Ephraim
KISHON Eintagsfliegen leben länger
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In der Zeitrechnung des Universums dauert ein Menschenleben nicht ei...
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Ephraim
KISHON Eintagsfliegen leben länger
-2-
In der Zeitrechnung des Universums dauert ein Menschenleben nicht einmal einen flüchtigen Augenblick. Die erfolgreichen unter den Dichtern leben durch ihre Werke ein paar Sekunden länger. Und in ihrem Größenwahn bilden sie sich ein, schon fast eine Eintagsfliege zu sein. E. K.
Ins Deutsche übertragen von Friedrich Torberg, Ephraim Kishon, Ursula Abrahamy und Brigitte Sinhuber-Harenberg
Innenillustrationen von Rudolf Angerer
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Besuchen Sie uns im Internet unter: http://www.herbig.net
© 2001 by Langen Müller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel, unter Verwendung einer Zeichnung von Rudolf Angerer Satz: Filmsatz Schröter, München Gesetzt aus 11.5/15.1 New Caledonia auf Apple Macintosh in QuarkXPress Druck und Binden: Wiener Verlag, Himberg Printed in Austria ISBN3-7844-2824-X
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von Jubilaren und Klappentextern 16
Gute Erholung oder Sorbas Triumph 18 Der anonyme Anbeter oder Monolog der tauben Ohren 23 Die Schule fürs Leben oder Ein Literat wird geboren 25 Dreifaches Jubiläum oder Bescheidenheit zahlt sich aus 26 Noch ein Jubiläumsband oder Viel Lärm um nichts 30 Laras Melodie oder Gipfel der Intellektuellen 32 Der literarische Marathon oder Ein Zuhörer zuviel 35 Geschäftstüchtigkeit oder Wieviel wiegt Hemingway 36 Verlagspolitik oder Theobald der Tiefseeschwamm 38 Boris oder Lesen ist keine Pflicht 41 Do it yourself oder Zur Systematik der Klapptentextes 47 Schwarzarbeit oder Jonas' Dankestränen 51 Erst werben dann schreiben -5-
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Unten ohne oder Lungenentzündung ist die Lösung 57 Blitzkarriere oder Selbstkritik ist empfehlenswert 60 Die Macht der Presse oder Metamorphose eines Interviews 65 Der Erfolgsmesser oder Hellsehen in Sachen Kultur 70 Titelrolle oder Einer brach durch 74 Einer zuviel oder Medienfortschritt in der Kampfkunst 78 Kostenlose Reklame oder Witzigkeit kennt kein Pardon 79 Endlich seriös oder Magie der Auflage 88 Preiswürdigkeit oder Sieg der Gerechtigkeit 92 Hollywood, ich komme oder You need a good agent 95 Die »Fanny-Swing-Show« oder A Star is born 100 Butterfly oder Die Eroberung des Fernen Ostens 104
Von Kritikern und anderen Wetterhähnen -6-
109 Das Loch im Vorhang oder Durchlaucht Kunstetter 111 Die Leberwurst-Affäre oder Die Grenzen der Theaterkritik 114 Sein oder nicht sein oder Williams Unvollendete 118 Podmanitzkis Siegesrausch oder Rappaport bleibt Rappaport 120 Lob kann töten oder Starkritiker leben kürzer 125 Des Fernsehens erstes Opfer oder Das sehenswerte Hörspiel 127 Ich habe ja so recht der Die scharfe Schneide der Satire 130 Das Tele-Duell oder Auch Lexika können irren 135
Durch die Brille der Eintagsfliege 139 Die Stunde Null oder Alltag eines ausgefuchsten Humoristen 144
Kulturkampf oder Kein Eintritt für Vortragende 151 »Saumäßig guet« oder Das Dunkel am Ende des Tunnels 155 -7-
Josseles Fußnote oder Gott hat doch Humor 158 Hiobs Geschichte oder Vom Parkverbot in der Bibel 159 Gerschons Witwe oder In den Klauen des Nachruhms 167 Das Bewußte und das Unterbewußte oder Die funktionale Identifikationskonzeption 171 Lilly um fünf oder Die Artenvielfalt der Sekretärinnen 176 Bettgeschichte oder Der Geheimcode des Verlegers 180 Schnucki ist stärker oder Das Geheimnis der Schlagerindustrie 181 Humor ganz privat oder Petersilie ist doch lustig 185 Die Abschlußfeier oder Der Apfel fällt nicht weit... 190 Generationskonflikt oder Es bleibt nicht in der Familie 196 Bruderkrieg oder Röntgenblick eines Satirikers 199
Beginnen wir mit dem Ende. Die Eintagsfliege ist ein wenig in die Jahre gekommen und blickt auf ihr Leben zurück. Da erscheint an der Wand ihres Arbeitszimmers die bekannte Inschrift
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»Mene, mene tekel upharsin«, was auf babylonisch so viel hieß wie, du wurdest gewogen, Kumpel, und für zu leicht befunden. Dies hat natürlich nicht der Kumpel selbst an die Wand geschrieben, sondern seine lieben Kollegen. Dabei versteht eine bescheidene Eintagsfliege, wie ich eine bin, nicht einmal Babylonisch und ist leider auch kein so mächtiger Tyrann wie Kaiser Nebukadnezar. Um die Wahrheit zu sagen, das einzige, was ich kann, ist Menschen mit Buchstaben zum Lachen bringen. Ich fliege in jedes Zimmer, in dem ein Licht brennt, drehe meine Runden, setze mich auf eine Nase und kitzle sie. Ich kitzle nun schon seit 40 Jahren, fast ohne Unterlaß eine ganze Menge von Nasen. Inzwischen bin ich tatsächlich eine in Ehren ergraute Eintagsfliege, und man könnte meinen, ich sollte mich endlich zur Ruhe setzen. Doch bevor meine Flügel erlahmen, möchte ich noch von mir selbst und meinem literarischen Seiltanz erzählen, denn schließlich ist es mein Beruf, die Wahrheit zu sagen. Ich werde also reden. Und um dabei in sicheren Händen zu sein, habe ich beschlossen, mich einfach selbst zu interviewen.
»Sie sind Herr Kishon, der Schriftsteller, wenn ich nicht irre«, wandte ich mich mit gebührender Höflichkeit an mich. Meine Antwort war das altbekannte Lied: »Ich bin kein Schriftsteller, ich bin Humorist.« »Was ist denn da der Unterschied?« »Es gibt keinen. Aber der Humorist ist in den Augen der Allgemeinheit kein Schriftsteller. Ich bin immer noch Humorist.« »Warum >noch« »Weil der Humorist völlig anders gewürdigt wird, sobald er das Zeitliche gesegnet hat. In den Nachrufen heißt es dann: >Ein großer Satiriker ist von uns gegangen. Er hinterläßt uns unermeßliche literarische Schätze ...<« »Ein Satiriker ist also ein toter Humorist.« -9-
»In der Regel ja. Nach hundert Jahren kann er sogar zum Philosophen werden. Die Zeit arbeitet auch für mich.« »Sie sind ja ganz schön eitel. Außerdem, wenn Sie gestatten, leben Sie auch jetzt als Humorist nicht so schlecht.« »Habe ich mich beklagt? Du weißt sehr genau, daß mich Geld nicht mehr reizt. Nicht weil ich zuviel davon hätte, sondern weil mir zu wenig Jahre bleiben, es auszugeben.« »Wie alt sind Sie eigentlich?« »Fünfzig Bücher alt.« »Das ist noch immer kein plausibler Grund, Ihre neuen Bücher mit alten Satiren zu füllen.« »Hör zu, ich zöge es vor, dieses Interview hier abzubrechen.« »Nun seien Sie doch nicht so empfindlich, um Himmels willen.« »Wie sollte ich nicht empfindlich sein, wenn ich schon wieder diesen abgedroschenen Vorwurf höre, und noch dazu von mir selbst. Kannst du dir denn nicht vorstellen, daß es eine Menge Leute gibt, die eine vor 39 Jahren geschriebene Satire noch gar nicht gelesen oder längst vergessen haben? Ich kann doch auf meine besten Werke, die auf Dutzende von Büchern verstreut sind, nicht deshalb verzichten, weil ausgerechnet du alle meine Satiren auswendig kennst.« »Entschuldigen Sie, das wäre dann aber zumindest ein Selbstplagiat.« »Na und? Ganz unter uns, irgendwann und irgendwo wurde alles schon einmal geschrieben. Es ist sehr schwer, etwas Neues zu erdichten, seit Aristophanes damit angefangen hat, meine Ideen zu stehlen. Es gibt keine alten Witze, nur alte Leute. Und außerdem, bei einem Konzert der Philharmoniker stehst du ja auch nicht auf und rufst: >Diese Musik habe ich schon vor 20 Jahren gehörte« »Mit Ihnen kann man wirklich nicht reden. Sie stehen ohnedies im Ruf, auf die geringfügigsten Angriffe, auch auf eingebildete, mit Wutanfällen zu -10-
reagieren und alle Kritiker in Bausch und Bogen zu verdammen. Was sagen Sie dazu?« »Nichts.« »Warum nicht?« »Weil wir auf verschiedenen Seiten stehen: Ich schreibe, du kritisierst.« »Sie machen es sich zu einfach.« »Es ist so einfach. Einer meiner Freunde, ein Journalist, hat immer behauptet, daß ich an Verfolgungswahn leide. Jetzt hat er einen Roman geschrieben, der von einem bedeutenden Verleger veröffentlicht wird. >Armer Junge<, sagte ich zu ihm. >Du warst ein glücklicher, zufriedener Mensch, solange du dich als Kritiker betätigt hast. Warum bist du ins andere Lager übergelaufen?< Jetzt ist es aus mit dem schönen Leben meines Freundes. In einigen Wochen, nach Erreichen des vierzehnten Platzes auf der Bestsellerliste, wird er völlig am Ende sein. Ein Nervenbündel inmitten all der anderen schreibenden Neurotiker. Und in spätestens einem Jahr werde ich mit ihm über seinen Verfolgungswahn sprechen.« »Woher wissen Sie, daß sein Roman nicht durchfällt?« »Ich sagte ja, du würdest mich nicht verstehen. Wenn sein Buch ein Flop wird, wäre mein Freund gerettet. Nach einer Weile hätte er das Ganze vergessen und könnte so arrogant sein wie vorher. Gefährlich wird es, wenn sein Buch ein Erfolg wird. Dann muß er einen zweiten Roman schreiben. Gott steh ihm bei. Die unvermeidlichen Verrisse dieses zweiten Versuchs werden ihm den Rest geben. Und beim dritten Buch ist es aus und vorbei mit ihm.« »Wer verreißt ihn? Das Publikum?« »Das Publikum ist ein abstrakter Begriff. Das Publikum kennt nur die Dame in der Buchhandlung. Nein, verrissen wird er von den wenigen Freunden, denen er begegnet.« »Muß er ihnen denn begegnen? Es gibt schließlich noch andere Menschen auf der Welt.« »Dann werden ihn eben die anderen verreißen.« -11-
»Aber warum?« »Schau nach bei Kafka. Er hat einige Bücher über die Bosheit der Menschen geschrieben.« »Kafka?« »Sicherlich. Kafka war unter anderem ein bedeutender Satiriker, auch wenn er selbst es nicht wußte. Noch die trockensten Stellen in seinen Romanen sind humorvoller als eine ganze Serie von Witzen.« »Da fällt mir ein, kennen Sie die Geschichte von dem katholischen Priester, dem mohammedanischen Kadi und dem Rabbi, die gemeinsam in einem Flugzeug sitzen und...« »Was sagt der Rabbi?« »Wie bitte?« »Ich weigere mich, die ganze Geschichte anzuhören, bis wir beim Rabbi sind. Was sagt der Rabbi zum Schluß? Sagt er >Hoppla!< und springt mit dem Regenschirm aus dem Flugzeug?« »Nun ja. Man hat mich nicht umsonst gewarnt, daß Sie im Privatleben überhaupt keinen Humor haben. Jeder Schimpanse lacht mehr als Sie.« »Möglich. Aber nicht über blöde Witze.« »Sie machen doch auch Witze.« »Nie. Ich hab nur meine eigene Meinung, die nicht unbedingt lustig sein muß.« »Stimmt. Angeblich sind Humoristen ja auch eher traurige Menschen.« »Sind sie nicht. Aber vielleicht einsam. Oder nachdenklich. Dieser sonderbare Beruf verlangt das Herausschälen der Wahrheit aus den vielen Schichten, die sie überlagern. Man schält und schält, und eines Tages erkennt man, das genaue Gegenteil dessen, was man in der Schule gelernt hat, richtig ist: Lügen haben lange Beine. Ehrlichkeit ist die Ausrede der Feiglinge. Güte ist Schwäche. Brutalität ist Stärke ...« »Hören Sie auf. Wie kann man nur so fürchterliche Dinge sagen?« -12-
»Der Humorist kann. Einen Humoristen nimmt man schließlich nicht ernst. Und merkwürdigerweise klingen all diese fürchterlichen Dinge gar nicht so fürchterlich, wenn man sie in Humor verpackt. Da kann man den Menschen die bitterste Realität zu schlucken geben, und sie werden sich köstlich darüber amüsieren. Sie werden die Wahrheit naschen wie Pralinen.« »Das sagen Sie nur, weil Sie die Menschen verachten.« »Ich verachte sie keineswegs, ich bin ja auch ein Mensch. Ich versuche nur, sie kennenzulernen. Und je weniger Illusionen ich mir über die Menschen mache, desto liebenswerter erscheinen sie mir. Es fällt mir manchmal leichter, einen Lumpen zu lieben als einen Heiligen.« »Das klingt nicht sehr fromm.« »Es ist eben nicht leicht, gleichzeitig Humorist und fromm zu sein.« »Da gibt es bekannte Ausnahmen.« »Zweifellos. Oscar Wilde zum Beispiel wollte aus reiner Nächstenliebe nur dicke Missionare zu den Kannibalen senden.« »Typisch englischer Humor.« »Den gibt es nicht. Aber es gab einst, und zwar bevor die Menschheit Fernsehen in Überdosis in sich hineinzuschaufeln begann, ein paar sehr geistreiche Kerle. Voltaire, Tucholsky oder sogar Franz Molnár aus Budapest, der sich gerne damit brüstete, daß seine Geliebte zwar mit jedem schliefe, aber für Geld nur mit ihm. Das war die Zeit der großen Humoristen ...« »Und heute?« »Heute kann man sie an einem Finger abzählen.« »Na, na.« »So ist aber die Lage. Vielleicht bin ich wirklich der vorletzte Mohikaner.« »Und der letzte?« »Wird schon keinen Verleger finden.« »Ist es mit der Satire denn wirklich aus und vorbei?«
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»Das glaube ich nicht. Sie ist nur vorübergehend in Rente gegangen. Ihre Aufgabe haben die Fernsehserien übernommen und aus dem Lachen einen Soundtrack gemacht. Mit dem >scharfen Skalpell der Satire<, wie man es einst nannte, kann man heutzutage höchstens noch Fanbriefe öffnen.« »Sie sind wirklich ein hoffnungsloser Zyniker.« »Wie es mein Beruf so mit sich bringt. Aber ich liebe Kinder, Blumen und die Flötenkonzerte von Mozart.« »Ist Ihnen bewußt, daß Sie mit schwerem ungarischen Akzent sprechen?« »Igen.« »Und wie schreiben Sie?« »Von rechts nach links. Hebräisch. Beim Schreiben habe ich keinen Akzent.« »Was für Eigenheiten haben Sie beim Schreiben?« »Keine. Tut mir leid, diesbezüglich nichts anbieten zu können. Weder schreibe ich in einer mit lauwarmem Wasser gefüllten Badewanne zum Klang eines Streichquartetts, noch inspirieren mich verfaulte Äpfel oder der Vollmond hinter den Wolken. Ich springe jeden Morgen um 9.45 Uhr aus dem Bett, setze mich an den Schreibtisch und schreibe mit einem gut gespitzten Bleistift in die Gegenrichtung, bis ich einschlafe.« »Das klingt aber nicht sehr aufregend. Wo bleibt denn da die Kunst, die Freude am Kreativen?« »Wer hat gesagt, daß mir das Schreiben Freude macht?« »Was freut Sie denn sonst?« »Mich freut das fertige Buch, der Augenblick, in dem ich den Schlußpunkt auf mein Manuskript setze. Ich liebe das Baby, nicht die Geburtswehen. Und der Anblick der Regale mit meinen eigenen unzähligen Büchern macht mich geradezu trunken vor Glück. Aber das Schreiben selbst ist eine freudlose, unnatürliche Tätigkeit.« »Warum haben Sie dann nicht längst aufgehört?« »Weil ich das Schicksal jedes besessenen Schreiberlings teile. Wir empfinden ein unerträgliches Gefühl der Leere, fast Gewissensbisse, wenn wir uns nicht pausenlos mit der verfluchten -14-
Schreiberei beschäftigen.« »Das glaube ich Ihnen nicht.« »Dann vergiß es. Ich hab ja nur gescherzt.« »Dacht ich s doch. Was wollte ich eigentlich fragen?« »Ob ich mich für einen Schriftsteller halte.« »Stimmt. Woher wissen Sie das?« »Erfahrung. Außerdem brauche ich auf diese Frage keine Antwort zu geben. Gott sei Dank.« »Was wollen Sie damit schon wieder sagen?« »Daß die Leute heutzutage nicht mehr lesen wollen. Sie wollen lachen. Aber sie legen großen Wert darauf, daß ihr Lachen Niveau hat, nach dem Motto: >Was Niveau ist, bestimme ich.< Ein Musterfall für diese Art von Glücksspiel ist Charlie Chaplin. Viele Jahre lang hat dieses Genie dem Publikum die einfachsten SlapstickPossen geboten, in die man alles mögliche hineindeuten konnte. Und tatsächlich betrachtete ihn das Publikum als einen großen Gesellschaftskritiker, der den Kampf des kleinen Mannes gegen die Übermächtigen dadurch zum Ausdruck brachte, daß er in den Teich plumpste oder an einem Kanalgitter hängenblieb. Man jubelte ihm zu, und seine Filme waren monatelang ausverkauft. Dann wurde er älter und reifer und produzierte wunderbare hintergründige Filmsatiren. Mit ihnen verlor er sein Publikum.« »Und fand seine eigene Wahrheit.« »Die Wahrheit lockt niemanden ins Kino. Der Schriftsteller ist einer ganz ähnlichen Gefahr ausgesetzt. Sobald er ein bestimmtes Niveau überschreitet, sinkt seine Beliebtheit.« »Wie läßt sich das vermeiden?« »Indem er ein bestimmtes Niveau unterschreitet und in elitärer Einsamkeit vor sich hin summt. Allerdings wird er sich dabei sehr elend fühlen.« »Und wie bewältigen Sie für sich persönlich diesen Zwiespalt?« »Ich bin kein Schriftsteller. Ich bin Humorist.« »Eine Eintagsfliege.« »Das hast du gesagt.«
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Mein Interview mit mir selbst scheint mir recht gelungen, obwohl ich mich als Interviewer ab und zu ziemlich taktlos benommen habe. Aber so sind sie nun einmal, die Journalisten. Die Moral von der Geschicht: Der Humorist ist ein Stiefkind der Literatur, aber kein Waisenkind. Als kleiner Junge dachte ich noch ganz naiv, die Aufgabe des Schriftstellers sei es, zu schreiben. In der Pubertät stürzte ich mich dann auf die nächstbeste Schreibmaschine und schrieb drei internationale Romane. Einer handelte von Gangstern in Alabama, USA, im zweiten hetzten Legionäre durch die Wüste Sahara, und im dritten verfolgte ich die sizilianische Mafia. Vielleicht waren diese Romane keine literarischen Meisterwerke, dafür aber waren sie ziemlich mies. Gestehen wir es uns ruhig ein: Jeder normale Mensch setzt sich ein- oder zweimal in seinem Leben hin, um etwas zu schreiben, eine Tragödie, ein Tagebuch, Gedichte oder was auch immer. Meistens fängt er mit viel Schwung an und bringt doch nichts zu Ende. Ich habe meine drei Werke abgeschlossen, was eindeutig beweist, daß ich schon im zarten Alter über ansehnliches Sitzfleisch verfügte, zweifellos die wichtigste Eigenschaft eines geborenen Schriftstellers. In meiner Jugend glaubte ich noch von ganzem Herzen an die Macht der Feder. Jahre später erst begriff ich, daß die Macht nicht in den Schreibutensilien des Autors steckt, sondern im Kugelschreiber des Verkehrspolizisten, der dir gerade einen Strafzettel verpaßt. Und es mußten noch weitere Jahre vergehen, bis sich mir die nächste Wahrheit auftat: Der Weg des Schriftstellers zu seinem Buch beginnt zwar tatsächlich am Schreibtisch, doch irgendwann wird er zum Spießrutenlauf, an dem eine Menge freundlicher Vampire teilnehmen: Verleger mit ihren bebrillten Sekretärinnen,
besessene
Korrekturleser,
überforderte
Herstellungsleiter,
literaturbeflissene Lektorinnen, arbeitslose Graphiker, neue Redakteure und alte Drucker, die zwei Buchhalter in der dritten Etage, die provisorisch vakante -17-
Lizenzabteilung, schläfrige Buchbinder, die Lehrlinge aus der Presseabteilung, die PR-Mafia, der Rundfunk und das Fernsehen, Buchmessen, Signierstunden und als Epilog das Protestschreiben des Malers Ronald Lloyd Bialazurkowich gegen unerlaubten Gebrauch seines Namens auf Seite 22 dieses Buches sowie die Delegation der Klassenbesten der 2b, die um ein Interview für die Grundschulzeitung bitten... Kurz und gut, das Leben einer Eintagsfliege ist ein einziger Amokflug. Wird sie doch ständig hin und her gescheucht und manchmal sogar von einer Fliegenklatsche bedroht. Und genau damit befaßt sich dies Buch voller Geständnisse über das ganze heillose Drumherum. Denn auch das Drumherum hat etwas Schönes, etwas, worum ich zu beneiden bin. Ich rede von der Bewunderung und Zuneigung, derer sich ein Meister der Feder erfreuen darf, nicht unbedingt seitens des literarischen Establishments, aber seitens der breiten, herzlichen Öffentlichkeit. In diesem erfreulichen Sinne handelt eine der beiden folgenden Geschichten von einem Dialog mit einem Nobelpreisträger, die andere von einem Monolog mit meiner Wenigkeit, ausgezeichnet mit dem höchst begehrten Preis »Goldenes Schlitzohr« 1988.
Gute Erholung oder Sorbas Triumph »Kellner! Herr Ober!« »Jawohl, Herr Sternberg.« »Frühstück für zwei, bitte.« »Jawohl. Zweimal Frühstück. Sofort. Ich möchte Sie nur noch rasch etwas fragen, Herr Sternberg. Sind Sie der berühmte amerikanische Schriftsteller, über den man jetzt so viel in den Zeitungen liest?« »Mein Name ist John Steinbeck, mein Freund.« -18-
»Aha. Erst gestern habe ich ein Bild von Ihnen in der Zeitung gesehen. Aber da hatten Sie einen Bart, scheint mir. Es war auch ein Artikel dabei, daß Sie eine ganze Woche hier bleiben wollen und daß Sie inkognito sind, damit man Sie nicht belästigt. Ist das Ihre Frau?« »Ja, das ist Frau Steinbeck.« »Schaut aber viel jünger aus als Sie.« »Ich habe das Frühstück bestellt.« »Sofort, Herr Steinberg. Sie müssen wissen, daß alle möglichen Schriftsteller in dieses Hotel kommen. Erst vorige Woche hatten wir einen hier, der >Exodus< geschrieben hat. Haben Sie >Exodus< gelesen?« »Nein.« »Ich auch nicht. So ein dickes Buch. Aber >Alexis Sorbas< habe ich in unserem Kino gesehen. Wann haben Sie >Alexis Sorbas< geschrieben?« »Ich habe >Alexis Sorbas< nicht geschrieben.« »Hat mir großartig gefallen, der Film. An einer Stelle wäre ich vor Lachen fast geplatzt. Wissen Sie, wo?« »Ich hätte zum Frühstück gerne Kaffee. Und Tee für meine Frau.« »Sie haben >Alexis Sorbas< also nicht geschrieben?« »Nein. Das sagte ich Ihnen ja schon.« »Wofür hat man Ihnen dann den Nobelpreis verliehen?« »Für >Früchte des Zorns<.« »Also Kaffee und Tee, richtig?« »Richtig.« »Sagen Sie, Herr Steinberg, wieviel bekommt man für so einen Preis? Stimmt es, daß er eine Million Dollar einbringt?« »Könnten wir dieses Gespräch nicht nach dem Frühstück fortsetzen?« »Da hab ich leider keine Zeit mehr. Warum sind Sie eigentlich hergekommen, Herr Steinberg?« »Mein Name ist Steinbeck.« -19-
»Sie sind aber kein Jude, nicht wahr?« »Nein.« »Hab ich mir gleich gedacht. Amerikanische Juden geben kein Tringeld. Schade, daß Sie ausgerechnet jetzt gekommen sind, wo es fortwährend regnet. Jetzt gibt es hier nichts zu sehen. Oder sind Sie bei uns an etwas ganz Speziellem interessiert?« »Ich möchte ein weichgekochtes Ei.« »Drei Minuten?« »Ja.« »Sofort. Ich weiß, Herr Steinberg, in Amerika ist man es nicht gewöhnt, sich mit Kellnern so ungezwungen zu unterhalten. Bei uns ist das anders. Wir haben Atmosphäre. Übrigens war ich nicht immer Kellner. Ich habe Orthopädie studiert, zwei Jahre lang. Leider braucht man hierzulande Protektion, sonst kommt man nicht weiter.« »Bitte bringen Sie uns das Frühstück, mit einem weichen Ei.« »Drei Minuten, Herr Steinberg, ich weiß. Aber dieser »Alexis Sorbas<, das war vielleicht ein Film. Auch wenn Sie gegen Schluß ein wenig dick aufgetragen haben. Unser Koch hat mir gesagt, daß es von Ihnen auch noch andere Filme gibt. Ist das wahr?« »Ja.« »Was, zum Beispiel?« »Zum Beispiel Jenseits von Eden<.« »Hab ich gesehn! Mein Ehrenwort, das hab ich gesehn. Zum Brüllen komisch. Besonders diese Szene, wo sie versuchen, die Bäume aus dem Wald zu transportieren ...« »Das kommt in »Alexis Sorbas< vor.« »Ja, richtig. Da haben Sie recht. Also was schreiben Sie sonst?« »>Von Mäusen und Menschen<.« »Mickymaus?« -20-
»Wenn ich nicht bald das Frühstück bekomme, muß ich verhungern, mein Freund.« »Sofort. Nur noch eine Sekunde. Mäuse, haben Sie gesagt. Das ist doch die Geschichte, wo diese fesche Schauspielerin, die Elvira Kunze, mit diesem Idioten ins Bett gehen will.« »Wie bitte?« »Das ist so ein dicker Kerl, der Idiot, das heißt, in Wirklichkeit ist er gar nicht so dick, aber sie stopfen ihm lauter Kissen unter die Kleider, damit er dick aussieht, und sein Freund neben ihm ist ganz mager, und der dicke Kerl will immer Mäuse fangen und - wieso wissen Sie das eigentlich nicht?« »Ich kenne den Inhalt meiner Stücke.« »Natürlich. Jedenfalls muß man auf diesen dicken Idioten immerzu aufpassen, damit er die Leute nicht verprügelt, aber wie der Sohn vom Boß dann mit der Elvira Kunze frech wird, steht er ganz ruhig auf und geht zu ihm hinüber und...« »Kann ich mit dem Geschäftsführer sprechen?« »Nicht nötig, Herr Steinberg. Es wird alles sofort da sein. Aber diese Mäuse haben mir wirklich gefallen. Nur der Schluß der Geschichte, entschuldigen Sie, also der hat mich enttäuscht. Da hätte ich von einem Sternberg wirklich etwas Besseres erwartet. Warum müssen Sie diesen dicken Kerl sterben lassen? Nur weil er ein bißchen schwach im Kopf ist? Deshalb bringt man einen Menschen doch nicht um, das muß ich Ihnen schon sagen.« »Gut, ich werde das Stück umschreiben. Nur bringen Sie uns jetzt endlich ...« »Wenn Sie wollen, lese ich's mir noch einmal durch und sage Ihnen dann alles, was falsch ist. Das kostet Sie nichts, Herr Steinberg, haben Sie keine Angst. Vielleicht komme ich einmal nach Amerika und besuche Sie. Ich hätte viel mit Ihnen zu bereden. Privat, meine ich. Aber das geht jetzt nicht. Ich habe viel zu tun. Wenn Sie wüßten, was ich alles erlebt habe. Daneben ist >Alexis Sorbas< ein Anfänger.« »Bekomme ich ein weiches Ei oder nicht?« -21-
»Bedaure, am Sonntag servieren wir keine Eier. Aber wenn ich Ihnen einmal meine Lebensgeschichte erzählte, Herr Steinberg, dann können Sie damit ein Vermögen verdienen. Ich könnte sie natürlich auch selbst aufschreiben, jeder sagt mir, ich bin verrückt, daß ich nicht einen Roman schreibe oder eine Oper oder was Ähnliches. Keiner weiß, wie müde ich am Abend bin. Hab ich ihnen allen gesagt, sie sollen mich in Ruh lassen und ich gebs dem Steinberg. Was sagen Sie dazu?« »Das Frühstück ...« »Zum Beispiel vor zwei Jahren. Im Sommer, als ich mit meiner Frau verreist bin. Plötzlich bleibt das Auto stehen, der Chauffeur steigt aus, hebt die Kühlerhaube, schaut hinein, und wissen Sie, was er gesagt hat?« »Hilfe!« »Nein, er hat gesagt: >Der Vergaser ist hin.< Stellen Sie sich das vor, mitten auf dem Weg ist der Vergaser hin. Sie werden vielleicht glauben, ich hab das erfunden. Es ist aber die reine Wahrheit, der Vergaser war hin. Die ganze Nacht mußten wir im Wagen sitzen. Und es war eine kalte Nacht, eine sehr kalte Nacht. Sie werden das schon richtig beschreiben, Steinberg. Sie werden schon einen Bestseller draus machen. Ich sage Ihnen, es war eine Nacht, in der nicht einmal Alexis Sorbas ... He, warten Sie, ich bin noch nicht fertig... Ich habe noch eine ganze Menge Geschichten für Sie... Wie lange bleiben Sie noch?« »Ich fliege mit dem nächsten Flugzeug ab.« »Aha. So wahr ich lebe, ich hab's geahnt. Ich weiß wirklich nicht warum, aber kein Schriftsteller bleibt länger bei uns.«
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Der anonyme Anbeter oder Monolog der tauben Ohren »Ich will Sie gar nicht lange damit aufhalten, Herr Krishon, wer ich bin und was ich tue. In jedem Fall bin ich ein grenzenloser Bewunderer Ihrer Kunst. Ich kenne all Ihre Bücher in- und auswendig, zum Beispiel, wie war doch gleich der Name, Mister Lot oder so ähnlich, egal. Ich muß Sie unbedingt in einer lebenswichtigen Angelegenheit unter vier Augen sprechen. Ich habe nämlich auch schon die eine oder andere Aufgabe gut zu Ende gebracht und war an mehreren großen Projekten beteiligt. Sie können mir glauben, nur wenige haben erreicht, was ich erreicht habe. Aber das ist ein ganz anderes Thema. Ich habe schließlich nur getan, was ich tun mußte, und erwarte keinerlei Dank dafür ...« »Ich verstehe.« »Nein, nein, mein Herr, wenn Sie mich näher kennen würden, wüßten Sie, daß mir das alles wirklich nichts bedeutet. Aber ich bin an einem gewissen Punkt in meinem Leben angelangt, an dem ich mit absoluter Sicherheit behaupten kann, daß meine Überlegungen von besonderer Bedeutung sind. Ja, das sind sie. Doch was soll ich Ihnen sagen, man redet gegen taube Ohren.« »Was meinen Sie damit?« »Ich habe wirklich nichts unversucht gelassen, glauben Sie mir. Ich habe mich an die einschlägigen Leute gewandt und ihnen nachdrücklich zu verstehen gegeben: Herrschaften, ich strebe nicht nach Reichtum, beanspruche keinen Ruhm, ich möchte nur helfen, Probleme zu lösen. Aber glauben Sie vielleicht, man hat mich auch nur angehört? O nein, man redet gegen taube Ohren.« »Worum geht es denn eigentlich?« »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich betrachte mich nicht als Genie, so wie Sie eines sind, Herr Krishon, nein, nein, ich bin nur ein ganz einfacher Mensch, den die Dinge noch etwas angehen, o ja, sogar am Herzen liegen. Auf -23-
einem silbernen Tablett habe ich mich angeboten, aber man redet immer nur gegen taube Ohren.« »Da haben Sie vollkommen recht, aber leider ...« »Wenn ich in den einschlägigen Kreisen verkehrte, würde man mich sicherlich nicht so behandeln. Aber das ist nun mal meine Natur, hier stehe ich, und von hier gibt es kein Zurück. Ich sage Ihnen, Herr Schriftsteller, man redet gegen taube ...« »Dann also, alles Gute.« »Manchmal frage ich mich, was kümmern dich eigentlich die anderen, hast du nicht genug eigene Probleme? Aber so bin ich nun einmal, immer bereit, mein Herz und meine Seele zu opfern. Ich frage mich nur, Herr Krishon, wo laufen Sie denn hin ... Hallo ... Ja, so sind sie, diese hochnäsigen Erfolgsautoren. Nichts ist ihnen heilig, gleichgültig gegen alles, pfui Teufel, man redet immer nur gegen taube Ohren.«
Nicht selten werde ich gefragt, wie ein ganz normaler Bürger dazu kommt, Schriftsteller zu werden, und weiß keine Antwort. Denn erstens bin ich kein Schriftsteller, wie bereits erwähnt, und andererseits hatte ich niemals vor, mein Leben einsam an einem Schreibtisch zu verplempern. Ganz im Gegenteil, seit meiner Jugendzeit träume ich davon. Erbe einer Millionärin zu werden oder einen anderen erträglichen Beruf zu ergreifen. Aber dann traf ich Richard und begriff, daß es letztlich die Schule ist, die über unsere Zukunft entscheidet.
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Die Schule fürs Leben oder Ein Literat wird geboren Eines schönen Tages, es war um die Mittagszeit, treffe ich vor einer Parterrewohnung in unserer Nähe auf den vierzehnjährigen Richard, der sich mir in den Weg stellt und mich kühl, wenn auch erwartungsvoll begrüßt: »Hallo, du olles Ekel, Deppengesicht, Arsch mit Ohren.« Ich muß zugeben, ich war ein wenig verblüfft, saß doch sein leiblicher Vater in Hörweite auf der Terrasse. Ich näherte mich ihm und erkundigte mich höflich, ob sein reizender Knabe derartige Dinge etwa in der Schule lerne. »Ja«, antwortete der Vater. »Darum geht es ja gerade.« Er bot mir einen Platz an und begann, mir die pädagogischen Hintergründe zu erläutern. Es war nämlich so: Richard war dieses Jahr von der Grundschule aufs Gymnasium gewechselt, wo er auch weiterhin recht ordentliche Zensuren erbrachte. Was jedoch das Aufsatzschreiben betraf, stellte er sich entsetzlich ungeschickt an. Die erste Krise brach aus, als der Lehrer seine Schüler einen Aufsatz über das Thema »Ich sprach mit dem ergrauten Briefträger« schreiben ließ. Richard war völlig verzweifelt, denn er hatte sich bislang noch nie mit einem Briefträger unterhalten, nicht einmal mit einem jüngeren. Sein Vater ermutigte ihn, er solle doch schreiben, er habe den Briefträger quasi gefragt, wie es ihm gehe, worauf ihm der Briefträger quasi geantwortet habe, er trage die Last der Briefe mit großer Wonne, denn er sei ein Patriot. Aber Richard wies dies Ansinnen mit dem Argument von sich, das wäre glatt gelogen, und schrieb schlicht und einfach: »Keinen Briefträger getroffen«, wie es ja auch der Realität entsprach. Für diesen knappen Aufsatz erhielt er dann die Note »minus Ungenügend«, was den sensiblen Knaben zutiefst deprimierte. Das nächste Aufsatzthema lautete »Ich vergaß, den Wasserhahn zuzudrehen«. »Das Haus war tagelang überschwemmt«, schloß der Vater. -25-
»Und heute lautete das Thema >Ich habe die Gefühle meines Nächsten verletzte Das Kind versucht schließlich nur, aus den Reaktionen der Passanten literarische Impulse zu gewinnen. Was soll ich machen.« Ich schlug ihm vor, eine Einstweilige Verfügung gegen den Lehrer zu beantragen, damit dieser nicht alle Aufsätze in der ersten Person schreiben läßt. Mein Nachbar hielt mir aber entgegen, daß Anwälte Geld kosteten. Somit war Richards Weg zum Schriftsteller unvermeidlich vorgezeichnet.
So also fängt es an. Wie aber endet es? Der Verfasser dieser Zeilen begeht dieser Tage das 40-jährige Jubiläum des Erscheinens seiner Bücher in deutscher Sprache, und deshalb weiß er ganz genau, wie die Dinge enden. So etwa wie im Falle von Gideon Schwan, eines meiner Kollegen und hochgeschätzten Veteranen unter den Mitgliedern des Schriftstellerverbandes.
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Dreifaches Jubiläum oder Bescheidenheit zahlt sich aus Unversehens rannte ich in Schwan hinein. Während wir zusammen weitergingen, kamen wir auf die Verschuldung zu sprechen. »Ich bin optimistisch«, sagte Schwan. »Vielleicht erleben wir doch noch, daß der Finanzminister abdankt.« »Das hoffe ich auch«, erwiderte ich voll düsterer Vorahnungen. Schwan klopfte mir wohlwollend auf die Schulter. »Sie sind noch jung und haben Zeit. Ich aber werde am 23. August 75. Das ist übrigens ein dreifaches Jubiläum für mich. Genau vor 55 Jahren erschien an diesem Tag meine erste Sammlung von Kurzgeschichten, und vor 50 Jahren begann mein eigentlicher Aufstieg als Schriftsteller. Seither bin ich literarisch so fruchtbar wie kaum ein zweiter in unserem Land.« »Wenn man nur sicher sein könnte«, warf ich ein, »ob das Staatsbudget rechtzeitig genehmigt wird.« Schwan ließ sich nicht beirren. »In der Zeitspanne, die ungefähr 1975 zu Ende ging, habe ich mich als meisterhafter Erzähler und formstarker Lyriker erwiesen. Aber die Ereignisse führten mich bald zu meiner wahren Berufung: Träger einer prophetischen Botschaft zu sein, die mein schlafendes Volk erwecken würde. Dazu bin ich ausersehen und dabei bleibts für den Rest meines Lebens, nicht nur bis zum 23. August, dem Tag, an dem ich ein dreifaches Jubiläum begehe. Denn an diesem Tag wird es genau 55 Jahre her sein, seit meine erste Sammlung von Kurzgeschichten ...« »Um Himmels willen«, unterbrach ich ihn mit einem Blick auf meine Armbanduhr und machte mich eilig davon. Wochen später, als ich die Begegnung längst vergessen hatte, rief mich der Redakteur
der
Literaturbeilage
zu
eingeschriebenen Brief vor. -27-
sich
und
legte
mir
folgenden
»Sehr geehrter Herr Chefredakteur! In der Nummer vom 20. September Ihres geschätzten Blattes sah ich ein Inserat, in dem »ein herrliches Haus< angepriesen wurde. Vielleicht interessiert es Sie, daß diese Wendung schon in der Bibel mehrmals vorkommt (u. a. Jesaja 64,11: >Unser heiliges und herrliches Haus<). Bei dieser Gelegenheit möchte ich Ihnen mitteilen, daß ich am 23. August 75 Jahre alt werde. Zufällig ist dieser Tag zugleich das 55jährige Jubiläum des Erscheinens meiner ersten Kurzgeschichtensammlung und das 50jährige Jubiläum meiner fruchtbaren literarischen Tätigkeit, so daß er für mich ein dreifaches Jubiläum bedeutet. »Und so<, um Ephraim Kishon zu zitieren, >hat der einstige Talmudstudent seinen Weg vom Haus des Rabbi zum Gipfel des Ruhms genommen und wird sich am 23. August als poeta laureatus des neuhebräischen Schrifttums präsentieren. < Ich darf noch hinzufügen, daß der oben erwähnte biblische Ausdruck sich bis heute in unserem täglichen Sprachgebrauch erhalten hat. Es grüßt Sie respektvoll Ihr ergebener Gideon Schwan.«
»Was
ist
das«,
fragte
mich
mit
nervös
zitternder
Stimme
der
Literaturredakteur, nachdem ich ihm den Brief zurückgegeben hatte. »Was bedeutet das?« »Keine blasse Ahnung«, winselte ich nicht weniger nervös zurück. »Woher soll ich das wissen? Ich bin ja gar nicht hier. Ich existiere überhaupt nicht. Bitte vergessen Sie mich.« Grußlos rannte ich hinaus, fest entschlossen, mich bis auf weiteres nicht in der Redaktion zu zeigen. Es ging das Gerücht um, wonach der Literaturredakteur selbst die Möglichkeit einer kleineren Gesichtsoperation überlegte und erwog, für einige Monate unterzutauchen. Die Dinge aber nahmen ihren unvermeidlichen Lauf. Gideon Schwans 75. Geburtstag lag immer drückender in der Luft. Man spürte bei jedem Atemzug, daß zu seinem dreifachen Jubiläum ein großer Empfang stattfinden würde. Je näher der Unglückstag rückte, desto häufiger sah man Angehörige der -28-
Schreiberzunft nach dem Süden des Landes fliehen. Andere versiegelten ihre Wohnungstür und schlössen sich ein, wieder andere gingen in Kur. Die von Schwan frequentierten Straßen waren menschenleer, die Kaffeehäuser leerten sich schlagartig, sobald er auftauchte. Aber niemand machte sich ernsthaft Hoffnungen, dem Schicksal entgehen zu können. »Vor ein paar Tagen«, so informierte mich einer meiner Freunde, der Dichter I. L. Grinboter, »erschien Schwan plötzlich bei mir zu Besuch und bat mich um Tinte für seine Füllfeder. Angeblich war ihm die Tinte ausgegangen. Während er die Feder füllte, meinte er ganz nebenbei, daß ihm die Tinte hoffentlich bis zum 23. August reichen würde, seinem 75. Geburtstag, der zugleich ein dreifaches Jubiläum und einen Meilenstein in der Geschichte der Literatur darstellte. Und ich würde doch nicht versäumen, davon gebührend Notiz zu nehmen. Was soll ich tun? Und warum gerade ich? Du kennst ihn doch viel besser.« Nach einigem Hin und Her beschlossen wir, das Los entscheiden zu lassen. Ich war dumm genug, »Adler« statt »Kopf« zu wählen, und verlor. Damit war ich verurteilt, einen Jubiläumsartikel über Schwan zu schreiben, was ein sorgfältiges Quellenstudium erforderte. Ich lieh mir eines seiner Bücher aus, las es gewissenhaft bis zur Mitte der Seite 6 und konsultierte zur Sicherheit auch noch das »Who’s Who im Schriftstellerverband«. Dann ging ich zu Gideon Schwan. »Ich komme mit einer guten Nachricht, Gideon. Eine Gruppe Ihrer Freunde und Bewunderer möchte aus Anlaß Ihres 75. Geburtstags eine kleine, intime Jubiläumsfeier für Sie veranstalten.« »Für mich«, fragte Schwan in fassungslosem Erstaunen. »Eine Feier für mich? Sie müssen verrückt geworden sein, mein Lieber. So etwas brauche ich nicht. Sparen Sie sich die Mühe.« »Nein, nein«, widersprach ich. »Gideon Schwan hat Anspruch darauf, gefeiert zu werden. Bitte stimmen Sie zu. Bitte!« Schwan überlegte eine Weile, dann schüttelte er den Kopf. -29-
»Es geht nicht. Die Zeiten sind zu ernst, Womit hätte ich eine solche Feier verdient? Ich habe getan, was ich tun mußte. Gewiß, ich habe es besser getan als die meisten anderen. Gewiß, die Jugend unseres Landes verehrt mich. Aber das ist mir Lohn genug. Ich bitte Sie, den Plan eines Festempfangs im Opernhaus aufzugeben. Und ich bestehe darauf, daß Sie den Unterrichtsminister, den Parlamentspräsidenten und die führenden Persönlichkeiten unseres öffentlichen Lebens sofort davon verständigen. Am 23. August um 21 Uhr findet im Opernhaus keine Jubiläumsfeier statt, bitte sorgen Sie dafür...« Es wurde eine wunderschöne Jubiläumsfeier im Opernhaus. Nach der Eröffnungsrede des Unterrichtsministers schilderte I. L. Grinboter in schwungvollen Worten den Weg des einstigen Talmudstudenten vom Haus des Rabbi zum Gipfel des Ruhms, wobei er besonders die im späten Herbst des Jahres 1975 erfolgte Wandlung des Dichters hervorhob, dem damals seine eigentliche Berufung erst wirklich bewußt geworden war, als Prophet sein Volk zu erwecken. Gideon Schwan saß in der ersten Reihe. Tränen strömten über sein Gesicht. Es war der schönste Tag seines Lebens. Man hatte ihn nicht vergessen.
-30-
Noch ein Jubiläumsband oder Viel Lärm um nichts Als der Schriftsteller, Philosoph, Kritiker, Bühnenautor, Linguist und Folklorist Joachim R. Avikamm seinen 57. Geburtstag feierte, blickte er dankbar auf sein erfülltes Leben zurück und kam zu dem Schluß, daß es nun allerhöchste Zeit sei, einen Sammelband mit den Höhepunkten seines literarischen Schaffens herauszubringen. Avikamm wandte sich an einen renommierten Verlag, und da man dort das Gerücht ernst nahm, Avikamm wäre eine literarische Größe, zögerte man nicht, einen Vertrag mit einem nicht rückzahlbaren Vorschuß in Höhe von 25 Dollar abzuschließen. Doch bereits nach diesem ersten und vielversprechenden Erfolg tauchten die ersten Probleme auf. Joachim R. mußte nämlich feststellen, daß er sich bisher hauptsächlich mit dem Abfassen verschiedener kurzer Zeitungsartikel beschäftigt hatte, die am nächsten Morgen oder sogar schon am frühen Nachmittag des gleichen Tages wieder in Vergessenheit geraten waren. Der zu feiernde Schriftsteller tauchte also in die Tiefen seiner literarischen Archive, die direkt neben dem blauen Koffer mit den Wintersachen auf dem Dachboden verstaubten, durchwühlte sie eine gute Woche lang und hatte danach nicht weniger als zwanzig Meisterwerke aufgestöbert. Eines davon war jene Kritik, die er im April 1974 über das Theaterstück »Gib mir ein Bussi« des jungen G. Schwan verfaßt hatte und die einige versteckte Seitenhiebe gegen die Steuerpolitik enthielt. Ein anderer Artikel bestand lediglich aus einer brillanten Definition, die jedoch ihre Aktualität bis auf den heutigen Tag nicht verloren hatte:
»Was
ist
Vaterlandsliebe,
fragen
die
Völker.
Ich
behaupte,
Vaterlandsliebe ist die Liebe, die den Menschen mit seinem Vaterland verbindet.« (Plánice-Süd. Januar 1988) -31-
Weiteres Material mußte also dringend her, denn schließlich hatte Avikamm selbst in dem Vertrag mit dem Verleger darauf bestanden, das Buch müsse mindestens 350 eng bedruckte Seiten dick werden. So begann er, seine Schubladen zu durchwühlen, und fand zu seiner großen Freude einen mehrseitigen Essay aus dem Jahre 1981, in dem er scharf gegen die sich wie ein Lauffeuer ausbreitende Plage der Graphomanie polemisierte, »die drohe, mit ihrem wirren, verworrenen Wust überflüssiger, entbehrlicher und nutzloser Worte die heilige Flamme der erhabenen Literatur frühzeitig auszulöschen«. Danach fand er sogar noch ein von seiner Großmutter autorisiertes Bühnenstück, das er angeblich im zarten Alter von fünf Jahren für die Abschlußfeier im Kindergarten verfaßt hatte, sowie zwölf lyrische Gedichte aus einer reiferen Schaffensperiode. Sodann fügte Joachim R. Avikamm seinem Buch
-
unter
dem
treffenden
Titel
»Tagesgrübeleien«
-
seine
Kalenderaufzeichnungen aus den kritischen Jahren 1979 bis 1989 bei. Jeden Tag zierte eine individuelle Eintragung in seiner eigenen Handschrift, zum Beispiel: »9 Uhr, Treffen mit R. K. im >Cafe Meier<, 11.30 Uhr mit Lefkowitz jr. wegen Druckfehler. Am Abend Sitzung. 39 Pfund Lolek (10.7. 1984).« Neben diesen Notizen fanden sich auch einige Stromabrechnungen mit Angabe der exakten Summen und Daten. Jetzt fehlten nur noch ungefähr 108 Seiten. Joachim R. Avikamm fügte die wichtigsten Stichwörter aus den Briefen und Postkarten an seine Schwester hinzu, die in Amerika lebt und ihm regelmäßig neue Tropfen gegen sein Sodbrennen schickt, und der Vollständigkeit halber auch die Antworten seitens seiner Schwester, Maniküre von Beruf. Schließlich noch zehn Seiten mit Wetterberichten aus der Blütezeit des Autors (1993 bis 1996) samt genauesten Angaben
zur
Einführung
der
Sommerzeit.
Als
originelle
Ergänzung
achtundzwanzig verschiedene Telefonnummern, einschließlich der Nummer 04679534. Der außergewöhnlich prächtige Jubiläumsband erschien im Folioformat, auf handgeschöpftem Papier, natürlich in Fadenheftung und mit elegantem -32-
Lesebändchen. Er ist in allen gut sortierten Buchhandlungen erhältlich, zum Preis von 85 Dollar, zahlbar in 85 Einzelraten.
Laras Melodie oder Gipfel der Intellektuellen Jubiläum hin, Jubiläum her, was zählt ist die wahre Prosa, zum Beispiel die eines Nobelpreisträgers. Ein literarisches Meisterwerk lohnt wenigstens die kulturelle Debatte. Wie unlängst, als ich in unseren kleinen intellektuellen Zirkel eingeladen wurde. Wir trafen uns am Samstag bei der Bildhauerin. Als die Dame des Hauses echten russischen Tee aus einem alten Samowar reichte, kam das Gespräch natürlicherweise auf den Film »Dr. Schiwago«, der, wie an jedem Unabhängigkeitstag kurz zuvor im Fernsehen ausgestrahlt worden war. »Das Buch ist viel viel besser«, hauchte der junge Architekt. »Welch eine unermeßliche Fülle einzigartiger Formulierungen Pasternak hier gefunden hat.« »Hervorragende Charakterschilderungen, einmalig in der Literatur unserer Zeit«, stellte Professor Billitzer fest. »So russisch und dennoch universal.« »Geläuterte Literatur«, warf die Gastgeberin ein, »vor allem die pragmatische pseudo-historische Deutung.« »Welche Ausdruckskraft«, bemerkte Ben-Zion Ziegler. »Man kann das Buch einfach nicht mehr aus der Hand legen.« »Ich warte auf die Originalausgabe in Englisch«, gab Ingenieur Glück errötend zu. »Nur deshalb habe ich das Buch noch nicht gelesen. Wovon handelt es denn eigentlich?« »Von Dr. Schiwago«, erklärte der junge Architekt. »Erinnern Sie sich an das Anfangskapitel, wo er so gerne möchte und alles stellt sich gegen ihn?« fragte Ben-Zion Ziegler. Wir versicherten ihm, daß wir uns selbstverständlich erinnerten, wie könnte man je ein solches Kapitel vergessen. -33-
»Welches Kapitel?« fragte Glück. »Ein großartiges Kapitel«, bestätigte ich, »ein ganz außergewöhnliches Kapitel.« »Genau«, stimmte der Professor zu, »ich denke oft an die tragische Reise von, na, wie hieß er doch noch, Larissa.« »Verzeihung«, schaltete sich Bar-Honig ein. »Ist Larissa nicht ein Frauenname?« »Eben«, sagte nun die Gastgeberin, »sie ist doch die Schwester von Voidniapin Nikolejewitsch Kujia.« »Also
wirklich«,
entrüstete
sich
Ben-Zion
Ziegler,
»Voidniapin
Nikolejewitsch Kujia ist der Onkel von Anna Iwanowa Alexandrowna Tschuptschik.« »Langsam«, stöhnte Gück, »langsam ...« »Mit allem Respekt«, empörte sich nun der junge Architekt, »aber Sie haben wirklich keine Ahnung. Anna Karenina Natascha Tuschptschik ist die Mutter von Pawel Pawlowitsch Jussif Konsomolskaja Prawda.« »Hören Sie mal«, unterbrach ich ihn, »haben Sie das Buch denn überhaupt gelesen?« »Ha! Mindestens dreimal, mein Freund!« »Wovon handelt also das Buch?« erkundigte sich Glück. »Erzählen Sie doch endlich.« »Von Schiwago.« »Na gut, aber was passiert diesem Schiwago?« fragte Glück. »Fragen Sie lieber, was nicht passiert.« »Also. Was passiert nicht?« »Das kann man nicht so einfach erklären«, erklärte ich ihm. »Aber was ist die Substanz.« (Glück) »Alles mögliche. Dr. Schiwago ist sozusagen ein Symbol.« »Ein Symbol?« (G.) -34-
»Ein rein symbolisches ...« Plötzlich wurde mir schwindlig, meine Hände begannen zu zittern, mein Gesicht wurde weiß wie die Wand. »Freunde«, brachte ich mit heiserer Stimme hervor, »ich kann nicht mehr. Ich habe >Dr. Schiwago< zu lesen begonnen und kam über die ersten 19 Seiten nicht hinaus. Auf Seite 18 gibt nämlich Prinz Wladimir Pjotr Galupschik eine große Party, und ich hatte keine Ahnung mehr, wer wer ist. Ich mußte das Buch von vorne beginnen. So, jetzt ist es heraus. Machen Sie, was Sie wollen. Es ist mir egal. >Dr. Schiwago< ist zu anspruchsvoll für mich.« Drückende Stille legte sich über unseren intellektuellen Zirkel. Glück brach als erster zusammen. »Auch ich warte nicht auf die englische Ausgabe«, wimmerte er. »Ich kann ja gar kein Englisch. Ich habe das Buch angefangen ... bin bis Seite 14 gekommen ... bis Iwan Iwanowitsch Dschugaschwili, wenn ich mich nicht irre ... und dann ... dann bin ich eingeschlafen ...« »Gar nicht schlecht«, flüsterte Professor Billitzer beschämt und mit gesenktem Blick. »Ich bin mit übermenschlicher Anstrengung bis Igor Sergejewitsch Kasparow gekommen.« »Und ich«, so der Architekt, »bis Seite 3.« »Bis zur Titelseite ...« Und dann nahmen wir unsere literarische Diskussion entspannt wieder auf. Diesmal machte es richtig Spaß. Man sollte bei Gelegenheit wirklich mal ein Wort mit den Nobelpreisrichtern wechseln. Ich wüßte zu gern, bis zu welcher Seite sie gekommen sind.
-35-
Der literarische Marathon oder Ein Zuhörer zuviel Die Sache begann mit dem Brief eines anonymen Rundfunkhörers, der seiner Befriedigung darüber Ausdruck gab, daß die »Stimme der Kunst« nicht nur zweitklassige Unterhaltungssendungen wiederhole, sondern gelegentlich auch Lesungen aus Werken von literarischem Rang wie etwa aus dem Buch »Grußbotschaft« von Tolaat Shani. Die Direktion des Rundfunks nahm die Lobesworte dankend zur Kenntnis und gab sie an den Schauspieler Jarden Podmanitzki weiter, der, man erinnert sich, jeweils am Montag und Donnerstag von 10.20 Uhr bis 10.40 Uhr im Rahmen des literarischen Programms aus dem Buch gelesen hatte. Die allgemeine Hochstimmung erlitt jedoch eine empfindliche Einbuße, als sich herausstellte, daß niemand eine Wiederholung angesetzt hatte. Eine Kontrolle der gesamten Programmgestaltung ergab, daß die »Grußbotschaft«, deren Umfang 203 Druckseiten betrug, während der letzten sechseinhalb Jahre ununterbrochen von Jarden Podmanitzki gelesen worden war, ein Zeitaufwand, der sich um so weniger erklären ließ, als Podmanitzki pro Lesung durchschnittlich 10 Seiten bewältigte. Selbst wenn man alle Unterbrechungen in Rechnung zog, die bei Podmanitzkis Lesungen aus emotionalen oder irgendwelchen anderen professionellen Ursachen häufig auftraten, ergab sich für einen Zeitraum von sechseinhalb Jahren ein Lese-Umfang von rund 8000 Seiten. Wie war das möglich? Podmanitzki,
mit
dem
Sachverhalt
konfrontiert,
legte
vor
dem
Untersuchungsausschuß ein volles Geständnis ab. »Ich begann die >Grußbotschaft< im Herbst 1994 zu lesen, machte schöne Fortschritte und hatte nach wenigen Monaten das Schlußkapitel erreicht. Aber ich konnte mich nicht damit abfinden, daß nun alles zu Ende sein sollte. Ich bin ein eingeschworener Literaturliebhaber und bekam außerdem für jede Sendung -36-
ein Honorar von 25,15 Pfund, gewiß nicht sehr viel in Anbetracht des bedeutenden Gegenstands und seiner noch bedeutenderen Wiedergabe. Aber für einen unabhängigen Schauspieler fallen auch kleine Summen ins Gewicht. Und so begann ich das Buch noch einmal von Anfang an zu lesen. Das dritte Mal las ich es von hinten nach vorn, begann mit Kapitel 18 und schloß mit Kapitel l. Es war ein interessantes Erlebnis, wenn auch nicht ganz so interessant wie die vierte Lesung, wo ich nur die Seiten mit ungeraden Ziffern berücksichtigte. So vergingen die Jahre, und die Geschichte begann mich allmählich zu langweilen. Um sie ein wenig aufzufrischen, las ich von Zeit zu Zeit kleinere Skizzen ein, die ich selbst verfaßt hatte, und einmal, wirklich nur ein einziges Mal, las ich die ersten 10 Seiten von Karl Marx' >Kapital< vor. Aber ich lege Wert auf die Feststellung, daß mir keine einzige Beschwerde zugegangen ist.« Jarden Podmanitzki erhielt eine strenge Rüge und den Auftrag, die letzte Lesung des Buchs mit Ende des Jahres abzuschließen. Ungeklärt blieb, wer jener Hörer war, dessen Brief die Angelegenheit ins Rollen brachte, und wie er überhaupt entdeckt hatte, daß Podmanitzki sich wiederholte.
Geschäftstüchtigkeit oder Wieviel wiegt Hemingway Neulich war ich leichtfertig genug, in einem Künstlercafe eine kleine Stärkung zu mir zu nehmen. Am Nebentisch saßen zwei stadtbekannte Literaturagenten, deren lebhafte Konversation ich, ohne dies zu beabsichtigen, mit höchstem Interesse verfolgte. »Na«, sagte der eine, »was hast du anzubieten?« »Ich habe drei tolle Leon de Winter.« »Spannend?« »Keine Ahnung. Ich lese keine Bücher. Eines dürfte eine Liebesgeschichte sein, die beiden anderen gehören eher zur Protestliteratur.« -37-
»Was verlangst du?« »60 pro Stück.« »Zu teuer. Für das Geld bekomme ich 900 Seiten Umberto Ecco. Was tut sich bei Saul Bellow?« »Bellow führe ich nicht. Aber ich kann dir jede Menge Steven King besorgen, wenn du mir dafür Sex beschaffst.« »Kein
Problem.
Ich
habe
390
Seiten
Hartporno,
illustriert
mit
Gebrauchsanweisung.« »Hast du irgendwas von Erica Jong auf Lager?« »Ja, den letzten Schlager. Knapp 280 Seiten Schweinereien.« »Wie heißt das Zeugs?« »Egal. Auf dem Umschlag leckt eine nackte Puppe eine Banane. Kostet dich 8l.« »Warum soviel?« »Der Bananenpreis ist gestiegen. Aber wenn dir das zu teuer ist, kannst du einen neuen Forsyth für circa 20 haben. Übrigens, Philip Roth oder Proust stehen im Augenblick auf 1000 pro Zentner. Hast du etwas in Science-fiction?« »Soviel du willst. Raumfahrt mit Zeitmaschine einschließlich 80 Farbfotos, 150 pro Kilo.« »In Ordnung. Ich nehme ein Viertel Kilo. Und was ist jetzt mit Leon de Winter? Willst du ihn?« »Nur die halbe Liebesgeschichte. Das genügt mir im Augenblick. Dazu vielleicht ein wenig Hemingway oder Comics.« »Geht in Ordnung. Schick den Lastwagen.«
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Was ich bei Verlegern immer wieder feststelle, ist die Tatsache, daß sie bei jedem neuen Buch an einer Sache ganz besonders interessiert sind: am Titel. Wenn ich erwähne, daß ich ein neues Werk im Kopf habe, fragt der Verleger sofort mit unerhörter Gier: »Wie ist der Titel? Wie ist der Titel?« Ich erfinde schnell etwas, und er läßt den Titel auf der Zunge zergehen. Er gibt sofort Anweisung, eine neue Plakataktion in die Wege zu leiten, Anzeigen zu plazieren und das Titelblatt in drei Faben zu entwerfen. Wenn ich erwähne, daß ich das Buch noch schreiben muß, schaut er mich mit unschuldigen blauen Augen an, die mir sagen: »Wir haben doch den Titel, was gibt es da noch zu tun?«
Verlagspolitik oder Theobald der Tiefseeschwamm »Ich muß Sie auf etwas aufmerksam machen«, sagte mein Verleger und seufzte. »Bevor Sie ein neues Buch anfangen, sollten Sie sich darüber im klaren sein, daß in unserem Land bereits einige Buchhandlungen Pleite gegangen sind. Ich würde Ihnen deshalb empfehlen, sich auf Kinderbücher umzustellen. Dank unserem veralteten Erziehungssystem werden Kinder in der Schule noch zum Lesen von Büchern gezwungen.« »Dann schreibe ich also ein Kinderbuch. Was für Stoffe verkaufen sich denn jetzt am besten?« »Tiere.« »Also ein Kinderbuch über ein Tier.« »Ja. Was schwebt Ihnen vor?« »Lassen Sie mich nachdenken. Sagen wir: >Zecki, das Zicklein.< Wie wäre das?« »Schlecht. Hatten wir schon. Es hieß >Zecki-Zecks Abenteuer<. Acht Auflagen. Zecki-Zeck brennt von zu Hause durch, fährt mit einem Jeep in die Stadt, erlebt verschiedene Abenteuer, entdeckt, daß es zu Hause doch am besten -39-
ist, und kehrt zu Zicki-Mami zurück. Sie müssen sich ein wenig anstrengen. Fast alle für Kinder geeigneten Tiere sind bereits aufgebraucht.« »Auch die Bären?« »Das will ich meinen. Vor einem Monat begann unsere neue Serie >Tommy, der Eisbär<. Tommy brennt von zu Hause durch, erklettert einen Fahnenmast, erlebt alle möglichen Abenteuer, kommt dahinter, daß es zu Hause doch am besten ist, und kehrt zu Brummi-Papi zurück. Alles schon dagewesen. Hunde, Katzen, Kühe, Schmetterlinge, Zebras, Antilopen...« »Auch Hyänen?« »Auch. > Helga das Hyänenkind im Untergrunde Sieben Auflagen.« »Helga brennt durch?« »Sie erklettert in der Wüste heimlich einen Jeep und macht sich aus dem Staub. Fällt Ihnen denn gar nichts Neues ein?« »Ameisen!« »Das ist gerade jetzt unser Bestseller. >Ameise Amadeus an der Börse.< Er brennt von zu Hause durch ...« »Fledermäuse?« >»Fifi die Fledermaus und ihre vierzig Verehren. Die Abenteuer einer kleinen Fledermaus, die ihre Eltern verläßt und ...« »Und zurückkehrt?« »Ja. Auf einem Jeep.« Der Verleger erhob sich und begann sein Archiv zu durchstöbern. »Es gibt kaum noch ein freies Tier«, murmelte er. »Hier bitte: >Felix der Falke bei den Olympischen Spielen< ... >Schnurrdiburr die Hummel, die sich für eine Biene hält ... >Koko die Klapperschlange< ...« »Ich hab's. Regenwurm.« »Siebzehn Auflagen. >Rainer der Regenwurm auf hoher See<. Er geht an Bord eines Frachters ...« »Wie macht er das?« -40-
»Er versteckt sich in einer Ladung von Jeeps.« »Hm. Dann bleiben nur noch die Flöhe.« »>Balduin der Bettfloh auf Wanderschaft. Unsere nächste Neuerscheinung. Balduin entspringt seinen Eltern ...« »Auf einem Jeep.« »Ja, wieso wissen Sie das? Dort freundet er sich mit Mizzi der Moskitodame an, die von zu Hause durchgebrannt ist. Aber das geht dann schon in eine andere Serie über.« »Karpfen?« »>Karl der Karpfen bei den Fallschirmjägern<.« »Austern?« >»Aurelia die Auster und ihr Zwillingsbruder August<. Sie verlassen ihre Schale, aber nach einiger Zeit...« »Schon gut. Wie war s mit einem Tiefseeschwamm?« »Tiefseeschwamm? Warten Sie, nein, das hatten wir noch nicht.« Das Antlitz meines Verlegers erhellte sich hoffnungsfroh. »Gut, machen Sie's. Aber Sie müssen sich beeilen, sonst schnappt's uns noch jemand weg.« »Keine Sorge«, beruhigte ich ihn. »Ich fange sofort an. Lassen Sie den Schutzumschlag
entwerfen:
>Theobald
der
Tiefseeschwamm
im
Einkaufszentrum<.« Heute habe ich den ersten Band der neuen Serie beendet. Eine großartige Handlung, voll von Überraschungen. Theobald reißt sich vom Elternhaus los, um in Baden-Baden die Laufbahn eines Badeschwamms zu ergreifen. Im nächsten Band wird er nach Hause zurückkehren. Wahrscheinlich auf einem Jeep.
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Boris oder Lesen ist keine Pflicht Die Sache mit Tolaat Shani bedrückte mich schon seit langem. Nein, das war wirklich nicht schön von mir. Vor einem halben Jahr hatte er mir sein neues Buch geschickt, das ich sofort auf den Schreibtisch oder sonstwohin gelegt hatte - und dort, wo immer es war, setzte es seither Spinnweben an. Zu Beginn kam ich noch mit den üblichen Ausreden durch. »Schon bekommen«, rief ich vorbeugend, wenn ich Tolaat Shani von weitem sah. »Sobald ich ein paar freie Stunden habe, lese ich es.« Und der vielversprechende junge Autor lächelte mir dankbar zu. Als ich ihn nach ein paar Wochen unversehens beinahe über den Haufen rannte, ließ ich mich zu der Bemerkung hinreißen, daß ich bereits mitten in der Lektüre sei und daß wir nachher darüber sprechen müßten. Vor ein paar Tagen, als ich mich um Kinokarten anstellte, fühlte ich mich plötzlich am Arm gepackt. Es war Tolaat Shani, und es gab kein Entrinnen. »Haben Sie das Buch schon ausgelesen?« fragte er mich. Ich nickte mehrmals und ernsthaft. »Wir müssen uns ausführlich darüber unterhalten. Ich habe Ihnen eine ganze Menge zu sagen. Aber nicht hier in dieser Schlange auf einem Bein ...« Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als an der Kasse das Schild »Ausverkauft« aufleuchtete. Mein Schicksal war besiegelt. Nur ein plötzlich herabstoßender Steinadler hätte mich retten können, und in unserem Wohnviertel gibt es leider wenig Vögel. Hingegen gibt es sehr viele Kaffeehäuser, so viele, daß man in einem von ihnen mit größter Wahrscheinlichkeit einen Tisch für zwei Personen findet. Tolaat Shani, der meinen Arm noch immer nicht losgelassen hatte, fand einen solchen Tisch für zwei Personen. Und jetzt saßen wir einander gegenüber. »Also«, sagte Tolaat Shani. »Sie wollen mit mir über mein Buch sprechen.« »Ja«, sagte ich. »Ich bin froh, daß ich Sie endlich getroffen habe.« -42-
Irgendwie erinnerte mich die Situation an den dramatischen Höhepunkt mancher Wildwestfilme, wenn Sheriff und Schurke im Saloon der menschenleeren Hauptstraße aufeinanderstoßen und die endgültige Abrechnung sich nicht mehr aufhalten läßt. Verzweifelt suchte ich mir das Buch ins Gedächtnis zu rufen, aber vor meinem geistigen Auge erschien immer nur die braune Papierhülle, die ich noch nicht entfernt hatte. Wenn ich wenigstens wüßte, um was für eine Art von Buch es sich handelte. War es ein Roman? Eine Sammlung von Kurzgeschichten? Von Gedichten? Ein Theaterstück? Ein Essayband?... Die bleierne Stille nahm mir den Atem. Ich mußte etwas sagen. »Etwas muß ich sagen«, sagte ich. »Sie haben enorme Arbeit an dieses Buch gewendet.« »Drei Jahre«, nickte Tolaat Shani. »Aber das Thema habe ich noch viel länger mit mir herumgetragen.« »Das spürt man sofort. Es ist ein reifes Werk.« Stille. Bleierne Stille. Mein Puls raste. »Sagen Sie mir jetzt bitte Ihre Meinung«, forderte mich der vielversprechende junge Autor mit vor Erwartung bebender Stimme auf. »Ich bin sehr beeindruckt.« »Von allem, was drinsteht?« Im letzten Augenblick entging ich der Falle. Tolaat Shani beobachtete mich scharf aus den Augenwinkeln. Hätte ich jetzt geantwortet: »Ja, von allem«, er hätte sofort gewußt, daß ich das Buch nicht gelesen habe. »Ich will jetzt ganz offen sein«, sagte ich. »Den Anfang finde ich nicht gerade überwältigend.« »Auch Sie?« Tolaat Shani seufzte resigniert. »Das hätte ich nicht gedacht. Ein erfahrener Schriftsteller wie Sie müßte doch wissen, daß jedes Buch eine Exposition braucht.« »Exposition, Schmexposition«, gab ich ein wenig unbeherrscht zurück. »Die Frage ist, ob man von einem Buch sofort gefesselt wird oder nicht.« -43-
Tolaat Shani senkte den Kopf und sah so traurig drein, daß er mir leid tat. Aber warum schreibt er auch so langweilige Expositionen? »Später kommt die Sache in Schwung«, tröstete ich ihn. »Ihre Figuren sind sehr gut gezeichnet. Und die Geschichte hat Atmosphäre. Und Rhythmus.« »Sind Sie auch der Meinung, ich hätte die rein beschreibenden Teile des Buches um die Hälfte kürzen sollen?« »Wenn Sie das getan hätten, wäre es ein Bestseller geworden.« »Möglich«, sagte Tolaat Shani frostig. »Aber mir war es wichtiger, ganz genau zu erklären, warum Boris sich den Rebellen anschließt.« »Boris ist allerdings ein Charakter, den man nicht so bald vergessen wird«, mußte ich zugeben. »Man merkt, daß ihm Ihre ganze Liebe gilt.« Aus schreckgeweiteten Augen starrte Tolaat Shani mich an. »Liebe? Ich liebe Boris? Dieses Schwein? Diesen Verbrecher? Ich halte ihn für die widerwärtigste Figur, die ich je geschaffen habe.« »Das glauben Sie nur«, wies ich ihn zurecht. »Lassen Sie sich von mir gesagt sein, daß Sie sich im innersten Kern Ihres geheimen Ichs mit ihm identifizieren.« Tolaat Shani wurde blaß. »Was Sie da sagen, trifft mich wie ein Keulenschlag«, murmelte er tonlos. »Als ich das Buch zu schreiben begann, habe ich Boris gehaßt, das weiß ich genau. Aber dann, als er in den Streit zwischen Peter und dem Marine-Attache verwickelt wird und trotzdem seiner Mutter nichts davon erzählt, daß er Abigail verloren hat, Sie erinnern sich doch?« »Und ob ich mich erinnere! Er erzählte seiner Mutter nichts ...« »Richtig. Ich sehe, daß Sie das Buch aufmerksam gelesen haben. Da fragte ich mich also, ist dieser Boris, mit all seinen Verirrungen und Unzulänglichkeiten, nicht immer noch ein wertvollerer Mensch als der Zoologe?« »Wir alle sind Menschen«, bemerkte ich tolerant. »Manche sind so, manche sind anders, aber im Grunde sind wir alle gleich.« -44-
»Eben darauf wollte ich ja hinaus. Haarscharf.« Sollte ich das Buch am Ende doch gelesen haben? Sozusagen unterbewußt, ohne es zu merken. Ich muß dringend einen Spezialisten aufsuchen... »Man versichert mir von vielen Seiten«, sagte Tolaat Shani zögernd, »daß dieses Buch, zumindest was die Handlung betrifft, mein bisher stärkstes ist.« Ich sah nachdenklich zur Decke hinauf, als wollte ich die bisherige Produktion des vielversprechenden jungen Autors mit einem einzigen Blick umfassen. Dabei habe ich noch keine Zeile von ihm gelesen. Wozu auch? Wer ist dieser Tolaat Shani überhaupt? Warum schickt er mir seine Bücher? Es galt, die Dinge an ihren Platz zu rücken. »Ich würde nicht direkt sagen, daß es Ihr stärkstes Buch ist. Aber es ist bestimmt Ihr spannungsreichstes.« Tolaat Shani zuckte zusammen. Kein Zweifel, ich hatte ihn an seinem empfindlichsten Punkt erwischt. Tut mir leid. Oder soll ich vor Ehrfurcht zusammenknicken, wenn er seinen Dilettantismus ins Kraut schießen läßt? »Ich wußte es. So wahr mir Gott helfe, ich wußte es.« Die ganze Bitterkeit des Nichtskönners, der sich von einem überlegenen Geist durchschaut weiß, schwang in seiner Stimme mit. »Sie meinen das Abendessen in der Wohnung des Sturmtruppenkommandanten, nicht wahr. Hätte ich vielleicht die ganzen Ereignisse im Gebirgstal verkitschen sollen, damit sie sich angenehmer lesen? Wenn sie ... erinnern Sie sich, wenn sie ... wenn sie ... sie ...« »Stottern Sie nicht«, ermahnte ich ihn. »Meine Geduld hat Grenzen.« »Erinnern Sie sich an die Schilderung des nächtlichen Kamelwettrennens um den Harem des Scheichs? Das hat Ihnen doch gefallen, oder nicht?« »Sogar sehr gut. Das war eine farbige Szene.« »Und daß Jekaterina die Tischlampe am Kopf des Richters zerschlägt, auch damit sind Sie einverstanden?« »Unter Umständen.« »Dann können Sie unmöglich etwas gegen das Schicksal einzuwenden haben, das ich Maximilian Kronstadt und seinesgleichen bereite.« -45-
Heftiger Kopfschmerz befiel mich. Hoppla, mein Junge, dachte ich, du kannst begeifern, wen du willst, aber Maxi Kronstadt laß mir ungeschoren. Der ganze Verlauf des Gesprächs widerstrebte mir. Viel zu vage und unsachlich war das alles. Jetzt ging es mit meiner Zurückhaltung zu Ende. »Hören Sie, Tolaat Shani. Ich an Ihrer Stelle wäre auf diese Sache mit Maxi Kronstadt nicht so stolz.« »Ich bin aber stolz auf ihn!« Das Blut schoß mir in den Kopf. Unglaublich, der Kerl wagte mir zu widersprechen. »Kronstadt ist ein Schwindler«, sagte ich scharf. »Sie könnten ihn ohne Schaden vollkommen weglassen.« »Und wie, wenn ich fragen darf, soll ich dann den eigentlichen Konflikt vorbereiten?« »Nun wie? Was glauben Sie wohl?« »Sie denken wahrscheinlich an den Zoologen.« »An wen denn sonst.« »Und Jekaterina?« »Soll mit dem Richter durchbrennen!« »Im neunten Monat?« »Nachher.« »Stellen Sie sich das nicht ein wenig zu einfach vor? Sie scheinen zu vergessen, daß Jekaterina ein psychosomatisches Asthma hat.« »Muß es denn unbedingt gerade sie sein? Wenn schon jemand Asthma haben soll, dann Abigail.« »Abigail ist doch ein Spürhund.« Das war mir zuviel. Das darf man einem Fachmann wie mir nicht sagen. Seit vierzig Jahren schreibe ich so gut wie ununterbrochen Bücher, und dann kommt so ein Stümper und sagt »lächerlich«.
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»Sagten Sie >lächerlich<. Sie Stümper? Und Ihr idiotisches Kamelwettrennen ist vielleicht nicht lächerlich? Was sage ich lächerlich? Ekelhaft ist es. Ich hatte Mühe, nicht zu erbrechen.« »Ausgezeichnet. Genau das lag in meiner Absicht. Ein Mensch, dem vor sich selbst übel wird, lernt sich wenigstens kennen. Und ich meine Sie ...« Wir hatten uns auf das unabsehbar weite Feld persönlicher Beleidigungen begeben. Tolaat Shani war gelb vor Ärger. Sein Atem keuchte. »Ich werde Ihnen sagen, was Ihnen an meinem Buch mißfällt«, gurgelte er. »Daß ich gewagt habe, auf banale Lösungen zu verzichten. Daß ich Boris nicht in der Überschwemmung zugrunde gehen lasse. Stimmt's?« Boris. Der hatte mir gerade noch gefehlt. »Scheren Sie sich zum Teufel mit Ihrem Boris«, schnarrte ich. »Sie sind diesem Lumpen ja geradezu verfallen. Und wenn Sie es wissen wollen: Seine Liebesaffäre ist ganz und gar unwesentlich.« »Unwesentlich«, stöhnte der vielversprechende junge Autor. »Zu irgend jemandem muß Jekaterina doch gehören.« »Aber doch nicht zu Boris. Gibt es denn keinen anderen?« »Wen?« Tolaat Shani sprang auf, packte mich am Rockaufschlag und schüttelte mich. »Wen?« »Meinetwegen den Zoologen, wie heißt er gleich, Kronstadt.« »Kronstadt ist kein Zoologe.« »Er
ist
ein
Zoologe!
Und
wenn
nicht
Kronstadt,
dann
der
Sturmtruppenkommandant.« »Kronstadt ist der Sturmtruppenkommandant!« »Von mir aus kann er sein, was er will. Und von mir aus kann es jeder sein, nur Boris nicht! Sogar der Marine-Attache wäre logischer! Oder Birnbaum!« »Wer ist Birnbaum!« »Egal, nicht schlechter als Kronstadt, das garantiere ich Ihnen. Sie glauben offenbar, daß es schon genügt, Papier zu bekritzeln, damit ein Buch daraus wird. Wie steht s mit der Handlung, Sie Stümper? Mit den Charakteren? Mit den -47-
inneren Konflikten? Mit der Tiefe?« Jetzt war ich es, der ihn würgte. »Auf die Tiefe kommt es an, nicht auf Bla bla und Abrakadabra wie bei Ihnen. Boris. Boris. Das soll ein Buch sein? Für wen? Für das Publikum gewiß nicht. Kein Mensch liest so ein Buch. Auch ich habe es nicht gelesen.« »Sie haben es nicht gelesen?« »Nein. Und ich denke auch gar nicht daran, es zu tun.« Damit ließ ich ihn sitzen und ging schnurstracks in die Apotheke gegenüber. Nicht im Traum hätte ich gedacht, daß ich wegen eines solchen Gauners wie Boris meine Fassung verliere.
Ich selbst lüge gerne, wenn ich muß. Ich brauche keinen Boris dafür. Schriftsteller sind ohnedies die geborenen Lügner, und je perfekter einer lügt, desto lieber glauben ihm die Leser. Dieses Talent ist besonders unerläßlich, wenn man die zweitwichtigste Sache in der Literatur, den Klappentext, für das eigene Buch dichten muß. Es lohnt sich wirklich, sich damit ausführlicher zu beschäftigen.
Do it yourself oder zur Systematik des Klappentextes Die gute literarische Nachricht zuerst: Nach Monaten des Schwankens entschloß sich der renommierte Verlag Schächter & Co., den Roman »Der große Ausverkauf« von Rüben Baron zu veröffentlichen. Zalman Schächter persönlich empfing den jungen Autor in seinem Büro. »Wir drucken zunächst 350 Exemplare«, teilte er ihm mit. »Dann sehen wir weiter.«
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Der hoffnungsvolle Romancier war so aufgeregt, daß er nicht antworten konnte. Herr Schächter legte ihm väterlich den Arm um die Schulter und geleitete ihn zur Tür. »Ich weiß, mein Junge. 350 ist keine imposante Auflage. Aber die Leute lesen nicht mehr soviel wie früher.« Jetzt wagte Baron einen leisen Widerspruch. »Das kann ich nicht glauben. Sind wir denn nicht das Volk des Buches?« »Gewiß, gewiß«, lenkte der Verleger ein. »Und der durchschnittliche Bürger ist ja auch sehr stolz auf jedes einzelne Buch, das er besitzt. Er hegt und pflegt sie alle, er stellt sie in wohlgeordneter Reihe auf und behandelt sie mit größter Sorgfalt, er rührt sie nicht einmal an. Oder wenn, dann schaut er auf der letzten Seite nach, wie es ausgeht. Aber meistens liest er nur den Text auf dem Schutzumschlag. Also gehen Sie nach Hause, lieber Freund, und schreiben Sie mir einen schönen Klappentext für Ihr Buch.« »Ich?« lispelte der junge Autor mit einigem Unbehagen. »Sie meinen, ich selbst sollte ...« »Wer denn sonst? Niemand kennt Sie und Ihr Buch besser als Sie selbst. Und was glauben Sie, von wem die begeisterten Hymnen auf den Schutzumschlägen stammen? Immer von den Autoren.« »Tatsächlich? Dazu geben sich die Autoren her?« »Warum nicht? Es erfährt ja niemand davon. Außerdem bleibt ihnen nichts anderes übrig. Ich als Verleger kann diese Texte nicht schreiben. Da müßte ich ja erst das betreffende Buch lesen und wäre befangen, nicht wahr? Ich pflege zu sagen: Wenn ein Autor nicht einmal seinen eigenen Werbetext schreiben kann, was kann er dann überhaupt? Warten Sie, ich zeige Ihnen etwas.« Schächter griff nach einer der herumliegenden Mappen und holte Druckfahnen hervor. »Hier. Das sagt Tolaat Shani, dessen letzter Roman ein peinlicher Mißerfolg war, über sein neues Werk: >Der populärste Epiker des Jahrhunderts, dessen vorangegangener Roman das Land im Sturm erobert hat, beschert seiner großen -49-
Lesergemeinde abermals ein wahres Juwel in Prosa.< Das ist die Art von Werbung, die wir brauchen. Setzen Sie sich an Ihren Schreibtisch, junger Mann, und legen Sie los. Keine falsche Bescheidenheit. Drücken Sie auf die Tube.« Baron ging nach Hause, entnahm seiner Bibliothek wahllos einige Bücher, las die Klappentexte, um sich einzustimmen, und begann zu schreiben. »Sein brillanter Stil, seine psychologische Darstellungskunst und sein tiefes Verständnis für menschliche Beziehungen machen Rüben Baron zu einem der wichtigsten Repräsentanten unserer jungen Schriftstellergeneration.« An dieser Stelle erhob er sich, trat vor den Spiegel, sah sich an und spuckte seinem Ebenbild ins Gesicht. Dann zerriß er, was er geschrieben hatte, fühlte sich sehr erleichtert und ging zu Bett. »Nein, nein, nein«, flüsterte er in die Kissen. »Ich prostituiere mich nicht.« Als er am Morgen erwachte, hörte er eine innere Stimme, die ihm mitteilte, daß die Prostitution das älteste Gewerbe auf Erden sei. Daraufhin holte er das zerrissene Manuskript aus dem Papierkorb, fügte es wieder zusammen und überflog es. Ihm schien, er hätte gar nicht so sehr übertrieben und könnte sogar noch deutlicher werden. »Seine drängende und dennoch stets disziplinierte Prosa«, hieß es in der Neufassung, »sein durchdringender Scharfblick und die leidenschaftliche Anteilnahme am Schicksal seiner Gestalten ...« Mit unwiderstehlichem Zauber überkam ihn eine nie zuvor erfahrene Schöpferkraft. Hier nahm, er fühlte es, zum ersten Mal in seinem Leben die reine, unverfälschte Wahrheit Gestalt an und trug ihn immer höher. »Was soll das heißen« sprach er vorwurfsvoll zu sich. »Wieso bin ich nur einer der wichtigsten Repräsentanten? Ich bin der wichtigste. Und der jüngste noch dazu, der jüngste und der wichtigste von allen ...« Der Rückschlag ließ nicht lange auf sich warten. Barons menschliche Sauberkeit setzte sich durch. Er zerrte das Blatt aus der Schreibmaschine, warf es in die Klosettschüssel, betätigte die Spülung und fühlte sich sehr erleichtert. Am Abend dieses Tages sahen die heimkehrenden Fußgänger einen jungen -50-
Mann durch die Straßen wandern und hörten ihn murmeln: »Ein literarischer Gigant ... kometengleich ... ein Virtuose ...« Die Fußgänger nickten verständnisvoll hinter ihm her. »Armer Kerl. Schreibt Klappentext.« In der Nacht versuchte es Baron aufs neue (»Ein moderner Tolstoi«). Am Morgen riß er das Manuskriptblatt in Fetzen, warf sie zum Fenster hinaus und fühlte sich sehr erleichtert. Ein kleiner Spaziergang vor dem Haus gab ihm Gelegenheit, Tolstoi wieder einzusammeln. In seine Wohnung zurückgekehrt, brach er tränenüberströmt zusammen und rief Schächter an. »Ich kann nicht«, stöhnte er. »Ich bringe das nicht über mich, Herr Schächter. Ich sterbe vor Scham.« »In Ordnung«, sagte der Verleger. »Tote Autoren verkaufen sich leichter. Außerdem habe ich eine schlechte Nachricht. Einer der sechzehn ständigen Käufer meiner Neuerscheinungen wird an grauem Star operiert. Vielleicht sollten wir das Erscheinen Ihres Buchs auf einen günstigeren Zeitpunkt verschieben.« Das war zuviel für Baron. Er legte den Hörer auf, raffte alles vorhandene Klappentextmaterial zusammen und sauste so eilig in den Verlag, daß er unterwegs
ein
Dutzend
Superlative
verlor.
Angelangt,
warf
er
das
Werbegewäsch Schächter vor die Füße und sah ihm, von Selbsthaß zerfressen, bei der Lektüre zu. »Hm, nicht schlecht«, brummte der Verleger, als er fertiggelesen hatte. »Ich sagte Ihnen ja, daß nur der Autor selbst imstande ist, sich richtig zu schildern.« Dann nahm er einen Bleistift zur Hand, änderte ein paar Worte, strich hier ein Sätzchen, fügte dort ein anderes hinzu und las befriedigt den endgültigen Text. »Zalman Schächter & Co., das führende Verlagshaus des Landes, bietet immer das Beste der zeitgenössischen Literatur und bringt es immer in attraktiver Ausstattung. Mit Stolz präsentiert das Verlagshaus Zalman Schächter & Co. diesen neuen, unerschrockenen Roman in gewohnt schönem Druck auf holzfreiem Papier und in Halbleinen gebunden zum reduzierten Preis von nur -51-
49,95 Pfund. In derselben Reihe und zum selben Preis erscheint im September der amerikanische Mega-Bestseller >Die illustrierte Geschichte des Bordells<. Unzensiert. Bestellen Sie jetzt!« Baron hatte seinem Verleger über die Schulter geschaut und fassungslos mitgelesen. »Das«, fragte er heiser. »Das ist der Klappentext für meinen Roman?« »Ja. Warum fragen Sie?« »Sagten Sie nicht, daß der Klappentext vom Autor stammen muß?« »Bitte sehr. Wenn Sie darauf bestehen.« Und Herr Schächter setzte über den Text die Worte »Der Autor über sein neues Werk« und einen Doppelpunkt. Rüben Baron ging nach Hause, nahm einen Strick und hängte sich auf. Als ihm die Schlinge zu eng wurde, durchschnitt er den Strick und fühlte sich erleichtert.
Schwarzarbeit oder Jonas' Dankestränen Im ersten Morgengrauen läutete das Telefon. »Hallo«, sagte eine gedämpfte Männerstimme. »Ich muß dringend mit Ihnen sprechen.« »In welcher Angelegenheit?« »Nicht telefonisch.« »Es tut mir leid«, wehrte ich ab, »aber ich bekomme täglich ungefähr ein Dutzend solcher Anrufe, und meistens handelt sich's dann um das Bar-MizwaFest des 13jährigen Söhnchens, für den ich eine Rede schreiben soll.« »Glauben Sie«, unterbrach mich empört mein Gesprächspartner, »daß ich Sie wegen einer solchen Lappalie so früh anrufe? Kommen Sie sofort.«
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Er nannte mir seinen Namen, der mir bekannt vorkam, irgendwas zwischen Regierung und Großindustrie. Nun, man kann ja nie wissen. Ich beeilte mich. Der Regierungsindustrielle erwartete mich vor der Haustür. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte er streng, während wir die Stiegen hinaufkeuchten. »Mein Sohn Jonas begeht in wenigen Tagen seine Bar-Mizwa und braucht eine Rede.« Ich wollte wortlos kehrtmachen, aber er hielt mich zurück. »Bitte enttäuschen Sie uns nicht«, flehte er. »Wir bauen auf Ihre Hilfe. Der Junge liebt und verehrt uns und hat keinen sehnlicheren Wunsch, als uns für all unsere Güte von Herzen zu danken.« »Soll er.« »Durch eine Rede.« »Die soll er sich selbst schreiben.« »Das kann er nicht, Jonas ist erst dreizehn Jahre alt. Bitte, bitte. Sie müssen uns helfen. Nur ein Genie wie Sie ist dazu imstande. Selbstverständlich gegen Honorar, wenn Sie es wünschen. Geld spielt keine Rolle. Wichtig ist nur die Zeit. Sie drängt. Jede Stunde ist kostbar. Jede Minute. Verstehen Sie mich doch, verstehen Sie ein besorgtes Vaterherz.« Er wollte vor mir niederknien. Ich hinderte ihn daran und fühlte, wie ich weich wurde. »Nur eine klitzekleine Rede. Gefühlvoll, überquellend von kindlicher Dankbarkeit, womöglich in Reimen. Wie oft im Leben hat man denn schon ein Bar-Mizwa-Fest? Ein einziges Mal. Sie können nicht nein sagen.« Ich konnte wirklich nicht. Das besorgte Vaterherz hatte mich herumgekriegt. »Bis wann wollen Sie das Manuskript haben?« »Bis gestern. Wir sind verzweifelt knapp dran.« »Ich brauche mindestens zwei Tage.« »Unmöglich! Bedenken Sie, das Kind muß ja noch den ganzen Text auswendig lernen. Heute abend, ich beschwöre Sie. Heute abend.« -53-
»Na schön. Sagen wir, um neun.« »Halb neun, Ich verdopple das Honorar, wenn Sie um halb neun liefern.« Beinahe hätte er mir die Hand geküßt. Von der Tür rief er mir nach: »Um acht. Vergessen Sie nicht, spätestens um acht.« Zu Hause empfing mich die beste Ehefrau von allen mit der Nachricht, es hätte soeben jemand angerufen und nur gesagt »Zehn Minuten vor acht«. Ich bat sie, mir einen enorm starken, enorm schwarzen Kaffee zu kochen, und machte mich an die Arbeit. Zunächst versuchte ich, die geistigen und seelischen Wallungen des jungen Jonas nachzuempfinden. Wie würde er sie wohl ausdrücken? Vielleicht so:
Ihr lieben Eltern alle zwei Habt mich umsorgt vom ersten Schrei. Dafür dank ich euch noch heute, Ihr seid wirklich nette Leute.
Vielleicht ein wenig trocken, aber immerhin ein brauchbarer Anfang. Während ich über die Fortsetzung nachdachte, brachte ein Bote einen Blumenstrauß mit einem Kärtchen: »Alles Gute! Bitte um halb acht!« Die nächsten Zeilen lauteten:
Lieber Vater und liebe Mutter, Dank euch ist alles nun in Butter.
Die Störung erfolgte telefonisch. »Wie sieht's aus?« erkundigte sich das besorgte Vaterherz. »Haben Sie schon etwas fertig?« Ich las ihm das bisherige Ergebnis vor. »Nicht schlecht«, meinte er. »Aber auch der Name des Jungen sollte gereimt werden. Er liebt uns abgöttisch. Sieben Uhr zwanzig?« -54-
»Ich werde mein Bestes tun«, versprach ich, schaltete das Telefon aus und machte mich auf die Suche nach einem Reim auf Jonas. Es war zu dumm. Hätten die Leute ihren überflüssigen Sprößling nicht anders nennen können? Zum Beispiel Gideon, mit dem eingebauten Reim auf Sohn? Aber nein, Jonas muß er heißen. Endlich hatte ich ihn erwischt:
Euch Eltern, gilt mein kindlich Sehnen, Euch gelten meine Dankestränen. Schon machen sie mein Mikrophon naß, Es schluchzt vor Rührung euer Jonas.
Ein Expreßbote riß das Papier aus meiner Schreibmaschine und verschwand. Ich hatte die Ablieferungszeit eingehalten. Dann fiel ich in tiefen, traumlosen Schlummer.
Wochen vergingen, ohne daß ich von meiner Bank oder von meinem Auftraggeber etwas gehört hätte. Ich griff zum Telefon und fragte ihn, ob er zufrieden gewesen sei. »Womit?« fragte er. Nicht ohne Stolz outete ich mich als Verfasser der kunstvollen Rede, die Jung-Jonas zur Feier seiner Bar-Mizwa gehalten hatte. »Ach so, richtig. Ich erinnere mich. Leider habe ich noch keine Zeit gehabt, ihr Manuskript zu lesen. Rufen Sie mich doch wieder an.« »Morgen früh?« »Es eilt nicht. Vielleicht gegen Mittag. Oder nächste Woche.«
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Die Seele eines Schriftstellers ist hoffnungslos zerrüttet, schon seit Moses sein fünfbändiges Werk verfaßt hat. Und diese Zerrüttung ist eigentlich auch durchaus nachvollziehbar. Einerseits gehört die schriftstellerische Phantasie natürlich zu den fundamentalen Voraussetzungen literarischen Könnens, andererseits reicht sie jedoch bei keinem Autor bis zu der Vorstellung, daß es außer seinen eigenen Büchern auch noch andere gibt. Die Seele des Schriftstellers läßt vollkommen außer acht, daß alle auf der Frankfurter Buchmesse ausgestellten Exemplare aufeinandergeschichtet einen Bücherturm ergäben, der bis zum Mars reichte und von dort als Science-fiction zurückkäme. Vor dem Hintergrund dieser Widersprüchlichkeit, die jedes Empfinden für künstlerische Gerechtigkeit erschüttert, stellt sich die schmerzliche Frage, wie ein unbedeutender, jedoch ehrgeiziger Autor trotz allem den ersehnten Platz in der Bestsellerliste ergattern kann. Ein flüchtiger Blick in die Geschichte der Literatur genügt, um festzustellen, daß von all jenen, die dem Beruf des Schreibens nachgingen, letzten Endes nur jene zu Ruhm und Ehren gelangten, die bereit waren, neben dem enervierenden Schreiben auch noch etwas anderes zu tun, um die Aufmerksamkeit des hochgeschätzten Publikums auf sich zu ziehen. In Frankreich, zum Beispiel, saß lange Jahre der begabte Bühnenautor Jean Genet hinter Gittern, da er einen spektakulären Mord begehen mußte, um seine Dramen aufgeführt zu sehen. In Amerika genügt es, mit dem Präsidenten zu schmusen oder das Federal Building von Oklahoma City in die Luft zu Jagen, um mit attraktiven Angeboten von renommierten Verlagen in aller Welt überschüttet zu werden. Ganz zu schweigen von den Gepflogenheiten auf dem deutschen Buchmarkt, für dessen Eroberung es durchaus ratsam ist, rechtzeitig ins linksintellektuelle Lager zu wechseln oder sich als Sympathisant gemäßigter Terrororganisationen zu erkennen zu geben. Alles ist erlaubt, außer den Mund zu halten. Die Namen jener bescheidenen Dichter, die den entscheidenden Einfluß agressiver Werbung auf ihre Zukunft ignorieren, sind normalerweise im keinem Lexikon zu finden oder bestenfalls -57-
der Sammelrubrik »Weitere Autoren«. Oder es geht ihnen wie dem Autor des Romans »Der blaue Engel«, von dem alle glauben, er wäre von Marlene Dietrich verfaßt.
Unten ohne oder Lungenentzündung ist die Lösung Der Verleger holte das Manuskript aus der Lade und wandte sich an Rodolfo Shamm. »Ich habe sie gelesen.« Der Dichter fischte auf die Sesselkante vor. »Ja«, flüsterte er. »Ja?« »Es sind wunderschöne Gedichte. Ich finde, daß in den letzten zweihundertzehn Jahren nichts geschrieben wurde, was sich mit Ihrem >Ich liebte dich, dich liebte ich< vergleichen könnte.« »Danke«, kam es kaum hörbar von Shamms Lippen. »Seien Sie bedankt, Herr Blau.« »Ich gehe noch weiter und sage, daß der ganze Band zu den lyrischen Gipfeln der Weltliteratur gehört.« »Ich danke Ihnen. Und ich werde trotzdem versuchen, an diesen Gedichten bis zur äußersten Vollendung zu feilen, bevor Sie den Band veröffentlichen.« »Bevor ich den Band - was?« »Veröffentlichen ... den Band, Herr Blau ... Ich liebte dich, dich liebte ich ...« »Wann habe ich von Veröffentlichung gesprochen?« »Aber Sie sagten doch ... wunderschöne Gedichte ...« »Wer kauft heutzutage Gedichte?« »Niemand?« »Nicht direkt niemand. Vierzig bis fünfzig Sonderlinge werden sich finden.« »Ich bin bereit, auf jedes Honorar zu verzichten, Herr Blau.« -58-
»Das versteht sich von selbst.« »Ich bin ferner bereit, zu den Herstellungskosten beizutragen.« »Auch schon was. Lassen Sie mich nachdenken. Leiden Sie an einer unheilbaren Krankheit?« »Warum?« »Dann könnte ich das Buch mit einer schwarzen Trauerbinde herausbringen: >Das letzte Werk des Dichterfürsten< Das würde vielleicht den Verkauf ankurbeln.« »Es tut mir aufrichtig leid, Herr Blau, aber ich bin gesund. Allerdings ... wenn die Regenzeit beginnt ...« »Darauf kann ich mich nicht verlassen.« »Dann sagen Sie mir bitte, was ich tun soll.« »Ich möchte Sie nicht beeinflussen. Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß der bekannte Maler Zungspitz, nachdem er das Augenlicht verloren hatte, phantastische Preise für seine Bilder erzielen konnte.« »Leider bin ich Brillenträger.« »Rodolfo, Sie scheinen nicht zu begreifen, um was es hier geht. Ohne Reklame und Skandale ist Kunst heutzutage unverkäuflich.« »Mir fällt etwas ein, Herr Blau. Ich werde nackt auf dem Elvis-Boulevard Spazierengehen, mit einem Exemplar von >Ich liebte dich, dich liebte ich< unterm Arm.« »Ein alter Hut. Die begabte Autorin Gisela Glick-Galgal ist auf der Beethoven-Avenue zweimal unten ohne auf- und abgeschlendert, um Besucher in ihre Signierstunde zu locken. Angeblich hat sie dann wirklich ein paar Bücher verkauft. Na jedenfalls ist der Trick schon abgenutzt. Spielen Sie Trompete?« »Noch nicht.« »Schade. Dann bleibt nichts andres übrig als Brutalität. Nach dem ersten Verriß Ihres Buchs schlagen Sie dem Kritiker die Zähne ein. Einverstanden?« »Gewiß, Herr Blau. Aber ich fürchte, daß niemand meine Gedichte verreißen wird.« -59-
»Denken Sie nach, ob Sie nicht doch irgendeine Krankheit haben.« »Leider ... wie ich schon sagte, eventuell im Winter.« »Vielleicht hat es in Ihrer Familie einen Fall von Wahnsinn gegeben? Das wäre brauchbar. Als Josef Melamed-Becker nach seinem Wahnsinnsausbruch in eine geschlossene Anstalt eingeliefert wurde, hat sein Roman drei Neuauflagen erreicht.« »Der Glückspilz.« »Es war kein Glück. Es war die Erkenntnis, daß ein Buch auf Publicity angewiesen ist, wenn <es gehen soll. Gibt es in Ihrem Band auch Liebeslyrik?« »Aber Herr Blau, erinnern Sie sich nicht?« »Ich habe Ihre Gedichte doch nicht gelesen. Wenn sie wirklich realistisch und offenherzig sind ... sozusagen nackte Tatsachen ... Sie verstehen, was ich meine ...« »Nein, Herr Blau, nein und abermals neun. Da springe ich lieber aus dem fünften Stock auf die Straße.« »Das ist eine Idee. >Von der Liebe enttäuschter Dichter begeht Selbstmord<. Nicht schlecht. Sie könnten Verona Feldbusch eines Ihrer Gedichte widmen.« »Gerne. Wer ist das?« »Spielt keine Rolle. Sie haben nichts weiter zu tun, als irgendeinem Gedicht die Widmung voranzusetzen: >Meiner ewigen Liebe V. F. < Das genügt.« »In Ordnung.« »Na sehen Sie. Langsam beginnt mir Ihr Buch zu gefallen, Shamm. Wir lassen an die Presse durchsickern, daß Sie zwei Jahre wegen Bigamie ...« »Lieber nicht. Das stimmt nämlich.« »Dann also nicht. Kommen in Ihren Gedichten auch antireligiöse Motive vor? Vielleicht eine beleidigende Stelle über die heiligen Schriften. Sie wissen doch, wie empfindlich diese Orthodoxen sind.« »So etwas könnte ich mühelos einfügen.« »Großartig. Wenn wir einen Rabbiner oder einen Kardinal dazu bringen, Ihr -60-
Buch mit einem Bannfluch zu belegen, ist die erste Auflage so gut wie verkauft.« »Ich bewundere Ihre Erfindungsgabe, Herr Blau. Und ich danke Ihnen von Herzen. « »Danken Sie mir noch nicht:. Sie haben noch eine Menge zu tun. Heute nacht werden Sie sich wegen öffentlicher Gewalttätigkeit verhaften lassen. Dazu müssen Sie mindestens ein paar Fenster einschlagen. Dann verbarrikadieren Sie sich in der Damentoilette des Grandhotels, blasen Trompete, entkleiden sich, gehen auf die Straße und ziehen sich eine Lungenentzündung zu.« »Ich werde mein Bestes tun.« »Nachher versuchen Sie ein Bombenattentat auf die Regierung, lassen sich griechisch-orthodox taufen und wandern aus.« »In Ordnung.« »Und kommen Sie mir nicht unter die Augen, bevor Sie komplett wahnsinnig sind..« »Das wird ganz leicht gehen, Herr Blau.«
Blitzkarriere oder Selbstkritik ist empfehlenswert Nach der Anzahl seiner gedruckten Werke zu urteilen, war Jakob Schreibermann ein arrivierter Autor, denn er hatte nicht weniger als dreizehn Bücher veröffentlicht. Leider wurden sie von den Lesern nicht zur Kenntnis genommen. Die Möglichkeit, daß der eine oder andere aus Versehen in das eine oder andere der dreizehn Bücher hineingelesen hatte, läßt sich zwar nicht gänzlich ausschließen, aber fast keines von ihnen ist jemals gekauft worden. Sie vergilben allesamt in den Lagerräumen. Jakob Schreibermann litt entsetzlich unter diesem offenbar unabänderlichen Schicksal. Er wanderte von Redaktion zu Redaktion, er wartete und ging wieder -61-
weg und kam zurück und wartete aufs neue und kam abermals zurück und fiel auf die Knie und bettelte und flehte und kam nochmals zurück und weinte und wehklagte und kam so oft zurück, bis schließlich alle Zeitungen ein paar lobende Zeilen über sein jeweils jüngstes Werk gebracht hatten. Einmal wurde ihm von einem Literaturredakteur nahegelegt, die kurze Notiz der Einfachheit halber selbst zu schreiben. Jakob wollte den Mann im ersten Impuls ohrfeigen, besann sich jedoch eines Besseren, ging nach Hause und schrieb die erbetene Eigenrezension. Natürlich schrieb er sie nicht unter seinem Namen, sondern unter dem Pseudonym Ingeborg-Maria Sluchowsky. Sie geriet so enthusiastisch, daß sogar Jakob von Begeisterung übermannt wurde und heiße Dankbarkeit für Frau Sluchowsky empfand. Aber das Buch blieb trotzdem liegen. Ab und zu suchte Jakob die Buchhandlung an der Straßenecke auf. »Wie geht mein Buch?« fragte er. »Schlecht«, antwortete der Buchhändler. »Sehr schlecht. Vielleicht zieht's zu den Feiertagen ein wenig an. Aber vorläufig ist nichts los damit. Absolut nichts.« »Wie ist das möglich«, beharrte Jakob. »Wo doch in allen Zeitungen so gute Besprechungen erschienen sind?« Daraufhin zuckte der Buchhändler nur noch die Achseln und sagte: »So ist es nun einmal.« Jakob Schreibermann war der Verzweiflung nahe. Er überlegte, das Verfassen von Büchern überhaupt aufzugeben und sich der Literaturkritik zuzuwenden. Dann entschloß er sich zu einem letzten produktiven Versuch, schrieb einen Roman über einen Soldaten, der die Kasse eines Kibbuz veruntreut hatte, und gab
ihm
den
Titel
»Der
Moosmacher«,
womit
er
sowohl
den
landwirtschaftlichen Hintergrund als auch den Charakter des Helden andeuten wollte. Die Kritik sprach von einem Meilenstein bzw. Höhepunkt bzw. Wahrzeichen der neueren Literatur, und das Buch wurde nicht gekauft. Jakobs Nerven begannen zu versagen. Als er eines Tages im Bus saß und von einem vollbärtigen Fahrgast aufgefordert wurde, seinen Sitzplatz einer älteren -62-
Dame zu überlassen, reagierte er äußerst unwirsch. Das fiele ihm gar nicht ein, sagte er, es hätte ja auch niemand seinen Roman »Der Moosmacher« gekauft, und warum sollte er dann zu den Menschen nett sein. Der Vollbart, der, was Jakob nicht wußte, ein führender Literaturkritiker und obendrein mit der betreffenden Dame verheiratet war, erwiderte nichts, stieg aus, kaufte ein Exemplar des »Moosmachers« und schrieb eine vernichtende Kritik. »Es ist ein erbärmlicher Einfall«, hieß es dort unter anderem, »aus einem Soldaten, einem heldenhaften Verteidiger unseres Vaterlandes, einen Betrüger zu machen. Davon abgesehen, hat Herr Schreibermann keine Ahnung vom Aufbau eines Romans, wie ihm ja überhaupt die Kenntnis aller Regeln und Gepflogenheiten abgeht. Er gehört offenbar zu jener jungen Generation, die nicht einmal soviel Lebensart besitzt, im Bus älteren Damen Platz zu machen. Und von solchen Leuten sollen wir uns etwas erzählen lassen.« Nach der Lektüre dieser Kritik wollte Jakob Schreibermann aus dem Fenster springen. Erst als er auf dem Fensterbrett stand, erkannte er die Zwecklosigkeit seines Vorhabens: Er wohnte ebenerdig. Also setzte er sich hin und schrieb einen 26 Seiten langen Entschuldigungsbrief an den bärtigen Kritiker, flehte ihn an, ihm noch eine letzte Chance zu geben, er würde von jetzt an immer im selben Bus mit ihm fahren und der verehrten Gattin des verehrten Literaturpapstes pausenlos seinen Sitz anbieten, nur möge jener um Himmels willen aufhören, ihn öffentlich zu zerfleischen. Auf dem Weg zum Postamt widerfuhr Jakob ein Wunder. Der Buchhändler an der Ecke teilte ihm mit, daß er bereits vier Exemplare des »Moosmachers« verkauft hätte, und das grenzte nach örtlichen Begriffen an einen Bestseller. Jakob wurde von einem wilden Freudentaumel ergriffen und zerriß den Entschuldigungsbrief an diesen bärtigen Scharlatan. Noch in derselben Woche gab es einen weiteren Angriff auf ihn. Ein anderer führender Kritiker, erbost darüber, daß er den »Moosmacher« nicht als erster verrissen hatte, schrieb eine noch bösere Kritik, bezeichnete den Roman als ödes Geschmiere und den Autor als Schandfleck der Nation, warnte vor den -63-
demoralisierenden Folgen solcher Bücher und gab anschließend der Hoffnung Ausdruck, daß sich für Jakob Schreibermann kein Verleger mehr finden würde. Diesmal dachte Jakob nicht mehr daran, aus dem Fenster zu springen. Hatte ihn doch der Buchhändler an der Ecke informiert, daß der Verkauf des »Moosmachers« um sechs weitere Exemplare angestiegen sei, ein in der Literaturgeschichte einmaliges Ereignis, das eine Wende in der Haltung des lesenden Publikums zu signalisieren schien. Und sein Verleger, dem er zufällig auf der Straße begegnete, beantwortete Jakobs Gruß mit einem freundlichen »Hallo, wie geht's?«. Der Trend hielt an. Wenige Wochen später wurde Jakob Schreibermann, der ebenso bekannte wie umstrittene Autor, spontan zu einer Pressekonferenz als Hauptredner eingeladen. Er nahm die Gelegenheit wahr, sich gründlich mit seinen Kritikern auseinanderzusetzen. Er stehe hinter jedem Wort seines Romans, sagte er, und niemand, auch kein noch so einflußreicher Möchtegern-Fachmann, könne ihn davon abbringen, »daß ein demobilisierter Soldat unter bestimmten Umständen durchaus fähig wäre, eine Kibbuzkasse zu veruntreuen«. Diese kühnen Worte schmückten am nächsten Tag die Titelseiten der Tagespresse und riefen einen Sturm der Entrüstung hervor. Prominente
Persönlichkeiten
wandten
sich
in
Leserbriefen
und
Protestversammlungen gegen den Roman, und Jakob bekam den ersten Vorschuß seines Lebens. In einer stillen Stunde las er sein Werk nochmals und stieß auf einige schlüpfrige Stellen, die er rot anzeichnete und mit der Randbemerkung »Pornographie!« versah. Dann schleuderte er das Exemplar durch ein offenes Fenster in die Wohnung des angesehenen Literaturprofessors K. Levkovitz. Die gewünschten Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Im Kulturteil einer vielgelesenen Wochenzeitschrift erschien ein dreispaltiger Artikel von Levkovitz, der wohl das Schärfste darstellte, was bisher gegen den »Moosmacher« geschrieben worden war: »Welch ein Abgrund sittlichen -64-
Tiefstandes tut sich hier vor uns auf. Da ist, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, von den hebenden Brüsten einer jungen Mulattin< die Rede, die sich >wie zwei Hügel aus Schokolade unter ihrer durchsichtigen Bluse wölbten<, und ähnliches mehr. Mit solchen Mitteln wird auf die niedrigsten Instinkte des Lesers spekuliert. Wer braucht diesen schmierigen Ausfluß einer perversen Phantasie? Es ist ein Skandal, daß so etwas überhaupt gedruckt wird.« Tags darauf bildeten sich vor den Buchhandlungen Schlangen von Käufern, die »das Buch mit den Schokoladehügeln« verlangten. Die Auflage war in wenigen Stunden vergriffen, auf dem schwarzen Markt wurden Höchstpreise für die wenigen noch vorhandenen Exemplare erzielt, und als Schreibermann den Literaturprofessor
in
einem
Zeitungsinterview
als
»alten
impotenten
Ziegenbock« bezeichnete, forderte dieser in einem offenen Brief an den Unterrichtsminister das Verbot des Romans, selbstverständlich erfolglos. Es erschien im Gegenteil eine zweite und kurz darauf eine dritte Auflage. Jakob Schreibermanns Popularität wuchs ebenso wie sein Bankkonto. Er wurde zu einem begehrten Gast auf öffentlichen und privaten Veranstaltungen, zu einem gesuchten Partylöwen und zur Hauptfigur auf der Jahresversammlung des Journalistenverbandes, wo er sich durch höhnische Zwischenrufe bemerkbar machte und in einer kurzen Wortmeldung behauptete, daß die Literatur im vergangenen
Jahr
außer
dem
»Moosmacher«
nichts
Nennenswertes
hervorgebracht hätte. Ein Teil der Presse wandte sich heftig gegen diese Anmaßung, ein anderer Teil schlug sich auf die Seite des Autors und schien recht zu behalten. Schreibermann wurde mit einem der begehrtesten Literaturpreise
des
Landes,
dem
der
erwürdigen
Grinbotter-Stiftung,
ausgezeichnet. Bald nach der feierlichen Preisverleihung brachte ein vielgelesenes Boulevardblatt einen Artikel von Ingeborg-Maria Sluchowsky, der in der rüdesten Weise über die Preisrichter und den Autor herfiel und von unaussprechlichen Beschimpfungen und persönlichen Beleidigungen strotzte. Kurz und gut, dies kam einer totalen Vernichtung »dieses frivolen Mistes« -65-
gleich. Mittlerweile liegt der »Moosmacher« in der sechzehnten Auflage vor, und der Kampf der Meinungen wogt immer noch hin und her. Jakob Schreibermann wird, wenn die Presse nicht bald aufhört, ihn zu beschimpfen, über kurz oder lang als einer der bedeutendsten Schriftsteller seiner Generation gelten.
Die Macht der Presse Oder Metamorphose eines Interviews Das Interview, wie es stattfand »Schalom, Herr Walter Ginseng. Entschuldigen Sie, mein Name ist Ben. Man hat mich von der Redaktion hergeschickt. Zu Ihnen. Das heißt für ein Interview.« »Nehmen Sie Platz, mein Junge. Ich stehe zur Verfügung.« »Keine schlechte Bude, die Sie da haben. Große Klasse. Mein Ehrenwort. Unterkellert?« »Soviel ich weiß, ja.« »Und mit Vorgarten. Solche Hütten sind sauteuer, nicht wahr?« »Allerdings.« »Ja, also. Wie gesagt. Ich soll Sie über den historischen Roman interviewen, den Sie geschrieben haben. Sie haben ihn doch geschrieben, nicht wahr?« »Ich habe das Werk soeben fertiggestellt.« »Großartig. Also Sie sind fertig damit. Wie soll ich es interpretieren?« »Du bist aus Staub.« »Darf ich Sie auch duzen?« »Das ist der Titel meines neuen Buchs.« »Ach so. Wird bestimmt ein Bombenerfolg. Wie alle Ihre Bücher. Sie schreiben ja lauter Bombenerfolge.« -66-
»Ich tue mein Bestes. Ob es mir glückt, haben die Leser zu beurteilen.« »Goldene Worte. Und warum, Herr Walter Ginseng, haben Sie diesen Staub, also diesen Roman oder was es ist, ich meine, warum haben Sie das Buch geschrieben und noch dazu gerade jetzt?« »Bitte drücken Sie sich etwas präziser aus, mein Junge.« »Okay. Mir kann’s recht sein. Macht keinen Unterschied. Was ich wissen will, wovon handelt das Zeug?« »Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie das Leitmotiv meiner jüngsten Schöpfung kennenlernen.« »Die Story, ganz richtig. Hab ich ja gesagt.« »Vielleicht sollten Sie sich Notizen machen.« »Brauch ich nicht. Ich behalt's im Kopf. Alles. Auch die Story. Was ist die Story?« »Mein
Roman
läßt
ein
Panorama
menschlicher
Schwächen
und
Leidenschaften entstehen. Er spielt im Zweiten Weltkrieg. Sein Held ist ein junger Feldwebel der Tschechischen Brigade. Die kleine Tochter des Bürgermeisters einer kleinen süditalienischen Stadt verliebt sich in ihn, und er träumt vom Frieden ...« »Wenn Sie Feldwebel sagen, da kommen doch bestimmt auch ein paar erstklassige Keilereien vor, nicht?« »Wie bitte?« »Keilereien. Ich meine Schießereien.« »Nun ja, ich beschreibe auch einige Kampfhandlungen, aber mehr nebenbei. In der Hauptsache geht es um den inneren Konflikt, den der grausame Krieg in der Seele des Soldaten auslöst.« »Was heißt das, Soldaten? Wessen Soldat ist er?« »Der Soldat des Romans.« »Das sollten Sie deutlich sagen. Also was ist los mit dem Kerl?« »In seiner Brust tobt ein Kampf zwischen seiner Lernbegierde und den Gefühlen gegen die Unmenschlichkeit seiner charismatischen Befehlshaber.« -67-
»Wer gewinnt? Und was ist das für ein Bild?« »Welches Bild?« »Das an der Wand dort drüben.« »Das ist kein Bild, mein Freund. Das ist mein Diplom.« »Diplom. Sehr gut. Ein Diplom für was? Macht nichts. Also Ihr Buch ist eigentlich eine Sexgeschichte.« »Nicht unbedingt. Die Kriegsszenerie ist authentisch, aber die Folge als solche ist eine thematische Variation der >Antigone< von Sophokles.« »Wovon?« »Sophokles, der griechische Tragödienschreiber.« »Kenn ich. Da haben Sie ganz recht. Aber Sie sagten vorhin etwas von anti über den Krieg.« »Antigone war die Tochter von König Ödipus.« »Natürlich. Das ist der mit dem Psychodings. Nicht schlecht. Also das ist Ihre Story, sagen Sie.« »Die Handlung selbst hat notwendigerweise lokalen Charakter. Aber ihre Botschaft ist universell. Eine Art Bestandsaufnahme unseres Zeitalters. Sollten Sie sich nicht doch ein paar Notizen machen, Ben?« »Wozu? Ich merk mir alles. Machen Sie sich keine Sorgen. Was noch, ja richtig: Sind Sie außer sich vor Freude?« »Worüber?« »Wenn einer etwas fertig hat, muß er doch außer sich vor Freude sein. Sie zerspringen vor Glück, was?« »Hm. Vielleicht.« Das Interview, wie es erschien »Ich zerspringe vor Glück!« sagt der Autor des Romans »Der Staubsauger« unserem Mitarbeiter Benjamin Zwanziger In einem Exklusivinterview -68-
Ich sitze dem Dichter in seinem geschmackvoll möblierten Studio gegenüber und betrachte sein scharfgeschnittenes Profil, die stämmige Gestalt, die schmalen, nervösen Finger. Durch das Fenster hat man einen guten Blick auf die umliegenden Häuser. Es ist später Nachmittag. Walter Ginseng: »Wie gefällt Ihnen mein Haus, Herr Zwanziger?« Ich: »Nicht schlecht, mein Freund.« W. G.: »Es hat einen eigenen Vorgarten, viereinhalb Zimmer und einen Whirlpool. Solche unterkellerten Häuser sind sauteuer.« Ich: »Darf ich nach dem Leitmotiv Ihres Romans fragen?« W. G.: »Aber gerne. Bitte sehr. Also die Story. Da ist dieser Major der Polnischen Armee, denn die Geschichte spielt im Ausland, an einem Sonntag, und es gibt eine Menge Schießereien und sonstige Zusammenstöße, kurz und gut, ein fürchterliches Durcheinander, und diese bildschöne Tochter in der italienischen Stadt, eine Figur, also klassisch, wie ein Filmstar, und die hat ein Verhältnis mit einem Studenten, der immer vor sich hinträumt, ein Tagträumer sozusagen, ein Traumtänzer ...« Ich: »Ein Feldwebel, nicht wahr?« W. G.: »Richtig. Zu Hause geht er noch in die Schule und studiert alles mögliche, aber jetzt, als Rekrut, gerät er in einen Konflikt, also in einen Rivalitätskampf um dieses kleine Luder. Sie heißt Shula...« Ich: »Einen Augenblick, lieber Freund, das Hingt wie eine griechische Tragödie.« W. G.: »Stimmt. Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Herr Zwanziger. Und diese kleine Schlampe, wie heißt sie gleich, ist gegen den Krieg und ist verrückt nach...« Ich: »Ödipus?« W. G.: »Genau. Ich habe das so konstruiert, um den Komplex direkt aus der Tragödie von Microsoft herauszuarbeiten. Vielleicht hätte ich Ihnen sagen sollen, daß unser Soldat ein wenig zum anderen Geschlecht tendiert, Sie verstehen schon. Er ist verknallt in seinen Befehlshaber, einen feschen -69-
Oberleutnant.« Ich: »Könnte man sagen, daß es sich um eine Bilanz der Friedensbewegung handelt?« W. G.: »Richtig! Aber wie zum Teufel errieten Sie ...« Ich: »Weiter!« W. G.: »Na schön, ich pflege nicht um den heißen Brei herumzureden. Dort drüben an der Wand hängt ein echtes Diplom von mir.« Ich: »Großartig.« W. G.: »Diplome bekommt man nicht nur so, das wissen Sie ja sicherlich, Herr Zwanziger.« Ich: »Gewiß Walter. Noch eine letzte Frage: Bist du froh, daß du mit dem >Staubsauger< fertig geworden bist?« W. G.: »Froh? Ich zerspringe vor Glück.«
Der Erfolgsmesser -70-
oder Hellsehen in Sachen Kultur An jenem trüben, regnerischen Abend saßen Jossele und ich auf unserem Beobachtungsposten im Cafe, als besagter Tolaat Shani uns schon wieder auf die Nerven ging. Er bahnte sich den Weg zu unserem Tisch und begann seine Nägel zu beißen. »Ich bin fürchterlich nervös«, sagte er. »Das erweiterte Lektorat meines Verlegers berät gerade über das Schicksal meines neuen Buches.« Wir versicherten ihn unserer aufrichtigen Anteilnahme. Die Situation war ja auch wirklich spannend. Wurde sein Buch abgelehnt, dann hatte er’s hinter sich. Wurde es aber angenommen, dann ließ sich die Möglichkeit, daß es infolge eines technischen Versehens auch erschiene, nicht gänzlich ausschließen. Wir versuchten den hartgeprüften Autor zu beruhigen, aber er hörte uns kaum zu, brach von Zeit zu Zeit in ein hysterisches Kichern aus und drohte zu emigrieren. Plötzlich geschah etwas Merkwürdiges. Ein großer, hagerer Mensch kam am Tisch vorbei, grüßte Jossele mit einem freundlichen Winken seiner Hand, hielt direkt vor Tolaat Shani inne, legte den Kopf schräg und schien in die Luft zu schnuppern, wobei seine Nasenflügel sich blähten und sein Gesicht den Ausdruck konzentriertester Nachdenklichkeit annahm. Das Ganze dauerte höchstens eine Sekunde. Dann entspannte sich der Mann, stach mit spitzem Finger nach Tolaat Shani und ließ ein eiskaltes »Hallo« hören. Gleich darauf verschluckte ihn die dichte Rauchwolke, die im Kaffeehaus lag. »Schade, Tolaat Shani«, sagte Jossele mit belegter Stimme. »Das Lektorat hat Ihr Werk abgelehnt. Ich fürchte einstimmig.« Der Angesprochene begann zu zittern und hielt sich mit beiden Händen am Tischrand fest. »Aber wieso ... woher wissen Sie das ...« »Vom Erfolgsmesser«, Jossele nickte in die Richtung, in die sich der Hagere entfernt hatte. »Menasche weiß es ganz genau.« -71-
Wie aus Josseles Erklärungen hervorging, besaß Menasche eine schlechthin geniale
Fähigkeit,
die
Erfolgsaussichten
seiner
Mitmenschen
richtig
einzuschätzen. »Menasche gibt sich immer nur mit erfolgreichen Autoren ab. Man könnte auch sagen: Ein Autor, mit dem sich Menasche abgibt, hat Erfolg. Und sowie der Erfolg ihn verläßt, verläßt ihn auch Menasche«, so Jossele. »Menasche ist die perfekte Ein-Mann-Marktforschung. Aus der Art, wie er jemanden grüßt, kann man bis auf drei Dezimalstellen berechnen, wieviel der Betreffende im Augenblick wert ist.« Jetzt fielen auch mir ein paar Bestätigungen dafür ein. Natürlich. Vor ein paar Jahren hatte Menasche niemals versäumt, mir wohlwollend auf die Schulter zu klopfen, wenn er mich sah. Einmal geschah das, kurz nachdem man mich eingeladen hatte, mein neues Stück am Broadway zu inszenieren - nein, es war einen Tag, bevor die Einladung eintraf. Damals hatte Menasche sich sogar zu mir gesetzt und sich nach meiner Gesundheit erkundigt. »Sein Nervensystem«, erläuterte Jossele, »arbeitet wie ein Seismograph und registriert die kleinsten sozialen Beben. Nichts entgeht ihm, kein noch so geringes Anzeichen eines Erfolgs oder Mißerfolgs. Und danach richtet er sich. Ein lautes, herzliches >Grüß Gott< ist das sicherste Zeichen, daß der Begrüßte auf der Erfolgsleiter ganz oben steht oder demnächst ganz oben stehen wird. Bei Leuten mit unsicherem Erfolgsstatus beschränkt er sich auf ein mehr oder weniger gleichgültiges Winken. Und wenn ein Manager in Konkurs geht oder ein Schauspieler schlechte Kritiken bekommt, wird Menasches >Hallo< so leise, daß man die Lautverstärker eines Flughafens einschalten müßte, um es zu hören. Das Unglaubliche aber ist, daß der Erfolgsmesser sich nicht unbedingt auf den gerade gegebenen Zustand einstellt. Manchmal umarmt er einen Dramatiker, der in der letzten Nummer des >Theatermagazins< grauenhaft mißhandelt wurde. Dann hat sein Radargehirn einen Kassenschlager vorausgespürt, von dem noch niemand etwas ahnt. Oder einen Literaturpreis.
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Menasche ist imstande, den Erfolgskoeffizienten eines Menschen auf Monate hinaus zu berechnen. Verstehst du das?« »Nein«, gestand ich. »Ich werde es dir an dem Beispiel erklären, dessen Zeugen wir soeben waren. Menasche wirft den ersten Blick auf Tolaat Shani, und seine Meßapparatur setzt sich sofort in Bewegung. >Ein Dichter mit schwankendem Status<, signalisiert die Empfangsantenne. >Gut für Standardbegrüßung Nr. 8, mittelherzlich: Wie gehts, mein Freund. Leichte Verlangsamung des Schrittes, denn der Kritiker Birnbaum hat vor kurzem Tolaats Gedichte lobend erwähnt.< So weit ist alles klar. Aber beim Näherkommen erinnert sich Menasche, daß Kunstetter der Große schon seit zwei Wochen mit Tolaat Shani nicht mehr am selben Tisch sitzt. Das >mein Freund< fällt weg. Andererseits hat Tolaat Shani ein neues Stück im Nationaltheater liegen. Das ist ein freundliches Lächeln wert, unter Umständen sogar ein lässiges Winken beim >Wie geht's<. Wenn Menasches Berechnungen bis hierher gediehen sind, leuchtet auf seinem Radarschirm plötzlich die bevorstehende Ablehnung seines neuen Buches durch das Lektorat auf. Folglich wird in der letzten Sekunde das freundliche Lächeln abgestellt, das >Wie geht's< durch >Hallo< ersetzt und das Winken mit der Hand durch ein Stechen mit dem Zeigefinger. Dieses Stechen war es, aus dem ich auf die einstimmige und endgültige Ablehnung des Buches geschlossen habe. Andernfalls hätte Menasche mindestens zwei Finger eingesetzt und nicht gestochen.« In diesem Augenblick betrat ein Verlagsmitarbeiter das Cafe und kam auf Tolaat Shani zu. »Leider«, sagte er. »Ihr neues Buch wurde abgelehnt. Alle waren dagegen.« Gegen Mitternacht trugen wir das, was von Tolaat Shani noch übrig war, zu einem Taxi. Plötzlich bog Menasche um die Ecke. Er blieb vor Jossele stehen, kniff ihn in die Backe und fragte mit breitem, freundlichem Grinsen: »Wo steckst du denn die ganze Zeit, mein Alter?«
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Ich zählte mit. Das Grinsen dauerte 1-2-3-4 volle Sekunden. Jossele begann zu zittern, riß einem gerade vorbeikommenden Zeitungsverkäufer die Morgenausgabe aus der Hand, sah unter »Gestrige Lotterieziehung« nach und stieß einen lauten Schrei aus: Er hatte 4000 Pfund gewonnen. »Eines verstehe ich nicht ganz«, brummte er, nachdem er sich vergewissert hatte, daß er tatsächlich das Gewinnlos besaß. »Warum hat mich Menasche nicht geküßt? Bei mehr als 3000 Pfund küßt er sonst immer.« Dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn: »Richtig! Ich habe ja noch 1600 Pfund Bankschulden ...« Wir machten uns auf den Heimweg. Sicherheitshalber wandte ich mich zu Menasche um und schmetterte ihm ein fröhliches »Gute Nacht« zu. Menasche sah durch mich hindurch, als wäre ich Luft. Was ist geschehen? Um Himmels willen, was ist geschehen? Dieses Buch ist vorgestern erschienen ...
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Titelrolle oder Einer brach durch »Dieser Jankel bringt mich noch ins Grab«, fluchte Herr Grienbutter, Chefredakteur des »Täglichen Freiheitskämpfers«, lautlos in sich hinein. »Hundertmal hab ich ihm schon gesagt, daß bei verschiedenen Nachrichten auch die Titel verschieden gesetzt werden müssen, besonders wenn sie auf dieselbe Seite kommen. Und was macht Jankel? Er setzt die Titel >Gewerkschaft kündigt Neuwahlen an< und >USA von Teuerungswelle bedroht< in gleicher Größe und in gleicher Type nebeneinander. Es ist zum Verrücktwerden.« Herr Grienbutter riß ein Blatt Papier an sich, um eine eilige Notiz an Jankel zu schreiben, wobei er ihn, wie immer in Krisenfällen, nicht mit seinem Spitznamen anredete, sondern mit der korrekten Namensform: »Jakob Titel verschieden USA, Gewerkschaft.« Und um sicherzugehen, daß Jakob die Botschaft auch wirklich bemerken und berücksichtigen würde, rahmte Herr Grienbutter sie mit dicken, schwarzen Strichen seines Filzschreibers ein. Dann warf er das Blatt in den Ausgangskorb für die Setzerei und eilte aus dem Haus. Er war bei Spiegels zum Abendessen eingeladen und schon eine Viertelstunde verspätet. Als Herr Grienbutter am nächsten Morgen, wie üblich noch im Bett, die Zeitung aufschlug, sank er, fast vom Schlag gerührt, in die Kissen zurück. Von der ersten Seite des »Freiheitskämpfers« glotzte ihm die folgende viertelseitige Todesanzeige entgegen: JAKOB TITEL ist in USA verschieden Der Cewerkschaftsbund
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Zornbebend stürzte Herr Grienbutter in die Redaktion, wutschnaubend fiel er über Jankel her. Jankel hörte sich die Schimpftirade ruhig an und verwies auf Grienbutters Arbeitsnotiz. Der schwer getroffene Chefredakteur suchte das Büro des Herausgebers auf, um mit ihm zu besprechen, wie man sich bei den Lesern des »Freiheitskämpfers« für den skandalösen Fehler entschuldigen könnte. Zu seiner Überraschung empfing ihn der Herausgeber in strahlender Laune. Er hatte soeben von der Anzeigenabteilung erfahren, daß bereits zwölf großformatige Traueranzeigen aufgegeben worden sind, die das unerwartete Hinscheiden Jakob Titels beklagten. Herr Grienbutter wollte kein Spielverderber sein und empfahl sich schleunigst. Am nächsten Tag wimmelte es im »Freiheitskämpfer« von schwarzumrandeten Inseraten. Da hieß es etwa: »Gramgebeugt geben wir den allzu frühen Tod unseres teuren Jakob Titel bekannt. Die nationale Konsumgenossenschaft GmbH.« Oder: »Leitung und Belegschaft der Metallröhrenwerke Standa Pe. betrauern das tragische Ableben Jakob Titels, des unerschrockenen Kämpfers für unsere Sache.« Aber das war alles nichts im Vergleich mit der folgenden Ausgabe, die um zwei Seiten erweitert werden mußte, um die Zahl der Trauerkundgebungen zu bewältigen. Allein die »Landwirtschaftliche Kooperative Ost« nahm eine halbe Seite in Anspruch: »Der Verlust unseres teuren Jakob >Jankele< Titel reißt eine unersetzliche Lücke in unsere Reihe. Ehre seinem Andenken.« Die Beilage brachte ferner das aufrichtige Mitgefühl der Malervereine zum Ausdruck: »Wir teilen euren Schmerz über den Verlust dieses besten aller Kunstfreunde« und enthielt überdies einen peinlichen Irrtum: »Den Titels alle guten Wünsche zur Geburt des kleinen Jakob. Familie Billitzer«. Auch die anderen Morgenblätter brachten entsprechende Anzeigen, ohne jedoch mit dem »Freiheitskämpfer« konkurrieren zu können. Der Chef des hochangesehenen »Neuen Vaterlands«, verärgert darüber, daß sein Blatt den Tod einer so anerkannten Persönlichkeit nicht als erstes gemeldet hatte, überließ -76-
den Nachruf seinem Sportredakteur. Dieser erfahrene Reporter durchstöberte ebenso gründlich wie erfolglos das Archiv, stellte alle möglichen fruchtlosen Recherchen an und behalf sich schließlich mit einem Allround-Nachruf, der erfahrungsgemäß immer paßt: »Jakob Jankele Titel, der zur Generation der >alten Garde< unseres Landes gehörte, verstarb plötzlich während eines Besuchs in den Vereinigten Staaten und wurde auf dem örtlichen Friedhof zur letzten Ruhe gebettet. Titel, ein Kämpfer der ersten Stunde, hatte sich praktisch in sämtlichen Sparten der Gewerkschaftskultur betätigt. Schon auf der jüdischen Hochschule in Minsk (Weißrußland), die er mit vorzüglichem Erfolg absolvierte, galt er als einer der führenden Köpfe der Studentenschaft und rief eine literarische Arbeitsgruppe ins Leben. Ungefähr um die Jahrhundertwende kam Jankele mit seiner Familie ins Land, ging nach Galiläa und wurde einer der Gründer der lokalen Tageszeitung. Später bekleidete er verschiedene Funktionen im Staatsdienst, sowohl daheim wie im Ausland. Nach einer erfolgreichen öffentlichen Laufbahn zog er sich ins Privatleben zurück und widmete sich in seiner Trilogie den internen Problemen der
Arbeiterorganisation.
Er
gehörte
bis
zu
seinem
Ableben
der
Verwaltungsbehörde seines Wohnortes an.« Bekanntlich ehrt das Vaterland seine bedeutenden Männer immer erst, wenn sie tot sind. So auch hier. Auf einer Gedenk-Kundgebung zu Ehren Jakob Titels nannte ihn die Unterrichtsministerin »einen tatkräftigen Träumer, einen Bahnbrecher unseres Weges, einen Mann aus dem Volke und für das Volk«. Als der Männerchor zum Abschluß der Feier Verdis Requiem anstimmte, war unterdrücktes Schluchzen zu hören. Das bald darauf fertiggestellte Gebäude der südlichen Gewerkschaftszentrale erhielt den Namen »Jakob-Titel-Haus«. Da sich trotz längerer Nachforschungen kein lebender Angehöriger Titels gefunden hatte, übernahm der Bürgermeister anstelle der Witwe den symbolischen Schlüssel. Unter dem Portrait des Verstorbenen in der großen Eingangshalle häuften sich die Kränze. Das Bildnis -77-
selbst war ein Werk des berühmten Malers Maximilian Bar Honig. Als Vorlage hatte ihm ein 35 Jahre altes Gruppenfoto aus den Archiven des Gewerkschaftsbundes gedient, auf dem Jakob Titel, halb verdeckt in der letzten Reihe stehend, von einigen Veteranen der Bewegung identifiziert worden war. Besonders eindrucksvoll fanden zumal die älteren Betrachter das von Bar Honig täuschend ähnlich getroffene Lächeln »unseres Jankele«. Mit der Herausgabe der »Gesammelten Schriften Jakob Titels« wurde ein ambitiöser junger Verlag beauftragt, dessen Lektoren das Material in mühsamer Kleinarbeit aus alten, vergilbten Zeitungsbänden herausklaubten. Die Beiträge waren zwar anonym erschienen, aber der persönliche Stil des Verfassers sprach unverwechselbar aus jeder Zeile. Dann allerdings geschah etwas Unvorhergesehenes. Als die Straße, in der sich die Redaktion des »Freiheitskämpfers« befand, auf allgemeinen Wunsch in »Jakob-Titel-Boulevard« umbenannt wurde, brach Chefredakteur Grienbutter zusammen und klärte in einem Leitartikel die Entstehung der Titel-Legende auf. Ein Sturm des Protestes erhob sich gegen diesen unverschämten historischen Fälschungsversuch.
Bei
der
feierlichen
Verleihung
des
jährlichen
Literaturpreises durch die Überläufer des Schriftstellerverbandes für das »Große Titel-Karussel« erklärte der Sprecher des Kultusministeriums unter anderem: »Jakob Titel ist schon zu Lebzeiten diffamiert worden, und gewisse Taschenspieler der öffentlichen Meinung diffamieren ihn auch nach seinem Tod. Wir aber, wie alle ehrlichen Menschen, stehen zu Jakob Titel.« Grienbutter, der unter den Gästen saß, ließ sich durch diese persönliche Attacke zu einem Zwischenruf hinreißen. Es sei lächerlich, rief er, das Geschöpf eines Druckfehlers zu feiern. Daraufhin wurde er von zwei Ordnern mit Gewalt aus dem Saal entfernt und in stationäre Pflege gebracht, wo er jedoch alsbald in Trübsinn verfiel, weil auch das Krankenhaus nach Jakob Titel benannt war. Nachdem er eines Nachts einen Tobsuchtsanfall erlitten hatte, mußte man ihn in eine Nervenheilanstalt einliefern. -78-
Die dankbare Gesellschaft hatte jedoch Grienbutters historische Mission nicht vergessen. In Würdigung seiner großen journalistischen Verdienste erhielt der in psychiatrischer Betreuung befindliche Exredakteur im folgenden Jahr den angesehenen »Jakob-Titel-Preis für Publizistik«.
Einer zuviel oder Medienfortschritt in der Kampfkunst Vor 500 Jahren Die Hintergründe des Konflikts sind im Augenblick nicht von Bedeutung. Überliefert wird jedenfalls, daß der Zorn des Schwarzen Ritters von Glasgow gegen Ritter Löwenherz entbrannt war, hatte doch dieser am Königshof eine unbedachte Äußerung im Zusammenhang mit einem gewissen Sonett fallen lassen, das der Ritter aus Glasgow der Herzogin von Schleswig-Holstein vor die holden Füße gelegt hatte. »Sein Schicksal ist besiegelt«, stieß der Schwarze Ritter zwischen den Zähnen hervor und sandte zwei ihm ergebene Ritter mit seinem Fehdehandschuh und der folgenden Mitteilung zu Löwenherz: »Heute, Mittemacht, auf der Insel St. Margareta, vor der Klostermauer.« Löwenherz antwortete kurz und bündig: »Bei allen Heiligen, ich werde zur Stelle sein.« Es war schrecklich. -79-
Bis zum Sonnenaufgang lieferten sich die beiden Ritter in ihren schweren Rüstungen einen erbitterten Kampf. Drei feurige Pferde waren tot unter ihnen zusammengebrochen,
die
Lanzen
zerborsten
in
ihren
Händen
wie
Kinderspielzeug, doch das Duell war noch immer nicht entschieden. Blut strömte wie Wasser aus ihren Wunden, doch die beiden tapferen Kämpfer hielten noch immer ihre Schwerter mit eisernem Griff umfaßt. Mit letzter Kraft schließlich gelang es dem Schwarzen Ritter, seinen Rivalen mit einem donnernden Schlag zu Boden zu werfen. Dann hob er sein Schwert und trennte Löwenherz mit einem gezielten Hieb den Kopf vom Körper. Heute Einer der Jungs in der Redaktion wies den Redakteur Dr. Schriebler darauf hin, daß der Chef des Konkurrenzblattes Dr. Erich Wurm angeblich über ihn. Schriebler, habe verlauten lassen, aus ihm werde niemals ein brauchbarer Journalist werden. »Das wundert mich aber«, bemerkte Dr. Schriebler, »Erich ist sonst doch eigentlich ein recht feiner Kerl. Schad nur, daß seine Frau angeblich herausgefunden hat, daß der Kerl schwul ist. Morgen werden wir eine kleine Meldung darüber in die Zeitung setzen.«
Kostenlose Reklame oder Witzigkeit kennt kein Pardon Der Chefredakteur des beliebten Wochenmagazins »Die glückliche Familie« bestellte den Leiter der Literatur- und Sportredaktion zu sich. »Ziegler«, sagte er, »unser beliebtes Wochenmagazin wird immer langweiliger. Wenn das so weitergeht, verkauft man es demnächst in den Apotheken als Schlafmittel. Haben Sie einen zwanzig Zeilen langen Witz auf Lager?«
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»Jawohl«, antwortete Ziegler und brach in einen vorsorglichen Lachkrampf aus. »Zufällig habe ich gestern abend eine zum Brüllen komische Geschichte gehört. Der Buchhalter Zungspitz kommt zum Chef und sagt: >Chef, ich möchte zum Begräbnis meiner Schwiegermutter gehen.< Sagt der Chef: >Wissen Sie was, Zungspitz? Ich auch.< Sie verstehen. Auch der Chef möchte seine Schwiegermutter gerne begraben. Köstlich, was?« »Ein alter, idiotischer Witz. Außerdem haben wir den schon mindestens zweimal gebracht. Allerdings man könnte ihn vielleicht einer bekannten Persönlichkeit zuschreiben. Einem Künstler, einem Schauspieler, einem Schriftsteller oder etwas Ähnliches. Halt. Da fällt mir ein, daß Tolaat Shani erst vorgestern mit seinem Stück erbärmlich durchgefallen ist ...« »Aber der wird sich doch argem, wenn wir ihm jetzt diese Geschichte anhängen.« »Ärgern? Wir bringen ja seinen Namen ins Gespräch. Wir machen Reklame für ihn. Sie als Literaturredakteur sollten doch wissen, wie eitel dieses Literatenpack ist.« In der nächsten Ausgabe des beliebten Wochenmagazins »Die glückliche Familie« stand in der beliebten Spalte »Leute, Launen, Lacher« folgende Geschichte: »Tolaat Shani, der vielversprechende Dramatiker, stellte unter Beweis, daß sein Humor auch durch die katastrophale Premiere seines jüngsten Bühnenwerks nicht beeinträchtigt wurde. Als er am nächsten Tag, wie es seine alte schriftstellerische Gewohnheit ist, in der Halle des Parlamentsgebäudes auf Neuigkeiten wartete, trat der Fahrer seines draußen wartenden Autos auf ihn zu: >Herr Shani, ich möchte zum Begräbnis meiner Schwiegermutter gehen. < Prompt erfolgte die schlagfertige Antwort: >Wissen Sie was. Zungspitz? Ich auch.< Die Umstehenden, darunter einige prominente Politiker der Koalition, quittierten die geistreiche Bemerkung mit lautem, anhaltendem Gelächter.«
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Der Schriftsteller Tolaat Shani gehörte nicht zu den ständigen Lesern des beliebten Wochenmagazins »Die glückliche Familie«. Infolgedessen blieb ihm tagelang unklar, warum seine Bekannten auf der Straße einen weiten Bogen um ihn machten. Ein Brief seiner Schwiegermutter, mit russischen Schmähungen gespickt, klärte ihn auf. »Du häßliche Kröte«, hieß es da unter anderem, »daß Du keinen Respekt vor der Mutter Deines Eheweibs hast, wußte ich sowieso. Aber daß Du mich auch noch in aller Öffentlichkeit lächerlich machst, das hätte ich nicht einmal Dir zugetraut, Du Mißgeburt.« Man kann sich denken, daß Tolaat Shani alles daransetzte, um den blamablen Eindruck seines dummen Witzes, der in Wahrheit gar nicht der seine war, zu verwischen. In seinem Stammcafe ging er von einem Tisch zum ändern, schwor Stein und Bein, daß er den zitierten Ausspruch niemals getan hätte, daß ihm nichts ferner läge, als in der Parlamentshalle herumzulungern, daß er keinen Wagen besäße, geschweige denn einen Fahrer, und daß er keinen Menschen namens Zungspitz kenne. Es half nichts. Niemand glaubte ihm. Wo es Rauch gibt, muß es bekanntlich auch Feuer geben. An der Geschichte wird schon etwas dran sein. Sonst hätte ein so seriöses Wochenmagazin wie »Die glückliche Familie« sie nicht gedruckt. Besonders erzürnt war man über das Raffinement, mit dem Tolaat Shani, auf dessen Betreiben der Abdruck zweifellos zurückging, prominente Politiker in seine läppische Geschichte einbezogen hatte. Und womöglich noch größerer Zorn richtete sich gegen den Chefredakteur, der – sei’s aus Schwäche, sei's aus Korruption, der unverschämten Reklamesucht dieses Schreiberlings Vorschub geleistet hatte. Tolaat Shani tat, was Ehre und Redlichkeit ihm zu tun aufgab: Er suchte einen Rechtsanwalt auf. »Lesen Sie«, sagte er und übergab Dr. Shay-Sheinberger die betreffende Ausgabe des Wochenmagazins »Die glückliche Familie«. Der Rechtsanwalt las und brach in dröhnendes Gelächter aus. »Ausgezeichnet! Ich wußte gar nicht, daß Sie so witzig sind.« -82-
»Herr«, antwortete Tolaat Shani, ein im übrigen eher ernsthafter und trockener Mann, »ich respektiere meine Schwiegermutter und würde sie niemals wissentlich kränken.« »Nicht? Warum machen Sie dann so blöde Witze.« Nachdem Tolaat Shani seinem Anwalt die Situation erklärt hatte, riet dieser ihm zu einer Verleumdungsklage, gab jedoch zu bedenken, daß in solchen Prozessen der Kläger am Ende meistens der Verlierer sei, weil die Richter in der Zwischenzeit vergessen, worum es sich überhaupt handelt. Deshalb empfahl Dr. ShaySheinberger, an den Chefredakteur der »Glücklichen Familie« einen scharfen Brief zu richten: »Mit Empörung las ich in Ihrem Blatt die alte, abgestandene Anekdote, die Sie ohne mein Wissen und ohne meine Erlaubnis mir zugeschrieben haben. Ich fordere Sie hiermit zu einer unverzüglichen moralischen Wiedergutmachung auf, und zwar sowohl für mich wie für meine Schwiegermutter, die sich bester Gesundheit erfreut und zu der wir beide, meine Frau und ich, im denkbar harmonischsten Familienverhältnis stehen. Ich fordere Sie ferner auf, in der nächsten Ausgabe Ihres Blattes eine entsprechende Entschuldigung zu veröffentlichen. Andernfalls sehe ich mich genötigt ...«
»Da haben Sie ja etwas Schönes angerichtet. Ziegler«, begann der Chefredakteur mit vorwurfsvoller Stimme. »Tolaat Shani verlangt eine Entschuldigung von mir.« Ziegler begann zu stottern. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß er sich argem wird.« »Ärgern? Was reden Sie?« Die jahrzehntelange Berufserfahrung des Chefredakteurs kam vollends zum Durchbruch. »Er ist außer sich vor Freude, der schäbige Publicityjäger. Merken Sie denn nicht, daß es ihm auf nichts anderes ankommt? Aber so sind diese Literaten. Man verschafft ihnen ein wenig Reklame, schon kommen sie gerannt und wollen noch mehr. Ganz gleich, was man über sie schreibt und wie man schreibt. Hauptsache, ihr Name wird -83-
genannt.« »Diese verlogene Bande«, bestätigte Ziegler. »Ganz richtig. Aber so sind die nun einmal. Ich werde also eine Art Entschuldigung schreiben, am besten einen fingierten Brief im Namen Tolaat Shanis. Den hätte er eigentlich selbst schreiben können, der Patzer. Na schön. Bringen Sie mir das >Schatzkästlein des Humors 1929<, Ziegler.«
In einer dunklen Ecke seines Stammcafes saß Tolaat Shani und hielt die jüngste Ausgabe der »Glücklichen Familie« in Händen. Dieselben zitterten. Denn er las folgendes: »Als treuer Leser Ihres ausgezeichneten Magazins möchte ich Sie wissen lassen, mit welchem Vergnügen ich die köstliche Anekdote über meine Schwiegermutter gelesen habe. Herzlichen Glückwunsch. Aus Gründen der Fairneß muß ich mich allerdings bei Ihnen entschuldigen. Ich bin leider nicht der Urheber der außergewöhnlich witzigen Bemerkung, die Sie mir zuschreiben. Wie sollte ich auch im Zusammenhang mit meiner Schwiegermutter an ein Begräbnis denken? Sie ist, Gottlob, gesund wie ein Pferd. Außerdem kocht sie mir immer meine Lieblingsspeisen. In diesem Zusammenhang darf ich Ihnen, hochverehrter Herr Chefredakteur, eine kleine Geschichte erzählen, die sich vor kurzem bei uns ereignet hat. In einer Tierhandlung, an der ich zufällig vorbeikam, erregte ein großer, wunderschöner Papagei meine Aufmerksamkeit. Nach Auskunft des Ladenbesitzers war er hervorragend abgerichtet und konnte Sätze in sieben Sprachen sprechen. Ich entschloß mich, den kostbaren Vogel zu kaufen, und ließ ihn in unser Haus bringen. Unglücklicherweise erwartete meine Frau zur gleichen Zeit ein Brathuhn, das sie bei unserem Geflügelhändler fürs Abendessen bestellt hatte. Das Verhängnis nahm seinen Lauf, und der Papagei beendete sein Leben im Kochtopf meiner Schwiegermutter. Als ich am Abend den fatalen Irrtum entdeckte, konnte ich mich nicht zurückhalten und rief meiner Schwiegermutter zu: >Was ist dir eingefallen, den Papagei zu braten? Der Vogel hat mich ein -84-
Vermögen gekostet. Er konnte sieben Sprachen sprechen !< >So?< entgegnete meine Schwiegermutter. >Warum hat er dann kein Wort gesagt?< Ich hoffe, daß diese kleine Geschichte Ihren Lesern ein wenig Freude machen wird, und bin in aufrichtiger Verehrung. Ihr ergebener Tolaat Shani«
Das Personal und die Gäste des Kaffeehauses beobachteten fasziniert, wie der verkrachte Dramatiker das beliebte Wochenmagazin auf den Boden schmetterte und mit beiden Füßen darauf herumtrampelten, das Gesicht wutverzerrt, Schaum vor den Lippen. Zuschauer im Cafe, denen die jüngste Ausgabe der »Glücklichen Familie« schon bekannt war, fühlten jedoch keinerlei Mitleid mit dem Wütenden. Sie fanden die Geschichte vom Papagei womöglich noch älter und abgestandener als den ebenso geschmacklosen Schwiegermutterwitz. Wirklich, diesem von Ehrgeiz zerfressenen Möchtegern war kein Mittel zu billig, um für sich Reklame zu machen ... Zu Hause angelangt, entdeckte Tolaat Shani einen Zettel, auf dem seine Frau mitteilte, daß sie zu ihrer Mutti zurückgekehrt sei, weil sie nicht länger mit einem Wahnsinnigen leben wolle. In den Nachbarwohnungen hörte man deutlich die Geräusche der Axthiebe, mit denen Tolaat Shani das Mobiliar seines Heims zertrümmerte. Aber niemand schritt ein. Nach den jüngsten Veröffentlichungen zu schließen, war es um den Geisteszustand des Wohnungsinhabers ohnehin schlecht bestellt, und man mußte vorsichtig sein. Nachdem Tolaat Shani seine Wohnung demoliert hatte, ergriff er ein rostiges Küchenmesser, stürmte zum Redaktionsgebäude der »Glücklichen Familie« und drang brüllend in das Büro des Chefredakteurs ein. »Hund! Bastard! Schurke! So sieht Ihre Entschuldigung aus?« »Meine Entschuldigung?« Der Chefredakteur blieb ruhig sitzen. »Sie belieben -85-
zu scherzen, junger Mann. Ich soll mich für die kostenlose Reklame entschuldigen, um die Sie mich unausgesetzt angebettelt haben? Statt daß Sie mir dankbar sind für die witzsprühende Glosse, die ich aus dem trostlosen Geschreibsel Ihres Briefes gemacht habe?« Die Stimme des Chefredakteurs wurde drohend. »Und tun Sie endlich das Messer weg, sonst fliegen Sie in hohem Bogen raus!« Tolaat
Shani,
der
im
Umgang
mit
Chefredakteuren
beliebter
Wochenmagazine wenig Erfahrung hatte, ließ das Messer fallen und glotzte sein Gegenüber entgeistert an. Erst nach einer Pause konnte er sich zu zaghaftem Widerspruch aufzuraffen. »Mein Brief ... ich habe ... in meinem Brief kein Wort von einem Papagei ...« »Ihr Brief wurde für den Druck ein wenig eingerichtet«, erwiderte der Chefredakteur eiskalt. »Das behalten wir uns bei allen Zuschriften vor. Oder sind wir vielleicht Ihr persönliches Sprachrohr, in dem Sie sich nach Belieben äußern können? Was wollen Sie eigentlich von mir?« »Nur eine Korrektur. Eine ganz kleine Korrektur, ich bitte Sie. Für mich ist das alles kein Spaß. Meine Schwiegermutter spricht nicht mehr mit mir, seit mir meine Frau davongelaufen ist. Ich bin verzweifelt.« Tolaat Shani begann leise zu schluchzen. »Schon gut, schon gut«, brummte der Chefredakteur, ein im Grunde weichherziger
Mensch.
»Die
enorme
Verbreitung
unseres
beliebten
Wochenmagazins beruht zwar auf dem Vertrauen der Leserschaft in die Zuverlässigkeit unserer Informationen, aber diesmal wollen wir ausnahmsweise eine Ausnahme machen. Wir werden in unserer nächsten Nummer eine kleine Richtigstellung veröffentlichen, natürlich nicht trocken und amtlich, sondern in witziger, eleganter Verpackung.« Ein Qualschrei aus der Brust des Gemarterten unterbrach ihn: »Nein! Nein! Nichts Witziges! Nichts Elegantes!« Auf den Knien rutschte Tolaat Shani vor den Sessel des Chefredakteurs und hob flehend und zitternd beide Hände. Der auf ein Klingelzeichen herbeigeeilte Ziegler hob ihn auf und -86-
geleitete ihn zur Tür hinaus. Der Chefredakteur sah ihm kopfschüttelnd nach. »Unglaublich, wie tief sich ein Mensch für ein bißchen Publicity entwürdigt ...«
»Die Schwiegermutter antwortet nicht« lautete der Titel der kleinen Glosse, die in der nächsten Nummer der »Glücklichen Familie« erschien und folgenden Wortlaut hatte: »Tolaat Shani, dessen erfolgloses Stück nunmehr endgültig aus dem Spielplan verschwunden ist, verbringt seine reichlich bemessene Freizeit auf dem Golfplatz. Bei einem kollegialen Zusammentreffen mit unserem dortigen Korrespondenten gab er seinem reichten Befremden< darüber Ausdruck, daß wir ein paar allseits belachte, köstliche Anekdoten über seine Schwiegermutter veröffentlicht haben, an der er in großer Liebe zu hängen angibt. >Für mich ist das alles kein Spaß<, sagte der Schriftsteller zu unserem Korrespondenten. >Meine Schwiegermutter spricht nicht mehr mit mir.< >Zürnt sie Ihnen so sehr?< >Schlimmer. Sie hat sich den Kiefer verrenkt und kann ihre Zunge nicht bewegen. < >Und was sagt der Arzt dazu?< >Der Arzt?< Tolaat Shani konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. >Er wollte sie sofort untersuchen. Aber ich sagte ihm: Keine Eile, Herr Doktor, keine Eile. Kommen Sie in zwei, drei Wochen .. .< Und Tolaat Shani holte mit elegantem Schwung zum nächsten Golfschlag aus.«
Um die Mittagszeit zerschmetterte der erste Stein eines der Fenster des Eßzimmers, aber Tolaat Shani hatte noch knapp entwischen können, bevor die Demonstration größere Ausmaße annahm. Er drückte sich die Häusermauern entlang und nahm den Autobus, der ihn in eine entfernte Siedlung im Süden des Landes bringen sollte. Beinahe wäre ihm das geglückt, aber seine Schwiegermutter, die einen Geheimtip bekommen haben mußte, fing ihn an der -87-
Haltestelle ab und zerschlug ihren Regenschirm auf seinem Kopf. Im Krankenhaus empfing man ihn kühl und abweisend und überstellte ihn schließlich in die Abteilung für schwere Alkoholiker, wo man ihm einen Verband anlegte und ihn zu äußerster Ruhe ermahnte. Trüb vor sich hin starrend, von allen gemieden, von der Zwangsjacke bedroht, saß Tolaat Shani in seiner Zelle und dachte darüber nach, wie er dem Teufelskreis,
in
den
ihn
die
Redaktion der »Glücklichen Familie«
hineinmanövriert hatte, endlich durchbrechen könnte. Plötzlich drang ein gleißender Lichtschein durch die kleine Fensterluke. Ein Engel stand vor ihm, in der Hand das Schwert der Demokratie, auf dem Haupt die Krone der Pressefreiheit. Und es öffnete aber der Engel den Mund und hub zu sprechen an und sprach: »Schick ihnen eine Honorarrechnung.«
Hier der Wortlaut des Briefs, der sich am nächsten Tag im Postfach der »Glücklichen Familie« befand: »Sie waren so freundlich, in den letzten drei Ausgaben Ihres Magazins drei meiner kurzen Satiren abzudrucken: 1. Zungspitz und das Begräbnis 2. Warum schwieg der Papagei 3. Die Schwiegermutter antwortet nicht Ich bitte um Überweisung des fälligen Honorars. Hochachtungsvoll Tolaat Shani« Seither herrscht Ruhe.
-88-
Der Schriftsteller hat zwei unterschiedliche Möglichkeiten, auf einen Zeitungsangriff öffentlich zu reagieren: Entweder schweigt er, oder er hält den Mund. Ich ziehe eine dritte Lösung vor: Ich schreibe eine Satire über die Großmäuler. Ich kann es mir leisten. Eintagsfliegen leben länger.
Endlich seriös oder Magie der Auflage Der
Aufstieg
begann
damit,
daß
Herr
Steiner,
Besitzer
eines
Lebensmittelgeschäfts, ein Stockwerk höher stieg, um dem dort wohnenden Journalisten Josef Goldberg folgendes mitzuteilen: »Mein lieber Goldberg, Sie glauben doch nicht, daß ich immer mit Lebensmitteln gehandelt habe. Es gab Zeiten, in denen ich ein geschätzter Mitarbeiter
wichtiger
Zeitschriften
war,
wie
>Der
fortschrittliche
Gemüsehändlers um nur eine zu nennen. Und vor wenigen Jahren habe ich mehrere Artikel für ein bekanntes Modejournal für Kinder geschrieben, die müssen Sie einmal lesen. Ja, was ich sagen wollte: Wie war s, geben wir zusammen eine neue Wochenzeitung heraus? Eine, die anders ist als alle anderen, etwas wirklich Neues und Seriöses, ein Blatt, das eine Marktlücke füllt und den Publikumsgeschmack hebt. Nein, unterbrechen Sie mich nicht. Ich finanziere die Sache. Aber nur, wenn Sie mit Ihrer großen journalistischen Erfahrung die Chefredaktion übernehmen. Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde mich nicht in Ihr Ressort mischen. Ich bin nur der Herausgeber. Und da ich ganz genau weiß, daß eine neue Zeitschrift am Anfang Geld verlieren muß, bin ich fürs erste Jahr auf ein gewisses Defizit vorbereitet. Meinetwegen auch fürs zweite. Also. Wir haben das nötige Geld und wir haben die nötige Lizenz. Machen Sie mit?« Goldberg überlegte. Im Augenblick verdiente er 745 Pfund monatlich für -89-
Übersetzungen ins Polnische. Was hatte er zu verlieren? »Ich nehme den Posten an«, sagte er. »Das Publikum muß gebildet werden.« Die
Details
der
Neugründung
wurden
besprochen
und
schriftlich
niedergelegt. Um die vorhandenen unseriösen Wochenblätter zu übertrumpfen, würde das neue mit einem Umfang von 64 großformatigen Seiten und im Vierfarbendruck erscheinen. Preis im Einzelverkauf 2 Pfund. Bei einem Absatz von 30 000 Exemplaren wären die Kosten gedeckt, mit dem 30 001. Exemplar begänne der Gewinn, der nach und nach 18000 bis 20000 Pfund im Monat betragen müßte. An dieser Stelle schlug Steiner vor, den Reingewinn 50:50 zu teilen, aber Goldberg entschied sich für ein fixes Monatsgehalt von 815 Pfund. Die Zeitschrift würde den Namen »Unsere Drogisten-Welt« führen. Eigentlich hätte sie »Unsere Welt« heißen sollen, aber Steiner hatte die Lizenz von der eingestellten Vereinspublikation der Drogisten erworben, und das Gesetz verpflichtete ihn, den Originaltitel zu benutzen. Das neue Wochenblatt sollte leicht lesbar, unterhaltend und informativ, zugleich jedoch auch niveauvoll sein. Für eine solche Publikation bestand zweifellos größter Bedarf. Nach Unterzeichnung der Verträge in einem Anwaltsbüro machte sich Goldberg unverzüglich an die Zusammenstellung seiner Redaktion. Er engagierte in einem nahe gelegenen Kaffeehaus elf ständige Redakteure und sieben
Korrespondenten,
von
denen
drei
an
Ort
und
Stelle
zu
Auslandskorrespondenten befördert und sofort nach Europa und in die Länder der Dritten Welt geschickt wurden. Hinzu kamen fünf Fotografen, zwei Botenjungen sowie eine rotblonde und eine grauhaarige Sekretärin. Sie alle bezogen ihre Arbeitsplätze in Steiners Wohnung. Nach einmonatiger Vorbereitungszeit war die erste Ausgabe fertig. Auf dem Titelblatt sah man einige Kleinkinder im Sand spielen, Bildunterschrift: »Es wächst eine glückliche neue Generation heran.« Daneben machten rotgedruckte Titel auf die Beiträge im Innern des Blattes neugierig: »Mallorca, die geheime -90-
Touristenattraktion (mit Farbfotos)«, »Naive Kunst aus Bengasi«, »Sport ist gesund!« und »Die Welt des Theaters« von J. Goldberg. Weitere Ankündigungen versprachen dem Leser eine Rundfunk- und Fernseh-Rubrik, Chefredakteur Goldbergs regelmäßige Kolumne »Jetzt rede ich«, ausführliche Sportberichte,
Kreuzworträtsel,
eine
reichhaltige
Literatur-Seite,
eine
Wirtschaftsbeilage »Schwarzgeldschmuggler leben unter uns« sowie das erste Kapitel des Fortsetzungsromans »Die Liebe einer Krankenschwester« von Martha
Goldberg.
Überdies
startete
»Unsere
Drogisten-Welt«
ein
Preisausschreiben für die beste Kurzgeschichte und das schönste Hundefoto sowie eine großzügige, mit Geldpreisen bedachte Abonnenten-Werbung, die ihre Leser einlud, Zuschriften an die Redaktion zu richten: »Ihr Wochenblatt - für Sie gegründet — für Sie gedruckt - für Sie redigiert jede Woche für Sie - Jetzt!« Die erste Ausgabe hatte zweifellos eine gewisse Resonanz im Publikum. Herr Steiner erfuhr aus glaubhafter Quelle, daß man dem Verkäufer in den Vororten die ersten Exemplare buchstäblich aus der Hand gerissen hätte, und Goldberg brachte dank seiner guten Verbindungen eine Notiz im Organ der DrogistenGewerkschaft unter: »Mit dem Titel >Unsere Drogisten-Welt< erschien soeben eine neue Zeitschrift, die an den üblichen Verkaufsstellen erhältlich ist.« Laut Goldberg bedeutete das soviel wie einen offiziellen Segen für das neue Unternehmen und den Verkauf von mindestens 10000 Exemplaren. Bedenklich war, daß keine Hundefotos kamen und daß für das Preisausschreiben nur eine einzige Kurzgeschichte von Oscar Wilde eintraf, die unter dem Pseudonym »Oskar Friedmann« eingesandt worden war. Die Auslieferung erklärte auf Fragen nach den Bestellungen, daß es noch zu früh wäre, sich ein Urteil zu bilden, aber aus dem Norden wären einige ermutigende Reaktionen gekommen. Als Steiner die ersten Anzeichen von Nervosität bekundete, weil der erhoffte Gewinn auf sich warten ließ, wurde er von Goldberg daran erinnert, daß er auf ein ein- bis zweijähriges Defizit vorbereitet gewesen sei. Zugegeben, antwortete -91-
Steiner, aber es müsse ja nicht alles, worauf man vorbereitet sei, unbedingt eintreffen. Er beschloß, in die redaktionelle Gestaltung des Blattes persönlich einzugreifen und für ein höheres Niveau zu sorgen. Denn wenn die erste Nummer nicht richtig eingeschlagen hatte, so konnte das nur daran liegen, daß sie nicht seriös genug war. Daher trug die zweite Nummer auf dem Titelblatt ein Porträt des Ministerpräsidenten mit der Unterschrift: »Unser Ministerpräsident.« Die Nummer enthielt ferner eine medizinische Seite, ein unveröffentlichtes Sonett von W. Shakespeare, eine Ballade der bedeutenden Lyrikerin Anne-Roselinde Steiner, eine erkleckliche Anzahl von Leserbriefen mit Antworten von »Tante Sibylle« (Steiners Pseudonym) sowie die Rubrik »Wohin am Nachmittag?«. Zu den technischen Veränderungen, die Steiner vornahm, gehörte die Kündigung von sieben Korrespondenten, fünf Fotografen, zwei Botenjungen und der grauhaarigen Sekretärin. Statt dessen engagierte er einen Anwalt, der die Klagen auf Vertragsbruch vertrat. Die Anzahl der Illustrationen wurde reduziert, und einige Fotos aus der ersten Nummer wurden mit anderen Unterschriften nachgedruckt. Obwohl die Verkäufer der zweiten Nummer mit großen Plakaten »ENDLICH! DIE NEUE NUMMER UNSERER DROGISTEN-WELT!« ausgerüstet waren, wollte sich der Vertrieb auf keine Auskünfte festlegen. Steiner strich inkognito um einen Zeitungskiosk herum, um den Absatz seines Wochenblatts zu beobachten. Als nach sechs Stunden noch kein Exemplar verlangt worden war, gab er auf und erkundigte sich in einigen Buch- und Zeitschriftenläden nach dem Verkauf der »Drogisten-Welt«. Die Ladeninhaber waren überrascht, von der Existenz dieser Zeitschrift zu hören. Steiner begann ernsthaft zu zweifeln, daß er die wöchentliche Verkaufsziffer von 30 000 Exemplaren erreichen würde, eilte nach Hause und entließ den restlichen Redaktionsstab mit Ausnahme Goldbergs, der bereits vierzehn Monatsgehälter im voraus bezogen hatte. Steiner unternahm einen letzten verzweifelten Versuch, sein Geld -92-
zurückzubekommen: Die dritte Nummer erschien nur noch mit einem Umfang von 18 Seiten und im Zweifarbendruck. Auf dem Titelblatt sah man eine nackte schwarze Prostituierte mit Strapsen und die Ankündigung folgender Beiträge: »Das Märchen von der Potenz der Gastarbeiter«, »Geständnisse einer lesbischen Nekrophilen«, »Verhindert die Pille den Orgasmus?«, »Die sexuelle Ausbeutung vergewaltigten
von
bisexuellen
jungen
pornographischen
Angestellten«
Buchhalters).
Filmfirma
gegen
(Tatsachenbericht
Die
Fotos
wurden
drei
doppelseitige
von
eines einer
Gratisinserate
bereitgestellt. Die vom Vertrieb gemeldeten Absatzziffern besagten, daß von der ersten Nummer 84 Exemplare und von der zweiten Nummer 17 Exemplare verkauft worden waren. Nummer 3 erbrachte ein rätselhaftes Phänomen: Die Auslieferung remittierte um ein Exemplar mehr, als sie bezogen hatte. Steiner schwor, sich an Goldberg, dem wahren Urheber dieses katastrophalen Verlustgeschäfts, fürchterlich zu rächen. Goldberg übersiedelte in den Süden. Die Lizenz der »Drogisten-Welt« wurde an einen gutsituierten Zahnarzt verkauft. Er hat die Absicht, eine neue Wochenzeitung herauszugeben, die anders wirkt als alle anderen und endlich wirklich seriös ist.
Preiswürdigkeit oder Sieg der Gerechtigkeit Die Jury für den »Jerusalem-Preis für Belletristik« war in arger Bedrängnis. Stunden stürmischer Diskussionen waren ergebnislos vergangen, und noch immer war nicht entschieden, wer mit dem Literaturpreis für das herausragendste literarische Werk des vergangenen Jahres ausgezeichnet werden sollte. Unzählige Vorschläge wurden gemacht und wieder verworfen: »Der Ministerpräsident?« »Erhielt erst letztes Jahr den nationalen Kultur-Preis für hervorragende Leistungen.« -93-
»Der Stellvertretende Ministerpräsident?« »Bereits für das Tagebuch des sozialistischen Parteitages in Acapulco preisgekrönt.« »Der Unterrichtsminister?« »Erst dieses Jahr ist er für den Roman, an dem er schreibt, mit dem >Großen Roman-Preis< ausgezeichnet worden.« »Der Außenminister?« »Lyrik-Preis für seine Reden vor der UNO.« Diese hoffnungsvollen Kandidaten kommen also leider nicht in Frage. Einige Male fiel auch der Name eines hohen Finanzbeamten, als plötzlich ein JuryMitglied aufgeregt ums Wort bat: »Ich habe eine Idee. Warum verleihen wir in diesem Jahr den Preis nicht einem Schriftsteller?« Ratlose Stille. »Wem sollen wir den Preis verleihen?« war die fassungslose Frage. »Einem Schriftsteller. Einem Schriftsteller, der Bücher schreibt, Stücke und Ähnliches.« »Wieso denn das?« Nach und nach stellte sich heraus, was der Antragsteller vorschlug. Es handelte sich um die Schnapsidee, den Literaturpreis einer Person zu verleihen, die sich ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben verdiente. »Eine revolutionäre Idee«, meinte dann doch jemand, »und nicht ganz unoriginell.« »Das wird zwar einen Riesenskandal geben, aber was soll's«, sagte ein anderer, der allgemein bekannt war für seine Zivilcourage. »Verleihen wir den Preis doch einem jungen Schriftsteller.« Der Vorsitzende protestierte heftig. »Das kommt gar nicht in Frage. Ich kann dem Finanzminister doch nicht mehr unter die Augen treten, wenn er dieses Jahr keinen Preis bekommt.« -94-
»Er hat doch schon dreimal den >Staatspreis der Akademie der Schönen Künste< erhalten.« »Aber dieses Jahr hat er schließlich einen neuen Haushaltsplan verfaßt.« Dem Vorschlag, den Finanzminister statt dessen mit dem »Jaffa-Preis für Darstellende Kunst« zu trösten, schlössen sich alle an. Der Justizminister sollte dann die Auszeichnung der Akademie der Wissenschaften für die originellste Büroausstattung
erhalten
und
der
Minister
für
Wohnungsbau
den
Gewerkschaftspreis für Kammermusik. Letzterer war zwar bereits dem Ministerpräsidenten versprochen worden, aber den könnte man doch mit einem Professorentitel für Geisteswissenschaften, Astronomie und etwas Physik entschädigen. In diesem Fall würde der Staatspreis für Humor und Satire an den Verteidigungsminister gehen. Am Ende siegte wieder einmal der gesunde Menschenverstand, und ein Kompromiß wurde beschlossen. Der »Jerusalem-Preis für Belletristik« wird der gesamten Staatsregierung verliehen, den neu geschaffenen literarischen Zusatzpreis Zweiter Klasse würden sich der Feuilletonist E. Kishon und der Vizeverkehrsminister teilen.
Autoren, deren Bücher in andere Sprachen übersetzt werden, sind sicherlich mit mir einer Meinung, daß unser Einfluß auf Erfolg oder Mißerfolg des übersetzten Werks ungefähr dem entspricht, den wir auf das Wetter haben. Vermutlich ist das reine Glückssache, denn alles hängt vom Talent des Übersetzers ab, und auch das ist reine Glückssache. Im Normalfall hat der Autor keinerlei Kontakt zu dem unbekannten Handwerker, der die aus dem Hebräischen über das Englische ins Französische übersetzte deutsche Version ins Portugiesische überträgt. Daher sollte unser Autor rechtzeitig der Tatsache ins Auge blicken, daß auch die Weltliteratur eine Art von Hasardspiel ist, mit all den angenehmen Überraschungen und ärgerlichen Enttäuschungen, die unvermeidlich damit -95-
verbunden sind. Dies hat jedoch auch seine guten Seiten. Ein Schreiberling wie ich zum Beispiel, kann jederzeit ganz entspannt eine ausländische Ausgabe seines Werkes aufschlagen. Da ihm ohnehin jeder Buchstabe ein Rätsel ist, erspart er sich immerhin jeglichen Wutanfall über die unvermeidlichen Druckfehler. Natürlich weiß das der Verleger ebenso wie die Archäologie-Studentin, die den Text genau so übersetzt hat, »wie Sie, Herr Autor, ihn hätten schreiben sollen«. Eine einmalige Ausnahme auf diesem Gebiet war mein Freund Friedrich Torberg. Er verwöhnte meine deutschen Leser nicht nur mit brillanten Übersetzungen,
sondern
bewies
auch
beispielhaftes
diplomatisches
Fingerspitzengefühl, wenn er mich in jenen fernen Tagen, als ich die deutsche Sprache noch nicht beherrschte, damit beruhigte, er übersetze meine Texte »wie du, mein Sohn, sie eigentlich schreiben wolltest«. Früher, oder in den meisten Fällen später, erwacht daher der dringende Wunsch, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen. Der Schreiberling packt also seine Siebensachen und reist in die Fremde, um sich ganz allein in der großen weiten Welt einen Namen zu machen. Und wo fängt er damit an? Natürlich in Amerika.
Hollywood, ich komme oder You need a good agent "Während einer meiner Flüge nach Los Angeles war mein Sitznachbar ein guterhaltener, wohlgenährter Fünfziger, der die meiste Zeit in klangreichem Schlummer verbrachte. Über Chicago hatte ich genug davon und rüttelte ihn wach: »Entschuldigen Sie, ich bin Drehbuchautor, wann kommen wir in Hollywood an?« »Keine Ahnung.« -96-
»Leben Sie denn nicht in Hollywood?« »Nein.« »Warum fliegen Sie dann hin?« »Wie soll ich das wissen? Fragen Sie meinen Agenten.« Nach ein paar weiteren Sätzen besaß Mr. Maxwell, dies sein Name, volle Klarheit darüber, daß ich ein ahnungsloser ausländischer Schreiberling war, ein Neuling, ein Greenhorn ohne die mindeste Kenntnis amerikanischer Lebensgewohnheiten. Als ich ihm schließlich auf die Frage, wer mein Agent sei, wahrheitsgemäß antworten mußte, daß ich keinen hätte, fiel er beinahe vom Sitz: »Um Himmels willen, wie wollen Sie ohne Agenten leben? Wer kümmert sich um Ihre Angelegenheiten? Wer sorgt für Sie?« »Vielleicht der liebe Gott«, murmelte ich zaghaft. Maxwell schüttelte ungläubig den Kopf, sagte aber nichts, weil ihm in diesem Augenblick, als wir gerade Texas überflogen, ein Telegramm ausgehändigt wurde, in das er mir lässig Einblick gewährte: »WETTER IN HOLLYWOOD
UNSICHER EMPFEHLE GRAUEN PULLOVER 20.45 DINNER
MIT PRÄSIDENTEN PARAMOUNT BUSSI MOE.« »Da sehen Sie s«, nickte Maxwell. »Alles was Sie brauchen, ist ein guter Agent.« Und er begann mir klarzumachen, daß für jeden Künstler der Agent die wichtigste nationale Institution Amerikas sei. Selbstverständlich, so sagte er mir, beschränken sich die Aufgaben des Agenten nicht auf die Wahl der Pulloverfarbe, sie liegen vielmehr auf dem Gebiet der Publicity, der öffentlichen Geltung, des beruflichen Aufstiegs. Ein guter Agent hat nichts anderes im Sinn, als die einmaligen, die einzigartigen Fähigkeiten seines Klienten zu rühmen, zu verherrlichen und zu lobpreisen, laut und pausenlos, zu Lande, zu Wasser und in der Luft, bis zum letzten Atemzug, bis zum letzten Schreck, in Ewigkeit, Amen. Maxwells hymnische Worte beeindruckten mich tief. Als er eine kurze Pause machte, fragte ich ihn nach seinem Beruf. -97-
»Ich bin Agent«, antwortete er. »Warum?« »Nur so. Aber, wenn Sie selbst Agent sind, wozu brauchen Sie dann einen Agenten?« Maxwell lächelte nachsichtig: »Ich gehöre zur höchsten Rangklasse, zur allerersten Garnitur. Soll ich mich vielleicht selbst als den größten Agenten der Welt vorstellen? Das geht nicht. Das muß jemand andrer für mich machen. Und dazu brauche ich einen Agenten.« Meine neidvolle Bewunderung für Maxwell stieg bei der Landung sprunghaft an. Noch während wir das Flugzeug verließen, kam aus vier Lautsprechern die mehrfach wiederholte Durchsage: »Mr. Maxwell wird gebeten, zum blauen Cadillac vor der Ankunftshalle zu kommen ... blauer Cadillac ... Mr. Maxwell ...« In der Ankunftshalle begrüßte ihn ein strahlender Managertyp mit einem großen Blumenstrauß. Kein Zweifel, es war der treue Moe, der ihm den grauen Pullover ins Flugzeug telegraphiert hatte. Ich hingegen stand allein und verlassen bei meinen Koffern, ein armes Waisenkind ohne Adresse, ohne Hoffnung, ohne Karriere, ohne Agenten. Schlotternd näherte ich mich der Prinzessin hinterm Informationsschalter. »Bitte, können Sie mir ein gutes Hotel nennen?« Die Prinzessin ließ ihre exquisit langen Wimpern flattern. »Hat denn Ihr Agent kein Zimmer für Sie bestellt?« Ich wagte nicht, ihr die Wahrheit zu sagen, und senkte nur stumm den Kopf. Da sie mir kein gutes Hotel nennen konnte, sondern nur die Adresse von zwei guten Agenten, versuchte ich es selbst und rief im Beverly-Hills-Hotel in Hollywood an. »Bedaure, Mr. Kitschen, wir sind komplett«, antwortete der Empfang. Das war das ganze Gespräch. Ich schleppte meinen müden Leib und meine drei bleischweren Koffer an den Taxistand und begehrte zu einem Hotel gefahren zu werden. -98-
»Zu welchem Hotel, Mister?« »Zu irgendeinem.« Der Fahrer wandte sich um und sah mich an. »Nein«, sagte ich. »Ich habe keinen Agenten. Fahren Sie trotzdem los.« Als wir am Beverly-Hills-Hotel vorbeikamen, sah ich den blauen Cadillac vor dem Eingang stehen, und vor dem blauen Cadillac stand Moe. Es war ein Wink des Himmels. Ich ließ halten und stürzte auf Moe zu. »Moe, ich kann schreiben, Moe«, stammelte ich atemlos, »Sie müssen mich nehmen, Moe.« Moe maß mich prüfend von oben bis unten. Nachdem ich seinem Blick etwa eine Minute standgehalten hatte, zog er ein kleines Notizbuch aus der Tasche und zückte seinen goldenen Füllhalter: »Morgen um halb zehn haben Sie ein Fernseh-Interview bei der CBS, Studio F. Um viertel eins treffen Sie Hedda Hopper. Um dreiviertel zwei lunchen Sie mit einem literarischen Unteragenten. Um drei kommen die Fotografen. Vergessen Sie Ihre Gitarre nicht.« »Ich bin kein Pop-Sänger.« »Wollen Sie das gefälligst mir überlassen«, brauste Moe auf, »und jetzt gehen Sie auf Ihr Zimmer. Nummer 703. Frühstück um acht. Zwei weichgekochte Eier. Das ist gut für Ihre Stimme. Unterschreiben Sie hier.« Er hielt mir ein eng bedrucktes Formular hin, dem ich schon beim ersten Überfliegen entnahm, daß ich von meinen sämtlichen Einkünften, auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten, des Britischen Weltreichs innerhalb der Grenzen von 1939 und überall sonst auf der Welt, 20 Prozent an meinen Agenten abzugeben hätte, gleichgültig wie diese Einkünfte zustande kommen, ob durch Arbeit, Erbschaft oder Glücksspiel. »Ist das ein Vertrag auf Lebenszeit, Moe?« ließ eine innere Stimme mich fragen. »Selbstverständlich«, antwortete Moe. -99-
»Dann kann ich nicht unterschreiben«, stieß ich hervor, packte meine Koffer und rannte durch die Hotelhalle zum Empfangsbüro. Moe rief hinter mir her, daß ich mich nicht anstrengen sollte, hier gäbe es keine Zimmer. Aber jetzt ließ ich mich nicht mehr beirren. Ich hatte das Prinzip durchschaut. Schon stand ich vor dem Empfangschef: »Mein Name ist Hyman H. Schwartz. Ich bin der Agent von Mr. Kitschen, der literarische Berater des Pentagon und Verfasser von Tolstois >Krieg und Friedens Ich brauche ein Doppelzimmer mit Bad, und zwar sofort.« Von meinem Doppelzimmer rief ich die Gesellschaftskolumnistin Hedda Hopper an. »Hedda Darling«, flötete ich. »Weißt du, für wen ich jetzt arbeite? Du wirst es nicht glauben, für Kitschen. Ja. Ein phantastischer Kerl, nicht wahr? Und du stirbst natürlich vor Neugier zu erfahren, was er vorhat ...« Dem Präsidenten der 20th Century Fox kündigte ich für Mittwoch meinen Besuch an und versprach ihm die Weltrechte eines neuen, sensationellen Drehbuches von K. Schon nach wenigen Tagen hatte ich für den hilflosen Schwachkopf Kitschen die besten Verbindungen hergestellt und seine schriftstellerische Karriere auf ganze Wochen hinaus gesichert. Mit mir wollte kein einziger meiner Verhandlungspartner sprechen. Alle zogen es vor, direkt mit meinem Agenten Hymen H. Schwartz zu verhandeln. Es läuft alles bestens. Jetzt brauch ich nur noch einen guten Drehbuchautor.
Ein Drehbuch zu schreiben ist ganz einfach. Man schreibt es genauso wie ein Theaterstück,
nur
ohne
Kulissen
und
mit
regelmäßig
eingestreuten
Fachausdrücken: »Kamera schwenkt von oben auf halbnah und fährt mit Wischblende in die Totale zurück« oder so ähnlich. Der Regisseur ignoriert diese
Anweisungen sowieso,
aber
sie
Einfaltspinsel, der den Film -100-
beeindrucken
wenigstens
den
finanziert und im Privatleben in der Regel ein erfolgreicher Schrotthändler ist.
Die „Fanny-Swing-Show“ oder A Star is born »Ein Agent ist eine feine Sache«, sprach meine Tante Trude, als wir eines Abends den Stadtteil Brooklyn durchwanderten, »in Amerika kannst du aber ohne PR keine Karriere machen.« »Ich weiß«, antwortete ich kleinlaut. »Aber wie soll ich das anfangen?« »Du mußt im Fernsehen auftreten. Das wäre das beste. Oder etwas Ähnliches. Glücklicherweise habe ich ausgezeichnete persönliche Verbindungen sowohl zum Rundfunk wie zum Fernsehen. Im Rundfunk wird es leichter sein, weil ich im Fernsehen niemanden kenne.« Der Rest war ein Kinderspiel. Meine Tante trifft bei ihrem Friseur gelegentlich mit Frau Perl Traubman zusammen, die seit vierzig Jahren in einem jiddischen Radiosender New Yorks die beliebte »Fanny-Swing-Show« leitet. Mehr als das, Frau Traubman ist mit Fanny Swing identisch und verfügt sowohl in Brooklyn wie in der Bronx über eine große Anhängerschaft besonders unter den Hausfrauen. Schon wenige Tage später kam Tante Trude vom Friseur nach Hause, ihr Gesicht unter den frisch gelegten Dauerwellen strahlte: »Perl Traubman erwartet dich morgen um 7.30 Uhr im Studio 203. Ich habe ihr gesagt, daß du Beat-Lyrik schreibst und ein Oberst bei den israelischen Fallschirmjägern bist, und sie war sehr beeindruckt. Du bist auf dem Weg zu einer amerikanischen Karriere.« Wir fielen einander schluchzend in die Arme.
Frau Traubman-Swing ist eine freundliche Dame von Anfang Sechzig und sieht auch nicht viel älter aus, wenn man ihre knallblond gefärbten Haare und ihre grellrot geschminkten Lippen außer acht läßt. Ich mußte im Studio 203 eine halbe Stunde auf sie warten, denn sie erschien erst knappe zwei Minuten vor dem Beginn der Live-Sendung und begann sogleich die verschiedenen -101-
Meldungen vorzulesen, die man im Senderaum für sie vorbereitet hatte. Als sie fertig war, schüttelte sie mir zur Begrüßung die Hand und fragte: »In welcher Synagoge singen Sie, Herr Friedmann?« Ich berichtigte, daß ich meine liturgische Tätigkeit aufgegeben hätte, und stellte mich als der lyrische Oberst von Tante Trudes Friseursalon vor. »Richtig, richtig.« Frau Traubman blätterte gedankenvoll in den vor ihr liegenden Papieren. »Kantor Friedmann kommt ja erst nächste Woche. Schön, wir können anfangen.« Ein rotes Lämpchen flammte auf, ein mürrischer Glatzkopf kam in den Raum geschlurft, rief dreimal »Fanny« ins Mikrophon und setzte sich zu uns an den Tisch. Frau Traubmans Stimme, die eben noch geschäftsmäßig zerstreut geklungen hatte, nahm das schwelgerische Timbre einer verliebten Nachtigall an. »Guten Morgen, Freunde. Sie hören Ihre Freundin Fanny Swing aus New York. Draußen regnet es, aber wenigstens ist es nicht feucht, sondern kühl. Sollte der Winter gekommen sein? Und weil wir schon von >gekommen< sprechen: In unser Studio ist heute ein sehr lieber Besuch gekommen, ein guter alter Freund, dessen Name Ihnen allen bekannt ist, besonders den Besuchern der Or-Kabuki-Synagoge ...« (hier machte ich mich mit einer Handbewegung bemerkbar, die Frau Traubman sofort kapierte), ».. .aber auch alle anderen werden den großen israelischen Dichter kennen, der soeben eine kurze Inspektionsreise durch die Vereinigten Staaten unternimmt. Er ist aktiver Oberst in der israelischen Luftwaffe und Reserve-Astronaut. Wie geht es Ihnen, Herr Kitschen?« »Danke«, antwortete ich in fließendem Englisch. »Sehr gut.« »Das freut mich. Wie gefällt Ihnen New York?« »Sehr gut, danke.« »Waren Sie schon im Theater?« »Noch nicht, aber ich habe für übermorgen eine Karte zu einem erfolgreichen Musical, und was mein eigenes Stück anlangt -« -102-
»Jakobovskys Speiseöl kocht von allein«, bemerkte Frau Traubman freundlich. »Für eine leicht verdauliche und dennoch nahrhafte Mahlzeit, für Sirup und Salat, für Gebäck und Gemüse, nur Jakobovskys Speiseöl. Was meinst du, Max?« Das war keine rhetorische Frage. Sie richtete sich vielmehr an den mürrischen Glatzkopf von vorhin, der seine Zeitungslektüre mit sichtlichem Widerwillen unterbrach und sich ein wenig zum Mikrophon vorbeugte. Er war, wie ich später erfuhr, der politische Kommentator und Theaterkritiker des Senders, half aber auch bei den Werbespots der Fanny-Swing-Show mit. »Jakobovskys Speiseöl ist das beste koschere Öl der Welt«, bestätigte er. »Nichts schmeckt besser als Jakobovsky.«
Er schmatzte hörbar mit den Lippen und vertiefte sich wieder in die Lektüre seiner Zeitung. »Jakobovskys Speiseöl enthält kein Nitroglyzerin«, resümierte Fanny Swing, und dann war wieder ich an der Reihe. »Sie schreiben Ihre Gedichte allein, Herr Kitschen?« »Ja«, antwortete ich. »A schein git'n Tug«, ließ Fanny sich daraufhin vernehmen. »Mein Großvater hat immer jiddisch gesprochen, wenn er wollte, daß wir Kinder ihn verstehen. Er hat auch Gedichte geschrieben. Nicht jiddisch, sondern russisch. Gott hab ihn selig.« Ich konnte geradezu spüren, wie mein Ruhm von Minute zu Minute wuchs. Dank meiner Teilnahme an dieser grandiosen Sendung würde er demnächst Alaska erreicht haben. Es war ja auch wirklich keine Kleinigkeit, in der FannySwing-Show mitzuwirken. Manch einer würde sich das etwas kosten lassen, und ich durfte es ganz umsonst tun. Tante Trude bezifferte den Höreranteil auf 55 Prozent im Schatten. So etwas will ausgenützt sein. »Jiddisch und Russisch sind schöne Sprachen«, sagte ich. »Was mich betrifft, so schreibe ich hebräisch.« -103-
»Wie schön.« »Ja, danke.« »Ich für meine Person habe keine Sorgen mit dem Essen«, tröstete mich Frau Traubman. »Jakobovskys Speiseöl kocht von allein. Ob Fleisch- oder Teigwaren, ob Braten oder Beilagen, es gibt nichts Besseres als Jakobovskys Speiseöl. Nicht wahr, Liebling?« »Ich koche nur selten«, antwortete ich. »Aber wenn Sie mich schon fragen ...« Fanny Swing machte eine nervöse Gebärde zum mürrischen Glatzkopf hin, der die Situation sofort erfaßte. »Jakobovskys Öl ist koscher bis zum letzten Tropfen. Für mich gibt's nur mit Jakobovskys Öl zubereitete Speisen.« »Schmackhaft und leicht verdaulich - kein Nitroglyzerin - wenn Öl, dann Jakobovsky«, bekräftigte Fanny, ehe sie sich aufs neue mir zuwandte: »Herr Friedmann, wo werden Sie zu den Feiertagen singen?« »Ich habe mich noch nicht entschieden«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Wir alle kommen in Ihre Synagoge, um Sie zu hören.« »Das freut mich.« »Ich bin sicher, daß Sie' großen Erfolg haben werden, Herr Friedmann.« »Wie sollte ich nicht? Mit Jakobovskys Speiseöl gibt's keinen Fehlschlag.« »Sehr richtig. Es kocht von allein.« »Jakobovskys Speiseöl ist das beste«, ergänzte ich bereitwillig. »Hab ich nicht recht, Max?« »Für mich gibt s nur Jakobovsky«, bestätigte Max. »Koscher, schmackhaft und leicht verdaulich«, improvisierte ich, und schnalzte mit den Lippen ins Mikrophon. Frau Traubman-Swing sah nach der Uhr. »Vielen Dank, Herr Friedmann. Es war schön. Sie als Gast in unserem Studio zu haben und einmal aus wirklich kompetentem Mund etwas über den klassischen Synagogengesang zu hören. A git'n Tug und Schalom.« -104-
»Schalom und Salat«, erwiderte ich. Meine amerikanische Karriere war nicht mehr aufzuhalten. Die Vorstellung verwundert mich immer wieder aufs neue, daß ein mandeläugiges Mädchen und ein schlitzäugiger Junge in einem Kirschgarten sitzen und über die Geschichten meiner rothaarigen Kinder aus Tel Aviv lachen. Auch die erfreuliche Tatsache, daß mein Urgroßvater ein Wunderrabbi war, ist noch keine vollkommen befriedigende Antwort. Offenbar, so erkläre ich es mir schließlich, offenbar bin ich mit dem japanischen Alltag eben doch recht gut vertraut. Ich sehe Fernsehreportagen über japanische Geschichte, ich bewundere ihre erotischen Motorräder, verfolge aufmerksam die fernöstliche Eroberung der westlichen Musik, und die beste Ehefrau von allen fährt noch dazu Mitsubishi. Ich bin also im Land der aufgehenden Sonne und der blühenden Kirschbäume wirklich kein Fremder mehr. Aber dann erschien Shashiko in der Tür.
Butterfly oder Die Eroberung des Fernen Ostens Kürzlich saß ich mit geschlossenen Augen in meinem Lehnstuhl und versuchte mittels autogenem Training irgend etwas Komisches zu erfinden, wurde aber, Gott sei Dank, von der Türglocke erlöst. Vor der Tür stand eine winzig kleine Dame japanischen Ursprungs, die ihr Mündchen öffnete und höflich hauchte: »Hatshi, die Shuh.« Mein erster Impuls war, ihr Gesundheit zu wünschen. Aber nachdem ich sie ins Haus gebeten hatte, klärte sich ihre mysteriöse Äußerung auf. Sie war nicht etwa verschnupft, sondern hatte sich lediglich vorgestellt. Sie hieß Hachitishu Shashiko und war niemand geringerer als die japanische Übersetzerin meiner Bücher. In diesem Augenblick gewann sie meine Zuneigung trotz ihrer übergroßen Brille. »Ich freue mich ganz besonders. Sie kennenzulernen«, informierte sie mich in fließendem Deutsch und unterstrich ihre Gunst mit bezauberndem Lächeln. -105-
»Ganz meinerseits«, lächelte ich lieblich zurück und faltete die Hände vor der Brust, während ich mich tief verneigte. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim, Fräulein Hachitishu.« Nun war wieder ihr Lächeln an der Reihe. »Es ist nicht so wichtig«, sagte sie, »aber das, was Sie da eben vollführten, war keine japanische, sondern eine chinesische Begrüßung. Wir in Japan neigen nur kurz den Kopf, ohne die Hände zu falten.« Ich sah meinen Irrtum sofort ein, aber da sich das nicht als abendfüllend erwies, bat ich sie, Platz zu nehmen. Ich schloß mich an, worauf wir uns rasch in ein höchst angeregtes Schweigen vertieften. Nach einigem Nachdenken durchbrach ich die Stille. »Schade, daß Sie nicht in Ihrer traditionellen Nationaltracht gekommen sind«, sagte ich, um irgend etwas zu sagen. »Übrigens, darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Vielleicht Magnolientee oder Bambussaft?« »Nein, danke«, lächelte meine kleine Besucherin, »ein trockener Martini tut's auch. Und was meine Kleidung betrifft, so enttäusche ich Sie ungern, aber so kleiden sich japanische Frauen heute.« »Und die zusammengefalteten Fallschirme auf dem Rücken?« »Damit müssen sich nur noch Kellnerinnen in japanischen Restaurants abschleppen, und das auch nur noch in Europa.« Sie konnte bezaubernd lächeln, meine winzige Übersetzerin, und dazu zeigte sie eine Überzahl blendend weißer Zähne. Plötzlich wurde mir klar, daß einem das Schweigen viel leichter fällt, wenn man so ein Lächeln made in Japan sein eigen nennt. Aber trotzdem, meine Pflichten als Gastgeber zwangen mich, nach einem gemeinsamen Gesprächsthema zu suchen. »Ah, Madame Butterfly«, seufzte ich in wohltemperierter Nostalgie. »Ich bin verrückt nach dieser Oper.« »Wir sind es nicht«, lächelte Fräulein Hachitishu. »Wollen Sie damit sagen, daß Madame Butterfly in Japan nicht gespielt wird?« -106-
»O doch. Sie ist sogar ein echter Hit. Es vergeht keine Saison, ohne daß sie in irgendeinem Cabaret gespielt wird.« »Haben Sie >Cabaret< gesagt?« »Natürlich. Wir vermuten nämlich, daß die italienische Diva mit den Schlitzaugen von ihrem nichtsnutzigen Pinkerton nicht sehr angetan war. Dazu kommt, daß sie bestimmt nicht wußte, welcher ihrer vielen Kunden der Vater ihres kleinen Bengels war.« »Wie bitte?« »Wir betrachten Madame Butterfly als eine durchtriebene, kleine Schlampe«, erklärte Fräulein Hachitishu. »Sie hat ihren Pinki nicht nur hinten und vorne betrogen, sie hat ihm auch noch Alimente aus der Tasche gezogen.« »Sie machen Witze.« »Keine Spur«, sagte meine Miniaturübersetzerin und lächelte mich an. »Ich glaube. Sie stellen sich die japanische Frau so vor, wie es das Hollywood-Image vorschreibt: treu, unterwürfig, liebevoll und demütig. Mit anderen Worten die dumme, kleine, teekochende Geisha, die zerbrechliche Rose aus Asien. Es tut mir leid, aber diese handlichen Sklavinnen gibt es in Japan nicht und hat es nie gegeben.« »Aber«, protestierte ich halbherzig, »ich habe sie im Fernsehen doch mit eigenen Augen gesehen.« »Natürlich haben Sie das. Als die Männer aus dem Westen entdeckten, daß die unterwürfige Geisha nichts anderes war als ein Nebenprodukt ihrer Phantasie, schufen sie sie in ihren Opern, Theaterstücken und Bestsellern neu. Eine der ergiebigsten Goldgruben dieser Art ist das Buch >Shogun<. Daraus habt Ihr sogar eine Fernsehserie gemacht.« »Haben Sie sie gesehen?« »Nur den Anfang. Nach einer halben Stunde hatte ich vor Lachen solche Bauchschmerzen, daß ich abschalten mußte. Ihre Vorstellung von der japanischen Frau, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten wollen, entspringt reinem
Wunschdenken.
Ihr
träumt -107-
unverdrossen
von
einem
ehrfurchtgebietenden Samurai, der seine makellose Gattin in das Bett seines nicht unangenehm überraschten Gastes steckt. Ihr stellt euch gelenkige Japanerinnen wie siamesische Kätzchen vor, zierliche Nymphomaninnen, die bei Nacht unter eure Decke schlüpfen. Glauben Sie mir, das ist der dümmste Witz, den wir in den letzten 300 Jahren gehört haben.« »Wenn das so ist«, fragte ich, »was ist dann die Aufgabe der japanischen Frau?« »Sie ist der Schatzmeister der Familie«, lächelte Fräulein Hachitishu, »oder besser gesagt, der Finanzminister. Mit anderen Worten, sie kontrolliert das gesamte Einkommen ihres Gatten, außer einem Taschengeld von einigen Yen. Vorausgesetzt, er benimmt sich anständig.« »Und die japanischen Männer lassen sich das gefallen?« »Natürlich. Sie haben ja >Shogun< nicht gelesen.« Mit dieser Erklärung verabschiedete sie sich, die winzige Shashiko, und ging lächelnd Richtung Yokohama. Mit gemischten Gefühlen betrachtete ich sie und beschloß, mich trotz allem mit vor der Brust gefalteten Händen zu verneigen. »Liebe Shashiko«, seufzte ich. »Alles, was Sie mir erzählt haben, widerspricht bis ins kleinste dem Bild, das ich mir von Ihrem Land gemacht habe. Ich frage daher, wie können meine mittelmäßigen Humoresken in Ihrer von oben nach unten laufenden Schrift doch noch irgendeinen Leser finden?« »Ganz einfach«, lächelte mein Schmetterling breit. »Durch meine Übersetzung.«
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Von Kritikern und anderen Wetterhähnen
Was treibt ein Schriftsteller sein Leben lang? Er schriftstellert. Eine, gelinde gesagt, ziemlich eintönige Tätigkeit, bei allem Respekt. Und es wird für den Meister der Buchstaben auch nicht sehr viel abwechslungsreicher, wenn er die eine Hälfte seines Lebens von links nach rechts und die andere von rechts nach links schreibt. Denn es ist nicht die Richtung, die entscheidet, sondern die -110-
Eintönigkeit des Schreibtisches, die triste Spielstätte eines Schriftstellers bis hin zu seinem Staatsbegräbnis, das zumeist ohne Staat stattfindet. Es ist also kein Wunder, daß in der ehrwürdigen Sprache der Bibel, die übrigens von rechts nach links verläuft, ein einzigartiger Begriff existiert, der den Inbegriff des Neides beschreibt, den »Schriftstellerneid«. Da ich nicht davon überzeugt bin, daß die Bibel im Himmel geschrieben wurde - Gott hätte sicherlich nicht derartig viele orthographische Fehler gemacht -, erlaube ich mir zu unterstellen, unsere seligen Weisen, die eigentlichen Verfasser der heiligen Schriften, meinten den Neid des Schriftstellers auf seine Leser. Der Leser befindet sich ja zweifellos in der besseren Situation. Erstens, weil der Schriftsteller schreiben, der Leser jedoch nicht lesen muß, und zweitens, weil während des Lesens die Phantasie aktiviert wird und beim Verfassen eines Buches nur der Computer in Betrieb ist. Wenn er nicht gerade abstürzt. Ich persönlich habe mit meinem guten alten Bleistift Zeilen über Zeilen in alle Richtungen geackert und dabei davon geträumt, daß meine Charaktere einmal, nur ein einziges Mal, sich zu regen beginnen, daß sie aus den Seiten steigen und tatsächlich leben. Sigmund Freud nannte dieses Phänomen »Wunschtraum«, ein höflicher Ausdruck für das Unmögliche und ich muß dem Professor gebrochenen Herzens zustimmen. Aber dann, in jener mondlosen Nacht, erschien an meinem Bett besagte blonde Fee: »Dummkopf«, herrschte sie mich an, »warum schreibst du keine Theaterstücke?« Die Fee war zwar brünett, aber dennoch bewirkte sie eine entscheidende Wende in meinem Leben. Ich setzte mich noch in jener mondlosen Nacht an meinen Schreibtisch und schrieb mein erstes Bühnenstück nieder. Und tatsächlich, meine Charaktere stiegen aus den Seiten hervor. Sie begannen zu singen, auf der Bühne zu tanzen und zu deklamieren, wie ich es
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mir während meiner langen Wanderung durch die Buchstabenwüste immer erträumt hatte. Die freundliche brünette Fee hat mich in die Theaterwelt entführt. Vor den Kritikern hat die kleine Schlampe mich allerdings nicht gewarnt.
Das Loch im Vorhang oder Durchlaucht Kunstetter Beginnen wir mit dem Größten von allen. I. L. Kunstetters Theaterkritik ist seit Menschengedenken der pure Mord, angesichts der großen Ensembles geradezu ein Massenmord. Eine weitblickende Theaterleitung bezieht zwar alle erdenklichen Faktoren in ihre Berechnung mit ein, aber nicht immer den Titel des Stücks, wie zum Beispiel: »Der Milchmann erhängte sich um sechs«, worauf I. L. Kunstetter in seiner knappen Kritik vermerkte: »Er hätte sich zwei Stunden früher erhängen sollen.« Diese kaltblütige Niedertracht könnte nur einen völligen Naivling überraschen. Kenner der Sachlage wissen, daß der normale Theaterkritiker seine Kritik nicht etwa deshalb schreibt, damit über das Stück, den Autor, die Schauspieler oder den Regisseur gesprochen wird. Über ihn selbst soll gesprochen werden, über ihn ganz allein. Und das erreicht er am besten dadurch, daß er die gesamte Produktion mit einem einzigen, messerscharfen Satz umbringt. Am nächsten Tag ist dann die ätzende Kritik I. L. Kunstetters in weiten Kreisen der Bevölkerung das Gesprächsthema Nummer eins. Hier zeigt sich übrigens ein zutiefst humanitärer Aspekt des Verrisses. Statt sich durch eine lobende Kritik bei einer Handvoll Leuten, die berufsmäßig mit dem Theater verbunden sind, beliebt zu machen, zieht es der Kritiker vor, durch ein witziges Massaker das ganze Land in einen Freudentaumel zu versetzen. Aus dem vorliegenden Fall ergibt sich für jeden Theaterleiter die wichtige Lehre, niemals, wirklich niemals, ein Stück herauszubringen, dessen Titel dem -112-
Kritiker Gelegenheit zur Entfaltung eines Witzes bietet. Kein Kritiker auf Erden kann dieser Versuchung widerstehen. Ich führe zwei neue Beispiele an. Titel des Stücks: »Der Rabbi blieb zu Hause.« Titel der Kritik: »Das hätte auch ich tun sollen.« Titel des Stücks: »Sie flohen in der Dämmerung.« Titel der Kritik: »Ich floh in der Pause.« Als ebenso ergiebig erweist sich der geringste sachliche Irrtum, der dem Buchautor unterläuft und den der Kritiker, nachdem er zu Hause die Encyclopedia Britannica konsultiert hat, genießerisch enthüllt. Kommt etwa in einem historischen Werk, das den Zusammenstoß des spanischen Konquistadors Cortez mit dem Aztekenkönig Montezuma behandelt, die Münzbezeichnung »Peseta« vor, dann wird die Buchkritik am nächsten Morgen zu drei Vierteln aus dem überlegen geführten Nachweis bestehen, daß zur Zeit der Eroberung Mexikos die gesetzliche Scheidemünze nicht »Peseta« hieß, sondern bekanntlich »Quetzal« oder, wie es die Einheimischen bekanntlich aussprechen, »Quitzil« (siehe: »Die Entwicklung Lateinamerikas«, Bd. 9, S. 345). Auch ein verstecktes, von ihm jedoch prompt entdecktes Plagiat dient dem Kritiker zur Demonstration seiner außergewöhnlichen Bildung. Wenn I. L. Kunstetter während der Vorstellung plötzlich aufhört, das Programmheft auf seinen Knien in einer nur ihm geläufigen Kurzschrift mit unflätigen Schimpfworten zu bedecken, und glasig vor sich hinstarrt, darf man sicher sein, daß er oben auf der Bühne einen Plagiatsversuch entdeckt hat und daß man am nächsten Tag ungefähr folgendes zu lesen bekommen wird: »Die Struktur dieses jämmerlichen Machwerks ähnelt auf schamlos deutliche Art einer byzantinischen Komödie des Dichters Orlando Servatius Lampedusa (527-565). Auch bei jener Aufführung war die Bühne zweigeteilt, und die kostümierten Darsteller vollzogen abwechselnd ihre Auftritte und Abgänge, meistens durch seitliche Kulissen. Man kann über die Unverfrorenheit unserer Autoren nur staunen.«
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Bisweilen ruiniert I. L. Kunstetter ein ganzes Theater, indem er Woche für Woche, dem großen römischen Volkstribunen Cato nacheifernd, unbeirrbar den einen Satz wiederholt: »Dieses angebliche Avantgarde-Theater, das sich bezeichnenderweise >Der Eiserne Besen< nennt, ist vom ideologischen Standpunkt ein Albtraum, vom erzieherischen Standpunkt ein Verbrechen und vom künstlerischen Standpunkt eine Schande, man sollte es möglichst rasch schließen.« Zehn Jahre nach der Schließung des »Eisernen Besens« wird unter dem Titel »Die grüne Zahnbürste« eine neue Kleinkunstbühne eröffnet, und Kunstetters Anhänger sind am Morgen nach der Eröffnungspremiere nicht wenig verblüfft über das Lamento, das er da anstimmt: »... und während wir vergebens über die Frage nachgrübelten, warum ein so klägliches grünes Unternehmen wie die >Zahnbürste< überhaupt gegründet wurde, schweiften unsere Gedanken zu den seligen Zeiten des >Eisernen Besens< zurück. Welch ein Jammer, daß es diese hervorragende Pflegestätte wahrhaftiger Kunst, untadeliger Ideologie und erzieherischer Wirkung nicht mehr gibt. Weshalb, um alles in der Welt, wurde der >Eiserne Besen< geschlossen?« So geht es weiter, in regelmäßig wiederkehrenden Zyklen. Zehn Jahre, nachdem er ihren Ruin verschuldet hat, wird Kunstetter sich nach der »Zahnbürste« zurücksehnen, und selbst wenn er 120 Jahre leben sollte, was zu befürchten ist, wird er für seine Nostalgien immer neue Nahrung finden. Aus alledem darf nun nicht etwa der Schluß gezogen werden, daß es keine vernünftigen, integren und verantwortungsbewußten Kritiker gebe. Es gibt sie, ich weiß es genau, und ich kenne sie sofort aus der Menge heraus. Es sind die Kritiker, die meine Stücke loben. Mit ihnen habe ich keinen Streit. Meine Verachtung gilt jenen, die den schöpferischen Künstler dahingehend zu beeinflussen versuchen, daß er so schreiben oder so inszenieren soll, wie sie, die Kritiker, es täten, wenn sie schreiben oder inszenieren könnten.
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Mit der jetzt unweigerlich fälligen Phrase »Man müsse ja schließlich nicht selbst ein Ei legen können, um die Qualität eines Omelettes zu beurteilen«, mit diesem Blödsinn bleibe man mir gefälligst vom Leib. Wie kommen wahrhafte Theaterfreunde dazu, ihre Omeletts von Leuten beurteilen zu lassen, die an Magenschmerzen leiden? Auch hier erhebt sich wohl die ewig unlösbare Frage, was zuerst da war, das Ei oder das Sodbrennen?
Die Leberwurst-Affäre oder Die Grenzen der Theaterkritik Seit jeher war also I. L. Kunstetter derjenige Theaterkritiker, auf den die Bezeichnung »unangreifbare Autorität« in höherem Maße zutraf als auf irgendeinen seiner Kollegen. Nach jeder Premiere öffneten die Menschen ihre Zeitungen, um zu erfahren, ob es ihnen gestern abend im Theater gefallen hatte oder nicht. Was immer I. L. Kunstetter auch schrieb, es kam einem Gottesurteil gleich. Wenn Kunstetter schrieb, daß es eine gute Vorstellung war, strömten die Leute ins Theater, es sei denn, daß sich das Gegenteil herumsprach und niemand hineinging. Wenn aber Kunstetter eine Aufführung verriß, konnte ihr nichts mehr helfen, es sei denn, sie war gut, und die Leute strömten hinein. Und dabei blieb es Jahr um Jahr. Die Autorität kritisierte, und die Autoren veröffentlichten von Zeit zu Zeit unter Decknamen oder in Form von anonymen Leserbriefen wilde Angriffe auf Kunstetter, die nur zu seinem Ruhm und Ansehen beitrugen. Eines Abends jedoch geschah es. I. L. Kunstetter saß beim Abendessen und griff, Gourmet der er war, nach einem Stück frischer Leberwurst, einem Erzeugnis der Firma Leberwurst & Sohn GmbH. Kaum hatte er den ersten Bissen gekostet, spuckte er ihn auch schon in weitem Bogen aus und wandte sich an Frau Kunstetter, seine Gattin. »Das soll Leberwurst sein? Das ist getrockneter Dünger! Darüber werde ich schreiben. Ich werde so darüber schreiben, daß die Firma Leberwurst & Sohn GmbH bis ans Ende ihrer Tage daran denkt...« -115-
Kunstetter, ein Mann der raschen Entschlüsse, begab sich unverzüglich an seinen Schreibtisch und verfaßte unter dem Titel »Ein Skandal, der zum Himmel stinkt« folgende Glosse: »Seit einiger Zeit würgt die wehrlose Bevölkerung unseres Landes an einem widerwärtigen Nahrungsmittel, das seine Hersteller in betrügerischer Absicht als >Leberwurst< bezeichnen. Nur skrupellose Verbrecher, die den letzten Rest ihrer Menschenwürde durch wilde Geldgier ersetzt haben, können ein derart ekelerregendes Abfallprodukt auf den Markt werfen. Wir sind sicher, daß die Konsumenten unseres Landes, deren guter Geschmack sprichwörtlich ist, dieses unverdauliche Zeug boykottieren und es ohne jeden Umweg in den Mülleimer befördern werden.« Kunstetter rief einen Botenjungen und schickte seine Leberwurst-Kritik an die Redaktion, wo sie automatisch zum Druck befördert wurde und am nächsten Tag erschien. Üblicherweise wäre die Sache damit erledigt gewesen. Diesmal aber kam es anders. Leberwurst & Sohn GmbH verklagte den überraschten Kritiker, die Presse spielte den Fall hoch, und der Leberwurst-Prozeß machte Schlagzeilen. Alsbald bildeten sich zwei Lager: Die einen verteidigten Kunstetters Recht, die Leberwurst, wenn er sie schlecht fand, zu verreißen, schließlich herrscht ja im Land noch Pressefreiheit, und jeder kann für sich entscheiden, ob er an das Urteil des Kritikers glauben will oder nicht. Auf der anderen Seite standen jene, denen die von Kunstetter verrissene Leberwurst ausgezeichnet geschmeckt hatte. Es gab noch eine dritte, kleinere Gruppe, die mit Kunstetter grundsätzlich übereinstimmte, den Ton seiner Kritik jedoch zu mild fand. Kunstetter selbst hielt über das plötzlich aktuell gewordene Thema einen Vortrag in der Künstler-Vereinigung. »Diese Leberwurst stinkt«, rief er in den Saal. »Sie hat keinen Nährwert. Sie ist verdorben und verrottet. Sie ist überhaupt keine Leberwurst. Sie ist eine Infamie.«
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Nach dem Vortrag wurde Kunstetter unter dem Schutz von Bodyguards nach Hause gebracht, da man Anschläge auf sein Leben befürchtete. Eintrittskarten zu seinem Prozeß wurden auf dem Schwarzmarkt zu Höchstpreisen verkauft. Als das Verhör begann, herrschte im Gerichtssaal atemlose Stille. Richter: »Herr Kunstetter, bekennen Sie sich schuldig?« Kunstetter: »Nein. Im Gegenteil, ich bedaure, keine stärkeren Ausdrücke gebraucht zu haben.« Richter: »Betrachten Sie sich als Fachmann?« Kunstetter: »Jawohl. Ich esse seit siebenundzwanzig Jahren regelmäßig Leberwurst.« Richter: »Sind Sie mit dem Herstellungsprozeß vertraut?« Kunstetter: »Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Der Herstellungsprozeß kann einwandfrei sein, und das Produkt ist trotzdem, wenn Euer Ehren den Ausdruck gestatten ... « Der Ausdruck wurde aus dem Protokoll gestrichen. Richter: »Hätten Sie über die Leberwurst auch geschrieben, wenn sie Ihnen geschmeckt hätte?« Kunstetter: »Warum sollte ich über eine gute Leberwurst schreiben?« An dieser Stelle richtete der Anwalt der Firma Leberwurst & Sohn GmbH an den Beklagten die Frage, ob er vor dem Verriß der Leberwurst Erkundigungen bei anderen Konsumenten eingezogen hätte. Nach der überheblich verneinenden Antwort beschloß das Gericht die Einvernahme einer Reihe von Zeugen, die je eine Scheibe der auf dem Richtertisch als Beweisstück liegenden Leberwurst verzehrten und sie sehr schmackhaft fanden. Kunstetter: »Eine völlig dilettantische Einstellung, die nichts zur Sache tut.« Richter: »Ich stelle fest, daß das lediglich Ihre persönliche Meinung ist.« Kunstetter: »Natürlich ist es meine persönliche Meinung. Ich kann ja nicht mit dem Mund anderer Leute essen und trinken. Jede Meinung ist persönlich. Andere Leute mögen an dieser Leberwurst Geschmack finden. Mir verursacht sie Übelkeit.« -117-
Richter: »Sind Sie bereit, das zu beeiden, Herr Kunstetter?« Kunstetter: »Dazu bin ich gerne bereit.« Der erzürnte Kritiker legte seine rechte Hand auf die Bibel und erklärte mit lauter Stimme, daß »die betreffende Leberwurst ein minderwertiges, unverdauliches und in jeder Hinsicht verabscheuenswürdiges Erzeugnis sei, das den Ernährungsstandard unseres Landes empfindlich herabsetzt und schädigt«. Die Überzeugungskraft, mit der Kunstetter diese Erklärung abgab, nötigte selbst seinen Gegnern Respekt ab. Der Starkritiker, das mußten sie zugeben, machte durchaus den Eindruck eines ehrlichen, unerschrockenen Mannes, der entschlossen war, eine von ihm für richtig befundene Ansicht bis in den Tod zu verteidigen. Die allgemeine Stimmung deutete auf einen Freispruch hin. Während sich das Gericht zur Beratung zurückzog, wurde Kunstetter von seinen Anhängern umringt und zu seinem moralischen Sieg beglückwünscht. Er nahm die zahlreichen Sympathiebekundungen mit selbstbewußtem Lächeln entgegen. Das Gericht verurteilte ihn wegen böswilliger Verleumdung und schwerer Geschäftsschädigung zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung und zur Zahlung eines Schadenersatzes von 15 000 Pfund. »Es gibt kein Gesetz«, hieß es in der Urteilsbegründung, »das einem Bürger gestattet, öffentlich seine Meinung darüber zu äußern, ob eine bestimmte Leberwurst gut oder schlecht ist. Eine solche Äußerung würde den Erzeugern der betreffenden Leberwurst schweren Schaden zufügen. Entscheidend ist allein der Geschmack und das Urteil der Mehrheit der Konsumenten. Wenn jeder Privatmann das Recht hätte, durch Publikation seiner persönlichen Vorlieben und Abneigungen die Öffentlichkeit zu beeinflussen, so könnte das über kurz oder lang zum Ruin der gesamten Leberwurst-Industrie führen.« Kunstetter legte Berufung ein, die kommt in wenigen Wochen zur Verhandlung. Der Ausgang der Affäre ist offen. Aber Kunstetter verreißt keine Leberwurst mehr. Er spart sich seine Verrisse für das Theater auf.
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Da der Text der Stücke in den meisten Fällen von einem Autor stammt, kann dieser nicht völlig ignoriert werden. Während der Proben am Theater allerdings ist der Autor ungefähr so wichtig wie der Gatte während der Entbindung. Er macht auch eine ähnliche Figur. Es muß hier endlich einmal mit aller Klarheit gesagt sein, daß der Autor ein Schmarotzer ist, dessen Hauptbeschäftigung darin besteht, die Proben zu stören. Er lümmelt in einer der hinteren Reihen, stürzt von Zeit zu Zeit auf den Regisseur zu, um mit schriller Stimme auf ihn einzusprechen, und hetzt in den Probenpausen die weiblichen Ensemblemitglieder gegen den Direktor auf, daß er schwul sei.
Sein oder nicht sein oder Williams Unvollendete Nehmen wir diesmal einen Dramatiker, der die besten Beziehungen zu den Theaterkritikern unterhielt, William Shakespeare. Kein Zweifel, daß er etwas für das Theater geleistet hat. Statistischen Berechnungen zufolge wurden in Shakespeares Dramen mehr Aristokraten liquidiert als in der ganzen Französischen Revolution. Er hat aus Romeo und Julia ein Ehepaar gemacht und war taktvoll genug, ihnen den Weg zum Scheidungsanwalt zu ersparen, indem er sie gleich letal abgehen ließ. Außerdem hat Shakespeare lange vor Marx die Grundsätze der proletarischen Diktatur ausgearbeitet, und zwar unter dem Titel »Richard III.«. Und trotz all dieser unvergleichlichen Leistungen ist es nicht einmal sicher, ob der große William wirklich gelebt hat. Wir besitzen keinen einzigen zuverlässigen Beweis für seine Existenz. Seit Jahrzehnten wird darüber ebenso heftig wie ergebnislos diskutiert. War Shakespeare Shakespeare? Stammt sein dramatisches CEuvre überhaupt von ihm? -119-
Sein oder nicht sein, das ist hier die Frage. Vielleicht verdanken wir diese gewaltigen Tragödien, diese Gipfel der dramatischen Weltliteratur, irgendeinem unbekannten Scharlatan, einem Dilettanten, der nichts vom Theater verstanden hat? Die internationale Theaterforschung tut gut daran, den Fall immer wieder aufzugreifen. Ich selbst schlage die führenden Gazetten jedesmal mit der prickelnden Erwartung auf, etwas Neues über die Causa Shakespeare zu erfahren. Und ich werde selten enttäuscht. Wie es scheint, neigt der Kritiker des Londoner »Observer« nun endgültig dazu, daß Christopher Marlowe Shakespeare war. Demgegenüber setzt der Experte der »New York Times« auf Sir Walter Raleigh, der »Osservatore Romano« favorisiert Columbus, und die »Jerusalem Post« hat kürzlich angedeutet, daß der Exbürgermeister von Jerusalem Teddy Kollek etwas mit der Sache zu tun haben könnte. Jedenfalls sind die Nachforschungen noch lange nicht beendet. Was mich betrifft, so bin ich aufgrund langjähriger Quellenstudien überzeugt, daß Shakespeare die Theaterstücke, die unter seinem Namen laufen, tatsächlich nicht geschrieben hat, sondern daß sie von einem ändern Autor stammen, der, wie der Zufall öfter so spielt, ebenfalls den Namen William Shakespeare trug. Dieser andere Shakespeare hat außerdem das Globe Theatre geleitet, die dankbarsten Rollen in den von ihm verfaßten Stücken gespielt und sich überhaupt so benommen, als ob er Shakespeare wäre. Ich halte meine These für genauso gut wie alle übrigen, wenn nicht für besser. Denn sie beweist, daß die Person des Autors unwichtig ist. Wenn er s nicht macht, dann macht's eben ein anderer.
Podmanitzkis Siegesrausch oder Rappaport bleibt Rappaport Am
Dienstag
habe
ich
den
Volksschauspieler
Jarden
Podmanitzki
wiedergesehen, im Kaffeehaus, an einem Tisch ganz für sich allein, aber er -120-
forderte mich nicht auf, bei ihm Platz zu nehmen. Der Grund seiner ungewöhnlichen Zurückhaltung war mir natürlich bekannt. Vorige Woche, nach der Premiere von »Wolkenbruch aus blauem Himmel«, war ihm in der Presse endlich jenes enthusiastische Lob zuteil geworden, auf das er jahrzehntelang vergebens gewartet hatte. Podmanitzki gab in diesem außerordentlichen zeitgenössischen Drama einen alternden Bordellbesitzer und Inhaber eines Callgirl-Rings für männliche Prostituierte. Seine hemmungslos natürliche Darstellung begeisterte in gleicher Weise Publikum und Kritik. Kein Geringerer als I. L. Kunstetter stellte in der Wochenendausgabe fest: »Die Überraschung dieses bemerkenswerten Abends war zweifellos Jarden Podmanitzki, von dem eine geradezu diabolische Überzeugungskraft ausging. Sein Alfonso war ein Meisterstück theatralischer Animalität. Jedes Schnaufen, jedes Keuchen, jede seiner bedeutungsschweren, unnachahmlichen Pausen ließ den großen Charakterdarsteller erkennen.« »Kunstetter hat eher zuwenig als zuviel gesagt, Maestro«, äußerte ich, während ich mich neben ihn setzte. »Ihr Schweigen, als Sie sich im dritten Akt unter dem schweren Barocktisch verbargen, machte mich erschauern.« »Das bekomme ich immer wieder zu hören«, stimmte Podmanitzki bereitwillig zu. »Bernardo Grünstein zum Beispiel hat in seiner Premierenkritik geschrieben, daß die Art, wie ich da eine Dreiviertelstunde unter dem Tisch lag, in ihm spiralenförmige Assoziationen eines verschwörerischen Nihilismus erweckt hat oder etwas Ähnliches.« »Ja, allerdings. Hat das auch der Regisseur zum Ausdruck bringen wollen, wenn ich fragen darf?« »Natürlich dürfen Sie fragen. Ich habe ihn ja auch gefragt.« »Und was war seine Antwort?« »Daß alles schon in der Rolle steht, es ist der Wunsch des berühmten jungen Autors. Also habe ich ihn durch eines von den Mädeln, die Französisch können, -121-
noch
weiter
fragen
lassen:
>Entschuldigen
Sie,
Boulanger,
in
der
Regiebemerkung ihres Autors heißt es, daß ich unter den Tisch kriechen soll, aber es ist keine Rede davon, daß ich bis zum Ende des Stücks dort bleiben muß.< Daraufhin hat er auf französisch zu toben angefangen, daß mich das angeblich nichts angeht, und wenn er verlangt, daß ich zwei Monate lang unter dem Tisch liegen bleibe, dann habe ich zwei Monate lang unter dem Tisch liegen zu bleiben. Daraufhin bin ich sofort zur Direktion gegangen und habe mit aller Schärfe festgestellt, daß man mich mit meinen achtunddreißig Jahren Bühnenerfahrung nicht so behandeln darf und daß ich mir so etwas nicht gefallen lasse. >Das kann Boulanger vielleicht in einem Flohzirkus machen, aber nicht mit Jarden Podmanitzki<, stelle ich fest. >Ich denke gar nicht daran, stundenlang auf den bekannt dreckigen Brettern unserer Notbehelfsbühne liegen zu bleiben und mir womöglich einen Schiefer einzuziehen^ Die Direktion war außer sich und hat mich kniefällig gebeten, diesem französischen Kretin ausnahmsweise den Gefallen zu tun, er wird sowieso nie wieder engagiert. Damals wußten sie allerdings noch nicht, was für gute Kritiken er haben wird.« »Richtig, Herr Podmanitzki. Die haben sich ja geradezu überschlagen vor Begeisterung. Wenn man den Kritikern glauben darf, hat Boulangers Regie das Marionettenhafte unserer zerrissenen Nachkriegsgeneration esoterisch zum Ausdruck gebracht.« »Das auf alle Fälle ...« »Besonders hingerissen waren sie von der Szene, wo Sie und die fünf männlichen Prostituierten auf einer Nähmaschine sitzen, jeder mit einem anders gefärbten Taschentuch vor dem Gesicht. Übrigens, was bedeutet das?« »Ein Taschentuch ist ein kleines Tüchlein, das man in der Tasche trägt, und wenn man sich Gott behüte erkältet ...« »Was ein Taschentuch ist, weiß ich, Herr Podmanitzki. Ich möchte wissen, was diese Szene auf der Nähmaschine bedeuten soll.« »Haben Sie die Kritik von Avigdor Ben Parrot nicht gelesen? Warten Sie, ich habe sie zufällig bei mir. Da, hören Sie: >Die Orgie der Taschentücher auf der -122-
Nähmaschine weitet sich zu einem meisterhaften Kaleidoskop unseres paradoxen Bewußtseinszustands.< Klar?« »Vollkommen. Aber warum bedecken Sie die Augen?« »Warum, warum. Diskutieren Sie mit einem französischen Dilettanten, der keine anständige Sprache kann, nicht einmal Russisch. Da muß man nachgeben. Er will ein Taschentuch haben, bekommt er ein Taschentuch. Was mich wirklich ärgert, ist etwas andres. Mundek, wie immer. Meinem ärgsten Freund wünsche ich keinen solchen Requisiteur. Ich habe Mundek gesagt, ich habe ihn gebeten, ich habe ihn angefleht, die Taschentücher zu waschen, damit der Kampfergeruch herausgeht. Glauben Sie, er wäscht sie? Schon bei der zweiten Vorstellung sagt mein Kollege Honigmann mitten auf der Nähmaschine: »Großer Gott, ich muß niesen.< Wir haben es alle gehört. Dann geh du hin und spiel eine tragische Szene ...« In diesem Augenblick trat eine alte, vornehm gekleidete Dame an unseren Tisch, küßte Podmanitzki auf beide Wangen und wisperte: »Ich danke Ihnen, Herr Podmanitzki. Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen.« Und mit vor Erschütterung zitternder Stimme erzählte die Dame, daß sie den »Wolkenbruch« schon dreimal gesehen habe, einzig und allein wegen der Szene zwischen Podmanitzki und seiner sterbenden Frau, die sich plötzlich im Sarg aufrichtet und ihm gesteht, daß das Kind gar nicht von ihr ist, sondern von einer ändern. Noch als die alte Dame sich verabschiedete, schluchzte sie haltlos vor sich hin. »Eine sympathische, intelligente Person«, bemerkte Podmanitzki. »Aber welche Frau in dem Stück meint sie eigentlich?« »Die Hinkende. Die von einem Ziegenbock vergewaltigt wird. Ihre Frau.« »Die ist meine Frau?« »Das wissen Sie nicht?« »Nun ja, ich wußte, daß sie irgendeine Verwandte von mir spielt, aber ich hatte keine Ahnung, was für eine. Augenblick, jetzt fällt mir ein, wo der Irrtum liegt.« -123-
»Wo?« »Am Beginn des zweiten Akts. Da hat sie mir zu sagen: >Alfonso, du bist wie eine Schwester zu mir.< Deshalb.« »Ich entsinne mich dunkel. Was antworten Sie darauf?« »Ich antworte: >Du dreckige Dirne< und beiße sie ins Knie. Dem soll ich entnehmen, daß sie meine Frau ist? Und sie, lassen Sie mich nachdenken, ja, sie sagt, daß sie nur zuschauen will, wie sich die Molche begatten. Was, ich bitte Sie, sind Molche?« »Eine Art Eidechsen.« »Hab ich mir gleich gedacht. Das ist ja auch einer meiner stärksten Augenblicke. Dov G. Schlofer in den >Nachrichten< vertritt die Meinung, daß mir da die perfekte Transparenz eines Ketzers geglückt ist, der das Göttliche in sich selbst entdeckt. Sie erinnern sich, wie ich am Schluß dieser Szene halb torkelnd und halb aufrecht unter dem Tisch hervorkrieche?« »Ich erinnere mich. Da waren Sie tatsächlich ganz groß, Herr Podmanitzki. Wie Sie da mit weit aufgerissenen, fragenden Augen in die grausame Unendlichkeit starren und schweigen ...« »Das habe ich zuerst nur zufällig bei der Premiere gemacht. Ich hatte den Text vergessen und starrte in den Souffleurkasten um Hilfe. Von der zweiten Vorstellung an sagte ich wörtlich das, was ich zu sagen habe: >Nur die Toten sind lebendig, Rappaport<, sage ich und gehe ab. Bei der SamstagNachmittagsvorstellung bekomme ich an dieser Stelle immer Szenenapplaus.« »Was wollen Sie damit sagen, Herr Podmanitzki?« »Daß die Leute in die Hände klatschen, weil...« »Nein, ich meine, was bedeutet dieser Satz über die Toten? »Fragen Sie den zeitgenössischen Autor. Ich bin für seinen Blödsinn nicht verantwortlich. Niemand in dem Ensemble hatte eine Ahnung, wer dieser Rappaport ist. Zuerst haben wir s für einen Druckfehler gehalten, aber dann hat der Regisseur im Original nachgeschaut, und dort steht auch Rappaport. Boulanger hat mich gebeten, den Satz mit einem philosophischen Unterton zu -124-
sprechen, vom Fußboden halbhoch hinauf, den Blick starr in den Zuschauerraum
gerichtet.
Sein
Regieeinfall,
daß
ich
während
des
Hinauskriechens ausspucken soll, hat sehr gut gewirkt. Tamar Blumenfeld schreibt, daß sich hier die ambivalente Kontaktlosigkeit der menschlichen Seele, manifestiert. Das trifft genau, was ich mir die ganze Zeit über Boulanger gedacht habe. Ich kann mit diesem Mann nicht arbeiten. Entschuldigen Sie, es ist 12.30 Uhr.« Jarden Podmanitzki zog ein kleines Transistorradio aus der Tasche, stellte es auf den Tisch und lauschte hingebungsvoll der wöchentlichen TheaterRückschau. Als der Rundfunksprecher ihn lobend erwähnte, funkelten seine Augen vor Vergnügen. Man merkte ihm an, daß er den Satz am liebsten aufgenommen hätte: »Jarden Podmanitzki als hinkender Witwer offenbarte besonders in seinem stummen Spiel den unerschütterlichen Optimismus einer Lebensverneinung, die nichts von sich weiß und eben darum jeder menschlichen Regung, die von außen her auf sie zukommt, ein verinnerlichtes Crescendo auftut ...« Ja, Jarden Podmanitzki hat es endlich geschafft. Er benötigte dazu lediglich einen modernen Theaterautor.
Der Beruf des Humoristen hat mit dem des Schwindlers vieles gemeinsam. Beide leben von der menschlichen Dummheit, und beide spekulieren auf häuslichen Zwist, auf Eitelkeit und Heuchelei, auf die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft. Beide, der Schwindler und der Humorist, begehen ihre Handlungen auf intellektueller Basis, der eine durch Taten, der andere mit Worten, zwei gerissene Halunken von gleicher Wesensart, zwei Brüder im Geiste. Mein Zwillingsbruder im Geiste ist der schon erwähnte Jossele. Er tut all das, was ich, der feige Schreiberling, | mich nicht traue, und zu guter Letzt bin ich noch verantwortlich für ihn. -125-
Lob kann töten oder Starkritiker leben kürzer Haben Sie in der letzten Zeit I. L. Kunstetter gesehen? Sie hätten ihn nicht wiedererkannt. Denn dieser Stolz des lokalen Theaterlebens, dieser überragende Meister der giftigen Feder ist ganz plötzlich zu einem Schatten seiner selbst geworden. Seine Hände zittern, seine Augen flackern, sein ganzes Wesen strahlt Zusammenbruch aus. Was ist geschehen, wer hat diesen Giganten von seinem Denkmal gestürzt? »Ich«, sagte mein Freund Jossele und nahm gelassen einen Schluck türkischen Kaffee. »Ich konnte diese Bühnenzecke noch nie ausstehen. Schon die aufdringliche Arroganz seines Stils war mir zuwider.« »Und wie ist es dir gelungen, ihn fertigzumachen?« »Durch Lobeshymnen.« Und dann enthüllte mir Jossele eine der abgefeimtesten Teufeleien des Jahrhunderts. »Nachdem ich mich zur Vernichtung Kunstetters entschlossen hatte, schrieb ich ihm einen anonymen Verehrerbrief. >Ich lese jede Ihrer wunderbaren Kritiken<, schrieb ich. >Wenn ich die Zeitung zur Hand nehme, suche ich zuerst nach Ihrer Rezension. Gierig verschlinge ich diese kleinen theatralischen Meisterwerke, die so voll von Weisheit, Delikatesse und Verantwortungsgefühl sind. Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen aus ganzem Herzen.< Ungefähr eine Woche später schickte ich den zweiten Brief ab: >Meine Bewunderung für Sie wächst von Tag zu Tag. In Ihrer letzten Analyse haben Sie einen stilistischen Höhepunkt erreicht, der in der Geschichte der Theaterkritik nicht seinesgleichen hat.< Du weißt ja, wie diese eitlen Blutegel sind. So verstiegen kann ein Kompliment gar nicht sein, daß sie es nicht ernst nehmen. Hab ich nicht recht?« »Möglich«, antwortete ich kühl. »Aber Komplimente haben noch keinen Kritiker umgebracht.« -126-
»Wart's ab. Insgesamt schickte ich Kunstetter etwa zwanzig Lobeshymnen. Ich
philosophierte
in
seine
banale
Zeilenschinderei
alle
möglichen
Tiefsinnigkeiten hinein, ich pries seine albernen Kalauer als stilistische Finessen, ich zitierte wörtlich seine Formulierungen, mit Vorliebe die dümmsten.
Als
ich
ganz
sicher
war,
daß
meine
wöchentlichen
Begeisterungsausbrüche zu einem festen, unentbehrlichen Bestandteil seines Lebens geworden waren, bekam er den ersten, leise enttäuschten Brief: »Sie wissen, wie sehr ich die Meisterwerke Ihrer kritischen Feder bewundere<, schrieb ich. >Aber gerade das Ausmaß meiner Bewunderung berechtigt, nein, verpflichtet mich. Ihnen zu sagen, daß Ihre letzte Rezension über Macbeth nicht ganz auf der gewohnten Höhe war. Ich bitte Sie inständig, reißen Sie sich zusammen!<« Eine Woche später kam der nächste, schon etwas deutlichere Aufschrei: >Um Himmels willen, was ist geschehen? Sind Sie ein andrer geworden? Oder sind Sie krank und lassen Sie einen Lehrling unter Ihrem Namen schreiben? Was ist los?< Kunstetters Artikel wurden um diese Zeit immer länger, immer blumiger, immer ausgefeilter. Er machte übermenschliche Anstrengungen, um sich wieder in meine Gunst zu schreiben. Vergebens. Gestern bekam er den Abschiedsbrief: »Kunstetter! Es tut mir leid, aber nach Ihrem heutigen leeren Geschmiere über die prachtvolle Moliere-Vorstellung ist es aus zwischen uns. Auch der gute Wille des verehrungsvollsten Theaterfreundes hat seine Grenzen. Mit gleicher Post bestelle ich mein Zeitungsabonnement ab. Leben Sie wohl.< Und das war das Ende.« Jossele zündete sich eine Zigarette an, wobei ein diabolisches Grinsen ganz kurz über sein Gesicht huschte. Ich muß gestehen, daß ich mich vor Jossele zu fürchten begann. Und frage mich, warum ich ihn eigentlich erfunden habe.
Des Fernsehens erstes Opfer oder Das sehenswerte Hörspiel -127-
Eine entfernte Verwandte von Buch und Bühne ist die inzwischen in die Jahre gekommene Medienform namens Hörspiel. Es wurde vom siegreichen Fernsehen zwar kaltblütig ums Eck gebracht, aber dank der obligaten Verkehrsstaus ist es zu neuem Leben erwacht. Das Hörspiel ist im Grunde genommen eine recht schöne und originelle dramatische Gattung. Leider nicht für die Hörspielautoren Warum nicht? Ganz einfach: Während man auf der Bühne oder im Fernsehen auf den ersten Blick feststellen kann, wo und wie die Handlung abläuft, wer da mitspielt, wie die Leute aussehen und wie alt sie sein sollen, tappt der Hörer eines Hörspiels vollkommen im Dunkel der Ätherwellen. Wie also kann er von den äußeren Details doch noch in Kenntnis gesetzt werden? Zum Beispiel auf diese Weise: »... und nun senden wir unser Hörspiel >Endstation Bienenkorbs« (Musik, lautes Klopfen, noch wissen wir gar nichts.) Dröhnende Männerstimme (gehört dem Mann, der klopft): »Mischa, Mischa, darf ich deine geschmackvoll eingerichtete Dreizimmerwohnung betreten?« Leise Männerstimme: »Mischa Armansky würde nie die Tür vor dem Schwager seines Vaters verschließen, selbst wenn es kurz vor Mitternacht wäre.« (Quietschen einer Tür, die geöffnet wird. Wir hören, daß draußen ein Sturm tobt. Dazu einige Donnerschläge, falls jemand den Sturm überhört haben sollte.) Dröhnende Männerstimme (schließt die Tür mit obligatem Quietschen): »Schrecklich der Sturm da draußen.« (Diese Zeile hat der Regisseur eingefügt, um ganz sicher zu gehen.) »Ich bin überzeugt, daß dieser Tag, der 10. November 1934, in die Geschichte der Meteorologie eingehen wird. Und ich will nicht Moses Birnbaum heißen und Orangenplantagenbewässerer sein, wenn ich in meinen dreiundsechzig Lebensjahren je ein solches Wetter erlebt habe.«
-128-
Leise Männerstimme: »Auch ich, wenngleich in Tucson, Arizona, geboren, als stämmiger Dreißiger mit sechsjähriger Universitätsausbildung und derzeit Besitzer einer drei Hektar großen Hühnerfarm nahe der mexikanischen Grenze, wo ich nebenbei Spinat und Erbsen anbaue, kann mich nicht erinnern, je so ein Wetter erlebt zu haben.« Weibliche Stimme (tritt auf, Türquietschen, Zuschlagen): »Guten Abend, Onkel Moses. Erinnerst du dich nicht an mich? Ich bin Bella, Mischas leichtsinnige Gattin, im achten Monat schwanger.« Dröhnende Männerstimme: »Natürlich erinnere ich mich an dich. Du hast dich überhaupt nicht verändert. Du bist noch immer die kleine, dicke Bella mit den slawischen Gesichtszügen, den blauen Augen, der kecken Nase und dem langen schwarzen Haar. Du siehst sehr hübsch aus in deinem braunen Pullover und dem buntgemusterten Schottenrock. Ich kann nur hoffen, daß du dir dein musikalisches Talent sowie deine Begabung für Fremdsprachen erhalten hast.« Leise Männerstimme: »O ja, das ist ihr gelungen, obwohl wir schon acht Jahre verheiratet sind und zwei Knaben und drei Mädchen haben, die alle hier in unserem kleinen Dorf Quasenwood, gegründet 1823, zur Schule gehen.« Weibliche Stimme: »Wenn ich nicht irre, sprechen Sie von Gabriel und Achimaaz und von den Zwillingen Uschi und Kleopatra. Nicht zu vergessen die kleine süße Carmencita im Brutkasten. Alles entzückende Kinder, aber leider können wir nicht ins Detail gehen, weil der Tonmeister soeben das Schlußzeichen gibt.« Es folgen die Nachrichten.
Eines Abends kurz vor Mittemacht - ich war damals schon 12 Jahre alt - verließ ich mein Bett, um unseren Wohnungsnachbarn anzurufen. Aufsein schläfriges »Hallo« flüsterte ich mit erotisch verhängter Stimme den Namen seiner jungen Frau in die Muschel: -129-
»Mathilde?« »Wer spricht?« brüllte der jäh Erwachte. »Wer ist das?« Ich legte auf und lauschte behaglich der lärmenden Auseinandersetzung, die jenseits der Wand zwischen dem Ehepaar losbrach. Es war mein erstes Hörspiel und vielleicht auch das beste.
Fast jeder Schriftsteller flirtet irgendwann einmal mit der Politik, und jeder Politiker träumt davon, ein Buch zu schreiben. Der Politiker hat es leichter: Der Schriftsteller schreibt ihm sein Buch. Trotz dieses ungleichen Verhältnisses gibt es Schriftsteller, die sich einbilden, das politische Leben zu beeinflussen, nur weil sie von Zeit zu Zeit den Salon eines Ministers mit ihrer Anwesenheit schmücken dürfen. Einige sind sogar überzeugt, daß die Staatsführung in ihren Händen liegt, aber davon kann keine Rede sein. Jeder Schriftsteller kann schließlich nur einen Wahlzettel in die Urne werfen.
Ich habe ja so recht oder Die scharfe Schneide der Satire »Soll ich mich hinlegen, Herr Doktor?« »Ja. Hier, auf diese Couch. Legen Sie sich hin, schließen Sie die Augen und erzählen Sie mir, was Sie bedrückt.« -130-
»Ich verstehe die Welt nicht mehr.« »Na ja, das sagt man so. Sie müssen sich schon ein wenig genauer ausdrücken. Vergessen Sie, daß ich Ihr Psychiater bin, und plaudern Sie drauflos. Sprechen Sie zu mir wie zu einem alten Freund. Also.« »Also, Sie wissen ja, daß ich mich nebenbei auch publizistisch betätige. Seit Jahren verfasse ich eine satirische Kolumne für eine unserer führenden Tageszeitungen. Von Haus aus bin ich ein stiller, ruhiger Mensch. Man könnte mich sogar introvertiert nennen. Aber manchmal schreibe ich scharfe Artikel gegen die Regierung und verschiedene öffentliche Institutionen.« »Vollkommen in Ordnung. Wir leben ja in einer Demokratie.« »Trotzdem. Infolge meiner ständigen Angriffe fühle ich mich gefährdet. Ich fürchte die Rache der Angegriffenen. Zum Beispiel erschien vor ungefähr einem Jahr ein scharfer Artikel von mir gegen Dr. Bar-Bizzua, den Generaldirektor des Ministeriums für Integrierte Planung, Sie erinnern sich ...« »Nicht sehr genau.« »Damals verhandelte Dr. Bar-Bizzua für die Regierung mit einer neugegründeten Firma, der Allgemeinen Petrol- und Produktions-AG. Es ging um einen Auftrag in Höhe von 160 Millionen. Dr. Bar-Bizzua unterschrieb den Auftrag im Namen der Regierung und begab sich anschließend zum Minister für Integrierte Planung, um ihm seinen Rücktritt bekanntzugeben. Als er das Ministerium verließ, war er bereits der neue Manager der Allgemeinen Petrol und konnte in dieser Eigenschaft den von ihm unterzeichneten Vertrag gegenzeichnen. Ich habe diesen Vorgang, der allen ethischen Gesetzen Hohn spricht, in einer Satire aufs schärfste verurteilt und habe den Minister für Integrierte Planung zum Rücktritt aufgefordert.« »Ja, jetzt erinnere ich mich. Wenn ich nicht irre, nannten Sie ihn den >Minister für Integrierte Korruption^« »Richtig. Und nach Erscheinen dieses Brandartikels habe ich mich tagelang nicht auf die Straße getraut. Ich mußte ja damit rechnen, daß der Minister sich irgendwie zur Wehr setzen würde.« -131-
»Kein abwegiger Gedanke.« »Und was geschah? Zwei Tage später ging bei mir das Telefon, und es war der Minister selbst. >Lieber Freunds sagte er, >ich möchte Ihnen nicht verheimlichen, daß ich mir Ihre prächtige Satire ausgeschnitten habe und daß sie eingerahmt auf meinem Schreibtisch steht, gleich neben dem Foto meiner Frau und der beiden Buben. Ich pflichte jedem Ihrer Worte bei. Gott segne Sie.< Was sagen Sie dazu, Herr Doktor?« »Ein klarer Fall von Projektionsverschiebung. Der Minister identifiziert sich gewissermaßen mit Ihnen. Eine sehr positive Einstellung, finde ich.« »Und ich dachte, er würde beleidigt sein und einen Wutanfall bekommen.« »Einen Wutanfall? Warum? Sie hatten recht, und er gab es zu.« »Hm. Wenn Sie glauben. Offenbar leide ich an Verfolgungswahn, weil man mich nicht verfolgt. Wie ich später hörte, hat der Minister meine Satire kopieren lassen und sie unter seinen Beamten verteilt. Einer davon informierte mich, daß er mir noch ganz andere Geschichten aus dem Ministerium erzählen könnte. Mir würden die Haare zu Berge stehen, sagte er. Und er blieb nicht der einzige.« »Mit anderen Worten, man bringt Ihnen von allen Seiten Verständnis und Zuneigung entgegen.« »Ja, und das macht mich verrückt. Sogar Dr. Bar-Bizzua hat mir geschrieben, auf dem Briefpapier der Allgemeinen Petrol. Er gratulierte mir zu meinem Artikel und wünschte mir weiterhin viel Glück. Was soll das bedeuten?« »Daß er Ihnen weiterhin viel Glück wünscht.« »Aber das ist doch ein unmöglicher Zustand. Der Minister hätte demissionieren und die Allgemeine Petrol hätte Dr. Bar-Bizzua entlassen müssen. Statt dessen geben sich beide Seiten vollkommen unbekümmert. Es hat sich überhaupt nichts geändert. Es ist alles beim alten. Genau wie in der Frage der Einkommensteuer. Seit Jahren greife ich mindestens einmal im Monat unser Steuersystem an und weise nach, daß es unsere Bürger zu Betrügern macht ...« »Ich bedaure, aber ich kann Ihnen auch keine Honorarquittung geben.«
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»Natürlich nicht. Ich habe unseren Staat jetzt schon an die zwanzigmal >das Land der Steuerhinterziehen genannt und habe eigentlich damit gerechnet, daß man mich eines Tages lynchen würde. Keine Rede davon. Neulich im Theater kam der Finanzminister auf mich zu und klopfte mir anerkennend auf die Schulter: >Ich kann Ihnen gar nicht sagen, welchen Dienst sie uns mit Ihren hervorragenden Artikeln erweisen. Lassen Sie nicht ab von uns. Die Gerechtigkeit muß siegen.< Kurzum, es gibt niemanden im ganzen Establishment, der mit mir nicht einverstanden wäre.« »Das ist doch sehr ermutigend.« »Zweifellos. Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, funktionierende Demokratie, alles schön und gut. Aber die Steuern sind noch immer so hoch wie zuvor. Als ich vorige Woche in meiner Kolumne für unsere Steuerbehörde den Ausdruck >Taschen-Mafia<
gebrauchte,
bekam
ich
vom
Finanzminister
einen
Blumenstrauß und ein Kärtchen mit persönlichen Glückwünschen: >Wir alle bewundern die Meisterschaft Ihrer Formulierungen und die Treffsicherheit Ihrer Wortspiele. Nur weiter so.< Wie finden Sie das?« »Ich finde das sehr nett von ihm. Es zeugt von seinem gesunden Humor. Ein anderer an seiner Stelle hätte vielleicht protestiert. Er nicht.« »So. Und warum hat er dann protestiert, als ich in einem Artikel eine Andeutung machte, daß er einen Bauch bekommt?« »Weil das seinem Bild in der Öffentlichkeit schadet. Sie müssen persönliche Angriffe vermeiden.« »Ich muß gar nichts vermeiden. Ich bin ein Fanatiker der Wahrheit, ich bin ein kämpferischer Satiriker. Haben Sie meine Artikelserie über Protektionismus in Regierungskreisen gelesen?« »Es kommt mir irgendwie bekannt vor.« »Sogar der Ministerpräsident wurde darauf aufmerksam, lud mich zum Mittagessen ein und brachte einen Toast auf mich aus: >Ich trinke auf das Gewissen unserer Nation, auf den unermüdlichen Enthüller der verborgenen
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Übel in unserem Land.< Noch nie im Leben habe ich so stürmischen Beifall gehört.« »War das damals, als Ihr Name im Goldenen Buch verewigt wurde?« »Nein. Ins Goldene Buch kam ich, als es mir gelang, den Schwindel in den Wohltätigkeitsorganisationen aufzudecken.« »Das war ja auch ein brillanter Artikel. Ich habe mich schiefgelacht.« »Danke vielmals. Aber der Schwindel geht weiter. Fast scheint es mir, als hätte dieser Bazillus im öffentlichen Leben auch mich schon infiziert. Vor ein paar Wochen brauchte ich eine kleine Gefälligkeit von einem unserer Ämter, und da ich dort niemanden kenne, schrieb ich einen Artikel, daß in der betreffenden
Abteilung
lauter
Idioten
säßen.
Prompt
waren
die
freundschaftlichen Beziehungen hergestellt. >Wenn Sie wüßten, wie recht Sie haben<, sagten mir die Mitarbeiter. Und gaben mir bereitwillig weitere Auskünfte.« »Ein höchst anerkennenswerter Zug zur Selbstkritik.« »Ohne die geringsten Folgen.« »Sie dürfen nicht zuviel auf einmal verlangen. Man muß nachsichtig sein. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« »Was hat das mit Liebe zu tun? Sie reden nichts als Unsinn, Herr Doktor.« »Möglich, möglich.« »Verzeihen Sie, aber ich hätte mehr von Ihnen erwartet.« »Das liegt an Ihnen.« »Sie sind kein Psychiater, Sie sind ein läppischer Phrasendrescher. Immer dasselbe. Wie eine Schallplatte mit Sprung.« »Ich kann Ihnen nicht widersprechen.« »Im Grunde sind Sie genauso unverbesserlich wie alle anderen Schurken, über die ich schreibe.« »Wenn Sie wüßten, wie recht Sie haben.«
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Nach einer viel zu wenig beachteten Statistik des »Internationalen Instituts für angewandte Belletristik« ist bei Schriftstellern unterhalb von dreitausend verkauften Exemplaren eine starke Linkstendenz festzustellen. Sie sind fast durchwegs leidenschaftliche Kämpfer für die soziale und wirtschaftliche Gleichheit. In der Gruppe von drei- bis fünfzigtausend verkauften Büchern bewegt sich der Autor unaufhaltsam auf das Zentrum zu, und seine Ansichten werden liberaler. Ab hunderttausend Büchern läßt das Verlangen des Autors nach einer egalitären Gesellschaft beträchtlich nach. Ein Schriftsteller aber, dessen Auflagenhöhe die Millionengrenze übersteigt, wird unvermeidlich Kommunist.
Wenn irgendwann in naher Zukunft der geschriebene Humor endgültig zu Grabe getragen werden sollte, wird man in eine schwarze Marmortafel die Inschrift meißeln: »Hier ruht die gute alte Humoreske, geboren zur Zeit des Aristophanes, verschlungen im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vom Farbfernsehen. Sie ruhe in Frieden.« Der gewölbte, stets gefräßige Bildschirm hat schon unendlich viel verschlungen, ohne je den Appetit zu verlieren. Aber daran ist er ebensowenig schuld wie eine Boa Konstruktor, die Tag für Tag ihren zehn Meter langen Körper satt kriegen muß. Die Boa kann ihre Opfer hypnotisieren, das kann das Fernsehen auch, und es liefert sogar noch nette Musik dazu. Was den Humor in den einschlägigen Sendungen betrifft, so muß der Fernsehsüchtige inzwischen dankenswerterweise sein Gehirn, genauer gesagt seine grauen Zellen nicht mehr strapazieren. Die Sender liefern ihm die vorgefertigten Lachsalven, der Humor geht auf direktem Weg vom Produzenten zum Konsumenten ohne
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Zwischenhandel, unter Umgehung jeglicher grauer Zellen oder was noch davon geblieben ist. Humor ist wie jede andere Ware der Konsumgesellschaft inzwischen zum virtuellen Instantgenuß verkommen. »Fast Humor« für jeden. Mundgerecht mit synthetischem Gewieher gewürzt. Was bleibt dem Humoristen da noch zu tun? Er kann versuchen, auf den fahrenden TV-Schnellzug aufzuspringen, oder seine Schreibstube gleich zusperren, sich in den Lehnstuhl lümmeln und gemeinsam mit der schweigenden Mehrheit vor der Glotze entschlummern. Oder besser noch, selbst im Fernsehen auftreten. Denn auf unerklärliche Weise gilt heute: Je weniger Humoristen es auf der Welt gibt, desto lieber werden sie als aussterbende Spezies im Glaskäfig vorgeführt. Und das ist auch gut so. Fernsehen verkauft Bücher.
Das Tele-Duell oder Auch Lexika können irren Auf der anderen Seite der Barrikade sitzt immer der Gegner, auch Interviewer genannt. Seine wichtigste Aufgabe im Dienst des Publikums ist es, den Gast zum Reden zu bringen. Theoretisch. In der Praxis wird ein gewiefter Interviewer sein Möglichstes tun, seinen Gesprächspartner zum Zuhörer zu machen. Alles, was er dazu benötigt, ist ein bißchen Erfahrung, ein Mikrofon sowie eine gehörige Portion Nachschlagewerke. Erfahrung erwirbt der Interviewer, wenn er keine wie immer geartete Talkshow oder kein noch so überflüssiges Unterhaltungsmagazin ausläßt. Lexika bezieht er am preisgünstigsten als Rezensionsexemplar von den Pressestellen der Verlage. Zu Hause nimmt er sodann genüßlich den achten Band (Hackebeil - Irrwisch) zur Hand und sucht heraus, was der Sammelbegriff »Humor« zu bieten hat. So wird er schlagartig schlagfertig und ist für das Interview mit dem Humoristen gerüstet. -136-
Die Talkshow verläuft dann so: Lexikon: »Hallo Ephraim, schön. Sie bei uns im Studio zu haben. Wir wollen heute erfahren, was Sie von Humor halten. Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß >Humor< eigentlich eine lateinische Vokabel ist und wörtlich übersetzt >Feuchtigkeit< heißt.« Humorist: »Tatsächlich?« Lexikon: »Um Ihre Frage zu beantworten, lieber Ephraim, muß ich ein bißchen ausholen. Ich für meine Person habe seit meiner Kindheit den Eindruck, daß der Humor eigentlich nichts anderes ist als akkumulierte emanzipatorische Motivationsrelevanz. Sind wir da einer Meinung?« Humorist: »Ich weiß nicht so recht. Alles, was ich tue, um die Menschen zum Lachen zu bringen ...« Lexikon: »Genau, lieber Freund, genau. Ich für meinen Teil habe festgestellt, daß Lachen eine Art spasmischer Reaktion ist, die von einer facialen Distortion begleitet wird, die ihrerseits als instinktive Expression des kontemplativen Frohsinns verstanden werden kann.« Natürlich muß Lexikon das nicht alles auswendig lernen. Die Kamera zeigt ja permanent den stummen Stargast, so daß Lexi problemlos die Notizen herunterlesen kann, die er daheim abgeschrieben hat. Mehr noch, er kann zwischendurch in der Nase bohren, und er kann sogar den Kameraassistenten mit Fingerzeichen fragen, wieviel Zeit ihm noch bleibt bis zum nächsten Werbespot. Trotzdem versucht der Humorist, eine annähernd gute Figur zu machen: »Also, ich würde nicht sagen, daß der Humor ...« »Warum nicht?« unterbricht ihn Lexi. »Auch Kant und Nietzsche waren sich einig, daß Lachen einem Gefühl für das Unvereinbare entspringt, oder wie Bismarck es in seinem berühmten Briefwechsel mit Lessing ausdrückte: Humor ist ein Derivat von Pathos und Verspieltheit und reflektiert somit auf höchst profunde Art die aristotelische Antithese der abendländischen Innovationspräferenz. « -137-
Der interviewte Schreiberling bricht allmählich unter der Last der Schlagworte zusammen. Als Lexi in der Zielgeraden endlich zwischen Spinoza und Sholem Alejchem anlangt, ist vom ehemaligen Humoristen nur noch ein hilfloser Gartenzwerg übrig. »Apropos Spinoza«, der Interviewer in seinem Größenwahn ist jetzt nicht mehr zu bremsen. »Kennen Sie die köstliche Anekdote vom Papagei und dem Löwen?« »Ja. Der Papagei sagt: >Ich mache nur Maniküre.<« Pause. Lange Atempause. Der Humorist macht sich das Vakuum zunutze, das für einige Sekunden entstanden ist und leiert herunter: »Darf ich Ihnen Kafkas Definition in Erinnerung rufen: >Der Witz ist eine der vielen Möglichkeiten, die Wahrheit zu sagen. <« Lexi, in sichtlicher Unkenntnis des Unterschieds zwischen Interview und Monolog, ist indigniert: »Ich will gar nicht behaupten, daß das falsch ist«, räumt er ein, während er fieberhaft in seinen Notizen wühlt, »obwohl ich persönlich mehr dazu neige, die These Sigmund Freuds zu akzeptieren, daß der Humor, fundamental betrachtet, nichts anderes ist als ein psychoneurotischer Block, dazu bestimmt, die Beziehungskonflikte mit dem anderen Geschlecht zu kompensieren.« An dieser Stelle nutze ich die Chance, daß ich in einer Live-Sendung sitze, und sage laut und deutlich: »Das verstehe ich nicht.« Lexi schaut von seinen Notizen auf, und zum ersten Mal ist in seinen Augen ein Schimmer von Unsicherheit zu erkennen. Natürlich hat er den ganzen Stuß selbst nicht verstanden, doch er hat sich darauf verlassen, daß ich mich an die Spielregeln halte oder zumindest so tue als ob. »Freud wollte sagen ... also, mit anderen Worten ...«, stottert Lexi. »Humor ist quasi ... eine Art Blockade psychoneurotischer Natur ...« Jetzt ist der Moment der süßen Rache da.
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»Ich fürchte«, erkläre ich freundlich, »daß Sie da einige Passagen durcheinandergebracht haben. Die von Ihnen zitierte Freud-Sentenz steht zwar unter >H<, ist aber einige Seiten vor >Humor< unter dem Stichwort >Homosexualität< zu finden.« Der Rest ist Schweigen. Fragt sich nur, warum ich eigentlich so selten im Fernsehen interviewt werde?
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Durch die Brille Der Eintagsfliege
Eigentlich betreibt der Verfasser dieser Zeilen ein Geschäft, von dem er gar nicht weiß, wie es funktioniert. Es mag seltsam klingen, aber ein guter Humorist unterscheidet sich kein bißchen von einem guten Elektriker. Beide wissen genau, was sie tun müssen, damit das Licht angeht beziehungsweise der Leser schmunzelt. Dem Elektriker ist es dabei völlig gleichgültig, daß der Strom ein -140-
Wunder der Technik ist, solange er nur von irgendeinem Kraftwerk daherströmt, so wie auch der Humorist keinerlei Fragen über die Geheimnisse seines Berufs stellt, solange der Humor aus ihm herausströmt.
Über dieses Thema wurden mehr langweilige Bücher geschrieben als über vieles andere in der Welt. Philosophen, die etwas von sich halten, betrachten es seit jeher als heilige Pflicht, unter Einsatz von Logik und Verstand herauszufinden, warum zum Teufel etwas witzig ist, wie man etwas Humorvolles produziert und welche Gesetze dabei wirken könnten Ich persönlich weiß es genauso wenig. Wenn ich behaupte, daß ich keinen blassen Dunst davon habe, ist das sogar noch untertrieben. Vor einigen Jahren hat mich die amerikanische Firma IBM gebeten, mit ihr gemeinsam einen Computer herzustellen, der Humor produziert. »Wir haben bereits einen Computer, der Gedichte schreibt«, sagten die Fachleute. »Es hindert uns also nichts daran, auch humoristische Grunddaten in ein Gerät einzuprogrammieren.« Ich war etwas verlegen, denn immerhin gelte ich ja als Experte auf diesem Gebiet. »Es tut mir leid«, mußte ich sie enttäuschen, »die Grundregel des Humors lautet, daß er keine Regeln hat, wie ja auch das Phänomen Lachen selbst nicht erklärt werden kann. Das Geheimnis liegt vielleicht in der Form oder im Rhythmus, die entweder da sind oder nicht. Wenn jemand eine Stradivari zerlegt, um herauszufinden, was den besonderen Klang dieser Geige ausmacht, wird er auch nichts finden.« »Geben Sie uns nur Zeit, wir werden Sie schon noch überraschen«, versicherten mir die Fachleute. »Wer zuletzt lacht, lacht am besten.« »Falsch, meine Herren«, antwortete ich. »Wer zuletzt lacht, der ist meist der Dumme in der Runde, der die Pointe erst zehn Minuten später begreift als alle anderen.«
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Die Herren kicherten. Ich fragte sie, warum sie gekichert hätten, und sie antworteten, weil es komisch gewesen wäre. »Gut«, sagte ich, »dann erklären Sie das dem Computer.« Danach schlug ich vor, einen so großen Computer zu konstruieren, daß ich darin Platz nehmen könnte. Wir trennten uns in freundlichem Einvernehmen, und ich warte immer noch auf die Überraschung von IBM. Es gibt bis heute keine Fakultät, an der Humoristen ausgebildet werden. Und wenn man irgendeine Gesetzmäßigkeit erkennen würde, die den Humor erklärt, dann gäbe es sofort eine andere Gesetzmäßigkeit, die sie widerlegt. Alle Alchimisten des Humors sind daran gescheitert, sogar der größte von allen, Sigmund Freud. In seinen Schriften argumentierte er, der menschliche Witz sei zwar ein psychologischer Höhepunkt, im wesentlichen konzentriere er sich jedoch darauf, Mitmenschen zu demütigen. Das ist zweifellos eine wunderbare Lehre, aber bei allem Respekt: Was ist an einem Wortspiel demütigend? Warum muß man schmunzeln, wenn der »Erlkönig« plötzlich so deklamiert wird: »Wer reitet so spät durch Nacht und Wind. Es ist der Vater auf seinem Kind ...« Oder nehmen wir einen anderen Meister des Humors, Oscar Wilde, der behauptete, Humor bringe Menschen zum Lachen, weil er der Logik widerspreche. Zum Gedenken an diesen scharfsinnigen Autor sei es mir erlaubt, eine kleine Geschichte über meinen Nachbarn zu erzählen, einen alten frommen Rabbiner, der es sich zur Gewohnheit gemacht hat, auch Fremde zu seinen Sabbatmälern einzuladen, so wie es der jüdische Glaube vorschreibt. An jenem Abend, nach den Segenssprüchen über Brot und Wein, blickte der Rabbiner zum Fenster hinaus, und am Gartenzaun stand ein Bettler, der seinen Rücken an einem der Pfähle rieb. Mein Nachbar eilte hinaus und fragte, was dies zu bedeuten habe. »Mein Rücken juckt«, antwortete der Bettler, »und ich kann ihn mir selbst nicht kratzen.« Er wurde zum Sabbatmal eingeladen, aß sich satt und verließ froh und guter Dinge das Haus meines Nachbarn. Am nächsten Sabbat standen dann schon zwei Bettler am Gartenzaun und rieben den Rücken an den Pfählen. Wutentbrannt lief unser Rabbiner hinaus und vertrieb die -142-
beiden. Man fragte ihn, was denn passiert sei. »Sie sind jetzt schließlich zu zweit«, antwortete er. »Sie können sich gegenseitig den Rücken kratzen.« Lieber Oscar, diese Geschichte ist gerade deswegen lustig, weil sie logisch ist, nicht wahr? Der große Philosoph Arthur Schopenhauer hatte mit seiner Definition nicht viel mehr Glück. Seiner Theorie nach entsteht Humor, wenn Wunsch und Realität unvereinbar bleiben. Für ihn habe ich eine wahre Geschichte parat, die auf einem eigenen Erlebnis basiert, das ich in angenehmer Erinnerung habe. Vor geraumer Zeit hatte ich die Ehre, an einer TV-Talkshow teilzunehmen, und zwar gemeinsam mit dem »Bücherpapst« Marcel Reich-Ranitzki, der sich aus unerfindlichen Gründen 40 Jahre lang streng gehütet hat, meinen Namen auch nur einmal zu erwähnen. Wie es der Teufel so wollte, stolperte Herr ReichRanitzki, als er majestätisch die Treppen hinunter auf die Kameras zuschritt, kugelte die Stufen herab, legte, wie es in der Pilotensprache so treffend heißt, eine glatte Bauchlandung hin, erhob sich und schimpfte mit der Treppe. Die Anwesenden reagierten mit schallendem Gelächter, und mir fiel Schopenhauer ein und daß auch er sich einmal geirrt hat: Mein Wunsch und die Realität hatten hier nämlich wunderbar zusammen gefunden. Das Genie Albert Einstein kam einer plausiblen Erklärung am nächsten. Der Wissenschaftler, für seinen eigenen Sinn für Humor bekannt, gab zwar zu, auch keine genaue Definition zu haben, doch sei seiner Meinung nach Humor das wichtigste Geschenk der Natur an den Menschen. Damit schloß er sich der Meinung des bedeutendsten jüdischen Schriftstellers Schalom Alejchem, an, der seinerzeit festgestellt hatte, Lachen sei Medizin und äußerst bekömmlich für die Gesundheit. Humor ist eine mysteriöse Sache. Man lacht aus Gründen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, man lacht auch, wenn man an den Füßen gekitzelt wird oder zwei Finger in der Taille krabbeln. Die organische Funktion des Lachens, so heißt es, ähnle dem Schluckauf. Aber unter uns gesagt, die -143-
Ursachen des Schluckaufs sind zumindest biologisch belegbar. Nicht so jene des Lachens. Was ist Humor nun wirklich? Ich habe keine Antwort, ich bin nur der Elektriker, wie gesagt. Ich kenne mich mit den Steckern und Schaltern des Berufs aus, und damit hat sich's. Es kommt vor, daß ein Mensch, der Kummer und Sorgen nicht mehr im Griff hat, plötzlich in schallendes Gelächter ausbricht. Humor kann auch als Alibi dienen. Leider sind viel zu viele Leute der Ansicht, ordinäre Sprüche seien eine besonders originelle Art von Humor. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Am Ende sind wir wieder bei der langlebigen Eintagsfliege angelangt, die gar nicht viel über ihr Handwerk weiß. Denn was ich über meinen Beruf preisgeben kann, sind nicht viel mehr als ein paar technische Aspekte, die auf Lebenserfahrung beruhen: • Ein humoristisches Werk ist entweder amüsant oder unerträglich. Ein Mittelding ist unvorstellbar. Ebenso wie eine Telefonnummer, die ungefähr stimmt, oder eine Frau, die ein bißchen schwanger ist. • Die Satire ist leider keine Waffe. Bestenfalls ein Spiegel, in dem jeder sein wahres Gesicht erkennen kann. Ich habe aber noch von keinem Spiegel gehört, der das Gesicht des Betrachters verändert. • Von einem Satiriker kann man alles verlangen, nur keine Ideologie. Es ist nämlich seine Aufgabe, jede Lebensäußerung, jedes Ereignis, jede Emotion, kurz alles, sogar die eigene Überzeugung, in Frage zu stellen. • Der Humorist unterscheidet sich von anderen Sterblichen grundsätzlich durch nichts. Von einer wesentlichen Eigenschaft abgesehen: Er vertritt eine eigene Meinung. Er ist nicht mehr und nicht weniger als ein zweibeiniger Wahrheitsdetektor. Ein vollautomatisiertes Röntgengerät zur Durchleuchtung der Heuchelei, ein Lügenthermometer, das mit unerschütterlicher Sicherheit feststellt: Du hast gelacht, also hast du die Wahrheit gehört. Man kann im Leben mit Lügen viel erreichen, aber Menschen zum Lachen bringen kann man damit nicht. -144-
• Der Humorist weint über die Welt und lacht über sich selbst. Aber anders als der Clown hat er keine zu großen Schuhe an den Füßen, sondern bestenfalls eine zu scharfe Brille auf der Nase.
Die Stunde Null oder Alltag eines ausgefuchsten Humoristen Da man mir diese Frage öfter stellt, will ich mich bemühen, sie zu beantworten. Wie, so will man wissen, schreibt man eine lustige Geschichte? Genauer gesagt, warum schreibt man sie? Die Antwort lautet: Weil man einen Vertrag hat. Der humoristische Schriftsteller kann sich ja keineswegs auf seine fragwürdigen Büchererfolge verlassen, daher bezieht er nebenbei von den sogenannten Massenmedien, genauer gesagt von einer Tageszeitung, ein bestimmtes Gehalt und muß dafür wöchentlich einen erstklassigen humoristischen Beitrag liefern, spätestens Donnerstag um 9.30 Uhr. Soweit ist alles klar. Das Problem des Lieferanten besteht nur darin, daß er nicht weiß, worüber er schreiben soll. Der Berufshumorist erwachte prinzipiell in übler Laune. Er hatte im Traum eine traumhaft humorvolle Geschichte geschrieben, und gerade als es zur Pointe kam, war er aufgewacht. Mit einem bitteren Geschmack im Mund erhob er sich vom Bett. In der letzten Zeit wollte nichts mehr klappen. Vergangene Woche zum Beispiel, während er vor dem Schreibtisch saß, hatte er eine wirklich lustige Szene zu konstruieren begonnen, und gerade als es zur Pointe kam, war er eingeschlafen. Er besitzt jedoch ein kleines gelbes Notizbuch, in das er mit Hilfe eines Kugelschreibers die brillanten Ideen einträgt, die ihm oder einem seiner Bekannten plötzlich eingefallen sind. Wenn der Zeitpunkt der Ablieferung herannaht, beginnt der Humorist fieberhaft in seinem Notizbuch zu blättern und -145-
findet zumeist nichts. Deshalb bezeichnet man diesen Zeitpunkt als »Stunde Null«. Was den Humoristen besonders erbittert, sind jene eilig hingekritzelten Einfälle, die er nicht mehr versteht. Ich, zum Beispiel, stoße in meinem Ideenfriedhof immer wieder auf rätselhafte Notizen wie: »Plötzliche Geburt, ungültig« oder »Verzweifelt. Hohlkopf führt Hund Gassi. Schweißperlen«. Es ist mir längst entfallen, was diese geheimnisvollen Inschriften bedeuten. Ich habe keine Ahnung, warum und wozu ein Hohlkopf in längst vergangenen Tagen einen Hund spazierengeführt haben könnte. Mein Gott, welch ein Beruf. Nach dem Fiasko mit dem Notizbuch begebe ich mich auf die Jagd nach neuen, ergiebigen Einfällen. Die Jagd bleibt erfolglos. Mein Kopf ist leer. Er erinnert mich an den Hohlkopf. Was war's mit dem? Ich weiß es nicht. Ich denke nach. Vergebens. Nichts. Kommt noch hinzu, daß mich automatisch ein unüberwindliches Schlafbedürfnis befällt, sowie ich mich hinsetze, um eine lustige Geschichte zu schreiben. Vermutlich handelt es sich hier um einen psychosomatischliterarischen Müdigkeitskomplex oder dergleichen. Es beginnt im Kopf und breitet sich mit Windeseile bis zu den Zehenspitzen aus. Ich habe schon mehrere prominente Psychiater konsultiert. »Die Sache ist die«, so beichte ich ihnen, »daß ich nicht das geringste Bedürfnis verspüre, lustige Geschichten zu schreiben. Und zum Schluß schreibe ich sie trotzdem. Glauben Sie, daß ich krank bin?« Die Psychiater sind sofort mit einer Erklärung zur Hand. Sie sagen, daß mir meine Mutter in meiner Kindheit bestimmt einen Witz erzählt hat, den ich nicht verstanden habe, und daraus hat sich bei mir ein traumatischer Widerstand gegen jede Art von Humor entwickelt. Sagen sie. Aber auch das hilft mir nicht weiter. Der Vorteil solcher Konsultationen besteht darin, daß man bequem auf einer Couch liegt und daß die Mütter an allem schuld sind. -146-
Übrigens veranstalte ich auch die Jagd nach lustigen Themen mit Vorliebe liegend. Das Blut strömt in diesem Zustand leichter und besser ins Hirn, besonders wenn man die Füße ein wenig hebt und den Kopf ein wenig senkt. Man braucht dann nur noch auf die Einfälle zu warten, die mit dem Blut ins Hirn strömen, und binnen kurzem schläft man ein. Eine andere Lösung bietet der Schaukelstuhl. Man schaukelt sich halb blöd und hört zu denken auf. Sobald dieser Punkt erreicht ist, greife ich nach dem gelben Notizbuch und beginne zu blättern. Als Ergebnis verzeichne ich in den meisten Fällen zwei Drittel Arafat und ein Drittel Steuerreform. Was war das für ein Hund? Und warum hat ihn der Hohlkopf spazierengeführt? Ich begebe mich zur Hausapotheke und schlucke ein Aspirin. Dann öffne ich das Fenster, damit, wenn schon kein Blut ins Hirn, so doch etwas feuchte, heiße Luft ins Zimmer strömt. Dann spitze ich sorgfältig alle Bleistifte im Haus, wobei ich die Klinge des Bleistiftspitzers zweimal wechsle, um bessere Resultate zu erzielen. Während ich mir mit demonstrativer Langsamkeit die Nägel schneide, entdecke ich im Durcheinander auf meinem Schreibtisch eine kleine Schachtel. Ich öffne sie und zähle die darin befindlichen Büroklammem. Es sind 46. Ich esse ein Biskuit. Ich esse eine saure Gurke. Ich frage mich, was ich tun wollte. Richtig. Ich wollte eine lustige Geschichte schreiben. Aber worüber? Es dunkelt. Kein Zweifel, daß diese Zeit sich nicht für schöpferische Arbeit eignet. Das ist ja überhaupt die Schwierigkeit mit dem Schreiben lustiger Geschichten: Am Morgen ist man noch verschlafen, zu Mittag erfolgt die Nahrungsaufnahme, der Nachmittag eignet sich nicht zum Schreiben, und am Abend ist man müde. In der Nacht schläft man. Wann also soll ich schreiben? Ich frage, wann?
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Mit Riesenschritten naht die Stunde Null. Das leere Papier auf meinem Schreibtisch starrt mir anklägerisch entgegen. Ich muß mich konzentrieren. Ich muß, es geht nicht anders. Aber auch so geht es nicht. Was ist in der letzten Zeit geschehen? Was ist mit der Steuerreform? Mit Arafat? Und wie komme ich auf den Gedanken, daß das lustig sein könnte. Auf dem Fensterbrett liegt eine Fliege, lang ausgestreckt, die Füße ein wenig höher, den Kopf ein wenig tiefer. Sie denkt nach. Jetzt spitzt sie ihre Beine, obwohl sie um 9.30 Uhr keine lustige Geschichte abzuliefern hat. Ist es eine männliche oder eine weibliche Fliege? Ein Transvestit? Ich unternehme einen diskreten Erkundungsversuch, der zu nichts führt. Sodann beschließe ich, die Fliege zu ermorden. Es ist das erste interessante Ergebnis des heutigen Tags. Zu dumm, daß ich schon mindestens ein Dutzend Geschichten über Fliegen geschrieben habe. Aber wenn ich's recht bedenke, habe ich im Verlauf meiner letzten 60 Lebensjahre schon über alles geschrieben, was es gibt. Mir fällt ein, daß ich die Topfpflanzen gießen muß. Kein sehr zweckdienlicher Einfall, aber in Zeiten der Not darf man nicht wählerisch sein. Ich gehe ins Badezimmer, fülle ein Glas mit Wasser und gieße die Topfpflanzen. Und da ich schon bei der Behandlung von Pflanzen bin, gehe ich in den Garten und entfernte drei verwelkte Blätter vom Hibiskusstrauch. Hierauf gehe ich ins Zimmer zurück, setze mich an den Schreibtisch und weiß nicht, was ich schreiben soll. Leider bin ich Nichtraucher, sonst könnte ich jetzt zuviel rauchen. Nun, es gibt ja immer noch den Kaffee, wenn man sich unbedingt selbst vergiften will. Ich gehe in die Küche, koche einen sehr starken Kaffee und trinke ihn aus, ohne Milch und ohne Zucker. Dann warte ich auf die Ideen, die mit dem Kaffee in mein Hirn strömen müßten. Sie strömen nicht. Statt dessen werde ich nervös und merke, daß meine Hand zu zittern beginnt. Ich hole mir eine Flasche Bier und beruhige mich. -148-
Vielleicht sollte ich etwas Politisches schreiben? Über Fliegen? Über Fliegentöter? Über Eintagsfliegen? Das Bier macht mich schläfrig. Ich brauche einen Sliwowitz, um wieder lebendig zu werden. Außerdem brauche ich eine Tablette gegen Herzflattern, eine Tasse Kakao und ein Glas Wasser, um die Topfpflanzen zu gießen. Ich will das Fenster öffnen, aber es ist schon offen. Ich höre ein paar alte Schallplatten und rufe ein paar alte Freunde an, um mich zu erkundigen, was es Neues gibt. Es gibt nichts Neues. Ich esse einen Pfirsich, ich esse einen überreifen Camembert, putze die andere Hälfte von meinem Hemd weg, möchte wissen, wie Käse hergestellt wird, schaue in der Enzyklopaedia Judaica nach und finde keinen Käse. Dann bin ich sehr müde. Nachdem ich noch einen Kaffee, noch einen Kakao und noch ein Bier getrunken habe, rasiere ich mich. Das macht mir den Kopf frei. Einer medizinischen Expertise zufolge gibt es funktionelle Ersatzhandlungen fürs Schlafen. Wenn man beispielsweise ein reines, weißes Hemd anzieht, so hat das den gleichen Erfrischungswert, als ob man eine halbe Stunde geschlafen hätte. Eine kalte Dusche ersetzt eine volle Stunde, ein heißes Bad eine weitere, und eine Stunde Schlaf ist so gut wie zwei Stunden. Aber dazu habe ich jetzt keine Zeit. Ich torkle in das Zimmer der besten Ehefrau von allen und frage sie, ob sie nicht zufällig eine Idee für eine lustige Geschichte hat. »Warum?« murmelt sie schlaftrunken. »Wieso? Es gibt doch eine Menge von Themen ...« »Welche?« brülle ich. »Welche?!« »Was weiß ich. Fliegen.« Und sie schläft weiter. Warum muß ich eigentlich eine lustige Geschichte schreiben? Wo steht geschrieben, daß ich lustige Geschichten schreiben muß? Natürlich, in meinem Vertrag. Die Stunde Null steht vor der Tür. Schon gut, schon gut. Ich reiße mich
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zusammen. Papier ... Bleistift ... Radiergummi ... noch ein Bleistift ... jetzt kann nichts mehr passieren... Alles ist vorbereitet. Die schöpferische Arbeit kann beginnen. Disziplin. Konzentration. Los! Der Hund war noch nicht draußen. Der Hund muß Gassi gehen. Aufatmend nehme ich Franzi an die Leine. Keine Eile, sage ich mir. Laß dir Zeit, Franzi. Ich denke inzwischen darüber nach, daß das Wort Humor »Feuchtigkeit« bedeutet und ich einen trockenen Humor habe. Aber ich habe kein Thema. Es ist Zeit, einen endgültigen Entschluß zu fassen. Ich beginne mich auszukleiden. Selbstverständlich macht der Gummizug meiner Unterhose schlapp, und der Knopf meines Pyjamahemdes bleibt mir in der Hand. Nun, so was muß man ausnutzen. Ich werde sofort eine Satire über die Tücken der Unterwäsche schreiben, Titel: »Neues aus der Unterwelt«. Blöde Idee. Ich entschließe mich also für eine kalte Dusche. Das Wasser überschwemmt mich mit einer Flut von Einfällen. Leider, und ohne daß ich es beeinflussen könnte, kreisen sie alle um die farbige Figur des internationalen Playboys Prinz Albert von Monaco. Wahrscheinlich planscht der gerade an der französischen Riviera herum, in Gesellschaft wunderschöner Mädchen, die Füße ein wenig aufwärts, den Kopf ein wenig gesenkt. Ich hasse diesen Albert, reibe mir den Rücken mit einem rauhen Badetuch ab und trinke einen Sliwowitz. Jetzt ist es soweit. »Schweißperlen?« Wenn ich nur wüßte, was damals mit den Schweißperlen los war. Die kalte Dusche hat, wie es ja auch ihre Aufgabe ist, mein Schlafbedürfnis gesteigert. Ich kann nicht weiter. Ein Glück, daß das Radio jetzt bald die Nachrichten bringt. Vielleicht ergibt sich da etwas Brauchbares, Arafat oder so. -150-
Die Nachrichten werden von einer weiblichen Stimme verlesen, in deren Besitzerin ich seit langem verliebt bin. Ich habe sie nie gesehen. Aber eine so miserable Sprecherin, wie sie muß über aufregende körperliche Vorzüge verfügen, sonst würde man sie nicht im Rundfunk beschäftigen. Vielleicht gibt das eine Kurzgeschichte. Da müßte sich herausstellen, daß sie zwar eine schlechte Sprecherin, aber eine häßliche Ziege ist, vielleicht die Nichte des Intendanten oder etwas Ähnliches. Beißende Gesellschaftskritik. Einfach idiotisch. Die Nachrichten bieten gar nichts. Ich bin um eine große Hoffnung ärmer. Und vom nachfolgenden Fernsehkrimi ist noch weniger zu erwarten. Weniger als nichts. Genau das, was ich um 9.30 Uhr nicht abliefern kann. Ich habe mir einen neuen, diesmal noch stärkeren Kaffee zubereitet, sehe nach, ob die Beste schläft, wecke sie auf, schimpfe mit ihr, weil sie so spät noch wach ist, gehe in mein Arbeitszimmer zurück, um zu arbeiten, erkundige mich bei der telefonischen Zeitansage nach der genauen Zeit, mit dem Pfeifton wird es null Uhr vierzig Minuten und fünfzehn Sekunden. Um 9.30 Uhr muß ich abliefern, und ich muß noch mit dem Hund Gassi gehen, mein Kopf ist hohl, ich perle Schweiß, ich schwitze Perlen ... Wo habe ich das gelesen, um Gottes willen wo? Ja, im Notizbuch. So entsteht also eine lustige Geschichte. Sorry.
Auch wenn eine Eintagsfliege, die schon bessere Tage gesehen hat, zu schreiben aufhört, muß sie sich nach den Gesetzen der Natur doch weiterhin ernähren. Der große Mark Twain zum Beispiel hat sich in seinen letzten Jahren als Vortragender am
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Leben erhalten und Amerika neu erobert. Mein Versuch, auf seinen Spuren zu wandeln, wurde unter dem vielversprechenden Titel »Kulturkampf« für kommende Generationen bewahrt.
Kulturkampf oder Kein Eintritt für Vertragende Vor einigen Tagen kam Stockler, der Sekretär unseres Kulturklubs, mit einer Bitte zu mir: »Am nächsten Sonntag veranstalten wir einen Unterhaltungsabend. Wir würden uns freuen, Sie als Vortragenden zu begrüßen. Das Thema lautet: >Gibt es einen typisch israelischen Humor, und wenn ja, warum nicht?<« »Meiner Meinung nach«, sagte ich abweisend, »soll ein Schriftsteller schreiben und nicht reden.« »Sie haben vollkommen recht. Trotzdem kann das Kulturzentrum Ihnen nicht mehr als 60 Pfund zahlen.« »Für mich ist das keine Frage des Geldes.« »Vielen Dank. Der Beginn ist um 18.30 Uhr.« Um 18.20 Uhr fand ich mich im Klubhaus ein. Ohne zu prahlen, es herrschte ein solcher Andrang, daß die Veranstalter bereits das Gittertor geschlossen hatten, um die Massen abzuwehren. Ich wollte mich durchzwängen und kam auch wirklich bis an das Tor heran, aber dann ging's nicht weiter. Ein eisernes Gittertor ist ein eisernes Gittertor, besonders wenn es von innen versperrt ist. Es blieb mir nichts anderes übrig, als um das ganze Gebäude herumzugehen, bis zur Hinterfront. Dort gab es, wie ich wußte, noch einen Eingang, eine kleine Glastür. An der Innenseite dieser Tür hing eine Tafel mit der Ankündigung meines Vertrags. Ein paar optimistische junge Menschen, der Stolz unseres Landes, standen dort in der Hoffnung, vielleicht doch noch meinen Vortrag zu erleben. Ich klopfte an die Tür. Niemand öffnete. Ich klopfte kräftiger. Ein untersetzter Ordner näherte sich von innen, schob die Tafel ein wenig zur Seite und machte das international gebräuchliche Zeichen für »Schert euch zum -152-
Teufel«. Ich zeigte auf mich und gab mich als Vortragenden zu erkennen. Die nicht minder ausdrucksvolle Gebärde des Ordners deutete an, daß er durchaus imstande sei, mir alle Knochen im Leib zu brechen. Die optimistischen jungen Menschen ringsum verhöhnten mich, weil ich mit einem so alten Trick versucht hatte, mich einzuschleichen. Ich begann aufs neue zu klopfen, diesmal mit beiden Fäusten. Nach einiger Zeit nahm ich auch noch die Füße zu Hilfe. Tatsächlich öffnete sich die Tür, wenn auch nur einen Spaltbreit, und der OberOrdner schlug mir mit einem Besen über den Kopf. »Ausverkauft«, brüllte er. »Verschwinde!« »Ich bin der Schriftsteller«, stieß ich hervor und sprang hurtig zur Seite. »Lassen Sie mich hinein.« »Nicht einmal der Staatspräsident kommt hier herein.« Der Besenstiel sauste drohend durch die Luft. »Reiz mich nicht, oder ich hol die Polizei.« Er schlug die Tür zu, versperrte sie und schob mit hämischem Nachdruck den Riegel vor. Von drinnen klang gedämpftes Klatschen. Die Ungeduld des Publikums wuchs. Ich mußte handeln. Von der gegenüberliegenden Apotheke rief ich den Kulturklub an. »Ausverkauft«, sagte eine mürrische Stimme. »Bitte holen Sie Herrn Stockler.« »Unmöglich. Er ist drinnen beim Vortrag.« Klick. Als ich zu meiner Tür zurückkehrte, hatten sich die optimistischen jungen Menschen bereits aus dem Staub gemacht. Nur ein einziger stand noch da. Er trug eine große Ziehharmonika und war, wie sich herausstellte, das »Gemischte künstlerische Programm« des Abends. Auch er war zu spät gekommen. Rasch freundeten wir uns an und tauschten Ideen aus, wie wir die Wachsamkeit der Ordner umgehen könnten. Es fiel uns nichts Brauchbares ein. Gemischtes Programm begann auf seiner Ziehharmonika eine mitreißende -153-
Marschmelodie zu spielen, konnte sich aber gegen die lauten Pfiffe des ungeduldigen Publikums im Saal nicht mehr durchsetzen. Etwas mußte geschehen. Ich ging wieder in die Apotheke und bat um irgend etwas, womit man auf Glas schreiben konnte. »Sind Sie der Vortragende von drüben?« fragte der Apotheker. »Die nehmen gewöhnlich Lippenstift.« Ich kaufte einen Lippenstift der bewährten Marke »Feurige Küsse«, ließ mich vom Gemischten Programm hochheben und schrieb in leuchtenden Lettern auf das Glas: ICH BIN DER VORTRAGENDE. Der Ober-Ordner und sein vierschrötiger Assistent sahen mich und griffen nach ihren Besenstielen, aber bevor sie die Tür öffnen konnten, brachten wir uns in Sicherheit. »Du Trottel«, keuchte das Gemischte Programm. »Du hast nicht in Spiegelschrift geschrieben.« Als wir an einem Postamt vorbeisausten, durchzuckte mich ein grandioser Einfall. Ich stürzte hinein und fragte den Schalterbeamten, wie lange die Beförderung eines Telegramms dauerte. »Keine Ahnung«, antwortete er. Ich ließ mich davon nicht abhalten und schrieb auf das Formular: STEHE DRAUSSEN VOR EINGANG STOP HINEINLASSET MICH RASCHEST STOP DER VORTRAGENDE SCHRIFTSTELLER STOP. Wir eilten zum Klubhaus zurück, diesmal zum Haupteingang, aber der Telegrammbote kam nicht. Die orientalischen Postverhältnisse lagen damals noch sehr im argen. Drinnen im Saal war unterdessen ein wahres Pandämonium losgebrochen. Man hatte den Eindruck, daß das Haus jeden Augenblick in die Luft gehen würde. »Wir müssen das Tor rammen«, sagte der Gemischte heiser. In einer Ecke des Vorhofs lehnte eine pensionierte Wagendeichsel. -154-
Wir nahmen sie unter die Arme, gingen ein paar Schritte rückwärts, um genügend Anlauf zu haben, und warfen uns mit aller Kraft gegen die Festung. Beim zweiten Versuch splitterte das Tor. Der Nahkampf war kurz und heftig. Der Gemischte brach unter der Pranke des Ober-Ordners zusammen. Ich entging dem Stuhl, den man gegen mich schleuderte, durch eine geschickte Körperdrehung und rannte im Zickzack, um den Kugeln zu entgehen, in Richtung Vortragssaal. Der Ober-Ordner ließ den leblosen Körper des Gemischten Programms liegen und sprang mich von hinten an. Mein Mantel blieb in seinen Händen. Ich selbst taumelte auf das Podium zu, blutverschmiert, aber aufrecht. Stockler war sichtlich erleichtert, mich zu sehen, und fragte, warum ich so spät käme. Ich sagte es ihm. »Na ja«, bestätigte Stockler. »So was passiert schon mal. Vielleicht sind unsere Ordner ein wenig übereifrig. Aber glauben Sie mir, es ginge sonst noch viel schlimmer zu. Vorigen Monat ist der bekannte Lyriker Birkmeyer-Bock beinahe erstickt, als er versuchte, sich durch die Ventilation in den Saal zu zwängen.« Dann stellte mich Stockler dem Publikum vor, das mich mit frenetischem Applaus empfing. Seitlich vom Podium stand der Ober-Ordner mit seinem Assistenten. Beide klatschten wie besessen. »Meine Damen und Herren«, begann ich. »Es gibt ganz entschieden einen typisch israelischen Humor...«
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»Saumäßig guet« oder Das Dunkel am Ende des Tunnels »Kennen Sie diesen?« begann ich. »Zwei Juden fahren in der Eisenbahn ...« »Entschuldigen Sie«, unterbrach mich mein Schweizer Freund. »Was für Juden? Ich meine, woher kamen die beiden Herren?« »Von irgendwoher. Es ist gleichgültig.« »Von Ungarn?« »Schön, von Ungarn. Es hat eigentlich nichts mit der Geschichte zu tun. Zwei Juden fahren in der Eisenbahn...« »Wohin?« »Egal. Nach Jerusalem. Es ist wirklich ganz unwichtig. Der Zug fahrt plötzlich in einen langen Tunnel ein, und da ...« »Einen Augenblick, ich fürchte, daß es auf der Strecke nach Jerusalem keine Tunnel gibt.« »Es spielt auch gar keine Rolle. Nehmen wir an, sie fahren in der Schweiz. Und ...« »Ah, in der Schweiz. Und um welchen Tunnel, wenn ich fragen darf, handelt es sich? Um den Simplon? Um den St. Gotthard?« »Es ist vollkommen unwichtig. Meinetwegen kann es auch der SchlesingerTunnel gewesen sein.« »Der Schlesinger-Tunnel? Hervorragend! Ein hervorragender Witz. Das muß ich sofort meiner Frau erzählen. Der Schlesinger-Tunnel! Saumäßig guet!«
Der Humorist ist ganz bestimmt kein gläubiger Religionsanhänger. Er ist der Gefangene seiner eigenen Logik, vollgestopft mit Fragezeichen. Die Religion jedoch gibt nur Antworten und duldet keine Fragen. -156-
Ich aber schreibe in der Sprache der Bibel. Das führt hin und wieder zu Mißverständnissen. Ein »Stern«-Reporter, zum Beispiel, frotzelte mich einmal mit der Frage: »Wie kommt es, daß Sie hebräisch schreiben und doch nicht annähernd die Auflage der Bibel erreichen?« Ich antwortete ihm ehrlich: »Der liebe Gott hat eben die bessere Presse.« Ja, die Bibel ist ein Medienliebling, ein Publikumshit, obwohl das Alte und das Neue Testament trotz des Generationenunterschiedes ihrer Verfasser oft miteinander verwechselt werden. Unter uns gesagt, keiner kennt heutzutage die Heilige Schrift wirklich. Sie ist in unserer hektischen Konsumgesellschaft vor allem ein volkstümlicher Begriff zwischen Goliath und dem Vatikan. Man weiß gerade noch, daß die Bibel etwas mit dem lieben Gott zu tun hat, aber das ist auch alles. Und bis heute läßt sich jede Diskussion kinderleicht mit dem Hinweis abwürgen: »Verzeihung, aber das steht bereits in der Bibel.« Und was tut Gott? Es steht wirklich da. Alles. Außer Humor. Wenn die Bibel hier und da doch ein spöttisches Schmunzeln auslöst, so geschieht dies nicht etwa wegen des Buches, sondern wegen der Pfiffigkeit seiner Übersetzer. Bereits im 5. Jahrhundert, als der ägyptische König Ptolemäus Philadelphos in Jerusalem die griechische Bibelübersetzung bei 72 Gelehrten auf der Insel Pharos in Auftrag gab, wurden weitgehende hinterlistige Korrekturen durchgeführt. Der Hase zum Beispiel wurde von der nichtkoscheren Speisekarte gestrichen, da die Mutter des Königs einen ähnlichen Namen gehabt haben soll. Die 72 Septuaginta-Gelehrten hofften offensichtlich auf Moses' kümmerliche Griechischkenntnisse. Der koschere Hase war aber nur ein bescheidener Versuch im Vergleich zu den komischen Kreuzzügen einiger christlicher Übersetzer. Das Zweite Gebot eliminierten sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden«, so schrieb Moses auf die Tafel, aber die Kirche -157-
konnte dem Proteststurm der Bildhauer- und Galeristengewerkschaft offenbar nicht standhalten. Und so waren es nur noch neun. Um nicht aufzufallen, verlängerten die Kirchenväter die Liste dann wieder auf zehn. Sie halbierten ganz einfach Moses' Zehntes Gebot und trennten das Begehren
des
Nächsten
Immobilien
als
Nummer
9
vom
anderen
begehrenswerten Mobiliar wie Knecht, Magd, Rind und Esel als Nummer 10. Auf Moses' Gesetzestafel war zwar noch vom Begehren des Nächsten Weib die Rede, aber dagegen hat sich die Männerlobby gerade noch erfolgreich gewehrt. So fehlt das Weib im Zehnten Gebot gelegentlich, aber der Esel niemals.
Vielleicht hat Er selbst doch Sinn für Humor? Ich kann die Erklärung des Herrn, den Menschen nach Seinem Ebenbild geschaffen zu haben, eigentlich nur als eine äußerst sarkastische Bemerkung interpretieren ebenso wie seine Bemühungen nach der Vertreibung der beiden Nudisten, für Adam und seine Lebensgefährtin eigenhändig »Röcke von Fellen« zu machen und ihnen sogar anzuziehen. Und ist es kein Beweis für Seine Heiterkeit, daß die Schlange, welche die Schmutzarbeit für den Herrn erledigen mußte, wie ein entlarvter Doppelagent behandelt und in einem Schauprozeß ausgerechnet von ihrem Auftraggeber verurteilt wurde? »Auf deinem Bauch sollst du kriechen«, lautete das Urteil, obwohl jedes Kind weiß, daß eine Schlange sonst auch nichts anderes tut. Und warum wurde die sündige Anstifterin nicht ebenfalls aus dem Paradies vertrieben, sondern kriecht dort bis zum heutigen Tage freudig herum? Ja, manchmal lächelt der Herr in sich hinein. Mein Freund Jossele hat es am eigenen Leib erfahren.
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Josseles Fußnote oder Gott hat doch Humor An jenem verregneten Dienstag bekam ich Nachricht von Jossele. Es war ein Anruf aus dem Krankenhaus, er ließ mich bitten, ihn zu besuchen. Überflüssig zu sagen, daß ich mich sofort auf den Weg machte. Ich fand Jossele im Garten, bleich und niedergedrückt in einem Rollstuhl sitzend, ein Bild des Jammers. Und was mich am meisten erschütterte, er hielt ein Gebetbuch in der Hand. »Jossele«, rief ich beklommen. »Was ist los mit dir? Ein Herzanfall oder sonst etwas Lebensgefährliches?« »Nein, nichts davon.« Er schüttelte müde den Kopf, seine Stimme klang tonlos. »Aber was mir passiert ist, hat mich davon überzeugt, daß es eine göttliche Gerechtigkeit gibt.« »Bitte, erklär dich genauer«, sagte ich und setzte mich neben ihn. Jossele holte tief Atem: »Mein Wagen war in einer Reparaturwerkstatt, und das Schicksal ereilte mich in einem städtischen Omnibus, Linie 33. Montag. Zur Stoßzeit. Und wahrlich, ich habe gestoßen, mit Händen, Füßen und Ellbogen habe ich mir einen Sitz erkämpft. Und kaum saß ich, pflanzte sich irgendein alter Idiot vor mir auf und begann sich völlig ungefragt über mich zu äußern. Er äußerte sich abfällig. Es sei ein Skandal und eine Schande, ein junger, gesunder Mensch wie ich bleibe sitzen, und ein alter, kränklicher Mann wie er muß stehen. Ich reagierte nicht. Die Leute sollten mich für einen Touristen halten, der die Landessprache noch nicht versteht. Der Alte schimpfte weiter, erging sich in immer heftigeren Mißfallenskundgebungen über die heutige Jugend im allgemeinen und mich im besonderen. Ich blieb ungerührt. Es fiel mir gar nicht ein, meinen bequemen Sitz gegen einen Stehplatz im Gedränge einzutauschen. Unterdessen hatten die Hetzreden des Alten den ganzen Bus gegen mich aufgebracht. Plötzlich packte er mich am Kragen, riß mich hoch und setzte sich unter dem Jubel der Menge auf -159-
meinen Platz. Jetzt war der Augenblick gekommen, allen eine Lektion zu erteilen. Ich schwankte, hielt mich nur mühsam aufrecht und bahnte mir stöhnend den Weg zum Ausgang, wobei ich mit schmerzverzerrtem Gesicht das rechte Bein nachschleppte. Über den Bus fiel verlegenes Schweigen, das von beschämtem Geflüster abgelöst wurde. >Der arme Kerl<, flüsterte es ringsum. >Ist gelähmt, hat ein krankes Bein, kann sich kaum bewegen, und dieser alte Trottel verjagt ihn von seinem Sitz. Ein Egoist. Ein Unmensch! Pfui.< Es fehlte nicht viel, und sie wären über ihn hergefallen. Einige standen auf, um mir ihren Sitz anzubieten. Ich winkte mit müder Märtyrerstimme ab. Und da ich sowieso am Ziel war, bereitete ich mich unter neuerlichem Stöhnen zum Aussteigen vor.« »Gut gemacht!« Ich nickte anerkennend. »Und dann?« »Dann«, sagte Jossele, »bin ich auf dem Trittbrett ausgerutscht und hab mir das Bein gebrochen.« Damit wandte er sich wieder seinem Gebetbuch zu. Es ist vollbracht
Die Quelle des Hebräischen ist
zwar die Bibel, aber selbst
zeitgenössische Meister unserer Sprache reichen nicht im entferntesten an den feinsinnigen, wunderbaren Stil der Propheten des Alten Testaments heran. Ich versuchte mich dennoch nach jahrelangem Studium in der archaischen Sprache der Bibel. Die folgende Geschichte wurde dann von dem unvergeßlichen Sprachvirtuosen Friedrich Torberg ins Deutsche übertragen.
Hiobs Geschichte oder Vom Parkverbot in der Bibel In der Stadt Jerusalem lebte ein Mann, der hieß Hiob Grodetzky. Er war ein rechtschaffener Mann, befolgte das Gesetz und tat kein Übel, und mit der Zeit wurden ihm sieben Söhne geboren. -160-
Es betrieb aber dieser Mann Hiob einen Lieferwagen, und betrieb ihn sonder Fehl und Tadel, und lenkte ihn tugendhaft, und achtete darauf, niemals eine Geschwindigkeitsgrenze zu überschreiten, nicht in der Stadt noch auf den Überlandstraßen, und fuhr kreuz und quer durch das Land, und hinauf und hinab, und immer auf der rechten Bahn, und nicht zu schnell. Und hat kein Verkehrspolizist jemals Hand an ihn gelegt oder ihm ein Strafmandat ausgestellt. Und zahlte dieser Mann Hiob seine Einkommenssteuer schon vor dem Fälligkeitstermin, und war der einzige im ganzen Land, der solches tat. Es geschah aber eines Tages, daß sich die Schergen der Stadtverwaltung vor dem Bürgermeister versammelten, und gesellte sich Satanas zu ihnen. Und sprach der Bürgermeister, zu Satanas gewandt: »Kennst du meinen Knecht Grodetzky, welcher ein rechtschaffener Mann ist, der das Gesetz befolgt und kein Übel tut?« Und Satanas antwortete dem Bürgermeister, und sprach: »Der hat leicht rechtschaffen sein, der Kerl, da du ihn doch mit einer Schutzhecke umgeben hast und keine Versuchung an ihn heranlassest. So du aber deine Hand ausstreckst und ihm Schwierigkeiten in den Weg legst, wird er seiner Tugend vergessen und wird dir fluchen, daß es dir in den Ohren gellt.« Und schlössen Satanas und der Bürgermeister eine Wette, und sprach der Bürgermeister zu Satanas, und sprach: »Siehe, fortan ist dieser Mann Grodetzky in deiner Hand, und darfst du ihm alles antun, nur keine Gewalt.« Satanas nickte und entfernte sich vom Angesicht des Bürgermeisters. Nicht lange, da erhob sich Hiob Grodetzky am Morgen von seinem Lager, und ging in den Hof seines Hauses, wie er's zu tun pflegte an jedem Morgen, um mit seinem Lieferwagen auszufahren. Denn er parkte den Lieferwagen immer und stets im Hof seines Hauses. Denn er wohnte in einer von geparkten Autos überfüllten Geschäftsstraße, und fand keinen andern Platz als seinen Hof, um den Wagen darin zu parken und am Morgen mit ihm auszufahren. An diesem Morgen aber, als er den Hof betrat, fiel bleicher Schrecken auf ihn, und er -161-
erbebte vor dem Anblick des gewaltigen Lastwagens, der da in der Ausfahrt stand und ihm den Weg versperrte. Und Hiob begann zu rufen und zu hupen, und ging zu den Inwohnern des Hauses, um nach dem Fahrer des Lastwagens zu fragen, und ging in die umliegenden Häuser und fragte, und wurde ihm weder Antwort noch Fingerzeig. Erst gegen 11 Uhr vormittags kam gemessenen Schrittes ein Mann daher, das war Eliphas der Parker, und Hiob schrie ihm entgegen, und schrie: »Sähest du nicht mit dem Blick deiner Augen, daß hier eine Ausfahrt ist und daß du hier nicht parken kannst?« »Ich sehe nichts«, widerredete ihm der andere, »und ich kann parken, wo ich will.« Und ließ nicht ab zu parken, wo er geparkt hatte, und parkte dortselbst am folgenden Tag und am Mittwoch, und der Mann Hiob konnte zur Nacht den Segen des Schlafes nicht finden aus lauter Furcht, daß am Morgen die Ausfahrt blockiert wäre und seinem Lieferwagen den Weg versperren würde, und brauchte er doch den Lieferwagen, um damit sein Brot zu verdienen. Und sann der Mann Hiob auf Abhilfe, und besann dieses und jenes,| und ging in tiefer Nacht vor sein Haus, und trat an den falsch geparkten Lastwagen heran, und schob ein Blatt Papier unter seinen Scheibenwischer, darauf stand geschrieben wie folgt: »Ich warne Dich zum letzten Mal, Du Arschloch, und wird großes Unheil über Dich kommen, so Du noch einmal hier parkest.« Aber es fruchtete ihm nichts, denn Eliphas der Parker war größer und stärker als er, und überragte ihn um Haupteslänge, und hatte viel Fett an seinem Körper, und unter dem Fett viele Muskeln. Und es wurde aus dem Manne Hiob ein Wrack und ein Schatten seiner selbst und ein Nervenbündel, aber er sündigte nicht und wich nicht vom Pfade der Tugend und
fluchte weder der Stadtverwaltung noch dem Bürgermeister,
sondern machte sich auf zur nächsten Polizeiwache und erhob Beschwerde wider Eliphas den Parker. -162-
»Da können wir gar nichts machen, guter Mann«, antwortete ihm die Polizeiwache. »Wir können nur etwas machen, wenn vor dem Ein- und Ausfahrtstor ein amtliches Parkverbotszeichen angebracht ist. Dann können wir etwas machen. Sonst nicht.« Und Hiob war es zufrieden und folgte den Worten des Propheten Jeremia: »Du sollst Zeichen und Wegweiser aufrichten für die Kinder Israels«, und ließ sich nicht Zeit noch Mühe verdrießen, um an sein Ziel zu gelangen. Und ging des
Weges
zum Magistrat,
Abteilung
Straßenverkehr,
Unterabteilung
Verkehrszeichen, und machte eine Eingabe. Und wurde diese Eingabe unverzüglich abgelehnt. Und machte der Mann Hiob eine zweite Eingabe, welche unverzüglich abgelehnt wurde, und eine dritte ebenso, und eine vierte, und ließ nicht locker. Und siehe, es erschienen eines Tages zwei Amtsorgane im Hof seines Hauses, und befanden, daß der Hof sich für Parkzwecke wohl eigne, und bewilligten das Gesuch und siehe, kaum zwei Jahre später waren rechts und links von der Ein- und Ausfahrt die amtlichen Tafeln aufgerichtet, und verkündigten einem jeden: »Parken verboten.« Und es brach großer Jubel aus im Hause des Hiob Grodetzky, und freuten sich alle, und schlachteten einen Hammel und tranken vom Wein. Als aber Hiob Grodetzky am Morgen erwachte und sich vom Lager erhob, um auszufahren mit seinem Lieferwagen durch das Tor, da stand vor dem Tor der große Lastwagen abermals, und versperrte ihm den Weg. Und entrang sich ein großer Schrei der gequälten Brust des Mannes Grodetzky, und drang er mit aufgehobenen Händen auf den in der Nähe patrouillierenden Verkehrspolizisten ein. Dieser aber besänftigte ihn, und sprach: »Ich weiß, Herr, ich weiß. Schreien Sie nicht. Ich habe dem Parksünder bereits ein Strafmandat erteilt.« Es verhielt sich jedoch so, daß in der Zwischenzeit die Zahl der Wagen sich vervielfacht hatte, und mußten die Bürger der überfüllten Stadt jedes freie Plätzchen nutzen, um ihre Wagen zu parken, und entrichteten sie willig die -163-
Buße für Verletzungen des amtlichen Parkverbots. »Das ist es mir wert«, sprach Eliphas der Parker Hiob. »Ich lasse es mich gern ein paar Pfund kosten wenn ich irgendwo parken kann.« Und parkte er fröhlich weiter vor dem Hause des Hiob, und blockierte ihm die Ausfahrt, und zahlte das Bußpfund. Und Hiob zerriß sein Gewand, und raufte sich die Haare, und warf sich nieder auf den Boden, und schrie zum Himmel mit den Worten des Propheten Jeremia: »Es leiden die Gerechten, und es frohlocken die Bösen.« Da senkte sich eine Staubwolke herab, und aus der Wolke trat Hiobs Weib, und hob zu sprechen an, und sprach: »Warum liegst du auf dem Boden und heulst? Ich sage dir, was du tun sollst. Du sollst deinen eigenen Lieferwagen des Nachts zwischen den beiden Verbotstafeln parken, und wahrlich, es wird dir fürderhin keiner mehr deinen Platz wegnehmen.« Und Hiob tat, wie ihm geheißen, und nach einem Mond voll Wehklagens, und nach vielen kummervoll durchwachten Nächten war endlich der Schlummer ihm wieder beschieden. Und erwachte er freudigen Herzens, und trat hinaus in den Hof, und rieb sich die Augen, gleich als wären sie noch vom Schlafe verklebt, und wollte nicht glauben, was er sah. Es stak ein Strafmandat unter dem Scheibenwischer seines Wagens. Als er sich aber vergewissert hatte, daß er nicht träumte, suchte er nach dem nächsten Verkehrspolizisten, und rief ihn an, und rief: »Warum steckt unter meinem Scheibenwischer ein Strafmandat?« Der Hüter des Gesetzes wies auf die beiden Verbotstafeln: »Haben Sie keine Augen im Kopf? Was steht hier geschrieben? >Parken verbotene nicht?« Da stimmte Hiob ein großes Gelächter an, und lachte aus vollem Halse, und sprach: »Diese Verbotstafeln wurden aufgerichtet um meinetwillen, damit ich des Morgens kein Hindernis im Weg habe, und ausfahren kann mit meinem Lieferwagen.« »Dann fahren Sie aus«, sagte jener, »und parken Sie Ihren Wagen nicht dort, -164-
wo das Parken verboten ist.« »Aber es ist ja für mich verboten.« »Natürlich ist es für Sie verboten. Genau wie für jeden anderen.« »Verstehen Sie denn nicht? Diese Verbotstafeln wurden auf mein Betreiben hier angebracht.« »Dann müssen Sie den anderen mit gutem Beispiel vorangehen«, sagte der Hüter und entschwand. Und stak am folgenden Morgen abermals ein Strafmandat unter dem Scheibenwischer des Hiob, und am nächsten Morgen wieder, und streute Hiob Asche auf sein Haupt, und schrie zum Himmel, und schrie: »Was sollen mir diese Zeichen, und warum bringen sie immer neues Elend über mich? Wenn ich im Hof parke, kann ich nicht ausfahren, und wenn ich draußen parke, bekomme ich ein Strafmandat. Verflucht sei der Tag, da ich geboren wurde.« Fortan war das Leben des Mannes Grodetzky mit nichts anderem ausgefüllt als mit Verbotstafeln und Parkzeichen und Parkverbotstafelzeichen, und verbrachte er seine Tage von früh bis spät auf den zuständigen Behörden, und schrie um Gerechtigkeit. Und sprachen aber die Behörden wie folgt: »Es geschieht alles nach Recht und Gesetz. Wir müssen diese Strafmandate ausstellen. Auf den beiden Verbotstafeln steht nichts davon geschrieben, daß der dazwischenliegende Parkplatz Ihnen gehört.« Und Hiob antwortete: »Dann schreiben Sie's hin.« Und schüttelten die Behörden den Kopf, und sprachen: »Was fällt Ihnen ein? Nur Mitglieder des diplomatischen Corps und der Regierung haben Anspruch auf einen reservierten Parkplatz in einer Verkehrsstraße. So einer wie Sie muß froh sein, wenn ihm durch amtliche Parkverbotstafeln vor seinem Haus die freie Ein- und Ausfahrt gesichert wird. Übrigens, warum wollen Sie eigentlich draußen parken? Sie haben ja Platz genug in Ihrem Hof.« Da öffnete Hiob den Mund, und holte Atem, und schleuderte wilde Flüche gegen alle, die da standen. Und wurde er mit Buße und Strafe belegt an Ort und -165-
Stelle, und wurden ihm seine Fingerabdrücke genommen für immer, und flog er hinaus vermittels eines derben Trittes in den Hintern. Von Stund an entfernte der Mann Hiob an jedem Morgen das Strafmandat von seiner Windschutzscheibe, und warf es zu Boden, und bezahlte es nicht, und wurde in regelmäßigen Abständen zur Polizei gerufen, und schuldig gesprochen, und häufte sich das Unglück auf ihn und der Gram auf seine Familie.
Eines Morgens aber trat er wieder auf die Straße hinaus, und siehe, es war da kein Strafmandat auf seinem Lieferwagen, weil da auch kein Lieferwagen war, sondern die Hüter des Gesetzes hatten ihn abgeschleppt, damit er die Einfahrt in den Hof nicht behindere. Und Hiob wehklagte aufs neue, und hob die Hände auf, und rief: »Bin ich denn fühllos wie ein Stein? Sind meine Nerven aus Stahl? Wie lange soll ich der Verkehrspolizei noch erbötig sein, daß sie mit mir schalte und walte nach ihrem Gefallen?« Und seine Söhne verließen ihn und zerstreuten sich, und sein Weib sprach auf ihn ein, und sprach: »Siehst du denn nicht, daß Recht und Gesetz deiner spotten? Laß die Verbotstafeln wieder fortnehmen, und du wirst parken können vor der Pforte deines Hauses in Frieden und ohne Strafmandate.« Und zog ein Hoffnungsschimmer in Hiobs Herz, und eilte er zitternden Fußes zum Magistrat, und fiel in den Staub vor den Gewaltigen der Verkehrsabteilung, und bat und beschwor sie, die Verbotstafeln zu entfernen. Die Gewaltigen aber fuhren mit rauher Stimme ihn an, und sprachen: »Was glauben Sie, wo Sie hier sind? Auf einem Marktplatz? Im Basar? Mit uns können Sie nicht handeln. Erst gestern oder vorgestern wollten Sie die Tafeln vor Ihrem Haus haben, und heute sollen wir sie wieder wegnehmen?« Und hob sich die Brust des Hiob in schierer Verzweiflung: »Das war nicht gestern oder vorgestern, o Ihr Gewaltigen. Das ist schon Jahre her.« -166-
Und zerdrückten die Gewaltigen je eine Träne, und sprachen: »Mitleidig sind unsere Herzen, aber gebunden sind unsere Hände. Wir können nichts machen. Solange es einen Hof gibt, muß die freie Einfahrt gesichert sein, und solange eine freie Einfahrt gesichert werden muß, werden dort Parkverbotstafeln stehen. Da können wir gar nichts machen.« Satanas, wenn wir jetzt wieder an den Beginn unserer Geschichte anknüpfen dürfen, hatte seine Wette längst gewonnen. Was jetzt geschah, war nur noch ein Nachspiel. In einer Neumondnacht fiel einem patrouillierenden Hüter des Gesetzes ein Mann auf, der in der Dunkelheit damit beschäftigt war, den Pfahl einer amtlichen Parkverbotstafel durchzusägen. Der Mann wurde sofort verhaftet, angeklagt und wegen böswilliger Beschädigung städtischen Eigentums, schweren Verstoßes gegen die Verkehrsvorschriften und tätlicher Beleidigung von Amtsorganen zu einer ausgiebigen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Entlassung mußte Hiob feststellen, daß man ihm in der Zwischenzeit den Lieferwagen gestohlen hatte, aber das half ihm jetzt nichts mehr. Sein Geist blieb getrübt, und er verschwand aus der großen Stadt, und seine Spur verlor sich. Touristen erzählen, daß er in der Wüste umherirrt. Manchmal klingt sein hohles Gelächter schaurig durch die Nacht, manchmal taucht er im Morgendämmer am Horizont auf, wild hupend und fürchterliche Flüche gegen den Bürgermeister von Jerusalem ausstoßend. Amen.
Wahre Literatur ist schließlich eine der schönsten Errungenschaften in unserer verdrehten Welt, und sie pflegen zu dürfen ist eine Ehre für jeden, der es vermag. Die Kehrseite dieses wunderbaren Berufs allerdings ist das ewige Dreieck: a) Gerschons Witwe, b) der Reporter Benzion Ziegler und c) Lilly, die Sekretärin. -167-
Gerschons Witwe oder In den Klauen des Nachruhms Schauplatz des Interviews war ein Restaurant am Stadtrand. Ich hatte gerade begonnen, meinen Kalbsbraten zu verzehren, als sich an einem der Nebentische eine kleine, ältliche Frauensperson erhob und auf mich zutrat. Ob ich nicht der Zeichner sei, der für die »Illustrierte Wochenzeitung« diese komischen Karikaturen macht? »Sie haben meinem seligen Mann immer so gut gefallen«, erläuterte sie. »Obwohl er selbst einer der bekanntesten Autoren war, konnte er keine gerade Linie zeichnen. Auch für Musik war er sehr eingenommen. Und zwei-, dreimal in der Woche hat er ganz gerne Karten gespielt. Mit dem Apotheker um die Ecke. Der arme Kerl hatte ein kürzeres Bein. Der Apotheker, meine ich. Aber am liebsten waren ihm Ihre Zeichnungen.« Da ich nicht für eine illustrierte Wochenzeitung zeichne, sondern für eine nichtillustrierte Tageszeitung schreibe, konnte ich die Konversation von hier aus nicht weiterspinnen und ließ es bei einem stummen Nicken bewenden. Die Witwe des Liebhabers meiner Zeichnungen nickte zurück, ein freundliches Lächeln im rosigen Gesicht. Zu ihren weiteren Ausrüstungsgegenständen gehörten schwarze, lebhafte Kugelaugen, weißes, artig im Nacken geknotetes Haar, eine schwarze Geldbörse und ein zusammengeknülltes Taschentuch. Wenn sie ihren verstorbenen Gatten erwähnte, legte sich ein feuchter Schleier über ihre Augen. »Wie schade«, seufzte sie, »daß Gerschon jetzt nicht mit uns sein kann. Es hätte ihn so sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Er war der geborene Literaturwissenschaftler, ein Menschenfreund, müssen Sie wissen. >Bertha<, pflegte er zu sagen, >die Menschen sind verschieden, man muß sie nur richtig kennenlernen^ Er hat sich auch mit Graphologie beschäftigt. Nicht wissenschaftlich. Nur so, als Hobby.« -168-
Ich lud die trauernde Witwe ein, an meinem Tisch Platz zu nehmen, und fragte, ob ich ihr etwas bestellen dürfe, vielleicht ein Kompott? »Ja, gerne. Sehr liebenswürdig. Ich darf gar nicht dran denken, daß auch Gerschon eine große Vorliebe für Süßigkeiten hatte. Und wenn ich ihn ermahnte, auf seine Gesundheit zu achten, sagte er nur: >Bertha<, sagte er, >ich kümmere mich nicht um die Ärzte.< Er war immer lustig und guter Dinge, mein Gerschon. Allerdings wurde er leicht seekrank. Natürlich nur auf Schiffsreisen. Aber sonst war er die Lebensfreude selbst, das können Sie mir glauben. Nie hätte er auf eine Fußballübertragung im Fernsehen verzichtet, nie. Von seinen Prinzipien ging er nicht ab. Fisch, zum Beispiel, aß er um keinen Preis.« Es schien mir an der Zeit, höfliche Anteilnahme zu bekunden. »Wann haben Sie ihn denn verloren, Ihren Mann?« »Vor achtzehn Jahren. Aber manchmal glaube ich, es wäre gestern gewesen. Das liegt wahrscheinlich an seiner Bedeutung für die Weltliteratur. Es ging eine kolossale Ausstrahlung von ihm aus. Jeden Tag hat er die Zeitung gelesen. Nicht nur gelesen, er hat sie gekauft. Jeden Tag. Obwohl wir gar nicht so reich waren. Aber das gehörte eben zu seinen kleinen Schrullen. Auch daß er nie Bus gefahren ist. Immer Taxi. Selbst wenn er kein Geld bei sich hatte. Einmal hätte ihn ein Taxifahrer deswegen fast erschlagen. Er hieß Silbermann. Der Taxifahrer, meine ich. Oder Silberstein? Ist ja egal. Gerschon kam damals mit einem schweren Schock nach Hause. >Bertha<, sagte er, >du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Schock das war.< Gott sei Dank ging es bald vorüber.« Nachdenklich vertiefte ich mich in den Rest des Kalbsbratens. Gerschon nahm vor meinem geistigen Auge immer deutlichere Gestalt an. Dennoch wäre mir ein Themawechsel nicht unwillkommen gewesen. Ich versuchte das behutsam anzudeuten: »Wissen Sie, gnädige Frau, wir dürfen nicht in der Vergangenheit leben.« Gerschons Witwe stimmte mir begeistert zu. »Wie recht Sie doch haben. Was geschehen ist, ist geschehen. Genau mit diesen Worten hat es mein Gerschon immer gesagt. >Bertha<, hat er immer -169-
gesagt, >man muß in die Zukunft schauen. < Daraus ersehen Sie sein Temperament. Er hat sich mit allen Leuten herumgestritten. Auch mit der Regierung. Nur bei seinen Briefmarken, da war er wie ein kleines Kind. Und jetzt verrate ich Ihnen etwas: Er hat die Marken nicht in einem Album aufgehoben, sondern in kleinen Pappschachteln. Was sagen Sie dazu?« »Kaum zu glauben«, sagte ich dazu und fuhr nach einer kleinen Pause der Verblüffung fort: »Aber jetzt habe ich Ihre Zeit schon allzu lange in Anspruch genommen...« Das befürchtete Dementi erfolgte sogleich. »Wo denken Sie hin. Ich bin es gewohnt, daß man sich für eine so große Pesönlichkeit wie meinen Gerschon interessiert. Er selbst pflegte zu sagen: >Bertha, alles zu seiner Zeit.< Denn er war ein grundehrlicher Mensch, ehrlich gegen sich und gegen die anderen. Und er ging gerne ins Kino. Eigentlich gab es nichts, was er lieber tat. Außer Kreuzworträtsel lösen. Polnische. Ich meine, in der polnischen Zeitung.« Ich unternahm einen kühnen Ablenkungsversuch »Es sieht so aus, als ob der Herbst bald vorüber wäre. Es kommt der Winter.« »Mein Gerschon spürte das in den Knochen«, bestätigte seine Witwe. »Er spürte jeden Wetterumschlag im voraus und verließ sich nur auf sich selbst. >Bertha<, sagte er, >ich kümmere mich nicht um die Ärzte.<« Diesen Ausspruch hatte ich schon gehört. Gerschon begann sich zu wiederholen. Gerschon, um es offen auszusprechen, ging mir allmählich auf die Nerven. Vor allem deshalb, weil er jeden seiner Sätze mit »Bertha« anfing. Es war höchste Zeit, seinen Geist vom Tisch zu scheuchen. »Was halten Sie von den bevorstehenden Gesprächen zwischen der Europäischen Union und den Amerikanern«, fragte ich unumwunden. Gerschons Witwe dachte gründlich nach, ehe sie antwortete. »Wenn mein Gerschon noch am Leben wäre, würde er sagen: »Bertha, ich wünsche beiden alles Gute.< Er sah die Dinge als Autor von einer höheren Warte aus. Wenn es sein mußte, rasierte er sich auch zweimal am Tag. -170-
>Bertha<, pflegte er zu sagen, >was sein muß, muß sein.< So ein Mensch war er.« Immer heftiger verlangte es mich, der Witwe Gerschons einen Satz zu entlocken, in dem Gerschon nicht vorkäme. Ich versuchte es auf jede erdenkliche Weise, ich schwenkte von der Politik zur Inflation (»Bertha, Geld ist nicht alles«), zum Sport (»Gerschon konnte meilenweit zu Fuß gehen«), zum nahenden Bestandsjubiläum des Staates Israel (»Bertha, ich ziehe Hosenträger einem Gürtel vor«). Es half nichts. Ob sie ihren Mann auch schon zu seinen Lebzeiten immer zitiert hatte, wenn sie mit ihm sprach? »Bertha, hast du. Gerschon, unlängst zu mir gesagt ...« Und warum, zum Teufel, hat das Schicksal gerade mich verurteilt, meinen Kalbsbraten in Gerschons Gesellschaft zu konsumieren? Ich werde keine Zeichnungen mehr für die »Illustrierte Wochenzeitung« machen. Unterdessen hatte meine verwitwete Freundin ein zweites Kompott bestellt. »Gerschon aß Kompott lieber als frisches Obst«, erinnerte sie sich und starrte aus verschleierten Kugelaugen wehmütig in den Teller. Plötzlich blickte sie auf. »Da reden wir und reden wir, und dabei habe ich mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Bertha.« Mühsam brachte ich ein »Angenehm« hervor, ehe sie weitersprach: »Merkwürdig. Wissen Sie, wem Sie ähnlich sehen? Sie werden es mir nicht glauben: meinem verstorbenen Mann. Besonders um die Mundpartie. Auch bei ihm stand die Unterlippe ein wenig zur Seite, nur ein ganz klein wenig, die meisten Leuten bemerkten es gar nicht. Gerschon wußte es natürlich. Oh, er wußte sehr viel. >Bertha<, sagte er mir, >man lebt nur einmal.< Das war an dem Tag, als er mir mit dieser dicken Wäschereibesitzerin davonlief und sich die Lungenentzündung holte, an der er dann starb. Ich sagte noch: >Gerschon<, sagte ich...« Jetzt hatte ich genug. Ich beugte mich vor und zischte: »Noch ein >Gerschon<, und ich schicke dich ihm nach, Bertha!« Bertha bewahrte ihren Gleichmut. Sie war nicht ein bißchen überrascht. -171-
»Na, na, na«, machte sie. »Spricht man so mit der Witwe eines der berühmtesten Literaten? Wenn mein Gerschon noch am Leben wäre ...« In diesem Augenblick überkam mich blitzartig die Erleuchtung, was es mit Gerschons Todesursache auf sich hatte. Er hatte nicht an Lungenentzündung gelitten, das stand für mich fest. Von Panik erfaßt, stürzte ich aus dem Lokal und rannte nach Hause, wo ich mir unter der Dusche die letzten Spuren Berthas vom Leibe wusch ... Des Nachts erschien mir Gerschon im Traum, und ich schüttelte ihm stumm und teilnahmsvoll die Hand, ehe er mit der dicken Wäschereibesitzerin davonschwebte. Wir verstanden einander wie Brüder.
Das Bewußte und das Unterbewußte oder Die funktionale Identifikationskonzeption »Nur herein! Die Tür ist offen. Endlich. Der Reporter. Seit einer halben Stunde warte ich auf ihn. Bitte einzutreten!« »Guten Abend, Herr Slutzky. Entschuldigen Sie den Überfall. Er schaut genauso unsympathisch aus wie auf den Bildern, der alte Ziegenbock. Ich bin der Reporter.« »Reporter? Verzeihen Sie, was für ein Reporter?« »Hat man Sie denn aus der Redaktion nicht angerufen? Mach kein Theater, alter Bock. Seit Wochen liegst du unserem Chefredakteur in den Ohren, damit wir dich wegen deines beschissenen Buches interviewen.« »Ach ja, jetzt dämmert mir etwas. Bitte nehmen Sie Platz. Und mit einem solchen Niemand muß man auch noch höflich sein. Zu meiner Zeit hätte so einer höchstens die Bleistifte spitzen dürfen. Zigarette gefällig? Ich freue mich, Sie bei mir zu sehen, Herr ... Herr ...« »Ziegler. Benzion Ziegler. Er raucht amerikanische Zigaretten. Ich möchte wissen, wo diese Kultursenatoren, die man uns immer als Muster hinstellt, das -172-
Geld für so teure Zigaretten hernehmen. Oh, vielen Dank. Eine ausgezeichnete Zigarette.« »Benzion Ziegler? Wer ist das? Aber natürlich. Vielleicht bringt er auch ein Foto von mir. Ich lese Ihre Artikel immer mit dem größten Vergnügen. Schaut aus wie ein kompletter Analphabet. Ich hoffe. Sie hatten Zeit, in mein Buch über die funktionale Identifikationskonzeption hineinzusehen.« »Selbstverständlich. Sie erweisen mir eine große Ehre, Herr Slutzky. Streng dich nicht an, du seniler Schwätzer. Wer will deinen Schund schon lesen? Ich weiß, daß Sie auf mein Lob keinen Wert legen, aber ich möchte Ihnen doch sagen, daß es für unsere ganze Familie immer ein besonderes Ereignis ist, wenn Sie einmal sogar im Radio sprechen. Wir drehen dann sofort ab und haben endlich Ruhe.« »Das freut mich. Sie kennen ja mein Motto: >Sag alles, was du sagen willst, aber sag's nicht schärfer, als du es sagen mußt.< Warum schreibt er nicht mit, der Analphabet? Einen so hervorragend formulierten Gedanken müßte er doch mitschreiben.« »Darf ich diesen brillanten Ausspruch notieren? Ich werde versuchen, ihm eine etwas bessere Fassung zu geben, sonst klingt es gar zu läppisch.« »Notieren? Wenn Sie diese Kleinigkeit für wichtig genug halten, bitte sehr, Herr Ziegler. Hoffentlich kann er schreiben.« »Ich möchte Ihre kostbare Zeit im Augenblick nicht für eine Diskussion über Ihr neues Buch in Anspruch nehmen, Herr Slutzky. Um neun Uhr beginnt das Kino, und ich habe noch keine Karten. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?« »Schießen Sie los, junger Mann. Hoffentlich wurden ihm die Fragen von der Redaktion vorgeschrieben. Was könnte so einer schon fragen. Ich werde frei von der Leber weg sprechen und mich nur dort ein wenig zurückhalten, wo das Kulturleben unseres Landes auf dem Spiel steht. Ob er das verstanden hat, der Schwachkopf.« »Ich verstehe vollkommen, Herr Slutzky. Es würde unsere Leser vor allem auch interessieren, was Sie zur gegenwärtigen Krise unserer Innenpolitik zu -173-
sagen haben. Tu doch nicht so, als müßtest du erst nachdenken. Komm schon heraus mit deinem alten Schmarrn: >Die Lage ist zwar kritisch, aber deshalb braucht man nicht gleich von Krise zu sprechen. <« »Ich werde ganz offen sein, Herr Ziegler. Die Lage ist zwar kritisch, aber deshalb braucht man nicht gleich von Krise zu sprechen.« »Darf ich diese sensationelle Äußerung wörtlich zitieren? Ich mache mir keine Notizen mehr. Es steht gar nicht dafür, ein solches Gewäsch aufzuschreiben. Ich werde kleine abstrakte Figuren in mein Notizbuch zeichnen.« »Im Grunde liegt die baldige Beendigung der Krise im Interesse aller Parteien. Von was für einer Krise spricht er überhaupt? Was weiß dieser junge Laffe von Krisen? Eine dauerhafte Verständigung kann allerdings nur durch wechselseitige Konzessionen erzielt werden. Seit vierzig Jahren sage ich immer das gleiche, und sie merken es nicht.« »Das trifft den Nagel auf den Kopf. Seit vierzig Jahren sagt er immer das gleiche und merkt es nicht. Meine nächste Frage, Herr Slutzky, ist ein wenig delikat. Er wackelt mit den Ohren. Er hat die komischsten Ohren, die ich je gesehen habe. Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Probleme des heutigen Buchhandels?« »Ich bedaure, aber darüber darf ich als Autor und Literaturwissenschaftler nichts sagen. Ich kann höchstens versuchen, wenn Sie es unbedingt wollen... Lassen Sie mich nachdenken ...« »Aber bitte. Hör auf, mit den Ohren zu wackeln, Slutzky. Um Himmels willen, hör auf. Ich bekomme einen Lachkrampf. Wenn ich nur wüßte, wem er ähnlich sieht. Halt, ich hab's. Dumbo. Walt Disneys fliegender Elefant, der seine Ohren als Flügel verwendet.« »Erlauben Sie mir bitte, Herr Ziegler, mein persönliches Credo in ein paar ganz kurze Worte zu kleiden: Die Identifikationskonzeption ist reif für die Zeit.« »Ausgezeichnet. Wenn er die Ohren noch einmal flattern läßt, steigt er in die -174-
Luft und umkreist die Hängelampe. Aber wie vereinbaren Sie das mit der scharfen Wendung unserer Kulturpolitik?« »Eine gute Frage. Warum glotzt er mich denn so komisch an? Das macht er schon seit einer ganzen Weile. Was ich Ihnen jetzt sage, ist nicht zur Veröffentlichung bestimmt.« »Sie können sich auf mich verlassen, Herr Slutzky. Ich darf ihn nicht mehr anschauen. Wenn ich ihn noch einmal dabei erwische, wie er mit dem linken Ohr wackelt, bin ich verloren. Ich habe immer das Gefühl, daß sein linkes Ohr dem rechten das Startsignal gibt.« »Brauchen Sie etwas, Herr Ziegler? Ist Ihnen nicht gut? Diese jungen Anfänger von heute sind lauter Neurotiker.« »Nein, danke. Das Erlebnis, Ihnen zu begegnen, nimmt mich ein wenig mit. Schließlich bekommt man es ja nicht jeden Tag mit einem Slutzky zu tun. Das fehlte noch. Sie sind also der Meinung, daß die derzeitige politische Spannung in den literarischen Kreisen noch eine Weile anhalten wird?« »Darüber möchte ich mich, als aktiver Kultursenator, nicht äußern.« »Ich danke Ihnen. Gerade das ist eine vielsagende Äußerung. Nur nicht hinschaun, nur nicht hinschaun. Noch ein einziges Ohrenflattern, und es ist um mich geschehn. Ich lache ihm ins Gesicht. Nach mir die Sintflut. Ich werde meinen Posten verlieren, aber diese Ohren ertrage ich nicht länger. Eine letzte Frage, Herr Slutzky. Nicht hinschaun. Nicht hinschaun. Wirtschaftliche Unabhängigkeit für Berufsschriftsteller, wann wird es die geben?« »Ja, wann? Warum fragst du mich, du Lümmel? Woher soll ich das wissen? Wenn Sie gestatten, möchte ich Ihre Frage mit einer jiddischen Anekdote beantworten.« »Ich bitte darum. Er flattert schon wieder. Obwohl ich gar nicht hinschaue, spüre ich ganz deutlich, daß er schon wieder flattert.« »Also hören Sie zu. Der Synagogendiener, der Schammes, kommt zum Rabbiner und sagt: >Rebbe, warum läßt| man mich nie das heilige Schofar blasen?< Sagt der Rebbe: >Schofar darf nur blasen, wer sich streng nach der -175-
Vorschrift gereinigt hat. Du suchst zwar regelmäßig das rituelle Bad auf, aber du hast es noch nie über dich gebracht, im Bad ganz unterzutauchen.< Sagt der Schammes ...« »Ja? Ich platze. Wenn er nicht sofort zu flattern aufhört, platze ich.« »Sagt der Schammes: >Das Wasser im rituellen Bad ist immer so kalt.< Sagt der Rebbe: >Eben. Auf Kaltes bläst man nicht.<« »Bruh-ha-ha ... Gott sei Dank, das war's. Bruuu-ha-ha-ha ... Bruuu-bruuu ...« »Aber Herr Ziegler ... Es ist ja ein recht gelungener Scherz, nur gleich so ein Anfall ... Und warum denn gleich auf den Teppich ... Ich bitte Sie, stehen Sie doch auf, Herr Ziegler...« »Ich kann nicht. Der Rebbe ... das Bad ... Dumbo ... Bruuu-ha-ha-ha ...« »Na ja. Sie werden sich schon beruhigen ... Mein Humor ist eben unwiderstehlich. Noch irgendwelche Fragen?« »Nein, nein, danke. Bruuu-haha ...« »Schon gut ... hahaha ... schon gut, Herr Ziegler. Wie sich zeigt, hat meine Wirkung auf die junge Generation noch nicht nachgelassen. Ich habe mich sehr gefreut. Sie bei mir zu sehen. Übrigens, nehmen Sie doch lieber eine von den alten Aufnahmen, nicht die letzte ... haha, wirklich ... Unsere Jugend ist zum Glück noch nicht ganz unempfänglich für witzige Parallelen. Alles Gute, Herr Ziegler, vergessen Sie nicht die funktionale Identifikation ...« »Bruuu-ha-ha-ha-ha ...« »Auf Wiedersehen. Eigentlich ein ganz netter Junge.«
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Lilly um fünf oder Die Artenvielfalt der Sekretärinnen Das dankbarste Objekt für den mehr oder weniger begründeten Verdacht der besten Ehefrauen ist in der Literatur seit jeher eine blondgelockte Sekretärin in hochhackigen schwarzen Schuhen. Viele Jahre lang habe ich zu diesem Thema geschwiegen. Jetzt wird es Zeit, daß ich spreche. Ich habe nichts gegen den Beruf der Sekretärin, nichts gegen ihre Person, nichts gegen ihre Gewerkschaft. Im Gegenteil, ich schätze die Hilfe, die uns Schriftstellern
seitens
blondgelockter
Sekretärinnen
zuteil
wird,
ganz
außerordentlich hoch. Meine Beschwerde ist rein seelischer Natur. Da sitzt man also zu Hause und schreibt eine sehr lustige Geschichte über die Abwertung der heimischen Währung. Drei Tage und zwei Nächte lang arbeitet man an diesem kleinen, aber gehaltvollen Werk, auf daß es ein Meisterwerk werde. Man feilt an Formulierungen, man kürzt, man streicht, man fügt etwas ein, man wägt und verwirft, man ruht nicht eher, als bis man so nahe wie möglich an ein perfektes Ergebnis herangekommen ist. Dann geht man mit dem vor lauter Korrekturen fast unleserlich gewordenen Manuskript in die Redaktion, breitet die handgeschriebenen Blätter vor sich aus, ruft die Chefsekretärin Lilly und beginnt ihr zu diktieren, wobei man sich eines glückseligen Glucksens über seine eigenen Einfälle kaum enthalten kann. »Abwertung ...«, beginnt man. »Was«, sagt Lilly. »Schon wieder?« Und damit ist es aus. Es ist zu Ende, bevor es noch richtig angefangen hat. Mit dieser einen kleinen Unterbrechung hat die blondgelockte Lilly in den hochhackigen schwarzen Schuhen in das delikate Räderwerk meiner Geschichte ruinösen Sand gestreut. Das geniale Gebäude, das ich in unermüdlicher Arbeit, in drei aufreibenden Tagen und zwei aufreibenden Nächten errichtet habe, liegt in Trümmern. »Schon wieder?« hat Lilly gefragt und mir damit klargemacht, -177-
daß das Thema meiner Geschichte unbrauchbar ist, daß sich kein Mensch dafür interessiert, über Abwertung ist schon viel zuviel geschrieben worden, davon will niemand mehr etwas wissen, es langweilt die Leute, es taugt nichts... Schon wieder? Ich bin sicher, daß Lilly das nicht etwa deshalb gesagt hat, weil sie mich umbringen will. Sie läßt nur außer acht, daß sie der erste Mensch ist, der meine neue Satire kennenlernt, daß sie eine ähnlich schwere und ehrenvolle Verantwortung trägt wie im Theater das Publikum einer Uraufführung. Von alledem weiß sie nichts. Sie will um fünf Uhr nach Hause gehen und will rechtzeitig mit dem Diktat fertig werden. Ich gebe mich unbefangen und diktiere weiter, mit lockerer, lustiger Stimme, wie es sich für einen professionellen Clown geziemt. Aber mein Herz blutet. Ich glaube nicht länger an meine Geschichte über die Abwertung. Lilly hat mich mit ihrem »Schon wieder« um mein Selbstvertrauen gebracht. Insgeheim hoffe ich, sie durch eine Pointe versöhnen zu können. Vielleicht wird sie lachen oder wenigstens lächeln, wenn ich zu der Stelle über die Steuererhöhung komme, die ja wirklich komisch ist ... Ich diktiere die Stelle über die Steuererhöhung und sehe Lilly von der Seite an, unauffällig, aus schrägem Winkel. Lilly lacht nicht und lächelt nicht. Sie sitzt mit steinernem Gesicht an ihrer Maschine, glotzt vor sich hin und beginnt mit den Fingern halblaut auf das Tischchen zu trommeln, weil ihr die Pause schon zu lange dauert, um fünf Uhr machen wir Schluß, bitte weiter ... Ich stehe auf, trete hinter sie und beuge mich über das eingespannte Papier. »Wenn es nach dem Finanzminister ginge, müßten wir sogar unsere RummyGewinne verteuern«, lese ich. »Wieso verteuern, Lilly? Das hat ja keinen Sinn.« »Nicht? Wieso nicht?« »Es heißt versteuern.« »Warum haben Sie das nicht gesagt?« -178-
Lilly schreibt hin, was sie hört oder zu hören glaubt. Ob es etwas bedeutet, spielt keine Rolle. Ihre Tätigkeit ist rein phonetischer Natur. Sie würde auch den größten Unsinn hinschreiben, ohne mit einer einzigen ihrer künstlichen Wimpern zu zucken. Vor meinem geistigen Auge erscheint eine balkendicke Zeitungsüberschrift: SEKRETÄRIN WÄHREND DES DIKTATS ERMORDET, lautet der Haupttitel. Darunter:
»HAT
MIR
NICHT
ZUGEHÖRT,
WIMMERT
HYSTERISCHER
SCHRIFTSTELLER. SCHON SEIN DRITTES OPFER IN DIESEM JAHR.« Ich vergaß darauf hinzuweisen, daß wir in unserer Redaktion drei Sekretärinnen haben. Lilly ist die schrecklichste von allen. Bathscheba geht so. Esther ist ein Schatz. Mit Esther zu arbeiten ist die reine Wonne. Sie nimmt Anteil an jeder Geschichte, lebendigen Anteil, ermunternden Anteil. Ich stelle mir vor, wie es gewesen wäre, wenn ich ihr, Esther, die Geschichte von der Abwertung diktiert hätte. »Abwertung ...«, beginne ich. »Abwertung«, jauchzt Esther vergnügt und nochmals: »Abwertung!« Sie klatscht in die Hände, sie lacht mit blinkenden Zähnen. »Wo Sie nur immer diese köstlichen Ideen hernehmen. Abwertung!« Ich liebe Esther. Nach jedem Diktat steht sie auf, ihr Antlitz strahlt, ihre Stimme vibriert vor Entzücken: »Herrlich! Einmalig! Das soll Ihnen jemand nachmachen.« Esthers Instinkt ist einfach bewundernswert. Man braucht nur ein wenig die Stimme zu erheben, ein kleines Lächeln um die Mundwinkel spielen zu lassen oder sie mit dem Ellbogen ganz leicht in die Rippen zu stupsen, Esther versteht sofort und bricht in schallendes Gelächter aus. Ein routinierter Schriftsteller könnte, wenn’s ihm darauf ankommt, pro Manuskript ein Dutzend Lachstürme, mindestens fünf verzückte Seufzer und zum Abschluß zehn jubelnde Superlative aus Esther herausbekommen. Mit Esther zu arbeiten, ist keine Arbeit, sondern eine Siegesparade.
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Leider hat sie nie Zeit. Der Chefredakteur und sämtliche Ressortleiter reißen sich um sie. Die Warteliste wird gleich am Morgen zusammengestellt und ist unübersehbar lang. Beschwere ich mich einmal, daß Esther immer besetzt ist, bekomme ich den heuchlerischen Rat: »Warum nehmen Sie nicht Bathscheba? Die ist doch auch sehr gut.« Gewiß, Bathscheba ist nicht schlecht, sie reagiert zufriedenstellend, und wenn sie einen guten Tag hat, lacht sie gelegentlich. Einmal, auf dem Höhepunkt einer meiner Geschichten, bekam sie sogar einen richtigen Lachkrampf. Sie konnte gar nicht aufhören. Ich hörte ihr geschmeichelt zu. »Na, schon gut«, sagte ich nach einer Weile. »Was ist denn da gar so lustig?« »Ihr Akzent«, stöhnte Bathscheba und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Dieser komische ungarische Akzent.« Wie man sieht, läßt Bathschebas Intelligenz zu wünschen übrig. Vor einigen Tagen diktierte ich ihr eine scharfe Glosse gegen den Führer einer Studentenorganisation, der unseren Ministerpräsidenten in der unverschämtesten Weise attackiert hatte. »Unseren Staatschefais miserablen Lügner zu bezeichnen, ist zweifellos eine Heldentat«, diktierte ich mit unüberhörbarem Sarkasmus in der Stimme. Bathscheba tippte den Satz fertig und sah hingerissen zu mir auf: »Großartig! Höchste Zeit, daß jemand für diesen prachtvollen jungen Menschen eintritt.« Ich erbleichte. »Hören Sie«, sagte ich. »Das war ironisch gemeint. Wissen Sie nicht, was Ironie ist?« »Doch. Natürlich. Ganz wie Sie wünschen.« Und sie wartete mit gesenktem Kopf auf die Fortsetzung des Diktats. Aber Bathscheba ist noch Gold im Vergleich zu Lilly, der ich soeben diese Geschichte diktiere. Es ist jetzt 20 Minuten vor 5, und Lilly nutzt bereits die
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kleinste Pause in meinem Diktat dazu aus, sich die Locken zu richten und an ihrer Bluse herumzuzupfen. Gerade hat sie irgendeinen Kerl angerufen, um ihm mitzuteilen, daß sie ihn pünktlich 2 Minuten nach 5 treffen wird. Das ist das einzige, woran sie denkt. Ich frage mich, ob sie überhaupt merkt, daß diese Geschichte von ihr handelt. Sie sitzt mit ausdruckslosem Gesicht an der Maschine und läßt nicht das geringste Anzeichen von Beteiligung erkennen. Ich habe das Diktat beendet. Lilly sitzt immer noch da, als warte sie auf eine Fortsetzung. Stille. »Aus?« fragt Lilly. »Ja.« Lilly erhebt sich wortlos und macht sich vor dem Spiegel zurecht. Ich unternehme einen letzten Versuch. »Na? Wie gefällt sie Ihnen?« »Wer?« fragt Lilly hinter ihrer Puderdose hervor. »Die Geschichte.« »Ja«, sagt Lilly, während sie den Deckel über die Maschine stülpt. »Schon ein wenig schwach an manchen Stellen. Wir werden ein neues Farbband kaufen müssen.« Dann eilt sie, ihre blonde Mähne schüttelnd, hochhackig davon. Umwerfend.
Bettgeschichte oder Der Geheimcode des Verlegers Ich persönlich brauche keine Bestsellerlisten anzusehen oder auf Menasche zu warten, um über meinen Status Bescheid zu wisen. Den kann ich ganz genau nach einem antiken Bett beurteilen. Mein Verleger hat in Wien eine altmodische Wohnung, und im Schlafzimmer steht ein atemberaubendes Bett mit goldenen und roten Verzierungen. Wenn mein Verleger mir sagt: »Nehmen Sie bitte das -181-
schöne Bett«, und ich lege mich in diesem Wunder von Louis XIV. zur Ruhe, während er auf einer Couch im Stil von Neckermann II. schläft, dann weiß ich ganz genau, daß ich noch immer auf der Bestsellerliste stehe. Obwohl ich eigentlich nach jedem neuen Buch erwarte, daß mein Verleger mir in seiner höflichen Ausdrucksweise sagt: »Wir haben, lieber Herr Kishon, in unserem Keller
eine
ausgezeichnete
Matratze ...«
Ein Humorist kann über ein und dasselbe Thema ebenso einen ernsten Leitartikel schreiben wie eine Parodie. Eigentlich kann er alles schreiben, wofür er bezahlt wird. Auch Opern, Werbetexte, neue Nationalhymnen. Sogar Schlagertexte. Er braucht dazu nur Inspiration und eine Serviette.
Schnucki ist stärker oder Das Geheimnis der Schlagerindustrie Zweifellos kennen meine geneigten Leser den erfolgreichen »Cookie-Song«, die Nummer l der Gesamt-Hitparade des Jahres. Nach mehr als 800 Radiosendungen wird es wohl kaum einen Menschen geben, der die muntere Melodie mit dem eingängigen Text noch nicht vor sich hingesummt hätte. Wie wohltuend sich dieser Text von den sonstigen Produkten unterscheidet, ersieht man aus folgendem Refrain: Cookie, Cookie, Cookie, Cookie, Du bist süß wie Zucki, Zucki Und dein blaues Augengucki Macht mich ganz verrückt. Bitte schenk mir, Cookie, Cookie, Noch ein Blick, noch ein Blucki Sag mir Schnucki, Schnucki, Schnucki Dann bin ich beglückt. -182-
Ein einfaches, anspruchsloses Lied, in sprachlicher Hinsicht vielleicht nicht ganz einwandfrei, aber dafür von einer naiven Liebenswürdigkeit und leicht zu behalten. Deshalb wird es auch zehnmal täglich im Rundfunk gesendet. Der Text ist übrigens von mir. Ich hatte bis dahin noch nie einen Schlagertext geschrieben, weil ich nicht wußte, daß ich dafür begabt bin. Es ist ja nicht selten geschehen auf der Welt, daß jemand seine eigene Begabung nicht kennt. Bernard Shaw zum Beispiel begann erst mit vierzig Jahren, Theaterstücke zu schreiben. Und David mußte erst mit Goliath zusammentreffen, um zu entdecken, daß er ein besonderes Talent zum Steineschleudern besaß. Vielleicht wäre auch aus mir niemals ein Textdichter geworden, wenn ich nicht die Gewohnheit hätte, bei längeren Gesprächen allerlei Sinnloses auf ein Papier zu kritzeln. Es geschah auf der Terrasse meines Kaffeehauses. Wir sprachen über die amerikanische Jugend und ihren Mangel an Idealen, und während ich meinen Teil Mißbilligung zum Gespräch beisteuerte, begann ich auf eine Papierserviette abstrakte Figuren zu kritzeln, denen ich so nebenbei blöde Kosenamen gab wie Cookie ... Zucki ... Schnucki ... Pucki ... Plötzlich fiel der Blick des bekannten Schlagerkomponisten Eli Distel auf die Serviette. »Cool«, japste er. »Absolute Spitze!« Er zog mich beiseite und erklärte mir, daß die von mir so achtlos hingeworfenen Wortgebilde das ideale Gerippe eines Schlagertextes darstellten, den ich nur noch ausarbeiten müßte. Ich sollte das sofort tun. »In jedem erfolgreichen Schlagertext gibt es nur ganz wenige Worte, die im Gedächtnis bleiben«, fügte er hinzu. »Der Rest ist gleichgültig. Cookie-ZuckiSchnucki genügt.« »Und was ist mit Pucki?« fragte ich indigniert. »Fällt ein wenig ab. Schnucki ist stärker. Fang an zu dichten. Ich spreche inzwischen mit den Produzenten und einigen Discjockeys im Rundfunk.«
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Trotz der kleinen Kränkung zog ich mich an einen freien Tisch zurück und schrieb in drei Minuten den »Cookie-Song«, der heute in aller Munde ist. Distel entschuldigte sich, daß der Markt im Augenblick ein wenig stagniere, und zahlte mir 500 Pfund, was ich gar nicht so schlecht fand. Den wütenden Blick des an unserem Tisch sitzenden Popsong-Texters Uri Ben-Patisch ignorierte ich. Am nächsten Morgen bekam ich ein Telegramm: »ERWARTE DICH ZWOELF UHR EINGANG ZOO STRENGSTES STILLSCHWEIGEN GEBOTEN BENPATISCH« Aus purer Neugier ging ich hin. Ben-Patisch verband mir die Augen mit einem Taschentuch und zerrte mich in einen Wagen, der ungefähr drei Stunden lang in gesetzwidrigem Tempo dahinsauste. Während dieser drei Stunden fiel kein einziges Wort. Als wir endlich anhielten und Ben-Patisch mir die Augenbinde abnahm, standen wir vor einer einsamen Ruine in Obergaliläa. Wir traten ein. In einem halbverfallenen Raum, der von einem flackernden Öllämpchen notdürftig erhellt wurde, erwarteten uns, um ein morsches Klavier geschart, drei weitere Pop-Lyriker und Jacky, der bekannte Discjockey der heimischen Rundfunkhitparade. »Nimm Platz«, sagte Ben-Patisch. »Und fürchte dich nicht. Du bist unter Freunden. Was du hier siehst, ist die lokale Popsong-Fabrikations-GmbH, die ingesamt fünf Mitglieder umfaßt.« »Freut mich sehr.« Ich verbeugte mich in Richtung GmbH. »Wir vier haben bisher alle erfolgreichen Texte für Jacky geschrieben«, eröffnete mir Ben-Patisch, und in seiner Stimme schwang deutlicher Unmut mit. »Jetzt, da auch du mit dem Schreiben angefangen hast, müssen wir dich in unsere Geheimorganisation aufnehmen.« »Warum ist sie geheim?« »Das kann ich dir erklären. Es gibt ein Geheimnis, das bisher nur fünf Männern im ganzen Land bekannt war. Von nun an werden es sechs sein. Das Geheimnis besteht in der bitteren Wahrheit, daß jeder Mensch Schlagertexte -184-
schreiben kann. Wir haben dich hergebracht, um dich zu warnen. Wenn du unser Geheimnis verrätst ...« »Ihr könnt euch auf mich verlassen.« »Danke. Aber das ist noch nicht alles. Unsere Organisation hat ihre eigenen Gesetze, von deren strikter Einhaltung unsere materielle Existenz abhängt. Erstes Gesetz: >Man darf nie sofort einen Text schreiben.< Dieses Gesetz hast du, allerdings noch ohne es zu kennen, gebrochen. Sei dir bitte im klaren darüber, welches Verhängnis uns droht, wenn man plötzlich dahinterkäme, daß ein Hitparaden-verdächtiger Schlagertext in fünf Minuten herstellbar ist. Du mußt für einen Text immer zwei Wochen Zeit verlangen, das ist das mindeste. Wie lange du wirklich brauchst, geht niemanden etwas an. Meinetwegen schreib ihn auf dem Weg zum Produzenten. Zweites Gesetz: >Gib niemals die Erlaubnis, auch nur ein einziges Wort zu ändern.< Die Leute müssen überzeugt sein, daß dein Text das Ergebnis langer, aufreibender Arbeit ist, daß du an jedem Wort, auch wenn es noch so simpel oder gar dumm erscheint, stundenlang gefeilt hast. Drittes Gesetz: >Laß deinen Text niemals ohne Musik hören.< Wenn er gesungen wird, nimmt man ihn gewissermaßen nebenbei mit. Aber ohne Musik würde man merken, daß es der reine Stumpfsinn ist.« »Allerdings.« »Unterbrich mich nicht. Ich komme jetzt zum wichtigsten Punkt, nämlich zur Frage des Honorars. Wenn Jacky einen Schlager unter seine Fittiche nimmt, dann wird er innerhalb von 48 Stunden zwanzigmal ausgestrahlt, und der Verkauf steigt kometenhaft. Es ist also absolut verbrecherisch, für einen Text weniger als 1200 Pfund zu nehmen. Sonst glaubt dir ja niemand, welche ungeheure Mühe, welche geistige und emotionelle Anstrengung er dich gekostet hat. Deshalb mußt du auch von Zeit zu Zeit über Kopfschmerzen und Müdigkeit klagen.« An dieser Stelle drückte Jacky seine Zigarette aus und alle verstummten auf einen Schlag.
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»Und schließlich noch eine Vereinbarung. Nicht direkt ein Gesetz, eher eine Art Gentlemen's Agreement«, sagte Jacky leise. »Meine Macht als Schlagerpapst ist begrenzt, und die Sache darf nicht auffallen. Kein Mitglied der Organisation darf also mehr als tausend Schlagerexte im Jahr schreiben ...« Ich erklärte mich mit den Bedingungen einverstanden, wurde in einer kurzen, eindrucksvollen Zeremonie vereidigt und erhielt die Mitgliedskarte Nr. 6.
Humoristen unterscheiden sich von anderen Mitbürgern dadurch, daß die Mitbürger Ihnen fortwährend Witze erzählen, und nicht umgekehrt. Abgesehen von dieser Peinlichkeit gibt es keinerlei Unterschied. Das kommt auch daher, daß der Humorist selbst im Privatleben enttäuschend normal ist und versucht, der Öffentlichkeit seinen geschulten Sinn für Humor nicht aufzudrängen, wie auch ein verantwortungsbewußter Karatemeister mit seinen gefährlichen Fußfegern vorsichtig umgeht. Es sei denn, er kann sich nicht mehr beherrschen.
Humor ganz privat oder Petersilie ist doch lustig Der Schreiber dieser Zeilen nimmt zeit seiner Ehe einen wesentlichen Teil der Haushaltspflichten auf sich. Vorausgesetzt, daß er daheim ist und nicht im Ausland. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich Weltreisen so gern habe. Nicht, daß ich etwas gegen Männer im Haushalt hätte. Im Gegenteil, es gibt verschiedene Haushaltspflichten, die ich ehrlich mag, zum Beispiel einkaufen. Das war schon immer eines meiner geheimen Hobbys. Hin und wieder schlage ich der besten Ehefrau von allen am Frühstückstisch vor, daß sie aufs Finanzamt gehen soll, während ich den Kramladen an der Ecke aufsuche, um Vorräte einzukaufen. In der Regel akzeptiert sie mein Angebot, nicht etwa, weil sie an Steuerproblemen so interessiert ist, sondern weil sie auf dem -186-
Standpunkt steht, daß es Männersache ist, schwere Pakete nach Hause zu schleppen. Zugegeben, wenn ich einkaufen gehe, sind die Pakete besonders schwer. Ich bin einfach nicht in der Lage, Viktualien, egal in welcher Form oder Farbe, zu widerstehen. Speziell, wenn diese Viktualien Form und Farbe von Salami annehmen. Ich persönlich bin kein Freund von Supermärkten, vor allem deshalb, weil ich mir da drinnen immer vorkomme, als würde ich einen Kinderwagen schieben, eine Tätigkeit, die nicht unbedingt meiner Lebensphilosophie entspricht. Wir waren daher überglücklich, ich und die übrigen Ehemänner in der Nachbarschaft, als der alte Petschik auf einem Ruinengelände hinter dem Supermarkt ein kleines Lebensmittelgeschäft eröffnete, um für die spärlichen Individualisten der Gegend eine Alternative zu bieten. Petschik und sein Kramladen haben sich über Nacht zum Lieblingsaufenthalt der vereinigten Ehemänner unseres Wohnblocks entwickelt. Ich möchte nun ein aufwühlendes Erlebnis schildern, das mir bei Petschik zuteil wurde. Die Beste tritt zwar in diesem Ensemble nicht auf, aber ein Ehemann sollte doch auf gewisse Rechte in seinem eigenen Buch pochen dürfen. Die folgende Geschichte kann also als eine Art von Umwelterforschung betrachtet werden, aber auch als Nebenerscheinung der Frauenemanzipation oder beides oder keins von beidem oder vice versa oder nicht, aber ich selbst möchte lediglich über den einmaligen Mißbrauch meines Humors reden. Es ist müßig zu sagen, daß »Chez Petschik« ein eher ungemütliches Etablissement ist, mit etlichen wirr eingeräumten Regalen innen sowie einigen Körben Obst und Gemüse davor. Daß dieses Mini-Unternehmen in unserer modernen Zeit überleben kann, ist vermutlich der Tatsache zuzuschreiben, daß Männer
das
Schlangestehen
vor
einer
elektronischen
Registrierkasse
erniedrigend finden. Und bei Petschik gibt es keine Kasse, nur Petschik. Ein weiterer Vorteil gegenüber dem Supermarkt ist der absolute Mangel an Auswahl. Denn bei Petschik gibt es nur die allernötigsten Waren, und auch die nur zu Wochenbeginn. -187-
Der alte Petschik selbst ist Angehöriger eines aussterbenden Stammes, ein freundlicher Bulgare mit wenig Launen und vielen falschen Zähnen. Übrigens waren es die Zähne, die das Drama ins Rollen brachten. Es war ein Morgen wie jeder andere. Herr Blum fischte eingelegte Gurken aus einer rostigen Blechdose und besprach mit Herrn Geiger, der in eine Tomatenkiste vertieft war, die Vor- und Nachteile diverser Waschpulver. Da erschien der Fremde. Ein hochgewachsener, bebrillter Mensch mit einer rabenschwarzen Aktenmappe unterm Arm. Wir Stammkunden tauschten irritierte Blicke. Was will der hier, fragten wir uns, warum geht er nicht in den Supermarkt? Der Fremde steuerte direkt auf Petschik zu und kommandierte: »200 Gramm Trüffelpastete und 150 Gramm geräucherten Truthahn.« Uns verschlug es die Sprache. Wo glaubte der Mann denn zu sein, in einem Delikatessengeschäft? »Hab ich nicht«, sagte der alte Petschik scheuen Blicks, »keine Paste ... kein Truthahn ...« Der Fremde hob eine Augenbraue: »Kein Truthahn? Also, was haben Sie statt dessen zu bieten?« »Kleiderhaken ... bulgarischen Schafskäse ...« Der alte Petschik hat, wie erwähnt, viele falsche Zähne. Sowohl zu ebener Erde als auch im ersten Stock. Diese Zähne erzeugen den ungewollten Eindruck, daß er ständig lacht. Auch wenn ihm gar nicht danach zumute ist. Es sind einfach die Zähne. »Also gut«, sagte der Fremde, »dann geben Sie mir eine Schachtel Camembert.« »Hab ich leider nicht ... kein Kamberger.«, und wieder blitzten die großen falschen Zähne. »Bier?« »Nur Sodawasser.« »Cola?« -188-
»Nein.« Der Fremde verlor die Beherrschung. »Verdammt«, fluchte er, »was gibt s denn überhaupt in diesem Scheißladen?« »Oliven«, murmelte der alte Petschik zitternd. »Petersilie ...« Seine ängstliche Verlegenheit förderte immer mehr lächelnde Zähne zutage. Der Fremde starrte ihn an. »Sie«, knarrte er. »Können Sie mir sagen, was da so komisch ist?« »Petersilie ...« »Ich frage, was ist an Petersilie so komisch?« »Der Name«, griff ich da ein. »Finden Sie nicht auch, daß er einen merkwürdigen Klang hat? Pe-ter-si-li-e.« Ich mußte einfach in die Bresche springen. Der alte Petschik stand hilflos mit dem Rücken zum Heringsfaß, seine Augen fixierten in stummem Schrecken den Fremden, der ihn mit seiner Brille und der schwarzen Aktenmappe zu bedrohen schien. Unter uns Petschik-Fans entstand plötzlich echte Solidarität. Jeder von uns war bereit, dem Alten in seiner schweren Stunde beizustehen. Der Eindringling wandte sich mir zu. Petschik seufzte erleichtert auf. »Was«, bellte der Fremde, »was soll an Petersilie komisch sein?« Sofort eilte mir Geiger zu Hilfe. »Sogar der Anblick von Petersilie ist komisch«, behauptete er. »Urkomisch.« »Jawohl«, ergänzte ich. »Sie erinnert irgendwie an einen winzigen Regenschirm, den der Sturm umgedreht hat.« Herr Blum brach in ein irres Gelächter aus und holte ein Büschel aus seiner Einkaufstasche, um den Fall zu demonstrieren. »Bei uns daheim wird über Petersilie immer sehr gelacht«, teilte er mit. »Sie hat so einen kitzelnden Geruch ...« »Sehr richtig«, nahm ich das Stichwort wieder auf, »der Ursprung des Wortes ist das altgriechische >Petroselinon<. Das bedeutet auf deutsch: >einen Stein zum Lachen bringen^«
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Der Fremde warf mir einen zweifelnden Blick zu, aber offensichtlich konnte er nicht Griechisch. »Wollen Sie uns weismachen«, schoß ich dazwischen, »daß Sie den epochemachenden Essay von Evelyn Jones nie gelesen haben: >Humor von Petersilie bis Peter Sellers« »Nein«, sagte der Fremde, sich an seine Aktenmappe klammernd, »ich glaube nicht...« Es stellte sich heraus, daß er einem Profi wehrlos ausgeliefert war. Ich legte einen Arm um seine Schultern und nahm ihn zur Seite, während sich der gesamte Petschik-Club um uns versammelte. Ich wage die Behauptung, daß es noch nie soviel Einigkeit unter Menschen gegeben hat. »Im Mittelalter«, belehrte ich den Eindringling, »nannte man die Pflanze >Kichergrün<. Sie war eines der seltensten Gewächse der Welt. Die Monarchen Europas pflegten ein Bündel davon mit purem Gold aufzuwiegen. Daher spricht man heute noch von >petrifizieren<, wenn man Werte für die Ewigkeit aufbewahren will.« Der Fremde zerbröckelte vor meinen Augen. »Ich«, stotterte er, »ich habe die einschlägige Literatur nicht gründlich durchgearbeitet ...« »Undenkbar«, rief ich, von kreativem Schaffensdrang beflügelt, »Sie müssen doch zumindest den populären Vers kennen: »Frau Wirtin pflanzte eine Lilie, /doch was dann wuchs, war Petersilie./ Was konnte man da machen?/ Die Wirtin samt Familie,/ sie wälzte sich vor Lachen.« »Ja«, stöhnte der Eindringling. »Ich erinnere mich dunkel ...« »Übrigens«, trat ich wieder in Aktion, »kennen Sie die klassische Anekdote, wie sich zwei Petersilien in der Eisenbahn treffen ...« Der Fremde brach zusammen. »Verzeihung«, murmelte er, »ich hab eine dringende Verabredung ...«
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Er ergriff die Flucht. Wir waren wieder allein mit Petschik und seinen mißverstandenen Zähnen. Der Alte, Gott segne ihn, blickte verständnislos in die Runde. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es hier gegangen war. »Weißt du was, Petschik«, sagte ich, »jetzt will ich so ein Bündel >Kichergrün<.« Alle schüttelten sich vor Lachen. Herrn Geiger kamen sogar die Tränen. Vielleicht ist wirklich etwas Wahres daran, daß Petersilie lustig ist.
Die meisten Humoristen der Weltliteratur sind durch ihre jugendlichen Seitensprünge, ihre Kinder- oder Jugendbücher, bekannt geworden. So weiß man zwar, daß Mark Twain ein bedeutender Humorist war, gelesen hat man von ihm aber »Tom Sawyer« und »Huckleberry Finn«. Von Erich Kästner sind vor allem »Emil und die Detektive« und »Das doppelte Lottchen« geblieben, und von dem großen jiddischen Satiriker Scholem Alejchem das Musical »Anatevka«.
Die Abschlußfeier oder Der Apfel fällt nicht weit ... Kann man den Sinn für Humor, den inneren Drang zu dichten, erben? Diese Frage beschäftigte mich, als mein mittlerer Sohn Amir mich fragte: »Wirst du wirklich kommen, Papi, zu unserer lustigen Abschlußfeier? Bestimmt?« »Ja, mein Sohn. Bestimmt.« Dies war der kurze, wenig abwechslungsreiche Dialog, der während der letzten sechs Monate zweimal täglich zwischen mir und meinem Sohn Amir stattfand, einmal beim Frühstück und einmal vor dem Schlafengehen. Nadiwa, die Lehrerin, hatte dem Sohn des witzigen Vaters eine lustige Hauptrolle in dem Theaterstück gegeben, das am Ende des Schuljahrs aufgeführt werden sollte, -191-
und von diesem Augenblick an beschäftigte sich Amir ausschließlich damit. In der Abgeschlossenheit seines Zimmers lernte das aufgeweckte Kind den humorigen Text auswendig, unermüdlich, immer wieder, immer dieselben Worte, als wäre eine Schallplatte steckengeblieben. »Häschen klein ... Gläschen Wein ... sitzt allein«, erklang es unablässig aus Kindermund. »Kleiner Hase ... rote Nase ... ach, wie fein ... muß das sein ...« Selbst auf dem Schulweg murmelte er diesen läppisch gereimten Unfug vor sich hin, selbst auf die erzürnten Rufe der Autofahrer, die ihn nicht überfahren wollten, reagierte er mit den Worten: »Häschen spring ... klingeling ... komm und sing ...« Als der große Tag da war, platzte das Klassenzimmer aus allen Nähten, und viele Besucher drängten herbei, um teils ihre Sprößlinge und teils die von eben diesen angefertigten Buntstiftzeichnungen von Landschaften zu bestaunen. Mit knapper Not gelang es mir, ein Plätzchen zwischen dem See Genezareth und einem Tisch mit Backwerk zu ergattern. Im Raum brüteten die Hitze und eine unabsehbare Schar erwartungsvoller Eltern. Unter solchen Umständen hat ein Durchschnitts-Papi wie ich die Wahl zwischen zwei Übeln: Er kann sich hinsetzen und nichts sehen als die Nacken der vor ihm Sitzenden, oder er kann stehen und sieht seinen Sohn. Ich entschied mich für einen Kompromiß und ließ mich auf eine Sessellehne nieder, unmittelbar hinter einer Mutter mit einem glatzköpfigen Kleinkind auf dem Rücken, das sich von Zeit zu Zeit nach mir umdrehte, um mich ausdruckslos anzuglotzen. »Papi«, hatte mein Sohn Amir beim Aufbruch gefragt, »wirst du auch ganz bestimmt bleiben?« »Ja, mein Sohn. Ich bleibe.« Jetzt saß Amir bereits auf der Bühne, in der dritten Reihe der für spätere Auftritte versammelten Schüler, und beteiligte sich mit allen anderen am Absingen des Gemeinschaftsliedes der Schule. Auch die Eltern fielen ein, wann immer ein Mitglied des Lehrkörpers einen von ihnen ansah. Die letzten Mißtöne waren verklungen. Ein sommersprossiger Knabe trat vor -192-
und wandte sich an die Eltern. »Nach Jerusalem wollen wir gehen, Jerusalem, wie bist du schön, unsere Eltern kämpften für dich, auch für mich und für uns alle, wie wir da sind, Jerusalem, ich bin dein Kind und bleibe es mein Leben lang, liebe Eltern, habet Dank.« Ich saß in geräumiger Distanz vom Ort der Handlung. Was dort vorging, erreichte mich nur bruchstückweise. Soeben rezitiert ein dicklicher Junge etwas über die Schönheiten unseres Landes, aber ich höre kein Wort davon und bin ausschließlich auf visuelle Eindrücke angewiesen. Wenn er hinaufschaut, meint er offensichtlich den Allmächtigen, wenn er die Arme ausbreitet, die fruchtbaren Ebenen Galiläas oder möglicherweise die Wüste Negev. Und wenn er mit seinen Patschhändchen wellenförmige Bewegungen vollführt, kann es sich nur um das Meer handeln. Zwischendurch muß ich die ängstlich forschenden Blicke meines Sohnes erwidern und das ausdruckslose Gloten des glatzigen Kleinkindes ignorieren. Stürmischer Applaus. Ist das Programm schon zu Ende? Ein geschniegelter Musterschüler tritt an die Rampe. »Das Flötenorchester der vierten Klasse spielt jetzt einen Ländler.« Ich liebe Flötenkonzerte, aber ich liebe sie in der Landschaft draußen, nicht in einem knallvollen Saal mit Städtern. Wie aus dem notdürftig vervielfältigten Programm hervorgeht, besitzt die vierte Klasse außer einem Flötenorchester auch vier Solisten, so daß uns auch vier Soli bevorstehen, damit sich keiner kränkt: ein Haydn, ein Nardi, ein Schönberg, ein Dvorak. An den Fenstern wimmelt es von zeitunglesenden Vätern. Und sie genieren sich nicht einmal, sie tun es ganz offen. Das ist nicht schön von ihnen. Ich borge mir eine Sportbeilage aus. Das Konzert ist vorüber. Wir applaudieren vorsichtig, wenn auch nicht vorsichtig genug. Es folgt eine Zugabe. Die Sportbeilage ist reichhaltig, aber auch sie hat einmal ein Ende. Was nun? Da. Mein Sohn Amir steht auf und kommt an die Rampe. Mit einem Stuhl in -193-
der Hand. Er ist zunächst nur als witziger Requisiteur tätig. Seine Augen suchen mich. »Bist du hier, mein Vater?« fragt sein stummer Blick. Ich wackle mit den Ohren. »Hier bin ich, mein Sohn.« Einer seiner Kollegen erklimmt den Stuhl, den er, Amir, mein eigener Sohn, herangeschafft hat, und gibt sich der Menge als »Schloime der Träumer« zu erkennen. Von seinen Lippen rieselt es rasch die amüsante Geschichte: »... jetzt wollt ihr wissen warum aber dann kommt schräg ich sag's meiner Mutter immer na und also ich geh und hopp-hopp-hopp auf einmal eine Katze und sum-sum Schloime im Fahrstuhl ob ihr's glaubt oder nicht plötzlich zack alles voll Kack.« Die Kinder brüllen vor Lachen. Mit mir jedoch geht es zu Ende. Kein Zweifel, ich bin innerhalb Minutenfrist entweder taub oder total senil geworden oder beides. Auch das glatzige Kleinkind dreht sich um und glotzt. Es beruhigt mich ein wenig, daß auch viele andere Väter mit unbewegten Gesichtern dasitzen, die Hand ans Ohr legen, sich angestrengt vorbeugen und sonstige Anzeichen ungestillten Interesses von sich geben. Eine Stunde ist vergangen. Die Mutter mit dem Kleinkind auf dem Rücken sackt lautlos zusammen, mitten in die Kuchen hinein. Ich springe auf, um ihr an die frische Luft hinaus zu helfen, aber ein paar Väter kommen mir zuvor und tragen sie freudestrahlend hinaus. An die frische Luft. »Und jetzt«, verkündet der Geschniegelte, »bringen die Didl-Dudl-Swingers eine Gesangsnummer, in der sie die Vögel des Landes nachahmen.« Wenn ich's genau bedenke, habe ich kleine Kinder gar nicht so schrecklich lieb. In kleinen Mengen mag ich sie ganz gern, aber so viele von ihnen auf so kleinem Raum... Außerdem sind sie miserable Schauspieler. Vollkommen talentlos. Wie sie da zum Klang des Flötenquartetts herumspringen und einen idiotischen Text
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krächzen, böser Kuckadudidu, mach die blöden Augen zu, oder was immer, es ist nicht zum Anhören und nicht zum Ansehen ... Ich fühle mich schlecht und immer schlechter. Keine Luft. An den Fenstern kleben ganze Trauben von japsenden Eltern. Kleine Mädchen müssen Pipi. Draußen im Hof rauchen rebellierende Väter. Mein Sohn gestikuliert angstvoll. »Nicht weggehen, Papi. Ich komm mit meiner lustigen Nummer gleich dran.« Auf allen vieren krieche ich zu Nadiwa, der Lehrerin: Ob es eine Pause geben wird? Unmöglich. Würde zu lange dauern. Jedes Kind eine Hauptrolle. Sonst werden sie eifersüchtig, und die pädagogische Mühe vieler Jahre ist beim Teufel. Einige Elternpaare, deren Nachkommenschaft sich bereits produziert hat, entfernen sich unter den neidvollen Blicken der zurückbleibenden Mehrheit. Auf der Bühne beginnen die Vorbereitungen zu einer biblischen Allegorie in fünf Akten. Mein ulkiger Sohn trägt abermals Requisiten herbei. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf das Rollenbuch, das der Bruder eines Mitwirkenden in zitternden Händen hält, um notfalls als Souffleur zu fungieren. Ägyptischer Aufseher (hebt die Peitsche): Auf, auf, ihr Faulpelze! Und hurtig an die Arbeit! Ein Israelit: Wir schuften und schwitzen seit dem Anbruch des Morgens. Ist kein Mitleid in deinem Herzen? Und so weiter in diesem Sinne. Ich kenne viele Menschen, die niemals geheiratet und sich niemals vermehrt haben und trotzdem glücklich sind. Aber da geschieht etwas Merkwürdiges. Mit einemmal nehmen die Dinge Gestalt an, die Atmosphäre wird reizvoll, undefinierbare lustige Spannung liegt in der Luft, man muß unwillkürlich Haltung annehmen, man muß scharf aufpassen. Oben auf der Bühne hat sich ein wunderhübscher Knabe aus der Schar seiner Mitspieler gelöst. Vermutlich mein Sohn. Ja, er ist es. Er verkörpert einen bekannten Humoristen oder sonst jemand, das läßt sich so nicht -195-
feststellen. »Häschen klein ... Gläschen Wein ... bla-bla blubb-blubb, es ist mein ... amdamdes ... großes Schwein ... bingo-bongo ... das ist fein ...« Laut und deutlich deklamiert mein Heiner Rotkopf den anscheinend witzigen Text und fuchtelt mit seinen kurzen Armen herum. Ich blicke mit bescheidenem Stolz in die Runde. Und was muß ich sehen? In den Gesichtern der Dasitzenden völlige Teilnahmslosigkeit. Einige schlafen sogar. Sie schlafen, während Amirs zauberhaft klare Stimme den Raum durchdringt. Mag sein, daß er kein schauspielerisches Genie ist, aber seine Aussprache ist fast einwandfrei und sein humorvoller Vortrag flüssig. Und sie schlafen ... Als Ami zu Ende ist, schreckt mein Applaus die Schläfrigen auf. Auch sie applaudieren. Aber ich applaudiere stärker. Mein Sohn winkt mir zu: »War es lustig, Papi?« Ja, es war, winke ich zurück, schließlich bist du mein Sohn. Die Lehrerin Nadiwa macht ihrem Vorzugsschüler ein Zeichen. »Wieso?« flüstere ich ihr zu. »Geht's denn noch weiter?« »Was meinen Sie, ob es noch weitergeht? Jetzt fängt's ja erst richtig an. Der große historische Bilderbogen: Von der Entstehung der Welt bis zur Entstehung der Vereinigten Staaten. Mit Kommentaren und Musik...« Und da erklingt auch schon der erste Kommentar von der Bühne: »Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde ...« An den Rest erinnere ich mich nicht mehr.
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Generationskonflikt oder Es bleibt nicht in der Familie »Wie fühlen sich die Kinder eines bekannten Humoristen?« fragen mich kinderlose Ehepaare oft, und für sie habe ich diesen Tatsachenbericht geschrieben. Vor einigen Jahren, eigentlich ist es noch länger her, baute sich nämlich mein mittlerer, aber inzwischen großgewachsener Sohn Amir drohend vor meinem Schreibtisch auf. »Stimmt es«, fragte das aufgeweckte Kind, Aggression in den Augen, »daß du schon wieder ein Buch über deine Kinder geschrieben hast?« »Ja«, antwortete ich, »das habe ich, und es ist mein angestammtes Recht.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht«, antwortete mein Sohn. »Aber meinst du nicht, du hättest uns fragen müssen?« »Das muß ich bestimmt nicht. Ihr seid schließlich noch minderjährig.« »Wie du meinst.« Und geht. Er ist rothaarig, der Knabe. »He«, rufe ich ihm nach, »wohin gehst du?« »Zu meinem Anwalt.« Ausgelöst wurde die Debatte durch ein 340 Seiten langes, vielbeachtetes Werk aus meiner Feder, das in jenen Tagen unter dem harmlosen Titel »Beste Familiengeschichten« veröffentlicht wurde. Die Enthüllungen schrieb ich über, genauer gesagt gegen meine drei Kinder, die beste Mami von allen, die Hündin Franzi und die Nachbarn von nebenan. Das Familienepos beginnt mit der Geburt meines Sohnes Raphael vor vielen Jahren und endet niemals. Man könnte es auch provokativ »Die Meuterei der Eltern« nennen, denn ich verfaßte es als Beleg dafür, daß die Selbstaufgabe der Eltern gegenüber ihren Kindern eine pathologische Erscheinung darstellt, die auch durch das gnadenlose Regime der Kinder im häuslichen Alltag nicht gerechtfertigt wird. Ein Beispiel: Vor kurzem war ich bei einem meiner klügsten Freunde zu Gast, und sein kleiner Avigdor, der etwa zwei Meter mißt, lief wortlos durchs -197-
Zimmer. Der Vater wußte, was von ihm erwartet wird. »Avi«, flötete er, »hast du dem Onkel guten Tag gesagt?« »Nein«, sagte KleinAvi und verschwand in Richtung Videogerät. Mein kluger Freund strahlte vor väterlichem Stolz. »Siehst du, das Kind kann einfach nicht lügen.« Ist mein Freund wirklich so dumm? Vielleicht. Aber es ist nun einmal so, daß wir, die diensthabenden Väter, die Früchte unserer Lenden, die uns, dank der Sonne und der Jaffa-Orangen, im Durchschnitt um eineinhalb Köpfe überragen, derart vergöttern, daß wir einfach verliebt sind in diese erste nationale Generation, in diese herrlichen Wesen, die, zugegeben, hier und da ein wenig frech, manchmal auch unhöflich oder ungezogen, ein kleines bißchen aggressiv, kurz völlig unausstehlich, aber dennoch unsere Kinder sind. Sicherheitshalber befragte auch ich meinen Anwalt. Ich wollte wissen, ob Meinungsfreiheit und künstlerische Freiheit auch in Familienangelegenheiten gelten? Mein Anwalt, der selbst ein paar dieser herrlichen Wesen zu Hause hat, sagte zu, die heikle Angelegenheit gründlich zu prüfen. Er studierte die einschlägigen Akten und zog einen zweiten Rechtsexperten zu Rate. Bereits zwei Tage später meldete er sich. »Ich konnte in Großbritannien einen Präzedenzfall ermitteln. Eine Waliserin aus Cardiff verklagte im Jahre 1664 ihren Mann, der sie im Lokalblatt als ein >Musterexemplar von Hexe< bezeichnet hatte. Der Fall gelangte bis zum Obersten Gericht vor König Karl II.« »Und wie ging die Sache aus?« »Der Mann konnte Beweise erbringen.« Ich war sehr erleichtert, nun habe ich in meiner Familie einen besseren juristischen Stand. Ich hätte selbst meine Frau niemals in aller Öffentlichkeit als »Musterhexe« bezeichnet, dazu verehre ich sie zu sehr. Natürlich erlaube ich mir dann und wann, meine Lieben für literarische Zwecke zu nutzen, und will auch nicht verschweigen, daß mir meine Familie schon aus mancher Notlage geholfen hat. Wenn in meinem ausgedorrten Gehirn -198-
nämlich gar kein satirischer Gedanke mehr zündet, stürme ich in das Zimmer meines mittleren Sohnes Amir und frage: »Ein Zimmer nennst du das? Ein Saustall ist das.« Oder: »Was trödelst du schon wieder herum? Hast du keine Hausaufgaben aufbekommen?« »Nein«, kommt prompt die Antwort, »unser Lateinlehrer läßt sich morgen scheiden.« »Immer diese dummen Ausreden«, antwortet Papi dann und kehrt beschwingt zu seinem Schreibtisch zurück, bewaffnet mit der Idee zu einer hervorragenden Humoreske über einen frustrierten Lateinlehrer, der sich scheiden läßt, weil weil seine rotzfrechen Schüler in seinem Namen eine Heiratsannonce in die Zeitung gesetzt haben ... Die lustige Geschichte erscheint in der Zeitung, und tags darauf erscheint der Rotschopf an meiner Tür und kündigt mir an: »Der Lateinlehrer möchte mit dir sprechen.« Meine Kinder geben sich aber keineswegs damit zufrieden, literarische Quelle zu sein. Meine schriftstellerischen Ergüsse werden von ihnen laufend kontrolliert, aber nicht etwa, weil sie meine Texte gern lesen. Keineswegs. Mit gerunzelter Stirn wird Wort für Wort geprüft, und nicht der Anflug eines Lächelns oder ein anerkennendes Wort kommt über ihre Lippen, alles dient nur dem juristischen Ziel, eine Verleumdung zu entdecken. Und ihre Mutter macht mit ihnen gemeinsame Sache. »Ich habe schon Klügeres gelesen«, lautet die Literaturkritik, wenn ich Glück habe, der Lieblingskommentar meiner zartbesaiteten Gattin: »Die Schlußpointe ist dir aber total danebengeraten« und ein Standardzitat meiner Tochter: »Papa, gib's auf.« Gern haben sie nur die Illustrationen, auf denen sie gut zu erkennen sind. »Könntest du deinem Zeichner nicht endlich beibringen«, klagt nur Raphael immer wieder, »daß ich noch nie Sommersprossen gehabt habe.« Für die Kinder ist es ganz normal, daß sie in Zeitungen abgebildet sind, daß ihre Porträts die Titelseiten von Büchern schmücken und daß ihr Vater manche -199-
abenteuerliche Geschichte über sie schreibt. Es ist für sie nichts Besonderes, bekannt zu sein. Wenn Renana auf der Straße angesprochen wird: »Bist du nicht zufällig ...«, antwortet die Kleine: »Selbstverständlich.« Kritik höre ich auch, wenn ich meine literarische Gunst ungleich verteile. »Papa«, klagt dann Amir vorwurfsvoll, »als Rafi in meinem Alter war, hast du viel öfter über ihn geschrieben als über mich heute.« Ja, sie sind ziemlich eingebildet, diese Ministars an meinem Familienhimmel. Aber da ich sie auf dem Altar des Humors geopfert habe, kann ich keine große Dankbarkeit erwarten. Ich werde mich also dem Wunsch der besten Ehefrau von allen endlich beugen, die kürzlich ein Machtwort sprach. »Ephraim«, meinte sie zu ihrer größtmöglichen Höhe aufgerichtet, »hör auf, uns zu Allgemeingut zu machen. Such dir gefälligst neue Helden.« Ich werde wirklich aufhören. Nach dem nächsten Buch.
Müßte ich zwischen literarischer Anerkennung nach meinem Tode oder billigem Erfolg zu Lebzeiten wählen, würde ich mich ohne mit der Wimper zu zucken für den heutigen Erfolg entscheiden. Ich möchte nicht Mozart, ich möchte Salieri sein. Aber noch lieber Milos Formann, der Regisseur des Filmes »Amadeus«.
Bruderkrieg oder Der Röntgenblick eines Satirikers Ich sitze im Wartesaal eines großen Bahnhofs. Mein Blick, der des geborenen Schriftstellers, schweift über den Raum und über die anderen Wartenden, schweift über den Menschen und sein Antlitz. -200-
Ganz besonders interessiert mich ein Herr, der an der gegenüberliegenden Wand sitzt und Zeitung liest. Ich betrachte ihn schon seit längerer Zeit. Eigentlich betrachte ich nur ihn. Er liest die Zeitung von heute, Freitag, die Wochenend-Ausgabe, die eine meiner unvergleichlichen Kurzgeschichten enthält, eine ganz hervorragende, eine, wie ich in aller Bescheidenheit sagen möchte, nahezu einmalige Humoreske. Natürlich habe ich die Wochenend-Ausgabe längst gelesen, und da ich dank meinem ausgezeichneten Erinnerungsvermögen nicht nur den gesamten Inhalt, sondern auch seine Anordnung im Gedächtnis behalten habe, bin ich in der Lage, den Herrn an der Wand beim Blättern und Lesen sachkundig zu beobachten. Je nachdem, was er als erstes liest, werde ich seinen Lebensstandard bestimmen können, seine Bildung, seine Weltanschauung, bis zu einem gewissen Grad sogar seine seelische Verfassung. Manche Leute lesen als erstes die Tagesneuigkeiten, manche die Filmkritiken, manche die Selbstmordnachrichten. Daraus kann man sehr interessante Schlüsse ziehen, wenn man kann. Vor dem Wissenden liegt der Zeitungsleser wie ein offenes Buch. Dieser Mann, zum Beispiel, ist ein Idiot. Er hat die Seite mit meiner Geschichte erreicht und hat weiter-geblättert. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe gar nicht erwartet, daß er meine Geschichte lesen wird. Eines schickt sich nicht für alle. Es gibt Menschen, die von Gott das Himmelsgeschenk des Humors mitbekommen haben. Andere wieder sind verurteilt, humorlos durchs Leben zu gehen. Wie dieser Idiot hier. Er soll meine Geschichte gar nicht lesen. Keine Gefälligkeiten, bitte. Es ist allerdings ein peinliches Gefühl, sich in der unmittelbaren Nachbarschaft eines erwachsenen Mannes zu wissen, dessen Intelligenzniveau ungefähr
dem
eines
dreijährigen
Kindes
entspricht.
Vermutlich
ein
Kleingewerbetreibender oder in irgendeinem ändern trostlosen Erwerbszweig Tätiger. Wahrhaftig, er tut mir leid. Jetzt blättert er zurück ... blättert zurück ... und hält auf jener Seite inne, wo -201-
meine Geschichte steht. Na und? Soll ich deshalb vielleicht meine wohlfundierte Meinung über ihn ändern? Nur weil er sich gnädig herabläßt, meine Geschichte zu lesen? Kennt man mich als Opportunisten? Für mich ist dieser Mann der gleiche uninteressante Unterdurchschnittsbürger geblieben, der er immer war. Daran kann mich weder sein gepflegtes Äußeres irremachen noch seine keineswegs unklugen Augen hinter den geschmackvoll eingefaßten Brillengläsern. Man sieht, ich bin in keiner Weise nachtragend. Der Mann hat mir ja schließlich nichts getan. Er hat zuerst die ganze Zeitung durchgeblättert und ist sodann zu jenem Beitrag zurückgekehrt, von dem er sich am meisten verspricht. Das ist ganz in Ordnung. Es zeugt sogar von einer gewissen Denkmethodik und einer bemerkenswerten ideologischen Reife. Jetzt müßte er allerdings schon gelacht haben. Mindestens einmal. In der zehnten oder elften Zeile meiner Geschichte kommt ein brillantes Wortspiel vor, und darüber müßte er gelacht haben. Aber dieser widerwärtige Glatzkopf tut nichts dergleichen. Macht ein Gesicht, als wäre er bei einem Begräbnis. Ein sturer Geselle. Vollkommen unempfänglich für jede feinere Regung. Sein ganzes Sinnen und Trachten ist nur auf Geld abgerichtet. Geld, Geld, Geld. Wirklich abstoßend. Dabei würde ich seinen haarigen Affenhänden keinen roten Heller anvertrauen. Jetzt hat er auch noch gegähnt. Das ist der Typ, dem wir die Inflation verdanken. Und die Behörden rühren sich nicht. Wen wundert es da noch, daß der Staat zerbröckelt ... Er hat gelacht. Kein Zweifel, er hat gelacht. Ich habe das Zucken um seinen linken Mundwinkel ganz deutlich gesehen. Diese aristokratischen Charaktere verstehen es eben, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Aber bei aller Selbstbeherrschung, über die er verfügt, zum Schluß konnte er meinem Humor eben doch nicht widerstehen. Jede seiner Bewegungen drückt Würde und inneren Adel aus. Jede, wirklich jede? Auch die plumpe Gebärde, mit der er sich jetzt in den -202-
Mund gefahren ist? Er hat nämlich gar nicht gelacht. Er hat sich mit seinem nikotingelben, ungepflegten Finger einen Speiserest aus dem Zahn geholt. Ein Fleischhauer. Ein Metzger. Ein Halbtier. Ja, dort gehörst du hin, in deine dunkle Höhle, zwischen die aufgehängten, vom Wahn befallenen Rinderkadaver, von denen vergiftetes Blut zu Boden tropft.
Dort
gehörst
du
hin,
du
erbärmliche
Kreatur.
Laß
meine
Meisterschöpfung in Ruhe, ich beschwöre dich. Nicht einmal mit deinen Blicken sollst du sie verunglimpfen. Vorausgesetzt, daß so einer überhaupt lesen kann. Wer weiß, vielleicht tut er nur so. Vielleicht ist das nur ein Täuschungsmanöver, mit dem er von einem haarsträubenden Verbrechen abzulenken versucht. Der Mann ist zu allem fähig. Man muß nur seine Augen ansehen, diese flackernden, blutrünstigen Augen. Und diese brutal gekrümmte Habichtnase. Selbst um seine Ohren spielt ein grausamer Zug. Und schon der bloße Anblick seines fetten, schwammigen Körpers würde zehn Jahre Zuchthaus rechtfertigen. Was macht der Kerl überhaupt hier, auf dieser Bahnhofsstation? Was heckt er aus hinter seiner niedrigen Stirn? Ist er am Ende ein Spion? Gut möglich. Denn eines steht fest, ein Mensch, der meine meisterhafte Geschichte liest, ohne daß sie ihm auch nur ein Lächeln entlockt, kann kein berechenbares Individuum sein. Da haben wir’s. Du hast dich gut getarnt, mein Junge, aber meinen Instinkt kannst du nicht irreführen. Ich muß die Polizei verständigen. Im Wartesaal eines strategisch wichtigen Bahnhofs treibt sich ein Individuum herum, das bei der Lektüre meiner Geschichte nicht lacht. Schicken Sie sofort ein Überfallauto ... Was war das jetzt? Hat er gelacht? Er hat nicht nur gelacht, er hat buchstäblich gejuchzt vor Vergnügen. Nun ja, vielleicht war er bis jetzt nicht so recht bei der Sache. Er ist ja auch nur ein Mensch, nicht wahr? Ein zerstreuter Professor vielleicht, ein Gelehrter, dessen Gedanken um irgendwelche Atomprobleme kreisen. Obwohl sein Habitus nicht unbedingt der eines Professors ist. Eher gleicht er einem Mitglied des Obersten -203-
Gerichtshofs oder einem Admiral in Zivil. Aber das spielt ja keine Rolle. Wer so von Herzen über meine Geschichte lachen kann, ist jedenfalls ein ehrenwerter Bürger. Gotte segne ihn. Da sieht man wieder einmal, wie oberflächlich die ersten Eindrücke sind. Wo gibt es heute noch Menschen mit so markanten Gesichtszügen? Geradezu klassisch. Die klugen Augen strahlen Wärme und Verständnis aus, die makellosen Zähne blitzen im Sonnenschein. Er ist ein Dichter. Ein Humanist. Ein Wohltäter der Menschheit. Am liebsten würde ich seine erhabene Denkerstirne küssen, die Stirne meines Lesers. Ich liebe diesen Mann. Ich liebe sein perlendes Gelächter, sein überwältigendes Charisma. Glücklich der Staat, der Söhne hat wie ihn. Und mich. Erlauben Sie, mein Leser, daß ich Sie »Bruder« nenne.
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Nach 40 Jahren Kishon-Büchern und 33 Millionen verkaufter Exemplare nur in Deutschland legt der erfolgreichste Satiriker unserer Zeit einen Band mit humorvollen Geständnissen vor. Auf 272 kurzweiligen Seiten ist da nachzulesen, was der Autor in Sachen Lesen und Schreiben, Redigieren und Korrigieren, Verlegen und Signieren erfunden, erlebt und niedergeschrieben hat. Erlebnisse aus 40 Jahren werden hier aufgeblättert, in denen eine »Eintagsfliege, wie ich eine bin« (Kishon über sich selbst) in jedes Zimmer geflogen ist, ihre Runden gedreht hat, um sich auf Nasen zu setzen und sie zu kitzeln. Kishon verrät uns die haarsträubenden Tricks, die angewendet werden müssen, damit ein Buch den Weg zum Leser findet, wie Literaturpreise mehr als zufällig verheben werden, wie man mit Kritikern umgehen muß, wie Theobald der Tiefseeschwamm zu literarischen Ehren kommt, wie man tatsächlich eine humoristische Geschichte schreibt und welche entscheidende Rolle der Leser im Leben eines Autors spielt. »Kurz und gut«, bekennt Kishon, »das Leben einer ergrauten Eintagsfliege ist ein einziger Amoklauf, und genau mit dem ganzen heillosen Drumherum befassen sich meine Geständnisse. Denn auch das Drumherum hat etwas Schönes, nämlich die Zuneigung, deren sich ein Schreiberling erfreuen darf. Nicht unbedingt seitens des Literarischen Establishments, aber seitens der breiten Leserschaft.« Und diese darf sich freuen auf eines der persönlichsten und witzigsten KishonBücher, eines, in dem der Autor der primären Aufgabe nachgeht, die ein Satiriker hat, nämlich, die Wahrheit auch über sich selbst zu sagen. Ephraim Kishon ist am 23. August 1924 in Budapest als Hoffmann Ferenc geboren. 1944 wird er in das polnische Vernichtungslager Sobibor transportiert, kann fliehen, überlebt getarnt als Nichtjude und absolviert anschließend die Kunstakademie als diplomierter Bildhauer. Ab 1945 erste schriftstellerische Erfolge mit Theaterstücken und Satiren. 1947 gewinnt er den l. Preis des landesweiten ungarischen Romanwettbewerbs mit »Mein Kamm«. 1949 flieht er von Ungarn nach Israel und wird dort zu dem weltbekannten Satiriker Ephraim Kishon. Er ist seit 1959 mit seiner zweiten Frau Sara, »der besten Ehefrau von allen«, verheiratet und hat fünf Enkel von den drei berühmten Kindern Rafael, Amir und Renana. Die Weltauflage der Kishon-Bücher beträgt 43 Millionen, davon 33 Millionen in deutscher Sprache. Sie wurden in 37 Sprachen übersetzt. Kishons »Familiengeschichten« ist, von der Bibel abgesehen, das meistverkaufte hebräische Buch der Welt.
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