Blechtrommel, 1959). Das Zentrum des Schreckens, der Holocaust, bleibt lange ausgespart. Erst Mitte der sechziger Jahre provoziert das dokumentarische Theater die deutsche Öffentlichkeit, indem es die Mitschuld des Vatikans bzw. der deutschen Großindustrie einklagt (Rolf Hochhuth; Peter Weiss). Insgesamt ist eine deutliche Politisierung der Literatur wahrzunehmen, die sich in Formen öffentlichen
Engagements, aber auch in neuen Themen und Schreibweisen äußert (Literatur der Arbeitswelt). Sprachexperimentelle Richtungen finden Interesse, bleiben insgesamt aber minoritär (Ernst Jandl, Konkrete Poesie). Die studentische Protestbewegung von 1967/68 übernimmt die gesellschaftskritische Funktion von den literarischen Nonkonformisten; die repräsentative Institution der Gruppe 47 löst sich auf; kritische Stimmen von gesellschaftlichem Gewicht werden allmählich isolierter (Heinrich Böll). In den siebziger Jahren wendet sich eine neue Generation von Autor/inn/en (die den Krieg nicht mehr oder nur als Kinder erlebt haben) individuellen, ja intimen Themen und Problematiken zu (Beziehungsprobleme, weibliche Identität, Krankheit und Drogen usw.). Diese "neuen Subjektivität" erprobt und variiert traditionelle Formen subjektiven Schreibens wie Autobiographie, Tagebuch und Brief. In den maßstabsetzenden Texten dieser "Welle" (z.B. Bernward Vesper: Die Reise) ist persönliches Leiden jedoch immer noch eingebunden in und verursacht durch Nazizeit und Krieg. Das gilt auch noch für die so genannten "Väterbücher" der frühen achtziger Jahre. In der Breite gesehen, erschöpft sich jedoch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als Triebkraft des Schreibens allmählich. Damit gelangt auch der politisch-moralische "Sonderweg" der deutschen Nachkriegsliteratur ans Ende. Seit den siebziger Jahren ist eine zunehmende Pluralisierung der Themen und Schreibweisen, und eine Entgrenzung verschiedener literarischer Bereiche (Hoch- und Trivialliteratur, Erwachsenen- und Jugendliteratur; aus Lesersicht auch: deutsche und ausländische Literatur) zu konstatieren. Mit einer deutlichen Aufwertung des Unterhaltsamen (Patrick Süskind: Das Parfüm) löst sich die deutschsprachige Literatur vom moralisch geprägten Modell der Nonkonformisten. Die Nachkriegsliteratur löst sich ihrer Substanz nach auf und geht, ohne dass man ein bestimmtes Grenzdatum festhalten könnte, in die Gegenwartsliteratur über. Die zwangsläufige Auflösung des Sondermodells Literatur der DDR nach 1989 hat diesen Prozess insgesamt nur verstärkt. © JZ Sekundärliteratur: 1. R. Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart u.a. 1993. 2. L. Fischer (Hg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, Stuttgart 1986. 3. J. Vogt: "Erinnerung ist unsere Aufgabe". Über Literatur, Moral und Politik 1945-1990, Opladen 1991.
Gegenwartsliteratur
"Gegenwartsliteratur" ist ein relativ unscharfer Begriff, der zunächst einmal die jeweils aktuelle Literaturproduktion meint, wie sie sich in der Literaturkritik des Feuilletons spiegelt. Als Epoche der Literaturgeschichte schließt sich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur an die - klarer konturierte - westdeutsche (bzw. österreichische und deutschschweizer) Nachkriegsliteratur einerseits, die Literatur der DDR andererseits an. Seit den siebziger Jahren, als viele Schriftsteller in Reaktion auf die vorangegangene einsträngige "Politisierung" der Literatur einen neuen, individuellen Authentizitätsanspruch formulierten, begann sich das literarische Feld stärker als bisher aufzufächern. Die für die westdeutsche Nachkriegsliteratur prägenden Merkmale - wie die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und eine nonkonformistische Haltung gegenüber der bundesdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft - waren nicht mehr allgemein konsensfähig. Insgesamt ließen sich verbindliche Leitvorstellungen ideologischer oder ästhetischer Art nicht mehr auf die Tagesordnung setzen. Treffend hat Jürgen Habermas in den achtziger Jahren von einer "Neuen Unübersichtlichkeit" gesprochen. Die Vielfalt der Themen und Schreibweisen ist seitdem kaum mehr auf einen Nenner zu bringen. Allenfalls lässt sich beobachten, dass die Entwicklung der elektronischen Medien sowohl in inhaltlicher als auch formaler Hinsicht ihren Niederschlag verstärkt in der Literatur (bis hin zu einer neuartigen Netzliteratur) zu fanden. Erst mit dem Ende der deutschen Zweistaatlichkeit 1989/90 kam es zu einer breit angelegten Bestandsaufnahme und Versuchen einer neuen Funktionsbestimmung von Literatur. Zu fragen war, inwieweit die Literatur in der DDR durch ihre politische Indienstnahme ("Gesinnungsästhetik") an künstlerischem Potenzial eingebüßt hatte. Auf bundesdeutscher Seite wurden das Selbstverständnis der Nachkriegsautoren und der Rückzug in die Innerlichkeit nach 1968 als Gründe diskutiert, die zur Abkoppelung von internationalen Entwicklungen geführt hatten. Insbesondere der Anschluss an die Postmoderne (Umberto Eco, Italo Calvino, John Barth u.v.a.) sei verpasst worden. Tatsächlich ist für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ein "Exportproblem" zu konstatieren. Viele Texte leiden offensichtlich unter einem Mangel an internationaler Relevanz. Bernhard Schlinks besonders in den USA äußerst erfolgreicher Roman Der Vorleser von 1995 stellt eine der wenigen Ausnahmen dar (weil er thematisch die Erwartungen einer amerikanischen Leserschaft erfüllt). Trotz der quantitativ beachtlichen ostdeutschen "Wendeliteratur" (v.a.in Autobiographie, Tagebuch, Essay und Roman) und des Booms, den das Genre des Berlin-Romans erlebte, stand die Gegenwartsliteratur der neunziger Jahre im
Zeichen der Krise. "Langeweile" oder "Talentschwäche" wurden ihr vorgeworfen. Die großen Literaturdebatten entzünden sich bis in die jüngste Vergangenheit immer noch an maßgeblichen Autoren der Gruppe 47 (Günter Grass: Ein weites Feld, 1995 oder Martin Walser: Tod eines Kritikers, 2002). Die nachfolgende Generation der "78er" (Matthias Politycki) konnte sich nur sporadisch Gehör verschaffen. Dagegen feierten Bücher von jungen Autorinnen und Autoren, die um oder nach 1970 geboren sind, seit dem Ende der neunziger Jahre zumindest saisonale Achtungserfolge. Der Stern der "Pop-Literatur" (Christian Kracht: Faserland, 1995) oder des so genannten "Fräuleinwunders" (Judith Hermann: Sommerhaus, später, 1998) scheint jedoch schon wieder im Sinken begriffen. Denn trotz der unausgesetzten Produktion - meist auf einem vergleichsweise hohen handwerklichen Niveau - lässt sich nicht übersehen, dass den Texten oft die Grundierung mit jener Notwendigkeit mangelt, aus der dauerhafte Literatur erst entsteht. © SR Sekundärliteratur: 1. C. Döring (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter, Frankfurt/Main 1995. 2. A. Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre, Opladen 1998. 3. A. Köhler/R. Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Leipzig 1998.
William Shakespeare
* 23[?].4.1564, Stratford-upon-Avon † 23[?].4.1616, Stratford-upon-Avon englischer Dramatiker und Lyriker Zu Shakespeare ist unüberschaubar viel gesagt und geschrieben worden. Erschwerend kommt hinzu, daß wir nach den Maßstäben historischer Exaktheit so gut wie nichts über "den" Shakespeare wissen, sondern sich vielmehr jede Epoche "ihren eigenen" Shakespeare zurechtgelegt hat. Was sollte man da als Germanist/in wissen? Zum Beispiel kann man sich dem englischen Nationaldichter auf dem Weg über unseren "Olympier" nähern: Zwischen Goethe und Shakespeare lassen sich einige erhellende Linien ziehen. Beide haben im Laufe der Jahrhunderte eine so ausgeprägte Auratisierung erlebt, daß es dem (Laien-)Leser schwer fällt, ihren Texten unvoreingenommen zu begegnen - die Reaktionen schwanken in der Regel zwischen quasi-religiöser Verehrung und gelangweilter Ablehnung. Aber beide Autoren haben ihre schreibenden Nachfolgern im Wege kreativer Übernahmen oder auch Abgrenzung vielfach inspiriert. So füllt die Sekundärliteratur über beide Autoren nicht nur die sprichwörtlichen Regale, sondern ganze (mehrstöckige) Bibliotheken. Kurz: Beide sind in extremer Form zu dem gemacht worden, was man landläufig einen "Klassiker" nennt. Wichtig sind aber zwei prägnante Unterschiede: Während Goethe eines der bestdokumentierten Leben der frühen Neuzeit führte, so daß wir über jeden einzelnen Tag seines Lebens unterrichtet sind, gibt es über Shakespeare kaum eine Hand voll überlieferter Dokumente, so daß über sein Leben fast nur Spekulationen möglich sind. Dies hat dazu geführt, daß die Datierung seiner Werke bis heute nicht genau geklärt ist und es beschert uns den komischen Effekt, daß seit Jahrhunderten immer wieder bestritten wurde, daß dieser vermeintlich ungebildete Kaufmann überhaupt in der Lage gewesen sein könnte, das kultisch verehrte Werk Shakespeares geschrieben zu haben. Nach den Theorien der "Anti-Stratfordianer" war dieser "Shakespeare", bei dem sogar die Schreibweise des Namens unklar ist, ein Strohmann für diesen oder jenen Angehörigen des Hochadels… - Ein zweiter prägnanter Unterschied liegt in der dramatischen Technik: Während der Theaterdirektor Goethe die Konflikte zumeist ins Innere der Figuren verlegt und stark reflektiert, geht es beim Theaterpraktiker Shakespeare - selbst nicht nur Autor, sondern auch Schauspieler und Leiter einer Theatertruppe - saftiger zu: er betont die Handlung stärker, es wird viel mehr gemordet (in den Tragödien und Historien) bzw. intrigiert und verwechselt (in den Komödien). Die speziellen Bedingungen der Shakespeare-
Bühne bzw. des Elisabethnischen Theaters kommen als Spezifika hinzu: Fast ohne Bühnenbild oder Requisiten muß die Imagination der Zuschauer viel stärker durch sprachliche Mittel angesprochen werden als im späteren Guckkastentheater. Da schließlich zu Shakespeares Zeit (einer Blütezeit der Theaterbegeisterung) das Publikum stärker ständisch gemischt war als im bürgerlichen Theater, mußte sowohl den Bedürfnissen des adligen Publikums nach gebildeten Anspielungen als auch denen der niedrigen Stände nach spektakulären Effekten Rechnung getragen werden. Auf engem Raum kann hier nur der "deutsche" Shakespeare interessieren: Traditionell - seit der ersten postumen englischen Gesamtausgabe wie den ersten deutschen Übersetzungen - wird sein Werk eingeteilt in Tragödien, Komödien und Historien (natürlich ist auch diese Einteilung umstritten). Hinzu kommen die enigmatische Sammlung seiner Sonette (mit der immer jungen Frage: wer ist die besungene "dark lady"?) und zwei Versepen. In Deutschland wurde er aber vor allem als Dramatiker rezipiert und stieß bei seiner "Entdeckung" im 18. Jahrhundert in eine Bedürfnislücke, die er bis zum heutigen Tag ausfüllt: Noch auf den gegenwärtigen Spielplänen der deutschsprachigen Bühnen ist Shakespeare der meistgespielte Autor. - In keinem anderen Land ist Shakespeare mit solcher Emphase aufgenommen worden: er war von Anfang an Idol der Dichtergenerationen, die sich jeweils "ihren" Shakespeare zurechtlegten. Zwei Aspekte seines Dichtens standen dabei im Vordergrund: Das Auftreten des "großen" Individuums bot den Vertretern des aufkommenden Bürgertums eine Vielzahl von Identifikationsmöglichkeiten und die offene Dramenform der Shakespearschen Stücke ein Gegenmodell zu den als künstlich empfundenen Vorschriften eines streng formal ausgerichteten französischen Klassizismus, wie ihn Gottsched für Deutschland forderte. Zum anderen regten gerade Shakespeares Historien den Entwurf eines eigenständigen nationalen Traditionsbewußtseins an, wie es sich im kleinstaatlichen Deutschland nicht hatte entwickeln können. Zudem fielen die ersten wichtigen Shakespeare-Übersetzungen zusammen mit der Vollendung einer vorbildlichen und einheitlichen deutschen Hochsprache, wie sie in der deutschen Klassik erreicht wurde. Zu nennen sind hier besonders die Übersetzungen von August Wilhelm v. Schlegel und Ludwig Tieck zu Beginn es 19. Jahrhunderts (und für das 20. Jahrhundert exemplarisch auch diejenigen Erich Frieds). Auch von daher galt (der übersetzte) Shakespeare als vorbildlich. Spätestens seit dieser Zeit war Shakespeare der "dritte deutsche Klassiker" und machte alle Höhen und Tiefen - vom Epigonentum bis zu Destruktionsversuchen in der Auseinandersetzung mit den Klassikern mit. © JK
Wichtige Schriften:
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William Shakespeare: Sämtliche Werke, übers. v. August Wilhelm v. Schlegel u. Ludwig Tieck, hg. v. Erich Loewenthal, 5. Aufl., Heidelberg 1987.
Sekundärliteratur: 1. U. Baumann: Shakespeare und seine Zeit, Stuttgart 1998. 2. H.-D. Gelfert: Shakespeare, München 2000. 3. Shakespeare-Handbuch. Die Zeit - Der Mensch - Das Werk - Die Nachwelt, hg. v. I. Schabert, 4. Aufl., Stuttgart 2000.
Andreas Gryphius
* 02.10.1616, Glogau † 16.07.1664, Glogau Lyriker und Dramatiker Andreas Gryphius ist neben dem Roman-Autor Grimmelshausen der bekannteste Lyriker und Dramatiker des deutschen Barock. Als Sohn eines früh verstorbenen protestantischen Geistlichen wuchs Gryphius während des Dreißigjährigen Krieges im schlesischen Glogau auf. Trotz der Kriegswirren absolvierte er das (evangelische) Gymnasium und konnte an der Universität Leiden ausgedehnte juristische, medizinische und geographische Studien betreiben. Ab 1650 war Gryphius als Rechtsberater der Landstände in Glogau tätig. Der Lyriker Gryphius veröffentlichte bereits 1637, im Alter von 21 Jahren, seine berühmten Lissaer Sonnete. Die 31 Sonette sind in einen geistlichen und einen weltlichen Teil angeordnet, wobei Gryphius als strenggläubiger Lutheraner mit den christlichen Sonetten beginnt. Im ersten Sonett An GOTT den Heiligen Geist bittet der junge Dichter - ähnlich dem Musenanruf antiker Epen - um Erleuchtung und Beistand für das Gelingen des poetischen Werkes. Eine besondere Bedeutung kommt in den Lissaer Sonneten wie im Gesamtwerk Gryphius' dem Vanitas-Motiv zu: Es spricht die Überzeugung von der Nichtigkeit der Welt und Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens aus, der gegenüber allein der christliche Glaube Trost bereit halte. Einer der bekanntesten Texte ist das bereits in den Lissaer Sonneten enthaltene, später mehrfach überarbeitete Gedicht VANITAS; VANITATUM, ET OMNIA VANITAS. Es ist alles gantz eytel, dessen letzte Strophe lautet: "Ach! Was ist alles diß / was wir vor köstlich achten! Alß schlechte Nichtigkeit? als hew / staub / asch vnnd wind? Als eine Wiesenblum / die man nicht widerfind. Noch will / was ewig ist / kein einig Mensch betrachten!" (S. 268) Den Lissaer Sonneten folgen 1639 die Son- undt Feyrtags-Sonnete, sowie weitere Sammelausgaben, in denen auch Oden und Epigramme enthalten sind. Gryphius' Sonette beziehen ihre Wirkung aus seiner souveränen Beherrschung dieser strengen Gedichtform und des von Opitz geforderten Versmaßes des Alexandriners. Ihre Möglichkeiten einer antithetischen Gedankenführung verbindet Gryphius mit einer bildreichen, auf Verständlichkeit ausgerichteten Sprache. Gryphius' Gedichte haben ihre Wirkkraft nicht verloren: sein berühmtes Sonett Threnen des Vatterlandes, in dem er die Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges thematisiert ist - säkularisiert und aktualisiert - immer wieder als Anti-
Kriegsgedicht gelesen worden. Als Dramatiker begründet Gryphius das deutschsprachige Kunstdrama des Barock ('schlesisches Kunstdrama'). 1646/47 entsteht sein erstes Trauerspiel Leo Armenius, oder Fürsten-Mord, mit dem zentralen Thema des Märtyrer- und Tyrannenmordes, das sich durch all seine Trauerspiele zieht. Inhaltlich ist Leo Armenius, wie alle weiteren Herrscherdramen, von der Überzeugung geprägt, daß es nicht erlaubt sei, gegen einen tyrannischen Herrscher aufzubegehren, da sich die politischen und sozialen Gegensätze im Diesseits nicht lösen lassen. Leo Armenius weist alle wesentlichen Merkmale der Barocktragödien auf: das Stück besteht aus fünf "Abhandlungen" (Akten), die in "Eingänge" (Szenen) unterteilt sind. Es ist in Alexandrinern verfaßt, chorische "Reyen", die die Funktion des antiken Chors übernehmen, fassen das Geschehen - oft in Form von Allegorien zusammen oder kommentieren es. Wie Leo Armenius sind auch die anderen Trauerspiele Gryphius' wie Catharina von Georgien. Oder bewehrete Beständigkeit (entstanden 1647-1650), Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus (entstanden 1649/50) und Großmütiger Rechts-Gelehrter, oder sterbender Aemilius Paulus Papinianus (entstanden 1657-1659) heute kaum noch bühnentauglich. Wirkungsgeschichtlich weniger bedeutend sind Gryphius' Komödien, wie das von der commedia dell'arte beeinflußte satirische "Scherzspiel" Horribilicribrifax. Teutsch. Wehlende Liebhaber (entstanden 1647-1650) und sein bekanntestes Lustspiel, das "Schimpff-Spiel" Absurda Comica. Oder Herr Peter Sequentz (1658), dessen Autorschaft jedoch nicht gesichert ist. ©TvH
Andreas Gryphius: VANITAS; VANITATUM, ET OMNIA VANITAS, Es ist alles gantz eytel, in: Das Zeitalter des Barock, hg. v. A. Schöne, München 1988. Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍
Lissaer Sonnete (1637) Son- undt Feyrtags-Sonnete (1639) Leo Armenius, oder Fürsten-Mord (1650) Großmütiger Rechts-Gelehrter, oder sterbender Aemilius Paulus Papinianus (1659)
Sekundärliteratur: 1. G. Kaiser (Hg.): Die Dramen des Andreas Gryphius, Stuttgart 1968. 2. W. Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die Sonette des Andreas Gryphius, München 1976.
3. A. Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 1964.
Pierre Corneille
* 06.06.1606, Rouen † 01.10.1684, Paris Corneille gilt als Begründer des klassischen Dramas in Frankreich und zählt neben Racine und Molière zu den kanonischen Theaterautoren des "siècle classique", des französischen 17. Jahrhunderts. Sein Aufstieg ist eng mit dem des absoluten Königtums und der Durchsetzung der "doctrine classique", einer stark reglementierenden Dichtungskonzeption in der französischen Klassik, verbunden. Mit dieser Doktrin stand Corneille lange Zeit auf Kriegsfuß, bevor er sich ihr teilweise unterwarf und ihr schließlich zum Durchbruch verhalf. Zunächst hatte er eine Reihe sogenannter vorklassischer Stücke geschrieben hatte, die dem Genre der Tragikomödie zuzurechnen sind. Mit Le Cid (1636) erreichte diese Dramenform ihren Höhepunkt. Das Stück löste aber auch heftige Streitigkeiten aus: Die Académie française warf dem Autor vor, die drei Einheiten nicht zu respektieren und das Gebot der "bienséance", der Schicklichkeit, zu vernachlässigen. Inhaltlich war zu bemängeln, daß Corneille das individuelle Glücksverlangen noch über staatliche Anforderungen stellte. Was das höfische Publikum - und vor allem Richelieu - auf dem Theater sehen wollte, war jedoch der Sieg der aristokratischen Standesehre über die Liebe. In seinen späteren Stücken - wie in Horace (1640) - wurde denn auch "le devoir", die Pflicht, zum Zentralbegriff im Theater Corneilles. Der Kampf zwischen entfesselten Leidenschaften und der Verpflichtung gegenüber Vaterland und Glauben rückte in den Mittelpunkt. Wenn der Zuschauer, so läßt sich das Ziel dieser Dramatik formulieren, auf der Bühne das Unglück sieht, das die Leidenschaften hervorgerufen haben, wird er sie in sich selbst auszurotten wissen. Letztlich feiern diese Stücke den Sieg starker, heldenhafter Tugenden. Anders als wenig später bei Racine sind Corneilles Figuren heroische Willensmenschen, die den Anspruch auf autonomes, selbstbestimmtes Handeln verkörpern. In Corneilles Schaffen vereinigen sich mit Tragödie, Komödie und ihren verschiedenen Ausprägungen mehrere Tendenzen des zeitgenössischen Theaters. Der Versuch, Idealismus und Pflichtgefühl auszutarieren, stellte auch für das Publikum häufig ein Kompromißangebot dar und begründete Corneilles klassischen Ruhm. 1647 wurde er in die Académie française aufgenommen. © SR
Wichtige Schriften:
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Le Cid (1636, dt. Der Cid) Horace (1640, dt. Horaz) Cinna ou La clémence d´Auguste (1642, dt. Cinna) Polyeucte (1642)
Sekundärliteratur: 1. W. Mittag: Individuum und Staat im dramatischen Werk Pierre Corneilles, Münster 1976. 2. S. Doubrovsky: Corneille et la dialectique du héros, Paris 1963.
Molière
* 13.1.1622, Paris † 17.2.1673, Paris Molière, eigentlich: Jean-Baptiste Poquelin, ist der populärste und am meisten gespielte Komödiendichter seiner Zeit, der französischen Klassik. Als Sohn eines königlichen Hoftapezierers geboren, gründete er 1643 in Paris eine Theatergruppe. Als das Projekt scheiterte, begann eine dreizehn Jahre dauernde Wanderschaft durch die französische Provinz. Während dieser Zeit sammelte er wertvolle Erfahrungen nicht nur als Autor, sondern auch als Schauspieler und Regisseur. Zurück in Paris, avancierte Molière schnell zum Liebling Ludwigs XIV., mit dem ihn wohl vor allem der Geschmack an einer ausschweifenden Lebensführung verband. Seine Truppe wurde 1665 offiziell in den Dienst des Königs gestellt und entwickelt sich zum Vorläufer der 1680 als französisches Nationaltheater gegründeten Comédie française. Molière durfte wie kaum ein anderer die Gratifikationen genießen, die der König, der sich gern als feinsinniger Kunstliebhaber gebärdete, und sein einflußreicher Finanzminister Colbert jenen Künstlern angedeihen ließ, die ihren Zielen genehm waren. Dennoch war Molière alles andere als ein affirmativer Geist, der sich den Forderungen der kulturpolitischen 'Gleichschaltung' ('mise au pas') umstandslos unterworfen hätte. In seinen gesellschafts- und religionskritischen Charakterkomödien machte er bigottes Verhalten, geheuchelte Religiosität, Etikette und Institutionen zur Zielscheibe des Spotts. Allerdings sind es Außenseiter, Narren und Kranke, welche die sittliche und religiöse Ordnung der höfischen Gesellschaft gefährden und in den Stücken der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Meist erwartet die Übeltäter eine harte Strafe, so wie es die Staatsräson verlangt. Die erste Phase von Molières Theaterproduktion ist von weniger bedeutsamen Farcen geprägt, aus denen Les précieuses ridicules (1659) heraussticht. Sie sollen einen breiten Publikumsgeschmack treffen - und tun das auch. In seiner zweiten Schaffensperiode, der eigentlich klassischen, entstehen die fünfaktigen Komödien, die bis heute seinen Weltruhm begründen. In Le Tartuffe (1664/69), Dom Juan (1665), Le Misanthrope (1666) oder L´avare (1668) greift er zeitgenössische Probleme auf, die nicht selten von höchster politischer Brisanz sind. Besonders in den sich über fünf Jahre hinziehenden Streitigkeiten um Tartuffe ist Molière auf die Protektion seines Königs angewiesen. In der ersten Fassung dieses Stückes wird die Heuchelei eines Geistlichen denunziert, der in seinem Wunsch nach persönlicher Bereicherung eine Familie in den Ruin treibt. Nach dem Sturmlauf der kirchlichen Würdenträger mußte Molière zwar wesentliche Veränderungen vornehmen, ging aber dennoch, gestärkt durch die Intervention Ludwigs, unbeschädigt aus der Affäre hervor.
Der König freilich unterstützte seinen Dichter eher aus politischen als aus künstlerischen Gründen. Sein Wohlwollen - und gesicherte materielle Verhältnisse - erkaufte sich Molière nicht zuletzt mit den sogenannten Ballettkomödien, die in einer dritten Werkphase entstanden. Häufig waren diese barocken Gesamtkunstwerke aus Musik, Wort und Tanz Auftragsarbeiten des Hofes, die der Dichter gemeinsam mit dem Komponisten Jean-Baptiste Lully realisierte. Dennoch entstanden in dieser Zeit bedeutende Werke wie Le bourgeois gentilhomme (1670) oder Le malade imaginaire (1673). 1672 entzog der König Molière seine Gunst und übertrug die entsprechenden Privilegien auf Lully. Ein Jahr später starb der Dichter, Regisseur und Schauspieler, unmittelbar nach der vierten Aufführung seines Eingebildeten Kranken. Jetzt rächten sich die einst in den Streitigkeiten um Tartuffe unterlegenen Widersacher, indem sie Molière ein christliches Begräbnis verweigerten. © SR
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
Les précieuses ridicules (1659, dt. Die lächerlichen Präziösen) L´école des femmes (1662, dt. Die Schule der Frauen) Le Tartuffe (1664/69, dt. Der Tartüff) Dom Juan ou Le festin de Pierre (1665, dt. Don Juan) Le misanthrope (1666, dt. Der Menschenfeind) L´avare (1668, dt. Der Geizige) Le médecin malgré lui, (1668, dt. Der Arzt wider Willen) Le bourgeois gentilhomme (1670, dt. Der Bürger als Edelmann) Le malade imaginaire, (1673, dt. Der eingebildete Kranke)
Sekundärliteratur: 1. J. Grimm: Molière, Stuttgart 1984. 2. H. Stenzel: Molière und der Funktionswandel der Komödie im 17. Jahrhundert, München 1987.
Jean Racine
* 21.12.1639, La Ferté-Milon/Champagne † 21.4.1699, Paris In Jean Racine sieht die französische Literaturgeschichtsschreibung den Höhepunkt der klassischen Bühnendichtung im 17. Jahrhundert. Seine regelmäßigen fünfaktigen Tragödien erfüllen musterhaft die Forderungen der klassizistischen Regelpoetiken, der "doctrine classique" (Französische Klassik). Im Zentrum der dramatischen Konflikte steht der Kampf zwischen unbändigen Leidenschaften und Staatsräson. Früh zum Waisen geworden, wuchs Racine vor allem im Kloster Port-Royal auf. Dort hatte die religiöse Reformbewegung der Jansenisten Schulen eingerichtet. In diesen Bildungseinrichtungen, die in Konkurrenz zu denen der Jesuiten standen, wurde der Rückzug aus den weltlichen Angelegenheiten und eine auf dem Kirchenlehrer Augustinus (354 - 430) basierende Gnadenlehre propagiert. Sie geht von der grundsätzlichen Verderbtheit des Menschen aus und lehrt die Erlösung nur weniger Auserwählter, während die Mehrheit verdammt bleibe. Dieser sprichwörtliche jansenistische Pessimismus verband sich für den späteren Dramatiker Racine folgenreich mit dem Studium der antiken Dichter, vornehmlich der Tragiker. Der literarische Durchbruch gelang mit der Liebestragödie Andromaque (1667). Schon hier sind Racines Figuren von ihren Leidenschaften zerrüttet, die sie in Wahnsinn und Tod führen. In seinem Hauptwerk Phèdre (1677) wird der Konflikt zwischen individueller Liebesneigung und Loyalität gegenüber der königlichen Autorität verhandelt. Das Archaische, der Schrecken und die fürchterliche Macht des blinden Schicksals sind in Racines Tragödien jedoch in die gültigen Darstellungsnormen der "doctrine classique" eingebunden. Deswegen ist von der "klassischen Dämpfung" seines Stils gesprochen worden. Anstatt spektakuläre Aktionen auf der Bühne stattfinden zu lassen, hat Racine die Konflikte ins Innere der Handelnden verlegt. Er gilt als Meister der subtilen psychologischen Beobachtung und vor allem der Umsetzung dieser inneren Regungen in eine äußerst nuancierte Sprache, die oft in die Nähe der Lyrik gerückt worden ist. Im Unterschied zu Corneille gibt es bei Racine keinen freien Willen, der Held ist nicht mehr Herr seiner Entscheidungen, das selbstbestimmte Subjekt wird verabschiedet. Schlagwortartig läßt sich dieses Menschenbild als "Anthropologie der Schwäche" bezeichnen. In der Welt Racines waltet - wie bei den antiken Tragödiendichtern - ein allmächtiges Schicksal. Dieses Schicksal lenkt der jansenistischen Gott der Vorhersehung, doch er bleibt ein "verborgener Gott", wie ein wichtiges Buch von Lucien Goldmann über Racines Theater betitelt ist.
Andere Lesarten haben die Ohnmacht des Menschen als sein Ausgeliefertsein an den absolut regierenden König Ludwig XIV. interpretiert. Da Racine die Staatsform der absolutistischen Monarchie in seinen Tragödien nie in Frage stellte und dort letztlich immer die Ordnung siegte, konnte er der königlichen Gunst bis kurz vor seinem Tod gewiß sein. 1673 wurde er in die Académie française aufgenommen, 1677 machte Ludwig XIV. den Dichter zum offiziellen königlichen Geschichtsschreiber. © SR
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
Andromaque (1667, dt. Andromache) Britannicus (1669) Bérénice (1670, dt. Berenike) Mithridate (1673) Iphigénie en Aulide (1674, dt. Iphigenie) Phèdre (1677, dt. Phädra)
Sekundärliteratur: 1. E. Auerbach: Racine und die Leidenschaften, in: E.A.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, hrsg. von F. Schalk, Berlin 1967, S.196-203. 2. L. Goldmann: Der verborgene Gott. Studie über die tragische Weltanschauung in den "Pensées" Pascals und im Theater Racines, Neuwied 1973. 3. R. Barthes: Sur Racine, Paris 1963.
Anna Seghers
* 19.11.1900 Mainz † 01.06.1983 Ostberlin deutsche Erzählerin Anna Seghers hat während ihres von persönlichen und historischen Erschütterungen geprägten langen Lebens an dem Grundsatz festgehalten, daß die Wirklichkeit danach verlange, reflektiert zu werden - und die Kunst danach, die Realität zu reflektieren. Sie hat danach gearbeitet bis zuletzt: um für die Erfahrungen dieser Epoche eine angemessene Kunst zu gewinnen. Aber gilt auch für ihre Arbeiten, was nach Theodor W. Adorno Qualitätsmerkmal des modernen Kunstwerks sei: die Lust an der Dissonanz und dem Losgelassenen? Zur Beantwortung dieser Frage liefern vor allem ihre Erzählungen reiches Material, von den frühen wie Die Toten auf der Insel Djal (1924) und Aufstand der Fischer von St. Barbara (1928) über die Exilerzählungen vom Räuber Woynok (1938) und Der Ausflug der toten Mädchen (1946), die Nachkriegsgeschichten wie Das Argonautenschiff (1949) bis zu den ganz späten Drei Frauen aus Haiti (1980). Obwohl es in erster Linie die Romane der Exilzeit waren – Das siebte Kreuz (1942), und in heutiger Sicht zunehmend auch Transit (1947) –, die Anna Seghers in der Tradition der klassischen (oder in ihrem Falle: mimetischen) Moderne etabliert haben, so hat sie doch stets auch der kürzeren Erzählung (oder: Novelle) und ihrem ästhetischen Verweisungssystem hohe Wertschätzung entgegengebracht. Das am 19. 11. 1900 im Hause des Kunsthändlers Isidor Reiling und seiner Frau Hedwig geborene Mädchen erhielt den Namen Netty. Die Familie bekennt sich zur orthodoxen Israelitischen Religionsgemeinschaft . Mutter Hedwig war noch durch einen jüdischen Heiratsvermittler mit ihrem Mann verbunden worden; Tochter Netty wird ihren Bräutigam 25 Jahre später selbst wählen (können) und gegen den Widerstand der Familie durchsetzen (müssen). Denn gewiss wird der fürstliche Hoflieferant Isidor Reiling den ungarischen (und kommunistischen) Emigranten Laszlo Radvanyi nicht mit offenen Armen empfangen haben. Netty Reiling hatte auf väterlichen Rat in Heidelberg Kunstgeschichte studiert (und promoviert), doch die Zeitereignisse führten das junge Paar bald in die Metropole Berlin, Schnittpunkt aller künstlerischen und politischen Entwicklungen. Unter dem Pseudonym "A. Seghers" hatte die junge Autorin erstaunlichen Erfolg, der durch den Machtantritt Hitlers jedoch jäh unterbrochen wurde. Während die Eltern Opfer der Nazi-Gewalt wurden, war die Tochter bereits 1933 – wie etwa auch Heinrich Mann – nach Frankreich emigriert. Als Kommunistin und Jüdin war sie doppelt gefährdet.
Nach der Rückkehr aus dem mexikanischen Exil (1947), wo Anna Seghers in einem Kreis von literarisch-politischen Freunden lebte und produktiv war, hoffte sie auf Resonanz in allen Besatzungszonen und lebte zunächst im US-Sektor von Berlin. Tatsächlich erscheinen etwa vom Siebten Kreuz in rascher Folge verschiedene Ausgaben in München, Berlin, Amsterdam und Zürich. Doch der Kalte Krieg verändert die Verhältnisse. Ende 1950 bezieht sie eine Wohnung in Adlershof, DDR. Dort wird sie 1952 Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR (bis 1978). Eine bislang kontrovers beantwortete Frage ist, wie sich die Realität des Kalten Krieges in ihren Büchern (und in ihrer Rezeption) nach der Rückkehr widerspiegelt. Darf man, wie Marcel Reich-Ranicki, Das siebte Kreuz als antitotalitäres Werk verherrlichen und vorschnell gegen den in der DDR geschriebenen Roman Die Entscheidung (1959) ausspielen? Oder gilt Hans Mayers behutsame Abwägung über die "Macht" und "Kraft" der Schriftstellerin: "Hat sie diese Kraft eingebüßt, als sie für die Macht schrieb, die nunmehr nur noch im eigenen Namen agierte, nicht mehr im Namen der Schwachen? Das wurde oft behauptet...Wer über Anna Seghers urteilen möchte, muß sie als Ganzheit nehmen, oder als Ganzheit verwerfen." – Zu den wesentlichen Konstanten im Weltbild und Werk der Schriftstellerin gehört jedenfalls die Einsicht, daß die bisherige Geschichte eine der Gewalt ist: dies (und das Mitgefühl mit den Opfern) ist all ihren Erzählungen und Romanen eingeschrieben. Zugleich aber weiß sie von der Notwendigkeit, den Widerstand der Unterdrückten, die "Kraft der Schwachen" als Bedingung für ihr Menschsein darzustellen und damit ihren historischen Sinn zu entwickeln. ©MBi
Wichtige Schriften: ❍
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Anna Seghers: Werkausgabe in 21 Bdn., Berlin u.a. 200..ff. [im Erscheinen]. Anna Seghers: Werke in Einzelausgaben (TB), Berlin 1993ff.
Sekundärliteratur: 1. K. Batt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werk, Leipzig 1973. 2. F. Wagner / U. Emmerich / R. Radvanyi (Hg.): Anna Seghers. Eine Biographie in Bildern. Mit einem Essay von Christa Wolf, Berlin 1994. 3. C. Zehl Romero: Anna Seghers. Ein Biographie, 2 Bde., Berlin 2000, 2002.
Neuere Literaturgeschichten in Auswahl
Allgemeine Literaturgeschichten in einem Band: ❍
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Wolfgang Beutin u.a.: Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 4., überarb. Auflage, Stuttgart 1992. Peter J. Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom "Achermann" bis Günther Grass, Tübingen 1996. Fritz Martini: Deutsche Literaturgeschichte. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, 16. Auflage, Stuttgart 1972. Kurt Rothmann: Kleine Geschichte der deutschen Literatur, 13. Auflage, unveränd. Nachdruck d. 7., erw. Auflage, Stuttgart 1994. Victor Zmegac/ Zdenko Skreb/ Ljerka Sekulic: Kleine Geschichte der Deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1981.
Mehrbändige Literaturgeschichten: ❍
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Helmut de Boor/ Richard Newald (Hgg.): Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, 12 Bände, 1962-1994. Hans Jürgen Geerdts u.a.: Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1979, hier Band 2. Horst Albert Glaser: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, 10 Bände, Reinbeck bei Hamburg 1980. 11. Band erschienen bei UTB, 1998. Rolf Grimminger (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1980. Viktor Zmegac (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Königstein/Ts. 1978-1984.
Nach 1945: ❍
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Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München 1994. Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erw. Neuausgabe, Leipzig 1997. Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart 1993.
12. Ausblick: Literatur im Medienwandel 1. Zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Homer "Odyssee" "Ilias" oral poetry Epos Roman
2. Die Gutenberggalaxis Johannes Gutenberg Martin Luther Autorschaft Literalität Marshall Mc Luhan "Die Gutenberggalaxis. Das Ende des Buchzeitalters"
3. Vom Buch, über den Film bis zum Computer. Gedanken über alte und neue Medien Bertolt Brecht Radiotheorie Walter Benjamin "Der Erzähler" "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" E. A. Havelock "Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution" Walter J. Ong Jan Assmann
"Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen" Horst Wenzel "Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter" Michael Giesecke "Der Buchdruck in der frühen Neuzeit" Friedrich A. Kittler "Aufschreibsysteme"
4. Die neuen Medien und ihre literarischen Formen Rundfunk Hörspiel Fernsehen Film Computer Hyperfiction Hypertext Internet Netzliteratur
5. Erwähnte Autoren und literarische Texte Homer Johannes Gutenberg Martin Luther Hugo von Hofmannsthal Bertolt Brecht Walter Benjamin Walter J. Ong Friedrich A. Kittler
Hermann Hettner: Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts (1856-1870).
Widerspiegelungstheorie
Die Widerspiegelungstheorie diagnostiziert ein Abbildungsverhältnis zwischen dem, was Marx Basis und Überbau nennt. Der Überbau bildet die Verhältnisse der Basis ab.
Basis
Unter dem Begriff Basis versteht man die sozial-ökonomischen Bedingungen der Gesellschaft.
Überbau
Unter dem Begriff Überbau versteht man die intellektuell-kulturelle Produktion der Gesellschaft.
Friedrich Schiller
* 10.11.1759, Marbach am Neckar † 09.05. 1805, Weimar Dichter und Schriftsteller, Mediziner, Philosoph Schillers Werk historisch zu begreifen - das ist eine schwierige Aufgabe, weil die Wirkungsgeschichte des Dichters durch die Instrumentalisierung der poetischen Texte im Dienste einer intendierten nationalen Einigung (1859) und insbesondere auch einer spießbürgerlichen Selbstzufriedenheit gekennzeichnet war - ganz abgesehen von der politischen Indienstnahme, die bereits vor der Nazizeit in einen militaristischen Klassizismus mündete und schließlich Schiller als "Kampfgenossen Hitlers" präsentierte. Schillers Versuch, insbesondere in seinen Gedichten und Balladen, aber auch in seinem Drama Wilhelm Tell, die problematische Kluft zwischen elitärer und populärer Dichtung zu überwinden, ist an dieser (Fehl-)Entwicklung nicht unschuldig. Wenn Schiller (im berüchtigten Lied von der Glocke) formulierte: "Der Mann muß hinaus / Ins feindliche Leben /[ ...] Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau", dann lachten darüber bereits die Romantiker, aber Generationen von Kleinbürgern sahen sich in ihrem patriarchalischen Weltbild bestätigt. Rekonstruiert man Schillers Werkgeschichte im Lichte der neueren Forschung, so ergibt sich freilich ein anderes Bild. Schiller zeigt sich als Repräsentant einer kritischen Spätaufklärung, die gegen die Auswüchse des Feudalsystems ankämpft (Die Räuber, Kabale und Liebe), aber auch bereits zeigt, wie im Namen von Aufklärung und Menschheitsfortschritt die Freiheit des Einzelnen unterdrückt werden kann (Don Carlos). Diese 'Dialektik der Aufklärung' ist für Schillers Lebensweg ebenso kennzeichnend wie für seine Werkentwicklung: Heimlich muss der Dichter der Räuber 1781 Stuttgart verlassen, weil sein rebellisches Stück im 'Ausland' (Mannheim!) aufgeführt worden ist - und nach Jahren der Krise und der Ortswechsel ist es das kleine Herzogtum Weimar, das dem mittlerweile chronisch kranken Dichter eine relativ gesicherte Stellung ermöglicht. Dialektik der Aufklärung und des Fortschritts auch in geschichtsphilosophischer und politischer Hinsicht: Während Schiller 1789 in seiner Antrittsvorlesung als Geschichtsprofessor noch im Sinne des aufklärerischen Fortschrittsdenkens argumentiert, geht es ihm in seiner ersten philosophischen Hauptschrift, den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, bereits um die Frage, welche Funktion Kunst und Dichtung in einer Zeit nach dem Scheitern der Revolution einnehmen können. Über die Schönheit zur Freiheit - so lautet zunächst Schillers Losung, bis er einsehen muss, dass die moderne Literatur nicht mehr nach dem Modell des Schönen gedeutet werden kann, sondern durch Konflikt und Abstand vom Ideal gekennzeichnet ist, wie Schiller in der zweiten epochalen philosophischen Abhandlung Ueber naive und
sentimentalische Dichtung ausführt. Schillers Beitrag zur Weimarer Klassik liegt vor allem in einer eigenwilligen Verbindung von Klassischem und Modernen im Geiste des Erhabenen: Die Geschichtsdramen Wallenstein und Maria Stuart zeigen die Aporien jeden geschichtlichen Handelns und die Unmöglichkeit, im Rahmen der Moderne Dichtung im Geiste einer Versöhnungsästhetik zu konzipieren. Schillers Verständnis einer Dichtung der Moderne ist somit gekennzeichnet durch die Trauer über den Verlust des Schönen, durch welche die Einsicht über die Zerrissenheit der geschichtlichen Existenz des Menschen mit dem Anspruch auf ästhetisches Vergnügen verbunden werden kann: "Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget, / Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus. / [...] Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, / Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt. / Auch ein Klaglied zu sein im Mund des Geliebten, ist herrlich, / Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab." © MH
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
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Don Carlos. Infant von Spanien (1785) Kabale und Liebe (1784) Maria Stuart (1801) Die Räuber (1781) Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) Wallenstein (1800) Wilhelm Tell (1804)
Sekundärliteratur: 1. P. - A. Alt: Schiller. Leben - Werk - Zeit, 2 Bde., München 2000. 2. M. Hofmann: Friedrich Schiller. Epoche - Werk - Wirkung, München 2003 (in Vorbereitung). 3. C. Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart u.a. 1995.
Émile Zola
* 02.04.1840, Paris † 29.09.1902, Paris Émile Zola ist als der wichtigste Repräsentant des naturalistischen Romans in die europäische Literaturgeschichte eingegangen. Sein Name ist aber auch mit jenem "J´accuse!" ("Ich klage an!") verbunden, mit dem der renommierte Schriftsteller sich in die Dreyfus-Affäre (1894-1906) eingeschaltet hatte. Alfred Dreyfus, jüdischer Hauptmann in der französischen Armee, war unschuldig des Landesverrats angeklagt worden. Zola stellte sich mit seinem am 13. Januar 1898 in der Zeitung L´Aurore publizierten Aufruf eindeutig auf die Seite seiner liberalen Verteidiger, denen das Lager seiner konservativen, meist antisemitischen Gegner gegenüberstand. Zola wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und ging daraufhin für ein Jahr ins englische Exil. Sein "J´accuse" markiert die Geburtsstunde des modernen Intellektuellen, der sich kritisch und an der Sache orientiert ins Gegenwartsgeschehen einmischt. Nachdem der junge Zola zweimal durch die Literaturprüfung des Abiturs gefallen war, arbeitete er bei einem Pariser Verlag, war seit etwa 1865 als Journalist tätig und erlebte schließlich mit Thérèse Raquin (1867) seinen schriftstellerischen Durchbruch. Dieser Roman bedeutete die Abkehr von einer romantischen Literaturkonzeption. Als Inspiratoren des neuen literarischen Konzepts gelten die Brüder Goncourt, die in Germinie Lacerteux (1864) den 'vierten Stand' in Gestalt eines Hausmädchens literaturfähig gemacht hatten. In der Vorrede zur zweiten Auflage von Thérèse Raquin entwarf Zola ein naturalistisches Programm, als dessen Realisierung man den zwanzigbändigen Romanzyklus Les RougonMacquart (1871-1893) ansehen kann. Dessen Untertitel Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich konkretisiert das Vorhaben: Es ging darum, die gesellschaftliche Wirklichkeit des Second Empire vom Staatsstreich Napoléons III. (1852) bis zu seinem Untergang im DeutschFranzösischen Krieg (1870) darzustellen. Wie in Balzacs Projekt der comédie humaine sollte dabei das Spektrum aller sozialen Schichten und Berufsstände abgedeckt werden. Einzelne Bände des Zyklus erregten die besondere Aufmerksamkeit des Publikums. Nachdem der zeitübliche Feuilletonabdruck des Romans L´assommoir (Der Totschläger, 1877) von einem Skandal begleitet wurde, machte die Buchveröffentlichung Zola zu einem wohlhabenden Mann. Germinal (1885) wurde später von der marxistischen Literaturkritik als erster realistischer Arbeiterroman der Weltliteratur gefeiert. Grundlage der naturalistischen Bewegung waren vor allem die positivistische Philosophie Auguste Comtes und neue naturwissenschaftliche Theorien (die Vererbungslehre nach Charles Darwin und Prosper Lucas, die Milieutheorie
Hippolyte Taines und die Experimentalmedizin Claude Bernards). Der Mensch, so lassen sich diese Theorien verkürzt zusammenfassen, könne den Vorbestimmungen durch seine ererbte und soziale Herkunft nicht entgehen. Zola verfolgte das Ziel, diese naturwissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisse in der Literatur fruchtbar zu machen. Für die Figuren seiner Romane gibt es trotz heroischer Anstrengungen kein Entrinnen aus ihrem sozialen Milieu und ihrer erblichen Veranlagung. Realitätsversessen und drastisch schildert Zola die Nachtseiten des bürgerlichen Lebens mit Kriminalität, Prostitution, Erbkrankheiten und Elend des Industrieproletariats, des Kleinbürgertums und der aus der Gesellschaft Ausgestoßenen. In seinem Landhaus in Médan nahe Paris versammelte Zola eine Reihe von Schriftstellern - unter ihnen Guy de Maupassant und Joris-Karl Huysmans - die bald als eine naturalistische Gruppe angesehen wurden. 1880 erschien ihre Textsammlung Les soirées de Médan (dt. Die Abende von Médan). Doch schon wenig später bröckelte die 'Phalanx' der Naturalisten. Mit den theoretischen Aufsätzen Le roman expérimental (1880, dt. Der Experimentalroman) geriet Zola bei seinen Mitstreitern in den Verdacht, eine Doktrin errichten zu wollen. Nur mit Mühe gelang ihm die Vollendung von Les Rougon-Macquart. In einer dritten Schaffensphase wandte er sich ab 1894 mit Trois villes (1894-98, dt. Drei Städte) und Les quatre évangiles (1899-1903, dt. Die vier Evangelien) einer Art des Sozialromans mit utopisch-sozialistischen Ideen zu. Was Zolas Werk auszeichnet und bis heute interessant macht, ist nicht so sehr die detailgenaue Abschilderung der Wirklichkeit, die oft genug den Journalisten hinter dem Schriftsteller erkennen läßt. Im Kontrast zur naturalistischen Programmatik steht die metaphorische Aufladung seiner sprachlichen Bilder. Zu den bekanntesten zählt der legendäre "Bauch von Paris" (Le ventre de Paris, 1873), der das Hallenviertel als ein alles verschlingendes Monster zeichnet; oder die Lokomotive in La bête humaine (1890, dt. Das Tier im Menschen), die als ein mythisches Ungeheuer erscheint. Obwohl die Technik und ihre bedrohlichen Folgen für die moderne Zivilisation zu Zolas Zeit in ihrer Gesamtheit noch kaum abzuschätzen waren, werden sie hier bereits eindrucksvoll in Szene gesetzt. © SR
Wichtige Schriften: ❍
Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d´une famille sous le Second Empire. 20 Bände, 1871-1893 dt. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich; darunter: Le ventre de Paris (1873, dt. Der Bauch von Paris); L´assommoir (1877, dt. Der Totschläger); Nana, 1880; Germinal, 1885; La terre (1887, dt. Die Erde);
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La bête humaine (1890, dt. Das Tier im Menschen). Les quatre évangiles (Die vier Evangelien), 1899-1903. Le roman expérimental (Der Experimentalroman), 1880.
Sekundärliteratur: 1. R. Daus: Zola und der französische Naturalismus, Stuttgart 1976. 2. H.U. Gumbrecht: Zola im historischen Kontext. Für eine neue Lektüre des Rougon-Macquart-Zyklus, München 1978. 3. K. Korn: Zola in seiner Zeit, Frankfurt am Main 1980.
Literaturkritik
Der gegenwärtige Literaturbetrieb ist ohne die Literaturkritik nicht mehr zu denken. Ihre Aufgabe kann man darin sehen, der Literatur über die private Lektüre hinaus eine Öffentlichkeit zu schaffen, die sie im lebendigen Gespräch hält. Verfolgt man freilich literarische Debatten - wie zuletzt die Auseinandersetzungen um Günter Grass´ Roman "Ein weites Feld" (1995) drängt sich manchmal der Eindruck auf, sie sei das "Eigentliche" des literarischen Geschäfts, während die Werke nur "Futter" für die Kritiker liefern. Literaturkritik wendet sich über Zeitungen und Zeitschriften, den Rundfunk, das Fernsehen und zunehmend auch das Internet an einen größeren Kreis literarisch Interessierter als etwa die Literaturwissenschaft. Der öffentlichen Wirksamkeit des Fernsehens zum Trotz sind die verschiedenen Printmedien immer noch ihr "Hauptschauplatz". In Abhängigkeit vom jeweiligen Medium und damit vom Zielpublikum und seinen besonderen Erwartungen ändert sich sowohl die Argumentationsweise des Kritikers wie auch der Umfang und analytische "Tiefgang" seiner Kritik. Das Spektrum kann dabei von einem mehrseitigen Aufsatz mit essayistischem Anspruch bis zur Kurz- oder auch "Waschzettel"Rezension reichen, die eher einer Werbeanzeige ähnelt. Je größer das Publikum, desto wichtiger wird der Kritiker. Seine Bedeutung bemißt sich natürlich in erster Linie an seinem Einfluß auf den Buchmarkt. Die unangefochtene Spitzenstellung nahm in dieser Hinsicht längere Zeit Marcel Reich-Ranicki (ehemals Literaturkritiker beziehungsweise leitender Redakteur bei "Die Zeit" und "Frankfurter Allgemeine Zeitung") mit der Fernsehsendung "Das literarische Quartett" im ZDF ein. Hier löst sich der Gegenstand des Interesses allerdings oft vom besprochenen Buch ab und verschiebt sich auf die Präsentation des Kritikers, der zum Medienstar avanciert. Sigrid Löffler, lange Zeit selbst mit ständigem Sitz im "Literarischen Quartett", hat diese Form der kulturellen Unterhaltung "Literatainment" genannt. Was die sogenannte hohe, die "Sublimliteratur" anbelangt, so ist es innerhalb der Printmedien immer noch eine namentlich gezeichnete Rezension im "SPIEGEL", die einen relativ sicheren Verkaufserfolg in Aussicht stellt. Ausnahmen bestätigen auch diese Regel. Es folgen die Feuilletons der großen überregionalen Wochen- und Tageszeitungen, wie "Die Zeit", "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Süddeutsche Zeitung", "Die Welt" oder "Frankfurter Rundschau". Betrachtet man die Vielzahl der literarischen Neuerscheinungen, die jährlich auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig präsentiert werden, leuchtet ein, daß nur ein Bruchteil dieser Bücher tatsächlich besprochen werden kann. Dabei erweist sich die eigentliche Macht des Kritikers in der Möglichkeit zur Selektion. Er kann beeinflussen, welche Texte von einem breiteren Publikum überhaupt
wahrgenommen werden, ja er legt fest, was auf dem literarischen Markt existiert und was nicht. Die Verbindung von Literaturkritik und Buchwerbung liegt dabei auf der Hand. Seit je beschäftigt die Kritiker - und auch die Kritiker der Kritiker - die Frage nach den Maßstäben ihres Tuns. Verschiedene "Schulen" und gegensätzliche Meinungen lassen sich dabei beobachten. Kritiker aus der literaturgeschichtlichen Epoche der Aufklärung forderten etwa, ausgehend von einem "objektivierbaren" Wissen über Theorie und Geschichte literarischer Formen und Inhalte die Neuerscheinungen einzuschätzen. Ihre Antipoden aus dem Sturm und Drang hingegen meinten, die Urteile aus der "subjektiven" Anschauung beziehen und dem Genie des Dichters sowie der Originalität seines Werkes huldigen zu müssen. Gotthold Eprahim Lessing, der eigentliche Begründer der neueren deutschsprachigen Literaturkritik, vertrat die Ansicht, die Kriterien der Kritik hätten sich aus dem Werk selbst zu ergeben: Der wahre Kunstrichter, so Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie (1767/69), folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfordert. (S. 300) Heute ist dagegen die weite Verbreitung des rein subjektiven Geschmacksurteils zu beobachten. Viele Kritiker, die sich als Agenten des Publikumsgeschmacks verstehen (oder sich zumindest als solche ausgeben), schreiben eher, um sich selbst Profil zu geben, als um dem literarischen Text gerecht zu werden. Daß die Frage nach Bewertungskriterien trotzdem nicht erledigt ist, zeigt beispielsweise die Diskussion, die Autoren mit Kritikern während der Frankfurter Buchmesse 2000 vor allem auf der Internetseite des Rezensionsdienstes "Perlentaucher" (www.perlentaucher.de) führten. Sicherlich hat sich in den letzten zwanzig Jahren ein gesellschaftlicher Wertewandel vollzogen, von dem Literaturkritik nicht unbeeinflußt bleiben konnte. Der Publikums- (und somit auch der Kritiker-) Geschmack hat sich stark ausdifferenziert; es werden immer mehr Bücher gedruckt, der literarische Markt expandiert und wird internationaler. Die Schwierigkeit der Bewertung hat freilich ursächlich mit der pluralen Verfaßtheit der gegenwärtigen Gesellschaft zu tun: In ihr lassen sich verbindliche ästhetische oder ideologische Vorgaben nicht mehr umstandslos auf die Tagesordnung setzen. © SR
Lessing, Gotthold Eprahim, Hamburgische Dramaturgie (19.Stück), in: ders., Auswahl in drei Bänden. Zweiter Band, Leipzig 1952.
Sekundärliteratur: 1. W. Albrecht: Literaturkritik, Stuttgart u.a. 2001. 2. W. Barner (Hg.): Literaturkritik - Anspruch und Wirklichkeit. DFGSymposium 1989, Stuttgart 1990. 3. F. Schirrmacher: Literaturkritik, in: H. Brackert / J. Stückrat (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1992.
Illusionstheater lat. illudere: täuschen
Im Illusionstheater hat der Zuschauer das Gefühl, einem realen Geschehen beizuwohnen. Die Illusion ist so perfekt, daß er das Stück nicht mehr als die fingierte Realität wahrnimmt, die es tatsächlich nur ist. Alle Elemente des Stückes versuchen diesen Eindruck zu perfektionieren; Raumdarstellung, Szenographie, Regie und Figurenhandlung wurden hierzu eingesetzt. Mit fortschreitender Bühnentechnik und zunehmend realistischeren Kulissen wird die Täuschung vollkommener. Vor allem im naturalistischen Drama ist dieser Effekt erwünscht. Aber auch die Barockbühne, das Alt-Wiener Volksstück und das Melodrama versuchen schon, die unglaublichsten Erscheinungen mit Hilfe von Bühnentechnik "echt" wirken zu lassen. Natürlich hat auch das bürgerliche Trauerspiel, das die Einfühlung des Zuschauers in die Protagonisten zum Ziel hat, nicht auf Illusionierung verzichten können. Einen radikalen Bruch mit der Tradition des Illusionstheaters vollzogen dann Bertolt Brecht und andere. Sie zeigten das Theater als Theater, indem sie mit den Techniken der Verfremdung oder mit der Parabelform arbeiteten. © rein
Sekundärliteratur: 1. R. Alewyn / Sälzle: Das große Welttheater, Reinbek bei Hamburg 1959. 2. I. Braak: Gattungsgeschichte deutschsprachiger Dichtung in Stichworten. Teil 1a und 1b Dramatik, 1975 Kiel. 3. M. Brauneck / G. Schneilin (Hg): Theaterlexikon, Reinbek bei Hamburg 1986.
Johannes R. Becher
* 22. 05. 1891, München † 11. 10. 1958, Berlin/DDR Dichter, Schriftsteller, Politiker Immer schwieriger wird der Rückblick auf die expressionistische Generation, ihr Pathos und ihre Naivität in Sachen Weltverbesserung, wie sie etwa aus der klassischen Gedichtsammlung Menschheitsdämmerung, herausgegeben von Kurt Pinthus (1918), sprechen. Und wenn einzelne Autoren uns in den letzten Jahren wieder näher schienen, wie Georg Trakl oder Ernst Toller, so ist ein erneuertes Interesse an Becher und seinem umfangreichen und umstrittenen Werk kaum vorstellbar. Nicht immer entscheiden Talent oder 'poetische Gerechtigkeit' über das Verbleiben eines Werkes im kulturellen Gedächtnis - und für die Vergessenheit, in die Becher geraten ist, lassen sich mindestens vier (nichtliterarische) Erklärungen anführen: Erstens: Der durchaus generationstypische Lebenslauf Bechers, der sich vom Pazifisten und gefühlsbetonten Lyriker zum Parteifunktionär (zunächst in der USPD, dann in der straff und repressiv gegliederten KPD, weiterhin im Moskauer Exil), und schließlich zum Kulturminister der DDR (1954-58) 'entwickelte', erscheint heute eher kurios und paßt weder ins Selbstverständnis und die eingespielte Routine des politischen Managements noch in die des literarischen Betriebs. Zweitens: Wenn es für sozialistische Lyrik eine Zukunft, oder mindestens einen ehrenhaften Platz in der Literaturgeschichte geben sollte, dann wird es die Lyrik Brechts, und eben nicht Bechers sein. Das heißt keineswegs, dass Becher (nur) ein platter Propagandist gewesen sei; er war auch ein lyrischer Formkünstler, wie etwa seine Sonette zeigen. Aber es ist ihm wohl nicht so wie Brecht gelungen, die Lyrik auch in formaler Hinsicht als Instrument eines dialektischen und "eingreifenden" Denkens zu handhaben bzw. erst zu einem solchen Instrument zu entwickeln: Fluch des frühen Pathos! Drittens: Die Faszination der Weimarer Republik (auch auf die Literaturwissenschaft der späten sechziger und siebziger Jahre) konzentrierte sich stark auf Personen, gegen die Becher als Führer des KP-offiziellen "Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller" (BPRS) immer entschiedener Front bezog, also etwa Ernst Ottwalt, Alfred Döblin, Willi Bredel - und wieder Brecht. Becher dagegen war und blieb auf verhängnisvolle Weise der Mann des Parteiapparats.
Viertens: Die Geschichte wird bekanntlich von den Siegern geschrieben. Schon die mehr oder weniger systemkritischen Autor/inn/en aus der DDR haben es nach 1989 schwer mit dem Lesepublikum; wie ungünstig ist die Zeit dann erst für ausgesprochene Repräsentanten und Staats-Dichter wie Becher!? Kaum jemand scheint bereit, sich etwa mit seiner Vorstellung von der "Literaturgesellschaft" auseinanderzusetzen, in der (beim zweiten Blick) noch die durchaus expressionistische Wunschvorstellung einer sowohl politischen wie kulturellen Erneuerung zu erkennen ist. Johannes R. Becher ist wohl auf individuelle Leser/inn/en angewiesen, die neugierig genug sind auf das, was sich hinter einer Wand von historischen Urteilen und Vorurteilen verbergen mag. Möglich, daß sich doch die eine oder andere Tür, oder zumindest ein Nadelöhr öffnet. Zu denken wäre an Bechers Tagebücher (Auf andere Art so große Hoffnung. Tagebuch 1950), vor allem aber den Antikriegsroman Levisite oder der einzig gerechte Krieg (1926), ein frühes Beispiel politisch-dokumentarischer Literatur mit dem gar nicht so unaktuellen Thema chemischer Massenvernichtungswaffen (ein Werk, das dem Autor eine Anklage wegen Hochverrats eintrug). - Vielleicht sollte man an Becher einmal Walter Benjamins Empfehlung erproben, nur solche Bücher zu lesen, die andere nicht mehr lesen wollen. © HR
Wichtige Schriften: ❍ ❍
Levisite oder der einzige gerechte Krieg (1926) Auf andere Art so große Hoffnung. Tagebücher (1950)
Sekundärliteratur: 1. H. Haase: Johannes R. Becher - Leben und Werk, Berlin/DDR 1982. 2. M. Rohrwasser: Johannes R. Becher. Politiken des Schreibens, Basel 1980.
Feuilleton frz. Feuilleton: Blättchen
Als Feuilleton bezeichnet man zunächst traditionell den Kulturteil einer Zeitung, d.h. die Sparte, in der Nachrichten aus dem kulturellen Leben, Kritiken [QV: Literaturkritik], Essays, Glossen, Interviews etc. zu den Künsten, zu Alltags- u. Freizeitkultur, zu den (Geistes-) Wissenschaften, aber auch literarische Texte und künstlerische Abbildungen versammelt sind. (Was heute in speziellen Beilagen oder Sparten erscheint, z.B. Reise, Wissenschaft, Medien, war früher oft Teil des Feuilletons. Umgekehrt nimmt das Feuilleton immer häufiger Themen der Politik, Wirtschaft, Technik, Naturwissenschaften in sich auf.) Der Begriff des Feuilletons stammt aus den Zeiten der Französischen Revolution, als man begann, dem Journal des Débats ein Blättchen mit Theaternachrichten und -kritiken beizulegen. Diese waren bald so beliebt, daß man sie ins Hauptblatt nahm, nun im unteren Viertel oder Drittel der Seite durch einen dicken Strich abgetrennt - daher der Ausdruck: Unter dem Strich. Diese Gepflogenheit wurde in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von Zeitungen in Deutschland übernommen und nach 1848 üblich. Bis in die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts findet man das Feuilleton in der Regel von der ersten Seite der Zeitung an durchlaufend 'unter dem Strich'. Ab Mitte der Zwanziger Jahre wird ihm zunehmend eine eigene Sparte eingeräumt. Besonders populär ist seit dem frühen 19. Jahrhundert die Praxis des Feuilletonromans, d.h. des Fortsetzungsabdrucks von unterhaltsamen oder spannenden Romanen (aber auch Novellen) in Fortsetzungen. Daraus entwickelte sich eine regelrechte Praxis speziell auf Fortsetzungsabdruck hin geschriebener Romane, Erzählungen und Novellen. Hier findet man schon die Muster, wie sie heute in Fernsehserien üblich sind: Eine Dramaturgie kurzer Spannungsbögen und der 'cliff hanger', d.h. offener Schlüsse, und erinnernder Wiederholungen. Viele der bedeutenden Autoren sind so zunächst veröffentlicht worden (z. B. Gutzkow, Fontane, Döblin, Bronnen u.a.). Da im Feuilleton die Unterhaltsamkeit und die Erzeugung momentaner Aufmerksamkeit dominierte, entstand dort aber auch eine spezifische Form kleiner Texte, die man als Feuilleton bezeichnet. Es ist dies die 'Kleine Form' der Zeitung, die sich nicht immer präzise abgrenzen läßt von Formen wie Glosse, Reportage oder auch Essay. Die mangelnde Abgrenzbarkeit gehört zur ihrer Eigenheit. Daher umschreibt man diese 'Kleine Form' häufig mit Plauderei. Am ehesten kann man vielleicht sagen, daß es sich entweder um - heiterer oder nachdenklicher - Texte handelt, die Aktuelles zum Anlaß allgemeinerer Betrachtungen nehmen, oder um Texte über nicht unmittelbar Aktuelles, z.B. alltägliche Erfahrungen, ästhetische, psychologische, soziologische oder philosophische Fragen. Dabei ist ein geringer Umfang und vor allem eine eher
subjektive, zwischen Ernst und Unernst changierende, oft ironische, jedenfalls stark bildhafte und verblüffende Präsentation charakteristisch. In der Regel wird die 'Kleine Form' auf Ludwig Börne, Heinrich Heine und Moritz Saphir zu Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgeführt. Zunehmend entwickelten sich Spezialisten und Virtuosen dieser kleinen Form des Feuilletons, zunächst seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in Wien, so etwa Ferdinand Kürnberger, Ludwig Speidel und Daniel Spitzer. Später kamen in Berlin Julius Rodenberg oder Paul Lindau hinzu. Seinen Höhepunkt hatte das Feuilleton als intelligente Plauderei zweifellos in den Jahren vor 1933. Spezialisierte Autoren wie Victor Auburtin, Anton Kuh, Alfred Polgar, Roda Roda und Joseph Roth, aber auch gelegentlich Ernst Bloch, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer, liefern Texte von außerordentlicher Virtuosität, ästhetischem und intellektuellem Raffinement. Nach 1933 wurde das Feuilleton als 'jüdisch' diffamiert. Gegen seine angeblich intellektualistisch-zersetzende Manier wurde eine angeblich eigentümlich deutsche Form der von 'Herzen' kommenden Betrachtung gesetzt. (So besonders von Wilmont Haacke). Trotz namhafter Autoren wie Friedrich Sieburg, Friedrich Torberg, N.O.Scarpi (und Heinz Knobloch in der DDR) konnte das Feuilleton nicht mehr seine frühere Qualität und Popularität erlangen. Seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat es sich jedoch vor allem in der sogenannten Kolumne erneuert. Zu nennen sind hier etwa Elke Heidenreich, Michael Rutschky, Maxim Biller, Wiglaf Droste und insbesondere Max Goldt. Mit der zumeist bildhaften, schwebenden, ironischen und originellen Präsentation hängt ein dritter Aspekt, der des 'Feuilletonismus' zusammen: Man hat dem Feuilleton, den Texten im Feuilleton, aber auch anderen, sei es journalistischen oder wissenschaftlichen Texten, immer wieder den Vorwurf des Feuilletonismus gemacht, d.h. des Verspielten, Unernsten und Ungefähren. Hermann Hesse hat im 'Glasperlenspiel' sogar vom "feuilletonistischen Zeitalter" gesprochen. Zuerst und wohl am radikalsten hat Karl Kraus diese Kritik in 'Heine und die Folgen' (1911) vorgebracht. Seither kehren in Schüben Kritiken des Seichten, Oberflächlichen, Unernsten, Halbgebildeten usw. wieder. Von hierher läßt sich die Kritik am Feuilleton als Teil der Kritik an Infotainment und an der 'Spaßgesellschaft' verstehen. Daß diese Kritik zumindest in ihrer Pauschalität unsinnig ist, zeigen etwa die Texte von Axel Hacke, das Streiflicht der Süddeutschen Zeitung oder die Berliner Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (z.B. Florian Illies, Michael Angele, David Wagner) mit ihrer Kombination von hoher Intellektualität und unkonventionell-origineller Schreibweise.
© ES
Sekundärliteratur: 1. W. Haacke: Handbuch des Feuilletons, 3. Bde, Emsdetten 1951. 2. K. Kauffmann / E. Schütz (Hg.): Die lange Geschichte der Kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin 2000. 3. G. Stegert: Feuilleton für alle. Strategien im Kulturjournalismus der Presse, Tübingen 1998.
Terzine ital.: Dreizeiler, Dreireimer
Die von Dante (1265-1321) in der Divina Commedia entwickelte kunstvolle Strophenform der Terzine besteht im Unterschied zu den meisten anderen Strophenformen nicht aus vier, sondern aus drei Versen. Die Verse sind über die Strophengrenze mit einem fortlaufenden Reim verkettet: innerhalb einer Strophe reimen sich der erste und dritte Vers, während sich der zweite Vers erst mit dem ersten und dritten Vers der nächsten Strophe reimt: aba / bcb / cdc etc. Die letzte dreizeilige Strophe eines aus Terzinen bestehenden Gedichtes wird um einen Vers verlängert, damit der überhängende Reim nicht reimlos bleibt: yzy z. Das Versmaß einer Terzine ist in der italienischen Dichtung immer der Endescasillabo bzw. Elfsilbler, im Deutschen können die auftaktig fünfhebigen, alternierenden Verse sowohl zehnsilbig (mit betonter Endung) als auch elfsilbig (mit unbetonter Endung wie der Endescasillabo) sein. In Goethes 1827 entstandenem Gedicht Im ernsten Beinhaus war’s bestehen alle Terzinen ausschließlich aus Elfsilblern. Hier die ersten beiden Terzinen: "Im ernsten Beinhaus war’s wo ich beschaute Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten; Die alte Zeit gedacht‘ ich, die ergraute. Sie stehn in Reih‘ geklemmt‘ die sonst sich haßten, Und derbe Knochen die sich tödlich schlugen Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten."
(a) (b) (a) (b) (c) (b)
(S. 684) ©TvH
Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800-1832, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt/M. 1988.
Elfsilbler
Der Elfsilbler oder Endecasillabo (ital.) stammt aus Italien und ist wie der Alexandriner ein auftaktiger, also jambischer, streng alternierender Vers, allerdings um eine bzw. zwei Silben kürzer. Im Gegensatz zum Alexandriner verfügt der Endecasillabo nicht über eine feste Zäsur, vielmehr kann dieser Einschnitt hinter der vierten bis siebten Silbe liegen. Die Verse enden mit einer unbetonten Silbe und reimen sich. Der Endecasillabo erhielt in Deutschland im 18. Jahrhundert Einzug und ersetzte teilweise den bislang häufig benutzten Alexandriner. Um 1900 erlebte der Elfsilbler in Deutschland eine Blütezeit: nicht nur Stefan George erklärte ihn zu seinem Lieblingsvers, sondern auch Georg Trakl und andere Expressionisten verwendeten den Endecasillabo häufig: "Verhallend eines Sterbeglöckchens Klänge – Ein Liebender erwacht in schwarzen Zimmern, Die Wang‘ an Sternen, die im Fenster flimmern. Am Strome blitzen Segel, Masten Stränge." (S. 50) ∪ − ∪ − ∪ − ∪ − ∪ − ∪ (a) ∪ − ∪ − ∪ − ∪ − ∪ − ∪ (b) ∪ − ∪ − ∪ − ∪ − ∪ − ∪ (b) ∪ − ∪ − ∪ − ∪ − ∪ − ∪ (a) ©TvH
Georg Trakl: Traum des Bösen, in: ders.: Die Dichtungen, Frankfurt/M. 1989.
Offenes und geschlossenes Drama
Ein Schaubild nach Volker Klotz Handlung ●
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einheitliche, in sich abgeschlossene Haupthandlung kausale Verknüpfung der Szenen (Nichtaustauschbarkeit) einzelne Handlungen als Schritte einer logisch und psychologisch zwingenden Abfolge
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relative Autonomie einzelner Episoden
Einheit der Zeit Zeit nur Rahmen des Geschehens
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ausgedehnter Zeitraum Zeit als in die Ereignisse eingreifende Wirkungsmacht Zeitsprünge zwischen Szenen
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mehrere Handlungen gleichzeitig (Polymethie) Zerrissenheit der Handlungsabfolge
Zeit ● ●
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keine Zeitsprünge
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Einheit des Ortes Ort nur Rahmen des Geschehens
Ort ●
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Vielheit der Orte Räume charakterisieren und determinieren Verhalten
Personen ●
geringe Zahl Ständeklausel
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hoher Bewußtseinsgrad
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Komposition
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große Zahl keine ständischen und und sozialen Beschränkungen komplexes Zusammenspiel von Innenwelt und Außenwelt
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Handlungszusammenhang als Ganzes Gliederung vom Ganzen zu den Teilen Funktionale Zuordnung der Szene zum Akt und des Aktes zum Drama lineare Abfolge des Geschehens
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Dominanz des Ausschnitts Gliederung von den Teilen zum Ganzen Szenen haben ihren Schwerpunkt in sich selbst Variation und Kontrastierung von Szenen
Sprache ●
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einheitlicher an der Rhetorik ausgerichteter Sprachstil (Versform) Dialog als Rededuell (Stichomythie)
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Bewußtsein dominiert Sprache
Pluralismus des Sprechens Mischung der Stilebenen und der Ausdruckshaltung Orientierung an der Alltagssprache Dominanz der Sprache über das Bewußtsein
Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München 1960.
Chor griech. choros: Tanzplatz, Tanz, Reigen mit Gesang, schließlich die ihn aufführenden Personen
Der Chor ist der eigentliche Ursprung des griechischen Dramas: Aus Einzel- und Wechselreden des Chores entwickelte sich die Wechselrede zwischen Chor und Schauspielern (seit Aischylos zwei, seit Sophokles drei; Ursache für die begrenzte Personenzahl im antiken Drama). Ursprünglich war der Chor Hauptträger der Handlung, er griff direkt in diese ein, besonders durch den Chorführer, der die Handlung kommentierte. Im weiteren Verlauf wurde der Chor allmählich (bereits bei Euripides) von der Handlung gelöst und auf betrachtende Teilnahme beschränkt. In den Tragödien Senecas kommt er nur in den Zwischenakten vor, ebenso im deutschen Barockdrama als "Reyen" zwischen den "Abhandlungen". In der tragédie classique wird der Chor dann durch den "Vertrauten" ersetzt, bei Shakespeare durch die Rolle des Narren. Hier wird die reflektierende und kommentierende Funktion des antiken Chores innerhalb der Handlung von einer Einzelperson übernommen. In Brechts Stücken übernehmen oftmals die Songs diese Funktion. An diesen Beispielen wird deutlich, daß der Chor mehr und mehr im Verschwinden begriffen ist, auch wenn es berühmte 'Wiederbelebungsversuche' gab, wie Goethes Faust II. ©rein
Gotthold Ephraim Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57)
In einem Brief an Friedrich Nicolai im November 1756 schreibt Gotthold Ephraim Lessing über die Wirkungen von Tragödie und Komödie: "Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichtens auf die sichere Erregung und Dauer des einigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Fähigkeit der Tragödie ist diese: sie soll unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht blos lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. Und nun berufe ich mich auf einen Satz, den Ihnen Herr Moses vorläufig demonstriren mag, wenn Sie, Ihrem eignen Gefühl zum Trotz, daran zweifeln wollen. Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder – es thut jenes, um dieses thun zu können. Bitten Sie es dem Aristoteles ab, oder widerlegen Sie mich. Auf gleiche Weise verfahre ich mit der Komödie. Sie soll uns zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen leicht wahrzunehmen. Wer diese Fertigkeit besitzt, wird in seinem Betragen alle Arten des Lächerlichen zu vermeiden suchen, und eben dadurch der wohlerzogenste und gesittetste Mensch werden. Und so ist auch die Nützlichkeit der Komödie gerettet." (S. 55) Für den Aufklärer Lessing ist die zentrale Funktion von Literatur die Vermittlung von moralischen Grundsätzen. So wundert es kaum, daß er die Fähigkeit des Mitleidens – also die Wirkung der Tragödie - , und die Fähigkeit, das Lächerliche zu erkennen – die Wirkung der Komödie - zu den wichtigsten bürgerlichen Tugenden erklärt, um sowohl die Tragödie als auch die Komödie moralisch zu rechtfertigen. Umgekehrt fordert er romantische Formen, die eben jene Wirkungen am besten erzielen. ©rein
Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel [1756/57], hg. v. Jochen Schulte-Sasse, München 1972.
Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie (1767)
In der Hamburgischen Dramaturgie versucht Gotthold Ephraim Lessing – seine Gedanken aus dem Briefwechsel über das Trauerspiel fortführend – das Mitleiden als erste Wirkung der Tragödie festzuschreiben. Mitleid kann nur derjenige empfinden, der sich in die handelnden Figuren einfühlt und sie als ihm ähnlich erkennt. Der Zuschauer spürt, daß auf der Bühne Stellvertreter stehen, die ein Schicksal verkörpern, welches auch ihm zustoßen kann. Lessing beruft sich auf Aristoteles, den er von seinen Vorgängern falsch verstanden sieht: "Denn er, Aristoteles, ist es gewiß nicht, der die mit Recht getadelte Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines anderen, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhängt sehen, uns selbst betreffen können; es ist die Furcht, daß wir der bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit anderen Worten: Diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid. [...] Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nämlich, daß das Übel, welches der Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der Beschaffenheit sein müsse, daß wir es auch für uns selbst, oder für eines von den Unsrigen, zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sei, könne auch kein Mitleiden statt finden. Denn weder der, den das Unglück so tief herabgedrückt habe, daß er weiter nichts für sich zu fürchten sähe, noch der, welcher sich so vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht begreife, woher ihm ein Unglück zustoßen könne, weder der Verzweifelnde noch der Übermütige pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret daher auch das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das andere. Alles das, sagt er, ist uns fürchterlich, was, wenn es einem begegnen sollte, unser Mitleid erwecken würde: und alles das finden wir mitleidswürdig, was wir fürchten würden, wenn es uns selbst bevorstünde. Nicht genug also, daß der Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglück nicht verdiene, ob er es sich schon durch irgend eine Schwachheit zugezogen: seine gequälte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld sei für uns verloren, sei nicht vermögend, unser Mitleid zu erregen, wenn wir keine Möglichkeit sähen, daß uns sein Leiden auch treffen könne. Diese Möglichkeit finde ich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein
pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen; kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal gar leicht dem seinigen eben ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam zur Reife bringe. So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Ursache begreiflich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht eine besondere, von dem Mitleiden unabhängige Leidenschaft sei, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, so wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr, erregt werden könne; welches die Mißdeutung des Corneille war; sondern weil, nach seiner Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig einschließt; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann. [...] Sobald die Tragödie aus ist, höret unser Mitleid auf, und nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurück, als die wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Übel für uns selbst schöpfen lassen." (S. 411-414 und S. 422) ©rein
Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie [1767], Leipzig 1972.
Metaphysik
Philosophische Disziplin oder Lehre, die das hinter der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt Liegende, die letzten Gründe und Zusammenhänge des Seins behandelt.
objektiv
Diese Vorstellung der Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis stellt einen zentralen Problempunkt des Positivismus dar. In der Folge wurde die Möglichkeit eines objektiven, beobachterunabhängigen Zugangs zur Wirklichkeit immer stärker in Frage gestellt.
Geistesgeschichtliche Methode
Die geistesgeschichtliche Methode kann als Antwort auf den im späten 19. Jahrhundert vorherrschenden positivistischen Zugang zu literarischen Werken gelten. Will der Positivismus als naturwissenschaftlich orientierte Methode einzelne Erscheinungen im Werk erklären, so zielt die Geistesgeschichte dahin, ein Werk in seiner Ganzheit zu verstehen. 'Ganzheit' meint hier nicht das Kunstwerk als künstlerisches Ganzes in all seinen Einzelteilen und Zusammenhängen, sondern das Kunstwerk als Ausdruck des einheitlichen Geistes seiner Zeit. Die Dichtung bildet nicht soziale und historische Bedingungen ab, auch dies wäre eine tendenziell positivistische Vorstellung, sondern ist - nach Wilhelm Dilthey - ein freier individueller Erlebnisausdruck, in dem sich im Idealfall die Gesamtstruktur einer historischen Epoche - also ihre Substanz, ihr Geist - spiegelt. Die Geistesgeschichtler gehen also von der Grundannahme aus, daß sich von allen gesellschaftlichen Erscheinungen (Staat, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst etc.) der Geist einer Epoche ablesen läßt. Diese allgemeinen Gesetze des Geistes können vom Literaturwissenschaftler zwar nicht direkt beobachtet werden, aber er kann ihre Gehalte und Ideen verstehen. Zusammenfassend kann man sagen, daß ein literarisches Werk auf die Manifestation des Zeitgeistes reduziert wird und das Kunstwerk an sich nicht mehr im Vordergrund steht. Dies ist eine Kritik, der sich der geistesgeschichtliche Ansatz häufig ausgesetzt sah. Aber auch ihre umfassende und synthetisierende Fragestellung erschien problematisch, forderte sie doch auch in der Methode gerade zur Spekulation heraus. Die Blütezeit der Geistesgeschichte waren die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts; ihre Begründer der schon erwähnte Dilthey und Rudolf Unger, der 1908 mit seinem programmatischen Aufsatz "Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft" viele Monographien und Überblicksdarstellungen anstieß. Eines der bekanntesten Erzeugnisse dieser historischen Methode ist Der Geist der Goethezeit (1923-1953) von Korff. ©rein Sekundärliteratur: 1. Ch. König/E. Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 1910-1925, Frankfurt/M. 1993. 2. K. Weimar: Geistesgeschichte, in: ders. (Hg.): Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft, Band 1: A-G. Neubearbeitung des Reallexikons der Deutschen Literaturgeschichte, Berlin u.a., 1997, S. 678-681.
Literarizität auch: Poetizität
Von den russischen Formalisten geprägter Begriff, der für all jene Strukturen und Verfahren steht, welche das Wesen der Literatur, das Literarische ausmachen. Als typische literarische Prinzipien gelten die Konvergenz von Ausdruck und Inhalt, Mehrdeutigkeit, Verfremdung, Selbstreferenz und Rekurrenz. Der Begriff Literarizität berücksichtigt gezielt, daß literarische Strukturen und Verfahren auch außerhalb der Literatur in Texten oder Reden verwendet werden können. Dort aber haben sie kommunikative Funktion, während sie in der Literatur als Selbstzweck dominieren.
Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik (zur Lyrik) (1946)
In seiner 1946 publizierten Untersuchung Grundbegriffe der Poetik versucht Staiger eine neue, anthropologische Bestimmung nicht so sehr der Lyrik, als vielmehr des Lyrischen. Sich von den Überlegungen Hegels absetzend, definiert Staiger das "lyrische Dasein" als einen spezifischen menschlichen Zustand, in dem die Subjekt-Objekt Trennung aufgehoben sei. Damit wendet er sich gegen das traditionelle Verständnis von Lyrik als rein subjektivem Ausdruck. Vielmehr erblickt Staiger im Lyrischen eine Verfaßtheit, in der das Subjekt die Grenzen seiner Identität überschreitet und für einen Augenblick im Dasein aufgeht weshalb weder Subjektivität noch Objektivität angemessene Kategorien der Beschreibung sind. "Der Gegensatz [zwischen Lyrik und Epik] wird aber auch noch in einem anderen Sinne ausgelegt. Der Epiker stelle die Außenwelt, der Lyriker seine Innenwelt dar. Lyrische Dichtung sei innerlich. Was heißt das? Im Epischen besteht, wie sich zeigen wird ein Gegenüber: hier das unbewegte Gemüt des Erzählers, dort das bewegte Geschehen. Was soll aber 'innerlich' besagen? [...] Die Rede von 'innen' und 'außen' entsteht aus der Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die Seele haust im Körper und läßt durch die Sinne die Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein. Sosehr sich heute jedermann gegen diese Vorstellung ereifert, sie wurzelt tief in unserem Geist und läßt sich kaum je ganz überwinden. Der Anblick des Menschen, der vor uns wandelt und körperlich scharf umrissen ist, aus dessen Augen die Seele leuchtet, legt sie uns immer wieder nahe. Und freilich, ganz sinnlos ist sie nicht. Daß wir durch den Körper von der Außenwelt geschieden sind, ist eine Erfahrung, die zu einer bestimmten – der epischen – Stufe gehört. Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf. Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung verschuldet. Wenn lyrische Dichtung nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern 'innen' und 'außen', 'subjektiv'und 'objektiv' sind in der lyrischen Poesie überhaupt nicht geschieden." (S. 44f.) ©TvH
Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, München 1971.
Personale Erzählsituation
In der personalen Erzählsituation bestimmen die 'Innenperspektive', in der die Gedanken und Gefühle einer Figur "ausgeleuchtet" werden können, und die szenische Darstellung durch eine 'Reflektorfigur' (englisch auch 'showing') die Erzählung. Es wird in der Er- oder Sie-Form erzählt. Im "Idealfall" wird die Geschichte aus dem Blickwinkel nur einer Figur dargeboten, die natürlich durch ihren jeweiligen Bewußtseinshorizont beschränkt wird. Es kann nur erzählt werden, was diese Figur wahrnimmt oder denkt (dies geschieht oft in Form der erlebten Rede). Die personale Erzählsituation eignet sich also hervorragend für die Wiedergabe psychischer Prozesse. Deswegen ist sie oft im sogenannten 'Bewußtseinsroman' des 19. aber auch 20. Jahrhunderts zur Anwendung gekommen. Dennoch ergeben sich natürlich auch Schwierigkeiten aus der Beschränkung auf eine Figurenperspektive beziehungsweise deren 'point of view'. Zum einen ist eine gewisse Monotonie in der Erzählung kaum zu vermeiden, weshalb oftmals innerhalb dieser 'Erzählsituation' zwischen der Sicht verschiedener Figuren gewechselt wird ('Multiperspektive'). Außerdem kann es dem Autor Probleme bereiten, bestimmte Informationen (z.B. über Zeit oder Ort der Handlung) an den Leser zu bringen, da er sich freiwillig auf die Perspektive einer bestimmten Figur beschränkt hat. Hier kann es notwendig sein, die 'personale' Sicht kurzzeitig zu verlassen, um gewissermaßen 'auktorial' in das Geschehen einzugreifen. Das Vorherrschen von Erzähltechniken wie Beschreibung oder szenische Darstellung (in Form dialogischer Partien) erweckt den Anschein, hier sei kaum noch ein Erzähler am Werk, der sich vermittelnd zwischen die Geschichte und den Leser stellt. Damit wird in der 'personalen Erzählsituation' ein sehr hoher Grad von "Unmittelbarkeit" erzeugt, die tatsächlich natürlich nur eine Wirklichkeitsillusion sein kann (vgl. Mimesis). Eine Radikalisierung dieser personalen Erzählsituation hat Stanzel in der sogenannten 'neutralen Erzählsituation' gesehen. Hier ist nicht einmal mehr eine 'Reflektorfigur' auszumachen, vielmehr wird die Geschichte wie von einem unsichtbar bleibenden Beobachter oder einer Kamera (dem 'camera-eye') erzählt. Da die Erzählung von Bewußtseinsprozessen ausgeblendet wird (Formulierungen wie "dachte sie..." sind also nicht möglich), ist der Leser umso mehr aufgefordert, diese hinzuzufügen. Man könnte sagen, daß der Erzähler hier keine Reflexionen mehr darstellt, sondern lediglich Reflexe. © SR
Sekundärliteratur: 1. F.K. Stanzel: Typische Formen des Romans, Göttingen 1964.
2. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen 1989. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, Kap.2.
Aleatorik
Moderner Kompositionsstil in der Musik, der dem Interpreten des Stücks einen breiten Spielraum bei der Ausführung überläßt (aleatorisch = vom Zufall abhängig).
Literatursoziologie
Die Literatursoziologie als eine Methode der Literaturwissenschaft zu bezeichnen, ist problematisch. Denn unter diesem Begriff werden die unterschiedlichsten Ansätze innerhalb der Germanistik und anderer Philologien subsumiert. Gemeinsam haben sie allenfalls, daß sie die Produktion und Rezeption von Literatur, die ästhetische Gestalt des Textes und / oder die Entwicklung literarischer Genres im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und soziokulturellen Bedingungen betrachten. Sie beschäftigen sich also hauptsächlich mit der Frage, wie sich das Verhältnis von Literatur und gesellschaftlichem Leben beschreiben läßt. Den Auftakt zu dieser soziologischen Betrachtungsweise von Literatur bildeten die kultur- und kunstsoziologischen Schriften von Georg Simmel, Max Weber und die Arbeiten aus dem Frühwerk von Georg Lukács. Aber auch Literaturwissenschaftler im engeren Sinne haben schon vor dem Ersten Weltkrieg soziologische Kategorien an literarische Texte herangetragen. Hier reicht das Spektrum von einer Sozialgeschichte der Literatur (A. Hirsch) über publikumssoziologische Fragen (L. Schücking) bis zu einer marxistischmaterialistischen Verfahrensweise (A. Kleinberg). Eine dominante Rolle spielten diese Ansätze in der Literaturwissenschaft jener Zeit jedoch nicht; gegen die Vorherrschaft der geistesgeschichtlichen Methode konnten sie sich nicht durchsetzen. Ging die orthodox marxistisch orientierte Literatursoziologie noch sehr vereinfachend von einem reinen Widerspiegelungsverhältnis von Literatur und Gesellschaft aus, so hatte sich im Bereich der klassischen Soziologie (Simmel, Weber) die Überzeugung durchgesetzt, daß es sich bei der Kunst um einen eigenständigen Bereich der Gesellschaft handele, der nach eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten funktioniere. An diesem Punkt setzte dann auch die Literaturwissenschaft der Siebzigerjahre an, die nach der werkimmanenten Interpretation der Fünfziger- und Sechzigerjahre mit ihrem sehr stark eingeengten Blick auf das Kunstwerk wieder die Gesellschaft in den Blick nahm. Eine wichtige Position nimmt hier Theodor W. Adorno ein, der die Literatur in einem dialektischen Wechselspiel als abhängig von der gesellschaftlichen Situation und als autonom betrachtet - 'autonom' bedeutet in diesem Zusammenhang, daß sie sich den sozialen Verwertungsprozessen entzieht und dadurch in Widerspruch zur Gesellschaft steht. Ein anderer einflußreicher Kultur- und Literatursoziologe, dessen Einfluß bis in die heutige Zeit reicht, ist der Franzose Pierre Bourdieu. Er entwickelt im Anschluß an den Marxismus und durch eine Erweiterung des dort verwendeten Kapitalbegriffs eine Kulturtheorie, welche der Literatur einen eigenständigen
Bereich in der Gesellschaft zuordnet. Allerdings wird die Literatur sowohl ästhetisch als auch inhaltlich durch die soziale Position des Autors und damit indirekt durch die Gesellschaft determiniert. Sowohl hohe als auch Trivialliteratur kann stellvertretende Aussagen für eine bestimmte Klasse machen, als deren Sprachrohr der jeweilige Autor begriffen wird. Als literatursoziologische Methoden neueren Zuschnitts können Systemtheorie und Empirische Literaturwissenschaft genannt werden. Konzentriert sich die Systemtheorie dabei auch auf literarische Werke und die Kommunikation über diese, so versucht die Empirische Literaturwissenschaft die komplexen Zusammenhänge von Kunstproduktion, -rezeption, -vermittlung und verarbeitung zu analysieren. Sie beschäftigt sich also nicht nur mit der Literatur im engeren Sinne, sondern auch mit ihrer Vermittlung in Literaturkritik oder Schule, mit ihrer Produktion durch den Autor oder den Verlag, mit ihrer Verarbeitung in der Werbung und natürlich mit ihrer Rezeption durch den individuellen Leser. Die Empirische Literaturwissenschaft berührt also nicht nur das Literatursystem, sondern auch das Wirtschafts-, Erziehungs- und Wissenschaftssystem. ©rein
Sekundärliteratur: 1. A. Dörner / L. Vogt: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur, Opladen 1994. 2. J. Link / U. Link-Heer: Literatursoziologisches Propädeutikum, München 1980. 3. P. V. Zima: Textsoziologie. Eine kritische Einführung, Stuttgart 1980.
Pierre Bourdieu
* 1.8. 1930, Denguin Kultur- und Literatursoziologe Der Franzose Pierre Bourdieu, Vertreter einer der derzeitig wichtigsten Positionen in der Kultur- und Literatursoziologie, tritt zunächst in den sechziger Jahren durch ethnologische Analysen der algerischen Gesellschaft in Erscheinung. Dort entwickelt er die ersten Elemente seiner Kulturtheorie, so den Begriff des symbolischen Kapitals, das er als relativ unabhängig von ökonomischem Kapital begreift. Bourdieu schließt also an den Marxschen Kapitalbegriff an und erweitert ihn. Die Zuordnung des einzelnen zu einer sozialen Klasse und die Beurteilung seines sozialen Einflusses funktioniert in der modernen Gesellschaft also nicht nur über die Verteilung des ökonomischen Kapitals (Geld, Produktionsmittel oder Grundbesitz), sondern auch über die des sozialen (Verwandtschaft, Beziehungen), kulturellen (Bildung, Titel, Sprachkompetenz) und symbolischen Kapitals (z. B. Kleidung, Körpersprache, Benehmen). Das Individuum kämpft darum, diese Kapitalien zu erwerben und zu akkumulieren. Das symbolische Kapital übernimmt dann die Rolle, die anderen Kapitalien sinnlich wahrnehmbar zu machen. Dieser Kampf um die Kapitalien bestimmt die Positionierung des einzelnen in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern. Unter diesen Feldern versteht Bourdieu die unterschiedlichen Teilbereiche der Gesellschaft wie Wirtschaft, Politik, Bildung oder Religion. Diese Felder sind zwar unabhängig voneinander, aber sie sind im weitesten Sinne strukturhomolog. Überall geht es um die Anhäufung von Kapital, geht es darum, Benennungsmacht zu erlangen. Und wer in dem einen Feld "viel zu sagen hat", kann davon ausgehen, auch in einem anderen Feld nicht ohne Einfluß zu sein. Manifestieren sich in den gesellschaftlichen Feldern die objektiven Bedingungen ihrer Zeit in Form von Institutionen, so ist die gesellschaftliche Wirklichkeit aber auch von subjektiven Faktoren abhängig. Diese zeigen sich im Habitus der Individuen. Der Habitus ist ein in klassenabhängiger Sozialisation erworbenes Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster des einzelnen, das meist unbewußt wirkt und sich nur schwer abschütteln läßt. Es bestimmt z.B. darüber, ob der Besuch eines Theaterstücks als Quälerei oder verfeinerter Kunstgenuß erlebt wird. Dieser Habitus drückt sich dann im Lebensstil aus, der als Zeichensystem begriffen und folglich gelesen werden kann. Schon in den späten sechziger Jahren überträgt Bourdieu diese Vorstellungen auch auf Kunst und Literatur. Er prägt den Begriff des literarischen Feldes. Die Gesetze und Regeln in diesem literarischen oder auch künstlerischen Feld stehen
im Gegensatz zu denen im ökonomischen Feld. "Man muß sich [...] der Umkehrung bewußt sein, die sich zwischen der Welt der Kunst und der Welt der Geschäfte ergibt [...]. Das grundlegende Gesetz dieses paradoxen Spiels [der Kunst] besteht gerade darin, an Interessenlosigkeit, Uneigennützigkeit interessiert zu sein: Die Liebe zur Kunst ist Liebe zur Leidenschaft". (S. 187) Und eine Leidenschaft hat immer etwas Unvernünftiges, Unökonomisches; sie denkt nicht nach, sondern läßt sich von den Ereignissen mitreißen, ohne die Konsequenzen einzukalkulieren. Neben diese Analyse des Kunstfeldes hat Bourdieu u.a. in seiner Studie zu Gustave Flauberts Erziehung des Herzens auch die konkrete soziologische Interpretation von literarischen Texten gestellt. Er deutet den Roman als ein 'Spiel', in dem zu Beginn die Figuren mit bestimmten Kapitalien ausgestattet werden, um anschließend vorzuführen, was sie im weiteren Verlauf des sozialen Prozesses daraus machen, wohin sie kommen, ob sie Macht erlangen oder nicht. Der Text ermögliche die Analyse verschiedener sozialer Habitusformen seiner Zeit und den damaligen Umgang mit ihnen sowie die Instrumentalisierung ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitals. Der Text wird also zu einem Zeichensystem, an dem stellvertretend der Habitus verschiedener sozialer Klassen ablesbar ist, wie auch die Strukturen des Handelns im Zeichen des 'regierenden Kapitals' deutlich werden. "Die soziologische Lektüre bricht den Charme [des Romans] durch die brutale Entschleierung der Struktur, die der literarische Text nur aufdeckte, indem er sie verbarg." (S. 245) Und auch einen Blick auf Flaubert selbst erhascht Bourdieu durch seine Analyse des Romans, wenn er die Hauptperson Frédéric als einen 'Stellvertreter' Flauberts interpretiert. Hier offenbare sich die wirkliche Stellung des Schriftstellers im sozialen Raum. ©rein
Pierre Bourdieu: Flaubert. Einführung in die Sozioanalyse, in: Sprache im technischen Zeitalter 25 (1987), S. 173-189, S.240-255.
Wichtige Schriften: ❍
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Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (dt. 1976, frz. 1972) Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (dt. 1982, frz.1980) Homo academicus (dt. 1988, frz. 1984)
Sekundärliteratur: 1. A. Dörner / L. Vogt: Kultursoziologie. Bourdieu - Mentalitätengeschichte Zivilisationstheorie, in: K.-M. Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 131-153. 2. L. Fischer / K. Jarchow: Die soziale Logik der Felder und das Feld der Literatur, in Sprache im technischen Zeitalter 102 (1987), S. 164-172. 3. J. Jurt: "Die Theorie des literarischen Feldes. Zu den literatursoziologischen Arbeiten Bourdieus und seiner Schule, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 5 (1981), S. 454-479.
Trivialliteratur frz. trivial, aus lat. trivialis: allbekannt, gewöhnlich, zu lat. trivium = Kreuzung dreier Wege, allg. zugängl. Platz
Trivialliteratur ist ein Sammelbegriff, der den Gegensatz zur sog. Hochliteratur bezeichnet. Er umfaßt so verschiedene literarische Gattungen und Gruppen wie Schundliteratur, Pornographie, Fortsetzungsromane, Groschenromane, einen Teil der Jugendliteratur, außerdem Gelegenheitslyrik und Volksdramen. Andere Definitionen nennen die Befolgung verlagsinterner normativer Gattungsregeln in meist anonymer Massenanfertigung als Hauptkriterium. Vergleicht man z.B. den trivialen Roman aufgrund ästhetischer Kriterien mit der Hochliteratur, so kann man von ihm nur ein negatives Bild gewinnen. Literarische Phänomene wie Originalität, Innovation, metafiktionale und intertextuelle Reflexionen sind hier in der Regel nicht vorhanden. Trivialliteratur hat ihre eigene Geschichte: Im 18. Jahrhundert sind es Abenteuerromane, Ritter-, Räuber- und Schauerromane, also literaturgeschichtlich bereits bewährte Muster, die das von der damals entstehenden Kulturindustrie geweckte Massenbedürfnis nach fiktionaler Unterhaltung befriedigen. In dieser Zeit entsteht die Unterscheidung von hoher und niederer Literatur. Im 19. Jahrhundert sind es der exotische Abenteuerroman und der Feuilletonroman; im Serien-Heftroman des 20. Jahrhunderts werden prestigeträchtige Milieus (Adel, Ärzte, Reiche, Unterwelt) bevorzugt. Hier können die Leser, so die psychoanalytische Interpretation, ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse in den Wunschtraumwelten der oft idyllisch angelegten Heile-Welt-Romane stellvertretend ausleben. Die ideologiekritische Interpretation stellt fest, daß mit der Lektüre der in den Trivialromanen enthaltenen 'Mythen des Alltags' (Roland Barthes) dem Leser Verhaltensweisen angeboten werden, die gerade jene realen Verhältnisse stabilisieren, welche die Leser in ihrer Lebenswelt vom dargestellten Glück ausschließen. Weil die leicht lesbaren Trivialromane auf unbefriedigte Leserbedürfnisse antworten, stel-len sie auch eine Fundgrube für kulturwissenschaftliche Studien dar. Die Literatursoziologie fragt nach den für die Trivialliteratur spezifischen Phänomenen der Distribution und Rezeption als Teil des literarischen Lebens einer Zeit. Sie stellt dabei fest, daß letzthin alle Aspekte eines Textes und seiner Rezeption der Auf- oder Abwertung dienen können. Obwohl der Begriff Trivialliteratur sich hartnäckig hält, sind die Übergänge zwischen Hoch-, Unterhaltungs- und Trivialliteratur mehr als fließend. Spätestens die postmoderne Epoche, voller Übergriffe in andere Bezirke, zeigt, daß Trivialliteratur ein relativ willkürlich verwendeter Begriff der Literaturkritik ist. Die im Trivialroman gepflegte sentimentale, gefühlsschwangere Welt wird
bisweilen programmatisch von der postmodernen Literatur übernommen, um polemisch auf die Ausgrenzung dieser Aspekte aus der Hochliteratur zu verweisen. © pflug
Sekundärliteratur: 1. G. Lange (Hg.): Literaturdidaktik. Klassische Form, Trivialliteratur, Gebrauchstexte, Balt-mannsweiler 1998. 2. P. Nusser: Trivialliteratur, Stuttgart 1991. 3. W. Nutz: Trivialliteratur und Popularkultur. Vom Heftromanleser zum Fernsehzuschauer; Eine literatursoziologische Analyse unter Einschluß der Trivialliteratur der DDR, Opladen 1999.
Systemtheorie und Literatur
Die systemtheoretische Literaturwissenschaft ist ein weites Feld. Versucht man sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen, kann man sagen: Sie ist weniger eine Methode zur Interpretation / Analyse eines einzelnen literarischen Textes in seiner Ganzheit (Hermeneutik), sondern vielmehr ein Ansatz, der sich der Literatur als einem sozialen Phänomen nähert. Dies erscheint nur folgerichtig, wenn man bedenkt, daß die meisten Literaturwissenschaftler dieser Forschungsrichtung als ihren geistigen Vater einen Soziologen, nämlich Niklas Luhmann nennen. Literatur ist ein System, in dem nach bestimmten Regeln Werke produziert werden, diese Werke eine bestimmte Funktion haben und ihre Wahrnehmung als Kunstwerke auf bestimmte Art und Weise gesteuert wird. Weiterhin sieht der Systemtheoretiker die literarischen Texte als Aussagen über gesellschaftliche Veränderungen oder als Vorbereiter derselben. Der gesellschaftliche Wandel wird oftmals erst durch die Sinnproduktion literarischer Texte ermöglicht. So finden Sie die Idee von der Freiheit des Menschen zunächst in Philosophie und Literatur, also in Texten, die im weitesten Sinne literarisch sind. In Abgrenzung zur Empirischen Literaturwissenschaft, die sich häufig auf die Systemtheorie beruft, geht es der hier vorgestellten Richtung der Literaturwissenschaft nicht nur um die sozialen Handlungen im 'Literatursystem', sondern auch um die konkrete Gestalt der Texte. Um die Systemtheorie näher zu charakterisieren, ist es am anschaulichsten, ihre typischsten Fragen vorzustellen. Einige dieser Fragen lauten: - Wie hat sich Literatur über die Jahrhunderte / Jahrtausende im Kontext der sie umgebenden Gesellschaft entwickelt? - Welche verschiedenen Funktionen hatte Literatur im historischen Prozeß inne? - Wie hat sich Literatur im Verlauf der Gesellschaftsevolution von der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft zur funktional differenzierten Gesellschaft als autonomes Funktionssystem ausdifferenziert? Diese Veränderung der Gesellschaftsdifferenzierung bezeichnet die radikalen Umbrüche in Philosophie, Literatur, Politik, Technik, Recht um 1800. Die Systemtheoretiker gehen davon aus, daß - grob gesagt - die Gesellschaft vor 1800 stratifikatorisch strukturiert war. Was heißt das? Das heißt zum einen, daß die Gesellschaft nach Ständen gegliedert war, zum zweiten, daß der Stand, in den man hinein geboren wurde, darüber entschied, inwiefern man an der Gesellschaft teilnehmen konnte. Ob man Recht bekam oder nicht, ob man ein politisches Mitbestimmungsrecht hatte oder nicht, ob man heiraten oder lieben durfte, wen oder wann man will oder nicht, usw. usw. usw..... Diese verschiedenen Bereiche des Rechts, der Politik, der Religion, der Liebe verändern um 1800 ihre Logiken. Sie sind nicht mehr länger an die Hierarchie der Stände gebunden, sondern
werden zu autonomen Funktionssystemen, an denen der Einzelne partizipieren kann. Das Rechtssystem entscheidet über Recht und Unrecht, ohne Ansicht der Person ("Justitia ist blind") und ohne direkte Eingriffe von außen, z. B. durch den Fürsten oder andere politische Vertreter. Jedes System hat eine spezifische Funktion, für die es exklusiv zuständig ist. Das Rechtssystem formuliert Rechtsnormen und sichert sie, das Wirtschaftssystem verteilt knappe Güter, und das Literatursystem hat die Funktion Weltkontingenz zu erzeugen, also der Wirklichkeit eine zweite Wirklichkeit gegenüberzustellen, die schöner, fortschrittlicher, besser, oder einfach nur anders ist als die eigentliche Wirklichkeit. Literatur führt uns also stets eine Alternative vor Augen. Das können, eher auf den Einzelnen gemünzt, alternative Handlungen z.B. in Bezug auf das Ende einer Liebesbeziehung, oder - globaler gesehen - auch vollständig alternative Gesellschaftsmodelle sein. Welche Fragen stellt nun der systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaftler? Stellvertretend für viele sollen zwei Namen stehen. Der Hamburger Germanist Jörg Schönert untersucht u.a. anshand von literarischen Texten, Rezensionen, Vorträgen, Akten, inwiefern sich das Literatursystem vom Rechtssystem abgrenzt, also an Autonomie gewinnt. Wer ist schuldig, wer ist unschuldig? Wie argumentiert der Roman, wie argumentiert die Justiz? Schönert sieht für die Zeit vor 1800 eine relative Nähe des rechtlichen zum literarischen Diskurs. Rechts- und Literatursystem beschäftigen sich hauptsächlich mit den sozialen und psychologischen Wurzeln des Verbrechens. Für die Zeit von 1830-1890 kommt er dann zu einem ganz anderen Ergebnis: Die Kriminalnovelle vernachlässigt die Wirklichkeit der Justiz, sie formuliert fortan eine Aufforderung zur moralischen Selbstkontrolle des Individuums. Das Rechtssystem beschäftigt sich nun fast ausschließlich mit der Schuldfrage und der Strafbemessung. Der Bochumer Germanist Niels Werber hat sich in seiner Doktorarbeit mit dem Problem der Autonomisierung von Literatur um 1800 beschäftigt. Es geht um die Loslösung der Literatur von Normen der Ästhetik (und Poetik) oder der Moral (wie in der Aufklärung ). Werber versucht die von Luhmann postulierte Entwicklung zur funktional differenzierten Gesellschaft für die Literatur um 1800 u.a. anhand von zeitgenössischen theoretischen und literarischen Texten nachzuweisen. Wie in diesen Beispielen skizziert hat der systemtheoretisch arbeitende Literaturwissenschaftler häufig zwei Untersuchungsgegenstände gleichzeitig im Blick: Einerseits beschreibt er Literatur im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen, andererseits werden auch literarische Themen, Motive und Genres analysiert. Jeweils mit neuen, der systemtheoretischen Weltsicht geschuldeten Brillen. Wie in diesen Beispielen skizziert hat der systemtheoretisch arbeitende Literaturwissenschaftler häufig zwei Untersuchungsgegenstände
gleichzeitig im Blick: Einerseits beschreibt er Literatur im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen, andererseits werden auch literarische Themen, Motive und Genres analysiert. Jeweils mit neuen, der systemtheoretischen Weltsicht geschuldeten Brillen. Die Systemtheorie ist ein anregender, aber auch ein polarisierender Theorieimpuls. Was nicht zuletzt an dem hohen Abstraktionsgrad der theoretischen Grundlagentexte liegt. Sie ist ein junges Paradigma in der Literaturwissenschaft, und man kann mit Spannung ihre weitere Entwicklung abwarten. © rein Wichtige Schriften: ●
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S. J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen. Kontroversen, Perspektiven (1983) J. Schönert: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Persepektive (1983) N. Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation (1992) Sekundärliteratur:
1. P. Geimer: Luhmann, in: J. Nida-Rümelin / M. Betzler (Hg.): Ästhetik und Kunstphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1998, S. 514-517. 2. H. Müller: Systemtheorie und Literaturwissenschaft, in: K.-M. Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 201-217. 3. C. Reinfandt: Sytemtheorie, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. A. Nünning, Stuttgart u.a. 1998, S. 521-523.
Ödipuskomplex
Der Ödipuskomplex erhielt seine Namen durch den sagenhaften thebanischen König Ödipus, der unwissentlich seinen Vater erschlug und seine Mutter heiratete. Bei Freud bezeichnet der Ödipuskomplex die libidinöse Bindung des Kindes an den gegengeschlechtlichen Elternteil, die ab dem dritten Lebensalter auftreten kann. Dieser Inzestwunsch wird verdrängt und oft nicht richtig bewältigt. Hierin sieht Freud eine der Ursachen für das Entstehen von Neurosen oder Perversionen.
Kollektivsymbole
Eine besondere Kategorie der sprachlich realisierten Symbole stellen die sogenannten Kollektivsymbole dar. Dieser Begriff ist von dem Literaturwissenschaftler Jürgen Link entwickelt worden; inzwischen hat er sich in den Sozial- und Kulturwissenschaften weithin eingebürgert. Kollektiv sind die hier gemeinten Symbole insofern, als sie nicht nur für den Verwendungszusammenhang eines einzelnen (literarischen) Textes entwickelt worden sind, sondern zum kommunikativen und kulturellem Gemeinbesitz einer Gesellschaft gehören: Sie tauchen immer wieder in den unterschiedlichsten Texten und den verbalen Äußerungen der verschiedensten Sprecher auf. Diese Symbole verraten also etwas über den grundsätzlichen Weltbezug einer Gesellschaft - denn dieser Weltbezug, so haben im Gefolge von Ernst Cassirer schon zahlreiche Philosophen und Kulturwissenschaftler festgestellt, ist in entscheidendem Maße durch kollektiv geteilte Bildräume vermittelt. Kollektivsymbole sind wichtige Bestandteile des von Jürgen Link am Beispiel des Ballonsymbols analysierten Interdiskurses. In dieser Studie zur Literatur des 19. Jahrhunderts zeigt Link, daß der Ballon bei demokratischen, liberalen und sozialistischen Autoren vor allem die Möglichkeiten des Menschen verkörpert, durch Vernunft, Arbeit und Technik die Natur zu beherrschen und den ewigen Menschheitstraum vom Fliegen zu erfüllen. Die konservativen Kräfte sehen in ihm hingegen eine - im wahrsten Sinne des Wortes - windige Erscheinung wie die Aufklärung und der technische Fortschritt insgesamt. Als ein nicht zu kontrollierender Spielball der Lüfte und der Winde ist er das Symbol für einen zügellosen Fortschritt, der die Bodenhaftung buchstäblich verloren hat. ©rein Sekundärliteratur: 1. F. Becker / U. Gerhard / J. Link / : Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretischer Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie. Teil II, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 22 (1997), S.70-154. 2. A. Drews / U. Gerhard / J. Link: Moderne Kollektivsymbolik - Eine diskurstheoretisch orientierte Einführung mit Auswahlbibliographie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1985) 1. Sonderheft Forschungsreferate, S.256-375. 3. J. Link: Die Struktur des Symbols in der Sprache des Journalismus. Zum Verhältnis literarischer und pragmatischer Symbole, München 1978.
Niklas Luhmann
* 8.12.1927, Lüneburg † 6.11.1998, Bielefeld Jurist und Soziologe Der Soziologe Niklas Luhmann gilt als der deutsche Vertreter und Begründer der Systemtheorie. Er hat mannigfaltige Forschungen nicht nur in der Soziologie, sondern auch in den Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, in der Theologie, der Geschichtswissenschaft, Kommunikationswissenschaft und in der Literaturwissenschaft angeregt. Grund hierfür ist sein Anspruch, alle gesellschaftlichen Teilbereiche mit denselben Kategorien beschreiben zu können. Wie ist das möglich? Die Systemtheorie hat einen völlig neuen Blick auf die vormoderne und moderne europäische Gesellschaft geworfen. Für Luhmann gelten nicht länger die sozialen Unterschiede als bestimmende Strukturprinzipien der Gesellschaft, sondern die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche (Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft, Kunst, Erziehung, Liebe), in denen nach je eigenen Logiken unabhängig von den jeweils anderen Systemen gehandelt wird - Luhmann bevorzugt den Begriff kommuniziert. Diese Systeme bezeichnet er als Funktionssysteme, die jeweils eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe / Funktion exklusiv übernehmen. Das Wirtschaftssystem hat die Aufgabe, knappe Güter zu verteilen, das Rechtssystem formuliert allgemein bindende Rechtsnormen und setzt sie durch, das Wissenschaftssystem gewinnt Erkenntnisse über die Wirklichkeit und das Politiksystem trifft kollektiv bindende Entscheidungen. All diese Systeme sind laut Luhmann ähnlich strukturiert. Ihnen ist gemeinsam, daß sie eine Funktion exklusiv erfüllen müssen, und daß sie autonom sind - sie erzeugen also die Regeln, nach denen sie operieren, ebenso selber, wie auch die Elemente, aus denen sie bestehen. Diesen Vorgang nennt Luhmann Autopoiesis. Außerdem orientieren sich die Systeme an einer Leitdifferenz, im Wirtschaftssystem geht es etwa vorrangig um Zahlen und Nichtzahlen, im Rechtssystem um die Differenz zwischen Recht und Unrecht, im Wissenschaftssystem um die von Wahrheit und Unwahrheit, - im Politiksystem schließlich um Macht oder Nicht-Macht. Diese Leitdifferenz wird auch der Code des Systems genannt. Konkretisieren wir diese abstrakten Vorstellungen am Beispiel von Luhmanns Kunsttheorie, genauer: am Beispiel des Literatursystems als ein Subsystem des Kunstsystems. Die Literatur übernimmt in der Moderne eine exklusive Funktion für die Gesellschaft. Sie produziert Weltkontingenz, d.h. sie erzeugt eine alternative, fiktive zweite Realität zur ersten - wirklichen - Realität. In der Literatur finden wir also stets einen fast unerschöpflichen Ideenpool, der uns zeigt, wie unsere wirkliche Realität besser sein könnte, schöner, interessanter
oder einfach nur anders. Hier bekommt der Einzelne Alternativen vor Augen geführt, z.B. anders zu lieben, interessanter zu kaufen, politischer zu handeln, das Verhältnis zur Elterngeneration in einem neuen Licht zu sehen etc., etc. Wie diese zweite, literarische Realität aussieht, ist unabhängig von den Vorstellungen anderer Systeme. Der Politiker oder Jurist hat keinen Einfluß darauf, was der Künstler schreibt. Selbst wenn ein Roman aus Gründen der Jugendgefährdung auf den Index kommt, ist er weiterhin ein Kunstwerk. Ein Roman, in dem der Bundeskanzler die Leistungen seiner Regierung heroisiert und ihre Zukunftspläne in den rosigsten Farben schildert, würde jedoch nicht als Kunstwerk akzeptiert, er bleibt Teil des politischen und nicht des Kunstsystems. Was Literatur ist, entscheidet weder das Rechts- noch das Politiksystem, sondern nur das Literatursystem selber, indem es Literatur im Spannungsfeld von schön und häßlich erzeugt und reflektiert. Literatur wird nach systemtheoretischer Auffassung also autopoietisch vom Literatursystem erzeugt. Im Vergleich zu den bis ins 18. Jahrhundert gültigen normativen Poetiken ist die Literatur in der Wahl ihrer Themen und Formen autonom. Ein moderner Text kann demnach auch eine phantastische Utopie ohne direkten Realitätsbezug sein, er muß nicht im Sinne der Poetik des Aristoteles etwas Mögliches oder sogar Wahrscheinliches zeigen. Literarische Werke können unmoralisch sein und brauchen sich nicht an feststehende ästhetische Regeln halten, wie wir sie aus dem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) von Opitzk ennen. Auch die Vermittlung moralischer Grundsätze obliegt der Literatur nicht, wie Gottsched noch in seiner Dichtkunst (1730) fordert. Historisch hat sich Literatur als autonomes Funktionssystem im Zuge der langsamen Auflösung der christlichen Ständegesellschaft zur funktional differenzierten Gesellschaft um 1800 entwickelt. Ein wichtiger Katalysator für diese Entwicklung war gewiß die Romantik und mit ihr Friedrich Schlegel mit seiner Progressiven Univeralspoesie. © rein Wichtige Schriften: ❍ ❍
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Die Kunst der Gesellschaft (1995) Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf die ökologische Gefährdung einstellen? (1986) Soziale Systeme (1984)
Sekundärliteratur: 1. F. Becker / E. Reinhardt-Becker: Systemtheorie. Ein Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2001. 2. G. Kneer / A. Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung, 3. Aufl., München 1997. 3. H. Willke: Systemtheorie, Stuttgart 1991.
Siegfried J[ohannes] Schmidt
* 1940, Jülich Literaturwissenschaftler Siegfried J. Schmidt studierte Philosophie, Germanistik, Linguistik, Geschichte und Kunstwissenschaften in Freiburg, Göttingen und Münster, promovierte 1966 und habilitierte sich 1968. Nach Professuren in Bielefeld und Siegen ist er seit 1997 Professor für Kommunikationstheorie und Medienkultur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist er als Künstler aktiv. Schmidt ist der maßgebliche Begründer der Empirischen Literaturwissenschaft, deren erste umfassende Theorie er mit seinem Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft (1980/82) vorgelegt hat. Es geht ihm und seinen Mitstreitern darum, der Literaturwissenschaft eine überprüfbare und explizit begründete Theorie zugrunde zu legen und sie so anwendungsorientiert zu fundieren: "Die Zielvorgaben einer empirischen Literaturwissenschaft lassen sich folgendermaßen kennzeichnen: Angestrebt wird Aufklärung im Sinne der Fähigkeit von Kritik und Selbstkritik, Selbstverantwortung und Rationalität; Solidarität als Reduktion der Herrschaft von Menschen über Menschen, als Reduktion von Wissens- und Wahrheitsterrorismus; Kooperativität als konfliktreduzierendes Interagieren und gemeinsames Problemlösen. Aus solchen Zielvorgaben folgt für wissenschaftliches Handeln, das dazu in seinem Handlungsbereich beitragen will, daß es explizit sein muß, systematisches Erfahrungmachen erlauben muß und intersubjektiv vermittelbar und überprüfbar sein muß. Außerdem muß es Anwendungsrelevanz für soziale und individuelle Bedürfnisse besitzen." (Vom Text zum Literatursystem, S. 157) "Literatur" wird in diesem Ansatz verstanden als ein System kommunikativer Handlungen, das durch vier grundlegende Handlungsrollen organisiert wird: durch Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung. Der Blick richtet sich dann nicht mehr (primär) auf den Text sondern auf das gesamte Zusammenspiel der Handlungen im System "Literatur". Hatte Schmidt sich zunächst noch am Vorbild einer empirischen Sozialwissenschaft orientiert (Grundriß, S. 391), übernimmt er später Anregungen aus Niklas Luhmanns Systemtheorie und aus dem (Radikalen) Konstruktivismus. Letzterer bezeichnet vereinfacht gesagt - einen Blick auf das Individuum als ein seine Wirklichkeit aufgrund seiner biologischen Ausstattung konstruierendes und sich selbst erhaltendes wie gestaltendes (= "autopoietisches") System. (Ausführliche Informationen in: Der Radikale Konstruktivismus.) Vor diesem theoretischen Hintergrund wendet sich Schmidt in jüngster Zeit auch medientheoretischen
Fragen zu: "Die traditionelle Unterscheidung zwischen medial vermittelten und medial unvermittelten Erfahrungen ist längst hinfällig geworden. Die Omnipräsenz von Medienangeboten verändert individuelle wie soziale Wirklichkeitskonstruktionen, und sie verändert zugleich deren kategoriale Ordnung und Relevanzbewertung. […] Wenn Referenz und Authentizität primär Medienprobleme sind, dann wird das Wissen zentral und nicht die Objekte. Medienkultur kann aber gerade die Konstruktivität von Kognition und Kommunikation ebenso bewußtmachen wie unsere unteilbare Verantwortung für den Umgang mit Medien." (Medien, Kultur: Medienkultur, S. 447) Siegfried J. Schmidt hat seiner Forderung nach einer institutionellen Reform der Literaturwissenschaft gemäß den Ansprüchen des empirischen Ansatzes Nachdruck verliehen, indem er sich an führender Stelle in neugegründeten Organen betätigt: von 1984 bis 1997 war er Direktor des Instituts für Empirische Literatur- und Medienforschung (LUMIS) in Siegen, weiterhin ist er Mitherausgeber der wichtigsten Zeitschriften der Empirischen Literaturwissenschaft: SPIEL und POETICS. © JK
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Siegfried J. Schmidt: Medien, Kultur: Medienkultur. Ein konstruktivistisches Gesprächsangebot, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Kognition und Gesellschaft. Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus 2, Frankfurt/M. 1992, S. 425-450. Siegfried J. Schmidt: Der Radikale Konstruktivismus. Ein neues Paradigma im interdisziplinären Diskurs, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1987, S. 1188. Siegfried J. Schmidt: Vom Text zum Literatursystem. Skizze einer konstruktivistischen (empirischen) Literaturwissenschaft, in: Einführung in den Konstruktivismus, mit Beiträgen von Heinz von Foerster, Ernst von Glaserfeld u.a., 4. Aufl., München 1998, S. 147-166.
Wichtige Schriften: ❍ ❍
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Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus (1987) Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert (1989) Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft (1991) Die Welt der Medien. Grundlagen und Perspektiven der Medienbeobachtung (1996)
Siegfried J. Schmidt Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft (1980/82)
In seinem Grundriß versucht Siegfried J. Schmidt, in konzentrierter Form die Grundgedanken des maßgeblich von ihm entwickelten Konzepts einer Empirischen Literaturwissenschaft darzustellen. Diese versteht er als "eine Konzeption von Literaturwissenschaft als empirischer Sozialwissenschaft" (S. 391). Den Rückgriff auf das Methodenarsenal wie die Terminologie der Sozialwissenschaften sieht er als notwendig an, weil literaturwissenschaftliches Arbeiten in der herkömmlichen Form keine verifizierbaren Ergebnisse liefern könne, wie dies etwa in anderen Wissenschaften mit präzisen Meßinstrumenten möglich ist: "Wenn sich Literaturwissenschaft als Wissenschaft wie andere Wissenschaften auch (d.h. ohne den bloß reklamierten Sonderstatus einer Geisteswissenschaft) entwickeln will, dann braucht sie aus Gründen der Forschung und Lehre empirisch prüfbare explizite Theorien sowie eine Fachsprache mit definierten Begriffen." (S. 390). Die Empirische Literaturwissenschaft hat deshalb drei Ziele: "(1) ihre Theoriestruktur soll explizit sein; (2) die Aussagen der Theorie sollen empirisch überprüfbar sein und sich auf den gesellschaftlichen Handlungsbereich Literatur beziehen; (3) die Theorie soll durch Anwendbarkeit gesellschaftliche Relevanz erhalten (Ziel: angewandte Literaturwissenschaft)." (S. 11) Um diese Ziele zu erreichen fordert Schmidt eine - auch institutionelle Umorientierung der herkömmlichen Literaturwissenschaft: Weil die von ihm stets angefochtene Interpretation (zumal eine solche mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit) eine Vielzahl unterschiedlicher Begriffe und Ansätze miteinander vermische und so ihre Verifizierbarkeit verliere, soll der Blick vom einzelnen Text weg auf das Gesamtsystem "Literatur" gerichtet werden. Er greift deshalb zurück auf systemtheoretische Überlegungen und versteht "Literatur" als ein Ensemble kommunikativer Handlungen. Dieses System "Literatur" kann als eigenständig beschrieben und gegen das Gesamtsystem gesellschaftlicher Handlungen abgegrenzt werden. Diese Abgrenzung erfolgt aufgrund zweier Konventionen, die das Handeln der Beteiligten bestimmen: Zum einen die Ästhetik-Konvention, die im Handlungssystem "Literatur" Handlungen erlaubt, die nicht den üblichen Wahrheitskonventionen des Gesellschaftssystems verpflichtet sind (es geht also um die Fiktionalität von Texten). Zum anderen die Polyvalenz-Konvention der zufolge Handlungen im Literatursystem auf Texten basieren, die nicht auf einen einzigen "Sinn" reduzierbar sind. Sowenig Schmidt die Interpretation als literarische Handlung akzeptiert zumindest nicht in der herkömmlichen Form -, sowenig gibt es für ihn einen konsistenten "Text". Was gewöhnlich als "Text" bezeichnet wird - das bedruckte
Papier -, stellt nur die materiale Basis für das kommunikative Handeln der am System "Literatur" Teilnehmenden dar. "Texte" werden zu Literarischen Kommunikaten: Ihre Gestalt (was mit ihnen "verbunden" wird), d.h. ihre Rolle im Literarischen Kommunikativen Handeln wird unter den Handlungspartnern jeweils ausgehandelt. Die konkrete Gestalt des Textes ist deshalb für eine Empirische Theorie der Literaturwissenschaft nur indirekt von Bedeutung. Das System Literatur wird strukturiert durch vier grundlegende Handlungsrollen und ihre Relationen zueinander: durch Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung Literarischer Kommunikate. Alle vier Handlungsrollen müssen nicht zwangsläufig, durchgehend und andauernd eingenommen werden, sie bestimmen aber in ihrer Gesamtheit das System Literarisch Kommunikativer Handlungen. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Ein Autor ist normalerweise Produzent Literarischer Kommunikate; ein Verleger nimmt gewöhnlich die Rolle des Vermittlers ein; ein Leser ist Rezipient und wenn er das Literarische Kommunikat beurteilt, kritisiert oder weiter empfiehlt wird er zum Verarbeiter. Schmidts Grundriß war der erste umfassende Entwurf einer Empirischen Theorie der Literaturwissenschaft und hat diesen Forschungszweig mit begründet. Mit großer Umtriebigkeit hat sich Schmidt mit der Gründung von Zeitschriften und Instituten um dessen Verbreitung bemüht. Kritiker werfen ihm dagegen einen einseitigen Blick auf die rein institutionelle Seite der Literatur vor und kritisieren seine betont kleinschrittige Argumentation als ermüdend und als über weite Strecken bloßes Aufblasen von Banalitäten. © JK
Siegfried J. Schmidt: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe, Frankfurt/M. 1991.
Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772)
Das in Prosa geschriebene Drama Emilia Galotti gilt als eines der wichtigsten Bürgerlichen Trauerspiele. Lessing hat es nach den Vorgaben seiner Hamburgischen Dramaturgie geschrieben. Obwohl die Liebe das Zentralthema der Tragödie ist, gilt es in der Forschung als hochpolitisches Stück. Es stellt den willkürlichen Herrschaftsstil des Adels der neuen aufgeklärten Moral des Bürgertums gegenüber. Etwas konkreter betrachtet, treffen hier alte feudale Vorstellungen von Liebe und Ehe auf den neuen empfindsamen Liebesdiskurs der Bürger. Und diese Kombination ist hoch brisant. Der italienische Prinz Hettore Gonzaga plant seine Eheschließung mit der Prinzessin von Massa und will seine Geliebte Orsina verlassen. Er begründet die Trennung mit seiner bevorstehenden Heirat, aber Orsina sieht ihre Stellung nicht durch die baldige Vermählung ihres Geliebten in Gefahr, sondern durch eine neue Geliebte. Liebe und Ehe gehören folglich für den Prinzen und seine Höflinge keineswegs zusammen. Die Ehe ist politisch motiviert und führt nicht zu einer intimen Lebensgemeinschaft. Intimität findet in der außerehelichen "Liebes"beziehung statt. Der Verdacht Orsinas, von einer neuen Mätresse verdrängt zu werden, ist nicht unbegründet, denn der Prinz hat sich in die bürgerliche Emilia Galotti verliebt. Von seinem Kammerherrn Marinelli erfährt er, daß Emilia noch am selben Tag den Grafen Appiani heiraten will - und zwar aus Liebe. Emilia und der Graf haben weder Politik noch Ökonomie im Sinne, wenn sie vor den Traualtar treten. Der Graf riskiert sogar ganz bewußt seine Stellung in der Gesellschaft, wenn er die Ständeschranken mißachtet. Aber die beiden wollen den Hof verlassen und auf den Gütern des Grafen leben. Der Prinz ist schockiert und verzweifelt, denn ihm ist der neue Liebesdiskurs bekannt. Im Grunde weiß er, daß es unmöglich ist, als Prinz Liebe einzufordern. Sie muß ihm als Mensch gewährt werden. Aber wenn Emilia verheiratet ist, was noch am selben Tag geschehen soll, dann ist die Gewährung der Liebesgunst nicht nur insofern unmöglich, weil die Braut mit ihrem zukünftigen Gemahl außer Landes gehen will, sondern auch deshalb, weil die empfindsame Liebe den Ehebruch nicht duldet. Zum Verzicht ist der Prinz jedoch trotz seiner Einsicht in diese Regeln nicht bereit; außerdem hat er in seinem Kammerherrn Marinelli einen schlechten Ratgeber, der ihm suggeriert, daß die Erfüllung seiner Liebeswünsche mit einiger List im Bereich des Möglichen liege. Dieser Ratgeber kennt die Gesetze der empfindsamen Liebe nicht und setzt - trotz der ablehnenden Haltung des Prinzen gegenüber dieser Möglichkeit - ganz auf die fürstliche Gewalt.
Zunächst versucht Marinelli den Grafen Appiani noch am selben Tage - vor der Trauung - als Gesandten nach Massa zu schicken, während gleichzeitig der Prinz Emilia seine Liebe erklärt. Aber weder Diener noch Herr haben Erfolg: Appiani lehnt die Reise ab, Emilia reagiert nicht auf die Liebeserklärung, denn sie weiß, daß den Prinzen eher Leidenschaften bewegen als wirkliche Neigung. Er begehrt sie als Geliebte auf Zeit, nicht als seine Frau. Doch Marinelli und der Prinz geben nicht auf: Emilia wird entführt, der Graf ermordet. Emilia befindet sich nun auf Gonzagas Lustschloß. Ihre Eltern Odoardo und Claudia Galotti sowie die Gräfin Orsina treffen kurz darauf im Schloß ein. Die Gräfin drängt dem Vater einen Dolch auf, um sich am Prinzen zu rächen. Aber sein bürgerliches Ehrgefühl hindert ihn an einer solchen Tat. Als er beschließt, Emilia in ein Kloster zu schicken, verweigert der Prinz ihre Herausgabe. Emilia ist verzweifelt, bittet ihren Vater, ihr den Dolch zu überlassen, um sich selbst zu töten. Sie fürchtet ihre Unschuld zu verlieren, wenn sie in der Einflußsphäre des Prinzen verweilt. Die Unschuld ist zwar "über alle Gewalt erhaben", aber "nicht über alle Verführung. - Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne." (S. 77) Angesichts dieser Gefährdung überläßt Odoardo Galotti seiner Tochter die tödliche Waffe. Sie erdolcht sich. Der Prinz gibt Marinelli die Schuld, obwohl er weiß, daß es seine eigene Regelverletzung war, seine - an der alten höfischen Liebe orientierte - Leidenschaft, die seinen Blick auf die Welt verzerrte und das Unglück hervorrief. Ursprünglich geht das Motiv des Dramas auf den antiken Historiker Livius zurück: Dort tötet der Römer Virginius seine junge, unschuldige Tochter Virginia, weil er sie vor den Nachstellungen des Decemvirn Appius Claudius' bewahren will. Der Mord löst einen Volksaufstand aus. Werden hier die Handlungen von Einzelpersonen in ihrer politischen Wirkung vorgestellt, so sind die Protagonisten Lessings in dem Sinne politisch, als sie exemplarisch für die "tyrannische Willkürherrschaft" des Adels, wie Goethe es ausdrückte, stehen. © rein q.gif (1003 Ephraim Lessing: Emilia Galotti [1772], Stuttgart 1994. Gotthold Byte)
Wilhelm von Humboldt * 22.06. 1767, Potsdam † 08.04. 1835, Berlin Preußischer Staatsmann, Schriftsteller und Wissenschaftler Kaum eine andere Figur der Goethezeit ist so wenig auf ein bestimmtes Metier festzulegen wie Wilhelm von Humboldt. Der ständige Wechsel zwischen Politik und Schriftstellerei verrät seine Vielseitigkeit, besonders wenn man die einzelnen politischen Aufgaben und schriftstellerischen Themen betrachtet. Seine Sporen als preußischer Diplomat verdiente sich der Sohn einer brandenburgischen Adelsfamilie als Gesandter beim Päpstlichen Stuhl in Rom (1802-1809); die nächste wichtige Aufgabe war die Leitung der Sektion für Kultus und Unterricht im Preußischen Innenministerium in den Jahren 1809/10. Hier brachte Humboldt jene Universitätsreform auf den Weg, die sich bis heute mit seinem Namen verbindet. In den Jahren 1813-15 übernahm er diplomatische Aufgaben bei der politischen Vorbereitung der Befreiungskriege und wirkte auf dem Wiener Kongreß als Zweiter Gesandter Preußens an der Gestaltung der europäischen Nachkriegsordnung mit. 1817 übernahm er die preußische Gesandtschaft in London, 1819 schließlich erhielt er den Auftrag, als Minister für ständische Angelegenheiten eine Verfassung für den preußischen Staat auszuarbeiten. Als sich der König von dieser Absicht wieder distanzierte, nahm Humboldt seinen Abschied von der Politik. Bis zu seinem Tod im Jahre 1835 widmete er sich nun uneingeschränkt seinen wissenschaftlich-literarischen Interessen. Das Spektrum der Themen, das Humboldt als Forscher und Schriftsteller abdeckte, ist ähnlich eindrucksvoll wie das seiner politischen Aktivitäten. Staatsphilosophische Themen interessierten ihn ebenso wie Fragen der Geschichte und Kunst, Sprache und Literatur. Berichte von seinen zahlreichen Reisen, lyrische Texte, Übersetzungen und aufwendige Korrespondenzen runden sein Oeuvre ab. Nebenbei schrieb er über eintausend (mehr oder weniger gelungene) Sonette. Vor allem als Sprachtheoretiker hat Humboldt große geistesgeschichtliche Bedeutung erlangt. Er gehörte zu den ersten Forschern, die der Sprache eine zentrale erkenntnistheoretische und kulturschöpferische Rolle beimaßen. Sprache ist nach Humboldts Auffassung nicht nur "ergon", nicht nur ein Werkzeug, ein System von Zeichen, das die Menschen benutzen, um sich über die Welt zu verständigen, sondern vielmehr "energeia", also eine welterschließende Kraft, eine produktive Tätigkeit des Geistes, die das Fundament jeder Realitätsperzeption darstellt. Aus dieser Qualität der Sprache leitet Humboldt weitreichende Folgerungen ab. Wenn die Sprache der Filter ist, durch den die Welt überhaupt nur wahrgenommen werden kann, muß jede Sprachgemeinschaft eine unterschiedliche Weltsicht haben. Die grammatikalische Struktur, das
Wortfeld, ja sogar der Lautbestand einer Sprache wirken unmittelbar mit den Gedanken zusammen, die im Medium dieser Sprache hervorgebracht werden können. Jede Sprache ist der Ausdruck einer allgemeinen Sicht der Welt, der "Geisteseigentümlichkeit" eines Volkes, wie Humboldt formuliert. Franzosen, Engländer, Deutsche etc. (oder auch die Menschen auf Java, deren Kawi-Sprache Humboldt ein großes Werk gewidmet hat) leben in einem jeweils eigenen sprachlich-ideellen und emotionalen Kosmos, der das wechselseitige Verstehen auch bei dem engagiertesten Bemühen um 'Übersetzung' mit einem großen Fragezeichen versieht. © rein Wichtige Schriften: ❍
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Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792) Antrag auf Errichtung der Universität Berlin (1809) Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin (1810) Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts (1836)
Sekundärliteratur: 1. R. Freese (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Sein Leben und Wirken, dargestellt in Briefen, Tagebüchern und Dokumenten seiner Zeit, 2. Aufl., Darmstadt 1984. 2. L. Jäger: Die Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts, in: R. Wimmer (Hg.): Sprachtheorie, Düsseldorf 1987, S.175-190. 3. S. Kaehler: Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, 2. Aufl., Göttingen 1963.
Wilhelm von Humboldt und die Reform der preußischen Universitäten (1809/10)
In der gegenwärtigen Debatte um die Reform der deutschen Universitäten spielt die Devise "weg von Humboldt" eine zentrale Rolle. Offenkundig werden die Universitäten also von Humboldts Konzepten immer noch entscheidend bestimmt - sonst hätte die Forderung nach ihrer Zurückdrängung wenig Sinn. Für ein Organisationsprinzip, das im frühen 19. Jahrhundert entwickelt wurde, ist dies der Ausweis einer bemerkenswerten Langlebigkeit. Welches waren die grundlegenden Ideen von Humboldts Universitätsreform? Auf der einen Seite ging es ihm darum, die Universität und die Wissenschaft von allen 'äußeren Zwecken', wie es zeitgenössisch hieß, unabhängig zu machen. Politische oder kirchlich-religiöse Einflußnahme auf die wissenschaftlichen Inhalte wollte Humboldt um jeden Preis verhindern. Auch die Unterwerfung der Forschung unter das Nutzen- und Profitinteresse der Wirtschaft wollte er nicht akzeptieren. Wissenschaft sollte auf Wahrheitssuche, auf Erkenntnis um ihrer selbst willen abzielen. Um dieses Ziel zu erreichen, hatten die Wissenschaftler in 'Einsamkeit und Freiheit' zu leben - 'Freiheit' meinte die geistige Unabhängigkeit, 'Einsamkeit' die ganz praktische Folge des auf sich selbst gestellten Wahrheitsstrebens. Auf der anderen Seite bekämpfte Humboldt die Spezialisierung, die sich auch im geistigen Leben auf dem Vormarsch befand. Gegen dieses 'Expertentum' stellte er die Universalität der Bildung, das hochgesteckte Ziel, durch Kenntnisse auf allen Feldern menschlichen Wissens eine möglichst umfassende Entwicklung des Geistes und der Persönlichkeit zu erreichen. Wissen sollte nicht sterile Reproduktion von vorgefertigten Erkenntnissen sein, sondern im selbständigen und kritischen Mit- wie Nachvollzug erworben werden, um sich in eine eigene geistige Erfahrung zu verwandeln. Besondere Beachtung verdient Humboldts Universitätsreform auch deshalb, weil sie die Stellung der Philosophischen Fakultät neu definierte und damit auch unmittelbaren Einfluß auf die Entwicklung der Germanistik hatte. Vorher war die Philosophische Fakultät als 'untere Fakultät' abgewertet worden. Dort erhielten die Studenten eine propädeutische Ausbildung, die sich im wesentlichen auf die 'Sieben freien Künste' konzentrierte, zu denen auch 'philologische' Disziplinen wie Grammatik und Rhetorik gehörten. Wenn diese Ausbildung erfolgreich absolviert war, konnte sich ein Fachstudium in einer der drei höheren Fakultäten: Theologie, Jurisprudenz oder Medizin, anschließen. Der niedrige Status der Philosophischen Fakultät drückte sich auch in der wesentlich geringeren Besoldung ihrer Professoren aus.
Humboldt wertete die Philosophische Fakultät radikal auf. Sie sollte der Garant für die Beherzigung der beiden Prinzipien sein, die er für die gesamte Universität formuliert hatte. Einerseits war sie also dafür zuständig, die Orientierung aller wissenschaftlichen Bemühungen an der Auffindung der Wahrheit sicherzustellen, andererseits hatte sie dafür zu sorgen, daß alle Spezialkenntnisse, die von den einzelnen Fächern erarbeitet wurden, in den Horizont des Ganzen gerückt wurden - als 'Universitas', als umfassende und allgemeinbildende Einrichtung wurde sie damit zum Herzstück der neuen Universität. Jedem einzelnen Fachstudium wurde erst durch die Kombination mit der Philosophie wirklicher Geist eingehaucht, weil nur sie darüber belehrte, welcher Sinn und Stellenwert den Kenntnissen und Tätigkeiten des einzelnen Fachmannes in der Welt zukam. Gleichzeitig erhielt die Philosophische Fakultät im frühen 19. Jahrhundert das Monopol für die Ausbildung von Lehrern an höheren Schulen. Als sich die Germanistik zur selben Zeit als neues Fach in der Philosophischen Fakultät etablierte, wurde sie sogleich mit deren besonderen Ansprüchen konfrontiert: Die Beschäftigung mit deutscher Sprache und Literatur sollte ‚bildend' sein, sie sollte die Wahrheit und das Ganze im Blick haben, und sie sollte vor allem die überall in Deutschland neugestalteten Gymnasien mit Lehrern versorgen. ©rein Sekundärliteratur: 1. C. Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover 1975. 2. D. Benner: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusamenhang neuzeitlicher Bildungsreform, 2. Aufl., Weinheim u.a. 1995. 3. R. vom Bruch: A Slow Farewell to Humboldt? Stages in the History of German Universities, 1810-1945, in: M. G. Ash (Hg.): German Universities - Past and Future. Crisis or Renewal?, Oxford u.a. 1997, S.327.
Zäsur lat. caedere, caesus: hauen, einschneiden
Die Zäsur ist ein syntaktischer, lautlicher und / oder metrischer Einschnitt innerhalb eines Verses. Es gibt sowohl feststehende, verskonstituierende Zäsuren, wie beispielsweise die Mittelzäsur beim Alexandriner und beim Pentameter, als auch frei bewegliche Zäsuren, so im Blankvers und im Elfsilbler. In Gryphius Gedicht Es ist alles eitell wird die für den Alexandriner typische Zäsur (nach der dritten Hebung) im zweiten und dritten Vers der ersten Strophe besonders deutlich: "DU sihst / wohin du sihst nur eitelkeit auf erden. Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein: Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden." (S. 268f.) Liest man diese Verse laut, so macht man bei der Zäsur, also in diesem Fall nach "sihst", "bawt", "stehn" und "kind", unwillkürlich eine Pause. ©TvH
Andreas Gryphius: Es ist alles eitell, in: Das Zeitalter des Barock, hg. v. Albrecht Schöne, München 1988.
Schweifreim
Im Schweifreim (umarmender Reim), reimt sich der erste Vers mit dem vierten, der zweite Vers mit dem dritten. Man kennzeichnet die Reimpaare mit kleinen Buchstaben, in diesem Fall also: abba. ©TvH
Paarreim
Im Paarreim reimen sich die beiden aufeinanderfolgenden Verse. Man kennzeichnet die Reimpaare mit kleinen Buchstaben, in diesem Fall also: aabb. ©TvH
Blankvers engl. blank: rein (im Sinne von reimlos)
Der in England entstandene Blankvers ist weniger ein Lyrik- als vielmehr ein Dramenvers. Shakespeare schrieb seine Dramen vorzugsweise in Blankversen, in Deutschland entdeckten die Dramatiker des 18. Jahrhunderts im Zuge der allgemeinen Shakespeare-Euphorie diesen Vers für sich. So verfaßte Gotthold Ephraim Lessing sein Drama Nathan der Weise nicht in den durch Martin Opitz eingeführten Alexandrinern, sondern in Blankversen. Der Blankvers ist ein jambisch fünfhebiger, reimloser Vers, der, je nachdem ob er betont (männlich) oder unbetont (weiblich) endet, aus zehn oder elf Silben besteht. Im Gegensatz zum sechshebigen Alexandriner verfügt der Blankvers nicht über eine feste Zäsur, und wurde schon vom späten Shakespeare selbst relativ frei, mit Nähe zur Prosa, gehandhabt (Wegfallen der Eingangssenkung, Doppelsenkungen, Hebungsprall durch eine fehlende Senkung, einzelne Vieroder Sechsheber). Die Flexibilität des Blankverses erweist sich für die dramatische Dynamik als Vorteil. Die ersten Verse des Nathan, gesprochen von der Christin Daja, sind zehnsilbige, betont endende Blankverse: "Er ist es! Nathan! – Gott sei ewig Dank, Daß Ihr doch endlich einmal wiederkommt." (S. 5) ∪−∪−∪−∪−∪− ∪−∪−∪−∪−∪− Darauf antwortet Nathan in elfsilbigen, unbetont endenden Blankversen: "Ja, Daja, Gott sei Dank. Doch warum endlich? Hab‘ ich denn eher wiederkommen wollen?" (ebd.) ∪−∪−∪−∪−∪−∪ ∪−∪−∪−∪−∪−∪ ©TvH
Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, Stuttgart 1959.
Knittelvers evt. von knüttel: knorrig, im Sinne von schlechten, unregelmäßigen Versen
Der Knittel ist im 15. und 16. Jahrhundert nicht nur in der Lyrik, sondern auch in Dramatik und Epik der gebräuchlichste Vers. Er ist vierhebig und in Paaren gereimt. Man unterscheidet den sogenannten strengen vom freien Knittel. Der strenge Knittel ist ein meist alternierender acht- oder neunsilbiger Vierheber, wie ihn am kunstvollsten Hans Sachs verwandte. Im freien Knittel hingegen herrscht Füllungsfreiheit, d.h. es können mehrere Senkungen aufeinander folgen, oder auch ganz wegfallen (= Hebungsprall), so daß der freie Knittel aus bis zu 15 Silben bestehen kann. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der freie Knittel im Rahmen der Rückbesinnung auf altdeutsche Traditionen (Herder) wiederentdeckt und beispielsweise von Goethe im Eingangsmonolog des Faust eingesetzt: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
"Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie! Durchaus studiert mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor; Heiße Magister, heiße Doktor gar, Und ziehe schon an die zehen Jahr Herauf, herab und quer und krumm Meine Schüler an der Nase herum – Und sehe, daß wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen."
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(a) (b) (a) (b) (c) (c) (d) (d) (e) (e) (f) (f)
(S. 13)
11 12
∪−∪∪∪−−∪−∪ ∪−∪−∪−∪−∪
Die Verse beginnen sowohl auftaktig als auch auftaktlos, einige sind alternierend und heben den Inhalt durch den so entstehenden sprachlichen Rhythmus besonders deutlich hervor (5, 6, 9, 1), in anderen stehen mehrere Senkungen oder Hebungen hintereinander, so daß sich die Verssprache eher der Prosa annähert. Durchgängig sind alle Verse vierhebig und reimen sich mit Ausnahme des ersten Kreuzreimes in Paarreimen. ©TvH
Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart 1986.
Pentameter griech. pente: fünf; metron: Maß
Entgegen seines Namens ist auch der Pentameter ein sechshebiger Vers, der wie der Hexameter ein vorwiegend daktylisches Metrum aufweist. Der Pentameter ist jedoch metrisch strenger definiert als der Hexameter: nach der dritten und sechsten Hebung fallen die Senkungen weg. Das führt dazu, daß die dritte und vierte Hebung unmittelbar aufeinanderfolgen, also einen sogenannten Hebungsprall bilden, der als deutliche Zäsur spürbar wird. Diesen Hebungsprall kann man als das eigentliche Charakteristikum des Pentameters bezeichnen. So etwa im zweiten Vers der dritten Römischen Elegie Goethes: "Glaub es‘, ich denke nicht frech, denke nicht niedrig von dir." (S. 399) −∪∪−∪∪−/−∪∪−∪∪− Der Pentameter kommt fast nur in Kombination mit dem Hexameter vor und bildet dann ein Distichon. ©TvH
Johann Wolfgang Goethe: Römische Elegien, in: Gedichte 1756-1799, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt/M. 1987.
Chevy-Chase-Strophe
Die Chevy-Chase-Strophe ist nach einer im 16. Jahrhundert in England aufgezeichneten volkstümlichen Ballade benannt, die eine Jagd (engl. chase) auf den Cheviotbergen schildert. Sie ist die Strophenform der meisten englischen Volksballaden. In Deutschland wurde sie im 18. Jahrhundert populär und ist häufig die Strophenform kämpferischer, militärischer Gesänge. Die Chevy-Chase-Strophe besteht aus vier auftaktigen, abwechselnd vier- und dreihebigen, betont endenden Versen. Hebung und Senkung können alternieren, es besteht aber Füllungsfreiheit, d.h. auf eine Hebung können auch zwei Senkungen folgen. Im englischen Original reimen sich nur die zweite und vierte Zeile, in Deutschland überwiegt der Kreuzreim. So zum Beispiel in einem Gedicht aus Des Knaben Wunderhorn: "Im Feld vor einem grünen Wald Rief Knecht und Reutersmann, Laut rief von Lothringen Renald: Wir wollen vorne dran." (S. 37) ∪−∪−∪−∪− ∪−∪−∪− ∪−∪−∪−∪− ∪−∪−∪− ©TvH
Schlacht bei Murten, in: Des Knaben Wunderhorn, hg. v. Achim von Arnim und Clemens Brentano, Bd. 1, München 1986. Sekundärliteratur: 1. K. Neßler: Geschichte der Ballade Chevy-Chase, o.O. 1911.
Sapphische Odenstrophe
Die sapphische Odenstrophe ist nach der um 600 v. Chr. lebenden griechischen Dichterin Sappho benannt und wurde in der deutschen Lyrik am wenigsten nachgeahmt, daher als Beispiel die erste Strophe der Ode an Anaktoria von Sappho in der metrisch genauen Übersetzung von Max Treu: "Reiterheere mögen die einen, andre halten Fussvolk oder ein Heer von Schiffen für der Erde köstlichstes Ding, - ich aber das was man lieb hat." (S. 90) Das Schema der sapphischen Odenstrophe sieht so aus: −∪−∪−∪∪−∪−∪ −∪−∪−∪∪−∪−∪ −∪−∪−∪∪−∪−∪ −∪∪−∪ Die drei ersten Verse sind metrisch vollkommen gleich und bilden die sogenannten sapphischen Elfsilbler: sie beginnen auftaktlos mit einem (aus zwei trochäischen Versfüßen bestehenden) Trochäus, in der Mitte des Verses steht ein Daktylus, dem wieder ein Trochäus folgt. Der vierte Vers besteht aus einem Daktylus und einem trochäischen Versfuß. ©TvH
Sappho, hg. v. Stefanie Preiswerk-zum Stein, Frankfurt/M. 1990.
Stanze von ital. stanza: Zimmer, Aufenthaltsort, Strophe
Die Stanze ist die herrschende Strophenform der klassischen italienischen Epik (Ariost, Tasso), die sich gerade in den romanischen Ländern jedoch früh auch in Dramatik und Lyrik durchsetzte. Eine Stanze besteht aus acht Elfsilblern, die sich nach dem Schema ab / ab / ab / cc reimen. Das durch die Reimabfolge herausgehobene letzte Verspaar ist meist auch inhaltlich von besonderer Bedeutung, indem das Gesagte zusammengefaßt, gesteigert oder pointiert wird. In Deutschland ist die Stanze seit dem 18. Jahrhundert als lyrische Strophenform gängig, um die Jahrhundertwende gab es eine regelrechte Stanzenmode. Als Beispiel die erste Strophe des im Jahre 1800 entstandenen Gedichts Wiedergeburt von Johann Wilhelm Süvern: "Ins Dunkel will des Jahres Licht sich neigen; Des Lebens heiße Glut, sie kehret wieder In ew’gen Feuers Schooß zurück; es schweigen, Die sie entzündet, schon im Hain die Lieder; Die Liebe flieht, und kalt entlöst den Zweigen Sich mattes Laub, der Blumen Schmuck sinkt nieder. Das Herz erstirbt, die Adern sind verschlossen, Worin Gedeihn und Kraft sich frisch ergossen."
(a) (b) (a) (b) (a) (b) (c) (c)
(S. 1802) ©TvH
Johann Wilhelm Süvern: Wiedergeburt, in: Das deutsche Gedicht. Epochen der deutschen Lyrik, 1800-1830, hg. v. Jost Schillemeit, München 1970.
Volksliedstrophe
Die Volksliedstrophe ist, wie der Name schon sagt, die Form des einfachen Volkslieds und daher von formaler Schlichtheit geprägt. Nicht nur im immer noch meist mündlich übertragenen Kinderlied, auch im Kirchenlied wird diese Strophenform gerade wegen ihrer Eingängigkeit und Einprägsamkeit viel benutzt. Herders Rückbesinnung auf die traditionellen Formen und die unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano Anfang des 19. Jahrhunderts herausgegebene Anthologie deutscher Volkslieder führten zu einer Wiederentdeckung dieser einfachen Form in der Lyrik. Die Verse der Volksliedstrophe sind meist alternierend, es besteht aber Füllungsfreiheit, d. h. einer Hebung können auch zwei Senkungen folgen. Der Zeilenanfang kann sowohl auftaktig (jambisch) als auch auftaktlos (trochäisch), das Ende betont (männlich) oder unbetont (weiblich) sein. Mit drei oder vier Hebungen ist der Volksliedvers relativ kurz. Eine Volksliedstrophe besteht meist aus vier, manchmal auch aus sechs Versen, die immer gereimt sind (Kreuz- oder Paarreim). Entscheidend ist, daß in jedem aus Volksliedstrophen bestehenden Gedicht, eine Variante dieser Strophenform für das ganze Gedicht verbindlich ist. Hier drei Beispiele, die auch einen Eindruck von der Variationsbreite dieser Strophenform geben, zunächst der Anfang des als Volkslied bekannten Gedichtes Der Mond ist aufgegangen von Matthias Claudius: "Der Mond ist aufgegangen, Die goldnen Sternlein prangen Am Himmel hell und klar Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus dem Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar." (S. 21f.) Die sämtlich dreihebigen Verse beginnen alle auftaktig, sind streng alternierend und schließen unbetont (1, 2,4,5) oder betont (3, 6). Einem Paarreim folgt ein umarmender Reim. Die Volksliedstrophe findet sich auch in moderner Lyrik, wie etwa in Ingeborg Bachmanns Gedicht Bleib: "Die Fahrten gehn zu Ende, der Fahrtenwind bleibt aus. Es fällt dir in die Hände ein leichtes Kartenhaus." (S. 65) Auch diese Strophe ist durch streng alternierende jambische Verse gekennzeichnet, die durch einen Kreuzreim miteinander verbunden sind. Im Unterschied zu dem ersten Beispiel enden die ausschließlich dreihebigen Verse
hier aber abwechselnd unbetont und betont. Eine andere Variante der Volksliedstrophe benutzt Goethe in seinem Liebesgedicht Lina: "Liebchen, kommen diese Lieder Jemals wieder dir zu Hand, Sitze beim Klaviere nieder, Wo der Freund sonst bei dir stand." (S. 645) In diesem Gedicht beginnen alle Verse auftaktlos (trochäisch), sind alternierende Vierheber und enden abwechselnd unbetont und betont. Das Reimschema ist auch hier der Kreuzreim. ©TvH
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Matthias Claudius: Der Mond ist aufgegangen, in: Deutsche Volkslieder, hg. v. Ernst-Lothar von Knorr, Stuttgart 1998. Ingeborg Bachman: Bleib, in: dies.: Anrufung des Großen Bären, München 1983. Johann Wolfgang Goethe: Lina, in: ders.: Gedichte 1756-1799, hg. v. Karl Eibl, Frankfurt/M. 1987.
Sekundärliteratur: 1. H. Bausinger: Formen der "Volkspoesie", Berlin 1968. 2. G. Müller: Geschichte des deutschen Liedes, München 1925 (Nachdruck Darmstadt 1959).
Enjambement franz.: Überschreitung
Wenn das Satzende nicht mit dem Versende zusammenfällt, sondern ein Satzoder Sinnzusammenhang über die Versgrenze hinweg fortgeführt wird, spricht man von einem Enjambement bzw. Zeilensprung. Dadurch wird der auf Dauer eintönig wirkende Zeilenstil, bei dem Satz und Vers übereinstimmen, aufgebrochen und eine gleitende Struktur mit ungewöhnlichen Akzenten erreicht. Wird ein Satz über eine Strophengrenze hinweg fortgeführt, spricht man von einem Strophenenjambement bzw. Strophensprung. In Hölderlins Lyrik finden sich viele, auch sogenannte harte, d.h. ein Syntagma unterbrechende Enjambements, so etwa in dem Gedicht Der Tod fürs Vaterland: "Du kömmst, o Schlacht! Schon wogen die Jünglinge hinab von ihren Hügeln, hinab ins Tal, Wo keck herauf die Würger dringen, Sicher der Kunst und des Arms, doch sichrer Kömmt über die Seele der Jünglinge, Denn die Gerechten schlagen, wie Zauberer, Und ihre Vaterlandsgesänge Lähmen die Kniee der Ehrelosen." (S. 59) ©TvH
Friedrich Hölderlin: Gedichte, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt/M. 1984.
Syntagma griech.: Zusammenordnung
Eine grammatisch und logisch eng zusammengehörige Wortgruppe, wie etwa Artikel, Substantiv und Prädikat heißt Syntagma. Das Ende eines Syntagmas wird meist durch eine kleine Sprechpause signalisiert. Wird in einem lyrischen Text ein Syntagma zerrissen und auf zwei Verse verteilt, so spricht man von einem Enjambement. ©TvH
Freie Rhythmen
Lassen sich in einem Gedicht keine metrischen Gesetzmäßigkeiten erkennen, so spricht man von freien Rhythmen. Klopstock, der die komplexen antiken Odenmaße für die deutsche Lyrik fruchtbar gemacht hat, ist auch der Urheber dieser reimlosen und unregelmäßigen Versform, die nur noch durch das Druckbild und die hohe sprachliche Verdichtung als Gedicht erkennbar ist. Das wohl früheste Beispiel für freie Rhythmen ist die erste Fassung der Hymne Die Frühlingsfeier, die den Titel Das Landleben trägt: "Nicht in den Ozean Der Welten alle Will ich mich stürzen! Nicht schweben, wo die ersten Erschaffnen, Wo die Jubelchöre der Söhne des Lichts Anbeten, tief anbeten, Und in Entzückung vergehn! Nur um den Tropfen am Eimer, Um die Erde nur, will ich schweben, Und anbeten!" (S. 85) Allein die auf den ersten Blick ins Auge springende, völlig verschiedene Länge der Verse und Strophen (daher besser Abschnitte genannt), zeigt die Freiheit der Form an. Dennoch entsteht durch Wortwiederholungen, parallele Satzkonstruktionen und kunstvoll gespannte semantische Bögen ein – "freier" – Rhythmus. Klopstocks Innovation wurde von der folgenden Dichtergeneration als Befreiungsschlag empfunden. So dichtete etwa der junge Goethe viele seiner berühmtesten Gedichte in freien Rhythmen (Ganymed, Prometheus). ©TvH
Friedrich Gottlieb Klopstock: Ausgewählte Werke, Bd. I, hg. v. August Schleiden, Wiesbaden o. J. Sekundärliteratur: 1. L. L. Albertsen: Die freien Rhythmen. Rationale Bemerkungen im allgemeinen und zu Klopstock, Aarhus 1971.
Gottfried Benn: Probleme der Lyrik (1951)
Am 21.4.1951 hielt Benn in Marburg einen Vortrag mit dem Titel Probleme der Lyrik, dessen Thesen über ein Jahrzehnt die Lyrik-Debatten in Deutschland beeinflußten. Benn setzt sich in seinem Vortrag mit der Frage auseinander, wie Gedichte entstehen – "Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht."(S. 359) – und kritisiert das verbreitete Verständnis von Lyrik als reiner Empfindung mit dem Hinweis auf das Gemachte, Kalkulierte eines Gedichtes: "Irgend etwas in Ihnen schleudert ein paar Verse heraus oder tastet sich mit ein paar Versen hervor, irgend etwas anderes in Ihnen nimmt diese Verse sofort in die Hand, legt sie in eine Art Beobachtungsapparat, ein Mikroskop, prüft sie, färbt sie, sucht nach pathologischen Stellen. Ist das erste vielleicht naiv, ist das zweite ganz etwas anderes: raffiniert und skeptisch. Ist das erste vielleicht subjektiv, bringt das zweite die objektive Welt heran, es ist das formale, das geistige Prinzip. Ich verspreche mir nichts davon, tiefsinnig und langwierig über die Form zu sprechen. Form, isoliert, ist ein schwieriger Begriff. Aber die Form ist ja das Gedicht. Die Inhalte eines Gedichtes, sagen wir Trauer, panisches Gefühl, finale Strömungen, die hat ja jeder, das ist der menschliche Bestand, sein Besitz in mehr oder weniger vielfältigem und sublimem Ausmaß, aber Lyrik wird daraus nur, wenn es in eine Form gerät, die diesen Inhalt autochthon macht, ihn trägt, aus ihm mit Worten Faszination macht. Eine isolierte Form, eine Form an sich, gibt es ja gar nicht. Sie ist das Sein, der existentielle Auftrag des Künstlers, sein Ziel." (S. 363f.) Benn bestimmt das moderne Gedicht als selbstreflexive, monologische Monade, in der die "Artistik" eine zentrale Rolle spiele. Diese sei der "Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen Stil zu bilden". (S. 359) ©TvH
Gottfried Benn: Probleme der Lyrik, in: Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart, hg. v. Ludwig Völker, Stuttgart 1990, S. 357-365. Sekundärliteratur:
1. U. Meister: Sprache und lyrisches Ich. Zur Phänomenologie des Dichterischen bei Gottfried Benn, Berlin 1983. 2. J. Schröder: Gottfried Benns späte Lyrik und Lyriktheorie, in: ders.: Gottfried Benn und die Deutschen, Tübingen 1986, S. 58-72.
Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft (1951)
Adornos Denken ist von der produktiven Auseinandersetzung mit der Dialektik Hegels geprägt. Erscheint die Sprache der Lyrik einerseits als utopisch-subjektive Alternative zur ideologisch-objektiven Sprache der gesellschaftlichen Wirklichkeit, so sieht Adorno im Gedicht andererseits eben deshalb die Möglichkeit gesellschaftlicher Wirkung. "Sie empfinden die Lyrik als ein der Gesellschaft Entgegengesetztes, Individuelles. Ihr Affekt hält daran fest, daß es so bleiben soll, daß der lyrische Ausdruck, gegenständlicher Schwere entronnen, das Bild eines Lebens beschwöre, das frei sei vom Zwang der herrschenden Praxis, der Nützlichkeit, vom Druck der sturen Selbsterhaltung. Diese Forderung an die Lyrik jedoch, die des jungfräulichen Wortes, ist in sich selbst gesellschaftlich. Sie impliziert den Protest gegen einen gesellschaftlichen Zustand, den jeder Einzelne als sich feindlich, fremd, kalt, bedrückend erfährt, und negativ prägt der Zustand dem Gebilde sich ein: je schwerer er lastet, desto unnachgiebiger widersteht ihm das Gebilde, indem es keinem Heteronomen sich beugt und sich gänzlich nach dem je eigenen Gesetz konstituiert. Sein Abstand vom bloßen Dasein wird zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem. Im Protest dagegen spricht das Gedicht den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre. Die Idiosynkrasie des lyrischen Geistes gegen die Übergewalt der Dinge ist eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt, der Herrschaft von Waren über Menschen, die seit Beginn der Neuzeit sich ausgebreitet, seit der industriellen Revolution zur herrschenden Gewalt des Lebens sich entfaltet hat." (S. 51f.) ©TvH
Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: ders.: Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/M. 1981, S. 49-68.
Joachim Du Bellay
* 1522 Chateau de la Tumelière/Anjou † 01.01.1560 Paris französischer Lyriker und Poetiker Du Bellay stammte aus einer adligen Familie von Rang und politischem Einfluss und strebte selbst eine diplomatische Karriere an. Doch wandte er sich nach dem Studium der Rechte der klassisch-humanistischen Bildung zu. Mit seinem Freund Pierre de Ronsard begründete er die Dichterschule der Pleíade (das "Siebengestirn" der griechischen Mythologie). Gemeinsames Ziel war eine Aufwertung und Weiterentwicklung der französischen Dichtung in Nachahmung antiker Vorbilder sowie in produktiver Aufnahme von Poetik und dichterischer Praxis der italienischen Renaissance (Pietro Bembo; Dante, Boccaccio und vor allem Petrarca). Für diese Bewegung schrieb Du Bellay gewissermaßen das Programm, das nicht nur die eigenen Vorstellungen umriss, sondern auch gegen einheimische Konkurrenten polemisierte: Défense et illustration de la langue francaise (1549). Es geht also darum, den Eigenwert und ästhetischen Rang der französischen Volkssprache gegenüber dem Lateinischen zu verteidigen und sie zugleich zu "illustrieren", d.h. zu bereichern - und zwar in Hinsicht auf den Wortschatz (Archaismen, Dialektausdrücke, Fachbegriffe), den poetischen Stil (Grammatik, Rhetorik, Metrik) und die verwendeten Gedichtformen (antike Formen wie Ode und Epigramm, aber auch das italienische Sonett). Du Bellays Schrift ist nicht die erste, aber - in Verbindung mit seiner eigenen und Ronsards Lyrik - die wirkungsstärkste muttersprachliche Poetik, und dies nicht nur in Frankreich. Natürlich hat auch Martin Opitz sie gekannt und (siebzig Jahre später) mit seinem Buch von der deutschen Poeterey (1624) ein deutsches Pendant geschaffen. Von Du Bellays eigenen Dichtungen sind zwei Gedichtzyklen bemerkenswert: Der erste, Ruinen des antiken Rom (Antiquités de Rome, 1558; entstanden 1553) schöpft intensiv aus antiken Quellen (Horaz, Vergil) und klagt über den Verfall historischer Größe. Nachdem sein eigener Aufenthalt in der ewigen Stadt, wo ein Vetter als Kardinal residierte, ihm selbst keine Aufstiegsperspektiven gebracht hatte, kehrte Du Bellay nach Frankreich zurück. Ein zweiter Sonett-Zyklus mit dem Titel Klagen (Les regrets, 1558) resümiert eigene Enttäuschungen im "Exil" und zeichnet sich durch eine sehr viel persönlichere Färbung aus, als sie (auch nach Du Bellays eigener Poetik) damals üblich war. Auch wenn der Sonettist Du Bellay stets im Schatten seines Freundes Ronsard blieb, wurde die Leichtigkeit und Eleganz seines Versbaus doch allgemein bewundert. © JZ
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Verteidigung und Bereicherung der französischen Sprache (1549) Ruinen des antiken Rom (1558) Klagen (1558)
Sekundärliteratur: 1. K. Ley: Neuplatonische Poetik und nationale Wirklichkeit, Heidelberg 1975. 2. V.-L. Saulnier: Du Bellay, l'homme et l'œuvre, Paris 1951. 3. H.W. Wittschier: Du Bellay, in: A. Buck (Hg.): Dichtungslehren der Romania aus der Zeit der Renaissance und des Barock, Frankfurt/M. 1972, S.17-63.
Luís Vaz de Camões
* um 1524/25, Lissabon oder Coimbra † um 1580, Lissabon Portugiesischer Epiker, Lyriker, Dramatiker Über sein Leben gibt es nur sehr wenige dokumentarische Nachweise. Durch Verflechtung dieser raren Notizen mit (nicht minder spärlichen) Zeugnissen von Zeitgenossen sowie Angaben späterer Biographen und Rückschlüssen aus dem poetischen Werk selbst wurde eine überwiegend legendäre Biographie aufgebaut (die sich bis heute behauptet), in welcher Camões als mythische Gestalt erscheint. Besonders seit der Romantik wird die Figur des Dichters mit der eines "poète maudit" identifiziert: unerbittlich vom Schicksal verfolgt, unglücklich in der Liebe und Opfer von Neid und höfischen Ränken, die ihn ins Exil trieben, starb er letztlich in äußerstem Elend und in Einsamkeit, in einem vom Untergang gezeichneten Weltreich. Mit Vorsicht lässt sich Folgendes über sein Leben sagen: Von niedrigem Adel abstammend ist Luís Vaz de Camões wahrscheinlich in Lissabon geboren, hat seine Studien in Coimbra durchgeführt, das zur Zeit ein wichtiges europäisches humanistisches Zentrum war, und später in Lissabon am Leben des gebildeten und galanten Hofes von König Johannes dem Dritten teilgenommen. Nachdem er zwei Jahre als Soldat in Nordafrika verbracht hat, wo er - einigen seiner Verse nach - im Gefecht ein Auge verlor, kehrt er zum Lissabonner Hof zurück. Aufgrund eines Dokumentes dieser Zeit wissen wir, dass er 1552 nach einem Streit mit einem königlichen Diener, welcher ihm eine Gefängnisstrafe einbrachte, vom König begnadigt wurde und sich kurz darauf nach Indien einschiffte. Dort diente er während fünfzehn Jahren als Soldat, einer Phase seines Lebens voll von Nöten, Abenteuern und reicher dichterischer Produktivität. Nach einer längeren, durch einen zweijährigen Aufenthalt in Mosambik unterbrochenen Heimreise kommt er zum Lissabonner Hof zurück, wo er sich um den Druck seines epischen Gedichts Os Lusíadas bemüht, das 1572 veröffentlicht wird. Hierauf erhält er von dem jungen König Sebastian eine bescheidene jährliche Pension. Er stirbt um 1580 wahrscheinlich in Lissabon, nach der Katastrophe von Alcácer Quibir (Ksar el-Kebir), ohne dass dieser letzte Lebensabschnitt von Ruhm oder Ehrungen geprägt war. Die Arbeit der verschiedensten Kommentatoren des Werkes von Camões hat zur Genüge bewiesen, dass es dem Dichter nicht fehlt "an Bücherwissen [...] / Mit der Erfahrung langer Zeit gemischt, / Auch nicht an Geist [...], / Die selten so vereint zusammenstehen" (Lus., X, 154, 5-8). Sein gesamtes schöpferisches Werk, insbesondere das große Epos Die Lusiaden - in dem im Rahmen der Schilderung von Vasco da Gamas Entdeckungsreise nach Indien Portugals
ruhmreiche Geschichte von ihren Anfängen an dargestellt und die Korruption und Dekadenz der eigenen Zeit heftig angeklagt wird, wurzelt in Humanismus und Renaissance-Denken. Es ist jedoch gleichzeitig durchdrungen von einem außergewöhnlich breiten kulturellen und literarischen Eklektizismus. In den drei Komödien - Anfitriões [Die Amphitryone], Filodemo [Filodemo] und El-Rei Seleuco [König Seleukos] - , vermischen sich die antiken Dramen-Vorbilder der Renaissance (vor allem die Lustspiele des Plautus) mit der heimischen Tradition der Spiele eines Gil Vicente. Auch das lyrische und das epische Werk vereinigt unterschiedlichste literarische Traditionen wie die galicisch-portugiesische Troubadourlyrik, den einem Großteil seiner Liebesgedichte zugrunde liegenden Petrarkismus, den iberischen Neuplatonismus und auch den Manierismus, der sich in dem leidvoll-bitteren Ton vieler seiner Verse äußert. In ihnen kommt, in auffälligem Widerspruch zum christlich-neuplatonischen Weltbild, eine von Unordnung, Elend, Wahnsinn und Enttäuschung geprägte Auffassung vom Menschen und der Welt zum Ausdruck. Die deutschsprachige Camões-Rezeption kann auf eine lange, reichhaltige Geschichte zurückblicken. In Folge der von Voltaire im Essai sur la poésie épique (1727) eingeleiteten Diskussion um das Verdienst der Lusiaden und ihre Mängel im Lichte der neoklassizistisch-aufklärerischen Ästhetik begegnen in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erste Teilübersetzungen von Camões' lyrischem und epischem Werk sowie Essays über sein Leben und Werk, die dem kritischen Urteil des französischen Aufklärers z.T. widersprechen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird Camões, dank des Anstoßes durch die Romantiker, insbesondere durch Friedrich Schlegel, zu einem europäischen Modell des romantischen Dichters. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts erleben wir eine stetige Folge von deutschsprachigen Camões-Übersetzungen, Lebensdarstellungen und -Studien. Hervorzuheben sind: im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts das monumentale Werk von Wilhelm Storck, in unseren Tagen die Übertragung der Lusiaden von Hans Joachim Schaeffer, der dem heutigen deutschsprachigen Leser eine vollständige Fassung der Werke des portugiesischen Dichters zur Verfügung stellen will. ©MMD
Wichtige Schriften: ❍ ❍
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Obras Completas, 5 Bd., hg. v. Hernâni Cidade, Lisboa 1954-1956. Luis' de Camoens Sämmtliche Gedichte. Zum ersten Male deutsch von Wilhelm Storck, 6 Bd., Paderborn 1880-1885. Os Lusíadas - Die Lusiaden. Aus dem Portugiesischen von Hans Joachim Schaeffer. Bearb. und mit einem Nachwort versehen von Rafael Arnold. Heidelberg 2000 (1. Aufl. 1999).
Sekundärliteratur: 1. Hernâni Cidade, Luís de Camões, 3 Bd., Lisboa 1952, 21954, 1956. 2. Vítor M. de Aguiar e Silva, Camões: Labirintos e Fascínios, Lisboa 1994. 3. Reinhold Schneider: Das Leiden des Camões oder der Untergang und Vollendung der portugiesischen Macht, Helleran 1930.
Pierre de Ronsard
* 11.09. 1524 (oder 1525), La Poissonière/Vendôme † 27.12. 1585, Tours französischer Dichter Ronsard ist der bedeutendste und von den Zeitgenossen hoch verehrte Lyriker der französischen Renaissance. Mit seinem Studienfreund Joachim Du Bellay und weiteren Sinnesgenossen gründete er die Dichterschule der Pléiade, ein "Siebengestirn" (in Anlehnung an die griechische Mythologie), das die französische Sprache und Dichtung auf eine bisher nicht gekannte Höhe führen wollte. Du Bellays Poetik Dèfense et illustration de la langue francaise (1549) formulierte dafür das Programm, das neben der Nachahmung (mimesis, imitatio) antiker Vorbilder und der produktiven Aufnahme Petrarcas auch die Ausschöpfung aller Möglichkeiten der französischen Sprache forderte. Das dichterische Werk lässt sich grob in die (frühen) Oden und seine (späteren) Sonette einteilen, die jeweils in Zyklen oder Büchern publiziert werden. Die ersten vier Odenbücher (Les quatres premiers livres des odes) erschienen 1550, ein fünftes folgte 1552. Hier versucht Ronsard, die dominierende Form der griechischen Lyrik zu adaptieren, wobei er sich zunächst am "hohen Ton" Pindars orientiert, um das Lob des Königs Heinrich II. und anderer hochgestellter Persönlichkeiten zu singen. Mehr und mehr wendet er sich dann aber dem Vorbild Horaz, und damit einem leichteren Ton und weniger hochtrabenden Themen (Liebe, Natur) zu. Der neue Ton entspricht auch sehr viel besser der Struktur und dem Klang der französischen Sprache und dem von Ronsard hier verwendeten Kurzvers. Als Liebesgedichte (Amours) werden verschiedene Gedichtzyklen zusammengefasst, die zwischen 1552 und 1578 entstanden. Darin werden zum Teil wohl eigene Liebeserfahrungen verarbeitet, zum Teil handelt es sich aber auch um Auftragsdichtungen (z.B. Trauergedichte auf die verstorbene Geliebte Heinrichs III.) Die poetische Leistung Ronsards liegt vor allem darin, dass er das von Petrarca übernommene Sonett und die französischen Versmaße des Zehnsilbers und des Alexandriners rhythmisch so perfektioniert, dass sie alle Starrheit verlieren und unterschiedliche Stimmungen (stürmische Bewegtheit, Zärtlichkeit, idyllische Ruhe) auszudrücken vermögen. Ronsard hat seine poetischen Mittel bewusst in den Dienst politischer Ziele, insbesondere der Verherrlichung der Monarchie gestellt. Gescheitert ist er allerdings mit seinem Versuch der Franciade (1572), also eines nationalen Epos für die französische Nation: es bleibt fragmentarisch. Dennoch wurde er mit
Ehrungen, Ämtern und Zuwendungen reichlich bedacht. Ob die pompösen Trauerfeiern nach seinem Tode mehr dem "König der Dichter" oder dem "Dichter der Könige" galt, lässt sich kaum mehr entscheiden. © JZ
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Die ersten vier Odenbücher (1550) Liebesgedichte (1552-1578) Die ersten vier Bücher der Franciade (1572)
Sekundärliteratur: 1. G.Gadoffre: Ronsard par lui-même, Paris 1960. 2. H. W. Wittschier: Die Lyrik der Plèiade, Frankfurt/M. 1971.
Eduard Mörike * 08.09.1804, Ludwigsburg † 04.06.1875, Stuttgart Dichter, Schriftsteller und schwäbischer Pfarrer Eduard Mörike ist, wie schon vor ihm Hölderlin, Schelling oder Hegel, einer der berühmten Absolventen des Tübinger Stifts, die sich (letztlich) erfolgreich darum bemühten, der vorbestimmten Existenz als schwäbischer Landpfarrer zu entkommen. Mörikes literarisches Schaffen wird gemeinhin mit seiner Lyrik verbunden. Die Vertonungen durch Hugo Wolf im Jahre 1888 haben nicht unwesentlich zur Bekanntheit gerade der frühen Gedichte Mörikes beigetragen. Die sich hier offenbarende Dichotomie zwischen beunruhigendem Traum und sicherer Realität, zwischen Lebensfreude und tiefer Melancholie ist bestimmend auch für die berühmten "Peregrina"-Gedichte, die Bedrohung und Verirrung der Liebe als "Irrsal", Wahnsinn und Schmerz thematisieren. Zunächst veröffentlicht als lyrische Einlagen in "Maler Nolten", der 1832 als "Novelle in zwei Theilen" erscheint, tragen sie zum romantischen Konzept des Romans bei, verschiedene Gattungen in sich zu vereinigen. Der Roman beschreibt, phantastisch und kleinteilig fabulierend, die psychologisch motivierte Problematik einer Künstlerexistenz in bürgerlichem Rahmen. Die fragilen Schwebezustände zwischen Phantasie und Realität, die auch Mörikes Märchennovellen bestimmen, verankern das literarische Werk Mörikes in der breiten Spannweite zwischen Romantik und literarischem Realismus. Der Versuch, das teils schwer zugängliche Werk Mörikes in einen literaturgeschichtlich ordnenden Rahmen zu bringen, muss jedoch scheitern. Ein Vergleich des unbestritten wichtigsten Werkes, der Novelle "Mozart auf der Reise nach Prag" (1855) mit "Maler Nolten" vermag die Widersprüchlichkeit und Uneinheitlichkeit des poetologischen Programms Mörikes zu verdeutlichen. Seine Neuschreibung des 'Mythos Mozart' kann als exemplarischer Beitrag zur Phänomenologie des Subjekts gelten. Der Gespaltenheit des neuzeitlichen Subjekts in melancholisch-depressiven Selbstzerfall und phantasievolle Selbstkonstituierung begegnet Mörike dadurch, dass er Subjektivität durch den authentischen, aus sinnlicher Erfahrung erwachsenen Schöpfungsakt legitimiert. Diese Begründung des Subjekts aus dem Schöpferischen, die als rückwärts gewandte Utopie im Kontext des Biedermeier steht, offenbart den schroffen Gegensatz zur Aussage des "Maler Nolten". Dessen Grunderfahrung von Identität als trügerischer, zwielichtiger Inszenierung stellt der Mozart-Novelle und ihrer biedermeierlichen Melancholie eine Poetologie der Moderne entgegen. ©MB
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍
Maler Nolten (1832) Gedichte (1838) Das Stuttgarter Hutzelmännlein (1853) Mozart auf der Reise nach Prag (1855)
Sekundärliteratur: 1. G. Blamberger / M. Engel / M. Ritzer (Hg.): Studien zur Literatur des Frührealismus, Frankfurt/M. 1991. 2. U. Hötzer: Mörikes heimliche Modernität, Tübingen 1988. 3. R. Wild (Hg.): "Der Sonnenblume gleich steht mein Gemüthe offen". Neue Studien zum Werk Eduard Mörikes, St. Ingbert 1997.
Robert Gernhardt
*13.12.1937, Reval (Estland) Schriftsteller, Karikaturist, Maler, Kritiker (Pseudonyme Lützel Jeman, Alfred Karch) Mit Robert Gernhardt (und seinem von ihm mitbegründeten Kreis der "Neuen Frankfurter Schule" um Eckhard Henscheid, Chlodwig Poth, Hans Traxler, F. K. Waechter oder F. W. Bernstein) betritt ein neuer Typus des Schriftstellers die literarische Öffentlichkeit: Er hebt die Grenzen auf zum Feuilleton, zur Satire und zur Karikatur. Der Dichter als Popstar betritt die Bühne und erobert Leserkreise, die bislang wenig Neigung für Lyrik und Lesungen zeigten. Der Paradigmenwechsel ist verbunden mit der Ablösung eines Literaturbegriffs, der zwischen "großer Literatur", "Unterhaltungsliteratur" und "Unliterarischem" scheidet. Gernhardts schriftstellerische und zeichnerische Karriere begann als Mitarbeiter an dem 1962 gegründeten Satiremagazin "Pardon" (unter dem Pseudonym Lützel Jeman - schlag nach im "Lexer"!); 1979 war er Mitbegründer von "Titanic", dem "endgültigen Satiremagazin" aus Frankfurt. In "Pardon", vor allem in der doppelseitigen Rubrik "Welt im Spiegel", entwickelte sich seine genuine Meisterschaft der Verbindung von Bild und Text; zugleich schien für die ersten Jahrzehnte "die hilfreichste Schublade für mein Dichten und Trachten" die "mit K wie Komik" beschriftete Schublade zu sein (ROBERTGERNHARDT im Nachwort zum Reclam-Band "Reim und Zeit", S. 109); das Komische "durchsäuert" die Literatur, fügt er an anderem Ort hinzu (1996, S. 131). Inzwischen ist der Autor zu einem gefeierten, beinahe einhellig gelobten "Klassiker" geworden, der im letzten Jahrzehnt eine Reihe von Sammlungen seiner Arbeiten veröffentlicht hat, in denen er die Bilanz einer Entwicklung zieht, die das Komische transformiert. Die Lieder vom "Kragenbär" und "Schnabeltier" (überhaupt spielt die Fauna eine kaum zu überschätzende Rolle im Werk GERNHARDTs) sind eingegangen in ein Liedgut, das auch noch auf Toilettenwänden festgehalten wird ("Paulus schrieb den Irokesen: Euch schreib ich nichts, lernt erst mal lesen"); Figuren wie Arnold Hau und Schnuffi gehören ebenso zur deutschen Kultur nach 1960 wie einige Titel seiner Werken: "Die Blusen des Böhmen", "Besternte Ernte", "Wörtersee", "Kippfigur" oder "ToscanaTherapie". Bemerkenswert sind die thematische und formale Vielfalt im Werk Gernhardts "ROBERTGERNHARDT ist vielseitig" (Arnet, S. 57), heißt das wiederkehrende Stichwort in der noch wenig umfangreichen Sekundärliteratur, die nicht selten versucht, in einer Abwehrreaktion gegen die Vielseitigkeit des Werkes, dieses einzufangen in Rubriken. Im Sinne einer "Welthaltigkeit" und einer Wiederkehr
des Körpers wird nicht nur das Komische und Lächerliche sondern auch das Banale und Alltägliche zum Thema ernannt: die Herzoperation, der Fußball, Sprachschwierigkeiten im ICE, Diät-Leiden, die Begegnung mit dem Bettler in der Fußgängerzone oder die ungeliebten 'Potenzstörungen'. "Kein Anlass [ist] zu trivial, kein Motiv zu abseitig, kein Bild zu hässlich", schreibt Lutz Hagestedt (2001, S. 14) zu einem Werk, das die Nähe zur Gelegenheitsdichtung nicht verleugnet. Das reiche Formenrepertoire umfasst verschiedene "Textsorten" und Genres: Anekdoten, Bildgeschichten, Cartoons, Interpretationen seiner eigenen Texte oder Photogedichte (zuweilen nennt sich Gernhardt "Bilddichter"). Bei seinen Gedichten bedient er sich neben der vorherrschenden traditionellen Liedstrophe auch Formen wie dem Blues, dem Couplet, der Litanei, der Ballade, dem Dialoggedicht, der Terzine und natürlich dem Sonett (darunter jenes berühmte, das in die Lehrbücher Eingang gefunden hat: "sonette find ich so was von beschissen"). Im Nachwort zu dem Reclam-Bändchen "Hier spricht der Zeichner" liefert Gernhardt die Gattungsabgrenzungen fürs eigene Werk (und überhaupt gibt es eine Vielzahl von Selbstkommentierungen, in denen die Entstehungsbedingungen des Werks selbst thematisiert werden). In einem SPIEGEL-Gespräch entwickelt er seine Poetologie der Gattungen: "Die Genres bedienen ja nicht nur geistige Erwartungen, sie befriedigen geradezu körperliche Bedürfnisse. Es ist sicher kein Zufall, dass die fünf Genres unseres Kulturkreises mit den fünf Entleerungsmöglichkeiten des Körpers korrespondieren [...]. Beim Melodram fließen Tränen. In der Komödie bepisst man sich vor Lachen. Der Krimi erzeugt Angstschweiß. Der Horror provoziert Erbrechen. Und der Porno zielt auf die bekannten Absonderungen" (SPIEGEL NR. 30/1994, S. 161). Das ernst Gemeinte und das Spielerisch-Selbstironische sind inzwischen schwer zu scheiden; Sprachclownerie hat sich mit Sprachreflexion verwoben. Hinter dem Antipathetischen und dem virtuosen Spiel mit literarischen Traditionen und Rezeptionsformen steht ein Autor, der in seinem Werk vielerlei Ambivalenzen Platz gibt: dem zwischen Kunstanspruch und Dilettantismus; zwischen "Niederkunst und Hochkomik", zwischen Fein- und Grobsinnigem. Er beherrscht das Spiel mit Niveau-Barrieren, die Verbindung geistreichen Persiflagen, plumpen Kalauern und pubertären Zoten. GERNHARDT ist ein ausgewiesener Kenner nicht nur der lyrischen Tradition; von besonderer Bedeutung sind ihm seine Lieblinge Lichtenberg, Morgenstern und Jandl; und natürlich Heine, Brecht und Goethe (denen er ein "Klappaltar" errichtet hat [Zürich 1998]). © MiR
: D. Arnet: Der Anachronismus anarchischer Komik. Reime im Werk von Robert
Gernhardt. Berlin 1996. Robert Gernhardt: Hier spricht der Zeichner, Stuttgart 1996. Lutz Hagestedt: Robert Gernhardt, in: Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (ergänzte Fassung 2001). Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
Welt im Spiegel (1979) Letzte Ölung. Ausgesuchte Satiren (1984) Kippfigur (1986) Reim und Zeit. Gedichte (1996) Hier spricht der Zeichner (1996)
Sekundärliteratur: 1. D. Arnet: Der Anachronismus anarchischer Komik. Reime im Werk von Robert Gernhardt. Berlin 1996. 2. Lutz Hagestedt: Robert Gernhardt [Autorenartikel]. In: Kritisches Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (ergänzte Fassung 2001). 3. Text + Kritik Heft 136, Oktober 1997
Friedrich Heinrich von der Hagen
* 19. 02. 1780, Schmiedeberg/Uckermark † 11. 06. 1856, Berlin Professor für deutsche Sprache und Literatur Von der Hagen studierte 1797/1800 in Halle Jura, hörte aber auch Vorlesungen über klassische Philologie, unter anderem bei Friedrich August Wolf. Nach dem Ersten Staatsexamen besuchte er 1803/1804 in Berlin Vorlesungen bei August Wilhelm Schlegel und begann sich im Anschluss an Wolfs Forschungen zu Homers Ilias und Odyssee für das Nibelungenlied zu interessieren. Seine Versuche, dieses Heldenepos zu übersetzen und zu 'aktualisieren', stießen bei Goethe auf Resonanz und beeinflussten dessen Beschäftigung mit 'altdeutscher' Dichtung und Kunst. Seit 1807 war von der Hagen als Privatgelehrter tätig; sein Forschungsinteresse richtete sich nun ganz auf die mittelalterliche deutsche Literatur. 1808 promovierte er zum Dr. phil. Bis 1810 edierte er u.a. eine Sammlung deutscher Volkslieder, die Epen Herzog Ernst, König Rother, Salman und Morolf, Wigamur, die höfische Legende Der heilige Georg, Volksbücher des 16. Jahrhunderts und das Nibelungenlied nach der Fassung der St. Gallener Handschrift. Auf eigenen Antrag wurde er 1810 zum außerordentlichen Professor (also mit minimalem Gehalt!) für deutsche Sprache und Literatur an der in diesem Jahr eröffneten Universität Berlin ernannt – es handelte sich nach der Göttinger Professur Georg Friedrich Beneckes um die erste für dieses Fach, das damit nun fest im Wissenschaftssystem verankert war. Seine Vorlesungen galten der historischen Grammatik, der Literaturgeschichte, Handschriftenkunde und den 'deutsche Altertümern' (also historische Realienkunde, Rechtsgeschichte, Mythologie u.ä.). Zusammen mit Johann Gustav Büsching ging er ein Jahr später an die Universität Breslau, wo er als wissenschaftlicher Bibliothekar arbeitete und daneben die Stellung eines a.o. Professors bekleidete. Auf einer Reise durch Süddeutschland, Italien und die Schweiz lernte er 1816/17 viele mittelalterliche Handschriften kennen, was sich in zahlreichen weiteren Editionen niederschlug. Dabei war ihm vor allem wichtig, die betreffenden Werke (wieder) bekannt zu machen; an Problemen der Überlieferungsgeschichte und Textkritik war er weniger interessiert, weshalb es zu wissenschaftlichen, zum Teil auch persönlichen Kontroversen u.a. mit Jacob und Wilhelm Grimm und Karl Lachmann kam. In Fachkreisen litt von der Hagen unter einer zunehmenden Professionalisierung der Germanistik, die er nicht mitmachen wollte: Für ihn waren die altdeutschen Texte Literatur, die er wieder 'zum Leben erwecken' wollte, während sie für die Grimms, Lachmann oder Benecke 'Sprachdenkmäler' darstellten, Sezierobjekte einer Wissenschaft, deren Aufgabe es war, aus den fehlerhaften Abschriften mit speziellen Methoden
wieder das 'Original' zu rekonstruieren. In den Fachzeitschriften charakterisierte man sich gegenseitig als "hochfahrend", "voreilig", "einseitig", "dumm" oder "faul". 1818 wurde von der Hagen ordentlicher Professor in Breslau, 1824 berief man ihn nach Berlin. Bis zu seinem Tod war er ein fleißiger Herausgeber von Einzeltexten und Textsammlungen; einige seiner Editionen wie die der mittelalterlichen Lied- und Sangspruchdichtung (Minnesinger. 1838; Nachdruck 1962) und der deutschen Märendichtung (Gesammtabenteuer. 1850; Nachdruck 1961) waren mangels besserer bis in unsere Zeit in Gebrauch. Mit einer Reihe von Zeitgenossen hat er regen Briefwechsel betrieben, u.a. mit Karl Wilhelm Ferdinand Solger über den 'Urmythos' - der von der Hagen in Hinblick auf das Nibelungenlied besonders interessierte, in dem er germanische Mythen gespiegelt sah. Im gleichen Kontext sind seine Ausgabe und Übersetzung der altnordischen Edda zu sehen (1812, 1814); die Brüder Grimm hatten Gleiches geplant - aber er war schneller. Von der Hagens wissenschaftliche und öffentliche Anerkennung dokumentiert sich in seiner Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1841); auch als Herausgeber der zwei Zeitschriften Museum für altdeutsche Literatur (später fortgesetzt als Sammlung für altdeutsche Literatur und Kunst) und Germania verstand er sich Gehör zu verschaffen. ©RB Sekundärliteratur: 1. E. Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen 1780-1856. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik, Berlin u.a. 1988. 2. K. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989.
Spondeus
Der Spondeus (− −) ist ein Versfuß, den es im Deutschen in Reinform nicht gibt: bestand er im alten Griechenland und Rom aus zwei gleichlangen Silben, so müßte er in unserer akzentuierenden Sprache aus zwei gleichstarken Hebungen bestehen. Selbst in einem Wort wie Vollmond jedoch wird die erste der beiden Silben stärker betont als die zweite. ©TvH
Nibelungenlied (um 1200)
Das Nibelungenlied ist das früheste schriftlich überlieferte deutsche 'Heldenepos' (vom Hildebrandslied aus althochdeutscher Zeit ist nur der Anfang erhalten). Von der sog. 'höfischen Epik' unterscheidet sich die Heldenepik durch strophische Gliederung, anonyme Autorschaft und mündlichen Ursprung sowie den "einheimischen" Stoff. Der Nibelungenstoff stammt aus der Völkerwanderungszeit und wurde zwischen 1180 und 1210 verschriftlicht. Wir kennen 11 annähernd vollständige Handschriften und über 20 Fragmente aus dem 13. - 16. Jh., was auf große Beliebtheit hindeutet. Gegliedert sind die über 2370 vierzeiligen Strophen (= mehr als 9480 Verse) des NL in zwei Teile mit zusammen 39 âventiuren (wörtlich: 'schicksalhaftes Ereignis'). Der erste Teil (âventiure 1-19) erzählt vom Schicksal des Königssohns Sîvrit (Siegfried) am Wormser Hof der Burgunderkönige Gunther, Gernot und Giselher. Er vollbringt zahlreiche Heldentaten und verschafft Gunther die Königin Brünhilt von Island als Gemahlin, indem er sie im Schutze eines Tarnmantels an Gunthers Stelle in einem Dreikampf besiegt. Zum Lohn darf Sîvrit dann Kriemhilt, die Schwester der drei Könige, heiraten. Als Brünhilt sich dem echten Gunther in der Hochzeitsnacht verweigert und ihn an einen Nagel hängt, wird Siegfried samt Tarnmantel nochmals tätig; so dass nun auch Gunther mit Brünhilt schlafen kann. Da Sîvrit sich als Gunthers Vasall ausgegeben hatte, Brünhilt also nichts von seiner königlichen Abstammung weiß, kritisiert sie die Heirat mit Kriemhilt. Bei einem Besuch des Doms streiten die Damen darüber, wer das Gotteshaus zuerst betreten darf. Kriemhilt, der Sîvrit die Ereignisse im königlichen Brautgemach fahrlässigerweise erzählt hat, konfrontiert Brünhilt mit dem Vorwurf, sie habe Sîvrit mit sich schlafen lassen. Als scheinbaren Beweis kann sie Brünhilts Ring und Gürtel präsentieren, die Sîvrit in der Nacht an sich genommen hatte. Da das Ansehen Brünhilts und König Gunthers ernsthaft bedroht ist, wird auf Rat des erfahrenen Hagen, der zentralen politischen Figur am Hofe, Sîvrits Tod beschlossen. Hagen stößt seinen Speer durch die einzige Stelle, an der Sîvrit nach einem Bad in Drachenblut noch verwundbar ist. Der zweite Teil des Epos berichtet von Kriemhilts Rache an Hagen und Gunther. Sie heiratet den Hunnenkönig Etzel (Attila) und lädt ihre burgundischen Verwandten zu sich ein. Gegen den Rat Hagens leistet man der Einladung Folge. Kurz nach der Ankunft werden die Burgunden in Gefechte mit den Hunnen verwickelt, die durch Provokation und Gegenprovokatione eskalieren. Etzels Schlichtungsversuche sind vergeblich; nach einer gewaltigen Schlacht bleiben auf burgundischer Seite nur Hagen und Gunther übrig. Gefesselt bringt Dietrich von Bern sie vor Kriemhilt. Sie will von Hagen wissen, wo der Nibelungenhort
(Kriemhilts Mitgift) versteckt sei. Hagen hatte ihr den Schatz nach dem Tod ihres Mannes geraubt und im Rhein versenkt, um ihr die finanziellen Ressourcen für einen Racheakt zu nehmen. Nun provoziert er erst Gunthers und dann seine eigene Tötung durch Kriemhilt, um das Geheimnis des Verstecks mit ins Grab zu nehmen. Etzel beklagt, dass 'zwei so tapfere Helden von Frauenhand gestorben sind'; der alte Hildebrand, Dietrichs Waffenmeister, schlägt Kriemhild mit dem Schwert ze stücken. - Der Text schließt mit dem Vers: daz ist der Nibelunge nôt, worin man ein kurzes Resümee, vielleicht aber auch eine Art Titelangabe sehen kann. Als Not oder Nibelungennot wurde das Epos denn auch zeitweise abgegrenzt von einer bald nach ihm entstandenen Fortsetzung, der paargereimten Nibelungenklage oder Klage. Diese berichtet von den entsetzten Reaktionen überall dort, wo Boten die Nachricht vom Untergang der Burgunden verbreiten. Daneben wird von den 'Aufräumarbeiten' nach der Schlacht erzählt und bemerkenswert rational über eine mögliche Vermeidung der tragischen Vorfälle räsoniert: Bei besserer Informationspolitik hätte Etzel die Vorgänge an seinem Hof kontrollieren und Kriemhilt an ihrer Rache hindern können. In den vollständigen Handschriften ist die Klage stets mit überliefert, so dass die Rezipienten nach der Not mit einem direkten Anreiz zur Reflexion konfrontiert wurden. In der Neuzeit erfuhr das Werk nach Wiederentdeckung des Textes um 1755 und der ersten vollständigen Ausgabe von 1787 eine Stilisierung zur 'deutschen Ilias', vor allem aber im 19. zum deutschen 'Nationalepos' (analog der Rolle des Rolandsliedes für Frankreichs). In ideologisch aufgeheizten Zeiten, etwa in den Befreiungskriegen, im Ersten und Zweiten Weltkrieg, konnte es um den Preis einer Fehldeutung des historischen Kontextes umfunktionalisiert werden zum Beispiel heldenhafter Treue und Selbstaufopferung. Die breite literarische und künstlerische Rezeption hat dies nicht immer, aber gelegentlich unterstützt. Aus der Fülle der Neugestaltungen sind die Dramatisierung durch Friedrich Hebbel (3 Teile, 1862), die musikdramatische Fassung Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner (4 Teile, 1863) und die Verfilmung durch Fritz Lang (2 Teile, 1922/24) herauszuheben. ©RB
Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung, hg. u. übers. v. Helmut Brackert, 2 Bde. Frankfurt/M.1970f...
histoire und discours
Verallgemeinernd kann man sagen, daß sich ein narrativer Text aus zwei Ebenen zusammensetzt, die eng aufeinander bezogen sind. Dabei handelt es sich um eine Abfolge von Zeichen, den Text ('discours'), der eine Abfolge von Ereignissen, eine Geschichte ('histoire') repräsentiert. Die fundamentale Opposition besteht also zwischen der Ebene der 'histoire', die ein reales oder fiktives Geschehen bezeichnet (das Was der Darstellung), und der Ebene des 'discours', in der das Geschehen sprachlich dargestellt wird (das Wie der Darstellung). Die lange und verworrene Geschichte des Begriffspaars 'histoire vs. discours' weist schon darauf hin, daß es sich hierbei um eine zentrale Kategorie, um eine der wesentlichsten Unterscheidungen innerhalb der Erzähltheorie handelt. Im Umkreis des Russischen Formalismus definierte Boris Tomaševski in seinem Buch Theorie der Literatur (1925) die 'fabula' als die Summe der Ereignisse, den Stoff, der einer Erzählung zugrunde liegt, während er mit 'sjuzet' ihre sprachliche Verknüpfung im Text bezeichnete. Etwa zur gleichen Zeit stellte der englische Romancier und Literaturwissenschaftler E.M. Forster (1927) die Begriffe 'story' (Erzählung von Ereignissen in ihrer zeitlichen Reihenfolge) und 'plot' (Erzählung von Ereignissen, die den Akzent auf die Kausalität legt) einander gegenüber. Wieder etwas später, in der Hoch-Zeit strukturalistischer Forschungen in Linguistik und Literaturwissenschaft, übernahm der Erzähltheoretiker Tzvetan Todorow das Begriffspaar 'discours / histoire' von seinem Kollegen Émile Beneviste, der in seinen sprachwissenschaftlichen Forschungen den 'discours' als eine subjektiv bestimmte Sprachverwendung definiert hatte, dem mit der 'histoire' eine objektive, von einer Sprecherinstanz freie Sprachverwendung gegenübersteht. Todorow verknüpfte die Begriffe Benevistes mit den Beobachtungen Tomaševskis. Durch die Dominanz strukturalistischer Betrachtungsweisen hat sich in der Folgezeit das Oppositionspaar 'discours / histoire' weitgehend durchgesetzt. Innerhalb dieser Tradition stehend differenzierte Gérard Genette das Oppositionspaar in Hinsicht auf eine erzähltheoretische Analyse noch etwas weiter aus: Er hält zwar am Begriff 'histoire' fest, ersetzt aber den des 'discours', indem er ihn in 'récit' ('Erzählung': narrativer Text) und 'narration' ('Narration': Akt des Erzählens) unterteilt. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Begriffe können leicht den Eindruck entstehen lassen, alle erwähnten Literaturwissenschaftler und Linguisten würden von grundverschiedenen Dingen sprechen. Tatsächlich sind die jeweiligen Begriffe natürlich nicht deckungsgleich und einfach austauschbar, dennoch läßt sich unter ihnen allen eine gemeinsame Basis beobachten. Besondere Bedeutung gewinnt diese Zweiteilung für die literarische Darstellung von Zeit-Erfahrung (vgl. Erzählzeit und erzählte Zeit).
© SR
Sekundärliteratur: 1. G. Genette: Die Erzählung, hg. v. J. Vogt, München 1994. 2. M. Martinez / M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 20-26. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, S. 95-99.
Episches Präteritum
Die Theorie des epischen Präteritums hat Käte Hamburger in ihrem Buch Die Logik der Dichtung (zuerst 1957) entwickelt. Dabei geht es in erster Linie darum, Kriterien für die Fiktionalität eines Textes aus seiner eigenen Logik heraus zu entwickeln (vgl. fiktionale und faktuale Texte). Während der Gebrauch des Präteritums in einem Wirklichkeitsbericht das Erzählte als etwas Vergangenes qualifiziert, bewirkt das epische Präteritum in einem fiktionalen Text durchaus keine zeitliche Distanzierung. Die im Präteritum erzählten Ereignisse vermitteln den Eindruck, in einer - fiktiven - Gegenwart stattzufinden. Dabei verliert das Präteritum "seine grammatische Funktion, das Vergangene zu bezeichnen". (Hamburger, S.61) Hamburger hat dieses Phänomen an einem berühmt gewordenen Beispielsatz demonstriert: "Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachten." In einem Wirklichkeitsbericht würde die Kombination eines Verbs im Vergangenheitstempus mit der in die Zukunft verweisenden Zeitangabe Verwirrung stiften. In einem fiktionalen Text jedoch wird diese Kombination ohne weiteres akzeptiert. Da das epische Präteritum nach Hamburger keine Vergangenheit anzeigt, sondern nur die Fiktionalität des Textes, wird die Verbindung von Vergangenheitstempus und deiktischem (zeigendem) Zeitadverb möglich. Dadurch, daß in einem fiktionalen Text eine (fiktive) Gegenwart im Tempus der Vergangenheit erzählt wird, "verschiebt" sich aber das gesamte Zeitgefüge in der erzählerischen Fiktion. Wenn als gegenwärtig vorgestelltes Geschehen im Präteritum erzählt wird, muß eine Vorzeithandlung, also etwas in der Fiktion Vergangenes, konsequenterweise im Plusquamperfekt erscheinen: "Am Vormittag hatte sie noch den Baum zu putzen, weil sie gestern so lange in der ´Einladung zur Literaturwissenschaft´ gelesen hatte." Hamburgers Bestimmungen des epischen Präteritums und ihre These von der "Zeitlosigkeit der Fiktion" ist in der Folge von vielen Seiten teils bestritten, teils ausgebaut worden. Zunächst läßt sich bezweifeln, daß das epische Präteritum seine temporale Qualität gänzlich verliert. Denn auch innerhalb einer erfundenen Geschichte muß "der Akt des Erzählens den Ereignissen der erzählten Geschichte zeitlich nachgeordnet sein" (Martinez/ Scheffel, S.72). Mit anderen Worten: Im Normalfall kann nur erzählt werden, was bereits vergangen ist. Außerdem wurde eingewendet, daß auch im Wirklichkeitsbericht einzelne Sätze in der Form des epischen Präteritum vorkommen können. Allerdings geschieht das meist, wenn Wirklichkeitsaussagen im Interesse einer bestimmten Wirkungsabsicht fiktionalisiert werden, was Hamburgers These, das epische Präteritum sei Indikator fiktionaler Prosa, mehr bestätigt als widerlegt. Harald Weinrich hat in seinem wichtigen Buch Tempus. Besprochene und erzählte Welt (zuerst 1964) versucht, Hamburgers Gedankengang zu erweitern. Nicht nur das
Präteritum, sondern alle Tempora haben demnach Signalfunktionen, die nicht immer oder nicht nur Informationen über die Zeit vermitteln. Gemeinsam mit dem Plusquamperfekt und dem Konditional gehört das Präteritum der "Tempusgruppe" der ´erzählten Welt´ an, signalisiert die Sprechhandlung des Erzählens. Die zweite "Tempusgruppe" (gebildet aus Präsens, Perfekt und Futur) realisiert hingegen kommunikative Handlungen wie Beschreiben, Erörtern und Kommentieren, läßt sich also der ´besprochenen Welt´ zuordnen. Aus einem anderen Blickwinkel hat Klaus Weimar die Theorie Hamburgers kritisiert. Die ungewöhnliche Konstruktion "morgen war Weihnachten" komme zustande, weil sich zwei zeitliche Bezugssysteme überlagern: Während das Präteritum ("war") aus der Perspektive eines Erzählers gesprochen ist, kann das deiktische Zeitadverb ("morgen") der Perspektive der Figur zugeordnet werden. Erst und gerade in der sprachlichen Verbindung oder Überlagerung dieser beiden Perspektiven wird der fiktionale Charakter eines Textes deutlich. Wenn man das Phänomen des epischen Präteritums aus einer anderen Perspektive, nämlich der Wiedergabe von Bewußtseinsvorgängen literarischer Figuren betrachtet, fällt seine Nähe zur sogenannten erlebten Rede auf, deren wichtigstes Charakteristikum in ebendieser Doppelperspektive von Figurenrede und Erzählerbericht besteht. © SR
Käthe Hamburger: Logik der Dichtung, Stuttgart 1968. Sekundärliteratur: 1. M. Martinez und M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. 2. H. Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt, Stuttgart 1971. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, Opladen 1998, Kap.1.
Zeitraffungen
Eberhard Lämmert (geb. 1924) hat als einer der ersten Literaturwissenschaftler versucht, eine systematische Beschreibung der epischen Erzählung zu liefern. In seinem Buch Bauformen des Erzählens (zuerst 1955) behandelt er Fragen der Zeit, Probleme der Redewiedergabe und die Mittlerrolle des Erzählers im epischen Kunstwerk, das er vor allem unter dem Aspekt seiner "sphärischen Geschlossenheit" betrachtet. In der heutigen Erzählforschung werden seine Untersuchungen noch immer benutzt - auch wenn sie durch die Arbeiten des französischen Strukturalisten Gérard Genette starke Konkurrenz bekommen haben. (vgl. Zeitstruktur bei Genette) Ausgehend von den beiden Ebenen Erzählzeit und erzählte Zeit (vgl. auch histoire und discours) unterscheidet Lämmert drei mögliche Relationen. Eine recht seltene Variante bildet dabei das 'zeitdehnende Erzählen'. In diesem Fall ist die 'Erzählzeit' länger als die 'erzählte Zeit'. Ein solches Verfahren kann schnell ablaufende Bewußtseinsprozesse sprachlich wiedergeben. Wenn beispielsweise eine Romanfigur ihr Frühstück im Bett einnimmt und der Erzähler die Gelegenheit nutzt, ihre gleichzeitig ablaufenden Gedanken auf 100 Seiten auszubreiten ... Im zweiten Fall, dem 'zeitdeckenden Erzählen', fallen 'Erzählzeit' und 'erzählte Zeit' zusammen, sind gleich lang. Ein typisches Beispiel für diese Form der Zeitbehandlung sind Dialoge, in denen die Worte der Figuren in direkter Rede ungekürzt wiedergegeben werden. Die meisten Erzählungen sind (übrigens auch im Alltag) jedoch so konstruiert, daß die 'erzählte Zeit' deutlich länger ist als die ´Erzählzeit´. Hier spricht man von 'zeitraffendem Erzählen'. Da das Leben niemals komplett - also lückenlos von Anfang bis Ende - erzählt werden kann, ist jeder Erzähler geradezu gezwungen, Ereignisse in verschiedenen Formen zusammenzufassen bzw. zusammenzuraffen. Die verschiedenen Raffungsarten, (nach Lämmert), sind dabei folgende: Die extremste Form der Zeitraffung bildet die 'Aussparung' bzw. der 'Zeitsprung', etwa in der Form "Drei Jahre später ...". Hierbei wird ein Zeitabschnitt schlicht übersprungen; sei es, um für die Geschichte Unwichtiges wegzulassen, oder auch - wie in Detektivgeschichten - bewußt etwas Wichtiges zu unterschlagen ... Des weiteren unterscheidet Lämmert drei Raffungsarten im engeren Sinne. Bei der 'sukzessiven Raffung' handelt es sich um "eine in Richtung der erzählten Zeit fortschreitende Aufreihung von Begebenheiten. Die Grundformel dieser Raffungsart ist das Dann ... und dann..." (S. 83) "Sie nahm nach dem Frühstück
die U-Bahn bis zum Berliner Platz, dann ging sie zum Narratologie-Seminar, und dann in die Bibliothek, um Lämmerts 'Bauformen des Erzählens' auszuleihen." Die 'iterative Raffung' hingegen "faßt einen mehr oder weniger großen Zeitraum durch Angabe einzelner, regelmäßig sich wiederholender Begebenheiten" (S. 84) zusammen, ihre Grundformel lautet: "Immer wieder in dieser Zeit ...". Also: "Im Sommer fuhr sie jeden Tag mit dem Fahrrad zur Universität." Mit 'durative Raffung' schließlich werden "allgemeine, den ganzen Zeitraum überdauernde Gegebenheiten" (S. 84) bezeichnet. Sie läßt sich mit der Formel "Die ganze Zeit hindurch ..." beschreiben: "Während ihres gesamten Studiums hat sie nebenbei für eine Werbeagentur gearbeitet." Da die letzten beiden Formen der Zeitraffung häufig gemeinsam auftreten, spricht Lämmert auch zusammenfassend von 'iterativ-durativer Zeitraffung'. Oft haben die unterschiedlichen Raffungsarten die Funktion, den Text in Erzählabschnitte oder -phasen zu gliedern. Wichtig bleibt anzumerken, daß die Raffungen selbst den chronologischen Ablauf der Ereignisse keineswegs durcheinanderbringen. Störungen in der Chronologie hat Lämmert dagegen unter dem Stichpunkt Rückwendungen und Vorausdeutungen abgehandelt. © SR
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Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1967.
Sekundärliteratur: 1. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen, 1998, Kap. 3.
Rückwendungen und Vorausdeutungen
Da die sprachliche Darstellung eines Geschehens nicht an eine strikte Chronologie gebunden ist, sondern - wie die Gedanken - in Vergangenheit oder Zukunft schweifen kann, hat sich Eberhard Lämmert in seinem Buch Bauformen des Erzählens (1955) an zentraler Stelle auch mit den möglichen "Umstellungen von Partien der erzählten Zeit im Laufe des Erzählens" beschäftigt. Die Reihenfolge der Ereignisse - so wie sie auf der Ebene der 'histoire' stattfinden kann in der sprachlichen Darstellung - auf der Ebene des 'discours' - also durchaus verändert werden. Als 'Rückwendung' bezeichnet Lämmert prinzipiell die Unterbrechung der Erzählung, um Geschehnisse nachzutragen, die sich schon zu einem früheren Zeitpunkt ereignet haben. Ohne diese Umstellungstechnik kommt kaum eine Erzählung aus. Ein typischer Anwendungsfall besteht darin, Informationen über die Biographie einer Handlungsfigur an passender Stelle nachzureichen. Innerhalb dieser Erzählbewegung in Richtung der Vergangenheit differenziert Lämmert jedoch noch weiter: Die 'aufbauende Rückwendung' bleibt auf eine jeweils zweite Erzählphase beschränkt. Nach einem Beginn 'medias in res' (beispielsweise dem Treffen des Privatdetektivs Sam Spade mit einer neuen Klientin in seinem Büro) wird das am Anfang Ausgesparte nachgeholt (z.B. könnte aus dem Haushalt der jungen Dame ein wertvoller Gegenstand oder gar eine Person verschwunden sein, was sie dazu veranlaßt hat, den Detektiv aufzusuchen). Analog dazu spricht Lämmert von einer 'auflösenden Rückwendung' am Ende des Textes. Hier werden die Lücken im bisher Erzählten aufgefüllt und Informationen nachgeliefert, die bis zu dieser Stelle zurückgehalten worden waren. So scharen sich die verdächtigen Personen am Ende eines Romans von Agatha Christie regelmäßig um den Detektiv Hercule Poirot, der die Ereignisse resümiert und diejenigen - bisher verschwiegenen - Informationen nachträgt, die ihn auf die Spur des Mörders geführt haben. Eine dritte Form bildet die 'eingeschobene Rückwendung' (die Lämmert noch einmal in 'Rückschritt', 'Rückgriff' und 'Rückblick' differenziert). Sie kann an einer beliebigen Stelle im Text vorangegangene Ereignisse einblenden, sei es, um Nebenhandlungen weiter auszuführen, um nur punktuell auf ein vergangenes Ereignis zu verweisen oder um mit einem Blick auf die Vergangenheit das gegenwärtige Geschehen zu vertiefen. Weniger häufig tritt eine Technik auf, die den gleichen Vorgang in der zeitlichen Gegenrichtung vollzieht. Wenn ein zukünftiges Ereignis der Geschichte vorweggenommen wird, obwohl der Gang der Erzählung noch gar nicht an
diesem Punkt angelangt ist, spricht Lämmert von 'Vorausdeutungen'. Verallgemeinernd kann man sagen, daß seine Kategorie der 'zukunftsungewissen Vorausdeutung' dem Horizont der Figuren zugeordnet ist (bzw. einem Erzähler, der nicht mehr weiß als die Figuren). Die Unsicherheit äußert sich als subjektive Hoffnung, Furcht, Glauben usw. Die 'zukunftsgewisse Vorausdeutung' dagegen verlangt einen Erzähler, der zumindest mehr weiß als die Figuren. So kann er sichere Angaben über das zukünftige Geschehen machen. Lämmert differenziert hier noch einmal. Dabei bedeutet 'einführende Vorausdeutung', daß am Textanfang eine Figur, ein Thema oder ein Geschehen angekündigt wird (wie z.B. in dem barocken Titel eines spanischen Schelmenromans von Mateo Alemán: Der große spanische Vagabund Guzmán de Alfarache, wie er aus Sevilla auszog, sein Glück zu suchen, in Madrid die Schule der Bettler und in Toledo die Schule der Liebe durchmachte, in Rom und Florenz großen Herren diente und da ihm das Glück zu lächeln schien, endlich auf die Galeere geriet). Die 'abschließende Vorausdeutung' weist meist in eine Zukunft, die nicht mehr erzählt wird. Typisch ist hierfür die Märchenformel: "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute". Die 'eingeschobene Vorausdeutung' schließlich kann den Verlauf der gesamten Erzählung oder auch nur einer Erzählphase ankündigen. Zum Beispiel: "Das sollte er noch vor Einbruch der Dunkelheit bereuen." (vgl. Zeitstruktur bei Genette) © SR
Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1967. Sekundärliteratur 1. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, Kap.3.
Zeitstruktur (nach G. Genette)
Es herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, daß der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette das bislang differenzierteste und komplexeste Analysemodell für die Zeitstrukturen in erzählenden Texten vorgelegt hat. Genette (geb. 1930) unterrichtet seit den sechziger Jahren an der Sorbonne und der École des Hautes Études in Paris französische Literatur. Seine für die Erzählforschung wichtigsten Bücher heißen Discours du récit (1972) und Nouveau discours du récit (1983). In deutscher Übersetzung sind beide Texte zusammengefaßt unter dem Titel Die Erzählung (hg. von Jochen Vogt) 1994 erschienen. Genettes Terminologie mutet auf den ersten Blick sehr ungewohnt und schwierig an, fast muß man sie wie eine Fremdsprache lernen. Weil seine Begriffe aber außerordentlich präzise sind, haben sie sich in der internationalen Erzählforschung durchgesetzt. Genette unterscheidet drei für die Erzähltextanalyse wichtige Aspekte: Die 'histoire' (Geschichte) bezeichnet die Folge von Ereignissen, die Gegenstand des 'récit' (der Erzählung) sind. (vgl. histoire und discours). Hinzu kommt die 'narration' (Narration oder der Akt des Erzählens). Für die Analyse der Zeitstruktur der Erzählung sind vor allem die ersten beiden Aspekte von Bedeutung. Ihr Verhältnis wird unter den drei Kategorien 'Ordnung', 'Frequenz' und 'Dauer' genauer untersucht. Unter 'Ordnung' versteht Genette das Verhältnis zwischen der "realen" Anordnung der Ereignisse in der 'histoire' und ihrem Erscheinen im 'récit'. (vgl. Erzählzeit und erzählte Zeit) Wird der Ablauf der Ereignisse umgestellt und nicht chronologisch-linear erzählt, spricht Genette von 'Anachronien'. (vgl. Rückwendungen und Vorausdeutungen) Die 'Analepse' (bei Lämmert 'Rückwendung') wird definiert als "nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat" (Genette, S. 25). Bestimmt man eine 'Basiserzählung' (récit premier) mit Anfang und Ende, so kann man die 'Analepsen' entsprechend ihrer Reichweite in 'externe' und 'interne' unterteilen. Die 'externe Analepse' erzählt Ereignisse, die vor Beginn der 'Basiserzählung' liegen. Es besteht also keine Gefahr, daß sich die 'Analepse' und die 'Basiserzählung' überschneiden. Die 'interne Analepse' hingegen füllt Lücken innerhalb der 'Basiserzählung' auf. Hier kann es dazu kommen, daß ein Ereignis ein zweites Mal (meist aus einer anderen Perspektive oder mit einer anderen
Intention) erzählt wird. Reicht ein 'analeptischer' Nachtrag bis zu dem Zeitpunkt in der 'Basiserzählung' heran, an dem die Erzählung unterbrochen worden war, spricht Genette von einer 'kompletten Analepse'. Ist das nicht der Fall und endet die Erzählung vergangener Ereignisse in einer Ellipse, handelt es sich um eine 'partielle Analepse'. Mit 'partiell' und 'komplett' bezeichnet Genette den 'Umfang' einer 'analeptischen' Erzählung. Analoges gilt für die zweite Form der 'Anachronien', die 'Prolepse' (bei Lämmert: 'Vorausdeutung'). Sie wird dadurch definiert, "ein späteres Ereignis im voraus zu erzählen oder zu evozieren" (S. 25). Auch hier kann wieder nach der 'Reichweite' ('extern' oder 'intern') sowie nach dem 'Umfang' ('komplett' oder 'partiell') unterschieden werden. Die 'interne Prolepse' (also eine 'Vorausdeutung', die den zeitlichen Rahmen der 'Basiserzählung' nicht überschreitet) kann zum einen als 'Vorgriff' auftreten (die explizite Ankündigung eines späteren Ereignisses), zum anderen als 'Vorhalt' (eine ungewisse Antizipation, die Erwartungen weckt, sich aber erst bei der weiteren Lektüre als Vorankündigung erschließt). Wie im Fall der 'internen Analepsen und Prolepsen' zu sehen war, kann ein Ereignis, das auf der Ebene der 'histoire' stattfindet, durchaus zwei- oder mehrmals erzählt werden. Diesen Sachverhalt untersucht Genette unter dem Stichwort 'Frequenz'. Dabei differenziert er zwischen 'singulativem' Erzählen (was einmal geschieht, wird einmal erzählt), 'repetitivem' Erzählen (was einmal geschieht, wird n-mal erzählt) und 'iterativem' Erzählen (was n-mal geschieht, wird einmal erzählt). Mit der 'Dauer', der letzten Kategorie der Zeitanalyse, setzt Genette die Zeit, die ein Ereignis in der 'histoire' einnimmt, ins Verhältnis zu dem Raum, den die Erzählung des Ereignisses im Text beansprucht. Dieses Verhältnis nennt er 'Erzählgeschwindigkeit'. Die verschiedenen Geschwindigkeiten in einem Text sind verantwortlich für Rhythmuseffekte. (vgl. Erzählzeit und erzählte Zeit) Im einzelnen unterscheidet er vier narrative Geschwindigkeiten: Im 'summary' (1) wird viel 'histoire' (Geschichte) bei relativ wenig Text erzählt. Es ist den Zeitraffungen vergleichbar. Natürlich gibt es innerhalb des 'summary' verschiedene Raffungsintensitäten. Als 'Szene' (2) bezeichnet er zeitdeckendes Erzählen, wie man es in Dialogen, tendenziell im Drama vorfindet. Die Zeit der 'histoire' (Geschichte) entspricht in etwa der Länge des 'récit' (Erzählung). In der 'Ellipse' (3) kann unendlich viel Geschichte in unendlich wenig Erzählung Platz finden. Was Lämmert mit 'Aussparung' bezeichnet, wird bei Genette genauer differenziert: Die 'Ellipse' kann 'bestimmt' (die ausgelassene Zeitspanne wird angegeben, z.B. "drei Jahre später") oder 'unbestimmt' (es wird keine genaue Zeitangabe geliefert, z.B. "lange Jahre vergingen") sein. Des weiteren kann sie ´explizit´ sein, d.h. angekündigt werden (z.B. "Hier bitten wir um
Erlaubnis, einen Zeitraum von drei Jahren überspringen zu dürfen, ohne ein Wort darüber zu verlieren ..."). Oder aber sie kann 'implizit', ohne Ankündigung stehen. Das ist typischerweise der Fall bei Kapitelübergängen, Absätzen oder auch der Leerzeile, dem sogenannten 'blanc'. Hier wird Zeit übersprungen, ohne daß es dem Leser ausdrücklich mitgeteilt wird. Bei der 'deskriptiven Pause' (4) schließlich wird der Fortgang der Geschichte gleichsam angehalten, um eine Beschreibung oder einen Kommentar einzufügen. Hier kann tendenziell unendlich viel Text der Erzählung ('récit') mit unendlich wenig Geschichte zusammenfallen. © SR
Gérad Genette: Die Erzählung, hg. v. J. Vogt, München 1994.
Fokalisierungstypen (nach G. Genette)
Unter dem Stichwort 'Fokalisierung' beschäftigt sich Gérard Genette in seinen Büchern Discours du récit (1972) und Nouveau discours du récit (1983) mit der Frage, aus welchem Blickwinkel (auch 'point of view', 'point de vue' oder 'SehePunckt') eine Geschichte erzählt werden kann. Hatte Franz Karl Stanzel in seinem Modell der Erzählsituationen den Blickwinkel (unter dem Begriff 'Perspektive') und die Erzählerstimme (als 'Person') zusammengefaßt, plädiert Genette für eine Trennung dieser beiden Kategorien, um eine Erzählung in ihrer Komplexität genauer analysieren zu können. Er trennt also die Frage "Wer nimmt wahr?" ganz klar von der Frage "Wer spricht?" Um die erste geht es bei den Fokalisierungstypen (zur zweiten Frage vgl. Stimme des Erzählers). Nach Genette schaltet der Autor den Erzähler als eine Vermittlungsinstanz zwischen die erzählte Geschichte und den Leser ein. So kann er ihn mit verschiedenen "Wissenshorizonten" ausstatten, die es ihm erlauben, die narrativen Informationen mehr oder weniger stark zu filtern. Je breiter dieser "Wissenshorizont" des Erzählers ist, desto umfangreicher wird auch der Leser über die Geschichte informiert. Die Informationsregulierung erfolgt also durch die Wahl oder auch Nicht-Wahl eines einschränkenden Blickwinkels oder 'Fokus'. Die drei unterschiedlichen 'Fokalisierungstypen' bestimmt Genette als Verhältnis zwischen dem Wissensstand des Erzählers und dem seiner Figuren. Bei der ersten Form, der 'unfokalisierten' Erzählung (oder auch Erzählung mit einem 'NullFokus') sagt der Erzähler mehr als alle seine Figuren wissen können. Er erlegt sich keinerlei einschränkenden Blickwinkel auf und kann den Leser umfassend, auch über das Gedanken- und Gefühlsleben der verschiedenen Figuren, informieren. Im zweiten Fall, bei der 'internen Fokalisierung', sagt der Erzähler genau so viel wie seine Figur weiß. Sein Blickwinkel ist auf den Horizont einer Figur ('fest') oder auch verschiedener Figuren ('variabel') beschränkt. Der dritte 'Fokalisierungstyp', die 'externe Fokalisierung', ist dadurch gekennzeichnet, daß der Erzähler weniger sagt als die Figur weiß. Er ist gezwungen, sie von außen zu beobachten, ohne ihre Gedanken oder Gefühle zu kennen. Man könnte sagen, er hat in diesem Fall einen sehr undurchlässigen Filter vor Augen. Da diese verschiedenen Möglichkeiten der Informationsregulierung vor allem in längeren Texten selten durchgängig auftreten, ist es angebracht, die jeweils 'dominante Fokalisierung' zu bestimmen (siehe "Verstöße" gegen die Fokuswahl). Wenn man Genettes analytische Kategorie des 'Fokalisierungstyps' - also die Frage: "Wer nimmt wahr?" - und diejenige der 'Person' (vgl. Stimme des Erzählers) - mit der Frage: "Wer spricht?" - verbindet, kann man zu einem synthetischen Modell der Erzählung zu gelangen, wie es Stanzel in seinen
Typischen Erzählsituationen vorgeschlagen hatte. Statt drei Erzählsituationen erhält man dabei sechs detailliertere Varianten (vgl. Beispiele für Fokalisierungstypen). © SR
Sekundärliteratur: 1. G. Genette: Die Erzählung, hg. v. J. Vogt, München 1994. 2. M. Martinez / M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, Kap. 2.
"Verstöße" gegen die Fokuswahl
Häufig geschieht es auch, daß innerhalb eines Textes ein 'Fokalisierungswechsel' nur punktuell stattfindet, der 'dominante Fokalisierungstyp' also erhalten bleibt. Dann spricht Genette von 'Alterationen', die als "Verstöße" gegen die Erzähllogik aufgefaßt werden können. In einem ersten Fall (Genettes 'Paralepse') teilt der Erzähler dem Leser mehr Informationen mit, als ihm seine 'Fokuswahl' eigentlich erlaubt. Ein Erzähler, der sich den Blickwinkel einer Figur zu eigen gemacht hat ('interne Fokalisierung'), kann nicht ohne weiteres wissen, was in den Köpfen der anderen Figuren vor sich geht (es sei denn, er hat es auf irgendeine "natürliche" Art in Erfahrung gebracht oder er äußert sich dazu nur in Form von Vermutungen). Oft werden diese "Verstöße" aber auch aus guten Gründen in den Text eingebaut, wie der komplementäre Fall (die 'Paralipse') zeigt. Hier werden dem Leser Informationen vorenthalten, die der Erzähler aufgrund seiner 'Fokuswahl' eigentlich geben müßte. Dieses Verfahren wird z.B. in Kriminalromanen angewendet, wenn bewußt die Gedanken einer Figur unterschlagen werden sollen, um zusätzliche Spannungseffekte zu erzielen. © SR
Sekundärliteratur: G. Genette: Die Erzählung, hg. v. J.Vogt, München 1994.
Beispiele für Fokalisierungstypen Fokalisierung
unfokalisiert
intern
extern
Thomas Mann: Der Zauberberg
Franz Kafka: Die Verwandlung
Dashiell Hammett: Der Malteser Falke
__________________ Person heterodiegetisch (Erzähler in seiner Geschichte nicht anwesend)
homodiegetisch Thomas Mann: (Erzähler in seiner Bekenntnisse des Geschichte anwesend) Hochstaplers Felix Krull
Johann [Albert Camus: Wolfgang von Der Fremde] Goethe: Die Leiden des jungen Werthers
Sicherlich kommen diese unterschiedlichen Typen von Erzählungen nicht gleichermaßen oft vor. Vor allem die Form der homodiegetischen Erzählung, in welcher der Erzähler in der von ihm erzählten Geschichte anwesend ist, läßt sich scheinbar nur schwer mit einer 'externen Fokalisierung', also einer Außensicht auf sich selbst verbinden. Deswegen ist das entsprechende Textbeispiel, Albert Camus´ Roman Der Fremde, auch in Klammern gesetzt. © SR
Sekundärliteratur: G. Genette: Die Erzählung, hg. v. J. Vogt, München 1994.
Stimme des Erzählers
Die 'Stimme' stellt für Gérard Genette neben dem 'Modus' (vgl. Fokalisierungstypen) und der 'Zeit' (vgl. Zeitstruktur nach Genette) eine wichtige Kategorie zur Analyse der Erzählung dar. Im Unterschied zum 'Modus', wo die Frage "Wer nimmt wahr?" im Mittelpunkt steht, geht es hier um die Frage "Wer spricht?". Genette unterteilt sie in mehrere Aspekte, nämlich: 'Zeit der Narration', 'narrative Ebene' und 'Person'. Bei der 'Zeit der Narration' wird die narrative Instanz in Beziehung gesetzt zu der von ihr erzählten Geschichte. Die üblichste und am weitesten verbreitete Form der Erzählung bildet sicherlich die 'spätere Narration', in der (in einem Vergangenheitstempus) zurückliegende Ereignisse erzählt werden. Viel seltener, aber durchaus möglich ist auch eine 'frühere Narration', wenn nämlich im Futur oder im futurischen Präsens erzählt wird. Ein typischer Fall wären Zukunftsromane, wenngleich hier die narrative Instanz in aller Regel vordatiert wird. Ein dritter, durchaus geläufiger Typ ist die 'gleichzeitige Narration', bei dem das Erzählen - im Präsens - die Handlung simultan begleitet (häufig z.B. im faktualen Genre der Sportreportage). Die 'narrativen Ebenen' erlangen vor allem dann Bedeutung, wenn verschiedene Erzählungen ineinander verschachtelt werden. Jede Erzählung erschafft ein räumlich-zeitliches Universum, das man auch als 'Diegese' bezeichnet. Wenn innerhalb eines Romans von einer Figur eine in sich abgeschlossene Geschichte erzählt wird, existieren bereits zwei 'Diegesen', von denen die zweite in die erste "eingelassen" ist. In Erzählungen diesen Typs (wie beispielsweise Boccaccios Il Decamerone oder die Märchen aus Tausendundeiner Nacht) können diese verschiedenen Ebenen der Erzählung und vor allem die Beziehungen, die zwischen ihren 'Diegesen' bestehen, untersucht werden (vgl. metafiction). Unter dem dritten Aspekt der Stimme, der 'Person', greift Genette das Problem der Erzählung in der 1. oder 3. Person auf. Prinzipiell kann sich jeder, und nicht nur der sogenannte Ich-Erzähler, sondern beispielsweise auch ein auktorialer Erzähler, in der 1. Person zu Wort melden. Dieses Phänomen der 'Stimme' ist also nicht zwangsläufig mit einem bestimmten Blickwinkel, den Fokalisierungstypen verbunden. Entscheidend ist vielmehr, ob der Erzähler in der Geschichte, die er erzählt, als Figur anwesend ist oder nicht. Den ersten Fall bezeichnet Genette als einen 'homodiegetischen' Erzähler, den zweiten als einen 'heterodiegetischen'. © SR
Sekundärliteratur:
1. G. Genette: Die Erzählung, hg. v. J. Vogt, München 1994.
Beispiele für Formen der Rede- und Bewußtseinswiedergabe Formen der Redewiedergabe
Formen der Bewußtseinswiedergabe
inquit-Formel: verbum dicendi (laut)
verbum credendi (stumm)
Redebericht (narrativisierte Rede):
Gedankenbericht (psycho-narration):
Marcel sprach eine Stunde lang mit seiner Mutter.
Marcel dachte darüber nach, wie er Albertine dazu bewegen könnte, ihn zu heiraten.
Oder auch: Marcel teilte seiner Mutter seinen Entschluß mit, Albertine zu heiraten. indirekte Rede (transponierte Rede):
(indirekte stumme Rede:
Marcel erklärte seiner Mutter, daß er Albertine heiraten wolle.
Marcel dachte, er wolle Albertine heiraten.) -------------------------------erlebte Rede (narrated monologue): Marcel vertraute sich seiner Mutter an: er mußte Albertine unbedingt heiraten. Oder auch: Während Marcel beim nachmittäglichen Tee saß fiel ihm Albertine wieder ein. Wieviel Zeit hatte er nun schon damit zugebracht, sie von seinen Heiratsplänen zu überzeugen. Aber ach! Bis jetzt war er keinen Schritt vorangekommen.
direkte Rede (berichtete Rede):
direkte Rede (quoted monologue):
Marcel sagte zu seiner Mutter: "Ich muß - Selbstgespräch: Albertine unbedingt heiraten." Oder auch: Marcel geht zu seiner Mutter. Ich muß Albertine unbedingt heiraten.
Er dachte bei sich: "Ich muß Albertine heiraten ..." - Innerer Monolog: Wenn ich sie in diesem Sommer nicht mehr überzeugen kann, sehe ich keinen Stich mehr. Im Herbst kommt ihr Onkel zurück, der alte Giftzahn. - stream of consciousness: Albertinchen dummes Trinchen sag ja verdammt besser kriegst du´s eh nicht Herr Gott was für ein Wetter goldrichtig zum Heiraten
Die Beispiele stammen zum Teil von Gérard Genette. © SR
Schäferroman
Der Schäferroman entstammt der Tradition der Hirten- oder auch arkadischen Dichtung, als deren früher Vorläufer Vergils Bucolica (um 40.v. Chr.) gilt. Nach einer Blüte der lyrischen Hirtendichtung im 14. Jahrhundert mit den Italienern Petrarca und Boccaccio wurde im spanischen Barock mit dem Schäferroman auch die Prosaform ein äußerst erfolgreiches Genre. Zunächst ist diese Romanform vor allem Ausdruck einer oft sentimentalen Sehnsucht nach Naturnähe und der Schlichtheit des Landlebens. Da es in der Welt keinen Frieden gibt, soll er wenigstens in der Vorstellungswelt der Dichtung hergestellt werden. Hierin liegt - bei aller Banalität, welche die erzählten Geschichten häufig aufweisen - ein utopisches Potential des Genres begründet. Wo die soziale Welt von Konflikten gereinigt ist, verbleiben lediglich Liebesund Beziehungsprobleme als Spannungsmomente der Handlung. Selbstlose Hingabe wird gegen Egoismus ausgespielt, Respekt vor der Freiheit des anderen gegen Inbesitznahme. Kennzeichen dieser Liebe ist es, schwärmerisch und unerfüllt zu sein. Dennoch gerät auch eine gesellschaftliche Komponente in das weitgehend unverfängliche Vergnügen der Oberklasse. Wie in der zeitgenössischen Mode der "Schäferei" - einer Art Kostümball - treten im Roman bekannte Persönlichkeiten unter der Maske des Schäfers auf. Der Schäferroman wird darüber zu einer frühen Form des Schlüsselromans, der in einigen Fällen Verhaltensweisen wie das Buhlen um die Gunst des Fürsten oder um Rangerhöhung denunziert. Mit den Mitteln des Rollenspieles versucht das adlige Publikum, für das dieser Romantyp in erster Linie geschrieben ist, sich zumindest probeweise von den Standesverpflichtungen der adligen Gesellschaft zu lösen. Formal ist der Schäferroman geprägt von mehreren parallelen Erzählsträngen, eingeschobenen Geschichten, allegorischen Elementen und Verschlüsselungen. Außerdem sorgen gelegentliche lyrische Abschnitte für eine Mischung der Gattungen. Als erster Schäferroman gilt Jacopo Sannazaros Arcadia (1502). Konstituierend für das Genre und von großer Wirkung auf die gesamteuropäische Produktion wurde aber Jorge de Montemayors Diana (1559). Weitere wichtige Texte der am stärksten entwickelten spanischen Tradition sind Lope de Vegas Arcadia (1598) und Miguel de Cervantes´ La Galatea (1585). Nach seiner Ausbreitung vor allem in Großbritannien und Italien erreichte das Genre mit Honoré d´Urfés L´Astrée (1607-27) in Frankreich einen Höhepunkt. Die deutsche Rezeption setzte erst relativ spät ein. Insbesondere Martin Opitz und Georg Philippe Harsdörffer bemühten sich um Bearbeitungen und Übersetzungen. Opitz´ Übertragung der
Hirtenoper Daphne des Italieners Rinuccini wurde mit der von Heinrich Schütz komponierten Musik zur ersten deutschen Oper (1627). Durch das Eindringen des Schäferromans in die Oper und das Singspiel entfaltete er bald größere Breitenwirkung und wurde zunehmend auch in bürgerlichen Kreisen erfolgreich. In der Genreentwicklung wird er spätestens im 19. Jahrhundert vom idyllischen Land- und Bauernroman abgelöst. © SR
Sekundärliteratur: 1. K. Garber: Formen pastoralen Erzählens, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 10/1985 2. W. Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. Bd. 2, Stuttgart 1982.
Bildungsroman
Der Bildungs- oder Entwicklungsroman markiert einen entscheidenden Meilenstein in der Genese des deutschen Romans. Er ist sozialgeschichtlich mit der Emanzipation des Bürgertums im Zeitalter der Aufklärung, literaturgeschichtlich mit dem Aufstieg des Romans zu einer anerkannten Gattung verbunden. Gilt der Roman bis weit ins 18. Jahrhundert hinein noch als oberflächliches Genre, das simple Liebesgeschichten einem mehr oder weniger anspruchslosen, ungebildeten Publikum offeriert, so entwickelt sich aufbauend auf die moralische Erzählung (Gellert) einerseits und den 'anthropologischen' Roman (Wielands Agathon) andererseits, der Bildungsroman, der den Charakter und die selbständige Vervollkommnung eines einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt und damit an zentrale Forderungen Friedrich von Blanckenburgs in seinem berühmten Versuch über den Roman (1774) anknüpft. Mit Karl Philipp Moritz' Anton Reiser (1785-90) erscheint zunächst gewissermaßen ein Anti-Bildungsroman, der nicht die positive Entwicklung des Protagonisten, sondern die zutiefst deprimierende Reihe von Misserfolgen und die sich daraus ergebenden Deformationen der Hauptfigur aufzeichnet. In Auseinandersetzung mit dieser Folie liefert dann Goethe mit seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) das erste und prägende Muster, sozusagen den Prototyp des Bildungsromans. In diesem Sinne hat der Literaturhistoriker Wilhelm Dilthey "die Romane, welche die Schule des Wilhelm Meister ausmachen" (S. 282) Bildungsromane genannt. Formal kennzeichnet diesen Romantypus – darauf hat insbesondere Friedrich Schlegel hingewiesen – eine hochartifizielle, komplexe poetische Konstruktion. Inhaltlich ist ein Roman gemeint, der einen Bildung suchenden Protagonisten vorführt und dessen Entwicklung nachzeichnet, wobei Krisen- und Konfliktsituationen als notwendige Durchgangsstationen zur harmonischen Selbstbildung verstanden werden. Wilhelm Meister unterstellt als Bildungsziel ein reifes Subjekt, das den Konflikt zwischen individuellem, künstlerischem Selbstverwirklichungsanspruch und gesellschaftlich verordneter Notwendigkeit zugunsten einer humanistischganzheitlichen Bildung überwunden hat. Wie zweifelhaft dieses Ideal ist, hat schon Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik angedeutet, wenn er konstatierte, dass "das Ende solcher Lehrjahre [darin bestehe], das sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr einen angemessenen Standpunkt erwirbt", um "ein Philister so gut wie die anderen auch" zu werden (S. 220). So überrascht es nicht, dass in den Bildungsromanen der Romantiker das Muster
einer teleologisch sich vollziehenden Entwicklung zu einem integrierten Mitglied der Gesellschaft nicht bruchlos übernommen oder sogar grundsätzlich in Frage gestellt wird. Vielmehr gewinnt der Kontrast zwischen poetischer und realer Welt zunehmend an Schärfe - zu denken ist hier an so verschiedene Texte wie Joseph von Novalis' Heinrich von Ofterdingen (1802), Jean Pauls Flegeljahre (1804/05), Eichendorffs Ahnung und Gegenwart (1815) und E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr (1820-22). In der Mitte des 19. Jahrhunderts wandelt sich der Bildungsroman dann in den 'Desillusionsroman' (Georg Lukács), wie sich etwa an Gottfried Kellers Roman Der Grüne Heinrich (1854/55) zeigen lässt. Ob schließlich die großen Romane des 20. Jahrhunderts wie etwa Thomas Manns Zauberberg (1924) überhaupt noch zur Gattung des Bildungsromans gerechnet werden können, ob Günter Grass' Roman Die Blechtrommel (1959) den Bildungsroman des Oskar Matzerath 'auf Blech getrommelt' erzählt, oder ob im Gegenteil dieses tradierte Erzählmuster der Vergangenheit angehört und sich nur in der Literaturwissenschaft aufgrund seines hohen Wiedererkennungswertes großer Beliebtheit erfreut, ist in der Forschung umstritten. ©TvH
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Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, 1. Bd., Berlin 1870. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt/M. 1986.
Sekundärliteratur: 1. J. Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman, München 1972. 2. R. Selbmann (Hg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans, Darmstadt 1988. 3. K.-D. Sorg: Gebrochene Teleologie. Studien zum Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann, Heidelberg 1983.
Ehebruchroman
Obwohl der Begriff "Ehebruch" semantisch nicht zwischen 'weiblichem' oder 'männlichem' Ehebruch differenziert, wird der Ehebruch der verheirateten Frau literarisch viel häufiger und in einer weiten Bandbreite - von tragischen bis zu komischen Varianten - dargestellt. Als eigenständiger, thematisch bestimmter Typus des Romans wird der Ehebruchroman durch ein festes Handlungsschema (Werbung, Verführung, Entdeckung, Bestrafung) und eine typische Figurenkonstellation geprägt. Auch die sozialen und konventionellen Hindernisse sowie die Spannung schaffenden Intrigen und Lügen sind typische Strukturelemente des Ehebruchromans. Weite Verbreitung und teils skandalöses Aufsehen erlangte der Ehebruchroman in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Nationalliteraturen. Mit Gustave Flauberts Madame Bovary (1856) in Frankreich, Lew N. Tolstois Anna Karenina (1875-77) in Russland, José Maria Eça de Queirós' Der Vetter Basílio (1878) in Portugal, Claríns La Regenta (1884/85) in Spanien, Theodor Fontanes Effi Briest (1894/5) in Deutschland etabliert er sich als wahrhaft europäisches Genre. Ohne Madame Bovary ihren innovativen Charakter absprechen zu wollen, zeigt der Erfolg dieser literarischen Thematik doch grundsätzlich, dass der Ehebruchroman im 19. Jh eine bevorzugte Form des Zeitund Gesellschaftsromans ist. Dies mag sich auch daraus erklären, daß er ein besonderes Interesse für die weibliche Figur in ihren sozialen, psychologischen, moralischen und sogar physiologischen Aspekten entwickelt, - Fragen, die damals im philosophischen wie im juristischen, im politischen und religiösen Diskurs höchst aktuell waren (und die mehrheitlich weibliche Romanleserschaft besonders betrafen). Die dominierende ("personale") Perspektive der weiblichen Hauptfigur, die Flaubert als erster einsetzt, ist Kennzeichen des realistischen Ehebruchromans. In dieser Sicht werden Gründe für die Entfremdung der Ehepartner und den Ehebruch gezeigt: die bürgerliche Ehe erscheint in der Tradition der Vernunftehen, die eingeschränkte Rolle der Frau in der Familie, ihre mangelhafte Ausbildung und ihre soziale Diskriminierung werden kritisch dargestellt. Gleichzeitig wird die bürgerliche Doppelmoral entlarvt, die dem Mann in der Sexualität alles erlaubt und der Frau alles verbietet. Die Gründe für den Ehebruch verweisen auf soziale Langeweile, Abenteuerdrang und den provozierten Bruch mit der Moral, während die leidenschaftliche Liebe als Motiv meist ausgeschlossen bleibt. Der Liebhaber, der als Figur ebenso wie der Ehemann stark funktionalisiert ist, trägt Züge des dämonischem Verführers (Don Juan) und bedeutet für die Ehebrecherin regelmäßig eine herbe Enttäuschung. Die verführte und bald darauf verlassene Frau sieht in ihrem Leidensweg zumeist auch die Sühne für ihre
Schuld. Darin artikuliert sich das Doppelmotiv der Bestrafung (von Ehefrau und Verführer) und der Wiederherstellung der (männlichen) "Ehre", das in manchen sozialen Gruppen (z.B. im preußischen Adel) auch zum Duell führen kann. Auffällig ist, dass die Ehebrecherin des 19. Jahrhunderts nicht aus enttäuschter Liebe stirbt oder wegen der Rache ihres Ehemanns, sondern auf Grund von Situationen, in denen ihre persönliche und psychische Not mit den sozialen Ursachen konvergiert, die eine bereits erschütterte bürgerliche Gesellschaft hervor bringt. Charakteristisch für die Ehebruchromane des 19. Jahrhunderts ist die vorsichtige Rezeption durch die Leserschaft. Sie reagiert mit Mißtrauen auf Texte, die im Sinne des Realismus und Naturalismus sowohl die soziopsychologischen Gründe für den Ehebruch als auch sehr intime Szenen darstellen, ohne dass der Erzähler dies moralisierend bewertet. Literaturgeschichtlich erscheint der realistische Ehebruchroman als Gipfel einer Entwicklung, die thematisch bis in die Antike zurückreicht. Dort kann das Ehebruch-Thema sowohl tragische (Geschichte von Atreus und Agamemnon) als auch komische Züge (Mythos von Hephaistos, Aphrodite und Ares) annehmen. Im Mittelalter ist die Liebeslyrik der verheirateten Frau gewidmet, was zumindest theoretisch die Akzeptanz des Ehebruchs impliziert. Im höfischen Roman der klassischen Periode führt die minne jedoch zur Ehe und nicht zum Ehebruch. Trotzdem sind die bekanntesten mittelalterlichen Geschichten Ehebruchgeschichten (Tristan und Isolde und Lancelot und Gweniver; die Episode von Paolo und Francesca in Dantes Göttlicher Komödie). In der Renaissance erscheint eine Novellistik mit realistischen Zügen, die einem breiten und bürgerlichen Publikum gewidmet ist, wobei der Ehebruch zu mehr oder weniger komischen und deftigen Begebenheiten führt (Boccaccio, Chaucer). Seit dem 16. Jahrhundert ist die Ehebruchthematik auf dem Theater besonders produktiv (Lope de Vega, Calderon, Tirso de Molina, Shakespeare, Molière). In der Aufklärung führt der optimistische Glaube an die Vernunft und die Idee der Ehe als nützliche Institution dazu, dass der Roman zum Lob der Ehe tendiert (z. B. Gellert, Das Leben der schwedischen Gräfin von G...). Im Gegensatz zur moralisierenden englischen Literatur kann man in Frankreich bis Ende des 18. Jahrhunderts eine Betonung der erotischen Dimension feststellen. Dies führt zu wachsenden Sensualismus und thematischen Konstellationen, die sich der Moral widersetzen und bei denen der Ehebruch üblich ist (z.B. Laclos: Gefährliche Liebschaften). ©TO
Sekundärliteratur: 1. M.T.M.de Oliveira: A Mulher e o Adultério nos romances "O Primo
Basilio" de Eça de Queirós e "Effi Briest" de Theodor Fontane, Coimbra 2000. 2. P. von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München 1989. 3. N. White / N. Segal (Hg.): Scarlet letters. Fictions of Adultery from Antiquity to the 1990s, London 1997.
Kriminalroman
Seit über einhundertfünfzig Jahren ist der Kriminalroman eines der produktivsten Prosagenre. Wegen seiner hohen handwerklichen Anforderungen und der philosophischen Implikationen hat er Bewunderer aus unterschiedlichsten Lagern gefunden. Allerdings muß zunächst eine terminologische Unterscheidung getroffen werden: Der Typ, den man im allgemeinen als Kriminalroman oder 'Krimi' bezeichnet, wird in seinen vielfältigen Varianten (die an Schauer- und Abenteuerroman, Agenten- und Spionagethriller angrenzen) häufig der Trivialliteratur zugeschlagen. Es ist die Sonderform der Detektivgeschichte, bald erweitert zum Detektivroman, die Beifall und Interesse auf sich gezogen hat. Inhaltlich steht bei beiden Typen ein Verbrechen, meist ein Mordfall, im Mittelpunkt. Wo der Kriminalroman die Entstehung des Verbrechens in seiner chronologischen Abfolge darstellt, geht es der Detektivgeschichte darum, ausgehend von einer bereits geschehenen Tat ihren Hergang in aufklärerischer Absicht zu rekonstruieren. Beide Formen können mit spezifischen Leistungen aufwarten. Der Kriminalroman vermag beispielsweise ein großes gesellschaftliches Panorama oder tief ausgearbeitete psychologische Tätercharaktere darzustellen, während die Detektivgeschichte stärker auf die intellektuelle Leistung des Detektivs (und des Lesers!) abzielt. - Diese begriffliche Unterscheidung wird allerdings durch den alltäglichen Sprachgebrauch verdeckt, in dem sich der "Krimi" als Sammelbegriff durchgesetzt hat. Als die wichtigsten und nahezu unveränderlichen Strukturelemente der Detektivgeschichte können Täter, (Mord-)Opfer und Detektiv angesehen werden. Mit Hilfe von Zeugen und Indizien gelingt die Aufklärung des Verbrechens und mit ihr häufig die Lösung eines Rätsels. Daß ausgehend von diesem vorgegebenen Schema unzählige Variationen möglich sind, machte für Bertolt Brecht das besondere intellektuelle Vergnügen an diesem Genre aus. Literaturhistorisch gesehen ist die Detektivgeschichte ein Kind der Romantik auch wenn man in viel weiter zurückliegenden Texten bereits ähnliche Strukturen erkennen kann. Schon in Sophokles´ König Ödipus (5. Jh. v.Chr.) wird ein Vatermord aufgeklärt. Nur folgt 'Detektiv' Ödipus mythischen Handlungsmustern und noch nicht den Gesetzen der reinen Vernunft. Das hingegen ist der Fall in Edgar Allan Poes Erzählung Der Doppelmord in der Rue Morgue (1841), die als Geburtsurkunde der Detektivgeschichte in der uns heute bekannten Form gilt. Im deutschen Sprachraum sind Friedrich Schillers Fragment Der Geisterseher (1789) und vor allem E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scudéri (1819) als Vorläufer der klassischen Detektivgeschichte anzusehen. Als Stoffgrundlage vieler zeitgenössischer, in einem weiten Sinne kriminalistischer Erzählungen diente die Sammlung berühmter Kriminalfälle, die der französische Rechtsgelehrte François Gayot de Pitaval in zwanzig Bänden angelegt hatte
(Causes célèbres et intéressantes, 1734-43). Weite Verbreitung fand die an Poe orientierte Detektivgeschichte, der es auf die analytischen Fähigkeiten ihres ermittelnden Helden ankommt, in Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes - Erzählungen. Hier geht der Detektiv - wie bei Poes Auguste Dupin bereits angelegt - in Serie. Holmes werden u.a. Agatha Christies Hercule Poirot, Georges Simenons Kommissar Maigret oder Raymond Chandlers Philip Marlowe nachfolgen. Die seriellen Produkte, die erst als Fortsetzungsroman im Feuilleton, später in Heftform erschienen (z.B. Jerry Cotton), sind bis heute mindestens genauso erfolgreich wie die 'hochliterarischen'. Durch Regionalisierung der Schauplätze (etwa Berliner Stadtbezirks- oder Ruhrgebietsromane) haben sie es gerade in jüngster Zeit verstanden, einen engen Kontakt zu einem speziellen Leserkreis aufzubauen. Der im 19. Jahrhundert weitverbreitete Fortschrittsglaube und das Vertrauen in naturwissenschaftliche Rationalität schlägt sich im Detektivroman in zahlreichen gelösten Fällen nieder. Dem 20. Jahrhundert geht vor dem Erfahrungshintergrund der Modernisierung diese Zuversicht immer mehr abhanden. Mit der Entwicklung der Großstadt erhöht sich die 'Unübersichtlichkeit der Welt', was auch die Verbrechensaufklärung enorm erschwert. Die amerikanische hardboiled-school (u.a. Dashiell Hammett) reagierte in den dreißiger Jahren mit sehr viel 'lebensnäheren' Romanen, die den Detektiv nicht mehr als feinsinnigen Analytiker vorstellen, sondern als einen mit den harten Lebens-, Sprach- und Trinkgewohnheiten der Unterwelt bestens vertrauten Tatmenschen. Doch auch aus anderen Gründen ging dem 20. Jahrhundert der Optimismus in die rationale Erkennbarkeit der Welt zunehmend verloren. In den Mafia-Romanen des Italieners Leonardo Sciascia ist die Verwicklung von staatlichen, mit der Aufklärung betrauten Institutionen und Personen in die Verbrechen so weit fortgeschritten, daß ihr der Detektiv unterliegt. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat die Detektivgeschichte aufs neue ihre Attraktivität für den Gegenwartsroman erwiesen. Zwar tritt sie selten in ihrer Reinform auf. Doch überall begegnen einzelne Versatzstücke wie das (Mord)Rätsel, die spannungsgeladene Verbrechensaufklärung, die Problematik von Schuld oder die mit der Erinnerungsthematik verknüpfte Rekonstruktion von Tathergängen. Nach den Experimenten der avantgardistischen 60er und 70er Jahren und ihrem gebremsten Erzählen könnte man seit den 80er Jahren fast von einer Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geiste des Kriminalromans sprechen. Umberto Ecos Weltbestseller Der Name der Rose (1980) ist sicherlich das prominenteste Beispiel, aber doch nur die Spitze eines gewaltigen Eisberges. © SR Sekundärliteratur:
1. J. Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, München 1998. 2. P. Nusser: Der Kriminalroman, Stuttgart 1992. 3. U. Suerbaum: Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart 1984.
Spionageroman engl. spy novel, spy story
Der Spionage- oder Agentenroman ist keineswegs - wie oft behauptet - eine Unterart des Kriminalromans, sondern ein strukturell eigenständiges und historisch relativ genau eingrenzbares Genre der modernen Spannungsliteratur. Sein Thema ist die Spionage, also die Gewinnung von relevanten Informationen, die in militärischen, politischen oder auch technisch-wirtschaftlichen Konflikten gegen den ursprünglichen Besitzer verwendet werden können, der sie deshalb vorbeugend zu schützen sucht (Spionageabwehr). Im englischen Sprachgebrauch die Gattung ist von Anfang an britisch geprägt - bezeichnet intelligence sowohl jene Informationen selbst, als auch den organisatorischen, personellen und technischen Aufwand zu ihrer Gewinnung, also den Geheimdienst, der seinerseits von der counter-intelligence (Spionageabwehr) bekämpft wird. Die Grundformel aller spy stories ist demnach die eines Zweikampfs von Held und Gegenspieler samt ihren Helfern (und nicht wie beim Kriminalroman die eines Rätsels). Insofern ist sie mit den Formen des abenteuerlichen Erzählens, vom Märchen bis zum Abenteuerroman verwandt und kann mit den gleichen strukturellen Methoden analysiert werden wie diese. Umberto Eco hat dies gezeigt, indem er Vladimir Propps Schema der Märchen-Analyse in variierter Form auf Ian Flemings James Bond-Romane anwandte. Da die Handlungsdynamik eindeutig vorwärts drängt, kann man den Spionageroman auch als eine Variante des Thrillers bezeichnen. Die strukturelle Entgegensetzung von Gut und Böse, Schwarz und Weiß, die der Spionageroman mit dem Märchen und dem abenteuerlichen Roman teilt, ist auf unterschiedliche Art historisch konkretisiert worden. Zwischen 1900 und 1914 erscheinen in Großbritannien die ersten spy stories, in denen die englischen Helden die Absichten deutscher Bösewichte unter Oberbefehl ihres Kaisers abwehren. Im Rätsel der Sandbank von Erskine Childers (1903), dem ersten Klassiker des Genres, wird beispielsweise eine Invasion Großbritanniens durch ostfriesische Fischerboote (!) verhindert; aber der Roman ist dennoch ganz hübsch zu lesen. National gesinnte Autoren wie John Buchan (Neununddreißig Stufen, 1913, später von Alfred Hitchcock verfilmt) und andere treiben in den Kriegs- und Nachkriegsjahren die Schematisierung und die propagandistische Schwarz-Weiß-Zeichnung weiter voran. Indessen hatte einer der größten Romanciers der Epoche überhaupt, Joseph Conrad, in seinem Roman Der Geheimagent (1907) aber auch schon die realistischen, um nicht zu sagen die tragischen Aspekte des Geheimdienstwesens thematisiert. Eben hier knüpfen in der Zwischenkriegszeit einige Autoren an, die - teilweise aufgrund persönlicher Erfahrungen - die persönlichen Ambivalenzen des Spions und die bürokratischpolitischen Widersprüche und Absurditäten des Geheimdienswesens ins Zentrum
rücken. Zu nennen sind W. Somerset Maughams Erzählung Ashenden (1928) und die Romane von Graham Greene in verschiedenen Spielarten: psychologisierend in Orientexpress (1932), satirisch in Unser Mann in Havanna (1958), tragisch in Der menschliche Faktor (1978). Eric Ambler entwickelt eine eigene, betont abenteuerliche Variante, eine Art von politischem Pikaroroman (von Die Maske des Dimitrios, 1939, bis Mit der Zeit, 1981). Bei Greene, aber auch bei der jüngeren Generation löst der Kalte Krieg zwischen Ost und West die englisch-deutsche Konfrontation ab. Zugleich tritt das "technische" Thema der Spionage gegenüber dem moralischen des Verrats in den Hintergrund. Dabei spielen zeithistorische Fälle, etwa der des britischen Geheimdienstoffiziers und sowjetischen Agenten Kim Philby eine wichtige Rolle. John le Carré, der 1963 mit Der Spion, der aus der Kälte kam, ein erfolgreiches Debüt feierte, fiktionalisierte den Fall Philby in Bube, Dame, König, As von 1974, dem ersten Band einer Trilogie um den legendären Geheimdienstchef George Smiley. Auch le Carrés folgende Romane (bis Der ewige Gärtner, 2001) bestechen durch Handlungsführung, Psychologie und erzählerische Virtuosität. Man hat ihn jüngst einen "König ohne Rivalen" genannt. - Nicht vergessen sollte man allerdings, dass zumindest der Breitenwirkung nach sein Landsmann Ian Fleming mit seinen action-betonten und schematisch konstruierten James Bond-Romanen (seit Casino Royale, 1953) zu Zeiten des Korea- und des Vietnamkriegs noch erfolgreicher war. Zu beobachten ist dabei auch, wie dieser Erfolg den Romanhelden ohne Mühe seinen eigenen Schöpfer überleben und definitiv ins Medium des Films überwechseln lässt (wo er inzwischen ja auch mehrere Darsteller verschlissen hat). Man hat vermutet, dass der Spionageroman mit dem Ost-West-Gegensatz der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Substanz verloren hätte. Bei le Carré lässt sich der Versuch beobachten, das alte Genre auf neue Krisen und Konflikte einzustellen, wobei sich dann vielleicht die Kategorie Spionageroman als zu eng erweist und durch einen variablen politischen Spannungsroman ersetzt werden müsste. © JZ Sekundärliteratur: 1. J.G. Cawelti / B.A. Rosenberg: The Spy Story, Chicago u.a. 1987. 2. M. Denning: Cover Stories. Narrative and Ideology in the British Spy Thriller, London u.a. 1987. 3. U. Eco: Die Erzählstrukturen bei Ian Fleming, in: J. Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, München 1998, S.181-207.
Tora
Das hebräische Wort tora (auch: thora) bedeutet 'Unterweisung', 'Lehre', 'Führung', 'Gesetz', und dient in der jüdischen Tradition als Bezeichnung für die fünf Bücher des Moses (gr. pentateuch, 'fünfteiliges Buch') die als "Gesetz Gottes" den Kern des jüdischen Glaubens ausmachen. Die Lesung aus der Torarolle, die im geschmückten Toraschrein aufbewahrt wird, ist Kernstück jedes jüdischen Gottesdienstes. Diese fünf ersten Bücher der jüdischen wie auch der christlichen Bibel bilden einen erzählerischen Zusammenhang von der Erschaffung der Welt bis zum Tod des Moses, sind aber auch deutlich voneinander abgegrenzt, worauf ihre üblich gewordenen (ans Griechische angelehnten) Bezeichnungen deuten: Genesis 'Ursprung', Exodus 'Auszug', Leviticus 'das levitische Gesetz', Deuteronomium 'das zweite Gesetz'. Das erste Buch enthält die Schöpfungsgeschichte und die 'Vätergeschichte', die vom Bunde Gottes (des Jhwh, Jehova) mit dem auserwählten jüdischen Volke berichtet. Das zweite Buch ist um den Auszug aus der ägyptischen Gefangenschaft unter Führung von Moses zentriert und enthält u.a. den Dekalog (Zehn Gebote). Das Buch Leviticus sammelt die kultischen Gesetze, also detaillierte Vorschriften für Gottesdienst und Lebenspraxis (u.a. Reinheits- und Speisegebote). Das Buch Numeri ist aus erzählerischen (Weg ins verheißene Land) und kultgesetzlichen Elementen gemischt, das Deuteronomium als visionäre Rede des Moses vor seinem Tode gestaltet, in der er seinem Volk den Einzug ins verheißene Land verkündet. Die fünf Bücher der Tora sind entstehungsgeschichtlich der älteste und wichtigste Teil des so genannten Tanach, der heiligen Schrift der Juden (im christlichen Sprachgebrauch: Altes Testament). Sie werden ergänzt von den 22 Büchern der Propheten (Jesaja u.a.) und den 13 Büchern der Schriften (Psalmen u.a.), die jedoch nicht die gleiche fundamentale Bedeutung für den Gottesdienst haben wie die Bücher des Gesetzes. Man geht davon aus, dass diese Kanonbildung um 100 n. Chr. endgültig abgeschlossen und allgemein akzeptiert ist. In der Auslegung der Tora als Wort Gottes hat das Judentum eine eigene Tradition und Gelehrsamkeit entwickelt, die wesentlich älter ist als die theologische Hermeneutik des Christentums und neben dieser fortbesteht. Ihr Hauptwerk ist der Talmud (Studium, Belehrung, Lehre), ein aus mündlicher Auslegungspraxis entstandenes, für den kultischen Gebrauch niedergeschriebenes und thematisch geordnetes Sammelwerk von Ergänzungen und Kommentaren, von dem eine ältere palästinensische und eine jüngere babylonische Fassung überliefert ist. Eine moderne Übersetzung der Tora ins Deutsche, die aber in Abgrenzung von der Tradition Luthers den hebräischen Sprachduktus spürbar machen will,
stammt von den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber und Franz Rosenzweig: Die fünf Bücher der Weisung. ©JV
Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, 10. Aufl. Heidelberg 1981.
Sekundärliteratur: 1. R. Rendtorff: Das Alte Testament. Eine Einführung, 5. Aufl. NeukirchenVluyn 1995. 2. E. Zenger u.a.: Einleitung in das Alte Testament. 3. Aufl. Stuttgart u.a. 1995.
Koran arab. Kur-àn: 'das oft zu lesende Buch'
Der Koran ist das Heilige Buch der muslimischen oder mohammedanischen Glaubensgemeinschaft; in ihm ist die Glaubenslehre des Islam niedergelegt. Er ist zu verstehen als das tatsächliche 'Wort Gottes' (Allahs), das dem Propheten und Religionsgründer Mohammed (ca. 570-632) während einer Zeitspanne von 23 Jahren durch den Erzengel Gabriel offenbart wurde. Der Koran in seiner Gesamtheit besteht aus 108 Abschnitten oder Suren (arab. Sura: 'die den Menschen überwältigende Erhabenheit'), die nach dem Prinzip abnehmenden Umfangs angeordnet sind, von etwa 30 Seiten (2. Sure) bis zu drei oder vier Zeilen in den letzten Suren. Die Abschnitte des Koran sind für den mündlichen Gebrauch konzipiert, die wiederholte Rezitation ist zentrales Element mohammedanischen Gottesdienstes. Verschriftlicht und redigiert wurde der Koran erst nach Mohammeds unerwartetem Tod, vor allem durch seinen langjährigen Schreiber Said Ibn Tabit (um 650). Sprachlich handelt es sich um die stark rhetorische Neuprägung eines literarischen Arabisch auf mündlicher Grundlage (der Koran hat also für die arabische Kultur, Sprach- und Literaturgeschichte eine ähnliche Funktion wie die nationalsprachliche Bibel für viele europäische Kulturen). Der Koran ist, ähnlich wie Tora bzw. Altes Testament, ein Mischtext, der historische Überlieferung, Sagen und Legenden, Gebete, Glaubensappelle und ermahnungen mit rechtlichen und kultischen Vorschriften für verschiedene Lebensbereiche verbindet. Im Unterschied zu Tora und Bibel wird - wie gesagt Mohammed aber nicht als Verfasser des Textes, sondern nur als Verkünder des Wortes Gottes verstanden. Dies spiegelt sich in dem oft wiederholten binomischen Glaubenssatz: "Allah ist ein einziger Gott, und Mohammed ist sein Prophet". In den historischen Partien bestehen Überschneidungen mit Judentum und Frühchristentum (Stammväter Noah, Moses, Abraham, vgl. die Geschichte Josephs in Sure12, oder die Geburt des 'Propheten' Jesus in Sure 3). Mit diesen Überlieferungen war Mohammed auf ausgedehnten Karawanenreisen in Kontakt gekommen. Die Glaubensinhalte des Koran sind zentriert um bzw. abgeleitet aus einem islamischen Monotheosimus, den Mohammed als strikte Erneuerung des judaischen bzw. frühchristlichen Glaubens ansah. Ausgesprochen wird dieser zentrale Glaubenssatz u.a. in Sure 112: "Sprich: Gott ist Einer, / Ein ewig reiner / Hat nicht gezeigt und ihn gezeugt hat keiner, / Und nicht ihm gleich ist einer." Der Koran erhebt absoluten Geltungsanspruch nicht nur für die religiöse
Orientierung, sondern auch für die weltliche Lebensführung aller Muslime. Er ist das Buch der "Rechtleitung" (huda) für alle Lebensbereiche (nicht nur für juristische Fragen im engeren Sinn). Aus diesem Grunde wird er durch außerkoranische Überlieferungen zu Leben und Lehre des Propheten (hadith 'Mitteilung') ebenso ergänzt wie durch ein religiöses Gewohnheitsrecht (sunna 'Herkommen'), das bis zum 10. Jahrhundert als eigenständiges Rechtssystem (scharia) kodifiziert wird. Zweifel oder Kritik am Wort Allahs sind undenkbar, und werden gegebenenfalls streng sanktioniert (so vor einigen Jahren im Falle des Romanciers Salman Rushdie). Kehrseite der absoluten Geltung des Koran im Islam ist seine schwierige interkulturelle Rezeption. Im christlichen Europa bleibt er lange ein "missverstandenes Buch". Vor dem Hintergrund langdauernder Feindschaft zwischen christlichen und islamischen Religionen und Staaten (z.B. die "Türkenkriege" bis ins 17. Jh.) muss besonders die Vorschrift des heiligen Krieges gegen die Ungläubigen (jihad) Anstoß erregen. Aber auch die Eigenart des Textes macht es nichtislamischen Lesern schwer, sich in den religiösen Gehalt und die unbestreitbare sprachliche Schönheit des Koran hineinzufinden. Charakteristisch ist Goethes ambivalente persönliche Bewertung: "Und so wiederholt sich der Koran Sure für Sure. Glauben und Unglauben teilen sich in Oberes und Unteres; Himmel und Hölle sind den Bekennern und Leugnern zugedacht. Nähere Bestimmung des Gebotenen und Verbotenen, fabelhafte Geschichten jüdischer und christlicher Religion, Amplifikationen aller Art, grenzenlose Tautologien und Wiederholungen bilden den Körper dieses heiligen Buches, das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnötigt." (1819) © JZ
Der Koran, übers. v. M. Henning, Einleitung u. Anmerkungen v. A. Schimmel, Stuttgart 1991 u.ö.
Sekundärliteratur: 1. H. Bobzin: Der Koran. Eine Einführung, München 1999. 2. M. Cook: Der Koran. Eine kurze Einführung, Stuttgart 2002. 3. H. Zirker: Der Koran. Zugänge und Lesarten, Darmstadt 1999.
Hermann Bote: Till Eulenspiegel (um 1510)
Die Geschichten vom merkwürdigen Lebenslauf und den grotesken Abenteuern des Till Eulenspiegel gehören - wie etwa auch die Lebensgeschichte des Magiers Doktor Faust - zu den literarischen Stoffen aus dem 16. Jahrhundert, die bis heute vital und in breiten Bevölkerungsschichten bekannt geblieben sind. Sie werden häufig unter dem Sammelbegriff Volksbücher gefasst. Anders als beim anonymen Faust-Buch ist der Verfasser des Schwankromans Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel inzwischen bekannt. Hermann Bote war Chronist in Braunschweig und ein bekannter historischer Autor. Als Verfasser des Eulenspiegel hat er sich jedoch nur in verschlüsselter Form zu erkennen gegeben. Verfasst wurde das Werk in niederdeutscher Sprache, die ersten, unvollständig erhaltenen Drucke (1510/11) sind bereits hochdeutsche "Übersetzungen". Heute wird der vollständige Straßburger Druck von 1515 mit 95 Geschichten und 87 Holzschnitten zugrunde gelegt. Erzählerische Grundform ist der Schwank, als dessen Handlungsträger hier der Narr Till Eulenspiegel fungiert; indem die Reihung der einzelnen Schwänke seinem Lebenslauf von der Geburt bis zum Begräbnis folgt, entsteht ein Schwankzyklus oder Schwankroman, den man durchaus als strukturelle Vorform des späteren Romans mit biographischem Grundmuster verstehen kann. Jeder Schwank ("Streich") schildert eine drastisch-groteske Begebenheit, sehr oft eine Konfliktsituation, die durch List und Übertölpelung des vermeintlich Stärkeren aufgelöst wird. Der Narr, aus der spätmittelalterlichen Tradition bekannt, ist die soziale Rand- oder Außenseiterfigur, die solche Streiche ausführt und damit nicht nur den Gegner austrickst, sondern auch die Strukturen, Konventionen und Lügen der bestehenden Gesellschaftsordnung aufdeckt und im Medium des Gelächters und der Schadenfreude einer scharfen, aber nicht ausgesprochenen Kritik ausliefert. Der Lebenslauf Eulenspiegels vollzieht sich als eine Abenteuer-Reise durch das damalige Deutschland und Europa, wobei er mit allen sozialen Ständen, vom Königshof bis zu den Bettlern der Landstraße, konfrontiert wird und so einen Aufriss der frühneuzeitlichen Gesellschaft liefert, die sich auf vorher nicht gekannte Weise ausdifferenziert. Als Narrenfigur ist Eulenspiegel in sich widersprüchlich oder zumindest vielseitig: einerseits infantil, auf den Körper und seine (Ausscheidungs)Funktionen fixiert, lachlustig, schadenfroh und obszön; andererseits rational kalkulierend, auf seinen Vorteil bedacht, mitleidlos und betrügerisch. Er
repräsentiert also, sehr pauschal gesprochen, eine vorbürgerliche und eine bürgerliche Seite oder Mentalitätskomponente, wie es seinem zivilisationsgeschichtlichen Ort zwischen spätem Mittelalter und früher Neuzeit entspricht. Der Eulenspiegel-Stoff ist in zahllosen Bearbeitungen, besonders auch für Kinder und Jugendliche überliefert worden und hat dann vor allem im 20. Jahrhundert wichtige Neubearbeitungen erfahren. Unter anderen haben sich Gerhart Hauptmann, Erich Kästner, Bertolt Brecht sowie Gerhard und Christa Wolf an Aktualisierungen des ein halbes Jahrtausend alten Stoffes versucht. © JZ
Ein kurtzweilig Lesen von Dill Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515. Hg. V. Wolfgang Lindow, Stuttgart 1978. Sekundärliteratur: 1. W. Wunderlich: "Till Eulenspiegel", München 1984.
(Bernd) Heinrich (Wilhelm) von Kleist
* 18.10.1777, Frankfurt/Oder † 21.11.1810, Berlin (Wannsee) Dichter, Offizier, Journalist Kleists Zeitgenossen - und unter ihnen nicht zuletzt Goethe - waren von seinem literarischen Werk nicht allzu beeindruckt und vermuteten in den sprachlichen Eigenarten, die seinen späteren Ruhm begründeten, eher dichterisches Unvermögen. Von Friedrich Nietzsche wurde er zu einem "großen Unzeitgemäßen" stilisiert und von Thomas Mann, Franz Kafka, Rilke und vor allem dem Germanisten Max Kommerell als Vorläufer der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts gedeutet. Diese Lesart eines 'einsamen' und 'unverstandenen' Kleist konkurrierte mit dem bildungsbürgerlich-nationalistischen, im wilhelminischen Kaiserreich entstandenen Bild des "wahren deutschen Dichters" der Hermannsschlacht (1808; ersch. 1821; UA 1860) und antifranzösischer Propaganda, das während des Nationalsozialismus dann unter Mithilfe der Germanistik kultur- und bildungspolitisch durchgesetzt wurde. Nach 1945, als Kleist dann auch vom existentialistisch geprägten Theater in Frankreich und Deutschland als Geistesverwandter entdeckt wird, verschwindet der 'deutsche' Kleist rasch in der Mottenkiste. Heute finden wir den 'Selbstmörder' Kleist, der nach dem Scheitern seiner Zeitung Berliner Abendblätter (1810-1811) zunächst seine Gefährtin Henriette Vogel (*1777) und dann sich standesgemäß mit Revolvern erschoß, im Kanon der Außenseiter und erst von den Nachwelt entdeckten Genies zusammen mit Jakob Michael Reinhold Lenz, Georg Büchner und Franz Kafka. Seine Einordnung in das Epochenschema deutscher Literaturgeschichte bleibt bis heute problematisch. Ihn als Erzähler der Marquise von O... (1807) oder der Heiligen Cäcilie (1810) der Romantik zuzuschlagen, blieb ebenso umstritten wie der Versuch, den Verfassers der Komödie Der Zerbrochene Krug (1808) und des Amphitryon (1807; UA 1898) als 'dritten' Dramenklassiker neben Goethe und Schiller zu etablieren. Kleist bewegte sich zwar in Kreisen der Romantiker, vor allem während seiner Aufenthalte in Dresden und Berlin 1808 und 1810/11, deren Ästhetik und gesellschaftlichen Vorstellungen stand er jedoch kritisch gegenüber. In Kleists Dramen ist wenig von der Formenstrenge und sprachlichen Zucht der Weimarer Klassik zu spüren. In der germanistischen Forschung der Gegenwart gilt Kleist unbestritten als einer der innovativsten Erzähler der deutschen Literatur, der sich in Werken wie Michael Kohlhaas (1810), Die Marquise von O..., Das Erdbeben in Chili (1807) oder Die Verlobung in San Domingo (1810) wie kein anderer Schriftsteller seiner Zeit subversiv gegenüber einer automatisierten und gattungskonformen
Redeweise verhielt. Der lakonische Stil wird durch Paradoxien, Doppeldeutigkeiten und Ironie unterlaufen. Die komplexe Syntax erreicht öfters die Grenze des Verstehbaren. Durch den Kontrast zwischen nüchterner Berichtssprache und der starken Synchronisierung, Zeitraffung und die Dynamisierung des Geschehens wird eine Plastizität der Darstellung erreicht, wie sie erst in der Literatur der Moderne wieder erreicht wird. In seinen Briefen an die Braut Wilhelmine von Zenge und die Schwester Ulrike reflektiert Kleist seine geistige Entwicklung und seine Lebenskrisen ebenso wie seinen schwierigen Weg zur Autorschaft. Sie zeigen ihnen aber auch als aufmerksamen Beobachter kultureller und politischer Entwicklungen seiner Zeit. Literaturwissenschaftliche Arbeiten zur Kleist orientieren ihre Interpretationen und Analysen nicht selten an diesen Selbstdeutungen des Autors. Kleists Werke sind im kulturellen Leben der Gegenwart heute vermutlich stärker präsent als die Schillers. Seine Erzählungen werden verfilmt oder für die Bühne bearbeitet, seine Dramen von den bedeutendsten Regisseuren häufig inszeniert. Auch in der Literaturwissenschaft ist Kleist ein Gegenstand intensiver und extensiver Forschung (Kleist-Jahrbuch 1980ff). ©KMB
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍ ❍
Die Marquise von O... (1807) Das Erdbeben in Chilli (1807) Amphitryon (1807) Der zerbrochene Krug (1808) Michael Kohlhaas (1810)
Sekundärliteratur: 1. H. L. Arnold (Hg.): Heinrich von Kleist, München 1993. 2. K.-M. Bogdal: Heinrich von Kleist. Michael Kohlhaas, München 1981. 3. P. Staengle: Heinrich von Kleist, München 1998.
Edgar Allan Poe
* 19.01.1809 Boston † 07.10.1849 Baltimore amerikanischer Schriftsteller, Literaturkritiker, Herausgeber Das bewegte Leben Edgar Allan Poes, der sich nicht zuletzt aufgrund seines Alkoholkonsums viele Feinde machte, wurde maßgeblich durch das Zerwürfnis mit seinem Pflegevater John Allan und den frühen Tod mehrerer von ihm verehrter Frauen geprägt. Da es ihm nicht gelang, mit der geliebten Lyrik seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und er es als Soldat und an der Offiziersakademie West Point nicht lange aushielt, verlegte er sich zunehmend auf die Veröffentlichung kurzer Geschichten für verschiedene Zeitschriften. Als deren de facto-Herausgeber gelang es ihm, durch seine geistreichen Rezensionen und Essays die Auflagen in die Höhe schnellen zu lassen. Der erhoffte materielle Wohlstand für sich und seine Ehefrau Virginia, die er noch vor ihrem 14. Geburtstag heiratete, und deren früher Tod ihn in eine tiefe Krise stürzte, blieb ihm jedoch versagt. Trotz des eher schmalen, wenngleich sehr vielseitigen Oeuvres, das der im Alter von nur vierzig Jahren unter mysteriösen Umständen Verstorbene zurückließ, ist Poe heute einer der bekanntesten amerikanischen Autoren des 19. Jahrhunderts. Während seine ersten Gedichte noch von seiner Bewunderung für die englischen Romantiker zeugen, wird sein 1831 erschienener Gedichtband als herausragende Leistung gewürdigt. Zum allseits gern gesehenen Salonlöwen wurde er durch sein berühmtes Gedicht Der Rabe (The Raven, 1845). Auch in Gedichten wie Ulalume (1847) setzte er seine bahnbrechenden ästhetischen Überzeugungen um, die er in vielen Rezensionen und Essays formulierte. Poe verlangte von Gedichten, daß sie kurz, musikalisch, melancholisch und auf einen einheitlichen Effekt ("unity of effect") hin ausgerichtet sein sollten. Vor allem aber befreite er beeinflußt durch Samuel Taylor Coleridge - literarische Werke aus den damals betonten didaktischen Zusammenhängen und wies sogar die Auffassung zurück, daß sie die Gefühle des Autors ausdrücken sollten. Nachhaltige Wirkung zeitigten vor allem die Kurzgeschichten Poes. Nicht nur legte er eine erste einflußreiche Definition dieser im Entstehen begriffenen Gattung vor, er trug auch maßgeblich zur Ausprägung der Schauergeschichte bei. In Kurzgeschichten wie Das verräterische Herz (1843), Das Fass Amontillado (1846) und Der Untergang des Hauses Usher (1839) erzählen egomanische und oft am Rande des Wahnsinns stehende männliche Charaktere schaurige Geschichten, die teilweise von Poes Vorliebe für übernatürliche Geschehnisse zeugen, teilweise als die Ausgeburt der Psyche der unzuverlässigen Erzähler
gedeutet werden können. Diese Geschichten lassen sich nach herkömmlichen moralischen Maßstäben nicht beurteilen und sind für vielfältige Deutungen offen; einige von ihnen werden sogar als Satiren auf Schauergeschichten eingeschätzt. Aufgrund seiner Erzählung Der Doppelmord in der Rue Morgue (1841) gilt Poe zudem als Erfinder der Detektivgeschichte (vgl. auch Kriminalroman). Durch die Einführung des exzentrischen Detektivs und dessen schlichten Helfers, des locked room-Rätsels, der unschuldig Verdächtigten und der abschließenden langen Erläuterung des Detektivs beeinflußte er auch in Geschichten wie Der entwendete Brief (1845) und Der Goldkäfer (1843) die Entwicklung dieser Gattung maßgeblich. Obgleich Poes große Wirkung auf die Ausprägung neuer ästhetischer Werte sowie die Entwicklung der Kurzgeschichte und von Schauer- und Detektiverzählungen nicht bestritten wird, genoß er zu Lebzeiten einen eher zweifelhaften Ruhm. Daß er teilweise mit den unzuverlässigen, obsessiven Erzählern seiner Geschichten gleichgesetzt wurde und als "mad, bad and dangerous to know" galt, mag mit dafür verantwortlich sein, daß Poes Werk in der Forschung immer noch keine ungeteilte Anerkennung findet. Im Gegensatz dazu zeigten sich berühmte Schriftsteller wie Alfred Lord Tennyson, Oscar Wilde, Charles Baudelaire, Stéphane Mallarmé und T.S. Eliot tief beeindruckt von diesem ebenso originellen wie einflußreichen und populären Autor, dessen unkonventionelle Werke auch heute noch nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben. ©VN
Wichtige Schriften: ❍
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Edgar Allan Poe: Collected Writings of Edgar Allan Poe, hg. v. B.R. Pollin Boston 1981ff. Edgar Allan Poe: Sämtliche Werke. Essen 2004.
Sekundärliteratur: 1. H. Bloom (Hg.): Edgar Allan Poe: Modern Critical Views, New York 1985. 2. F.H. Link: Edgar Allan Poe, Frankfurt/M. 1968. 3. A.H. Quinn: Edgar Allan Poe: A Critical Biography, Baltimore/Maryland 1998 [11941].
Gottfried Keller
* 19.7.1819, Zürich † 15.7.1890 Zürich schweizer Dichter und Schriftsteller, hoher Staatsbeamter Zwei Ereignisse in Kindheit und Jugend wurden für Kellers Leben und Schreiben bestimmend: der Tod des Vaters in seinem 5. und die wegen eines jugendlichen Streichs erlittene Verbannung von der Schule im 15. Lebensjahr. Von nun an schlug sich Keller Jahre hindurch unstet durch das Leben, versuchte sich als Landschaftsmaler in München, trieb autodidaktische Studien, mischte sich seit Mitte der vierziger Jahre in die politischen Kämpfe seines Landes ein und schrieb Gedichte im Blick auf eine neue liberalere Gesellschaftsordnung. Dank eines Stipendiums seiner Vaterstadt Zürich konnte er 1848 ein Studium in Heidelberg aufnehmen, wo er Bekanntschaft mit dem Philosophen Ludwig Feuerbach schloß. Dessen religionsskeptische, konsequent auf das Diesseits ausgerichtete Lehre beeinflußte ihn tief und prägte sein Denken und Dichten, insbesondere seine Lyrik. Von 1850 bis 1855 hielt er sich in Berlin auf, wo er seinen Bildungsund Künstlerroman Der grüne Heinrich verfaßte (1854-55). Das Werk spiegelt die zentralen Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend wider; es deckt psychologisch subtil die tiefreichende Mutterbindung eines des Vaters beraubten Sohns auf und es zeigt zugleich, wie dieser Sohn vergeblich dem väterlichen Ideal bürgerlicher Tüchtigkeit und beruflicher Solidität nachstrebt: ein Grund für seine wachsenden Schuldgefühle gegenüber der Mutter. Die ihm von der patriarchalischen Sozialordnung und von den Wechselfällen des freien Markts zugefügten Leiden vermehren seine gesellschaftliche Isolation und lassen sein Künstlertum scheitern. So ist dieser Bildungsroman ein Desillusionsroman geworden, der mit seinen ausgedehnten Reflexionen über Familie, Gesellschaft und Werkschaft ausgesprochen moderne Züge enthält. Auf moderne Einsichten weist auch das Liebesleben des Helden voraus: seine Spaltung in einen sinnlichen Eros einerseits und einen zärtlichen Eros andererseits beschreibt nach den Worten Sigmund Freuds ein "allgemeines Kulturleiden". Keller hat der ersten Fassung seines Romans eine zweite folgen lassen (1879-80), die maßvoller und milder als die ursprüngliche ist. Sie verwandelt den in Selbstverzweiflung und Tod endenden Lebensweg des Helden in eine distanzierte Lebensbejahung. Keller konnte diese versöhnliche Perspektive erst aus dem eigenen Lebensgang heraus entfalten. Er hatte 1861, als Zweiundvierzigjähriger, seine literarisch produktive, aber materiell elende Bohème in ein verantwortungsreiches Amt eingebunden: das des ersten Staatsschreibers seines Kantons (Zürich). Von diesem bürgerlichen Überlebenswillen zeugt seine zweite Romanfassung, freilich um den Preis einer Verringerung der ursprünglichen dramatischen Fallhöhe zwischen poetischer Illusion und entzaubernder
Desillusion. In seiner Berliner Zeit hatte Keller verschiedene novellistische Pläne verfolgt, doch nur den 1. Band des Erzählzyklus Die Leute von Seldwyla (1856) hatte er damals - zeitgleich zum Grünen Heinrich - vollenden und damit seinen schriftstellerischen Ruhm begründen können. Während seiner fünfzehnjährigen Amtszeit (1861-1876) hatte er lediglich den 2. Band der Leute von Seldwyla und den Erzählzyklus Sieben Legenden ausgearbeitet und abgeschlossen: ironischweltliche Gegenstücke zu frommen Wunder- und Märtyrergeschichten, virtuose Parodien christlichen Weltverzichts und schwerelos-heitere Zeugnisse der Diesseitsliebe Kellers im Geiste der Philosophie Feuerbachs. - Nach seinem Abschied vom Amt kann Keller seine Züricher Novellen zu Ende schreiben (1876/77). Nur die populärste von ihnen, Das Fähnlein der Sieben Aufrechten, lag seit 1861 fertig vor. Der Erzählzyklus konfrontiert drei bürgerliche Typen miteinander: den zweckrationalen Wirtschafts- und Dutzendbürger, den asozialen Unbürger und das wahre 'Original' - ein Muster an Tüchtigkeit und bürgerlichem Gemeinsinn, aber zugleich sozialer und ästhetischer Nonkonformist. - Einen weiteren Erzählzyklus legte Keller 1881 mit dem Sinngedicht vor. Rahmen- und Binnenhandlung verweisen kunstvoll aufeinander und behaupten mit ihren mannigfaltigen Korrespondenzen und Spiegelungen eine einzigartige Stellung im Kreis deutschsprachiger Erzählzyklen. Auch ihre Thematik ist überlebenskräftig bis heute geblieben: Begegnung der Geschlechter im Zeichen der Partnerwahl und Infragestellung der überlieferten Geschlechter-Rollen. - Dagegen erreicht Kellers letztes Werk, der Kaufmannsroman Martin Salander (1886), mit seiner resignativen Grundstimmung und der Ohnmacht seiner Bildungsmoral nicht die Höhe der voraufgegangenen Erzählprosa. Zu Unrecht ist über Kellers epischem Werk sein lyrisches vernachlässigt worden. Mit den Neuren Gedichten (1851 und 1854) hat Keller einen eigenen lyrischen Ton gefunden. Der Diesseits-Emphase im Geiste Feuerbachs ordnet er kontrapunktisch das Eingedenken des Todes zu, der intensiven Nähe zur Natur die kontemplative Reflexion, dem leidenschaftlichen Gefühlsausdruck die illusionslose Nachdenklichkeit. Eine seltene Vielfalt humoristischer und zeitkritischer Töne sorgt für Variabilität und Spannungsreichtum; geistvolle Pointen verbürgen das vergnügte Aufmerken des Lesers. Unscheinbare Dingen des Alltags entfalten durch eine vertiefte Innenansicht eine ungeahnte Poesie. Unter den Lyrikern des Poetischen Realismus behauptet Keller neben Theodor Storm und C.F. Meyer einen oberen Rang (vgl. auch seine Gesammelten Gedichte von 1883). © GS
Wichtige Schriften:
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Der grüne Heinrich. Roman (1854/55, 2. Fassung 1879/80) Die Leute von Seldwyla. Novellen (1856) Neue Gedichte (1851/54)
Sekundärliteratur: 1. A. Muschg: Gottfried Keller, München 1977. 2. G. Kaiser: Gottfried Keller. Eine Einführung, München u.a, 1985. 3. G. Sautermeister: G. Keller. Der grüne Heinrich. Gesellschaftsroman, Seelendrama, Romankunst, in: H. Denkler (Hg.): Romane und Erzählungen des bürgerlichen Realismus, Stuttgart 1980, S.80-123.
JGottfried Keller Die Leute von Seldwyla. Erzählungen (1856; 2. vermehrte Auflage 1874)
Zeitgleich zu seinem großen Bildungsroman Der grüne Heinrich hat Gottfried Keller nach eigenem Bekunden "ein Bändchen Novellen [...] ganz spielend" niedergeschrieben (1856). Sein variationsreiches Spiel mit den verschiedensten Erzählformen und pittoresken Figuren basiert jedoch auf einer stringenten Struktur: jener "inneren Nothwendigkeit", die das Schicksal seiner "Leute von Seldwyla" bestimmt und die novellistische Handlung durchdringt. Diese innere Notwendigkeit kann ein materielles und ein psychologisches Gepräge haben, also eine Lebensgeschichte aus wirtschaftlichen und aus seelischen Motiven begründen. Erstere zeugen von der neuen Rolle der Ökonomie, die Keller nach der Auflösung der Zunftschranken und der Ausbreitung des freien Markts im Leben seiner Zeitgenossen wahrnahm; mit seiner seelenkundigen Erzählweise hingegen überschreitet er das zeitgeschichtliche Wissen vom Menschen und nimmt Einsichten der modernen Psychologie vorweg. Die nuanciert begründete Entwicklung seiner Figuren und der Handlung verlieh der bislang geringgeschätzten Novelle eine neue ästhetische Qualität und nobilitierte sie zur "Schwester des Dramas" (Theodor Storm). Kellers berühmteste Erzählung Romeo und Julia auf dem Dorfe handelt von zwei Liebenden, den Kindern ehemals begüterter und geachteter Bauern, die aus privatwirtschaftlichen Interessen ihre friedliche Nachbarschaft ruiniert und sich wechselseitig an den Bettelstab gebracht haben. Ihren Kindern ist die einstige Nachbarsidylle auf dem reichen "Grund und Boden" als Erfahrung lebendig geblieben. Sie wachsen zu Jugendlichen heran, die in ihrer erwachenden Liebe sich wechselseitig in Besitz nehmen und so das ökonomische Besitztum von einst verinnerlichen, also die vergangene Glückserfahrung mitten im materiellen Elend wiederherstellen. So unbeirrt verfolgt Keller die Tiefenwirkung kindlicher Erlebnisse bis ins Erwachsenenalter, die Prägekraft ökonomischer Lebensbedingungen bis in die Seelensprache! Für das unveräußerliche 'Eigentum' der Liebe nehmen die beiden jungen Menschen am Ende selbst den Tod in Kauf. Den streng motivierten Schicksalsweg bis in den Tod verwandelt Keller in anderen Erzählungen in ein glückliches oder versöhnliches Ende. Voraussetzung dafür ist jedoch, daß die Individuen sich ihren prägenden Kindheitserfahrungen bewußt stellen und sich dadurch von ihnen befreien (Kleider machen Leute, Dietegen) oder daß sie in tiefster Selbstentfremdung gerade noch rechtzeitig zu ihrem besseren Ich finden (Pankraz, der Schmoller, Das verlorene Lachen). Die beinah tödliche Selbstgefährdung der Menschen ist bei Keller eine Bedingung für ihre Selbsterhellung und Selbstheilung - das verleiht seinen Erzählungen ihre
innere Polarität und ihren dramatischen Spannungsbogen. Erst mit ihrer Selbstfindung werden die Figuren reif für eine neue Bindung an die Gesellschaft, in deren Dienst sie treten. Für den versöhnlichen Ausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft bürgt der vielbeschworene Humor Kellers, der die Gegensätze und extremen Spannungen in soziale Lebensoffenheit umwandelt. Wo dieser Ausgleich nicht zustande kommt, treten andere Erzählstile in den Vordergrund: unpathetische Anteilnahme in Romeo und Julia; Posse, Parodie und moralischer Ernst in den Mißbrauchten Liebesbriefen oder im Schmied seines Glückes; Satire, Groteske und Tragikomödie in den Drei gerechten Kammachern. Gerade die KoExistenz und das Ineinanderspiel so verschiedenartiger Stile erzeugen die unvergleichliche Spannweite und den Nuancenreichtum von Kellers Novellistik. Ebenso bedeutsam sind die kunstvollen Interventionen des Erzählers: seine schwerelos erzeugten Kontraste und Perspektivwechsel, beispielsweise der unauffällige Wechsel von verblendeter Figuren-Optik zur illusionslosen Erzählersicht oder die unbewußte Selbstenthüllung der Figuren durch diskrete Erzähler-Lenkung. Im Bunde mit der Kunst der Situationskomik und einem blühenden Einfallsreichtum macht Kellers Erzählerfigur die Lektüre der Leute von Seldwyla zum subtilen Stilvergnügen. © GS
Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen. Mit einem Nachwort und bibliographischen Hinweisen von Gert Sautermeister. München 1972 u.ö.
Johanna Spyri: Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880) Heidi kann brauchen, was es gelernt hat (1881)
Johanna Spyri (1827-1901) debütierte als religiöse Schriftstellerin mit pietistischem Hintergrund. Anders als ihre etwa 50 anderen Erzählungen "für Kinder und auch für Solche, die Kinder lieb haben", so die Zueignung aller ihrer Schriften – blieben die beiden Heidi-Bände bis heute Erfolgsbücher; sie sind in 35 Sprachen übersetzt, ihre Gesamtauflage liegt bei 50 Millionen, es existieren allein bis jetzt 15 Verfilmungen. Die Geschichte vom 'Naturkind' Heidi, das in den Schweizer Bergen unter der Obhut des Alm-Öhi frei und ungebunden aufwächst; dann in die große Stadt Frankfurt verschickt wird, wo es als Gespielin der kranken Klara lesen, schreiben und beten lernt, aber vor Heimweh sterbenskrank wird, bis man es wieder in die Berge zurückläßt, wo alles wieder ins Lot kommt und sogar Klara wieder gesund wird, ist nur vordergründig eine Geschichte von belohntem Glauben und Gottvertrauen. Auch im Genre des Heimatromans, der in der Antihaltung zur Großstadt die Irritation über die Modernisierungsschocks der Industrialisierung verarbeitet, geht sie so einfach nicht auf. Zwar wird eine ideale Bergwelt als Hort einfachen, tätigen Lebens im Einklang mit der Natur und den Zyklen der Jahreszeiten entworfen, dem die krankmachende, durch zivilisatorische Regeln erstarrte Großstadt schroff entgegengestellt wird. Doch geschieht das weniger in Übereinstimmung mit dem zeittypischen Kulturpessimismus als vielmehr als gebündeltes Ergebnis pietistischer Introspektion und regressiver Wunscherfüllungsphantasien: Bergwelt und Großstadt fungieren hier auch als Orte einer Seelengeschichte, in der die kleine Heldin aus ihrer 'paradiesischen' Übereinstimmung mit der Natur vertrieben wird, Verlorenheit in der Ferne erfährt, um schließlich unverändert, aber um die Erfahrung der Entfremdung reicher, wieder in den früheren Gnadenzustand zurückzukehren. Anders als es der überdeutliche intertextuelle Bezug zu Goethes Wilhelm Meister nahelegt, ist Heidis Lehr- und Wanderjahre kein Entwicklungs- oder Bildungsroman, sondern eher der Roman einer verweigerten Zivilisierung, eine Verteidigung der Kindheit nicht nur im sentimentalen Erwachsenenblick. Wie viele andere Helden von Kinderbuchklassikern führt Heidi längst eine vom Buchtext unabhängige Existenz. In den vielfältigen medialen Verwertungen und ihren Anschlußprodukten ist ihre Entwicklung zum prominentesten Schweizer Markenartikel und globalisierten Medienstar gut zu verfolgen. ©HeK
Sekundärliteratur: 1. G. Escher / M.L. Strauss: Johanna Spyri - verklärt, vergessen, neu entdeckt, Zürich 2001. 2. B. Hurrelmann: Mignons erlöste Schwester. Johanna Spyris Heidi. In: Bettina Hurrelmann (Hg.): Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, Frankfurt/M. 1995, S. 191-215. 3. E. Halter(Hg.): Heidi. Karrieren einer Figur, Zürich 2001.
Mark Twain (d.i.Samuel Langhorne Clemens)
* 30.11.1835 Florida/ Missouri † 21.04.1910 Redding/ Connecticut Journalist, Vortragskünstler, Schriftsteller, Verleger Mit Henry James gehört Mark Twain zu den Hauptvertretern des Realismus in der nordamerikanischen Erzählliteratur, die sich seit dem Bürgerkrieg entwickelt hatte. Schon in seinen frühen reiseliterarischen und jounalistischen Schriften (Durch Dick und Dünn, 1872; später Leben auf dem Mississippi, 1890) dann vor allem in den Kurzgeschichten der Sammlung Der berühmte Springfrosch aus der Grafschaft Calaveras und andere Geschichten (1867) erprobt er die Mittel der Satire an regionalen und realistischen Themen. Mit Vorliebe kontrastierte er stilistisch gehobene mit umgangssprachlichen oder dialektalen Redeweisen und entwickelt seinen noch von Ernest Hemingway als Vorbild betrachteten knappen und präzisen Prosastil. Auch in seinen Romanen zeigt er sich als literarischer Experimentator; er ironisiert und parodiert gängige Themen und Motive (Ein Yankee aus Connecticut am Hofe König Arthurs;1889), konzentriert sich auf oftmals komische oder auch rührende Episoden und Details und entwirft neue literarische Muster. So etabliert er mit Tom Sawyers Abenteuer (1876), einem Roman der erinnerten Kindheit, den folgenreichen Typus des good bad boy mit seinen abenteuerlichen Ausbruchsversuchen aus der reglementierten Dorfgesellschaft und am Ende doch mit der Anpassung an die Normen seiner weißen Herkunftschicht. Die Fortsetzung Huckleberry Finns Abenteuer (1884) fokussiert dann ganz auf den jugendlichen Außenseiter Huck Finn, der als Erzähler in der Ich-Form von seinen Irrfahrten auf dem Mississippi berichtet, die er gemeinsam mit dem entlaufenen Sklaven Jim unternimmt. In seiner eigenwilligen, von Slang durchsetzten komischen Erzählweise entsteht ein breites Sozialpanorama der amerikanischen Südstaaten der Vorbürgerkriegszeit (des "alten Südens", von dem die Figuren William Faulkners nur noch nostalgisch träumen) - in dem aber, wenn man Mark Twain glaubt, Gaunerei, Menschenjagd und Lynchjustiz an der Tagesordnung sind. Wie sein Vorgänger erwies sich auch dieser Roman nicht nur als nachahmenswertes Modell für realistische Jugendbücher, sondern avancierte zu einem Schlüsselwerk der amerikanischen Erzählliteratur und einem Klassiker der Weltliteratur. ©HeK
Wichtige Schriften: ❍
Mark Twain: Gesammelte Werke in 5 Bänden. Hg. v. K. J. Popp, München 1965-1967 (Nachdruck 1985).
Sekundärliteratur: 1. Th. Ayck: Mark Twain, Reinbek 1986. 2. S. Becker: "I have no love for children's literature" Mark Twains "Tom Sawyer" und "Huckleberry Finn", in: B. Hurrelmann (Hg.): Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, Frankfurt/M. 1995, S. 319-338.
Sir Arthur Conan Doyle
* 22.05.1859, Edinburgh † 07.07.1930, Crowborough (Sussex) englischer Schriftsteller und Historiker Nach einem Medizinstudium und einigen Jahren wenig erfolgreicher Praxis als Arzt etablierte Doyle sich 1891 als freier Schriftsteller. Sein Werk umfaßt historische Romane, Lyrik und Theaterstücke, humoristische Erzählungen, militärhistorische Studien, politische Abhandlungen und Schriften über Spiritualismus. Seinen Platz in der Weltliteratur verdankt Doyle jedoch allein den vier längeren Erzählungen und fünf Sammelbänden mit Kurzgeschichten, in denen der Privatdetektiv Sherlock Holmes rätselhafte Fälle aufklärt. Während die beiden ersten Erzählungen, A Study in Scarlet (1887) und The Sign of Four (1888), kaum beachtet wurden, brachte 1891 die Veröffentlichung der ersten Kurzgeschichten im Strand Magazine (gesammelt als The Adventures of Sherlock Holmes, 1892) schnelle Popularität und finanziellen Erfolg. Mit seiner Detektivfigur hatte Doyle schon nach Meinung der Zeitgenossen "die einzige große populäre Legendenfigur... in der modernen Welt geschaffen" (G.K. Chesterton). Bis heute ist der Mythos Sherlock Holmes in zahllosen Ausgaben, Übersetzungen, Parodien, Verfilmungen sowie in einer kaum überschaubaren, pseudoseriösen "Forschung" lebendig. Doyles Leistung liegt in der Perfektionierung, Standardisierung und Popularisierung des schon von E. A. Poe geprägten Schemas der Detektivgeschichte. Doyle übernimmt die Konstellation vom genial-exentrischem Detektiv und biederem Helfer (Dr. Watson), der als Erzähler fungiert. Eigenständig und für das zeitgenössische Publikum attraktiv war Holmes' Methode der Aufdeckung, eine Kombination aus naturwissenschaftlich exaktem Vorgehen und streng logischen Schlußfolgerungen. Unbestreitbar ist Doyles Talent in der Personenzeichnung, für spannende Problemstellungen sowie einen sparsamen, dabei aber natürlich wirkenden Erzählbericht und Dialog. Die Weiterentwicklung zum komplexen Kriminalroman, wie ihn später Agatha Christie perfektionierte, gelang Doyle nur ansatzweise, am überzeugendsten in The Hound of the Baskervilles (1902). ©JV
Wichtige Schriften: Sämtliche Romane und Stories, 9 Bände, Zürich 1978ff. (Haffmanns) Sekundärliteratur: 1. P. Haining (Hg.): A Sherlock Holmes Compendium, London 1980. 2. H. F. Keating: Sherlock Holmes: The Man and His World, London 1979.
O. Henry (William Sidney Porter)
* 11.09. 1862, Greensboro, North Carolina † 05.06. 1910, New York Der Arztsohn William Porter führte vierzig Jahre lang ein ziemlich wechselvolles Leben als Apothekenhelfer, Cowboy, Bankangestellter, sowie als Herausgeber, Redakteur und einziger Autor einer (erfolglosen) humoristischen Zeitschrift mit dem (zukunftsträchtigen) Titel The Rolling Stone. In seiner Bank der Unterschlagung beschuldigt (es scheint sich aber eher um Schlamperei gehandelt zu haben), floh er nach Honduras, kehrte jedoch wegen der schweren Erkrankung seiner Ehefrau zurück und verbüßte in Staatsgefängnis von Ohio drei von fünf Jahren Freiheitsstrafe. In den acht Jahren von seiner Entlassung (1902) bis zu seinem Tod (1910) wurde er unter dem Pseudonym O. Henry schnell zum populärsten Kurzgeschichtenautor und zum bestverdienenden Schriftsteller der USA. Porter/Henry hatte also eine gute Portion american way of life und american dream selbst mitbekommen: Lebensstoff, aus dem er nun Literatur machte. Sein Markenzeichen und Erfolgsgenre waren die melancholisch, sentimental oder humoristisch gestimmten Kurzgeschichten, die von den boomenden Zeitungen und Magazinen, besonders in der Metropole New York, mit Vorliebe gedruckt wurden. Vor allem seine Geschichten im New Yorker Sunday Magazine wurden von Woche zu Woche mit Spannung erwartet und machten ihn zu einem im Wortsinn populären, also "volkstümlichen" Autor. Und natürlich verkörpert er auch einen eigenständigen, sehr amerikanischen Autorentypus, der nicht von der traditionell literarischen Bildung, sondern vom Alltag und seiner Beobachtung (man könnte auch sagen: vom Journalismus) aus zur Literatur kommt. In seinen Figuren mit ihren Sorgen und Wünschen, in seinen Schauplätzen und Milieus, in den zahllosen Facetten einer dynamischen und konfliktreichen Gesellschaft, finden sich seine Leser und Leserinnen wieder. Auf der anderen Seite versteht es O. Henry durch seine narrative Technik, besonders durch überraschende Wendungen und Erzählperspektiven, durch Ironie und Humor, und durch das notorische Happy End, den Alltag zu "verzaubern" und sein Publikum für einen Augenblick aus dem alltäglichen Grau in die bunte Welt der Phantasie und des Märchens zu entführen. Wie wir alle wissen, hat ein Kritiker gesagt, dass es im Leben nicht so zugeht wie in seinen Geschichten, aber wir wünschen uns, dass es bisweilen so zuginge. Die Sammelbände, die er für den Buchmarkt zusammenstellte, insbesondere die mit dem Titel Vier Millionen (Four Million, 1906) - gemeint ist: es gibt vier
Millionen Menschen in New York, von denen und für die hier erzählt wird - sind in den USA bis heute populärer Lesestoff und nationale Klassiker geblieben, haben aber auch die Weiterentwicklung der Kurzgeschichte bei Sherwood Anderson, Ernest Hemingway und anderen beeinflusst. © JZ
Wichtige Schriften: ❍
Meistererzählungen, Zürich 1991.
Sekundärliteratur: 1. E. Current-Garcia: O. Henry (William Sidney Porter), Twayne´s United States Authors Series, New Haven, Conn. 1965.
Raymond Chandler
* 23.07.1888, Chicago † 26.03.1959, La Jolla (Kalifornien) amerikanischer Schriftsteller Nach einer britischen Erziehung und Berufstätigkeit in Journalismus, Bankwesen und Ölgeschäft kam Chandler erst fast fünfzigjährig zum Schreiben. Neben lyrischen Versuchen verfaßte er, bewußt an die Tradition der "harten" amerikanischen Detektivgeschichten anknüpfend, zunächst Erzählungen für Black Mask und andere Magazine. Hier entwickelte er schon die Handlung der sieben Kriminalromane, die ihm Erfolg und den Rang des (neben Dashiell Hammett) bedeutendsten amerikanischen Kriminalautors eintrugen: The Big Sleep (1939); Farewell, My Lovely (1940); The High Window (1942); The Lady in the Lake (1943); The Little Sister (1949); The Long Goodbye (1954); Playback (1958). Chandlers Ehrgeiz war es, die populär-schematische Form der Detektivgeschichte literarisch zu einem realistisch-kritischen "Charakterroman" zu veredeln. Held und Ich-Erzähler aller Romane ist der unbestechliche und meist enthaltsame Privatdetektiv Philip Marlowe, einer der großen literarischen Helden des 20. Jahrhunderts. Unverkennbar ist Chandlers Erzählstil: effektvolle Dialogisierung, eine Figuren- und Erzählersprache von lakonischem Witz, überraschende Metaphern und symbolische Beschreibungen, bisweilen allerdings auch ein Hang zum Melodramatischen. Die Handlungskonstruktion seiner z.T. ausladenden Romane ist locker gefügt, nicht immer ganz plausibel. Deutlich ist die Auflösung der traditionellen Rätselstruktur des Detektivromans: Marlowes Ermittlungen mit Logik, Fäusten und Pistole führen ihn regelmäßig zu weiteren, bislang verborgenen Verbrechen und Zusammenhängen; häufig werden so (in sozialkritischer Perspektive) Gewalt, Mord und illegale Bereicherung als Quelle von Wohlstand und Luxus in Südkalifornien deutlich, wo alle Romane Chandlers angesiedelt sind: Hier knüpfte Chandlers "Nachfolger" Ross Macdonald an. ©JV
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
The Big Sleep (1939) Farewell, My Lovely (1940) The High Window (1942)
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The Lady in the Lake (1943) The Little Sister (1949) The Long Goodbye (1954) Playback (1958)
Sekundärliteratur: 1. Th. Degering: Raymond Chandler, Hamburg 1989. 2. F. Jameson: Über Raymond Chandler, in: J. Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, München 1998. 3. F. MacShane: The Life of Raymond Chandler, Dutton, New York 1976.
Dashiell Hammett
* 27.05.1894, St. Mary's Country (Maryland) † 10.01.1961, New York amerikanischer Schriftsteller Hammett war acht Jahre lang Detektiv bei der berühmten Pinkerton-Agentur, ehe er 1922, gesundheitlich angegriffen, Kurzgeschichten für Black Mask und andere populäre Kriminalmagazine zu schreiben begann. Zwischen 1929 und 1934 verfaßte er fünf Romane, die ihn als Begründer der sogenannten hard boiled school, einer aktionsbetonten, eigenständig amerikanischen Traditionslinie des Detektivromans ausweisen. Bis heute gilt er mit Raymond Chandler als der bedeutendste amerikanische Kriminalschriftsteller. Nach langjähriger Tätigkeit als Drehbuchautor in Hollywood wurde er wegen seines sozialistischen Engagements vom Ausschuß für "unamerikanische Aktivitäten" verfolgt, 1951 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und fast aller Publikationsmöglichkeiten beraubt. Große Publikumserfolge, auch in verschiedenen Filmversionen, waren besonders sein dritter und sein letzter Roman, The Maltese Falcon (1930) und The Thin Man (1934), eine zynische Kriminalgroteske. Deutlicher noch wird die realistische und moralische Wendung, die Hammett dem Detektivroman gab, in seinem Erstling Red Harvest (1929) oder seinem eigenen Lieblingswerk The Glass Key (1931). Dort zeichnet Hammett eine Sumpf- oder Dschungelwelt mörderischer Konkurrenz und totaler Korruption, wo Geschäfte, Politik und Gewaltkriminalität fast identisch geworden sind. Gegen diese scheinbare Übermacht des Bösen bewähren sich Hammetts tough guys, wortkarg-handfeste Einzelgänger wie der Privatdetektiv Sam Spade in The Maltese Falcon oder der Spieler Ned Beaumont in The Glass Key. Der Gefahr einer romantischen Heroisierung dieser Einzelgänger wirkt in erster Linie Hammetts lakonisch verknappte Erzählsprache entgegen, die nicht nur für die amerikanische Kriminalliteratur stilprägend wurde, sondern auch von zeitgenössischen Erzählern, etwa von Ernest Hemingway, aufgenommen wurde. © JV Wichtige Schriften: ❍
Werkausgabe in 10 Bänden, Zürich 1974ff. (Diogenes)
Sekundärliteratur: 1. F.A. Kittler: Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen. "Der Malteser Falke"
von Dashiell Hammett, in: J. Vogt (Hg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, München 1998. 2. W.F. Nolan: Dashiell Hammett. Eine Biographie, Frankfurt/M. 1985. 3. P. Wolfe: Beams Falling: The Art of Dashiell Hammett, Bowling Green 1980.
William Faulkner
* 25.09. 1897 New Albany, Mississippi † 06.07. 1962 Oxford, Mississippi Amerikanischer Erzähler und Drehbuchautor William Cuthbert Faulkner war der bedeutendste Romanautor des 20. Jahrhunderts in den USA. Aus einer prominenten Südstaatenfamilie stammend, lebte er bis zu seinem Tode in Oxford, Mississippi, und machte Geschichte und Gegenwart des heimatlichen Südens zum unverwechselbaren Stoff seines Erzählens. Der unaufhaltsame Niedergang einer traditionell-aristokratischen Lebensform bildet dabei den Hintergrund für zahlreiche Familien- und Einzelschicksale, in denen Sexualität, Gewalt und Wahn häufig eine zentrale Rolle spielen. Solche Tabu-Themen wirkten oft provokativ, ja skandalös und verzögerten die Anerkennung seines literarischen Ranges vor allem in den USA selbst. So wurde Faulkner aus finanziellen Motiven auch als Drehbuchautor tätig; unter anderen zeichnete er für Howard Hawks' Klassiker Haben und Nichthaben nach Ernest Hemingway oder Der Tiefe Schlaf nach Raymond Chandler verantwortlich. Faulkners Romanwerk ist einerseits stark regionalistisch geprägt; sein eigenes Lebensumfeld hat er als fiktives Yoknapatawpha-County mit der Stadt Jefferson (d.i. Oxford, Miss.) zum Schauplatz mehrerer Romane gemacht. Zugleich aber nahm er Schreibweisen und formale Merkmale der zeitgenössischen europäischen Moderne (James Joyce, Virginia Woolf) wie die mehrfache Personenperspektive oder die Technik des Bewusstseinsstroms auf und adaptierte sie für seine Themen und Absichten. So prägte er eine eigenständig amerikanische Variante der Klassischen Moderne aus, die mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1950 auch internationale Anerkennung fand (nur die Lokalpresse in Mississippi sah ihn unbeirrt als Verfasser von "Rinnsteinliteratur"!). Aus Faulkners umfangreichem, qualitativ ungleichmäßigem Erzählwerk ragen nach allgemeiner Einschätzung Romane wie Schall und Wahn (1929) und Licht im August (1932) hervor. Schall und Wahn erzählt die Verfallsgeschichte der Familie Compson aus Jefferson, zu deren Stammvätern ein Gouverneur und ein General gehörten, im Zeitraum von 1898 bis 1928. Die Familienchronik wird aber kunstvoll fragmentiert und aus den Perspektiven von vier Geschwistern neu zusammengesetzt, wodurch deren problematische Beziehungen zueinander und die Gründe für ihr jeweiliges Scheitern deutlich werden. Insgesamt versucht Faulkner, durch seine experimentelle Erzählform die Vielschichtigkeit menschlicher Erfahrung und die Widersprüche zwischenmenschlicher Beziehungen anschaulich zu machen.
In ähnlicher Weise werden auch in Licht im August verschiedene Handlungsstränge und individuelle Schicksale miteinander verknüpft. Und auch hier gelingt es fast keiner Figur, den Zwängen der Konvention, einer schuldhaften Vergangenheit, religiösem oder rassischem Fanatismus und offener Gewalt zu entkommen und eine eigene Lebensperspektive zu gewinnen. Besonders die Vergangenheit, die individuelle und familiäre, aber auch die historische Vergangenheit der Südstaaten, d.h. die Niederlage im Bürgerkrieg und die nachträgliche Verherrlichung des Südens, ist im Bewusstsein der Figuren präsent und lähmt sie im Sinne von Faulkners oft zitiertem Satz: "Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen." Ungeachtet seiner spezifisch "südstaatlichen" Stofflichkeit wirkte Faulkner stark auf die europäische Literatur zurück, so etwa auf den französischen Existentialismus (Jean Paul Sartre). In Deutschland nannte Gottfried Benn die deutsche Übersetzung von Licht im August (1935) seinen "letzten stärksten Eindruck vor dem Kriege"; nach 1949 wurde sie mehrfach neu aufgelegt. Faulkners typische Verknüpfung von existentiellen Themen und modernistischen Techniken begründete seinen starken Einfluss auf die Neuorientierung der deutschen Nachkriegsliteratur in West (z.B. Alfred Andersch) und Ost (z.B. Uwe Johnson). ©JZ
Wichtige Schriften: ❍
William Faulkner: Werke in Einzelausgaben, Zürich 1972ff.
Sekundärliteratur: 1. M. Christadler: Natur und Geschichte im Werk von William Faulkner, Heidelberg 1962. 2. P. Nicolaisen: William Faulkner, Reinbek 1981. 3. S. B. Oates: William Faulkner. Sein Leben. Sein Werk, Zürich 1997.
Ernest Hemingway
* 21.07. 1899, Oak Park, Illinois † 02.07. 1961, Ketchum, Idaho amerikanischer Schriftsteller und Journalist Hemingway gilt neben William Faulkner als der bekannteste und einflussreichste amerikanische Prosaschriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Achtzehnjähriger begann er seine Laufbahn als Lokalreporter beim Kansas City; 1918 wurde er als Rot-Kreuz-Sanitäter in Italien verwundet. - Dreierlei aus dieser frühen Zeit bleibt charakteristisch: eine aus der Reportage entwickelte Erzählsprache, die europäischen Schauplätze und die Faszination durch Gewalt, Krieg und Tod. Für den Toronto Star und andere Zeitungen berichtete er in den zwanziger Jahren aus Europa (in Triberg im Schwarzwald feiert man noch heute regelmäßige Hemingway-Tage, obwohl er die Schwarzwälderinnen "plump" fand). Fasziniert war er hingegen von Spanien und seiner archaischen Seite: machismo, Stierkampf und Spanischer Bürgerkrieg sind wichtige Themen seiner späteren Bücher. 1925 schrieb er die ersten der short stories, die seinen Ruhm begründeten, später zusammengefasst in der Sammlung The first Forty-Nine (dt. 49 Stories, 1950). Im knappen Format der Kurzgeschichte entwickelte er eine unverwechselbare Schreibweise, zu der eine minimale Handlung mit existentiellem Tiefgang gehört, eine distanzierte, oft neutrale Erzählperspektive und die extrem verknappte Sprache (deren Aussparungen und Leerstellen allerdings Raum für Emotionen lässt). Die Nähe zu den Kriminalromanen eines Dashiell Hammett (oder auch zur Malerei eines Edward Hopper) ist dabei deutlich. Den Mythos Hemingway, in dem Geschriebenes und (biographisch) Übertriebenes oft schwer zu trennen sind, haben vor allem seine Romane befördert, in denen Liebe, Krieg und Tod in immer neuen Verwicklungen dominieren. Nach dem Erfolg von Fiesta (The Sun Also Rises, 1926) sowie den Romanen Tod am Nachmittag (Death in the Afternoon, 1932) und Haben und Nichthaben (To Have and Have Not, 1937) ist der Spanische Bürgerkriegsroman Wem die Stunde schlägt (For Whom the Bell Tolls, 1940) in seiner effektvollen Mischung von politischem Engagement, Abenteurertum und romantischer Liebe sicherlich eine Gipfelleistung. Wie die meisten anderen Romane wurde er erfolgreich verfilmt (mit Ingrid Bergmann und Gary Cooper). Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er wieder als Reporter unterwegs war, lebte Hemingway in Kuba. Seine dort angesiedelte Erzählung Der alte Mann und das Meer (1952) wurde in der Begründung für den Literatur-Nobelpreis 1954 besonders hervorgehoben; mit ihrer Nähe zum Existentialismus (Jean-Paul Sartre, Albert
Camus) entsprach sie zweifellos auch einer europäischen Zeitstimmung. 1961 hat sich Hemingway, schwer alkoholkrank und psychisch zerrüttet, mit seinem Jagdgewehr erschossen (wie schon sein Vater). Heute wird seine schriftstellerische Leistung distanziert gesehen. Sein Blick auf Europa führt nicht wie bei anderen amerikanischen Autoren zu einer interkulturellen Auseinandersetzung; für ihn ist Europa ein riesiger Abenteuerspielplatz, Paris ein Fest fürs Leben (A Moveable Feast, Erinnerungen, veröffentlicht 1965), Besonders stolz war Hemingway darauf, im Jahr 1944 die Bar im Pariser Hotel Ritz "befreit" zu haben). Sein Männlichkeitskult ist nicht nur für Feministinnen schwer erträglich; seine Gewalt- und Todesfixierung grenzt ans Pathologische. Sein lakonischer Stil wirkte zweifellos innovativ, rutschte aber leicht in die Selbstparodie ab (in den USA sind heute noch ParodieWettbewerbe beliebt, deren Resultate dann unter dem Titel "The Best of Bad Hemingway" veröffentlicht werden). In Deutschland war Hemingway einer der markantesten Lektüre-Eindrücke in den Jahren nach 1945. An seinem Stil, besonders in den short stories, der sich leicht auf die Kriegs- und Nachkriegsthematik umsetzen ließ, orientierte sich in der so genannten "Stunde Null" eine ganze Autorengeneration der Nachkriegsliteratur (Wolfgang Koeppen, Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre u.v.a.). © JZ
Wichtige Schriften: ❍
Sämtliche Erzählungen, Reinbek 1971; Gesammelte Werke, Reinbek 1977.
Sekundärliteratur: 1. C. Baker: Ernest Hemingway. Der Schriftsteller und sein Werk, 2. rev. Ausg., Reinbek 1967. 2. G.A. Sastre: Ernest Hemingway, Reinbek 1961.
Peter Bichsel
* 24. 03. 1935, Luzern Primarlehrer, freier Schriftsteller Peter Bichsel war Lehrer, bevor er sich als Schriftsteller selbständig machte. Das Schulmeisterliche gehört zu seinen Texten, doch ist der moralisierende Ton mit den Jahren eher einem melancholischen gewichen, der sich durch all seine schriftstellerischen Arbeiten: Geschichten, Romane, Kurzprosa, Reden, Feuilletons und Zeitungskolumnen zieht. Bichsel bezeichnet sich als "Wenigschreiber" - zu Recht, ließ er doch seine Leser nach den ersten Erfolgen Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen (1964) und den Kindergeschichten (1969) ganze 15 Jahre auf eine weitere literarische Veröffentlichung warten, bis 1985 der Erzählband Der Busant erschien. Bichsels Spezialität ist die Kleinform: die (Kurz-)Geschichte oder Prosa-Miniatur (wie in dem Band Zur Stadt Paris, 1991), der Essay, die Kolumne. Er bewundert an Johann Peter Hebel dessen "epische Breite in der Kürze". Wen wundert es, dass auch seine Romane kurz sind wie Die Jahreszeiten (1967) oder Cherubin Hammer und Cherubin Hammer (1999). Die Kritik hat den letzteren als "Roman in Pillenform" bezeichnet, der "vier Biographien im Streichholzformat" enthalte. Wer über die Sprache, das Schreiben und das Erzählen reflektiert, weil er dies als Bedingung des Erzählens auffasst, riskiert zugleich die (eigene) Produktivität. Nachdenken steht dem Vielschreiben im Wege. Es behindert übrigens auch die Entschlussfähigkeit von Bichsels Figuren. Sie verharren in Gedankenspielen, die um Ideen und Wünsche kreisen (San Salvador), vermeiden aber Entschlüsse, oder ziehen Konsequenzen, die die Gesetze der Wirklichkeit außer Kraft setzen (Kindergeschichten). Das Risiko ist, dass "die eigene Sprache am Leben hindert". Bichsel hat das Phänomen an Hebel, an Robert Walser und Franz Kafka festgestellt - und wohl auch an sich selbst. Diese Hemmung, das Leben (oder den Traum) zu wagen, legt einen Schleier von Resignation über Bichsels Figuren, die zumeist in Verweigerung enden, selbst wenn ihr Nein sanft ist und kaum Spuren hinterlässt. Doch fehlt Bichsels Schreiben der Bezug zur Realität keineswegs. Es gibt kaum einen Schweizer Autor der Gegenwart, der mit dem eigenen Land härter ins Gericht geht als Bichsel, der als jüngerer Freund Max Frischs auch dessen Engagement teilt. Für beide verbindet sich das Schreiben mit der Verpflichtung zur Gesellschaftskritik, eine Auffassung, mit der sie nicht allein stehen: "Und wenn es überhaupt so etwas gibt wie etwas Gemeinsames in der
Deutschschweizer Literatur, dann ist es die Selbstverständlichkeit des politischen Engagements", schreibt Bichsel in einem Aufsatz. Wenn er seine politischen Frustrationen zum Maß der Dinge macht, klingt seine Polemik manchmal selbstgerecht. Dahinter aber steckt das Leiden des Schweizers an dem, was er liebt und was ihn maßlos enttäuscht: dass der Traum vom Liberalismus sich in der Schweiz nicht realisiert hat und alles "unverändert" geblieben ist, dass die "Relativität der Relationen" die Gesellschaft dominiert. In den literarischen Texten macht es Bichsel seinen Lesern nicht leicht: hinter der scheinbaren Einfachheit verstecken sich genau durchdachte Strategien, die Ambivalenzen und Doppeldeutigkeiten erzeugen. Der sparsame Umgang mit Wörtern komprimiert schwierige existentielle Vorgänge, manchmal ganze Biographien, auf wenige Sätze. Umgekehrt erweist sich das Gewöhnliche und Unbedeutende, das er aufgreift, als pädagogisches Mittel, den Leser durch Identifikation in die Geschichte einzubeziehen. Bichsel selbst hat seine Vorstellungen vom Schreiben in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen dargelegt. Bekannt ist sein Diktum: "Mich interessiert, was auf dem Papier geschieht". Ausgehend von diesem Vorgang entwickelt er seine Poetik des Erzählens und des Lesens und definiert die Geschichte als einen Begriff einer Lebenspraxis, die so unentbehrlich sei wie das Lesen: "Solange es noch Geschichten gibt, solange gibt es noch Möglichkeiten". Geschichten sind ein Kommunikationsmittel und sollen etwas ausrichten. Lesen ist damit, ebenso wie Literatur, eine politisch-gesellschaftskritische Arbeit. Bichsel selbst ist ein großer Leser. Sein Horror: Literaturprofessoren, die sich über Literatur verbreiten, aber selbst nichts (mehr) lesen. ©BS
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍ ❍
Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen (1964) Kindergeschichten (1969) Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1982) Zur Stadt Paris. Geschichten (1991)
Sekundärliteratur: 1. H. Bänziger: Peter Bichsel. Weg und Werk, Bern 1998. 2. H. Hoven (Hg.): Peter Bichsel. Auskunft für Leser, Darmstadt 1984. 3. H. Hoven (Hg.): Peter Bichsel. Texte, Daten, Bilder, Hamburg 1991.
Anna Seghers: Zwei Denkmäler
In der Emigration begann ich eine Erzählung, die der Krieg unterbrochen hat. Ihr Anfang ist mir noch in Erinnerung. Nicht Wort für Wort, aber dem Sinn nach. Was mich damals erregt hat, geht mir auch heute noch nicht aus dem Kopf. Ich erinnere mich an eine Erinnerung. In meiner Heimat, in Mainz am Rhein, gab es zwei Denkmäler, die ich niemals vergessen konnte, in Freude und Angst auf Schiffen, in fernen Städten. Eins ist der Dom. - Wie ich als Schulkind zu meinem Erstaunen sah, ist er auf Pfeilern gebaut, die tief in die Erde hineingehen - damals kam es mir vor, beinahe so tief, wie der Dom hochragt. Ihre Risse sind auszementiert worden, sagt man, in vergangener Zeit, da, wo das Grundwasser Unheil stiftete. Ich weiß nicht, ob es stimmt, was uns ein Lehrer erzählte: Die romanischen und gotischen Pfeiler seien haltbarer als die jüngeren. Dieser Dom über der Rheinebene wäre mir in all seiner Macht und Größe im Gedächtnis geblieben, wenn ich ihn auch nie wiedergesehen hätte. Aber ebensowenig kann ich ein anderes Denkmal in meiner Heimatstadt vergessen. Es bestand nur aus einem einzigen flachen Stein, den man in das Pflaster einer Straße gesetzt hat. Hieß die Straße Bonifatiusstraße? Hieß sie Frauenlobstraße? Das weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß der Stein zum Gedächtnis einer Frau eingefügt wurde, die im Ersten Weltkrieg durch Bombensplitter umkam, als sie Milch für ihr Kind holen wollte. Wenn ich mich recht erinnere, war sie die Frau des jüdischen Weinhändlers Eppstein. - Menschenfresserisch, grausam war der Erste Weltkrieg, man begann aber erst an seinem Ende mit Luftangriffen auf Städte und Menschen. Darum hat man zum Gedächtnis der Frau den Stein gesetzt, flach wie das Pflaster, und ihren Namen eingraviert. Der Dom hat die Luftangriffe des Zweiten Weltkriegs irgendwie überstanden, wie auch die Stadt zerstört worden ist. Er ragt über Fluß und Ebene. Ob der kleine flache Gedenkstein noch da ist, das weiß ich nicht. Bei meinen Besuchen hab ich ihn nicht mehr gefunden. In der Erzählung, die ich vor dem Zweiten Weltkrieg zu schreiben begann und im Krieg verlor, ist die Rede von dem Kind, dem die Mutter Milch holen wollte, aber nicht heimbringen konnte. Ich hatte die Absicht, in dem Buch zu erzählen, was aus diesem Mädchen geworden ist.
Anna Seghers: Zwei Denkmäler, in: Deutsche Literatur der sechziger Jahre. Ein Lesebuch, hg. v. Klaus Wagenbach, Neuausgabe Berlin 1996; Vom Nullpunkt zur Wende. Deutschsprachige Literatur 1945-1990, hg. v. Hannes Krauss, Essen
1994, Anna Seghers: Die Heimkehr des verlorenen Volkes. Ein Lesebuch, hg. von Sonja Hilzinger, München 1996.
Zwei Denkmaeler. Aus einer unveroeffentlichten Novelle "Mariage Blanc" von Anna Seghers Zwei Denkmaeler meiner Vaterstadt, die vielleicht bis auf den Grund zerstoert worden ist, sind so fest in mein Gedaechtnis gepflanzt, dass sie keiner Zerstoerung anheimfallen koennen. Eines dieser Denkmaeler ist der Dom, den man ueber die weite Ebene sieht und von den fernen Huegeln auf dem rechten Rheinufer. Seine Pfaehle reichen bergwerkartig beinahe so tief in die Erde wie seine Tuerme in den Himmel. Das ganze Volk hat an dem Dom laenger als ein Jahrtausend gebaut. Unter seinem Gewoelbe liegen die Erzbischoefe, die des Heiligen Roemischen Reiches Deutscher Nation Erzkanzler waren. Das andere Denkmal ist so unansehnlich, so klein und so flach, dass es vielleicht noch unbeschaedigt in dem Schutt und Geroell versteckt ist. Es war einem nur aufgefallen, wenn man genau gewusst hatte, wo es lag. Es war ein blank gehobelter, mit einer Jahreszahl versehener Stein, der sich kaum von den uebrigen Pflastersteinen abhob. Der Magistrat der Stadt hatte diesen Stein im ersten Weltkrieg in die stille Strasse einfuegen lassen zur Erinnerung an eine Frau, die an dieser Stelle von einer Bombe erschlagen worden war. Die Frau war trotz des Fliegeralarms ueber die Strasse gelaufen, um Milch fuer ihre Kinder zu holen. Ihr Tod war damals noch etwas so sonderbares und seltenes, dass die Stadtverwaltung beschloss, ihn fuer immer den Mitbuergern einzupraegen. Sie war die Frau des juedischen Weinhaendlers Gebhardt.
Demokratische Post. Organo de los Alemanes Demócratos de México y CentroAmérica, 1. August 1945, S. 8.
Trochäus
Der Trochäus (− ∪) ist ein Versfuß, der aus einer Hebung (−) und einer Senkung (∪) besteht, wie beispielsweise das Wort Lager: die erste Silbe ist betont, die zweite Silbe hingegen unbetont. ©TvH
Kreuzreim
Beim Kreuzreim reimt sich ein Vers jeweils mit dem übernächsten Vers. Man kennzeichnet die Reimpaare mit kleinen Buchstaben, in diesem Fall also: abab. ©TvH
Jacob Grimm: Über den Werth der ungenauen Wissenschaften (1846)
Der Vortrag auf dem ersten Germanistentag in Frankfurt wurde später in Jacob Grimms Kleinere Schriften aufgenommen (daraus die folgenden Zitate). Die Begriffe "genaue" und "ungenaue" Wissenschaften sind Eindeutschungen der (französischen) Termini "exakt" und "inexakt". Seine Thesen reagieren auf die steigende gesellschaftliche Bedeutung und Anerkennung der Naturwissenschaften, die er mit einer gewissen Sorge sieht, weil diese nur einen Teil des 'Menschseins' erfassen könnten. Auch wenn Konkurrenzdenken mitspielt (und die Methoden und Erkenntnisziele der Naturwissenschaften nie so begrenzt waren wie hier behauptet) so hat Grimm die Probleme einer Vorherrschaft von Naturwissenschaft und Technik doch deutlich gesehen. Anders als der philologische Positivismus, der sich durch methodische Angleichung an die Naturwissenschaften (Fakten, Kausalität!) behaupten wollte, steht Grimm zu den methodischen Besonderheiten der "ungenauen" (d.h. historischen und hermeneutischen) Wissenschaften (später wird man mit Wilhelm Dilthey von Geisteswissenschaften sprechen). Diese besonderen Methoden sind mit den besonderen Objekten und Erkenntniszielen notwendig gegeben und nicht veränderbar. Das impliziert auch die Rechtfertigung von Fehlern und Langsamkeit der Erkenntnis. Die häufigen Bezüge auf das 'Deutsche', 'Vaterland' und 'Heimat' dürfen nicht als chauvinistische Parolen missverstanden werden: In Grimms historischer Situation war das Insistieren auf einem vereinigten deutschen 'Vaterland' angesichts der feudalistischen Kleinstaaterei liberal und fortschrittlich. Zweitens geht es Grimm eben speziell um die Wissenschaft von deutscher Sprache, Literatur und Geschichte. Einen entsprechenden Anspruch räumte er natürlich auch anderen Nationalphilologien ein. zu den genauen [Wissenschaften] werden bekanntlich die gerechnet, welche alle sätze haarscharf beweisen: mathematik, chemie, physik, alle deren versuche ohne solche schärfe gar nicht fruchten. zu den ungenauen wissenschaften hingegen gehören gerade die, denen wir [gemeint: die Teilnehmer des Germanistentages] uns hingegeben haben und die sich in ihrer praxis so versteigen dürfen, dasz ihre fehler und schwächen möglicherweise lange zeit gelitten werden bis sie in stetem fortschritt aus fehlern und mängeln immer reiner hervorgehen: geschichte, sprachforschung, selbst poesie ist eine allerdings ungenaue wissenschaft. ebenso wenig anspruch auf volle genauigkeit hat das der geschichte anheim gefallene recht und ein urteil der jury ist kein rechenexempel, sondern nur schlichter menschenverstand, dem auch irrthum mit unterläuft. [...]
Die genauen wissenschaften [...] lösen die einfachsten urstoffe auf und setzen sie neu zusammen. alle hebel und erfindungen, die das menschengeschlecht erstaunen, sind von ihnen allein ausgegangen, und weil ihre anwendungen schnell gemeingut werden, so haben sie für den groszen haufen den gröszten reiz. viel sanfter und zugleich viel träger ziehen die ungenauen wissenschaften nach sich [= verschaffen sich Anhänger], es gehört schon eine seltnere vorrichtung einzelner naturen dazu, um sie an die deutsche geschichte oder an die untersuchung deutscher sprache innig zu fesseln, während wir die hörsäle der chemiker und physiker wimmeln sehen von einer dem zeitgeist unbewust huldigenden jugend. und doch stehn die philologen [= Sprach- und Literaturwissenschaftler] und historiker an fülle der combination den gewandtesten naturforschern nicht eben nach; ich finde sogar, dasz sie den schwierigsten wagstücken mutvoll entgegengehen, dasz umgekehrt die excacte wissenschaft einer reihe von rätseln ausweicht, deren lösung noch gar nicht herangekommen ist. [...] der chemische tiegel siedet unter jedem feuer und die neu entdeckte mit kaltem lateinischen namen getaufte pflanze wird auf gleicher klimatischer höhe überall erwartet; wir aber freuen uns eines verschollenen ausgegrabenen deutschen worts mehr als des fremden, weil wir es unserem land wieder aneignen können [...]. die genauen wissenschaften reichen über die ganze erde und kommen auch den auswärtigen gelehrten zu gute, sie ergreifen aber nicht die herzen.[...] unsere naturforscher zählen die blätter und staubfäden zahlloser kräuter, ordnen unendliche reihen aller geschöpfe; was ist aber erhebender und betrachtungswerther als das wunder der schöpfung, das über die ganze erde sich ausbreitende menschengeschlecht, das eine überreiche geschichte seiner entfaltung und seiner thaten aufzuweisen hat? darf die gliederung seiner gleichfalls in unendlichen zungen und mundarten gespaltenen rede nicht noch mit stärkerer gewalt an uns treten und unsere wissenschaft auffordern als die glänzendste entdeckung neuer arten von [...] bacillarien? das menschliche in sprache, dichtung, recht und geschichte steht uns näher zu herzen als tiere, pflanzen und elemente; mit denselben waffen siegt das nationale über das fremde. ©RB
Jacob Grimm: Über den Werth der ungenauen Wissenschaften. In: J.G.: Kleinere Schriften. Bd. VII. Berlin 1884 (Nachdruck Hildesheim 1966), S. 563-566.
Erlebte Rede/ narrated monologue
Die Form der 'stummen indirekten Rede' als Pendant zur 'indirekten Rede' (vgl. Formen der Redewiedergabe) ist äußerst schwerfällig und wird deswegen nur sehr selten angewandt. Die Aufgabe, Gedanken und Gefühle in einem Modus mitzuteilen, in dem Figur und Erzähler gleichzeitig präsent sind, wird in der Regel von der Technik der 'erlebten Rede'übernommen. Dieser 'narrated monologue', wie Cohn sagt, wurde vor allem im 19. Jahrhundert von Autoren wie Gustave Flaubert und Henry James entwickelt. Die 'erlebte Rede' ist ein zwischen mehreren Polen oszillierendes Phänomen: Zunächst überlagern sich in ihr die Stimme der Figur und die des Erzählers. Cohn zufolge werden in ihr die Gedanken einer Figur wiedergegeben, wobei der Erzählrahmen (vor allem in Form des Erzähltempus Imperfekt) aber beibehalten wird. Die 'erlebte Rede' kann entweder stark an den Erzähler gebunden bleiben oder sich mehr an der Figurensicht orientieren. Häufig kann man in der Erzählerstimme Spuren der Ausdrucksweise wiedererkennen, die dem Wortschatz oder der Stilschicht der Figur angehören. Erkennbar wird 'erlebte Rede' oft, wenn in der vermeintlichen Erzählerrede deiktische (zeigende) Zeit- oder Raumadverbien vorkommen, die sich auf den Figurenstandpunkt beziehen (wie 'morgen, hier, nun'). Weitere Anzeichen für 'erlebte Rede' sind affektive und argumentative Interjektionen ('gewiß, jedoch'), emphatische Ausrufe ('ach!') und rhetorische Fragen. Mit der 'direkten Rede' hat sie die Wortstellung gemeinsam, mit der 'indirekten Rede' die Verschiebung des Aussagesubjekts in die dritte Person. Schließlich ist nicht immer klar, ob es sich um ausgesprochene oder stumme Gedanken handelt. Meistens wird die 'erlebte Rede' vom Erzähler situativ eingebettet, auch wenn eine ausdrückliche Ankündigung in Form eines 'verbum credendi' fehlt. Da der Erzähler bei der 'erlebten Rede' weniger stark vermittelnd eingreift, ist sie in einem höheren Maße 'mimesisfähig' (vgl. Mimesis) als der Gedankenbericht. Allerdings ist sie weniger 'mimesisfähig' als die verschiedenen Formen der 'stummen direkten Rede' bzw. des Inneren Monologs. © SR
Sekundärliteratur: 1. D. Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton, N.J. 1978. 2. M. Martinez / M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München
1999. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, Opladen 1998, Kap.4.
Gedankenbericht/psycho-narration
Wie das Wort ´Gedankenbericht´ schon sagt, teilt der Erzähler bei dieser Form der Bewußtseinswiedergabe die Gedanken einer Figur mit, die von ihr selbst nicht laut ausgesprochen werden. Wie im ´Redebericht´ behält er sich dabei Raffungen und Kommentare vor. Insofern erscheint diese Technik ziemlich traditionell. Dorrit Cohn weitet mit ihrem Begriff der ´psycho-narration´ das Feld auch auf die Wiedergabe von Nicht-Sprachlichem, also der Gefühle aus. Ihr zufolge ist ´psycho-narration´ der "einzige Weg überhaupt [...], der in die vorsprachlichen Tiefen des Bewußtseins reicht". (Cohn, S.61) Der Erzähler versprachlicht hier also, was eine Figur nicht artikulieren will oder kann, was in ihrem Bewußtsein nur als bildhafter Eindruck wie z.B. ein Traum oder eine Vision existiert. Das gilt zunehmend auch für die moderne Erzählliteratur. In der genannten Funktion wird die ´psycho-narration´ z.B. in zentralen Episoden mehrerer Romane von Thomas Mann (Die Buddenbrooks, Der Zauberberg, Doktor Faustus) verwendet. © SR
Sekundärliteratur: 1. D. Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction, Princeton, N.J. 1978. 2. M. Martinez und M. Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, Opladen 1998, Kap.4.
Historisches Drama
Historische Dramen bildeten bis zur Einführung des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert die vorherrschende Form der Dramatik, d.h. hauptsächlich historische Sujets wurden dramatisch erarbeitet. Für die Subart des historischen Dramas – die historische Tragödie – gab es eigentlich nur zwei wichtige Themen: die Darstellung eines historischen Ereignisses, z.B. in den historischen Dramen Shakespeares, und den Mythos. In den historischen Dramen ging es dann um das Verhältnis des Einzelnen zur Geschichte, um die Auswirkungen der Handlungen des Individuums und um die grundlegende Problematik, inwiefern der Protagonist frei ist in seinen Entscheidungen oder ob er an ein höheres Prinzip gebunden ist. Beispiele für historische Dramen sind: Schillers Don Carlos (1782/87), Goethes Götz (1773) und Kleists Die Hermannsschlacht (1808). Die historischen Dramen Brechts werden unter dem Begriff Historiendrama subsumiert, denn in ihnen geht es nicht um das konkrete historische Ereignis, das dargestellt wird, sondern vielmehr um die politisch-didaktische Lehre, die der historische Fall paradigmatisch vermittelt. ©rein
Walther von der Vogelweide * um 1170 † um 1230 deutscher Dichter Walther ist der bekannteste und vielseitigste deutsche Lyrikautor des Mittelalters. Unter seinem Namen sind Lieder und Sangsprüche (zusammen ca. 570 Strophen) und ein Leich (nicht strophisch gegliederte lyrische Großform) überliefert. Ob alle in den Handschriften ihm zugeschriebenen Texte auch wirklich von ihm stammen, lässt sich wegen der Besonderheiten der mittelalterlichen Überlieferung nicht mehr feststellen; im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Dichtern ist er jedenfalls sehr breit überliefert, was auf große Bekanntheit schließen lässt. Die meisten Lieder Walthers gehören zur Liebeslyrik (sog. 'Minnesang'), einige haben religiöse, speziell auch Kreuzzugsthematik. In der Lieddichtung ist er durch Traditionen geprägt, variiert sie aber häufig und zeigt innovativen Umgang mit traditionellen Themen. Im Bereich des Sangspruchs, der im Gegensatz zum Lied lehrhafte und agitatorische Tendenzen hat, gibt es für ihn fast keine Vorbilder; erst durch ihn tritt der Sangspruch als zweite Form mittelalterlicher deutscher Lyrik quantitativ und qualitativ gleichberechtigt neben den Minnesang. Walthers Sangsprüche enthalten oft Stellungnahmen politischer Art, die aber nicht seiner eigenen Meinung entsprechen müssen, da er als Auftragsdichter für verschiedene Höfe tätig war; dadurch lassen sich auch gegensätzliche Positionen in verschiedenen Sprüchen erklären. Die Walther-Rezeption vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hat dies verkannt - oder verkennen wollen und Walther zu einem frühen Vertreter eines deutschen Nationalgedankens stilisiert (Walther als 'Sänger des Reiches'). Wie bei vielen mittelalterlichen Autoren ist über die Biografie Walthers wenig bekannt. Der Beiname ('von der Vogelweide') kann auf einen Ort verweisen oder dichterischer Beiname sein; Geburts- und Sterbejahr sind nicht überliefert; eine annähernde Chronologie liefern nur Hinweise in Walthers eigenen Texten und Erwähnungen bei Zeitgenossen. Als frühester Ort dichterischer Tätigkeit Walthers lässt sich der Wiener Herzogshof ausmachen (um 1190). Nach dem Tod Herzog Friedrichs (April 1198) führte Walther eine Art Wanderleben und war für verschiedene Auftraggeber tätig. Einziges sicheres urkundliches Zeugnis für seine Existenz ist ein Beleg in den Rechnungsbüchern des Bischofs von Passau, Wolfgers von Erla, über die Zahlung von Geld für einen Pelzrock. In Kontakt stand Walther zu folgenden Fürsten: König Philipp von Schwaben, Kaiser Otto IV., Kaiser Friedrich II., Landgraf Hermann von Thüringen, Markgraf Dietrich von Meißen, Herzog Bernhard von Kärnten, einem Grafen von Katzenellenbogen (im Taunus), Herzog Ludwig I. von Bayern. In einem Spruch aus der Zeit um
1220 bedankt Walther sich bei Friedrich II. für ein Lehen. Um 1230 wird er gestorben sein; dass er in Würzburg begraben liegt, wie eine alte Tradition behauptet, lässt sich nicht belegen - aber am sog. 'Grab Walthers' im Lusamgarten des Würzburger Neustifts legen Touristen immer noch gerne Blumen nieder. © RB
Ausgaben ❍
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Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche, 14. Aufl. d. Ausg. K. Lachmanns, hg. v. C. Cormeau, Berlin 1996. Walther von der Vogelweide: Werke, Gesamtausgabe, Bd. 1: Spruchlyrik. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsc,. Hg. u. übers. v. G. Schweikle, Stuttgart 1994.
Sekundärliteratur: 1. T. Bein: Walther von der Vogelweide, Stuttgart 1997. 2. M.G. Scholz: Walther von der Vogelweide, Stuttgart u.a. 1999.
Vorlesung lat. lectio, engl. lecture; frz. cours, conférence
Die Vorlesung als akademische Lehrform hat eine lange Tradition und variable Gestalt. Allgemein gilt: Für die Vorlesung versammeln sich der Gelehrte und die Studenten regelmäßig zu einer bestimmten Zeit an einem festgelegten Ort, um ein bestimmtes Teilgebiet des Fachs zu behandeln. In antiken Philosophenschulen und mittelalterlichen Universitäten las der Gelehrte vor einer Anzahl Studenten einen kanonischen Text vor und legte ihn zugleich kommentierend aus (praelectio). Mitunter diktiert der Lehrende einen Text Wort für Wort (bis in die heutige Zeit!?). Etwa seit 1700 gibt es deutschsprachige Vorlesungen. Ziel der modernen Vorlesung seit Anfang des 19. Jahrhunderts soll nicht 'reine' Wissensvermittlung sein – dazu eignet sich eher das Lehrbuch –, sondern die Einführung in wissenschaftliches Denken unter Rückgriff auf rhetorische und didaktische Hilfsmittel. Die Vorlesung soll anhand von Fachkenntnissen hergebrachte Meinungen der Lernenden problematisieren, kritisches Denken fördern, Grundfragen und Methoden des Fachs vermitteln sowie neue Sichtweisen eröffnen. Empfohlen wird die Form des (zumindest teilweise) freien, lebendigen und zugleich durchgearbeiteten Vortrags, der zu Diskussionen anregen soll. Aus verschiedenen Gründen steht die Vorlesung seit langem unter Rechtfertigungsdruck. Sie gilt manchen als unzeitgemäße, hierarchisch ablaufende Lehrveranstaltung, die Gefahr läuft, das Denken der Studenten u.a. durch die Notwendigkeit zum Mitschreiben zu behindern. Andere befürworten den persönlichen Vortrag und die Mitschrift von Notizen als Konzentrationsübung, die auch die Fähigkeit entwickelt, mitzudenken bzw. zentrale Gedanken zu erkennen und festzuhalten, und aus diesem der Vermittlung von Faktenwissen im Lehrbuch vorzuziehen sei. Heutzutage werden in Vorlesungen neben Schrift und Wort häufig auch weitere Medien 'didaktisch' eingesetzt. Im Zeitalter der Computertechnologie wird die Vorlesung ihre Vorzüge vermehrt unter Beweis stellen müssen, um ihre Rolle als wichtige akademische Lehrform nicht zu verlieren. © pflug Sekundärliteratur: 1. H.-J. Apel: Die Vorlesung! Einführung in eine akademische Lehrform, Köln 1999.
Abhandlung
(1) Im 17. Jahrhundert im deutschsprachigen Drama (z.B. bei Andreas Gryphius) die Bezeichnung für den Akt. (2) Eine streng wissenschaftliche Untersuchung und Darstellung eines Problems oder Gegenstands. Die Abhandlung erlaubt von allen informierenden Textformen den geringsten literarischen Spielraum. Ästhetischen Genuß zieht der Leser allenfalls aus der methodischen Stringenz der Gedankenführung und der Angemessenheit, Bündigkeit und Klarheit der Darstellung. Prinzipiell soll das Vorgehen einer Abhandlung strikt methodisch orientiert sein: systematisch gliedernd, logisch folgernd, lückenlos anhand von Fakten und mit "objektivem" Anspruch argumentierend, sachlich, schmucklos und ironiefrei. Die älteste Form der Abhandlung ist der Traktat. © JK
Sekundärliteratur: 1. H. Belke: Literarische Gebrauchsformen, Düsseldorf 1973.
Porträt
Das Porträt basiert meist auf einem Gespräch, das der Journalist mit der betreffenden Person geführt hat. (Sollte das nicht der Fall sein, die Angaben nur aus Papier- und Online-Archiven zusammengestellt sein, spricht man von einem 'kalt' geschriebenen Porträt.) Es bietet Informationen auf unterhaltsame Weise. Häufig ist eine aktuelle Nachricht der 'Aufhänger' für ein Porträt - etwa wenn die Fußball-Nationalmannschaft einen neuen Trainer, die Partei einen neuen Vorsitzenden bekommt oder ein Schriftsteller einen runden Geburtstag feiert. Das Porträt dokumentiert in der Regel den öffentlichen Lebensweg, aber auch Interessantes aus dem Privatleben einer Person. Die Grenzen zu Reportage, Interview, Bericht, Feature und nicht zuletzt dem literarischen Porträt, ein bis in die antike Literatur zurückreichendes Genre, sind fließend. © SR
Sekundärliteratur: 1. W. von LaRoche: Einführung in den praktischen Journalismus. Mit genauer Beschreibung aller Ausbildungswege. Deutschland, Österreich, Schweiz, München 1999. 2. W. Schneider und P.-J. Raue: Handbuch des Journalismus, Reinbek 1998.
Bericht
Der journalistische Bericht wird oft als der größer geratene Zwillingsbruder der Nachricht bezeichnet. Viele Charakteristika der Nachricht - von der Objektivität über die Anordnung ihrer Elemente mit absteigender Wichtigkeit bis zur Verständlichkeit der Sprache - gelten auch für den Bericht. Aufgrund seines größeren Umfangs können hier allerdings mehr Zusammenhänge dargestellt, Hintergründe und Vorgeschichte der Ereignisse vertieft und interpretiert werden. Die sachliche Analyse steht im Mittelpunkt. Wenn etwa von Konferenzen oder Parteitagen berichtet wird, sollte dem genauen Zitieren besondere Aufmerksamkeit gelten. Immer muß klar sein, wer was gesagt hat. Der richtige Gebrauch des Konjunktivs (und wie man ihn im Interesse der Lesefreundlichkeit geschickt vermeidet) gehören zu den handwerklichen Grundvoraussetzungen. Häufig ist es erforderlich, aus einem breiten Informationsangebot einer Veranstaltung das für den Leser, Zuhörer oder Zuschauer Neue, Wichtige oder Interessante herauszufiltern. Dann gilt im Zweifelsfall: Den Journalisten interessiert das Haar in der Suppe mehr als die Suppe selbst. Wenn der Berichterstatter nicht nur das Ereignis meldet, sondern auch die Atmosphäre und eigene Wahrnehmungen schildert, kann der Bericht in eine Reportage übergehen. © SR Sekundärliteratur: 1. W. von LaRoche: Einführung in den praktischen Journalismus. Mit genauer Beschreibung aller Ausbildungswege. Deutschland, Österreich, Schweiz, München 1999. 2. W. Schneider und P.-J. Raue: Handbuch des Journalismus, Reinbek 1998.
Feature engl. to feature: vorrangig vorstellen, das charakteristische Merkmal zeigen
Im Bereich der Printmedien ist Feature ein schillernder Sammelbegriff für leichte Lesestoffe. Es ist nicht an die Strenge der Nachricht gebunden, hat aber doch zum Ziel, eine Analyse von Tatsachen vielfältig zu illustrieren. Dabei helfen besonders Elemente der Reportage und des Interviews. Um einen an sich undramatischen Stoff zu gestalten, werden atmosphärische Schilderungen und Zitate zurate gezogen. Der Wechsel von Anschauung und Abstraktion, Schilderung und Schlußfolgerung sowie die Ergänzung des Gesehenen durch das Wissen der / des Schreibenden charakterisieren das Feature. In Zeitschriften, die nur wenige sogenannte 'hard news' publizieren, kann man viele Texte als Feature bezeichnen. In Tageszeitungen findet sich diese Form häufig auf den Seiten "Vermischtes". Zu erwähnen ist aber vor allem auch das Rundfunkfeature als eine Variante, die die spezifischen Möglichkeiten des akustischen Mediums zu einer eigenständigen, unterhaltsamen, aber ästhetisch und intellektuell anspruchsvollen Großform ausbaut. © SR
Sekundärliteratur: 1. W. von LaRoche: Einführung in den praktischen Journalismus. Mit genauer Beschreibung aller Ausbildungswege. Deutschland, Österreich, Schweiz, München 1999. 2. W. Schneider und P.-J. Raue: Handbuch des Journalismus, Reinbek 1998. 3. U. Zindel (Hg.): Das Radio-Feature. Ein Werkstattbuch inklusive CD mit Hörbeispielen, Konstanz 1997.
Interview
Häufig ist die Befragung von Personen Bestandteil der journalistischen Recherche und noch kein Interview im eigentlichen Sinne. In seiner Reinform ist das Interview ein ungeschnittenes Live-Gespräch, das vor allem in Rundfunk und Fernsehen verbreitet ist. Die große Leistung dieser weitgehend informativen Darstellungsform besteht in der Authentizität. Wegen seiner Anschaulichkeit und der Benutzung der leserfreundlichen gesprochenen Sprache ist das Interview in den letzten Jahren jedoch auch für die Printmedien attraktiv geworden. Man kann grob unterscheiden zwischen Interviews zur Sache (Informationen und Fakten), Meinungsinterviews (Beurteilung eines Sachverhalts durch den Gesprächspartner) und Interviews zur Person (die einen Menschen durch seine Antworten darstellen). In der Praxis wird es aber immer Überschneidungen geben. Die Schwierigkeit für den Interviewer besteht darin, möglichst umfassend über seinen Gesprächspartner und das verhandelte Problem informiert zu sein, ohne dieses Wissen in den Vordergrund zu rücken und sich statt dessen der Situation und dem Interviewten anzupassen. Der Fragesteller soll kein Kommentator sein, seine eigenen Meinungen interessieren nicht. Er darf sich aber auch nicht auf die Rolle des bloßen Stichwortgebers zurückziehen, sondern muß Nachhaken und Widersprüche in den Antworten aufspüren - selbst auf die Gefahr hin, penetrant zu wirken. Ein Interviewer sollte Suggestivfragen vermeiden und nicht mehrere Fragen auf einmal stellen, da sie seinen Gesprächspartner dazu einladen, die ihm unangenehmen zu übergehen. Das gedruckte Interview kann leicht um bis zu dreißig Prozent vom Original abweichen. Beim Redigieren des Textes können die Chronologie des Gesprächs umgestellt, Wiederholungen getilgt, Fragen reformuliert und Antworten zugespitzt werden - unter der Voraussetzung, daß der Interviewte mit diesen Veränderungen einverstanden ist und sie autorisiert. © SR
Sekundärliteratur: 1. M. Haller: Das Interview. Ein Handbuch für Journalisten, Konstanz 2001. 2. W. von LaRoche: Einführung in den praktischen Journalismus. Mit genauer Beschreibung aller Ausbildungswege. Deutschland, Österreich, Schweiz, München 1999. 3. W. Schneider / P.-J. Raue: Handbuch des Journalismus, Hamburg 1998.
Nachricht
Die Nachricht ist die wichtigste informierende Darstellungsform des Journalismus. Das in ihr berichtete Ereignis muß neu, wichtig oder interessant sein. Neuheit bedeutet, daß das Geschehene vom Alltäglichen abweicht. 'When a dog bites a man, that´s not news', sagt man in Amerika, 'when a man bites a dog, that´s news'. Wichtig ist, was das Publikum direkt betrifft, wonach es sich richten kann oder muß. (Das können Gesetzesänderungen, aber auch Straßensperren sein.) Das Interessante schließlich ist nicht immer wichtig. Es findet dennoch oft in die Nachrichten Eingang, weil es das Bild von der Welt wesentlich mitprägt (Kuriositäten, Verbrechen oder die Heirat eines Filmschauspielers). In der Regel ist die Aktualität des Berichteten (der 'Aufhänger') durch die zeitliche Nähe der Ereignisse gegeben (der vergangene oder gegenwärtige Tag). Eine Nachricht antwortet auf möglichst viele der sogenannten sechs W-Fragen. Das heißt: wer? was? wo? wann? wie? und warum? Zu ihnen gesellt sich die Angabe des Woher: Aus welcher Quelle speist sich die Information? Formal ist die Nachricht hierarchisch, nicht chronologisch aufgebaut. Das Ereignis wird nicht in seiner natürlichen Abfolge nacherzählt, sondern das Wichtigste wird an den Anfang gestellt. Der erste Satz oder Absatz ('Lead') sollte bereits über die 'W´s' Auskunft geben. Dann folgen Mitteilungen und weiterführende Erläuterungen mit abnehmender Wichtigkeit, so daß die Nachricht von ihrem Ende her gekürzt werden kann. Verständlichkeit ist oberstes Gebot dieser Darstellungsform. Die in ihr verwendeten Wörter sollen allgemein bekannt, die Sätze unverschachtelt sein. Eine Nachricht ist weiterhin durch ihre Kürze definiert. Als Faustregel kann gelten: Eine Nachricht von mehr als zwanzig Zeilen ist ein Bericht. Von den stärker unterhaltenden informativen Darstellungsformen wie Reportage, Feature, Porträt und den meinungsbetonten wie Kommentar und Glosse unterscheiden sich Nachricht und Bericht durch ihre strikte Objektivität.
© SR
Sekundärliteratur:
1. W. von LaRoche: Einführung in den praktischen Journalismus. Mit genauer Beschreibung aller Ausbildungswege. Deutschland, Österreich, Schweiz, München 1999. 2. W. Schneider und P.-J. Raue: Handbuch des Journalismus, Reinbek 1998.
Kommentar, journalistischer
Anders als der philologische Kommentar, der biographische Entstehungsbedingungen, sprachliche Besonderheiten und die Überlieferungsgeschichte eines literarischen Textes zum Zweck der Interpretation erläutert, ist der journalistische Kommentar eine klar meinungsäußernde Darstellungsform. Er steht damit im Gegensatz zu den rein informativen journalistischen Genres wie der Nachricht und dem Bericht. In der Regel steht er an prominenter Stelle im Blatt, das heißt auf der ersten Zeitungsseite oder der ersten Seite des jeweiligen Ressorts. Aus dem Kommentar läßt sich die (vor allem politische) Haltung einer Zeitung ablesen. Deswegen wird er meist von leitenden Redakteuren verfaßt. Der sogenannte Leitartikel ist eine Form des Kommentars. (Siehe auch Kolumne.) Kommentiert werden die als besonders wichtig angesehenen ‚hard news' des Tages. Wenn diese Fakten nicht allgemein bekannt sind oder nicht in unmittelbarer Nähe auf der selben Seite stehen, müssen sie geschickt in den Kommentartext eingeflochten werden. Je nach der Verteilung von reiner Meinungsäußerung und sachlicher Argumentation lassen sich verschiedene Typen von Kommentaren unterscheiden (die in der Literatur allerdings unterschiedlich bezeichnet werden). Der Geradeaus-Kommentar (auch Kurzkommentar oder Pamphlet-Kommentar) hält sich nicht mit der Argumentation auf, sondern drückt tadelnd oder lobend in zugespitzter Form eine Meinung aus. Der Pro-und-Contra-Kommentar erörtert die Vielschichtigkeit des Problems, erschöpft sich darin aber nicht, sondern bietet eine Schlußfolgerung an. Der Argumentations-Kommentar (oder EinerseitsAnderseits-Kommentar) erörtert das Für und Wider, setzt sich mit verschiedenen Standpunkten auseinander, ohne unbedingt zu einem Ergebnis zu gelangen. Generell sollte ein Kommentar nicht in der Analyse der Fakten steckenbleiben, sondern sein argumentatives Ziel nie aus den Augen verlieren. Schließlich geht es darum, den Leser von der eigenen Meinung zu überzeugen. Ähnliches gilt für die Glosse. © SR
Sekundärliteratur: 1. W. von LaRoche: Einführung in den praktischen Journalismus. Mit genauer Beschreibung aller Ausbildungswege. Deutschland, Österreich, Schweiz, München 1999. 2. W. Schneider und P.-J. Raue: Handbuch des Journalismus, Reinbek 1998.
Glosse
Wie der Kommentar ist die Glosse eine meinungsäußernde journalistische Darstellungsform. Obwohl sie oft als leicht lesbarer Text daherkommt, muß ihr Autor eine große Sachkenntnis über den zu glossierenden Gegenstand besitzen und über ein sehr gutes Ausdrucksvermögen verfügen. Denn in erster Linie unterscheidet sich die Glosse vom Kommentar nicht im Thema, sondern in ihrer sprachlichen Form. Hier wird polemisch oder satirisch eine (meist) aktuelle Nachricht des Tages aufs Korn genommen. Die Glosse zeichnet sich durch Eleganz in der Formulierung, eine schlagende Beweisführung und überraschende Pointen aus. Eines der beliebtesten Stilmittel von Glossenschreibern ist die Ironie, die freilich auch zur Quelle von Mißverständnissen werden kann. Als beispielhafte Glosse gilt in der bundesdeutschen Zeitungslandschaft im allgemeinen das Streiflicht der Süddeutschen Zeitung. © SR
Sekundärliteratur: 1. W. von LaRoche: Einführung in den praktischen Journalismus. Mit genauer Beschreibung aller Ausbildungswege. Deutschland, Österreich, Schweiz, München 1999. 2. W. Schneider und P.-J. Raue: Handbuch des Journalismus, Reinbek 1998.
Antike Tragödie griech. tragoidia: [Übers. umstritten, in etwa:] "Bocksgesang"
Von der antiken Tragödie sind uns nur noch "Überreste" bekannt: die vielen Theaterruinen rund um das Mittelmeer und eine Hand voll erhaltener Stücke und Fragmente. Aber auch wenn kaum zu überschätzen ist, was über die Jahrtausende verloren gegangen ist, haben wir dennoch einen recht guten Einblick in das damalige Theaterwesen. Denn die antike Tragödie schlechthin - und darin waren sich bereits die Zeitgenossen im Altertum einig - war die Hervorbringung einer relativ kurzen Zeitspanne und eines einzigen Ortes: sie entstand im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. Die drei nach den spärlichen Zeugnissen der Zeitgenossen herausragenden Tragödiendichter, Aischylos, Sophokles und Euripides, wurden rasch kanonisiert und als Vorbilder anerkannt. Mit dem Tod des Sophokles und dem Niedergang Athens nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg endet die Geschichte der antiken Tragödie, zumindest unter produktivem Aspekt, fast schon wieder. Ihre Herkunft hat die Tragödie aus dem Dionysoskult. Zu den beiden großen Feiertagen dieses Gottes wurden im Januar/Februar (sog. Lenäen) und im März/April (sog. Große Dionysien) die Tragödien aufgeführt. Auch wenn die Bindung an den Gott Dionysos bald verloren ging, blieben doch einige Merkmale des Kultus erhalten: Die Verwendung von Masken und Verkleidungen, der Einsatz eines Chores und vor allem die Bedeutung von Musik, Gesang und Tanz. Tragödien waren ursprünglich auf eine einmalige Aufführung angelegt. Sie stellten eine Mischung dar aus gesprochenen Dialogen zwischen den Schauspielern, aber auch zwischen Schauspielern und Chor, aus Rezitativen und Gesangspartien, aber auch aus immer komplexeren Tanz- und Gesangseinlagen. Der Wettbewerbscharakter der Aufführungen stammt ebenfalls aus der kultischen Tradition: Die Dichter traten mit jeweils drei Tragödien und einem Satyrspiel (einer Art heiterem Ausklang nach den sehr emotional wirkenden menschlichen Abgründen der Tragödien) gegeneinander im sogenannten Agon (Wettkampf) an. Neben die kultische Bedeutung der Tragödienaufführung tritt von Anfang an auch ihre "politische" - im ursprünglichen Wortsinn: "die gesamte Polis betreffend". Sie wurde unter der Tyrannenherrschaft eingeführt zu Zwecken der Repräsentation, aber auch der Zentralisierung und Domestizierung des auf Ekstase angelegten und damit bedrohlichen Kultus. Während der Hegemonie Athens im Attischen Seebund dienten die prunkvollen Feierlichkeiten der Machtdemonstration vor den Verbündeten und der Selbstfeier der Metropole. Wichtiger aber war die Tragödie als Produkt der gesamten Polis. Einfache Bürger traten in den Chören auf, einzelne Verwaltungsbezirke (Phylen) stritten miteinander um die Gunst der Preisrichter. Reiche Bürger finanzierten die Aufführungen, und nach den Festspielen wurde vor der Volksversammlung Rechenschaft über Verlauf und Finanzierung abgelegt. Auch die inhaltliche
Gestaltung hatte einen politische Bedeutung, wenn auch keine tagespolitischen Bezüge wie die ebenfalls an den Festtagen aufgeführten Komödien: In den dramatisch vorgeführten Mythen verhandelte die Polis grundlegende Fragen ihres Selbstverständnisses; aktuelle Anspielungen fanden sich seltener. (Im Rom der Kaiserzeit wurde die Darstellung des Tyrannenmordes wegen ihrer politischer Implikationen dagegen verboten.) Die Bedeutung des Dichterworts übertraf im 5. Jh. die der Philosophen. Mit dem Bedeutungsverlust Athens verliert auch die Tragödie ihre herausragende Stellung. Bereits im 4. Jh. gilt sie als bloßes Unterhaltungsstück ohne innere Beteiligung der Zuschauer. Das gilt auch für den spätantiken Hellenismus, an den die lateinisch verfassten Tragödien anschließen. Denn im antiken Rom ist das Theater nur noch Ort der Zerstreuung und der Repräsentation, in der Kaiserzeit werden Tragödien kaum mehr aufgeführt; allenfalls ausgewählte Szenen und "Bravourarien" kommen in einer frühen Variante des Starkults zur Aufführung. Eine gewisse Sonderstellung innerhalb der römische Tragödie nimmt allerdings Lucius Annaeus Seneca ein (ca. 4 v. - 65 n. Chr.), dessen Stücke zwar vermutlich nicht aufgeführt, aber doch eifrig gelesen wurden. Sie dienen in erster Linie der Exposition seiner stoischen Philosophie und ihrer Tugendideale. Deshalb und auch wegen ihrer Betonung der inneren Vorgänge der Figuren werden sie im Mittelalter und in der Renaissance stark rezipiert und stilbildend für die Tragödien der Französischen Klassik wie auch für die "Trauerspiele" des deutschen Barock, insbesondere bei Andreas Gryphius. © JK
Sekundärliteratur: 1. M. Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 1, Stuttgart u.a. 1993. 2. J. Latacz: Einführung in die griechische Tragödie, 2. Aufl., Göttingen 2003. 3. B. Zimmermann: Die griechische Tragödie. Eine Einführung, 2. Aufl., München u.a. 1992.
Satyrspiel
Das Satyrspiel beendete in der Antike den Aufführungszyklus dreier Tragödien. Es war der heitere Kontrast zu der vorangegangenen tragischen Darstellung. Seinen Namen bezieht das Satyrspiel von seinen Protagonisten, dem Chor der Satyrn: Dies waren wild-lüsterne Fruchtbarkeitsdämonen im Gefolge des Dionysos. Schauplatz der Handlung ist meist ein einsamer Wald, die Satyrn sind von ihrem Gott getrennt und müssen auf der Suche nach ihm ein Abenteuer bestehen. Begleitet wurde diese Darstellung meist von übermütigen, komischen Tänzen und obszönen Gesten. Satyrspiele waren bis in die römische Zeit üblich, noch Horaz formuliert in seinem Werk Über die Dichtkunst Regeln für die Herstellung dieser Form der theatralischen Präsentation. ©rein
Sekundärliteratur: 1. B. Seidensticker: Das Satyrspiel, in: G.A. Seeck (Hg.): Das griechische Drama, Darmstadt 1979, S. 204-257.
Passions- und Osterspiele
Die Passions- und Osterspiele versuchten – als geistige Dramen des Mittelalters – die Leidensgeschichte und Auferstehung Christi sinnlich erfahrbar zu machen. Die ältere Form ist das Osterspiel, das im 10. Jahrhundert entstand, am Ostersonntag am Altar gesungen wurde und zunächst noch Osterfeier hieß. Kernszene war der Besuch der drei Frauen am Grab (NT Matth. 28, 5-7, Mark. 16, 6ff. und Luk. 24, 5ff.), dazu kam der Jüngerlauf von Petrus und Johannes zum Grab (NT Joh. 20, 4-8) und die Erscheinungsszene (NT Joh. 20, 11-18). Vom 13. Jahrhundert an wurden auch die Auferstehung, die Wächterszene und die Höllenfahrt Christi szenisch dargestellt. Der Wechsel von der lateinischen zur deutschen Sprache ermöglichte eine Popularisierung. Insgesamt werden die Passionsspiele volkstümlicher, so wird der Jüngerlauf vor allem in Süddeutschland komisch dargestellt. Durch die Aufnahme immer neuer Szenen weitet sich das Osterspiel dann zum mehrtägig dauernden Passionsspiel. Das Passionsspiel erlebt seine Blüte im Spätmittelalter, als es nicht mehr länger in der Kirche, sondern auf dem Marktplatz aufgeführt wird. Es besteht aus relativ selbständigen dramatischen Schöpfungen, die ihren Ausgangspunkt bei der Schöpfungsgeschichte und dem Sündenfall Adams und Evas nehmen und mit dem Jüngsten Gericht enden. Bis zu 1000 Mitwirkende sind keine Seltenheit. Das bekannteste uns überlieferte Passionsspiel ist das Oberammergauer Passionsspiel, das seit 1634 alle 10 Jahre aufgeführt wird. Auslösendes Ereignis war ein Gelübde aus der Zeit der Pest. Dem mittelalterlichen Spiel sieht die heutige Variante jedoch nur noch wenig ähnlich. ©rein
Sekundärliteratur: 1. W.F. Michael: Frühformen der deutschen Bühne, Berlin 1963. 2. N. Jaron / B. Rudin: Das Oberammergauer Passionsspiel, Dortmund 1984.
Naturalistisches Drama
Das naturalistische Drama erlangte in Deutschland in den Jahren zwischen 1890 und 1905/10 Bedeutung. Im Anschluß an naturalistische Tendenzen im europäischen Ausland (Zola, Balzac, Tolstoi, Dostojewski, Strindberg) entwickelte sich eine literarische Strömung, die die möglichst exakte Wiedergabe der Wirklichkeit zum ästhetischen Programm erklärte. Damit reagierten die Künstler nicht nur auf das naturwissenschaftliche Exaktheits-Ideal, sondern auf die Verschärfung der sozialen Frage im ausgehenden 19. Jahrhundert. Ziel war es, einen Beitrag zur Analyse der sozialen Situation der Menschen zu leisten. Dies spiegelt sich auch in der Themenwahl wieder: Ganz oben auf der Liste rangierte die Darstellung des Elends der ausgebeuteten Schichten, z.B. in den Romanen Zolas und Gerhard Hauptmanns berühmten Drama Die Weber (1892). Auch die Doppelmoral der Bürger und die Brüchigkeit tradierter Strukturen (z.B. der Familie) spielten eine große Rolle. Die maßgebliche Leitlinie für den naturalistischen Dramatiker war folglich, einen Stoff aus dem wirklichen Leben zu wählen, eine möglichst detailgetreue Milieuschilderung mit der dazugehörenden höchstmöglichen Sprachtreue zu liefern, und sich dabei auf den Menschen und nicht auf die Fabel zu konzentrieren. Die letzte Forderung führte zu einer geringen Figurenzahl im naturalistischen Drama. Strukturell kennzeichnend sind ausführliche Bühnenanweisungen, auch zum Sprachduktus und zur Sprechgeschwindigkeit der Figuren, die Betonung eines analytischen Handlungsaufbaus und die Wahrung der Einheit von Ort und Zeit. All dies sollte der Wahrscheinlichkeit und damit dem 'Naturalismus' dienen. Trotzdem handelte es sich nicht um Dramen mit einer eindeutig geschlossenen Form, da die Darstellung und Aneinanderreihung von Stimmungsbildern zu einem wichtigen gestalterischen Prinzip wurde. Die philosophische Ausgangsthese des Naturalismus lautet: Der Mensch ist in genetischen, sozialen und historischen Strukturen gefangen, er ist in seinen Handlungen nicht prinzipiell frei, sondern von außen bestimmt. Deswegen gilt es die Strukturen, die zu dieser Bestimmung führen, aufzudecken. Hier zeigt sich der Naturalismus in der Nähe der neuentstehenden Wissenschaft 'Soziologie' (eine Begriffsschöpfung des Positivisten Auguste Comte), die nicht länger über das warum der gesellschaftlichen Zustände spekulieren will, sondern die Analyse des Jetztzustandes in den Vordergrund stellt. Wissen sammeln, um in der Lage zu sein, Veränderungen vorzunehmen, lautet das Motto, an dem sich auch die Literaten orientieren. Die wichtigsten naturalistischen Dramatiker sind Hauptmann, Sudermann, Stavenhagen und Hirschfeld, die Palette der dramatischen Formen reicht von mehraktigen Dramen, Einaktern, über Schauspiele, Tragödien bis zu Tragikomödien und Komödien.
©rein
Lesedrama
Lesedramen sind dramatische Texte, die zwar die dramatische Form wählen (Dialog, Bühnenanweisung, Akte, etc.), aber nicht für die Aufführung gedacht sind. Dies kann an der Länge des Stückes liegen, an einer zu hohen Figurenzahl, an ständigen Schauplatzwechseln oder zu hohen Anforderungen an das Bühnenbild. In Einzelfällen haben sich im Laufe der Theatergeschichte mit der Verbesserung der Bühnentechnik Lesedramen doch noch zu Bühnendramen gewandelt, z.B. Goethes Faust II (1832). Beispiele für typische Lesedramen sind die Dramen Senecas, Schillers Die Räuber (1781) und viele Dramen der Romantik. ©rein
Sekundärliterarur: P. Stefanek: Lesedrama, in: E. Fischer-Lichte (Hg.): Das Drama und seine Inszenierung, 1985.
Einakter
Der Einakter ist ein Bühnenstück, das – wie der Name schon sagt – aus einem einzigen Akt besteht. Er ist also zumeist von geringerem Umfang, obwohl es auch abendfüllende Einakter gibt (z.B. Strindbergs Fräulein Julie), und er kommt zumeist ohne Szenenwechsel aus. Historisch setzt er sich erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts langsam durch, z.B. mit Lessings Philotas (1759) oder im Singspiel bei Mozart. Im 20. Jahrhundert wird der Einakter zu einer der beliebtesten Formen des modernen Dramas, in dem es nicht mehr primär um einen komplizierten Handlungsablauf, um die Ausbreitung einer Intrige oder die differenzierte Darstellung von Charakteren geht. Vielmehr steht die Präsentation eines kleinen Ausschnittes aus einer unübersichtlich gewordenen Welt im Mittelpunkt. Die Figuren werden eine kurze Wegstrecke ihres Lebens begleitet. Der Einakter ist häufig durch seinen offenen Anfang und sein offenes Ende charakterisiert. Bekannte Dramatiker dieser Form sind: Beckett, Hofmannsthal, Brecht und Grass. ©rein
Sekundärliteratur: D. Schnetz: Der moderne Einakter. Eine poetologische Untersuchung, Bern 1967.
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)
Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre gilt als der Prototyp des deutschen Bildungsromans. Er geht auf das zwischen 1777 und 1786 entstandene Fragment Wilhelm Meisters theatralische Sendung zurück und wird mehr als zwanzig Jahre später fortgeführt durch den Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, der die Geschichte des Protagonisten weitererzählt, aber die Form eines linearen und sukzessiven Erzählens in Richtung auf ein offenes, 'modernes' Romankonzept auflöst. Die in acht Bücher unterteilten Lehrjahre verfolgen den Lebensweg des Kaufmannssohnes Wilhelm Meister, der aus zugleich wohlhabenden und engen Verhältnissen seines Elternhauses ausbricht, um in der Welt des Theaters eine freiere Entfaltungsmöglichkeit zu suchen. Wilhelm, der sich schon als Kind für das Puppenspiel begeistert, lernt die Schauspielerin Mariane kennen und träumt davon, der "Schöpfer eines künftigen Nationaltheaters" (S. 35) zu werden. Als die Beziehung zu Mariane scheitert, weil er sie (fälschlich) für untreu hält, erkrankt Wilhelm schwer und gerät in eine tiefe Krise. Jahre später widmet er sich wieder ganz den kaufmännischen Geschäften und verbrennt seine Dichtungen. Auf einer Dienstreise trifft er die schillernden Mitglieder einer versprengten Theatertruppe, die kokette Philine, Laertes und das Ehepaar Melina, die er finanziell unterstützt, so daß sie sich wieder etablieren können. Zu der neu gegründeten Truppe kommen das androgyne, geheimnisvolle Mädchen Mignon und ein alter, in sich gekehrter Harfenspieler. Für ein Gastspiel auf einem gräflichen Schloß schließt sich Wilhelm der Truppe als Theaterdichter, Dramaturg und Regisseur an. Er verliebt sich in die Gräfin und wird durch Jarno, einen Günstling des Prinzen, auf das Werk Shakespeares hingewiesen, dessen Ausdruckskraft ihn unmittelbar anspricht. Die Truppe wählt Wilhelm zum Direktor und reist zum berühmten Prinzipal Serlo und seiner schauspielerisch herausragenden Schwester Aurelie. Auf dem Weg dorthin wird Wilhelm von Räubern überfallen, ein Chirurg und eine "schönen Amazone", die er (zunächst vergeblich) wiederzufinden versucht, retten den Verwundeten. Als sich Geschäftsbesuche nicht länger aufschieben lassen, wachsen in Wilhelm Zweifel an seiner Bestimmung, er fühlt sich am "Scheidewege" (S. 286). Aber die Nachricht vom Tod des Vaters, die Wilhelm definitiv unabhängig macht, und ein Brief seines Schwagers Werner, der ihm die angeblichen Freuden eines gewinnorientierten bürgerlichen Daseins ausmalt, lassen die Erkenntnis reifen, daß es schon immer sein Ziel gewesen sei "mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden" (S. 300): Als Bürger könne er dies nur auf dem Theater. In Serlos Theater inszeniert Wilhelm nach langen Diskussionen Hamlet: Die Aufführung – Wilhelm übernimmt die Hauptrolle, spielt dabei allerdings eher sich selbst – wird zum Höhepunkt seiner Theaterkarriere – und zum Wendepunkt seines Lebens: Ein Brand verwüstet das Theater, die Truppe löst sich auf, Aurelie stirbt und
bittet Wilhelm, ihren untreuen Liebhaber Lothario aufzusuchen und ihm einen letzten Brief zu überreichen. Im folgenden 6. Buch fügt Goethe Die Bekenntnisse einer schönen Seele ein, die von pietistischer Innenschau geprägte Bildungsgeschichte einer Adeligen, die Wilhelm selbst auch liest: damit wird zum zweiten Teil der Lehrjahre übergeleitet. Der aufgeschlossene Baron Lothario, den er in Gesellschaft Jarnos und eines Abbés antrifft, ermuntert ihn, das Theater aufzugeben zugunsten eines tätigen Dienstes für die Gemeinschaft. Lothario führt ihn in die aufgeklärte, den zeitgenössischen Freimaurerbünden nachempfundene "Turmgesellschaft", die bisher schon, verdeckt, sein Leben gelenkt hat. Ein "Lehrbief" bestätigt ihm, daß seine Lehrjahre nun vorüber seien. Wilhelm bemüht sich um Therese, die ehemalige Geliebte Lotharios, bis er in dessen Schwester Natalie seine "schöne Amazone" wiedererkennt. Den Knaben Felix akzeptiert Wilhelm als Sproß seines Verhältnisses zu Mariane und fühlt, daß seine eigene Bildung nun erst anfange. Die oft undurchsichtigen Einflußnahmen der Turmgesellschaft stürzen Wilhelm immer wieder in Verwirrung und Zweifel, so daß er sogar seine Abreise plant, bis ihm endlich Natalie versprochen wird. Die märchenhaften Gestalten Mignon und der Harfner passen in die von aufklärerischem Rationalismus geprägte Welt der Turmgesellschaft nicht hinein: Sie, die für eine naive, ursprüngliche Kunst stehen, gehen zugrunde. Zuletzt versammeln sich im Haus des Oheims der "schönen Seele" ihre beiden Neffen (Lothario und Friedrich) und Nichten (Natalie und die Gräfin) und besiegeln die Hochzeit Wilhelms mit Natalie. Der Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre kann, wie Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, als historisches Dokument der Theatromanie und der Lebenswirklichkeit zeitgenössischer Wandertruppen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert gelesen werden. Darüber hinaus eröffnen die Lehrjahre ein Kaleidoskop verschiedener Konflikte und Themen, die zu Stationen einer Auseinandersetzung des Protagonisten mit der Umwelt werden: das Verhältnis von Adel und Bürgertum, die Funktion der Kunst, Aufklärung und Freimaurerei, Pietismus. In erster Linie aber wurde Goethes Roman als Bildungsroman rezipiert, der von dem Wunsch des Protagonisten nach Selbstbildung ausgeht und einen langsamen Prozeß der Desillusionierung nachzeichnet, in dem das Ideal einer universellen, harmonischen Ausbildung des Individuums durch die Kunst scheitert und der Held erst in der utopisch-aufklärerischen Gemeinschaft der Turmgesellschaft seine Bestimmung findet. Wilhelm Meisters Lehrjahre lösten schon unter den romantischen Zeitgenossen eine Kontroverse aus. Während Friedrich Schlegel das Werk in emphatischen Sinn als zeitgenössisch begrüßte, kritisierte Novalis, daß mit Mignon und dem Harfner am Ende die wahrhaft poetischen Figuren untergehen. Hegel dagegen charakterisierte die Lehrjahre als einen Roman, in dem "das Subjekt sich die Hörner abläuft" und sich schließlich "in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet". ©TvH
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. v. Erich Trunz, München 1981 [=Hamburger Ausgabe, Bd. VII]. Sekundärliteratur: 1. H.-E. Hass: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: B. v. Wiese (Hg.): Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart, Bd. 1, Düsseldorf 1963, S. 132-210. 2. J. Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman, München 1972. 3. H. Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980.
Memoiren frz. mémoires: Erinnerungen, Denkwürdigkeiten, von lat. memoria: Gedächtnis
Als Memoiren bezeichnen wir eine Sonderform der Autobiographie, welche nicht so sehr den inneren Bildungsprozess, die 'Identitätsfindung' des Verfassers nachzeichnet, sondern von dessen beruflicher (also von 'Rollenzwängen' bestimmter) und in den meisten Fällen öffentlich bedeutsame Tätigkeit im Erwachsenenalter - etwa als Politiker, Wissenschaftler oder Künstler. Diesen terminologischen und strukturellen Unterschied hat vor allem Bernd Neumann in seiner Studie Identität und Rollenzwang herausgearbeitet (man muss natürlich auch mit Mischformen und Varianten rechnen). Charakteristisch für die Memoiren ist der chronologisch zusammenhängenden Bericht und die rückschauende Perspektive auf historische Ereignisse und wichtige oder interessante Zeitgenossen. (Das unterscheidet sie von den literarischen Gebrauchsformen des Briefs und des Tagebuchs, die ähnliche Funktionen haben.) Im besten Falle werden solche Memoiren zum Epochengemälde, zu einer seriösen, betont subjektiven Form der Geschichtsschreibung (auf Grund 'teilnehmender Beobachtung', wie die heutigen Soziologen sagen würden); für die professionellen Historiker ist ihr Material- und Quellenwert oftmals beträchtlich. Im problematischeren Falle wird (gerade in der gegenwärtigen Mediengesellschaft) die außerliterarisch begründete Popularität des Verfassers/ der Verfasserin kommerziell und sensationsgierig ausgeschlachtet, wobei auf wunderbare Weise (bzw. mit Hilfe eines ghostwriters) auch Fussballspieler und Showsternchen zu Autoren von Bestseller-"Memoiren" werden. Eine erste Blüte der Memoiren-Literatur entwickelt sich in den am weitesten entwickelten europäischen Nationalstaaten Frankreich und England im 17. Jahrhundert. Oft sind es Angehörige des Hochadels, die als genaue und kritische Beobachter des politischen Machtkampfs und der höfischen Intrigen aufschlussreiche Epochenbilder zeichnen. Die Memoiren des Herzogs von SaintSimon, verfasst 1694-1752, gelten wegen der Brillanz ihrer Szenenschilderungen und Porträts bis heute als ein Hauptwerk der französischen Literatur. Eine vergleichbar niveauvolle und breite Memoirenliteratur kennt das England dieser Zeit. Unvergleichlich und reizvoll bis heute, wegen der kulturhistorischen Fülle, dem darstellerischen Witz, und sicher auch wegen der Verschränkung von öffentlichen und sehr intimen Aspekten ist die Geschichte meines Lebens, die der italienische Abenteurer Giacomo Casanova in den Jahren nach 1790 französisch verfasste. Die Ungleichzeitigkeit der deutschen Entwicklung zeigt sich exemplarisch darin, dass auch König Friedrich II. ("der Große") von Preußen seine Lebenserinnerungen in französischer Sprache verfasst.
Eine breite und niveauvolle Memoirenliteratur, zumeist unter der Genrebezeichnung 'Denkwürdigkeiten', findet sich im deutschen Sprachraum erst im 19. Jahrhundert. Ein kulturhistorisch wie literarisch herausragendes frühes Beispiel sind die Denkwürdigkeiten des Historikers, Kritikers und Diplomaten Karl August Varnhagen von Ense (9 Bde. 1837-1859; daneben 14 Bde. Tagebücher); als 'Höhepunkt der deutschen Memoirenliteratur' sehen manche Literaturhistoriker die Gedanken und Erinnerungen des Reichskanzlers Otto von Bismarck (1898), welche die neue deutsche Machtposition nach 1870 dokumentieren und durchaus kritisch reflektieren. Auch im 20. Jahrhundert haben maßgebliche Politiker ihre Erfahrungen und Leistungen in Memoirenform festgehalten, so etwa Sir Winston Churchill (der für seine sechsbändigen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg 1953 sogar den Nobelpreis für Literatur erhielt), Charles de Gaulle oder Konrad Adenauer. Neben den Memoiren von Politikern nehmen im 20. Jahrhundert, in Deutschland wie international, Erinnerungen von Künstlern und anderen Figuren des öffentlichen Interesses, zumindest quantitativ einen immer breiteren Raum ein. © JZ
Sekundärliteratur: 1. B. Neumann: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt/M. 1970.
Traktat lat. tractatus: Behandlung, Beschäftigung mit
Wie die Übersetzung schon verrät, definiert sich die Form des Traktats über die Behandlung eines einzelnen Themas zu einem bestimmten Zweck. Dabei handelt es sich zumeist um religiöse, philosophische, kulturelle, politische, moralische oder (natur-)wissenschaftliche Themen, die in monologisch-systematischer Form abgehandelt werden. Im Gegensatz zum verwandten Essay wird von einem Traktat keine literarisch elegante Gestaltung erwartet. Der Traktat ist auch historisch gesehen die deutlich ältere Form und stammt bereits aus der Antike. Da er seine Blütezeiten während der Durchsetzung des institutionalisierten Christentums in der Patristik und im scholastischen Mittelalter erlebte, diente er zumeist didaktisch-dogmatischen Zwecken. Im Deutschen hat der Begriff Traktat deshalb - im Gegensatz zum englischen tract oder französischen traité - einen negativen Beiklang: das wird vor allem im Diminutiv Traktätchen als Bezeichnung für kleinere moralisch-religiöse Erbauungsschriften deutlich. Die gelungenen Beispiele der Traktat-Literatur zeichnen sich dem gegenüber gerade durch Überschaubarkeit, Klarheit, Verständlichkeit und eine stringente Durchführung ihres Themas aus. Entwicklungsgeschichtlich hat sich der Traktat aus Formen populärphilosophischer Vermittlung in der griechischen Antike entwickelt, welche die frühen Vertreter der christlichen Kirche zu Zwecken der moralischreligiösen Unterweisung weiter entwickelten. In der Scholastik des Hochmittelalters wurde der Themenhorizont um viele theologisch-philosophische Fragen erweitert, so daß schließlich alle bekannten Wissensgebiete auf eine mehr oder weniger sachlich orientierte, einem festen Weltbild verpflichtete Art und Weise im Traktat verhandelt werden konnten. Er bildete damit den Rahmen für die literarisch-wissenschaftliche Überlieferung des jeweils spezifischen Wissensgebiets. Als Textform sind Traktate mittlerweile nicht mehr grundsätzlich an einen bestimmten Sprach- oder Kulturkreis gebunden. Betrachtet man nämlich die weitere Geschichte der Traktatliteratur, so läßt sich vergröbernd festhalten, daß Autoren, die sich der Säkularisierung und Liberalisierung verpflichtet fühlen, eher die freier assoziierende und zitierende Form des Essays nutzten. Dagegen haben Autoren, die sich entweder in einer religiös oder ideologisch gebundenen Gesellschaftsform bewegen mußten oder sich in einer freieren Gesellschaftsform individuell einem solchen religiös oder ideologisch festen Weltbild verpflichtet fühlten, eher auf die geschlossene Form des Traktats und sein Wertungs- und Appellformen zurückgriffen. Im 20. Jahrhundert stellen Rückgriffe auf die Traktatform eine Seltenheit dar und nehmen gewissermaßen Zitatcharakter an. Berühmte Beispiele sind Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels, der Tractat vom Steppenwolf in
Hermann Hesses gleichnamigem Roman und Ludwig Wittgensteins erstes sprachphilosophisches Hauptwerk Tractatus logico-philosophicus. © JK
Aufsatz
Der Aufsatz ist eine Sammelbezeichnung für jede kürzere Form einer wissenschaftlichen Abhandlung. Die mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verbundenen Anforderungen - also: Verzicht auf literarische Freiheit zugunsten methodischer wie argumentativer Strenge - sind bei einem Aufsatz dieselben wie bei der Abhandlung. Wissenschaftliche Aufsätze können traditionell an zwei Orten publiziert werden: entweder in Zeitschriften oder in Sammelbänden. Diese Sammelbände vereinigen entweder verschiedene Aufsätze eines einzigen Autors, die sonst nur verstreut publiziert wurden, oder aber Aufsätze verschiedener Autoren zu einem Thema. - Die Form des gefürchteten schulischen "Besinnungsaufsatzes" hat theoretisch einen wissenschafts-propädeutischen Anspruch und kann als Einübung rhetorischer Strategien und Regeln verstanden werden. © JK
Monographie griech. monos gráphein: Einzelschrift
Im Gegensatz zu Zeitschriften, Handbüchern, Kongreßberichten oder wissenschaftlichen Aufsätzen handelt es sich bei der Monographie um ein von einem einzigen Verfasser stammendes, in sich geschlossenes und einem einzigen Thema gewidmetes Buch. Sein Anspruch liegt in einer systematischen, möglichst erschöpfenden Darstellung, die den aktuellen Forschungsstand angemessen wiedergibt. Behandelt wird entweder ein einzelner wissenschaftlicher Gegenstand, ein einzelnes Werk, ein spezielles Problem oder eine einzelne Persönlichkeit. Der umfängliche und ganzheitliche Anspruch stammt aus dem Positivismus des 19. Jahrhunderts und ist mittlerweile fragwürdig geworden. Deshalb finden sich heute auch "offenere" - d.h. assoziierendere und sprunghaftere - Formen der Behandlung eines "monographischen" Themas. © JK
Rezension lat. recensio: Musterung, Zählung
(1) Der Begriff Rezension wird zum einen verwendet im Rahmen der Textkritik. Diese wird zumeist bei alten Handschriften notwendig, deren Originale verschollen oder zumindest nicht mehr eindeutig zu bestimmen sind. Beim Versuch, eine dem Original möglichst nahe kommende Ausgabe eines Textes zu erstellen, werden alle erreichbaren Exemplare und Varianten miteinander verglichen, um zu entscheiden, welcher Wortlaut als authentisch gelten soll. Aus dem authentischen Material (und u.U. nötigen Angaben von fragwürdigen Stellen samt deren Varianten) wird dann die sogenannte kritische Ausgabe des Textes erstellt. Der Begriff Rezension bezeichnet hierbei sowohl das Verfahren des Vergleichens selbst als auch die abschließende Fassung des Textes. (2) Zum anderen bezeichnet der Begriff die "Besprechung" - und das heißt fast immer: die Analyse und kritische Würdigung - von literarischen Werken, Konzertveranstaltungen, Fernsehsendungen, Filmen und Aufführungen von Bühnenwerken (Sprech-, Musik- und Tanztheater) im Kulturteil ("Feuilleton") von Tages- oder Wochenzeitungen. In wissenschaftlichen Zeitschriften beschränken sich Rezensionen auf die Behandlung von Texten mit eindeutig wissenschaftlichem Anspruch. Es wird dabei größerer Wert auf den Darstellungsals auf den Kritikteil der wissenschaftlichen Rezension gelegt. © JK
Protokoll griech. protokollon: [den amtlichen Papyrusrollen] vorgeleimtes [Blatt]
Der Begriff Protokoll bezeichnet ganz allgemein die förmliche Niederschrift der wesentlichen Punkte einer öffentlichen oder privaten Sitzung, Versammlung oder Verhandlung. Die vielfältigen Nebenbedeutungen des Begriffs - etwa im Bereich der STVO ("Knöllchen"), als Bezeichnung für die Eröffnungsformel einer mittelalterlichen Urkunde oder als Bezeichnung für die Gesamtheit der im diplomatischen Verkehr zu beachtenden Höflichkeitsregeln u.v.a.m. interessieren uns hier nicht. Das Protokoll als formalisierte Niederschrift hat sachlichen Ansprüchen zu genügen: Es geht um die wertungsfreie und präzise Wiedergabe dessen, was verhandelt wurde. Kürze und Sachadäquatheit stehen dabei auch im Unterrichts- und Studienalltag vor literarischen Qualitäten und Spannungsaufbau. Die beiden gängigen Protokollformen sind das Ergebnisprotokoll, das sich auf die Wiedergabe der Verhandlungsergebnisse beschränkt, und das Verlaufsprotokoll, das darüber hinaus noch den Gang der Argumentation nachzuzeichnen versucht. © JK
Rede lat. oratio
Als Rede bezeichnet man eine monologische öffentliche Ansprache, die entweder "frei", mit Hilfe von Stichpunkten oder anhand eines ausformulierten Textes gehalten wird. Im Unterschied zu Referat bzw. Vortrag dient sie nicht nur der sachlichen Belehrung einer Zuhörerschaft, sondern versucht vor allem zu überzeugen und zwar mit Hilfe von "rhetorischen" Mitteln. Die Kunstlehre der Rede ist die Rhetorik, praktisch gesehen eine Anleitung zur Anfertigung von erfolgreichen Reden. In der Antike werden drei Formen der Rede nach Anlass und Intention unterschieden: Prototyp aller Reden ist die Gerichtsrede (genus iudiciale), mit der ein Anwalt anklagt oder verteidigt, um den oder die Richter für seine Darstellung des Sachverhalts zu gewinnen. Die epideiktische Rede (genus demonstrativum) dient dem Lob oder Tadel bei entsprechenden Anlässen, beispielsweise als Festrede, Gedenkrede oder Grabrede. Beratungsreden schließlich (genus deliberativum) dienen zur Mahnung oder Warnung der Zuhörerschaft und finden sich in der politischen Rede (Propaganda, Agitation), aber auch in religiösem Zusammenhang. Die Geschichte der Rede beginnt im 5. Jahrhundert v. Chr., während des Niedergangs der Tyrannenherrschaften in Syrakus bzw. Athen, mit den Schriften von Korax und Teisias. Die Krisen der Neuordnung führten zu zahlreichen Konflikten von öffentlichem Interesse, die vor gewähltem Publikum dargestellt und gelöst werden mussten. Mit dem späteren Niedergang der Demokratie in den griechischen Stadtstaaten geht auch die Redekultur zunächst unter, ja sie gilt wie später immer wieder - den Herrschern als verdächtig und wird verboten. Die Redekunst wird allenfalls auf die Lobrede beschränkt. In der römischen Republik sind es vor allem Cicero und Quintilian, die umfassende rhetorische Erziehungsprogramme entwerfen, in denen Tugendhaftigkeit, Allgemeinbildung, Kenntnis stilistischer Mittel und Übung an Vorbildern eine große Rolle spielen, um die allgemeine Fähigkeit des Menschen zur Beredsamkeit entfalten zu helfen: Der Redner soll zugleich beweisen, einnehmen und unterhalten. Das Ende der römischen Republik führt zwar wiederum zu einem Nischendasein der Rede besonders im Theater - die Fernwirkung Ciceros und Quintilians reicht jedoch bis in die Neuzeit. Mit dem Rhetor und Kirchenvater Augustinus wird die Rhetorik für die christliche Heilslehre wichtig: Sie dient nicht nur der Bibelauslegung, sondern auch der Überzeugungsarbeit in der geistlichen Rede, der Predigt. Die Rhetorik bleibt bis in das 18. Jahrhundert Teil des Bildungssystems der artes liberales. Auch der Reformator Martin Luther verweist - selbst ein Meisterredner - auf die Wichtigkeit der (einfachen) Rede in der Gemeinde. Viele bedeutende
Schriftsteller des 18. Jahrhunderts stehen ebenfalls in der christlichen Redetradition: u.a. Christoph Martin Wieland, Jean Paul, Johann Gottfried Herder, Johann Georg Forster und nicht zuletzt Johann Wolfgang Goethe. Mit der französischen Revolution (Robespierre und Danton) gewinnt die politische Rede wieder Bedeutung - auch in Deutschland mit einem Höhepunkt im Frankfurter Parlament 1848 (u.a. Ludwig Uhland, Jacob Grimm), wo "Pathos, Erhabenheit und Bildersprache" den Ton bestimmen. Als weitere bedeutsame Redner des 19. Jahrhunderts gelten die politischen Kontrahenten Otto von Bismarck und Ferdinand Lassalle bzw. August Bebel. Anders als die antike Beratungsrede bleibt die Gerichtsrede bis weit in das 19. Jahrhundert wirkungsarm, da die Prozesse in der Regel als Geheimverfahren stattfinden. Im 20. Jahrhundert fächert sich die Rhetorik bis zur Unkenntlichkeit auf und ist in allen Bereichen öffentlichen Lebens wirksam (Werbung, Presse, Rundfunk, Fernsehen usw.). Die politische Rede verliert in der Weimarer Republik durch die Ermordung von Walter Rathenau, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wichtige Protagonisten. Mit der nationalsozialistischen Propaganda wird die Argumentationskunst verkürzt; die Rhetorik soll sachliche Argumente weniger verfeinern als von ihrem Fehlen ablenken helfen (demagogische Reden z.B. von Adolf Hitler und Joseph Goebbels). Die Rolle des öffentlichen Redners übernimmt der Exilant Thomas Mann mit seinen BBC-Rundfunkansprachen an die "deutschen Hörer"; nach 1945 sind Günter Grass, Heinrich Böll, Martin Walser, Walter Jens sowie Max Frisch weitere Schriftsteller, die politische Rednerarbeit wahrnehmen. In den sechziger Jahren gelten in der Bundesrepublik Franz Josef Strauss, Herbert Wehner und Rudi Dutschke als wirkungsmächtige politische Redner in verschiedenen Lagern. Grundsätzlich dient die öffentliche Rede in der parlamentarischen Demokratie weniger der Überzeugungsarbeit als der nachträglichen Legitimierung von bereits getroffenen bzw. feststehenden Entscheidungen und steht damit strukturell dem genus demonstrativum näher als der politischen Rede im eigentlichen Sinne. Die Rhetorik wird in der Wirtschaft zunehmend in zweifelhafter verkürzter Form als 'Mogel'packung, etwa als Verkaufstraining für Manager usw. 'verbreitet'. In den heutigen Massenmedien spielen längere Reden nur noch zu besonderen Anlässen eine Rolle (Neujahrsansprache des Bundeskanzlers). Die rituelle Funktion zeigt sich in einer skurrilen Variante etwa bei den Ansprachen des kubanischen Staatspräsidenten Fidel Castro, von denen hierzulande meist nur die mehrstündige Dauer erwähnt wird. Selbst im Hörmedium schlechthin, dem Rundfunk, ist die Sprechzeit inzwischen so stark begrenzt, dass ausgefeilte Reden nicht mehr ins "Format" passen. Fernsehsendungen sind zunehmend durch 'spontanen' Dialog gekennzeichnet, dessen Verfallsform in den mittäglichen Vorwurfs-Schlachten vorgeführt wird. Daneben bleibt der angloamerikanisch geprägte Gerichtsfilm (courtroom drama) eine beliebte Unterhaltungsform, die öffentliche Rede inszeniert. Diesem gesellschaftlichen Funktionsverlust der Rede
wollen sogenannte Debattierclubs nach englischem Vorbild entgegenwirken, die neuerdings auch an deutschen Hochschulen und Schulen populär werden. © pflug Sekundärliteratur: 1. G. Ueding: Grundriß der Rhetorik, Stuttgart 1994. 2. http://www.debattierclubs.de 3. K.-H. Göttert: Einführung in die Rhetorik, München 1994.
Referat lat. referre: überbringen
Ein Referat ist die mündliche oder schriftliche Berichterstattung über einen Sachverhalt, z.B. ein Fachgebiet, neue Forschungsergebnisse etc. Im Gegensatz zur Rede wird das Referat sachlich gehalten, ohne persönliche Wertung - die kritische Diskussion der Thesen erfolgt im Anschluß gemeinsam, zumindest sofern es sich um ein Referat im Rahmen der schulischen oder universitären Bildung handelt. Für Germanistikstudenten bedeutet das Referieren nicht nur Vermittlung eines Sachverhalts, sondern zugleich Training einer Schlüsselqualifikation, deren Anwendung und Weitervermittlung wiederum zu den Aufgaben der Germanisten - vor allem als Lehrer - gehört. Ob ein solches Referat frei gehalten, unter Zuhilfenahme von notierten Stichpunkten oder aber als vorformulierter Text vorgelesen wird, ob es medial unterstützt wird (Handout, Thesenpapier, Flip Chart, Poster, Overheadprojektor-Folie, Diapositiv, Beamerprojektion, Audioeinspielungen), die Gliederung zu Beginn mitgeteilt wird, Fragen während des Referats zugelassen sind oder erst im Anschluss gestellt werden dürfen, all dies hängt vom besonderen Thema, vom Publikum, dem Veranstaltungsrahmen sowie dem Verhältnis des Referenten zu Thema und Publikum ab und lässt sich daher nicht vorweg bestimmen. Beherrschen sollte ein Referent allerdings möglichst alle genannten Präsentationsmöglichkeiten, die er vor allem durch häufige Übung erwerben kann. © pflug
Sekundärliteratur: 1. M. Pabst-Weinschenk: Reden im Studium: Ein Trainingsprogramm, Frankfurt/M. 1995. 2. G. Presler: Referate schreiben - Referate halten, München 2002.
Schulbuch
Als Schulbuch kann zunächst jeder gedruckte und gebundene Text bezeichnet werden, der in der Schule als Lehr- und Lernmittel Verwendung findet. Im engeren Sinne zählen dazu Lesebücher, Lehrbücher, Arbeitsbücher und Materialsammlungen, die den jeweiligen Ministerien für die Zulassung vorgelegt und von diesen positiv beurteilt worden sind. Geprüft wird dabei vor allem die Übereinstimmung mit den Richtlinien und Lehrplänen für den jeweiligen Fachunterricht. Adressaten des Schulbuchs sind heutzutage Schüler und Lehrer, wobei letztere üblicherweise parallel zum Schulbuch über ein Lehrerhandbuch verfügen. Die Anschaffung eines Schulbuchs entscheidet meist die jeweilige Fachkonferenz der Schule, sofern es sich um Schulbuchanschaffungen für die Schüler handelt. Aus formaler Sicht unterscheiden sich Schulbücher von anderen Bucharten durch altersangemessene Einfachheit, lernpsychologisch und sachlogisch orientierte Gliederungen, Kürze, Prägnanz sowie durch Anregungsreichtum für Schüler. Als Textsorten sind in Schulbüchern Quellentexte, Lesestellen, fortlaufende Lehrtexte, Überschriften, Zusammenfassungen, Merksätze, Bildlegenden und erarbeitende Texte (Aufgaben, Fragen, Versuche, Illustrationen, Tabellen etc.) enthalten. Glossar und Stichwortverzeichnis sollen die Orientierung des Lesers erleichtern und Verstehensproblemen entgegenwirken, die aufgrund der geradezu typisch erscheinenden hohen Begriffsdichte oftmals entstehen. Darüber hinaus findet man oft Abbildungen und Illustrationen, die entweder sachlich notwendig sind oder aus lernpsychologischen Gründen der Auflockerung dienen sollen. Der Einfluß des Schulbuchs auf die Entwicklung des Unterrichts kann kaum unterschätzt werden: Anreiz für den Lehrer bietet das Schulbuch durch Sachautorität, seine Verbreitung, eine reduzierte Unterrichtsvorbereitungszeit und die fertige Materialpräsentation. Somit sind Schulbücher in jeder Hinsicht Medium der Standardisierung von Unterricht. Kritische Stimmen verweisen daher auf die Einengung der Unterrichtsgestaltung durch das Schulbuch, welches dem Lehrer eine vollständig vorstrukturierte Gegenstandsvermittlung ermöglicht und z.T. auch abnimmt. Wenig motivierender Routineunterricht ist eine Folge davon. Die Komplexität des Schulbuchs ist zudem für die Verstehensfähigkeit eines durchschnittlichen Schülers konzipiert, so daß innerhalb einer Schule bzw. Klasse mit der Verwendung des Schulbuchs eine Homogenisierung erzeugt wird. Situations- und erfahrungsbezogener Unterricht wird mit dem Schulbuch eher erschwert, so "daß es für die Schüler kaum möglich ist, Lernprozesse selbst zu gestalten. Durch die Formulierung von Texten und Aufgaben wird es den Schülern schwer bis nahezu unmöglich gemacht, eigene Gedanken zu entwickeln, eigene Hypothesen aufzustellen, diese zu überprüfen oder sie zu verwerfen." (Olechowski, 231) Dies gilt in veränderter Form auch für den Lehrer, der als Ausweg aus dem engen Rahmen des Schulbuchs eklektizistisch eigene
Unterrichtsreihen aus mehreren Schulbüchern zusammenstellen muß. Im Deutschunterricht hat das Schulbuch eine besondere und grundsätzlich andere Rolle als in den anderen Lehrfächern: Hier dient der Text nicht nur als Mittler des Gegenstands - der zu behandelnde Gegenstand ist in der Regel selbst textförmig und wird meist in Lesebüchern bereitgestellt. Auf den ersten Blick sind Schulbücher einem starken Wandel unterlaufen: Die Texte der Lesebücher aus der Nachkriegszeit waren nach inhaltlichen Kriterien in Kapitel gegliedert, während die von der 'Lesebuchdebatte' Mitte der sechziger Jahre ausgelöste Modernisierung zu formalästhetischen Gliederungskategorien (Gattungsmuster) führte. Aktuelle Lehrbücher für den Deutschunterricht vereinen meist Sprachund Lesebuch unter ein Konzept in einem Band, deren Kapitel als Arbeitskreise weniger fachlichen als pädagogischen Konzeptionen verpflichtet sind. Die genannten grundsätzlichen Probleme sind mit dem Wandel aber nicht behoben worden. Als relativ junge Forschungsrichtung erfolgt die Schulbuchforschung heute interdisziplinär in den Bereichen Fachwissenschaft, Fachdidaktik und der Erziehungswissenschaft. Neben anwendungsbezogenen Ergebnissen wie die Bereitstellung kriterienorientierter Bewertungsmaßstäbe für Lehrer sind Forschungsschwerpunkte auf die Inhalte (Darstellung der Frau, Eurozentrismus), die Distributionswege und die Wirkungsweisen von Schulbüchern gerichtet. © pflug Sekundärliteratur: 1. Helmers, Hermann (Hg.): Die Diskussion um das deutsche Lesebuch. Darmstadt 1969. 2. Olechowski, Richard (Hg.): Schulbuchforschung. Frankfurt/M. 1995. 3. Pflugmacher, Torsten: Das deutsche Lesebuch. In: Pädagogische Korrespondenz 29 (2002), S. 23-43.
Chronik gr. chronicon, lat. chronica, auch: chronographia: Zeitbuch
Die Chronik ist eine Form der Geschichtsschreibung, die in der Antike entwickelt wurde und noch im hohen und späten Mittelalter eine Blütezeit erlebte. Ziel der Chronik ist es (im Kontrast zu den möglichst alle Ereignisse auflistenden "Annalen"), die Geschehnisse in größeren Zeiträumen überschauend darzustellen, miteinander zu verknüpfen und in eine Epochengliederung zu entwickeln. In letzter Konsequenz strebt sie eine Darstellung der gesamten Weltgeschichte seit der Schöpfung an (Lehre von den Weltaltern). Mittelalterliche Beispiele dafür sind die Chronica maiora des Isidor von Sevilla (6./7. Jahrhundert) oder die ebenfalls lateinisch verfasste Freisinger Chronik (12. Jahrhundert). Deutschsprachige Chroniken gibt es seit dem 13. Jahrhundert; besondere Verbreitung und Wirkung hatte die Weltchronik des Hartmann Schedel (1493 lateinisch und deutsch). Goethe berichtet in Dichtung und Wahrheit, daß Ludwig Gottfrieds Historische Chronik (um 1634, mit Illustrationen von Matthäus Merian) zu seiner frühesten Lektüre gehört hatte. Nach Inhalt und 'Reichweite' sind Weltchroniken, Kaiser- und Königschroniken, Landeschroniken, Kloster- und Städtechroniken (für Köln schon 1270!), schließlich die Familienchroniken zu nennen, die seit der Renaissance in Italien, bald aber auch in den deutschen Handelsstädten entstehen und ein neues Medium bürgerlichen Selbst- und Traditionsbewusstseins, aber auch eine Vorform der Autobiographie bilden. Bekannt ist etwa die Zimmerische Chronik (1566). Während die historische Gebrauchsform der Chronik mit der Ausbildung eines modernen Geschichtsbewusstseins von komplexeren Darstellungsformen abgelöst wird und heute nur noch als populäre Gebrauchsform weiterlebt (Dorfoder Vereinschronik), hat sie als literarisches Strukturmodell, besonders in der fiktionalen Erzählprosa, eine Art zweite Karriere gemacht. In dem Maße, in dem sich seit dem 18., besonders aber zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein modernes Geschichtsbewusstsein ausbildet (und auch die Sonderform des historischen Romans hervorbringt), wird eine Novelle oder ein Roman häufig als "Chronik" präsentiert. Die Erzählung stützt sich dabei angeblich auf historische Dokumenten (eine Chronik im engeren Sinne, oder Briefe, Tagebuchaufzeichnungen etc.). Der fiktive "Chronist" (also die Erzählerinstanz) ist seiner historischen Distanz zum Geschehen bewusst und macht sie den Lesern bewusst. Denn die "Chronik als Form hält sich an die Oberfläche des historischen Geschehens und an die Kontinuität des Zeitablaufs. Der Bericht zählt auf, ohne Wesentliches und Unwesentliches immer genau zu unterscheiden. Die Darstellung der Chronik hält sich an die Handlungen und
Ergebnisse, ohne die innersten Beweggründe und Erlebnisse detailliert zu erforschen." (Burkhardt Lindner) Damit hält die chronikalische Erzählweise dem Leser einen erheblichen Spielraum der Interpretation offen. In der deutschen Literatur finden sich fingierte Chroniken bzw. chronikalische Erzählungen seit dem 18. Jahrhundert, verstärkt in der Romantik und vor allem im Realismus. Bekanntestes Beispiel eines solchen Romans, der den Gattungsbegriff auch im Titel führt, ist die Chronik der Sperlingsgasse von Wilhelm Raabe (1857). In Buddenbrooks (1901) von Thomas Mann lässt sich sehr gut beobachten, wie eine reale Chronik (der Familie Mann) zunächst als Quelle, dann als Motiv und schließlich die Chronik als Strukturmodell des Erzählens benutzt wird - und wie dieses altmodisch-chronikalische Erzählen von der modernen, individualistischpsychologischen Darstellung überlagert und abgelöst wird. Im weitesten Sinne kann der Begriff der Chronik, als historisches Erzähl-Modell, dann sogar in anderen Gattungen strukturell oder metaphorisch verwendet werden. So gebraucht Bertolt Brecht die Genrebezeichnung "Chronik" in seiner Lyrik (Hauspostille, 1927; Svendborger Gedichte, 1939) für Gedichte, die man gattungspoetisch als Balladen oder (historische) Erzählgedichte bezeichnen könnte. Sein Drama Mutter Courage nennt Brecht im Untertitel Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg. © JZ Sekundärliteratur: 1. H. Wenzel: Höfische Geschichte. Literarische Tradition und Gegenwartsdeutung in den volkssprachigen Chroniken des hohen und späten Mittelalters, Bern 1980. 2. J. Vogt: Thomas Mann. "Buddenbrooks", Kap. IV: Zwischen Familienchronik und psychologischem Roman, München 1983.
Reportage frz. reportage: Berichterstattung
Die Gattungsbezeichnung Reportage umfasst im allgemeinen Sinne Tatsachenberichte, die in den verschiedensten publizistischen Medien zu finden sind. Als journalistische Gebrauchsform intendiert die Reportage gleichermaßen Information und Unterhaltung. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen ist ein Charakteristikum der Reportage, die ihr unterschiedlichste Spielarten ermöglicht. Hier lassen sich zumindest zwei komplementäre Tendenzen festhalten: Zum einen ist die Information der Ausgangspunkt, um daran eine spannende Story anzuknüpfen, zum anderen bildet eine interessante Geschichte den Eingang, um in ihr zu vermittelnde Informationen einzubetten. Die zentrale Funktion der Reportage bleibt in jedem Fall die Vermittlung von spezifischen Ereignissen, die der Reporter (als Autor) für sein breites Publikum (als Adressat) besorgt und über ein spezifisches Medium vermittelt (Presse-, Rundfunk- und Fernsehreportage). Wichtige Bestandteile der Reportage sind, dass sie - wie ein Augenzeuge aktuell aus der unmittelbaren Situation heraus berichtet und deren unverwechselbare Atmosphäre einfängt. Sie versucht dabei die Fakten objektiv und zuverlässig, tendenz- und leidenschaftslos, meist kurz (und sprachlich oft im Präsens) wiederzugeben. Andererseits kommt als wesentliches Mittel der Darstellung die subjektive Sichtweise des Reporters hinzu. Auswahl und Anordnung des Berichteten, eigene Eindrücke und Wertungen können zu Sensationalismus oder Parteilichkeit - und in speziellen Fällen - zu Agitation führen. Für die Reportage entsteht damit ein weiterer charakteristischer Spannnungsbogen, der vom objektiven Anspruch in der Theorie zum subjektiven Gestalten in der Praxis reicht. Eine größere Rolle als in der alltäglichen Medienreportage spielt die subjektive Perspektive in der literarischen Reportage. Ohne einerseits die Überprüfung der Wirklichkeit zu vernachlässigen und ohne andererseits die Grenze zur Belletristik zu überschreiten, verarbeitet die literarische Reportage die Fakten etwas freier, richtet ihr Interesse häufiger aufs Detail und versucht dabei, ihr typisches Grundmuster (Aufmacher - Berichtkern - Schlusspointe) ästhetisch und stilistisch anspruchsvoller zu variieren. Nachdem sich die Reportage als ursprünglich literarische Form im Umfeld der Massenpresse Ende des 19. Jahrhunderts etabliert hatte, erlebte sie in Deutschland während der zwanziger Jahre als literarische Reportage ihre Blütezeit. Im Vergleich mit dem Roman erschien die Form der Reportage seinerzeit als das leistungsfähigere Verfahren zu sein, um die Welt der Technik und der Industrie zu fixieren und zu vermitteln, besonders im Sinne der Neuen Sachlichkeit, die eine möglichst objektive und exakte Wiedergabe der Wirklichkeit postulierte. In der Weimarer Republik erreichte die
literarische Reportage auch einen quantitativen Höhepunkt und wurde nicht selten als Mode-Erscheinung empfunden. Ihr bedeutendster deutschsprachiger Vertreter war (neben Joseph Roth oder Heinrich Hauser) Egon Erwin Kisch, der wohl bis heute bekannteste Reporter (seit 1977 Egon-Erwin-Kisch-Preis für hervorragende Reportagen). Kisch schrieb unzählige Reportagen, die wegen ihres prägnanten Inhalts und literarischen Stils über den Tag hinaus Bestand hatten und sich auch in Buchform verkauften (Der rasende Reporter, 1924 u.a.m.). Daneben versuchte er als Theoretiker, der "Reportage als Kunstform und Kampfform" einen Platz im Feld der Literatur zu erobern. In der Bundesrepublik gab es erst während der sechziger und siebziger Jahre im Kontext der dokumentarischen Literatur neues Interesse für die Reportage. Wiederum waren dafür äußere Umstände maßgebend, etwa der Reflex auf die gewandelte Arbeitswelt und die daraus resultierenden Lebensbedingungen (Erika Runge: Bottroper Protokolle, 1967). Neben die betont literarische Reportage mit Affinität zum Feuilleton (z.B. Horst Krüger), traten etwa die (kritischen) Betriebsreportagen aus den Werkkreisen, die programmatisch an die proletarisch-revolutionäre Arbeiterliteratur der zwanziger Jahre anknüpften, sowie vor allem die wirkungsvollen Industriereportagen von Günter Wallraff (Wir brauchen dich, 1966; Ganz unten, 1985). Heute scheint die literarische Reportage - in Anbetracht der übergroßen Medienvielfalt und vieler Mischformen - nur noch eine Randrolle zu spielen. © DH
Sekundärliteratur: 1. M. Geisler: Die literarische Reportage in Deutschland, Königstein/Ts. 1982. 2. E. Schütz: Kritik der literarischen Reportage, München 1977. 3. Ch. Siegel: Die Reportage, Stuttgart 1978.
Leitartikel
Der Leitartikel ist eine Unter- oder Sonderform des Kommentars. Wie dieser zählt er zu den meinungsäußernden journalistischen Darstellungsformen. Meist ist er länger als ein gewöhnlicher Kommentar. Im Unterschied zu dessen abwägender Pro- und Contra-Argumentationen bezieht der Leitartikel oft in stärkerem Maße Stellung zu seinem behandelten Thema. Er ist eine deutlich wertende Textsorte. In der Regel stammen die Themen aus dem politischen Bereich. Sie müssen allerdings nicht zwangsläufig der Tagesaktualität folgen, sondern können durchaus weitere gesellschaftliche Zusammenhänge beleuchten. Weil Leitartikel die Meinung der Chefredaktion wiedergeben und damit die politische Ausrichtung einer Zeitung demonstrieren, werden sie von Redakteuren mit "Richtlinienkompetenz", meist einem festen Stamm von Leitartiklern, verfasst. Der besondere Stellenwert des Leitartikels drückt sich auch darin aus, dass er über einen unveränderlichen Platz in der Zeitung verfügt, meist auf Seite eins oder auf der allgemeinen Meinungsseite. ©SR
Sekundärliteratur: 1. W. von LaRoche: Einführung in den praktischen Journalismus. Mit genauer Beschreibung aller Ausbildungswege. Deutschland, Österreich, Schweiz, München 1999. 2. W. Schneider / P.-J. Raue: Handbuch des Journalismus, Reinbek 1998.
Kolumne
von engl. column: Säule, Spalte Unter einer Kolumne versteht man einen inhaltlich nicht festgelegten, regelmäßig erscheinenden Beitrag, der meist vom selben Autor an der selben Stelle in einer Zeitung publiziert wird. Oft beschäftigen die Zeitungen prominente Personen des öffentlichen Lebens als Kolumnenschreiber.
Pamphlet
Als Pamphlet wird in den meisten europäischen Sprachen seit dem späten Mittelalter eine politische, religiöse Streitschrift oder auch 'Schmähschrift' bezeichnet, die durch Kritik an konkreten Missständen, Angriffe auf gegnerische Personen und Forderungen nach bestimmten Maßnahmen charakterisiert ist. Dabei tritt sachliche Argumentation gegenüber der leidenschaftlichen Parteinahme, insbesondere auch dem polemischen Angriff und der persönlichen Herabsetzung des Gegners oft in den Hintergrund. Diesem Ziel werden Argumentation, Sprachstil und besonders die rhetorische Ausgestaltung untergeordnet: der Herabsetzung des Gegners dienen etwa Verkleinerungsformen oder Tiermetaphern. Dennoch ist die Bezeichnung 'Pamphlet' ursprünglich noch wertneutral als Bezeichnung eines Genres der politisch-religiösen Streitkultur gemeint. - Als literarische Gebrauchsform ist das Pamphlet u. a. mit der Rede und der Predigt verwandt, die ja durchaus auch polemische Elemente enthalten können. Historisch war das Zeitalter der Religionskriege in Europa, also das 16. und 17. Jahrhundert, eine erste Blütezeit der Pamphletliteratur, die mit Hilfe der neuen Technologie des Buchdrucks als Flugblätter oder Flugschriften verbreitet wurden. So werden zwischen den Anhängern Martin Luthers und seinen katholischen Gegnern, wie etwa Thomas Murner, wahre Pamphletschlachten ausgetragen. Im 19. Jahrhundert rücken inhaltlich die "sociale Frage", also die Klassenkämpfe und die Frage der Menschenrechte ins Zentrum. Literarischen Rang gewinnen Pamphlete häufig, wenn ihre aggressiven Forderungen von sozialem Pathos getragen wird, wie etwa in Georg Büchners Flugschrift Der Hessische Landbote (1834): "Friede den Hütten, Krieg den Palästen!"; oder in Emile Zolas Presse-Aufruf J'accuse! (Ich klage an), mit dem er 1898, im neuen Medium der Tageszeitung, gegen die ungerechte Verurteilung eines jüdischen Offiziers und den latenten Antisemitismus der französischen Gesellschaft protestiert. Im 20. Jahrhundert werden die großen Konflikte der Epoche, etwa die beiden Weltkriege, von medialen Kriegszügen begleitet, in denen pamphletistische Formen (auch in Bildform oder im Rundfunk) eine nicht geringe Rolle spielen . Im gegenwärtigen Sprachgebrauch hat der Begriff 'Pamphlet' einen eindeutig pejorativen, herabsetzenden Beiklang: man kann damit jede 'unsachliche' oder 'niveaulos argumentierende' schriftliche Stellungnahme ihrerseits abwerten. Aus einer Genrebezeichnung ist damit eine negative Wertung geworden. © JZ
Sekundärliteratur:
1. H. Grabes: Das englische Pamphlet, Tübingen 1990. 2. A. Scherer: Dichtung und Pamphlet, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 36 (1987), S.100-107.
Anzeige
Unter einer Anzeige - auch Annonce oder Inserat - versteht man (zumindest in unserem Zusammenhang eine aufgrund einer Vertragsverpflichtung in Druckschriften (v.a. Zeitungen und Zeitschriften, aber auch Büchern und Broschüren) abgedruckte Bild- und/oder Textinformation. Man unterscheidet formal zwischen offener und geheimer Anzeige (als Kennwort- oder Chiffreanzeige) und inhaltlich zwischen privater, amtlicher und Geschäftsanzeige. Bei letzterer handelt es sich um einen Werbetext, der wegen seiner fast uneingeschränkten formalen und inhaltlichen Gestaltbarkeit, wegen der kurzfristigen Disponierbarkeit, zielgruppenspezifischen Streubarkeit und wegen der relativ geringen Kosten eines der verbreitetsten Werbemittel darstellt. Die Ziele solcher Anzeigen liegen primär in der informierenden (z.B. Produktkenntnis), emotionalen (z.B. Imagegestaltung) und/oder ökonomischen (z.B. Absatzsteigerung) Wirkungsabsicht. Die Aufmerksamkeitswirkung steigt mit der Anzeigengröße, mit der Auffälligkeit (z.B. der farblichen Abhebung vom Hintergrund) und der inneren Geschlossenheit der Anzeige - Auswirkungen der Anzeigenplazierung (eher oben oder unten, eher rechts oder links) konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Zu den ältesten Anzeigeformen gehören die Bücheranzeigen des 15. Jahrhunderts; bereits im 16. Jahrhundert enthielten die ersten Vorformen der Zeitungen geschäftliche Mitteilungen. Seit dem 19. Jahrhundert sind die Anzeigenerlöse die wichtigsten Einnahmequellen für Zeitungen und Zeitschriften, so wie Anzeigen auf der anderen Seite bis heute die wichtigsten Werbemittel darstellen, mit denen die Werbewirtschaft einen Großteil ihrer Umsätze bestreitet. © JK
Werbetext ahd. hwerban: sich drehen, sich umtun, sich bemühen
Neben der nicht zu unterschätzenden Bedingung, daß man sie eindeutig als Text identifizieren können muß, definiert sich diese Textform allein über die werbende Absicht und unterliegt sonst keinerlei formalen Auflagen. Vielmehr wird die Werbewirkung eines Textes oft erst durch den Bruch von Hör- oder Sehgewohnheiten erreicht: etwa auf rhetorischer Ebene, wenn Unpassendes zusammengebracht wird ("größer, schneller, lecker"). Werbetexte können gesprochen oder gesungen werden - wenn sie im Fernsehen oder Radio präsentiert werden - oder auf der Ebene von Schrift und/oder Bild agieren - wenn sie als Plakat oder, wohl am häufigsten, als Anzeige auftreten. Das Wort Werbung im Werbetext wird dann verstanden als die über optische (sowohl schriftliche als auch bildliche) und/oder akustische (Sprache und/oder Musik) Ebenen wirkende Darbietung von Botschaften mit dem Ziel, Einstellungen und Handlungen zum Vorteil des Werbetreibenden zu steuern. Erst im 20. Jahrhundert wird der Begriff "werben" im Sinne von "Kunden werben" verstanden; vorher eher "um eine Frau werben" oder "zum Militär anwerben". Im Werbetext geht es entsprechend nicht um die sachliche Information wie in wissenschaftlichen Textformen, sondern um emotionale Ansprache des potentiellen Kunden, um das Wecken von Wünschen und Bedürfnissen. Er hat dementsprechend eine ausdrücklich appellative Funktion Es kommt deshalb auf die möglichst originelle (u.U. künstlerisch anspruchsvolle) und ansprechende Gestaltung des Werbetextes an, wobei gerne auf bekannte kulturelle wie kommunikative Muster zurückgegriffen wird. In seiner kürzesten Form wird der Werbetext zum Slogan: Eine kurze, oftmals elliptische Formulierung, die so originell wie rhetorisch versiert ist. In den gelungenen Fällen wird sie bald sprichwörtlich ("nicht immer, aber immer öfter"). © JK
Literaturunterricht
Literaturunterricht im heutigen Verständnis, der sich analysierend bzw. interpretierend mit belletristischen Autoren und Werken der deutsche Sprache beschäftigt, existiert erst seit der Ablösung der klassizistischen Rhetorik durch eine literaturgeschichtliche Orientierung. Diese fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt und war mit der Herausbildung eines nationalliterarischen Kanons verbunden. Rhetorische Erziehung bedeutete die Ausbildung von Schreibern und Rednern am Muster vorbildlicher Texte aus dem Lateinischen und Griechischen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch deutsche Literatur ergänzt wurden. Wichtige Etappen auf dem Weg zum "modernen" Literaturunterricht heutiger Prägung sind die von Wilhelm von Humboldt initiierte Abiturordnung von 1812, in der das Fach Deutsch erstmals als Prüfungsfach vorgesehen ist und Robert Heinrich Hieckes Schrift "Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien" (1842), in der der Gedanke einer allseitigen literarischen Bildung zusammenhängend entwickelt wurde. Hiecke plädiert zum einen für eine Gleichberechtigung der deutschen gegenüber der lateinischen und griechischen Literatur, zum anderen für eine konsequente Interpretationsschulung, die sowohl die Entwicklung analytischer wie auch "produktiver" methodischer Fähigkeiten mit einschließt. Gegenüber der von ihm favorisierten rationalen Textarbeit setzte sich nach 1848 biedermeierliche Gefühlsorientierung durch - eine Tendenz, für die Namen wie Rudolf von Raumer und Philipp Wackernagel stehen und die nach 1871 zunehmend eine nationalistische Komponente erhielt. Besonders die Literatur der Weimarer Klassik und der Romantik wurde in dieser Hinsicht instrumentalisiert: So gab Wilhelm II. auf der Berliner Schulkonferenz von 1890 die Devise aus, das Gymnasium solle "nicht junge Griechen und Römer" erziehen, sondern "nationale junge Deutsche". Umgesetzt wurde diese Forderung durch die präfaschistische "Deutschkunde-Bewegung", die in der 1887 von Otto Lyon gegründeten "Zeitschrift für den deutschen Unterricht" (ab 1920: "Zeitschrift für Deutschkunde") ihr zentrales Publikationsorgan hatte. Deren antirationalistische, antimoderne Volkstumsideologie blieb in der Zeit der Weimarer Republik nicht unwidersprochen. Walter Schönbrunn forderte 1929 eine stärkere Zuwendung des Unterrichts zur Literatur der Moderne ein. Doch mit dessen Transformation in ein Erziehungsinstrument der NS-Diktatur wurde solchen Modernisierungsbestrebungen ein vorläufiges Ende bereitet. Stattdessen setzte man die vollständige Funktionalisierung der deutschen Literatur für völkisch nationale Zwecke, die "Bereinigung" des Kanons nach Gesichtpunkten der Rassenideologie durch. Knüpfte der Deutschunterricht in Westdeutschland nach 1945 zunächst mangels alternativer Konzepte an das deutschkundliche Unterrichtsschema an und blieben die literaturdidaktischen Leitbilder der damaligen Zeit restaurativen
Vorstellungen vom "ritterlichen Menschen" (R. Ulshöfer) verhaftet, so fand dies in der SBZ seine Entsprechung in Idealbildern sozialistischer Kämpfer. Im Westen hatte die vom französischen Germanisten Robert Minder angeregte und eine Phase "versäumter Lektionen" beendende Lesebuchdiskussion der sechziger Jahre wesentlichen Anteil an einer Neuorientierung des Literaturunterrichts, der sich nun endlich der Literatur der Moderne und unmittelbaren Gegenwart zu öffnen begann. Die im Zuge einer nach 1968 stattfindenden grundlegenden Kritik am bisherigen Deutschunterricht in der BRD entwickelten Ansätze einer marxistisch orientierten "Emanzipationsdidaktik" (W. Hegele) blieben ebenso Episode wie die an "sozialistischer Moral" ausgerichteten DDR-Lehrpläne. Entscheidendere Bedeutung für den gegenwärtigen Literaturunterricht hatte die "rezeptionstheoretische Wende" (E. Paefgen) der siebziger und achtziger Jahre, in deren Folge die Schüler als Leser ins Zentrum didaktischer Überlegungen rückten und sowohl die literarische Schreibdidaktik als auch kreativitätsfördernde Konzepte sowie der "handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht" entstanden. Auch das verstärkte Interesse an einer empirischen Erforschung des Unterrichtsgeschehens, an der literarischen Sozialisation und den literarischmedialen Kompetenzen der Schüler resultiert aus dieser Neuorientierung. © CK
Sekundärliteratur: 1. 1. W. Hegele: Literaturunterricht und literarisches Leben in Deutschland (1850-1990). Historische Darstellung - systematische Erklärung, Würzburg 1996. 2. C. Kammler / W. Knapp (Hg.): Empirische Unterrichtsforschung und Deutschdidaktik, Baltmannsweiler 2002. 3. H. Müller-Michaels: Geschichte der Literaturdidaktik und des Literaturunterrichts, in: K.- M. Bogdal / H. Korte (Hg.): Grundzüge der Literaturdidaktik, München 2002, S. 28-46.
Salman Rushdie
* 19.6.1947, Bombay indischer Romancier Am 14. Februar 1989 rief der iranische Religionsführer Ayatollah Khomeini die muslimischen Gläubigen dazu auf, den Schriftsteller Salman Rushdie umzubringen. Sein neuer Roman Die Satanischen Verse (1988) sei ein gotteslästerliches Werk, das den Propheten Mohammed verunglimpfe und die Offenbarung des Korans zu einem literarischen Mythos degradiere. Rushdies Buch wurde öffentlich verbrannt, seine Verleger und Übersetzer waren Verfolgung und Anschlägen ausgesetzt. Seit diesem Mordaufruf, der "Fatwa", ist Salman Rushdie ein weltweit bekannter, aber gleichzeitig auch der am meisten isolierte Autor. Zugleich gilt er aus "westlicher" Sicht als Symbolfigur für den Kampf um die Freiheit des Wortes. Bis 1998, als der iranische Präsident Chatami die "Fatwa" zumindest offiziell zurücknahm, musste Rushdie in ständig wechselnden Verstecken leben. Der indische Schriftsteller, der von sich sagt, "moderat moslemisch erzogen" worden zu sein, hat in Cambridge Geschichte studierte und besitzt seit 1964 die britische Staatsbürgerschaft. Seinen literarischen Durchbruch - in englischer Sprache - hatte er bereits 1981 mit dem Roman Mitternachtskinder erzielt. Darin erzählt er die politische Geschichte Indiens in den Jahren von 1915 bis 1970, gespiegelt in einer Familiengeschichte. Nicht nur dass er hart mit den politischen Repräsentanten, insbesondere mit Indira Gandhi, ins Gericht geht - neu und außergewöhnlich an Rushdies Buch ist vor allem der Bruch mit der realistischen indischen Erzähltradition. Um das autobiographische Gerüst, das an den spanischen Schelmenroman erinnert, ranken sich naturwissenschaftliche Raum- und Zeittheorien, Passagen, die die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion beständig überschreiten und Reflexionen über das Romangenre selbst. Immer interessiert den Historiker auch die Frage, wie Geschichte zu erzählen sei. Dabei knüpft er an die Tradition des mündlichen Erzählens (oral poetry) an, sprengt aber die Einheit der Geschichte in zahllose Episoden auf und versetzt sein Textgewebe mit einem schier unüberschaubaren Netz an literarischen Anspielungen. Fast scheint es, als wolle Rushdie das ganze Universum auf einmal erzählen. Diese Mischung heterogenster Elemente - wie Märchen und Science Fiction - ist auch für die späteren Romane und Erzählungen kennzeichnend geblieben. In Die Satanischen Verse überleben ein indischer Filmschauspieler und ein Stimmenimitator auf wundersame Weise den Absturz eines von Terroristen
gekaperten Flugzeugs. Fortan sind sie gegensätzliche Doppelgänger: der eine ein Heiliger, der andere ein Teufel. Gut und Böse aber können nicht streng geschieden werden, göttliche und satanische Verse vermischen sich. In diesem polyphon erzählten Text geht es allerdings weniger um die in Träumen und Visionen dargestellten Zweifel an der islamischen Religion, sondern um kulturelle Hybridität, das Leben von Migranten und Minderheiten. Die technisch versierte Gestaltung seiner west-östlichen Erfahrungen, die Auflösung der Opposition von Kolonisatoren und Kolonisierten haben Rushdie zu einem der wichtigsten Autoren postkolonialer Literatur werden lassen. Auch als politischer Beobachter und Kommentator ist seine Stimme unverwechselbar. © SR
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
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Mitternachtskinder (Midnight's Children, 1981) Die Satanischen Verse (The Satanic Verses, 1988) Haroun und das Meer der Geschichten (Haroun and the Sea of Stories, 1990) Wut (Fury, 2001)
Sekundärliteratur: 1. P. Priskil: Salman Rushdie. Portrait eines Dichters, Freiburg 1990. 2. M.K. Booker (Hg.): Critical Essays on Salman Rushdie, New York 1999.
Gustav Freytag
* 13.07.1816, Kreuzburg / Schlesien † 30.04.1895, Wiesbaden Romancier, Kulturhistoriker und Publizist Gustav Freytag war einer der meistgelesenen Autoren des 19. Jahrhunderts. In seinem 1855 erschienenen Entwicklungsroman Soll und Haben präsentiert er das Selbstverständnis des aufstrebenden Bürgertums, das Leistungswilligkeit und harte Arbeit zum Garanten für den sozialen Aufstieg stilisiert. Auch seine Dramen, z.B. das bürgerliche Sittengemälde Die Valentine (1847) und das Lustspiel Die Journalisten (1854), dienen der Vermittlung spezifisch bürgerlicher Werte. Freytag ist ein Vertreter des deutschen Nationalliberalismus. Ziel seines literarischen, wissenschaftlichen und publizistischen Schaffens ist die Förderung der Idee eines kleindeutschen Einheitsstaates unter preußischer Führung. Für die heutige Literaturwissenschaft sind vornehmlich Freytags theoretische Ausführungen zum Drama von Bedeutung. In dem 1863 erschienenen Werk Die Technik des Dramas bekräftigt er noch einmal die seit Horaz bekannte Standardstruktur des Dramas in fünf bzw. drei Akten und fünf Handlungsschritten: Einleitung, Steigerung, Höhepunkt, Fall oder Umkehr und Katastrophe. ©rein
Wichtige Schriften: ❍ ❍
Die Technik des Dramas (1863) Bilder der deutschen Vergangenheit (5 Bände, 1859-67)
Sekundärliteratur: 1. R. Leppla: Gustav Freytag. Leben und Werk, Nürnberg 1969. 2. E. Sagarra: Gustav Freytag, in: W. Killy (Hg.): Literatur Lexikon, Bd. 3, S. 525ff. 3. H. Schanze: Theorie des Dramas im "Bürgerlichen Realismus", in: R. Grimm (Hg.): Deutsche Dramentheorien, Bd. 2, Frankfurt/M. 1973, S. 374-393.
Gustav Freytag: Die Technik des Dramas (1863)
Gustav Freytag versucht in seiner Abhandlung Die Technik des Dramas noch einmal das überlieferte Standardschema der Dramatik festzuschreiben. Zu diesem Schema gehören eine spezifische Art der Handlung, eine entsprechende Handlungsführung und eine Akt-Struktur. Zur Art der dramatischen Handlung: "Das Drama stellt in einer Handlung durch Charaktere, vermittelst Wort, Stimme, Gebärde diejenigen Seelenvorgänge dar, welche der Mensch vom Aufleuchten eines Eindruckes bis zu leidenschaftlichem Begehren und zur Tat durchmacht, sowie die inneren Bewegungen, welche durch eigene und fremde Tat aufgeregt werden. Der Bau des Dramas soll diese beiden Gegensätze des Dramatischen zu einer Einheit verbunden zeigen, Ausströmen und Einströmen der Willenskraft, das Werden der Tat und ihre Reflexe auf die Seele, Satz und Gegensatz, Kampf und Gegenkampf, Steigen und Sinken, Binden und Lösen." (S. 93) Zur spezifischen Handlungsführung im Drama: "Durch die beiden Hälften der Handlung, welche in einem Punkt zusammenschließen, erhält das Drama, wenn man die Anordnung durch Linien verbildlicht, einen pyramidalen Bau. Es steigt von der Einleitung mit dem Zutritt des erregenden Moments bis zu dem Höhepunkt, und fällt von da bis zur Katastrophe. Zwischen diesen drei Teilen liegen die Teile der Steigung und des Falles. Jeder dieser fünf Teile kann aus einer Szene oder aus einer gegliederten Folge von Szenen bestehen, nur der Höhepunkt ist gewöhnlich in einer Hauptszene zusammengefaßt. Diese Teile des Dramas, a) Einleitung, b) Steigerung, c) Höhepunkt, d) Fall oder Umkehr, e) Katastrophe, haben jeder Besonderes in Zweck und Baurichtung. Zwischen ihnen stehen drei wichtige szenische Wirkungen, durch welche die fünf Teile sowohl geschieden als verbunden werden. Von diesen drei dramatischen Momenten steht eines, welches den Beginn der bewegten Handlung bezeichnet, zwischen Einleitung und Steigerung, das zweite, Beginn der Gegenwirkung, zwischen Höhepunkt und Umkehr, das dritte, welches vor Eintritt der Katastrophe noch einmal zu steigern hat, zwischen Umkehr und Katastrophe. Sie heißen hier: das erregende Moment, das tragische Moment, das Moment der letzten Spannung. Die erste Wirkung ist
jedem Drama nötig, die zweite und dritte sind gute, aber nicht unentbehrliche Hilfsmittel." (S. 102) Zur Akt-Struktur: "In dem modernen Drama umschließt, im ganzen betrachtet, jeder Akt einen der fünf Teile des Dramas, der erste enthält die Einleitung, der zweite die Steigerung, der dritte den Höhepunkt, der vierte die Umkehr, der fünfte die Katastrophe. Aber die Notwendigkeit, die großen Teile des Stückes auch in dem äußeren Umfang einander gleichartig zu bilden, bewirkte, daß die einzelnen Akte nicht ganz den fünf Hauptteilen der Handlung entsprechen konnten. Von der steigenden Handlung wurde gewöhnlich die erste Stufe noch in den ersten Akt, die letzte zuweilen in den dritten, von der sinkenden Handlung ebenso Beginn und Ende bisweilen in den dritten und fünften Akt genommen und mit den übrigen Bestandteilen dieser Akte zu einem ganzen gegliedert. Allerdings hat bereits Shakespeare seine Abteilungen in der Regel so gebildet. Die Fünfzahl der Akte ist also kein Zufall. Schon die römische Bühne hielt auf sie. Aber erst seit Ausbildung der neueren Bühne bei Franzosen und Deutschen ist ihr gegenwärtiger Bau festgestellt. Nur nebenbei sei bemerkt, daß die fünf Teile der Handlung bei kleineren Stoffen und kurzer Behandlung sehr wohl ein Zusammenziehen in eine geringere Zahl von Akten vertragen. Immer müssen die drei Momente: Beginn des Kampfes, Höhepunkt und Katastrophe, sich stark voneinander abheben, die Handlung läßt sich dann in drei Akten zusammenfassen. Auch bei der kleinsten Handlung, welche in einem Akte verlaufen kann, sind innerhalb desselben die fünf oder drei Teile erkennbar." (S. 170f.) ©rein
Gustav Freytag: Die Technik des Dramas, unveränderter Nachdruck, Darmstadt 1969.
Protagonist griech. protagonistes: erster Kämpfer
Im antiken griechischen Theater war der Protagonist der erste Schauspieler, der nicht nur gleichberechtigt in den Urkunden über dramatische Inszenierungen neben dem Autor stand, sondern auch die anderen Schauspieler aussuchte. Heute ist 'Protagonist' die allgemeine Bezeichnung für den Haupthelden (in der Regel die Titelfigur) eines Stückes. ©rein
Botenbericht
Der Botenbericht läßt vergangene Ereignisse, die in räumlicher und zeitlicher Entfernung zum Bühnengeschehen stehen, von einer Figur erzählen. Meist handelt es sich dabei um technisch schwer darstellbare Begebenheiten, die in der Zwischenzeit außerhalb der Bühnenhandlung geschehen sind, um Ereignisse, deren Darstellung die Moral verbietet, oder um Handlungselemente, die der Wahrscheinlichkeit der Darstellung abträglich sind. Der Botenbericht ist ein typisches Strukturelement des geschlossenen Dramas. Er wahrt die drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung auf der Bühne und ermöglicht gleichzeitig eine Erweiterung des Geschehens über die Grenzen der drei Einheiten hinaus. (vgl. Mauerschau) ©rein
Mauerschau auch Teichoskopie, griech. teichoskopia
Die Mauerschau wird als dramentechnisches Mittel eingesetzt, um gleichzeitiges Geschehen, das sich außerhalb des Bühnenraums abspielt, darzustellen. Sie ist eng verwandt mit dem Botenbericht, unterscheidet sich jedoch dadurch von ihm, daß sie nicht von vergangenen, sondern von gegenwärtigen Ereignissen erzählt. Der Berichtende nimmt meist einen erhöhten Standpunkt ein (auf einer Mauer, einem Turm, einem Hügel usw.) und beobachtet einen Vorgang, der auf der Bühne nicht oder nur schwer darstellbar ist (Schlachten, einen Schiffsuntergang). Seine besondere dramatische Qualität erhält er vor allem durch die Gleichzeitigkeit des von ihm Beschriebenen, wodurch die hier erzeugte Spannung und Suggestion im Vergleich zum Botenbericht ungemein erhöht wird. Im naturalistischen Drama wird die Mauerschau zur "Fensterschau". ©rein
Euripides
* 485/480 v. Chr., Salamis † 406 v. Chr., Pella Euripides, der jüngste der drei großen Tragiker nach Aischylos und Sophokles, hat sich im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern nie aktiv in der Polis engagiert, etwa ein staatliches Amt übernommen oder an einem der zahlreichen Kriege des 5. Jahrhunderts teilgenommen. Ob er aus solch relativer Distanz zum politischen Geschehen Athen in seinen letzten beiden Lebensjahren verließ und nach Makedonien ging, bleibt unklar, wie überhaupt nur äußerst spärliche Informationen über sein Leben überliefert sind. Bekannt ist allerdings, daß Euripides zu Lebzeiten mit sehr geringem Erfolg an den Dichterwettstreiten teilnahm, obwohl seine außergewöhnliche Begabung den Zeitgenossen durchaus bewußt war, wie die Parodien in der zeitgenössischen Komödie zeigen. Trotz relativer Erfolglosigkeit wurde darum den Stücken des Euripides bald nach seinem Tod das Wiederaufführungsrecht zugesprochen, so daß er schließlich zum meistgespielten und als vorbildlich verstandenen Tragödiendichter des 4. Jahrhunderts avancierte. Seine kaum zu überschätzende Fernwirkung auf die Entwicklung des gesamten europäischen Theaters reicht bis weit in die Neuzeit hinein - nicht nur in der Tragödie, sondern auch im Lustspiel. Durch einen Zufall der Überlieferung sind von Euripides 19 Stücke (von insgesamt 90) vollständig überliefert und damit mehr als doppelt so viele als von Aischylos oder Sophokles (jeweils 7 vollständige Stücke). Sie zeichnen sich im Gegensatz zu seinen Vorgängern u.a. auch dadurch aus, daß die Rolle des Chores noch weiter zurückgedrängt wird. Man kann auch in diesem Aspekt ein Zeichen für seine Distanz zum "kollektiven Aktanten" und damit zur Polis als der sich über sich selbst verständigende Gemeinschaft sehen. Überhaupt läßt sich vor allem in seinem Spätwerk eine pessimistische Grundtendenz feststellen - denn Euripides war wie Sophokles Zeuge des allgemeinen politischen wie sittlichen Verfalls des seit Jahren unter Belagerung stehenden Athen, dessen endgültige Niederlage er aber nicht mehr erlebte. Diese pessimistische Einstellung zeigt sich vor allem im Weltbild seiner Stücke: Die Menschen sind bei Euripides bloße Spielbälle des uneinsehbaren Willens der Götter, die sich nicht anders als die Menschen selbst von ihren Leidenschaften treiben lassen. Dies steht in deutlichem Widerspruch zu den Stücken seiner Vorgänger, die bei aller Skepsis gegenüber den Menschen doch die Götter nicht in Frage stellen wollten. Die Distanz zu den überlieferten Lebensformen dürfte zu einem nicht geringen
Teil dem Einfluß der sophistischen Aufklärungsbewegung geschuldet sein. Sie zeigt sich neben der Skepsis gegenüber der Götterwelt auch in dem ironischen Spiel mit der Sprache und den traditionellen Versatzstücken der Tragödie: In den Stücken des Euripides finden die Motive der Wiedererkennung ("Anagnorisis") und der Intrige eine bis dahin nicht gekannte Bedeutung; oftmals werden die heroischen Menschen der mythischen Überlieferung in die Sphäre des Bürgerlichen versetzt; vor allem seine dominanten Frauenfiguren können als scharfsichtige psychologische Porträts gelesen werden. Dies mag für den neuzeitlichen Blick die "Modernität" des Euripides ausmachen und hat ihm die Kritik einiger Zeitgenossen zugetragen. Andererseits führt seine Suche nach immer neuen sprachlichen wie musikalischen Formen zu ausgeprägten Manierismen, welche die Grenze zur Lächerlichkeit streifen. Ein berühmtes und schon von den Zeitgenossen verspottetes Beispiel ist das sogenannte "Besenlied" im "Ion": In gestelztem Ton besingt der Titelheld ausführlich, wie er die Treppen vor dem Tempel fegt - mitsamt einer langen Anrede an den Besen selbst und wilden Versuchen, die Vögel von den Treppenstufen zu vertreiben. © JK
Wichtige Schriften: ❍ ❍ ❍
Medea (431 v. Chr.) Bakchen (postum nach 406 v. Chr.) Iphigenie in Aulis (postum nach 406 v. Chr.)
Sekundärliteratur: 1. B. Zimmermann: Die griechische Tragödie. Eine Einführung, 2. Aufl., München u.a. 1992. 2. W. Ries: Griechische Tragiker zur Einführung, Hamburg 2000. 3. G. A. Seeck: Die griechische Tragödie, Stuttgart 2000.
Euripides: Iphigenie in Aulis (nach 406 v. Chr.)
Iphigenie in Aulis beschreibt die Vorgeschichte der Geschehnisse um die Iphigenie auf Tauris, wie wir sie etwa in der Bearbeitung Goethes kennen (der sich ausdrücklich auf das Vorbild des Euripides bezieht). Der Stoff stammt aus dem Mythenkreis um das Geschlecht der Atriden, die sich untereinander besonders blutig und abstoßend bekämpft haben. Den oftmals variierten Kern bildet dabei die Geschichte um Agamemnon, den Anführer des griechischen Heers im Trojanischen Krieg - berühmt vor allem durch Homers Ilias, aber auch in seiner Odyssee spielt Agamemnon eine wichtige Nebenrolle. Einen Erzählstrang in den Mythen um die Atriden bilden die Geschichten um die Tochter des Agamemnon: Iphigenie. Als die Streitmacht der Griechen die Insel Aulis wegen einer lang anhaltenden Flaute nicht verlassen kann, wird Agamemnon prophezeit, er müsse seine Tochter opfern, um die Göttin Artemis wohlwollend zu stimmen. Agamemnon tut dies notgedrungen und zieht sicht damit den Haß seiner Frau Klytämnestra zu, die ihn nach seiner Rückkehr aus Troja gemeinsam mit ihrem Liebhaber ermordet. Sie wiederum wird von ihrem Sohn Orest getötet, der den Vater rächen will. Euripides gestaltet nur einen Ausschnitt dieses Mythenkreises, nämlich die Geschehnisse in Aulis: Agamemnon will Iphigenie und ihre Mutter unter dem falschen Vorwand einer Hochzeit mit Achill nach Aulis locken, um dort Iphigenie zu opfern. Zu Beginn des Stücks will er zwar von seinem Vorhaben wieder abrücken, aber es ist bereits zu spät - Mutter und Tochter treffen ein. Agamemnon will einerseits seine Tochter nicht töten, kann sich andererseits aber nicht dem Willen der Göttin verweigern - zumal das griechische Heer auf der Opferung besteht und mit Aufstand droht, der dann auch den Tod der Iphigenie bewirken würde. Die Lage Agamemnons ist damit durchaus tragisch, zumal Euripides in seiner Fassung des Mythos den vorhergehenden Frevel Agamemnons eliminiert, der ursprünglich erst die Göttin erzürnt hatte: Agamemnon ist in der Fassung des Euripides der bloßen Willkür der Göttin ausgeliefert: "Kein Sterblicher lebt, dem bis an das Ziel / Hold lächelt das Glück; / Schmerzfrei ward keiner geboren." (S. 8) In der Zwischenzeit hat Achill, der von seiner vermeintlichen Hochzeit nichts wußte, aber mittlerweile ins Bild gesetzt wurde, Iphigenie und ihrer Mutter seinen Schutz angeboten. Um das Opfer der Iphigenie muß es also zwangsläufig zum Kampf kommen: Achill steht gegen das griechische Heer und vielleicht auch gegen Agamemnon. In dieser Situation entschließt sich Iphigenie, bis dahin noch in Angst um ihr Leben, plötzlich zum freiwilligen Opfertod. Sie sieht sich dem griechischen Volk im Kampf gegen Troja verpflichtet: "Allen hast du mich
geboren, allem Volk, nicht dir allein." (S. 53) Während der Opferzeremonie wird sie dann aber von der Göttin entrückt und an ihrer Stelle eine Hirschkuh geopfert. (Der Mythenkundige weiß: Sie wird von der Göttin nach Tauris gebracht und dort als ihre Priesterin eingesetzt.) Die Tragödie gilt als eines der Meisterwerke des Euripides, obwohl er das Stück nicht mehr vollenden konnte. Nach seinem Tod wurde es wohl von seinem gleichnamigen Sohn bühnenfertig gemacht, wahrscheinlich sind aber auch einige Eingriffe von späteren Bibliothekaren vorgenommen werden. Auch wenn Aristoteles in seiner Poetik den Meinungswandel der Iphigenie als unmotiviert kritisiert (er selbst war wohl Anhänger der stabilen Charaktere des Sophokles), zeichnet sich die Tragödie für heutige Betrachter gerade durch ihren Facettenreichtum in Handlungsführung und Charakterzeichnung aus. © JK
Euripides: Iphigenie in Aulis. Tragödie, übers. v. J. J. Donner, Stuttgart 1978..
Johann Christoph Gottsched Der sterbende Cato. Ein Trauerspiel (1732)
Wenn ein Autor seinem Stück eine umfangreiche "Vorrede" über die Situation des derzeitigen deutschen Theaters und die bisherigen Bearbeitungen des von ihm gewählten Stoffs voranstellt, dann muss befürchtet werden, dass hier eher ein Gelehrter als ein Dichter schreibt. Zieht man zudem in Betracht, dass von den 1648 Versen des Dramas gerade einmal 174 vom Autor selbst stammen und alle anderen nur mehr oder weniger wörtliche Übersetzungen aus zwei früheren Stücken sind, so wird klar, dass unsere geläufigen Kategorien wie Originalität oder Kunstfertigkeit dem Stück kaum gerecht werden können. Schon zeitgenössische Kritiker haben deswegen gespottet, dieser "Cato der dritte" sei "mit Kleister und Schere" verfertigt und seit über zweihundert Jahren gilt das Stück als "tot". Trotzdem war der Sterbende Cato zunächst ein riesiger Theatererfolg und wurde über zehn Jahre lang auf allen deutschen Bühnen gespielt. Verständlich wird dies nur, wenn man zwei Umstände berücksichtigt: Zum einen verstand Gottsched sein "erstes deutsches Originaldrama" nicht als originell im Sinne von einzigartig; es ging ihm darum, eine Mustervorlage für regelmäßige deutschsprachige Tragödien zu liefern, die sich streng an die Vorgaben seiner Critischen Dichtkunst hielt. Damit hatte er durchschlagenden Erfolg. Zum anderen ist der Sterbende Cato ein Stück des Übergangs: Die strenge Regelmäßigkeit, die zuerst den Erfolg des Stücks als eines Musterstücks eigenständiger deutscher Originaldichtung ausmacht, wird ihm ab Mitte des Jahrhunderts von der jüngeren Generation vorgeworfen: Zunächst von Lessing und später von den Protagonisten des Sturm und Drang wie etwa von Goethe in seiner Rede zum Shakespeares-Tag. Deren Kunstideal, das bis heute nachwirkt, wird der Sterbende Cato nicht mehr gerecht. Worum geht es? Unter strenger Wahrung der Drei Einheiten werden die letzten Stunden des römischen Republikaners Cato auf seiner Burg im afrikanischen Utica beschrieben. Cato ist der letzte echte Gegner Cäsars, der sich bereits zum römischen Imperator aufgeschwungen hat, kann dessen Truppen aber keinen Widerstand entgegensetzen und nimmt sich deshalb schließlich das Leben. In seinem für heutige Leser schwer verständlichen Tugendrigorismus hat Cato vorher sowohl verschiedene Hilfsangebote (unter anderem der Parther, deren Königin seine verschollen geglaubte Tochter ist, der er aber diesen Thron verweigert, da sie ja Römerin sei) als auch die Zusammenarbeit mit Cäsar abgelehnt. Zur strengen Form des Trauerspiels gehört vor allem die Gestaltung der Sprache.
Verse wie die folgenden: "Wie teuer kömmt uns doch der hohe Stand zu stehn! / Wie grausam pflegt man nicht mit Fürsten umzugehn!" (V. 27f.) zeigen zweierlei: Zum einen das Festhalten an der zu dieser Zeit bereits umstrittenen Ständeklausel; zum anderen einen ungelenken Umgang mit dem Alexandriner, der in Verbindung mit einem starr durchgehaltenen Paarreim für die insgesamt unbeholfene Sprache des Dramas verantwortlich ist. Nun lässt sich leicht über den Sterbenden Cato spotten und die Zeitgenossen haben dies nach einiger Zeit auch ausführlich getan. Damit wird man einem Stück allerdings nicht gerecht, das heute nur noch unter literaturgeschichtlichen, aber nicht künstlerischen Aspekten interessant ist. Denn so lächerlich es unter den Gesichtspunkten einer an Originalität und literarischer Gestaltung orientierten Kritik sein mag - die Entwicklung solcher künstlerischen Standards, die eben nicht naturwüchsig und selbstverständlich sind, sondern sich historisch entwickelt haben, verdankt sich zu einem nicht geringen Teil eben den Reformbestrebungen Gottscheds. Die Kriterien, nach denen er kritisiert wurde, mussten schließlich erst entwickelt werden: Erst die Folie einer deutschen Hochsprache, zu deren Entwicklung Gottscheds Reformbestrebungen bei allen Schwächen im Detail erheblich beigetragen haben, konnte seine sprachlichen Mängel offen legen. Lessing, Goethe und ihre Nachfolger haben Gottsched deshalb mehr zu verdanken, als sie zuzugeben bereit waren. © JK q.gif (1003 Christoph Gottsched: Der sterbende Cato. Ein Trauerspiel, Stuttgart Johann Byte) 1964..
George Lillo: Der Kaufmann von London, oder Begebenheiten des Georg Barnwell (1731)
Das Stück muß dem heutigen Betrachter weithin fremd bleiben wie der gesamte Kult um die "Empfindsamkeit" des 18. Jahrhunderts. Was soll man von einem Drama halten, in dem die tugendhafte Tochter natürlich Maria heißt, der ehrbare Vater Thorowgood (="Durchausgut") und der aufrichtige Freund Trueman? Und in dem sich fast erwachsene Männer geradezu lustvoll weinend auf dem Boden wälzen? Exemplarisch ist das folgende Zitat (inklusive Szenenanweisung) aus der zeitgenössischen deutschen Übersetzung (die sich, wie damals üblich, an der französischen Übersetzung statt am englischen Original orientierte): "Ach! ich war dazu gebohren, alle diejenigen, welche mich lieben, vor Herzeleid ins Grab zu bringen. (Sie weinen alle beyde.)" (S. 67) Was hat den jungen Kaufmannsgehilfen George Barnwell zu solch übersteigerter Klage veranlaßt (außer ihm stirbt nämlich "nur" noch seine bösartige Gegenspielerin)? - Als er diesen Ausspruch tut, sitzt er im Gefängnis und wartet auf die Vollstreckung seines Todesurteils. Der zweite Weinende ist sein Freund Trueman (gleich im Anschluß werden sie sich auf dem Boden wälzen...). Ins Gefängnis und damit schließlich an den Galgen gebracht hat den Protagonisten eine femme fatale. Millwood - eine "leichtsinnige Frauensperson" wie uns das Personenverzeichnis informiert - hat den gutgläubigen Jüngling zuerst verführt, dann zum Diebstahl und schließlich zum Mord an seinem reichen Onkel verleitet. Nach dem Mord will sie ihn verstoßen, wird aber von der rechtschaffenen Bürgerschaft - vertreten durch Barnwells Lehrherren Thorowgood - überführt und schließlich ebenso zum Tode verurteilt wie Barnwell selbst. Im letzten Akt nimmt der reumütige junge Mann nach einem für die weitere Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels vorbildlichen und äußerst beliebten Motiv in einer langen Sterbeszene Abschied von seinem Lehrherrn, seinem Freund und Thorowgoods Tochter Maria, die ihm ihre heimliche Liebe gesteht. Barnwell erweist sich damit als der vorbildliche Einzelne, der sich zur bürgerlichen wie christlichen Moral bekennt und seine Strafe als berechtigte Sühne für die Übertretung des bürgerlichen Ehrenkodexes akzeptiert. In einer in der deutschen wie französischen Übersetzung gestrichenen Szene wird sein Verhalten auf dem Weg zum Schafott noch einmal mit dem der lästerlichen Millwood kontrastiert, die sich als unbelehrbar erweist. Das Faszination dieses Stücks liegt weniger in seiner dramatischen Qualität - die holzschnittartig gezeichneten Figuren wie die Handlung wirken auf den heutigen Leser eher unfreiwillig komisch - als vielmehr in seinem großen Erfolg. Interessanterweise wirkte es stärker als in England, wo Lillo keinen direkten
Nachfolger fand, in Frankreich und vor allem in Deutschland, das als politisch zerrissener Flickenteppich in weit geringerem Maß ein bürgerliches Publikum ausbilden konnte als die beiden großen Nachbarn. Gerade in Deutschland aber war der Kaufmann von London zwischen 1754 (der deutschen Uraufführung) und ungefähr 1780 eines der meistgespielten Dramen auf allen Bühnen des Landes. Die Bezeichnung "bürgerliches Trauerspiel" stammt nicht von Lillo selbst, sondern von seinen Übersetzern. Explizit "bürgerlich" ist das Stück denn auch weniger durch die Auswahl seiner Figuren oder den Handlungsverlauf - Lillo hatte auf eine aus dem 16. Jahrhundert stammende Ballade zurückgegriffen -, als vielmehr durch die Präsentation einer rigiden Tugendmoral, die hier allerdings mit einer ausgeprägten Weinerlichkeit verbunden wird. Besonders deutlich wird dies in den dramaturgisch nicht motivierten Belehrungen, die der Kaufmann seinem Musterschüler Trueman erteilt und in denen er den Kaufmannsstand als eine dem Adel gleichwertige und für die allgemeine Wohlfahrt unverzichtbare Klasse bezeichnet. Dieser ökonomische Aspekt wird aber von Lillos Nachfolgern in Deutschland nicht übernommen. Stärker betont werden dort die Weinerlichkeit und die strikte Tugendmoral. Stilbildend wirkt dabei vor allem Lessing, dessen Miß Sara Sampson zumindest indirekt durch Lillo beeinflußt ist: Die Gegenüberstellung zwischen der tugendsamen und der lasterhaften Frau findet sich auch bei ihm dabei heißt seine femme fatale dann Marwood statt Millwood. © JK
Der Kaufmann von London, oder: Begebenheiten Georg Barnwells. Ein bürgerliches Trauerspiel, übers. v. H. A. v. Bassewitz (1752), Kritische Ausgabe, hrsg. v. K.-D. Müller, Tübingen 1981..
Gotthold Ephraim Lessing: Miß Sara Sampson (1755)
Lessings Miß Sara Sampson gilt als erstes Bürgerliches Trauerspiel Deutschlands. In ihm drückt sich das selbstbewußte Bürgertum der Aufklärung aus. Traditionelle, am Vorbild des Adels orientierte Formen des sozialen Miteinanders werden durch bürgerliche Ideale ersetzt. Familie, Tugend, Gefühl, Moral und Verdienst stehen fortan im Mittelpunkt. Der Mensch wird zu dem, was er aus eigener Kraft erreicht, z.B. durch tugendhaftes Verhalten. Es gibt kein Geburtsrecht mehr, die Ränke und Intrigen des Hofes gelten als verabscheuungswürdig. Trotzdem bleibt der Bürger von einer Welt umgeben, in der alte feudale Vorstellungen noch eine große Rolle spielen. Lessing zeigt in Miß Sara Sampson eine menschliche Tragödie, die sich aus diesem Zusammenstoß der alten höfischen mit der neuen bürgerlichen Welt ergibt. Der Schauplatz des Geschehens ist England. Der genußsüchtige, an das höfische Leben gewöhnte Libertin Mellefont lernt die tugendhafte Miß Sara Sampson kennen und lieben. Er entführt sie aus ihrem Elternhaus, um sie in Frankreich zu ehelichen. Aber die beiden werden in einem Gasthaus auf englischem Boden aufgehalten. Mellefont erwartet noch eine große Erbschaft. Er sieht sich gezwungen, seine endgültige Abreise zu verschieben. Für Sara ist dieser Zustand unerträglich, denn sie lebt mit Mellefont in einer Gemeinschaft, die ihre Tugend gefährdet - die Tugend, in die sich Mellefont ja gerade verliebt hat, und die seinen Charakter verändert hat. Sara fühlt die Verletzung der Diskursregeln. Sie ist einem Modell von Liebe und Ehe verpflichtet, das Sexualität nur innerhalb der Ehe zuläßt. Sie ist die Vertreterin einer tugendhaften geistigen Liebe, die in der empfindsamen Liebesehe gipfelt. Die Konfrontation mit den Forderungen einer sinnlichen Liebe - zudem vor der geplanten Eheschließung - stürzt sie in die schrecklichsten inneren Konflikte. Sie braucht die christliche Zeremonie, denn in ihr liege "eine nähere Einwilligung des Himmels". (S. 12) Aber es sind nicht nur diese inneren Konflikte, welche das Paar gefährden. Die ehemalige Geliebte Mellefonts, die Marwood, ist den beiden Liebenden auf der Spur, sie will den Treulosen zurückgewinnen. Als sie in einem Brief an Mellefont von Liebe schreibt, stößt dieser hervor: "Die Liebe? Frevlerin! Du entheiligtest Namen, die nur der Tugend geweiht sind!" (S. 18) Seine vergangene Liebe zu Marwood, die er damals Liebe nannte, stand unter einem anderen Zeichen als seine Liebe zu Sara. Sie hatte sich der Sinnlichkeit untergeordnet. Diese Liebe wird mit Begriffen wie "Feuer", "Inbrunst", "Hitze", "Fieber" und "Genuß" (S.24) belegt und wird durch einen optischen Reiz ausgelöst. Dies betont auch die Marwood, wenn sie in einem Gespräch mit ihrem Kammermädchen Hanna zugibt, daß nur der Genuß Mellefont an ihre Seite gefesselt habe. Ein Genuß, der
durchaus vorübergehend ist, denn er verschwindet "mit derjenigen Anmut [...], welche die Hand der Zeit unmerklich, aber gewiß, aus unsern Gesichtern verlöscht". (S.21) Mellefont, der von der tugendhaften Sara gelernt hat, zwischen wahrer Liebe und reiner Wollust, die sich an der äußeren Schönheit der Geliebten entzündet, zu unterscheiden, erklärt der Verschmähten, daß sie sich keine Hoffnungen machen solle. Denn eine Liebe, die sich an der Tugend und an den Verdiensten des geliebten Gegenstandes entflammt, ist nicht von kurzer Dauer. Die inneren Werte eines Menschen sind nicht dem Zahn der Zeit ausgeliefert, sie haben noch nach Jahren und Jahrzehnten Bestand und damit auch die Liebe. Aber die ehemalige Geliebte will nicht aufgeben und überredet Mellefont, ein Gespräch mit Sara zu gestatten. Sie gibt sich als jemand anderes aus und trifft mit Sara zusammen. Im Verlauf des dramatischen Dialogs, in dem sie versucht, Mellefont Sara zu entfremden, gibt sie ihre Identität preis und versetzt die Medizin der ohnmächtigen Nebenbuhlerin mit Gift. Sara trinkt die todbringende Substanz und macht sterbend ihren Frieden mit ihrem Vater. Dieser war schon längst im Gasthaus angekommen und hatte ihr verziehen. Auch sie verzeiht Mellefont und selbst ihrer Mörderin. Ihr geliebter Entführer ist verzweifelt, das Angebot Sir William Sampsons, ihn an Sohnes statt anzunehmen, muß er ausschlagen. Erst als er den Dolch in seine Brust stößt, um seine Schuld zu sühnen, ergreift er sterbend dessen Hand: "Wollen Sie mich nun Ihren Sohn nennen, Sir, und mir als diesem die Hand drücken, so sterb ich zufrieden." (S. 93) Was die Welt Sara und Mellefont nicht geben konnte, eine ewige Verbindung ihrer beider Leben, gibt ihnen Saras Vater im Tod: Ein gemeinsames Grab, in dem die Geliebten endgültig miteinander vereint sind. In Miß Sara Sampson handeln alltägliche Menschen, "Bürger" (auch wenn sie von rechtswegen adelig sind), die für ihre eigenen Handlungen verantwortlich sind. Nicht ein unabwendbares Schicksal führt sie ins Verderben, sondern ihre eigenen Entscheidungen geben den Ausschlag, die den wirklichen Gegebenheiten zu wenig gerecht werden. Das bürgerliche Publikum bei der Uraufführung war gerührt und gebannt: "Die Zuschauer haben drei und eine halbe Stunde zugehört, stille gesessen wie Statuen, und geweint", schreibt Rammler am 27. Juli an seinen Freund Gleim. Lessings Archetyp eines bürgerlichen Trauerspiels wird zu einer Sternstunde der Empfindsamkeit. Die tränenreichen Gefühlsausbrüche auf der Bühne treffen auf tränenreiches Mitleid im Zuschauerraum. © rein q.gif (1003 Ephraim Lessing: Miß Sara Sampson [1755], Stuttgart 1993.. Gotthold Byte)
Jacob Michael Reinhold Lenz
* 12.01.1751, Seßwegen (heute Cesvaine, Lettland) † 23.oder 24.05. 1792, Moskau
dt. Dramatiker, Erzähler, Lyriker, Verfasser moralphilosophischer und sozialreformerischer Schriften In einem entlegenen Dorf des damals zum Zarenreich gehörigen Livland als Sohn eines vom Halleschen Pietismus geprägten Pfarrers geboren, wurde auch Lenz früh zum Predigtamt bestimmt. Doch der Königsberger Student lag Kant zu Füßen, las Rousseau, schrieb frühreife Verse und ergriff kurz vor dem Examen im Frühjahr 1771 die Gelegenheit, als Bursche zweier adliger Kommilitonen und Offiziersanwärter nach Straßburg zu entfliehen, in das Zentrum des literarischen Sturm und Drang. Der Vater reagierte, obgleich wiederholt um Verzeihung gebeten, mit unnachsichtiger Verstoßung und schuf dem Sohn einen lebenslangen, religiös überhöhten Gewissenskonflikt, über den ihn auch die kurze, euphorisch als Bruderschaft gefeierte Freundschaft mit dem bewunderten Goethe nicht hinweghelfen konnte. Zunächst in wechselnden Garnisonen als besserer Stiefelknecht und postillon d'amour, dann stellungslos mit Stundengeben sein Dasein fristend und die soziale Hierarchie der zeitgenössischen Gesellschaft von unten her am eigenen Leibe erfahrend, schrieb Lenz in den Straßburger Jahren von 1771 bis 1776 seine durch gedankliche und formale Kühnheit alle damaligen Regeln sprengenden Werke. Dabei waren ihm die Bibel und die lutherische Orthodoxie ebenso präsent wie der literarische Kanon von der Antike über Shakespeare bis zu Lessing; er setzt sich mit der Leibnizschen Theodizee auseinander und korrespondiert mit Herder und Lavater. Als jedoch Goethe nach Weimar übergesiedelt war und den ihm nachgereisten früheren Weggenossen Ende 1776 schroff vom Hofe verweisen ließ, stürzte Lenz, zwischen wohlmeinenden Freunden im Badischen und in der Schweiz umherirrend, in eine schwere psychische Krise, von der er sich Anfang 1778 bei dem philanthropischen Pfarrer und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin im elsässischen Waldersbach vergeblich zu erholen versuchte. (Auf Oberlins Aufzeichnungen über diesen Besuch beruht Georg Büchners 1835 geschriebene Erzählung Lenz.) 1779 schließlich wurde Lenz, gebrochen und hilflos, von seinem Bruder in seine baltische Heimat zurückgeholt. Von dem eben zum Superintendenten aufgestiegenen Vater verleugnet, versuchte er vergeblich, in Riga, Dorpat und St. Petersburg beruflich Fuß zu fassen und begab sich 1781 nach Moskau, wo er, offensichtlich wieder bei Kräften und unterstützt von einem Zirkel aufgeklärter Historiker und Freimaurer, neben vereinzelten belletristischen Arbeiten russische Geschichtswerke übersetzte und soziale
Reformprojekte entwarf, bis er in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1792 (nach dem alten Kalender) in einer Moskauer Straße tot aufgefunden wurde. Das Problem, das Lenz existenziell umtrieb und über das er sich in mehreren theologischen, moralphilosophischen und sozialreformerischen Schriften wie Meinungen eines Laien, Vorlesungen für empfindsame Seelen, Über die Soldatenehen theoretische Klarheit zu verschaffen versuchte, das aber vor allem in seinem literarischen Werk künstlerischen Ausdruck fand, war der Widerspruch zwischen der theologisch und philosophisch verbürgten Bestimmung des Menschen zur Autonomie und Handlungsfreiheit einerseits und seiner täglich als ebenso empörend wie unvermeidbar erfahrenen Determination andererseits. Sie wird sowohl durch äußere Kräfte, besonders die gesellschaftlichen und politischen Zustände bewirkt als auch durch innere, schwerer faßbare Mächte, die für Lenz alle in der "Konkupiszenz" des Menschen wurzeln - also in seiner Triebnatur, letztlich in seiner Sexualität. Diese Thematik durchzieht sowohl seine an die petrarkistische Liebeskasuistik und das Lehrgedicht der Aufklärung anknüpfende Lyrik als auch seine Erzählungen Der Landprediger und Zerbin oder die neuere Philosophie, welche die Tradition der "contes moraux" subjektivierend und psychologisierend fortführen. Ihre genuine Form aber gewinnt sie in Lenz' knapp zwanzig, teils Fragment gebliebenen dramatischen Arbeiten, vor allem in den großen Stücken der Straßburger Jahre. So handelt das im Manuskript als "Lust und Trauerspiel", im Druck als "Komödie" bezeichnete Drama Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung (1774) von der Entdeckung einer unerlaubten Liebesbeziehung zwischen einem mittellosen bürgerlichen Hauslehrer und der Tochter seines adligen Brotgebers, die damit endet, daß der Hofmeister sich selber kastriert, während die entehrte Jungfer samt ihrem unehelichen Kind am Ende von dem ihr verzeihenden standesgemäßen Bräutigam geheiratet wird. In Die Soldaten (1776) macht ein adliger Offizier einer Bürgerstochter, der er zunächst die Heirat verspricht, um sie dann einem Freund zu überlassen, zu einer "Hure", die am Ende von ihrem ruinierten und reumütigen Vater auf der Straße aufgelesen und in die Arme genommen wird. Diese Stücke, die zu seinen Lebzeiten nicht aufgeführt worden sind und erst im 20. Jahrhundert, nicht zuletzt durch die Bearbeitungen von Bertolt Brecht (Der Hofmeister nach J.M.R. Lenz, 1951) und Heinar Kipphardt (Die Soldaten nach J.M.R. Lenz, 1968) sowie das Opernlibretto von Bernd Alois Zimmermann (Die Soldaten, 1966) wieder entdeckt worden sind, zeigen Lenz nicht nur als irritierendsten und wirkungsmächtigsten Dramatiker des Sturm und Drang, sondern auch als Vorbereiter einer modernen Dramatik der "offenen Form" (Volker Klotz), die das Bürgerliche Trauerspiel zum sozialen Drama weitertreibt, sich gegen die aristotelischen Regeln an Shakespeare orientiert, die strikte Trennung von Komödie und Tragödie aufhebt und eine neue, gestische Figurensprache präsentiert. Die konzeptionelle Begründung dieses Dramas skizzierte Lenz, wenn auch in unsystematischem Duktus, in seinen Anmerkungen übers Theater (1774), der nach Lessings Hamburgischer Dramaturgie
wichtigsten deutschen dramentheoretischen Schrift des 18. Jahrhunderts. ©MR
Wichtige Schriften: ❍
Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Sigrid Damm, Leipzig u.a. 1987.
Sekundärliteratur: 1. G.-M. Schulz: J. M. R. Lenz, Stuttgart 2001. 2. Jakob Michael Reinhold Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte. Texte der Rezeption von Werk und Persönlichkeit. 18.-20 Jahrhundert, hg. von P. Müller / J. Stötzer, 3 Bde., Bern 1995. 3. http://www.jacoblenz.de
Jacob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Kömödie (1774)
Lenz' erstes großes Drama, 1771/72 in Straßburg geschrieben und 1774 auf Vermittlung Goethes anonym in Leipzig gedruckt, irritiert und fasziniert bis heute aufgrund seiner mehrsträngigen, durch Raum- und Zeitsprünge zerklüfteten Handlung, seiner gebrochenen Charaktere und seines vielschichtigen Problemgehalts. Im ostpreußischen Insterburg erziehen die beiden in Weltsicht und Lebensstil ungleichen adligen Brüder von Berg, der aufgeklärt räsonnierende Geheime Rat und der auf seinem Landgut Heidelbrunn mit seiner dünkelhaften Frau lebende, zugleich polternde und melancholische Major, ihre Kinder nach verschiedenen Maximen. Der Geheime Rat hat seinen Sohn Fritz die öffentliche Schule besuchen lassen, der Major engagiert einen sich zu einem Hungerlohn verdingenden Kandidaten der Theologie namens Läuffer als Hofmeister, also als Hauslehrer, für den Knaben und das heranwachsende Gustchen. Die ungleich traktierten Zöglinge Fritz und Gustchen sind jedoch in heimlicher Liebe verbunden und schwören einander, als Fritz zum Studium nach Halle aufbricht, in Romeo-und-Julia-Attitüde ewige Treue und spätere Heirat. Doch in der sich nun verzweigenden Handlung geraten beide in neue Komplikationen. Der treuherzige Fritz wird in der rauhen Luft des Studenten-Millieus von Halle und Leipzig ein Opfer sowohl seines leichtsinnigen Freundes Pätus, für den er in Schuldhaft geht, als auch des intriganten Seiffenblase, der ihn bei seinem Vater verleumdet, und versäumt darüber, Gustchen die versprochenen heimlichen Briefe zu schreiben. Das in Heidelbrunn vereinsamte schwerblütig-lesewütige Gustchen wähnt sich von Fritz verlassen und läßt sich auf ein Verhältnis mit Läuffer ein. Beide werden von der Majorin in flagranti ertappt und fliehen getrennt aufs Land, ohne einander wiederzusehen. Damit separiert sich aus der Gustchen-Handlung als dritter Strang die Läuffer-Handlung. Läuffer nämlich findet Unterschlupf bei dem schrulligen Dorfschullehrer Wenzeslaus, der ihm mit einem krausen, theologisch-diätetischen Katechismus zur Unterdrückung des Sexualtriebs ins Gewissen redet. Derweil hat Gustchen in einer Waldhütte bei einer blinden Alten namens Marthe ein Kind zur Welt gebracht und macht sich gleich nach der Geburt, das Kind bei der Alten lassend, auf den Weg zu ihrem Vater, um ihn um Verzeihung zu bitten. Als sie jedoch entkräftet niedersinkt und in einem naheliegenden Teich den Tod sucht, rettet sie der seinerseits suchende Vater, der ihr vergibt und sie nach Insterburg heimführt. Dorthin bringt auch Marthe das scheinbar verwaiste Kind zurück, nicht ohne zuvor bei Wenzeslaus nach dem Weg zu fragen, wo Läuffer des Kindes ansichtig wird, in ihm spontan die Frucht seines Fehltritts vermutet und sich zur Strafe kastriert, was ihm nicht
nur den Beifall Wenzeslaus' einbringt, sondern ironischerweise auch das Ja-Wort der sich mit ihm begnügenden naiven Dorfschönen Lise. Nachdem sich Läuffer so gleichsam selbst vorzeitig aus dem Spiel genommen hat, sorgt schließlich ein Lotteriegewinn dafür, daß auch Fritz sich aus seinen Verstrickungen lösen und als verlorener Sohn in das Insterburger Elternhaus zurückkehren kann, wo er in einem komödienhaften Schlußtableau mit den Worten "dieser Fehltritt macht sie mir nur noch teurer" Gustchen trotz ihres unehelichen Kindes zur Frau nimmt. Lenz hat dem forciert anti-aristotelischen Stück im Manuskript die Genrebezeichnung "Lust- und Trauerspiel" gegeben und in der Tat kann es sich um eine "Komödie" nur in dem zugleich realistischen und karikierenden Sinne handeln, den er in seiner "Selbstrezension des Neuen Menoza" auf die (schon an Dürrenmatt gemahnende) Formel gebracht hat: "Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden". In seiner rigoros vereindeutigenden Bearbeitung von 1950 hat Brecht (und nach ihm ein Großteil der Forschung) deshalb vor allem den sozialkritischen Gehalt des Stückes hervorgehoben (der Hofmeister als Modellfall des Intellektuellen in der "deutschen Misere"). Doch das die zeitgenössischen Ausdrucksregeln Sprengende und auf das Drama Büchners und Wedekinds Vorausdeutende des Stückes wird erst sichtbar, wenn man die im Untertitel allgemein formulierte Erziehungsthematik als Chiffre für die speziell gemeinte Sexualitätsproblematik versteht. Dann liest sich das Stück als die notwendig ebenso komisch wie tragisch anmutende Ausstellung der Untauglichkeit aller privaten und öffentlichen Rezepte, dessen Herr zu werden, was die Menschen aller Stände als ihr unbekanntes Wesen umtreibt: ihre Triebnatur. © MR
Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung. Eine Komödie, Stuttgart 1993.
Johann Wolfgang Goethe: Faust Der Tragödie Erster Teil. (1806). Der Tragödie Zweiter Teil (1831)
Goethes größtes, zumindest umfänglichstes Drama (insgesamt 12111 Verse) war ein sein ganzes schriftstellerisches Leben begleitendes Projekt. Die erste, Fragment gebliebene Fassung gehört ins Frühwerk: 1773-1775 können die ersten Beschäftigungen mit dem Stoff nachgewiesen werden, aus denen der sogenannte "Urfaust" hervorging. Nach einer großen Pause führte eine intensive Arbeitsphase von 1797 an zum Abschluß des Ersten Teils der Tragödie (1806; gedruckt 1808) und zur Vorbereitung einiger Abschnitte des Zweiten. Erst in den letzten Jahren seines Leben (1827-31) stellt Goethe diesen Teil fertig. Mit dem Faust greift Goethe auf einen Stoff mit einer langen literarischen Tradition zurück. 1587 erschien bei dem Frankfurter Buchdrucker Johann Spieß die Historia von D. Johann Fausten, eine protestantisch-konservative Antilegende über einen Schwarzkünstler und Teufelsbündler, der zwischen 1480 und 1540 v.a. in Mitteldeutschland sein Unwesen getrieben haben soll. Der ohnehin populäre Stoff wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts zusätzlich popularisiert durch seine Umarbeitung in ein Puppenspiel, das sich bis ins 18. Jahrhundert größter Beliebtheit erfreute - und in dessen Gestalt Goethe schon als Kind den Stoff kennenlernte. Der Held von Historia und Puppenspiel war ein Wissenschaftler, der in anmaßendem Gottgleichheitsanspruch die (kirchlich reglementierten) Grenzen des bisherigen Wissen überschreiten wollte und zu diesem Zweck den Bund mit dem Teufel einging - auf Kosten seines Seelenheils. Dieser Anspruch auf eigene Göttlichkeit, auf titanisches Streben zeichnet die Faust-Figur in Goethes Urfaust aus, allerdings ins Positive gewendet: Diesem Menschen ging es um die übermenschliche Kenntnis der Weltformel. - Goethe untermischt dieser Wissenschaftler-Handlung allerdings einen zweiten, gleichwertigen Handlungsstrang: die Gretchenhandlung. Ein junges Mädchen, durch Faust mit Hilfe des teuflischen Abgesandten Mephistopheles verführt, tötet, nachdem schon die eigene Mutter und der Bruder im Kontext der Affäre zu Tode gekommen sind, das uneheliche Kind; von Gesellschaft und Kirche ausgeschlossen und der Justiz verurteilt, stirbt Gretchen, bevor der Henker sie tötet. Diese sogenannte 'Gretchentragödie', geschlossenster und wirkungsmächtigster Anteil von Goethes frühem Sturm-und-Drang-Faust, ist das wichtigste der sogenannten Kindmörderinnen-Dramen der Zeit; in dramatischer Literatur wird hier das Augenmerk erstmals auf die Not und Ausweglosigkeit junger Frauen vor dem Kindsmord gelenkt, Gesichtspunkte, die nur zögerlich Eingang fanden in Reformen des Strafrechts.
Während die Gretchenhandlung praktisch unverändert aus dem Urfaust in den Faust I von 1806/08 übernommen wird, ändert Goethe die Konzeption des Titelhelden entscheidend. Nicht mehr der titanische Grenzüberschreiter Faust steht mehr im Zentrum, das exponierte Individuum, sondern jener Einzelne, an dem Allgemeines sichtbar werden soll: Faust wird als Individuum zur Figuration der gesamten Gattung Mensch: "Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem Innern Selbst genießen" (V. 1770f.). Diese Konzeptionsänderung läßt sich (auch in ihrer Beeinflussung durch Friedrich Schiller) in vielen Entstehungszeugnissen v.a. aus den Jahren 1797 bis 1800 belegen (Klassik). Aus dem 'starken' Individuum Faust wird das Menschheitsparadigma: An der Faust-Figur soll das gesamte Menschliche, oder genauer: das MenschenMögliche sichtbar gemacht werden - in Selbstbestimmung: Fausts Anspruch auf das Menschen-Mögliche ist gleichzeitig Anspruch auf absolute Autonomie, die Bestimmung des Menschen durch sich selbst. Diese Neukonzeption der Faust-Figur umschließt sowohl WissenschaftlerHandlung und Gretchen-Tragödie (aus dem Urfaust) als auch den gesamten, sehr allegorisch-bildhaften oder auch rätselhaft-symbolischen Faust II. MenschenMögliches bzw. die (Selbst-)Bestimmung des Menschen wird insgesamt in unterschiedlichen, vielleicht in entscheidenden Bereichen bebildert: menschliche Erkenntnis und ihre Beschränktheit, sinnlicher Lebens- und Liebes-Genuß, Schuld und Tod, Teilhabe an politischer Macht, an Finanzbetrug, Intrige und schließlich Krieg (Kaiserhof, Faust II), Genuß antiker Schönheit (Helena, Faust II) und schließlich eigene Schöpfungs-Potenz: Faust trotzt dem Meere Land ab und sieht, selbst schon erblindet, in einer Vision eine neue Gesellschaft heraufziehen (Akt V., Faust II). - Tod und Rettung von Fausts Unsterblichem schließen das Drama ab, Mephisto bekommt die Seele nicht, er hat die Wette mit Faust nicht gewonnen. Die Figur auf dem Weg durch die verschiedenen Felder des MenschenMöglichen hinterläßt eine sichtbare Spur der Opfer: Gretchens Familie ist ausgelöscht, die Bankrotteure sind die (mitschuldigen, da geldgeilen) Opfer des Finanzbetrügers Faust/Mephisto, Helena und der gemeinsame Sohn entschwinden wieder, der Krieg fordert unzählige Menschenleben, schließlich läßt Faust das in glücklicher Liebe gealterte Ehepaar Philemon und Baucis ermorden, da sie seinem Blick auf die eigene Schöpfung im Weg sind. Damit wird der Faust zum Drama des menschlichen Autonomie-Anspruchs und gleichzeitig zur Tragödie von dessen Opfern. © BJ Sekundärliteratur:
1. W. Binder: Goethes klassische ›Faust‹-Konzeption, in: Deutsche Vierteljahresschrift 42 (1968), S. 55-88. 2. K. Eibl: Das monumentale Ich - Wege zu Goethes 'Faust', München 2000. 3. P. Mattussek: Faust I, in: B. Witte u.a. (Hg.): Goethe-Handbuch. Bd. II. Dramatik, Stuttgart u.a. 1996, S. 352-390.
Johann Wolfgang Goethe Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand. Ein Schauspiel (1773)
Das berühmteste Zitat wird ab der zweiten Auflage nicht mehr gedruckt: In der Mitte des Stücks steht der mit dem Häuflein seiner letzten Getreuen in seiner Burg eingekesselte Götz am Fenster und ruft dem Anführer der weit überlegenen kaiserlichen Truppen zu: "Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag's ihm, er kann mich [im (!) Arsch lecken!]" (S. 139) - Die letzten drei Worte werden getilgt, aber den Zuschauern (und Lesern) war durchaus klar, was da ausgelassen wurde. Hier wird wohl noch am ehesten über den zeitlichen Abstand hinweg nachvollziehbar, welche ungeheure Provokation das Stück des jungen, bis dahin weitgehend unbekannten Autors für die Zeitgenossen darstellen musste - auch aus Gründen, die heute weniger naheliegend erscheinen. Das Stück geht zurück auf die Autobiographie des im 16. Jahrhundert lebenden Gottfried von Berlichingen, wobei es Goethe mit den historischen Fakten nicht allzu genau nimmt. Er stilisiert vielmehr seinen Götz zum letzten Reichsritter, der schließlich von der neuen Zeit überrollt wird. In der Fehde mit dem Bamberger Bischof wird dieser durch die Intrige seines ehemaligen Jugendfreundes Weislingen von den Truppen des Götz eigentlich wohlgesonnenen Kaisers gefangen und unter Reichsbann gesetzt, d.h. zur Untätigkeit verdammt. Weislingen hatte sich zu Beginn des Dramas zunächst mit Götz ausgesöhnt, war aber erneut wortbrüchig geworden - auch weil er einer frühen "femme fatale" in die Hände fällt, die ihn nicht nur für ihre Zwecke instrumentalisiert sondern nach einigen angedeuteten wie vollzogenen Ehebrüchen schließlich sogar vergiftet. Überhaupt wird in dem Drama viel gestorben: Nicht nur in den vielen Schlachtund Kampfhandlungen - wie der Kaiser (von den Zeitgenossen als der "letzte Ritter" bezeichnet) stirbt schließlich auch Götz und mit ihm eine ganze Epoche. Als der alte Mann nach Jahren der Untätigkeit von den aufständischen Bauern gezwungen wird, ihren Aufruhr anzuführen, misslingen seine Versuche, deren Mordbrennerei zu mäßigen, aufgrund einer Intrige, und er wird schließlich abermals gefangen gesetzt. Er stirbt im Garten vor dem Gefängnisturm mit dem programmatischen Ausruf: "Freiheit! Freiheit!" (S. 175) Goethe schildert hier nicht nur den Untergang eines "großen" Individuums, wie es das bürgerliche Publikum seit Shakespeares Zeiten so sehr liebte. In einem breiten Panorama schildert Goethe eine Zeit des Umbruchs von einer lose organisierten Kaiserherrschaft zur streng zentralistischen, "absolutistischen" Herrschaft in den deutsche Territorien. Der alte Stand der reichsunmittelbaren (d.h. nur dem Kaiser unterstellten) Ritter mit ihrem ausgeprägten Ehrenkodex
geht unter und wird durch den geschmeidigeren Typus des intriganten Höflings ersetzt, wie ihn etwa Weislingen verkörpert. Gerade dadurch wird das Stück für das zeitgenössische Publikum Goethes interessant: Denn im sich absolutistisch verstehenden Adel, der den Götz langsam zugrunde richtet, sieht ja auch das aufkommende Bürgertum seinen Gegenspieler, von dem es sich scharf abzugrenzen sucht. Eine ausdrückliche Zeitkritik wird vor allem am Schluss des Stücks deutlich. Götz verflucht die neue Zeit, die nach ihm kommen wird: "Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihm Freiheit gegeben. Die Nichtswürdigen werden regieren mit List, und der Edle wird in ihre Netze fallen." (S. 175) Goethe kommt diesem Abgrenzungsbedürfnis entgegen, indem er den Stoff ausdrücklich historisiert: Die Sprache des Stücks ist mit vielen Archaismen durchsetzt; erstmals wird in historischen Kostümen gespielt (während bis dahin zeitgenössische Kleidung gebräuchlich war). Damit löst er nicht nur eine Welle historischer Themen in der Literatur aus, die in ihren Fernwirkungen bis zu Walter Scott reicht. Indem er den Stoff als historischen deutlich macht, zeigt er auch die noch spürbaren Folgen als geschichtlich gewachsen und damit kritisierbar. Sein Vorbild sieht Goethe dabei in Shakespeare. Schon in seiner Rede zum Shakespeares-Tag, die mehr über seinen Götz als über Shakespeare verrät, hatte er ein Konzept verfochten, das die "Natur" in Gegensatz zur üblichen Regelpoetik setzte. Entsprechend sieht man Götz in seiner ersten wie in seiner letzten Szene (und vielfach zwischendurch) in der freien Natur stehen und schließlich sterben. In diesem Sinn ist auch Goethes Wendung gegen die Drei Einheiten zu verstehen: Während die durch panoramatische Szenen immer wieder aufgelockerte Handlung durch die Struktur der fünf Akte wenigstens grob zusammengehalten wird, gibt es im Stück eine Vielzahl von Ort- und Zeitsprüngen. In der Zahl der Szenenwechsel, bei denen die Auftritte manchmal nur aus kurzen Wortwechseln bestehen, übertrifft Goethe sogar sein englisches Vorbild bei weitem. Das bürgerliche Publikum nimmt des Stück begeistert auf. Der weitgehend unbekannte Goethe wird mit diesem immensen Theatererfolg und den ein Jahr später veröffentlichten Leiden des jungen Werther, die auf ihre gefühlsselige Weise ebenfalls den Gegensatz zwischen Bürgertum und Adel thematisieren, nicht nur zu einem der Aushängeschilder der jungen Bewegung des Sturm und Drang, sondern er bringt die deutsche Literatur erstmals auf Weltniveau. © JK
Johann Wolfgang von Goethe: Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, hg. v. Erich Trunz. Bd. 4: Dramatische Dichtungen II. Textkritisch durchgesehen u. kommentiert v. Wolfgang Kayser, 13., durchgesehene Aufl., München 1994.
Johann Wolfgang von Goethe Iphigenie auf Tauris. Ein Schauspiel (1787)
Goethes Iphigenie ist geradezu das Gegenteil des Götz von Berlichingen, obwohl sie das nächste abgeschlossene Stück ist (nach einigen erst später oder gar nicht vollendeten Fragmenten). Dies liegt vor allem im Thema begründet: Ging es im Götz noch um den "großen" Einzelnen in einem historisch verorteten nationalen Kontext, so geht es in Iphigenie nun um das "Allgemein-Menschliche" in einer idealisierten griechischen Sagenwelt. Iphigenie auf Tauris ist die Fortsetzung der Ereignisse aus Iphigenie in Aulis, wie wir sie etwa in der Fassung des Euripides kennen: Iphigenie lebt als Priesterin der Diana, die sie vor dem Opfer in Aulis gerettet hat, bei den Taurern (im griechischen Verständnis "Barbaren" wie alle Nicht-Griechen). Als Iphigenie den Heiratsantrag des Königs Thoas ablehnt, setzt dieser enttäuscht die Tradition der Diana gewidmeten Menschenopfer wieder ein, die er Iphigenie zuliebe vorher aufgegeben hatte. Die ersten Fremden, die sie als Priesterin opfern soll, sind ausgerechnet ihr Bruder Orest und dessen Gefährte Pylades. Orest, der seine Mutter und ihren Liebhaber erschlagen hatte, um deren Mord an seinem Vater Agamemnon zu rächen, ist auf das Geheiß Apollos nach Tauris gezogen, um für seine Tat zu sühnen. Die Geschwister erkennen sich und Orest wird von seinen Gewissensbissen (im griechischen Verständnis: Rachegöttinnen) geheilt. Auf Drängen des umtriebigen Pylades beschließen sie, Thoas zu täuschen und das Heiligtum der Diana nach Apollos Geheiß zu stehlen. Iphigenie aber will Thoas nicht hintergehen und liefert sich wie ihre neuen Gefährten der Hoffnung auf die Milde des Barbarenkönigs aus. Als es deshalb zum bewaffneten Konflikt kommt, erkennt Orest die Doppeldeutigkeit des Orakels, das ihm eben nicht aufträgt, das Bild der Schwester Apollos (d. i. Diana) sondern die eigene Schwester (also Iphigenie) wieder nach Griechenland zu bringen, und beseitigt so die kultischen Streitigkeiten mit Thoas. Dieser erweist sich daraufhin als wahrhaft humaner Herrscher: Er hält sich an das der Iphigenie gegebene Versprechen und lässt die Griechen kampflos abziehen. Gerade mit dieser friedlichen und vollkommen "untragischen" Auflösung des Konflikts bringt Goethe eine neue Qualität in die überlieferte Stofftradition ein, in der bisher die Griechen die Barbaren mindestens übertölpelt, zumeist auch umgebracht hatten. Hier findet die zeitgenössische Vorstellung einer idealisierten griechischen Antike ihren Ausdruck, die in jener sagenhaften Vorzeit ein ethisch wie ästhetisch vorbildliches Zeitalter erkennen wollte. Goethe, der seine Iphigenie auf seiner Italienreise 1786 endgültig aus der 1779 entstandenen Prosafassung in Verse übertrug, hält sich in dieser letzten und gültigen Fassung streng an die antiken Vorgaben: Das Drama weist eine streng symmetrisch
aufgebaute geschlossene Form mit klarer Fünf-Akt-Struktur auf, in der die Drei Einheiten genauso eingehalten werden wie die Ständeklausel - alles Elemente, gegen die er sich noch zu Zeiten des Sturm und Drang emphatisch ausgesprochen hatte. Die strenge Symmetrie findet sich ebenso auf der Ebene der Figuren, in der Iphigenie zwischen den Männerpaaren Thoas/Arkas und Orest/Pylades steht, wie in der an die antiken Gattungskonvention angelehnten Aktfolge, in denen Wahrheit (I; III; V) und Lüge (II; IV) sich abwechseln; schließlich auch in den die Konflikte strukturierenden Gegensatzpaaren wie etwa: Mann/Frau, Lüge/Wahrheit, Götter/Menschen, Griechen/Barbaren, Herz/Verstand. Besondere Beachtung verdient die Sprache des Stücks: Goethe setzt schließlich den Text in Blankverse und versetzt ihn so in eine künstliche Hochsprache (auch das eine Forderung aus Aristoteles' Poetik), die das Geschehen von jedem Anspruch auf Realität befreit. Die Figuren handeln so abgehoben wie sie den Konflikt schließlich lösen - in der Kunstwelt einer idealen Humanität. Dieses Abstandes zur tristen Wirklichkeit war sich der Weimaraner Politiker Goethe durchaus bewusst: In der Phase der ersten Fassung nutzte er die Arbeit am Stück zur Ablenkung von den deprimierenden Amtspflichten. Später sah er diese Form der Weltflucht eher skeptisch. Das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts machte sich dagegen gerade diesen Aspekt zunutze und sah sich in seiner Propagierung einer unpolitischen Welt (deutscher) "Innerlichkeit" bestätigt. Die Iphigenie wurde zum Zitatensteinbruch reduziert: "Du sprichst ein großes Wort gelassen aus" (V. 307) u.a. der zahlreichen Sentenzen gehören bis heute zum bildungsbürgerlichen Inventar - was aber nur zu dem Vorurteil vom leblosen "Klassiker" Goethe beiträgt. © JK
Johann Wolfgang von Goethe: Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, hg. v. Erich Trunz, Bd. 5: Dramatische Dichtungen III. Textkritisch durchges. v. Lieselotte Blumethal u. a. 12., durchges. Aufl., München 1994.
Bertolt Brecht Leben des Galilei. Schauspiel (1938/39-1956)
Bekanntlich verstand Brecht seine Theaterstücke als Stationen eines offenen Prozesses fortwährender Überarbeitung und Aktualisierung. Dies gilt auch und gerade für seinen Galilei. Bei der Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk des Gründervaters der neuzeitlichen Physik - der einerseits das geozentrische Weltbild begrub, indem er die Thesen des Kopernikus bewies, und den neuen Blick der Naturwissenschaft prägte, andererseits aber unter dem Druck der päpstlichen Inquisition seine Lehre widerrief - verschob er unter dem Eindruck der weltgeschichtlichen Ereignisse mehrfach die Schwerpunkte. Die Zeit seiner Arbeit am Stoff umfaßte - mit einigen Unterbrechungen - den oben angegebenen Zeitraum von einer ersten Fassung im dänischen Exil 1938/39 bis zu den Probearbeiten am Berliner Ensemble 1956 kurz vor seinem Tod (die Aufführung selbst fand posthum 1957 statt). In einem breitgefaßten epischen Bogen wird das Leben des italienischen Naturforschers in zuletzt 15 lose zusammenhängenden Szenen beschrieben, die in mehr oder weniger großen Zeitsprüngen die Zeitspanne vom Mittvierziger Galilei bis zum erblindeten Greis umfassen. Galileo Galilei ist zu Anfang des Stücks ein angesehener, aber noch nicht berühmter Mann, der nach dem Bericht eines neuen Schülers das in Holland erfundene Fernrohr nachbaut und seinen Geldgebern als eigene Erfindung verkauft. Mit dem neuen Instrument sieht er sich endlich in der Lage, die Theorien des Kopernikus zu beweisen. Um Muße für seine Forschungen zu haben, wechselt er aus dem freien Padua, wo er unter dem Schutz und Druck der ihn finanzierenden Kaufleute steht, an den Hof nach Florenz, der dem Papst verpflichtet ist. Galileis Beobachtungen werden zuerst von der Kurie bestätigt, dann aber verboten. Nach einem achtjährigen Schweigen setzt Galilei, der sich bei allem naturwissenschaftlichen Scharfblick einen eher naiven Glauben an die menschliche Vernunft erhalten hat, unter einem neuen Papst, der selbst Naturwissenschaftler war, seine Forschungen fort. Der aber läßt Galilei zum Widerruf zwingen, indem er dem Genuß- und Sinnesmenschen die Folterinstrumente zeigt. Gerade in der Bewertung dieses Widerrufs unterscheiden sich die verschiedenen Bearbeitungen Brechts - und damit vor allem der Schluß der unterschiedlichen Fassungen. In der ersten Fassung aus dem dänischen Exil erscheint der Widerruf noch als "List der Vernunft", die es Galilei ermöglicht, im Stillen seine Forschungen weiter zu betreiben. In der zweiten Fassung, die im amerikanischen Exil in der Zusammenarbeit mit Charles Laughton entstand, wird die Figur viel negativer gesehen. Unter dem Schock des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki erscheint Galilei als Verbrecher, der zu feige war, durch seinen Widerstand ein naturwissenschaftliches Ethos zu schaffen, das den Mißbrauch
der Forschung ächtet. Diese Fassung endet mit der Selbstanklage Galileis. In der dritten Fassung wird dieser pessimistische Schluß etwas aufgehellt: In der Schlußszene, nach der Selbstanklage des Lehrers, wird sein früherer Schüler gezeigt, der nun das bahnbrechende Werk Galileis in die freien Niederlande schmuggelt. Das Leben des Galilei ist nicht nur eines der meistgespielten, sondern auch eines der umstrittensten Stücke Brechts - vor allem, weil es von allen Schaustücken der Exilzeit am wenigsten den Ansprüchen seines Epischen Theaters entspricht: Zwar bleibt die Dramaturgie weitgehend offen und die Fabel eher "undramatisch" - allerdings beherrscht die Figur des Galilei das gesamte Stück, auch in den (wenigen) Szenen, in denen er nicht auf der Bühne erscheint. Das entspricht eher dem Verständnis des traditionellen, an Identifikationsfiguren orientierten Theaters und widerspricht einer Dramaturgie, die historisch gewachsene gesellschaftlich-ökonomische Zusammenhänge offenzulegen sucht. Vor diesem Hintergrund bleibt die von Brecht stets betonte Verdammung der Figur des Galilei unter seinem üblichen analytischen Niveau: der Glaube an die exemplarischen Wirkungsmöglichkeit des Einzelnen entspricht eher den Wirkungsabsichten Schillers als Brechts. Auf der anderen Seite bietet aber gerade die Figur des Protagonisten (der hier wirklich im Mittelpunkt steht) eine Möglichkeit, sich dem Stück zu nähern. Zum einen hat Brecht in seinem Versuch, sein Theaterkonzept in populärer Form bekanntzumachen, ausdrücklich auf den verfremdenden Blick Galileis hingewiesen. Zum anderen kann gerade der Genußmensch Galilei als ein Vorbild brechtschen Denkens überhaupt gesehen werden: "Er denkt aus Sinnlichkeit." (S. 89) Denn Brecht selbst war in des Wortes umfassendster Bedeutung ein lustvoller Denker. © JK
Bertolt Brecht: Leben des Galilei. Schauspiel. In: ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Bd. 2. Frankfurt/M. 1997.
Bertolt Brecht Mutter Courage und ihre Kinder. Ein Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg (1950)
Als "Chronik" wird traditionellerweise die Geschichtsschreibung aus der Sicht jener "Großen" bezeichnet, die die Politik bestimmen, und das heißt vor allem: die über Krieg und Frieden entscheiden - oftmals ohne dabei selbst den Gefahren von Schlachten oder Hungersnöten ernsthaft ausgesetzt zu sein. Brecht dreht in seinem Stück Mutter Courage und ihre Kinder diese Perspektive um. Ihm geht es um einen "plebejischen Blick" auf diejenigen, die die wirklichen Leiden des Krieges zu tragen haben: "Im allgemeinen kann man sagen, daß uns gemeinen Leuten Sieg und Niederlage teuer zu stehen kommen." (S. 139) Die Protagonistin Anna Fierling, genannt Mutter Courage, ist eine von diesen "Kleinen", die in den Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) ihre drei Kinder verliert und völlig verarmt. Allerdings ist sie nicht Opfer in einem Rührstück, sondern versucht als Täterin selber, im Krieg ihren Schnitt zu machen. Sie ist trotz aller Leiden nicht am Frieden interessiert, der aus ihrer Sicht geschäftsschädigend wirkt. Die Mutter Courage verdient ihr zunehmend schwindendes Geld als Marketenderin, d.h. sie folgt mit ihrem Planwagen dem schwedischen Heer auf seinen Raubzügen durch das zerstörte Deutschland. Sie versorgt den Troß mit den benötigten Waren oder zumindest mit dem, was sich in den verödeten Landstrichen noch auftreiben läßt. Ihr ältester Sohn wird gleich zu Beginn für die Kriegsdienste angeworben, der zweite bald als Zahlmeister eingesetzt, die Tochter, die seit ihrer Mißhandlung durch einen Soldaten verstummt ist, wird von der Mutter für die Geschäfte eingespannt. Alle drei Kinder müssen im Verlauf des Stücks sterben und zwar jeweils an ihren "Tugenden": Der kühne Älteste wird erschossen, weil er in einer kurzen Friedensphase geraubt und geschändet hat (für die selbe Tat war er zu Kriegszeiten ausgezeichnet worden). Der zweite geht an seiner Redlichkeit zugrunde, weil er die Regimentskasse verstecken will und entdeckt wird. Die Tochter schließlich opfert sich in ihrer Kinderliebe, indem sie die Einwohner der Stadt Halle vor den eindringenden Truppen warnt. - Die Mutter selbst läßt sich aber davon nicht umstimmen, sie folgt weiterhin dem Heereszug, nunmehr alleine ihren Planwagen ziehend. Brecht hat sich stets dagegen ausgesprochen, in diesem Stück die persönliche Tragödie einer Mutter und eine Anklage gegen die Grausamkeiten des Krieges zu sehen. Nachdem die Uraufführung in Zürich 1941 vor allem das Leiden des "Muttertiers" betont und alle politisch-ökonomischen Aspekte ausgeblendet hatte, bemühte sich Brecht für die unter seiner Regie in Berlin 1949 stattfindende
Aufführung, die negativen Züge der Courage-Figur stärker zu betonen und sie als "Hyäne des Schlachtfelds" (S. 169) zu zeigen. Die Identifikation mit der leidenden Mutter hätte auch allen Prinzipien seines Epischen Theaters widersprochen, das sich bekanntlich gegen jede Form der Einfühlung verwehrt. Brecht setzt auch hier Mittel der epischen Form ein: Die Dramaturgie ist offen und nicht auf dramatische Konflikte hin angelegt. Wichtig sind dabei vor allem kommentierende Songs, die ins Spielgeschehen eingefügt sind, und Zwischentitel, die das dargestellte Geschehen vorwegnehmen und das Interesse nicht auf das "Was" sondern auf das "Wie" lenken sollen. Brecht hat die Probearbeiten, bei denen die Schauspieler sich in die neue, epische Darstellungsform einüben sollten, dokumentieren lassen, um ein Modell für sein Theaterkonzept bereitzustellen (die oben angegebene Jahreszahl bezieht sich auf die Druckfassung der überarbeiteten zweiten Auflage der in der Probenarbeit entwickelten Fassung). Der große Erfolg dieser Aufführung führte schließlich zur Gründung des Berliner Ensembles, Brechts eigener Theatertruppe samt zugehöriger Spielstätte. Die Dokumentation der Probearbeiten wirkte zunächst befreiend auf das deutsche Theaterleben, da man glaubte, hier das Vorbild zu einer völlig neuen Spielweise zu finden. Bald darauf aber wurde diese "epische" Spielweise kanonisiert und führte vor allem nach Brechts Tod zu einer starren Formelhaftigkeit der Aufführungen - ganz gegen die eigentlichen Intentionen Brechts. © JK
Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Bd. 2, Frankfurt/M. 1997.
Bertolt Brecht Der gute Mensch von Sezuan (1953)
Böswillig könnte man behaupten, die Idee des Stückes entspringe der Rachsucht einer beleidigten Diva: Als Brecht 1926 mit den Dichterkollegen Alfred Döblin und Arnolt Bronnen nach Dresden zu einer Dichterlesung geladen wird und am Vorabend nur schlechte Opernkar-ten erhält, verfaßt er beleidigt ein Gedicht, in dem die drei als Götter auftreten und aufgrund der ausbleibenden Huldigungen drohen, die Stadt zu überfluten. Diese (scherzhafte) Idee kombiniert Brecht im skandinavischen und amerikanischen Exil mit einigen noch aus den 30er Jahren stammenden unabgeschlossenen Plänen für ein Stück über die Prostitution (die er als Ergebnis ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse verstand). Unter intensiver Verarbeitung von Motiven und Techniken des chinesischen Theaters und chinesischer Philosophie entstand schließlich Der gute Mensch von Sezuan. In diesem Stück suchen drei Götter die Provinz Sezuan heim, um einen einzigen guten Menschen zu suchen, der die Einrichtung der Welt, so wie sie, ist rechtfertigen kann. Sie mei-nen ihn in der Prostituierten Shen Te zu finden. Diese wird mit einem kleinen Kapital ausgestattet und zum Gutsein ermahnt, droht aber gerade an ihrer Hilfsbereitschaft zu scheitern, die ihre Mitmenschen hemmungslos ausnutzen. In ihrer Not erfindet sie sich den Vetter und Erzkapitalisten namens Shui Ta als ihr alter ego. Er sichert mit Härte und unsauberen Mitteln ihr Überleben. Zuerst nur als Nothilfe gedacht, nimmt er schließlich vollständig Besitz von Shen Te, die von ihrem betrügerischen Liebhaber schwanger und verlassen am Rande der Pleite steht, und wandelt ihren kleinen Tabakladen durch Ausbeutung der Hilfsbedürftigen Schritt für Schritt in ein Tabakimperium um. Erst als Shui Ta des Mordes an Shen Te angeklagt wird und vor die als Richter getarnten Götter tritt, läßt Shen Te die Maske fallen und konfrontiert sie mit der Ausweglosigkeit ihrer Situation: "Euer einstiger Befehl / Gut zu sein und doch zu leben / Zerriß mich wie ein Blitz in zwei Hälften. Ich / weiß nicht, wie es kam: gut sein zu an-deren / Und zu mir konnte ich nicht zugleich. / … Denn wer könnte / Lang sich weigern, böse zu sein, wenn da stirbt, wer kein Fleisch ißt?" ( S. 291) Die Götter aber weigern sich, diese Zerrissenheit wahrzunehmen und entschweben einfach auf einer rosa Wolke. Zurück bleiben die alleingelassene Shen Te und ein ratloser Spielleiter, der sich wegen der ausbleibenden Lösung entschuldigend ans Publikum wendet: "Wir stehen selbst betrübt und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen." (S. 294 auch nach dem Ende des Literarischen Quartetts wohl die berühmtesten Zeilen des Stücks) Brecht nutzt in diesem Stück vor allem die Mittel der chinesischen Theaterkunst, um ganz im Sinne seines Epischen Theaters das Geschehen auf der Bühne zu verfremden und der Ein-fühlung zu entziehen. So läßt er Masken aufsetzen,
kommentierende Songs die Handlung unterbrechen und die Figuren sich teilweise selbst vorstellen oder direkt ans Publikum wenden. Als revolutionär wird der erstmalige Einsatz der bis dahin nur im Film verwendeten Rückblende bezeichnet. Die vielfach verwendeten Zitate chinesischer Philosophen (zumeist in der Form von Sprichwörtern) geben dem auf der Bühne präsentierten Geschehen ein exotisches Flair - ohne aber ein authentisches China zeigen zu wollen. Die Figur der Shen Te ist deshalb auch nicht als tragisch zerrissene Persönlichkeit angelegt, sondern dient wie das gesamte Stück einer Demonstration (als die Brecht die Arbeit eines Schauspielers stets verstanden wissen wollte): Der gute Mensch von Sezuan ist angelegt als Parabel über die Aufspaltung des Menschen im Kapitalismus in zwei Hälften: eine private, moralische, und eine öffentliche, dem Erwerbszwang ausgesetzte. - Aus dem Abstand von gut 50 Jahren kann heute nicht mehr von einer anregenden Wirkung des Stücks ausgegangen werden. Dafür scheint weder das Theater als Institution noch geeignet, noch kann die zwangsläufige Simplifizierung des Parabeltheaters komplexere gesellschaftliche Zusammenhänge adäquat darstellen. Der berühmte Schlußsatz interessiert deshalb heute vor allem als Doku-ment für Brechts Idealvorstellung einer Veränderung der Haltung des Zuschauers: "Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! / Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!" (S. 295) © JK
Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Bd. 2, Frankfurt/M. 1997.
Bertolt Brecht Der kaukasische Kreidekreis (1954)
Wie Der gute Mensch von Sezuan ist auch dieses späte Stück Brechts als Parabel angelegt. Dies macht schon die Verzahnung zwischen dem Prolog, einem ins Belieben der Inszenierung gestellten Epilog und der eigentlichen Handlung deutlich, die genau genommen zwei Handlungsstränge nacheinander erzählt. Und dieses Erzählen ist durchaus wörtlich zu verstehen, schließlich handelt es sich um ein Stück im Geiste des Epischen Theaters. Nachdem sich im Vorspiel - das Brecht bald zum ersten Akt erklärte, weil es in der bundesdeutschen Uraufführung einfach weggelassen wurde - die Mitglieder zweier Kolchosen (ländliche Produktionsgemeinschaften in der Sowjetunion) über die Nutzung eines Tals verständigt haben, tritt ein Sänger auf und läßt die Mitglieder der einen Kolchose eine diese Verhandlungen kommentierende Geschichte als Spiel-im-Spiel unter seiner Leitung aufführen. Er tritt hier explizit als Erzähler auf (auch wenn er genau genommen singt und das Stück eben gespielt wird), der als auktorialer Erzähler souverän über die auftretenden Figuren verfügt, sie ein- und ausführt, ihnen sogar Anweisungen gibt und ihre unausgesprochenen Gedanken offenlegen kann. Erzählt wird die "Aktualisierung" einer chinesischen Sage, die der Bibelkundige ähnlich als eines der Urteile des Königs Salomon kennt: Der Streit zweier Frauen darum, wer die rechtmäßige Mutter eines Kindes ist. Im dargestellten Spiel geht es um die Magd Grusche, die nach einem Aufstand im Georgien (im Stück: "Grusinien") des 19. Jahrhunderts sich des verlassenen Kinds der vertriebenen Gouverneurin annimmt und mit diesem durch allerhand Gefahren flieht. Deshalb sieht sie sich bald als die rechtmäßige Mutter des Kindes. Trotzdem fordert die Gouverneurin das Kind, um das sie sich kaum gekümmert hat, zurück. Die Entscheidung des Streitfalls obliegt dem in den Wirren des Ausnahmezustands als Richter eingesetzten Dorfschreibers Azdak, der sich mit seiner eigensinnigen Rechtspraxis (er nutzt das Gesetzbuch nur als Sitzgelegenheit) für die Unterdrückten wie für sein eigenes Wohl stark macht. Nur durch die Ausnahmesituation des noch nicht völlig wiederhergestellten alten Herrschaftszustandes kann Azdak hier in seinem letzten Fall Grusche das Kind zusprechen (danach wird er wie sie selbst fliehen müssen). Er setzt dafür eine Probe der beiden "Mütter" an: Das Kind wird in einen Kreidekreis gestellt und beide Frauen müssen jeweils versuchen, es auf ihre Seite zu reißen. Grusche läßt sofort los, um das Kind nicht zu verletzen und gibt sich so als die wahrhaft Mütterliche zu erkennen. Im Kaukasischen Kreidekreis geht es aber nicht um eine Parabel auf
Mütterlichkeit, sondern um das Verhältnis von Eigentum und Nützlichkeit (marxistisch: "Gebrauchswert"). So erklärt der Sänger dem Publikum abschließend, "daß da gehören soll, was da ist / Denen, die für es gut sind, also / Die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen / Die Wagen den guten Fahrern, damit gut gefahren wird / Und das Tal den Bewässerern, damit es Frucht bringt." (S. 669) Er stellt so den Zusammenhang zwischen dem Spiel der Kolchosemitglieder und ihrem Beschluß im Prolog her: Was in der historischen Wirklichkeit nur ausnahmsweise möglich war - die Entscheidung nach Vernunft und Nützlichkeit - ist beim Streit um das Tal reale Möglichkeit geworden. Gerade diese Verbindung von Vorspiel und "eigentlicher" Handlung erschwert den heutigen Zugang zum Stück ungemein. Was in Nachkriegszeiten noch wohlwollend als literarisch-sozialistische Utopie verstanden werden konnte: die Hoffnung auf ein Zeitalter der Vernunft, in dem auch die Kunst nicht mehr von der Sphäre der Produktion getrennt bleibt (deshalb führen die Kolchosebauern gemeinsam ein Stück auf, das der konkreten Reflexion ihrer Situation praktisch ist), erscheint heute nur noch als unfreiwillig komischer Sowjetkitsch im Vorspiel - und auch die Parabelhandlung wirkt kaum noch animierend. Das Stück ist deshalb heute nur noch unter literarhistorischen Gesichtspunkten interessant. Ausgiebig führt Brecht hier die Möglichkeiten des Epischen Theaters vor: Neben den bereits erwähnten Mitteln des Sängers/Erzählers und der Unterbrechung des Handlungsverlaufs durch die Rückblende auf die Geschichte des Azdak sind der Einsatz von Masken und die vielfältigen Spiele-im-Spiel zu erwähnen, wie etwa gestische Demonstrationen oder Pantomimen. - Die Aufführungen in der DDR wie in der BRD waren äußerst umstritten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Kritisiert wurde vor allem das epische Spiel, das (hier nicht zu Unrecht) als langatmig gescholten wurde. Ganz im Gegensatz dazu war aber das Gastspiel von Brechts Berliner Ensemble beim Theaterfestival in Paris 1955 ein wahrer Triumph und führte gemeinsam mit der ein Jahr vorher ebenfalls dort gespielten Mutter Courage zur Durchsetzung von Brechts Theater in der Weltliteratur. © JK
Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Bd. 2, Frankfurt/M. 1997.
Friedrich Dürrenmatt
* 05.01.1921, Konolfingen † 14.12.1990, Neuchâtel Schriftsteller, Essayist, Maler Friedrich Dürrenmatt, Sohn eines Berner Pastors, studierte zunächst zehn Semester Philosophie, bevor er sich dem Malen und Schreiben zuwandte. Seinen ersten Erfolg als Dramatiker erlebte er 1949 mit dem Stück Romulus der Große; die Stücke Der Besuch der alten Dame (1956) und Die Physiker (1962) verhalfen ihm zum internationalen Durchbruch. Mit den Kriminalromanen Der Richter und sein Henker (1950), Der Verdacht (1951), Das Versprechen (1958) und Justiz (1985) erreichte er eine über die Grenzen der Schweiz hinausreichende Popularität. Dürrenmatt betrachtet sich als einen "Drauflosdenker" und einen "Gedankenschlosser", er denkt und inszeniert die Welt und ihre Katastrophen. Im Gegensatz zur brechtschen Verfremdung benutzt er die groteske Überspitzung als Mittel der Kritik. Die Welt ist gedankenlos, die Leute sind rücksichtslos, sagt er in Die Panne und kann eigentlich nur durch die tragisch-groteske Komödie dargestellt werden. "Unsere Welt hat ebenso zur Groteske geführt wie zur Atombombe", sagt der Autor in Theaterprobleme (1954). Ist die Welt grotesk, so müssen die Texte, die sie darstellen, auch grotesk sein. Er vertritt die Idee, wir seien alle kollektiv schuldig an dem grotesken Zustand der Welt, genau wie unsere Vorfahren. Bei Dürrenmatt bleibt es dem einzelnen mutigen Menschen, der rein individuell handeln kann, überlassen, sich gegen die desaströsen Zustände zu wehren. Exemplarisch für diese Haltung sind Möbius in Die Physiker und Ill in Der Besuch der alten Dame - Figuren, die in ihrem zum Scheitern verurteilten Widerstand ihre Humanität bewahren. Dürrenmatts Werke zeigen die "schlimmstmögliche" Wendung der Geschichte und räumen dem Zufall die Rolle des Beschleunigers auf dem Weg in die Katastrophe ein: "je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen", wie man in 21 Punkte zu den "Physikern" lesen kann. Durch die Komödie kann eine gewisse Distanz geschaffen werden, so dass der Zuschauer / Leser die dargestellte Wirklichkeit erfassen kann. Das Problem dabei ist, dass diese Wirklichkeit selbst paradox ist und deshalb nur durch das Paradoxe darstellbar ist. Dürrenmatt publizierte keine Tagebücher, wie etwa Max Frisch, sondern von 1979 an die Geschichte seiner Werke in Labyrinth. Stoffe I-III und Turmbau. Stoffe IV-IX. Seine Werke sind Inszenierungen des Denkens. Deshalb entstehen
"Dramaturgien", etwa "Dramaturgie der Politik", "Dramaturgie eines Rebellen", "Dramaturgie der Vorstellungskraft", "Dramaturgie des Labyrinths". Seine Dramaturgien beziehen sich aber nicht direkt auf das Theater, sondern auf die Möglichkeiten, die Probleme der Welt bewusst zu machen und sie zur Darstellung zu bringen. Eines der Grundthemen Dürrenmatts ist das Labyrinth, das ihn sowohl literatisch als auch zeichnerisch beschäftigt. "Das Labyrinth verstehe ich als Urbild für die totale Ausweglosigkeit: alle Fluchtwege erweisen sich als Illusionen: es gibt keine Lösungen, nur Irrwege", sagt der Autor in einem Gespräch mit Peter André Bloch. Das Labyrinth ist also eine Metapher für unsere Welt, die immer undurchschaubarer wird. Im Zentrum der Undurchschaubarkeit steht aber der Mensch selbst: "Diese Welt ist so, wie der Mensch sie macht" (Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht). Das Labyrinthische wird zuerst in den Erzählungen Die Stadt und Der Tunnel bildlich gezeigt, aber auch in der Geschichte Winterkrieg in Tibet, in der Novelle der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter (1986) und im Roman Durcheinandertal (1989). Es durchzieht als Thema sein Gesamtwerk und kulminiert in der Ballade Minotaurus (1985). Kann oder wagt der Mensch, das Labyrinth zu verlassen? Trifft er dort den Minotaurus, den Stiermenschen der alten kretischen Sage? Der Minotaurus kann an jeder Ecke erscheinen, es herrscht ja der Zufall. Und Theseus kann ihn treffen und töten, oder auch nicht. Das Labyrinth existiert gleichzeitig im Menschen selbst und außerhalb, in der Welt, der Mensch ist Minotaurus und Theseus gleichzeitig. So sind Dürrenmatts Werke labyrinthische Visionen der paradoxen Welt, des paradoxalen Menschen. © GVB
Wichtige Schriften: ❍
Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden, Zürich, Diogenes Verlag.
Sekundärliteratur: 1. 1. H.L. Arnold: Querfahrt mit Friedrich Dürrenmatt, Zürich 1998. 2. E. Brock-Sulzer: Friedrich Dürrenmatt. Stationen seines Werkes, Zürich 1986. 3. H. Goertz: Dürrenmatt, Reinbek bei Hamburg 1987.
Erzählsituationen
Bei der Lektüre eines fiktionalen Textes schaltet sich sowohl zwischen den Autor und die erzählte Geschichte (´histoire´) als auch zwischen die Geschichte und den Leser eine Vermittlungsinstanz ein, die man als Erzähler oder zumindest Erzählinstanz bezeichnen kann. Der reale Autor, der nicht selbst zu Wort kommt, delegiert seine Erzählung gewissermaßen an einen Stellvertreter, den Erzähler, den er mit unterschiedlich großen "Vollmachten" hinsichtlich der zu erzählenden Geschichte ausstatten kann. Dieser Erzähler kann beim Lesen in einem Extremfall geradezu wie eine "Person" faßbar werden, im anderen scheint er vollständig hinter das Erzählte zurückzutreten. Dennoch ist zumindest seine Stimme vernehmbar, welche die Geschichte aus einer bestimmten Perspektive, einem bestimmten Blickwinkel erzählt. Der österreichische Anglist Franz Karl Stanzel (geboren 1923) hat sich in mehreren Büchern mit dieser Vermittlungsrolle des Erzählers ausführlich beschäftigt (Die typischen Erzählsituationen im Roman, 1955, Typische Formen des Romans, 1964, Theorie des Erzählens, 1979). Er arbeitet verschiedene Elemente heraus, die für die Stellung des Erzählers in und zu seiner Geschichte bestimmend sind. Dazu rechnet er vor allem den ´Modus´ (d.h. das Überwiegen von berichtendem Erzählen durch eine ´Erzählerfigur´ oder von szenischer Darstellung durch eine ´Reflektorfigur´). Weiter die ´Person´, womit vor allem die Unterscheidung zwischen einer Erzählung in der ersten oder der dritten Person Singular gemeint ist (Ich- oder Er-/Sie-Erzählung), also die Frage, ob der Erzähler mit seinen Figuren einen gemeinsamen ´Seinsbereich´ teilt oder nicht. Bei der ´Perspektive´ unterscheidet Stanzel zwischen einer ´Innensicht´, die dem Leser Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren eröffnet, und einer ´Außensicht´, die lediglich das wiedergibt, was ein außenstehender Beobachter wahrnehmen kann. Aus den möglichen Kombinationen dieser Elemente ergeben sich für ihn die drei "typischen Erzählsituationen". Er ordnet sie graphisch in einem "Typenkreis" an, der Übergänge und Überschneidungen zwischen diesen Situationen sichtbar macht. Diesem Modell lassen sich dann die konkreten Erzählungen zuordnen. Im einzelnen unterscheidet Stanzel die auktoriale Erzählsituation, die personale und die Ich-Erzählsituation. Stanzels Ensemble von Erzählsituationen ist auch über den deutschsprachigen Raum hinaus rezipiert, diskutiert und kritisiert worden (vor allem von Gérard Genette mit seinen Fokalisierungstypen). Dennoch erweist sich sein Modell im konkreten Umgang mit literarischen Texten noch heute als brauchbar. Über die Positionen Stanzels und die seiner Kritiker kann man sich im Kapitel Die typischen Erzählsituationen von Jochen Vogts Aspekte erzählender Prosa (S. 4194) informieren. © SR
Sekundärliteratur: 1. F.K. Stanzel: Typische Formen des Romans, Göttingen 1964. 2. F.K. Stanzel: Theorie des Erzählens, Göttingen 1989. 3. J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, Opladen 1997.
Oral Poetry engl.: mündliche Dichtung
Oral Poetry bezeichnet eine 'literarische' Tradition und die dazugehörende Forschungsrichtung. Untersucht werden Erzähllieder, das mündliche Epos sowie teilweise improvisierte Gesänge in schriftlosen und teilliteralen Kulturen. Von Interesse sind charakteristische Themen und Inhalte, Formen und Strukturen sowie die gesellschaftliche Funktion ihrer Tradierung. Die von Milram Parry im 19. Jahrhundert anhand von Homers Epen Ilias und Odyssee entwickelten Charakteristika konnten später von seinem Schüler Lord empirisch an noch existierenden Gesangskulturen bestätigt werden. Dabei handelt es sich um extrem formelhaftes Erzählen mit festem Handlungsgerüst, die unvermittelte Darstellung der Geschichte ohne zusätzlich eingebaute Erzählerfiktionen, markante und zugleich konstant bleibende Heldenfiguren, stereotype Beschreibungsmuster (Topoi), häufige Wiederholungen, einfache Melodienmodelle sowie bestimmte metrische Formen. Auch die Themen - Heldenschicksal, Brautwerbung, Abenteuer, metaphysische Begegnungen und kultische Anlässe - sind sowohl in anonymen Texten wie Nibelungenlied und Beowulf als auch bei slawischen, griechischen, finnischen, türkischen und estischen Völkern zu finden. Ähnliches läßt sich über die mündliche Dichtung in Afrika, Ozeanien, Südamerika und Asien sagen. Die hier genannten Merkmale dürfen nicht als schmückendes Beiwerk verstanden werden: Sie dienen in erster Linie dazu, die traditionsstiftenden Inhalte, welche sowohl dem Vortragenden wie auch seinen Zuhörern bekannt gewesen sind, über Generationen hinweg im Gedächtnis behalten zu können. Dennoch ist mündliche Dichtung von einem Nebeneinander gleichberechtigter mündlicher Fassungen geprägt. © pflug Sekundärliteratur: 1. C. M. Bowra: Poesie der Frühzeit, München 1967 2. W. J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987.
Dionysos
griech. Gott des Weines, der Fruchtbarkeit und des Rausches
Tragédie classique
Die klassizistische französische Tragödie des 17. Jahrhunderts, besonders von Pierre Corneille (1625-1709) und Jean Racine (1639-1699).
Hugo von Hofmannsthal
*1.2.1874, Wien + 15.7.1929, Rodaun bei Wien österr. Lyriker, Essayist, Dramatiker Unter verschiedenen Pseudonymen - "Loris", Theophil Morren, Archibald O`Hagan - schrieb schon der Schüler Hofmannsthal Feuilletons und lyrische Gedichte, von denen einige (Vorfrühling, Lebenslied, Manche freilich...) bis heute zum Kernbestand deutscher Poesie zählen. Sie zeigten einen souveränen Umgang mit Sprache und ein sicheres, die gesamte europäische Kultur ins Auge fassendes künstlerisches Urteil. Berauscht davon reiste der deutsche Dichter Stefan George 1891 eigens nach Wien, um einen Bundesgenossen für sein eigenes - antinaturalistisches - Schreibprogramm, die Erneuerung der deutschsprachigen Literatur aus dem Geiste des der Romantik und des französischen Symbolismus, zu gewinnen Im Schnittpunkt gemeinsamer Interessen, besonders bei der Zusammenarbeit in der Zeitschrift Blätter für die Kunst, fanden die beiden Dichter für eine Weile zusammen; menschlich hielten sie lebenslang Distanz. Ein zweiter Entdecker Hofmannsthals war der Wiener Kunstkritiker Hermann Bahr. Als er ihn im Kaffeehaus kennen lernen sollte, erwartete er einen alten, lebenserfahrenen Herrn - und traf zu seiner Verblüffung einen siebzehnjährigen Jüngling. "Jung" wurde zum Synonym für "modern", und nicht zufällig ist "Das junge Wien" der (nachträgliche!) Sammelbegriff für eine ganze Reihe von - nicht notwendig biologisch, wohl aber 'mental' - jugendlichen Autoren geworden. Sie selbst verstanden sich nicht als Gruppe, aber doch als Repräsentanten einer "neuen" Kunst und Kultur, für die Friedrich Nietzsche wichtige Impulse geliefert hatte. Neben Hofmannsthal und Bahr gehörten dazu der Arzt Arthur Schnitzler, Felix Salten (Autor von so unterschiedlichen Erfolgbüchern wie Bambi und Josephine Mutzenbacher!), Richard BeerHofmann, Leopold von Andrian und, eher am Rande, der Aphoristiker Peter Altenberg sowie Karl Krauss, der so hellhörige Dauernörgler. Was Hofmannsthal später über sein Verhältnis zu George sagte, kann man für seine an intertextuellen Bezügen reiche Literatur insgesamt sagen: "Der Einfluß war sicher groß - aber nicht was die nach Beeinflussung suchenden Literaturhistoriker unter Einfluß verstehen - sondern jenes Communicieren webender Kräfte, das eben den Geist einer Zeit ausmacht." Die literarische Energie, die Hofmannsthal aus der Beschäftigung mit der abendländischen Kunst und Literatur bezog (etwa in der Fülle seiner dramatischen und sonstigen "Nachdichtungen"), ist grundlegend für sein Schreiben, hat ihm aber auch Kritik eingetragen.
Hartnäckig hält sich das Klischee von Hofmannsthals Ästhetizismus. Dabei zeigt sich von Anfang an seine tiefe Skepsis gegenüber den Defiziten einer ästhetizistischen Lebensführung. Kritisch reflektiert er auch sprachliche Machtstrategien und -effekte. Er betreibt Diskurskritik, wenn er etwa sagt, dass sich die (Schlag-)Worte vor die Dinge stellen und die "Lügen der Wissenschaften" das Leben abtöten (Eine Monographie, der sog. "Mitterwurzer"Essay, 1895). Hier gründet die besondere Chance, die er den nonverbalen Medien (Bildkunst, Musik, Ballett, Pantomime) zuspricht. Berühmt geworden ist Ein Brief, in dem ein fiktiver Philipp Lord Chandos dem Naturwissenschaftler und Philosophen Francis Bacon gegenüber seinen Verzicht auf das Schreiben rechtfertigt. Was die Berliner Zeitung "Der Tag" im Oktober 1902 beiläufig druckte - das Dokument einer Krise des (literarischen) Sprechens und der Autorschaft in der Klassischen Moderne - wurde selbst zum Kanon-Text, auf den sich Autoren und Kritiker bis heute gern beziehen. Für Opernliebhaber verbindet sich der Name Hofmannsthal mit dem von Richard Strauss: Die beiden gelten als Paradebeispiel einer prekären, gleichwohl höchst fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Dichter und Komponist. Elektra (1903/1908), Der Rosenkavalier (1911), Ariadne auf Naxos (1916), Die Frau ohne Schatten (1919) und Arabella (1933) stehen denn auch weitaus häufiger auf den Spielplänen der großen Bühnen als Hofmannsthals Dramen. Mit Ausnahme des Jedermann, der rituell die Salzburger Festspiele einleitet, und der Gesellschaftskomödie Der Schwierige (1919) sind seine Stücke, insbesondere die frühe lyrische Dramatik (Der Tod des Tizian, Der Thor und der Tod; Die Frau im Fenster) mehr oder weniger zu Lesetexten geworden. Ohne die kunstvollen frühen Gedichte, ohne Erzählungen wie Das Märchen der 672. Nacht (1895), die Reitergeschichte (1899) oder Hofmannsthals Reiseprosa (Sommerreise, Augenblicke in Griechenland) kommt jedoch keine Anthologie der Jahrhundertwende um 1900 aus. ©UR
Wichtige Schriften: ❍
Gesammelte Werke in 10 Einzelbänden. Hg. v. B. Schoeller, Frankfurt/M. 1979. - Seit 1999 sind auch zahlreiche Texte Hofmannsthals als Studienausgaben (Reclam) greifbar.
Sekundärliteratur: 1. W. Volke: Hugo von Hofmannsthal, Reinbek 1967 u.ö. 2. M. Mayer: Hugo von Hofmannsthal, Stuttgart/ Weimar 1993. 3. U. Renner: "Die Zauberschrift der Bilder". Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten, Freiburg 2000.
Bertolt Brecht: Radiotheorie (um 1930)
Eine "Theorie des Radios" im Sinne eines umfassenden, in sich geschlossenen Denkmodells hat Brecht nicht verfasst. Seine so genannte "Radiotheorie" besteht aus wenigen kleineren Schriften zum Thema Rundfunk sowie aus praktischen (experimentellen) Rundfunkarbeiten. Doch hat sich ihr Innovationswert bis heute in der Debatte gehalten. Grundlage dafür bilden die beiden wegweisenden Schriften Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks (1932/33) und Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks (1928/29). Hinzu kommen der Aufsatz Radio - eine vorsintflutliche Erfindung? (1927/28) sowie das Hörstück Der Flug der Lindberghs. Ein Radiolehrstück für Knaben und Mädchen (1929). Im Kontext seiner Theorie vom Epischen Theater und seiner Lehrstück-Arbeit versteht Brecht den Rundfunk als ein Medium, welches die aktive Mitarbeit und Einbindung der Rezipienten möglich und nötig macht und sie damit selbst zu Produzenten werden lässt. Brecht stellt fest, daß das Radio nicht aus gesellschaftlicher Notwendigkeit, sondern als Zufallsprodukt entstanden sei. Ablesen könne man dies an der beliebigen Gestaltung des Rundfunkprogramms, etwa auch an den aus anderen Kulturbereichen transformierten Publikationsformen (Vortrag, Konzert). Gerade in den Anfängen ist das Radio ein Demonstrationsobjekt der Bourgeoisie, die ihre eigene Dummheit darin zur Schau stelle. "Ein Mann, der etwas zu sagen hat, und keine Zuhörer findet, ist schlimm dran. Noch schlimmer sind Zuhörer dran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat." Folglich ist es Brechts Anliegen, den Rundfunk so zu demokratisieren, daß "das Publikum nicht nur belehrt [wird], sondern auch belehren muß". Zu diesem Ziel soll ein Hörfunk geschaffen werden, der nicht nur sendet, sondern auch empfängt; und die Hörer sollen sich bei Bedarf in 'Sender' verwandeln können. "Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, d.h., er würde es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müßte demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren." Nicht zuletzt verbindet Brecht mit der von ihm geforderten technisch-
organisatorischen Umstrukturierung des Rundfunks einen revolutionären politischen Impetus: "Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung." Brechts so genannte Radiotheorie ist exemplarischer Teil seines kulturrevolutionären Konzepts. Sie standen in den zwanziger Jahren im Kontext verschiedener Versuche, den "eingreifenden" Charakter der Kunst und der Medien zu stärken (Walter Benjamin, John Heartfield, Erwin Piscator, Hanns Eisler). Doch hatten seine Vorschläge kaum Einfluss auf die Organisation des Rundfunkbetriebs oder die Sendeformen und gerieten bald in Vergessenheit. Die Rundfunkpolitik der Nationalsozialisten ging bekanntlich den entgegengesetzten Weg der suggestiven Massenpropaganda. Erst 1970 machte Hans Magnus Enzensberger in seinem Aufsatz Baukasten zu einer Theorie der Medien (in: Kursbuch 20) wieder auf Brechts Ideen aufmerksam, die er im Blick auf eine fortgeschrittene Mediensituation weiterentwickeln will. Etwa zur gleichen Zeit knüpft das so genannte O-TonHörspiel an Brechts Radiotheorie an und versucht Einzelnen oder Gesellschaftsgruppen eine Stimme zu geben, die sonst nicht öffentlich zu Wort kommen. Brechts Forderung nach der Verwandlung des Distributionsapparates in einen Kommunikationsapparat wurde damit fast ein halbes Jahrhundert später zumindest partiell eingelöst. © HKö
Bertolt Brecht: Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks; Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks; Radio eine vorsintflutliche Erfindung? Alle in: Werke, Bd. 21, Schriften I, Berlin u.a. 1989. - Der Flug der Lindberghs. Ein Radiolehrstück für Knaben und Mädchen, in: Werke, Bd.3, Stücke III, Berlin u.a. 1989.
Walter J. Ong
*1912 Katholischer Geistlicher und Geisteswissenschaftler Neben seiner Untersuchung zur Rhetorik bei Petrus Ramus ist der Jesuit Ong mit seinem Werk Oralität und Literalität (amerik. 1982) bekannt geworden. Seine zentrale These ist, daß die Erfindung der Schrift dem Menschen nicht bloß ein technisches Hilfsmittel geliefert habe, sondern der Eintritt in die Schriftlichkeit die menschlichen Denkweisen - und die damit verbundenen kulturellen- und gesellschaftlichen Muster - grundlegend und nachhaltig umstrukturiere. Gesellschaften mit "primärer Mündlichkeit" sind nach Ong von folgenden Denkstrukturen geprägt: eher additiv als subordinierend; eher aggregativ als analytisch, eher einfühlend-teilnehmend als objektiv-distanziert, eher situativ als abstrakt; hinzu kommen noch eine als "Homöostase" bezeichnete Dynamik von Bewahren und Vergessen sowie konservativ-traditionalistische Züge. Die Schrift hingegen distanziert den Verfasser eines Gedankens vom Empfänger, der dem Urheber nun nicht unmittelbar widersprechen kann. Neben einer zunehmenden Betonung des Visuellen (vor allem gegenüber dem auditiven Sinn) hält Ong die Verinnerlichung von Gedanken, Präzision und Detailvielfalt, ein weitaus größeres Vokabular und nicht zuletzt die Fähigkeit, sich selbst in einem zeitlichen (geschichtlichen) Rahmen wahrzunehmen, für Effekte der Schriftkultur. Erst im 20. Jahrhundert treten - neben der "Rest-Mündlichkeit" verstärkt wieder mündliche Kommunikationsmedien auf: Telefon, Radio und Fernsehen ("sekundäre Mündlichkeit"). Funktionsmechanismen des oralen Gedächtnisses (Mnemotechniken) zeigt Ong anhand der Merkmale von mündlicher Dichtung. Die in seinen Thesen formulierten Kennzeichen oraler und literaler Gesellschaften sind extrem starr und von einer Fortschrittslogik geprägt. Dies wird aber von verschiedenen Seiten mittlerweile eingeschränkt oder zurückgewiesen. Vor allem empirische Studien in verschiedenen Kulturkreisen (oral, neuliteral, multiethnisch etc.) haben gezeigt, daß zahlreiche Zwischen- und Mischformen vorhanden sind und daß die Eigenschaften des einen Kulturzustands auch in dem jeweils anderen vorhanden sein können. Zumindest heute sei in den betroffenen Kulturen ein viel funktionaleres Verständnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vorherrschend, als es der zum Determinismus neigende Ong darstellt. © pflug
Wichtige Schriften: ❍
Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes (1987)
Sekundärliteratur: 1. A. Bingham: Review of Walter J. Ong's Orality and Literacy. http://www.hu.mtu.edu/%7Edsulliva/rn/bkrv/ong_rvw.htm 2. W. Raible: Orality and Literacy, in: H. Günther / O. Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit: Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Berlin 1994, S. 1-16.
Jan Assmann Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (1992)
Vergangenheit ist nichts "an sich" Existierendes, kein in sich geschlossenes Ganzes und auf alle Zeiten Unveränderliches, das es mit "objektiven" Methoden frei zu legen gilt, wie die Positivsten des 19. Jahrhunderts noch glaubten. Sie ist eine Konstruktion späterer Generationen, die sich "ihre" je eigene Vergangenheit schaffen: darüber sind sich die Historiker heute einig. Damit tritt neben die Frage nach dem Was der Erinnerung die Frage nach dem Wie. Nicht nur das jeweilige Bild der Vergangenheit ist deshalb für den nachgeborenen wie für den zeitgenössischen Forscher interessant, sondern auch die Medien und Institutionen, innerhalb deren dieses Bild konstruiert wird. Seit den neunziger Jahren gibt es in den Kulturwissenschaften deshalb eine breite Diskussion um das Gedächtnis einer Gesellschaft. Im Vordergrund steht dabei der Blick auf die Funktionsweisen der kollektiven Erinnerungsarbeit, denn die sozialen Bedingungen des Gedächtnisses bestimmen den Rahmen möglicher individueller Erinnerung. Ein führender Vertreter solcher Gedächtnistheorien ist der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann, der mit seinem Buch Das kulturelle Gedächtnis 1992 die erste wichtige Monographie zu dem Thema vorgelegt hat. Jan Assmann interessiert sich dabei dafür, wie sich eine Kultur formiert, wie sich also Individuen zu einer solchen Großgruppe vereinigen. Verkürzt gesagt geschieht dies durch die Bildung sogenannter konnektiver (also: verbindender) Strukturen in zweifacher Richtung: Auf sozialer Ebene durch das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe von Zeitgenossen untereinander, in historischer Dimension durch das Verbundenheitsgefühl mit früheren Generationen, die man als "Vorfahren" deklariert. Die Einheitlichkeit einer Kultur wird zunächst durch Formen ritueller Kohärenz erhalten, d.h. die Angehörigen dieser Kultur wiederholen Riten und Gebräuche ihrer Vorgänger in ihren (mündlich) überlieferten Formen. Das Gedächtnis dieser Kultur reicht dabei nur drei bis vier Generationen weit, ihr Erinnerungshorizont wandert mit den Generationen mit. Assmann bezeichnet diese Form der Erinnerung als kommunikatives Gedächtnis. In dem Maße wie eine solche Kultur reflexiv, d.h. das Zusammengehörigkeitsgefühl bewußt und fraglich wird - etwa in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen -, entsteht der Bedarf nach stabileren Formen der Tradierung des kulturellen Wissens. In aller Regel erfolgt dies durch die Ausbildung der Schrift als neuem Medium. Aus ritueller wird textuelle Kohärenz, das Vergangene wird nicht bloß wiederholt, sondern vergegenwärtigt. Es entwickelt sich das Bewußtsein einer zeitlich fixierbaren Vergangenheit und
eines wachsenden Abstands zu den diese spezifische Kulturgemeinschaft begründenden Ereignissen: ein Geschichtsbewusstsein, wie wir es heute als selbstverständlich ansehen. Das Mittel dazu ist eine rigide Auswahl und Tradierung der als fundierend angesehenen Texte: Ein Kanon grundlegender und unveränderbarer Texte wird von einer neu entstehenden Schicht von Schriftgelehrten (in frühen Phasen zumeist Priester und Beamte) verwaltet, aufbewahrt, kopiert und kommentiert. Diese neue kulturelle Formation - die nunmehr als kulturelles Gedächtnis bezeichnet wird - umfasst damit drei Aspekte: zunächst das reine Faktum der Erinnerung, also den Umstand, daß es überhaupt einen Bezug zur Vergangenheit gibt; sodann die Entwicklung von kultureller Identität bzw. politischer Imagination, d.h. eines Zusammengehörigkeitsgefühls der Individuen; und schließlich die kulturelle Kontinuierung bzw. Traditionsbildung, also die institutionalisierte Auswahl und Interpretation des zu bewahrenden Materials. Dies ist die stark vereinfachte Darstellung eines hoch komplexen Prozesses, der weder stets gleichmäßig noch bruchlos verlaufen sein wird. Assmann selbst zeigt im zweiten Teil seines Buches anhand von Beispielen aus den frühen Hochkulturen in Ägypten, Israel und Griechenland, wie unterschiedlich solche Prozesse kultureller Formation ablaufen konnten. © JK
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 4. Auf., München 2002.
Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit (1991)
Ziel dieser "historischen Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informationsund Kommunikationstechnologien" ist "die Beschreibung der sozialen Gemeinschaft in einem Teil Europas im 15. und 16. Jahrhundert als ein Informations- und Kommunikationssystem, welches durch den Buchdruck als Schlüsseltechnologie hervorgebracht wurde." (S. 22). Daß dieses Buch (zunächst eine Bielefelder Habilitationsschrift) in kurzer Zeit große, auch außerfachliche Resonanz gefunden hat, lässt sich dadurch erklären, dass Giesecke einen Vorgang beschreibt und analysiert, zu dem es heute eine deutliche Parallele gibt: Auch gegenwärtig haben wir es mit der Einführung eines neuen Mediums zu tun, das zunehmend zur "Schlüsseltechnologie" unserer Gesellschaft wird und die "soziale Gemeinschaft" in hohem Ausmaß bestimmt, wenn nicht gar neu hervorbringt. Die "Fallstudie" sieht den Buchdruck mit beweglichen Lettern und seinen vielfältigen Folgen wegen seiner geschichtlichen Abgeschlossenheit und speziellen Ausprägung als einzigartig und unwiederholbar an, als Beispiel für eine Implementierung eines neuen Mediensystems, das aber auch mit anderen solcher Fälle verglichen werden kann (Übergang von schriftlosen zu Schriftgesellschaften, Übergang von Bild- zu Buchstabenschriften, Übergang von Printmedien zu elektronischen Medien). Analysiert und bewertet wird der Buchdruck von Giesecke aus heutiger Perspektive, also von den modernen Kommunikations- und Informationstechnologien her. Angesichts des Themas umfasst Gieseckes Darstellung kommunikations-, sozial-, technik-, literatur-, sprach-, bildungs-, kultur-, zivilisations-, ja sogar religionsund politikgeschichtliche Aspekte. Untersucht werden also (u.a.!) der Einfluss der Reformation auf Akzeptanz und Verbreitung des Mediums Buchdruck; die Bedeutung des neuen Mediums für die politische, gesellschaftliche und soziale Kommunikation sowie die Schaffung und Prägung einer 'öffentlichen Meinung'; technische Voraussetzungen und Entwicklungen; ökonomische Folgen; die Folgen des Buchdrucks für die Prämierung bestimmter Sinne des Menschen; die Veränderungen der Autorrolle und des Wissenschaftssystems; die Bedeutung des gedruckten Buches für die individuelle und kollektive Bildung und die Privatlektüre. Außerdem werden Druckverfahren anderer Kulturen (China, Südkorea) behandelt; die Untersuchung bezieht sowohl die mittelalterliche Handschriftenkultur als auch Druckverfahren vor Gutenberg mit ein; und die gegenwärtige Informationsgesellschaft wird ohnehin häufig mit reflektiert. "Hauptthese ist der radikale Bruch des Druckzeitalters mit der älteren, auf oralen [= mündlichen] und skriptographischen [= handschriftlichen] Informationssystemen beruhenden Kultur des Mittelalters [...]. Der Druck hat
eine Standardisierung der Texte, ihrer Darbietung und der Regeln ihrer Erschließung zur Folge. Er löst sie aus gruppen- und institutionengebundener Kommunikation und verwandelt sie in Elemente einer prinzipiell öffentlichen, virtuell jedermann zugänglichen Kommunikation. Er hat eine 'Vernetzung' kleinerer Kommunikationssysteme in wenigen Jahrzehnten zur Folge, was die Bedeutung schriftlich tradierten Wissens für die soziale Praxis unabsehbar steigert. Er revolutioniert, zumindest in einigen zentralen Bereichen, dieses Wissen selbst, indem die Darbietung, weit stärker als zuvor, auf Anschaulichkeit und praktische Umsetzbarkeit ausgerichtet wird." (J.-D. Müller, in: Internationales Archiv zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 18 (1993) 1, S. 169). Bei der thematischen Breite des Buches blieb Kritik nicht aus. Neben der Detailkritik aus verschiedenen Fächern, die beim interdisziplinären Anspruch dieser Studie unvermeidlich war, gab es auch grundsätzliche Einwände gegen die Methodik, die z.T. als nicht angemessen, weil anachronistisch bewertet wurde: Giesecke geht kommunikationssoziologisch und systemtheoretisch vor, und er bewertet die Vergangenheit strikt nach Kriterien der Gegenwart. Am deutlichsten wird das daran, dass er den Buchdruck und seine Folgen ebenso als Medienrevolution ansieht wie die Durchsetzung der elektronischen Medien in unserer Gegenwart; von einer schlagartigen Durchsetzung des neuen Mediums mit unmittelbaren gravierenden Folgen für die ganze Gesellschaft kann man aber in Bezug auf den Buchdruck sicher nicht sprechen, und um das Gegenteil zu erweisen, muss Giesecke manchmal sehr gewaltsam interpretieren. Weiterhin bedient Giesecke sich einer Begrifflichkeit, die den Naturwissenschaften und insbesondere der Computertechnologie entlehnt ist (Medien als Katalysatoren und Prozessoren, Informationsinput/-output, mittelalterliche Ablassbriefe als Form einer "Rationalisierung der Bürokommunikation", Bibeln als "zentrale Informationsspeicher" usw.). Er sieht solche Termini überwiegend nicht als Metaphern, sondern vertritt die Meinung, dass ihr Gebrauch durch tatsächliche Parallelen in Vergangenheit und Gegenwart gerechtfertigt sei.- Im Nachwort zur Taschenbuchausgabe von 1998 setzt Giesecke sich mit einigen der gegen ihn erhobenen Vorwürfe auseinander. ©RB
Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt/M. 1998.
Friedrich A. Kittler
* 1943 in Rochlitz (Sachsen) Literatur- u. Medienwissenschaftler Friedrich Kittler studierte in Freiburg/Breisgau Germanistik, Romanistik und Philosophie, promovierte 1976 und habilitierte sich dort 1984 und ist nach Dozenturen an verschiedenen Universitäten in Deutschland wie im Ausland seit 1993 Professor für Ästhetik und Geschichte der Medien an der HumboldtUniversität in Berlin. Als einer der ersten Germanisten hat sich Kittler für die Rezeption des Poststrukturalismus in Deutschland eingesetzt: Die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften - der Titel seiner Herausgeberschrift ist dafür programmatisch geworden. Es geht ihm dabei um eine Erweiterung vor allem des diskursanalytischen Ansatzes von Michel Foucault. Diesem wirft er vor, die technischen Bedingungen der gesellschaftlichen Diskurse vor allem dort nicht mehr präzise genug in den Blick zu nehmen, wo Bücher nicht mehr die wichtigsten kulturellen Speichermedien sind. Dies sei spätestens um 1900 der Fall, als sich Film, Schreibmaschine und Phonograph bzw. Grammophon als neue Medien durchsetzten. Kittler versteht die Analyse dieser Speichermedien als "Medienarchäologie" und folgt damit einer Überlegung Foucaults, wonach sich der Forscher der eigenen Gesellschaft wie ein Archäologe annähern müsse, um sie wirklich präzise analysieren zu können. Der Blick des "Medienarchäologen" muß sich dabei auf die technischen Bedingungen richten, die das Entstehen gesellschaftlicher Diskurse sowohl ermöglichen als auch verursachen. Wichtig sind dabei nicht die einzelnen Äußerungsformen (z.B. literarische Texte) sondern die Verschaltungen zwischen den technischen Medien überhaupt. Kittler nennt die durch die jeweiligen Speichermedien bestimmten Diskursformationen im Titel seiner vieldiskutierten Habilitationsschrift Aufschreibesysteme. Speichermedien sind nicht nur Filme, Tonbänder oder Computer, sondern auch die Schrift selbst, so wie vor deren Durchsetzung bereits die mündliche Überlieferung. "Kultur" wird dabei verstanden als eine durch die jeweils vorherrschenden technischen Medien bestimmte Form der Datenverarbeitung. Wenn sich die technischen Medien verändern, verändert sich dann auch die Gestalt der Kultur selbst. Auch wenn die Rede vom "Fortschritt" hier etwas irreführend wäre, so läßt sich doch von einer wachsenden Vereinheitlichung der Mediengestalten sprechen. So wie die Schrift die Mündlichkeit verdrängte, so verdrängen die neuen Medien die Schrift. In der
Digitalisierung schließlich werden alle Unterschiede zwischen den einzelnen Medien aufgesogen, so daß schlußendlich nur die unendliche Datenzirkulation übrig bleibt: "In der allgemeinen Digitalisierung von Nachrichten und Kanälen verschwinden die Unterschiede zwischen den einzelnen Medien. Nur noch als Oberflächeneffekt, wie er unterm schönen Namen Interface bei Konsumenten ankommt, gibt es Ton und Bild, Stimme und Text. Blendwerk werden die Sinne und der Sinn. […] Und wenn die Verkabelung bislang getrennte Datenflüsse alle auf eine digital standardisierte Zahlenfolge bringt, kann jedes Medium in jedes andere überge-hen. Mit Zahlen ist nichts unmöglich. […] ein totaler Medienverbund auf Digitalbasis wird den Begriff Medium selber kassieren. Statt Techniken an Leute anzuschließen, läuft das abso-lute Wissen als Endlosschleife." (Grammophon..., S. 8) Friedrich Kittler ist es zu verdanken, daß der Blick der Kulturwissenschaften für die technischen Bedingungen der Medien geschärft wurde. Neben diesen unbestreitbaren Verdiensten wird ihm aber auch vorgeworfen, einem gewissen Technizismus zu huldigen und die Bedeutung der sozialen Prozesse zu übersehen, die technische Entwicklungen überhaupt erst möglich machen. © JK
Wichtige Schriften: ❍
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Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. Paderborn 1980. Aufschreibesysteme 1800 · 1900. München 1985. Grammophon Film Typewriter. München 1986.
Sekundärliteratur: 1. Frank Hartmann: Friedrich Kittler, in: Information Philosophie 25 (1997) 4, S. 40-44.
Friedrich A. Kittler Aufschreibesysteme 1800 · 1900 (1985)
Wenn bei einer Habilitationsschrift insgesamt 13 Gutachten notwendig sind, um zu einer Einigung zu kommen, muß vermutlich - eine sachliche Diskussion vorausgesetzt - zweierlei strittig sein: inhaltliche Befunde oder Thesen, die dem Gegenstandsbereich des Fachs nicht eindeutig zugeordnet werden und formal eine zumindest umstrittene Argumentationsweise. Über beides kann bei Friedrich Kittlers Aufschreibesystemen trefflich gestritten werden: inhaltlich fordert er nicht weniger als einen Paradigmenwechsel der Literatur-, wenn nicht sogar der Geisteswissenschaften; formal bleibt die Beurteilung von Argumentation und Stil des Buchs jedenfalls eine Geschmacksfrage. Worum geht es? Friedrich Kittlers zentrale Einsicht liegt darin, daß Texte vor allem durch ihre "Machart" - d.h. durch die Art und Weise wie sie technisch hergestellt werden - bestimmt sind. Präziser gesagt geht es Kittler um die Frage, wie Diskurse durch sich wandelnde technische Medien gestaltet werden. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt nachweisbaren Formationen des Diskurse nennt er "Aufschreibesysteme": "Das Wort Aufschreibesystem […] kann auch das Netzwerk von Techniken und Institutionen bezeichnen, die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben." (S. 519) In seiner Studie untersucht er zwei exemplarische Epochenschwellen, die sich jeweils durch die Durchsetzung eines neuen Aufschreibesystems auszeichnen: Die Jahre um 1800, in denen die allgemeine Alphabetisierung einsetzt, und die Jahre um 1900, in denen die technische Datenspeicherung beginnt. Entgegen den Gepflogenheiten seines Fachs macht Kittler nicht die Interpretation literarischer Texte, sondern die Analyse der technischen Bedingungen der Aufschreibesysteme zum Gegenstand seiner Untersuchungen: "Spätestens seit der zweiten industriellen Revolution mit ihrer Automatisierung von Informationsflüssen erschöpft eine Analyse nur von Diskursen die Macht- und Wissensformationen noch nicht. Archäologen der Gegenwart müssen auch Datenspeicherung, -übertragung und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen. Gerade die Literaturwissenschaft kann nur lernen von einer Informationstheorie, die den erreichten technischen Stand formalisiert anschreibt, also Leistungen und Grenzen oder Grenzen von Nachrichtennetzen überhaupt meßbar macht. Nach Sprengung des Schriftmonopols wird es ebenso möglich wie dringend, sein Funktionieren nachzurechnen." (S. 519) - Daß Kittler hier vom "Nachrechnen" schreibt und damit auf einen Begriff der Informationstechnik zurückgreift, ist kein Zufall. Vielmehr gehört dies zu seiner (in späteren Schriften noch deutlicher formulierten) Forderung nach einem
Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft: hin zu einer Wissenschaft von den technischen Bedingungen der Informationsspeichersysteme. Er bricht deshalb mit den Regeln der herkömmlichen Literaturwissenschaft nicht nur, indem er ihr einen neuen Gegenstand verschreibt, sondern auch indem er traditionelle, an einem hermeneutischen Verstehenskonzept orientierte Analysemethoden verabschiedet: "Um solche Regelkreise von Sendern, Kanälen und Empfängern zu beschreiben, helfen Momentaufnahmen weiter als Geistesgeschichte." (S. 520f.) Entsprechend seiner Orientierung an den Methoden des Poststrukturalismus gehört es deshalb zu Kittlers Ansatz, daß aus diesen vielen "Momentaufnahmen" eben kein "Gesamtbild" entstehen kann - keine Zuordnung eines "Gesamtsinns" zu einer Anzahl beobachteter Phänomene möglich ist. Gerhard Plumpe kommentiert dies wie folgt: "Eine gewisse faszinierte Verwirrtheit - das mag der Eindruck sein, mit dem man das Buch aus der Hand legt." (Plumpe, S. 10) Faszination und Verwirrung markieren die Diskussion um die Aufschreibesysteme: Das Buch hat wie kaum ein zweites in den letzten Jahrzehnten in den Kulturwissenschaften Epoche gemacht. Kittlers neuer Ansatz wurde ebenso heftig abgelehnt wie als Bereicherung und erwünschte Erweiterung (oder Neuorientierung) des traditionellen Blickwinkels erfreut aufgenommen. © JK
Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 · 1900. 3., vollständig überarb. Aufl., München 1995. Sekundärliteratur: 1. G. Plumpe: Mütter und Schreibmaschinen. Zu Friedrich Kittlers Neubegründung der Literaturgeschichte, in: kultuRRevolution 13 (1986), S. 10-12.
Computer engl.: to compute = berechnen, schätzen, veranschlagen
Der Begriff 'Computer' stammt aus dem Engl.; das Verb to compute bedeutet 'berechnen, schätzen, veranschlagen' und geht auf das lat. computus zurück, das in der Spätantike und im Mittelalter vor allem als Bezeichnung für die astronomische Berechnung kirchlicher Feiertage verwendet wurde. Große Berechnungen wurden in früher Zeit u.a. mit einem elaborierten Fingersystem durchgeführt; auf diese Grundfunktion des Rechnens verweist auch der Begriff digital [vgl. lat. digitus = der Finger]. Der Computer ist also grundsätzlich eine Rechenmaschine, die programmgesteuert große, komplizierte Berechnungen durchführt. Und so trugen Computer in den Anfangsjahren des 20. Jhs. zuweilen auch die Bezeichnung Calculator. Ein Computer setzt sich aus mehreren Bauteilen zusammen: In einer zentralen Recheneinheit (CPU, central processing unit) werden die Berechnungen ausgeführt. Ein Speicher (Festplatte, CD-ROM, Diskette oder sonstiges) hält Ergebnisse und Zwischenergebnisse der Berechnungen fest. Ein Eingabegerät (Tastatur, Maus, Lochkarten usw.) und ein Ausgabegerät (Monitor, Drucker) ermöglichen die Handhabung bzw. Kontrolle und Herstellung der 'Produkte' (Texte, Grafiken …). Diese materiellen Bausteine eines Computers werden Hardware genannt. Mit Software hingegen werden die Programme bezeichnet, die das Zusammenspiel der Hardwarekomponenten steuern wie z.B. Betriebssysteme (Windows, Linux, MacOS, Unix usw.) und sonstige Anwendungsprogramme (Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Grafik, Spiele …). Im Gegensatz zu den festgelegten Arbeitsroutinen verschalteter Mikrochips (=Mikrocomputer, z.B. in Haushaltsgeräten) sind die Berechnungsabläufe eines Computers frei programmierbar. Die Entwicklung des Computers im 20. Jh. basiert auf einer langen Geschichte programmierter Rechenhilfen und -maschinen und der Manipulation von großen Zahlenkolonnen. So hat bereits Leibniz 1673 - in der Folge von Schickard (1623) und Pascal (1642) - eine Rechenmaschine konstruiert. Diese basiert ihrerseits auf den Vorarbeiten Nepers, der bereits mit komplexen Rechenstäben arbeitete: Eine Seite dieser Rechenstäbe war komplett mit Nullen angefüllt und ermöglichte sowohl ein mechanisches Ausführen der Grundrechenarten (also inkl. Multiplizieren und Dividieren) als auch - unter Zuhilfenahme eines Zusatzstabes das Ziehen von Quadrat- und Kubikwurzeln. Der Null, dem Mittelalter als eigenständige Zahl nahezu unbekannt, kommt bei der Entwicklung der
Rechenmaschinen eine wichtige Bedeutung zu, und zwar in der Kombination von 0 und 1 im binären System, das ebenfalls von Leibniz publik gemacht worden ist. Im 20. Jh. entstanden dann die ersten durch Programme gesteuerten Rechenmaschinen: 1904 der sogenannte 'analytical engine', ein Nachbau des durch Charles Babbage bereits 1840 vor- aber nie fertiggestellten Entwurfs; 1936 stellte Konrad Zuse den nach dem binäreren System arbeitenden Z1 vor. Obwohl das Modell Z1 (es folgten noch Z2-Z4) niemals richtig funktionierte bzw. nicht vollelektronisch arbeitete, gilt er doch als der erste frei programmierbare Computer der Welt. In den folgenden Kriegs- und Nachkriegsjahrzehnten wurde die Entwicklung der Großrechner vor allem in Forschungs- und Militäreinrichtungen voran getrieben, bis Anfang der 1980er Jahre sowohl IBM als auch Apple Heimcomputer auf den Markt brachten und für den Privatanwender erschwinglich machten. Seitdem unterscheidet man zwischen einem PC (Personal Computer, einem aus dem Hause IBM stammender Computer mit einer Intel-kompatiblen CPU) und einem Macintosh bzw. Mac der Firma Apple mit einem Power-PC-Chip. Mittlerweile werden nicht nur große Bereiche des Alltagslebens und der Arbeitswelt durch Computer beeinflusst bzw. geregelt; durch den Netzverbund von Computern zum Internet sind auch die Kommunikationsverhältnisse weltweit auf ein neues Niveau gelangt. Der Computer als Medium scheint das Buch, das Leitmedium der Neuzeit, in seiner einzigartigen Stellung abzulösen: "Computer und elektronische Medien befördern das Ende einer Welt, die Marshall McLuhan Gutenberg-Galaxis genannt hat." (N. Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis, S. 7) Auch wenn man dieser These nicht uneingeschränkt zustimmen kann, so gehen mit dem Vormarsch des Computers Veränderungen in den Kommunikationsverhältnissen einher, deren Tragweite noch nicht überschaut werden kann. ©JF
Sekundärliteratur: 1. N. Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993. 2. A. Borst: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas, durchges. und erw. Aufl. München 1999. 3. computergeschichte.de. Online unter: http://www.computergeschichte.de [letzter Zugriff: 25.03.04] 4. J. Fröhlich: Meßkram oder 'Die Einwanderung der Null in den modernen Schaltkreislauf über das spätmittelalterliche Rechnungsbuch', in: U. Schmitz / H. Wenzel (Hg.): Wissen und neue Medien. Bilder und Zeichen von 800 bis 2000, Berlin 2003, S. 135-158. 5. Th. Kind: Art. Computer, in: H. Schanze (Hg.): Metzler-Lexikon
Medientheorie - Medienwissenschaft. Unter Mitarbeit von S. Pütz, Stuttgart u.a. 2002, S. 55-57. 6. The Computer History Museum. Online unter: http://www.computerhistory.org [letzter Zugriff: 25.03.04]
Hyperfiction
Der Begriff Hyperfiction hat sich als Kurzform von "Hypertextfiction" eingebürgert. Gemeint werden damit Texte, welche die grundsätzlichen Möglichkeiten des Hypertextes für spezifisch künstlerisch-ästhetische Zwecke nutzen und einen Großteil der sogenannten Netzliteratur ausmachen. Entscheidend ist, dass die Möglichkeiten des digitalen Publizierens kreativ genutzt werden; der Leser muss in einen interaktiven und offenen Dialog mit den Sinnangeboten des Textes treten; wenn dagegen ein Roman oder ein Gedicht einfach nur ins Netz gestellt und ausgedruckt werden, kann nicht von Hyperfiction die Rede sein. Beispiele sind Rainald Goetz' Internet-Tagebuch "Abfall für alle", das mittlerweile auch in gedruckter Form vorliegt, oder das Projekt "NULL" von Thomas Hettche, der andere Autoren aufgerufen hatte, kleine Geschichten, Notizen oder Aufzeichnungen einzureichen, die dann ins Netz gestellt wurden – die Möglichkeiten des Hypertextes wurden jedoch kaum genutzt. Hyperfiction ist eine narrative Textform; sie besteht jeweils aus mehr oder minder aufeinander bezogenen Geschehnissen, die aber im weit stärkeren Maße als bei gedruckten Erzählformen vom Leser selber in eine "Und-dann"-Struktur gebracht werden müssen. Die unterschiedliche Komplexität der narrativen Verknüpfungsmöglichkeiten lässt sich anhand graphischer Figuren darstellen: Bei der "Linie" kann der Leser zwar von der narrativen Achse abweichen, muss jedoch, um weiterzulesen, wieder zu dem Punkt zurück, wo er die Achse verlassen hat (z.B. bei einem wissenschaftlichen Text von der Fußnote zurück zum Haupttext).. Beim komplexeren "Baum" kommt man von einem Anfangspunkt aus zu einer Gabelung, an der man verschiedene "Ast"-Richtungen einschlagen kann. Auf dem gewählten Pfad kommt es zu weiteren Verzweigungen, doch zwischen den "Zweigen" gibt es keine Querverbindung. Das "Rhizom" schließlich weist die komplexeste Struktur auf, da es hier keinen Anfangs- oder Endpunkt gibt; potenziell sind alle Wege miteinander verbunden. Es gibt literarische (man könnte sagen: "analoge") Vorläufer der digitalen Hyperfiction, etwa in der Romantik. So werden in E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr (1820-22) zwei Geschichten über ein Zufallsprinzip zu einem Text amalgamiert: Murr hat in seine Lebensansichten unabsichtlich Makulaturblätter mit der Geschichte des Kapellmeisters Kreisler eingefügt. Auch paradigmatische Romane der literarischen Moderne - James Joyces Ulysses (1922) oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) versuchten den medialen und formalen Restriktionen von Buch und Schrift, insbesondere der sukzessiv-chronologischen Erzählweise zu entfliehen. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Joseph Frank hat sich bereits 1945 mit lyrischen und erzählenden Texten der literarischen Moderne befasst, in denen
die temporär-konsekutive Abfolge der sprachlichen Zeichen zum Stillstand gebracht wird. Der Leser wird dort mit einer Zeichenwelt konfrontiert, die auf keinen externen Referenten, sondern nur noch auf sich selbst verweist. Die Bedeutung des Textes ergibt sich erst aus dem simultanen Zusammenspiel heterogener Texteinheiten, unabhängig davon, ob es sich um einzelne Wörter oder größere Erzählabschnitte handelt. An die Stelle der Sukzession von Ereignissen tritt z.B. im Monologroman eine sich gleichsam flächenmäßig ausbreitende Simultaneität von Bewusstseinszuständen, eine imaginäre Gleichzeitigkeit von Bildern, deren Zusammenspiel den Text zu einem selbstreflexiven Gebilde werden lassen. Die narrative Sukzession wird im Ulysses weitgehend aufgehoben, nicht jedoch die Linearität der Zeichenkette. In anderen avantgardistischen Erzähltexten wird auch die Linearität der Zeichen durch ein Nebeneinander von Zeichenkomplexen ersetzt. In Arno Schmidts Hauptwerk Zettels Traum (1970) wird der Roman endgültig zum "Möglichkeitenroman": Der Leser findet drei parallele Spalten, von denen die mittlere und breiteste die Haupthandlung enthält; die linke liefert zumeist die intertextuellen Bezüge, die rechte dient als eine Art Anmerkungsapparat. Andreas Okopenko hat sich für seinen Roman mit dem Titel Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden (1970) das Formprinzip der Enzyklopädie zum Vorbild genommen. Der Text gliedert sich in alphabetisch geordnete Lemmata, die in unterschiedlicher Länge und Textform jeweils Kleinstimpressionen und -erzählungen, Reflexionen, aber auch Parodien enthalten. Die alphabetische Gliederung fordert den Leser auf, seine Erwartungen an eine lineare Ordnung radikal zu reduzieren. Unter Beteiligung des Autors wurde eine interaktive CD-Rom-Version des Textes erstellt: ELEX Elektronischer Lexikon-Roman einer sentimentale Reise zum Exporteur-Treffen in Druden. Nun muss man nicht mehr durch die Bleiwüste blättern, sondern "surft" mit schnellem Klicken durch eine Kombination aus Text und Bild, wenn auch die visuellen Mittel recht einfach gehalten sind. Die Geschichte der digitalen Hyperfiction beginnt mit Afternoon, a story des Amerikaners Michael Joyce, die 1987 geschrieben und 1990/91 erstmals auf Diskette veröffentlicht wurde. Seit ihrer Aufnahme in die traditionsreiche Norton Anthology zählt sie zu den kanonischen Texten der amerikanischen Literatur. Mit dem von Joyce entwickelten Textprogramm Storyspace kann der Leser mehr als 500 Episoden, sogenannte "Spaces" mit kurzen Handlungssegmenten, frei kombinieren. Daher lässt sich die Erzählung, in der es sich um einen mysteriösen Todesfall dreht, auch nicht auf gewohnte Weise nacherzählen. © DF
Wichtige Schriften:
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Andreas Okopenko: Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden (1970) Michael Joyce: Afternoon, a story (1987).
Sekundärliteratur: 1. D. Frank: Der Möglichkeitenroman als Hyperfiction. Experimentelle Erzähltexte als Prototypen heutiger Netzliteratur, in: Der Deutschunterricht 53, Velber, 2000, S.31-43. 2. J. Frank: Spatial Form in Modern Literature, in: Sewanee Review LIII, 1945, S.229-240.
Hypertext
Für das noch recht junge Feld computergenerierter bzw. -gestützter Texte existiert eine ganze Reihe von oftmals synonym verwendeter Begriffe, die im Folgenden jedoch klarer abgegrenzt werden sollten. Hypertext bezieht sich auf die delineare, multimediale und interaktive Struktur von Texten, die am Computer gelesen werden. Als Hyperfiction werden jene Hypertexte bezeichnet, die die Möglichkeiten der hypertextuellen Ver"linkung" und Verschachtelung zu ästhetisch-fiktionalen Zwecken verwenden. Digitale Literatur bezieht sich allgemein auf ästhetisch-fiktionale Texte, die für CD-Rom oder fürs Internet produziert werden; jene Texte, die ohne Nutzung der Hypertextstruktur unverändert der Buchform gegenüber 1:1 ins Netz gestellt werden, kann man als Literatur im Netz bezeichnen. Hier wäre beispielsweise an das Projekt Gutenberg (http://gutenberg.spiegel.de) zu denken; dabei handelt es sich um die größte und bekannteste Sammlung deutschsprachiger literarischer Texte mit über 250.000 Seiten (Stand: Dezember 2002), in der die Texte aber, abgesehen von den üblichen Benutzerfunktionen (Volltextsuche oder Download) nicht hypertextuell aufbereitet werden. Demgegenüber bezeichnet der Ausdruck Netzliteratur diejenige Literatur, die sich erst im Zuge der Digitalisierung entwickelt hat und im Internet zu finden ist, wo sie publiziert, gelesen und manchmal auch fortgeschrieben werden kann. Ein Hypertext im engeren Sinn ist eine Textform mit einer nicht-linearen und meist auch multimedialen Struktur. Es handelt sich streng genommen nicht mehr um einen Text, sondern um ein Netz oder Gewebe von Einzeltexten, die aber erst in digitaler Form, also auf Diskette, CD-Rom oder auf einer Website im Internet, dem Leser eine größtmögliche Freiheit versprechen. Der Begriff wurde 1965 von Ted Nelson geprägt Als Vorläufer des digitalen Hypertextes ist die Enzyklopädie anzusehen; hier sind oftmals die einzelnen Lemmata (Stichwörter) durch Verweise miteinander verbunden. Nur muss sich der Leser hier noch auf recht mühsame Weise von Eintrag zu Eintrag weiterarbeiten. Auch ein wissenschaftlicher Text mit einem Anmerkungsapparat ist strenggenommen ein Hypertext, wenn auch die Linearität hier nicht aufgebrochen wird. Unter dem Aspekt der Informationsfülle und der Benutzerfreundlichkeit sind die digitalen Hypertexte ihren gedruckten Vorläufern notwendigerweise überlegen. Der digitale Hypertext macht es möglich, dass man über eine Gelenkstelle, einen Querverweis (engl. link) von einer Textstelle zur anderen springen kann und damit nicht mehr an die geradlinige Struktur, wie man sie in anderen Medien wie Büchern, Filmen und natürlich auch in der gesprochenen Sprache findet, überwindet. Das hier vorliegende Projekt Einladung zur Literaturwissenschaft macht sich die Möglichkeiten hypertextueller Strukturen zunutze und bietet dem Leser zum Selbststudium kürzere (und damit im Web besser lesbare) Texte an, die jeweils über Links miteinander verbunden sind. Wer beispielsweise im
Inhaltsverzeichnis das Stichwort Roman anklickt, erhält dort eine Einführung ins Thema, kann sich von dort weiterklicken zu anderen Themen, die ihn interessieren (in diesem Fall z.B. Epos, oder Briefroman, oder Miguel de Cervantes, oder metafiction). Zeit- und Ortsunabhängigkeit sind die großen Vorteile der Informationsbeschaffung und Kommunikation im Internet. Aber die Hypertextualität einer Webseite ist die Voraussetzung dafür, dass jeder Nutzer individuell und selbstständig über die Informationsangebote verfügen kann. Mittlerweile finden Studierende und Dozenten des Faches Germanistik im Internet unzählige Portale und Bildungsserver, die nicht nur Fachinformationen, sondern auch Foren zur Kommunikation und Kooperation bieten. Lehrkräfte und Lehramtstudenten des Faches Deutsch finden beispielsweise auf den Webseiten der bundesweiten Initiative Schulen ans Netz e. V. (http://www.schulen-ansnetz.de/) kostenlose Unterrichtseinheiten für den Einsatz neuer Medien im Unterricht, virtuelle Lernumgebungen und Online-Kurse. © DF Sekundärliteratur: 1. M. Koschorrek / F. Suppanz: Geisteswissenschaften studieren mit dem Computer, Stuttgart 2003. 2. G.P. Landow: Hypertext. The Convergence of Contemporary Critical Theory and Technology, Baltimore u.a. 1992. 3. S. Porombka: Hypertext. Zur Kritik eines digitalen Mythos, München 2001.
Internet
Das Internet, die technische Organisation der Verbindung von Computern, macht den weltweiten Informationsaustausch nicht nur schneller und aktueller, steigert nicht nur quantitativ Reichweite und Erreichbarkeit von Informationen. Es hat vielmehr eine grundsätzliche Veränderung, einen qualitativen Sprung in den nationalen und internationalen gesellschaftlichen Informationssystemen bewirkt, der vielfach auf Gesellschaft und Kultur zurückwirkt. Das world wide web bietet seinen Benutzer/inne/n völlig neue Nutzungsmöglichkeiten und entwickelt diese stetig und äußerst schnell weiter. Andererseits hat es (wie jede neue Kommunikationstechnik) gewisse Nachteile gegenüber dem Vorgängermedium und schafft mit seinen neuen, spezifischen Möglichkeiten auch neue, spezifische Probleme. Entstanden ist das Internet 1969 im militärischen Bereich; seit 1972 bot das USMilitär sein APARNET auch Universitäten und Verwaltungsinstitutionen zur Nutzung an. Seitdem hat sich die Zahl der angeschlossenen Computer rasant entwickelt. Für das Jahr 1994 schwanken die Angaben etwa zwischen 2.2 und 40 Mio. Nutzer/innen, Ende der 90er Jahre war die Rede von einer Verdoppelung alle 7 Monate oder von einem Zuwachs von 15% pro Monat; inzwischen ist natürlich eine gewisse Sättigung eingetreten. Die qualitative Nutzung des Internet ist recht heterogen; überwiegend wird es zu Unterhaltungszwecken verwendet, selbst in der Wissenschaft sind seine vielfältigen Möglichkeiten oft noch unbekannt: Nach einer Studie von 2002 nutzen in Deutschland nur 6% (!) der Studierenden fachspezifische Onlinebanken; die anderen begnügen sich mit Standard-Suchmaschinen, die für wissenschaftliche Zwecke unzureichend sind. Neu am Internet ist vor allem, dass theoretisch keine Hierarchisierung von Wissen stattfindet. Anders als im bisher größten Informationssystem, der Organisation der Bibliotheken, ist der Zugang zu Informationen nicht von räumlichen Faktoren oder vom bibliographischen know-how bei der Recherche abhängig. Auch die Weitergabe von Wissen (oder Meinungen ... oder auch von Unsinn) ist nicht mehr exklusiv, sondern für jede/n Internet-Teilnehmerin problemlos möglich. Deshalb wird in diesem Zusammenhang gelegentlich explizit von einer Demokratisierung des Wissens gesprochen. Wer das Internet nutzt, kann schnell und ohne große Umwege alle Informationen erhalten, die in den angeschlossenen Servern gespeichert sind. Er / sie kann über eine Homepage eigene Informationen ins Netz einspeisen, die dann ebenfalls weltweit zur Kenntnis genommen werden (könnten). Newsgroups, E-Journals und Diskussionslisten erlauben im Internet die schnelle und weitreichende Kommunikation mit anderen Teilnehmern. Die Einbindung zusätzlicher Kommunikationstechniken (E-Mail, Handy, Videokonferenz, lokale Funknetze/W-LAN usw.) vergrößern das Spektrum der Möglichkeiten.
Bei den Nachteilen oder Problemen des Internet sind einerseits 'äußere' Faktoren zu nennen, die eine optimale Nutzung (noch) verhindern. Dabei handelt es sich im wesentlichen um technische Probleme, wie bei jedem neuen Medium, sind sie vergleichsweise banal, an ihrer Lösung wird permanent gearbeitet, viele sind durch technische Verbesserungen - schon bereinigt oder minimalisiert worden. Doch bietet das Internet auch gravierende systemimmanente Probleme. So bilden sich eben doch neue, bisher unbekannte Formen von Hierarchisierung heraus: Zunehmend werden Informationen nicht mehr gratis geliefert, sondern müssen (oft teuer) bezahlt werden. Die Suchmaschine Google hat zwar durch ein automatisiertes Verfahren (Page Rank) den Einfluss von Menschen auf die Wertung von Internetadressen beseitigt, dadurch aber Versuche in Gang gesetzt, den Internetauftritt von (vorzugsweise profitorientierten) Sites künstlich zu verbessern: Das Page Rank-Verfahren bewertet Sites nach der Anzahl von Links, die auf eine bestimmte Site verweisen, und die kann man selbst konstruieren. Was von den Suchmaschinen nicht geliefert wird, ist praktisch auch nicht existent. Man kann heute schon sehr klar die Existenz weniger großer Zentren, sog. hubs, registrieren, die faktisch die gesamte Netzstruktur beeinflussen. Ferner ist das neue Informationssystem sehr viel verletzlicher als das alte: Durch EMails eingeschleuste Viren können ganze Kommunikationsnetze lahm legen und riesige Informationsmengen einfach auslöschen. Anders als bei den Printmedien ist die Ersatzbeschaffung zeitaufwendig oder unmöglich. Virenschutzprogramme hinken neuen Viren notgedrungen immer hinterher. Dennoch konnte deren Eindringen immer weiter reduziert werden; dagegen stellt das Internet selbst heute die größte Fehlerquelle dar. Frei flottierende Informationen machen Restriktionen auch da unmöglich, wo sie sinnvoll wären (Anleitungen zum Bombenbasteln im Netz sind das plakativste Beispiel). Andererseits hat das Internet den 'gläsernen Nutzer' generiert: E-Mails, Abrufe von Informationen aus Sites usw. können technisch jederzeit kontrolliert werden. Geheimdienste durchsuchen das Internet nicht nur aus akuten Anlässen, sondern auch routinemäßig mit automatisierten Stichwortabfragen. Erwähnenswert sind auch negative Einflüsse des Internet auf den Wissenschaftsbetrieb und seine traditionellen Standards zur Qualitätssicherung. Die Möglichkeit, im Netz auf kostengünstige Weise gleichzeitig als Autor/in, Herausgeber/in und Verleger/in aufzutreten, setzt die einer Veröffentlichung in Printmedien normalerweise vorgeschalteten Kontrollmechanismen außer Kraft. Während ein gedruckter Text in den allermeisten Fällen lange haltbar, verfügbar und identifizierbar ist, verschwinden aus dem Internet jeden Tag Tausende von Texten: Entweder kann man sich also auf sie nicht mehr beziehen - oder aber eine fingierte Quellenangabe kann nicht als Fälschung entlarvt werden. Bei aller technischen Modernität befindet sich das Internet also in mancher Beziehung durchaus auf dem Stand der mittelalterlichen Handschriftenkultur: Die im Netz und für das Netz produzierten Texte sind Unikate; die Herstellung von 'Abschriften' (durch Download oder Ausdruck) bleibt allein den Benutzer/inne/n
vorbehalten; da die Herstellung der Texte im ersten Arbeitsgang manuell vorgenommen wird (wenn auch über eine Tastatur) und man, um die Schnelligkeit des Mediums nicht zu gefährden, oft nicht mehr sorgfältig korrigiert, sind Internettexte - wie mittelalterliche Abschriften - oft genug fehlerhaft oder gewollt nicht 'werkgetreu'. © RB
Sekundärliteratur: 1. A.-L. Barabási: 'Linked'. The New Science of Networks, Cambridge/Mass 2002. 2. J. Fröhlich: "Mechanismen und Möglichkeiten des Internet." In: Das Mittelalter. Zeitschrift des Mediävistenverbandes 1 (1996) 2, S. 150-165. 3. K. Hafner, Katie / M. Lyon: Arpa Kadabra oder Die Geschichte des Internets, Heidelberg 2000.
Netzliteratur
Mit dem Wandel von der speicherarmen Diskette zum multimedialen Web haben sich die Möglichkeiten von Hypertext und Hyperfiction drastisch erweitert. Gerade die visuellen und akustischen Mittel werden heute stärker genutzt, weshalb man mittlerweile auch gern von Hypermedia spricht. Dadurch treten die Textanteile zurück, Hyperfiction nähert sich der Ästhetik einer elektronischen Medienkunst an und nimmt Elemente von Computerspielen auf. Auch in Deutschland ist Mitte der 90er Jahre eine eigene Netzliteratur-Szene von ambitionierten, jungen Autoren entstanden. Entscheidend stimuliert wurde die Produktion von Hyperfiction durch die Wettbewerbe der Wochenzeitung DIE ZEIT (1996-99). Ausgezeichnet mit dem Pegasus-Preis wurde u.a. das Projekt Die Aaleskorte der Ölig (1998) der Essener Autoren Frank Klötgen und Dirk Günther. In ihrem Bilderdrama muss der Leser bzw. Zuschauer die Abfolge der 20 Szenen und die jeweiligen Besetzung der Hauptrolle wählen. Daraus ergibt sich eine unendliche Zahl an Variationen der Geschichte. Im Vorspann heißt es daher lapidar: "Regie und Drehbuch: zuschauergeneriert." In noch höherem Maße wird die Einheit des Textes in so genannten MitschreibProjekten aufgebrochen. Leser und Leserinnen können einer Ausgangsgeschichte eigene Kapitel zufügen, einen bestimmten Erzählfaden aufnehmen oder auch eine Geschichte schreiben, die nur über einen Link auf den Ursprungstext Bezug nimmt. Verständlicherweise ist bei dieser Form des interaktiven und kollektiven Schreibens nicht unbedingt eine gleichbleibende Qualität gesichert. Unschwer ist zu erkennen, dass die delinearen, interaktiven und multimedialen Aspekte des Hypertextes und der Hyperfiction mit bestimmten modernen literaturtheoretischen Positionen korrespondieren. Sowohl Vertreter der Rezeptionsästhetik als auch der der sogenannten Dekonstruktion haben immer wieder betont, dass die Vorstellung eines abgeschlossenen und mit Bedeutung aufgeladenen Werkes irrig sei. Vielmehr sei es die Leser, die Leerstellen des Textes mit seiner Imagination und Lektüreerfahrung fülle. Die digitale Hyperfiction wird von manchen Literaturtheoretikern als Einlösungsform einer postmodernen Literaturkonzeption verstanden. Jedoch kann auch der so genannte "wreader" (writer und reader) nur diejenigen Entscheidungen bei der Lektüre treffen, die der Autor zugelassen hat; damit relativiert sich die Rede von der Emanzipation des Lesers. Bislang ist der Kreis von Hyperfiction-Lesern zudem sehr beschränkt auf eine kleine Szene von ambitionierten Theoretikern und Schriftstellern. Daher ist es sehr fraglich, ob die in den 90er Jahren noch formulierten Träume eines neuen literarischen Zeitalters, in dem Autor und Leser nicht mehr als separate Größen zu fassen sind, sich
überhaupt realisieren lassen. © DF
Klötgen, Frank / Günther, Dirk: Die Aaleskorte der Ölig. www.internetkrimi.de/aaleskorte/
Sekundärliteratur: 1. R. Simanowski (Hg.): Literatur.digital. Formen und Wege einer neuen Literatur, München 2002. 2. U. Wirth, Uwe: Literatur im Internet. Oder: Wen kümmert's, wer liest?, in: S. Münker / A. Roesler (Hg.): Mythos Internet. Frankfurt/M. 1997, S. 319337.
Werkimmanenz
Die Werkimmanenz, die sich im deutschen Sprachraum nach 1945 (mit Ausnahme der DDR) durchsetzte, versteht sich u. a. wissenschaftsintern bzw. methodologisch als Gegenbewegung. Anstelle von Literatur- und Geistesgeschichte tritt die Werkinterpretation als dominierendes Verfahren, d. h., nicht mehr der "Geist" schlechthin, sondern der konkrete Text wird zum Gegenstand der wissenschaftlichen Bemühung. Eine wissenschafts- und literaturtheoretische systematische Begründung ihrer Praxis hat sie jedoch nicht vorgelegt. Dies zeigt ein Blick in die programmatischen und sehr wirksamen Schriften von Wolfgang Kayser ("Das sprachliche Kunstwerk", 1948) und Emil Staiger ("Die Kunst der Interpretation", 1955), den tonangebenden Vertretern der Werkimmanenz in den fünfziger und sechziger Jahren in der deutschsprachigen Germanistik. Letztlich fällt sie durch die Beschränkung auf einen vergleichsweise engen, klassizistisch geprägten Kanon von Dichtwerken, deren "Vollkommenheit" oder "stilistische Stimmigkeit" sie nachzuweisen sucht, durch die prinzipielle Ausgrenzung von textübergreifenden Fragestellungen und durch das programmatische Festhalten an der vorgeblichen Zeitlosigkeit von Kunstwerk und Interpretation weit hinter das "wirkungsgeschichtliche Bewußtsein" der philosophischen Hermeneutik zurück.
Literarische Sozialisation
Unter Literarischer Sozialisation versteht man das durch gesellschaftliche Institutionen beeinflusste Heranwachsen von Leserinnen und Lesern. Der Begriff weist große Schnittmengen mit dem der "Lesesozialisation" auf: Während sich letzterer auf den Umgang mit Printmedien aller Art, d.h. pragmatische und fiktionale Texte, bezieht, zielt ersterer auf die literarische Kultur im engeren Sinne ab. Ob und wie sich das Hineinwachsen in diese nach dem viel beschworenen Ende des Buchzeitalters vollzieht bzw. im Vergleich zu früheren Zeiten verändert hat, ist die Kernfrage einer Forschungsrichtung innerhalb der Literaturwissenschaft, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren zunehmend etablieren konnte. Von Interesse ist dabei insbesondere das quantitative und qualitative Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen unter den Bedingungen der Medienkonkurrenz, dessen Erforschung zu den Voraussetzungen einer wirksamen Leseförderung zählt. Deren Bedeutung ist unter Leseforschern, Pädagogen und Deutschdidaktikern weitgehend unbestritten, da Lesekompetenz auch innerhalb der Medienkultur eine Schlüsselqualifikation bleibt. Der in Anlehnung an Soziologie und Erziehungswissenschaften verwendete Sozialisationsbegriff relativiert zunächst die Rolle der Schule als vermeintlich zentraler Einflussgröße auf den Status eines unter mehreren Einflussfaktoren. Mit der Familie und den Medien kommen weitere Instanzen ins Spiel, deren Bedeutung für die Herausbildung habitualisierter (d.h. gewohnheitsmäßiger) Leserrollen nachgewiesen werden konnte. In Abgrenzung gegenüber älteren Theorien des "Lesealters", die von den zwanziger bis in die sechziger Jahre einflussreich waren und von entwicklungspsychologisch bedingten literarischen Vorlieben kindlicher und jugendlicher Leserinnen und Leser ausgingen ( z.B. einem "Märchenalter" vom 4. bis zum 7. Lebensjahr, einem "Dramen- und Balladenalter" vom 12. bis zum 15. Lebensjahr usw.) haben sich seit den siebziger Jahren verschiedene mehr oder weniger empirisch orientierte Richtungen innerhalb der Literarischen Sozialisationsforschung ausgebildet. Während der psychoanalytisch orientierten Forschungsrichtung, die sich insbesondere mit dem Phänomen der kindlichen Leselust auseinandergesetzt hat, aufgrund des Mangels an differenzierten Fallstudien zu entsprechenden Rezeptionsprozessen ein spekulativer Zug vorgehalten wird, haben insbesondere die lesebiographische und die kommunikationswissenschaftliche Forschungsrichtung beachtliche Erfolge zu verzeichnen. Erstere hat die Relevanz von "Lesekarrieren" für die spätere Entwicklung von Lesern nachgewiesen, letztere konnte mit Hilfe quantitativ-demoskopischer Verfahren eine Reihe von relevanten Erkenntnissen über die Herausbildung und Veränderung habituellen Leseverhaltens in der Mediengesellschaft gewinnen. Ohne daß diese hier im einzelnen dargestellt werden könnten, lässt sich festhalten, daß dramatische Einbrüche im quantitativen Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen zwar nicht nachzuweisen sind, und daß die vielfältigen Bemühungen um
Leseförderung nicht völlig erfolglos waren. Auf der anderen Seite stagniert die Lesekultur, d.h. die seit den sechziger Jahren in der alten Bundesrepublik betriebene Reform des Bildungswesens, die zu einer erheblichen Erhöhung des Anteils von Abiturienten pro Jahrgang geführt hat, hatte nicht die erwartete Folge einer Steigerung des Anteils habitueller Leserinnen und Leser an der Gesamtbevölkerung. Nach wie vor bestimmen jedoch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht und der Bildungsstand das Leseverhalten entscheidend: Mit steigender Schulbildung und sozialer Schichtenzugehörigkeit steigt der Anteil der habituellen Leser(innen), wobei als weitere entscheidende Komponente der Faktor Geschlecht hinzukommt: Mädchen lesen im Durchschnitt signifikant mehr und bevorzugen auch im Jugendalter eher fiktionale Literatur als Jungen. © CK
Sekundärliteratur: 1. H. Eggert / C. Garbe: Literarische Sozialisation, Stuttgart u.a. 1995. 2. W. Graf: Literarische Sozialisation, in: K.-M. Bogdal / H. Korte: Grundzüge der Literaturdidaktik, München 2002, S. 47-58. 3. B. Hurrelmann / M. Hammer / F. Nieß: Leseklima in der Familie, Gütersloh 1995.
Metafiktionalität
Als ´metafiktional´ bezeichnet Patricia Waugh "fiktionale Erzähltexte, die selbstreflexiv und systematisch die Aufmerksamkeit auf ihren Status als Artefakte lenken, um damit die Beziehung zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu problematisieren." (Waugh, S. 2) Häufig werden in diesen Texten die narrativen Konventionen bewußt durchbrochen, um die Illusion einer geschlossenen fiktiven Welt zu zerstören und ihre Künstlichkeit, ihr Gemachtsein zur Schau zu stellen (vgl. Mimesis). An sich ist dieses Verfahren schon sehr alt, wie ein Blick in Miguel de Cervantes´ Don Quijote (1605-15) oder Laurence Sternes Tristram Shandy (1759-67) zeigt. Allerdings ist seine Bedeutung im sogenannten postmodernen Roman (wie Umberto Ecos Der Name der Rose von 1980) enorm angewachsen. In technischer Hinsicht läßt sich das Phänomen als eine Vermischung verschiedener narrativer Ebenen erhellen. Genauer: Die Grenzen, die der Autor mit dem Leser im Rahmen eines ´Fiktionsvertrages´ (vgl. fiktionale und faktuale Texte) festlegt, und die üblicherweise als undurchlässig gelten, werden überschritten - und zwar in verschiedene Richtungen. Jeder Erzähltext erschafft ein räumlich-zeitliches Universum, in dem sich die Geschichte abspielt. Dieses Universum wird auch als ´Diegese´ bezeichnet. Wenn nun innerhalb einer Erzählung ein zweiter Erzähler mit einer separaten Geschichte zu Wort kommt, haben wir es schon mit zwei ´Diegesen´ und einer zweiten Erzählebene zu tun. Die zweite wird dabei von der ersten eingeschlossen.(Das sagt noch nichts über ihren verschiedenen Stellenwert aus die ´innere´, die ´Binnenerzählung´, kann weitaus wichtiger sein als die dazugehörige ´äußere´, die ´Rahmenerzählung´). Diese Verschachtelung läßt sich - theoretisch - bis ins Unendliche fortsetzen. Wo also eine Erzählung eine zweite hervorbringt, spricht Gérard Genette von ´metadiegetischer´ Erzählung. Solange beide Universen säuberlich getrennt sind, ergeben sich daraus auch keinerlei Probleme. Verwirrungen verschiedenster Art treten erst auf, wenn die Grenzen zwischen ihnen durchlässig werden. Das geschieht z.B. in Michael Endes Unendlicher Geschichte. Hier wird der Leser Bastian in die Geschehnisse eines Buches hineingezogen, in dem er gerade liest. Von seinem ersten ´diegetischen´ Universum, das er als Leser bewohnt, wechselt er in das zweite, nämlich das, von dem er liest. Der Übergang zwischen diesen zwei Ebenen wird häufig nicht einmal eigens angezeigt. (In der Unendlichen Geschichte sind die beiden Welten durch verschiedenfarbigen Druck voneinander abgesetzt.) In der Erzählung Park ohne Ende des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar findet eine Bewegung in die Gegenrichtung statt: Ein Mann, der im Sessel sitzend ein Buch liest, wird von einer Figur ermordet, die aus ebendiesem Buch - und damit ihrem angestammten ´diegetischen´ Universum - heraussteigt.
Diese vielfältigen Grenzüberschreitungen bezeichnet Genette als ´Metalepsen´. Allesamt sind sie dadurch gekennzeichnet, daß eine Schwelle überschritten wird, nämlich die "bewegliche, aber heilige Grenze zwischen zwei Welten: zwischen der, in der man erzählt, und der, von der erzählt wird." (Genette, S.168f.) Natürlich müssen diese ´metafiktionalen´ Verfahren nicht zwischen zwei Buchdeckel eingesperrt bleiben. Der italienische Erzähler Italo Calvino entzündet in seinem Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht ein regelrechtes ´metafiktionales´ Feuerwerk. Es beginnt mit den Worten: "Du schickst dich an, den neuen Roman ´Wenn ein Reisender in einer Winternacht´ von Italo Calvino zu lesen." Er läßt also nicht nur Figuren innerhalb eines Buches Grenzen überschreiten, sondern bezieht den realen Leser und den realen Autor mit ein. Neben vielen spielerischen und märchenhaft-phantastischen Effekten läßt ´Metafiktionalität´ auch die klare Trennung zwischen realer und fiktiver Welt fragwürdig erscheinen. Selbstverständlich bleiben ´metafiktionale´ Verfahren nicht auf die Literatur beschränkt. In Peter Weirs Film The Truman Show (1998) lebt die Figur Truman - lange Zeit ohne es zu wissen - in einem eigens für ihn eingerichteten gigantischen Fernsehstudio, dessen Kameras ständig auf ihn gerichtet sind. Tatsächlich ist er der Protagonist eines 24-StundenFernsehprogramms, das in alle Welt ausgestrahlt wird. Erst am Ende wird er sich seiner Scheinwelt bewußt und es gelingt ihm, die Grenze zur Realität, eine Betonkulisse, zu überwinden. Während es hier noch zweifelsfrei eine ´reale´ Welt jenseits der Fiktion gibt, wird diese Sicherheit in der Literatur dagegen öfters verweigert. (z.B. den Texten des Argentiniers Jose Luis Borges) © SR
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Patricia Waugh: Metafiction. The theory and practice of Self-Conscious Fiction, London und New York 1984. Gérard Genette: Die Erzählung, hg. von Jochen Vogt, München 1994.
Sekundärliteratur: 1. G. Genette: Die Erzählung, hg. von J. Vogt, München 1994. 2. P. Waugh: Metafiction. The theory and practice of Self-Conscious Fiction, London und New York 1984.
INDEX Alphabetische Übersicht nach Namen und Sachbegriffen
A B C D E F G H I J K L M N
O P Q R S T V W Z
A Abenteuerroman Abhandlung Adorno, Theodor W. Adorno, Theodor W.: "Rede über Lyrik und Gesellschaft" Adorno, Theodor W.: "Standort des Erzählers im modernen Roman" Aischylos Aleatorik Alexandriner Alkäische Odenstrophe Allegorie Anapäst Anapher Anekdote Antigone
Antike Tragödie Antithese Anzeige Apostrophe Aristoteles Aristoteles: "Poetik" (zum Drama) Aristoteles: "Poetik" Aristoteles: "Rhetorik" Asklepiadeische Odenstrophe Assman, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen Asyndeton Auerbach, Erich Aufklärung Aufsatz Auktoriale Erzählsituation Autobiographie Autor A-Z
B Bachmann, Ingeborg
Bachtin, Michail M. Ballade Balzac, Honoré de Barock Bartels, Adolf Bartels, Adolf: "Geschichte der deutschen Literatur" Barthes, Roland Becher, Johannes R. Bellay du, Joachim Benjamin, Walter Benjamin, Walter: "Der Erzähler" Benjamin, Walter: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzuierbarkeit" Benn, Gottfried Benn, Gottfried: "Fragmente" Benn, Gottfried: "Probleme der Lyrik" Berghahn, Klaus L.: "Wortkunst ohne Geschichte: Zur werkimmanenten Methode der Germanistik nach 1945" Bericht Bewußtseinswiedergabe, Formen der Bibel Bichsel, Peter
Biedermeierzeit Bierwisch, Manfred: "Poetik und Linguistik" Bildungsroman Biographie Blanckenburg, Christian Friedrich von: "Versuch über den Roman" Blankvers Boccaccio, Giovanni Bogdal, Klaus-Michael: "Kann Interpretieren Sünde sein? Literaturwissenschaft zwischen sakraler Poetik und profaner Texttheorie" Böll, Heinrich Bourdieu, Pierre Botenbericht Brecht, Bertolt Brecht, Bertolt: "Die Lyrik als Ausdruck" Brecht, Bertolt: "Terzinen über die Liebe" Brecht, Bertolt: "Über die Bauart langdauernder Werke" (Ausschnitt) Brecht, Bertolt: "Anmerkungen zur Oper 'Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny'" Brecht, Bertolt: Radiotheorie Brecht, Bertolt: "Das epische Theater" Brecht, Bertolt: "Über experimentelles Theater" Brecht, Bertolt: "Leben des Galilei"
Brecht, Bertolt: "Mutter Courage und ihre Kinder" Brecht, Bertolt: "Der gute Mensch von Sezuan" Brecht, Bertolt: "Der kaukasische Kreidekreis" Brief Briefroman Bildungsroman Buchmarktforschung Büchner, Georg Büchner, Georg: "Lenz" Bürgerliches Trauerspiel A-Z C Camoes, Luís Vaz de Celan, Paul Cervantes Saavedra, Miguel de: Don Quijote Chandler, Raymond Chevy-Chase-Strophe Chiasmus Chor Chronik Cicero, Marcus Tullius
Cicero, Marcus Tullius: "Über den Redner" Chladenius, Johann Martin Chladenius, Johann Martin: "Einleitung zur richtige Auslegung vernünftiger Reden und Schriften" Commedia dell´arte Computer Corneille, Pierre A-Z D Daktylus Dante, Alighieri: "Göttliche Komödie" Dekonstruktion Derrida, Jacques Deutschunterricht Dialektik Dialog Dilthey, Wilhelm Dilthey, Wilhelm: "Der Aufbau der historischen Welt in den Geisteswissenschaften" discours und histoire Distichon Doctrine classique
Dokumentartheater Doyle, Sir Arthur Conan Dürrenmatt, Friedrich A-Z E Eco, Umberto Ehebruchroman Eich, Günter Drei Einheiten Einakter Eklektizismus Elemente der Rede Elfsilbler Ellipse Empfindsamkeit Emphase Empirische Literaturwissenschaft Enjambement Enzensberger, Hans Magnus Epipher Episches Präteritum
Episches Theater Epoche Epos Erlebte Rede Ersählsituationen (nach F. K. Stanzel) Erzähler(s), Stimme des Erzählzeit und erzählte Zeit Essay Eulenspiegel, Till Euphemismus Euripides Euripides: "Iphigenie in Aulis" Exilliteratur Expressionismus A-Z F Fabel Faulkner, William Feature Feministische Literaturwissenschaft / gender studies Feuilleton
Fiktion Fiktionale und faktuale Texte Film Flugblatt/Flugschrift Fokalisierungstypen (nach G. Genette) Formalismus, russischer Foucault, Michel: Was ist ein Autor? Französische Klassik Freie Rhythmen Freizeitlektüre / Schullektüre Freud, Sigmund Freud, Sigmund: "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" (Ausschnitt) Freytag, Gustav Freytag, Gustav: "Die Technik des Dramas" Frisch, Max A-Z G Gadamer, Hans-Georg Gadamer, Hans-Georg: "Wahrheit und Methode" Gattungen Gedankenbericht
Gedichte über Dichtung Gegenwartsliteratur Geisteswissenschaften Genette, Gérard Gernhardt, Robert Gervinus, Georg Gottfried Gervinus, Georg Gottfried: "Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen" Giesecke, Michael: "Der Buchdruck in der frühen Neuzeit" Glosse Goethe, Johann Wolfgang Goethe, Johann Wolfgang: "Zum Shakespeares-Tag" Goethe, Johann Wolfgang: "Götz von Berlichingen" Goethe, Johann Wolfgang: "Die Leiden des jungen Werthers" Goethe, Johann Wolfgang: "Wilhelm Meisters Lehrjahre" Goethe, Johann Wolfgang: "Iphigenie auf Tauris" Goethe, Johann Wolfgang: "Faust" Goethe, Johann Wolfgang: "West-östlicher Divan" Goethe, Johann Wolfgang: "Naturformen der Dichtung" Gorgias Gottsched, Johann Christoph
Gottsched, Johann Christoph: "Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen" Gottsched, Johann Christoph: "Der sterbende Cato" Grass, Günther Grimm, Jacob und Wilhelm: "Über den Werth der ungenauen Wissenschaften" Grimminger, Rolf: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Gryphius, Andreas Gutenberg, Johann Jacob A-Z H Habermas, Jürgen Habermas, Jürgen: "Zu Gadamers 'Wahrheit und Methode'" Hagen, Friedrich Heinrich von der Hamburger, Käte Hammett, Dashiell Hauser, Arnold Hegel, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: "Vorlesungen über die Ästhetik" Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: "Vorlesungen über die Ästhetik" (zur Dramatik) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: "Vorlesungen über die Ästhetik" (zur Epik) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: "Vorlesungen über die Ästhetik" (zur Lyrik)
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte" Heidegger, Martin Heine, Heinrich Hemingway, Ernest Henry, O. Herder, Johann Gottfried Herder, Johann Gottfried: "Fragmente einer Abhandlung über die Ode" Hermeneutische Differenz Hermeneutischer Zirkel / Hermeneutische Spirale Hexameter [discours und] histoire Historische Diskursanalyse Historisches Drama Historische Leseforschung Historischer Materialismus Hofmannsthal, Hugo von Der Hofmeister Hölderlin, Friedrich Hörspiel Homer: "Ilias" Homer: "Odyssee"
Horaz (Quintius Horatius Flaccus): "Von der Dichtkunst" Humanismus Humboldt, Wilhelm von Humboldtsche Universitätsreform Hyperbaton Hyperbel Hyperfiction Hypertext A-Z I Ich-Erzählsituation Ideologiekritik Ilias Illusionstheater Ingarden, Roman: "Das literarische Kunstwerk" Innerer Monolog Internet Interpretation Intertextualität (nach Julia Kristeva) Interview Iser, Wolfgang
A-Z J Jahrhundertwende Jakobson, Roman: "Linguistik und Poetik" Jambus Jandl, Ernst Japp, Uwe Jauß, Hans Robert Joyce, James Juristische Hermeneutik A-Z K Kafka, Franz Kalendergeschichte Kanon Kant, Immanuel: "Kritik der Urteilskraft" Katachrese Katharsis Kayser, Wolfgang Kayser, Wolfgang: "Das sprachliche Kunstwerk" Keller, Gottfried
Keller, Gottfried: "Die Leute von Seldwyla" Klassik Klopstock, Friedrich Gottlieb Klotz, Volker: "Geschlossene und offene Form im Drama" Knittelvers Koeppen, Wolfgang Kollektivsymbole Kolumne Kommentar Kommentar, journalistischer Komödie Koran Kreuzreim Kriminalroman Kurzgeschichte A-Z L Lacan, Jacques Lämmert, Eberhard Lancelot Legende
Leitartikel Lenz, Jakob Michael Reinhold Lesebuch Lesedrama Lessing, Gotthold Ephraim Lessing, Gotthold Ephraim: "Briefwechsel über das Trauerspiel" Lessing, Gotthold Ephraim: "Hamburgische Dramaturgie" Lessing, Gotthold Ephraim: "Miß Sara Sampson" Lessing, Gotthold Ephraim: "Emilia Galotti" Lévi-Strauss, Claude Lillo, George: "Der Kaufmann von Londen" Link, Jürgen Link, Jürgen: "Was heißt elementare und was institutionalisierte Literatur, und wie ist ihr Verhältnis zu denken?" Literalität Literarische Sozialisation Literarizität Literaturkritik Literatursemiotik Literatursoziologie Literaturunterricht
Luhmann, Niklas Lukács, Georg Lukács, Georg: "Die Theorie des Romans" Luther, Martin Lyrisches Drama A-Z M Mann, Heinrich Mann, Heinrich: "Professor Unrat" Mann, Thomas Mann, Thomas: "Der Zauberberg" (Ausschnitt) Märchen Marx, Karl / Friedrich Engels Marx, Karl / Friedrich Engels: "Die deutsche Ideologie" (Ausschnitt) Marxismus und Literatur Materialismus Mauerschau Mediengeschichte Memoiren metafiction Metapher
Metaphysik Metonymie Metrum Mimesis Molière, Jean-Baptiste Monographie Monolog Mörike, Eduard Moritz, Karl Philipp Moritz, Karl Philipp: "Anton Reiser" Musil, Robert Musil, Robert: "Der Mann ohne Eigenschaften" (Ausschnitt) A-Z N Nachkriegsliteratur Nachricht Nadler, Joseph Nadler, Joseph: "Literaturgeschichte des deutschen Volkes" Naturalistisches Drama Naturalismus Naturwissenschaften
Netzliteratur Neue Sachlichkeit Nibelungenlied Nietzsche, Friedrich Novelle A-Z O Ode Ödipuskomplex Odyssee Offenes und geschlossenes Drama Oligarchie Ong, Walter J. Opitz, Martin Opitz, Martin: "Buch von der Deutschen Poeterey" (zur Dramatik) Opitz, Martin: "Buch von der Deutschen Poeterey" (zur Lyrik) Oralität oral poetry Organon A-Z P
Paarreim Pamphlet Parabel Parabeltheater Parallelismus Paronomasie Passions- und Osterspiele Pentameter Periphrase Permission Personale Erzählsituation Personifikation Petrarca, Francesco Phonologie Platon Platon: "Gorgias" Platon: "Der Staat" Poe, Edgar Allan Polyptoton Polysyndeton Porträt
Positivismus Postmoderner Roman Poststrukturalismus Predigt Propp, Vladimir Protagonist Protokoll Proust, Marcel Psychoanalyse Publikum A-Z Q Quintilian, Marcus Fabius: "Ausbildung des Redners"
R Racine, Jean Realismus Rede Redefunktionen Redegattungen Redewiedergabe, Formen der
Referat Reformation Reim Relationales Zeichenmodell Renaissance Reportage Revolutionsdrama Rezension Rezeptions- und Wirkungsästhetik Rhetorische Frage Rhetorische Mittel (25 Stichwörter) Rhythmus Ricoeur, Paul Roman Romantheorie im Roman Romantik Ronsard de, Pierre Rückwendungen und Vorausdeutungen Rundfunk Rushdie, Salman Russischer Formalismus
A-Z S Sachbuch Sage Sapphische Odenstrophe Sartre, Jean-Paul: Was ist Literatur? Satyrspiel Saussure, Ferdinand de Scaliger, Julius Caesar: "Sieben Bücher über die Dichtkunst" Schäferroman Scherer, Wilhelm Schiller, Friedrich Schlegel, Friedrich Schlegel, Friedrich: "Über das Studium der griechischen Poesie" Schlegel, Friedrich: "Progressive Univeralpoesie" Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: "Hermeneutik und Kritik" Schmidt, Siegfried J. Schmidt, Siegfried J.: "Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft" Schullektüre / Freizeitlektüre Schulbuch
Schwank Schweifreim Seghers, Anna Seghers, Anna: "Zwei Denkmäler" Shakespeare-Theater Signifikant Signifikat Sonett Sontag, Susan: Ästhetisch fundierte Literaturkritik Sophokles Sophokles: "Antigone" Spinoza, Baruch de Spinoza, Baruch de: "Theologisch-politischer Traktat" Spionageroman Spondeus Spyri, Johanna: "Heidi" Staiger, Emil Staiger, Emil: "Grundbegriffe der Poetik" (zur Lyrik) Ständeklausel Stanze Stanzel, Franz K.
Stierle, Karlheinz Stimme des Erzählers Strophe Strukturalismus Sturm und Drang Synekdoche Synonym Syntagma Systemtheorie Szondi, Peter Szondi, Peter: "Bemerkungen zur Forschungslage der literarischen Hermeneutik" A-Z T Tagebuch Terzine Theologische Hermeneutik Tora Tragödie Traktat Transformationsgrammatik Trivialliteratur
Trivium Trochäus Twain, Mark Tyrannis
V Vers "Verstöße" gegen die Fokuswahl Vilmar, August Friedrich Christian Vilmar, August Friedrich Christian: "Geschichte der deutschen Nationalliteratur" Vogt, Jochen: "Was aus dem Mädchen geworden ist. Kleine Archäologie eines Gelegenheitstextes von Anna Seghers" Völkisch-nationale Literatur Volksliedstrophe [Vorausdeutungen und] Rückwendungen Vormärz Vorlesung Vortrag Voßkamp, Wilhelm: "Bildung ist mehr als Wissen. Die Bildungsdiskussion in historischer Perspektive" A-Z W
Walther von der Vogelweide Weiss, Peter Werbetext Werkimmanente Interpretation Wirkungsgeschichte Woolf, Virginia
Z Zäsur Zeitraffungen Zeitstrukturen (nach G. Genette) Zeugma Zola, Émile A-Z
Gottfried Benn: Fragmente (1950)
Fragmente Fragmente, Seelenauswürfe, Blutgerinnsel des zwanzigsten Jahrhunderts Narben - gestörter Kreislauf der Schöpfungsfrühe, die historischen Religionen von fünf Jahrhunderten zertrümmert, die Wissenschaft: Risse im Parthenon, Planck rann mit seiner Quantentheorie zu Kepler und Kierkegaard neu getrübt zusammen aber Abende gab es, die gingen in den Farben des Allvaters, lockeren, weitwallenden, unumstößlich in ihrem Schweigen geströmten Blaus, Farbe der Introvertierten, da sammelte man sich die Hände auf das Knie gestützt bäuerlich, einfach und stillem Trunk ergeben bei den Harmonikas der Knechte und andere gehetzt von inneren Konvoluten, Wölbungdrängen, Stilbaukompressionen oder Jagden nach Liebe. Ausdruckskrisen und Anfälle von Erotik: das ist der Mensch von heute, das Innere ein Vakuum, die Kontinuität der Persönlichkeit wird gewahrt von den Anzügen, die bei gutem Stoff zehn Jahre halten. Der Rest Fragmente, halbe Laute, Melodienansätze aus Nachbarhäusern,
Negerspirituals oder Ave Marias.
Gottfried Benn. Gedichte in der Fassung der Erstdrucke. Frankfurt am Main 1982, S. 379.