Zunächst sind es nur warnende Vorzeichen: Eine Dürrekata strophe in der Sahelzone, in Indien bleibt der Monsun aus, St...
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Zunächst sind es nur warnende Vorzeichen: Eine Dürrekata strophe in der Sahelzone, in Indien bleibt der Monsun aus, Staubstürme im Mittelwesten der USA, überdurchschnittlich starke Schneefälle in Grönland. Das sind lokale Wetterunstimmigkeiten, wie sie alle paar Jahre oder Jahrzehnte auftreten können. Doch sie häufen sich, die Dürreperioden erstrecken sich über Jahre, ganze Landstriche werden zur Wüste, das Vieh stirbt, Hunderttausende von Menschen verhungern. Doch die Meteorologen sind ratlos. Sie finden das grundlegende Muster nicht, das auf eine Klimaver änderung hindeuten würde. Als man mit verbesserten Wettersatelliten die Erde kontrol liert, wird man gewahr, daß die Verschmutzung der hohen Atmosphäre durch Abgase und Industrieemissionen stärker ist als angenommen. Ein paar Staubstürme, ein paar großflä chige Waldbrände und zwei oder drei Vulkanausbrüche, die weitere Millionen Tonnen Staub und Asche in hohe Luftschichten tragen, lassen die Erdatmosphäre »umkippen«. Ein Mechanismus wird in Gang gesetzt, der schon wiederholt zu katastrophalen Klimaveränderungen geführt hat. Eine Simulation in einem Großcomputer macht die Tragweite des Umschwungs deutlich. Eine neue Eiszeit bricht an. Sie kommt nicht als Wetterverschlechterung, die sich über Jahrzehnte hinzieht. Sie kommt wie ein verheerender Blizzard. Und sie trifft die menschliche Zivilisation völlig unvorbereitet.
ARNOLD FEDERBUSH
EIS!
Science Fiction-Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3771
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe
ICE!
Deutsche Übersetzung von Walter Brumm
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1978 by Arnold Federbush
Copyright © 1980 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München
Printed in Germany 1980
Umschlagbild: Eddie Jones
Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München
Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh
ISBN 3-453-30672-4
Der letzte der Wettersatelliten war der weitaus kom plizierteste – und erfolgreichste – einer Serie, die 1960 mit TIROS begann. Er umkreiste die Erde von Pol zu Pol im rechten Winkel zur Erdrotation, und seine Ge schwindigkeit war so bemessen, daß er täglich den ganzen, unter ihm vorbeiziehenden Planeten über wachte. Er registrierte die Luft- und Meeresströmungen und verfolgte ihre gewundenen Bahnen vom Äquator zu den Polregionen, aber er beobachtete mit Augen, die bei weitem schärfer, vielseitiger und subtiler auf zeichneten, als menschliche Augen es vermocht hät ten. Bestimmte Sensoren waren auf unsichtbare Seg mente des Spektrums eingestellt, andere waren dem Weltraum zugekehrt und registrierten die Strahlun gen der Sonne und Sterne und des Weltraumes selbst. Alle bekannten Einflüsse auf Wettergeschehen und Klima wurden gemessen, aufgezeichnet und unver schlüsselt an Empfangsstationen überall auf der Erde gesendet. Da seine Sonnenbatterien unaufhörlich Energie lie ferten und seine Umlaufbahn vollkommen ausbalan ciert war, hatten die Techniker guten Grund, damit zu prahlen, daß er im schützenden Vakuum des Weltraumes Tausende von Jahren funktionieren würde, selbst wenn man ihn nicht mehr benötigte oder durch weiter vervollkommnete Typen ablöste,
ein rastloser Roboter, der ununterbrochen seine Da tenvielfalt ausstrahlte, unbekümmert darum, ob er ein Publikum hatte oder nicht. Bei Nacht leuchtete er, von der Sonne angestrahlt, ein scheinbarer Stern, der sich jedoch durch seine Ge schwindigkeit und Bahn von allen anderen unter schied. Irgendwann einmal mochte ein Angehöriger eines primitiven Stammes bei der Betrachtung des Nachthimmels von diesem seltsamen Licht Notiz nehmen und sich seine Gedanken darüber machen. GRÖNLAND, 35 MEILEN SÜDWESTLICH VOM HUMBOLDT-GLETSCHER: Das Eskimodorf lag am Fuß der Berge, abgeschirmt gegen die arktischen Winde, und so war die Nacht still. Zwischen den Iglus und den wenigen barackenartigen Fertighäusern, die, erst in den sechziger Jahren errich tet, wegen der unerschwinglich gewordenen Hei zungskosten schon wieder unbewohnt standen oder als Lagerräume dienten, schliefen die Schlittenhunde im Freien. Ihr Atmen und ein gelegentliches unter drücktes Knurren und Husten im traumgeplagten Schlaf waren die einzigen Geräusche weit und breit. Einer der Hunde erwachte, hob schläfrig den Kopf und blinzelte hinüber zu dem benachbarten Iglu, des sen Schneewände vom Lichtschein der im Inneren brennenden Tranlampe matt durchglüht wurden. Die
wechselnden Schatten ließen darauf schließen, daß jemand wach war und sich bewegte. Er ließ den Kopf wieder auf die Pfoten sinken, schloß die Augen und kehrte zurück zu seinen Träumen. Drinnen nähte die alte Frau ihre Kleider fertig. Es war eine lange und mühsame Arbeit gewesen, denn sie nähte die Pelzstücke in der traditionellen Art mit unzerreißbarem Faden aus Tiersehnen, der nur mit einer eigens dafür geschnitzten und geschärften Na del verarbeitet werden konnte. Außerdem waren ihre Finger steif, die Augen trübe, und die Zähne, mit de nen sie das Unterleder weich gekaut hatte, waren fast bis auf das Zahnfleisch abgenutzt – diejenigen Zähne, die sie noch hatte. Aber die Liebe zu ihrer Arbeit ver ringerte den Schmerz, denn dies waren ihre schön sten Kleider, ihre letzten Kleider, reich bestickt, weich, dick und bequemer als alle anderen, denn in diesen Kleidern gedachte sie zu sterben. Plötzlich wurde die Stille von einem Geräusch wie einem Kanonenschuß zerrissen, das mit nachhallen den Echos durch das Tal schlug. Die alte Frau ließ die Hände sinken und lauschte. Es folgte ein scharfes Splittern, aber so tief und durchdringend, daß sie es in sich fühlen konnte. Dar auf kam eine Serie von Kanonenschüssen, vermischt mit splitterndem Krachen, die sich zu rollendem Donner verstärkte, der den Boden erzittern machte.
Sie sah sich nach der schlafenden Familie um. Eini ge der Schläfer regten sich, wälzten sich auf die ande re Seite, wachten aber nicht auf. Die Geräusche, ob gleich furchterregend laut, waren ohne Bedeutung für sie und wurden daher ignoriert, geradeso wie ei ne schlafende Mutter die von der Straße hereindrin genden Geräusche unbeachtet läßt, aber bei der ge ringsten Unruhe ihres Kindes sofort hellwach ist. Für die alte Frau aber hatten die Geräusche eine große und unmittelbare Bedeutung. Sie blickte zu ihrem Sohn und der Schwiegertoch ter, die kräftig und gesund waren, und zu ihren En kelkindern, für die gut gesorgt war. Und sie gedachte ihrer eigenen Mutter, wie auch sie sich in ihre letzten und besten Kleider gehüllt hatte, als der Stamm die Sommersiedlung verlassen hatte und südwärts zu den winterlichen Jagdgründen gezogen war, wäh rend sie allein zurückgeblieben war, um auf den Tod zu warten, sollte er in sanft einschläfernder Entkräf tung kommen, oder in der Gestalt des großen weißen Bären. Es war richtig und natürlich, daß der Mensch, der nicht länger jagen oder nähen oder zum Überleben der Familie beitragen konnte, zurückgelassen wurde, um zu sterben. Und obgleich der Anlaß ein freudiger war, obwohl dieser Mensch wußte, daß er oder sie bald in den Geist alles Seienden gehen und mit jenen
wiedervereint sein würde, die gestorben waren, gab es dennoch Traurigkeit über den Abschied von den Lebenden. Generation um Generation war es so gewesen, und nun war endlich sie selbst an der Reihe, aber mit ei nem bedeutsamen Unterschied. Würdig oder unwür dig, ihr war es bestimmt, einen Tod höherer Art zu erleiden. Das Eis selbst würde sie aufnehmen und in den Geist alles Seienden überführen. Dann würde sie ihre Eltern und Großeltern wiedersehen und nicht länger von den Gebrechen des Alters geplagt sein. Sie lächelte bei dem Gedanken, und dann bemerkte sie, daß der ferne Lärm verstummt und die Nachtstil le zurückgekehrt war. Liebevoll faltete sie die Klei dungsstücke zusammen und legte sie sorgfältig weg. Bald, bald würde sie sie tragen. NEW YORK CITY:
»Gott ist mein Zeuge, ich bin zu alt, um zu kämpfen«,
seufzte Guzman und wischte sich die Stirn in der
Hitze.
Die Mitglieder des Kollegiums blickten einander an und wußten, daß die Nachricht nicht gut sein konnte. »Herrschaften, ich möchte Ihnen sagen, daß ich al les in meinen Kräften Stehende für uns getan habe. Wirklich. Viel hat nicht gefehlt, und ich hätte mich auf die Knie geworfen und die gefalteten Hände em
porgestreckt ... Unglücklicherweise ...« Er zuckte die Achseln. Die um den Tisch Versammelten blickten mißmu tig auf ihre Notizen. Mark Haney betrachtete die Mu ster der abblättern den Wandfarbe und glaubte in ei nem seltenen Anflug von Fantasie die fransigen Um risse von Altokumulus auszumachen. »Also wurden wir wieder getäuscht?« »Sehen Sie, es sind lausige Zeiten, und nicht nur für uns. New York ist ein einziger großer Sozialfall, das brauche ich Ihnen nicht zu sagen, und die Uni versität ist von den Folgen nicht härter betroffen als jeder andere.« »Nun, jedenfalls treffen sie die Fakultät härter als jeden anderen.« »Was wollen Sie, ich habe den Leuten alles erklärt: Meteorologen sind gefragt, es ist ein großes Arbeits gebiet, es gibt eine Menge Wetter, womit man sich tagaus, tagein beschäftigen kann, es hört nie auf ...« »Ja, das übliche. Vielleicht hört man uns nicht, weil wir unten im Keller sind.« »Man wird hören, wenn Sie sich rühren, Haney.« »Aber das tue ich ja!« »Ich meine, nicht vor mir, und auch nicht vor dem Verwaltungsrat. Ich meine, mit einer Veröffentli chung, einem Projekt, irgend etwas. Stellen Sie Ihren Namen heraus, treten Sie ins Rampenlicht.«
»Gut, beschaffen Sie nur ein paar Glühbirnen.« »Sehr komisch.« »Ich meine Ausrüstungen, Zeug, womit ich arbei ten kann. Abteilungen wie Werbepsychologie und Marktforschung kriegen den Computer, und wir be kommen nicht mal Rechenzeit daran.« »Da gibt es einen Unterschied, Haney. Werbepsy chologie und Marktforschung bringt Geld ein und ist sexy.« »Und oben die Geologie, die Leute bekommen Be willigungen wie verrückt, dazu Ausrüstungen. Seit wann ist Geologie sexy?« »Seit der Energieknappheit. Das gleiche gilt für Geographie, Ozeanographie und die anderen Abtei lungen oben.« »Wo die Klimaanlage ist.« Lew Fink meldete sich zu Wort. »Mark, wenn du etwas gegen das Wetter unternehmen würdest, statt bloß darüber zu reden ...« »Ja«, sagte Professor Guzman. »Da haben sie die sen neuen Satelliten hinaufgeschossen, und Sie haben Ihren Radioempfänger. Hören Sie sich an, was er zur Erde funkt.« »Was nützt das Anhören? Ohne Ausdruckstation ist es bloß ein endloses da-dit-dit.« »Nun, Haney, Sie haben den Radioempfänger ge baut. Bauen Sie sich eine Ausdruckstation dazu. Im
provisieren Sie. Ziehen Sie ein Kaninchen aus dem Zylinder.« »Zuerst brauche ich den Zylinder.« Guzman lächelte hinterhältig. »Ah, jetzt kommen wir darauf. Ich habe die gute Nachricht bis zuletzt aufgespart.« Er griff unter den Tisch und zog ein hübsch eingeschlagenes Päckchen hervor. »Für einen neuen Ausrüstungsgegenstand konnte ich beim Ver waltungsrat Geld locker machen. Und ich fragte mich, wer sollte es bekommen? Wer ist das junge Ge nie, das am ehesten mit dieser großartigen Veröffent lichung aufwarten kann, die uns alle in die Schlagzei len bringen wird?« Alle Gesichter wandten sich in offensichtlicher Ei fersucht Mark zu. »Es freut mich, daß wir uns alle einig sind. Hier ist es also, Haney, und es gehört Ihnen ganz allein. Ich vertraue darauf, daß Sie uns andere gelegentlich auch einmal heranlassen werden.« Mark war bereits dabei, das Packpapier aufzureißen. »Soweit ich verstehe«, sagte Guzman, als Mark den Gegenstand für alle sichtbar auf den Tisch stellte, »wird das Wetter gut, wenn Hänsel und Gretel he rauskommen. Und wenn es schlecht wird, dann ist es die Hexe.« »Nun, wie lautet die Vorhersage?« fragte Fink, nachdem er ein Prusten unterdrückt hatte.
Mark blickte mißmutig auf das kleine Wetterhäu schen. Die Hexe war bereits auf dem Weg heraus. »Mann, ist das echt, Papa?« »Klar, ist das echt. Du hast sie doch im Film gese hen. Eins von diesen großen Dingern wird lebendig, trampelt über den Times Square und bringt achtstök kige Häuser zum Einsturz, als wären sie aus Bauklöt zen. Ja, das ist echt, kannst dich darauf verlassen.« Der Junge blickte zu dem riesenhaften Skelett auf. Das Ungetüm stand auf den mächtigen Hinterbeinen, im Gleichgewicht gehalten von seinem schweren Schwanz, und die grinsenden Kiefer mit Dutzenden von spannenlangen scharfen Zähnen ragten so hoch auf, daß man sie nicht mehr genau sehen konnte. »Aber ich meine, könnte es passieren?« »Nein, es kann nicht passieren. Die sind tot. Das sind Knochen, bloß Knochen. Die werden nicht mehr lebendig.« »Du sagtest, sie seien echt.« »Sind sie auch, aber tot. Seit ich weiß nicht wie vie len Jahren. Sehr vielen Jahren.« Der Junge rang mit dem Unterschied zwischen ›nicht echt‹ und ›tot‹. Wieder blickte er zu den furchter regenden Skeletten auf, die zwei und drei Stockwerke hochragten und Geschöpfen gehörten, die die Erde be herrscht hatten. Selbst sein Vater, den der Junge immer
für einen riesenhaften Mann gehalten hatte, nahm sich neben ihnen winzig und unbedeutend aus. Aber wenn solche mächtigen Geschöpfe starben, warum dann nicht auch Vater? Oder er selber? Der Junge begann zu weinen. »Was, zum Teufel, ist jetzt wieder mit dir los?« »Sie – sie sind gestorben.« »Gott sei Dank, daß sie gestorben sind! Ausgestor ben. Ich möchte so einem nicht auf der Straße begeg nen.« »Warum sind sie ausgestorben?« »Ich weiß nicht, warum. Hör mal, bist du nicht froh, daß sie ausgestorben sind? Möchtest du viel leicht, daß einer von ihnen in dein Zimmer kommt und dich mit diesen Zähnen aus dem Bett holt?« »Nein!« schrie der Junge entsetzt. »Bist du dann nicht froh, daß sie ausgestorben sind?« Der Junge stutzte und für einen Augenblick dachte der Vater, er habe sich beruhigt, doch dann fragte er wieder: »Papa, müssen wir auch aussterben?« Der Vater war verblüfft. Diese Frage hatte man ihm nie gestellt, aber er wußte, daß seine Antwort wichtig sein würde und den Jungen über Jahre hinaus beein flussen mochte. »Niemand muß aussterben«, sagte er schließlich. »Jedenfalls nicht wie die.«
KANKAKEE, WEST VIRGINIA: Die sorgfältig angebrachten Dynamitladungen spreng ten einen ganzen Berghang in die Luft, um die darun ter lagernden reichen Kohlenflöze freizulegen. Sie sprengten Wald und Ackerland fort, Humus und Ur gestein, um etwas zu gewinnen, was einer energie hungrigen Nation wichtiger schien. Eine gigantische Abbaumaschine riß eine ganze Waggonladung Kohle, Gestein und Erde heraus. Als sie ihre furchteinflößende Ladung zum wartenden Eisenbahnwaggon schwenkte, fegte der Wind Staub wolken aus dem herausgerissenen Erdreich und trug sie aufwärts, wo sie sich mit den abziehenden Staub fahnen der Sprengung vereinigten. Niemand achtete darauf. 19 000 Kilometer darüber kreiste der Wettersatellit auf seiner Bahn. Seine empfindlichen Stabilisatoren sorgten dafür, daß die Objektive und Meßgeräte kon stant zum Erdboden orientiert blieben. Aus dieser Höhe machten die Instrumente deutlich aus, was dem uninteressierten menschlichen Auge entging: daß die feinen Staubwolken von Aufwinden über dem Bergland emporgetragen wurden und schließ lich in die großen Luftströmungen übergingen, die vom Äquator zu den Polarregionen zogen. Der Satellit zog weiter und überflog die enormen
Dunstglocken aus Rauch und Abgasen, die über den Weltstädten und Ballungszentren hingen. Dort unten erzeugten die Fabriken neue Wunderdinge aus Me tallen, Kunststoffen und Fibern, welche die Emissio nen immer neuer und verschiedenartiger Abfallstoffe in die Atmosphäre notwendig machten. Personenund Lastwagen, Heizungsanlagen, Kraftwerke und Schmelzereien verbrannten Brennstoffe, die komple xe Oxide und Sulfide bildeten, von denen manche schädlich waren, manche nicht, die aber allesamt ver ändernd in die Abläufe der Natur eingriffen. Selbst die harmloseste Handlung, wie etwa der auslösende Druck auf die Sprühdose mit Haarfestiger oder das Entkorken einer Sektflasche, bei denen nur geringe Mengen von Kohlendioxid oder ChlorFluorkohlenwasserstoffen freigesetzt wurden, be wirkte durch ihre Summierung Veränderungen in den atmosphärischen Proportionen, die jahrtausende lang konstant geblieben waren. Auf der einen Seite beschwert, wurde die Waage auf der anderen Seite gleichzeitig erleichtert. Auf dem Land wurden zugunsten des Wirtschaftswach stums Wälder gerodet, verschwanden Felder und Wiesen unter neuen Straßen, Industrieansiedlungen und Wohnbauprojekten. Millionen Tonnen Indu striemüll und Rohöl fanden den Weg in die Ozeane, erstickten Meeresorganismen und pflanzliches Plank
ton und zerstörten so Mechanismen, die die Balance wieder hätten herstellen können. Während der Wettersatellit nicht jede einzelne Ver änderung oder Zerstörung wahrnehmen mochte, so konnte er doch die Summierungen und Auswirkungen messen. Er stellte die Zunahme der Durchschnittstem peratur fest, die atmosphärische Zusammensetzung und ihre Einflüsse auf das einfallende Sonnenlicht, und analysierte sogar den Gehalt der Atmosphäre an Staub und Schmutzpartikeln, die in die oberen Luftschichten und dort in die großen Strömungen gelangten. Ohne das geringste eigene Interesse ergänzte er unaufhörlich die enorme Menge von Meßdaten und sendete sie zur Erde, wo es anderen überlassen blieb, sich einen Vers darauf zu machen. Das Signal wurde auf 136,89 Megahertz ausgestrahlt und verlangte nach einer speziell auf diese Frequenz eingestellten Antenne. Es war heiß auf dem Dach, als Mark an den Einstel lungen arbeitete, sehr heiß. Der Teerbelag unter sei nen Füßen war aufgeweicht, und jedesmal, wenn er sich bewegte, mußte er seine Schuhe losreißen, nur um anhaftende Teerklumpen mitzunehmen. Die Beine wurden ihm bleischwer, und wenn er zum Himmel aufblickte, um die Antenne zu orientie ren, schien die Sonne größer, als er es für möglich
gehalten hätte. Die Hitze machte ihn benommen, und einmal schien es ihm, als wüchse die Sonne, käme der Erde näher und fiele auf ihn. Er schloß einen Moment lang die Augen und fuhr sich mit der Rechten übers Gesicht, dann blickte er hinab. Er sah die düsteren alten Universitätsgebäude und die dürftigen Grünanlagen dazwischen. Die Stu denten, die sich sonst dort unten auf den Rasenflä chen zu räkeln pflegten, hatten sich in die Schattenstreifen entlang den Hauswänden zurückgezogen. Als er sich über das geteerte Dach zum willkom menen Sonnenschutz des Treppenhauses zurück schleppte, fühlte er sich sehr alt und erschöpft. Seine Arbeit schien ihm auf einmal sinnlos, der ganze Nachmittag als vertane Zeit. Obwohl er seine Schuhe oben an der Treppe vom anhaftenden Teer befreit hatte, blieben die Sohlen klebrig und machten unangenehm schmatzende Ge räusche, als er die Treppe hinunterging, und er über legte mißmutig, welche Mühe er mit dem Reinigen der Schuhe haben würde. Und wozu das alles, dachte er, als er den Antennen draht hereinzog, der vor dem Fenster baumelte, und am Empfänger befestigte. Ja, jetzt konnte er dieses Si gnal empfangen, aber das konnte auch jeder andere Empfänger, der auf diese Frequenz eingestellt war. Zuerst war nur das Rauschen atmosphärischer Stö
rungen zu hören, aber dann, um genau 15:08 Uhr, kam ein anderes Geräusch herein, zuerst kaum hörbar, aber stetig zunehmend, bis es sogar das allgegenwärtige Rauschen und Knistern verdrängte. Es hörte sich wie elektronische Musik an, aber ohne Melodie. Mark hörte es ungefähr drei Minuten lang, dann verlor es wieder an Intensität und verging schließlich ganz, um anders wo aufgefangen zu werden, von anderen Universitäten und meteorologischen Abteilungen und Stationen, die vielleicht besser ausgerüstet waren als die seinige. Dort besaß man zweifellos eine von diesen Ausdruckssta tionen, die er so dringend benötigte. Dort konnten die Wissenschaftler ihre eigenen Theorien ausarbeiten, die Knoten und Ungereimtheiten entwirren und ihren Namen durch Veröffentlichungen Glanz verleihen, während er, Mark Haney, für alle Zeiten in dieser al tersschwachen kleinen Universität inmitten eines Großstadtslums festsitzen würde, vollauf beschäftigt mit armseligen Improvisationen und Behelfslösungen. Schließlich würde er so alt sein wie Guzman, müde und ausgebrannt, ohne etwas vorweisen zu können. Das Signal verging, als der Satellit weiterzog. Ziehen Sie ein Kaninchen aus dem Zylinder. Im provisieren Sie. Behelfen Sie sich. Scheiße! Die Stille hing schwer im Raum, dann summte die Sprechanlage. Er drückte die Taste. »Haney.«
»Mark«, sagte Lew Fink, »hier ist ein Besucher, ein Mann vom Fach. Daniel Magnusson. Kennst du ihn?« »Kann nicht sagen, daß der Name mir ...« »Du kommst eben nicht herum, das ist es. Er ist ei ne wichtige Persönlichkeit, würde ich sagen. Sehr be deutend.« »Ich kenne ihn nicht, aber das bedeutet nicht ...« »Nun, dann tu' wenigstens so, als ob du ihn kenn test. Er hat ein Projekt laufen und sucht Zusammen arbeit. Ich glaube, das ist genau dein Fall.« »Könnte sein.« »Könnte sein, du Armleuchter, es ist! Was würdest du zu einem Mann mit Beziehungen sagen?« »Weitreichenden Beziehungen?« »Bundesweiten. Er ist in Uniform, wenn dir das was sagt.« »Allmächtiger! Welcher Rang?« »Ich kenne mich mit diesen Abzeichen nicht aus, aber er sieht ziemlich hoch aus. Ich denke mir, er wird die besten Verbindungen zu Regierungskon trakten, Stiftungsgeldern und dergleichen haben.« »Das läßt sich denken, ja. Aber das Militär nimmt es mit dem Protokoll immer sehr genau. Warum hat er sich nicht angemeldet?« »Willst du, daß ich ihn wieder rausschmeiße?« »Nein, nein, aber was soll ich ihm zeigen, um Chri sti willen, das kleine Wetterhäuschen?«
»Material hat er selbst. Er hat es auf Gehirn abge sehen. Willst du mit ihm reden?« »Ja, natürlich.« »Mein Gott ja, Markus, das will ich auch hoffen.« Am anderen Ende waren gedämpfte Worte zu ver nehmen, dann wurde ausgeschaltet. Während Mark wartete, überlegte er, was eine solch wichtige Persön lichkeit hierher geführt haben mochte. Dann fragte er sich, warum ihm keiner von den anderen zuvorge kommen war. Daniel Magnusson trat ein. Die Beschreibung war in den meisten Punkten zutreffend gewesen. Er war tatsächlich in Uniform, obwohl sie schlecht saß. Er war jedoch nicht ganz so groß, wie er ihn sich nach Finks Auskunft vorgestellt hatte. Einen guten halben Meter kleiner, um genau zu sein. Mark erkannte die Rangabzeichen. Zu ihnen gehör te eine Plakette mit einem Wolfskopf, nachlässig auf die linke Brusttasche genäht, und Schulterklappen, die seine lokale Pfadfindergruppe identifizierte. Un ter seiner Schiffchenmütze quoll lockiges Haar her vor. »Professor Haney? Ich bin Daniel Magnusson. Der andere Herr sagte, Sie würden mir helfen können«, sagte er sehr ernsthaft und schob sich die herabge rutschte Brille wieder auf die Nase. Mark war im Nu an der Sprechanlage. »He, ist das
deine Idee von ...?« Er brach ab, als er lautes Geläch ter hörte. »Ja, ist wohl so«, sagte er einfältig und schaltete wieder aus. Er wandte sich dem kleinen Pfadfinder zu. »Na gut, Junge, geschieht mir recht. Du kannst ihnen er zählen, daß ich darauf hereingefallen bin.« Der Junge lächelte nicht. »Ich weiß nicht, was Sie meinen. Der andere Herr sagte, Sie würden mir hel fen können.« »Ich meine, danke, der Spaß war lustig, und ich werde ihn selbst weitererzählen. Es tut mir leid, daß ich nicht mehr tun kann, aber du hast mich mitten in einer schwierigen Arbeit überrascht.« »Ich würde Ihre Arbeit gern sehen«, sagte der Jun ge, noch immer sehr ernsthaft. Tatsächlich sah er aus, als hätte er in seinem Leben noch nie gelacht. Trotz seiner Pfadfinderuniform schien er der älteste Zehn jährige, den Mark je gesehen hatte. Er war blaß und dünn, als hätte er nie eine ausreichende Mahlzeit be kommen und nie im Freien gespielt. Mark fragte sich flüchtig, was für eine Bewandtnis es mit den Eltern des Jungen haben mochte. »Tut mir leid. Das wird ein andermal sein müssen.« »Wann?« »Ich weiß nicht, wann. Paß auf, Junge, es war sehr komisch. Du kannst zurückgehen und den andern er zählen, daß es geklappt hat und sie mich hereingelegt
haben. Ich würde dir einen Lutscher geben, wenn ich einen hätte, aber ...« Er griff in die Tasche. »Hier, da hast du was. Kauf dir einen, ja?« »Beleidigen Sie mich nicht«, sagte der Junge in ei nem frühreifen Ernst, der Mark aufs neue verblüffte, und er machte kehrt und ging hinaus. Mark verspürte einen Stich von Schuldbewußtsein, als hätte der kleine Vorfall etwas seit langem in ihm Begrabenes angerührt. Nach kurzem Zögern drückte er wieder den Einschaltknopf der Sprechanlage. Die Lachsalven am anderen Ende hatten noch im mer nicht nachgelassen, und auf einmal erschienen ihm seine Kollegen kindischer als sein Besucher. Er trat in den Korridor hinaus. »He, Junge ... äh ... wie war doch gleich dein Name?« Der Junge sah sich nicht um. »Daniel ... Hör mal, Danny ...« Der Junge blieb stehen und drehte sich um. »Entschuldige. Komm herein, und wir werden uns unterhalten. Worum geht es eigentlich? Was brauchst du?« Der Junge zögerte. »Ich brauche Rat für mein Wahlfach. Meteorologie.« »Meteorologie ist dein Wahlfach? Warum nicht et was Ehrbares – wie Knotenknüpfen?« Der Junge war offensichtlich verletzt und wollte weitergehen. Mark holte ihn ein und nahm ihn
freundlich beim Arm. »In Ordnung, erzähl mir, was du auf dem Herzen hast.« »Ja, als ...«, fing Danny zögernd an, »als ich klein war, da stellte ich alle die Fragen, die Kinder stellen, warum der Himmel blau ist und so.« Mark nickte. »Nun, die Leute, die ich fragte ... hatten keine Zeit, darauf zu antworten, darum las ich alles darüber, al les über Strahlenbrechung und Wasserdampf. Aber dann hatte ich Fragen darüber, und als ich herum suchte und diese Antworten herausfand, gab es wie der neue Fragen. Zuerst war ich durcheinander, weil ich Antworten wollte, und nicht Fragen. Ich wollte ... ja, ich wollte die endgültige Antwort, die alles beant wortet, verstehen Sie? Dann wurde ich vernünftiger und lernte, daß es nie eine endgültige Antwort gibt. Der Spaß ist in den Fragen, und wie man es heraus bringt, und es ist wie eine lange, lange Kriminalge schichte, die immer schwieriger wird, wenn man wei terliest, und die nie aufhört.« Mark war tief bewegt. »Und es kommt immer noch vor, daß du dich im Walde verlierst?« Der Junge nickte. »Ich mich auch, Danny, ich mich auch. Aber mach weiter so. Du hast viel zu bieten. Nun, wie kann ich dir helfen?« »Ich brauche jemanden, der meine Wetterstation
überprüft, und etwas durchliest und unterzeichnet, was ich geschrieben habe. Aber nur, wenn es Ihnen gefällt.« »Ich bin sicher, daß es mir gefallen wird. Hoffent lich gefällt dir, was ich gebaut habe.« Und er belohnte Danny mit einer besseren und gründlicheren Füh rung, als er sie einer bedeutenden Persönlichkeit mit Verbindungen zur Regierung gewährt hätte. Nachdem sie eine Verabredung zur Besichtigung von Dannys Station getroffen hatten und der Junge gegangen war, spürte Mark eine seltsame Mischung von freudigen und ernüchterten Empfindungen. Er dachte zurück an seine eigenen Anfänge, als die Verwunderung des Kindes über den blauen Himmel zu Antworten geführt hatte, die nur weitere Fragen hervorgebracht hatten, und wie die Welt sich nach und nach vor ihm entfaltet hatte, komplex, rätselhaft und aufregend. Herausforderung und Möglichkeit waren ihm als vereint erschienen, und unbegrenzt. Schon damals hatte er verstanden, daß er ein ganzes Leben damit verbringen konnte, Antworten zu su chen, die weitere Fragen eröffneten. Jene Welt hatte ihn angelockt und schließlich verführt, und schon in den frühen Jahren hatte er als Gewißheit empfunden, daß er sich der Beantwortung der trivialsten und zu gleich wichtigsten Fragen auf Erden widmen würde: Wie wird das Wetter?
Aber irgend etwas war seitdem verloren gegangen. Wenn heutzutage die neueste Ausgabe der Fachzeit schrift eintraf, pflegte er zuerst die Namen der Auto ren zu lesen, und dann erst die Titel der Beiträge, und er tat es nur, um zu sehen, wer im Beruf vorwärts kam. Die Unberechenbarkeit des Wettergeschehens war nicht länger sein größter Gegenspieler. Andere Wissenschaftler waren es. Aber nun, dank des Jungen, wunderte er sich wie der über das ehrfurchtgebietende, unendliche Ge heimnis der Natur und ihrer Erscheinungen. Er sah auf, und sein Blick fiel auf das kleine Wet terhäuschen. Die Hexe war draußen. MALI, WESTAFRIKA:
»Politik wie gewohnt«, murmelte Dr. Schumer bitter, als er zusah, wie die Soldaten die Leute vom Lastwa gen zogen. Die Menschen schrien und protestierten, aber die Soldaten achteten nicht darauf und machten gleichmütig weiter, was vermutlich der Grund dafür war, daß man sie mit der Aufgabe betraut hatte.
Die Regierung hatte einfach verlautbaren lassen, daß die Dürre vorüber sei und keine Versorgungs schwierigkeiten bestünden. Mit einer Tatsache oder einem Befehl ließ sich nicht streiten. Die Bauern hat ten zu ihrem Land zurückzukehren und mit der Be arbeitung der Felder zu beginnen.
Dr. Schumer sah einen der Bauern sich bücken, ei ne Handvoll Erde aufheben und einem der Soldaten hinstrecken, um sie in einer allen Bauern der Erde gemeinsamen Geste durch die Finger rinnen zu las sen und so zu zeigen, daß sie mehr Sand und Staub als Erde war. Der Doktor wußte einiges über die Hintergründe dieser Regierungsanordnungen, aber das machte sie nicht erträglicher. Der Stamm der Bambara, dem die se Bauern und Viehzüchter angehörten, war zu einem Unruheherd im mittleren Mali geworden. Seit Gene rationen hatten sie vom Oberlauf des Niger bis zum Rand der Sahara hinauf Ackerbau und Weidewirt schaft getrieben, aber im Laufe des vergangenen Jahrzehnts waren die Dürreperioden länger und die Monsunregen schwächer geworden, und die Bamba ra hatten sehen müssen, wie die Wüste allmählich vorgedrungen war und wie ein lebender Organismus ihre Anbaugebiete und Viehweiden aufgezehrt hatte. Sie waren in benachbarte Regionen abgewandert und hatten noch fruchtbare Ländereien besetzt, die von al ters her nomadisierenden Tuareg-Stämmen als Schafweiden gedient hatten. Das Ergebnis war eine abgewandelte Neuauflage des Wilden Westens gewesen, mit Weidekriegen, die eine ganze junge Nation in Gefahr gebracht hatten, bis die Regierung sich endlich zum Handeln ge
zwungen sah, die Dürre für beendet erklärte, die Bambara mit militärischer Gewalt in ihre alten Stam mesgebiete zurücktrieb und ihnen befahl, dort zu bleiben. Wenigstens wurden medizinische Entwicklungs helfer noch nicht ausgewiesen. Aber wenn es keine Notstandssituation gab, dann entfiel auch die Not wendigkeit für das Fortbestehen medizinischer Not versorgungsstationen wie der seinigen. Ihr Vorhan densein würde dann nur als eine peinliche Quelle von Verlegenheiten angesehen werden. Dr. Schumer wußte, was bevorstand. Nichts sprach für ein baldiges Ende der Dürreperiode, und es war nur eine Frage der Zeit, wann das Unheil hereinbre chen würde. Dennoch konnte er seine Station nicht verlassen. Mißmutig stieß er mit der Stiefelspitze in die aus getrocknete Erde und wirbelte eine kleine Staubwol ke auf, Saharastaub, den es im Vorjahr hier noch nicht gegeben hatte. Der Wind nahm die kleine Wolke mit und löste sie rasch auf, aber die winzigen Staubkörner waren nicht verloren. Während die etwas größeren wieder nie dersanken, wurden die feinsten und leichtesten Teil chen weiter emporgetragen und gelangten mit den warmen Aufwinden in die höheren Luftströmungen.
RAINIER-NATIONALPARK, WASHINGTON: »Macht jetzt nicht viel her, wie? Irgendwie zahm, beinahe wie ein kleines Schoßtier, aber früher war es einmal das Ungeheuer, das die Welt eroberte.« Der Fremdenführer wartete, bis die Touristen ihre Kameras bereitgemacht hatten und zu knipsen began nen. Ringsum erhoben sich die schön geformten Käm me und verschneiten Gipfel des Kaskadengebirges. Ein bläulichgrüner Dunst zog sich um die Flanken der mächtigen Fels- und Eiskuppe des Mount Rainier. Ei nige hundert Meter unter ihnen äste ein Hirschrudel zwischen den verstreuten Douglastannen der Baum grenze. Blauer und weißer Frühlingskrokus sprenkelte die aperen Stellen zwischen den abtauenden Schnee feldern. Sie waren von Schönheit umgeben, doch am mei sten faszinierte sie die von frischen Moränenwällen eingerahmte Zunge eines Gletschers, der hier bis in die Almenregion vorstieß. »Erst vor ungefähr zwölftausend Jahren, nicht all zulang vor Babylon, bedeckte das Eis die Nordhälfte des Kontinents mit einer Mächtigkeit von eintausend bis eintausendfünfhundert Metern. Es hobelte und schliff ganze Berge ab, wühlte die Becken der Großen Seen und machte sich selbst dort nachhaltig bemerk bar, wo es nicht hinreichte.« »Gletscher wie dieser hier?«
»Sie dürfen es getrost glauben.« Das sichtbare Stück der Gletscherzunge über ihnen sah beinahe kümmerlich aus, bedeckt mit Schutt und Geröll, und da und dort zeigten sich Löcher, durch welche der felsige Untergrund zum Vorschein kam, wie das See gras in einer durchgewetzten alten Couch. »Alles abgeschmolzen, bis auf diesen und ein paar andere Reste im Land, die nicht viel größer sind. In diesen wärmeren Zeiten ziehen die Gletscher sich alle zurück, schmelzen ab und sterben aus wie die Dino saurier. Jetzt muß man sie schon zu den bedrohten Arten zählen, zu den seltenen Sehenswürdigkeiten, und wir vom Personal des Nationalparks fühlen uns wie ihre Beschützer.« Die Touristen verließen den Weg, der an die Glet scherzunge heranführte, und betraten vorsichtig die aufgefirnte Oberfläche. Einer kletterte zum Fuß einer Abbruchstelle hinun ter und hackte mit einem Steinbrocken ein Stück aus dem milchigblauen Eis. »Tun Sie das nicht, Mister. Er wird sich daran erin nern, und eines Tages haben Sie ihn dann am Hals.« ZANESVILLE, OHIO:
»Gütiger Gott, was ist das?« Der Saisonarbeiter sperr te den Mund auf und gaffte.
»Neu in der Gegend?«
»Neu in Ohio. War auf der Durchreise, als ich hör te, daß die Farmer hier wie verrückt Leute einstellen.« »Verdammt richtig«, sagte Fred Bjork mit erhobe ner Stimme, um sich im Lärm des Traktors Gehör zu verschaffen. »Dieses Jahr pflügen wir bis zum Fluß ufer. Deshalb habe ich was gegen diese Felsen.« »Mister, das sind keine Felsen. Das sind – das sind gottverdammte Monumente!« »Eine gottverdammte Plage, wollten Sie sagen. Wir nennen sie Heuschoberblöcke. Müssen außen her umpflügen. Man kann sie nicht bewegen, nicht mal in die Luft sprengen.« Die mächtigen Felsblöcke waren aufsehenerregen de Anomalien auf der flachen Ebene. Manche von ih nen waren groß wie Häuser, obwohl es weit und breit keine Berge oder Gesteinsvorkommen gab, die ihre Herkunft hätten erklären können; es gab nur die wei che, tiefe Erde, die sich flach zum Horizont erstreckte. Aber die Felsblöcke waren da, sehr real und doch so fehl am Platze, als wären sie vom Himmel gefallen. Der Wanderarbeiter schüttelte den Kopf. Er fühlte sich benommen, wußte aber nicht, ob es an der Hitze lag, oder an dem verwirrenden Anblick. »Nun, was brachte sie hierher?« Fred Bjork kratzte sich im Nacken, verdrießlich über eine Frage, die er schon vor langer Zeit unbe antwortet beiseite geschoben hatte. »Es gibt alle mög
lichen Geschichten darüber. Eine alte Indianerlegen de sagt, ein Gott hätte sie herabfallen lassen. Und vo riges Jahr arbeiteten hier in der Gegend ein paar von diesen Hippies oder Freaks, die von einer Rasse rede ten, die mit geistiger Kraft Felsblöcke bewegte oder was. Ja, und vor Jahren war ein Universitätsprofessor hier, der an den Blöcken herumhämmerte und ein paar Splitter mitnahm. Er mußte was gewußt haben, aber ich fragte ihn nicht. Wollte es gar nicht wissen.« »Warum nicht?« »Mein lieber Mann, wer oder was diese Felsen auch herumgestreut haben mag, ich will nichts mit ihm zu tun haben.« THEBA, ARIZONA: Während sie auf der Bundesfernstraße 10 dahinfuh ren, beobachteten die Wilsons den braunen Bovist in der Ferne. Obwohl sie keine Möglichkeit hatten, seine wirkliche Größe zu beurteilen, schien er zu klein, um ein Grund zur Besorgnis zu sein. Andere Autofahrer schienen jedenfalls keine Notiz davon zu nehmen. Dennoch war die Erscheinung für sie eine ganz neue Erfahrung, und daher beunruhigend. »Vielleicht ist es ein Tornado«, sagte Mrs. Wilson. »Ich kann mir nicht denken, daß hier draußen wel che vorkommen. Außerdem sind sie nicht so ge formt.«
Aber Mr. Wilson vermochte es nicht mit Gewißheit zu sagen. Sie waren fremd hier. Sie waren aus Neu england gekommen, wo Mrs. Wilson sich eine chro nische Sinusitis zugezogen hatte, und ihr Hausarzt hatte empfohlen, daß sie nach Arizona oder Südkali fornien übersiedeln sollten, wo ein zuträgliches, trok kenwarmes Klima herrsche. Mr. Wilson war im Begriff zu sagen, daß es keinen Grund zur Sorge gebe, und daß es sich vielleicht um eine Wolke handele, die von einer Rinderherde oder einem Geländewagen aufgewirbelt worden sei, als die Worte ihm in der Kehle stecken blieben. Die Wol ke wurde sichtlich größer, als sie sich näherte, und nun vernahmen sie ein dumpfes Heulen aus ihrem Inneren, das sogar das Motorengeräusch zu übertö nen begann und an einen riesigen Staubsauger ge mahnte. Sie wußten nicht, was zu tun war, ob sie anhalten oder beschleunigen, die Fenster schließen oder öffnen sollten. Mr. Wilson entschied sich instinktiv für ein Verlangsamen der Fahrt, und seine Frau kurbelte das Fenster hoch. Inzwischen hing die Wolke drohend über ihnen und verdunkelte den Himmel. Im näch sten Augenblick fiel der Sturm mit einem schreckli chen Pfeifen und Heulen über sie her. Der Sand peitschte durch Türritzen und Entlüf tungsschlitze ins Wageninnere. Mr. Wilson hustete
und würgte, seine Frau keuchte hinter dem vorgehal tenen Taschentuch nach Luft. Innerhalb weniger Au genblicke bedeckte Sand das gesamte Wageninnere. Der im Leerlauf drehende Motor gab mahlende und kratzende Geräusche von sich, bis Staub und Sand partikel in Vergaser und Zylinderlaufbuchsen ihm den Garaus machten. Endlich gelang es ihnen, Türritzen und Entlüftun gen mit Klebeband abzudichten, doch als geriete er darüber in noch größere Wut, verstärkte der Sandsturm sein Toben, rüttelte und zerrte am Wagen, überschüttete ihn mit windgepeitschten Sandmassen und schliff den Lack herunter, bis stellenweise das nackte Stahlblech zum Vorschein kam. Gleichzeitig wurden die Scheiben aufgerauht und getrübt, bis sie sich vor den Augen der entsetzten Wilsons in un durchsichtiges Milchglas verwandelten. Wenn sie auch nicht mehr sehen konnten, sie hör ten nur zu gut, wie der Sand draußen angehäuft wurde und den Wagen vollständig zu bedecken drohte. Sie fürchteten, lebendig begraben zu werden, in ih rem Wagen ersticken zu müssen, unauffindbar ver schüttet unter einer Sanddüne, so daß man nicht einmal ihre Leichen finden würde. Verzweifelt stieß Mr. Wilson gegen die Tür, doch hatte er sie kaum einen Spaltbreit geöffnet, als ihm
ein Schwall Sand ins Gesicht fegte, ihn blendete und einen Hustenanfall auslöste. Hastig schloß er sie wie der. Sie umarmten einander und erwarteten weinend und verzagt einen Tod, den sie nicht verstanden. Dann flaute der Sturm ab, so plötzlich wie er ge kommen war, und alles war still. Vorsichtig und zitternd versuchte Mr. Wilson die Tür zu öffnen. Sie gab nicht nach. Er stieß kräftiger und endlich öffnete sie sich mit einem Knirschen, das ihm Schauer über den Rücken schickte. Er spähte hinaus. Mächtige Anwehungen von graubraunem Sand bedeckten die Fernstraße. Eine Anzahl Wagen erhob sich, farbigen Felsen gleich, halb vergraben aus dem Wüstenboden. Als Mrs. Wilsons Husten und Keuchen endlich nachgelassen hatte, wateten sie gemeinsam durch die Anwehungen zum nächsten Wagen. Der Fahrer saß in einer Haltung hinter dem Lenkrad, die entweder ge lassene Hinnahme oder aber totalen Schock ausdrük ken mochte. Mr. Wilson räusperte sich und fragte be hutsam: »Ah ... kommt so etwas hier häufiger vor?« Das Institutsgebäude war vor kurzem in ›Planetari sche Wissenschaften‹ umbenannt worden, doch war auch dieser schnittige und modernistische Titel nicht imstande, die altertümlich-historisierende Architek
tur des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts zu verbergen, die von manchen ›Frühes Dracula‹ ge nannt wurde. Unter diesem Dach hausten verschiedene Abteilun gen, denen die vorhandenen Räumlichkeiten – so schien es wenigstens Mark Haney – unlogisch und un gerecht zugemessen worden waren. Die dem Himmel und seinen Erscheinungen verpflichtete Meteorologie war im Keller untergebracht, während die Geologie den Erdboden vom obersten Stockwerk untersuchen mußte. Ein Student mochte je nach der Kombination seiner Studienfächer freizügig von einer Abteilung zur an deren überwechseln, aber die Professoren hatten we nig Kontakt zueinander und betrachteten ihre Abtei lungen als Lehensgüter, während Hochschullehrer anderer Fachrichtungen als Konkurrenten und übel wollende Fremde beargwöhnt wurden. Es gab jedoch einen Raum, der von allen gemein sam benutzt wurde, und so kamen gelegentlich Ge spräche zusammen. Der Archäologe stand im Pissoir, als der Geologie professor hereinkam. Einem knappen Kopfnicken folgte das unbehagliche Schweigen, das unter solchen Umständen ehrwürdiges Ritual ist; jeder schaute ge radeaus, ein Blick starr auf die obszönen Ritzzeich nungen an der Wand gerichtet.
Der Geologe war zuerst fertig und versuchte sich die Hände zu waschen. Es gab kein warmes Wasser, und der Kaltwasserhahn hatte sich gelockert und gab alarmierende knurrende Geräusche von sich. Die Austrittsöffnung am Seifenspender war rostig und verklebt, und so konnte er keine Seife bekommen. Papierhandtücher gab es auch nicht mehr, und er mußte sich die Hände behutsam an seinen Kleidern abtrocknen. Schließlich sprach er die ersten Worte, die seit Jahren zwischen den Oberhäuptern beider Abteilungen gewechselt worden waren. »Das ist das Ende der Zivilisation.« »Hm?« Der Archäologe blickte auf. »Wenn die sanitären Einrichtungen zum Teufel ge hen, dann ist es soweit. In tausend Jahren wird je mand von Ihrer Abteilung Ausgrabungen veranstal ten und diesen Raum finden, und dann wird es hei ßen: ›Ja, das ist aus der Zeit, als es mit ihnen bergab ging.‹« Der Archäologe nickte. »Stoff genug für eine groß artige Dissertation.« Wieder trat für eine Weile Stille ein, dann sagte der Archäologe mit der gebührenden Zurückhaltung, da er nicht wußte, ob der andere wirklich interessiert war: »Wissen Sie, das ist die Frage, die uns gegenwärtig be schäftigt: was zum Zerfall einer Zivilisation führt.« Der Geologe zeigte durch eine hochgezogene
Braue, daß er in der Tat interessiert sei, und so fuhr der Archäologe fort: »Man kann es an der Kunst se hen. Soweit wir die Zeugnisse mit der RadiokarbonMethode datieren können, lassen sie den Schluß zu, daß es oft sehr rasch geht. Man könnte geradezu von einer Trennungslinie sprechen. Von einem Jahrzehnt zum anderen ist es mit der künstlerischen Qualität vorbei. Natürlich ist die Kunst, von der ich hier spre che, selbst nach einem Niedergang noch ein wenig anspruchsvoller als das da.« Und er machte eine Handbewegung zu den Ritzzeichnungen. »Mesopo tamien. Ein interessantes Gebiet.« »Hörte davon, aber wo war das?« »Heute heißt es Irak.« Auf einmal war der Geologe sehr interessiert. »Wissen Sie, wir haben ein paar Bohrkerne von dort bekommen. Stammen von Erdölbohrungen für die irakische Staatsgesellschaft.« »Bohrkerne?« »Werden mit speziellen Bohrausrüstungen gewon nen, die innen hohl sind. Man zieht einen langen Bohrkern durch die Ablagerungsschichten heraus und kann sie dann in Ruhe datieren. Auf die Weise gewinnt man nicht nur die biologische Chronologie, sondern erhält auch Hinweise auf die Pflanzenwelt, die Klimageschichte, den Wasserstand und andere Merkmale des jeweiligen Zeitalters.«
»Ließen sich an einem solchen Bohrkern auch Erd beben oder Flutkatastrophen ablesen?« »Die letzteren auf jeden Fall. Sie meinen, solche Er eignisse waren für den Zerfall ihrer Kulturen verant wortlich?« »Nun, wenn es zu einem plötzlichen Niedergang kommt, dann denkt man sich, daß etwas geschehen sein muß, und wenn es kein Krieg war, dann wahr scheinlich von dieser Art. Irgendeine schwere Natur katastrophe.« Der Geologe benagte gedankenvoll sei ne Unterlippe, dann nickte er dem anderen zu. »Sehen wir es uns einmal an.« Als sie die Laboratorien der geologischen Abtei lung betraten, fühlte der Archäologe sich sofort an ei ne Bibliothek von Papyrusrollen erinnert, wie die al ten Ägypter sie gehabt haben mußten. Lange, große Kartonrollen waren vom Boden bis zur Decke gesta pelt, jede Rolle mit detaillierter Identifikation. Die Analysen der Bohrkerne aus dem Irak waren ganz unten begraben, und als der Geologe sie herauszog, löste er beinahe eine kleine Papierlawine aus. Das Innere der Rolle enthielt einen gezeichneten und mit ausführlichen Beschriftungen und einer Zeit skala versehenen Querschnitt des Bohrkernes. Der Archäologe konnte mit dem Finger auf die Zeit der Schwarzen Pest oder der Magna Charta zeigen, aber er ließ ihn auf der Schnittzeichnung weiter abwärts
wandern, zurück durch die Zeit, bis er die richtige Ära gefunden hatte. »Hier muß es sein, genau hier.« Der Geologe beugte sich über den angegebenen Abschnitt und überprüfte die Zeichnung. Sein geüb tes Auge suchte nach Anzeichen, die auf Verwerfun gen oder Vermischungen von Schichten schließen lie ßen, aber es gab keine. »Auf Erdbeben deutet nichts hin.« Als nächstes nahm er sich die Wasserverhältnisse vor. »Eine Überschwemmung hat nicht stattgefun den«, meinte er schließlich. »Wenn überhaupt ein Un terschied erkennbar ist, dann war es allenfalls ein wenig trockener als vorher oder nachher.« Dann tat er ein übriges und führte seinen Gast ins Archiv, wo die Original-Bohrkerne in großen Glas röhren aufgereiht standen, erklärte ihm die Bedeu tung der Farbe und Beschaffenheit einzelner Schich ten und schloß: »Ich würde sagen, daß in der fragli chen Zeitspanne in dem betreffenden Gebiet keine geologisch wirksamen Ereignisse stattgefunden ha ben. Vielleicht eine Zunahme von Staubablagerun gen, verbunden mit einer gewissen Erwärmung.« »Staubablagerungen? Von welcher Stärke?« »Hier, Sie können es selbst sehen. Sehr geringfügig, nicht mit Pompeji zu vergleichen. Wenn die Bewoh ner des Landes unter Allergie litten, dann mochten sie sich zu Tode geniest haben.«
»Das ist alles?« »Das ist alles.« »Nun«, meinte der Archäologe nach kurzem Still schweigen, »beinahe wäre eine hübsche Veröffentli chung dabei herausgekommen.« »Improvisieren Sie ...« Auf einmal erschienen ihm die Worte eher als eine Herausforderung denn als ein Hindernis. Mark dachte daran, wie begeistert und aufgeregt der kleine Danny über jedes unscheinbare Gerät, über jedes Fachbuch und jede graphische Darstellung gewesen war, vor al lem aber über den Empfänger für alle Wellenbereiche, der aus Teilen alter Radios und Fernsehapparate geba stelt war. Die Konstruktion der Ausdruckmaschine sollte vergleichsweise einfach sein, dachte Mark. Vor einem der zahlreichen leerstehenden Häuser in den Slums war er auf eine verlassene Waschmaschine ge stoßen. Nun machte er sich auf den Weg, baute Motor und Getriebe aus und war bald mit einem Eifer und ei ner Begeisterung, die er seit Jahren nicht gekannt hatte, beim Schweißen und Löten. Es war wieder 3:08 Uhr, und Mark schaltete den Empfänger ein, um das Signal des überfliegenden Sa telliten zu hören. Nie waren ihm die elektronischen Zirpgeräusche so verlockend und geheimnisvoll vor gekommen wie jetzt, und er spürte, wie etwas vom
Kind in ihn zurückkehrte. Dann verging das Signal und hinterließ nur das gleichmäßige Zischen, das die Abwesenheit von Sendeimpulsen markierte. Auf einmal fühlte er sich an die Erde gekettet und einsam. Er starrte den Empfänger an und kam auf den Gedanken, daß er niemals versucht hatte, die breite Skala jenseits dieser einen Frequenz abzusuchen. Langsam drehte er am Skalenknopf. Die Tonlage des Zischens veränderte sich, wurde unterbrochen, und auf einmal schien der Empfänger von Morsezei chen, Stimmen, Musik und verschlüsselten Sendun gen überzuquellen. Die Stimmen, selbst wenn sie englisch sprachen, waren durch ihren sehr speziali sierten Jargon nahezu unverständlich, aber die Welt dort draußen erwies sich als lebendig, vielfältig und in unaufhörlicher Kommunikation begriffen. Inner halb von wenigen Sekunden empfing er Radio Vati kan auf 9645, Radio Japan auf 9505, Radio Schweden 5990 und Radio Mali auf 4834 Megahertz. Es gab Vorlesungen, Musik, Opern, Propaganda, Nachrichten und natürlich Wettermeldungen. Alles war gut oder zumindest normal. Fasziniert von der Verflochtenheit einer Zivilisati on, wie sie sich in einem so vielfältigen Kommunika tionsnetz widerspiegelte, drehte er den Skalenknopf weiter und kam in ein neues Band. »Hallo, CQ, CQ, CQ, CQ, rufe alle Stationen auf
dem Vierzig-Meter-Band. Hier TL8XNT, Tango Lima Acht Xanthippe November Tango aus Mali in Afrika, in Bereitschaft. Hallo CQ, CQ, CQ, CQ ...« Zuerst fand Mark das Kauderwelsch interessant, doch als derselbe Satz immerfort wiederholt wurde, war er rasch gelangweilt. Er war im Begriff, eine an dere Frequenz zu suchen, wo vielleicht etwas mehr Kulturelles oder zumindest Abwechslungsreicheres geboten wurde, aber etwas hielt ihn zurück, vielleicht der Tonfall der Stimme, der die Litanei immer fle hentlicher klingen ließ. »Erbitte Antwort ... Spreche mit jedem ... CQ, CQ ... Erbitte Antwort ...« Endlich wurde der Ruf beantwortet. Es meldete sich eine weitere Kombination von Buchstaben und Zahlen, gefolgt von: »Sie kommen hier auf den Aleu ten sehr schön herein. Ja, wir haben eine Schönwet terperiode wie noch nie, sonnig, mild, und es ist eine Freude, am Leben zu sein ...« »Bedaure Geplauder unterbrechen zu müssen, Aleuten, aber wir brauchen hier Hilfe. Wir haben an haltende Dürre, der Monsun ist ausgeblieben, die Ernte verdorben. Das Vieh verhungert und verdurstet zu Hunderten, die Wasserstellen trocknen aus. Geben Sie mein CQ weiter. Mein Name ist Henry Schumer, ich bin Arzt. Wir brauchen dringend Lebensmittel, Wasser, Medikamente ...«
»QRS, Mali, QRS. Empfang durch Schwund beein trächtigt. Bitte wiederholen Sie ...« Dr. Schumer wiederholte seinen Notruf, beschrieb die Dürre, die allgemeine Not, und prophezeite viele Todesfälle. Diesmal kam keine Antwort von den Aleuten. Das Signal war gänzlich geschwunden. Dr. Schumer ver suchte die Verbindung wiederherzustellen, bis er schließlich in erkennbarer Erbitterung von vorn an fing: »Hallo, CQ, CQ, CQ, CQ, an alle Stationen auf dem Vierzig-Meter-Band ...« Mark lauschte, bis ein offenkundig erschöpfter Dr. Schumer aufgab und verkündete, er werde in vier undzwanzig Stunden wieder auf derselben Frequenz senden. Dann wurde die Sendung von dem allge genwärtigen leeren Zischen abgelöst. Ein verwunderter Mark suchte seine Wetterkarten hervor. Die Monsunregen waren so regelmäßig wie die Bewegung der Erde um die Sonne. Sie hingen von den Höhenströmungen ab, dem globalen Luftaus tauschsystem, das die Verdunstungsfeuchtigkeit der Ozeane über die Festländer trug und dort das Leben und die Ernten der Menschheit ermöglichte. Es kam vor, daß die Monsunregen verspätet oder abge schwächt auftraten, doch schien es hier, als hätten sie den Landstrich, wo Dr. Schumer lebte, überhaupt nicht erreicht.
Dann fiel Mark ein, daß der Amateurfunker von den Aleuten von einer Schönwetterperiode gespro chen hatte. Die Inselkette der Aleuten lag direkt in der Bahn der nordpazifischen Tiefdruckwirbel, wo beinahe immer Schlechtwetter herrschte. Mark sah die Anfänge eines Rätsels. Dann erinnerte er sich an Malis Regierungssender und drehte die Skalenanzeige zurück 4834. Der Sen der brachte afrikanische Volksmusik, unterbrochen von Ansagen in arabischer und französischer Spra che. Die Stimmen der Ansager klangen heiter und unbekümmert. Anscheinend war alles in Ordnung. Nun, dachte Mark und schaltete den Empfänger aus, jeder kann irgendwelches Zeug in ein Mikro phon sprechen, auch wenn er an Zwangsvorstellun gen leidet. Für eine Weile hatte es nach einer hübschen Veröf fentlichung ausgesehen. Der Geologe starrte mißmutig auf den irakischen Bohrkern. Es war ihm nicht gegeben, seine Aufmerk samkeit rasch und ohne weiteres von einem Gegen stand, der ihn beschäftigte, einem anderen zuzuwen den. Vielleicht war es ein Erbteil seines Volkes. Wä ren Hideo Kashiharas Vorfahren weniger nachdenk lich und beharrlich gewesen, so wären sie auf ihrem kargen pazifischen Archipel längst ausgestorben.
Er ließ den Bohrkern aus seiner schützenden Um hüllung ziehen und entnahm der Schicht, die seinen Kollegen vom anderen Fachbereich interessiert hatte, ein paar Proben, um sie unter das Mikroskop zu bringen. Er fand nichts von Interesse. Nur festgebak kene Staubpartikel, Sand, karbonisierte Pflanzenfa sern und ein paar gewöhnliche Samenkörner, die ihm nichts sagten. Sonst nichts. Dann kam ihm eine Er leuchtung. Wenn das gewöhnliche Samenkörner wa ren, dann konnten sie von entscheidender Bedeutung für die Untersuchung seines Kollegen sein. Er montierte die Polaroidkamera auf das Mikro skop und machte ein Foto. Darauf tat er etwas, was ihm früher nicht im Traum eingefallen wäre. Er sah im Organisationsplan nach, wo die Abteilung für Bo tanik untergebracht war, und entdeckte zu seiner Überraschung, daß sie im selben Gebäude beheimatet war. Er fragte sich, wieviel er sagen sollte. Für den Fall, daß der Stoff für eine Veröffentlichung gut sein sollte, wollte er niemanden einweihen. So beschloß er, sich nonchalant zu geben, alles zu erfragen und nichts zu verraten. »Die altehrwürdige akademische Methode«, sagte er sich schmunzelnd. Er marschierte hinunter, stellte sich vor und reichte seinem Kollegen vom Fachbereich Botanik beiläufig das Foto. »Was könnte das sein?«
»Wissen Sie es nicht?« »Woher sollte ich das wissen?« »Sie sind Japaner, nicht wahr?« »Und Sie Pole. Nun, was für Samenkörner sind das?« »Reis.« »Reis!« »Handelt es sich um etwas Wichtiges?« »Nein, bloß Neugierde. Ein kleines Detail in einem Artikel.« »Bekomme ich eine Fußnote?« »Reis ist nicht wichtig; in meiner Abteilung ist nur Öl wichtig. Aber wenn Sie eine Minute Zeit haben, erzählen Sie mir etwas über Reis.« »Nun, es ist eine einjährige Pflanze, sechzig bis einhundertachtzig Zentimeter lang, mit sehr schma len, lanzettförmigen Blättern ...« »Ist sie empfindlich?« »Also, eine Orchidee ist die Reispflanze nicht ...« »Angenommen, sie muß mit einer geringfügigen Zunahme von Staubniederschlägen, einer gleichzeiti gen Abnahme der mittleren Regenmenge und einer Erwärmung um einige Grad fertig werden?« »Damit haben Sie gerade die Hälfte Ihrer Ernte eingebüßt.« »Die Hälfte? Ich dachte, die Reispflanze sei nicht empfindlich.«
»Trotzdem braucht sie Wärme, Feuchtigkeit, Be wässerungsgräben und eine Menge liebevoller Zu wendung.« »Ich verstehe. Nun, nehmen wir an, daß eine Kul tur, für die der Reis Lebensgrundlage ist, die Hälfte ihrer Ernte einbüßt, was dann?« »Nicht meine Abteilung.« »Wessen?« »Versuchen Sie es in der Geographie. Dort reden sie über Gesellschaften und Ökologie und alles das. Was ist mit meiner Fußnote?« »Ich werde Sie verständigen«, sagte Kashihara, als er hinausstürzte. Der Biologe starrte ihm stirnrunzelnd nach. »Ich weiß nicht«, murmelte er zu sich selbst, »aber ich glau be, der gelbe Teufel hat mich übers Ohr gehauen.« »Lassen Sie mich einen Fall vortragen. Eine vom Reis als Hauptnahrungsmittel abhängige Kultur büßt die Hälfte ihrer Ernte ein. Was wird aus der Kultur?« »Erlauben Sie mir eine Gegenfrage«, sagte der Geograph. »Haben Sie schon mal von einem Projekt Noah gehört?« »Wenn es nicht Geologie, Sex oder Baseball ist, dann fällt es nicht in mein Fach.« »Nun, ich erinnere mich daran, weil ich in meinen idealistischeren Tagen daran arbeitete. In Afrika
wurde ein neuer Staudamm errichtet und ein ganzes Tal unter Wasser gesetzt. Es gab eine Menge Tiere, die gerettet werden mußten, Löwen, Nashörner, Ele fanten usw. Ich nahm freiwillig an der Rettungsakti on teil. Wir brachen einigen Tieren die Hälse, wir bra chen einige von unseren Hälsen, aber wir brachten die ganze Arche voll in Sicherheit.« »Meinen Glückwunsch.« »Nicht so schnell. Vergessen Sie nicht, wir mußten die Tiere irgendwo wieder aussetzen. Also, was ge schieht, wenn Sie daherkommen und in eine Gegend, wo bisher zwei Löwen lebten, zwei weitere bringen?« »Na, dann haben Sie wahrscheinlich vier zornige Löwen.« »Mehr als das. Sie haben vier verhungernde Lö wen. Wir brachten die gesamte Ökologie aus dem Gleichgewicht und sie hat sich bis auf den heutigen Tag nicht davon erholt.« »Für Leute vom Fach war das ein ziemlich schlecht durchdachtes Projekt.« »Wir waren nur für die Rettungsaktion zuständig, und wohin hätten wir die Tiere bringen sollen? Wäre es nach dem Dammbaukonsortium gegangen, dann hätte man die Tiere einfach ersaufen lassen oder ab geschossen. Aber zurück zum Thema. Kehren wir die Situation um. Statt die Bevölkerung zu verdoppeln, halbieren sie die Reisversorgung. Was geschieht?«
Hideo Kashihara versuchte sich eine Gesellschaft vorzustellen, die die Hälfte ihrer Lebensmittel einge büßt hatte, mit halbvollen Kornspeichern und einer hilflosen Regierung. Er verspürte ein kaltes Unbeha gen, wo er über des Rätsels Lösung hätte erfreut sein sollen. Schließlich sagte er: »Also gut, ich sehe ein, daß so etwas in der Wildnis zur Katastrophe führen kann, aber dies war eine Zivilisation.« »Vorher oder nachher?« NORDATLANTIK, 1500 SEEMEILEN NORDÖST LICH DER AZOREN:
»Kapitän, da ist ein ... Ich weiß nicht, was es ist.«
»Die Richtung, Mann, die Richtung!« »Auf Steuerbord ... Es – es ist eine Regenbö, denke ich.« Der Kapitän nahm das Glas und blickte in die an gezeigte Richtung. Was dort aufzog, sah tatsächlich wie ein Regenschauer aus, aber es war von einer bräunlichgelben Farbe und zum Meereshorizont hin dunkel und völlig undurchsichtig. Dieses seltsame Wolkengebilde wuchs rasch zu beängstigender Größe heran, und dann dauerte es nur noch Augenblicke, bis das Schiff völlig eingehüllt wurde, aber nicht in Regen. Der heiße Staub war überall, auf dem Deck, in den
Laderäumen, in den Mündern, Augen und Nasen der Mannschaft. Der Staubsturm verdunkelte die Sonne, deren Licht zu einem düsteren, fahlbraunen Schein gestreut wurde, welcher aus dem Inneren des Staubsturms zu kommen schien. Flächenblitze zuck ten durch diese unheimliche Szenerie, beantwortet von seltsamem Donnergrollen, das wie Meeresbran dung klang, gehört aus dem Inneren einer Riesenhöh le. Ebenso unverhofft, wie er über das Schiff herein brach, zog der Sturm ab. Deck und Aufbauten waren mit Staub bedeckt, der sogar innerhalb geschlossener Bullaugen in kleinen Ansammlungen lag. Als der Kapitän sich endlich den Staub aus der Kehle gespült hatte, konnte er den Rudergänger fra gen: »Mein Gott, haben Sie je von so etwas gehört?« Der Maat nickte. »Oklahoma, in den dreißiger Jah ren.« Mark Haney überlas, was er aufgeschrieben hatte. »Teufel noch mal, das kann nicht stimmen«, murmel te er. Es war schwierig zu glauben, daß es einmal eine Zeit gegeben hatte, da er dreißig Worte pro Minute in Morsezeichen hatte niederschreiben können. Seit er als Wehrpflichtiger im Wetterdienst der Luftwaffe gearbeitet hatte, waren verschiedene Muskeln und
Sehnen aus der Übung gekommen. Nun mußte er sich wieder in Form bringen, um seine Lizenz als Amateurfunker zu erwerben, und das Abhören und Mitschreiben solcher aus Morsesignalen bestehenden Sendungen war seine Übung. Das meiste von dem, was er aufnahm, war wenig ergiebig, doch diese Sendung kam ihm sehr seltsam vor. »Komm schon, gib eine Bestätigung«, sagte er zu dem Empfänger, doch er blieb taub. Für Danny aber kam Marks Stimme so überra schend aus einer völligen Stille, daß er zusammen fuhr. Mark trug Kopfhörer und wußte nicht, wie laut er sprach. »Ja, es kann nichts anderes bedeuten«, murmelte Mark, als er die mitgeschriebenen Zeichen ein zwei tes Mal überprüft hatte. Danny blickte ihm über die Schulter, als Mark die Einzelheiten wie Uhrzeit, geographische Länge und Breite, Zugrichtung und andere Informationen in sei ner meteorologischen Kurzschrift notierte. Schließlich nahm er die Kopfhörer ab und wandte sich zu Danny um. »Weißt du, wenn ich nicht glauben kann, was diese Leute in die Welt setzen, wie soll die Öffentlichkeit dann mir glauben?« »Ich glaube Ihnen.« Mark zauste dem Jungen das Haar. »Danke. Weißt du, was du bist?«
»Was?« fragte Danny, plötzlich verlegen und halb ängstlich. »Mein Kollege.« Danny errötete, und Mark dachte, es sei das erste Mal, daß er in Dannys blassem Gesicht ein wenig Farbe sah. Er fragte sich, von welcher Art die elterli che Fürsorge sein mochte, die Danny zuteil wurde. »Danny, erzähl mir über deine Familie.« Der Junge zuckte die Achseln. »Da gibt es nichts zu erzählen.« »Versuch es trotzdem.« »Nein, erzählen Sie mir, was Sie im Radio gehört haben.« »Erzähl du mir von deiner Familie.« »Machen wir es abwechselnd. Jeder fragt den ande ren.« Mark seufzte. »Du machst es einem schwer. Also gut, du zuerst.« »Sie zuerst.« Mark hob die Hand in gespieltem Zorn. »Du legst es auf eine Tracht Prügel an, Junge.« Danny wich in so unmittelbarem und überwälti gendem Entsetzen zurück, daß Mark zutiefst er schrak. »Um Himmels willen, Junge, es war nicht ernst gemeint. Komm her ...« Danny zögerte, und es dauerte eine kleine Weile,
ehe er vorsichtig Marks versöhnend ausgestreckte Hand annahm. »Schon gut, schon gut«, besänftigte ihn Mark. »Ich werde dir zuerst etwas erzählen.« Er holte Atem. »Zunächst einmal: Ich habe bloß den Morsekode ge übt, weil man ihn beherrschen muß, wenn man eine Amateurlizenz beantragen will.« »Warum wollen Sie eine Amateurlizenz?« »Weil das Abhören des Funkverkehrs nicht genug ist. Es gibt ein paar Fragen, die ich zu dem, was ich gehört habe, stellen möchte.« »Was haben Sie gehört?« »Das werde ich dir sagen, wenn du mir etwas er zählt hast. Jetzt bin ich an der Reihe. Erzähl mir etwas über deinen Vater.« Danny zögerte. »Mein Vater ist tot«, sagte er ohne sichtbare Gemütsbewegung. »Es tut mir leid, das zu hören. Wann ist es gesche hen?« »Jetzt bin ich an der Reihe. Was haben Sie gehört?« »Ich übte das Mitschreiben von Morsesignalen und hörte zu diesem Zweck die Wettermeldungen der Schiffe an die Küstenstationen ab. Auf See gibt es keine Wetterstationen, wie du dir denken kannst, also meldet jedes Schiff seine Wetterbeobachtungen. Eine Zeitlang war alles normal, bis ich gerade etwas hör te.«
»Was hörten Sie?« »Nein, jetzt bin ich dran. Was ist mit deiner Mut ter?« »Sie lebt. Was haben Sie gehört?« »Man kann nicht sagen, daß du mir viel verrätst.« »Ich weiß. Was haben Sie gehört?« »Ein Schiff meldete, es habe mitten auf hoher See einen Staubsturm gehabt.« »Einen ... das ist unmöglich.« Mark nickte. »Und?« »Und nun erzählst du mir von deiner Mutter. Ist sie gut zu dir? Kümmert sie sich um dich? Bekommst du ordentlich zu essen?« Danny zuckte die Achseln. »Ich komme zurecht.« »Soll das heißen, daß ihr gut miteinander aus kommt, sie und du?« »Wie kann auf hoher See ein Staubsturm vorkom men?« »Weil wir Staub in die Luft pumpen. Er wird zu den Höhenströmungen emporgetragen und umkreist die Erde. So kann es passieren, daß er irgendwo nie dergeht und durch die unterschiedliche Erwärmung im Vergleich zur umgebenden Luftmasse einen Sturm erzeugt.« »Warum ist es nicht schon früher zu solchen Staubstürmen gekommen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht verändern sich die Bahnen der Höhenströmungen.« »Was bedeutet das?« »Ich weiß nicht. Warum willst du mir nicht mehr über deine Mutter erzählen?« »Ich weiß auch nicht. Darf ich das Satellitensignal hören, wenn es uns überfliegt?« Mark seufzte und stellte den Empfänger auf die Frequenz des Satelliten ein. Sie warteten auf den schon vertraut gewordenen Ton und sagten nichts mehr. SUITLAND, MARYLAND: Wie um die Verpflichtung gegenüber der Regierung hervorzuheben, die das gesamte Projekt finanziert hatte, prangte das Bundeswappen über dem Portal des sechsstöckigen Gebäudes, in welchem die um fangreichste Computeranlage der Welt arbeitete. Sie war dem denkbar ehrgeizigsten mathemati schen Vorhaben gewidmet, nämlich der Wettervor hersage, und trotz aller Fortschritte auf dem Gebiet der Mikroelektronik nahmen die Komponenten der Anlage – Großrechner, Eingabe- und Ausdrucksta tionen, Datenspeicher, Programmierungs- und Aus wertungsabteilung – das ganze Gebäude ein. Die anfallenden Datenmengen waren so gewaltig, daß, bestünde die gesamte Erdbevölkerung aus erfah
renen, mit der Verarbeitung betrauten Mathematikern, sie vom Umfang der Aufgabe überwältigt würde. Der Computer umfaßte die Atmosphäre des gan zen Planeten: eine Abstraktion in einem mathemati schen Modell. Die Wissenschaftler hatten das Wetter geschehen der Erde, wie es sich an einem Wintertag zu einem gegebenen Zeitpunkt darstellte, zur Grund lage gemacht und alle bekannten Faktoren, die es in Gang hielten und beeinflußten, in wirklichkeitsge treuen Größen programmiert. Darauf hatten sie mit der Simulation der Erdrotation begonnen. Sollte es ihnen gelingen, die Simulation mit einer wirklichkeitsgetreuen Reproduktion der von Tag zu Tag wechselnden Bedingungen bis zum gegenwärti gen Zeitpunkt fortzuführen, so würde der Computer das Modell richtig in die Zukunft projizieren und die exakten Wetterbedingungen wiedergeben, wie sie sich an einem beliebigen Tag innerhalb der nächsten Wochen und Monate, vielleicht sogar Jahre, überall auf dem Erdball darstellten. Das Modell behielt seine Gültigkeit, als der 23. De zember zum 24. Dezember wurde, und auf den Ka thodenröhren der Auswertungsabteilung entfalteten sich die regionalen Wetterkarten mit Isobaren und Isothermen, die sich genauso bogen und entwickel ten, wie sie es auf den Karten des offiziellen Wetter dienstes an den betreffenden Tagen getan hatten.
Aber als die Weihnachtsfeiertage kamen, machte die freudige Zuversicht bedrückter Enttäuschung Platz, und unter jenen, die für die wissenschaftliche Vorbereitung des Projekts verantwortlich zeichneten, breitete sich trübe Katerstimmung aus. Es regnete, wo es tatsächlich Sonnenschein gegeben hatte. Die Tem peraturen fielen an Orten, wo sie nach den Aufzeich nungen gestiegen waren. Das Modell brach zusam men. »Was soll's«, sagte einer. »Es gibt einfach nicht ge nug Daten. Sobald wir über das Datenmaterial des neuen Satelliten verfügen können ...« »Klar. Einstweilen stelle ich mein arthritisches Knie zur Verfügung. Es macht in letzter Zeit Schwierigkei ten.« »Dies ist das Hygrometer«, sagte Danny in völligem Ernst. Mark verbiß sich mit Mühe ein Lächeln. »Sehr eindrucksvoll.« Das Instrument war nicht weniger sinnreich als Marks eigene Improvisationen. Das Hygrometer maß die Luftfeuchtigkeit mit dem billigsten verfügbaren Material: einem Haar. Ein daran befestigter Faden war um eine Anzeigeskala gespannt und drehte sie vor oder zurück, je nachdem, ob das Haar sich zu sammenzog oder ausdehnte.
Auf dem Balkon drehte sich ein Anemometer und maß die Windgeschwindigkeit. Es war aus Küchentrichtern gemacht und rotierte an einem Besenstiel. Mark nickte, zog bedeutungsvoll die Stirn in Falten und machte beifällige Geräusche, ohne sich seine Freude über den Einfallsreichtum des Jungen anmer ken zu lassen. Sie war außerdem getrübt von seiner Beunruhigung über Danny selbst, der noch immer blaß und verschlossen war. Es lag auf der Hand, daß Danny für die Vorführung seiner Wetterstation einen Zeitpunkt gewählt hatte, wo seine Mutter nicht zu Hause sein würde. »Sehr schön«, sagte Mark. »Ich wette, daß du damit bei deinen Pfadfinderfreunden gut ankommen wirst.« »Ich ... das kann ich nicht sagen.« »Wie finden sie deine Wetterstation?« »Ich weiß es nicht. Ich bin immer hier.« »Hast du keine Freunde?« »Es ist ... schön hier. Immer passiert was.« »Geht du jemals aus?« »Na klar. Direkte Beobachtung ist wichtig.« »Macht deine Mutter sich nichts daraus? Ist sie eine gute Freundin, jemand, mit dem man reden kann?« Danny schwieg. Schließlich sagte er: »Möchten Sie die Wetterkarte sehen, die ich heute gezeichnet habe?« Mark drängte nicht weiter. »Gern.«
»Ich zeichne sie im Eßzimmer, weil es den größten Tisch hat«, sagte Danny, als er ihn durch die Woh nung führte. Die Räume waren groß und hoch, ty pisch für die einst eleganten, doch nun herunterge kommenen Wohnhäuser der Nachbarschaft. Danny öffnete die Tür, und Mark sah mit einem Blick, daß das Zimmer als eine Art Kammer und Arbeitsraum in einem diente. Das Zimmer war staubig und unordentlich. Auf dem Tisch hatte Danny Zeichenmaterial ausgebreitet, und alles übrige war mit allerlei abgestellten Gegen ständen vollgestopft, darunter zahlreichen seltsamen, primitiv anmutenden Artefakten. Da gab es Schnitze reien in Elfenbein und Stein, die Tiere wie Robben und Wale darstellten, einen Gegenstand, der einem übergroßen Aschenbecher ähnelte, Tierfelle, Trom meln, eine Harpune, und, als Blickfang an der Wand hängend, eine rohlederne Peitsche mit einer minde stens sechs Meter langen geflochtenen Schnur. »Von meiner Mutter«, sagte Danny endlich. »Mein Gott«, war alles, was Mark erwidern konnte. Er wußte, daß er noch sehr viel mehr zu sagen und vielleicht auch zu tun hatte. CAMPECHE, MEXIKO:
Sr. Avila hatte nie im Leben eine Seekarte gesehen,
geschweige denn gebraucht, aber er kannte die Win
de und die Meeresströmungen so gut, wie er sie ken nen mußte. Von allen Merkmalen, die ihm als Navigationshil fen dienten, war die Bahn des Golfstroms das auffal lendste. Ein mächtiger grüner Fluß, der im blauen Ozean dahinzog. Wenn Avila auch nichts von seiner gewaltigen Ausdehnung und Mächtigkeit ahnte, so kannte er diesen kleinen Abschnitt doch um so gründlicher. In diesen grünen, schnell ziehenden Wassern lagen die reichsten Fischgründe. Er hatte seine bevorzugte Stelle, die er zu finden pflegte, indem er bestimmte Landmarken anpeilte, die Form der Wellen, die Windrichtung und eine An zahl von anderen Zeichen beobachtete, die er so in stinktiv wiedererkannte, daß er nicht einmal an sie dachte, wie jemand den Weg zu seinem eigenen Haus kennt, ohne imstande zu sein, anderen eine Wegbe schreibung zu geben. Diese Zusammenhänge waren der Grund dafür, daß Avila jetzt ein so ausgeprägtes Unbehagen ver spürte, ohne es sich recht erklären zu können. Etwas stimmte nicht. Die Dinge waren nicht in ihrer rechten Ordnung. Es war beinahe, als ob der Golfstrom sich verlagert hätte. Das aber war lächerlich, geradezu widersinnig! Der grüne Strom hatte seine Bahn seit Menschengedenken nicht geändert. Er verstand es nicht und war zutiefst besorgt. Das ganze Dorf lebte
vom Fischfang; das Überleben aller Bewohner hing davon ab. Bald jedoch vergaß er seine Sorgen, denn das Netz war schwer von Fischen einer neuen Art. »Ay, Dios!« Sie waren groß und fleischig. Er vermutete, daß sie aus einer nördlicheren Gegend zugewandert waren, wo das dicke Fleisch Schutz gegen die niedrigere Wassertemperatur bot. Der Tag erwies sich nach allen Befürchtungen doch als ein Tag des Segens. Unter ihm zog der Golfstrom dahin, ein grüner Fluß in einem blauen Ozean. MT. ROBSON, ALBERTA, KANADA: Im Laufe der Jahre waren die Flüge mit der Postma schine für Bouchard zu einer Routineangelegenheit geworden. Da er stets die gleichen Routen zu beflie gen hatte, sah er in dem Umstand, daß sie ihn über eine der grandiosesten Landschaften der Erde führ ten, schon lange keinen Anreiz mehr. Das einzige, was seine Gedanken beflügelte, war die Hoffnung, daß er diesen Flug früher als gewöhnlich hinter sich bringen würde. Die Postflüge waren zu Stunden einer enervierenden Langeweile geworden, mit Hoffen und Bangen am Anfang und am Ende, eine ermüdende, zermürbende Kombination. Früher oder später wür de sie ihm ein Magengeschwür eintragen.
Der Kontrollturm hatte ihm versichert, daß über den Bergen klares, sonniges Wetter herrsche, wolken los bis auf einige feine Zirrusschleier, die sprichwört lichen Schönwetterwolken. Ein Affe hätte die Ma schine fliegen können (Bouchard stellte sich vor, wie er eines Tages zur Arbeit käme und einen Affen in Lederjacke und Pilotenmontur als seinen Nachfolger anträfe). Der bei schlechtem Wetter unangenehmste Teil des Fluges lag jetzt vor ihm, die Überwindung des Hauptkammes an der Schulter des knapp viertau send Meter hohen Mount Robson, aber bei klarem Wetter unterschied sich auch diese Etappe im Grad ihrer Langeweile kaum von den übrigen. Im Anflug bemerkte er, daß die Zirruswolken über dem Gipfel nicht mehr so vertraut schienen. Obschon weiß und zart im tiefblauen Himmel, schienen sie wie Gewitterwolken zu wallen und zu brodeln. Er beobachtete sie mit aufkeimender Sorge und warf einen Blick auf die Wetterkarten, die man ihm vor dem Start ausgehändigt hatte. Keine lokalen Tur bulenzen waren darin verzeichnet, und die Bordin strumente bestätigten, daß alles in Ordnung war. Das beruhigte ihn ein wenig, und er hielt seinen Kurs, der ihn näher an das sonderbare Phänomen heranführte. Plötzlich sackte die Maschine durch und schien ins Bodenlose zu fallen. Er keuchte vor Schreck, dann
zog er fluchend am Steuerknüppel. Das Flugzeug reagierte kaum. Nun war es, als ob eine Riesenhand die Maschine ergriffen hätte und mit ihr spielte, sie wie ein welkes Blatt kreiseln und tanzen ließ. Der Motor heulte, aber die Nadel des Höhenmessers fiel unaufhörlich. Dann ließ die Hand ebenso plötzlich los. Die Maschine hob die Nase und gehorchte wieder der Steuerung. »Merde!« Bouchard schaltete den Sender ein. »Prince George Flugüberwachung, Prince George Flugüberwachung! Hier ist Cessna drei-acht-eins Bravo, Position südöst lich Mt. Robson, auf Südwestkurs.« Er mußte die Meldung mehrere Male wiederholen, ehe er eine Antwort bekam, und selbst dann war sie eigentümlich schwach und von atmosphärischen Stö rungen beeinträchtigt. »Cessna drei-acht-eins Bravo, hier ist Prince George. Signal schwach und unterbro chen. Ist Ihr Sender defekt?« »Negativ, Prince George. Mein Radio ist in Ord nung, aber hier oben ist der Teufel los.« Er schilderte, was geschehen war, nur um die Antwort zu bekom men, daß es keine Turbulenzen gebe und die Wetter karte keinerlei Störungen zeigte. Etwas müsse mit seiner Maschine nicht in Ordnung sein. Sie rieten ihm, zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren. »Habe mehr als die Hälfte der Strecke hinter mir,
Prince George. Gegenwärtig alles klar. Vielleicht eine vorübergehende Verklemmung der Steuerungskabel. Werde Steuerung und Instrumente prüfen.« Behutsam bediente er Seiten- und Höhenruder. Al le funktionierten einwandfrei; die Maschine reagierte, wie er es gewohnt war. Auch die Bordinstrumente ließen keinerlei Unregelmäßigkeit erkennen. Er blickte hinüber zum Mt. Robson. Die eigentüm lichen Zirrusformationen waren nach wie vor in ständiger Bewegung und Gestaltveränderung, doch sonst war nichts Außergewöhnliches wahrzunehmen. Er ließ die Maschine steigen, um den Sicherheitsab stand zu den Gebirgskämmen zu vergrößern. Als er dem Flughafen das Manöver meldete, war der Emp fang auf beiden Seiten wieder einwandfrei und deut lich. Er fühlte sich ermutigt, ließ die Maschine aber weiter steigen und beobachtete den Höhenmesser, bis er seinen üblichen Sicherheitsabstand verdoppelt hat te. Die Maschine stieg rasch und gleichmäßig, was auf die Unterstützung durch stetige Aufwinde schließen ließ, doch zeigte seine periphere Sicht, daß etwas nicht stimmte. Er blickte auf und saß einen Moment lang in sprachlosem Staunen. Die Maschine kam vom Berg nicht frei. Kaum hatte er den Steuerknüppel zu sich hergezo
gen und die Maschine in eine Linkskurve gelegt, als die Riesenhand unvermittelt wieder zupackte, das Flugzeug ergriff und fortschleuderte; der Berg kreiste wie verrückt vor seinen Augen, und er hörte ein krei schendes Pfeifen, das weder vom Flugzeug noch von ihm selbst kam. »Prince George, Prince George, es geht wieder los! Ich kann die Maschine nicht halten ...« Während er um die Kontrolle über das Flugzeug kämpfte, gab er einen fortlaufenden Kommentar der Ereignisse, als hülfe es ihm bei der Koordinierung seiner Maßnahmen, aber er konnte nicht auf Antwor ten warten. Da seine Instrumente so verrückt torkelten und kreisten wie sein Flugzeug, versuchte er die Nase der Maschine auf den Horizont auszurichten, sah jedoch zu seinem Entsetzen, daß er von einer unwiderstehli chen Kraft in den Berg gezogen wurde. Es war ein Luftloch, wie er noch nie eines erfahren hatte, ein gigantischer Wirbel. Während die Cessna von unsichtbaren Böen hin- und hergeworfen wurde, daß er dachte, die Schweißnähte müßten bersten, ließ er nichts unversucht, um wieder Höhe zu gewinnen. Er beschloß, sich von der Strömung mitnehmen zu lassen, statt gegen sie anzukämpfen, und stieß den Steuerknüppel vorwärts. Das Flugzeug ging in einen Sturzflug über, und Bouchard drückte es ein wenig
zur Seite, um den Hängegletschern und Felsabstür zen der Bergflanke auszuweichen, aber nun geriet die Maschine ins Trudeln und reagierte kaum noch auf die Steuerung, hin- und hergeworfen zwischen Strö mungen und Gegenströmungen. Etwas an diesem Erlebnis war ihm vertraut, und dann erinnerte er sich an die Wildwasserfahrten auf den ungebändigten Flüssen dieser Berge. Seine einzi ge Hoffnung lag in jenem Sekundenbruchteil, wenn diese seltsame Luftströmung vom auslaufenden Tal hang in die Waagerechte umgelenkt wurde, wenn sie ihn nicht zuvor am Boden zerschmetterte oder in ei ner sich ablösenden Turbulenz gegen den Hang fegte. Der Höhenmesser zeigte genug Manövrierraum, und er nutzte die wenigen Sekunden, um der Boden station seine Absicht mitzuteilen. Zu spät erinnerte er sich an die fehlerhafte Anzeige des Instruments. Das letzte, was er sah, war der ihm entgegenrasen de felsige Grund mit den schwarzgrünen Speerspit zen der Fichten. Der Empfang brach plötzlich ab. Nur das leere Zi schen blieb in Marks Empfänger, hallte wider wie ein entfernter Regenguß im leeren Büro. Zuerst hätte er beinahe weitergedreht. Es schien ein typischer Funkverkehr zwischen einem Flugzeug und der Bodenstation zu sein, und erst nachdem er
eine Weile zugehört hatte, wurde ihm klar, daß ab norme atmosphärische Bedingungen ihm die Funk sprüche eines Piloten über Alberta, Kanada, zutru gen. Aus der Neugierde wurde rasch Entsetzen, als er hilflos den letzten Durchsagen des mit seiner Ma schine abstürzenden Piloten lauschte. Er kannte den Grund der Turbulenz. Es war eine sogenannte Gebirgswelle, eine Manifestation der at mosphärischen Höhenströmung, die sich vorüberge hend wie ein ungeheurer Wasserfall über eine Berg seite ergoß. Er hatte beim Wetterdienst der Luftwaffe von dem Phänomen gehört und wußte von Piloten, die es getötet hatte. Die launenhafte Strömung er zeugte abnorme Luftdruckverhältnisse, störte In strumente und den Funkverkehr und sog Flugzeuge, die in ihren Bereich gerieten, in tödliche Wirbel. Aber das in jedem Fall seltene Phänomen konnte nur in der Bahn der atmosphärischen Höhenströmung auf treten. Oben in Kanada hatte es nichts verloren. Er sehnte sich nach der ermutigenden Bestätigung, daß es draußen noch immer normales Leben gab, drehte den Skalenknopf weiter und hatte den Raum unvermittelt voll rauh lärmender Besucher. »Brecher zwei, Brecher zwei.« »Ja, Brecher, ich höre.« »Schönen Dank, Achtzehnrad. Dies ist ein gewisser T-Bone Tyson. Was ist dein Titel?«
»Mobile John, T-Bone.« »Zehn vier, zehn vier, alter Kumpel. Das gefällt mir. Bullenschleuder gesehen?« »Noch und noch, kann ich dir sagen. An der Kreu zung Red Hook ist dicke Luft, alter Kumpel ...« Mark drehte weiter durch die Frequenzen des Funksprechverkehrs: Fernfahrer informierten einan der über Verkehrskontrollen und Radarfallen, Ju gendliche alberten oder protzten im Schutz der An onymität mit obszönen Zoten, Einsame suchten Ver bindung mit der Außenwelt, selbsternannte Komödi anten und Sänger produzierten sich. Nachdem er für einige Minuten den wenig ergiebi gen Informationen des Polizeifunks gelauscht hatte, verließ er das laute Durcheinander der lokalen Fre quenzen und rettete sich zu den weltweiten Verbin dungen der höflichen und zuvorkommenden Ama teurfunker. Eine vertraute Stimme ließ ihn aufmer ken. Diesmal klang sie bitter. »Allen, die nicht interessiert sind oder die glauben, es gehe sie nichts an, möchte ich beschreiben, was ei ne Dürre bedeutet. Die Erde wird rissig und springt auf, wird vom Wind als Staub davongetragen. Und überall verendet das Vieh, sterben Schafe und Ziegen. Sie liegen in der Sonne, die Körper geschwärzt, Zun gen und Bäuche angeschwollen, bedeckt mit Fliegen, die sie aus Schwäche nicht mehr abwehren können.
Das Fleisch hängt schlaff von den Knochen, die Haut platzt auf und Eiter rinnt aus den aufgesprungenen Stellen. Das Land ist eben, und so bietet sich überall das gleiche Bild, bis hinaus zum Horizont. Und was heute mit dem Vieh geschieht, das wird morgen mit den Kindern geschehen. Es gibt bereits Magendarmka tarrh, Lungenentzündung, Cholera und Dysenterie. Ich brauche Medikamente, Lebensmittel, Wasser. Aber vor allem brauche ich Sie dort draußen in der Welt, um die Nachricht zu verbreiten. Ich bitte um Ih re Mithilfe. TL8XNT in Mali, Westafrika. Ich melde mich wieder morgen zur gewohnten Zeit. Ende.« Das Signal verschwand. Mark saß eine lange Weile wie benommen und lauschte dem leeren Zischen. Schließlich wandte er sich vom Empfänger ab, nahm den Hörer vom Tele fon und fing an, die Nummer der New York Times zu wählen. »Ach, ich würde mich nur lächerlich machen. Die müssen längst wissen, was los ist.« Und er legte auf. Nach kurzer Überlegung nahm er den Hörer wie der ab und wählte. Während er wartete, fühlte er das Blut in den Schläfen pochen. »Hallo?« »Spreche ich mit Dannys Mutter?« Am anderen Ende blieb es eine Weile still. »Wer
sind Sie?« fragte sie argwöhnisch, und dann besorgt: »Ist etwas passiert? Ist Danny etwas zugestoßen?« »Danny ist in der Bibliothek. Ich meine, in der Bü cherei. Sie ist kaum groß genug, um die Bezeichnung Bibliothek zu rechtfertigen.« »Entschuldigen Sie, wer ist dort?« Mark seufzte. Natürlich konnte sie nicht wissen, wovon er redete. »Tut mir leid. Ich heiße Mark Haney. Ich bin Do zent an der ...« »Oh.« Sie atmete erleichtert auf. »Er redet viel von Ihnen.« »Ich ... ah ... das kann ich mir denken. Hören Sie, Mrs. Magnusson, ich möchte mit Ihnen über Danny sprechen.« »Ja?« Er hörte das Mißtrauen heraus. »Ah ... sehen Sie, es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen. Ich bin Dannys Freund geworden, er vertraut mir, und ich weiß, wie er lebt ...« »Und?« Ihre offensichtliche Ungeduld provozierte ihn. Er fühlte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg, und platzte mit dem Rest heraus: »Offen gesagt, Mrs. Magnusson, ich habe den Eindruck, daß Sie sich nicht genug um Danny kümmern.« »Ich sehe.« Sie schwieg einen Moment lang. »Nicht,
daß es Sie etwas anginge, aber ich habe auch nicht die Absicht, das zu ändern, Mr. Haney.« »Was ... was soll das heißen?« »Genau was ich sagte. Wenn er nackt herumlaufen, Heroin fixen, Banken berauben oder in Bibliotheken herumhängen will, ist das seine Sache.« Mark war verblüfft. »Sie sind seine Mutter, und soweit ich weiß, der einzige Elternteil, der ihm ge blieben ist ...« »Ja, und als sein einziger Elternteil habe ich das Recht, ihn genau so aufzuziehen, wie ich es für richtig halte. Nun, ich denke, Mr. Haney, wenn Sie alles ge sagt haben, was Sie zu sagen haben ...« »Nein, ich bin noch lange nicht fertig. Was Sie mir sagen, bestätigt nur meine Befürchtungen.« »Es kümmert mich wirklich nicht, was Sie befürch ten ...« »Ich denke, es sollte Sie kümmern. Ich habe ernst hafte Zweifel an Ihrer Eignung als Mutter ...« »Eignung! Nun, wer zum Teufel ...« »Ich kann den Fall beim Jugendamt melden.« »Was? Sie ...« »Ich kann den Jugendpfleger kommen und Ihrer Wohnung einen Besuch abstatten lassen, dann kann er seine eigenen Schlußfolgerungen ziehen.« »Hören Sie, ich bin weder Ihnen noch irgendwel chen Wohlfahrtspersonen oder sonst wem verant
wortlich. Ich erziehe mein Kind, wie ich es für richtig halte ...« »Fein, dann erzählen Sie denen vom Jugendamt, daß Sie sich aus Prinzip nicht um Ihren Jungen küm mern. Sie werden sehen, was ›Wohlfahrtspersonen‹ tun können.« »Wir leben in einem freien Land, Mr. Haney.« »Ich werde mit Ihnen nicht über Gesetze diskutie ren, Mrs. Magnusson. Mit Danny steht nicht nur ein Menschenleben auf dem Spiel, sondern eine kostbare Intelligenz. Sie können eifern und toben, soviel Sie wollen, aber das Jugendamt kann Sie vor Gericht bringen, und dafür sorgen, daß Danny ein ordentli ches Zuhause bekommt.« »Er hat ein ordentliches Zuhause! Er ... das würden Sie nicht tun.« »Ich werde es tun, Mrs. Magnusson, darauf können Sie sich verlassen. Ich weiß, was hier auf dem Spiel steht, selbst wenn Sie es nicht zu wissen scheinen.« »Auf dem Spiel steht ... ich ... Was für ein Land ist das? Weshalb sind Sie alle hinter mir her, was wollen Sie alle von mir? Das ist doch eine Verschwörung, nicht wahr? Ist es nicht so?« Er antwortete nicht, und als sie weitersprach, ge schah es in einem ganz anderen Ton, unnatürlich ru hig, beinahe berechnend. »Mr. Haney, wo ist Danny?« »Ich sagte Ihnen, er ist in der Bücherei.«
»Sie ... Sie haben noch nichts unternommen?« »Ich wollte erst mit Ihnen sprechen, Mrs. Magnusson. Offen gesagt, ich bin nicht allzu glücklich mit dem, was ich höre.« Ihre Panik begann zurückzukehren. »Wir sollten reden ... Wir müssen noch einmal miteinander reden ... Sie haben kein Recht ...« Sie hörte sich an, als wäre sie wieder im Begriff, in Wut zu geraten, aber sie fing sich. »Wir sollten we nigstens darüber reden ... Sie werden nichts unter nehmen, bis wir geredet haben, Mr. Haney ...« »Gut.« »Könnten Sie hierherkommen?« Mark hatte eine plötzliche Vision von sich selbst, allein mit einer hysterischen Paranoikerin, die diese riesige Peitsche zur Hand hatte, und ohne Zeugen. Er überlegte fieberhaft. Er brauchte ein öffentliches Lokal, wo die Anwesenheit anderer dämpfend wirkte und wo es für den Fall, daß sie einen Anfall bekäme, Hilfe geben würde. »Nein, es wäre mir lieber, wenn wir uns in der Universitätsmensa treffen könnten.« »Das ... das ist ein seltsamer Ort, um ein Gespräch zu führen.« »Wirklich nicht, Mrs. Magnusson. Glauben Sie mir, man sitzt dort recht angenehm.«
Neunzehntausend Kilometer höher schlossen sich elektrische Kontakte, und ein Wechselstrom wurde erzeugt. Spezielle Anordnungen von Antennen und Verstärkern richteten und verstärkten das Signal und strahlten es erdwärts aus. In ihm waren Milliarden von Informationsbits enthalten, Beobachtungen einer so immensen Wettermaschine, daß sie an einem ein zigen Tag sechzigtausend Gewitter bewältigen konn te, zugleich aber so empfindlich war, daß vergleichs weise geringfügige Eingriffe wie das Abbrennen ei ner Hecke in Australien, das Ausspülen von Ölrück ständen durch einen Tanker im Atlantik oder die Ro dung einer Trasse für den Straßenbau in einem Land Europas Veränderungen hervorriefen, deren Wir kungen sich allmählich auf der molekularen Ebene ausbreiteten, um schließlich das Wetter in Amerika oder Sibirien zu beeinflussen. Als der Satellit auf seiner Bahn von Pol zu Pol südwärts zog, ließ er New York unter sich zurück und überflog die Hauptstadt des Landes. Das Radiosignal wurde von einer komplexen An ordnung von Stangen und Stäben aufgefangen, die sorgfältig auf den Empfang dieses und keines ande ren Signals eingestellt war. In millionenfachen Schwingungen pro Sekunde erzeugten die Antennen ihr eigenes, korrespondierendes Signal, und dies wurde festgehalten, umgeformt und verstärkt und
dann von anderen Antennen über die Chesapeake Bai zu einem Empfänger gesendet, der es schließlich an die größte Computeranlage der Welt weitergab. Alle Mechanismen arbeiteten gehorsam und fehler los. Niemand sonst konnte dieses Datenmaterial auswerten oder ihm mehr Sinn abgewinnen als die Vögel, die unbeeinflußt durch den Sendestrahl flo gen. Das Signal des Satelliten berichtete von den wach senden atmosphärischen Anomalien des Planeten, der Zunahme an Staub, Kohlendioxid, Wärme, von den Verlagerungen der atmosphärischen Höhenströmun gen und des Golfstroms, dem Rückgang der Gletscher in den Hochgebirgen der nördlichen Halbkugel, vom Vorrücken der Wüste in der Sahelzone. Es brachte Nachricht von astronomischen Einflüssen, die auf die Umlaufbahn des Satelliten einwirkten, aber auch von kosmischen Strahlen, alles mit einer Klarheit und Voll ständigkeit, die erdgebundenen Beobachtern verwehrt blieb. Dieses unablässig gesammelte und empfangene Material wurde mit den Daten integriert, die bereits in die Speichereinheiten des Computers Eingang gefun den hatten. So füllten sie Lücken aus, interpretierten Prozesse neu, präzisierten Definitionen. Ausgerüstet mit dem neugewonnenen Verständnis, rekonstruierten die Wissenschaftler abermals das Wettergeschehen in allen Teilen der Erde an einem
nicht lang zurückliegenden Wintertag, und setzten ihr Erdmodell in Bewegung. Als die grünen Fronten linien über die elektronischen Wetterkarten wander ten, stimmten sie vollkommen mit den tatsächlichen Wetterkarten jener Tage überein. Innerhalb von Mi nuten wiederholte sich im Modell das Wettergesche hen von Tagen, der Januar wurde zum Februar, die ser zum März. »Es hält!« Jahreszeiten wechselten, Stürme kamen und gin gen, alle zur rechten Zeit und am rechten Ort, und mit jedem Monat, der die Genauigkeit der Compu terprojektion bestätigte, brach erneuter Jubel aus. Endlich holte das Modell die Gegenwart ein und zeigte das Wetter, das draußen tatsächlich herrschte. »Verdammt will ich sein, heiß und trocken wie be stellt!« Man entkorkte ein halbes Dutzend Sektfla schen und stieß auf den Erfolg an. »Aufgepaßt, Kinder, jetzt kommt der historische Augenblick!« Das Computermodell überschritt die Grenze in die Zukunft, ins Unbekannte. »He, da kommt eine Veränderung«, sagte jemand, als das Computermodell das Ende der Hitzewelle prophezeite. »Wird auch Zeit!« Auf allen Gesichtern war ein Lä cheln.
Das Lächeln verging ihnen, als die angezeigten Werte des Wettergeschehens einen unerwarteten Ver lauf nahmen, als der Sommer in den Herbst und dann in den Winter überging. Sie konnten nichts mehr tun als sprachlos auf die elektronischen Wetterkarten starren, bis jemand die bleierne Stille mit einem un freiwilligen Ausruf unterbrach. »Mein Gott!« In der folgenden Zeit sollten sie den Prozeß selbst verständlich überprüfen, Feldstudien vornehmen und direkt an Ort und Stelle Messungen durchfüh ren. Die Verifikation war hier besonders wichtig, aber niemand zweifelte wirklich an den schreckenerre genden Implikationen der veränderlichen grünen Li nien. Wetterinformationen waren seit langem die inter nationalste aller Sprachen gewesen, die zugänglichste und offenste Regierungsinformation. Noch auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges tauschten die staatli chen Wetterämter der Russen, Amerikaner, Chinesen, Inder und Franzosen unbeeinflußt von aller Politik ihre Meßwerte und Beobachtungen aus. Keine andere Information war so unpolitisch und zugleich so le benswichtig. Aber dies war eine andere Sache. Es war zu wichtig, um die Entscheidung darüber den beteiligten Wissenschaftlern zu überlassen, sag
ten einige, und andere meinten, es sei unverantwort lich, den Politikern die Entscheidung in die Hände zu geben. Alle aber waren sich darin einig, daß die neu gewonnene Erkenntnis zu wichtig sei, um geheimgehalten zu werden, und viel zu schrecklich, um sie bekanntzumachen. Doch wußten alle Beteiligten, daß die Entscheidung ihnen bald aus den Händen genommen würde. Wettervorhersagen als solche würden natürlich auch weiterhin gemacht. Der Satellit würde seine Botschaften allen mitteilen, die sie empfangen und entschlüsseln konnten, wenn auch in verzerrter oder unvollständiger Form. Aber die auf einer unendlich genauen Auswertung aller denkbaren Faktoren beru hende Projektion der Daten, die langfristige Wetter vorhersage, mußte geheim bleiben, bis über geeignete Aktionspläne entschieden werden konnte. Nach und nach mußte die Wahrheit auch für den Rest der Welt von selbst evident werden, aber zu die sem Zeitpunkt würde ihr Schicksal bereits besiegelt sein. Die Mensa war laut und voll. Sie war klimatisiert, doch hatten die Konstrukteure der Klimaanlage bei ihren Berechnungen der Kühlenergie offenbar die körpereigene Wärmeentwicklung der Menschenmen ge unbeachtet gelassen. Hätte man Fenster eingebaut,
die sich öffnen ließen, so wäre es bei weitem kühler gewesen. Aber natürlich waren die Fenster versiegelt und nicht zu öffnen. Mark wog die Möglichkeiten seines Auftretens ab, von verständnisvoll bis streng, bittend bis fordernd. Die angemessene Verhaltensweise mußte sich natür lich nach der Art von der Frau richten, mit der er zu tun hatte. Er hielt nach einer großen, grobknochigen Person mit harten Gesichtszügen Ausschau. Wäre nicht ihr seltsames Benehmen gewesen, so hätte er die schmäch tige, blasse Frau in der Schlange der vor der Getränke ausgabe Wartenden überhaupt nicht bemerkt. Sie wartete einen Augenblick zu lange, bevor sie nachrückte, um die entstandene Lücke zu ihrem Vor dermann zu schließen. Der Student hinter ihr stieß sie ein wenig ungeduldig an, und statt nachzurücken, überraschte sie ihn, indem sie bereitwillig zur Seite trat und ihn vorbeiließ. Mark kam der Gedanke, daß eine Schlange von Wartenden mit ihrem feinen Gespür, wann man vor wärtsdrängen und wann man stehenbleiben mußte, die Gesellschaft symbolisiere. Die junge Frau schien aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort zu kommen, fand sich unversehens hier hereingestoßen und war unfähig, sich in der fremden Umgebung zu rechtzufinden.
Der Vorgang wiederholte sich, und in dem Maße, wie die Leute hinter ihr aggressiver vordrängten, gab sie um so bereitwilliger nach, zunehmend verwirrt. Es hatte den Anschein, als käme sie niemals vom Fleck und müßte verhungern. Endlich ging Mark auf sie zu und nahm sie behut sam am Arm. »Vielleicht kann ich helfen. Was möchten Sie?« Sie wandte sich dankbar zu ihm um. »Einfach was Kaltes. Irgend etwas.« Er blieb bei ihr, bis sie an die Reihe kam und etwas bestellte. Er nutzte die Zeit, um sie aufmerksam zu mustern, und als sie das Glas mit dem Getränk in der Hand hielt, sagte er: »Sie können nicht mal in einer Schlange anstehen, ohne andere vorbeizulassen. Ich sehe nicht, wie Sie erwarteten, sie könnten Mark Ha ney herumschubsen.« Um ein Haar hätte sie das Glas fallen lassen. Er nahm wieder ihren Arm und sagte: »Schon gut. Set zen wir uns.« »Sie sind ...« »Suchen wir uns erst mal einen Platz. Bei der Kli maanlage, wenn Sie wollen.« Sie nickte und folgte ihm zu einem kleinen Tisch, wo sie sich direkt in die kalte Zugluft setzte. Keiner von ihnen sagte etwas, bis sie ihr Glas leer getrunken hatte und seufzte. »Mein Gott«, sagte sie
kopfschüttelnd. »Es tut mir schrecklich leid ... Ich hät te gern einen guten Eindruck gemacht ... Ich ... Ich fürchte, es ist mir nicht gelungen.« »Glauben Sie mir, er ist besser als ich erwartet hat te.« Darauf folgte eine lange, unbehagliche Pause, bis Mark schließlich entschied, daß es an ihm sei, zur Sa che zu kommen. »Ich möchte von Anfang an klarstel len, daß ich nur um Dannys Wohl besorgt bin.« »Nun, was meinen Sie, ist meine Sorge?« fuhr sie auf. »Das Dumme bei der Sache ist, daß ich das nicht weiß. Sehen Sie, Danny ist ein feiner Junge, mit einem brillanten Verstand, aber er ist zart und sensibel. Er könnte jederzeit auseinanderfliegen.« Sie nickte. »Ich weiß. Lieber Gott, und ob ich es weiß!« Er blickte sie scharf an. »Ich weiß nicht, wie sich das vereinbaren soll. Am Telefon waren Sie hyste risch, Sie gaben zu, daß Sie ihn vernachlässigen ...« »Nein, nein. Sie verstehen nicht ...« »Sagten Sie nicht, es sei Ihnen gleich, was aus ihm wird?« Sie starrte ihn mit offenem Mund an. »Psychologie fällt nicht in mein Fach, Danny be nimmt sich wie ein Kind, das geschlagen worden ist. Und in Ihrer Wohnung hängt diese Rohlederpeitsche,
zusammen mit all dem anderen unheimlichen Zeug. Aber Sie sehen nicht kräftig genug aus, um ein Rührei zu schlagen.« »Sie meinen ... Sie denken, ich ...?« »Was soll ich denken?« Sie schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte. »Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort würde es komisch sein«, murmelte sie. Sie ließ die Hände sinken und blickte auf. »Die Menschen, mit denen ich lebte, schlugen ein Kind nie, und wenn sie es anrührten, dann nur in liebevoller Zuneigung. Sie disziplinieren ihre Kinder nicht. Sie kommandieren sie nicht herum. Sie sagen ihnen nicht einmal, wenn es Zeit ist zu essen oder zu Bett zu gehen. Sie glauben, Kinder seien von Natur aus gut und weise. Sie schenken ihnen Liebe, lassen sie aber ihren eigenen Weg finden. Und diese Kinder wachsen zu den schönsten und freundlichsten Menschen auf Gottes Erde heran.« »Eskimos?« Sie nickte. »Was immer ein Kind tut, tut es aus ei genem Antrieb, und es wird die richtige Wahl sein.« »Auch wenn es Heroin schießt oder Banken be raubt?« »Keins von ihnen hat das bisher getan.« »Warum ist Danny dann so geworden, wie er ist?« Sie zuckte traurig die Achseln. »Ich war nicht bei ihm. Wenn Sie schon die schwerste Sünde aufdecken
müssen, die ich beging, dann war es die. Ich war nicht seine Mutter.« »Wer war es dann?« »Letztes Jahr das Waisenhaus. Ich weiß nicht, was dort vorging. Er spricht nicht darüber, und ich will ihn nicht drängen.« Mark wartete. Es war ein zögerndes, langsames Abwinden, doch sobald sie angefangen hatte, schien sie nur zu gern bereit, ihre Bürde zu teilen. Sie war Studentin der Anthropologie gewesen, verliebt in die Eskimokultur und ihren Professor. Gemeinsam un ternahmen sie eine Studienreise nach Grönland, wo sie Feldforschung betreiben wollten. Bald darauf hei rateten sie und sie brachte Danny zur Welt, doch hat te er zu der Zeit bereits ein Verhältnis mit einer ande ren Studentin angefangen. »Anthropologie ist sexy«, bemerkte Mark. »Er wußte viel über die Eskimos, aber er lernte es niemals wirklich. Bei ihm war alles immer noch ein Drängen und Hasten und Jagen. Er konnte vom Wettbewerbsverhalten unserer Gesellschaft nicht los kommen. Ehe ich wußte, wie mir geschah, hatte er die Veröffentlichung, an der wir gearbeitet hatten, unter seinem eigenen Namen herausgebracht, hatte er seine neue Frau und Danny dazu. Ich war zerstört, ich verlor einfach den Kopf und rannte. Ich rannte fort, zurück nach Grönland. Die
Eskimos waren mein Trost. Bei ihnen lernte ich von neuem, was wahrhaft wichtig ist, und ich fand eine Art von Glück und ...« »Das würde ich trotzdem Weglaufen nennen.« Sie zuckte müde die Achseln. »Sie sind nicht der erste.« »Wer, Danny?« Sie nickte. »Von Grönland aus kann man keine Be suchsrechte wahrnehmen. Und wer sollte sich mit ihm abgeben, geschweige denn ihn verstehen? Sein Vater war bis über beide Ohren mit seiner Karriere beschäftigt, seine Stiefmutter war ein Flittchen, und ich hatte ihn verlassen.« Es schien Mark, daß Danny sich der Wissenschaft zugewandt hatte, um dort Geborgenheit zu finden, und er fragte sich, ob er dem Jungen sagen sollte, wieviel sie verlangte und wie wenig sie dafür gab. »Und was dann?« »Sein Vater starb.« »Wie?« »Am Vorwärtskommen ... Nein, natürlich nicht«, schränkte sie ein. »An einem Herzinfarkt. Und seine Witwe, die ohnedies anderes im Kopf hatte, wußte mit einem Wunderkind nichts anzufangen, also such te man mich. Es dauerte vier Monate, bis man mich gefunden und verständigt hatte, weitere sechs, bis ich zurückgekehrt war.«
»Na, da haben Sie sich aber Zeit gelassen.« Sie spannte sich. »Ich war in einer der entlegensten Gegenden Grönlands. Als sie mich endlich gefunden hatten, hatte das Tauwetter eingesetzt, und wir konn ten das Eis nicht überqueren. Hundeschlitten sind keine Düsenmaschinen. Aber wenn Sie es jetzt nicht verstanden, dann können Sie sich um so besser vor stellen, was Danny dachte, als er in diesem Waisen haus gefangensaß. Es kam alles zusammen, Kultur schock, die rechtlichen Komplikationen, der Versuch, Arbeit zu finden und Danny eine Mutter zu sein, und dann Ihr Anruf.« »Es tut mir leid. Ich konnte nicht wissen ... wie sich alles das verhielt. Ich war nur um Danny besorgt. Der Himmel weiß, was aus ihm werden könnte, wenn es richtig mit ihm geht.« Sie seufzte. »Ich wünschte nur, er könnte ein Kind sein.« TUSCON, ARIZONA: Ruth Cooper war mit der dritten Klasse zu einem Ausflug in die Wüste gezogen. Eines der Kinder zeig te auf ein großes, wieselartiges Tier, das, von dem Lärm der Kinder aufgescheucht, in einiger Entfer nung davonsauste. »Oh, das ist ein ... äh ... Ich weiß es nicht. Wenn wir zurückkommen, werde ich im Buch nachschlagen.«
Die Tierenzyklopädie lieferte die Antwort: ›Baum marder, Verbreitungsgebiet Alaska, Kanada und die nördlichen Vereinigten Staaten.‹ Neugierig gewor den, rief Mrs. Cooper im Naturkundemuseum an. Baummarder hatten in der Wüste nichts verloren. Das Tier, so sagte man ihr, müsse aus einem Zoo oder dem Gehege eines Privatmannes entwichen sein. Der Kurator des Museums fand die Meldung inter essant. Er wußte nichts von vermißten Tieren, sagte aber, daß in letzter Zeit mehrfach Tiere aus nördli chen Breiten in der Wüste beobachtet worden seien. Einen Grund für dieses Auftreten konnte er nicht an geben. »Hören Sie, wer immer auf Empfang geschaltet haben mag: Ich habe keine Zeit, meine Funkkontakte durch Karten zu bestätigen. Ich komme eben von einem sterbenden Kind. Sein Bauch war geschwollen, aber sonst sah man überall die Knochen durch die Haut, es weinte nicht, das tun diese Leute nicht, aber es muß große Schmerzen erlitten haben. Es brauchte Plasma, es brauchte Antibiotika, es brauchte Lebensmittel und Wasser. Allein in diesem Lager gibt es tausend weite re, die wie dieses Kind sterben werden, und die Re gierung wacht nicht auf. Es ist ihr einerlei, wie es den meisten von Ihnen dort draußen einerlei ist. Oder sie versucht nur einen der gröbsten Fehler in der Ge
schichte zu vertuschen. Sie wird hunderttausend Menschen umkommen lassen, ehe sie sich bereitfin den wird, ihre Versäumnisse und Fehleinschätzungen zuzugeben. Darum muß die Weltöffentlichkeit mobi lisiert werden. Wer nichts unternimmt, macht sich mitschuldig. Wenn nichts geschieht, werden wir hier hunderttausend Tote haben. Glauben Sie mir, ich übertreibe nicht.« Eine Pause trat ein und als er weitersprach, klang seine Stimme müde und stumpf. »Hier spricht TL8XNT, Mali, Westafrika. Werde mich zur gewohn ten Zeit wieder melden. Ende.« Das Signal ver schwand und ließ nur das vertraute Zischen zurück. Mark blickte zu Danny, der neben ihm saß und die Meldung mitgehört hatte, aber keine Reaktion zeigte. Vielleicht konnte er sich unter so einer abstrakten Zahl wie hunderttausend Toten nichts vorstellen. Mark wandte den Kopf und schaute aus dem Fen ster. Auf den Gehsteigen spielten Kinder, eine Grup pe umdrängte den aufgedrehten Hydranten, der ver schwenderisch sein Wasser verspritzte, andere lutsch ten Eis vom Stand an der Ecke. Schließlich nahm Mark den Hörer ab und rief die New York Times an. Nachdem er mehrmals weiterver bunden worden war und einen Rückruf hatte über sich ergehen lassen, der bestätigen sollte, daß er tat sächlich ein Dozent an der Universität war, sprach
Mark mit einem Redakteur der Abteilung Auslands nachrichten. »Die Meldungen, die uns aus Mali erreichten, sind höchst widersprüchlich«, sagte der Mann. »Es ist ein unstabiles Land. Es gab eine Revolution, und die neue Regierung hat die Dinge noch nicht im Griff. Die Kommunikation ist schon immer schwierig und langsam gewesen, und zur Zeit ist sie beinahe nicht existent. Was Dürre oder Massensterben betrifft, so dementieren die Regierungsstellen alle entsprechen den Nachrichten. Sie sagen, die Dürreperiode sei vorüber, man habe die Situation in der Hand, und in den Städten gehe das Leben wie gewohnt weiter. Auch auf dem Lande könne man nicht von verbreite ter Hungersnot sprechen.« »Nun, wenn Sie über Dürre sprechen, dann berührt das meinen Fachbereich, und ich sage, sie ist nicht vorüber.« »Ja, gut, wir alle wissen, wie Regierungen Zustände vertuschen, aber betrachten Sie es so: Wenn jemand zu uns in die Redaktion käme und uns erzählte, er habe gesehen, was Sie mir gerade erzählten, dann würden wir denken, daß diese Geschichte veröffentlicht wer den sollte, aber wir würden auf jeden Fall eine Bestäti gung verlangen, einen Wahrheitsnachweis.« »Aber der Mann ist nicht in Ihrer Redaktion, son dern in Mali. Er ist ein Augenzeuge.«
»Nicht soweit es uns betrifft. Wir können es uns nicht leisten, unbestätigte Meldungen abzudrucken, und er ist eine körperlose Stimme aus dem Äther. Wir können nicht herausbringen, wer er ist.« »Ich kann Ihnen die Frequenz geben. Sprechen Sie selbst mit ihm.« »Das nützt nichts. Sehen Sie, vorhin rief ich die Uni versität an, um mich zu vergewissern, daß Sie der Mann sind, der zu sein Sie behaupteten. Wen soll ich dort anrufen? Der Wahrheitsnachweis ist alles, und zur Zeit weisen die uns vorliegenden Meldungen in die andere Richtung. Sehen Sie, Mr. Haney, der Mann könnte ein übergeschnappter Kauz sein, der unter Wahnvorstellungen leidet. Dabei spielt es keine Rolle, ob er von der nächsten öffentlichen Telefonzelle anruft, oder über Amateurfunk vom andern Ende der Welt.« »Also werden Sie nichts darüber bringen?« »Wir werden die Augen offenhalten und uns um hören, bis weitere Beweise von dort vorliegen, aber bis dahin ...« »Ja ... ich habe Sie verstanden.« Mark war drauf und dran, den Hörer auf die Gabel zu werfen, als der Redakteur am anderen Ende weitersprach. »Sie sind doch Meteorologe, nicht wahr?« »Und?« »Und Sie sagen, mit dem Wetter dort unten sei et was nicht normal?«
»Sie meinen, ob es bedeutsame Klimaveränderun gen gibt?« »Genau das meine ich. Was hat das zu bedeuten? Seit wann gibt es dort eine Dürreperiode, wird sie andauern, womit sonst ist zu rechnen? Wenn Sie uns darüber etwas brächten, und die Fakultät hinter sich haben, könnten wir etwas Größeres daraus machen.« »Wäre das nicht Stoff für einen Wissenschaftsre dakteur?« Es gab eine Pause. »Ja, aber ...« Mark lächelte. »Aber dann würden wir nichts ha ben, nicht?« »Und wir würden gern was haben, nicht?« »Ich verstehe Sie, aber es gibt ein paar Probleme. Die Fakultät zum Beispiel.« »Sie können die Leute nicht hinter sich bringen?« »Doch, zur Hochzeit des Papstes. Wenn man als se riöser Wissenschaftler anerkannt werden und vor wärtskommen will, muß man die Regeln beachten. Für fachwissenschaftliche Beiträge gibt es das Journal für Meteorologie. Zuerst schickt man die Rohfassung des Artikels ein, dann wird sie von der Redaktion verschiedenen Experten vorgelegt. Diese begutachten ihn, man argumentiert hin und her, schreibt den Ar tikel um und schickt ihn wieder ein. Wenn er alles das überlebt, wird er veröffentlicht und dann stürzen sich alle Meteorologen des In- und Auslandes auf die
darin vertretene Theorie. Überlebt der Artikel alles das einigermaßen unbeschadet, dann gibt die Fach zeitschrift – nicht der Autor, sondern die Redaktion – ihn an die Zeitungen.« »Wenn jede Geschichte diesen Weg nähme, wür den wir heute noch über den Krieg von 1812 berich ten.« »Ja, nun, das ist die Art und Weise, wie es gemacht wird.« »Sie können alles das umgehen, Mr. Haney. Wir haben einen breiten Rücken und können die Prügel ertragen.« »Aber ich nicht. Ich muß mich an die Spielregeln halten.« »Gut. Aber vergessen Sie nicht, Sie haben eine Plattform, wenn Sie eine wollen.« Sie tauschten Abschiedsworte aus, und Mark legte auf. Er wandte sich um und sah, daß Danny ihn ehr fürchtig bestaunte. »Sie hätten in die Zeitung kommen können.« »Ja, in die Zeitung und aus meiner Karriere.« »Warum?« »Weil man es nicht so macht. Weil die Wahrheit das Ergebnis eines Mahlvorgangs ist. Und weil der Zeit braucht.« »Viel Zeit?« »Die meisten von uns schaffen es nie, sich einen
Namen zu machen. Genauer gesagt, die meisten von uns unternehmen erst gar nicht den Versuch.« »Sie versuchen es aber, nicht wahr?« Mark blickte zu seiner behelfsmäßigen Ausrüstung und dachte über die Mühe nach, die es kosten würde, Daten auszuwerten, an denen Computer sich heißge laufen hatten. »Ich denke. Vielleicht ist es nicht der Mühe wert.« Eine Stille trat ein. Schließlich sagte Danny: »Wer den Leute sterben?« Mark schaute ihn an. »Wir sollten uns erkundigen, meinst du nicht?« Er begann in der Bibliothek, wo er neue und ältere Zeitungen aus allen Teilen des Landes heraussuchte und Tabellen der Wettermeldungen anlegte. Bald dehnte er seine Untersuchung auf Städte der ganzen Welt aus und ging noch weiter in die Vergangenheit zurück. Er hielt Ausschau nach Meldungen über ab norme Wetterverhältnisse und Störungen. Er durch suchte Jahrbücher, persönliche Aufzeichnungen und Berichte aus anderen Sachgebieten, die vom Wetter beeinflußt wurden, von der Landwirtschaft bis zur Zoologie. »Wonach suchen Sie?« fragte Danny. »Min und Max und Norm.« Danny blickte verdutzt, dann hellte sich seine Mie ne auf.
»Minimum, Maximum und Normal. Temperatur und Niederschläge, wette ich.« Mark lächelte zustimmend. »Ich suche nach Mu stern, und dann nach Abweichungen von ihnen. Vor ausgesetzt, es gibt im Wettergeschehen überhaupt so etwas wie Muster.« »Darf ich mitsuchen?« Und Danny machte sich mit kindlichem Eifer, aber auch mit einer verblüffend rei fen Aufmerksamkeit über alte Aufzeichnungen und Zeitungen her. Bald waren sie in Zahlen untergegangen, suchten in größeren Datenkomplexen nach dem Schlüssel. Je mehr Information sich ansammelte, desto mehr wur de Mark klar, daß er eine weit breitere Perspektive brauchte, als geschriebene Geschichte sie liefern konnte. Hideo Kashihara arbeitete über die irakischen Bohr kerne, als Mark hereinkam. In seiner Sorge, jemand könnte ausspionieren, womit er sich beschäftigte, und ihm damit unlautere Konkurrenz machen, deckte der Geologe seine Arbeit eilig zu und versuchte sich gleichgültig zu geben. Nach der einleitenden Unter haltung über Belanglosigkeiten sprachen die beiden Wissenschaftler über den beklagenswerten Zustand der Stadt im allgemeinen und der Universität im be sonderen.
»Verraten Ihre geologischen Aufzeichnungen Ih nen etwas über das Klima?« fragte Mark. »Doch, das tun sie durchaus. Ja.« Kashihara rückte ein wenig unbehaglich auf seinem Stuhl. »Was möch ten Sie wissen?« »Ich suche nach einem Grundmuster, nach be stimmten Elementen, die gleichzeitig zusammen kommen.« »So? Und die wären?« »Ungewöhnliche Wärme, Zunahme an atmosphä rischem Staub, Zunahme oder Rückgang der Nieder schläge.« Kashihara wiegte den Kopf. »Ich ... könnte sein, daß ich da was habe. Es kommt mir irgendwie be kannt vor.« »Können Sie nicht ein wenig präziser werden?« Es entstand ein peinliches Schweigen. Endlich, als es sich schon zu lange hingezogen hatte, zuckte Kashihara die Achseln und sagte: »Was ist dabei für mich drin?« Die Böen der vorrückenden Gewitterfront rasten über die flachen Ebenen Ohios und rissen den Weizen bei nahe von seinen Wurzeln. Fred Bjork mußte seine Anweisungen durch das Heulen und Fauchen des Windes brüllen, um sich verständlich zu machen, als sie sich abmühten, den Mähdrescher aus dem Schup pen zu fahren und betriebsbereit zu machen.
Für einen flüchtigen Augenblick war er dankbar, daß es die Heuschober-Blöcke gab, denn einer von ihnen, gleich hinter dem Maschinenschuppen, ge währte ihnen vorübergehend Windschutz. Um so deutlicher aber konnte er aus dieser Deckung sehen, wie der Sturm seinen Weizen gleich einer Dampfwal ze zu Boden drückte. Und dann, nach wenigen schweren Tropfen, öffneten sich die Schleusen des Himmels, und die niederstürzenden Wassermassen eines Wolkenbruches vollendeten das Zerstörungs werk. Bjork starrte in das Wüten der Elemente und konnte nur benommen den Kopf schütteln. Es war nicht auszumachen, ob die Nässe auf seinem Gesicht vom Regen herrührte, oder von seinen Tränen. Obwohl der Empfang durch atmosphärische Störun gen und Schwund beeinträchtigt war, konnte Mark heraushören, wie heiser und erschöpft die Stimme klang. »... man sieht Tote und Sterbende, und für einen Arzt ist das nichts Neues ... Aber ich sehe ein Volk sterben, nur weil es kein Wasser hat ... An einer Was serstelle wurde ich Zeuge, wie Menschen, die bis da hin friedliche Nachbarn und Freunde gewesen wa ren, um eine Konservendose voll Wasser kämpften. Sie trampelten kleine Kinder nieder, um an das Was serloch heranzukommen, dessen Inhalt mehr
Schlamm als Wasser war ... Die Soldaten sind noch schlimmer, sie plündern und rauben, was sie wollen ... Es gibt keine Regierung, keine Gesetzlichkeit. Ich versuche ihnen aus dem Wege zu gehen. Ich tue, was ich kann, aber ich fürchte, daß auch ich nicht lebend hier herauskommen werde. Meine Lebensmittel und Medikamente sind beinahe aufgebraucht ... Die Ebe nen sind übersät mit Kadavern von Tieren und Men schen. Niemand weiß, wie viele es sind, einhundert tausend, vielleicht zweihunderttausend ... Und überall ist Staub ...« Er lachte bitter auf. »Ich kann nichts mehr tun. Vielleicht melde ich mich morgen zur gewohnten Zeit auf dieser Frequenz, wenn ich dann noch am Le ben sein sollte ... TL8XNT meldet sich ab, Ende.« »Mein Gott«, sagte Mark. »Die Vereinten Nationen entsenden Fachleute, um Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, und es gibt keine Einzelheiten. Sie fragen: ›Was braucht ihr?‹ und Mali sagt: ›Nichts. Alles ist in Ordnung.‹ Die Experten sehen sich um, und tatsäch lich scheint alles seinen normalen Gang zu gehen, sie können keine Anzeichen einer Katastrophe entdek ken. Wenn ein Flugzeug abstürzt, dann erfahren wir davon. Man kann den Tod von zweihunderttausend Menschen nicht vertuschen. Er ist ein Wirrkopf, ein Verrückter, der eine Amateurfunkstation bedienen kann. Vielleicht ist er nicht mal in Mali. Vielleicht ist er drüben in Brooklyn, oder eher in Bellevue.«
»Ich glaube, daß er die Wahrheit sagt«, meinte Danny. »Ich auch«, sagte Mark. »Und was nun?« Er wand te seine Aufmerksamkeit wieder der optischen Aus druckstation zu, ölte Teile und machte Einstellungen. Er stimmte das Radio auf die Frequenz des Satelliten ab und wartete. »Der alte Drei-Acht, wie üblich auf die Sekunde genau«, bemerkte er, als die zirpenden Pieptöne aus dem Lautsprecher drangen. Danny beobachtete gespannt, wie Mark die Trom mel in Bewegung setzte. Der alte Waschmaschinen motor schnurrte los, und das lichtempfindliche Pa pier drehte sich mit der Trommel und absorbierte das Signal. Als der Satellit den Empfangsbereich verlassen hat te, gingen sie in die Dunkelkammer. Danny hielt un willkürlich den Atem an, als Mark das Papier in die Entwicklerschale legte. Die langsam aus dem leeren Weiß erscheinende Abbildung des Planeten, wie er sich dem Betrachter aus dem Weltraum zeigte, war wie Magie. Mark war weniger fasziniert. Die Identifikations zahlen waren klar, das Bild jedoch schwach und schneeig, als sähe man die Erde durch einen Dunst schleier. Er heftete die Wiedergabe an die Wand, trat zurück
und musterte sie schweigend. Danny gesellte sich zu ihm. Nach einer kleinen Weile nahm Mark einen Fett stift und malte Kreise um die interessantesten Wol kenbildungen. »Die Zugbahnen der Tiefdrucksyste me verlagern sich, die Höhenströmungen, der Golf strom ... aber was hat das zu bedeuten?« Danny versuchte darauf zu antworten. Mark lachte und zauste ihm das Haar. »Laß nur. Am Ende platzt du noch.« Er fing mit Berechnungen an der Wandtafel an, leg te aber schon bald mißmutig die Kreide aus der Hand. Er nahm den Hörer ab und wählte die Num mer der Universitätsverwaltung. »Hier ist Haney, Meteorologie. Ich brauche etwas Zeit am Computer. Es ist wichtig.« »Sehen Sie, Haney, Marktforschung und Werbe psychologie sind wichtig. Auftragsarbeiten für die Industrie, die uns Geld bringen. Und glauben Sie nicht, unsere Leute, die ins feindliche Leben hinaus ziehen und den Speck zurückbringen, hätten es leicht. Woran arbeiten Sie?« »Das werde ich Ihnen sagen, wenn der Speck naß geworden ist!« sagte Mark und legte auf. Er wandte sich zu Danny. »Jetzt werde ich ein Kaninchen aus einem Zylinder ziehen müssen, aber zuerst müssen sie mir den Zylinder bewilligen.«
»Was? Wie?« »Ich brauche den Computer für ein mathemati sches Modell, aber ich kann ihn nicht bekommen«, sagte er und ging zur Schreibmaschine, um ein An tragsformular für eine Bewilligung einzuspannen. »Also muß ich eine andere Art von Modell aufbau en.« »Das ist eine recht eindrucksvolle Einkaufsliste«, sag te Professor Guzman. »Ich brauche das Material, Sir ... dringend. Ich habe bei der Zusammenstellung darauf geachtet, daß es so billig wie möglich wird, aber ich kann nicht die Räu me ausfegen, meine eigene Kreide kaufen, Geschirr waschen und sonst was tun, um diese Dinge zu be kommen.« »Von welcher Art ist das Projekt, an dem Sie arbei ten?« »Das kann ich wirklich noch nicht sagen.« »Können Sie es oder wollen Sie es nicht sagen?« »Beides.« »Aber Sie meinen, daß es sich lohnen wird? Daß es eine große Sache ist?« Mark nickte. »Ich verstehe. Das heißt, wenn ich Ihren Ausdruck richtig deute. Ihre große Chance. Wenn Sie es schaf fen, sind Sie ein Held. Geht es daneben, so sitzen Sie
für den Rest Ihres Lebens hier fest.« Er lehnte sich zu rück und starrte zur Decke empor. »Isaac Newton er zielte seinen Durchbruch als Mathematiker mit acht undzwanzig. Einstein veröffentlichte die Relativitäts theorie mit sechsundzwanzig. Die Wissenschaft ist ein Spiel für junge Leute.« Er ließ ein tiefes Seufzen vernehmen. »Es geht ziemlich schnell.« Guzman wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Liste zu. CHICAGO, ILLINOIS: Dem Uneingeweihten mußte die Szene wirr und chaotisch erscheinen. Ein voller Saal, erfüllt vom Stimmenlärm schreiender und mit Händen und Fü ßen gestikulierender Männer, die sich an keinen be stimmten Partner zu wenden schienen. Dennoch fan den sie irgendwie zusammen, und Aufträge zum Kauf wechselten mit solchen zum Verkauf, während die verlangten und gebotenen Preise von hemdsär meligen Männern, die wie toll vor der großen Wand tafel hin- und hereilten, aufgeschrieben wurden. Es war normal, daß die Termingeschäfte an der Warenbörse in einem viel hektischeren Tempo ablie fen als Transaktionen an den Wertpapierbörsen, aber an diesem Tag glich der Saal mehr denn je einem Tollhaus. Vor den Augen der Händler, Spekulanten und Zu
schauer schnellten die Preise um zwanzig, dann um fünfzig und schließlich um hundert Prozent aufwärts. Die zuerst durch Hitze und Trockenheit und an schließend durch Unwetterschäden entstandenen Ernteausfälle wirkten sich auf die Versorgung aus. Bald sollte sich zeigen, daß sie das gesamte Wirt schaftssystem in Mitleidenschaft zogen, erste Vorläu fer des kommenden großen Bebens. »Wozu ist das gedacht?« »Zur Demonstration des Haney-Effekts.« »Was ist das?« »Ich weiß es noch nicht.« Danny lauschte Marks Erläuterungen, ohne eine Miene zu verziehen. Trockeneis verkörperte die Po larregionen, Wasser die Ozeane, Ventilatoren die Luftströmungen, eine Glühbirne die Sonne. Verschie dene Hindernisse stellten die topographischen Be sonderheiten der Erde dar, welche die Luftströmun gen umlenkten und beeinflußten. Gewöhnlich blieben die Kräfte der Natur in einem Gleichgewicht: der von der Sonne empfangenen Strahlungswärme der Äquatorregion entsprach die Wärme der zu den Polen abfließenden Luftmassen. Nun deuteten die veränderten Strömungsrichtungen des Satellitenfotos und die Hinweise auf atmosphäri sche Veränderungen auf eine Störung des Gleichge
wichts hin. Aber in welcher Weise, bis zu welchem Grad und mit welchen Ergebnissen? Das waren Fra gen, deren Beantwortung Mark von seinem Modell erhoffte. Er schaltete die Lichtquelle ein, ließ die Ventilato ren anlaufen und injizierte einen neutralen weißen Rauch, der die Bahnen der Höhenströmungen besser sichtbar machen sollte. Erwärmt von der Lichtquelle, stieg der Rauch auf; abgekühlt vom Eis sank er herab. Die Ventilatoren hielten den Kreislauf in Bewegung und lenkten die Strömungen nach dem Vorbild der Realität gegen die naturgegebenen Hindernisse und um sie herum. Meßfühler kontrollierten Strömungs geschwindigkeit, Dichte, Temperatur, Feuchtigkeit und alle anderen relevanten Aspekte der Luft, die im Modell wiedergegeben werden konnten. Mark notier te die Ablesungen und verglich sie mit den rezenten Anomalien. Er verstärkte die Intensität der Lichtquel le um ein Geringes, injizierte sorgfältig berechnete Quantitäten von Staub, Sand, Kohlendioxid und Schwefelverbindungen. Der weiße Rauch verfärbte sich ein wenig dunkler, Strömungen verlagerten sich, und die Meßwerte zeigten Abweichungen. Mark no tierte die neuen Ablesungen. Als Danny einen Nachmittag lang das Arbeiten des Modells beobachtet hatte, begann es ihn zu langwei len und er gähnte.
»Müde?« Danny schüttelte den Kopf. »Es ist gut.« »Ich will dir was sagen. Wir führen Schichtbetrieb ein. Du kannst morgen früh nachsehen und die Able sungen notieren, einverstanden?« Danny nickte energisch, und Mark gab ihm den Schlüssel. »Kriege ich eine Fußnote in Ihrem Artikel?« »Wenigstens.« Dannys Mund kam einem Lächeln nahe. »Das ist nett.« Er gab Mark die Hand und wünschte ihm eine gute Nacht. Mark blickte auf die Uhr und notierte ein weiteres Mal die Ablesungen. Er stellte sich die Titelseite vor. Der Haney-Effekt ... Das hörte sich gut an. Die Zeit kroch dahin. Der Rauch zog in seltsamen Spiralen über das Modell hin, und die angezeigten Werte schwankten. Einige hatten sich erhöht, andere verringert, aber nirgendwo gab es bedeutsame Ab weichungen. Das Haney-Syndrom ... Aber es gab kein eindeutiges Syndrom. Die Rauchwirbel und Ventilatorengeräusche waren hypnotisch. Wieder notierte Mark die Ablesungen. Diejenigen, die zuvor steigende Werte gezeigt hatten, waren jetzt zurückgegangen, und jene, die niedrigere Werte gezeigt hatten, waren im Steigen begriffen. Das Haney-Paradox ... Nicht so gut wie ein Effekt
oder ein Syndrom. Es ließ zu viele Fragezeichen, lud zu viele andere ein, sich über die ausstehende Arbeit herzumachen, und der letzte Mann mit dem unmit telbaren praktischen Resultat heimste den Ruhm ein. Edison war am Schwanzende von Gott weiß wie vie len Forschern und Theoretikern gewesen, aber er war derjenige, dessen Erfindername hell im Ruhm er strahlte. Nach Ablauf der festgesetzten Zeit sah er wieder nach. Das Modell glich sich aus, lief ab wie alle natür lichen Prozesse, wie das Leben selbst, wie der alte Guzman, wie die Stadt, wie Mark Haney ... Viel Be wegung, aber niemand und nichts gelangte irgend wohin. Der Haney-Blödsinn ... Das war es. Er sollte für immer an dieser drittklas sigen Universität dahinvegetieren. Er hatte sein Le ben vergeudet, wie er seine Zeit auf dieses Projekt vergeudet hatte. Er dachte zurück an die besondere Dummheit, in mitten einer Hitzewelle auf das Dach zu steigen, um eine Antenne zu montieren. Nie zuvor hatte er Hitze so intensiv empfunden, und seine Schuhe waren im schmelzenden Teer steckengeblieben. Er hatte über die Dachkante hinabgeblickt und die Düsternis der alten Gebäude gesehen, umgeben von den zu Slums gewordenen, heruntergekommenen Wohnvierteln
der Gegend, die seine ganze Welt war. Er war hier hängengeblieben, wie seine Füße im Dachteer hän gengeblieben waren. Die Luft war erdrückend gewesen, von keinem Lufthauch bewegt, und die Sonne hatte riesig und weiß im blassen Himmel gestanden. Niemals zuvor hatte sie so nahe ausgesehen ... Und wieder starrte Haney in diese Sonne, und war nicht geblendet. Während er sie anstarrte, kam sie näher, wurde immer heißer und gigantischer. Verzweifelt hielt er nach Schatten oder einer Zu flucht Ausschau, aber es gab weder das eine noch das andere. Er wollte schreien, aber die Hitze hatte ihn ausgelaugt, ihm alle Energie genommen, und er war allein, steckte im Teer fest und konnte sich nicht von der Stelle regen. Er konnte nur emporstarren, paraly siert, und sehen, wie die zur Erde niederfallende Sonne den Himmel füllte. Dann kam der Zusammenprall. Die Sonne zersplit terte in eine Million farbiger Lichter. Er hatte nie ge ahnt, daß der Tod so kühl und schön sein konnte. Endlich war er von allem Schmerz befreit. Auf einmal sah er alle Gesetze des Lebens und des Todes und der Materie. Er hatte alles Wissen in seiner Reichweite, aber zu spät ... zu spät ... Er fühlte sein Leben in weißes Nichts zerrinnen. Niemals war ihm so kalt gewesen ...
Er erwachte in fröstelnder Verwirrung. Es dauerte einige Augenblicke, bis er sich orientiert hatte. Er war in seinem Arbeitsraum, in den stillen Stunden des frühen Morgens. Die Ventilatoren des Modells liefen mit ihrem gleichmäßigen schnurren den Geräusch, die regulierbare Glühlampe brannte. Er holte tief Atem. Der Traum hatte ein Gefühl von Erregung in ihm zurückgelassen. Als er daran zurückdachte, begannen Berechnun gen, Gesetze und Gleichungen sich zu einem Muster zu ordnen. Er sah jetzt, wo diese Rauchwirbel hinzo gen, und er begriff, daß er den Stoff zu einer aufse henerregenden Veröffentlichung hatte, größer als al les, was er sich hatte vorstellen können. Einige Zeit später hörte er ein Geräusch an der Tür, und Danny kam herein. »Immer noch hier?« »Mm-hm.« »Ist was passiert?« »Eine ganze Menge«, sagte Mark und erzählte ihm seine neue Theorie. Danny stand verdutzt da und wußte nicht, was er sagen sollte. »Sind Sie – sind Sie sicher?« »Nicht ganz. Ich werde alles rechnerisch nachprü fen müssen, und dann wird es notwendig sein, auf andere Fachgebiete auszugreifen und andere Gelehr te um ihre Mitarbeit zu bitten.«
»Werden die darauf eingehen?« »Danny, eines mußt du den Wissenschaftlern las sen. Wenn es einen Forschungsgegenstand gibt, der größer ist als sie, der wirklich wichtig ist, dann fallen die kleinlichen Eifersüchteleien über Bord. Dann ist es die Gemeinschaft, die zählt, die gemeinsame Ar beit. Warte, bis du sie beisammen siehst, Danny. Dann wirst du Wissenschaft in Aktion erleben.« Das einzige Kunstwerk des Raumes war nur geeig net, den Konferenzsaal noch deprimierender erschei nen zu lassen. Es war ein Wandgemälde aus den dreißiger Jahren, das die Geschichte der Naturwis senschaften darstellte. Es führte in fünf Abschnitten von den Dinosauriern bis zu den Ölfördertürmen der Gegenwart. Die plump stilisierte, in braunen und ok kerfarbenen Tönen gehaltene Malerei war nicht nur schlecht, sondern es war dem Künstler überdies ge lungen, die Zeitalter ziemlich gründlich durcheinan der zu mischen, und Riesenreptilien aus dem Jura verschlangen Säugetiere aus dem Paleozän. Trotz der offenen Fenster hing die Luft heiß und schwer im Raum. Hinausblickend sah Mark die ver wahrlosten Wohnhäuser der anderen Straßenseite. Die Bewohner hatten sich vor der Hitze auf schattige Vor treppen und in zugige Hauseingänge gerettet, und die Kinder duschten an den aufgedrehten Hydranten.
Danny saß still in einer Ecke und las ein meteoro logisches Fachbuch. Alle paar Sekunden legte er es aus der Hand, nahm sich ein dickes Fachwörterbuch vor und schlug mühsam darin nach. Fink kam herein. »Hallo, Mark, wo ist dein Zwer genprofessor?« »Ohne Uniform wirst du ihn nicht wiedererken nen.« »Ach du meine Güte, der Pfadfinder.« Er wandte sich zu Danny. »Paß auf, Junge, was hier verhandelt wird, ist etwas für Erwachsene. Warum spielst du nicht draußen, bis wir ...?« »Er bleibt.« Marks Heftigkeit verblüffte Fink. Doch gleich dar auf hatte er sich wieder gefangen. »Ich höre, du willst in der Pfadfinderzeitschrift veröffentlichen, Mark. Der Titel lautet: ›Ich bin ein Regentropfen.‹« Guzman kam herein und blickte ostentativ auf sei ne Armbanduhr. »Ich hoffe, diese Besprechung wird nicht lange dauern.« »Sie wird den Zeitaufwand lohnen, Sir.« Guzman zeigte auf Danny. »Gehört das Kind Ih nen?« Danny blickte auf. »Ich kann direkt angesprochen werden.« »Mein Gott«, sagte Fink. »Er ist ein Liliputaner.« »Sind Sie verrückt, Mark?« wisperte der Archäolo
ge, nachdem er ihn verstohlen beiseite genommen hatte. »Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten? Da ist ein Kerl hier, dem ich Geld schuldig bin. Das ganze Jahr schon gehe ich ihm aus dem Weg.« »Haney«, raunte ihm der Astronom zu, »wer ist das scharfe Weib da?« »Das ›scharfe Weib‹ ist eine alte Freundin aus der Philosophischen Fakultät. Geschichte.« »Haben Sie es schon mal mit ihr gemacht?« »Sie ist hier, um einen Beitrag zu leisten.« »Kann ich mir denken. Nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht, will ich sehen, ob sie einen Beitrag zu mei nem Wohlbefinden leisten kann.« Er setzte sich zu ihr und fing ein Gespräch an. Andere waren weniger herzlich und kamen sich of fenbar wie die Teilnehmer einer Kriminalgeschichte vor, wo Fremde in einem einsamen Landhaus zu sammengebracht werden. Die meisten bemerkten Danny nicht, oder vielleicht betrachteten sie ihn ein fach als eine weitere Seltsamkeit in einer seltsamen Zusammenkunft. »Meine Damen und Herren«, sagte Mark mit lauter Stimme, »ich schlage vor, daß jeder seinen Platz ein nimmt. Ich möchte anfangen.« Fink imitierte seinen Tonfall und sagte laut: »Ich nehme an, Sie werden wissen wollen, warum ich Sie heute hier zusammengerufen habe.«
»Ja, das ist richtig. Nun, ich werde Ihnen die Ant wort nicht lange schuldig bleiben. Andererseits möchte ich Sie nicht mit einer meteorologischen Lek tion langweilen ...« »Aber Mark, du warst immer gut für ein paar Lachsalven.« »Die überlasse ich dir«, antwortete Mark geduldig, aber mit einem mahnenden Seitenblick zu Fink. »Im Wettergeschehen zeichnen sich eigentümliche Ent wicklungen ab, und das Problem ist, das zugrunde liegende Muster aufzudecken. Der größte Computer der Welt steht unten in Maryland, und der wird die ser Aufgabe gewachsen sein, denke ich, falls es den Leuten dort jemals gelingen sollte, ein fehlerfreies Funktionieren zu gewährleisten.« »Zur Sache, Haney!« »Ja. Verzeihung. Nun, was ich unterdessen ermittelt habe, ist ernst genug.« Er trat an die Weltkarte, die er mit Eintragungen der ihm bekanntgewordenen An omalien versehen und im Konferenzsaal aufgehängt hatte. »Es mag nicht wie ein folgerichtiges Grundmu ster aussehen, ist es aber. Ich habe ein mechanisches Modell gebaut, das alle relevanten Faktoren berück sichtigt: Wärme, Kohlendioxid, Staub, Schwefel- und sonstige Verbindungen. Die Resultate, zu denen ich so gelangte, waren nicht allzu ermutigend. Um die Wahrheit zu saßen, sie waren geradezu verheerend.«
Mark hielt inne und genoß ihre ungeteilte Auf merksamkeit. »Sparen Sie sich die Kunstpausen, Mark, wir sind nicht beim Theater«, sagte Kashihara. »Geben Sie uns einfach die Tatsachen.« »In Ordnung. Lassen Sie mich zuerst erklären, warum es so heiß ist.« Er zog eines der Satellitenfotos aus seiner Mappe und hielt es in die Höhe, daß alle es sehen konnten. »Dies ist eine Infrarotaufnahme; ihre Wiedergabe ist ein Wärmebild, statt eines Lichtbildes. Sie sehen, daß Großstädte darauf als heiße Stellen er scheinen.« »Das kannst du zweimal sagen, Mark.« Mark warf Fink einen unfreundlichen Blick zu und fuhr fort: »Tatsächlich sind Städte im Durchschnitt fünf bis sechs Grad wärmer als das umgebende Land.« »Dafür gibt es gute Gründe«, sagte Fink. »In der Stadt gibt es mehr Universitäten.« »Wieso sollte das relevant sein?« »Je mehr Universitäten, desto mehr akademische Grade.« »Hör zu, Fink, wenn du sonst nichts beizutragen hast ...« Fink lehnte sich zurück und hob die Hände. »Ich versuche nur, ein wenig Stimmung in die Versamm lung zu bringen.«
»Ohne deine Zwischenbemerkungen wird sie nur halb so lange dauern, danke.« Fink verschloß seine Lippen mit einem pantomimi schen Reißverschluß, faltete engelhaft die Hände, und Mark fuhr in seinem Vortrag fort: »Zu der industriellen Abwärme und den Men schen, die große Wärmeerzeuger sind, kommen die Verschmutzungen, die wir in die Gewässer entlassen, und mit denen wir sie erwärmen. Damit nicht genug, treiben wir unverantwortlichen Raubbau an den Wäldern der Erde, die in den vergangenen dreißig Jahren beängstigend geschrumpft sind, und vernich ten das ozeanische Plankton mit Ölrückständen und riesigen Mengen unbekümmert auf hoher See abge ladener Chemikalien und Giftstoffe. Die Waldgebiete und das Plankton der Ozeane aber sind die großen Sauerstofferzeuger und wären imstande gewesen, den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre einigerma ßen stabil zu halten.« »Was hat das damit zu tun?« »Man nennt es den Treibhauseffekt. Das CO2 in der Atmosphäre hält Sonnenlicht als Wärme fest, genau wie ein Treibhaus. Bei alledem tun wir unser Bestes, um den CO2-Gehalt zu erhöhen: wir fahren zwanzig oder dreißig Millionen Automobile, wir verbrennen enorme Mengen Heizöl und Kohle, und blasen es mit Industrieabgasen in die Luft.«
»Und dadurch, meinen Sie, wird es wärmer und wärmer?« »Nein, unglücklicherweise wird es in die andere Richtung umschlagen.« »Wieso unglücklicherweise?« »Sie werden sehen.« Mark wandte sich zu Kashiha ra. »Es fängt bei Ihnen an.« »Richtig. Ich habe Bohrkerne aus Mesopotamien un tersucht. In einer Schichtenfolge, die ungefähr der Zeit um 4500 v. Chr. entspricht, machte ich eine in diesem Zusammenhang aufschlußreiche Entdeckung.« »Was zeigte sie?« »Ungewöhnliche Hitze, einen hohen CO2-Gehalt, vulkanischen Staub, Dürre.« Mark nickte in die Runde. »Und als Sie die darü berliegenden Ablagerungen späterer Dekaden unter suchten, was stellten sie fest?« »Eine merkliche Abkühlung.« »He, einen Augenblick!« fuhr der Archäologe fort. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie auf die sem Gebiet forschen?« »Sie haben mich nicht danach gefragt. Wäre eine Veröffentlichung dabei herausgekommen, hätte ich Sie erwähnt, seien Sie dessen gewiß.« »Danke für die Fußnote. Bei nächster Gelegenheit werde ich Ihnen eine Fußnote auf den fetten Hintern pflanzen, Sie ...«
»Meine Herrschaften, ich bitte Sie!« unterbrach Mark. »Können wir nicht so tun, als ob wir erwach sene Menschen und Wissenschaftler wären?« Die Historikerin meldete sich zu Wort. »Wenn Sie sagen, es habe eine ›merkliche‹ Abkühlung gegeben ...« »Dann meine ich einen Unterschied von einigen Graden, im Durchschnitt gerechnet.« »Ist das wesentlich?« Der Archäologe nutzte die Gelegenheit, um ihr die Hand auf die Schulter zu legen. »Sehen Sie, das war ungefähr zur gleichen Zeit, als die damalige Gesell schaft zerfiel.« »So weit gehe ich nicht zurück. Das ist ungefähr tausend Jahre vor Sumer. Warum kam es dazu?« Der Archäologe sonnte sich in ihrer Aufmerksam keit. »Die Anhaltspunkte sind spärlich, weil uns aus der Zeit sehr wenig Fundmaterial zur Verfügung steht. Aber es muß eine Hungersnot mit allen Beglei terscheinungen gegeben haben, gefolgt von einem starken Bevölkerungsrückgang und allgemeiner Ver armung. Die Untersuchung verschiedener Fundstel len läßt den Schluß zu, daß ganze landwirtschaftliche Niederlassungen damals aufgegeben und nie wieder besiedelt wurden.« »Aber was hat alles das mit der erwähnten Abküh lung zu tun?« »Weil ich diesen Zusammenhang nicht gleich sah,
dachte ich nicht daran. Mesopotamien war damals von einer Gesellschaft bewohnt, die vom Reisanbau lebte. Eine Mißernte oder gar ein Ausbleiben der Ern te mußte daher katastrophale Folgen für alle haben. Hungersnot, Aufruhr, Zusammenbruch der Gesell schaft ... Ja, das Bild ist klar.« Er wandte den Kopf, um Kashihara einen finsteren Blick zuzuwerfen. »Das Bild ist sehr klar.« »Kommen Sie«, sagte die Historikerin mit unver hohlener Geringschätzung, »Gibbon brauchte mehre re Bände, um auseinanderzusetzen, warum das Rö mische Imperium zugrunde ging, und vieles spricht dafür, daß auch er nicht alle Aspekte gesehen hat. Und Sie wollen so etwas mit einem Absinken der Durchschnittstemperatur erklären?« »Warum nicht?« »Weil es eine zu grobe Vereinfachung ist. Gesell schaften sind nicht einfach. Sie können über jeden be liebigen kleinen Stamm dickleibige Manuskripte schreiben.« »Gesellschaften sind einfach. Sie haben dafür zu sorgen, daß man zu einem Bett kommt, worin man schlafen kann, zu anständigen Mahlzeiten und sexu eller Zugänglichkeit.« »Hört sich gut an«, sagte Fink. »Kennen Sie so eine Gesellschaft?« »Wissen Sie, da wir das Thema schon angeschnit
ten haben«, sagte der Archäologe. »Es gibt einen ähn lichen Fall, den ich nie in diesem Licht betrachtet ha be. Ungefähr um 2000 v. Chr. blühte die Indus-Kultur im heutigen Pakistan. Man hat lange über die Gründe ihres Verschwindens gerätselt, und es gibt noch im mer verschiedene Theorien, die den Untergang dieser alten Kultur zu erklären suchen.« »Die Indus-Kultur und, zweieinhalb Jahrtausende zuvor, die prähistorische vorsumerische Kultur Me sopotamiens hatten einiges gemeinsam«, sagte Kas hihara. »Dürre, Hitze, Staub, hoher CO2-Gehalt, ge folgt von Abkühlung.« »Wie kommt es, daß Sie sich auf meinem Gebiet auskennen?« »Ich wurde neugierig und las in einigen Ihrer Bü cher nach.« »Ohne mich?« »Lesen kann ich alleine.« »Sie ... Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ein feiner Kollege sind Sie!« »Sie haben keinen Grund, sich derart aufzuplu stern, Sie seltsamer ...« Mark gelang es mit Mühe, eine Eskalation der Aus einandersetzung zu verhindern, aber es blieb ein ge spanntes Schweigen zurück. Der Archäologe und sein Kollege von der Geologie starrten in verschiedene Richtungen.
Mark seufzte und wandte sich zu der Botanikerin. »Wenn ich zutreffend unterrichtet bin, verfügen Sie über zuverlässige Methoden zur rückwirkenden Be stimmung von Klimaschwankungen, nicht wahr?« »Ja, wir haben die Baumringe. Anhand ihrer Breite können wir die Niederschlagsmengen und Tempera turen der Jahre beurteilen. Schlechte Jahre bringen schmale Ringe, gute Jahre breite. Es gibt auf dieser Basis Aufzeichnungen, die bis in die Zeit um das Jahr 1000 n. Chr. zurückreichen.« »Können Sie uns sagen, welche Besonderheiten sich bei der Analyse der Baumrinde gezeigt haben?« »Bis um etwa 1400 n. Chr. war es sehr warm.« »Nun, es mag weit hergeholt sein, aber es ist be kannt, daß die Wikinger ihre Entdeckungsfahrten vor diesem Zeitpunkt unternahmen«, sagte die Historike rin. »Auch die Zeit der Verbreitung des Christentums in Europa liegt davor, wie auch die Zeit des Kathe dralenbaus. Alles in allem, es war ein Zeitalter der gesellschaftlichen und kulturellen Aufwärtsentwick lung.« »Dann wurde es kalt. Das dauerte bis ins neun zehnte Jahrhundert.« »Wann war es am schlechtesten?« »Ich würde sagen, im späten siebzehnten bis ins frühe achtzehnte Jahrhundert.« »Das ist eine bemerkenswerte Koinzidenz. Um
1690 und danach gab es eine schwere Hungersnot in Großbritannien. Sie war verheerender als die Pest. Sie machte die schottischen Unabhängigkeitsbestrebun gen zunichte. Die skandinavischen Kolonien in Island hörten zu bestehen auf und die skandinavischen Staa ten wurden niemals zu Kolonialmächten.« »Nun, ja«, meinte der Astronom. »Das Sonnenflek ken-Minimum.« Mark wandte sich zu ihm. »Das ist ein interessanter Gesichtspunkt, können Sie mehr dazu sagen?« »Sonnenflecken sind Stürme auf der Sonne. Wir wissen alle, daß starke Sonnenfleckenaktivität unsere Radiosendungen beeinträchtigt; die anderen Auswir kungen sind strittig. Aufzeichnungen über Sonnen fleckenaktivität beginnen um das Jahr ...« »Erzählen Sie mir nichts«, sagte Fink. »Sie beginnen gerade zu der Zeit, von der die Rede war, als Sie un terbrachen.« »Richtig, um 1690. Die Fernrohre waren aufge kommen und man begann die Sonnenflecken zu beo bachten. Minimale Sonnenflecken-Aktivität bedeutet minimale Sonnenenergie, und minimale Sonnenener gie bedeutet ... aber das wissen Sie so gut wie ich. Damals beobachtete man auch, daß die Sonnenflek kenaktivität zyklisch ist.« »Wie lang dauert ein Zyklus?«
»Elf Jahre Zunahme, elf Jahre Abnahme.« »Interessant«, sagte die Botanikerin. »Die Baumringe zeigen einen regelmäßigen und durchgängigen Zweiundzwanzigjahresrhythmus.« »Sie meinen, elf gute und elf schlechte Jahre?« »Nicht ganz. Nur ein gleichmäßiger, subtiler Rhythmus innerhalb des größeren. Wenn Sie einen Zeitpunkt wissen wollen, wo beide zusammenkamen, dann kann ich Ihnen das Jahr 1816 nennen. Es war ein wirklich schlechtes Jahr für Baumringe.« »Richtig, 1816«, sagte die Historikerin. »Man nann te es das Jahr ohne Sommer. Der Hafen von New York fror zu, die Schiffahrt kam zum Erliegen. In der Nordhälfte Neuenglands sanken die Temperaturen im Juni unter den Gefrierpunkt, und die Ernte ging verloren. Das Land hatte die Folgen des Krieges von 1812 noch nicht überwunden, und diese eine Mißern te hatte zur Folge, daß es beinahe zu einem allgemei nen wirtschaftlichen Zusammenbruch gekommen wäre.« »1816 war ein Jahr minimaler SonnenfleckenAktivität«, sagte der Astronom. »Das allein war nicht der Grund«, warf Kashihara ein. »Im Jahr davor hatte es einen großen Vulkanaus bruch in Indonesien gegeben. Der dabei in die Atmo sphäre geblasene Staub wurde um die ganze Erde ge tragen. Und er beeinflußte zweifellos das Wetter,
nicht nur durch die regionale Erzeugung eines Treib hauseffekts, sondern auch durch die Begünstigung von Wetterverhältnissen, die zur Entstehung von Wirbelstürmen führen.« »Nach 1865 wurde es merklich wärmer«, sagte die Botanikerin. »1865: die Eroberung und Erschließung des We stens, der Anbruch des Industriellen Zeitalters, die Ära des Imperialismus, die Blütezeit der modernen Zivilisation.« »Das bringt uns zurück in die Gegenwart«, sagte Mark. »Die gleichen Faktoren: Hitze, Staub, Trocken heit, hoher CO2-Gehalt. Das Pendel schlägt wieder zurück ... sehr beträchtlich.« »Das hat nichts zu sagen«, entgegnete Fink. »Wir sind nicht Mesopotamien oder die Indus-Kultur, oder die Wikinger. Wir sind auch nicht, was wir 1816 wa ren. Wir sind höllisch zivilisiert, und wenn das Klima kühler wird, brauchen wir bloß den Thermostat auf zudrehen, und die Zivilisation ist gerettet.« »Und wo soll der Brennstoff herkommen?« fragte der Geograph. »Wir leben schon so in einer Zeit der Ölknappheit.« »Wenn Sie mich fragen, dann ist diese ganze Öl knappheit zu fünfundneunzig Prozent Politik.« »Was ist für Sie Zivilisation?« »Ein warmes Bett, drei Mahlzeiten am Tag, Sex.«
»Also, ich hoffe, Sie werden das Bett und den Sex ha ben, denn mit den Mahlzeiten wird es schlecht ausse hen«, sagte der Geograph. »Ein Absinken der mittleren Jahrestemperatur um ein Grad verkürzt die Wach stumsperiode um zwei Wochen. Fast das gesamte nutzbare Land wird bereits bestellt. Wir mögen zivili siert sein, aber wir leben in einem Zustand des labilen Gleichgewichts. Ich brauche Ihnen nicht im einzelnen zu erläutern, daß unsere industrielle Zivilisation seit ihren Anfängen auf Raubbau an den natürlichen Res sourcen beruht. Mit ihrer zunehmenden Erschöpfung ist das Ende dieser Entwicklung in Sicht gekommen.« Darauf wandte sich die Historikerin an Mark. »Können Sie uns sagen, welchen Umfang die Klima veränderungen haben werden, die Sie erwarten?« »Wollen Sie wirklich eine Antwort?« Mark wandte sich dem Geologen zu. »Wie viele Eiszeiten haben wir gehabt?« »Je weiter man in der Erdgeschichte zurückgeht, desto schwieriger wird es, die Spuren zu lesen. Aber nach dem derzeitigen Stand unseres Wissens waren es ungefähr zwanzig.« »Und wieviel Zeit lag zwischen ihnen?« »Ungefähr zehntausend Jahre.« »Und wieviel Zeit ist seit der letzten verstrichen?« »Ungefähr zehntausend Jahre.« Mark blickte in die Runde. »Ich glaube, ich brauche
Sie nicht um Ihre Aufmerksamkeit zu bitten.« Er wandte sich wieder dem Geologen zu. »Was zeigt die Analyse von Bohrkernen am Ende einer Warmzeit?« »Einen hohen Kohlendioxidgehalt, zunehmende Erwärmung, Veränderungen der Niederschlagsmen gen, Staubablagerungen.« Eine Stille trat ein, die nach kurzer Zeit von der munteren Stimme des Astronomen gebrochen wurde: »Falls es jemanden unter den Anwesenden interessie ren sollte, wir befinden uns in einer Periode minima ler Sonnenflecken-Aktivität.« Mark nickte. Wieder wurde es still, aber nicht lan ge, und alle begannen durcheinander zu reden, und schließlich sprang der Archäologe auf und rief: »Soll das heißen, daß wir eine regelrechte Eiszeit vor uns haben?« »Sieht so aus.« »In der Form, daß wir Eisbären sehen können, wenn wir aus dem Fenster schauen?« »Möglicherweise.« »Ach du meine Güte«, stöhnte Fink. »Und all die Bärenscheiße auf den Straßen!« »Ich denke nicht, daß es zum Lachen sein wird.« »Dann werden wir wohl auch Mastodons und Sä belzahntiger haben.« »Wenn du ausgestorben bist, dann bist du ausge storben.«
»Ach, Unsinn, Haney. Sie reden, als käme die Eis zeit nächsten Dienstag. Ein solcher Prozeß muß Hun derte oder Tausende von Jahren dauern.« »Das würde ich nicht sagen«, meinte Hideo Kashi hara ernst. »Wissen Sie, gelegentlich kommt es vor, daß man Mastodons oder Mammute im Permafrost der sibirischen Taiga begraben findet, vollkommen erhalten. Es gab sogar gedankenlose Entdecker, die für sich selbst ein paar Mammutsteaks herausschnit ten und das übrige Fleisch an ihre Hunde verfütter ten.« »Ich weiß«, sagte Fink, »solche Steaks hatten wir letzte Woche in der Mensa. Und?« »Wie kommt es, daß Mastodons gefunden wurden, die noch unverdautes Futter in den Mäulern und Mägen hatten, wenn so viel Zeit ist, einer hereinbre chenden Eiszeit auszuweichen?« »Wieso? Das kommt mir ziemlich logisch vor.« »Denken Sie darüber nach, Mann! Wenn Sie mit vollem Mund sterben, dann sterben Sie plötzlich. Es bedeutet, daß die Tiere überrascht wurden, von ei nem Schneesturm oder was.« »Was es auch war, wir sind keine Mastodons. Wir sind intelligente Menschen, Herren der Natur.« Fink wandte sich zu Mark um. »Du sagtest selbst, wir ver änderten das Wetter.« »Fahrlässig.«
»Dann können wir es auch vorsätzlich.« »Vielleicht später einmal.« »Nun, wir haben Zeit, nicht wahr?« »Ich weiß nicht.« »Du weißt nicht viel.« »Richtig. Ich weiß nicht viel.« »Trotzdem bist du mit Voraussagen nicht pingelig, Markus. Ist das deine Qualifikation als Diskussions leiter?« »Sieh mal, was wir unserem Planeten antun, ist ihm noch nie angetan worden, und die Tugenden der Alten – Sparsamkeit, Selbstbeschränkung, Selbstver sorgung – haben wir kurzerhand zum Fenster hi nausgeworfen. Ich weiß, daß die Faktoren mit einem weit größeren Maß von Übereinstimmung zusam mengekommen sind als je zuvor. Diesmal wird es viel schneller gehen.« »Wie schnell ist ›viel schneller‹? Fünfhundert Jah re? Einhundert? Eineinhalb Wochen?« »Ich weiß nicht, wie lang es dauern wird, bis der Zyklus sich vollendet, aber er hat bereits angefan gen.« »Sie können einem direkt Angst machen«, sagte der Astronom. »Du siehst, wie wir bereits frieren«, sagte Fink und wischte sich die Stirn. Mark heftete eine Serie von Satellitenaufnahmen an
die Demonstrationstafel. »Diese Bilder sind ein wenig unscharf, weil meine Ausrüstung zu wünschen übrig läßt. Aber sehen Sie selbst. Der Golfstrom hat sich um etwa zehn Breitengrade nach Süden verlagert, was zu einem weiteren Vordringen des kalten Labrador stroms, und, damit verbunden, zu einem Vordringen kalter Luftmassen führen muß. Im Gebiet um Neu fundland ist bereits eine Zunahme der Wolkenbedek kung und Nebelhäufigkeit zu verzeichnen. Die Bah nen der Tiefdruckwirbel verlagern sich gleichfalls, was zur Folge hat, daß diejenigen Länder, die bisher von den Monsunregen profitierten, in Zukunft dieser Gewißheit verlustig gehen werden. Dafür bekommen dann wir die Stürme, die bisher den Bewohnern der Aleuten um die Ohren pfiffen.« »Nun, es soll ein gesundes Klima sein, das die dort haben. Etwas feucht, vielleicht, aber viel frische Luft.« »Du kennst den Rainier-Nationalpark in Washing ton. Ich fürchte, wir würden nicht allzu glücklich sein, wenn wir das gleiche Klima hätten, wie es dort herrscht.« »Warum nicht? Man soll dort großartig Ski laufen.« »Kein Wunder. In einer Saison hatten sie sechs undzwanzig Meter Schnee.« »Nur zu, Mark, mach mich unglücklich.« Mark zog weitere Fotos aus seiner Mappe und hielt sie in die Höhe. »Dies alles sind Aufnahmen vom
Humboldt-Gletscher in Grönland. Passen Sie auf ...« Er zeigte sie nacheinander in der Reihenfolge ihrer Entstehung, und man sah, wie der zentrale weiße Fleck auf den Fotos lebendig wurde und sich von Bild zu Bild weiter ausbreitete. »Die Tiere reagieren bereits. Wölfe wandern von den höheren Breiten Kanadas südwärts. Auch Mar der, Lemminge und Moschusochsen befinden sich auf der Wanderschaft. Vorläufer dieser Wanderungs bewegung sind in der Wüste von Arizona beobachtet worden.« Er legte die Fotos aus der Hand und hielt eine Serie von Diagrammen hoch. »Hier sind die mittleren Jah restemperaturen einiger Städte in verschiedenen Tei len der Welt dargestellt. Vergleicht man die Durch schnittswerte der letzten zehn Jahre dann sieht man, daß sie alle ein wenig gestiegen sind, aber nun ist überall gleichzeitig ein plötzliches Absinken festzu stellen. Der Knick in der Kurve ist inzwischen unver kennbar, weil der Höhepunkt bereits vor drei Mona ten erreicht war.« Er blickte in die Gesichter. »Können Sie mir alle folgen?« Der Archäologe sagte: »Nehmen Sie es nicht per sönlich ...« »Dies ist nicht die Zeit, um irgend etwas persönlich zu nehmen.«
»Gut. Nun, Haney, die Regierung muß mehr In formationen haben als Sie, nicht wahr?« »Das ist jedenfalls, was sie uns ständig einredet.« »Na ja, sie verfügt über die besten Köpfe, die be sten Ausrüstungen. Sie muß wissen, was vorgeht.« »Daran zweifle ich nicht.« »Warum hat sie nichts verlautbart?« Mark hob die Schultern. »Sagen Sie es mir.« »Die von der Regierung müssen genauso wie wir ihre Zusammenkünfte haben«, sagte Fink. »Das schon«, meinte der Archäologe, »aber früher oder später ...« »Früher oder später werden wir es alle wissen, bloß wird es dann zu spät sein.« »Komm, Mark, du glaubst doch nicht, daß sie uns einfach werden sterben lassen, oder?« »Sie erklären Kriege und schicken uns ins Feld, wo soundso viele von uns sterben. Ich habe keine Lust zu warten und herauszufinden, was die Regierung hat, was sie weiß und wann sie es mitteilen wird. Ich bin dafür, daß wir mit dieser Sache an die Öffentlichkeit treten. Jetzt. Vergessen wir die Konventionen, die Fachzeitschriften und ihre wissenschaftlichen Redak tionsausschüsse. Ich kenne jemanden bei der New York Times. Wir könnten eine Pressekonferenz veran stalten, das Material vorlegen und zeigen, wo wir stehen ...«
»Wir? Was verstehen Sie darunter ›wir‹?« »Ein guter Ruf ist schnell ruiniert, Haney. Man setzt ihn nicht leichtfertig aufs Spiel.« »Wir arbeiten in der Wissenschaft, Markus, nicht im Showgeschäft.« »Verdammt noch mal«, sagte Mark, »eine unwider stehliche Gewalt bricht über uns herein.« »Kaum. Ihre Eiszeit kann leicht noch tausend Jahre auf sich warten lassen. Sie sagten selbst, daß Sie es nicht wüßten.« Mark nickte. »Es muß nicht alles auf einmal über uns kommen. Der Anfang genügt schon. Sie haben gehört, daß wir uns in einem Zustand des labilen Gleichgewichts befinden. Ein Absinken der durch schnittlichen Jahrestemperatur um ein oder zwei Grad genügt, und wir brechen zusammen wie jene anderen Gesellschaften. Ich habe Augenzeugenbe richte gehört und weiß, daß es schon jetzt geschieht, in einem Land der Sahelzone. Und andere werden folgen. Schließlich auch wir, ›zivilisiert‹ oder nicht.« Die Stille war auf einmal bedrückend. Von draußen drang der Lärm der spielenden Kinder herein, und als die Stille im Raum tiefer wurde, hörten sie im Hintergrund des Straßenlärms das dumpfe Tosen der Stadt selbst. »Warten Sie einen Moment, Haney.« Guzman hatte die Diagramme und Satellitenauf
nahmen vor sich ausgebreitet und betrachtete sie ge dankenvoll. Sie hatten vergessen, daß er unter den Anwesenden war, doch nun, da er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, schien er ein wenig beschämt und verlegen. Schließlich fragte er zögernd: »Ah ... Haney, kennen Sie den kanadischen Rotfuchs?« Mark zwinkerte verwirrt. »Nicht persönlich.« »Nun, es ist kein sehr wichtiges Tier, also über rascht es mich nicht, und außerdem fällt es sowieso nicht in Ihr Fach. Aber ... äh ... die Nordgrenze seiner Verbreitung pflegte durch Saskatchewan zu verlau fen, etwa auf der Breite des Athabasca-Sees. Nun hat man ihn immer weiter nördlich angetroffen, sogar in der Nähe des Polarkreises. Man vermutet, daß er sich nordwärts ausgebreitet hat, weil es wärmer wird.« Er blickte beinahe entschuldigend zu Mark her über. Die andern hielten unwillkürlich den Atem an; die Spannung war spürbar. »Nun ja«, sagte Mark, der plötzlich Mühe hatte, das Wort aus der trocken gewordenen Kehle hervor zustoßen, »vermutlich handelt es sich dabei um wei ter zurückliegende Beobachtungen. Und eine Tierart kann sich aufgrund vorübergehender Bedingungen immer atypisch verhalten.« »Oh, ich möchte meinen, daß dieses atypische Ver halten mehrere Tierarten betreffen könnte. Im übri
gen sind Sie derjenige, der nach übergreifenden Grundmustern Ausschau hält.« »Ich hatte es bisher nicht so gesehen«, warf die Hi storikerin ein, »aber nun scheint sich doch eine Art Muster abzuzeichnen.« »Nun, Ihre Abteilung ist nicht die meinige, aber Sie sagten, im Spätmittelalter habe es eine Klimaverände rung gegeben, es sei kälter geworden ... wann war das?« »Es begann etwa um Vierzehnhundert, und es be einträchtigte die gesellschaftliche Vitalität.« »Nahm um die Zeit nicht etwas seinen Anfang, was man die Renaissance nennt?« fragte Guzman in einem Ton vorsichtiger Bescheidenheit. Er wandte sich dem Geologen zu. »Sie sagten, es habe 1815 eine vulkanische Eruption stattgefunden?« »Auf der Insel Sumbawa, in Indonesien. Einer der größten Vulkanausbrüche der Geschichte. Die Staubwolken zogen um die ganze Erde.« »Wann war der Krakatau-Ausbruch?« »1883.« »Nun, Geologie ist auch nicht mein Fach, aber der Ausbruch des Krakatau war die größte Bombe von al len, und ich erinnere mich nicht, daß es danach zu ei ner Abkühlungsphase gekommen wäre.« Kashihara nickte bedächtig. »Das stimmt, aber was ist mit dem Ende der Zwischeneiszeit? Schließlich
hatten wir früher einmal das Klima Grönlands, und es könnte wieder dazu kommen.« »Zweifellos war es vor fünfzehn- bis zwanzigtau send Jahren erheblich kälter, aber Sie haben Bohrker ne aus dem hohen Norden gesehen. Ist es dort immer so kalt gewesen?« »Nein, das nicht. In Bohrkernen aus Alaska sind Überreste von Feigenbäumen und Magnolien gefun den worden. Und selbst auf Spitzbergen gab es Pal men.« »Also war es dort auch einmal wärmer. Nun, ich bin nicht klug genug, um zu wissen, wohin die Reise geht, aber ich glaube auch nicht, daß sonst jemand es weiß.« »Was sagen Sie zu den Diagrammen?« fragte Mark. »Ja, ich habe sie mir gerade angesehen.« Guzman hob sie vom Tisch auf und zeigte sie den anderen. »Es sind gute Diagramme, nichts dagegen zu sagen, und ich weiß, daß es üblich ist, zur Ermittlung von Durch schnittswerten die Messungen in Zehnjahresabstän den zu verwenden. Aber ich nahm nur zum Spaß zwölf Jahre und zeichnete meine eigenen Diagram me. Und ich konnte keinen Temperaturknick beo bachten. Ich muß gestehen, daß ich überhaupt keine Grundmuster irgendwelcher Art sehe.« Er reichte die Diagramme herum. »Ich sehe kein übergreifendes Muster und ich be
zweifle, daß irgend jemand das vermag. Wir können das Wettergeschehen mit einiger Genauigkeit vier undzwanzig Stunden voraussagen und diese Voraus sage zur Not auch auf achtundvierzig Stunden deh nen. Eine Woche im voraus ist schon ein erhebliches Risiko. Eines Tages vielleicht, nicht mehr zu meinen Lebzeiten, aber möglicherweise zu Ihren, mag es ge lingen, den Voraussagezeitraum auf zwei Wochen zu erweitern. Aber das ist dann auch alles.« Mark konnte nichts sagen, als Guzman die Satelli tenaufnahmen von Grönland hochhielt. »Ach ja, der Gletscher. Ich gebe zu, das ist die Wet terfabrik, und wenn dieser Gletscher wächst, dann haben wir mit Schwierigkeiten zu rechnen. Der Glet scher ist das, was wirklich zählt.« Mark nickte. »Sagen Sie, Haney, wie schnell, würden Sie sagen, bewegt sich ein Gletscher?« »Nun, ich möchte nicht gern ein Klischee wieder holen, aber ...« »Es ist nicht Ihr Fach.« Mark nickte, peinlich berührt. Hideo Kashihara meldete sich. »Das ist mein Fach. Sie hätten mich fragen können. Tatsächlich hätten Sie mich fragen sollen. Gewöhnlich rückt ein Gletscher im Laufe eines Jahres einen oder auch zwei Meter vor ...« »Ist das alles?«
»Nicht ganz. Es ist selten, aber wir besitzen zuver lässige Aufzeichnungen, die von Gletscherbewegun gen bis zu achthundert Meter an einem Tag berichten. Natürlich bleiben sie nach ein paar Tagen liegen, weil der Nachschub fehlt.« »In Ordnung«, sagte Guzman. »Ich gestehe Ihnen die achthundert Meter zu. Sagen wir sogar einen Ki lometer. Aber nicht dreißig Kilometer pro Stunde.« »Lieber Himmel, nein.« »Nun, Haney, das aber wäre die Rate, mit der Ihr Gletscher vorrückt ... es sei denn, dieser weiße Fleck ist kein Gletscher, sondern eine Wolkendecke.« Mark blickte auf die Fotos und ächzte, nickte matt. »Wissen Sie, das ist ein Fehler, der einem leicht un terlaufen kann, besonders bei der schlechten Auflö sung dieser Fotos.« Mark sank auf seinem Platz in sich zusammen. Lew Fink lachte. »Zu dumm! Die Fata Morgana von Ruhm und Reichtum schwindet dahin, und zu rück bleibt verlassen das junge Genie.« »Eine Weile hatte er mich regelrecht mitgerissen«, sagte Hideo Kashihara. »Richtig beruhigend, wieder in der Hitze dazusit zen und zu wissen, daß alles beim alten bleibt«, sagte der Archäologe. Die Sitzungsteilnehmer erhoben sich und drängten zum Ausgang. Die Historikerin beugte sich im Vor
beigehen über Marks Schulter und drückte ihm den Arm. »Es tut mir leid, Mark. Es tut mir wirklich leid.« »Ein hübscher Vortrag«, sagte Guzman und klopfte Mark auf den Rücken. »Manchmal ist es ein bißchen schwierig, diese Dinge zu überprüfen.« Er wedelte mit den Fotos und Diagrammen. »Wollen Sie die wiederhaben?« Mark schüttelte den Kopf. »Nun, dann sehen wir uns morgen wieder an Bord des alten Sklavenschiffs.« Die Botanikerin fragte, ob jemand sie im Wagen mitnehmen könne. Der Astronom ergriff die Histori kerin beim Arm und fragte, ob sie im Observatorium die Wunder der Sterne sehen wolle. Zuletzt war Mark mit einem sehr stillen Danny, der am anderen Ende saß, allein im Raum. »Na, Danny, willst du mich noch immer für dein Projekt?« Danny nickte. »Warum?« »Guzman hat nicht bewiesen, daß Ihre Theorie falsch ist.« »Mein einziger bewundernder Kollege. Willst du dich mit mir betrinken?« »Äh ... das sollten Sie nicht tun.« »Ich verstehe. Die Mutter meines Kollegen erlaubt es nicht. In Ordnung, du kannst nach Haus gehen.«
»Vielleicht, wenn ich am Modell ...« »Geh nach Haus, Danny.« »Eigentlich muß ich die Eintragungen noch ergän zen ...« »Geh nach Haus. Du bist sowieso mehr bei mir als bei deiner Mutter.« »Das ist schon in Ordnung. Es macht ihr nichts aus.« »Sie sagt, daß sie dich liebhat.« Danny zuckte die Achseln. »Ich ... kann sein ...« »Komm schon, gib ihr eine Chance. Laß sie dir eine Mutter sein. Und du kannst anfangen, ein Junge zu sein.« »Ich würde lieber ...« »Mir wäre es lieber, du gingst jetzt nach Hause.« »Schließen Sie mich von Ihrer Forschung aus?« »Nicht nur das, ich schmeiße dich raus. Wiederse hen.« Danny preßte die Lippen zusammen. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. Mark saß eine gute Weile allein im Konferenzsaal, dann stand er müde auf und schleppte sich zurück in sein Arbeitszimmer. Das Wettermodell war zum Stillstand gekommen. Das Trockeneis war verdunstet, die Luftströmungen waren zur Ruhe gekommen, Staub und Färbemittel hatten sich abgesetzt. Das Modell spiegelte den End zustand der Erde, wie er sich in einer oder zwei Mil
liarden Jahren darstellen mochte – wenn der Mensch den Ablauf nicht beschleunigte. Mark fühlte sich von einem Frösteln überlaufen. Es war, als betrachte er einen Leichnam. Um auf andere Gedanken zu kommen, schaltete er den Empfänger ein. Das vielgestaltige Leben des Planeten füllte den Raum. Regierungssender verbreiteten Nachrichten und Musik und Kultur und Propaganda, Privatsen der und Amateure gingen ihren täglichen Geschäften und Ablenkungen nach, während die facettenreiche Vielfalt des globalen Wettergeschehens sich, auf da dit-dits reduziert, jedem normalen menschlichen Ver ständnis entzog. Es war Zeit für die Sendung aus Mali. Mark stellte den Empfänger auf Dr. Schumers Frequenz ein und wartete. Es kam nur das Zischen eines offenen Fre quenzbandes. Vielleicht war es alles Unsinn, ein Hirngespinst, ein schlechter Scherz. Der Rest der Welt funktionierte weiter, wie er es zuvor getan hatte und wie er es in Zukunft tun würde, bis in einer Milliarde Jahren alles zum Stillstand käme. Es gab keine Not wendigkeit, die Dinge zu überstürzen. Ein Klopfen an der offenen Tür unterbrach seine Grübelei. Er blickte auf und sah Dannys Mutter in der Türöffnung stehen. »Hallo.«
Mark nickte. »Danny erzählte mir von Ihrer großen Versamm lung.« »Es war nichts. Nur, daß meine Theorie abgeschos sen wurde.« »Hört sich schmerzlich an.« Er zuckte die Achseln. »Ich dachte, Sie könnten eine Tröstung brauchen. Möchten Sie mit uns zu Abend essen?« »Ich möchte mich nicht in Ihr Familienleben drän gen.« »Es ist keine Störung. Glauben Sie mir, das ist es wirklich nicht.« Er zögerte. »Bitte.« Mark schaltete den Empfänger aus und folgte ihr. Professor Guzman studierte lange und gründlich die schriftlichen Berechnungen, die Diagramme, die Zei tungsausschnitte und die Satellitenaufnahmen, dann nahm er den Hörer ab und wählte eine Nummer. »John? Hier Guzman. Sie erinnern sich, wir haben schon oft darüber diskutiert, und ich konnte mich nie recht entschließen, Ihren Vorschlägen zu folgen. Aber jetzt bin ich bereit, einen Teil meiner Ersparnisse in Immobilien anzulegen. Unten im Süden, denke ich.« »Eine sehr gute Idee, angesichts der Inflation und
der allgemeinen Unsicherheit. Nun, in den Carolinas gibt es sehr hübsche Siedlungsprojekte ...« Guzman warf einen Blick auf die Weltkarte an der Wand seines Büros. »Ich dachte an etwas mehr Exoti sches, John. Südwestmexiko oder Guatemala. Erkun digen Sie sich schon einmal über die Preise und Mög lichkeiten, und dann werde ich Ihnen Genaueres sa gen.« Es war spät, und Danny schlief in seinem Zimmer. Mark spielte mit den Eskimoschnitzereien, während sie sich unterhielten. »Das Schlimmste ist eigentlich, daß man ... daß man nichts weiß, keine Informationen darüber hat, was in Mali geschehen ist, oder was mit der Welt geschehen wird. Es ist so ... so unerbittlich.« »Nun gut, das mag sein«, sagte Karen. »Aber war um können Sie es nicht einfach akzeptieren?« »Akzeptieren? Sie meinen, wir sollten einfach hin nehmen, was immer die Natur auf uns losläßt? Nicht bloß Stürme und Dürreperioden, sondern auch Krankheit und Tod?« Sie lächelte. »Die Zivilisation hat eine Menge er reicht.« »Verdammt richtig.« »Warum bin ich dann sicherer, wenn ich in Grön land über das Eis laufe, als hier auf den Straßen Ihrer Stadt?«
»Nicht alle Aspekte der Zivilisation wirken sich im mer zum Besten aus, aber im ganzen gesehen, funktio niert sie.« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt andere Arten zu leben.« »Wenn man das Leben nennen kann.« »Was erwarten Sie vom Leben? Und was brauchen Sie? Am Leben und gesund zu sein, für sich selbst und diejenigen zu leben, die man liebt, das ist wirk lich alles.« »Eine ziemlich kurze Liste.« »Was braucht man mehr?« »Man braucht viel mehr.« »Wirklich? Warum?« »Weil es das ist, was uns menschlich macht.« »Ich fragte einmal einen Eskimo, was er vom Leben erwarte. Er sagte, er wünsche sich genug Tiere zur Nahrung und Kleidung, und daß er Traurigkeit und Schmerz von denen fernhalten könnte, die ihm nahe stünden.« Sie seufzte. »Er war menschlich. Ich fand ihn im höchsten Grade menschlich.« »Die Eskimos ...« Er zögerte. »Sagen Sie es nur.« »Gut. Sie leben noch heute wie vor tausend Jahren. Sieht man von den Dingen der Zivilisation ab, die wir ihnen gebracht haben, dann muß man sagen, daß sie
aus eigener Kraft nicht einen Schritt vorangekommen sind.« »Vielleicht liegt es daran, daß es ihnen gefällt, wo sie stehen.« »Aber wo stehen sie? Sie haben nichts getan, nichts geleistet. Wo ist ihr Beitrag zur Kultur der Mensch heit?« »Sie haben etwas davon in der Hand.« Er blickte auf die Schnitzerei in seiner Hand. Sie war fein gearbeitet und nutzte die natürliche Krüm mung des Walroßelfenbeins aus. Die Arbeit stellte ei nen fein stilisierten Eisbären dar, lebendig in der Be wegung, frei von unnötigen Details, die den Blick des Betrachters vom Ganzen abgelenkt hätten. Gleich wohl sah man ihr an, daß der Künstler sie mit unend licher Sorgfalt, Liebe zur Arbeit und Liebe zur Natur geschnitzt hatte. Mark mußte sich eingestehen, daß er ein in seiner Art vollkommenes Kunstwerk in den Händen hielt. Dennoch blieb es ihm fremd. Der Künstler hatte keinen Versuch unternommen, die Na tur zu entschlüsseln, um sie schließlich zu bezwin gen. Man spürte, daß er sie einfach akzeptierte, und wenn ein Schneesturm käme und ihn auslöschte, so würde er auch das akzeptieren, ohne die Ursachen oder Kräfte zu kennen, oder kennen zu wollen. Beunruhigt legte Mark die Schnitzarbeit zurück. »Es befriedigt mich nicht.«
»Warum nicht davon lernen?« »Lernen? Ich dachte, vielleicht können wir sie et was lehren.« »Ich bat einen Eskimo, mir einen Kriegsgesang für mein Tonband zu singen. Er fragte mich, was Krieg bedeute.« Sie zuckte traurig die Achseln. »Ich schäm te mich, aber ich erklärte es ihm.« Mark holte tief Atem. »Nun, ich glaube, darüber könnten wir den ganzen Abend streiten. Es wird die Welt nicht ändern.« »Warum müssen Sie sie ändern?« »Sehen Sie«, antwortete er und griff nach seiner Jacke. »Heute bin ich gedemütigt und enttäuscht worden, und ich bin nicht in der Stimmung, um mich an den schönen Seelen der Menschen zu erfreuen.« Er wandte sich zum Gehen, hielt noch einmal inne. »Entschuldigen Sie ... Und danke für das Abendessen. Sagen Sie Danny für mich gute Nacht.« Sie folgte ihm zur Tür und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sehen Sie, Sie sind noch immer der net te Kerl, der Danny geholfen hat, und der mir an der Getränkeausgabe half.« »Freut mich, daß es ein wenig ausmacht.« »Es macht eine Menge aus«, sagte sie und küßte ihn. Erschrocken erwiderte er und küßte sie auf den Mund. Ihre Lippen öffneten sich, und ihre Zunge
suchte die seine, und noch während er sich wunderte, fuhr seine Zunge unter die ihre, fühlte die nasse Seide dort und streichelte sie. Seine Finger tasteten nach den Knöpfen ihres Kleides und begannen sie zu öff nen. Obwohl er wußte, daß sie bald im Bett sein wür den, bemerkte er mit Befriedigung, daß sie keinen Büstenhalter trug, und daß es keine kleinen Metallhaken zu lösen gab, während man so tat, als geschehe nichts. Seine Hand tastete weiter herum, und spürte, wie sie von einem Schauer überlaufen wurde. Noch als er sie an sich zog, wußte er, daß sie ganz sein war, aber nicht wie etwas, was man zu besitzen trachtete, son dern sie zu umarmen und für sie zu sorgen. Seine Hand glitt über ihren Rücken und fühlte je den Wirbel des einwärts und wieder nach außen ge bogenen Rückgrats, bis es in die Rundungen ihres Hinterns überging. Sie nahm seine Hand hin, wie sie seine Lippen und seine Zunge hingenommen hatte. Leise Zweifel meldeten sich, denn schließlich gab es mehr Männer, die ›nette Kerle‹ waren. Ging sie mit allen ins Bett, mit Anthropologen, Eskimos, Schatten, für die er nicht einmal einen Namen wußte? Er hob die Hände zu ihren Schultern, zog das auf geknöpfte Kleid auseinander und vorwärts, und sie drehte die Arme, um sie besser zu befreien und ließ
das Kleid zu Boden fallen. Nackt stand sie vor ihm, verwundbar und vertrauend. Er war es, den sie wollte, ihn selbst, in dieser Minu te, und die Schatten anderer hatten keine Substanz noch Bedeutung. Er küßte sie, als er die Arme um sie schlang, sie aufhob und an sich drückte. Sie war leicht in seinen Armen und versprach liebevoll im Bett zu sein. Das war alles, worauf es ankam. Sein Erwachen war wie das Emporsteigen aus der tie fen Dunkelheit am Grunde eines Wassers. Er lag neben ihr und begriff, daß es Morgen war, und sie schlief noch. Bevor sie aufwachte, wollte er es durchdenken, den ganzen Prozeß, durch den er zu diesen unvertrauten Empfindungen von Erschrecken und Schwäche gekommen war, und zu dem Glück, zum erstenmal in seinem Leben zu erwachen. Es wurde ihm klar, daß er aus Furcht, ein völliges Sichausliefern würde der Selbstaufgabe und dem Tod gleichen, immer einen wesentlichen Teil seiner selbst unter Verschluß gehalten hatte. Doch diesmal war es anders. Er erinnerte sich, daß sie ihn geführt hatte, daß sie ihn, sobald er in sie eingedrungen war, gelenkt hatte. Eine kleine Weile hatte er gezögert, denn bei all den Frauen, mit denen er ins Bett gegangen war, fühlte er
sich jetzt seltsam unschuldig und gewann ein wenig von den süßen Ängsten des ersten Mals zurück. Er verspürte nichts von der üblichen Katerstim mung mit ihren Gewissensbissen. In jener tiefsten Kommunikation der Vereinigung war ihm so deut lich zu Bewußtsein gekommen, als wären sie geistig so eins wie körperlich, daß nichts, was er sagen oder tun mochte, unnatürlich oder fremd oder feindselig war. Er mußte sich eingestehen, daß es sein Leben lang anders gewesen war, daß es körperliche Aspekte gab, die ihn daran erinnerten, daß er nicht mehr war als ein Tier. Seine ganze Gesellschaft hatte diese Aspekte verschämt und hastig unter Attitüden und Kosmetika begraben, und wenn sie trotz solcher Anstrengungen zum Vorschein kamen, wurden sie mit Abscheu regi striert, oder man versuchte sie zu übersehen, oder es gab Entschuldigungen, denen Ermutigungen und Versicherungen folgten. Aber Karen war anders. Für sie war nichts unna türlich. Die innewohnende animalische Natur wurde gesehen, begrüßt und angenommen. Wie sie ihn rückhaltlos akzeptierte, so ergab er sich der Fülle sei nes animalischen Wesens. Ihr Schlaf wurde unruhiger, und er beobachtete, wie sie die Augen öffnete, unsicher blinzelnd und, überwältigt und eingeschüchtert vom Licht der Welt,
die Lider wieder schloß, sich für wenige Augenblicke in den Schlaf zurückzuziehen suchte, sich dann erin nerte, ihn sah und in ihr Leben aufnahm. »Morgen ...«, murmelte sie. »Selbst Morgen.« »Worüber lächelst du?« »Es war schön.« »Das war es, aber nicht darüber lächeltest du.« »Ich dachte daran, daß die Eskimos sich die Nasen reiben.« »Als Anfang.« Er rieb seine Nase an der ihren. »Es ist ein guter Anfang.« Er küßte sie. »Natürlich, bei all dem Eis gibt es sonst nicht viel zu tun.« »Ach ... es ist nicht nur Eis.« Sie strich ihm übers Haar und zog ihn näher. »Nein?« Er küßte ihre Augenlider. »Wenn der Himmel ganz grau war und dann die Sonne herauskam ... dann war es wie geschmolzenes Gold, das sich über das Eis ergoß.« »Geschmolzenes Gold ...« Er knabberte an ihrem Ohrläppchen. »Kann ich mir gut vorstellen.« »Und das Licht spiegelte sich in jedem winzigen Kristall und funkelte mit allen Farben des Regenbo gens ... als ob Berge von Diamanten aufgehäuft wä ren.« »Hört sich gut an.«
Er drehte die Zungenspitze in ihrem Ohr und hörte sie leise keuchen. »Und das Eis macht Geräusche, wenn es sich be wegt, ein Splittern und dann ein rollender Donner, der immer neue Echos auslöst. Lange Zeit kann es ganz ruhig sein, und man läßt sich täuschen ... Und dann geht es auf einmal los, daß man vom Lager auf fährt.« Er ließ die Zunge über ihren Hals zur Brust wandern und umspielte die Warze. Sie packte sein Haar fester. »Und es gibt Eisgebilde, die vom Wasser ausge höhlt und geschliffen werden ... Manchmal sind sie wie Kristallblumen. Und wenn die Sonne darauf scheint ... es gibt nichts Schöneres.« »Oh, doch, es gibt ...« »So?« »Dich.« »Danke.« Sie lächelte und rieb die Nase an seinem Ohr. Er schlummerte wieder ein und begann von einem Land zu träumen, wo das Eis Feuer war, und die Stil le rollender Donner, der einen täuschen konnte, so daß man meinte, es sei still, während man den Don ner im Ohr hatte: Buu! ... Aber in ihrer Stimme. Ihrer Stimme? Er kam zu sich und schlug die Augen auf. »Sagtest du was?«
»Ich sagte: ›Buu.‹ Ich wollte nicht, daß du schon wieder einschliefst, wo es gerade so angenehm war.« »Wie hat das Eis sich angehört?« »Das ... Eis?« »Die Geräusche.« »Ach so. Nun, zuerst hört man ein splitterndes Ge räusch, dann ein Donnergrollen, und gelegentlich er zittert der Boden unter den Füßen, wie bei einem Erdbeben, obwohl ...« »Wie lange geht das schon so?« »In den letzten zwei Jahren ist es immer häufiger vorgekommen. Wenn der Gletscher in Bewegung ist, kann man es mit bloßem Auge erkennen. Dann rückt er an einem Tag eine Strecke von der Länge dieses Zimmers vor, aber in letzter Zeit ist es ...« Sie brach ab. Er war schon aus dem Bett gesprun gen. »Ich muß dein Telefon benutzen.« »Gern, aber wen ...?« Er wählte bereits. »Kashihara? ... Mark Haney hier ... Nein, Hideo, ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber es ist wichtig ... Ich weiß nicht, wieviel Uhr es ist, und es tut mir nicht leid, daß ich Sie geweckt habe. Jetzt passen Sie auf und hören Sie gut zu.« Karen lauschte verwundert, wie Mark fieberhaft von einem vorrückenden Gletscher redete und ihre Gegenwart vergessen zu haben schien.
»Gewiß war es eine Wolkendecke. Die Frage ist nur, was, zum Teufel, hat eine Wolkendecke über Grönland verloren? Und offenbar schon seit längerer Zeit! Natürlich schneit es dort hin und wieder, aber es ist Wüste ... Ja, es ist Eis, aber es ist Wüste. Nieder schlagsarm, wenigstens bis jetzt ...« Das Gespräch verlor sich zusehends in technischen Details, bis er auflegte. »Er nimmt es mir ab! Hol ihn der Teufel, er kauft es! Und er verfügt über Stiftungsmittel, die er einset zen kann. Die Sache ist bloß die ...« »Was?« »Möchtest du gern zurück?« »Wohin?« »Nach Grönland. Zum Gletscher. Es würde großar tig zusammenpassen, du kennst den Stamm, du kannst uns Führer besorgen, Schlittengespanne ...« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Das ist ziemlich plötzlich ... Wie bald soll das geschehen?« »Sowie die finanzielle Seite geklärt ist.« »Ist es so wichtig?« »Verdammt wichtig!« »Und was ist mit Danny?« »Er wird die Notwendigkeit einsehen. Er wird ver stehen, daß wir an Ort und Stelle Untersuchungen ...« »Mark, du verlangst von mir, daß ich ihn zurück lasse?«
»Nun, er wird verstehen, daß es kein Pfadfinder ausflug ist.« Sie stöhnte. »Mein Gott, Mark, du weißt, welchen Schock er erlitten hat. Wieviel Liebe hat er je von ei nem von uns bekommen, und besonders von mir? Nun erwartest du von mir, daß ich ihn wieder verlas sen soll.« Mark starrte sie verwirrt an. »Verstehe ich etwas falsch? Ich dachte, es würde ihm sogar Spaß machen, wir könnten ihm Essensvorräte in den Kühlschrank tun ...« »O nein!« Sie stieß ein kurzes Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Machst du Witze?« »Wo siehst du das Problem?« »Weißt du, wie lange wir ausbleiben müßten?« »Also, ich rechne mit einer Reisedauer von zwei oder drei Tagen – um Aufenthalt und Anschluß schwierigkeiten zu berücksichtigen ...« »Dazu kämen dann die Fahrten, die wir von dort aus unternehmen müßten.« Er nickte. »Und?« »Na, jetzt haben wir Spätsommer. Ich rechne, daß wir im Januar oder Februar zurück sein könnten.« Mark machte ein langes Gesicht. Er kam zurück und ließ sich aufs Bett fallen. »Du mußt es wissen«, meinte er nach einigem Grübeln. »Ich nehme an, es wird keine Möglichkeit geben, das Gaspedal durch
zutreten, oder was immer man bei einem Hunde schlitten macht.« »Die Hunde antreiben?« Er nickte. »Die Eskimos haben in sechstausend Jahren ge lernt, wie man mit den Hundeschlitten am besten vo rankommt. Wenn es eine Möglichkeit gäbe ...« Er hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut. Wir haben Probleme, drei, um genau zu sein. Erstens Danny, zweitens Geld, und drittens, meinen Chef zu überzeugen.« Endlich hellte seine Miene sich auf. »Aber vielleicht haben wir es in Wirklichkeit nur mit einem Problem zu tun. Wenn wir Guzman nicht überzeugen, dann werden die anderen Probleme gar nicht erst aktuell.« Es schien, als sollten sie es in der Tat mit nur einem Problem zu tun bekommen. Guzman blieb trotz des neuen Beweismaterials unüberzeugt. Mark näherte sich dem Ende seiner Nervenkraft. Hatte Guzman nicht selbst gesagt, daß Gletscherbe wegungen der entscheidende Klimafaktor waren? »Gletschervorstöße sind nichts Neues.« »Dieser Gletscher marschiert, er rückt nicht bloß vor. Karen sprach mit den Eingeborenen über die Verlegung des Dorfes, weil es direkt in seiner Bahn liegt.«
»Warum sieht man es dann nicht auf den Satelli tenbildern?« »Gütiger Gott, Sir, Sie sind derjenige, der auf die Wolkendecke hingewiesen hat. Und die Wolkendecke selbst bedeutet schon, daß dieses Gebiet unter Tief druckeinfluß steht.« »Das kann alles mögliche bedeuten.« »Es bedeutet etwas. Und die einzige Methode, die uns Gewißheit verschaffen kann, ist die der Messung: Dichte, Rate des Vorrückens, Stärke, die Nieder schlagsmengen der letzten Jahre ... Ich weiß, Sir, das ist Kashiharas Fach. Aber er ist überzeugt.« Eine Pause trat ein. »Wer wird Ihre Vorlesungen und Seminare über nehmen?« »Jeder kann das machen. In diesem Semester ist es ganz elementarer Stoff.« »Da bin ich nicht so sicher. Ein Wechsel der Lehr kraft wirkt sich auf die Lernenden immer nachteilig aus.« Mark gewann auf einmal den Eindruck, daß Guz mans Einwände weder auf Tatsachen noch auf Logik fußten. Er versuchte es mit einer anderen Taktik. »Sie mögen recht haben, Sir. Es kann sein, daß nichts dahintersteckt. Sollte das der Fall sein, so wer de ich Ihnen selbstverständlich mein vollständiges Material zur Verfügung stellen. ›Die Unmöglichkeit
langfristiger Wettervorhersagen.‹ Das würde sich über Ihrem Namen gut ausmachen.« Während Mark mit Guzman verhandelte, gelangte Karen zu einer Entscheidung. Sorgfältig beschrieb sie die Reise Danny, der so ernst zuhörte, daß sie ihn am liebsten bei den Schultern genommen und geschüttelt hätte, bis die Erwachsenenmaske abgefallen wäre. Statt dessen fragte sie ihn: »Danny, würdest du gern mitkommen?« »Mit dir?« »Mit uns, nach Grönland.« Schließlich, so dachte sie, liebt jedes Kind ein Abenteuer. Die Auseinander setzung mit einer neuen Welt, in der er sich würde zurechtfinden müssen, mochte zu einer ausgegliche neren Entwicklung seiner Persönlichkeit führen. Eine Sekunde lang sah sie in seinen Augen etwas wie Abenteuerlust aufleuchten, aber es ging rasch vorüber. »Es ist ... primitiv.« »Ja, es ist aufregend.« »Monate und Monate nichts als Schnee und Eis. Ich ... das könnte ich nicht ertragen.« »Eskimokinder können es ertragen, sogar sehr leicht. Du wirst sie kennenlernen.« Er rümpfte die Nase. »Worüber sollte ich mit ihnen reden?« »Du würdest mehr lernen als in der Schule.«
»Oh ... Nein, die Schule kann ich nicht versäumen. Wirklich ich kann die Schule nicht versäumen.« Sie hätte ihn gern gefragt: ›Nicht einmal mir zulie be?‹, ließ es aber sein. Sie wußte, wie die Antwort lau ten würde. Nachdem Mark gegangen war, zog Guzman fröstelnd die Schultern ein, obwohl es warm im Zimmer war. Er nahm den Hörer vom Telefon, wählte die Nummer der Immobilienabteilung seiner Bank und verlangte seinen Vertrauensmann. Dieser hatte Nachforschungen ange stellt. In den von Guzman genannten Gegenden herrschten unsichere politische Verhältnisse. Die Be völkerung war überwiegend arm, und es gab keine Bodenschätze, die eine große Zukunft signalisiert hät ten. Als Kapitalanlage wäre der Grunderwerb in den betreffenden Gegenden wenig erfolgversprechend. Er werde selbstverständlich Kaufverträge ausführen, aber er wolle nicht, daß Guzman als alter Kunde bei ei ner Fehlinvestition Geld verliere. »Mir gefällt es dort. Sagen wir meinetwegen, daß ich verrückt bin. Hören Sie zu, John, innerhalb wel cher Frist können Sie dort Immobilienkäufe tätigen?« Es werde schon eine Weile dauern, meinte der Im mobilienhändler. Es gebe Probleme mit dem Geldum tausch, dann müsse durch Mittelsmänner gearbeitet werden, usw. Kaufverhandlungen mit lateinamerika
nischen Partnern zögen sich überdies erfahrungsge mäß in die Länge. »Verhandeln Sie nicht lange. Sobald Sie ein geeig netes Objekt gefunden haben – alleinstehendes Land haus mit eigenem Wasser und geräumigem Grund stück –, greifen Sie zu. Kaufen Sie zum ersten Preis, den der Verkäufer verlangt.« »Zum ersten Preis? Sind Sie sicher, daß Sie ...?« »Ich sagte doch, daß ich verrückt bin, nicht wahr?« Der Satellit überflog Neuengland und maß die Verän derungen, die das Ende des Sommers mit sich brachte. Träge Luftmassen, die den Großstädten des Ostens In versionswetterlagen mit drückender Hitze beschert hatten, begannen sich endlich zu verlagern und aufzu lösen. Die Großwetterlage stellte sich um. Der kompli zierte Luftaustausch der nördlichen Halbkugel geriet in Bewegung. Berge von Luft schichteten und formten sich um. Kaltfronten und Warmfronten trafen in hefti gen Konfrontationen aufeinander, und unter diesen Bergen atmeten die Menschen auf und hießen die Un terbrechung der Hitzeperiode willkommen. Als der Planet in seiner Umlaufbahn weiter wan derte, verlagerte sich seine Achse relativ zur Sonne, und die Zone der intensivsten Sonneneinstrahlung verlagerte sich langsam südwärts. Für kurze Zeit stand der Mittelpunkt der Sonne
über dem Himmelsäquator. Es war das Äquinoktium. Tag und Nacht waren in allen Gegenden der Erde gleich lang. In der nördlichen Hemisphäre sollten die Tage wei terhin kürzer werden, und die ungezählten Lebens formen des Planeten fingen in dieser Zeit mit ihren instinktiven Vorbereitungen und Umstellungen an, zogen sich zurück, welkten, gruben sich tiefer in den Boden, legten sich ein dichtes Winterfell zu. Der Astronomieprofessor mußte bei der Beobach tung dieser Prozesse flüchtig an eine ziemlich lebhaf te Versammlung über eine angeblich bevorstehende Eiszeit denken, aber der Gedanke verlor sich rasch wieder aus seinem Bewußtsein. Selbst seine gewohn ten Frustrationen über unzureichende Ausrüstung, die wissenschaftliche Arbeit, die er nie schreiben und den Ruhm, den er nie erringen würde, wurden in den Schatten gestellt von der Gewißheit der Beständigkeit des Sonnensystems und seiner Erscheinungen. In der Redaktion der New York Times erhielt ein Redakteur einen Auftrag, den er anfangs nicht recht zu würdigen wußte: die (jährlich zweimal wieder kehrende) Betrachtung über den Gang der Jahreszei ten und ihre Veränderungen. Die Nachrichten, die sich für den Abdruck eigneten, waren gewöhnlich schlechte Nachrichten, und Veränderungen pflegten zum schlechteren zu sein. Diese hingegen nicht.
»Wir alle dachten, der Herbst würde niemals kommen, aber nun ist er da, wie jedes Jahr ...« Hoch über ihm zog der Wettersatellit seine Bahn und sammelte Informationen, die dem Journalisten versagt blieben. HUMBOLDT-GLETSCHER, GRÖNLAND: Ein alter griechischer Entdecker nannte es ›eine träge und geronnene See, die weder befahren noch began gen werden konnte‹. Es war wie eine Skulptur von einem mächtigen Strom, glatt und eben, wo ein Fluß ruhig dahinströmen würde, aber wo der Untergrund uneben oder felsig war, zeigten die Stromschnellen sich in der Gestalt mächtiger Spalten und Brüche. Der Entdecker aus dem Altertum, der den Glet scherstrom für unpassierbar gehalten hatte, wäre über den Anblick der beiden Hundeschlitten ver blüfft gewesen. Der Eskimolenker führte den Leit schlitten auf geschickt gewähltem, fast ebenem Kurs über den verschneiten Gletscher, vorbei an halbver wehten Spalten und blaugrün ragenden Abbrüchen, so daß Mark nur das Zischen der Gleitkufen und ein gelegentliches Knirschen vernahm, wenn kleine Eis stücke vom Schlitten zerdrückt wurden. Von Zeit zu Zeit gerieten die Hunde aus dem Tritt und schnappten einander nach den Fersen, und die gleichmäßige Fahrt kam ins Stocken. Dann fluchte
der Eskimo und ließ die rohlederne Peitschenschnur sausen, die, fast zehn Meter lang, über die Doppelrei he der Hunde hinausreichte. Immer wieder sauste die Peitsche klatschend auf den Rücken dieses oder jenes Hundes herab und tanzte wieder davon, bevor die wütend schnappen den Kiefer sie erreichen konnten. Zuletzt begriffen sie, daß der Eigentümer der Peit sche ihr Herr war, und sie winselten und knurrten und setzten ihren gleichmäßigen Lauf fort. Das Sitzen auf dem niedrig gebauten Schlitten, dicht über der Schneeoberfläche, gab Mark die Illusi on enormer Geschwindigkeit. Es schien ihm, als flöge er auf den Schwingen des Windes über den Gletscher. Das Vergnügen der Schlittenfahrt wurde von Ka ren vermehrt, die hinter ihm saß. Manchmal langte er hinter sich, um ihre Schenkel zu streicheln, und dann versetzte sie ihm einen tadelnden Rippenstoß. Der Anfang der Fahrt war weniger bequem gewe sen. Die Hunde hatten geheult und sich wütend zur Wehr gesetzt, als sie vor den Schlitten gespannt wor den waren, und als sie endlich angeschirrt waren, hatten sie mit den anderen Hunden Beißereien ange fangen. Als es endlich losgegangen war, hatten sie die Gelegenheit ergriffen, um sich zu entleeren, und der Schlitten mußte über die in der Kälte dampfenden Exkremente fahren.
Mark blickte zurück und sah, daß auch Hideo Ver gnügen an der Schlittenfahrt hatte. Der Eskimolenker stand am rückwärtigen Ende des Schlittens auf den Kufen. Zuweilen sprang er ab und rannte längsseits, um die durcheinandergeratenen rohledernen Zuglei nen zu entwirren. Als Hideo auf seine Ähnlichkeit mit den Eskimos zu sprechen gekommen war, hatte Karen ihm erklärt, daß die letzteren reinrassige Asia ten seien, Nachkommen nordmongolischer Stämme, die eine damals bestehende Landbrücke zwischen Si birien und Alaska nach Nordamerika überquert hät ten. Mark richtete den Blick wieder nach vorn. Die mit Eis und Schnee gepanzerten Gipfel, die er seit ihrer Ankunft im Eskimodorf in der Ferne hatte aufragen sehen, schienen jetzt sehr nahe und zweidimensional, wie auf einer mittelalterlichen Malerei. Die Sonne brach durch, und einzelne Gipfel der Gebirgskette leuchteten, von ihrem Licht getroffen, unwirklich auf, herausgelöst aus dem einförmigen Grau von Schnee und Wolken. Sie fuhren in der Stille dahin, wie von Riesenvö geln getragen. Mark hatte das Gefühl, außerhalb der Zeit zu stehen. Seine Gedanken schweiften ab, und er geriet ins Träumen. Plötzlich brachen die vordersten Hunde im Schnee ein. Der Lenker stieß einen Schrei aus, und während
die Leithunde jaulend im Abgrund verschwanden, kreischte Karen: »Runter, runter!« und Mark warf sich ohne nachzudenken seitwärts vom Schlitten. Er prallte auf und überschlug sich, und als die Welt um ihn kreiste, sah er den umstürzenden Schlitten über sich. Instinktiv warf er sich zur anderen Seite, und das beladene Schlittengestell krachte wenige Handbreit neben ihm herab. Es folgte ein Durcheinander von Flüchen und Hun degeheul. Ein halbes Dutzend Schlittenhunde zappelte und scharrte hilflos im Schnee, stranguliert von den heillos verwirrten Gurten und Zugleinen, die auf der einen Seite vom umgestürzten Schlitten und auf der anderen Seite vom Gewicht der in die Gletscherspalte gefallenen Hunde gespannt wurden. Im Nu waren die beiden Eskimos am Rand des Abgrunds und zogen un ter Aufbietung aller Kräfte die verängstigt jaulenden Hunde Hand über Hand herauf. Hideo kam gerannt und half Mark auf die Beine. Seine vergnügte Miene stand in keinem Verhältnis zu dem, was eben geschehen war. »Was ... was, zum Teufel, war das?« murmelte Mark verwirrt. »Eine neue Spalte. Genau das, wonach wir gesucht haben.« Hideo führte ihn an den Rand der Spalte. »Das ist eine große Gletscherspalte, die sich neu gebildet hat.
Bei einem rasch vorrückenden Gletscher kommt es ständig zur Bildung frischer Spalten, während andere sich wieder schließen. Fällt viel Schnee, so kann es passieren, daß die Spalten allmählich zuschneien. Es bilden sich Brücken aus Lockerschnee, die nicht trag fähig sind. Aber sie verbergen die darunterliegenden Spalten. Es ist wie ein Hinterhalt, eine Fallgrube, bloß tiefer.« »Mein Gott ... Und Sie ließen uns vorausfahren!« »Nein, Mark, die Hunde liefen voraus. Einmal ab gesehen davon, daß sie in der Nordhälfte Grönlands verboten sind, hätten wir Motorschlitten verwendet, wären wir jetzt tot.« Nun, da der Schnee vom Rand der Spalte gebro chen war, konnte Mark sehen, daß sie acht bis zehn Meter breit sein mochte. Er nahm seinen Mut zu sammen, beugte sich ein wenig vor und spähte hinab. Die Wände waren scharf und gezackt wie eine schroffe Felswand, aber sie schienen von innen her in grünlichen und bläulichen Tönen beleuchtet. Aus der Tiefe drang das unerwartete Geräusch rieselnden und gluckernden Wassers herauf. »Wie tief, meinen Sie, ist diese Spalte?« »Nun, wenn Sie hineinfallen, dürfte es einem Sturz aus dem fünfzehnten Stock gleichkommen, aber ich habe nicht die Absicht, bei der Untersuchung abzu stürzen.«
»Sie wollen da hinunter?« »Deshalb bin ich hier. Eines ist jetzt schon klar: wo sich frische Spalten wie diese bilden, ist das Eis in Bewegung.« »Woran erkennen Sie das?« »Das Eis unten am Grund des Gletschers ist kom primiert. Da der felsige Untergrund zum Meer hin abfällt, ergeben sich an der Oberfläche des Eisstroms Dehnungsspannungen. So erzeugt die Bewegung des Gletschers zwangsläufig Spalten.« »Das nennen Sie eine Spalte?« Die Eskimos brachten das Gepäck, und Hideo packte eine Anzahl von Geräten und Meßinstrumen ten aus. Einer der Eskimos lachte und machte eine Bemerkung zu Karen. »Er sagt, die Sachen sähen wie Kinderspielzeug aus.« »Von wegen.« Der Eskimo sagte wieder etwas, und Karen ver dolmetschte: »Er sagt, er habe vor ein paar Wochen einige Leute von der Regierung hier heraufgeführt, die von ameri kanischen Wissenschaftlern begleitet wurden. Die hätten große Instrumente bei sich gehabt.« »Fragen Sie ihn, ob eines der Instrumente wie ein Spiegel aussah, gebrochen in Kristalle.« Sie dolmetschte, und Hideo sah das zustimmende
Nicken des Eskimos. »Laser. Sie wollten das gleiche wie ich.« Er setzte sich mißmutig auf einen Alumini umkoffer. »Was ist das Problem?« »Unsere Veröffentlichung ist im Eimer. Egal, was ich feststellen werde, sie haben es bereits gefunden.« »Aber sie haben nichts davon verlautbaren lassen. Also sehen Sie es anders herum: egal, was diese Leute festgestellt haben, Sie werden es herausfinden.« Hideo sah ihn an. »Das ist dümmer als alles, was Sie bei der Versammlung gesagt haben.« Er sprang auf. »Aber vergewissern wir uns selbst.« Hideo schnallte sich Steigeisen an die Stiefel und ließ sich am Seil hinunter. Auf seine aus der Tiefe ge rufenen Anweisungen hin, die Karen den Eskimos verdolmetschte, wurden die Instrumente hinunterge lassen, und Hideo verbrachte die nächste Stunde mit dem Verlegen von Leitungen für elektrische Messun gen und der Entnahme von Bohrkernen mittels eines Hohlbohrers. Seine Hammerschläge und das Knir schen des Bohrers schienen Verletzungen der schö nen Stille und Einsamkeit. Die Hunde wurden unruhig. Einer der Eskimos lauschte mit schiefgelegtem Kopf, und auch Mark glaubte ein tiefes, fernes Knistern zu vernehmen. Der Eskimo wandte sich zu Karen und sagte etwas. Seine Miene war bedenklich. Sie beugte sich über den Rand
der Spalte und rief: »Er sagt, Sie sollten schnell he raufkommen.« Hideos Stimme hallte aus der Tiefe. »Gleich fertig!« »Er sagt, schnell!« »In einer Minute.« Es gab ein Rumpeln, das Mark bis in die Eingewei de fühlte, so tief und leise war es zuerst. Es bekam kratzende Obertöne und wurde allmählich lauter und bedrohlicher. »Das ist mein Stichwort!« schrie Hideo. »Holt mich raus!« Sie zogen alle miteinander. »Schneller, verdammt!« Das Rumpeln verstärkte sich, und Mark fühlte eine unbestimmbare Bewegung unter seinen Füßen. Die Hunde begannen zu jaulen. »Wir ziehen schon!« Mark verspürte eine jähe Aufwallung von Panik, und das unterdrückte Jaulen der Hunde ging in ein Schreckensgeheul über, als eine heftige Erschütterung das kilometerdicke Eis durchlief. Mark blickte zur anderen Seite der Spalte und hatte den Eindruck, daß sie enger geworden sei. »Los, schneller!« Die Spalte schien sich von unten her zu schließen, und der am Seil baumelnde Hideo fürchtete, einge klemmt zu werden. Durch das Aufziehen des Seils
geriet er ins Pendeln und hatte Mühe, mit den Füßen die ärgsten Stöße abzufangen, wenn er gegen Kanten und Eisvorsprünge gestoßen wurde; die Hände brauchte er, um Instrumente und Eisproben vor Schaden zu bewahren. Mark geriet trotz der Kälte in Schweiß; die Stöße, die das in Bewegung geratene Eis wieder durchliefen, machten es zunehmend schwierig, die Balance zu hal ten und gleichzeitig Hand über Hand das Seil herauf zuziehen. Endlich kam Hideo über die Kante, er krabbelte und schnellte herum wie ein Fisch auf dem Trocke nen. »Die Instrumente!« schrie er. »Die verdammten Instrumente!« »Lassen Sie das Zeug, in Gottes Namen!« »Nein, sind Sie verrückt?« Und er rappelte sich auf, packte das Seil und zog mit den anderen. »Da kommt es ...« Einer der Schlittenlenker trat an den Rand der Spalte, um das Bündel mit den Instrumenten zu ergreifen und über die Kante zu heben, als das Eis um ihn losbrach und sich ein mehrere Meter langes Stück vom Spalten rand löste. Er fuchtelte hilflos mit den Armen, als der Boden unter seinen Füßen abrutschte, und fiel schrei end. Sein Schrei ging im dumpfen Poltern der unten auftreffenden Eisbrocken unter, dann kamen die Rän der der Spalte zusammen, und er war verschwunden.
Die Stöße und das Rumpeln hörten auf, das Eis kam zur Ruhe. Karen rannte schluchzend zu der Spalte, oder zu der Stelle, wo eine Spalte gewesen war. Der Druck der nachrückenden Eismassen war so stark, daß kaum noch eine Naht zu erkennen war. Mark legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie behutsam fort. Hideo starrte wie betäubt auf die geretteten Instrumente. Die Berechnungen waren langwierig und ermüdend. Hideo analysierte die gewonnenen Eisproben nach ihrer Dichte und Färbung, nach ihren elektrischen und thermischen Eigenschaften und übersetzte diese Statistik schließlich in Bewegungsraten. Mark übernahm die Berechnungen, setzte glaziale Geophysik mit atmosphärischer Physik in Beziehung und versuchte die Auswirkungen von Gletschern auf das regionale Wettergeschehen zu bestimmen. Hideo wiederum errechnete aus den Ergebnissen die Aus wirkungen des Wetters auf die Gletscher. Als sie schließlich ein Bild der Wechselwirkungen gewonnen hatten, das ihnen wissenschaftlich haltbar erschien, überdies vergleichbar den Ergebnissen, zu denen Wissenschaftler der Regierung mit hochent wickelter Satelliten- und Computertechnik gelangt waren, zeigte Mark genau die gleiche Reaktion wie ein anonymer Meteorologe im Dienst der Regierung.
»Mein Gott!« Darauf versank er in dumpfes Brüten. Erst als Ka ren zu ihm kam und ihn fragte, was er habe, brach es aus ihm hervor. »Vielleicht beneide ich deinen Freund, der im Gletscher geblieben ist. Er hatte ein gnädiges Ende, jäh und kurz. Während wir ... Gut, daß wir nicht wissen, was uns bevorsteht! Und ich sorgte mich wegen einer Veröffentlichung. Herr des Himmels! Wegen einer verdammten Veröffentli chung ...« »Um Himmels willen, Mark!« Er holte tief Atem. »Unsere Zivilisation erzeugt ei ne Menge Wärme, die zur vermehrten Verdunstung von Ozeanwasser führte und die Wolkendecke be trächtlich verstärkte, was eine Abkühlung zur Folge hat.« »Genug, um den Ausgleich wiederherzustellen?« Er lachte. »Wir haben der Natur bei diesem Aus gleich geholfen, haben Staubpartikel hinzugefügt, die Luftzusammensetzung verändert und dadurch eine Verlagerung der Höhenströmungen bewirkt. Dies blieb nicht ohne Einfluß auf die vorherrschenden Winde, und die wirken auf die Meeresströmungen ein. Wir haben der Natur die Mittel in die Hand ge geben, um Schnee zu machen.« Karen schluckte. »Wieviel?« »Nun, wenn die Wärmeperiode zu Ende geht, wird
das mit einem Kaltlufteinbruch verbunden sein, ei nem Sturm. Meine Vermutung geht dahin, daß der Nordosten vom schlimmsten Blizzard seit 1888 ge troffen werden wird.« »Das ist nicht der Weltuntergang. Es war schlimm, aber New York überlebte.« »Und wir werden diesen überleben. Nur ist es erst der Anfang. Er wird zu einer weiteren Abkühlung führen und den größeren Sturm hier auslösen. Das wird den Gletscher nähren.« Er dachte nach. »Die Leute werden es zwar selbst rechtzeitig merken, aber wir sollten es den Dorfbe wohnern sagen.« »Was willst du ihnen sagen?« »Daß sie fortziehen sollen.« »Das habe ich ihnen schon zu erklären versucht. Aber wie weit wird der Gletscher kommen?« Er blickte sie an. »Wie weit?« Er hob die Hände und ließ sich gegen die Zeltwand zurückfallen. »Der Glet scher wird wachsen, und wenn ihm sein Talbett zu eng wird, wird er sich durch den nächstbesten Gebirgspaß zwängen. Das wird das Ende des Dorfes sein.« »Die Leute werden fortziehen.« »Und der Gletscher wird weiter vorrücken. Er wird nicht haltmachen, ehe er das Meer erreicht. Aber das ist nicht alles. Die Zahl der Eisberge wird wachsen, und die nach Süden abströmende Kaltluft wird sich
weiter abkühlen. Dies wiederum wird die Entstehung neuer Tiefdruckgebiete begünstigen, deren Nieder schlagsfelder ein weiteres Anwachsen der Gletscher bewirken werden. So wird bald ein Punkt erreicht, wo die höheren Breiten kein Sonnenlicht mehr absor bieren. Es wird vom Eis einfach reflektiert.« »Und wo wird es aufhören?« Er zeichnete eine grobe Umrißskizze Nordamerikas in den Schnee. »Hier ist der Bundesstaat Washington ... und da ist New York. Wie ich es sehe, wird es einen dicken Gletscher geben, der ganz Kanada überdeckt und von der Gegend bei Seattle bis herüber nach New York reichen wird, geradeso wie in der letzten großen Eiszeit. Bloß wird es keine fünfhundert oder tausend Jahre dauern, bis es soweit ist.« »Wie lange denn?« »Wie Fink sagte, eineinhalb Wochen.« »Laß die Scherze, Mark. Sei realistisch.« »Bin ich. Wir sind schon beinahe zu spät dran. Wenn wir uns jetzt auf die Rückreise machen, könn ten wir gerade in diesen ersten Blizzard hineinkom men. Danach ist es ein Beschleunigungsprozeß. Ich weiß nicht, wie lange man braucht, um ein Land zu evakuieren, aber ich würde unsere Chancen nicht günstig beurteilen.« »Aber ... so schnell kann ein Gletscher nicht vor rücken.«
»Braucht er auch nicht. Wir werden schon lange vorher sterben. Der Gletscher wird nur noch erledi gen, was übrig ist.« »Aber es wird noch immer sichere Orte geben.« »Nicht allzu viele. Selbst wenn sie einen Frühling haben werden, wird diesem kein Sommer folgen, und das heißt, sie können keine Lebensmittel anbauen.« »Auch nicht in den Tropen und Subtropen?« »Dort wird es natürlich sicher sein, und in Gegen den wie in der Sahara wird ziemlich viel Regen fallen. Trotzdem wird man sie ebenso wie die Anden in Ab zug bringen müssen, denn so schnell geht es mit der Fruchtbarmachung nicht. Es wird nicht sehr viel Land übrig sein, um dort zu leben.« Er machte eine lange, bekümmerte Pause. »Nun, was würden deine Eskimos tun?« »Nichts. Sie werden es einfach hinnehmen.« »Also sind wir wieder dabei. Sie werden sich damit abfinden und es hinnehmen. Aber diesmal heißt das, daß sie dastehen und plattgewalzt werden.« Sie nickte. »Sie kennen die Regeln. Sie haben da nach gelebt, sie werden danach sterben. Es ist genau so natürlich.« »Es ist nicht natürlich. Niemand stirbt so leicht.« »Sie werden fortziehen, wenn der Gletscher kommt, aber sie werden die Alten, die Kranken, die Behinderten zurücklassen, genau wie die Natur es
tun würde. Und die alten Leute werden ihre besten Kleider anziehen und fröhlich diesem Tod entgegen blicken. Das ist die Art, wie sie es seit Tausenden von Jahren machen.« »Das ... das ist verrückt. Es ist nicht normal.« »So? Erzähl mir, wie wir die alten Leute behan deln.« »Jedenfalls verdammt viel besser.« »Ich werde dich wieder fragen, wenn du alt bist.« »Wenn jemand von uns es so lange macht.« »Einige von uns werden durchkommen.« »Die meisten nicht.« Sie zuckte die Achseln. »Selbst wenn es dich mit einschließt?« fragte er. »Jeder muß sterben.« »Wenn seine Zeit gekommen ist.« »Nun, vielleicht ist unsere Zeit gekommen.« »Und du fürchtest dich nicht zu sterben?« Sie machte eine Kopfbewegung zum Dorf. »Die fürchten sich nicht.« »Weil sie zu dumm sind.« »Oder zu klug.« »Klug? Sie werden ausgelöscht wie die Dinosau rier.« »Und was ist mit uns, den ›zivilisierten‹ Völkern, die es verschuldet haben?« Das brachte ihn für kurze Zeit zum Schweigen.
Dann sagte er: »Verdammt noch mal, wir sind keine Dinosaurier. Wir sind noch nicht ausgestorben.« Ihn schauderte. »Noch nicht.« Die Erde zog ihre Bahn um die Sonne, und ihre Nei gung brachte die südliche Hemisphäre unter die wärmenden Strahlen, während die nördliche Hälfte abkühlte. Die jahreszeitlichen Veränderungen mach ten sich in ihren vielfältigen Erscheinungsweisen be merkbar, und eine Welt paßte sich ihnen in einer ru higen, instinktiven, vertrauten Art an ... mit sich meh renden Ausnahmen. Der Satellit umkreiste die Erde wie diese die Sonne, zeichnete die Vielfalt der Strömungen auf und stellte die Abweichungen von der Norm fest, die erst wenige Fachleute entziffert hatten. Er zog über eine afrikani sche Wüste hinweg, in deren Randbereich zweihun derttausend Menschen gestorben waren, und folgte dem, was unter normalen Umständen die Bahnen der Höhenströmungen gewesen wären, zum ›fruchtbaren Halbmond‹, jener außerordentlichen Gegend der Erde, die als Wiege der menschlichen Kultur galt und nun die Hälfte der Menschheit ernährte. Hier herrschte nicht der Stand der Sonne über die Jahreszeiten, son dern der Ozean und seine Winde. Die großen Höhenströmungen der Atmosphäre be einflußten die geringeren Strömungen. Die Winde,
die gewöhnlich seewärts wehten, pflegten seit Menschengedenken umzukehren und die feuchtküh le Meeresluft über das Land zu tragen, wo sie den Herbst einleiteten, die Zeit der Monsunregen. Überall in Asien blickten die Bauern zum Himmel auf und beteten in ihren Tempeln. BHANDARA, INDIEN: Niemand vermochte sich zu erinnern, wann das rie sige Schöpfrad erbaut worden war, aber die Alten hatten gewußt, worauf es ankam, und gut gebaut. Das Gewicht eines einzigen Mannes, der an einem Ende die Trittleisten hinaufstieg, balancierte präzise das Gewicht des Wassers aus, das am anderen Ende gehoben wurde, und so wurden die Felder bewässert. Aber der Monsun, der den Fluß nährte, war uner klärlich spät gekommen, und der Fluß verwandelte sich in ein schlammiges Rinnsal. Es wurde schwieri ger, das Schöpfrad in Bewegung zu halten, und der Bauer mußte seine beiden ältesten Söhne holen, um das Gegengewicht zu verstärken. Das alte Holz knarrte bedrohlich. BOMBAY:
Das Telefon läutete früher als gewöhnlich, und ein
schläfriger Dr. Singh mußte sich die Augen reiben,
bevor er den Hörer abnahm. Noch ehe er sie hörte,
wußte er schon, daß die Nachricht nicht gut sein konnte. In einem Land, wo der Monsun eine Frage von Leben und Tod war, genoß der Meteorologe mehr Verehrung als der Herzchirurg. Und nun, als Dr. Singh vom diensttuenden Meteo rologen unterrichtet wurde, reagierte er so grimmig wie ein Chirurg, der vom Rückfall seines Patienten hört. Die Meldungen kamen vom Indischen Ozean, dem Arabischen Meer und dem Golf von Bengalen. Es gab keine Veränderungen des Luftdrucks und der Wind richtungen. Keine Anzeichen deuteten auf das er sehnte Eintreffen des Monsuns in. Dr. Singh wußte, daß er, kaum im Büro, mit fle hentlichen Botschaften von Regierungsbeamten und Provinzgouverneuren überschwemmt würde. Er würde keine Antwort für sie haben. Er machte sich Sorgen um seine Stellung. Dann sorgte er sich um sein Land. Der Satellit wanderte weiter und registrierte, daß, während bestimmte Tiefdruckwirbel sich nicht so entwickelt hatten, wie sie sollten, viele Gebiete Nie derschläge bekommen würden, mit denen sie nicht gerechnet hatten und auf die sie schlecht vorbereitet waren. Der Satellit zog seine Bahn um die Antarktis, stellte
die Verlagerung von Eismassen fest, und näherte sich Südamerika. Unter den anmutigen Wolkenwirbeln bei den Süd-Orkney-Inseln und Kap Horn verbargen sich die tobenden Böen der stürmischsten Region der Erde. Dann erreichte er Nordamerika über Kap Hatteras vor der Küste Nord-Carolinas. Hier beobachteten sei ne Instrumente die Okklusion gegensätzlicher Luft massen, denen im Ozean ein Aufeinandertreffen ver schiedener Meeresströmungen entsprach. Kaltluft aus dem Norden traf in unaufhörlichem Konflikt auf warme Luft aus der Golfregion. Hier war das Entste hungsgebiet der Stürme, die im weiteren Verlauf die Nordostküste aufwärts zogen, zu einem der am dich testen besiedelten und industrialisierten Teile der Welt. Hier wurde ein Zentrum tiefen Luftdrucks gebo ren. Es war nur eines von vielen, und den Satelliten interessierte es nicht mehr als andere. Auch die Me teorologen der Wetterwarten, ohne Kenntnis solcher Faktoren wie der Verlagerungen der Höhenströmun gen und des Golfstroms, der anders verlaufenden Zugbahnen wandernder Tiefdruckwirbel und der Ansammlungen von Staub und Gasen in den höheren Schichten der Atmosphäre, schenkten ihm nicht viel mehr Beachtung. Unglücklicherweise.
Die letzte Etappe ihres Fluges verlief ohne Komplika tionen. Mark verbrachte die meiste Zeit damit, daß er aus dem Fenster blickte und die Wolkenbildung beo bachtete, als könne er in ihnen die Vorläufer der er warteten Kaltfront erkennen. Doch alles, was er sah, waren Schönwetterwolken, fein gefiederte Zirrus und, entlang der Küste, eine Reihe harmloser kleiner Quellwolken wie Wattebäusche. Er wandte sich zu Karen. Die Meinungsverschie denheiten waren vergessen, und er wußte, daß sie, wie er, an ihre erste gemeinsame Nacht dachte. Er sah es in ihren Augen und spürte es am Druck ihrer Hand. Immer, dachte er, würde er dieses Verlangen nach ihr verspüren, und wenn die Welt um sie her einstürzte. Er machte sich Gedanken über Hideo. Die Eskimos und der Umstand, daß er ihnen ähnlich war, hatten den Japaner fasziniert. Er hatte darauf bestanden, noch eine Weile im Dorf zu bleiben, und so hatten sie ihn dort zurückgelassen. Die Lautsprecherstimme schnitt durch Marks Ge danken. »Meine Damen und Herren, wir werden in ungefähr zwei Stunden in New York landen. Der Wetterdienst meldet, daß wir von leichten Schneeschauern begrüßt werden. Zu Behinderungen des Flugverkehrs wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht kommen, und die
Staubecken der Elektrizitäts- und Wasserversorgung werden ein wenig Zufuhr gebrauchen können.« Die Passagiere murmelten. Einer beugte sich über den Mittelgang und sagte zu Mark: »Es ist gut, daß die Dinge sich wieder normalisieren.« Mark lächelte höflich. Karen zog ihn zurück und wisperte: »Ist das der Blizzard, von dem du sprachst?« Mark nickte ernst. Normalerweise hätte der neuentstandene Tiefdruck wirbel niemals seine volle Reife erlebt, wäre die Küste hinaufgezogen, hätte den Nordosten mit leichtem Schnee oder Regen gestreift und wäre draußen über dem Atlantik jung gestorben. Diesmal jedoch nährten ihn die zunehmende Hitze und der erhöhte Wasserdampfgehalt der Luft. Au ßerdem vereinten die veränderte Höhenströmung und der Golfstrom ihre Kräfte, um den Wirbel länger als gewöhnlich in der Region seiner Entstehung fest zuhalten. So verlängerten sie seine Kindheit und er laubten ihm, größer und gefährlicher zu werden, be vor sie ihn auf den Weg schickten. Selbst vor dem Zeitpunkt seiner vollen Ausbildung würde er eine Kraft darstellen, mit der gerechnet werden mußte.
Die aufgezeichnete weibliche Stimme fuhr munter und musikalisch fort: »Die Wettervorhersage für New York City und Umgebung«, um dann in einem etwas mehr geschäftsmäßigen Tonfall die Wetterlage zu schildern und die verschiedenen Ablesungen der be nachbarten Städte durchzugeben. Die Prognose gip felte in der Ankündigung, daß die leichten Schnee schauer nicht von Dauer sein und spätestens in einer oder zwei Stunden zu Ende gehen dürften. Das kann nicht stimmen, dachte Danny. Er hatte immer an die Allwissenheit des Wetterdienstes ge glaubt und seine Voraussagen als Standardkorrektiv für seine eigenen Feststellungen benutzt. Aber dies mal wußte er, daß sie sich geirrt hatten. Zuerst spielte er mit dem Gedanken, das Büro des Wetterdienstes anzurufen und mit dem leitenden Me teorologen zu sprechen, aber er hatte von Mark gelernt, daß es wahrscheinlich vergeblich sein würde. Diese Leute waren in ihre Vierundzwanzig-Stunden-Vor aussagen eingebunden, waren ganz auf die kurzfristi ge Prognose eingestellt. Es kam hinzu, daß kein Mensch eine Kinderstimme am Telefon ernst nehmen würde. Er beschloß, zu tun, was er unter den Umständen konnte: Er rief das Schulsekretariat an und bat, daß man ihn mit dem Direktor verbinde. »Er ist noch nicht da. Darf ich fragen, wer anruft?« »Daniel Magnusson.«
»Worum geht es denn?« »Um die gegenwärtige Wetterlage.« »Ja?« »Nun, es ist ziemlich kompliziert, und ich kann jetzt nicht ins Detail gehen, aber es wird einen größe ren Sturm geben, vielleicht den schlimmsten dieses Jahrhunderts.« »Sind Sie ... sind Sie vom Wetteramt?« »Es heißt jetzt der Wetterdienst.« »Oh, tut mir leid. Aber wir hörten gerade die Vor hersage ...« »Die befindet sich im Irrtum.« »Aber ... warum sollte sie ... Ich meine ...?« »Statt Zeit mit Telefonieren zu verbringen, sollten Sie eine Bekanntmachung hinausgehen lassen, daß die Schule geschlossen bleiben wird, und die Schüler und Lehrer auffordern, zu Hause zu bleiben.« »Solche Anweisungen müssen von der Schulbe hörde kommen.« »Können Sie nicht dort anrufen? Sie können sich mit mehr Autorität als ich an die Behörde wenden.« »Wie können wir wissen ...?« »Ich weiß, daß ich mit meiner Vorhersage recht ha be. Darum sollte ich heute nicht zur Schule kommen, und auch sonst niemand.« »Sie ... was ... was bist du, ein Schüler?« Danny erkannte seinen Fehler, aber er war nicht
mehr rückgängig zu machen. »Professor Mark Haney hat mich unterrichtet ...« »Nun paß mal auf, Daniel Magnusson, ich gebe dir einen guten Rat. Wenn die Klingel läutet, bist du hier, oder es gibt Schwierigkeiten, verstehst du?« »Aber ich sage Ihnen ...« »Du bist bereits in Schwierigkeiten, junger Mann. Ich werde deinen Klassenlehrer von diesem Anruf verständigen. Mache es nicht durch Schuleschwänzen noch schlimmer.« Im letzten Augenblick, ehe sie auflegte, hörte er sie in die andere Richtung sagen: »He, wollt ihr hören, was für ein Ding ein Schüler gerade abziehen wollte?« Er hielt den Hörer noch eine Weile in der Hand, bevor er ihn seufzend auflegte und aus dem Fenster in den grauen Himmel blickte. Es wäre ein größerer Sturm geworden, einer, der eine Gemeinde in Schwierigkeiten bringen, aber nicht lähmen konnte. Diesmal aber leistete die Gemeinde dem eigenen Verderben noch Vorschub. Die Nordostküste der Vereinigten Staaten ist ein ausgedehntes Siedlungsgebiet. Eine Stadt geht in die nächste über, und alle zusammen bilden eine riesen hafte Megalopolis. Diese gewaltige Wärmemaschine förderte die Entwicklung des Sturms und verstärkte ihn zu wütender Raserei.
Der Wasserdampf erfüllte das gesamte Raumvo lumen des wachsenden Tiefdruckwirbels in Gestalt winziger, feinverteilter Tröpfchen. Diese waren so klein, daß erst eine Million von ihnen einen Regen tropfen ergab, und so leicht, daß sie in die höchsten, kältesten Bereiche der Atmosphäre getragen wurden. Dort wurden sie auf eine Temperatur unter dem Ge frierpunkt abgekühlt, blieben jedoch Wasser, da es eines Schocks bedurfte, um sie zu Eis zu verwandeln. Hier, in diesen hohen atmosphärischen Bereichen, warteten die Auslöser dieses Schocks, die mikrosko pischen Partikel aus Staub, Ruß und gasförmigen chemischen Verbindungen. Es war beinahe wie die Begegnung von Spermium und Ei. Jedes Staub- oder Schmutzteilchen zog ein Wassertröpfchen an und band es. Moleküle arran gierten sich neu, und die fast augenblickliche Folge war eine Metamorphose. Wasser erstarrte zu Eis, aber in kristalliner Form, so daß hexagonale Sterne ent standen. Die atmosphärischen Turbulenzen hielten diese ungezählten Kristalle in ständiger Bewegung, während die Arme feinste Sprossen entwickelten, ba rocke und komplizierte Formen von nahezu unendli chem Reichtum an Variationen, der dafür sorgte, daß von diesen Milliarden winziger Sterne aus Eiskristal len keine zwei vollkommen gleich waren. Allmählich wurden sie so schwer, daß die Wolken
sie nicht länger halten konnten. Einzeln zuerst, dann zu Hunderten, zu Tausenden und Hunderttausen den, begannen sie in tiefere Schichten zu sinken und als weißer Flockenwirbel auf die Erde niederzugehen. Die Szenerie draußen vor dem Flugzeugfenster schien zu flattern, als Wolkenfetzen vorbeihuschten, und dann tauchte die Maschine ganz in graue Wol ken ein und wurde plötzlich von Böen erfaßt, die es herumstießen, durchsacken ließen und wieder em porhoben. Das Signal zum Anlegen der Gurte blinkte, und der Kapitän meldete sich über die Sprechanlage. »Das sind die Schneeschauer, von denen wir sprachen, meine Damen und Herren. Der Flug ist hier oben ein wenig rauh, aber es besteht kein Grund zur Besorg nis.« Mark ächzte. Karen schüttelte den Kopf. »Du kannst jetzt nichts tun als abwarten.« Beide verstummten und beobachteten den wilden Tanz der windgefegten Schneeflocken am Fenster. »Weißt du«, sagte Mark unvermittelt, »ich hatte mal einen Freund, der Meteorologe bei der Luftwaffe war. Ich war eifersüchtig auf ihn. Bei der Luftwaffe spielen Meteorologen eine wichtige Rolle, sind fast so wichtig wie der liebe Gott. Sie sagen den Generälen,
wann geflogen werden kann, und wann nicht. Ich war nur bei der Küstenwache, und wir hatten keinem was zu sagen. Seeleute verkauen lieber dem eigenen Riecher als einer vom Festland gefunkten Prognose. Wie auch immer, eines Tages fiel er mit einer Vor hersage auf den Bauch. Das passiert einem in unse rem Beruf ziemlich leicht, bloß hatte er das Pech, daß vier der gestarteten Maschinen wegen eines unerwar tet aufgetretenen Sturmwirbels nicht zurückkehrten. Sie blieben verschollen. Mein Freund erschoß sich.« Er hielt inne. »Ich sagte mir, daß ich diese Art von Verantwor tung niemals auf mich nehmen wolle. Ich schlug die akademische Laufbahn ein, und so war ich nie für ir gendwelche Menschenleben verantwortlich.« Er versank wieder in Stillschweigen, wurde aber mit jedem Augenblick nervöser, als die Maschine allmählich durch die Wolken niederging. Zuletzt schnallte er sich los und stand auf. »Bitte bleiben Sie sitzen, Sir«, sagte die Stewardeß. »Ich muß mit dem Flugkapitän sprechen.« »Tut mir leid, Sir«, sagte sie sehr viel schärfer, »aber Sie müssen sich wieder setzen.« Mark zögerte, dann gehorchte er. Er wandte den Kopf zu Karen und sagte mit schiefem Lächeln: »Ja, wozu? Bevor mir jemand glaubt, kriege ich es mit der ganzen Besatzung zu tun.«
Bald darauf kam der Flugplatz in Sicht, und sie lauschten stumm dem Pfeifen der Luft um die ausge fahrenen Landeklappen und dem abschwellenden Heulen der Triebwerke. Er sah auf die Uhr. »Die Leute werden jetzt alle zur Arbeit gehen.« Karen erbleichte. »Und Danny wird auf dem Schulweg sein. Es wird ihn überraschen.« Mark schüttelte den Kopf. »Danny hat Verstand. Er weiß, was los ist.« Karen schloß die Augen und betete, daß alles schnel ler gehen möge, daß das Fahrwerk aufsetze, daß die Maschine zum Stillstand komme, daß die Passagiere sich beim Aussteigen beeilten, während die Stewardeß jeden einzelnen mit dem üblichen Lächeln und den mechanischen Redensarten verabschiedete. Statt dessen vollzog sich jeder Schritt mit quälender Langsamkeit, bis Mark und Karen endlich die Kon trollen hinter sich hatten und im Abfertigungsgebäu de nach einer freien Telefonzelle suchen konnten. Danny schaute aus dem Fenster und sah die ersten Schneeflocken vorbeisegeln, folgte ihnen mit dem Blick, bis sie unten auf dem warmen Asphalt lande ten und schmolzen. So verbrachte er mehrere Minu ten mit der Betrachtung der immer dichter wirbeln den und tanzenden Flocken, bis ihm klar wurde, daß
er sich verspäten würde, wenn er sich nicht beeilte. Er zog einen Pullover und seine dickste Jacke an, und lief die Treppe hinunter. Auf halbem Weg zur Straße machte er halt. Es war anzunehmen, daß sie ihn aus lachen würden, aber bei Schulschluß sollte er derjeni ge sein, der zuletzt lachte. Er lief die Treppe wieder hinauf und in sein Zim mer, wo er Sachen aus dem Kleiderschrank nahm, die er bis dahin nie zu tragen gewagt hatte. Sie waren ein Geschenk seiner Mutter, eine aus Seehundfell genäh te Ausrüstung für Eskimokinder. Die Parka hatte eine Pelzkapuze, in welcher das Gesicht praktisch ver schwand, und dazu gehörten eine Fellhose, Fäustlin ge sowie Innen- und Außenstiefel. Er zögerte, glaubte den Spott seiner Klassenkame raden zu hören. Es wurde spät. Während er hastig in die ungewohnten Kleider fuhr, begann das Telefon zu läuten. Zuerst versuchte er es zu ignorieren. »Mein Gott, nein!« sagte Karen. »Laß weiter läuten.« Die in der Schlange hinter ihnen Wartenden wur den unruhig. »Nun beeilen Sie sich schon!« Karen preßte die Lippen zusammen und hielt grimmig am Hörer fest.
Mark zeigte ein dünnes Lächeln. »Seit unserer er sten Begegnung hast du einiges über Schlangestehen gelernt.« Sie war im Begriff einzuhängen, als sie ein Klicken hörte. »Hallo?« »O mein Gott, Danny!« »Hallo, Mutter. Freut mich, daß du wieder da bist«, sagte er pflichtbewußt. »Und ich bin erst froh, wieder bei dir zu sein! Wo warst du?« »Ich war gerade dabei, zur Schule zu gehen. Ich war sogar schon auf der Treppe.« »Gut, daß du umgekehrt bist. Es wird einen schrecklichen Blizzard geben.« »Ich weiß, Mutter. Deshalb bin ich umgekehrt. Ich habe die Eskimosachen angezogen, die du damals mitbrachtest ...« »Danny, du gehst nicht aus dem Haus!« »Ich muß, Mutter. Es ist Schule.« »Schule ist nicht so wichtig, Danny, bleib daheim! Du wirst eben einen Tag fehlen. Ich bin sicher, daß es keinen Unterricht geben wird.« »Mutter, ich kann nicht von der Schule wegbleiben.« »Ich werde dir eine Entschuldigung schreiben ... Ich werde schreiben, daß du krank warst. Um Gottes willen, Danny ...«
»Das wäre unehrlich, Mutter, aber es ist auch ganz nebensächlich; es ist Schule, und ich muß gehen.« »Hier, du kannst mit Mark sprechen ...« »Er weiß besser als ich, wie wichtig die Schule ist. Tut mir leid, aber ich habe mich schon verspätet. Wir sehen uns heute nachmittag. Auf Wiedersehen, und mach dir keine Sorgen.« Er legte auf. Karen blickte den toten Telefonhörer an; schließlich hängt sie ein und wandte sich zu Mark, um ihm zu sagen, was geschehen war. »Wie kann ein intelligenter Junge so dumm sein?« sagte Mark. »Vielleicht ist es ... weil die Schule besser zu ihm gewesen war, als ich es war.« Man konnte einem Kind kaum Vorwürfe machen, weil es Pflichtgefühl zeigte. Überall in der Stadt wie derholte sich der Vorgang, nicht nur zwischen Schul kindern und besorgten Müttern, auch unter Erwach senen, als Arbeiter und Angestellte ihr Frühstück be endeten, sich von ihren Frauen verabschiedeten und zur Arbeit gingen. Sie stiegen in ihre Wagen oder warteten auf Busse, Untergrundbahnen und Vorort züge. Die meisten fröstelten ein wenig, als die Tem peratur zu sinken begann und der Schneefall dichter wurde. Keinem von ihnen kam der Gedanke, nicht zu ge
hen. Ihre Vorgesetzten hätten wenig Verständnis für ein solches Verhalten aufgebracht, und niemand war so unabhängig, daß er die Mißbilligung seines Chefs oder den Verlust eines Tagelohns auf die leichte Schulter nehmen konnte. Außerdem lebte man nicht unter den Primitiven; die mächtigste Industrienation der Erde hörte wegen einiger Schneeflocken nicht auf zu funktionieren. Mark blickte aus dem Fenster ins zunehmend dichter werdende Schneetreiben. Der Erdboden war inzwi schen abgekühlt, und die Schneeflocken blieben lie gen. Es war bereits offensichtlich, daß diese erste Schneefall der Saison nicht so rasch verschwinden würde, wie der Wetterbericht es prophezeit hatte. »Als Pfadfinder war Danny keine Leuchte. Er fand sich im Wald nicht zurecht. Ich fürchte, er wird im Schneetreiben den Schulweg verfehlen.« »Mark, wir müssen ihn suchen. Ich weiß, was ein Blizzard anrichten kann.« Mark wandte sich um. »Ja. Wir lassen das Gepäck hier und sehen zu, daß wir weiter kommen, solange es noch geht.« Er nahm sie beim Arm, und sie eilten zum Ausgang. Die Taxis warteten in langer Reihe, und ihre einzi ge Konzession an den Schneefall war, daß sie die Scheibenwischer eingeschaltet ließen. Kein Taxifahrer
wäre auf den Gedanken gekommen, die Zubringer fahrten zum Flughafen einzustellen, boten sie doch die regelmäßigsten Einnahmen. Als Mark dem Taxifahrer die Anschrift im Süden Manhattans nannte, hätte der Mann mit Sicherheit je den ausgelacht, der ihm hätte weismachen wollen, er werde niemals dort ankommen. Wie er es auch sonst zu tun pflegte, notierte Richie Fuselli das Ziel auf sei ner Fahrtenliste und meldete es über Sprechfunk der Zentrale. Einen Augenblick später kam das antwortende Quaken, unverständlich für Mark und Karen, doch für den Taxifahrer offenbar zufriedenstellend. Er fuhr los und nahm Kurs auf die Van-WyckSchnellstraße. »Hübsch, zur Abwechslung mal wie der ein bißchen Schnee zu haben.« Als er drei Blocks weit gegangen war, dachte Danny, er wolle mit den anderen lachen, wenn sie ihn in sei ner Eskimotracht sähen, und so tun, als ob es ein Scherz wäre. Er mußte jedem, der auf ihn aufmerksam wurde, einen erheiternden Anblick geboten haben: ein klei ner Eskimo mit Brille, der eilig durch die Großstadt straßen lief, eingehüllt in einen Pelzanzug, der lose um seine dünne Gestalt schlotterte. Die Sachen waren zu warm, und er geriet ins
Schwitzen, bevor er einen weiteren Block gelaufen war. Die Brillengläser beschlugen sich vom Atem, und er mußte die Brille immer wieder abnehmen und säubern. Was die Sichtverhältnisse betraf, so war der Unter schied allerdings gering, wenn er die Brille wieder aufsetzte. Der Schnee fiel dicht, und der Wind wirbel te ihn durch die Straßen. Sein Blick fiel auf eine Uhr über einem Laden. Er war sehr, sehr spät dran. Heute war sein erster Ver spätungszettel fällig. Peggy Bjork schaute aus dem Fenster des Farmhauses und sah, daß sie nicht zur Schule zu gehen brauchte. Auf einer Farm in Ohio betrachtete man die Natur nicht mit leichtfertiger Nonchalance. Wenn die Ele mente über das flache Land dahinfegten, dann gab es außer den seltsamen Heuschoberblöcken nichts, was sie aufhielt. Peggy wußte, wie gefährlich ein Schneesturm sein konnte, und sie dachte nicht daran, das Haus zu verlassen. Das einzige, was ihr am Schulunterricht fehlen würde, waren die Pioniergeschichten. Sie stellte sich gern vor, wie die Siedlerfamilien in allen schreckli chen Gefahren und Entbehrungen zusammengehal ten hatten. Solche Art von Armut hatte etwas Roman tisches.
Jedenfalls schien ihr Vater in dem Maße, wie er seine Farm ausbaute und die Erträge steigerte, immer weniger Zeit für Peggy oder ihre Mutter zu haben. Es mußte etwas sehr Besonderes an einer Familie gewesen sein, die ihren ganzen Besitz auf einem klei nen Fuhrwerk mit sich führte. Peggy konnte stunden lang über die Nöte und Leiden der Siedler lesen, die auf der Höhe des Donnerpasses vom Schnee über rascht oder von Indianern überfallen worden waren, und dabei dankbar sein, daß sie in ihrem gemütli chen, warmen Zimmer war, aber ein gewisses sehn süchtiges Ziehen in der Brust verspürte sie gleich wohl. Mr. Bjork hatte keine romantischen Illusionen die ser Art, und keine Zeit, ihnen nachzuhängen. Die Tie re mußten gefüttert werden, und nach dem Verlust seiner Weizenernte in dem verheerenden Sommer gewitter waren die Tiere wichtiger denn je. Als er zum Frühstück in die Küche kam, blickte auch er aus dem Fenster, knurrte ein paar Verwünschungen und setzte sich an den Tisch, wo er verdrießlich in seinem Morgenkaffee rührte. Mrs. Bjork nahm das Naturereignis besser auf. Wenn der Sturm länger andauerte, könnte sie viel leicht mit den Näharbeiten nachkommen, die sie hat te liegenlassen müssen.
Die dahinjagenden Wolken hüllten die Spitzen der höchsten Wolkenkratzer ein. Wassertropfen, noch nicht zu Schnee geworden, prasselten gegen Stahl und kalten Beton. Auf jedem Vorsprung, jedem Fen stersims und Ornament bildete sich ein dünner Eis überzug, der neu auftreffende Tropfen gefrieren ließ und so, Millimeter um Millimeter, eine Eisschicht aufbaute. Zweihundert Meter tiefer blieb der Schnee auf La denmarkisen und Feuerleitern liegen. Fluchende Ge schäftsinhaber stocherten mit Stangen oder Besenstie len von unten gegen die Markisen und brachten die Schneeansammlungen ins Rutschen. Einige zogen ihre Markisen ein, um eine Wiederholung zu verhindern, andere überlegten, daß Fußgänger unter den Markisen Schutz suchen und in den Laden gelockt werden moch ten, und so ließen sie die Markisen draußen. Kleinere Vorsprünge wie die Feuerleitern brachten keine Probleme mit sich. Der Schnee sammelte sich auf den Eisenstufen Plattformen und Geländern, bis der Wind ihn wieder herunterblies oder bis die An häufungen eine Höhe erreichten, daß sie unstabil wurden und von selbst fielen. Das ausladende Vordach eines Filmtheaters bot dem Schnee mit seiner nach innen zur Mitte einge senkten Konstruktion eine ideale Ablagerungsfläche, windgeschützt und für Passanten unsichtbar.
Der Ausdruck ›leicht wie eine Schneeflocke‹ ist ir reführend. Was ihr den Anschein von Leichtigkeit verleiht, ist vor allem ihre Form, die dem Wind viele Ansatzpunkte bietet. Ein Kubikmeter Lockerschnee wiegt zehn bis fünfundzwanzig Kilogramm, wenn er naß oder dicht gepackt ist, bis zu zweihundert Kilo gramm. Das Filmtheater stammte aus den späten zwanzi ger Jahren, einer Zeit, die in der Filmbranche von fast grenzenlosem Optimismus geprägt war, und das Vordach war mit fast fünfzig Quadratmetern Fläche entsprechend großzügig bemessen. Die stützenden Träger und das Mauerwerk, in dem sie mit Mörtel verankert waren, zeigten Roststellen, Risse und ande re Alterserscheinungen. Überdies waren sie nicht konstruiert, um eine Schneelast zu tragen, die schon jetzt dem Gewicht eines Straßenkreuzers gleichkam. Fußgänger eilten im Schneetreiben ihrer Wege. Ei nige suchten Schutz unter dem Vordach. Die Long-Island-Schnellstraße wurde gefährlich, als Tausende von Autoreifen den Schnee glattfuhren und zu einem Matsch schmolzen, der von unten her wie der gefror. »Lieber Gott, das kann heiter werden.« Richie Fu selli griff zum Mikrophon. »Zentrale, hier dreiund zwanzig ...«
Er ließ den Knopf los, um die Antwort zu hören, aber was er vernahm, war die Stimme eines Fremden. »He, Freundchen, verschwinde aus diesem Kanal!« »Wer, zum Kuckuck, spricht da?« »Du drängst dich in den Kanal, Nachtwächter. Ich bin im Schnee steckengeblieben und sende, also nimm deinen Arsch von der Frequenz.« »Unverschämter Kerl, das ist ein offener Kanal ...« »Mach, was du willst, Alter, aber verpiß dich aus dem Kanal!« »Sag mir, wo du bist, Großmaul, und ich komm dir die Fresse polieren!« Verspätet fiel ihm ein, daß er Fahrgäste hatte, und er wandte den Kopf über die Schulter und sagte entschuldigend: »Heutzutage hat jeder ein Funksprechgerät, und manchmal werden sie unflätig, diese Brüder ... es braucht bloß ein bißchen Schnee zu fallen ...« Er murmelte einen Fluch und fuhr weiter, durch das kleine, vom Scheibenwischer schneefrei gehaltene Dreieck der Windschutzscheibe ins Schneegestöber hinausspähend, aus dem immer wieder unerwartet die dunklen Umrisse anderer Fahrzeuge auftauchten. Karen biß sich auf die Lippe. »Danny ist systematisch. Er geht immer denselben Weg zur Schule.« »Klar«, sagte Mark. »Wenn er es nicht zur Schule schafft, dann werden wir ihn unterwegs finden.«
Sie drückte seinen Arm, dankbar für die Ermuti gung. Ein kleiner, bebrillter Eskimo stapfte durch den Schnee und versuchte trotz seiner beschlagenen Brillengläser seinen Weg durch die alles einhüllenden weißen Flok kenwirbel zu finden. Er hätte nach links in die Greene Street einbiegen sollen, aber die Straßenschilder waren mit Schnee bedeckt. Das Schneegestöber schien alle vertrauten Merkmale und Anhaltspunkte zu verwi schen. Er verpaßte die Wegbiegung. Peggy Bjork war begeistert. Es versprach ein richtig großer Schneesturm zu werden. Bäume würden auf die Lichtleitungen stürzen und den Strom unterbre chen. Sie würden die Petroleumlampen und Kerzen anzünden müssen, und schon jetzt wagte sich keiner mehr hinaus. Sie freute sich auf den Nachmittag und Abend, wenn sie um den Wohnzimmertisch sitzen und reden und Geschichten erzählen würden. Wie in der Pionierzeit würde es sein; ein großartiges Aben teuer. Der Wind fegte unterkühlte Tröpfchen aus den höhe ren Schichten der Atmosphäre durch die Straßen der Stadt, wo sie Eisfilme bildeten und Menschen und Fahrzeuge gefährdeten.
Bald glänzten die Bäume des Central Park in eisi gen Hüllen, und ihre Zweige beugten sich unter der Last. Auf den verschiedenen Brücken, die Manhattan mit den anderen Stadtvierteln verbanden, machten Sturmwind und Vereisung den Autoverkehr zu ei nem lebensgefährlichen Unterfangen. Das Eis über zog Kabel, Gehwege, Straßendecken, Geländer und die Maschinerien der Zugbrücken. Ein Wagen, der auf einer solchen vereisten Strecke ins Schleudern ge riet, konnte leicht das Geländer durchbrechen und in die Tiefe stürzen, und vorsichtige Autofahrer zogen es vor, ihre Wagen auf den Brücken stehen zu lassen, statt dieses Risiko einzugehen. Das Eis brachte eine weitere Gefahr, die zwar nicht so unmittelbar war, aber ernstere Implikationen für das Überleben der Stadt enthielt. Vor 1888 waren alle Versorgungsleitungen überirdisch an Telegrafenma sten geführt worden, so daß die Nerven der Stadt bloß lagen. Der Schneesturm jenes Jahres hatte die Stromversorgung und das Kommunikationsnetz der gestalt verheert, daß Versorgungsleitungen von da an unterirdisch verlegt wurden. In den weniger dicht besiedelten Vororten betrachtete man die unterirdi sche Verlegung von Kabeln jedoch als unwirtschaft lich. Mit dem Wachsen der Stadt veränderten sich die wirtschaftlichen Voraussetzungen, aber man hatte
nun andere Sorgen. Noch immer wurde ein Großteil der Leitungen oberirdisch geführt. Nun setzte sich der Schnee auf den Leitungen ab. Hatte sich soviel angesammelt, daß er herunterfiel, gerieten die Drähte in Schwingungen, die auch den Rest der Schneelast abschüttelten. Die Vereisung war eine andere Sache. Wie an den Gebäuden und Brücken baute sie sich langsam auf, und jedes gefrierende Tröpfchen machte den glän zenden Überzug dicker und schwerer. Überall in der Stadt begannen die dem Wetter ausgesetzten Kabel und Leitungen unter dem Gewicht des Eises durch zuhängen. Wenn es außerhalb der städtischen Möglichkeiten lag, die Versorgungsleitungen zu vergraben, so war die Verlegung der viele Kilometer weit auf Brückenbauten oberirdisch verlaufenden U-Bahnstrecken un ter die Erde ein illusionärer Traum. Der Triebwagen hatte nur ein Beobachtungsfenster, das kleiner war als die Windschutzscheibe eines Au tos. Der einzelne Scheibenwischer war für diesen Sturm unzureichend, und der Fahrer mußte jeder Bewegung des Wischerblatts folgen, um überhaupt etwas zu sehen. Auch so war die Sicht auf wenige Meter voraus beschränkt, und um einen Auffahrun fall zu vermeiden, verlangsamte er den Zug auf we nig mehr als Schrittempo.
Er griff zum Radiotelefon und unterrichtete den Abfertigungsbeamten von der Situation. Im Abfertigungsbüro zeigten Lämpchen auf einer schematischen Übersichtskarte, wo jeder Zug in je dem gegebenen Augenblick war. Er gab Anweisun gen durch, die einen Zug verlangsamten, einen ande ren umleiteten. Wenigstens gab es bei diesem System keine Kollisionsgefahr. Die Fahrgäste in den Stationen hatten kein solches System. Mehr und mehr Menschen versammelten sich auf den Bahnsteigen, ohne etwas von den Ver spätungen zu wissen. Sie stießen und rempelten ein ander, entschuldigten sich und nahmen bei dem Ver such, ihre Zeitungen zu lesen, allerlei Verrenkungen auf sich. Gespräche über die plötzliche Kälte wechsel ten mit Gemecker über den Zugverkehr. Einige übten sich in der besonders gefährlichen Gewohnheit, sich über die Bahnsteigkante hinauszubeugen und nach dem Zug Ausschau zu halten, als ob das sein Eintref fen beschleunigen könnte. Da von rückwärts mehr Menschen auf den Bahn steig drängten, wurden die weiter vorn Stehenden vorwärtsgestoßen, näher zur Bahnsteigkante. Es konnte nicht ausbleiben, daß ein Mann von der Kante auf die Schienen fiel. Es gab Schreie, und die Menge wogte zurück. Der Höhenunterschied machte nur einen Meter zwanzig aus, und der Mann war mehr
erschrocken als verletzt. Er faßte die erste hilfreich aus gestreckte Hand und krabbelte wieder herauf. »Oh, puh! ... Das hätte schiefgehen können!« war alles, was er sagen konnte. Als Fred Bjork das Vieh versorgt hatte, waren die Schneewehen bereits knietief. Der Wind peitschte den Schnee zu kleinen Wirbeln und fegte ihn prickelnd in sein Gesicht. Er mußte sich vorwärtsbeugen, um der Gewalt des Windes zu widerstehen, der ihm die Wärme aus dem Körper zog. Jeder zusätzliche Stun denkilometer Windgeschwindigkeit kam einem Ab sinken der Temperatur um eineinhalb Grad gleich und machte die Kälte so durchdringend, daß sie ark tischen Verhältnissen in nichts nachstand. Für seine Tochter im Haus hörte die Romantik des Schneesturms auf, als der eisige Wind durch die ge schlossenen Doppelfenster pfiff. Der Ölofen war voll aufgedreht, aber er konnte die Zimmertemperatur nicht halten. Sie und ihre Mutter stopften hastig alte Lappen und Stoffreste in die Zwischenräume der Fenster, dann Handtücher. Zuletzt stopften sie Kleider hinein. Richie Fuselli fuhr langsam und vorsichtig durch das dichte Schneetreiben, das Lenkrad fest umklammert. »Scheißheizung!« Obwohl er den Schieber auf ma
ximale Leistung gestellt hatte, vermochte der warme Luftstrom von innen die Schnee- und Eisablagerun gen auf der Außenseite der Windschutzscheibe nicht mehr aufzutauen. »Verdammte Scheißkarren! Die reinsten Todesfal len.« Er erschrak über seine eigenen Worte, wandte den Kopf und fügte hastig hinzu: »Entschuldigen Sie, ich meinte das nicht so. Es sind ... gute Wagen. In der Stadt kann nichts schiefgehen. Hilfe ist immer in der Nähe.« »Passen Sie nur auf, wohin Sie fahren«, sagte Mark. »Ja.« Fuselli wandte sich nach vorn und sah, daß er eine Gefällstrecke vor sich hatte. »Uh – oh!« Er sah mehrere Wagen, die am Fuß der Gefällstrecke inein ander verkeilt festsaßen, und trat hart auf die Bremse. Das Wagenheck brach aus, der Wagen schleuderte unter ihm herum und segelte mit dem Heck voraus bergab. Verzweifelt pumpte er die Bremse und ver suchte entgegenzusteuern, um den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Mark stieß Karen in den Sitz zurück und schrie: »Stütz dich ab!« Und es ihr zu zeigen, stemmte er sei ne Beine fest gegen die Lehne des Vordersitzes. Sie prallten mit einem Stoß gegen einen der hava rierten Wagen, daß Fuselli gegen die Lenksäule und Karen und Mark trotz ihrer Vorkehrungen in den Fußraum bei der rechten Tür geschleudert wurden.
»Alles gut gegangen?« fragte Mark. »Nichts gebrochen.« Mark rappelte sich auf und beugte sich über die Sitzlehne zum Taxifahrer. »Sie in Ordnung?« »Weiß nicht. Schmerz in der Brust.« »Bleiben Sie hier. Wir holen Hilfe.« »Das Radio ...« »Ja, Gott sei Dank.« Mark schaltete den Sprechfunk ein und wurde augenblicklich von einem Stimmen gewirr überschwemmt. Er drückte den Knopf am Mi krophon. »Ausschalten, ausschalten!« »Jesus, schon wieder einer.« »Raus aus der Leitung, Störer!« »Wir haben hier einen Notfall!« schrie Mark. »Na und, wer hat keinen? Nimm deinen Arsch run ter.« Mark suchte den Kanal, der für Notrufe reserviert war, mit ähnlichem Ergebnis. »Hören Sie zu«, sagte er zu Fuselli, »wir können nicht bleiben. Wir werden Hilfe holen, sobald wir können, es sei denn, Sie möchten mit uns kommen.« »O nein, in diesem Sturm geh ich nicht hinaus. Es ist ganz gemütlich hier. Ich hab' das Radio und die Heizung, ich meine, dies ist nicht der Nordpol.« »Also gut, viel Glück.« »Sie sind diejenigen, die es brauchen.«
Als Mark die Tür öffnete, wurde er von einer Druckwelle aus Wind und Schnee zurückgeworfen. »Sie haben recht.« Endlich krabbelte er hinaus, zog Karen nach und drückte die Tür ins Schloß. Als er sich gegen den Wind nach vorn wandte, sah er annä hernd fünfzig Wagen, die auf der ganzen Breite der Schnellstraße ineinandergefahren waren. Weiter Wa gen, die auf der eisigen Fahrbahn nicht mehr recht zeitig halten konnten, fuhren von rückwärts auf und vergrößerten die Massenkarambolage. »Mein Gott, welch ein Chaos!« Er konnte voraus die Türme der Brooklyn-Brücke sehen. »Wir sind nicht mehr allzu weit von zu Hause.« »Wir müssen eine Gruppe bilden«, sagte Karen. »Für die Brücke?« Sie nickte. Mark wandte sich zum Taxifahrer um. »Kommen Sie zurecht?« »Besser als Sie.« Mark lächelte und winkte, als Fuselli die Scheibe hochkurbelte. Fuselli überprüfte die Kraftstoffanzeige, sah, daß er einen fast vollen Tank hatte, und schaltete die Zün dung ein. Er holte sein Transistorradio hervor und suchte Musik, um das Durcheinander der Sprech funkfrequenz zu übertönen.
»Hoffentlich haben Sie's richtig warm und gemüt lich und können diesem Unwetter von einem kni sternden Kaminfeuer aus zusehen«, sagte die sympa thische Stimme eines Schallplattenjockeys, bevor er eine verträumte Weise auflegte. »Kann nicht klagen«, antwortete Fuselli. Er drehte das Heizgebläse auf volle Leistung und vergewisserte sich, daß die Fenster fest geschlossen waren. Er trat ein wenig aufs Gaspedal, um zu erreichen, daß der Motor die Wasserpumpe zu höherer Leistung trieb und die Zirkulation des Kühlwassers beschleunigte. Bei der Verbrennung des Benzin-Luftgemisches wur den verschiedene Gase frei, darunter auch giftige. Von diesen war Kohlenmonoxid das bedeutendste, farblos, geruchlos und täuschend für die roten Blut körperchen, die den Sauerstoff bereitwillig zugunsten dieses neuen Gases aufgaben. Zwischen dem Fahrer und dem Motorenraum stand der Schutz einer soge nannten Feuerwand. Aber im jahrelangen harten Ta xibetrieb waren die Gummidichtungen um die Be dienungspedale locker geworden oder herausgefallen und hatten Öffnungen geschaffen, durch die Abgase ins Wageninnere dringen konnten. Mit jedem Atemzug, den Fuselli tat, starben mehr Zellen ab. Die verträumte Musik spielte weiter, und Richie Fuselli entspannte sich in der Wärme. Zwar saß er in
einem Schneesturm fest, aber die Zivilisation lag vor der Tür, und er hatte keine Sorgen. Die Leute, die ihre ineinandergefahrenen Wagen ver lassen hatten, standen im Windschutz eines größeren Lieferwagens beisammen, und schienen unschlüssig, was sie anfangen sollten. Vielleicht warteten sie auf einen Anführer. »Leute«, rief Mark ihnen zu, »wir haben hier eine ehemalige Eskimofrau als Führerin, und sie sagt, wir sollten beisammenbleiben.« »In Ordnung«, sagte einer der Wartenden. »Haben Sie noch mehr Ratschläge?« »Halten Sie Ihre Gesichter vom Wind abgewendet, selbst wenn es bedeutet, daß Sie nicht genau sehen können, wohin Sie gehen. Und halten Sie einander bei den Händen.« »Mit Vergnügen«, sagte jemand. Ein anderer begann zu singen: »Neunundneunzig Flaschen Bier an der Wand«, und andere stimmten mit ein. Sie machten sich auf den Weg, Karen und Mark an der Spitze. Die Massenkarambolage verlor sich hinter ihnen im wirbelnden Schneetreiben, und voraus zeich neten sich die Brückentürme mächtig aufragend ab. Mark drückte Karens Hand fester. »Wollen wir wetten, daß Danny sicher und gemütlich im Warmen
sitzt, und daß wir diejenigen sind, denen es dreckig geht?« Danny wußte nicht mehr, wo er war. Der Himmel, die Gebäude, die Straßen – alles um ihn her ver schmolz in weißer Verschwommenheit, und der Schnee drang ihm durch die lose Kapuze in den Kra gen. Er band sie fest und hielt nach Hilfe Ausschau. Erst als er spürte, daß die Tränen auf seinen Wangen zu Eis wurden, wurde ihm bewußt, daß er weinte. Sie wurden sich des dumpf röhrenden Geräusches erst bewußt, als es verstummte. Nun begriffen sie in der ungewohnten Stille, daß das Geräusch sie die ganze Zeit hindurch getröstet hatte, und Fred Bjork faßte das Bewußtsein in Worte. »Es ist der Ofen. Wir haben kein Öl mehr.« Er griff zum Telefon und hörte nichts. Die Leitun gen waren unten. In der Stille heulte der Wind draußen wie ein tri umphierender Todesdämon. Dann hörten sie ein neues Geräusch, leiser, aber bei weitem beängstigen der. Es kam vom Dachboden, ein unheilverkünden des Knarren und Ächzen des Dachstuhls unter ton nenschwerer Schneelast. Als sie die Treppe hinaufstiegen, konnten sie das Knarren deutlicher hören, sahen sie die unter der Last
gebogenen Tragbalken. Das Wellblechdach zeigte beulenartige Verformungen, und die Verspannung des Materials hatte zwischen den einzelnen Tafeln Ritzen geöffnet, durch die der Schnee eindrang. Peggy Bjork blickte hilfesuchend zu ihren Eltern, aber sie sah nur blankes Entsetzen. Die erste Voraussage hatte leichte Schneeschauer an gekündigt, und die Luftlinien hatten sich danach ge richtet und keine Änderungen des normalen Flug plans vorgesehen. Die Angestellten an den Flugkar tenschaltern und im Auskunftsbüro gaben auf telefo nische Anfragen die optimistische Einschätzung wei ter, mit dem Ergebnis, daß Tausende von Passagie ren, die ihre Flüge antreten wollten, im Abferti gungsgebäude des Flughafens festsaßen. Sie hatten Wärme, aber sonst wenig. Vor den Re staurants und Lebensmittelverkaufsständen hatten sich lange Schlangen gebildet, und die Vorräte gingen bereits zur Neige. Die Stimme, die aus den Lautspre chern für öffentliche Durchsagen klang, war munter und optimistisch. Die früher abgegebene falsche Vor hersage wurde mit keinem Wort erwähnt. Statt des sen prophezeite der Wetterdienst jetzt starke Schnee fälle, die in einigen Stunden zu Ende gehen sollten. Es gab wirklich keinen Grund zur Besorgnis.
Die Vorortzüge, die das Umland der Stadt bedienten, waren verwundbarer als die U-Bahnen. Das Bild erinnerte an Wochenschauen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit: Ein mit Flüchtlingen überfüllter Zug lief in einen Bahnhof ein, der bis zum Bersten mit Wartenden gefüllt war. Stöhnend, flu chend und schreiend versuchten sie, sich trotz allem noch in die Waggons zu pressen. Man hörte Ausrufe wie: »Los, macht Platz, Leute!« und: »Wohin sollen wir denn? Es ist kein Platz mehr!« und: »Sind Sie ver rückt? Stoßen Sie nicht so!« und: »Nichts wie rein! Drückt sie zusammen!« Aber am häufigsten waren Schmerzensschreie und unartikulierte Proteste. Während die Leute im Inneren des Zuges noch en ger zusammengepreßt wurden, hingen andere in Trauben an den Haltegriffen, oft nur mit einem Fuß auf den Trittbrettern. Die von Norden kommenden Züge hatten eine Se rie offener Einschnitte zu durchfahren, bevor sie in das innere Stadtgebiet gelangten, und hier lagerte der Sturm Schneewehen von mehreren Metern Höhe ab. Der Fahrer des Triebwagens sah sie, bremste, und die Räder sprühten Funken, aber der Zug kam nicht mehr rechtzeitig zum Stillstand, und der Triebwagen pflügte in die Schneewehe. Die Passagiere wurden in einer einzigen Masse vorwärtsgestoßen, tauschten Flüche und Entschuldi
gungen aus, traten einander auf die Füße und warte ten, nachdem der Zug zum Stillstand gekommen war, mit der Geduld, die nur aus langjähriger Erfahrung mit öffentlichen Verkehrsmitteln erwachsen kann, daß es irgendwann weitergehe. Statt dessen kam der Zugführer aus dem Fahrerab teil und verschaffte sich mit lauten Rufen Gehör: »Herrschaften, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bit ten?« Er mußte es mehrere Male wiederholen, und als es endlich still geworden war, sagte er, die Bahn werde einen Schneepflug schicken, sie sollten sich bitte ge dulden. Ein allgemeines Murren und Ächzen war die Ant wort. »Ich gedulde mich schon seit zwanzig Jahren«, sag te ein Passagier. »Ich bin für Gehen«, sagte ein anderer. »Wer kommt mit?« Er quetschte sich mit »Verzeihung ... Verzeihung ...« durch die Menge zum Ausgang. Mehrere Passagiere folgten seinem Beispiel. Drau ßen fiel sie der eisige Wind an. »Gott sei den Seeleuten gnädig, die an einem Tag wie diesem draußen sein müssen«, sagte jemand und zog sich in den überfüllten Zug zurück. Ein paar Leute lachten über die Bemerkung.
Es war ein Stationsschiff, das der Küstenwache zu Wetterbeobachtungen auf dem Ozean diente. Die Ar beit war im allgemeinen interessant, und Manujian, der kommandierende Offizier, hatte von den an Bord lebenden Zivilisten einige Kenntnisse über Meteoro logie gesammelt; die weniger angenehme Seite der Mission war, daß man als Teil des meteorologischen Forschungsauftrags Stürme auf hoher See abreiten mußte. Dieser war sehr viel schwerer als die Meteorologen vorausgesehen hatten. Gewiß erwartete niemand von ihnen, daß sie ihr Leben opferten, aber nun klammer ten sie sich in Angst und Schrecken an jeden Halt, den sie finden konnten, und lernten von neuem die Macht und das Rätsel der Natur. Dabei waren sie besser dran als die Besatzung und der Kapitän, die das Schiff zu retten versuchten. Meh rere Männer mußten im tobenden Sturm angeseilt auf das Deck hinaus, das ständig von Brechern überspült wurde, um leckgeschlagene Lukendeckel abzudich ten, losgerissene Teile festzumachen und mit Äxten und Hacken dicke Eisverkrustungen von der Takela ge des Funkmastes zu schlagen, die unter dem Ge wicht bedrohlich knirschte und ächzte. Schnee und eisige Gischt machten das Werkzeug schlüpfrig und schwer zu handhaben, und ein Besatzungsmitglied schlug sich eine tiefe Wunde ins Bein. Benommen
starrte er auf das aufgeschlitzte Ölzeug, aus dem sein Blut rann, um von überkommender Gischt und Wind davongetragen zu werden. Manujian trat auf die Brückennock, beugte sich über das Geländer und brüllte zu dem Mann hinunter, er solle unter Deck kommen. Ob der andere die Aufforde rung durch den heulenden Orkan hörte, oder die be gleitenden Gestikulationen des Kapitäns sah, blieb un gewiß. Jedenfalls wandte er sich um und hakte den Ka rabiner seiner Sicherungsleine aus dem über das Deck gespannten Seil, um zur Leeseite des Brückenhauses zu hinken. Er hatte noch keine fünf Schritte getan, als eine schwere Sturzsee auf das Vordeck niederging und es mit brodelnder Gischt überschwemmte. Die ange seilten Besatzungsmitglieder harrten spuckend und nach Luft schnappend an ihren Arbeitsstellen aus, aber der verletzte Seemann wurde über Bord gespült. »Mann über Bord!« »Er ist verloren. Ich muß an alle anderen denken; wenn ich jetzt beidrehen lasse, kentert der Eimer in nerhalb von Minuten!« Manujian schwor sich, daß er, sollte er jemals le bendig aus dem Orkan herauskommen, mit diesem wahnsinnigen Dienst Schluß machen wollte. Der Fußgänger erreichte den Schutz des Kinovorda ches und klopfte sich den Schnee vom Mantel. Dann
gesellte er sich zu dem runden Dutzend anderer Leu te, die hier Zuflucht gefunden hatten und mit den Füßen stampfend und in die Hände hauchend bei sammen standen. »Mein Gott, war ich blöd, bei diesem Wetter fort zugehen!« »Da sind Sie in guter Gesellschaft.« »Na, jedenfalls habe ich die Nase voll. Jetzt bleibe ich hier, bis der Schneesturm aufhört.« Über ihren Köpfen sammelte sich der Schnee wei ter an, wurde vom Winddruck und der Last neu hin zukommenden Materials verdichtet und belastete ro stige Träger und altes Mauerwerk mit zusätzlichen Tonnen. Schon erschienen die ersten feinen Risse im Ver putz, wuchsen wie Feuchtigkeit suchende Baumwur zeln, indem sie feine Verästelungen entsandten, und weiteten sich langsam. Mark stockte der Atem, als er den Anblick sah. Der Wind fegte unbehindert über den East River, pfiff und kreischte durch das Netzwerk der Kabel, an de nen die Brücke hing. Leichtere Personenwagen, die sich auf die vereiste Brückenfahrbahn hinausgewagt hatten, wurden wie Wetterfahnen umgedreht und zu Dutzenden ineinander geschoben. Leute, die ihre Fahrzeuge verlassen hatten, hielten sich aneinander
fest, um nicht von der Gewalt des Sturmes umgewor fen zu werden. Mark konnte sich vorstellen, welche Ängste sie ausstanden. Karen wandte sich zu ihm um. In ihren Augen war etwas, das an Panik grenzte, und sie kannte die Ge fahren besser als er. »Sollten wir nicht lieber umkehren?« Er mußte sich zu ihrem Ohr niederbeugen, um ver standen zu werden. Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssen hinüber. Wir haben keine andere Wahl.« Und sie zog ihn weiter. Aber dann ließ der Mann hinter ihm seine Hand los und blieb stehen. »Lieber nicht. Ohne mich.« »Nun, wir gehen hinüber«, rief Mark. »Wer geht mit uns?« Die anderen hielten alle zurück, bis eine Hausfrau vortrat. »Ich muß. Ich habe zwei Kinder zu Hause, die auf ihr Abendessen warten.« Ein gut gekleideter Mann mittleren Alters mit ei nem Aktenkoffer schloß sich ihnen an. »Ich bin derje nige, der die Schlüssel in der Tasche hat.« Karen wies auf den Aktenkoffer. »Brauchen Sie den?« Er nickte. »Den Aktenkoffer oder den Inhalt?« »Den Inhalt.« »Stopfen Sie den unter Ihren Mantel und werfen
Sie den Aktenkoffer weg, er behindert Sie nur. Sonst noch jemand?« Keiner der anderen wollte. »Kehren Sie dem Wind Ihre Seite zu, suchen Sie an Brückenträgern oder am Geländer Halt, wenn Sie können, aber nicht mit bloßen Händen.« Sie hakten sich ein und wagten sich aus dem Wind schutz des Brückenturmes auf die offene Fahrbahn hinaus. Mark keuchte als die Windstöße ihn anfielen und beinahe umwarfen. Er griff instinktiv nach einem Träger. »Nicht mit bloßen Händen!« Er zog sein Taschentuch heraus und gebrauchte es im Weitergehen als Stoßpolster. Die Stadtsilhouette am Westufer des East River er hob sich schemenhaft düster aus dem wirbelnden Schnee. Mark schätzte die Entfernung zum anderen Ufer auf siebenhundert oder achthundert Meter. Sie wickelten sich fester in ihre Mäntel, kehrten die Gesich ter der windabgewandten Seite zu und stapften im Gänsemarsch weiter, einer an der Hand des anderen. Die Hausfrau war die letzte in der Reihe, und als sie auf dem dick vereisten Fußgängerweg ausglitt und fiel, riß sie den Geschäftsmann mit sich zu Bo den. Sie kreischte auf, als der Wind sie gegen das Ge länder blies und sie mit erschreckender Deutlichkeit den Fluß sah, zwanzig Stockwerke unter ihr. In ihrer
Angst packte sie das Geländer und hielt sich daran fest. Karens warnender Ruf kam zu spät. Als die Haus frau sich gefaßt hatte und auf die Beine zu kommen suchte, wollte sie ihre Hand vom Geländer nehmen und fand, daß sie wie angeschweißt am Eisen klebte. »Tun Sie es nicht!« schrie Karen, als die Frau zog und zerrte. »Sie verlieren die halbe Hand!« »O Gott ... o Gott ... o Gott!« jammerte die Frau. Sie kniete im vereisten Schnee, starrte auf ihre festgefro rene Hand und würgte in plötzlicher Übelkeit. »Was können wir tun?« rief Mark. »Ich ... ich weiß nicht.« »Denk nach! Was würden die Eskimos nehmen?« Sie überlegte, dann sagte sie achselzuckend: »Fett, vielleicht, oder Robbentran ...« »Robbentran ...« Er wandte sich um und kämpfte sich, tief gegen den Wind gebeugt, über die Fahrbahn zu einem verlassenen Wagen. Er öffnete die Tür, durchsuchte das Innere und den Kofferraum und brachte eine Dose Motorenöl zum Vorschein. Mit ausgebreiteten Armen balancierend und vom Sturmwind schneller vorwärtsgetrieben, als ihm lieb war, kehrte er zum Geländer zurück. »Was ist da drinnen?« fragte Karen. »Motorenöl, natürlich. Wenn Robbentran hilft, dann hilft dies auch.«
Er kauerte neben der Hausfrau nieder, stieß mit dem Taschenmesser ein dreieckiges Loch in die Öldo se und goß den Inhalt langsam über die Finger der Frau. Er brauchte mehr als die Hälfte des Öls, bevor ihre Hand allmählich loskam, dann goß er den gan zen Rest darauf, und endlich war die Frau befreit. Sie halfen ihr auf und mühten sich weiter über die Brük ke. So erreichten sie endlich die Mitte, wo sie entdek ken mußten, daß sich dort, begünstigt durch einen Stau liegengebliebener und verlassener Fahrzeuge, Schneewehen gebildet hatten, die höher waren als die Brückengeländer. Man mußte sie übersteigen, wenn man die andere Seite gewinnen wollte. Erschwerend kam hinzu, daß der Wind hier womöglich noch wü tendere Kraft entfaltete. Alle Träger, Kabel der Brük kenverspannung und Lichtmasten waren dick vereist. »Bei jedem Schritt fest in den Schnee treten!« Der Geschäftsmann bemerkte, daß ihm die Papiere unter dem Mantel herausrutschten, und ließ die Hände seiner Nachbarn los, um die Blätter aufzufan gen. »Vergessen Sie die Papiere!« schrie Karen. Sie flogen in alle Richtungen, und der Mann sprang ihnen nach, ohne Karens Warnruf zu beachten. Der Wind fegte die Blätter über das Brückengeländer und darüber hinweg, und der Mann rannte ihnen mit aus
gestrecktem Arm nach. Vom Sturm getrieben prallte er in seiner kopflosen Verfolgung gegen das Geländer und der vorgestreckte Arm genügte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er verlor den Boden unter den Füßen, und im nächsten Augenblick stürzte er vornüber ins Nichts. Sein Schrei vermischte sich mit dem heiseren Heulen des Windes, und der Fluß ver schluckte ihn. Die Hausfrau begann zu weinen, aber Karen schüttelte sie und zerrte sie weiter. »Vergessen Sie ihn! Sorgen Sie sich um Ihre eigenen Leute!« Das Mädchen im Bikini räkelte sich in der Sonne, suckelte durch einen Strohhalm aus ihrem Limona denglas, und sah den Wellenreitern zu. Ein Ausläufer der Brandungswelle breitete sich mit leisem Zischen über die glatte Sandfläche aus und berührte ihre Fü ße. Sie bewegte die Zehen im warmen Wasser. Der Anblick entlockte den Passagieren im Flug zeug ein Seufzen. »Sieht verlockend aus, wann kommen wir hin?« sagte einer. Er zog den Vorhang vom Flugzeugfenster beiseite und spähte hinaus. Draußen zogen Schnee fahnen über die weiße Fläche des Flugfelds. Die Fluglinie hatte einige ihrer auf dem Flughafen festliegenden Maschinen geöffnet und zeigte sogar Filme, meistens Werbestreifen über die Reiseziele, die nun entlegener denn je erschienen.
Im Abfertigungsgebäude waren sogar die Süßwa renautomaten leer. Es gab jedoch noch Spirituosen, und diese wärmten und machten den Hunger verges sen. Zuerst kauften die Passagiere glasweise, doch bald ging es um ganze Flaschen. Der Alkohol tat seine Wirkung, und bald kehrte die gute Laune zurück. Jemand brachte am Boden der Abfertigungshalle ein kleines Feuer in Gang und nährte es mit Zeitungen und Zeitschriften. Die Men schen sammelten sich um das Feuer, legten einander die Arme um die Schultern und sangen alte, nostalgi sche Lieder. Die Fluggesellschaften gaben Decken aus und nach und nach verwandelte sich das Flughafen gebäude mit seinen Bars, Restaurants und Wartesälen in ein riesiges Nachtlager. Um manche Hindernisse häufte der Wind den Schnee höher an, um andere spärlicher. Danny rastete im dürf tigen Schutz eines Laternenpfahls, bevor er einen La deneingang entdeckte, der beinahe schneefrei war. Er sagte sich, daß der Eigentümer im Laden sein müsse und den Eingang frei hielt, und mit seiner letzten Kraft schleppte er sich durch die Schneewehen hinüber. Er wollte die Tür öffnen, aber sie war verschlossen. Er kauerte davor nieder, unschlüssig, was er tun soll te, und zu erschöpft, um sich weiter durch den Sturm zu kämpfen. Er lehnte sich in die Ecke der Ladentür,
umschloß die angezogenen Knie mit den Armen und ließ den Kopf darauf sinken. Die meisten Männer der Stadtreinigung waren außer stande, ihre Arbeitsplätze zu erreichen, und so ent schied die Direktion angesichts unzureichender Per sonalstärke, die wichtigsten Verkehrsadern zu räu men und die Seitenstraßen dem Schnee zu überlas sen. Der East River Drive, eine breite Schnellstraße, gehörte zu den wichtigsten innerstädtischen Verbin dungen, und so setzte man hier eine Anzahl Schnee pflüge, Räumfahrzeuge und Lastwagen ein. Harry Teague spürte die Erschütterungen, die sei nen Schwerlaster durchliefen, als das Gebläse des Schneepflugs ihn in einer knappen Minute mit zwölf Tonnen Schnee füllte. Zu den Vorteilen, einen Schwerlaster zu fahren, gehörte das Gefühl von Stabi lität, sogar von Macht, und in diesem Schneesturm kam das Bewußtsein größerer Sicherheit hinzu. Ganz unabhängig von den Straßenverhältnissen war man jedoch nicht einmal mit einem Dreiachser wie diesem, und Harry Teague hatte sich vorsichtshalber ange schnallt, was er sonst selten tat. »Bring den Schnee nach Florida«, hatte der Aufse her gesagt. ›Florida‹ war der East River längsseits, doch hatte der Scherz mehr Bedeutung als sie wußten. In frühe
ren Zeiten hatte man tatsächlich Schnee in Waggons verladen und güterzugweise nach Süden geschafft, wo er für Kühlungszwecke verwendet worden war. Harry Teague war der East River gerade recht, wenn es auch Fahrer gab, die nicht einmal die paar Blocks zur Pier fahren mochten und ihre Ladungen kurzerhand in die erstbeste Seitenstraße kippten. Teague war etwas gewissenhafter. Als der Laster voll beladen war, schwerer denn je, war auch sein durch den unerwarteten Blizzard angeschlagenes Selbstbe wußtsein wiederhergestellt. Kerle wie er ließen sich von einem bißchen Schnee nicht unterkriegen. »Aus dem Weg, Welt, hier kommt Harry Teague«, und er brauste am Gewirr der entlang den Straßenrändern aufgegebenen Wagen vorbei, frohlockend über die gute Spurhaltung und das Anzugsvermögen seines motorisierten Elefanten, erfüllt vom einzigen Machtgefühl, das er in seinem Leben kannte. Er fuhr unter der Brooklyn-Brücke durch, als er ein Paar im Schnee stehen und verzweifelt winken sah. Unter normalen Umständen wäre es ihm nicht einge fallen, Anhalter mitzunehmen, aber dies waren keine normalen Umstände. Er hielt an. »Hallo«, sagte er, die Scheibe herunterkurbelnd, »wollen Sie eine Lieferung Schnee?« »Nein, danke«, lachte Mark, »aber wir müssen dringend zur Houston Street.«
»Das ist weiter als ich fahre, aber ein Stück kann ich Sie mitnehmen.« Er beugte sich zur anderen Seite hinüber und öffnete ihnen die Tür. Sie kletterten ins Fahrerhaus, und Karen seufzte er leichtert. »Wärme! Mein Gott, ich hätte nie gedacht, daß ich für ein bißchen Wärme so dankbar sein wür de.« »Ja, Sie müssen wirklich in dringenden Angelegen heiten unterwegs sein.« »Ich suche meinen Sohn. Ich fürchte, er ist auf dem Schulweg vom Schneesturm überrascht worden.« Harry grunzte. »Ach was, es gibt immer einen of fenen Hauseingang oder was, wo man Unterschlupf finden kann.« Karen nickte. Sie fuhren schweigend, bis Harry die Pier erreichte. »Also, hier ist mein Abladeplatz ...« Er nahm den Fuß vom Gaspedal und zögerte. »Ja?« »Ach, nichts ...« Er fuhr weiter zur Houston Street und ließ sie aussteigen. »Sie werden Ihren Jungen finden, keine Sorge. Dies ist New York.« Er sah sie stadteinwärts stapfen und sich durch die hüfthohen Schneewehen kämpfen, bis sie im wir belnden Weiß verschwanden. Dann wendete er und fuhr zurück zur Pier, um einen geeigneten Platz zum Abkippen der Ladung zu finden. Schließlich fand er
einen, manövrierte herum und fuhr den Laster mit der Sicherheit langer Erfahrung rückwärts bis an die Kante. Vielleicht, dachte er, gibt es eine himmlische Belohnung für diese kleine gute Tat. »Paß auf, Fluß. Harry Teague kippt dir eine La dung drauf.« Er schaltete die Hydraulik ein und fühlte, wie der Laster vorn leichter wurde, als das Gewicht der Stahlmulde mit ihrer Last auf die Hinterachsen verla gert wurde. Aber das Machtgefühl löste sich in nichts auf und wurde im Nu von Ungewißheit und Schrek ken abgelöst, als die Räder unter der Gewichtsverla gerung die Bodenhaftung verloren. Sie glitten ab und rutschten von Seite zu Seite, und ehe Teague den Vorwärtsgang einlegen konnte, geriet der ganze La ster ins Schwanken, und die Tonnen von Schnee zo gen ihn zurück. Die Hinterräder gingen über die Kaimauer, wäh rend Teague an der Verriegelung seines Sicherheits gurtes zerrte, und dann rutschte der Laster wie ein Spielzeug, das vom Tisch fällt, ganz über die Kante in den Fluß, und im nächsten Augenblick erstickte eisi ges Wasser Harry Teagues Schrei. Sie fingen mit dem Tisch an und stapelten alles dar auf, was sie auf dem Dachboden finden konnten. Als Peggy Bjork einen Augenblick innehielt, um zu ver
schnaufen, staunte sie über die Zusammenarbeit der Familie. So mußte es in den Tagen der Pioniere gewe sen sein, wenn die Indianer angriffen. Damals hatten Frauen und Kinder die Gewehre geladen und an die Väter weitergereicht. Jetzt reichten sie ihrem Vater Möbelstücke, die er unter dem Firstbalken stapelte und fest verkeilte. Endlich schien das Dach hinreichend abgestützt. Das unheilverkündende Ächzen und Knarren hörte auf, und sie seufzten erleichtert. »Wir haben es geschafft.« Sie lachten und umarmten einander. Sie waren wieder eine Familie. Als sie wieder ins Erdgeschoß kamen, schienen die Räume seltsam dämmerig. Fred Bjork schaute aus dem Fenster und sah den Schnee in Augenhöhe. Um den Misthaufen auf dem Hof hatte der Wind eine Schneewehe aufgetürmt, die bereits die Höhe des er sten Stocks erreichte. »Mein Gott, wenn es so weitergeht, wird das ganze Haus zugedeckt.« Er stürmte hinauf ins Obergeschoß und blickte aus den Fenstern. »Ich muß Hilfe holen. Es gibt keinen anderen Weg.« »In diesem Schneesturm?« Er machte eine hilflose Geste.
Sie standen zusammengedrängt in der Telefonzelle. Draußen heulte der Schneesturm so laut, und die Te lefonverbindung war so schlecht, daß Karen ihr freies Ohr mit der Hand zuhalten mußte. »Daniel Magnusson ...«, sagte die Stimme vom Schulsekretariat. »Oh, nein, ich hatte gehofft, ich würde diesen Namen nicht hören.« »Was – was ist passiert?« »Sagen Sie mir, wie kommt es, daß er mehr weiß als das Wetteramt? Was hat der Junge, eine direkte Leitung zum lieben Gott?« »Ist er in die Schule gekommen?« »Nein. Er war klug genug, wegzubleiben. Wir Er wachsenen, wir sind die Dummen.« »Sind Sie ganz sicher, daß er nicht dort ist?« »Madame, ich kenne jeden, der gekommen ist. Wir sitzen hier alle zusammen fest.« Mark sah Karens Gesichtsausdruck, als sie ein hängte, und brauchte keine weitere Erklärung. Wort los verließen sie die Telefonzelle und mühten sich weiter durch die Schneewehen die Straße hinunter, schauten in jeden Hauseingang, schrien Dannys Na men in den Wind und hielten Fremde an, während Karen immer verzweifelter wurde. Bald waren auch sie durchgefroren und erschöpft und hielten Ausschau nach einem Wetterschutz. »Hier, unter das Dach!«
Sie schleppten sich unter den Schutz des Kinovor daches, wo mehrere Passanten Schutz gesucht hatten und von einem Bein aufs andere traten, sich in die Hände hauchten oder durch die geschlossenen Glas türen in die Eingangshalle schauten. Sie nickten den Neuankömmlingen zu, Fremde, die ein Mißgeschick zusammengewürfelt hatte. Mark und Karen suchten einen windgeschützten Platz und blickten trübe in den noch immer mit un verminderter Gewalt tobenden Schneesturm hinaus. Mark glaubte, ein Poltern oder Rumpeln zu hören, das nichts mit dem Sturm zu tun hatte und blickte umher. Doch das Geräusch war schon wieder ver gangen, und er dachte nicht mehr darüber nach. »Sieh mal«, sagte er endlich, »wenn wir etwas fin den, wo wir unterkriechen können, dann kann er es auch. Schließlich ist er ein intelligenter Junge.« »Ein intelligenter Junge wäre gleich zu Hause ge blieben.« »Die meisten Mütter sind stolz auf ihre intelligen ten Kinder.« Sie seufzte nur und blickte über die Straße. »Man sollte meinen«, sagte sie unvermittelt, »der Besitzer des Ladens dort drüben hätte so viel Verstand, die Markise über seinem Schaufenster aufzurollen. Sonst wird er in ein paar Stunden keine mehr haben.« Tatsächlich sackte die Markise unter der Last des
Schnees bedrohlich durch und begann das Gestänge zu verbiegen. »Nun«, sagte Mark, »ich traue Danny genug Ver stand zu, sich nicht unter eine solche Markise zu stel len.« »Das kannst du nicht wissen!« »Wir haben ihn unter keiner Markise gefunden. Da wir ihn überhaupt nicht gefunden haben, spricht tat sächlich vieles dafür, daß er irgendwo in der Sicher heit eines Hauses ist und einen guten warmen ...« Wieder hörte er das seltsame Rumpeln. Er blickte hierhin und dorthin und dann hinüber zu der durch hängenden Markise. Er dachte an die Natur des Schnees, seine leichte Verdichtbarkeit und sein Ge wicht, wenn er so verdichtet war. Er stellte sich das Vordach als eine riesige Markise vor, auf der sich Schnee in immer neuen Schichten ablagerte und ver dichtete, er schätzte die Größe der Fläche, versuchte die aufliegende Last zu berechnen ... Ein neuerliches Rumpeln, begleitet von einem un heimlichen Knistern, schreckte ihn auf. »Raus hier!« Er stieß Karen vor sich her und wand te den Kopf zu den anderen. »Nichts wie raus!« Die Worte waren ihm kaum von den Lippen gegan gen, als über ihm genietete Verbindungen aufsprangen und Eisenträger sich aus dem rissig gewordenen Mau erwerk lösten. Dann flogen stählerne Versteifungen,
und Teer und Beton rissen wie Papier. Es war wie ein Erdbeben oder eine Kanonade, oder wie der Tag des Jüngsten Gerichts. Die meisten der Passanten, die un ter dem Vordach Zuflucht gesucht hatten, nahmen nicht einmal den Stahl und die Mauerbrocken wahr, die sie erschlugen. Ein alter Mann wurde von einer Be tonplatte eingezwängt und schrie. Mark ergriff eine losgebrochene stählerne Strebe, benutzte einen Mau erbrocken als Gelenkpunkt, und stemmte die Platte, unter der der alte Mann lag, ein wenig in die Höhe. Schwitzend blickte er auf und über die Schulter und sah Hausbewohner, die sich aus den Fenstern beugten. »Rufen Sie Hilfe!« Eine Frau telefonierte mit ihrer Schwester in Kan sas City. Sie sprudelte heraus, was geschehen war, und legte auf, um den Notruf zu wählen, doch nun bekam sie nicht einmal ein Freizeichen. Sie gab auf und rang die Hände. Ein Mann auf der anderen Seite der Straße bekam jedoch sofort das Freizeichen und wählte rasch 911. Am anderen Ende läutete es endlos, und niemand meldete sich. »Nun kommt schon, ihr faulen Dreckskerle, ihr ...« Die Polizisten saßen zu beiden Seiten eines Förder bands. Sie hatten die Aufgabe, Anrufer zu beruhigen und die Natur und Örtlichkeit des Unfalls aufzuneh
men. Die Meldungen wurden auf das Förderband ge legt und gelangten in die Verteilungsstelle, die sie an die zuständigen Abteilungen weitergaben. Aber es ist die Ironie von Katastrophen, daß sie nach gerade den Dienstleistungen verlangen, die sie blockieren. Wäh rend die Notrufe sich in der Telefonzentrale stauten, gab es nicht genug Polizisten, um die Apparate zu be setzen. Als Ambulanzen, Polizeiwagen und andere Hilfsfahrzeuge am dringendsten benötigt wurden, steckten sie im Schnee fest. Zur gleichen Zeit, als die Freileitungen ihre Ma ximalbelastung durch Telefongespräche erreichten, erreichte auch die mechanische Belastung durch Ver eisung ein Maximum. Kam es schließlich zum Bruch einer Leitung, so wurden Dutzende von Verbindun gen unterbrochen, und die Teilnehmer verwünschten den elenden Fernsprechdienst. Der Reparaturtrupp hatte annähernd zwanzig Stun den ohne Schlaf und fast ohne Pause gearbeitet, als der Notruf durchkam. Stöhnend und fluchend rap pelten sie sich aus ihrem Dämmerzustand auf, fuhren in ihre warmen Jacken, drückten sich die Mütze auf den Kopf und stapften aus dem warmen Bereit schaftsraum zu ihrem Reparaturwagen, um sich ein weiteres Mal dem Sturm entgegenzustemmen. Bald entdeckten sie die Bruchstelle, und zwei Mann
erkletterten den vereisten Mast, um die gebrochene Leitung zu erreichen. Beißenden Wind und Schnee in den Gesichtern, gelang es ihnen, die abgerissenen Enden zusammenzukurbeln und mit einer Kupferklemme zu verspleißen. Sie seufzten erleichtert, und einer sagte, er werde auf dem offenen Reparaturwagen schlafen, Schnee oder nicht Schnee, als sie die Leitung fast gleichzeitig an zwei weiteren Stellen brechen sahen. »Ich kann nicht ... Wirklich, ich kann nicht mehr ...«, stöhnte Karen. Mark stopfte etwas Schutt unter die schwere Platte, um ihr Gewicht für den darunter eingezwängten al ten Mann zu verringern. »Wie fühlen Sie sich?« schrie er. »Können Sie herauskriechen?« »Ich ... ich fühle überhaupt nichts.« »Du mußt ihn ziehen«, sagte Mark zu Karen. »Ich stemme die Platte hoch und du ziehst.« »Wir werden noch Stunden hier zu tun haben ...« »Bis die Rettungsmannschaft kommt.« »Das kann Stunden dauern.« »In Ordnung, dann dauert es eben Stunden.« »Und was ist mit Danny?« »Ich weiß es nicht, um Himmels willen, Karen, un ter diesen Trümmern müssen zehn oder zwölf Men schen liegen.«
»Wo ist Danny?« »Wir werden ihn suchen, aber du mußt mir helfen ...« »Ich ... es tut mir leid ...« Sie weinte und zerrte ver zweifelt an ihm. »Laß sie. Wir müssen Danny su chen.« »Ich soll die Leute hier liegen lassen? Sie sterben.« »Sie sterben überall. Ich bin nicht verantwortlich für diese ganze verfluchte Stadt!« Sie zerrte energischer an seinem Arm, bis er sie ab schüttelte, zweimal hart ohrfeigte, bei den Händen nahm und sie auf die Schultern des alten Mannes drückte. Dann schrie er: »Wenn ich es sage, ziehst du!« Er stemmte die Platte unter Aufbietung aller Kräfte ein wenig in die Höhe. »Los!« Sie schluchzte hysterisch, aber sie zog. Der alte Mann krabbelte und scharrte und kam frei. Er stam melte seinen Dank, erhob sich auf die Knie und um faßte Marks Beine. Mark half ihm auf, zog ihn in einer aufmunternden Geste an seine Brust und wandte sich zu Karen. »Ent schuldige«, sagte er, »aber ich mußte.« Sie weinte. »Ein alter Mann. Er ist bloß ein alter Mann. In Grönland hätten sie ihn sterben lassen.« Das Heizen mit Kerosinbrennern war verboten, aber das war die letzte von Mrs. Ramirez' Sorgen, als sie
ihn anzündete. Wieder fragte sie sich, warum sie je mals die schöne tropische Heimat in Puerto Rico ver lassen hatte. Sie erinnerte sich ihres Entsetzens, als sie zum erstenmal das seltsame weiße Zeug gesehen hat te, das vom Himmel herabgekommen war. Etwas von jenem alten Entsetzen kehrte nun zu rück. Der Heizkessel war ausgegangen, der Händler konnte kein Öl liefern, und die Warmwasserleitungen der Heizung waren fast so kalt wie der Schnee drau ßen. Sie konnte schon den Hauch ihres Atems sehen. Sie schärfte den Kindern ein, nicht in die Nähe des Brenners zu gehen, stellte diesen in eine sichere Ecke, nahe beim Fenster, und kehrte zurück in die Küche, wo sie sich beim Kochen am Herd wärmen konnte. Die Luft war noch ein gutes Stück über der Bren nerflamme sehr heiß und wärmte die Gardinen. Sie nahmen die Hitze auf, bis sie ihren Zündpunkt er reichten, dann gingen sie in Flammen auf. In Win deseile griff das Feuer auf die Vorhänge des zweiten Fensters über, und brennende Fetzen fielen auf den Polstersessel, der darauf auch in Brand geriet. Als Mrs. Ramirez die Schreie ihrer Kinder hörte, brannte das Zimmer schon lichterloh. Die alte Redensart bewahrheitete sich aufs neue, und diesmal mit voller Gewalt: ›Zwischen Ohio und dem Nordpol ist nichts als ein Weidezaun.‹ Das flache
Land wurde von einem Wind, der in der Tat unmit telbar von der Arktis herabzukommen schien, in eine weiße Dünenlandschaft verwandelt. Schon bedauerte Fred Bjork seinen Entschluß, Hilfe herbeizuholen. Seine Füße schienen eine Tonne zu wiegen, als er sich eine monumentale Schneewehe hinaufmühte, während der Wind ihn zurückstieß. Wenn er irgendwie den Kamm erreichen könnte, dachte er, würde er überleben. Danach ginge es wie der bergab. Mit letzter Kraft überwand er die Schneedüne und blickte umher. Jenseits davon waren nur andere, gleichartige Hügel. Er blickte sehnsüchtig zur Farm zurück, aber sie war verschwunden, verhüllt von den weißen Vor hängen, die der Wind gleich langen Schleppen über das Land zog. Er tat einen Schritt bergab und sank bis zum Bauch in die weiche Masse ein. Es war eine sehr angenehme Empfindung, und wie von selbst stellte sich der Ge danke an weiche Dinge wie Betten und Daunendek ken ein. Es war viel besser, sich diesen angenehmen Empfindungen zu überlassen, als zu kämpfen, und er hatte es verdient, sich einen Augenblick niederzule gen, nur für eine Minute, um wieder zu Atem zu kommen. Er ließ sich in das weiche Weiß sinken. Es fühlte
sich überraschend warm an, und er verspürte ein kindliches Verlangen, es sich wie eine Decke über den Kopf zu ziehen. Es war gut, einen Moment auszura sten, die Augen zu schließen und neue Kräfte zu sammeln. Nur eine Minute, sagte er sich. In diesem ersten Augenblick schlief er fest ein, und der Schnee deckte ihn zu, wie er es sich gewünscht hatte. Es war seit langem davon geredet worden, in diese Züge Zweiwegradios einzubauen, aber die privat be triebenen Vorortbahnen hatten mit einer finanziellen Dauerkrise zu kämpfen, und die kostspieligen Ein bauten waren immer wieder aufgeschoben worden. Schließlich hätten sie eine weitere Fahrpreiserhöhung erforderlich gemacht, die von vielen Pendlern nicht toleriert worden wäre; sie hätten der Bahn den Rük ken gekehrt. Überdies ließ sich nicht leugnen, daß das her kömmliche Signalsystem seit nahezu siebzig Jahren gute Dienste geleistet hatte. Blieb ein Zug auf offener Strecke stehen, so setzte der Zugbegleiter in sicherer Entfernung eine Signalflagge oder ein Blendfeuer, um den nachkommenden Zug zu warnen. Selbst in einer nebligen Nacht war ein solches Blendfeuer kilome terweit zu sehen. Der Schneesturm tobte jedoch mit solcher Gewalt,
daß der Zugbegleiter sich damit begnügte, das Blend feuer unmittelbar am Zugende zu setzen. Kein Zug konnte bei diesen Verhältnissen mit hoher Ge schwindigkeit kommen, sagte er sich; die Triebwa genfahrer mußten nach Sicht fahren, und in einem Schneesturm wie diesem bedeutete das die erste Fahrstufe. Aber der Fahrer des nachkommenden Zuges miß achtete diese Sicherheitsregel. Auch er hatte einen Zug voll unruhiger Passagiere, die in drangvoller En ge ausharrten, und außerdem galt es, die Verspätung nicht noch mehr anwachsen zu lassen. Obwohl die Sicht kaum zweihundert Meter betragen mochte, fuhr er so schnell er konnte. Dann sah er das Blendfeuer und machte eine Voll bremsung. Sechshundert Passagiere wogten als eine fast geschlossene Masse vorwärts. Die Bremsbacken schliffen Funkenschauer von den Rädern, doch der vorhandene Bremsweg reichte bei der Geschwindig keit nicht aus, und der nachkommende Zug fuhr kra chend auf den ersten auf, wühlte sich in einer Explo sion von Glas und Metall hinein. Der Triebwagen hob den letzten Waggon und warf ihn von den Gleisen, stieß den nächsten Waggon um und rammte ihn schräg zur Fahrtrichtung auf den dritten, bevor er endlich selbst aus den Schienen sprang. Viele Passagiere wurden beim Aufprall zermalmt.
Andere wurden ins Freie geschleudert, nur um von scharfkantigen Trümmern aufgeschlitzt und geköpft zu werden. Der Schnee war blutgetränkt, und das Stöhnen und die Schreie von Hunderten von Verletz ten ergänzten das grausige Bild des Massakers. Die Eisansammlungen an Simsen und Vorsprüngen hoch über den Straßen Manhattans erreichten den Punkt, da ihr Gewicht die innere Stabilität überschritt. Mehr Eisstalaktiten als Eiszapfen, brachen sie einer nach dem andern ab, und stürzten mit von Sekunde zu Sekunde wachsender Geschwindigkeit in die Tiefe. Nach den furchtbaren Gesetzen der Physik, die schon Weizengarben durch Bäume getrieben haben, wirkte die Geschwindigkeit auf die Masse, die Masse auf den Druck, der Druck auf zugespitzte Enden und machte Eiszapfen zu Speeren, die mit Leichtigkeit Kleider, Haut, Fleisch und Knochen durchbohrten. Das Feuer, das mit einem Kerosinbrenner angefangen hatte, breitete sich von Raum zu Raum und von Wohnung zu Wohnung aus, während die Fahrzeuge der Feuerwehr sich durch die Schneemassen kämpf ten. Sie rasten eine Straße entlang, nur um zu entdek ken, daß sie im weiteren Verlauf durch hohe Schnee wehen und stehengelassene Wagen unpassierbar ge worden war, worauf sie mühsam rückwärts manö
vrieren mußten. Standen nur ein oder zwei Wagen im Weg, so wurden sie kurzerhand gerammt und zur Seite geworfen, aber die Fahrt zum Brandherd, die unter normalen Umständen Minuten gedauert haben würde, nahm jetzt anderthalb Stunden in Anspruch, und als die Mannschaften endlich eintrafen, stand das ganze Gebäude in Flammen. Nur schafften sie es nicht ganz, zum brennenden Haus vorzudringen, denn die schmalen Slumstraßen waren verstopft, und die Fahrzeuge mußten Hunder te von Metern entfernt parken. Die Feuerwehrleute hasteten durch den Schnee, legten Schläuche und wühlten nach begrabenen Hy dranten. Ihre Zurufe vermischten sich mit den Schreckensschreien der Anwohner, die ein Übergrei fen des Feuers auf die Nebengebäude fürchteten und dem Wehklagen jener, die mit dem Leben davonge kommen waren, aber ihr Heim und ihre Habe einge büßt hatten. Als man die Hydranten freigeschaufelt hatte, zeigte sich, daß sie dick vereist waren. Die Feu erwehrleute hackten auf die Eisschicht ein, bis sie weiß wurde und in Stücke zerbrach. Mit schweren Schraubenschlüsseln machten sie sich wütend über die Ventile her, während andere die Schläuche anschlossen und auf Wasser warteten. Aber sie kamen zu spät. Seit Stunden war die Wasser temperatur in den Hauptleitungen gefallen, und wie es
mit aller Materie im Universum ist, hatte das Wasser sich mit dem Abkühlungsprozeß zusammengezogen. Dann aber, als es den Gefrierpunkt erreichte, dehnte es sich gemäß einem nur ihm eigentümlichen Vermögen wieder aus. Da ihm dies verwehrt wurde, drückte es mit enormer Gewalt gegen die Wände seines Gefän gnisses. Der Druck wuchs und wuchs, bis er annähernd eine Tonne pro Quadratzentimeter erreichte. Schließlich barsten die geschwächten Rohrleitun gen mit Explosionen, die durch Asphalt und Beton kaum gehört wurden und im Tumult des Sturmes gänzlich untergingen. Die Feuerwehrleute, die arm dicke Wasserstrahlen erwartet hatten, hörten ledig lich ein hohes Zischen, dessen Tonlage zu einem Seufzen herabsank, ehe es völlig erstarb. Zuletzt ran nen ein paar jämmerliche Tropfen heraus, während die Flammen auf das Nachbarhaus übersprangen. »Gib die Flasche zurück, du Saukerl!« sagte der rundgesichtige Mann, und versuchte seinem Sauf kumpan die Flasche zu entwinden. »Nimm sie dir doch, Arschgesicht.« Der Mann verdoppelte seine Anstrengungen; der andere riß die Flasche hoch und schlug sie ihm über den Kopf. Am anderen Ende des Abfertigungsgebäudes riß ein stämmiger angetrunkener Mann einem jungen
Burschen das Mädchen weg und drängte es in eine Ecke. Ohne den anderen zu beachten, der entsetzt und erbittert auf ihn einschlug, riß er der Kreischen den die Kleider auf, knetete ihre Brüste und versuch te sich zwischen ihre Beine zu zwängen. Die Kameraderie hatte sich verflüchtigt und im Flughafengebäude brachen allenthalben Streitigkei ten und Schlägereien aus. Man schlug sich um einen Schnaps, um Frauen, um Fußballergebnisse, um alles. Ein Sicherheitsbeamter versuchte zu telefonieren, um Verstärkung herbeizurufen, aber seine Leitung war tot. Überall im Nordosten waren die Menschen verzwei felt auf der Suche nach vermißten Angehörigen und Freunden. In den meisten Fällen erwiesen sich die Te lefone als nutzlos, da die Leitungen überlastet oder unterbrochen waren. Sie konnten keine Krankenwa gen anfordern, keine Ärzte, weder Polizei noch Feu erwehr oder einfach jemanden, der ihnen hätte guten Rat geben oder Mut machen können. In manchen Ge genden war die Elektrizitätsversorgung ausgefallen, was zur Folge hatte, daß es keinen Strom für Hei zungspumpen und ähnliche Installationen gab. Die Wasserversorgung, soweit sie von elektrischen Pumpanlagen abhängig war, kam zum Erliegen. Toi letten konnten nicht gespült werden, Lebensmittel in
Kühlschränken und Gefriertruhen begannen zu ver derben. In zentralbeheizten Häusern wurde es kalt. Flugzeuge, Züge, Lastwagen, die lebenswichtigen Transportmittel für alle Versorgungsgüter, konnten nicht verkehren oder saßen im Schnee fest. Milchzüge verkauften ihre Ladung um Pfennige pro Liter an Kunden, die Eimer mitbrachten; wenige Kilometer entfernt rissen die Leute sich um wasserverdünnte Halbliterrationen. Schiffe wurden vom Sturm gegen Hafenmauern und Kais geworfen oder auf dem Meer von tobenden Sturzseen wie Badewannenspielzeug herumgewor fen. Wie ein riesenhafter Organismus welkte die Stadt von ihren äußeren Rändern nach innen, und langsam nur näherte sich der Tod dem Nervensystem ihrer le bensnotwendigen Kommunikationszentren. Diese waren mächtige, wenn auch unbeständige, weil störungsanfällige und überlastete Lebensfunken: Sprechfunknetze von Polizei und Feuerwehr und Ge sundheitsdienst, von Taxiunternehmen und Trans portfirmen, dazu die Amateurfunker, die über weite re Distanzen an Botschaften übermitteln und beant worteten, was sie konnten. Am wichtigsten aber waren die Radio- und Fern sehstationen, die mit einem ermüdeten und überar beiteten Minimum von Personal Notprogramme ge stalteten und Nachrichten verbreiteten.
Abgesehen von ihren Kommunikationsmitteln, war die Stadt um ein Jahrhundert zurückgeworfen wor den, in eine Zeit der Straßenhändler und Trödler, die kleine Mengen Lebensmittel, Brennstoffe und Klei dung aus meist dunklen Quellen zum Zehn- bis Zwanzigfachen ihres normalen Preises verkauften. Für diejenigen, die ihre Wohnungen nicht verlas sen konnten, war dieser Rückfall bei weitem ernster und glich dem Sturz in eine Epoche, da steinzeitliche Sippen in abergläubischer Furcht vor dem nächtli chen Dunkel draußen in Höhlen beisammen kauer ten. Jetzt fröstelten sie in abgeschlossenen einsamen Wohnungen und fragten sich, ob es jenseits des wei ßen Schneegestöbers vor ihren Fenstern überhaupt noch eine Welt gebe. Auf dem Dach des Wetterdienstes waren die Meßfüh ler der verschiedenen Instrumente allesamt eisüber krustet und eingefroren, und so waren nicht einmal die Meteorologen in der Lage, die Dauer des Schneesturmes vorauszusagen. Ein Instrument war jedoch funktionsfähig geblie ben. Im Kellergeschoß des Naturwissenschaftlichen Instituts der nahen Universität stand eine kleine Hexe vor einem Wetterhäuschen. Ganz allmählich jedoch begann sich die Darmsaite, an der die Hexe befestigt war, mit der abnehmenden
Luftfeuchtigkeit zusammenzuziehen. Langsam wur de sie ins Wetterhäuschen zurückgezogen, und her aus kamen Hänsel und Gretel. Im Flughafengebäude mit seinen großen Panorama fenstern bemerkte jemand das erste Nachlassen des Schneefalls, ein allmähliches Hellerwerden des Him mels. »He, es ist vorbei!« Zuerst blieb der Ruf im allgemeinen Aufruhr und Lärm unbeachtet, aber er wiederholte ihn lauter. Sie blickten von ihren Auseinandersetzungen auf und sahen daß er recht hatte. Sie stürzten zu den Fen stern und beobachteten das Auflockern der Wolken, bis die Sonnenscheibe matt durch das winterlich die sige Grau schimmerte. Manche weinten. Andere, die sich noch vor wenigen Augenblicken geprügelt hat ten, fielen einander in die Arme und lachten. Andere Helfer waren gekommen, Mark und Karen bei ihrer mühsamen Arbeit zu unterstützen. Mark be schloß, ihren vorausgegangenen Ausbruch nicht mehr zu erwähnen, er glaubte zu wissen, daß sie normalerweise nicht so abstoßend selbstsüchtig ge wesen wäre. Er schrieb ihr Verhalten einer nervösen Überreizung zu.
In allen Teilen der Stadt kamen die Leute aus ihren Häusern, um den Sonnenschein zu segnen und die Eingänge freizuschaufeln. Passagiere eines U-Bahnzuges, der auf einer Hoch strecke steckengeblieben war, ließen Hurrarufe hö ren, als das Ende einer Feuerleiter an einer Waggon tür zur Ruhe kam. Sie erwarteten einen hilfreichen Feuerwehrmann, bekamen aber einen mageren, pick ligen Jüngling, der sich Herbie nannte und für die Benutzung der Leiter zehn Dollar pro Person verlang te. »Benutzungsgebühr für eine Leiter? Scher dich zum Teufel!« Herbie zuckte die Achseln und kletterte wieder hinunter. Der indignierte Herr kletterte auf die Leiter hinaus, aber Herbie schüttelte sie von unten. Der Herr stieß einen Schrei aus und rettete sich zurück in den Wag gon. Herbie wartete, bis der Mann eine Zehndollarno te hochhielt, und als der Mann endlich unten anlang te, standen oben mehrere andere bereit, Zehndollar noten in den Händen. Er schien friedlich und entspannt zu schlafen, als die Polizei das Taxi erreichte. Sie hörten die zwei Radios im Wageninneren, das Sprechfunkgerät und den kleinen Transistor.
Die Tür war zugesperrt, die Fenster geschlossen. Einer der Polizisten klopfte ans Fenster. »He, Sie da drinnen! Alles in Ordnung?« Er bekam keine Antwort, auch nicht, als er mit der Faust gegen die Tür schlug. Schließlich stieß er mit Hilfe seines Taschenmessers eine Drahtschlinge durch die untere Fensterabdichtung und zog das Tür schloß hoch. Die im Wageninneren angesammelten Gase machten ihn husten, und Richie Fuselli fiel leb los in den Schnee. »Da kommen sie!« »Endlich, Gott sei Dank.« Die Passagiere rannten zum Eingang, wo ihre Ret ter von einem Motorschlitten stiegen und durch den Schnee gestapft kamen, beladen mit belegten Broten und Kaffee. »Ach, Brüder, sind wir froh, euch zu sehen!« »Das dachte ich mir. Der Kaffee kostet fünf Dollar, das belegte Brot zehn.« »Bist du verrückt?« »Kommt darauf an; bist du hungrig?« Als der Schneesturm aufgehört hatte, war die Stille vollkommen und in ihrer eigenen Art schrecklich. Dann hörten Mrs. Bjork und ihre Tochter ein fernes Dröhnen; sie schürten das Feuer im alten Küchenherd
und steckten feuchte Stoffreste hinein, um schwarzen Rauch zu erzeugen. Das Signal wurde von dem pa trouillierenden Hubschrauber gesehen. Ein Mann kam an einer Strickleiter herunter, um zu fragen, ob alle wohlauf seien, und was benötigt werde. »Dann geht es meinem Mann gut?« Der andere schaute sie verständnislos an. »Fred Bjork. Er hat Sie erreicht, nicht wahr?« »Ah ... nein. Wir machten einen Patrouillenflug, um nach Notsignalen Ausschau zu halten, und da sahen wir Ihren Rauch.« Die Erkenntnis durchfuhr sie wie ein Blitz. »Er ist irgendwo dort draußen!« Der Mann blickte über die Felder hinaus und schüttelte den Kopf. »Vor der Schneeschmelze wer den wir ihn dann nicht finden.« Mr. Christedes dachte, er sollte sein Schuhgeschäft wieder aufmachen. Schließlich brauchten die Leute Stiefel, Gummistiefel und vielleicht neue Schuhe, um diejenigen zu ersetzen, die sie ruiniert hatten, und so nahm er eine Schaufel und machte sich auf den Weg zu seinem Laden, ohne die Räumung der Gehsteige durch die Männer von der Straßenreinigung abzuwarten. Als er sich der Ladentür näherte, erschreckte ihn etwas, das wie ein großes Pelztier aussah und zu sammengerollt in der Nische des Eingangs lag. Er
überlegte, ob er die Polizei rufen solle, doch dann sah er das Glänzen von Brillengläsern und erkannte, daß das vermeintliche Tier ein Mensch war, ein Kind. Er schaufelte hastig einen Durchlaß durch die brusthohe Schneewehe vor der Hausfront, und als er Danny erreichte, versuchte er den Jungen wachzu schütteln. Aber Danny regte sich nicht. Aus der Menschenmenge, die sich auf dem Times Square eingefunden hatte, brandeten Hurrarufe em por, als die Nachricht in Leuchtschrift über die Fas sade des Times-Gebäudes wanderte. Sie hatten einen schlimmeren Blizzard als den des Jahres 1888 über lebt, fünfzehn Zentimeter mehr Schnee und um zwölf Stundenkilometer höhere Windgeschwindigkeiten, mit Schneeverwehungen, die zwei bis drei Stockwer ke hoch reichten. Darauf folgten die ernüchternden Statistiken über diejenigen, die es nicht überlebt hatten, die verhun gert, erfroren, erstickt und verbrannt, an Unterküh lung oder bei Autounfällen oder Zugentgleisungen umgekommen waren. Das Wirtschaftsleben lag völlig darnieder, die daraus entstandenen Verluste waren nicht abzusehen. Aufruhr, Brandstiftungen, Plünde rungen und andere Verbrechen nahmen überhand. Die moderne Gesellschaft, weit davon entfernt, ei
ner solchen Katastrophe mit größerer Widerstands kraft zu begegnen als eine primitive Kultur, hatte sich als sehr viel zerbrechlicher und krisenanfälliger er wiesen. Flugzeuge waren auf normale Wetterbedin gungen mehr angewiesen als Autos, Autos mehr als Eisenbahnen, Eisenbahnen mehr als Pferde. Untersuchungen wurden versprochen, Verbesse rungen zugesichert. Man werde Notstandsplanungen einleiten, hieß es, und geeignete Systeme entwickeln. Ein Versagen der lebensnotwendigen Dienstleistun gen werde dadurch in Zukunft ausgeschlossen sein. Aber es war vorbei, und diejenigen, die es durch gemacht hatten, dachten, sie würden ihren Enkeln etwas zu erzählen haben. Danny lag bewußtlos unter einem Plastikzelt, zart und verletzlich und schwach. Nährlösung tropfte durch einen Schlauch in seine Nase. Karen weinte, als sie ihn so sah, obwohl der Arzt sagte, der Junge sei außer Gefahr. Plötzlich ergriff sie Marks Hand und hielt sie krampfhaft fest. »Wenn es ihm besser geht ... wir müssen fort von hier, ehe es richtig losgeht.« »Natürlich. Alle werden das tun.« »Nein ... nein, nein, nur wir.« Mark erwiderte den Druck ihrer Hände und sagte nichts.
Die Oberfläche des Schnees verfärbte sich bereits schwärzlich von Ruß und Staub, mit gelben Flecken von tierischem und menschlichem Urin. Kinder spiel ten in den riesigen Haufen, die von Schneepflügen zusammengeschoben wurden, und die Fußgänger bewegten sich vorsichtig in den freigeräumten Grä ben, die manchenorts zu Stollen wurden, wo man hohe Anwehungen durchstoßen hatte. Das Wetter war wann geworden. Schmutziges Schmelzwasser rann unaufhörlich in Kellerwohnun gen, und die Sonne buk den nicht abgefahrenen, al lenthalben in Haufen zwischen den tauenden Schneemassen liegenden Müll. »Mach das Fenster zu«, sagte Fink. »Der Gestank ist nicht auszuhalten.« Mark kam der Aufforderung nach, um sich wieder der Versammlung zuzuwenden. »Und dies war nur der Anfang, nichts als ein Vorgeschmack dessen, was wir zu erwarten haben.« »Ach was.« Fink winkte ab. »Herr des Himmels, soll das heißen, daß du nach alledem noch nicht überzeugt bist? Dies war schlim mer als achtundachtzig.« »Ja, wir wissen alle, was achtundachtzig war, aber wie steht es mit dem berühmten Blizzard von neun undachtzig?« »Wovon redest du? 1889 gab es keinen Blizzard.«
»Das, mein lieber Mark, ist eben das Bedeutsame an dem Blizzard von neunundachtzig.« »Ich verstehe dich nicht.« »Nach achtundachtzig normalisierten sich die Ver hältnisse; genauso ist es hier. Deine Eiszeit ist ge kommen und wieder gegangen, Markus. Du siehst ja, es ist wieder warm geworden. Mach das Fenster auf ... nein, tue es nicht. Aber verlaß dich darauf, es ist wieder warm.« Mark wandte sich hilfesuchend an seinen Expediti onsgefährten. »Hideo, hast du nichts dazu zu sagen?« Der Geologe war geistesabwesend, und Mark muß te die Frage wiederholen. Schließlich blickte Kashiha ra auf, zuckte die Achseln und schüttelte verneinend den Kopf. »Fink hat recht«, nahm der Geograph das Wort. »Der Schneesturm war von seltener Gewalt, das ist richtig, dennoch war er – global gesehen – eine vergleichsweise lokale Erscheinung. Und sind Sie nicht derjenige, der vor nicht langer Zeit erwähnte, daß es pro Tag sechzig tausend Gewitterstürme auf dem Planeten gibt?« »Aber dieser ist besonders bedeutsam. Er ist die Atombombe, die die Wasserstoffbombe zünden wird.« »Nun, wie ich es sehe, steht deine Bombentheorie gegen meine Aufstoßtheorie«, sagte Fink. »Wir hatten diese unangenehme Gasansammlung unten bei Kap
Hatteras, sie kam hoch, wir mußten aufstoßen und nun ist uns besser zumute.« Mark schüttelte den Kopf. »Mir nicht.« »Nun, angenommen, Sie haben recht«, sagte der Geograph. »Was sollten wir Ihrer Ansicht nach tun?« »Wegziehen.« »Wohin? Und womit?« »Mit allem, in die Tropen, wo wir überleben kön nen.« »Wir werden es die Arche Markus taufen. Von je der Art Lebewesen ein Paar, nicht?« »Wenn Sie wollen.« »Ich will«, sagte Fink. »Du brauchst mir nur ein reizendes junges Lebewesen zu beschaffen.« Die anderen hatten bereits ihre separaten Gruppen gebildet, sprachen über ihre Wochenendpläne, über Sport und Veröffentlichungen. Dann waren sie fort und ließen Mark und Hideo allein zurück. Mark schüttelte verwundert den Kopf. »Ich kann es nicht glauben. Jeder von ihnen ein Vogel Strauß.« Er faßte Hideo ins Auge. »Und wo, zum Teufel, warst du mit deinen Gedanken?« Hideo zuckte die Achseln. »Hätte nicht geholfen. Soll ich dir von den Häusern erzählen, die sie auf der San-Andreas-Verwerfung gebaut haben und noch bauen?« Er legte die Füße auf den Tisch, lehnte sich zurück und starrte zur Decke.
Mark schnaufte in nervöser Ungeduld. »Verdammt noch mal, ich habe dich selbst am Flughafen abgeholt, aber ich kann nicht beschwören, daß du wirklich zu rückgekommen bist.« Hideo schüttelte bedächtig den Kopf. »Bin ich auch nicht ... bin ich auch nicht.« Er brach ab. »Weißt du, sie führen ein hübsches Leben, diese Eskimos. Man lernt Dinge schätzen, über die man nie zuvor nach dachte. Die Wärme eines Feuers, das Erjagen der ei genen Nahrung, Kinder ... Man denkt nicht so viel an das Gestern oder das Morgen, aber das Jetzt wird schön.« »Dein ›Jetzt‹ war vielleicht schön, aber das unsrige nicht. Wir hatten einen Hauch von deinem schönen Grönland, bloß einen Hauch, und beinahe hätte er uns umgebracht. Was geschieht, wenn es wirklich zu schlägt?« Hideo lächelte unbestimmt. »Mir hat es da oben ge fallen.« »Gut, vielleicht ist es dort oben sehr schön, und da bei soll es meinethalben auch bleiben. Aber ich war während des Schneesturms hier unten, und du nicht, also komm nicht her, wenn die Sonne wieder scheint und alles schmilzt, und schwärme mir von Wahrheit und Schönheit vor. Alles, was ich kommen sehe, ist ein Massensterben. Wir sprachen über das alte Meso potamien ohne Reis, wenn du dich erinnerst. Dies
hier wird viel schlimmer, Hideo. Es wird die Menschheit ohne Erde sein.« »Schon recht, schon recht, du hast mich über zeugt.« Er stand auf, um zu gehen. »Wohin willst du?« »Den Kopf in den Sand stecken wie alle anderen.« An der Tür blieb er stehen und blickte zurück. »Oder in den Schnee.« Dann war er fort. Mark starrte eine Weile das Telefon an, und schließlich rief er den Redakteur der New York Times an. Dieser lauschte geduldig Marks ausführlichem Be richt, und dann lachte er. »Schlagzeile: ›Weltunter gang.‹ Unterzeile: ›Fußballergebnisse auf Seite 8.‹« »Freut mich, daß Sie es komisch finden.« »Sehen Sie, Mr. Haney, Weltuntergangsgeschichten gibt es, seit die Leute ihre Zeitungen in Tontafeln ritz ten. Und bis jetzt ist die Welt immer noch da.« Mark hielt seinen Zorn zurück. »Gut, was ist nötig, was brauchen Sie?« »Erhärtende Beweise zum Beispiel. Haben Sie Ihre Fachkollegen hinter sich?« Mark schwieg einen Augenblick lang. »Die werden ... äh ... die werden sich mir anschließen.« »Aber sie haben es noch nicht getan, wie?« »Es ist nicht ... es ist wirklich nicht von Belang, wie viele Leute zu diesem Zeitpunkt die gleichen Einsich
ten gewonnen haben. Wichtig ist, daß ich dafür mit meinem wissenschaftlichen Ruf geradestehe. Ich, Mr. Haney, ich setze alles darauf, was ich bin.« »Und das ist nicht allzuviel, Mr. Haney, gestehen wir es uns ruhig ein.« »Augenblick mal ...!« »Nichts für ungut, Mr. Haney. Auch ich bin in die sem Laden keine große Nummer. Deshalb reden wir miteinander. Mit diesem Ding würde ich mich auch exponieren; ich müßte genauso dafür einstehen.« »Sagten Sie nicht einmal, Sie hätten einen breiten Rücken.« »Keinen so breiten. Damals ging es um eine Hun gersnot in der Sahelzone, aber was Sie mir jetzt an bringen, ist ein Mordsding von einer Geschichte, und dafür bin ich nicht breit genug gebaut.« »Sie meinen, Sie fürchten sich davor?« »So ist es.« »Ich kann Ihnen die Beweise bringen, die Aufnah men, die Messungen, die mathematischen Berech nungen ...« »Ich würde von dem Zeug nichts verstehen. Passen Sie auf, Mr. Haney: Zeigen Sie dieses Material ande ren Fachleuten auf Ihrem Gebiet, anderen Meteorolo gen. Sprechen Sie mit Ihren Kollegen an anderen Universitäten ...« »Das würde zu lange dauern.«
»Was sollte dabei lange dauern? Sie müssen doch eine Art Kommunikationsnetz haben, Fernschreiber oder was.« »Ja. Wir treffen uns einmal im Jahr bei Konferenzen und sprechen auf dem Korridor oder in einer Bar über dies und das.« »Ziemlich fortschrittliche Regelung.« »Ein wenig langsam. Überhaupt trauen wir einan der nicht recht.« »Ich beginne zu sehen, warum. Nun gut, machen Sie es wenigstens über Ihren Dekan oder Abteilungs direktor. Oder sehen Sie den auch nur einmal im Jahr?« – Mark zögerte. »Sagen Sie bloß, es ist so.« »Äh – er ... ist auf Urlaub.« »Tatsächlich? Wo verbringt er ihn?« »Ah ... Wir wissen es nicht genau. Er sagte, er wer de uns benachrichtigen, sobald er etwas gefunden hätte.« »Zu dumm. Tut mir leid, Haney.« Im gleichen Augenblick, als Mark log, sorgte er sich, ob der arme Guzman im Schneesturm umge kommen sein mochte. Für Sr. Avila gab es verschiedene Gründe, beunruhigt zu sein, als er mit seinem Boot vom täglichen Fisch fang zurückkehrte. Die neuen Fische, die er im Golf
strom gefangen hatte, kamen nicht mehr so häufig vor. Der Rückgang war auffallend und gleichmäßig, und die alten Arten waren nicht zurückgekehrt, um die Differenz auszugleichen. Etwas sehr Seltsames geschah mit dem Ozean. Beim Einlaufen in den kleinen Hafen machte er ei nen Fremden aus, der wie ein Tourist herumspazierte und sich alles ansah. Er war ein Amerikaner, soviel war schon von weitem zu sehen. Der erste Gringo des Winters. Avila betrachtete diese Touristen mit gemischten Gefühlen. Gewiß, sie brachten Geld, und manchmal mieteten sie sein Boot für Tagesausflüge, oder um draußen Schwertfische zu angeln. Sie waren an spruchsvoll, sie waren arrogant, und wenn zu viele von ihnen kamen ... nun, man brauchte sich bloß Ti juana anzusehen. Dachte man andererseits an die zurückgehenden Fangerträge, so blieb einem nichts übrig, als anzuer kennen, daß Geld eben Geld war. Avila beschloß, sich an den Amerikaner heranzu machen, ein wenig über den Fischfang zu flunkern und ihm vielleicht das Boot zu vermieten, gegen Bar zahlung im voraus, verstand sich. Zuerst aber mußte er sich mit ihm bekannt machen. »Buenos dias, Señor. Sind Sie Amerikaner?« Der Tourist nickte.
»Sie sind frühzeitig herunter gekommen.« »Wurde frühzeitig kalt«, sagte Guzman. Es war zwei Uhr früh, und seine Stimme klang laut in der Nachtstille. »TL8XNT ... TL8XNT ... hallo, TL8XNT ... Dr. Schumer ...« Mark wartete einen Mo ment, dann holte er Atem und sprach zum erstenmal sein eigenes Erkennungszeichen: »Hier spricht W2QRV ... hier spricht W2QRV ... Washington Zwei Quebec Roma Valencia, ich rufe TL8XNT und gehe auf Empfang.« Er wiederholte das Erkennungszeichen des Arztes und sein eigenes und wartete. Und wartete. Er bekam nur das Zischen und Knistern atmosphärischer Stö rungen herein. »Verdammt!« Er wandte sich um und sah, daß das Bett leer war. Karen war gegangen, um nach Danny zu schauen. Sein Blick wanderte weiter zu den Eskimo-Arte fakten, zu der Nähnadel aus zugefeiltem Knochen, zu dem übergroßen Aschenbecher, der in Wirklichkeit ei ne Tranlampe war, und zu der Peitsche mit ihrem fein geschnitzten Griff und der langen, geflochtenen Roh lederschnur. Eines Tages, dachte er müßig, werden wir wohl dieses Zeug hier in New York brauchen. Er wandte sich wieder dem Sender zu und unter nahm einen weiteren Versuch, den Arzt in Mali zu erreichen.
Jetzt ging er auf ein anderes Frequenzband über, eines, wo die Signale und Stimmen sich drängten, vermischt mit Summtönen, Pfiffen und dem Knistern atmosphärischer Störungen: die ganze Kakophonie der Zivilisation auf einmal. Er lauschte, bis Karen wieder hereinkam, trotz der Kälte im Raum nackt, wie sie es gewohnt war. »Was macht er?« fragte Mark. »Er schläft ruhig, ist noch geschwächt. Wird eine Weile dauern, bis er wieder ganz bei Kräften ist.« »Ja, wenn uns noch eine Weile bleibt.« »Was hast du getan?« Sie stand hinter ihm und schaute den Sender an, während sie ihm den Hals streichelte. »Ich versuche die Toten zu wecken.« Er lachte grimmig. »Das kannst du nicht. Lerne die Natur akzeptie ren.« »Sind wir wieder dabei?« »Unsere einzige Meinungsverschiedenheit.« Sie kam herum, setzte sich auf seinen Schoß und umarm te ihn. »Ja, das und die verdammte Kälte in diesem Raum.« »Wir halten einander warm.« »Mmh-hm.« Er küßte ihre Brüste.
Sie schmiegte sich enger an ihn und blieb eine Wei le still. »Mark?« »Hm?« »Warum hörst du dir das an?« »Ich mag die Musik.« »Was immer ...« Sie verstummte. »Ja? Was?« »Was immer ihnen zustößt, ich will nicht, daß es uns zustößt.« »Es braucht niemandem zuzustoßen. Genug Zeit, und man wird es einsehen und danach handeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Meinst du damit, daß nicht mehr genug Zeit ist, oder daß man nicht zur Einsicht kommen wird?« »Ich meine, du solltest dich nicht darum kümmern. Ich meine, du solltest es einfach geschehen lassen.« Er nickte zu den Stimmen im Empfänger. »Das sind Menschen da draußen.« »Das sind bloß Stimmen. Wir sind die einzige Rea lität, nur wir und Danny.« »Wir sind eine Zivilisation. Was wir sind, was wir tun ... Wenn du drei Fäden herausziehst, geht das ganze Gewebe auseinander.« Sie kuschelte sich wieder an ihn und sagte eine Zeitlang nichts. »Mark ...«
Sein Seufzen hatte eine leichte Schärfe. »Dieser Professor ... der Geograph, wie heißt er?« »Wie er heißt? Ah ... weiß nicht. Wie auch immer.« »Ja, Professor Soundso. Erinnerst du dich an die Löwen?« »Was für Löwen?« »Wo sie alle Tiere aus dem Überschwemmungsge biet eines Staudammes retteten und umsiedelten.« »Was ist mit denen?« »Wenn du vier Löwen hinsetzt, wo vorher nur zwei lebten, dann hast du am Ende gar keine Lö wen.« Er schob sie fort, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Du bist ruhig und beherrscht und weißt sehr gut, was du sagst.« Sie nickte. »Gut, dann sag es.« »Die Regierung weiß Bescheid, aber sie behält ihr Wissen für sich.« »Meinst du?« »Und sie hat recht.« »Sie hat recht? Es wird mehr Menschen das Leben kosten, als ein Atomkrieg. Neunzig Prozent der Menschheit werden zugrundegehen.« »Die anderen zehn Prozent werden überleben. Aber nicht, wenn die ganze Menschheit wie ein Heu schreckenschwarm über die Tropen herfällt.«
»Das kann ich nicht ändern.« »Du meinst, es fällt nicht in dein Fach.« »Richtig. Es ist nicht mein Fach. Ich habe zu tun, was für mich das Richtige ist.« »Für uns.« »Na gut, für uns.« »Mark, wir sind uns.« »Hah?« »Wir sind die einzigen ›uns‹.« »Ich kann dir nicht folgen.« »Doch, du kannst. Du kannst.« Sie umarmte ihn wieder, ließ ihre Brust an seinem Mund, streichelte seine Ohren, fühlte seinen Penis unter ihrem Schoß hart werden. Sie weinte beinahe vor Verzweiflung. »Mark ... laß uns leben.« Sie hob seinen Kopf und küßte ihn, öffnete den Mund, um seine Zunge zu empfangen und schloß ihn dann darum. Sie keuchte in Ekstase. Er wandte den Kopf zur Seite, um Luft zu holen. »Du redetest davon ... daß man den Tod nicht akzeptieren müsse«, sagte er. »Am Ende, wenn es richtig ist ... wenn es einem be schieden ist. Bis dahin will ich leben ... Ich will, daß wir leben.« Er hielt sie mit einem Arm, als sie sich herumdreh te und ein Bein um ihn legte. Er öffnete die Hose, und sein erigiertes Glied sprang heraus. Dann zog er sie
an sich und fühlte sich mit köstlicher Leichtigkeit eindringen. Die Radiosignale zirpten weiter, hundert Stimmen und Morseapparate aus entlegenen Gebieten der Er de, aus Entfernungen jenseits des Fassungsvermö gens und jenseits der Aufmerksamkeit. Die Luftströmungen folgten noch immer ihren fun damentalen Bahnen, die in ihrer Art so unveränder lich waren wie die grundlegenden Gesetze der Phy sik, angewärmt von der Sonne der Äquatorregion und dann zur Kälte der Polargebiete gezogen, doch bildeten sich innerhalb dieses globalen Luftaustau sches neue Muster heraus. Der Nordosten der Vereinigten Staaten war von ei nem Schneesturm heimgesucht worden, dem schlimmsten seit Menschengedenken, aber als er wei terzog, war er für jene, die er tagelang in Angst und Schrecken gehalten hatte, nicht länger ein Gegen stand besorgten Interesses. Tatsächlich hätte der Sturm sich normalerweise über der offenen See ausgetobt, aber die Normalität, wie die Menschheit sie begriff, schwand rasch dahin. Die Wärme, die über dem Atlantik Wasserdampf er zeugte, tat das gleiche über den arktischen Gewäs sern, und so lag eine Wolkendecke wartend über dem gewaltigen grönländischen Inlandeis und lieferte
Feuchtigkeit, die den Sturm wiederbelebte, ehe er sterben konnte. Bald wütete ein neuer Blizzard ungesehen von menschlichen Augen. Zentimeter um Zentimeter sammelte sich der Schnee auf dem Eis, setzten sich die einzelnen Flocken leicht ab, auseinandergehalten von den kristallinen Verzweigungen ihrer Gestalt. Doch als mehr Schnee fiel, als Zentimeter zu Dezime tern und dann zu Metern wurden, wurde der zuun terst liegende Schnee zusammengepreßt, wie wenn man einen Schneeball formt. Die Verzweigungen wurden vom Druck abgebrochen, die Kristalle zu feinkörnigem Eis verfestigt. Der wachsende Gletscher seinerseits kühlte die über ihm lagernde Luft ab und vermehrte den Schneefall, Meter um Meter, Tonne auf Tonne, und das feinkörnige Eis wurde weiter komprimiert, bis die letzten Reste von Luft herausgepreßt waren und eine besondere Art von Eis entstand, ein Eis von un glaublicher Dichte und Zähigkeit, eine für menschli che Begriffe unbewegliche und undurchdringliche Masse. Die Natur hingegen arbeitet mit Kräften größeren Maßstabs. Millionen Tonnen wurden auf dem In landeis abgelagert, aber eine weitere Verdichtung war nicht möglich. Raum gab es nur an den äußeren Rändern, und so drängte dieses harte und scheinbar
nicht verformbare Material wie Sirup in die Richtun gen des geringsten Widerstandes. Physikalisch gesehen, handelte es sich um einen Ausbreitungsprozeß, der durch das immense Eigen gewicht bewirkt wurde. Das Eis verhielt sich wie ein Lebewesen, wie eine Amöbe von tausend Kilometern Durchmesser, die blindlings suchende Fühler aus streckte, zwischen Gebirgsstöcken tastende Pseudo podien aus Eis, die sich verdickten, wenn sie einen Durchgang fanden, bis der riesige, träge Körper des gewaltigen Gletschers nachfolgte. Gesteinsschutt und Felsblöcke wurden mitgenom men, im ganzen verschluckt, rund geschliffen oder pulverisiert. Schließlich erreichte die neugebildete Eisflut die Ketten des Küstengebirges, und hier kam sie zum Stillstand. Die Finger schienen sich zurückzuziehen und während vom Inland weiteres Eis nachrückte, sammelte der Gletscher hinter dem Gesteinswall Kräfte und baute sich weiter auf. Allmählich wuchs seine Front höher, schob sich geduldig die Hänge hinauf, bis sie Paßhöhen und Scharten erreichte und dann überfloß. Im physikali schen Sinne war jede Vorwärtsbewegung, selbst wenn sie abwärts gerichtet war, nicht das Ergebnis von Eintracht, sondern von widerstrebendem Nach geben. Ungezählte Kristalle mußten in diesem Prozeß
umgeformt und in ihrem Gefüge bewegt werden, ehe sie sich endlich fügten. Auf dem Grund des Gletschers war der Druck so gewaltig, daß diese Verformungen sich wie in einer zähflüssigen Masse vollzogen. An der Oberfläche zeigte sich jedoch die ganze spröde Widerspenstig keit des Materials, und das Eis zerriß in tausend Spal ten, die mit jeder Unebenheit des felsigen Unter grunds aufklafften, sich wieder schlossen und von neuem öffneten. Unten, zwischen Meer und Küstengebirge, lag das Eskimodorf. Die Einwohner hatten es aufgegeben und nur eine alte Frau zurückgelassen. Sie saß vor dem Iglu und wartete. Seit langem schon wartete sie genau in dieser Position, bewegungslos ruhig und still. Sie erinnerte sich des Tages, da sie selbst ihre Eltern zurückgelassen hatte. Damals hatten sie dem weißen Bären ins Angesicht gesehen, oder sie waren einfach verhungert. Aber in einer fernen Vergangenheit hatte es Zeiten gegeben, von denen in den alten Überliefe rungen gesprochen wurde, da die Menschen sich in ihren letzten Stunden dem großen Eis in seinem lang samen Vormarsch gegenüber gesehen hatten. Sicherlich war es bei weitem besser, auf solche Weise zu sterben, von der Erde selbst umarmt in den Geist alles Seienden einzugehen. Das Poltern und Krachen der sich talwärts schie
benden Eismassen war ohrenbetäubend. Der felsige Boden erzitterte unter dem unaufhaltsam vorrücken den weißen Strom, der alles verschlang. Er war der Geist unendlichen Hungers, oder unendlicher Liebe. Er erreichte die Iglus und nahm sie mühelos in sich auf. Eines Tages würde er sie neu machen, Iglus, Ber ge, Bären und Menschen. Und wer konnte sagen, welcher von diesen die alte Frau selbst sein mochte? Über einem Geschiebe aus Blöcken, Erdreich und Eistrümmern ragte die Stirn des Gletschers vor ihr auf. Sie konnte hineinschauen und sah das Licht, alle erträumten und ungeahnten Farben, ein verwirren des, wirbelndes Kaleidoskop, das sich in die Unend lichkeit erstreckte. Es war das Licht des Geistes selbst, und als sie tiefer schaute, konnte sie nun das Allsei ende des Geistes sehen, die Bären und die Robben und die Fische, die ihre Familie getötet hatte und die sie nun alle willkommen hießen. Sie schaute noch tiefer und sah die anderen Geister, ihren Mann, ihre Eltern, ihre Großeltern, und alle rie fen ihr zu und streckten ihr zur Begrüßung die Hän de entgegen. Auch sie streckte die Arme aus, und im letzten Augenblick berührte sie sie alle, berührte sie die Ewigkeit. Die Instrumente des Satelliten registrierten die Zer störung des kleinen Dorfes. Sie verfolgten das Wach
stum des grönländischen Inlandeises, maßen die Wärme, welche diese sich vergrößernde Eiskappe der Atmosphäre entzog, und die Kälte, die sie an ihrer Statt an die Höhenströmungen weitergab. Die Begegnung warmer und kalter Luftmassen er zeugte neue Störungskerne, neue Stürme, neue Ver heerungen. Alles dies beobachtete der Satellit als lei denschaftlicher Zeuge, mit unerschöpflicher Geduld Daten sammelnd, aufzeichnend, sendend. Dabei war von wenig Belang, ob es unten eine Intelligenz gab, diese Sendungen zu empfangen. Versorgt von seinen Sonnenbatterien, stabil in seiner Umlaufbahn, sollte er fortfahren, seine elektronischen Zirpgeräusche zu erzeugen, ob er ein Publikum hatte oder nicht. OWENS VALLEY, KALIFORNIEN: »Mama, wie schön es hier ist!« Peggy Bjork warf die Arme um den Hals ihrer Mut ter und weinte, wie sie es vor Jahren getan hatte, als sie ein Schaukelpferd unter dem Weihnachtsbaum gefunden hatte, obwohl es sonst kaum wie Weih nachten schien. Der Tag war sonnig, und die Felder waren grün und gediehen. Tatsächlich hatte sie den Sonnenschein nie so warm gefühlt. Ohio mit dem vielen Schnee und dem Tod ihres Vaters lagen weit hinter ihnen. Auch Mrs. Bjork weinte, bewegt von den Empfin
dungen, mit denen man einem neuen Leben entge genblickt, einem Gemisch von Erwartung und Furcht und einem seltsamen Unglauben. Sie wußte jedoch, daß sie nicht mehr in Zanesville leben konnte, nicht auf derselben Farm, wo ihr Mann erfroren war, nicht einen weiteren harten Winter hindurch. Die Bank hatte alles für sie erledigt, den Verkauf der Farm und die Pacht einer anderen. Vielleicht war es Peggy mit ihren Pioniergeschichten gewesen, die sie bei ihrer Entscheidung zugunsten Kaliforniens be einflußt hatte, aber es schien ganz gewiß eine kluge Wahl. Mrs. Bjork war ein wenig erstaunt, wie leicht und rasch alles gegangen war. Die Pacht anstelle eines re gelrechten Verkaufs war ungewöhnlich, aber Mrs. Bjorks frühere Wertschätzung der ›eigenen Scholle‹ war ihr verdrießlich geworden und schien eher wie Versklavung. Noch eigentümlicher war der Umstand, daß der tatsächliche Grundbesitzer – am Ende der langen Li ste von Agenten – der Distrikt von Los Angeles war, praktisch am anderen Ende des Staates, 550 Kilome ter weiter südlich. Seltsam waren die Wege der Re gierung. In Wirklichkeit waren die Wege der Regierung schlau und weitblickend. Ein halbes Jahrhundert zu vor hatte der Distrikt diese nördlichen Farmen, nur
um die Grundwasserrechte zu bekommen, durch Agenten aufkaufen und dann wieder an die ur sprünglichen Eigentümer verpachten lassen. Für Mrs. Bjork war dies allenfalls von akademi schem Interesse. Was sie sah, war eine gutgeführte Farm, fruchtbarer Boden, ein mildes Klima mit viel Sonnenschein, und ein sorgfältig gewahrtes Gleich gewicht zwischen Viehhaltung und Getreideanbau. Hier brauchte man Regen und Hagel und Schneestürme nicht zu fürchten. Die Natur war längst gezähmt und beaufsichtigt. Unter einem Himmel, den meistens kein Wölkchen trübte, wurde das Was ser in überwachten und bemessenen Mengen durch Bewässerungskanäle herangeführt, die das System der Bewässerungsgräben speisten und ihrerseits mit enormen Rückhaltebecken verbunden waren, in de nen sich die Schmelzwasser der Sierra Nevada sam melten. Und sollten die Kanäle ausfallen, so gab es Brunnen zu dem scheinbar unerschöpflichen Grund wasser. Als Mrs. Bjork davon kostete, fand sie es rein, süß und frisch, ungleich dem schal schmeckenden Regenwasser oder dem verschmutzten Flußwasser in Ohio. Es war eine üppige und freigebige Natur, und so wohl Mutter als auch Tochter wußten, daß sie ihre neue Heimat gefunden hatten.
Die Fernsehnachrichten zeigten Dorfbewohner, die eine religiöse Statue umstürzten und ihr eine Schlinge um den Hals legten, eine symbolische Bedrohung des Gottes mit dem Erhängen, falls der Regen weiter auf sich warten lassen sollte. Der Nachrichtensprecher ergänzte dies mit der ziemlich abstrakten Information, daß die Vereinigten Staaten kein unmittelbares Sicherheitsinteresse hät ten, die Situation aber aufmerksam beobachteten. Der bevorstehende Zusammenbruch der indischen Regie rung, der Hungertod vieler Millionen durch das un erklärliche Ausbleiben der Monsunregen und die damit verbundenen Unruhen und Ausschreitungen wurden nicht als direkte Bedrohung angesehen, doch würde die amerikanische Regierung den Betroffenen selbstverständlich auf schnellstem Wege Hilfe schik ken. Es folgte die kurze Einblendung einer Reportage aus dem indischen Zentralinstitut für Meteorologie, verbunden mit dem Interview eines Dr. L. V. Singh, der offenkundige Artikulationsschwierigkeiten hatte. Man gewann den Eindruck, daß er unter einem Schock litt, und das Interview wurde abgekürzt. Mark konnte seinen indischen Kollegen nur zu gut verstehen; er selbst hatte ähnliches durchgemacht. Aber seine Aufmerksamkeit wurde von etwas ande rem abgelenkt, das im Durcheinander der Instrumen
te und Geräte leicht zu übersehen war: einem Ama teursender. Die Nachrichtensendung wandte sich den lokalen Neuigkeiten zu, aber Mark durchblätterte auf der Su che nach Dr. Singhs Stationszeichen bereits das Ver zeichnis der Amateurfunker und wärmte seinen Sen der an. Wenige Augenblicke später ließ er den Ruf hi nausgehen, verbunden mit seinem Erkennungszei chen. Es dauerte einige Zeit, bis die Verbindung herge stellt war, aber dann ließen sie die Einführungsfor meln mit den standardisierten Abkürzungen, die von den Amateuren zur Überbrückung der Sprachbarrie ren verwendet wurden, hinter sich und kamen zu ei nem tiefergehenden Gespräch. Dr. Singh sprach ein beinahe unwirklich vollkommenes Englisch, das typi sche Produkt einer höheren Ausbildung in einer ehemaligen britischen Kolonie. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie groß meine Er leichterung darüber ist, daß Sie meine Schlußfolge rung teilen«, sagte Mark. »Ich begann schon zu den ken, daß ich wirklich verrückt sein müsse.« »Sie mögen versichert sein, mein Freund, daß nicht Sie es sind, der verrückt ist, sondern die Welt. Und sie wird noch verrückter werden. Die Strauße werden ih re Köpfe tiefer in den Sand stecken müssen.« »Sehen Sie, das Problem besteht darin, sichere Zu
fluchtsstätten zu finden. Wir müssen geeignete Ge biete in der Äquatorregion suchen. Die Flüchtlinge, die dort angesiedelt werden, müssen eine funktionie rende Gesellschaft bilden, die imstande ist, das kultu relle und zivilisatorische Erbe zu erhalten.« »Das mag Ihr Problem sein, das unsrige ist es nicht. Bombay liegt auf achtzehn Grad nördlicher Breite. Der Äquator ist sozusagen am anderen Ende der Straße.« »Dann haben Sie vom Eis nichts zu befürchten. Sie können dort überleben ...« »Ja, das Eis wird uns nicht erreichen; aber überle ben werden wir nicht. Wir sterben schon jetzt. Die Monsunregen speisten die Hälfte unserer Flüsse. Der Schnee im Himalaya speist den Rest. Was geschieht, wenn die Schneeschmelze in den Bergen ausbleibt? Sechshundert Millionen Menschen. Wir können nicht auswandern, es gibt keinen Ort.« Mark schwieg eine Weile. »Schauen Sie, Dr. Singh, es ist wie mit einem brennenden Haus, man kann nicht alles retten, also rettet man, was man kann. Selbst wenn nur wenige von uns überleben sollten, wenn wir in Verbindung bleiben ...« »Was dann?« »Dann können wir kämpfen.« »Kämpfen? Gegen wen? Den Planeten, die Götter?« »Dann wollen Sie sich einfach niederlegen und sterben?«
Darauf folgte eine lange Pause, und Mark dachte vorübergehend, die Verbindung sei verloren gegan gen, aber schließlich meldete sich Dr. Singh wieder. »Wir haben eine langfristige Betrachtungsweise, Dr. Haney. Unsere Gesellschaft wurde auf den Ruinen einer anderen errichtet, und diese auf den Ruinen ei ner noch älteren. Jemand wird auf unseren Ruinen bauen.« »Wenn niemand und nichts übrig bleibt, wird es mit Ihnen aufhören.« »Dann wird es mit uns aufhören.« »Hören Sie ...«, sagte Mark nach einer Weile, »hal ten Sie die Kanäle offen. Ich werde andere zusam menbringen. Gemeinsam können wir etwas planen. Es geht um mehr als um eine Gesellschaft. Die ganze Menschheit steht auf dem Spiel. Wir werden Dino saurier sein.« »Edle Geschöpfe, die Dinosaurier. Erfolgreicher als der Mensch. Die Dauer ihrer Herrschaft betrug das Hundertfünfzigfache der unsrigen.« »Sie wehrten sich nicht gegen ihr Ende. Wir wer den es tun.« »Wissen Sie, wogegen Sie kämpfen?« »Es ist nicht der Planet, und es sind nicht die Göt ter. Es ist doch bloß Eis.« »Bloß ...?«
THULE, GRÖNLAND: Eine Regierung, die heimliche Schlachten geschlagen und in Asien sogar ganze Kriege insgeheim geführt hatte, fand es nicht schwierig, auch ihr wohl seltsam stes Gefecht mit dem Mantel der Geheimhaltung zu verhüllen. Das Schlachtfeld war entlegen, und der Feind bedrohte den Luftwaffenstützpunkt noch nicht unmittelbar. Alle notwendigen Funksprüche waren verschlüsselt, und die Wissenschaftler, die man von Maryland heraufgeflogen hatte, waren verpflichtet worden, Stillschweigen zu bewahren. Sie alle beobachteten in ehrfürchtigem Schweigen, wie das Eis gleich weißer Lava die Berghänge herab kroch, durchzogen von ungezählten Spalten und Ris sen, die sich verbreiterten und wieder schlossen, be gleitet von dröhnendem Donner und splitternden Echos, die meilenweit zu hören waren. In diesem Augenblick schien es wie eine göttliche Gewalt, groß artig und unerbittlich, und sie waren bloße Insekten in ihrer Bahn. »Bloß lausiges Eis, das ist alles«, meinte der Kom mandeur der Artillerieeinheit. Natürlich hatte er es bisher mit unberechenbareren Feinden zu tun gehabt, die ihre Positionen wechselten, sich geschickt tarnten, eine Intelligenz zur Schau stellten, die es mit der sei nigen aufnehmen konnte, und die, was das Schlimm ste war, zurückschießen konnten.
Er erteilte den Haubitzenbatterien über Funk seine Befehle, und sie rasselten mit brüllenden Motoren in Position, daß ihre Gleisketten den Schnee in Fontänen hinausschleuderten. »Wenn Sie ein Ziel wollen, Major«, sagte der Gla ziologe, »dann haben Sie Ihre beste Chance entlang den blauen Bruchlinien.« »Beste Chance?« Der Major unterdrückte ein ge ringschätziges Schnauben und gab den Rat an die Batteriechefs weiter. Die M-110-Haubitze war das schwerste Geschütz der Feldartillerie, aber mechanisiert und viel bewegli cher als die schwerfälligen Geschütze des letzten Weltkriegs. Sie war mehr wie ein offener Dreißigton nenpanzer, der das schwenkbar eingebaute Geschütz und seine fünf Mann Bedienungspersonal trug. So bald die Haubitzen in Feuerposition gegangen waren und die Batteriechefs ihre Anweisungen zur Zieler kennung gegeben hatten, schwenkten Dieselmotoren und komplizierte Getriebe die sechs Meter langen Rohre zum Direktschuß auf das Ziel. Der Kommandeur gab Feuerbefehl, und die Ge schützbatterien antworteten mit einem Brüllen, das jenem des näherrückenden Gletschers gleichkam. Jede Granate wog einhundert Kilogramm, aber die Haubitze konnte sie fünfzehn Kilometer weit schleu dern, und selbst dann vermochte sie noch dreißig
Zentimeter Beton zu durchschlagen. Der Major hatte guten Grund, geringschätzig zu schnauben. Salve um Salve explodierte an den Eiswänden und schleuderte Fontänen aus weißem Pulver hoch, doch als die Wände des Eisabbruchs nach mehreren Minu ten Beschuß noch nicht wie die Mauern Jerichos ein gestürzt waren, ließ der Kommandeur das Feuer ein stellen. Es gab Absplitterungen, wo die Granaten einge schlagen hatten, jede vielleicht zehn oder zwanzig Zentimeter tief, doch darüber hinaus schien der Glet scher unversehrt. Der Major starrte verblüfft durch seinen Feldste cher. »Was, zum Teufel, ist das?« Die für den Versuch bereitgestellte Luftwaffenein heit hatte auf ihre Gelegenheit gewartet, und nun ließ sich die scherzende Stimme des Geschwaderchefs über Funk vernehmen: »Haltet eure Martinigläser fest, wir bringen die Eiswürfel.« Der Glaziologe grunzte nur, doch als er die Ma schinen von Thule herüberkommen sah, mußte er zugeben, daß der Anblick eindrucksvoll war. Die Bomben fielen in so präzise abgemessener Formation, daß man versucht war, an sorgfältige Choreographie zu denken. Und ihre in gleichmäßigen Abständen stattfindenden Detonationen waren wie eine gewalti ge Feuerwerksdarbietung.
In einer Zeit, da in ahnungsloser Unbekümmertheit beinahe beiläufig von Raketen und Megatonnen ge redet wird, ist es schwierig, sich den Schrecken und das Ausmaß der Zerstörung zu vergegenwärtigen, die eine ›gewöhnliche‹ Luftmine einst erzeugte. Die gleichen Formationen dieser Bomben, jede fünf Ton nen schwer, ebneten ganze Städte ein – Berlin, Frank furt, Essen, und später Hanoi. Danach konnte man ganze Stadtviertel durchfahren und nichts als Trüm merhaufen sehen, dazwischen gelegentlich ein paar Mauerreste, und man vermochte sich kaum vorzu stellen, daß hier nicht etwa vor fünftausend Jahren, sondern noch vor wenigen Tagen eine von Leben er füllte Großstadt gewesen war. Gut plaziert, konnte jede Luftmine ein halbes Dut zend mehrstöckige Wohnhäuser zerstören. In den Dschungel Vietnams schlug sie Lichtungen, die Mas senlandungen von Hubschraubern gestatteten. »Allmächtiger, was ist das für ein Zeug?« meldete sich die verblüffte Stimme des Luftbeobachters über Funk. Der Glaziologe antwortete nicht. Er führte bereits Beratungen mit den Spezialisten der Pioniertruppe. Diese Männer waren vorsichtig und ernsthaft. Sie machten Pläne, studierten Luftaufnahmen, analyisier ten Spannungsverhältnisse, untersuchten Eisproben und kamen zu dem Schluß, daß Thermitbomben eine
Verschwendung von Zeit und Geld seien. Sie hatten von Anfang an vermutet, daß es nur eine wirkungs volle Möglichkeit gebe. Von ihr Gebrauch zu machen, bedurfte es einer be sonderen Anweisung des Präsidenten, sowie der Zu stimmung des Nationalen Sicherheitsrates und der Atomenergiebehörde, die alle mit ungewohnter Schnelligkeit erteilt wurden. Die Bohrung wurde mit einer speziellen Bohrein richtung gemacht, die von Ölgesellschaften zur Durchstoßung von Granitdecken verwendet wurde und hier besonders vorteilhaft angewendet werden konnte. Anstelle eines diamantenbesetzten Bohrmei ßels arbeitete sie mit einer Anzahl hocherhitzter Stichflammen, genährt von unter Druck zugeführtem Wasserstoffgas. Die Bohrarbeit erwies sich wegen des in ständiger Bewegung befindlichen Eises als äußerst schwierig. Doch schließlich war die Bohrung vollendet und die Ladung eingesetzt. Ihre Zündung erzeugte ein kleines Erdbeben. Das Eis barst, große und kleine Brocken flogen in alle Richtungen, und man vernahm ein sengendes, zi schendes Geräusch wie von einem riesigen Boiler. Wasserdampf brodelte empor und nahm die Gestalt der vertrauten pilzförmigen Wolke an. Die Ingenieure der Pioniertruppe jubelten. Dies
war das Mittel, das sie sich seit langem für den all gemeinen Gebrauch gewünscht hatten, das mit einem Streich ein Hafenbecken ausheben oder in ein paar Tagen die achtzig Kilometer des Panamakanals aus heben konnte. Aber eine unvernünftige und ängstli che Öffentlichkeit verhinderte seinen Einsatz. Viel leicht würden die Leute sich eines Besseren besinnen, wenn sie schließlich hören durften, wie dieses Mittel einen Luftwaffenstützpunkt und darüber hinaus ei nen ganzen Kontinent gerettet hatte. Dann endlich könnte die Menschheit ganz ins Atomzeitalter eintre ten. Einige Stunden vergingen, ehe die Dampfwolke abzog und eine Einschätzung des Wirkungsgrades er laubte. In den Eisstrom war ein Krater von ungefähr hundertfünfzig Metern Durchmesser gesprengt. Von ihm gingen Risse aus, die mehrere hundert Meter Länge erreichten. Doch nun, während die Experten noch den Krater inspizierten, strömte von allen Seiten Schmelzwasser ein, verschloß die Risse, begann den Krater auszufüllen und gleichzeitig wieder zu gefrie ren. Der Gletscher heilte sich selbst. »Erinnern Sie sich an das Alaska-Erdbeben von 1964, Major?« sagte der Glaziologe, um der Frage des Offiziers zuvorzukommen. »Nicht leicht zu vergessen.« »Kein Wunder. Das schlimmste Erdbeben in der
uns bekannten Geschichte Nordamerikas. Man spürte es in einem Gebiet von hunderttausend Quadratki lometern. Wissen Sie, wie es sich auf die Gletscher dort auswirkte?« »Mir nicht bekannt.« »Das überrascht mich nicht, denn die Auswirkun gen waren nicht erwähnenswert.« »Warum erwähnen Sie sie dann?« »Ich will damit sagen«, erwiderte der Wissen schaftler mit einer gewissen Schärfe, »daß eine Kata strophe, deren Energieentfaltung ungefähr zwanzig tausend Wasserstoffbomben gleichkam, den Glet schern nichts anhaben konnte. Sie rumpelten und grollten und kamen wieder zur Ruhe, und das war al les. Ich denke, jetzt ist es der Erwähnung wert.« Der Major nickte nachdenklich. »Da haben Sie recht. Aber wenn wir diese Energie konzentrieren ...« »Ja, das können wir. Wir können sie immer wieder gegen den Gletscher einsetzen, wochenlang, oder meinetwegen das ganze Jahr, aber was werden wir damit erreicht haben? Wir werden vielleicht einiges Eis geschmolzen haben, bloß steigt es als Wasser dampf gleich wieder empor, kondensiert und kommt als Schnee wieder herunter, diesmal allerdings als ra dioaktiver Schnee.« »Was ... was sollen wir dann tun?« »Uns zurückziehen. Den Stützpunkt evakuieren.«
»Wohin zurückziehen?« Der Glaziologe lachte bitter. »Ich hatte gehofft, Sie würden mir das sagen.« Guzman saß auf der überdachten Terrasse der klei nen Hazienda. Er hätte sich des angenehmen und trägen Lebens erfreuen und den Ruhestandstraum einer jeden hart arbeitenden Führungskraft genießen sollen. Aber es war ihm nicht möglich. Er blickte nach Norden, wo die Berge lagen, als erwarte er, daß etwas von dort herabgeschwärmt käme. Schließlich stand er auf, wanderte unruhig auf der Terrasse hin und her und ging dann hinein. Das Haus war mit einem enormen Vorrat an Dau erkonserven und getrockneten Lebensmitteln ausge rüstet, genug für den Rest seines Lebens. Er hatte Vorräte an Kleidung, Decken und Brennstoff. Er hatte an alles gedacht und konnte sich geborgen und sicher fühlen. Aber es gelang ihm nicht. Die Putzfrau beobachtete ihn staunend und mit ei niger Besorgnis. Es hatte viel Gerede über den ver rückten Amerikaner gegeben, doch nun sah sie, daß er noch verrückter war als die Gerüchte wissen woll ten. Vielleicht ein gefährlicher Verrückter. Er drehte an dem Radio, einem seltsamen, kompli zierten Ding mit vielen Schaltern und Skalen, an die sem drehte er angespannt und lauschte. Ein sonder
bares Pfeifen und Piepen drang aus dem Kasten, dann auf einmal viele Stimmen, die alle gleichzeitig in verschiedenen Sprachen redeten. Endlich gelang es ihm, eine Stimme aus dem Durcheinander hervorzuholen, und sie sah, wie seine Züge sich verhärteten. Darauf tat er etwas wahrhaft Beängstigendes. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte eine eisenbeschlagene schwere Truhe auf. Darin lagen Gewehre, Pistolen, ein Maschinengewehr und Hand granaten. Er zählte sie durch, schien zufrieden, schloß die Truhe wieder und sperrte zu. Anschließend wanderte er wieder auf die Terrasse hinaus und blickte zu den Bergen hinüber. Dabei ließ er das Radio so laut spielen, daß die Stimme daraus durch das ganze Haus scholl. In diesem Augenblick faßte sie den Entschluß, daß sie nicht länger bleiben würde, ungeachtet des Geldes. »Dit-dit, da-da-dit.« »Dit-dit, da-da-dit.« »Dit-dit-da, dit-da-dit-da, dit-dit-da-da-dit-dit.« »Dit-dit-da, dit-da-dit-da, dit-dit-da-da-dit-dit.« Danny hatte Mühe, nicht laut herauszuprusten, aber er wußte, daß dieses Spiel einen ernsten Hinter grund hatte. »Weiter«, sagte er und beugte sich im Bett vorwärts, ohne Mark aus den Augen zu lassen.
»Gut«, sagte Mark. »Dit-dit-dit-da-da-da-dit-da, dit-dit-da-da-dit-da-dit-dit.« »Dit-dit-dit-da-da-da-dit ...« »Was macht ihr da?« fragte Karen, die mit Dannys Medizin hereinkam. »Bloß ein Spiel«, sagte Mark. »Erzähl mir nicht, daß Danny tatsächlich etwas spielt.« »Na ja, es hat einen wichtigen Sinn«, sagte Danny, wieder mit seiner ernsten Miene, die ihn älter als sei ne Jahre erscheinen ließ. »Ich lerne den Funkverkehr. Es gibt da eine Menge zu lernen, Mutter. Es ist eine eigene Sprache.« Er wandte sich Mark zu. »Frag mich das Vokabular ab. Komm, nur zu.« »QNP.« »QNP, kann Sie nicht kopieren.« »QTU.« »QTU ... äh ... Zu welchen Stunden ist Ihre Station empfangsbereit?« Mark quittierte die richtige Antwort mit Kopfnicken und einem erfreuten Lächeln, und Danny wandte sich zur Seite, um ein ähnliches Lob von seiner Mutter zu bekommen, begegnete aber einem Stirnrunzeln. »Ich denke, es wäre besser, du würdest eine richti ge Sprache lernen«, sagte Karen. »Eine, die dir nützen würde. Spanisch, zum Beispiel, falls wir in Südameri ka landen sollten.«
»Spanisch? Mutter, dies ist eine richtige Sprache, und sie ist schön. So prägnant. Man kann die gleichen drei Buchstaben als Frage und als Antwort gebrau chen. ›QSL?‹ Bestätigen Sie? ›QSL.‹ Ja, ich bestätige. Siehst du? Und es ist eine internationale Sprache. Ich kann mit jemandem in China sprechen oder in Indi en, oder ...« »Nur bis zu einem bestimmten Punkt, denke ich mir. Wenn ich mit jemandem in China spreche, möch te ich gern wissen, wie das Leben dort ist, was die Leute fühlen und hoffen, wie die familiären Verhält nisse sind, solche Dinge. Das kann man nicht mit Nummern oder Kürzeln ausdrücken.« »Dafür ist diese Sprache nicht gedacht. Sie ist so präzise, daß sie für Mißverständnisse keinen Raum läßt. Du weißt mit Wissenschaft nichts anzufangen, Mutter, das ist dein Problem.« »So wird es wohl sein. Schau her, da hast du deine Medizin.« Sie wollte ihm die Medizin mit dem Löffel einflößen, aber er nahm ihr den Löffel indigniert aus der Hand und schluckte den Saft ohne ihre Hilfe. Er fing den Blick auf, den seine Mutter Mark zuwarf. »Wahrscheinlich wollt ihr jetzt hinausgehen, damit ihr über mich reden könnt.« »QNX, eine Minute?« fragte Mark, als er mit Karen zur Tür ging. »Was ... QNX ... eine Minute, klar!« antwortete
Danny, und Mark zwinkerte ihm zu und schloß die Tür. Als er sich draußen umwandte, um Karen die Ab kürzung zu erklären, waren ihre Lippen plötzlich auf den seinen, und ihre Zunge suchte Einlaß. Er drehte den Kopf weg. »Du bist manchmal überraschend.« »Wieso?« »Gerade als ich dachte, wir kämen nicht zurecht.« »Wir kommen gut zurecht, sehr gut«, sagte Karen. »Horizontal, ja. Aber nicht immer vertikal.« »Fast immer.« »Ausgenommen Danny.« »Ja. Ausgenommen ein paar Kleinigkeiten, die Danny betreffen.« »Wie der Unterricht im Amateurfunkverkehr?« »Es gibt wichtigere Dinge, Mark.« »Zum Beispiel?« »Daß die Welt untergeht, zum Beispiel. Solche Kleinigkeiten.« »Ich tue, was ich kann«, sagte Mark. »Immer nur das Falsche.« »Wir haben eine Zivilisation zu retten.« »Wir haben uns zu retten. Danny wird bald soweit wiederhergestellt sein, daß er reisen kann. Warum besorgt du keinen Paß für ihn, keine Visa für uns? Warum suchst du nicht zusammen, was wir einpak
ken müssen, warum kaufst du nicht irgendwo ein Stück Land ...?« »Wie soll ich eine Zivilisation einpacken, Karen? Wie stellst du dir das vor?« »Eins habe ich von den Eskimos gelernt. Sie reisen mit leichtem Gepäck. Sie luden alles auf einen oder zwei Schlitten und zogen weiter. Und sie überlebten. Nun, was brauchst du wirklich? Ich meine, was ist absolut notwendig? Laß uns diese wenigen Dinge zu sammenpacken und von hier verschwinden.« »Und was dann?« »Was soll das heißen, und was dann? Wir leben, wo und wie auch immer.« »Ohne Kunst, ohne Kultur, ohne Wissenschaft?« »Wenn es zuviel kostet, alles das mitzunehmen, dann lassen wir es zurück ...« »Ich nehme an, das schließt auch den Sender mit ein.« »Den ganz besonders. Ich kann deine Besessenheit mit diesem verdammten Lärmkasten nicht verstehen.« »Nun jemand kann«, erwiderte Mark, wandte sich um und betrat wieder Dannys Zimmer. »Also wei ter«, sagte er zu Danny. »Wo waren wir stehen ge blieben? Dit-dit-da-da-dit-dit-da.« »Dit-dit-da-da-dit-dit-da«, sagte Danny kichernd. Karen sah ihnen eine Weile zu, dann wandte sie sich weg.
Der gewaltige Gletscherstrom schob sich auf kilome terbreiter Front blindlings weiter, bis er die See er reichte. Wie ein zögernder Badegast tastete er sich langsam hinaus ins Wasser, und der vor seiner Stirn aufgestaute Geschiebewall versank in den Fluten. Das Steigen und Fallen der Gezeiten arbeitete an der frei ins Wasser hinausragenden Front des Glet schers, stieß und hob, bis die Oberfläche von tausend Rissen durchzogen wurde. Die See arbeitete weiter, die Stabilität der Gletscherfront nahm in dem Maße ab, wie sie in die See hinausgeschoben wurde, die Spalten verbreiterten und vertieften sich. Schließlich verbanden sie sich zu einer durchgehenden Bruchli nie, und die See bewirkte, was keine von Menschen hand geschaffene Waffe vermochte. Mit einem Donnern und Bersten, das viele Kilometer weit zu hören war, kalbte der Gletscher und gebar ein Kind von eineinhalb Millionen Tonnen. Es sank unter die Oberfläche, wurde von der Auftriebskraft empor getragen und tauchte aus dem kochenden Meer empor. Seewasser ergoß sich in mächtigen Kaskaden über sein Antlitz. Wieder ging es unter, kreiselte und wälzte sich in dem Bemühen, sein Gleichgewicht zu finden, und jedes Stampfen und Schlingern entsandte eine unter seeische Welle, die fünfzig bis sechzig Kilometer weit wanderte, um schließlich mit der Höhe einer Sturmflut gegen irgendeine öde Felsenküste zu krachen.
Nach einiger Zeit fand der neugeborene Eisberg sein Gleichgewicht. Seine massige Krone reflektierte das Licht mit ungezählten funkelnden Kristallen, sei ne Bruchflächen bildeten fantastische Klüfte, Zinnen und Türme, von denen manche die Höhe eines Wol kenkratzers erreichten. Gleichwohl stellte dies alles nur ein Zehntel seiner Gesamtmasse dar. So gewaltig er auch war, der Wind und die Mee resströmungen trugen den Eisberg hinaus auf die See und führten ihn entlang der Labrador-Küste nach Süden, wo er die meistbefahrenen Schiffahrtsrouten der Erde kreuzte. Hinter ihm grollte und rumpelte der Gletscher und schob seine kilometerbreite Eiszunge aufs neue in die See hinaus. »Macht jetzt nicht viel her, wie? Irgendwie zahm, beinahe wie ein kleines Schoßtier, aber früher war es einmal das Ungeheuer, das die Welt eroberte.« Der Fremdenführer hatte seine Geschichte so oft erzählt, daß er bald das Gefühl hatte, er könne sich selber einschalten wie ein Tonbandgerät. Er wartete, wie er es dreimal täglich zu tun pflegte, daß die Tou risten ihre Kameras hervorzögen und ihre Aufnah men machten. Sie waren umgeben von den außeror dentlichen Naturschönheiten um den Mount Rainier, doch ihre Aufmerksamkeit war auf den gefrorenen
Strom fixiert, der zu ihren Füßen lag, eingebettet in die frischen Schuttwälle der Moräne. Der Fremdenführer fuhr in seiner Ansprache fort und verglich den Gletscher mit den Dinosauriern, be zeichnete ihn als eine bedrohte Art, die vor aller Au gen vom Aussterben ereilt werde. »He«, unterbrach ihn ein Tourist, »wie kommt es, daß er so etwas macht, wenn er am Aussterben ist?« »Was macht?« Es dauerte ein Weilchen, bis der Fremdenführer sein geistiges Tonband ausgeschaltet hatte. Er folgte dem ausgestreckten Arm des Touri sten mit dem Blick zur Gletscherzunge, wo das Eis soeben einen Felsblock aus seiner Lage gebracht hat te, so daß er ein paar Meter weitergerollt war. Der Gletscher war im Wachsen begriffen. Diesmal wurde nichts vertuscht. Kalkutta und Bom bay waren keine entlegenen afrikanischen Dörfer. Die Berichterstatter waren zur Stelle, um – oft unter Le bensgefahr – den Zusammenbruch einer ganzen Ge sellschaft zu dokumentieren, das Sterben von Millio nen Verdurstenden, von Rindern, die auf den Straßen verwesten, die Häute aufgesprungen wie der ausge trocknete Schlamm des Flusses, von Fliegenwolken eingehüllt. Überall waren die Fliegen, umschwärmten Mensch und Tier in gleicher Weise. Die Kamera folgte einem Tankwagen mit Wasser,
wie er von einer Menschenmenge angehalten wurde. Zuerst fielen die Verzweifelten über den Tankwagen her, dann übereinander. Plötzlich geriet das Bild in heftige Bewegung und wurde verschwommen, und der Ansager erläuterte, daß der Kameramann in den Aufruhr hineingezogen worden wäre. Nur der Film in seiner geschützten Kamerakassette habe überlebt. »Mein Gott«, sagte Mark. Hideo zuckte die Achseln. Die indische Regierung sei zusammengebrochen, sagte der Nachrichtensprecher. Hunderttausende von Indern versuchten über die Gebirgsgrenzen nach Ne pal und China einzudringen und wurden von den Streitkräften dieser Länder daran gehindert. »Es ist niederschmetternd«, sagte Mark. »Man sollte meinen, es würde uns hier aufrütteln, wir würden et was in Gang bringen, eine Hilfsaktion größten Umfan ges. In ein paar Wochen wird es hundert Millionen To te geben. Hundert Millionen – und der Kerl von der New York Times will nicht mal mit mir reden!« »Was willst du, das ist der Preis, der für die Über völkerung zu zahlen ist. Hundert Millionen! Die Hälf te der Menschheit ist ohnedies ständig dem Hunger tod nahe. Und was uns angeht: Der Wirbelsturm, der 1970 Pakistan heimsuchte, forderte eine halbe Million Menschenleben. Das Erdbeben in China tötete noch mehr. Willst du mir erzählen, diese Ereignisse hätten
auch nur den geringsten Einfluß auf dein Leben ge habt?« Das brachte Mark für eine Weile zum Verstummen. »Vielleicht nicht, Hideo, aber nun wird es hier ge schehen.« »Wenn es soweit ist, werde ich anfangen, mir Sor gen zu machen.« »Dann wird es zu spät sein.« »Mark, ist dir schon mal der Gedanke gekommen, daß du, egal, was du tust, eines Tages sowieso ster ben wirst?« »Klar, aber ich denke nicht darüber nach.« »Keine weiteren Fragen. Fatalismus ist eine wirk lich lohnende Philosophie, wenn es sonst nichts gibt.« Hideos Frau kam mit Kaffee und Kuchen, als Mark gerade zu Hut und Mantel griff. »Willst du schon gehen?« fragte sie. »Tut mir leid, Wendy, es ist spät.« »In letzter Zeit bist du sehr ungesellig.« Mark blickte von ihr zu Hideo und wieder zurück, dann zuckte er die Achseln. »Die Worte gehen mir aus.« »V3TAD, hier spricht W2QRV ... Washington Zwei Quebec Roma Valencia ... Dr. Singh, hier spricht Mark Haney in New York ... Hallo V3TAD ... Valencia Drei Tripolis Amsterdam Danmark ...« Stundenlang war nur Zischen und Knistern zu hö
ren. Schließlich antwortete Dr. Singh, aber sein Signal war schwach und von atmosphärischen Störungen beeinträchtigt, seine Stimme heiser. »Das ist eine lange Reise für ein Gespräch, Dr. Ha ney.« »Es gibt sonst keinen, mit dem ich reden könnte.« Es blieb still. »Dr. Singh, hören Sie mich?« »Ich bin hier, Dr. Haney ... Ich war in einem Kon zert. Sechs Stunden.« »Sechs Stunden? Wie können Sie Zeit finden für ein sechsstündiges Konzert?« »Was sollte man sonst tun? Wir können in ein Kon zert gehen, oder wir können einander beim Sterben zusehen.« »Sie nannten die Natur einen Freund. Wie gefällt Ihnen Ihr Freund jetzt?« »Sind wir der Natur wie Freunde gegenübergetre ten?« Mark seufzte. »Nun gut, wo immer die Schuld liegt, wir können immer noch was tun.« »Zum Beispiel?« »Wir wissen es noch nicht, aber halten Sie wenig stens den Kanal offen, damit wir zusammenarbeiten können.« Nun war es Dr. Singh, der seufzte. »Ich schlage vor, Dr. Haney, daß Sie ein CQ senden und mit jedem re den, der antwortet. Für mich ist es ein wenig spät.«
»Dr. Singh ...« »Wenn Sie das nächste Mal versuchen, mich zu er reichen, werde ich wahrscheinlich tot sein.« Mark versuchte zu lachen. »W2QRV, von V3TAD, Ende und Einstellung der Sendungen.« »Dr. Singh!« Mark versuchte noch einige Male die Verbindung wiederherzustellen, dann sandte er einen Ruf aus, den er zuletzt von einem einsamen Arzt in Afrika ge hört hatte: »CQ ... CQ ... Hier spricht W2QRV in New York ... Bitte melden. Spreche mit jedem auf dieser Frequenz ... CQ, CQ ...« BAFFIN-BAI, 75° N: Eine Flotte großer weißer Gespenster zog in gemesse ner Formation dahin. Von Zeit zu Zeit stießen zwei mit dumpfem Krachen zusammen, und dann kam es zu brodelnden Aufwallungen des Wassers, und die Er schütterung führte vielleicht zum Einsturz einer durch Abschmelzen instabil gewordenen Eiszinne, die dann über die hohen weißen Flanken in die See abstürzte. Das allmähliche Abschmelzen führte bei allen Eis bergen früher oder später zu einer Verlagerung des Schwerpunkts, und so geschah es immer wieder, daß einer seine Lage veränderte oder sich sogar in einer schwerfälligen Rolle um die eigene Achse drehte.
Tausende von ihnen waren unterwegs, in die Welt gesetzt vom Humboldt-Gletscher und den anderen grönländischen Eisströmen, die ihrerseits vom un aufhörlichen Schneesturm über dem Inlandeis ge nährt wurden. Als die Meeresströmung sie südwärts in die DavisStraße trug, blieben einige an den vorspringenden Landzungen und in den Buchten der grönländischen Fjordküste hängen, während andere vor der kanadi schen Baffin-Insel auf Grund liefen. Hier schmolzen sie allmählich ab und zerbrachen in kleinere Stücke, oder der Wind und die Strömung machten sie mit der Zeit wieder flott. Endlich gelangte die Armada aus der Meerenge auf die offene See, um dort in die Einflußbereiche zweier Meeresströmungen zu geraten. Der Nordatlantische Strom trug einige nach Osten in den Atlantik hinaus, wo sie die Britischen Inseln und Skandinavien pas sierten. Der Rest blieb zunächst im Strömungsbereich des in Küstennähe südwärts ziehenden Labrador stroms, um endlich in den Golfstrom einzugehen, der sie in den Mittleren Atlantik hinaustrug, gelegentlich bis in die Gewässer um Bermuda. Im warmen Golf strombereich schmolzen sie gewöhnlich ziemlich rasch, um als Wasser erneut zu verdunsten und als Dampf in die Arktis zurückgetragen zu werden, wo der Kreislauf sich erneuerte. Die Dauer des Ab
schmelzens war jedoch sehr unterschiedlich, und nicht nur von den Jahreszeiten, sondern auch von der ursprünglichen Masse der Eisberge und den spezifi schen Klimabedingungen der Region abhängig. Es hat Pläne gegeben, antarktische Tafeleisberge in die Gewässer von Wüstenstaaten zu schleppen, um mit ihrer Hilfe das Problem der Süßwasserversorgung zu lösen. Die langsame Reise durch den Indischen Ozean würde Monate in Anspruch nehmen, aber das dia mantharte Eis sollte nach Meinung der Urheber des Projekts nur einen Bruchteil seiner Masse durch Ab schmelzen verlieren und weitere zwei Jahre als Süß wasserreservoir für eine bedürftige Wüste dienen. Während ein einziger Eisberg am rechten Ort durchaus wohltätig wirken mochte, gab es jetzt Tau sende von ihnen an sehr unrechten Orten. »Mein Gott, wo ist das Wasser geblieben?« Mrs. Bjork sah das Vieh auf der trocken gewordenen Weide im Schatten eines Baumes zusammengedrängt und hörte herzzerreißende Klagelaute. Die Bewässe rungsgräben enthielten nur noch Rinnsale und schon jetzt, lange vor dem Ende der Wachstumsperiode, wurde das Getreide braun und welk. Als sie versucht hatte, Brunnenwasser in die Gräben zu leiten, hatten die Rohre Luft und Schlamm gespuckt. Es war alles so plötzlich gekommen. Die Rückhal
tebecken in den Bergen waren ausgetrocknet, und nun schien das Grundwasser unter die Brunnensohle abgesunken zu sein. Tatsächlich wurde das Grundwasser von einem durstigen Los Angeles abgesaugt. Die zur Wasserver sorgung der Millionenstadt dienenden Staubecken waren durch die anhaltende Dürre nahezu entleert, und nun hatte man die Rohrleitung zum 550 Kilome ter nördlich gelegenen Owens Valley in Betrieb ge nommen, um die Reservoire aufzufüllen oder wenig stens den laufenden Verbrauch zu decken. Noch als die lokalen Politiker in aller Eile zur Einspa rung von Wasser Aufrufe verfaßten und Flugblätter drucken ließen (›Spülen Sie Ihre Toilette nicht ... Lassen Sie beim Rasieren nicht das Wasser laufen ... Bewässern Sie Ihren Garten mit dem Abwasser Ihrer Waschma schine ...‹), fuhren die Bewohner von Los Angeles un bekümmert fort, ihre Wagen zu waschen, ihre Rasen flächen zu sprengen, sorglos die Toiletten zu spülen, verschwenderisch zu duschen und beim Rasieren das Wasser laufen zu lassen. So gleichgültig gegenüber der sich verschärfenden Krise im Norden, wie sie es gegen über dem Zusammenbruch Indiens gewesen waren. Danny wies auf die Zugbahnen der Tiefdruckwirbel auf dem Satellitenfoto, das vorrückende Eis im Nor den und die wachsende Trockenheit in anderen Ge
bieten, und erklärte etwas von den Prozessen, die sol che Entwicklungen steuerten. Schließlich brach er ab. »Mutter, interessiert dich das überhaupt?« »Warum nicht?« »Weil du nicht richtig zuhörst. Und ich dachte ge rade, du magst lieber, na ja, primitive Leute, Schnit zereien und unheimliche Musik, solche Sachen.« Karen schürzte die Lippen. »Ich habe dich gern, al so interessiert mich, was dich interessiert. Und au ßerdem ist es zur Zeit natürlich die wichtigste Sache der Welt.« »Das ist es wirklich.«
»Ach ja, Danny, kannst du mir einen Rat geben?«
Danny war geschmeichelt. »Gern, wenn ich kann.«
»Wo wird es am wärmsten sein?«
»Du meinst, wenn das Eis da ist? In der Sahara,
denke ich mir und am Äquator.« »Wirklich? Das ist nicht sehr ermutigend.« »Nein, aber es wird dort mehr Regen geben als bis her. Natürlich wird deswegen nicht in ein paar Jahren alles grün sein, was viele tausend Jahre lang Wüste gewesen ist.« »Na gut. Wo wird es am besten zu leben sein?«
»Du meinst, für uns?«
»Nur für uns.«
»Ja, Mutter ... ich meine ... nur für uns?« Er schaute
sie an. »Ganz allein?«
»Es bleibt uns nicht viel anderes übrig, Danny. Wenn es einen Eskimo zuviel gibt, nur einen, stirbt die ganze Sippe. Sie wissen das, und sie opfern sich, wenn es sein muß, um die Sippe am Leben zu erhal ten.« »Wird das bei uns auch so sein? Werde ich ... wird jemand sterben müssen?« Sie lachte und umarmte ihn. »Nein, Danny, aber wir werden etwas anderes opfern müssen. Zwar nur Sachen, aber ...« Danny schluckte. »Was ... werde ich aufgeben müs sen?« »Danny, wohin wir auch gehen, wir werden wahr scheinlich einfach leben müssen. Du weißt, ohne Raubbau an der Umwelt zu treiben, wie wir es jetzt tun.« »Du meinst ... wie Primitive?« »Das sind sehr glückliche Leute, Danny, wärst du mit uns gegangen, dann hättest du das gesehen.« Danny verzog das Gesicht. »Die ... die Instrumente ... meine Wetterstation ... die Bücher und Karten ...« »Danny, auch ich werde alle die Dinge zurücklas sen, die ich liebe, alle die Kunstgegenstände ...« »Aber das ist etwas anderes ... Das sind bloß ... Sa chen.« »Was ist dies dann?«
Er griff nach der Wetterkarte und blickte in angst voller Sorge zu den Instrumenten ringsum. »Wir werden den Sender nötig brauchen, und ... diese Din ge. Wir müssen wissen, wir müssen klug sein.« »Danny, woher sollen wir den Strom für den Sen der beziehen, wenn wir ihn mitnehmen.« »Man kann immer eine Steckdose finden. Elektrizi tät gibt es auf der ganzen Erde, bloß die Stecker sind verschieden.« »Danny ...« »Außerdem gibt es Batterien ... oder Energieerzeu gung mit Windmühlen. Oder Sonnenenergie.« »Danny.« »Und dann gibt es den Satelliten. Den Satelliten, der dieses Foto aufgenommen hat, der mit Sonnen energie arbeitet.« »Danny, wir beschäftigen uns nicht mit Fantasien, wir sprechen vom Überleben!« »Was werden wir ... tun, Mutter? Ich meine, was sollen wir machen?« »Bloß leben, Danny. Und glücklich sein, wie die Eskimos.« Danny zog die Knie an, umfaßte sie mit den Armen und schaukelte im Bett vor und zurück. »Danny, lerne hinzunehmen, wie sie es tun.« »Mutter ... wir werden die Welt retten. Mark und ich, wir werden die Welt retten!«
Karen schüttelte den Kopf und faßte ihn bei den Schultern. »Danny, hör auf!« Er stieß sie heftig zurück und legte den Kopf auf die Arme, daß sein Gesicht verborgen war, schloß sie und die Welt aus, schaukelte weiter vor und zurück und weinte. Manujian war auf die Brückennock hinausgetreten und lauschte angespannt den langgezogenen Tönen des Nebelhorns, als erwarte er eine Antwort. Obwohl er die Augen anstrengte, konnte er kaum fünfzig Me ter weit über den Bug hinaussehen. »Genauso schlimm wie die Neufundlandbank«, sagte er zu seinem Ersten Offizier, als er wieder hi neinging und beim Maschinentelegrafen stehenblieb. In der Tat hing der Nebel wie vor Neufundland tief und seltsam kalt über diesen südlichen Wassern. Ma nujian hatte gedacht, er könnte in seinem neuen Auf gabenbereich Schwierigkeiten vermeiden. Nach sei nen Erfahrungen mit der Wetterbeobachtung hatte er sich um das Kommando eines Tonnenlegers bewor ben, eine Aufgabe, die zu den langweiligsten gehörte, welche die Küstenwache zu vergeben hatte. Das Schiff befuhr einen relativ einfachen Kurs und legte, reparierte und räumte Bojen entlang den atlantischen Schiffahrtskanälen. Selten wagte es sich weit auf die hohe See hinaus, und vor allen Dingen brauchte er
nie auf Fahrt zu gehen, um Stürme zu beobachten. Dieser Umstand machte seine schwangere Frau glücklicher, und er selbst empfand die Aussicht, nie wieder einem Meteorologen zu begegnen, als durch aus angenehm. Zumindest war das bisher der Fall gewesen. Doch nun schien etwas mit dem Wetter nicht zu stimmen, und er hätte gern die Meinung eines Experten dazu gehört. Es hatte fast den Anschein, als verfolgte das Schicksal ihn mit unverdienten Strafen. Er nickte seinem Ersten Offizier zu. »Sind wir vom Kurs abgekommen?« Der Erste Offizier blickte auf den Kreiselkompaß. »Ein halbes Grad. Vielleicht eine Meile.« »Sieht eher nach zweitausend Meilen aus.« »Ja, Sir«, stimmte der andere zu. Seit die Menschen sich das erste Mal auf die hohe See hinausgewagt hatten, stellten die Seenebel eine beson ders gefürchtete Gefahr dar. Die gewohnte Einsamkeit wurde plötzlich zur Verzweiflung, denn nun waren die Seefahrer durch einen Vorhang von der Mensch heit abgeschnitten, der auf allen Seiten das Schiff ein schloß, außer Reichweite, doch mit ihnen Schritt hal tend. Im Nebel verbargen sich alle möglichen Schrek ken, manche nichts weiter als die Produkte einer angstvollen Fantasie, andere hingegen von einer nur zu greifbaren Realität, die ganze Schiffe und ihre Be
satzungen in wenigen Augenblicken auslöschen konn ten. Trotz seiner weitreichenden elektronischen Augen und Ohren ließ das moderne Schiff noch immer sein betäubendes Nebelhorn vernehmen, um andere Fahr zeuge vor seiner Annäherung zu warnen, und der Wachhabende stand nicht anders als seine Vorgänger in früheren Zeitaltern nervös auf seinem Posten, ein sam und losgelöst von der Welt, und nahm das langge zogene Tuten als eine Bestätigung, daß wenigstens er und sein Schiff am Leben waren. Manujian und sein Erster Offizier schraken beide zusammen, als der Rudergänger plötzlich mit aufge regter Stimme rief: »Radarkontakt auf fünfzehnhun dert Meter, Sir! Peilung zwei sieben null!« Das war beinahe voraus. Kapitän und Erster Offizier starrten angestrengt in den Nebel, obwohl sie wußten, daß die Sicht kaum über den Bug hinausreichte. Die nächste Meldung ließ nicht lange auf sich war ten. Diesmal ließ der Tonfall der Stimme eine gewisse Enttäuschung erkennen. »Weicher Kontakt, Sir. Wahrscheinlich treibende Abfälle.« Der Erste Offizier entspannte sich. Es war nicht notwendig, in Windeseile einen Ausweichkurs fest zulegen, um der Kollision zu entgehen, man brauchte sich nicht den Kopf über die letzten Seerechtsurteile in Fragen der Vorfahrtregelung zu zerbrechen.
Manujian entspannte sich nicht, und seine Unruhe über die seltsamen Wetterverhältnisse wuchs. Er schaltete den Scheinwerfer ein, und der Nebel sog den Lichtkegel auf. Der Erste Offizier sagte: »Meinen Sie, Sir, dieses Treibgut könnte ...« Manujian unterbrach ihn mit einer Handbewe gung. Die Situation hatte etwas unheimlich Bekann tes. Er spürte, daß alles zusammenpaßte, wie Stücke in einem Puzzlespiel, die sich nach und nach zu ei nem Bild fügten. Er öffnete die Tür zur Brückennock und dann, nach kaum einer Minute, hörte er ein Geräusch, dem er nicht geglaubt haben würde, hätte ihn sein Gespür nicht vorgewarnt: das Brandungsgeräusch brechen der Wellen, wie an einer Küste. Dann, Augenblicke später, die Schreie von Vögeln. Es war nicht möglich. Es war, als wäre inmitten der See plötzlich eine Insel aufgetaucht, und Manujian fühlte einen körperlichen Schock, wie er mit völliger Desorientierung einhergeht. Seine Logik konnte nicht länger leugnen, was seine Sinne ihm sagten. Und auf einmal wußte er Bescheid. Alle Hinweise gerannen plötzlich zu einer bildhaften und erschreckenden Erkenntnis. Im nächsten Augen blick war er am Maschinentelegrafen, riß den Hebel auf Stopp und schrie dem Rudergänger zu:
»Ruder hart rechts! Ruder hart rechts!« »W-Was?« »Idiot! Ruder hart rechts, hören Sie schwer?« Der Rudergänger schluckte. »Ruder hart rechts, Sir!« Er griff mit beiden Händen in die Speichen und wirbelte das Rad, grunzend vor Anstrengung und Aufregung, während er sich fragte, ob der Kapitän verrückt geworden sei. »Peilung zwei acht null rechtsdrehend, Sir«, rief er. »Radar, wo ist der Kontakt?« »Zwölfhundert Meter näherkommend, Sir.« Manujian überlegte, wie es sich im Logbuch aus nehmen würde, wenn er sich irrte. Dann überlegte er, wie es aussehen würde, wenn er recht behielt. »Peilung zwei neun null, rechtsdrehend, Sir«, rief der Rudergänger. Die ganze Mannschaft hörte die Maschinen stop pen, fühlte die scharfe Wendung des Schiffs und kam an Deck. Das aufgeregte Durcheinander ihrer Ge spräche erreichte Manujian auf der Brücke und er fühlte seine mißliche Lage vergrößert, als sähe ihm die ganze Welt über die Schulter. »Kontakt auf eintausend Meter näherkommend, Sir.« Nie hatte er sich so machtlos gefühlt. Das Schiff
bewegte sich nach seinen eigenen Gesetzen, beschrieb unter der Trägheit seiner Masse treibend den engsten ihm möglichen Bogen. Je langsamer die Geschwin digkeit, desto enger der Wendekreis, ließe er aber die Maschinen zur weiteren Verlangsamung rückwärts laufen, so würden die Schrauben das Schiff zur Back bordseite und in die sichere Kollision drehen. Er konnte nichts tun als beten. »Peilung drei null null, rechtsdrehend, Sir.« Er erinnerte sich seines Dienstes auf einem Eisbre cher, sechs Monate nervenzermürbender Isolation, und die physische Erschöpfung durch die ständigen Stöße und den Lärm des brechenden und in Schollen am Rumpf entlangscheuernden Eises, als das Schiff sich durch zugefrorene Schiffahrtskanäle gearbeitet hatte, um sie frei zu machen. »Kontakt auf fünfhundert Meter, näherkommend, Sir.« Kein Wunder, daß der Dienst auf den Eisbrechern bei der Küstenwache am meisten verhaßt war. Er nutzte Freundschaften ab, ließ Feindschaften offen hervorbrechen und Streitigkeiten, die auf einem an deren Schiff in einem anderen Meer bedeutungslos geblieben wären, zu blutigen Tätlichkeiten ausarten. »Peilung drei eins null, rechtsdrehend, Sir.« Jener Eisbrecher aber hatte einen Rumpf aus dop pelt dicken Eisenplatten, extra schwere Holme und
einen speziell geformten Rumpf gehabt, um auch dem dicksten Eis zu widerstehen. Gleichwohl war er gegen Kollisionen mit Eisbergen jeder Größe äußerst verwundbar gewesen. Und verglichen mit dem Eis brecher, war dieser Tonnenleger ein Papierschiffchen. »Kontakt auf dreihundert Meter, näherkommend, Sir.« Wenn der Nebel dick war, oder frisch gefallener Schnee die verschiedenen Trümmer eines Packeisfel des unter einer gemeinsamen Decke verbarg, durch lebte die Mannschaft eines Eisbrechers aufreibende Stunden. Unter jedem verschneiten Buckel konnte sich anstelle eines zusammengefrorenen Geschiebes von Eisschollen ein Bruchstück oder Rest eines Eis berges verstecken, dessen unsichtbare, unter Wasser weit ausladende Masse dem Eisbrecher zum Ver hängnis werden konnte. »Peilung drei zwei null, rechtsdrehend, Sir.« Nicht genug. Das Schiff hatte um volle fünfzig Grad gedreht, und es war noch immer nicht genug. Ein vorsichtiger Kapitän würde einen Eisberg nicht näher als auf eine Seemeile herankommen lassen, und selbst dann würde er sich nicht sicher fühlen. »Kontakt auf zweihundert Meter, näherkommend, Sir.« Jener Hochmut, der auf modernem Schiffbau gründete, auf fliegenden Eispatrouillen und Radar,
war so unangebracht wie die Eitelkeit, welche die Ti tanic für unsinkbar erklärt hatte. Die eigentümlichen Formen von Eisbergen konnten Radarwellen ablen ken und verwirren. Weit härter und vor allem massi ver als der Stahlrumpf eines jeden Schiffes, trieben sie gewöhnlich in dichtem Nebel wie diesem, und waren so schwierig auszumachen und tückisch wie Treib minen. »Peilung drei drei null, rechtsdrehend, Sir.« Die größten Eisberge ließen jeden Ozeandampfer im Vergleich spielzeughaft klein erscheinen, aber die geringeren Exemplare, die abgeschmolzenen Reste und Bruchstücke von Eisbergen, waren noch gefährli cher. Nur wenig über die Wasseroberfläche hinausra gend, konnten sie völlig unbemerkt bleiben, während die untergetauchte Hauptmasse mit scharfen Kanten und Vorsprüngen nur darauf wartete, einen Schiffs rumpf aufzuschlitzen. »Peilung drei drei null, rechtsdrehend, Sir.« »Kontakt auf einhundert Meter, näherkommend, Sir!« Nicht genug ... Nicht genug ...! Der Ruf kam von einem Seemann vorn am Bug. »Mein Gott, da ist er!« »Heilige Scheiße!« Die Männer der Besatzung wichen bei dem Anblick unwillkürlich von der Reling zurück.
Es war wie eine Geistererscheinung, halb so groß wie das Schiff, und kam durch den Nebel auf sie zu, als wolle es sie alle für ihre Sünden bestrafen. Sie starrten in benommenem Schweigen. Bei still stehender Maschine konnten sie das Klatschen der am Eis leckenden Wellen hören. »Peilung drei vier null, rechtsdrehend, Sir!« Manujians Knöchel am Geländer der Brückennock waren fast so weiß wie der Eisberg. »Wir sind vorbei!« rief sein Erster Offizier. »Heilige Mutter. Gottes, wir sind vorbei!« Langsam, ganz langsam glitt die weiße Erschei nung auf backbord vorüber, und einige Männer liefen mit ihr nach achtern, um sie länger beobachten zu können. Auf einmal hatte das Ungeheuer seinen Schrecken verloren und war zu einem bloßen Gegen stand der Neugierde geworden. Der Rudergänger war im Begriff, das Rad eine Drehung zurückzunehmen. »Halten Sie hart rechts!« schrie Manujian. »Sir, wir ...« Es war wie eine Explosion. Der Rudergänger wur de umgerissen und fiel zu Boden und das Rad wirbel te wie verrückt, bevor Manujian es erreichen konnte. Das Schiff stampfte und gierte, und die Männer an Deck spürten mit den Füßen, wie Stahlholme knickten und Eisenplatten aus den genieteten Verbindungen
platzten. Im nächsten Augenblick gab es ein Durchein ander von Rufen, Befehlen und Alarmglocken. Die Verwirrung dauerte nicht lange, dann wurden die Verfahrensweisen wirksam, die in endlos wieder holten Kollisionsübungen eingeprägt worden waren. Unter der Leitung des Bordingenieurs wurde das Leck provisorisch abgedichtet, der beschädigte Rumpf von innen abgestützt und das eingedrungene Wasser ausgepumpt. Als die unmittelbare Gefahr vorüber war, dachte Manujian erneut darüber nach, wie das Ereignis sich im Logbuch ausnehmen würde. Kollisionen mit an deren Schiffen waren eine Gefahr, aber was sollte man zu einem Eisberg sagen, der zweitausend See meilen außerhalb der für die Jahreszeit gültigen Verbreitungsgrenze auftauchte? Er dachte auch daran, wie gleichgültig es ihm bis her gewesen war, ob er jemals wieder einem Meteoro logen begegnete. Aber das hatte sich in den vergan genen zwanzig Minuten geändert. Jetzt hatte er ein paar sehr, sehr dringende Fragen. WOODS HOLE, MASSACHUSETTS: Das Notsignal ging den üblichen Weg durch das gut organisierte System der Küstenwache. Nach wieder holten Versicherungen, daß der Tonnenleger den Schaden provisorisch behoben habe und aus eigener
Kraft den Hafen anlaufen könne, wurde ein Patrouil lenkutter beauftragt, dem Tonnenleger entgegenzu laufen und ihm Geleit zu geben. Gleichzeitig ging dem Operationsbüro der Eispa trouille der Küstenwache in Woods Hole eine Funk meldung über den Eisberg zu. Pete Stojka, der als Funker Dienst tat, nahm die Meldung auf und gab sie an den Kartenraum weiter, wo jeder gesichtete Eisberg durch eine dreieckige Stecknadelmarkierung in eine große Übersichtskarte eingetragen wurde. Jede Markierung hatte ihre eige ne Nummer, unter der die relevanten Daten über die Richtung der Trift und die Größe abgefragt werden konnten. Es gab mehr als tausend Markierungen. Um die peripheren Stecknadeln war ein Faden gezogen, der die Verbreitungsgrenze der Eisberge anzeigte. Stojka sah schweigend zu, wie der diensthabende Offizier den Wollfaden löste und um diese neue Mar kierungsnadel zog, die auf 31 Grad nördlicher Breite steckte, nicht weit von Bermuda entfernt. Auf einmal wurde ihm angst, er fühlte sich einem drohenden Verhängnis ausgeliefert. Irgend etwas drehte durch. Er wartete, daß der Offizier etwas sage. »Ich brauche mehr Stecknadeln.« Danny hatte seine Kenntnisse des Morsealphabets in zwischen so vervollkommnet, daß er den verschiede
nen telegrafischen Kommunikationen zwischen dem Tonnenleger, seinem Heimathafen und dem zu Hilfe eilenden Kutter folgen konnte. Es war wie eine aufre gende Abenteuergeschichte. Er kaute sich an den Nä geln, kicherte, und jubelte schließlich wie ein Kind in der Sonntagsmatinee mit beliebten Trickfilmen. Und er unterließ es nicht, Mark über jede neue Entwick lung zu unterrichten. Schritt um Schritt wurde die Lage unter der Leitung Kapitän Manujians stabili siert. Aber Mark teilte Dannys Aufregung nicht. Im Ge genteil, mit jeder guten Nachricht, die Danny ihm mitteilte, wurde er ernster. »Mark, warum sagst du es ihm nicht?« »Du meinst, ich solle Manujian sagen, daß der Eis berg keine Ausnahmeerscheinung war, und was spä ter geschehen wird?« »Wenn jemand auf dich hören wird, dann er.« »Das ist richtig«, sagte Mark nachdenklich. »Und wahrscheinlich wird er mir glauben.« »Warum willst du es ihm dann nicht sagen?« »Weil wir einmal Freunde waren.« Danny starrte ihn an. »Und nun magst du ihn nicht mehr?« »Ich mag ihn sogar sehr, Danny. Wir haben ein paar Stürme zusammen abgeritten, und dabei er fährst du, wer deine Freunde sind.«
»Warst du bei der Küstenwache?« »Eine Zeitlang.« »Warst du ein Held?« »Soll ich dir erzählen, was für ein Held ich war, oder willst du die Wahrheit hören?« Danny zögerte. »Die Wahrheit.« Mark schmunzelte. »Du bist der älteste Zehnjährige, den ich kenne. Na schön, ich war als Zivilist an Bord ei nes Kutters der Küstenwache zusammen mit ein paar anderen Leuten vom Wetterdienst. Zu unseren Aufga ben gehörte es, Stürme von innen zu beobachten, Mes sungen vorzunehmen, und was noch dazugehört. Um das zu tun, mußten wir die Stürme abreiten, und das wurde manchmal ziemlich unangenehm.« »Ich wette, du warst ein Held.« Mark lächelte. »Der Held war der Mann, der die Verantwortung für das Schiff und uns alle hatte. Die ser Mann war Manujian.« Dannys Augen leuchteten. »Dann solltest du es ihm sagen.« »Ich würde ihm damit keinen Gefallen erweisen.« »Wie meinst du das?« Mark seufzte. »Ich müßte ihm sagen, daß er all sei ne Grundsätze und Vorschriften aus dem Fenster werfen soll, ohne ihm einen Ersatz dafür zu geben.« Danny sagte nichts mehr.
Der Bordfunker zögerte einen Augenblick, als Manu jian ihm über die Sprechanlage antwortete. »Ah, Sir ... ich habe da einen Ruf von einem Mann namens Mark Haney ... New York ...« »Ach, du lieber Gott! Grüßen Sie ihn von mir. Sa gen Sie ihm, ich werde zurückrufen, wenn ich Zeit habe.« »Sir, er sagt, es sei sehr dringend.« »Der hatte es immer wichtig. Vertrösten Sie ihn.« Er schaltete aus und kehrte an seine Arbeit zurück. Aber schon Augenblicke später schnarrte die Sprech anlage aufs neue. »Sir, er läßt sich nicht vertrösten, und er ... ah ... er blockiert die Frequenz. Vielleicht wäre es einfacher ...« Manujian seufzte. »Stellen Sie ihn durch.« Er begrüßte Mark mit warmer Herzlichkeit. »Ha ney, Sie Hurensohn, wir haben hier einen Ernstfall, und wenn Sie nicht von dieser Frequenz verschwin den, dann werde ich Sie suchen und Ihnen eine Kugel durch den Starrkopf jagen, Gott soll mich strafen! Und jetzt lassen Sie mich in Ruhe.« Manujian hörte einen Moment lang zu. »Das stimmt, Sie sind nicht leicht einzuschüchtern ... Was ist Ihnen so wichtig, daß Sie dafür eine Ge fängnisstrafe riskieren? ... Nein, Haney, Sie sind ver rückt, und dies ist der Beweis, aber dumm sind Sie nicht. Also erzählen Sie schnell.«
Mark erzählte es ihm, und plötzlich hatte Manujian es nicht mehr eilig. »In Ordnung, Mark, Sie haben mir einen Gefallen erwiesen, was kann ich für Sie tun?« Mark lachte. »Sie könnten mir einen Eisbrecher bringen.« »Einen Eis ...« Manujian brach ab. Er stellte sich seinen Tonnenleger mit verstärktem Rumpf und vor gebautem, stumpfen Bug vor. Er sah diesen Bug auf eine Eisdecke fahren und sie unter seinem Gewicht aufbrechen. Mit Ausnahme der Bugkonstruktion und der Armierung des Rumpfes waren die Unterschiede in der Bauweise nicht allzu groß. »Warten Sie, Mark!« Er rief nach unten und ließ sich mit dem Ingenieur verbinden. »Wo ist der meiste Schaden?« »Im Bug, Sir, knapp unter der Wasserlinie. Wir sind dabei, von innen eine Platte vor das abgedichtete Leck zu schweißen, aber die eigentliche Arbeit wird in Curtis Bai erledigt werden müssen.« »Könnte man den Bug umbauen, flach und mit ei nem breiten Vorbau?« »Wie ein Eisbrecher?« Manujian stockte der Atem. »Ja.« »Nun ja, Sir ... Ich nehme an, man wird es verste hen, wenn wir darum ersuchen.«
Manujian kam zurück zu Mark. »Ich denke, es läßt sich machen, Haney.« »Sehr gut. Nun noch etwas: Können Sie mich an Bord nehmen?« »Einen Meteorologen? Hm, natürlich werden wir einen brauchen, bei diesen Verhältnissen.« »Ich glaube, Sie verstehen nicht, Larry.« »Dann erklären Sie sich.« »Ist die Leitung abhörsicher?« »Abhörsicher? An Bord besteht da keine Gefahr, aber draußen ist es ein offener Funkspruch.« »Das geht in Ordnung. Für die draußen sind wir bloß zwei Verrückte. Passen Sie auf, Larry: Ich bin dabei, einen sicheren Zufluchtsort für einige Leute vorzubereiten. Wenn Sie uns hinbringen, sind Sie alle eingeladen, mit uns dort zu bleiben.« »Ist Ihnen klar, was Sie von mir erwarten, Mark?« »Es gibt keine Regeln mehr, Larry.« »So weit ist es noch nicht.« »Das System löst sich bereits auf. Darum haben Sie von oben noch nichts gehört, und Sie werden auch nichts hören. Glauben Sie mir, Larry, Sie werden ein Schiff ohne Befehle sein.« Manujian holte langsam und tief Luft. »Ich ver spreche nichts, Mark.« »Gut, aber bleiben wir wenigstens in Verbindung.« »Ja ...« Manujian verstummte. Er hatte viel nachzu
denken. Er sorgte sich um seine Frau und das Kind. Dann sorgte er sich um seine Stellung. Und dann sorgte er sich um sein Vaterland. Manujians Funkkontakt war in der Tat sicher. Sein Funker respektierte Vertraulichkeit, und der übermit telte Funkspruch blieb für ihn eine Privatangelegen heit des Kapitäns. Es gab jedoch einen weiteren Hörer auf dieser Fre quenz, an den niemand gedacht hatte und der seiner seits nicht geneigt war, seine Anwesenheit bekannt zu machen. Tatsächlich war er gerade im Begriff gewesen, die Vertraulichkeit des Gesprächs zu respektieren und sich von der Frequenz zurückzuziehen, doch hatte das Gespräch ihn ein paar Sekunden zu lang fasziniert und danach konnte er nicht mehr ausschalten. Der Funker Pete Stojka in Woods Hole hatte gehört, wie ein Schiffskapitän und ein Meteorologe überein stimmend die Meinung vertreten hatten, daß die Welt, wie sie sie kannten, zum Untergang verurteilt sei. Ihm war, als schwanke der Boden unter seinen Fü ßen. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Stojka tat einige tiefe Atemzüge, verließ die Funk station und ging in den Kartenraum, wo er angele gentlich die mit farbigen Stecknadeln übersäte Wandkarte betrachtete.
»Haben Sie jemals einen Eisberg so weit südlich ge sehen?« fragte er endlich. »Kann mich nicht erinnern«, meinte der dienstha bende Offizier. »Etwas geht da vor, meinen Sie nicht, Sir?« Der Offizier zuckte die Achseln. »Es ist ziemlich viel, ja.« »So schlimm war es noch nie, Sir?« »Nicht seit ich hier bin, nein.« Er spielte mit den Stecknadeln. »1929 soll es ziemlich schlimm gewesen sein. Eintausenddreihundert Eisberge. Aber ein paar Jahre später kamen nicht mal zehn bis in den Atlantik heraus. Es kommt und geht, wissen Sie.« »Ja, Sir, danke, Sir.« Nach dem Dienst ging Stojka mit seinen Kollegen ins Wirtshaus und trank sich einen Rausch an. Er ver suchte sich an eins von den einheimischen Mädchen heranzumachen, geriet in Streit mit ihrem Freund und wurde für seine Bemühungen niedergeschlagen. Am nächsten Tag hatte er das abgehörte Gespräch völlig vergessen. »WB2XQR ... Hier spricht W2QRV ...« Beim Durchblättern alter Fachzeitschriften erinnerte sich Mark, wie die Namen der Autoren ihn einst mehr beschäftigt hatten als der Inhalt der Beiträge. Nun war er von einem geradezu verzehrenden Inter
esse an allem beseelt, was für das bevorstehende Un heil von Bedeutung sein konnte: absinkende Tempe raturen, die Verlagerung der Zugwege von Tief drucksystemen, klimatische Unregelmäßigkeiten und was dergleichen mehr war. »Washington Zwei Quebec Roma Valencia ...« Als weiterer nützlicher Informationsquelle wandte er sich dem Verzeichnis der Funkamateure zu. Es zeigte sich, daß nicht wenige der Meteorologen mit eigenen Anlagen die Satellitensignale empfingen, und auf den freien Frequenzen inoffiziellen Mei nungsaustausch pflegten. So waren auch sie im Laufe der Zeit zu eifrigen Amateurfunkern geworden, und sobald Mark ihre Erkennungssignale ermittelt hatte, konnte er mit Kollegen sprechen, die er sonst nur zu fällig bei den Jahrestagungen angetroffen hätte. »Hallo, W2QRV, hier spricht WB2XQR, ich rufe und antworte ...« Das gegenseitige Bekanntmachen und die üblichen Vorbemerkungen über die Qualität des Empfangs und die Sendestärke der jeweiligen Anlage gingen rasch in die Erörterung der Überlebensfrage über. »Ja, Dr. Haney, ich bin mir dessen bewußt, aber ich sprach dieser Tage mit einem unserer früheren Assi stenten, der jetzt im Wetterdienst beschäftigt ist, in Maryland, wo der Computer für die Auswertung der Satellitenbeobachtungen steht. Er sagte, es sei nichts
daran; es handle sich lediglich um aufgeregte Ge rüchtemacherei.« »Glauben Sie ihm?« »Nun, er sitzt an der Quelle, er sollte Bescheid wis sen.« »Angenommen, es ist wahr, und er weiß Bescheid. Denken Sie an die Implikationen und sagen Sie mir dann, ob er Ihnen die Wahrheit sagen würde.« Der andere zögerte, dann sagte er: »Also schön, sa gen wir, ich glaube Ihnen statt dem Rest der Welt; was nun?« »Wir brauchen eine Operationsbasis und Leute von anderen Disziplinen, mit denen wir Mittel und Wege erörtern können.« »Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, wo die se Operationsbasen liegen sollten?« »Das gehört zu den Fragen, die wir erörtern müs sen, und ich denke, daß ein Geograph uns hier helfen könnte. Günstiges Klima, fruchtbares Land, das be baut werden kann und über Bodenschätze verfügt. Und, wie gesagt, es sollte nicht bloß eine Basis sein. Wichtig ist vor allem, daß wir alle in Verbindung miteinander stehen.« »Also brauchen wir gute Radiotechniker und Leu te, die sich in den Techniken der Energieerzeugung auskennen, ferner Geologen und Chemiker und In genieure für die Treibstoffproduktion ... Ich verstehe,
wie Sie sich das gedacht haben, Dr. Haney. Es wird zunehmend kompliziert.« »So ist es, Professor Kaplan. Und darum ist die Schaffung eines funktionierenden Kommunikations netzes unsere vordringlichste Aufgabe.« »Es wird sehr schwierig sein, Leute aus anderen Fakultäten zu überzeugen, mit denen man bisher nicht bekannt war.« »Das ist richtig, aber wenn wir uns nicht mit allen Kräften bemühen, wird alles aus sein.« Der andere schwieg eine kleine Weile. »Ich verste he.« »Sehen Sie, Professor Kaplan, zur Zeit sind wir nur eine Handvoll Einzelgänger, aber wir haben das Po tential zu sehr raschem Wachstum und können mit Hilfe unserer Funkkontakte sehr rasch zu einer inter nationalen Denkfabrik werden. Wir können das Überleben unserer Zivilisation sichern, wenn wir die Voraussetzungen jetzt schaffen.« Am anderen Ende trat eine Pause ein. »Dann gibt es also Hoffnung.« »Sehr richtig.« »In Ordnung. In achtundvierzig Stunden werden wir wieder QSO. WB2XQR stellt Sendung ein, Ende.« »Wilco. W2QRV, Ende und auf Empfang.« Marks abschließende Worte zeigten an, daß er Funksprüche von jedem begrüßte, der mitgehört hat
te. Er brauchte nicht lange zu warten. Ein Ingenieur mit einiger Erfahrung auf dem Gebiet der Sonnen energie und ihrer Nutzbarmachung meldete sich. Er fragte, was mit dem Wetter los sei, und ob wirklich eine Eiszeit bevorstehe. »Die Pioniere hatten es im Todestal schlechter«, sagte Peggy Bjork zu ihrer Mutter. Peggy wußte jedoch, daß die Wirklichkeit ihrer Si tuation bei weitem bedrohlicher war. Die Pioniere hatten das Todestal nur durchqueren müssen, nun aber schickte das Todestal sich an, die Bjorks in seine ausdörrende Umklammerung zu ziehen. Jeden Tag schalteten sie das Radio ein, um neue Hi obsbotschaften zu hören: eine weitere zehnprozentige Reduzierung der Wasserzuteilungen, ein weiterer Auf ruf zum Sparen. Bisher schien niemand sich bewußt gewesen zu sein, wieviel Wasser er verbrauchte. Bei nahe zweihundert Liter pro Tag und Person waren es, wie den Bürgern jetzt vorgerechnet wurde. Dabei wur de – nicht ganz unabsichtlich – der Eindruck erweckt, als wäre diese Wassermenge allein das Ergebnis der täglichen privaten Verschwendung beim Kochen, Wa schen, Duschen und Baden, während es sich in Wahr heit um eine rein statistische Zahl handelte, die ihre in der Tat bedenklich stimmende Höhe vor allem dem enormen Wasserverbrauch der Industrie verdankte.
Doch welche Bewandtnis es damit auch haben mochte, die Bedürfnisse der Farm waren weit größer als in solchen Zahlen zum Ausdruck kam. Ein Hektar künstlich bewässerten Ackerlandes benötigte soviel Wasser wie acht Familien. Das Vieh brüllte und rupfte an den spärlichen gel ben Büscheln, die von der saftiggrünen Weide übrig geblieben waren. Das verdorrte Gras wurde von den Mahlzähnen der Tiere zu Pulver zerrieben. Ihre Felle waren struppig und trocken wie Pergament und be gannen aufzuspringen. Die meisten Tiere waren be reits zu schwach, um mit den Schwänzen nach den Fliegen zu schlagen, die von den aufgesprungenen Stellen angezogen wurden. Peggy verscheuchte die Fliegen und gab den Käl bern Wasser von ihrer eigenen Ration. Sie hatte seit zwei Wochen nicht gebadet und sagte sich, daß die Pioniere es auch nicht getan hätten und kein Mensch habe sich je über ihren Körpergeruch beklagt. Da Mrs. Bjork gehört hatte, daß es im Süden reich lich Wasser gebe, ließ sie den Landarbeiter alles, was Wasser halten konnte, auf den offenen Pritschenwa gen laden: Eimer, Wannen, Mülltonnen. Sie fuhren die Bundesfernstraße 395 entlang, parallel zu dem Aquädukt, der ihr Grundwasser nach Los Angeles beförderte. Nach dreihundert Kilometern mußten sie tanken.
Der Tankstellenbesitzer wusch seinen Wagen mit dem Wasserschlauch und ließ das Wasser laufen, als er zu den Bjorks herüberkam. Peggy sagte ihm die Meinung. Er wurde sehr ärgerlich. »Was für eine Wasser knappheit? Hör zu, Kind, falls du es noch nicht ge hört haben solltest: die Erde ist zu drei Vierteln mit Wasser bedeckt.« Es war sehr heiß auf dem Dach, wo er arbeitete. Ihn schwindelte vor Hitze, und als er aufblickte, sah er die Sonne größer und heißer werden und allmählich den Himmel ausfüllen. Er begriff, daß sie auf die Erde herabstürzte. Er versuchte zu laufen, aber der klebrige, aufge weichte Teer hielt seine Füße fest. Wieder blickte er auf, diesmal, um die Kollision zu sehen, wie die Sonne in einer alles auslöschenden Explosion die Erde zerstörte. Unzählige Lichter stürzten durcheinander, die Bruchstücke der Sonne glitzerten in den Farben des Spektrums. Dann gerannen sie nach und nach zu ei ner neuen Weiße, einer kalten Weiße, die Hitze auf saugte, statt sie auszustrahlen. Es war die Ankunft des Eises, des riesigen Glet schers, der die Stadt zerriß, der alle Zivilisation unter einem sich vorwärtsschiebenden Berg zermalmte, furchterregend, großartig und unerbittlich.
Um ihn her stürzten die Gebäude zusammen, wur den wie Spielzeug weggeräumt. Er sah dem Gletscher ins Antlitz, sah die Eiswüste der Stirn, die schimmernden Spalten, die blendenden Reflexe, die schwindelerregenden Farben, das Antlitz seines Todes. Wieder wollte er davonlaufen, doch sei ne Beine steckten noch immer fest. Er kämpfte und mühte sich, aber sein Körper war schwach. Er fühlte sich wie ein alter Mann, ein Hundertjähriger. Seine Knochen waren spröde, die Augen trüb, die Zähne ver fault und ausgefallen, und obwohl ihm sogar die Kraft fehlte, die Hand zum Gesicht zu führen, mußte es so gefurcht und runzlig wie jenes des alten Eskimos sein, den er in dem grönländischen Dorf gesehen hatte. Er rief um Hilfe. »Ich bin hier, Mark ... Was ist?« Er schreckte aus dem Schlaf. »W – was?« »Es ist nichts, Mark. Du hast geträumt. Ich bin hier, neben dir.« »Wo?« Er tastete schlaftrunken umher. »Hier ...« sie küßte ihn, legte den Kopf an seine Schulter und streichelte ihn. Der Traum, die schreckliche Weiße und Kälte, ver blaßte in der Wärme und der Nähe ihres Körpers. Um ihn war nur die sanfte Dunkelheit, Karens Nähe und der Duft ihres Haars, und er entspannte sich.
Unmerklich kehrte der Schlaf zurück und hüllte ihn ein, und seine Angst wich. Blinzelnd erwachte er zum neuen Tag. Es war heller Morgen. Er lag ruhig, bis Karen sich zu regen begann, dann wälzte er sich herum und sah sie erwachen. »Hallo«, sagte er. »Hallo.« Sie lächelte. Sie küßten sich und seufzten wohlig. Und nun wußte er, warum er bei ihr blieb: Weil es in der schrecklichen Leere der Welt nur sie gab, die Sonne ihres Gesichts in der dunklen Kälte, die Berüh rung ihres Körpers, einen Ankerplatz in eisiger See. Er dachte an das Radio. Es waren nur ferne Stim men, Nichtkörper, während der ihrige hier war, be rührt und genossen werden wollte. Hier war sein Grund zu leben, weil er in jedem Sinne ein Mann war, und weil die Frau Bezugspunkt dieser Sinne war. Er sah es in ihren Augen, als sie ihn anschaute, und er verstand, daß es, wenn dieser Alptraum Wirklich keit würde, wenn die Stadt um sie her in Trümmer fiele, immer noch sie geben würde, und daß er nie mals würde allein sein müssen. Von diesem Beginn ausgehend, würde die Zivilisa tion von neuem erblühen. »Mark?«
»Mm?« »Wie wäre es mit dem Amazonas?« »Dem was?« »Den Urwäldern am Amazonas. Dort wird es im mer warm sein, und kaum jemand wird den Weg ins Innere finden. Ich weiß nicht, wie die Indianerstäm me sind, aber im Fachbereich gibt es sicherlich For schungsunterlagen über sie. Einige von ihnen sollen noch praktisch reine Steinzeitkulturen haben, und das wäre das Richtige für uns ...« Er war wieder allein. MER DE GLACE, HAUTE SAVOIE, FRANKREICH: Die Überreste der letzten Eiszeit in Mitteleuropa wa ren über die Gebirgsketten der Alpen verstreut und zu den schönsten dieser Relikte gehörte das weite Gletscherfeld an den nordseitigen Hängen des Mont Blanc. Bergsteiger pflegten von Chamonix aufzustei gen, während weniger ausdauernde Touristen die Schönheit von der höchsten Seilschwebebahn der Welt bewunderten, die auf die 3842 Meter hohe Aigu ille du Midi führte. Das ›Meer aus Eis‹, wie es genannt wurde, war eher ein Strom, knapp fünf Kilometer lang, dessen Bewegung für alle Zeiten erstarrt schien, obgleich er sich in Wahrheit langsam talwärts schob, genährt von den Schneefällen in der Gipfelregion. Da er jedoch am
unteren Ende in dem Maße abschmolz, wie er weiter vorrückte, schien er stillzustehen. Bergsteiger hingegen wußten um seine Bewegung. Ließen sie an irgendeiner Stelle der Gletscheroberflä che eine Wegmarkierung zurück, so fanden sie diese im nächsten Jahr sechzig oder siebzig Meter abwärts. In Chamonix erzählte man sich noch immer von einer Gruppe Bergsteiger, die auf dem oberen Teil des Glet schers in eine Spalte gestürzt war. Dreißig Jahre spä ter hatte der Gletscher ihre Reste am unteren Ende freigegeben. Seit Jahren hatte die Rate des Abschmelzens dieje nige der Neubildung überstiegen, und der Gletscher war zurückgegangen, was die Bergsteigerei und das Touristengeschäft nachteilig beeinflußt hatte. In letz ter Zeit hatten die Einwohner von Chamonix jedoch bemerkt, daß der Gletscher wieder im Vorrücken war, ein Umstand, der sie mit vermehrtem Optimis mus der nächsten Saison entgegenblicken ließ. Andererseits war der höchste Gipfel der Alpen nun die meiste Zeit in Wolken gehüllt und Bergsteiger, die den Gipfel erreichten, berichteten von ungewöhnlich schweren Stürmen und Schneefällen, die offensichtlich das Anwachsen des Gletschers bewirkten. Bedingt durch diese Verhältnisse, ging die Zahl der Besteigun gen zurück, und Fremden wurde dringend geraten, nicht ohne einen erfahrenen Bergführer aufzusteigen.
Natürlich brachte niemand die veränderten Ver hältnisse im Gebiet des Mont Blanc mit den kalten Strömungen in Zusammenhang, die, vom sich aus breitenden Inlandeis Grönlands ausgehend, über Tausende von Kilometern hinweg wetterwirksam waren. In Chamonix interessierte man sich vor allem für einen großen Eisbruch, der eine unterliegende Felsstufe markierte und sich durch das rasche Nach wachsen des Gletschers beträchtlich vergrößert hatte, so daß man ein ›Abreißen‹ des Gletschers an dieser Stelle befürchtete. An Grönlands Küsten hätte man den Vorgang das Kalben eines Eisbergs genannt. Hier war das Ergebnis ein anderes. Passagiere in der Kabinenseilbahn sahen es zuerst. Es sah wie eine kleine Dampfwolke aus, oder wie ei ne Schneefahne, aufgewirbelt von einer plötzlich ein fallenden Bö. Die weiße Schneewolke vergrößerte sich unheim lich rasch, und mit einem Knall wie ein Pistolenschuß löste sich die im Eis gefangene Spannung, und unter halb des Eisbruches gerieten größere Teile des Glet schers mit dumpfem Poltern und Grollen in Bewe gung, nahmen Felsblöcke und Schutt mit sich und wälzten sich talwärts. Die Reibungsenergie der mit zunehmender Ge schwindigkeit abgehenden Eis- und Schuttlawine
schmolz große Mengen Eis zu Wasser, das zerkleiner te Gesteinsbrocken und Schutt in eine schlammige Gleitbahn verwandelte. Mit weiter wachsender Geschwindigkeit donnerte die Eislawine zu Tal, ein inzwischen gründlich durchmischtes Konglomerat aus Eis, Wasser, Schlamm, Gestein und – am zerstörerischsten von al len – Luft. Ein die Autobahn entlangbrausender Lastzug stößt eine Luftsäule vor sich her, so daß jemand weiter voraus von der Brise gekühlt würde. Der Luftdruck aber, den die Lawine erzeugte, war damit nicht zu vergleichen, er war überwältigend und er kam in Wellen. Die erste Druckwelle stieß als eine grauweiße Wol ke mit enormer Geschwindigkeit auf das Tal herab, undurchsichtig von Gesteinsstaub und pulverisier tem Schnee, die in Münder, Kehlen und Lungen ge preßt wurden und zum Erstickungstod der Betroffe nen führten, ehe die zweite Druckwelle sie erreichte. Diese Welle war die massive Gewalt der zusam mengepreßten Luft selbst, die außerstande war, der kilometerbreiten Lawinenfront seitwärts auszuwei chen und sich vor dieser zu enormer Dichte staute. Sie ebnete alle im Weg stehenden Baumbestände und Gebäude ein, als wären sie aus Papier geschnitten. Darauf folgte die eigentliche Lawine, deren Masse
durch die ständige Aufnahme mitgerissener organi scher und anorganischer Materie weiter anwuchs. Selbst jene Häuser, die nicht in ihrer direkten Bahn standen, wurden in die Zerstörung mit einbezogen, denn die gleiche Kraft, die komprimierte Luft vor sich herschob, erzeugte in ihrem Gefolge ein Vaku um, das aus einem trichterförmigen Bereich Luft an sog. Diese Sogwirkung deckte Dächer ab und riß Fen ster und Bewohner aus den betroffenen Häusern. Die Touristen in der Seilbahngondel konnten, zwi schen Himmel und Erde hängend, nur in hilflosem Schrecken zusehen, wie die Eis- und Schuttlawine die Talstation hinwegfegte, dann die Kabel selbst, als ris se sie Fäden aus einem Gewebe, wodurch mehrere der stählernen Gittermasten geknickt wurden. Die ganze Seilbahn wurde heruntergerissen und zerstört, die Gondel mit ihren schreienden Passagieren Hun derte von Metern in freiem Fall in die Tiefe geschleu dert. Die Druckwelle traf voll auf die kleine Stadt Cha monix im schüsselförmigen Talgrund, wo sie Häuser und Bevölkerung unter einer unsichtbaren Schmie depresse zermalmte. Dann ereignete sich ein bemerkenswertes Phäno men. Die Druckwelle schuf ein Polster für die Lawi ne, die zuerst über die Stadt hinwegfegte, ohne sie wirklich zu berühren, darauf den Gegenhang hinauf
getragen wurde und dem Luftpolster Zeit gab, sich aufzulösen. Dann erst begruben die zurückflutenden Eisund Schuttmassen endlich die Stadt und die Men schen darin, die sie bereits getötet hatten. Als die über dem Tal nachhallenden Echos des schrecklichen Getöses verklungen waren, folgte eine tödliche Stille, als hätte seit Anbeginn der Erde nichts jemals die Ruhe und die Schönheit des Tals gestört. »Ach, Gott! Welch ein Unglück!« Karen saß vor dem Fernseher und rang die Hände. Sie sah die Rettungsmannschaften in langen Reihen auf dem wüsten Lawinenfeld stehen und mit Stangen nach Toten oder – obwohl das fast unmöglich war – Überlebenden stochern. Immer wieder schwenkte die Kamera während der Dokumentation zu den Hängen hinauf, als wäre der Kameramann von einer nervösen Angst geplagt, irgend etwas könne eine zweite Grundlawine auslösen. Es war mehr eine Sache der kulturellen Verwandt schaft als der Mathematik. Die paar tausend Men schen, die von der Eislawine am Mont Blanc getötet worden waren, stellten eine sensationellere Nachricht dar als die Millionen, die in der indischen Hungers not zugrundegingen. »Mark, es kommt näher.« Sie erwartete ein Antwort und wandte den Kopf,
um zu sehen, warum keine kam. Mark und ein aufge regter Danny waren am Sender beschäftigt. »Warte, bis er sagt: ›Ende und auf Empfang.‹ Das bedeutet, daß er mit jedem spricht, der sich auf seine Sendung hin meldet«, sagte Mark. Er nahm seine Kopfhörer und setzte sie Danny auf. Danny wartete mit zunehmender Nervosität, wäh rend er dem Funkgespräch folgte. Er warf Mark einen unsicheren Seitenblick zu. »Er wird nicht auf mich hören.« »Er wird, verlaß dich darauf.« »In meiner Schule hörten sie nicht auf mich.« »Sie können es eben nicht auf einmal verkraften. Wenn man ihnen die Wahrheit sagt, ersticken sie dar an. Sie ist wie ein dickes Steak, man schneidet kleine re Stücke davon ab und ißt sie nacheinander.« Danny nickte. »Er kommt zum Schluß.« Mark bedeutete Danny, daß er ruhig abwarten sol le. »Jetzt sagt er es: ›Ende und auf Empfang ...‹« »So, jetzt kommst du.« Danny drehte den Schalter und meldete sich. »Hal lo, VE3NLW. Hier spricht W2QRV Washington Zwei Quebec Roma Valencia, ich rufe. Kommen.« Danny rückte vor Aufregung auf seinem Stuhl herum, als er die Antwort hörte. »Sie sind hier nur ein drei-fünf, mit Schwierigkeit
lesbar. Ende ... Ja, der Empfang hat sich in letzter Zeit verschlechtert. Ich habe ein paar Antworten darauf, wollen Sie hören? Ende ...« »Nichts überhasten«, flüsterte Mark. »Immer eins zur Zeit.« Er lauschte aufmerksam, als Danny sich in eine lebhafte, aber überlegte Diskussion verstrickte, und schrak zusammen, als Karen ihm die Hand auf die Schulter legte. »Hast du nicht gehört? Ich sagte, es kommt näher.« »Ich weiß, wir versuchen ein Kommunikationsnetz aufzubauen. Natürlich wäre das viel einfacher, wenn die Funkamateure im Verzeichnis nach ihrem Beruf aufgeführt wären, statt nach den Erkennungsbuch staben ...« »Hör zu«, sagte Karen ein wenig lauter als zuvor, »es kommt näher. Es wird uns überraschen.« »Bis wir alles beisammen haben und eine Minia turgesellschaft aufgebaut haben werden, die funktio niert ... Ja, du kannst dich darauf verlassen, daß es uns erwischen wird.« »Mein Gott, Mark, was tust du? Du redest über Spielzeugradios und Spielzeugwetterkarten. Ich rede über unsere Rettung.« »Das tue ich auch, Karen.« »Warum sitzen wir dann nicht in einem Flugzeug und verschwinden von hier?«
»Du bist die Anthropologin. Du weißt, was zu ei ner funktionierenden Gesellschaft gehört.« »Eine Familie, ein Iglu und ein Hundeschlitten.« »Es gehört verdammt viel mehr dazu. Schau aus dem Fenster. Oder sieh dir den Bücherschrank an.« »Gut, wir können ein paar Bücher mitnehmen.« »Ich rede auch darüber, wie man dieses Ding be kämpfen kann.« »Du träumst.« »Es fängt immer damit an, daß jemand träumt. Aber schau her, was wir haben. In den Niederlanden gibt es Experten für die Nutzung der Sonnenenergie, in Japan haben wir Kontakt mit Ozeanographen, in Venezuela mit einem Landwirtschaftsexperten, in Rußland mit Meteorologen, die Erfahrung in der Be einflussung des Wetters haben ... wir verfügen bereits über eine Vielzahl von Spezialkenntnissen, und mit diesem Ding da können wir alle zusammenbringen und Antworten suchen ...« »Mit dem Ding da?« Sie deutete mit einem Kopf nicken zum Sender. »Weißt du, warum deine Eskimos bis auf den heu tigen Tag in der letzten Eiszeit steckengeblieben sind? Mangel an Kommunikation. Uns ist es schleierhaft, wie sie im Eis überleben können, für sie ist es schlei erhaft, wie wir alles andere tun. In Afrika erfindet je mand das Rad. In Asien erfindet jemand das Benzin.
In Europa erfindet jemand den Verbrennungsmotor. Aber so lange sie nicht zusammenkommen, gibt es kein Auto. Dies hier bringt sie zusammen.« »Und wozu soll im Eis ein Auto gut sein?« »Dann eben ein Motorschlitten, oder eine Maschine zur Wärmeerzeugung, und eine weitere zur Verände rung der Meeresströmungen, und eine weitere zur Impfung der Wolken, so daß es nur Schnee gibt, wo wir ihn haben wollen.« »Wir leben nicht in irgendeiner fantastischen Zu kunft, wir leben im Hier und Jetzt.« »Wie deine Eskimos, und das ist alles, was sie je mals haben werden, das Hier und Jetzt.« »Wenigstens überlebten sie im Hier und Jetzt.« »Nicht, als der Gletscher ihr Dorf erstickte.« »Unsere Gesellschaft bricht viel leichter zusam men.« »Nein, wir überleben und bauen, durch unsere Technologie, unsere Kultur, unsere Kommunikation.« »Das ist eine ganze Menge, um es in einem Koffer unterzubringen.« »Es wird ein Schiff nötig sein.« »Das du natürlich hast, eins, das durch das Eis fah ren wird.« »Das ich haben werde.« Karen blickte ihn an. »Und das soll ich glauben?« »Es ist hier«, sagte er, und klopfte auf das Sender
gehäuse. »Damit ist alles möglich.« Karen schnitt eine ungläubige Grimasse. Ein aufgeregter Danny stieß Mark an. »Mark, er hört zu. Er glaubt uns, dieser VE3NLW.« Mark zauste ihm das Haar. »Erzähl ihm, was wir tun werden und frag ihn, was er kann.« »Das mußt du machen.« Mark nahm das Mikrofon, stülpte sich die Kopfhö rer über und war Augenblicke später ins Gespräch vertieft. CURTIS BAI, MARYLAND: Selbst aus dieser Entfernung und im Inneren des Büros war der Lärm unerträglich. Manujian vermoch te sich nicht vorzustellen, wie die Werftarbeiter den Lärm des Hämmerns, Nietens und Schweißens aus hielten. Vielleicht hatte eine barmherzige Natur sie vorzeitig ertauben lassen. Er überwachte, wie sie den beschädigten Bug ab trennten und die neuen Sektionen vorbereiteten, die verstärkten Spanten und Holme einschweißten und die doppeltstarken Stahlplatten für den charakteri stisch flach vorgebauten Bug des Eisbrechers formten. Im Höllenlärm des Reparaturdocks überhörte er die Annäherung des Leitenden Ingenieurs. »He, wissen Sie, Sie brauchen deswegen nicht gleich paranoid zu werden.«
»Wovon reden Sie eigentlich?« »Davon«, sagte der Ingenieur und breitete die Blaupausen auf dem Zeichentisch aus. »Die Leute hier denken, der Schock hätte Sie um den Verstand gebracht.« »Heißt das, Sie können es nicht machen? Oder hat es weiter oben Ärger gegeben?« Der andere schüttelte den Kopf. »Nein, nichts da von, wir werden es machen. Die Verantwortung liegt bei Ihnen, und das übrige braucht uns nicht zu küm mern. Andernfalls brauchten wir ein Reparaturdock für Schiffe und ein zweites für den Papierkrieg ...« »Aber?« »Aber warum das ganze? Ich meine, dieser eine Eisberg war ein Ausreißer, die werden nicht Jagd auf Sie machen, wissen Sie.« »Was ist los, haben Sie Probleme damit?« »Nein, das nicht. Der Umbau ist im Zuge der Repa ratur relativ leicht zu machen, aber wozu der Auf wand? Was versprechen Sie sich davon?« Manujian musterte den Ingenieur eine Weile schweigend. Dann seufzte er. »Sie werden mir nicht glauben. Es kommt eine Eiszeit.« »Eine was?« »Der Nordatlantik wird zufrieren, Schneestürme werden das halbe Land begraben, und die Gletscher werden bis über New York hinaus alles abräumen.«
Nun musterte der Ingenieur Manujian mit gerun zelter Stirn. »Ich verstehe. Und Godzilla wird den Nordpol kippen.« »Sie haben es erfaßt«, sagte Manujian. Der Ingenieur zuckte resigniert die Achseln und legte Manujian eine Materialbestellung vor. »Schon gut. Tut mir leid, daß ich Sie fragte. Unterschreiben Sie da unten, bitte.« Hoch oben über den Wolken zogen die Höhenströ mungen ihre regellos anmutenden Bahnen, nahmen Feuchtigkeit oder Kälte von einem Ort auf und tru gen sie in einem gigantischen Austausch von Luft massen zu einem anderen, abgelenkt und beeinflußt von Bergen und Tiefländern, von Wasserflächen und Städten. Der Satellit beobachtete das Geschehen mit seiner unerschütterlichen Gelassenheit, machte Serien neuer Aufnahmen und sendete sie zur Erde. Den meisten Auswertern erschienen die Bilder verwirrender denn je, das Grundmuster – wenn es überhaupt eines gab – täuschend und schwer faßbar. Eine Wettervorhersage war ein Widerspruch in sich selbst. Der Ausnahme fall wurde zur Regel. Manche fragten sich, ob die Gesetze der Physik un gültig geworden seien. Andere argwöhnten, daß es trotz allem irgendein zugrundeliegendes Muster ge
ben müsse, und vertrauten darauf, daß der Wetter computer in Maryland aus der Vielzahl der Erschei nungen schließlich doch ein klares Bild gewinnen werde. Sie warteten auf Verlautbarungen, aber die Regierung machte nur weitere Ausflüchte. Und natürlich kannten einige wenige die Wahrheit. Da ihnen jede neue sogenannte Ausnahmeerschei nung, jede ›unerwartete‹ Katastrophe nur die Bestäti gung dessen lieferte, was sie bereits wußten, be schränkte sich ihr Argumentieren auf die Frage nach der richtigen Politik. Aber es gab keine Computer, um die Rätsel der Gesellschaft zu beantworten. Es gab überhaupt keine Antworten. »Da ist eine hübsche Stelle«, sagte Peggy, und Mrs. Bjork stimmte ihr zu. Sie verließ die Straße und fuhr auf den Parkplatz. »Vielleicht können wir hier im Rasthaus essen«, schlug Peggy vor. »Warum nicht?« sagte ihre Mutter und versuchte ein Lächeln aufzusetzen. SCHÖNER RUNDBLICK stand auf dem Schild ne ben dem Durchgang zur Terrasse, und Mrs. Bjork nahm die Gelegenheit wahr, während Peggy die Toi lette benutzte. Sie waren ungefähr zweitausendfünfhundert Meter hoch, mitten im Kings-Canyon-Nationalpark, einem
Teil der Sierra Nevada. Mrs. Bjork hatte sich auf die sen kleinen Ausflug gefreut, weil sie darin ein Mittel gesehen hatte, die Ängste und Sorgen zu vergessen, von denen sie in letzter Zeit bedrängt wurde, den immer drückenderen Wasserrechnungen, dem trotz ihrer heldenhaften Anstrengungen, mit dem Lastwa gen Wasser heranzuschaffen, vor Durst und Hunger verendenden Vieh. Doch nun wurde sie von neuem an diesen ver hängnisvollen Wassermangel erinnert. Ringsum er hoben sich die Berggipfel, nackt und kahl, ohne die Schneekappen, die im Frühling zur Zeit der Schnee schmelze das ersehnte Wasser liefern sollten. Doch erst als Mrs. Bjork zurückblickte, hinunter ins Owens Valley, wurde ihr das Ausmaß der Katastro phe bildhaft vor Augen geführt. Zu ihren Füßen la gen die geometrischen Muster der Farmen und Vieh zuchtbetriebe wie ein Flickteppich, doch wo einst Schattierungen von frischem Grün das Auge erfreut hatten, breitete sich jetzt braungelbe Dürre aus. Im Südosten lag Dunst, was angesichts der trocke nen Luft überraschend war. Konnte es Nebel sein, oder gar Wolken, die das Ende der Dürre anzeigten? Sie fürchtete, es möchte ein Buschfeuer sein. Hastig steckte sie ein Zehncentstück in das am Rand der Terrasse aufgestellte Fernrohr. Was sie sah, war womöglich noch erschreckender
als ein Buschfeuer, und es war der gleiche Anblick, der die afrikanischen Bambara-Bauern entmutigt hat te, weil sie darin Vorreiter des Unheils erkannt hat ten, das ihre Felder, ihre Gehöfte und schließlich ihr Land veröden sollte. Im Südosten lag die Mojave-Wüste, über zwanzig tausend Quadratkilometer groß und geradezu winzig im Vergleich zu den ungeheuren Weiten der Sahara, aber sie war seit einiger Zeit in stetem Wachstum be griffen, mochte dies auch Mrs. Bjorks unkundigen Augen verborgen bleiben. An ihren Rändern trockne te die Erde aus und wurde vom Wind als Staub mit genommen. Zurück blieben Sand und Steine. Die Wüste breitete sich aus. Auch Mrs. Bjork sah durch das Teleskop, daß die vermeintlichen Wolken oder Nebelbänke gelbbraune Staubstürme waren, die der Wind über die Wüste trieb, und sie verspürte einen Anflug von Übelkeit. Peggy kam hinter ihr auf die Terrasse heraus. »Gibt es was Schönes zu sehen?« Von der großen Dürre war ein weitgespannter Halb mond betroffen, der von Oregon durch Kalifornien und Nevada bis hinein nach Texas reichte. In diesen Gebieten sahen die Farmer und Viehzüchter dem be vorstehenden Frühling fast ohne Wasser für Bewässe rungszwecke entgegen; sie hatten nicht nur die Ernte,
sondern auch das Saatgut der Neubestellung verlo ren. Das einzige verfügbare Wasser wurde von einer privaten Gesellschaft geliefert: zum Zehnfachen des früheren Preises, was einem Drittel des bäuerlichen Durchschnittseinkommens entsprach. Die Dürre forderte noch anderen Tribut. Überall ent lang der großen Flüsse, dem Columbia, dem Colorado und dem Snake, hatten sich Industrien angesiedelt, de ren Produktionsverfahren auf Wasser und hydroelek trische Energie angewiesen waren und die außerdem ihre Abwässer in die Flüsse zu leiten pflegten. Die Wasserkraftwerke deckten den größten Teil des Energiebedarfs im Nordwesten, nun aber begannen sie die Stromlieferungen an Fabriken, Privathaushalte und schließlich auch an andere Stromverteilergesell schaften einzustellen. Als die Bonneville-Kraftwerke ihre Stromlieferungen einschränkten, bekam das auch die Pacific Gas and Electric, mehr als tausend Kilome ter weiter südlich, schmerzhaft zu spüren. Wie eine Reihe aufgestellter Dominosteine fällt, wenn man den ersten Stein anstößt, so vervielfachte sich die Wirkung des Wassermangels in allen Berei chen. Die Aluminiumhütten am Columbia mußten schließen und Arbeitskräfte entlassen, die nun ihre Rechnungen in den Läden nicht mehr bezahlen konn ten. Die Ladenbesitzer ihrerseits mußten ihren Liefe ranten – Großhändlern, Farmern und Herstellern –
Rechnungen schuldig bleiben, während die gleichzei tige Verknappung zu scharfen Preisanstiegen bei Le bensmitteln und Gebrauchsgütern führte. Und die Dürre dauerte an. Fische verendeten in den austrocknenden Schlammlöchern der wasserlo sen Flußbetten, die Wurzeln von Bäumen wurden wie Eingeweide freigelegt, wenn der Wind die ausge trocknete Bodenkrume davontrug, die Luft war aus gedörrt, beißend und staubig. Den unveränderlichen physikalischen Gesetzen gehorchend, die das Wettergeschehen beherrschten, stieg die angewärmte trockene Luft auf, und neue, kühlere Luft wurde vom Norden angezogen, um das Vakuum zu füllen. Diese Nordwinde wirbelten den Sand und die zu Staub ausgetrocknete Erde auf und nahmen sie mit. Die gleichen Staubstürme, die in den Jahren nach 1930 Oklahoma verheert hatten, breiteten sich jetzt über den ganzen Halbmond von Oregon bis Texas aus, trugen durch Winderosion bis zu fünfzehn Ton nen Humusboden pro Hektar ab und wirbelten ihn als Staub kilometerhoch in die Atmosphäre. Innerhalb kurzer Zeit breiteten die Wüsten sich aus, die Mojave, die Arizona, die Colorado, die Salz seewüste, eroberten Acker- und Weideland und trachteten sich zu vereinen.
Die Frühaufsteher unter den Einwohnern von Los Angeles waren verblüfft, die Sonne kurz nach ihrem Aufgehen wieder verschwinden zu sehen. Von der Kette der San-Gabriel-Berge kamen schmutzige dunkle Wolken mit einem Brüllen herangefegt, das an einen riesigen Staubsauger gemahnte. Dann fielen sie mit voller Gewalt über die Stadt her, peitschten Sand und Staub durch offene Fenster, in Schornsteine und Entlüftungsöffnungen und ließen die Menschen hustend und nach Atem ringend aus den Betten springen. Sie rannten zu den Fenstern, um sie gegen den Sturm zu schließen, und schalteten die Klimaan lagen ein. Sie waren völlig desorientiert. Irgendwelche Van dalen hatten Staubbeutel von Staubsaugern über ihre Häuser entleert, oder die Kommunisten hatten mit einer neuen Art von Bakterienbombe den Krieg er öffnet. Die Leute riefen die Polizei an, die Feuerwehr oder die Rundfunkstation. Diejenigen, die draußen auf den Schnellstraßen un terwegs zur Frühschicht waren, hatten bessere Sicht und ein schlimmeres Schicksal. Sie sahen die Wolken wie Heuschreckenschwärme auf die Stadt herab kommen, den Himmel verdunkeln und Sand und Staub durch Straßen und Häuser fegen. Dann hüllte der Staubsturm die Straßen ein, er stickte die Insassen der Fahrzeuge, machte die Fen
ster undurchsichtig und schmirgelte den Lack bis auf das nackte Stahlblech ab. Überall in der Stadt prallten Fahrzeuge blindlings auf andere Wagen, und im Nu bildeten sich Massen karambolagen von zehn, zwanzig, fünfzig Wagen. Manche, die auf Überführungen gerammt wurden, durchbrachen die Geländer und stürzten auf die un ten vorbeiführenden Strecken. Anderen, denen es gelang, ihre Wagen rechtzeitig an den Straßenrand zu lenken und anzuhalten, ehe sie in Auffahrunfälle verwickelt wurden oder bevor Sand und Staub die Motoren unbrauchbar machten, kauerten entsetzt in ihren verschlossenen Wagen, umtobt von der Gewalt der Elemente, und erwarteten ein Schicksal, das sie nicht verstehen konnten. Einige der Leute wußten, was über sie gekommen war. Ein Ehepaar namens Wilson hatte ähnliches einmal in Arizona durchgemacht. Und ein paar ehe malige Farmer aus Oklahoma waren nach Kalifornien gegangen, um gerade solchen Staubstürmen zu ent gehen. Sie fragten sich nicht, ob die Welt verrückt geworden sei; sie wußten es bereits. Dann zog der Sturm ab, so rasch, wie er gekommen war. Er hinterließ Trümmer, Autowracks, einige Tote, viele Verletzte, ein fröstelndes Bewußtsein der Ver wundbarkeit und eine Decke von Sand und Staub, die aus Maschinen, Möbeln, Betten, Teppichen, Fahr
zeugen und Lebensmitteln zu entfernen, Wochen er fordern würde. Immerhin, der Sturm war vorüber, und der Him mel strahlte blau. Es sei eine Ausnahmeerscheinung gewesen, verkündeten die Politiker und ihre rasch mobilisierten Wissenschaftler, und Ausnahmeer scheinungen kommen ihrer Natur nach nur einmal vor. In Wahrheit war der Staub weiter südlich in eine warme Aufwindzone über der Küste geraten und siebentausend Meter emporgetragen worden, wo er von der nordwärts ziehenden Höhenströmung erfaßt und in arktische Breiten getragen wurde. Wieder verbanden sich winzige Staubpartikel mit ebenso winzigen Tröpfchen und bildeten Eiskristalle, Munition für einen neuen Blizzard. Der Prozeß hielt sich selbst in Gang, nährte sich, verdoppelte sich wieder und wieder, griff von Grön land auf Kanada über, saugte noch mehr Staub und Wasser an sich, verschob die Klimazonen und zerriß die Bande, die ihn an die großen Eisschilde Grön lands und der arktischen Inselwelt gebunden hatten, und machte sich bereit, die Arktis südwärts zu tra gen. »Bonjour, Paul.« »Bonjour, Therèse, comment allez-vous?«
»Très bien, et vous?« »Wir sprechen französisch. RadiodiffusionTelevision Française bringt Lektion vier in unserem Sprachkurs. Heute sprechen Paul und Therèse über das Adjektiv ...« Mark drehte den Skalenknopf weiter. »Der Überseedienst der BBC bringt ein Programm mit leichter Musik. Zuerst beantworten wir den Wunsch einer Hörerin in Brisbane, Australien, die ›Eine Melodienreise‹ von Robert Farnon hören möch te ...« Mark drehte weiter. »In der Struktur der Raga finden wir zuerst eine kurze, einleitende Exkursion in das Ankar, ein Solo ohne rhythmisches Muster für die Sitar, in welchem der Musiker ...« Mark drehte weiter, zu einer neuen Sprachlektion in Radio Japan, zu einer Jazzgruppe in Radio Schwe den, zu einem Dokumentarbericht über die Verarbei tung von Lachs zu Konserven in Radio Kiew, zu einer Oper, Volksmusik, Reiseberichten, Nachrichtenpro grammen, in denen bestimmte Nachrichten auffälli gerweise fehlten, zu einer Welt, die den Kopf in den Sand gesteckt hatte – oder ins Eis. Er schaltete den Empfänger aus und starrte das Te lefon an. Nach einer Weile rief er die New York Times und verlangte den Redakteur zu sprechen, den er
dort kannte. Eine Sekretärin nahm den Anruf entge gen. »Ach ja. Er wird Sie anrufen, sobald er kann.« »Bisher hat er es nicht getan.« »Nun ja, er war sehr beschäftigt.« »Das kann ich mir denken.« Er legte auf und wand te sich zu Danny um, der ihn ansah. »Warum bist du nicht im Bett?« »Ich möchte meine Codeübermittlung üben, und ich muß meine Wetterbeobachtungen machen. Wis sen die Leute nicht, daß du recht hast?« »Es ist einfacher zu glauben, ich sei ein Verrückter. Wann gehst du wieder ins Bett?« »Bald. Weißt du, mit wem du reden solltest?« »Nein. Was verstehst du unter ›bald‹?« »Mit den anderen Professoren von der Universi tät.« »Ha. Du hast das erste Mal gesehen, wie sie wa ren.« »Ja, aber inzwischen haben sie den Blizzard erlebt und von anderen Katastrophen gehört, also haben sie schon eingesehen, daß mehr dahintersteckt.« Mark sah ihn streng an. »Du gehörst ins Bett.« »Wenn ich wieder ins Bett gehe, darf ich dann zu der Versammlung kommen?« »Versammlung? Du glaubst, diese Idioten würden zu einer Versammlung kommen, die ich einberufe?«
»Das kann ich nicht wissen, ich bin nur ein Kind.« »Na schön, Kind, geh zurück ins Bett! Ich werde herumfragen, und wenn sie kommen, kannst du auch kommen.« Danny klatschte in die Hände. »Ich hatte die Idee!« Mark seufzte. Danny konnte entzückend kindlich sein, und es wäre eine Schande, ihn zu desillusionie ren. Mark wußte, daß niemand kommen würde, aber er nahm gleichwohl den Hörer ab und rief zuerst Fink an. Fink blickte von einer Zeitung auf, deren Leitartikel dem Sandsturm von Los Angeles gewidmet war. »Sagt der Junge zu seinem Vater: ›Daddy, warum ha ben sie Los Angeles mitten in eine Wüste gebaut?‹ Darauf antwortet der Vater: ›Laß mich in Ruhe, Jun ge, sonst verpassen wir das nächste Kamel nach Hol lywood.‹« Als niemand lachte, legte er die Zeitung weg und blickte verletzt. »Nun, ich fand es ziemlich lustig.« »Vielleicht ist es einfach ein bißchen zu wahr, um lustig zu sein«, sagte Mark. »Nichts dergleichen. In Wirklichkeit liegt es daran, daß du keinen Sinn für Humor hast.« »Er ist in diesen Tagen knapp geworden«, sagte Mark mit einem Blick in die Runde. »Genau wie alles andere.«
In der Tat waren zu dieser Versammlung weniger Teilnehmer erschienen. »Geschichte, Archäologie, Geologie und noch einmal Meteorologie. Genau die Wissenschaften, die wir brauchen, um die Welt zu retten.« »Nur Mut, Mark«, sagte Fink. »Wenigstens ich kau fe es dir diesmal ab. Wenn du nun noch Guzman auf deiner Seite hättest ...« »Apropos Guzman«, sagte Helen. »Ist etwas über seinen Verbleib bekannt?« Mark schüttelte den Kopf. »Die Polizei glaubt nur eines zu wissen: daß er nicht gefunden werden will.« »Ah, eine Frauengeschichte! Ist er von zu Hause durchgebrannt?« »Keine Ahnung«, sagte Mark. »Aber was ich jetzt wissen möchte, ist, ob mir diesmal alle Anwesenden glauben.« Die Dozenten blickten einander an. Hideo lächelte. Die anderen zuckten die Achseln oder nickten. Fink schmunzelte. »Wir fünf werden die Welt ver ändern.« »Sechs«, meldete sich Danny zu Wort. »Sieben, meine Mutter mitgezählt.« »Oh. Mein Gott, ja! Gut, und mein Teddybär macht acht, und mein Schaukelpferd macht neun. Hör zu, Mark, ich habe nichts dagegen, wenn du das Ange nehme mit dem Nützlichen verbinden und den Baby
sitter machen willst, aber kannst du den Jungen nicht ...« »Ich kann für mich selbst sprechen«, erwiderte Danny gereizt. »Vielleicht habe ich sogar etwas Wert volles beizutragen.« Fink seufzte. »Entschuldige. Ich vergaß, daß du ein Liliputaner bist.« Er wandte sich wieder zu Mark. »In Ordnung, wir haben ein paar Leute mehr als ich dachte, aber selbst wenn du die Familien, Haustiere und sogar die Parasiten mitzählst, die wir auf uns he rumtragen, reicht es noch immer nicht für eine gute Samstagabend-Party. Was haben wir also?« »Ich kann dir sagen, was wir haben: ein paar ver streute Experten, mit denen wir in Funkverbindung stehen ...« »Solche Experten wie wir?« fragte Helen mißbilli gend. »Ja, wir sind schon ein eindrucksvoller Haufen«, sagte Fink. »Nie soviel Talent auf einem Haufen ge sehen.« »Und dann haben wir einen Eisbrecher, oder zu mindest etwas, was als ein solcher dienen wird.« »Das klingt ziemlich unheimlich. Was soll er inzwi schen machen, Eiswürfel für Cocktails brechen?« »Es ist ein Tonnenleger der Küstenwache, der zur Zeit im Reparaturdock liegt und zum Eisbrecher um gebaut wird.«
»Die Küstenwache? Was bringt dich auf die Idee, die Küstenwache würde uns auf ihre Passagierliste setzen?« »Das wird sie wohl nicht tun.« »Und wie soll das mit der Abholung vonstatten gehen?« »Ich weiß«, sagte Fink. »Wir fahren mit einem Ru derboot hinaus. Helen hier zieht den Stöpsel, ich rei ße mir das Hemd vom Leib und schwenke es ver zweifelt ... Nein, andersherum. Ich ziehe den Stöpsel, Helen hier reißt sich das Hemd vom Leib ...« »Der Kapitän ist ein alter Freund von mir«, sagte Mark, »und wird alles in seinen Kräften Stehende tun.« Der Archäologe hüstelte. »Ich habe zur Landesver teidigung ein Gewehr getragen, also weiß ich ein biß chen was über das Militär. Das schlimmste Verbre chen, schlimmer noch als Mord, war Desertion.« »Wer hat was von Desertion gesagt? Ich sagte nur, er würde ...« »Uns aufnehmen, ich weiß. Flottenadmiräle, Vize admiräle und Konteradmiräle werden Schlange ste hen, um sich an Bord eines Schiffes in Sicherheit zu bringen, aber dieser Kapitän der Küstenwache wird sie alle stehen lassen und uns abholen?« Mark nickte. »In dem Fall müßte er seine Befehle mißachten und seinen Posten verlassen.«
»Wessen Befehle mißachten? Welchen Posten ver lassen? Wir sprechen vom völligen Zusammenbruch der Gesellschaft. Vielleicht wird er Befehle haben, wenn es soweit ist, vielleicht nicht. Meine Vermutung ist, daß er in dem Durcheinander und der allgemei nen Panik vergessen werden wird. Man wird nach Eisbrechern Ausschau halten, nicht nach einem jäm merlichen Tonnenleger.« »Ich weiß nicht, ob ich recht verstanden habe, Mark. Du sagst uns nicht, daß wir jetzt unsere Sachen packen, eine Flugkarte zum Äquator kaufen, und uns in Sicherheit bringen sollten. Statt dessen sagst du uns, wir sollen dableiben und warten, bis das Eis über uns kommt ...« »Nicht bloß warten. Nein, es ist eine Menge zu tun ...« Fink sagte: »Mark, du sprichst mit einem netten Judenjungen, dessen Eltern in den dreißiger Jahren in Deutschland waren. Sie saßen nicht da und warteten, als es brenzlig wurde, sie packten ihre Sachen und verdufteten, und ich bin ein sehr ängstlicher Splitter vom gleichen Holz.« »Der Unterschied ist, daß es damals genug Aus weichmöglichkeiten gab. Die Zivilisation blieb intakt. Diesmal bricht alles zusammen. Wohin soll die Menschheit gehen, wenn die gemäßigten Zonen un bewohnbar werden?«
»Soll das heißen, daß wir zum Untergang verurteilt sind, Mark?« fragte Helen. »Ich habe nur diese eine Hoffnung zu bieten«, er widerte Mark. »Natürlich kann jeder von uns heute eine Flugkarte lösen und sich in eine Maschine set zen, aber wohin soll man fliegen, und wie, und wo von soll man leben, wenn man ein Ziel gefunden hat? Es handelt sich nicht um vierzig Pfund Fluggepäck für einen Europaurlaub. Ein Europa wird es bald nicht mehr geben.« »Doch, es wird«, sagte Fink. »Wir brauchen bloß neue Bezeichnungen zu finden: der DeutschlandGletscher, die Riviera-Eiskappe, das Mitteleuropäi sche Inlandeis ...« »Wir sprechen von einer Verantwortung gegenüber der Menschheit, die uns verpflichtet, für die nachfol genden Generationen von dieser Zivilisation zu be wahren, was wir können. Es ist nicht nur unsere beste Überlebenschance, sondern zugleich unsere einzige Möglichkeit, uns zur Wehr zu setzen.« »Wer, wir? Wenn die Regierung nichts getan hat?« »Die Regierung ist von widerstreitenden Sach zwängen und Interessen gelähmt, sie darf nicht offen davon reden und sie darf keine größeren Aktionen einleiten, weil eine allgemeine Panik der Bevölkerung vermieden werden muß. Wahrscheinlich laufen sie in Washington wie Hüh
ner ohne Köpfe herum und wissen nicht, was sie an fangen sollen.« »Im Gegensatz zu uns«, sagte Helen, »den effizien ten, gut geölten Maschinen ...« »Es sind nicht bloß wir hier in diesem Raum«, ant wortete Mark. »Wir sind in ein Kommunikationsnetz der Amateurfunker eingeschaltet. Das ist nicht viel, aber alles, was wir haben. Ohne dieses Kommunika tionssystem werden wir nichts als eine Bande von Pa rasiten sein, die zugrundegehen, sobald die Konser venvorräte erschöpft sind. Aber mit dem Radiosender haben wir eine Chance. Unsere Zelle kann auf diesem Wege mit anderen Zellen überall auf der Erde in Ver bindung treten, Aktionspläne und vor allem Ideen austauschen, Dinge vereinbaren. Auf diese Weise er halten wir die Zivilisation am Leben.« Alle sahen einander an. »Sieh mal, Mark, ich möchte da bloß lebendig he rauskommen. Ich habe keinen Bedarf für diesen Un sinn von der Bürde des weißen Mannes.« »Das ist die einzige Art und Weise, wie du da le bendig herauskommen wirst, das versuche ich gerade auseinanderzusetzen. Wir werden eine EiszeitTechnologie entwickeln müssen, selbst um winterhar te Pflanzen zu finden, die als Nahrung dienen kön nen. Die Regierung wird es nicht für uns tun. Sie hat es
früher nie getan, und nichts spricht dafür, daß sie jetzt derartige Vorsorgemaßnahmen einleitet. Diese Leute sind nur darauf aus, ihre eigene Haut zu retten. Aber wir hier ...« »Ja, Mark, wir hilfsbereiten, selbstlosen Kollegen, die niemals eine Anwandlung von Eifersucht ver spürten ...« »Was immer wir waren, wenn du siehst, welches die Alternative ist ... nun, dann ist klar, daß es keinen anderen Weg gibt.« Hideo, der bis dahin still geblieben war, meldete sich zu Wort. »Mark ...« »Ja.« »Du machst es so kompliziert ... dabei ist es tatsäch lich ganz einfach.« Aller Blicke richteten sich auf ihn, denn sein gelas sener Ton schien zu sagen, daß er das Geheimnis ge funden habe. Sie warteten, daß er fortfahre, und war teten ... »Es eilt nicht. Laß dir Zeit.« »Es besteht kein Grund zur Eile. Während du her umeiltest und all diese Funksprüche und Telefonge spräche führtest, Leute an Straßenecken anhieltest und Staub aufwirbeltest, was, meinst du, taten unter dessen die Eskimos?« »Sie starben, nehme ich an.«
»Und was, meinst du, wird bei all diesen energi schen Anstrengungen die Menschheit tun, wenn das Eis kommt?« »Umkommen, sich selbst umbringen, weiß Gott.« Hideo nickte. »Warum bist du Meteorologe gewor den, Mark?« »Ach du lieber Himmel ...« »Es ist mir ernst.« »Weil die Natur ein Geheimnis war, und weil es mich reizte, Antworten zu finden.« »Genau so erging es mir. Nun, hast du deine Ant worten bekommen?« »Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich habe nicht viel davon gehabt.« »Außer Spaß.« Mark zuckte die Achseln. »Komm schon. Ein wenig?« Mark nickte widerstrebend. »Worauf willst du ei gentlich hinaus?« »Es ist das Spiel. Du hast mehr dabei herausbe kommen, als du hineinstecktest, also sei dankbar. Das gleiche gilt für mich und uns alle hier. Wir alle sind gut damit gefahren.« »Und?« »Und? Das ist alles. Es hat Spaß gemacht, aber nun ist das Spiel aus, und das war von Anfang an Teil der Regeln.«
»Willst du uns damit sagen, wir sollten uns einfach hinlegen und sterben?« »Jeder muß es.« »Die ganze Menschheit?« Hideo schwieg eine Weile. Als er endlich weiter sprach, schien er beinahe entrückt. »Weißt du, wir untersuchen die Gesteinsschichten der alten Ablagerungen, und wir finden Tausende und Abertausende von Arten, die alle ausgestorben sind. Nicht nur Dinosaurier und Ammoniten, son dern auch kleine Affen, große Affen, Frühmenschen, Spätmenschen und jetzt Endmenschen. Wir hatten eine ganze Anzahl von Eiszeiten, weißt du. Und ich zweifle nicht, daß wer oder was immer zur betreffen den Zeit da war, wehmütig dachte: ›O weh, mit uns geht die Welt unter ...‹ Nun, jetzt sind wir an der Rei he. Jemand oder etwas wird nach uns kommen ...« »Du redest wie Karen redete. Selbst sie änderte ihre Meinung.« Hideo zuckte die Achseln. »Jeder hat seinen eige nen Weg ins Nirwana, oder nach Philadelphia, oder wie du es nennen willst.« »Lieber Gott ...« »Nur Mut, Mark«, lachte Fink. »Wir haben immer noch den Zwerg hier auf unserer Seite. Der wird die Welt ganz allein retten, wenn er muß.« »Wenn ich muß«, sagte Danny.
Der Journalist hatte Gefallen an der Aufgabe gefun den. Der letzte Leitartikel in dieser Angelegenheit war steif gewesen, sogar pompös, wie er jetzt meinte, aber mit wachsender Zuversicht entspannte er sich beim Schreiben und bohrte schließlich sogar die Zun ge in die Wange, so eifrig war er bei der Sache: »Einige unserer Leser mögen sich erinnern, daß wir vor sechs Monaten zum Herbstanfang eine Betrach tung zum bevorstehenden Herbst und Winter schrie ben. Einen so harten Winter, wie er dann kam, hatten wir nicht vorausgesehen, aber wenigstens kam er zur vorbestimmten Zeit. Seit jener Betrachtung sind, wie gesagt, sechs Monate verstrichen, und diesmal kön nen wir mit Genugtuung vermelden, daß die Sonne wiederum den Himmelsäquator gekreuzt hat, dies mal auf ihrem Rückweg. Manche unter uns mochten nicht mehr daran geglaubt haben, aber der Frühling ist gekommen, und es freut uns, feststellen zu kön nen, daß auch er sich an seine vorbestimmte Zeit gehalten hat. Heute sind Tag und Nacht von gleicher Länge, aber das wird sich ändern, ändert sich sogar schon, während Sie dies lesen. Von nun an werden die Tage länger, die Nächte kürzer werden. All jenen, die den Winter durchgestanden haben und während unseres schlimmsten Blizzards gedacht haben mögen, die Na tur habe uns im Stich gelassen, möchten wir zurufen:
Seid getröstet. Sie mag hart sein, aber sie gehorcht ih ren eigenen Gesetzen. Der Frühling ist da.« Der Journalist hatte nicht ganz recht. Das Drama des Himmels vollzog sich in der Tat nach dem vertrauten Drehbuch. Die Sonne hatte ihren Aufstieg vom Äqua tor nordwärts begonnen und schickte sich an, die nördliche Hemisphäre wieder zu erwärmen, aber an dere Teilnehmer an dem Drama hatten inzwischen andere Spielregeln. Die Höhenströmungen, die sich verlagernden Meeresströmungen, die wachsenden Eisfelder und die Staubstürme hatten die Initiative an sich gerissen. Wie die Inder vergeblich auf den Herbstmonsun gewartet hatten, so sollten die Nordamerikaner ver geblich auf den Frühling warten. Die Jahreszeiten, wie sie von jeher das Leben der Menschen geprägt hatten, galten nicht mehr. Das Mädchen an der Kasse starrte verwundert die hochbeladenen Einkaufswagen an, die Mark und Ka ren heranschoben. »Na, das ist ein Ding! Wollen Sie selbst einen La den aufmachen?« Mark betrachtete das Mädchen. Es konnte noch nicht lange aus der Schule sein, lebte wahrscheinlich noch bei den Eltern und sparte vielleicht für ein Col
lege, vielleicht für dasselbe, an dem Mark lehrte. Bald würde es tot sein, zusammen mit der Familie, dem Freund, den Klassenkameradinnen. »Nein, nur eine große Familie«, sagte Mark nach kurzem Zögern. Er stellte einen Scheck über den Rechnungsbetrag aus und wußte, daß der Super markt ihn nicht mehr einlösen würde. Er fühlte sich ein bißchen schuldig. Die Ahnungslosigkeit der Men schen war bestürzend. Sie glaubten, es müsse alles so weitergehen. Als nächstes rief er das Büro der Lagerhausgesell schaft am Kai der Morton Street an und mietete ein großes Abteil in einer Lagerhalle. Seine letzte Aufga be war der Kauf eines Motorschlittens. Es war der letzte, das Vorführexemplar. »Wollen Sie damit nach Haus fahren?« fragte der Angestellte lächelnd. »Es wird hier früh genug eine Menge Schnee ge ben.« »Kann Ihnen nicht verdenken, daß Sie das glauben, nach dem Winter. Nein, ich muß sagen, Sie sind sogar sehr klug, Sir. Sie bekommen den Schlitten jetzt er heblich billiger und brauchen ihn bloß unterzustellen. Wenn der Winter kommt, haben Sie mehr als tausend Dollar gespart, denn die Preise werden weiter hi naufgehen. Ich wette, Sie warten bis zum Winter, be vor Sie sich eine Klimaanlage kaufen.«
»Ja«, sagte Mark, »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.« Der Wir sind durchgekommen-Klub veranstaltete seine Party um ein Schwimmbecken im Freien. Eine gemie tete Rockgruppe spielte, was das Zeug hielt. Da die gesamte lebende Bevölkerung des Nordostens für die Mitgliedschaft in Frage kam, konnte Exklusivität nicht die Hauptattraktion des Klubs gewesen sein. Sie war es auch nicht. »He! Na, was ist Ihre Geschichte?« schrie der junge Mann durch den Lärm der Band. »Über was?« »Den Blizzard.« »Ach ja ... äh ... Mein Freund und ich ...« Das Mäd chen brach ab. »Na, wir hielten einander warm.« Sie lachte, und der junge Mann lächelte und rückte nä her. »Verstehe. Also, ich könnte mir denken, daß Sie noch mehr Wärme brauchen werden.« »Was bringt Sie auf die Idee?« »Na ja, man kann nie wissen, wann es wieder kalt wird.« »Richtig, da Sie es schon sagen ...« Sie fröstelte. Ei ne Brise kam auf. »Ich glaube, ich werde lieber ...« »He, gehen Sie nicht. Ich leihe Ihnen meine Jacke.« Die Brise frischte rasch auf, und die Leute um das Schwimmbecken stellten ihre Gläser ab, zogen sich
Jacken über, legten sich Schals um die Schulter oder gingen gleich hinein. Der Himmel dunkelte rasch, und nun trieben vereinzelte Schneeflocken herab, schmolzen bei der Berührung mit dem Boden. »Ach nein«, sagte der junge Mann, als der Schnee fall dichter wurde und die Flocken liegen blieben. »Nicht schon wieder ...« Man spürte sofort, daß dieser Schneesturm anders sein würde. Es war nicht der böige, wütend pfeifende Eissturm des Winters. Dies war der Frühlingsschnee. Sanft und langsam, still, beinahe angenehm, wie das langsame Absinken in den Tod. Die Luft war klar und ruhig, und die Stadt schien auf einmal still zu werden, als hätten ihre Bewohner zu Millionen in ihren Beschäftigungen innegehalten und blickten zum Himmel auf, um die Wiederkehr zu erwarten. »Ist ... es das?« fragte Karen, aus dem Fenster blik kend. Mark unterbrach sein Packen und folgte ihrem Blick. »Das ist es. Sieht es vertraut aus?« »Wie ... wie Grönland.« »Dann solltest du dich dabei wohlfühlen.« Sie schüttelte den Kopf. »Diese alte Geschichte, in der die Eltern sich wünschen, daß ihr toter Sohn zu rückkäme, und er kommt als lebender Leichnam zu
ihnen ...« Sie legte die Fingerspitzen an die Fenster scheibe. »Die Kälte dringt sofort durch. Nicht wie bei einem Iglu ...« Sie wandte sich um und sah Mark an, dann sagte sie in beschwörendem Ton: »Komm, lassen wir alles lie gen, und nehmen wir ein Flugzeug, ehe es zu spät ist.« »Es ist zu spät. Sieh mal, wir haben uns darauf vorbereitet, es durchzustehen. Du darfst dich jetzt von den Nerven nicht unterkriegen lassen.« »Wir werden untergehen. Vergiß das ganze Zeug und laß uns jetzt verschwinden.« »Das können wir nicht. Wir könnten es nicht ein mal, wenn wir wollten. Du wirst dich erinnern, wie rasch der Verkehr zum Erliegen kam. Es wird Panik und Hysterie geben. Warte, bis sie abstirbt.« »Wer, die Hysterie oder die Stadt?« »Komm, Karen, verlier nicht den Kopf. Die Stadt wird alle ihre Leitungen überlasten ... wir brauchen bloß zu warten, bis die Sicherungen herausfliegen.« »Und wie werden wir es erfahren?« »Durch den Empfänger.« Sie blickten beide zum Radio, wo Danny mit übergestülpten Kopfhörern saß und dem Funkverkehr lauschte. »He, da ist was los! Wollt ihr mithören?« Er schalte te den Lautsprecher ein. Auf dem Band des örtlichen Funksprechverkehrs füllten sich die Kanäle mit den Hilferufen und Be
schwerden verärgerter Fahrer, die in Verkehrsstau ungen und Unfällen gefangen waren, von Lastwagen fahrern, die ihre Ware nicht abliefern konnten, und immer mehr Teilnehmer störten sich gegenseitig mit ihren Sendungen und weigerten sich, anderen Platz zu machen. Es wurde zu einer Kakophonie, und Karen hielt sich die Ohren zu. »Wann hört es endlich auf?« »Es wird aufhören«, erwiderte Mark. »Es wird.« Der Elch im Zoologischen Garten der Bronx schnaub te erleichtert, wanderte in seinem weitläufigen Gehe ge durch den Schnee und fühlte sich sehr zu Hause. Der Otter grub sich unter der an Stärke zunehmen den Schneedecke ein Netz von Röhren und stieß dann kleine senkrechte Löcher zur Oberfläche, um Luft und Licht zu bekommen. Der Hirsch scharrte den Schnee fort, erreichte das Gras darunter und rupfte die freigelegten Büschel. Der Adler kauerte in einer Ecke des riesigen Vo gelkäfigs, schlug mit den ölig glänzenden Schwingen, um den Schnee abzuschütteln, und zog den Kopf, soweit es ging, ins warme Halsgefieder zurück. Im Löwenhaus brüllten die Großkatzen vor Hun ger und Ungeduld, als der Wärter zur gewohnten Zeit ausblieb.
Ein nervöser Kartenoffizier übergab Pete Stojka die neuen Daten. Stojka kehrte in die Funkstation zurück, schaltete das Gerät ein und sendete den ersten der zwei täglichen Eisberichte: »... Geschätzte Südgrenze treibender Eisberge bei 46° 10' N, 51° 05' W.« Der Funkspruch wurde von zahlreichen Schiffen auf hoher See empfangen, die daraufhin Kursände rungen vornahmen und ihre Bestimmungshäfen in einem südwärts verlaufenden Bogen ansteuerten. Verspätungen wurden dadurch unvermeidlich. Die Temperaturen sanken so tief, daß im gesamten Nordosten die Flüsse zufroren. Auf dem Ohio brachte der Eisgang Verschiffungen von Kohle und Öl zu den Wärmekraftwerken zum Erliegen. Auf dem Susque hanna blockierte das Eis die Eintrittsöffnungen zu den Kühlwasserpumpen eines Atomkraftwerks, des sen Reaktor sich wegen mangelnder Kühlung auf heizte und aus Sicherheitsgründen abgeschaltet wer den mußte. Die Katarakte der Niagarafälle begannen von den Seiten her zu vereisen und führten immer mehr Treibeis, so daß die Turbinen des Wasserkraft werks stillgelegt werden mußten, um Beschädigun gen durch Eisbrocken vorzubeugen, die in die Druckwasserleitungen gelangten. Überall im Nordosten flackerten die Lampen und
wurden trübe. Die Stromabnehmer, verärgert und ängstlich, gingen durch ihre Häuser und Wohnungen und schalteten eine Lampe nach der anderen ein, um den Helligkeitsverlust zu kompensieren. Dann schlossen sie ihre elektrischen Heizkörper an, da die Zentralheizungen durch den Ausfall der elektrischen Pumpen erkalteten. So vervielfältigte sich der Strombedarf bei rasch absinkender Erzeugungskapazität. Rundfunk- und Fernsehsender schalteten auf ihre Notstromaggregate um und verbreiteten ermutigen de Durchsagen, Aufforderungen zum Stromsparen, Warnungen vor Panik, dringende Bitten, zu Hause zu bleiben. Es gab Ratschläge, wie man die Leistungskraft von Batterien erhielt, und wie man die Körperwärme konservierte: Eine einzige brennende Kerze in einem geschlossenen Raum könne genug Wärme liefern, um das Überleben zu sichern. Mehrere Schichten leichter Bekleidung lieferten besseren Wärmeschutz als ein schwerer Wintermantel. Vor allem wurde die Bevölkerung aufgefordert, Ruhe zu bewahren, unverantwortlichen Gerüchten keinen Glauben zu schenken und die Nachbarn zum Mithören dieser Sendungen einzuladen. Ferner sollte man sich warm und trocken halten und den Alkohol meiden. Tatsächlich übten die vertrauten Gesichter und
Stimmen der Ansager, da sie mit Autorität und Um sicht und Hilfsbereitschaft assoziiert wurden, eine be ruhigende Wirkung auf alle aus, die Zugang zu batte riebetriebenen Rundfunk- und Fernsehgeräten hat ten. Man glaubte ihnen, wenn sie sagten, es handle sich um einen ernsten, aber vorübergehenden Not stand. Endlich kam noch der Bürgermeister mit seiner Einschätzung der Situation, insbesondere im Hinblick auf die Angstkäufe in den Supermärkten. »Es besteht kein Anlaß zur Beunruhigung«, sagte er, offensichtlich bestrebt, Worte wie ›ernst‹ oder ›Krise‹ zu vermeiden, die Panik auslösen könnten. »Der Welt größter Mechanismus zur Erzeugung und Verteilung von Lebensmitteln ist nach wie vor funk tionsfähig. Vorübergehende Transportschwierigkei ten mögen vereinzelt für kurze Zeit zur Verknappung bestimmter Waren führen, aber der städtische Win terdienst ist mit allen Fahrzeugen im Einsatz, und die Belieferung mit Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs geht weiter. Die Nationalgarde wurde mobilisiert und hilft bei der Freihaltung von Verkehrswegen und der Verteilung von Lieferungen ...« Es wurde nicht erwähnt, wie die Nationalgardisten zu ihren Einsatzorten gelangen sollten, doch im gro ßen und ganzen waren die Menschen durch diese
ermutigenden Botschaften beruhigt, und die Angst käufe ließen einstweilen nach. OROVILLE-SEE, KALIFORNIEN: Der Oroville-See lag zweihundertvierzig Kilometer nordöstlich von San Francisco, das Herz der kalifor nischen Wasserversorgung. Sein Wasserspiegel war während der langen Trockenheit so weit abgesunken, daß die Schlammflächen an seinem Grund sichtbar wurden. Der See hatte eine Anzahl von Trinkwasserspei chern im Bereich des San-Joaquin-Tales gespeist, in deren Namen Erinnerungen an die abenteuerliche Vergangenheit des Staates lebendig wurden: Sly Creek, Lost Creek, Camp Far West, Little Grass Val ley. Alle waren drastisch entleert. Und nun bedrohte eine neue Gefahr die restlichen Vorräte. Mit dem Absinken des Wasserspiegels der Zuflüsse drückte die Bucht von San Francisco ihr Wasser in die Unterläufe. Spaziergänger an den Ufern konnten die seltsame Strömungsumkehr beo bachten und verfolgen, wie die salzigen, ölig ver schmutzten Brackwasser der Häfen sich in den Fluß betten des Sacramento des Feather und des Yuba stauten. Das betroffene Gebiet, bekannt durch ausgedehn ten Obst- und Gemüseanbau, konnte nicht mehr be
wässert, die mit Flußwasser gespeisten Versorgungs leitungen mußten stillgelegt werden. Die Wälder und Nationalparks waren trocken wie Zunder. Vielerorts brachen, meist ausgelöst durch Unachtsamkeit, doch auch durch Selbstentzündung, Waldbrände aus, die wegen Wassermangels nicht wirksam bekämpft werden konnten und sich rasch ausbreiteten. Nicht lange, und ausgedehnte Flächen brände wüteten vom Trinity Forest im Norden über die Shasta- und Lassen-Nationalparks bis zum Plu mas und Eldorado und weiter südwärts hinein nach Niederkalifornien. Buschbrände suchten, wie so oft in der Vergangenheit, auch die trockenen Hügel- und Bergländer der Küstenkette heim und legten unge zählte Privathäuser in Schutt und Asche. Die Luft über dem Becken von Los Angeles war ge sättigt mit Rauch und Staub, und die Bewohner der Stadt keuchten und husteten und suchten Linderung an Wasserhähnen, die mehr Luft als Wasser spuckten. Man beobachtete ein neues Phänomen. Die Ver triebenen aus dem Norden, die Farmer und Vieh züchter, kamen mit ihren Lastwagen in die Stadt, wo sie Arbeitsplätze, Lebensmittel und Wasser suchten. Gerade davon aber gab es herzlich wenig, und die Straßen, Plätze und Strände waren bevölkert von Landleuten, die nicht weiter wußten. Sie waren das Flüchtlingsdasein nicht gewohnt.
Mrs. Bjork kaufte neue Straßenkarten, überschlug den voraussichtlichen Benzinverbrauch und betrach tete nachdenklich das aus dem aufgedrehten Wasser hahn tröpfelnde Rinnsal. »Wie sind deine Pioniere damit fertig geworden?« fragte sie ihre Tochter. »Die zogen einfach weiter, bis sie fanden, wonach sie suchten.« Mrs. Bjork studierte die Karte. San Diego war hun dertneunzig Kilometer weiter südlich, und von dort war es nicht weit zur Grenze. Sie fragte sich, wie es in Mexiko sein mochte. Pete Stojka nahm den Funkspruch auf und notierte die neuen Daten. »Gegenwärtige Südgrenze des Vor kommens von Eisbergen auf 33° 10' N, 61° 19' W ...« Das war praktisch auf gleicher Breite mit seiner Hei matstadt Savannah in Georgia. Er ging in den Karten raum und wandte sich an den Offizier, hoffte auf ein ermutigendes Wort. »So schlimm war es noch nie ...« Der Offizier biß sich auf die Unterlippe. »Nein, das hat es noch nicht gegeben.« »Was geht vor, Sir?« »Ich ... das weiß ich auch nicht. Befolgen Sie einfach die Befehle, die Sie bekommen.« Pete Stojka ließ seinen Sender auf Empfang ge
schaltet und wartete. Nie hatte er sehnlicher auf eine Erklärung gehofft. MITTLERER ATLANTIK, 33° 10' N, 61° 19' W: »Mein Gott!« Kapitän Dlugatch ließ das Glas sinken und fuhr sich mit dem Zeigefinger in den Kragen. Keine zehn Minuten waren vergangen, seit der Erste Offizier ihm die Radarpeilung eines nicht näher bestimmbaren Objekts durchgegeben hatte, und nun konnte er von der Brücke aus die unregelmäßig geformte Spitze von etwas am Horizont ausmachen, was ein massiver Eisberg sein mußte. Und er lag genau auf Kollisions kurs. Er wandte sich um und hielt nach den anderen Schiffen des Geleitzuges Ausschau, die zu Dreierrei hen achteraus lagen. Sie hatten bereits ein vorsichti ges Ausweichmanöver in einen neuen südlicheren Umgehungskurs gemacht, das für die in Formationsfahrt ungeübten Handelsschiffskapitäne nicht einfach gewesen war. Dieses versprach bei weitem heikler zu werden. Die Reedereien waren in letzter Zeit dazu überge gangen, ihre Frachter auf der Nordatlantikroute in Geleitzügen fahren zu lassen, wie sie es im Zweiten Weltkrieg getan hatten, doch barg die Geleitzugfahrt ihre eigenen Gefahren.
Statt die Kapitäne der nachfolgenden Schiffe an zuweisen, daß sie die notwendige Kursänderung gleichzeitig vornehmen sollten, dachte Dlugatch in diesen Augenblicken nur an sein eigenes Schiff. Er gab Alarm und befahl eine Kursänderung um 90°. Da der Geleitzug mit sechzehn Knoten lief, brauchte das Schiff eine weite Strecke zur Ausführung des Manö vers. Es war keine Zeit zu verlieren, und er sagte sich, daß die anderen dieselben Daten hätten und seiner Kursänderung von selbst folgen würden. Sie taten es mit Verzögerung, und ihre Wendekrei se waren noch weiter. Dlugatch schnitt den Kurs des auf backbord folgenden Schiffes, das zu spät über Funk verständigt, Dlugatchs Frachter rammte. Der Bug durchbrach die Bordwand und spaltete das Ach terdeck bis über die Mitte, wobei er selbst aufgerissen wurde. Beide Havaristen blieben schwer beschädigt liegen und sanken rasch. Den nachfolgenden Schiffen des Geleitzuges gelang es mit knapper Not, einer weiteren Kollision zu entgehen, und ein Dampfer stoppte und ließ Boote zu Wasser, um die Schiffbrü chigen aufzunehmen. Diese waren, da die Zeit nicht gereicht hatte, um Rettungsboote abzufieren, von den sinkenden Schiffen ins eiskalte Wasser gesprungen. Die meisten von ihnen starben an Unterkühlung, be vor die Retter zur Stelle waren.
Die alte Redensart lautete: ›Zwischen Ohio und dem Nordpol ist nichts als ein Weidezaun.‹ Und in der Tat gab es in ganz Amerika keine west-östlich verlaufen de Gebirgskette, die das Land hätte vor den arkti schen Winden schützen können, welche nun über das offene, ebene Land fegten und es mit Schneemassen zudeckten. Fahrzeuge wurden begraben, Züge blie ben stecken, Scheunen und Farmhäuser wurden von der anwachsenden Schneelast erdrückt. Schneepflü ge, Räumfahrzeuge und Bergungskolonnen steckten selbst fest. Überlandleitungen und Telefondrähte bra chen unter dem Gewicht ihrer Eislasten. Viele Nutzpflanzen, die bereits getrieben hatten, wurden von der erneuerten Frostlage abgetötet. Wei zen, Tee, Roggen, Mais, Gerste, Reis, Hirse, Rohrzuk ker, Rübenzucker, Sojabohnen, Baumwolle, Hanf und viele andere Arten, deren Gedeihen von dem kompli zierten Gleichgewicht zwischen Erdboden, Wasser und Luft abhängig war, gingen zugrunde, als das Gleichgewicht gestört wurde. Andere Feldfrüchte wie die bereits ausgebrachten Saatkartoffeln waren hin reichend isoliert, aber Neuschnee und hartgefrorener Boden hinderten sie am Keimen. Der Lebensraum der Fische in Bächen und Teichen, bald auch in Flüssen und seichteren Seen, wurde vom anwachsenden Eis mehr und mehr eingeengt, bis sie schließlich starben.
Vogelschwärme durchzogen auf Futtersuche das verschneite Land, bis sie an Erschöpfung zugrundegingen. Nicht selten kam es vor, daß Vögel, die durch Fenster und Türen nach außen dringende Wärme spür ten und die Bewohner erschreckten, indem sie verzwei felt an den Scheiben flatterten. Öffneten die Leute spä ter vorsichtig die Türen, um hinauszuschauen, fanden sie tote und erfrorene Vögel. Wer nicht wählerisch war, konnte seinen Lebensmittelvorrat ein wenig strecken. In manchen Gegenden hatte man das Vieh schon auf die Sommerweiden getrieben, als die Schneefälle einsetzten. In den meisten Fällen scharrte es das Gras frei, so lange es die Schneehöhe zuließ, und ignorierte die Heuabwürfe mutiger Piloten. Als die Schneefälle nicht aufhörten, kehrten die Tiere ihre Hinterteile dem Wind zu und warteten geduldig auf Wetterbes serung. Fell- und Fettschicht schützten sie für einige Zeit vor Unterkühlung, aber ungepolsterte Teile wie die Gelenke waren verwundbar. Bald zeigten sich dort Versteifungen und Erfrierungen, und die Tiere konnten sich nur noch unter Schmerzen bewegen. Sie wagten sich nicht in den Schnee niederzulegen, noch wollten sie ihn auflecken, um ihren Durst zu stillen. An ihren rinnenden Nüstern gefroren blutige Eiszap fen und so standen sie Stunde um Stunde und ertru gen aneinander gedrängt stumm ihren Schmerz und ihren Durst, bis sie in die Knie brachen und starben.
Schweine sind die intelligentesten Tiere des Bau ernhofs. Sie drängten sich zusammen, so nahe sie konnten, um ihre Körperwärme zu nutzen, ja, sie leg ten sich zu diesem Zweck sogar übereinander. So ge lang es ihnen, den Tod mehrere Tage hinauszuzö gern. Als der Schnee so hoch lag, daß sie den Boden nicht mehr durch Scharren mit den Hufen freilegen konn ten, versuchten die Pferde über den Schnee zu sprin gen, sanken jedoch immer wieder bis zum Bauch ein. Ohne Einsicht in die Nutzlosigkeit ihres Bemühens, sprangen sie immer wieder, um über dem Schnee zu bleiben, bis sie ermüdeten. Zu erschöpft, um weiter durch den Schnee zu springen, traten sie unruhig auf der Stelle, wobei die schmalen Hufe eine sich nach unten verjüngende Grube unter dem Pferdeleib in den Schnee stießen, in der ihre Beine durch ständiges Abrutschen immer enger zusammengeführt wurden, bis die Rücken bogenförmig gekrümmt waren und sie das Gleichgewicht nicht mehr halten konnten. In dieser gekrümmten Haltung fielen sie seitwärts in die Anwehungen und erfroren. Die Stimme war unüberhörbar munter, geradezu fröhlich. »Sie kommen hier in Miami großartig herein, vier-acht-Empfang, was in Anbetracht der Umstände ausgezeichnet ist. Das Wetter ist kühl, aber durchaus
nicht kalt. Die Paradiesvögel gehen nicht im Bikini, was jammerschade ist, aber sonst fehlt es an nichts. Wir sitzen die Sache hier im besten Stil ab.« Mark blickte aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. »Unglaublich, Pat, unglaublich. Ich nehme an, Sie wissen, wie es hier oben aussieht.« »Ja, und für uns ist es genauso unglaublich. Man kann es sich kaum vorstellen. Ich weiß nicht, wie es um den angeblichen Zusammenbruch der Kommu nikationsnetze bestellt ist, aber es muß immer noch genug Leute geben, die die Neuigkeiten erfahren. Sie strömen nur so hier herein, mit Wagen, Motorrädern, Fahrrädern, Rollschuhen und Rikschas, was man sich nur denken kann. Zu dumm, daß ich nicht im Hotel fach bin. Das sind diejenigen, die sich jetzt eine gol dene Nase verdienen, und wenn es so weitergeht, werden sie die Leute bald zu dritt übereinander in den Foyers stapeln.« »Kein Wunder. Wer die Möglichkeit dazu hat, der sucht jetzt das Weite, denn inzwischen spürt jeder, daß es nicht so rasch besser werden wird. Sorgen Sie sich nicht um die Hotelbesitzer; die werden bald zu viel des Guten haben.« Professor Patrick Keegan ließ sich mit seiner Ant wort eine kleine Weile Zeit, und seine unbekümmerte Munterkeit machte freundschaftlicher Sorge Platz. »Hören Sie zu, Mark, wenn Sie es schaffen können,
aus New York herauszukommen, dann sind Sie hier unten willkommen. Wir werden Sie und Ihre Familie schon unterbringen. Das Haus hat einen rückwärti gen Anbau, den wir freimachen können, und die Universität kann mit Sicherheit einen Mann gebrau chen, der intelligent genug war, dies alles kommen zu sehen.« »Sie bringen mich in Versuchung, Pat, aber ich fürchte, ich kann von diesem Anerbieten nicht Ge brauch machen.« »Warum nicht, zum Teufel? Sie haben dort oben schon den Frühling verpaßt, hier ist es schön.« »Der Sommer ist es, der mir Sorgen macht.« »Der 21. Juni wird nicht auf sich warten lassen, sei en Sie unbesorgt.« »Vergeben Sie mir, daß ich Ihnen widerspreche, Pat. Wir haben keinen Frühling bekommen, und Sie werden keinen Sommer kriegen.« »So? Trotzdem werden Sie es hier unten besser ha ben.« »Nicht viel. Wenn der Sommer ausbleibt, was wol len Sie in Florida anbauen?« Es trat eine kleine Pause ein, ehe Keegan antworte te. »Nun ja, sehen Sie, es ist nicht mein Fach, aber wir haben hier eine Landwirtschaftliche Fakultät mit ei nigen klugen Köpfen, geben Sie denen etwas Zeit,
und sie werden Getreidesorten entwickeln, die kei nen warmen Sommer benötigen. Und bei Ihnen muß es winterhartes Saatgut geben, mit dem man hier an fangen kann. Winterweizen, oder wie man es nennt.« »Das ist auch nicht mein Fach, aber ich denke mir, daß es ziemlich schwierig sein wird. Selbst wenn sich solches Saatgut auftreiben ließe, würde die Trans portfrage ein fast unlösbares Problem darstellen. Üb rigens glaube ich sowieso nicht, daß es klappen wür de. Miami ist der letzte Festlandzipfel, und was dort auf der Flucht vor Schnee und Kälte zusammen strömt, wird sich gegenseitig auf die Füße treten. Vielleicht können die Leute mit Schiffen weiter, viel leicht nicht, aber solange keine Nahrung aus dem Bo den kommt, sieht es wie eine hoffnungslose Situation aus. Lassen Sie mich einen Gegenvorschlag machen. Kommen Sie mit uns. Unsere Denkfabrik kann einen Ozeanographen gut gebrauchen.« »Ich glaube, Ihre Denkfabrik hat einen kleinen Webfehler, Haney. Wir bieten Ihnen ein schönes Le ben und Komfort, und Sie bieten uns eine Schiffskarte für eine Tramp-Titanic ohne Rückfahrt.« »Na schön, Pat, vielleicht haben Sie recht«, sagte Mark nach kurzem Zögern. »Grüßen Sie die Para diesvögel von Miami von mir und lassen Sie uns in Verbindung bleiben.« »In Ordnung, Mark.«
Mark meldete sich ab, schaltete aus und wandte sich zu Karen. »Unglaublich«, sagte er. Am anderen Ende wandte sich Professor Keegan seiner Frau zu. »Unglaublich«, sagte er. Die Pudelhündin war immer verwöhnt worden. Ihr Leben lang hatte sie zu festen Zeiten maulgerecht ge schnittene Stücke vom besten Fleisch bekommen. Ihr Bett war ein verzierter Korb mit seidenbezogenen Kissen. Die Fellpflege wurde in den besten Pudelsa lons ausgeführt, wo man ihr auch die Krallen schnitt und lackierte. Sie wurde regelmäßig ausgeführt, ent weder von Bediensteten oder von berufsmäßigen Hundeausführern, und ihre Leine war an einem mit Halbedelsteinen besetzten Halsband befestigt. Die Halbedelsteine waren ihr natürlich weniger wichtig als die Mahlzeiten, doch nun war alles das aus Gründen, die sie nicht verstehen konnte, ver schwunden. Statt dessen war sie allein auf der Straße, inmitten von Schneewehen, und der Hunger wühlte in ihren Eingeweiden. Schlimmer war die Kälte. Wo ihr Fell kurzgeschoren war, fühlte sie jede Schneeflocke. Hunger, Kälte und Verlassenheit waren neue und erschreckende Erfahrungen. Sie bellte dreimal, in der Vergangenheit das Signal, auf das Herrchen oder Diener mit Leckerbissen, Liebkosungen und beruhi
genden Worten herbeigeeilt kamen. Diesmal aber kam niemand. Es gab nichts mehr, kein Heim, keine Wärme, kein Bett, keine Nahrung. Alles das schien sich in Weiße und Kälte aufgelöst zu haben. Ein trüber Überlebensinstinkt regte sich in ihr, ein armseliger Rest des Wolfes, der angeblich völlig her ausgezüchtet war. Sie scharrte im Schnee, wie ihre weniger verweichlichten Vorfahren es getan hatten, und suchte nach irgendeiner Art Nahrung darunter, aber die beschnittenen Krallen waren kurz und ver mochten nichts, und die Ballen ihrer Pfoten waren empfindlich. Noch hatte sie die geringste Vorstellung davon, wonach sie suchen und was sie jagen sollte. Ihr Herz pochte jetzt heftig, und sie blickte ängst lich winselnd umher. Da sie nicht wußte, was sie tun sollte, blieb sie zitternd auf den Keulen sitzen und winselte und bellte. Sicherlich würden sie bald kom men. Sie mußten kommen. Wieder bellte sie, und wieder wartete sie, während die Schneeflocken anfingen ihre Pfoten zu bedecken. Die Großen Seen und der St.-Lorenz-Strom stellten einen der meistbefahrenen Schiffahrtswege der Welt dar. Neben Kanada waren ein gutes Dutzend ameri kanischer Bundesstaaten von diesem Schiffsverkehr abhängig. Nun begannen die Seen zuzufrieren und
drohten die Transporte von Eisenerz, Kohle, Kalk, Gips und anderen Massengütern zum Erliegen zu bringen, insgesamt ein Viertel des US-amerikanischen Frachtaufkommens. Pete Stojka erhielt per Fernschreiben neue Anwei sungen, die über Funk hinausgehen sollten. Jeder einsatzfähige Eisbrecher der Küstenwache hatte un verzüglich Kurs auf die Cabot-Straße und den St. Lorenz-Golf zu nehmen. Dort sollten die Schiffe nach einem in Ausarbeitung befindlichen Einsatzplan auf den St.-Lorenz-Strom und die Großen Seen verteilt werden, um die Fahrrinnen offen zu halten. Die drahtlose Kommunikation gestaltete sich zuneh mend schwierig, aber trotz der atmosphärischen Stö rungen und der fremden Stimmen, die immer wieder in die Frequenz eindrangen, hörte Kapitänleutnant Manujian die Funksprüche der Einsatzleitung an die Eisbrecherflotte der Küstenwacht. Sein Schiff, die Bri arwood, wurde darin nicht erwähnt, und das war nur folgerichtig. Seit die transatlantischen Routen fast täglich von unvergleichlich viel größeren Markierun gen verlagert wurden, gab es wenig Bedarf für einen Tonnenleger. Angesichts der ernsten und sich ständig verän dernden Notsituation sollten alle anderen Schiffe der Küstenwache nach dem Ermessen der kommandie
renden Offiziere für Such- und Bergungsaktionen eingesetzt werden. »Nach meinem Ermessen ...« Er holte tief Luft, unterzeichnete den Befehl und ließ ihn mit seinem neuen Kurs ins Logbuch eintra gen. Niemand stellte Fragen. Die Leute sahen, daß er eine Menge zu bedenken hatte, was nicht überra schend war. Der Hund hatte tagelang im leeren Haus gewartet. Manchmal heulte er, manchmal benagte und kaute er aus Hunger und Einsamkeit und um den Herrn dafür zu bestrafen, daß er ihn verlassen hatte, den Teppich und die Möbelstücke. Er war groß, mit einer Schul terhöhe von über sechzig Zentimetern, kräftig gebaut, mit dickem graubraunem und weißem Fell. Der Wolf in ihm war auf den ersten Blick zu erkennen. Er trug den Kopf hoch, und sein leicht gewölbter Schädel ließ auf ein entwickeltes Gehirn darunter schließen, eine ungewöhnliche Klugheit, die dem Hund jetzt sagte, daß sein Herr niemals zurückkom men würde. Durch den unteren Türspalt witterte er den fremden Geruch. Dieser rief eine Erinnerung in ihm wach, die er nicht sogleich einordnen konnte, aber er brachte sie mit etwas sehr Angenehmem in Verbindung. Auf der Suche nach einem Ausweg lief er nachein
ander zu allen Türen und Fenstern, doch widerstan den die Mechanismen seinen Bemühungen. Zuletzt lief er in den Keller hinunter, dessen Kippfenster durch eine Federverriegelung mit anhängender Zugkette gesichert war. Er hatte diesen Weg im Sommer gelegentlich ge nommen, wenn er in den Garten hinauswollte, doch war das Kippfenster in der warmen Jahreszeit immer offen gewesen. Jetzt war es geschlossen. Zuerst sprang er blindlings hoch, dann nahm er die Zugkette zwischen die Zähne und zerrte daran. Nach langen Minuten mühsamer Manipulation, frustrierten Beißens und Zerrens, traf er plötzlich die richtige Kombination von Kraft und Ansatzwinkel, und das Fenster klappte nach innen und überschütte te ihn mit einem Schneeschauer. Zuerst war er vom stäubenden Weiß und der ein dringenden Kälte benommen, aber er faßte sich rasch. Schnee war ihm nicht unbekannt; er wußte, daß er seinen Durst damit stillen konnte, und leckte ihn gie rig. Dann sprang er zum Fenster hoch, bis es ihm ge lang, mit den Vorderpfoten Halt zu finden und sich hinaufzuziehen. Sofort begann er sich mit seinen kräftigen dicken Pfoten durch den tiefen Schnee hin auszugraben, bis er in kalte, prickelnde Luft und hel les Tageslicht durchbrach.
Er kläffte vor Vergnügen, wälzte sich und purzelte im weichen Schnee herum, zappelte mit den Beinen in der Luft und wand sein Rückgrat hin und her, als gelte es, die Jahre seines zivilisierten Lebens abzu schütteln. Solches Verhalten hätte ihm einen Tadel oder vielleicht sogar einen Schlag von seinem Herrn eingetragen, aber jetzt gab es keinen, der ihm Befehle gab. Sein Bellen wurde lauter und nahm einen heraus fordernden Klang an. Sein Pelz hatte eine dichte, weiche Unterwolle und darüber ein langes, derbes Haarkleid. Dieser Pelz hat te ihn in den heißen New Yorker Sommern oft ge plagt und unerträglich gejuckt, doch nun schien er gerade recht. Der Schnee war für ihn wie weiche, kühlende Eiderdaunen. Hier, das spürte er, war seine Heimat. Der Herr, die anerzogenen Verhaltensweisen, das zivilisierte Leben im Haus, alles das verlor rasch an Wirklichkeit, als er durch den Schnee trabte. Hin und wieder warf er den Kopf hoch und schnappte nach den fallenden Flocken. Seine feine Witterung nahm die Gerüche von Ab fallhaufen und überfüllten Mülltonnen auf, und er wühlte sich durch die Schneeverwehungen und stillte seinen Hunger an den von der Kälte konservierten Resten. Dann wandte er sich furchtlos nach Norden,
wo die Heimat seiner Art lag. Sein Instinkt wußte es. Seine dunklen Mandelaugen blitzten in dieser weißen Welt vor Lebenslust, hellwach und in Erwartung neuer Herausforderungen, neuer Abenteuer, frei von ledernen Leinen und lästigem Zwang. Das Splittern der zerberstenden Scheibe zerriß als er stes die Stille, gefolgt von einem Chor begeisterter Schreie. Schnee ergoß sich in den Supermarkt, gefolgt von den Eindringlingen. Sie stießen und drängten einan der stolpernd und gleitend die weiße Böschung hinab ins Innere, und dort, zwischen den Regalen, gerieten sie außer Rand und Band und gaben sich Wünschen hin, die von Schlössern, Polizei, Angst vor Strafe und der einfachen Gewöhnung an Armut und beschränk te Lebensverhältnisse lange unterdrückt worden wa ren. Jetzt war ihre Stunde gekommen, jetzt hatten sie ihre Chance, jetzt, da der Rest der Stadt so hungrig war, wie sie es immer gewesen waren, wo Polizei und Miliz gelähmt und die Erfüllung ihrer Wünsche in greifbarer Nähe waren. Sie rafften Berge von Lebensmitteln an sich, die vertrauten ebenso wie die exotischen, den Kaviar und die Gänseleberpastete, die sie nie gekostet hatten (und bald ausspucken würden, verwundert, was die reichen Leute daran mochten), das Fleisch, das sie so
dringend benötigten und das sich in der Kälte frisch gehalten hatte, und selbstverständlich die Spirituo sen. Dann entdeckte jemand Holzkohle und Feueran zünder. Bald prasselte ein Freudenfeuer in dem freien Raum vor den Kassenschaltern. Sie versammelten sich darum, betranken sich, griffen den Frauen unter die Röcke. Es gab ein paar eifersüchtige Zusammen stöße, aber von allem war genug für alle da. Nebenan war ein Elektrogeschäft, und natürlich brachen sie als nächstes dort ein und schleppten wie der alles fort, was sie nie gehabt hatten, was immer außer Reichweite hinter der Schaufensterscheibe ge wesen war. Sie dachten nicht daran, daß es keinen Strom gab, um Fernseher und Stereoanlagen in Betrieb zu setzen. Vielleicht war es ihnen auch gleich. Schlauere Plün derer schleppten batteriebetriebene Funksprechgeräte und Kurzwellensender fort. Sie brauchten nicht zu befürchten, daß die Polizei käme und sie bestrafte. Mit etwas Glück würde es damit ein für allemal zu Ende sein. In den Krankenhäusern drängten sich die Patienten, schwankten und stolperten durch die Gänge, wurden von Leidensgenossen geschleift und getragen, und fanden gelegentlich wie durch ein Wunder Gehör bei
Pflegern und Ärzten, die selbst am Zusammenbre chen waren. Erfrierungen waren verständlicherweise die am meisten verbreiteten Leiden, doch waren die meisten längst über die Frostbeulen und Abschälungen des ersten und zweiten Grades hinaus und hatten ge schwollene Hände und Füße voller Flüssigkeit, die das zerstörte Gewebe durchsetzte. Die Patienten brauchten Antibiotika und Tetanusspritzen gegen In fektionen, blutverdünnende Mittel zur Verhütung von Gerinnseln und chirurgische Behandlung zur Entfernung abgestorbenen Gewebes oder auch gan zer Gliedmaßen, bevor die Gangräne sich ausbreiten konnte. Auch gab es Herzinfarkte aus Überanstrengung im Kampf gegen den Schnee; Fälle von Hypothermie, in denen alle Körpertemperatur unter den Normalwert abgesunken war und alle Körperfunktionen verlang samte; Knochenbrüche von Stürzen, zuweilen kom pliziert durch Erfrierungen, wenn die Opfer längere Zeit im Schnee bewegungsunfähig gelegen hatten; Lungenentzündungen und Infektionen durch Unter kühlung; und schließlich Verbrennungen von den immer wieder ausbrechenden Feuern. Aber es mangelte an Medikamenten, da keine Lie ferungen mehr hereinkamen, und die Flotte der Krankenwagen stand eingeschneit auf Höfen und vor
Unfallstationen. Das überlastete Personal ermüdete in endlosen Stunden, das Sehvermögen trübte sich, die Sinne stumpften ab, die Gedankenprozesse verwirr ten sich. Bei allem Unglück gab es auch einen segensreichen Aspekt. Trotz des Zusammenbruchs der Stromver sorgung, der Müllabfuhr und des Gesundheitswesens gab es keine der Epidemien, welche eine Großstadt wie New York bei gemäßigten Temperaturen heim gesucht haben würden. Ruhr, Cholera, Typhus, Diph therie und dergleichen kamen nicht zum Ausbruch. Die Kälte hielt Wasser, Lebensmittel und selbst Ab wässer und Müll steril. Viele Menschen kamen durch Erfrieren und Unfälle ums Leben, aber die Gesell schaft war frei von Krankheiten; denn sie hatte das gesündeste Klima der Welt. Der Mann hatte seine Lektion vom letzten Blizzard gelernt. So wußte er zum Beispiel jetzt, daß man das Fenster einen Spalt offenließ, um verbrauchte Luft abziehen zu lassen, vor allem aber das giftige Koh lenmonoxid, das sich im Wageninneren ansammelte. Er wußte auch, daß man den Motor nur gelegentlich laufen lassen sollte, um Benzin zu sparen. Vor allem aber hatte er ein Funksprechgerät einge baut, ein großartiges Instrument, nicht nur, um die Langeweile zu vertreiben, während er wartete, son
dern obendrein geeignet, andere von seiner Notlage zu verständigen und Hilfe herbeizurufen. Wie sich denken ließ, waren alle Kanäle von Hilfe rufen und der verwirrenden Hektik der Katastrophe blockiert; dennoch war es ihm gelungen, Verbindung herzustellen. Jemand hatte geantwortet, sich nach seinem Standort erkundigt und ihm versichert, daß sie bald kommen und Hilfe bringen würden. Endlich machte er sie aus, eine Gruppe von Ju gendlichen, die sich durch den tiefen Schnee heran kämpfte. Sie waren nicht ganz das, was er erwartet hatte, doch dachte er sich, daß es sich um freiwillige Helfer handeln müsse. Als sie jedoch näherkamen, verspürte er ein Unbehagen, sie wirkten wild und verwahrlost, als bedürften sie selbst der Hilfe. Er kurbelte das Fenster herunter, um sie zu begrü ßen, dann sah er die Pistolen. »Los, Alter, raus!« Er schrak zurück. »Ich warne euch, die Polizei kommt. Ich habe einen Notruf geschickt.« »Ja«, sagte der Jugendliche und hielt ein tragbares Funksprechgerät hoch. »Und wir haben ihn beant wortet.« Die nächsten Augenblicke waren wie aus einem Alptraum. Sie rissen die Tür auf, zerrten ihn heraus und schlugen mit Fäusten und Pistolengriffen auf
den sich schwächlich zur Wehr setzenden Mann ein, bis er besinnungslos im Schnee lag. Als er aufwachte, hatte er starke Kopfschmerzen. Er führte die Hand an die schmerzende Stelle, und fühlte, daß sie warm und klebrig war. Er starrte auf seine Finger. Sie waren blutig. Sein Mantel war weg, und mit ihm Brieftasche und Uhr. Die Rowdys hatten alles aus dem Wagen gerissen, was von irgendwel chem Wert war, darunter auch das Funksprechgerät. Der Mann spürte, wie das Blut an seinen Fingern kalt wurde. Und dann sah er es kristallisieren. Er versuch te hochzukommen, um sich zum Wagen zu schlep pen, und bemerkte, daß sie ihm die warmen Stiefel ausgezogen hatten. Seine Füße waren ohne Gefühl. Kaum hatte er sich aufgerichtet, als der Kopfschmerz so unerträglich wurde, daß ihn Schwindel und Übel keit befielen. Er ließ sich zurücksinken und wußte, daß er sterben würde. Nässe durchdrang seine Kleidung und entzog sei nem Körper Wärme. Ihn fröstelte. Es war der Versuch des Körpers, sich durch Bewegung warm zu halten. Es bildete sich eine sogenannte Gänsehaut, zum Teil eine verkümmerte Reaktion aus jener fernen Ur zeit, als der Mensch ein Pelzträger gewesen war und diese Reaktion zur besseren Isolierung sein Fell ge sträubt hätte. Da sie dies nicht vermochte, verringerte die Reaktion wenigstens durch Zusammenziehen die
Hautoberfläche, um den Verlust an Körperwärme durch Abstrahlung zu verringern. Mit dem weiteren Vordringen der Kälte mußten die Mechanismen des Körpers sich darauf beschrän ken, die Wärme in den lebenswichtigen zentralen Or ganen zu erhalten, was mit einer verringerten Durch blutung der Extremitäten erkauft werden mußte. Nach den Füßen wurden nun auch die Finger ge fühllos, was der Mann mit Dankbarkeit empfand, da es mit einem Nachlassen der Schmerzen verbunden zu sein schien. Tatsächlich zerstörte der Frost nun ei ne Hautschicht um die andere. Eine leichte Berüh rung genügte, und die Haut löste sich in kleinen Fet zen und fiel ab. Die Körperflüssigkeiten, von feinab gestimmten Mechanismen im Gleichgewicht gehal ten, sammelten sich nun im erfrorenen Gewebe, und seine Hände und Füße schwollen an. Die jugendlichen Räuber hatten dem Mann auf die Nase geschlagen, die geschwollen und mit geronne nem Blut verstopft war, so daß er durch den Mund atmen mußte. Durch diesen drang nun die Kälte in seinen Körper ein. Er hatte einige Metallfüllungen, die sich zusammenzogen und herausfielen, und die empfindlichen Zahnhöhlungen begannen unter der kalten Luft unerträglich zu schmerzen. Bald jedoch zeigte sein Körper sich barmherzig. In dem Maße, wie das Blut abkühlte und sich verdickte,
verlangsamte sich die Zirkulation zum Gehirn. Die Folge war eine angenehme Verträumtheit. Er halluzi nierte sogar und dachte, er sehe sein Kind neben sich, das ihn bat aufzustehen, weil er versprochen habe, mit ihm ins Museum zu gehen und die Dinosaurier anzusehen. Dann standen sie vor den riesigen Skeletten, und der Mann fand, daß es verdammt heiß war. Konnten die Leute ihre Heizkörper nicht regulieren? Der Junge weinte aus einem mysteriösen Grund, weil die Dinosaurier gestorben waren, als wäre es ihm lieber, wenn sie am Leben geblieben wären. Der Mann dachte, sein Sohn habe sich beruhigt, doch dann fragte der Junge unerwartet: »Papa, müssen wir aussterben?« Das war eine Frage, die es in sich hatte, und eine Weile wußte der Mann nicht, was er darauf sagen sollte. Sollte man einem Kind mit Geschichten über das mögliche Aussterben der Menschheit Angst ma chen, oder sollte man dem Thema lieber ausweichen? Schwierig konnte es so oder so werden. »Niemand muß aussterben«, sagte der Mann schließlich. »Jedenfalls nicht wie die.« Dann verblaßte die Vision, und ein sanfter schwar zer Ozean schien den Mann emporzutragen. Er ent spannte sich und überließ sich der angenehmen Emp findung.
Das Herz tat ein paar letzte, mühsame Schläge, um das verdickte Blut weiterzupumpen, dann blieb es stehen. Bald deckte ihn der Schnee zu. »Wir bringen die Nachrichten ...« Er war übermüdet und hohlwangig und schien in den letzten Tagen um Jahre gealtert. Sein Anzug war zerknautscht, sein Gesicht schlecht rasiert, und alles zusammen verlieh ihm ein schockierend landstrei cherhaftes Aussehen. Die Ermutigungen, die bisher immer Gewicht gehabt hatten, schienen jetzt hohl und so schwach wie das Fernsehbild selbst. Damit die Nation nicht glaube, sie allein sei betrof fen, brachten die Nachrichten Meldungen von ande ren Krisenherden. Der alte Grenzstreit zwischen Indi en und China, wiederbelebt durch die in Massen über die Grenze schwärmenden indischen Flüchtlinge, entwickelte sich rasch zu einem regelrechten Krieg. Der Kommentator bemerkte trocken, daß die Wei chen für diese Entwicklung schon vor Jahren gestellt worden seien, als beide Staaten ihre Mittel zur Förde rung der Landwirtschaft gekürzt und dem Rüstungs programm einschließlich der Herstellung von Atom waffen Priorität eingeräumt hätten. Es gab noch andere Krisenherde, alte Gegensätze, die vom Klimaumschwung neu angefacht wurden.
Israel wurde beschuldigt, einen Überfall auf Saudia rabien vorzubereiten, um sich in den Besitz von Öl feldern zu bringen, nachdem der Iran seine Liefer sperre verhängt hatte. Landhungrige Schwarze dran gen in das weiße Südafrika ein und wurden mit Waf fengewalt verjagt. In den Grenzgebieten entwickelte sich ein Buschkrieg. Russische Flüchtlinge strömten durch den Balkan und wurden an den jugoslawi schen und griechischen Grenzen aufgehalten. Trup pen aller beteiligten Länder wurden in die Krisenge biete entsandt. Und so weiter. Während er sprach, begann sich das Stahlgitter werk des Sendemastes unter dem enormen Gewicht der Vereisung zu biegen. Die Wiedergabe des Man nes auf dem Bildschirm wurde zunehmend grauer und bleicher. Tanzende Interferenzpunkte schienen sich zusammenzuballen und größer zu werden. Gleichzeitig wurde das Hintergrundgeräusch merk lich lauter, und die Zuschauer überall im Land sahen den Kommentator allmählich hinter einem Schneesturm besonderer Art verschwinden. Die Vereinigten Staaten, so fuhr seine Stimme fort, hätten Verhandlungen mit Mexiko und anderen la teinamerikanischen Ländern eingeleitet, bei denen es um die Aufnahme einer begrenzten Zahl von Ein wanderern aus den nördlichen Bundesstaaten gehe. Ernste Schwierigkeiten seien von unseren freundli
chen Nachbarn nicht zu erwarten. Weitere Informa tionen würden folgen. Dann knickte der Sendemast unter der Last des Ei ses um, und nach dem Bild erlosch nun auch die Stimme. Auf einmal wußten die von der Außenwelt abge schnittenen Leute nicht mehr, was außerhalb ihrer vier Wände geschah. Die Familien saßen in ihren Häusern beisammen, um Wärme zu suchen und ein ander Mut zu machen, während sie ihre Vorräte da hinschwinden sahen. Bald sollten selbst die Kontakte zu unmittelbaren Nachbarn in beiderseitigem Miß trauen enden. In manchen Häusern gab es jedoch noch immer Verbindungen zum zwanzigsten Jahrhundert. Funk amateure mit beweglichen und batteriebetriebenen Anlagen konnten nach wie vor mit der Außenwelt kommunizieren, konnten sogar ihr eigenes Kommu nikationsnetz schaffen. Diese wenigen blieben schwa che Funken in der wachsenden Dunkelheit. Gewöhnlich übermittelten sie in Zeiten großer Na turkatastrophen Nachrichten, versuchten Tatsachen von Gerüchten zu scheiden, machten Notdienste und Lager mit Versorgungsgütern ausfindig und verhin derten eine Panik im Katastrophengebiet, bis der unmittelbare Notstand überwunden war und die in takte Gesellschaft außerhalb des betroffenen Gebietes
Hilfsmaßnahmen in großem Umfang einleiten konn te. Aber diesmal gab es kein Außerhalb und keine in takte Gesellschaft. »Mayday! ... Mayday! ... Mayday! ... Hier spricht K2XAN mit Notruf für Südmanhattan ... Stationen in oder nahe Südmanhattan bitte antworten ...« Mark hatte alles Notwendige in den Anhänger des Motorschlittens gepackt – Lebensmittel, Kleidung, Bü cher, Aufzeichnungen, Arbeitsmaterial. Den Sender wollte er als letztes abbauen. Er hatte ihn benötigt, um die Verbindung zwischen dem Tonnenleger und seiner eigenen Gruppe aufrechtzuerhalten und Instruktionen zu übermitteln. Mit diesen Vorbereitungen beschäftigt, hatte er die Außenwelt ein wenig aus den Augen verlo ren. Nun drängte sie sich mit ihrem Notruf auf der of fenen Frequenz in sein Bewußtsein zurück. »Mayday! ... Mayday! ... Mayday! ...« Der Rufer wiederholte sein Stationszeichen und die Botschaft, diesmal in dringlicherem Ton als zuvor. Mark runzelte die Stirn und zögerte. »Stationen in oder nahe Südmanhattan bitte mel den ... Bitte melden ... Mayday! ... Mayday! ...« Mark war im Begriff, zum Sendeschalter zu greifen, als Karen unterbrach. »Das ist nicht deine Sache.« »Karen, um Gottes willen, jemand braucht Hilfe.«
»Alle brauchen Hilfe.« »Ich habe einen Mann unter dem Vordach heraus geholt und gerettet ...« »Sehr schön. Inzwischen ist er sowieso tot.« Die Sendung dauerte an. »Ich habe einen Notruf für Südmanhattan! Stationen in oder nahe Südman hattan bitte melden. Bitte melden! ...« Mark drehte den Schalter. »K2XAN hier W2QRV ... Washington Zwei Quebec Roma Valencia ... Bitte kommen.« »W2QRV, Gott sei Dank ... Hören Sie, wir haben hier die größten Schwierigkeiten ... Ecke First Avenue und Houston brennt ein Mietshaus lichterloh, das Feuer breitet sich aus, und niemand kann etwas da gegen tun. Kein Wasser, kein Telefon, keine Elektrizi tät. Verständigen Sie die Feuerwehr. Dann haben wir hier Leute mit Herzanfällen, mit Erfrierungen und Unterkühlungen, die medizinische Hilfe brauchen ...« Die Aufzählung ging weiter, verbunden mit Bitten um Medikamente, Lebensmittel, Wasser, Heizmateri al und Hilfe jeglicher Art. Mark wandte den Kopf und starrte nachdenklich auf seine eigenen Vorräte. »Nein«, sagte Karen. »Laß sie nicht. Du hast schon zuviel gesagt.« »Ich habe nichts gesagt.« »Doch, du hast. Dein Erkennungssignal. Die brau
chen jetzt nur im Verzeichnis nachzuschlagen, um festzustellen, wo du wohnst. Wie lange wird es dei ner Meinung nach dauern, bis sie hier heraufkom men, um dich zu kriegen?« »Mich kriegen? Wovon redest du?« »Vom Überleben, Mark. Du antwortetest auf den Ruf, was bedeutet, daß du antworten kannst, was al les bedeutet, was die sich ausrechnen können, ein schließlich dieser Vorräte ...« und sie nickte zu den bereitgestellten Kartons. »Aber davon wissen sie nichts.« »Nein, noch nicht.« Mark schluckte. Der Hund büßte seine übermütige Lebensfreude bald ein. Die Freiheit war zu einer ständigen Jagd auf im mer schwieriger zu erlangende Bissen geworden. Dennoch blieb die Herausforderung, die Mischung von Schmerz und Hunger, der jähen Begeisterung über eine Entdeckung. Er witterte, schnüffelte, folgte Spuren, wühlte, packte, zerrte, und wenn er endlich den eßbaren Brocken zwischen den Kiefern zermalm te, stellte sich das angenehme Gefühl der Belohnung für getane Arbeit ein. Es war befriedigender als sein Leben mit dem Herrn, wo Nahrung und Zuneigung nach unverständlichen Launen gegeben oder vorent halten worden waren.
Doch hatte das Alleinsein auch Nachteile. Einmal begegnete der Polarhund einem einsamen Eichhörn chen. Nach herzklopfendem Jagdfieber und wilder Verfolgung blieb er zuletzt verwirrt am Fuß eines Baumes zurück, müder und hungriger als zuvor. In diesem Augenblick erwachte in ihm das Bedürf nis nach anderen, einem Rudel, dessen Mitglieder sich in Fahrtensuche und Jagd teilen konnten. Nicht lange nach dieser Erfahrung, als er im Schnee scharrte, um an Abfälle heranzukommen, hörte er ein tiefes Knurren und hob rasch den Kopf. Vor ihm stand ein Schäferhund, so hungrig und entschlossen wie er selbst. Der Polarhund zog die Lefzen zurück, entblößte drohend das Gebiß und erklärte sich damit im Besitz der Fundstelle. Aber der Schäferhund antwortete ge nauso. Er wich nicht zurück. Der Polarhund war der von Natur aus aggressivere der beiden und griff zuerst an. Seine Reißzähne bohr ten sich durch das kurze Fell an der Flanke des Schä ferhunds und rissen eine blutige Furche. Der Schäferhund heulte und schlug seine Zähne in den Widerrist seines Gegners, vermochte den dicken Pelz aber nicht recht zu durchdringen. Als die Kon trahenten sich wild schnappend im Schnee wälzten, versuchte der Schäferhund eine leichter verwundbare Stelle zu finden. Es gelang ihm, den Polarhund auf
die Seite zu werfen und als dieser zum Gegenangriff aufsprang, trafen die scharfen Krallen des Schäfer hunds mehr durch Zufall als mit Absicht sein rechtes Auge. Der Polarhund winselte vor Schmerz und Er schrecken über seine teilweise Blindheit, aber der Kampfinstinkt ließ ihn nicht aufgeben, bis es ihm im wilden Getümmel gelang, den Schäferhund im Nak ken zu packen. Vom Tode bedroht, unterwarf der Schäferhund sich augenblicklich, ließ sich auf den Rücken fallen und zeigte seine ungeschützte Kehle. Der Polarhund beschnüffelte ihn, leckte ihn und wartete, bis der andere aufstand und durch seine Haltung Ehrerbietung signalisierte. Das frühere Hochgefühl kehrte wieder, und das Bewußtsein der Herrschaft machte den schrecklichen Schmerz erträglich. Er nahm sich nun den Hauptanteil der aus dem Schnee gescharrten Beute, während der Schäferhund gehorsam wartete, bis er an die Reihe kam. Schließ lich, als er sich bereit fühlte, stand der Polarhund auf und trottete weiter, gefolgt von seinem neuen Gefähr ten. Er wußte, daß er der Anführer war, genauso, wie er wußte, daß sie andere finden würden, daß er sie im Zweikampf besiegen und in sein Rudel eingliedern würde.
Die weiße Welt breitete sich vor ihm aus, seine ur eigene Welt, und wartete darauf, daß er sie erobere. »W2QRV, hier ist Briarwood. Bitte kommen.« »W2QRV ruft Briarwood. Verstanden. Bitte kom men.« »Dr. Haney, ich habe eine Nachricht vom Kapitän. Ich zitiere: Eintreffen 1500, also schaffen Sie Ihren Arsch hier runter, Zitat Ende. Haben Sie verstan den?« »Verstanden. Sagen Sie ihm, daß mein Arsch zur Stelle sein wird, wenn seiner es ist.« Er meldete sich ab und schaltete auf das Amateurband um. »W2QRV an Mobil Eins, bitte kommen.« Es gab atmosphärische Störungen und unverständ liche Quietschtöne und zuletzt meldete sich Finks Stimme. »Wie, zum Teufel, bedient man dieses ver dammte Ding, Mark?« »Du machst es schon richtig. Hör zu, das Rendez vous findet um drei statt. Fünfzehn Uhr. Gib die Nachricht weiter. Ende.« »Ah, unser Schiff ist da. Drei Uhr an der Pier Mor ton Street, richtig?« Mark ächzte. »Danke. Vielleicht erübrigt sich jetzt sogar die Weitergabe der Nachricht.« »Wovon redest du?«
»Vom Überleben, Fink, vom Überleben!« Er blickte auf und sah Karen schmunzeln. »Vielleicht hat niemand mitgehört«, sagte sie. Mark grunzte unbehaglich und wandte sich wieder dem Mikrophon zu. »Ich muß mich beeilen. Ich habe noch zu packen.« »Zu packen? Warum, zum Kuckuck, hast du nicht schon vorher gepackt?« »Ich muß diesen Sender zusammenpacken, ver stehst du?« Es blieb einen Augenblick still. »Oh ... Ich hoffte schon, ich sei nicht der einzige Idiot. In Ordnung, Mark, bis später und Ende.« Mark seufzte. Hatte Noah diese Probleme mit der Arche gehabt? Er hatte eine Menge Arbeit vor sich. Zuerst schleifte er den Motorschlitten und seinen Anhänger in die Diele hinaus, dann kam er zurück und machte sich an das Abbauen des Senders. Weil er versucht hatte, auf der gesamten Breite des Radiospektrums Signale zu empfangen, hatte er un gezählte Antennen, jede von verschiedener Länge und Form, jede auf ein bestimmtes Band eingestellt. Es gab kurze und lange Kabel, Isolatoren, Kontakt stecker und schließlich die Teile des eigentlichen Senders, soweit er zerlegbar war. Alles mußte sorgfäl tig eingewickelt und verpackt werden. Karen sah besorgt zu. »Das wird ewig dauern.«
»So schlimm ist es nicht.« »Der Gletscher wird hier sein, ehe du weg kommst.« »Hoffentlich nicht.« Er lächelte ihr zu. »Bist du sicher, daß das Schiff warten wird?« »Was ist heutzutage noch sicher?« Sie stöhnte, lief nervös auf und ab, ging hinaus zum Motorschlitten, und als sie die Berge der Habse ligkeiten im Anhänger sah, schüttelte sie den Kopf. »Lieber Gott, ist das eine Sammlung! Die Eskimos bringen ihren ganzen Besitz auf einem Schlitten un ter. Wir sind Gefangene unserer Sachen, Mark.« »Das sind nur die üblichen Umzugsprobleme. Ver giß nicht das ganze Zeug, was ich an der Pier einge lagert habe.« »Allmächtiger ... Wie sollen sie das an Bord schaf fen?« »Genauso, wie sie die Bojen an Bord nehmen. Mach dir deswegen keine Sorgen.« Karen sorgte sich dennoch. Sie sah Mark beim Pak ken und Verladen seiner komplizierten Geräte zu. Ih re Eskimo-Artefakte hatte sie bis auf einige wenige Stücke zurückgelassen, und diese waren klein. Dann bemerkte sie Dannys voluminöse Wetterin strumente, deren seltsame Formen eine kompakte Unterbringung verhinderten. »Mein Gott, Danny, brauchst du das wirklich?«
Danny seufzte. »Mama, in diesem Stadium solltest du wirklich nicht solche dummen Fragen stellen.« Er brachte seine Sachen so gut wie möglich unter, indem er sie behutsam in Zwischenräume bettete. Dabei machte es ihm nichts aus, einige von Karens Gegenständen beiseite zu stoßen. »Wir können alles einpassen, wenn du etwas von diesem Zeug hier läßt, ich meine, Mutter, was sollen wir mit einer Steinplastik anfangen?« »Paß auf, Danny, ich will nicht mit dir streiten, ich habe dir einmal gesagt, daß du einige Dinge würdest zurücklassen müssen, die dir am Herzen liegen, und dazu gehören deine Spielsachen.« »Spielsachen! Mein Gott, Mutter, das sind keine Spielsachen. Spielsachen sind für Kinder. Dies sind Arbeitsinstrumente. Sie sagen wir, wie das Wetter wird ...« »Fein, aber Mark hat schon solche Instrumente. Du brauchst diese nicht ...« Sie griff danach. »Mutter!« Er wurde lauter und legte beide Hände auf seine Schätze. »Ich habe diese Instrumente ge baut. Ich habe sie gemacht ... Laß doch die Eskimosa chen hier! Die hast du nicht selbst gemacht, aber ich habe diese Sachen gebaut!« »Paß auf, Danny, wenn du erwachsen bist, werde ich mit dir über die Bedeutung von Kunst sprechen, aber wir retten, was wichtig ist.«
Wieder griff sie nach seinen Instrumenten, und er hielt sie fester. »Mutter, die sind wichtig! Sie gehören mir ... Sie funktionieren! Es ... es ist wichtig!« Er fing an zu weinen, und dann hämmerte er mit den Fäusten gegen die Wand. »Danny, ein Wutanfall wird dir nicht helfen. Wir müssen Entscheidungen treffen, und das ist für jeden von uns schwierig. Du mußt jetzt lernen, dich in das Unvermeidliche zu schicken. Schließlich fahren wir nicht zu einem Picknick ...« Mark unterbrach sie. »Sag mal, kann ich mit dir re den?« Er zog Karen mit sich, bis sie außer Dannys Hörweite waren. »Sieh mal, ich möchte deine Autori tät bei Danny nicht untergraben.« »Gut. Dann tu' es nicht.« »Aber das ist wichtig.« »Darüber sind wir uns einig.« »Für Danny sind diese Dinge von großer Bedeu tung.« »Nein, das ist Unsinn. Es ist eine verzogene An hänglichkeit an ein Spielzeug, mehr nicht.« »Nicht für ihn.« »Wir sprechen vom Überleben, Mark, und davon, was für die Gruppe wichtig ist.« »Wie rechtfertigst du dann diese Eskimogegen stände?«
Sie seufzte. »Anthropologie in zwölf Sekunden ... Sie sind die Summe einer Kultur auf engstem Raum und in der kompaktesten Form. Die Eskimos reisten ohne viel Gepäck, aber diese Dinge nahmen sie mit ...« Sie brach ab. »Wahrscheinlich sind sie jetzt alle tot, und dies ist ihr Vermächtnis, es ist, was sie mir hinterließen ...« Mark machte eine vorsichtige Pause, ehe er antwor tete. »In Ordnung, deine Eskimos bedeuten dir etwas, und die Wetterstation bedeutet Danny etwas. Beides ...« »Verdammt, Mark, sei vernünftig! Objektiv und leidenschaftslos gesehen, du hast deine wissenschaft lichen Instrumente und wirst sie brauchen. Fein. Danny hat nur ein paar Spielzeugversionen ...« »Du kannst sie Modelle nennen.« »Es spielt keine Rolle, wie ich sie nenne.« »Gut, sie sind auch nicht die wertvolle Hilfsquelle ...« »Warum soll das Zeug dann ...?« »Danny ist es. Wenn wir lebend aus dieser Sache herauskommen, dann wird er eines Tages die Dinge in die Hand nehmen. Ich möchte nicht, daß seine körperliche oder geistige Entwicklung behindert wird und verkümmert. Diese Wetterstation ist für dich ein Spielzeug, vielleicht sogar für mich, für ihn aber ist sie die Schule, und er liebt sie.«
»Aber sie nimmt soviel Platz weg!« »Wir vergeuden nur unsere Zeit.« Er wandte sich zu Danny um. »Also, wir haben entschieden. Du kannst weitermachen.« Dannys Miene hellte sich plötzlich auf. Mark mußte lächeln, als er das kleine pelzige Bündel geschäftig auf den Anhänger klettern und wie eine ei lige Raupe über die Kisten und Kartons kriechen sah. »Danke, daß du meine Autorität nicht untergraben hast«, murmelte Karen. »Tut mir leid. Es war zu wichtig.« Sie standen da, und die Stille wurde drückend. Er legte ihr die Hände auf die Schultern, aber sie wandte sich weg. Er versuchte es noch einmal. »Es tut mir leid ... Karen, wirklich. Sieh mal, ich liebe dich, ich liebe ihn ... Verlang nicht von mir, daß ich zwischen euch wähle.« Trotz ihrer Beunruhigung ließ sie sich von Mark küssen. »Ich hoffe, du wirst es nie tun müssen.« »He, sind wir fertig?« rief Danny. Sie blickten auf, und sahen ihn oben auf dem Ge päck sitzen. »Willst du da oben bleiben?« Danny nickte. »Ich bewache die Sachen.« »Wir werden doch noch ein Kind aus ihm ma chen«, murmelte Mark zu Karen. Er stieß die Tür zur Nottreppe auf und blickte hin
aus. Der Schnee reichte ihm hier im ersten Stock noch bis zu den Knien, wie er erwartet hatte, doch hätte er mit all seinem Vorauswissen nicht das Aussehen der Stadt schildern können, wie sie im tiefsten Schnee seit zehntausend Jahren begraben lag. Die Straßen waren ausgelöscht und die Gebäude ragten aus dem Schnee wie Holzlatten eines schadhaften Zaunes an einem weißsandigen Strand. Aber die Stadt war nicht in Leblosigkeit erstarrt, denn man sah Feuer brennen, deren Rauch tief im bedeckten Himmel hing. Viele Gebäude waren be reits ausgebrannt, ihre leeren Schalen halb mit Schnee gefüllt. Der Wind war launenhaft mit Straßen und Gebäu den umgegangen, und die Fronten mancher Häuser waren völlig frei, während andere von vier bis fünf Geschossen hinaufreichenden Anwehungen ver schüttet waren. Mark starrte lange wortlos hinaus, und als Karen und Danny zu ihm kamen, wurden auch sie still. »Was meint ihr, wo die Leute alle sind?« fragte Danny schließlich. »Tot«, sagte Karen. Mark schoß ihr einen Blick zu. »So schnell sterben die Menschen nicht aus. Sie sind noch da.« Ein Geräusch drang durch die Stille, das Heulen und Bellen einer größeren Anzahl Hunde.
»Das zeigt, daß Leute da sind«, sagte Mark. »Das zeigt, daß keine da sind.« Mark schnitt eine Grimasse und drehte den Zünd schlüssel. Der Motorschlitten sprang nicht gleich an, und Mark mußte mit dem Gaspedal pumpen, doch dann erwachte die Maschine mit erstaunlich lautem und durchdringendem Brüllen zum Leben. Der Lärm war beträchtlich stärker als Mark erwartet hatte. »Großer Gott!« Der Motorenlärm dröhnte scharf und klar durch die Stille der Stadt, hallte von nackten Wänden wider und wurde nur vom tiefen Schnee ein wenig gedämpft. »Ein Hundeschlitten ist es nicht.« Es war ihm klar, daß der Lärm Dutzende von Blocks weit zu hören war. Wer in diesem Umkreis lebte, wußte jetzt von ihnen. Behutsam legte er den ersten Gang ein. Mit den empfindlichen Instrumenten im Anhänger und Dan ny obendrauf wagte er nicht allzu schnell zu fahren. Zuerst drehte die Antriebsraupe des Schlittens leer durch, und das Heck sackte in den lockeren Schnee der oberen Schichten, dann faßte sie, schleuderte Schneefontänen hinten heraus, und der Schlitten setz te sich in Bewegung. »Wenigstens gibt es keine Hundescheiße.« Als er nach Westen in die Bleeker Street bog, mußte er sich an einigen Hochhäusern orientieren, die er
wiedererkannte. Straßenschilder und die Straßen selbst waren verschwunden. Als sie das erste Hochhaus passierten, blickte Dan ny ängstlich zu den oberen Geschossen hinauf. »Mark, meinst du, daß wir beobachtet werden?« »Jedenfalls werden wir gehört.« Karen sagte: »Es ist schon in Ordnung, Danny, da ist niemand.« »Sie sind da«, sagte Mark gereizt. »O ja, erfroren, oder verhungert, oder vielleicht verdurstet, weil die Wasserleitungen geplatzt sind. Möglichkeiten gibt es viele, aber das Ergebnis ist das gleiche: sie sind alle tot.« Mark seufzte. »Sagen wir einfach, wir wissen es nicht, Danny.« Danny tastete in ängstlichem Unbehagen nach sei nen Wetterinstrumenten. In der Seventh Avenue sahen sie das ausladende Vordach eines Filmtheaters tief eingeschneit herab hängen. Ein Ende hing noch an verbogenen Trägern, das andere war in der Schneeflut untergegangen. »Du glaubst wohl, der alte Mann, den du gerettet hast, ist noch am Leben?« »Das weiß ich nicht, aber ich bin froh, daß ich ihn gerettet habe.« »Zu dumm, daß du alle die anderen nicht retten konntest.«
Am Ende des nächsten Blocks bog er wieder nach Süden. Von hier aus hatte man einen freien Blick auf die Wolkenkratzer des Wall-Street-Viertels. »Ich möchte wetten«, sagte Mark, »daß viele aus der Stadt sind, als die Schneefälle nachließen, und jetzt nach Süden ziehen.« »Ja, alle diejenigen, die Schneeschuhe im Haus hat ten.« Mark warf ihr einen finsteren Blick zu. »Dies ist nicht das einzige Schneemobil auf der Welt, weißt du.« »Es ist das einzige, das ich höre.« »Und wie ist es mit Skiern? Viele Leute in der Stadt haben Skier.« »Ich sehe keine Skispuren, du?« »In Gottes Namen, Karen, die Zivilisation legt sich nicht einfach hin und stirbt. Sie wehrt sich, wie wir es tun.« »Ich dachte, was wir tun, ist davonlaufen.« »Ich denke, man würde es einen strategischen Rückzug nennen, eine Umgruppierung von Kräften, um später besser Widerstand zu leisten.« »Wer ist da, um es so oder anders zu nennen?« Sie passierten die schmutziggrauen Mauern und Türme eines Gefängnisses. »Mark«, fragte Danny, »was ist aus den Gefange nen geworden?«
Mark zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich nehme an, sie wurden nach Süden abtransportiert.« »In einer Soziologievorlesung hörte ich vor nicht langer Zeit, daß es in unserem Land mehr als drei hunderttausend Strafgefangene gibt«, sagte Karen. »Ich nehme an, man hat sie alle in einen großen Mo torschlitten mit Gittern gesteckt.« »Nun, jedenfalls hat man nicht einfach zugesperrt und sie ihrem Schicksal überlassen.« »Was hat man dann getan, sie einfach laufen las sen?« »Ich weiß es nicht, Karen. Ich weiß es wirklich nicht.« »Nun, Wetter ist dein Fach. Menschliches Verhal ten ist meins.« Sie blickte zu den vergitterten Fenstern hinauf. »Wahrscheinlich schlugen sie an ihre Zellen türen, bis sie starben.« Sie blickte über die Schulter zu Mark zurück. »In einer zivilisierten Art und Weise, versteht sich.« Danny schauderte. »Wenn es Leute in der Gegend gibt, dann werden sie uns jetzt beobachten.« Keiner sagte mehr etwas, als die Piers in Sicht ka men. Der Hudson fror von den Ufern her allmählich zu, war in der Mitte aber noch in träge ziehender Be wegung, befrachtet mit Treibeis aus den fünfhundert Kilometer nördlich gelegenen Adirondacks. An den Kaimauern lagen eingefrorene und – wo der Wind sie
nicht freigefegt hatte – bis über die Aufbauten einge schneite Schiffe. Manche waren vom Eisdruck leckge schlagen und saßen auf Grund oder hatten Schlagsei te. Alle boten in ihrer dicken Vereisung einen geister haften Anblick. Dann sahen sie den Tonnenleger, beinahe siebzig Meter lang, dessen schwarzer Rumpf sich scharf von der weißen Umgebung abhob. Am Bug trug er den schräg aufgemalten roten Balken mit dem Wappen der Küstenwache. Sein auffallendstes Merkmal war der an ein Segelschiff gemahnende Mast mit dem La debaum, der das ganze Achterschiff beherrschte. Schon konnte Mark auf dem Vordeck ein Dutzend Gestalten ausmachen, die sich hin- und herbewegten, vielleicht, um sich warmzuhalten, vielleicht, um Ar beiten zu verrichten. Mark sah im Rückspiegel, wie Danny auf dem schlingernden Anhänger aufstand und winkte. »Um Himmels willen, setz dich hin!« schrie Mark durch den Motorenlärm. Er drehte den Kopf über die Schulter, um zu sehen, ob der Junge gehorchte. Als er sich wieder nach vorn wandte, sah er ein paar Gestal ten auf Deck zurückwinken. Er stieß Karen an. »Da ist unsere Zivilisation.« Er trat aufs Gaspedal. Der Motor dröhnte lauter und höher, der Motorschlitten und sein schlingernder Anhänger brausten durch den aufstiebenden Schnee.
Mark bemerkte die Gestalten erst im letzten Mo ment. Sie mußten hinter einem der Kaischuppen her vorgekommen sein, und sie hatten auf ihn gewartet. Sie standen in einer lockeren Kette zwischen ihm und dem Schiff. Er blickte schnell über die Schulter zurück. Andere waren dort herausgekommen und versperrten den Rückzug. Zur Linken war die Wand des langen Kaischup pens, zur Rechten die Kante der Kaimauer. Er war eingeschlossen. »Jesus!« Er lenkte zur Kaimauer, bis er die Fallhöhe zum Schollenpreßeis des zugefrorenen Hafenbeckens se hen konnte. Der Wind hatte größere Schneeansamm lungen auf dieser Seite verhindert. Er riß das Steuer wieder nach links, und Danny kreischte, als er beina he vom schleudernden Anhänger geflogen wäre. Mark sah, daß die Männer ihren Einkreisungsring enger zogen. Ihre Gesichter waren hinter Stoffmasken verborgen, aber ihre übrige Kleidung bestand aus zu sammengesuchtem Zeug jeder Art, zum Teil zusätz lich mit Stücken von Stoffbahnen eng umwickelt. Er sah, daß einige von ihnen hinkten, was von Erfrie rungen an den Füßen herrühren mochte, das am mei sten Beängstigende an ihnen aber war die spürbare Eigenschaft roher Wildheit, als wären sie nicht länger Menschen, sondern ausgehungerte Raubtiere.
Er gab wieder Gas und hielt gerade auf sie zu, er erwartete, daß sie im letzten Augenblick zur Seite springen und ihn durchlassen würden, doch waren die Angreifer offenbar auf einen solchen Durch bruchsversuch vorbereitet. Zwei kamen von den Seiten, und er hörte Karen schreien, als einer von ihnen sie vom Schlitten zog. Er trat und schlug nach einem zweiten, der plötzlich mit wildausholenden Armen über ihm war, rammte gleichzeitig einen dritten mit einem instinktiven Lenkmanöver des Motorschlittens, der durch die plötzliche Kursänderung und den Aufprall umstürz te. Danny schrie in Angst und Entsetzen, als der An hänger umkippte, ihn in den Schnee schleuderte und mit Instrumenten und Gepäck überschüttete. Die Wegelagerer stürzten sich mit triumphieren dem Geheul auf die Beute und rissen Kisten und Kar tons auf. Mindestens drei waren am Benzintank und versuchten den auslaufenden Treibstoff mit allem aufzufangen, was als Behälter dienen mochte. Danny brüllte und versuchte die Plünderer am Durchwühlen der Gepäckstücke zu hindern. Einer von ihnen schlug ihm den Handrücken mit solcher Gewalt ins Gesicht, daß der Junge rücklings in den Schnee flog. Blut stürzte ihm aus Nase und Mund, und er fing an zu heulen.
Mark bemühte sich unterdessen, einen Gegner ab zuschütteln, der ihn von hinten gepackt hatte und sich seinen unbeholfen zugreifenden Händen geschickt zu entziehen wußte. Der Mann riß und zerrte an Marks Mantel, bis die Knöpfe abrissen. Mark stieß den rech ten Ellbogen nach hinten und fühlte, daß er seinen An greifer in die Magengrube getroffen hatte, denn dieser keuchte und schnappte nach Luft und mußte seinen Griff lockern. Mark vollendete seine Körperdrehung mit der ganzen Kraft seines Körpers und drosch mit der Handkante auf die Kehle des Vermummten. Der ließ los und stürzte mit gurgelndem Aufschrei in den Schnee, aber schon sprang ein zweiter Mark von hinten an und würgte ihn. Mark ließ sich rück wärts in den Schnee fallen, auf den neuen Angreifer, aber dieser ließ nicht locker, und um frei zu kommen, mußte Mark seinen Mantel fahren lassen. Der Schnee drang eisig und nässend in alle Öffnungen seines Anzugs, als er sich herumwälzte und aufrichtete, um seinen Mantel zurückzugewinnen. Doch nun umfaßten ihn andere Arme, kräftig und fest, zogen ihn zurück und auf die Füße. Er wollte sich mit geballten Fäusten herumwerfen, aber die Arme schlossen sich fester um seinen Oberkörper und verhinderten eine wirkungsvolle Gegenwehr. Plötzlich bemerkte er, daß die Ärmel mit doppelten Goldlitzen benäht waren.
»Lassen Sie das Zeug und kommen Sie mit«, sagte der Seemann. »Ich brauche die Instrumente ... die Vorräte!« »Scheiß auf die Vorräte. Sehen wir zu, daß wir von hier wegkommen ... Entschuldigen Sie, Sir.« Mark blickte umher. Karen lag im Schnee, halb be wußtlos und ohne Mantel. Er rannte zu ihr und hob sie auf. Sie regte sich und ächzte. »Danny?« Mark blickte zum Anhänger. Danny war wie ein kleiner Tiger, heulte, schrie und zerrte an den Plün derern, als sie den Inhalt des umgestürzten Anhän gers durchwühlten, seine Wetterinstrumente achtlos wegwarfen, Karens Schnitzereien in den Schnee trampelten, den Sender mit Fußtritten bearbeiteten. »Der Junge!« keuchte Mark. »Ich sehe ihn.« Der Bootsmann lief hinüber, nahm den Jungen auf und zeigte zum Schiff, wo andere bereitstanden, die Laufplanke einzuziehen. Mark legte Karens Arm um seine Schultern, nahm sie mit der freien Hand um die Taille und schleppte sie so mit sich durch den Schnee. Nach ungefähr fünfzig Metern wandte er den Kopf und sah, daß sich ein paar Gestalten von der Gruppe der Plünderer ge trennt und die Verfolgung aufgenommen hatten. Sie wühlten sich mit der gleichen verzweifelten Wildheit
durch die Schneewehen, die ihre Gefährten beim Aufreißen der Kisten und Kartons zeigten. Der Bordlautsprecher ertönte. »Haney, beeilen Sie sich!« Er blickte zur Brücke und sah Manujian am Mikro phon. »Warum schießen Sie nicht, in drei Teufels Na men?« schrie Mark. »Dies ist die Küstenwache, nicht die Mafia.« Endlich erreichte Mark die Laufplanke. Sie hob und senkte sich mit den Bewegungen des Schiffs. »Laß nur los, ich schaffe es schon«, murmelte Ka ren, als er sie hinauftragen wollte. Sie faßte das Geländer mit beiden Händen und zog sich an Bord. Mark sah sich um, bevor er ihr folgte. Die beiden vordersten seiner Verfolger waren kaum noch zehn Schritte entfernt, und er hörte sie hinter ih ren Gesichtsmasken Flüche keuchen, als sie sahen, daß ihre Jagd vergeblich gewesen war. Einer hatte ei ne lange Brechstange, auf die er sich bei der Fortbe wegung stützte. Er stolperte schnaufend über die Laufplanke an Bord und ließ sich gegen die nächstbeste Wand sin ken, während vier Männer der Besatzung die Lauf planke einzogen und die Reling schlossen. Die star ken Dieselmotoren sprangen an, und Mark fühlte ihr Vibrieren durch die Decksplanken.
Dann sah er in Kapitänleutnant Manujians grim miges Gesicht. »Danke für nichts«, sagte Mark. »Regen Sie sich ab! Sie leben.« »Was, zum Henker, haben Sie plötzlich gegen mich?« »Ich sagte Ihnen gerade, regen Sie sich ab. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich habe ein Schiff zu befehligen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und stieg wieder hinauf zur Brücke. Mark starrte ihm einen Moment lang nach, dann blickte er zur Pier hinüber. Die Räuber waren noch immer mit dem Durchwühlen ihrer Beute beschäftigt. Ein paar von ihnen schlugen in kurzsichtiger und sinnloser Zerstörungswut auf den Motorschlitten ein. Jenseits von ihnen lag die weißverhüllte Stadt. Schwarze Rauchwolken von kontrollierten Feuern und unkontrollierten Bränden stiegen in die Luft, wo sie sich zu tiefhängenden, schwärzlichen Nebelbän ken verbanden. Die überlebenden Bewohner schlach teten ihre Stadt aus, um sich Wärme zu verschaffen. Er richtete den Blick nach Norden, stromaufwärts. Das dunkle Wasser war voller Treibeis, dicken Schol len und Brocken, die mit dumpfen Geräuschen gegen den Schiffsrumpf stießen und an den Bordwänden entlangschrammten, um sich schwerfällig kreiselnd im Kielwasser zu wiegen.
Er blickte voraus nach Süden, wo der Fluß in die Bucht von New York mündete, die sich weiter drau ßen in den Atlantik öffnete. Hier zeigte sich Eis von einer anderen Art, neugebildeter Eisbrei, der von Wind und Wellengang bewegt wurde. Bald durchfuhr das Schiff weite Felder von mehrere Tage altem Pfannkucheneis, wenige Zentimeter dicken Schollen, deren Ränder durch ständiges Aneinander reiben wulstig verdickt waren. Wenn das Schiff in die südwärts ziehenden Ausläufer des Labrador-Stromes käme, mußten sie neben den Eisbergen mit mehrjähri gem Packeis aus arktischen Gegenden rechnen, das Stärken von zwei bis drei Metern hatte. Der Erste Offizier kam vorbei und tippte an den Mützenschirm. »Sir, Ihre Gruppe ist in der Mann schaftsmesse.« »Es ist eine Weile her, daß ich an Bord war, Mister ...« Er warf einen Blick auf das Namensschild an der Uniform des Mannes. »... Mr. Redfield. Sie werden mir den Weg zeigen müssen.« Der Erste Offizier führte ihn unter Deck und durch den Korridor nach achtern. Sie mußten sich an Kar tons mit Lebensmitteln und Versorgungsgütern vor beizwängen, die überall aufgestapelt waren, wo sich nur ein wenig Platz bot. »Ziemlich eng hier.« »Wie ich höre, haben wir eine lange Fahrt vor uns.«
Mark zögerte einen Augenblick lang. »Mr. Red field, darf ich Sie etwas fragen? Was hat Manujian gegen mich?« Redfield sah ihn über die Schulter an. »Keiner von uns ist allzu glücklich über die Situation.« »Er ist vor allem über mich nicht glücklich.« Der Erste Offizier nickte. »Die Mannschaftsmesse ist gerade voraus, Sir. Achten Sie auf die Kartons.« Er trat in eine Nische und ließ Mark passieren. Dann war er fort. Mark seufzte und öffnete die Tür zur Mann schaftsmesse, wo seine Gruppe einsam um einen Tisch versammelt saß und Kaffee trank. Fink nickte ihm einen matten Gruß zu. »Seit Eiszei ten nicht gesehen.« »Wo ist Karen?« Hideo lächelte. »Sie spielt Kindergärtnerin in der Offiziersmesse.« »Kindergärtnerin?« »Sie erzählte meinen Kindern, sie sähen wie kleine Eskimos aus, und das faszinierte sie.« Mark schüttelte verwundert den Kopf. »Und Dan ny ist auch dort?« »Der nicht. Er hat schon das Kartenhaus und die Funkstation entdeckt.« »Ja«, sagte Fink. »Wenn er das Ruderhaus entdeckt, gehe ich von Bord.«
»Also sind wir vollzählig?« Es wurde still, dann sagte Helen: »Unser Archäolo ge fehlt.« »Ja«, sagte Fink. »Ausgerechnet die Fähigkeit, die wir brauchten, damit uns später jemand ausgraben kann.« »Ich finde es ziemlich gefühllos und gehässig, so über jemanden zu spotten, der wahrscheinlich tot ist«, sagte Helen ärgerlich. »Wenn ich die Wahl zwischen Gehässigkeit und Tod habe, dann nehme ich Gehässigkeit.« »Hört schon auf damit!« sagte Mark ungeduldig. »Was ist mit den Kisten? Sind sie sicher im Laderaum verstaut?« »Kisten? Mein Gott, Mark, wir können von Glück sagen, daß wir hier sind.« »Du meinst, sie sind zurückgeblieben und liegen irgendwo auf der Pier herum?« »Um die Worte deines Kapitäns zu gebrauchen, wir schafften unsere Ärsche hier herauf, und damit hatte es sich. Du hast selbst gesehen, was an der Pier los war.« Mark stöhnte und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Also ist unser ganzes Zeug zurückgeblieben, und al le Mühe und Planung war umsonst.« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich wette, Karen fand das lu stig.«
Sie schauten einander an. »Sie sagte nichts.« »Ein Wunder, daß sie die Gelegenheit nicht nutzte. Alles total verpfuscht. All die Dinge zur Rettung der Zivilisation.« Verzweifelt starrte er durch das Bullau ge ins Freie. Draußen erstreckte sich eine weite Fläche aus zu sammengefrorenem Pfannkucheneis, gemustert von den unregelmäßigen Druckrändern. Das Schiff zer teilte das Eisfeld sauber wie mit einem Messer, hin terließ einen scharf markierten, schnurgeraden Kanal, der sich im trüben Dunst des Horizonts verlor. Mark strengte seine Augen an, um einen letzten Blick auf die entfernte Stadt zu erhaschen. »Ich wette, jemand macht sich eine schöne Zeit mit all dem Zeug.« Der einäugige Polarspitz hatte seinem Rudel drei weitere Hunde eingegliedert, kräftige Tiere mit dich tem Fell, in der Vergangenheit von ihren Herren ignoriert, vernachlässigt oder sogar mißhandelt, so daß sie gelernt hatten, ohne Abhängigkeit von Men schen zu überleben. Andere Hunde, vor allem aber die kleinen, die ra sierten, die verwöhnten und verzärtelten, verschmach teten und starben allesamt im Schnee, warteten bis zum Ende sehnsüchtig auf Herren, die nie kamen.
Nach dem Schäferhund kam der Bullenbeißer, mit einem breiten Bulldoggenschädel auf einem massiven und kraftvollen Körper. Dann der Spaniel, ein kleine rer schwarzer mit Stummelschwanz und Schlappoh ren, der einem Binnenschiffer als Wachhund und Rat tenfänger gedient hatte und nun Gefallen an größe rem Wild fand. Schließlich die Bastardhündin, schwarz mit einem weißen Halsstreifen, durch die Welpen, die sich in ihr bildeten, reizbar bis zur Unberechenbarkeit. Sie alle hatten sich dem einäugigen Polarhund un terworfen, und bei ihren Streifzügen durch die Stadt verfeinerten sie nach und nach ihre Jagdmethoden. Jedes Tier lernte, welches sein Platz und seine Funk tionen im Rudel waren, zu jagen oder zu stellen, den ersten Angriff zu führen oder den zweiten, und so machten sie sich alle Techniken des Wolfsrudels zu eigen. Bisher hatten sie sich vom Kleinwild der Stadt er nährt, von Ratten, Katzen, sterbenden Tauben, aber auch von Abfällen, die sie aus dem Schnee wühlten. Sie zu finden, wurde jedoch immer schwieriger, und außerdem war diese Art von Nahrungssuche bei wei tem weniger aufregend als die Jagd auf lebende Beu te. Auch riskierte man dabei eher Kontakt mit den ge fürchteten und verhaßten Menschen. Außer der täglichen Nahrung brauchten sie ein La
ger, wo die Hündin ihren Wurf zur Welt bringen konnte. Bei ihren Streifzügen kamen sie auch zur Pier mit ihren weitläufigen Lagerhäusern. Eines von die sen stand offen, dunkel und höhlenartig. Aufgebro chene Kisten und Kästen lagen durcheinander, ihr Inhalt war über den Boden verstreut, eingebettet in Holzwolle und feinen Schnee, der durch das offene Tor hereingeweht war. Die Bastardhündin ergriff sofort Besitz von einer Kiste, die ihr als Versteck und Lager geeignet er schien. Dort ließ sie sich nieder und zog Gegenstände heran, bis auch die offene Seite durch eine Art Barri kade geschützt war. Schleppende Schritte, von Stöhnen begleitet, ließen das Rudel die Ohren spitzen. Ein in wahllos zusammengesuchte Kleidungsstük ke gewickelter Mann kam schnaufend in die Lager halle gehumpelt, einen erfrorenen und angeschwol lenen Fuß mit Stoffetzen und Lumpen unförmig um wickelt. Die umhergestreuten Gegenstände interes sierten ihn nicht; er war auf der Suche nach einem ge schützten Winkel, wo er sich niederlegen konnte. Sein Weg führte ihn gefährlich nahe an das Lager der trächtigen Hündin heran, was den Rudelführer veranlaßte, aufzustehen, sich schützend vor das La ger zu stellen und den Eindringling mit einem Knur ren und gebleckten Zähnen zu warnen.
Der Mann schrak zusammen, dann bückte er sich und hob den erstbesten Gegenstand auf, der ihm in die Finger kam; eines von den vielen umherliegenden Büchern. Er warf es nach dem Hund. Der Polarspitz heulte, mehr in Wut als vor Schmerz, wich zurück und ließ ein leises, tiefes Grol len hören. Im nächsten Augenblick sah sich der Mann von einer Bedrohung umgeben, die bei weitem er schreckender war als die Aussicht zu verhungern: ein Rudel wilder großer Hunde umkreiste ihn mit ent blößten Fängen, geifernden Lefzen und tiefen, un heilverkündenden Knurrlauten. Der Mann machte fahrige Armbewegungen, als hoffe er sie damit zu verscheuchen, dann bückte er sich wieder und hob einen schwereren Gegenstand auf, eine seltsame Steinplastik. Sie gab ein wirkungsvolleres Geschoß ab. Er holte aus und schleuderte es, und es traf den Spaniel. Der Hund fiel heulend in den Schnee, rappelte sich jedoch wieder auf. Das Rudel, weit davon entfernt, sich einschüchtern zu lassen, fühlte sich nun zum Angriff gereizt, und al le Mitglieder griffen in rascher Folge an, schnappten zu, und sprangen zurück, ehe der Mann zuschlagen konnte. Kaum war ein Hund zurückgewichen, als ein weiterer aus einer anderen Richtung angriff. Bei seiner verzweifelten Suche nach Wurfgeschos
sen brachte der Mann eine weitere Seltsamkeit zum Vorschein, eine Peitsche mit einer fast zehn Meter langen Schnur aus geflochtenem Rohleder. Es war unmöglich, die Peitsche zwischen den vielen herum liegenden Kisten richtig zu gebrauchen, und nach zwei oder drei fruchtlosen Versuchen wickelte er sich eine Länge der Lederschnur um den Arm und schwang den Peitschenstiel als Keule. Die Hunde duckten sich und heulten und kläfften, als der Peitschengriff auf Köpfe und Flanken nieder sauste, aber sie waren in der Überzahl, und das ermu tigte sie, ihre Angriffe mit vermehrter Wildheit und Schnelligkeit vorzutragen. Bei jedem Zuschnappen wurden weitere Fetzen aus der Kleidung des Mannes gerissen, bis die Fänge des Rudelführers plötzlich die stinkenden Stoffschichten durchdrangen und sich in den Schenkel des Mannes schlugen. Der Hund fühlte einen warmen, köstlichen Ge schmack im Maul, der ihm nicht unvertraut war und der diesem Kampf eine ganz neue Dimension hinzu fügte. Der gehaßte und gefürchtete Mensch war also nicht mehr als die Ratte oder Katze, einfach Fleisch und Blut. Der Hund war befreit. Seine Stimmbänder rea gierten auf die Empfindung, verliehen seinem Gefühl Ausdruck. Er legte den Kopf zurück und stieß den Ruf seiner Vorfahren aus. Dann, befeuert von der To
talität der Eindrücke, sprang er dem Opfer an die Kehle. Dem Mann gelang ein letzter Schlag mit der Peit sche, bevor sie seinen Fingern entfiel. Danny blickte kaum auf, als Mark das Kartenhaus betrat. »Es ist aufregend!« Er saß zusammengekauert vor einem kleinen Ra dioempfänger, der den engen Raum mit atmosphäri schen Störungen und Quietschtönen erfüllte. »Der Funker sagte, ich könne hier drinnen hören, wo er seinen kleinen Zusatzempfänger hat.« Plötzlich quäkte der Lautsprecher: »Cape May Eins-Vier-Null-Acht, am Zielpunkt. Große Men schenmenge, löst sich nicht auf. Erbitte Anweisung. Kommen.« »Null-Acht, hier Cape May. Krankenhauseinrich tungen überlastet. Nehmen Sie nur die schwersten Notfälle an, lassen Sie andere warten. Kommen.« »Verstanden, Cape May. Ich bin unten, aber ...« Die Stimme wurde auffallend nervös. »He ... sie gehen nicht zurück ...« Ein neues Geräusch kam durch, als der Motor des Hubschraubers verstummte, der Lärm einer schrei enden Menge. »Es ist ein vollständiges Chaos, alles läuft durch einander ... Die Leute drängen und stoßen ...« Dann
hallte die Stimme, als der Mann den Außenlautspre cher einschaltete: »Halten Sie Abstand ... Bitte halten Sie Abstand ... Wir haben Schwerkranke aufzuneh men ... Bitte halten Sie Abstand ...« »Null-Acht, machen Sie notfalls von der Waffe Ge brauch. Halten Sie die Menge von der Maschine fern ...« Die Stimme des Piloten überschlug sich. »Sie werfen Tragbahren um ... trampeln einfach drüber ... he ...!« Die nächsten Augenblicke waren ein wirres Durch einander von zersplitterndem Glas, Schreien, dump fen Schlägen und Stößen. Man hörte zwei Schüsse krachen, und plötzlich verschwand das Signal. »Null-Acht, hier Cape May. Bitte kommen ... NullAcht, bitte kommen ... Null-Acht ...« Aber das Zischen und Rauschen war die einzige Antwort. Danny saß stumm und starr, ohne den Blick vom Empfänger abzuwenden. Schließlich blickte er zu Mark auf und sagte in einem Ton, dem man anhörte, daß er den Tränen nahe war: »Mark, warum tun sie das?« »Jeder hat Angst vor dem Sterben, Danny. Sie se hen sich um und begreifen plötzlich, daß die ganze Menschheit zugrunde geht.« »Mark ... ist die Menschheit es wert, daß sie gerettet wird?«
»Du weißt, daß sie es wert ist, Danny.« »Mark ... was haben sie mit meiner Wetterstation gemacht?« Mark antwortete nicht. »Wahrscheinlich ist sie in tausend Stücke gegangen ...« Die Tränen kamen. »Sie sind es nicht wert, daß man sie rettet ...« Er schluchzte. »Sie – sie sollen sterben ...« Mark legte die Arme um Danny, drückte ihn sanft an sich, sagte aber nichts. Schließlich, nach langen Minuten, ließen die Trä nen nach. »... Mark ...«, schnupfte er. »Ja, Danny?« »Wohin fahren wir?« »Das wissen wir noch nicht. Wir müssen es erst ausarbeiten.« »Meinst du ... daß es Küchen gibt ... wo wir hin kommen werden?« »Küchen? Ich denke schon. Küchen gibt es in den meisten Gegenden. Warum?« »Dann wird es auch Trichter geben ... und Besen stiele. Aus denen läßt sich ein Anemometer machen.« Mark strich ihm übers Haar. »Ganz bestimmt wirst du das machen können, Danny.« Er gab den Jungen frei und stand auf. »Wohin gehst du?« »Einen Funkspruch durchgeben.«
»Wozu?« »Für jemanden, der es wert ist, gerettet zu werden.« Draußen im Durchgang mußte er sich wieder an den Kisten mit Lebensmitteln und Materialien vor beizwängen. Als er auf das Deck hinaustrat, bemerkte er eine neue und ihm bisher unbekannte Eisformati on, die den nächsten Schritt im allmählichen An wachsen der Eisdecke darzustellen schien. Die von Osten und Süden auflaufende Dünung hatte das Pfannkucheneis zu größeren Schollen ge brochen, die sich vielfach übereinandergeschoben hatten, um nach Beruhigung des Seegangs wieder zu sammenzufrieren. Mark schätzte die Eisdicke auf sechs bis acht Zentimeter. Das Schiff begann jetzt den Widerstand zu spüren und mußte sich seine Bahn mehr brechen als schnei den. Obwohl mehrere Besatzungsmitglieder hier auf engem Raum arbeiteten, herrschte im Ruderhaus eine gedrückte Atmosphäre. Jeder verrichtete seine Arbeit in einer Art stummer Anspannung, sei es am Ruder, am Radar, an den Seekarten oder beim Absuchen des Horizontes mit Feldstechern. Ein Lautsprecher verbreitete das gleiche Rauschen und Zischen, das Mark kurz zuvor im Kartenhaus gehört hatte. »Sie haben es auch gehört, wie?« sagte er zum Ka
pitän. Manujian nickte. »So geht es. Was soll man tun, die Leute retten oder erschießen?« Er schob Mark aus dem Weg und schaltete die Sprechanlage ein. »Funkstation.« »Hier ist der Kapitän. Haben Sie schon Sendungen empfangen?« »Negativ, Sir.« Manujian wandte sich mit einem Grunzen zu Mark. »Haney, wohin fahren wir?« »Nach Süden, hoffe ich.« »Ein bißchen genauer, wenn ich bitten darf.« »Das ist nicht so einfach. Ich muß einige Leute kon sultieren.« »Welche Leute, wo?« »In Miami, Cleveland, London – überall.« »Wovon, zum Teufel, reden Sie eigentlich?« »Von Ihrer Funkstation. Ich habe eigene Funksprü che durchzugeben.« Manujian starrte ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ich kann Ihnen das Funkgerät nicht überlassen.« »Tut mir leid, Larry, ich habe meine Amateurlizenz nicht mitgebracht. Aber ich nehme hier Platz weg, al so lassen Sie mich das rechtfertigen. Ich stehe mit ei ner Anzahl von Experten in Verbindung, die über den ganzen Erdball verstreut sind, und die Amateur frequenzen sind unser Kommunikationsmedium.« Manujian dachte darüber nach. Dann schaltete er
die Bordsprechanlage wieder ein und drückte den Knopf der Funkstation. »Funkstation.« »Hier ist der Kapitän. Ich schicke Ihnen einen Zivi listen namens Mark Haney.« »Ach ... den.« Manujian warf Mark einen erheiterten Seitenblick zu. »Sie haben einen Eindruck hinterlassen.« Er wandte sich wieder dem Mikrophon zu. »Er ist be rechtigt, das Funkgerät zu gebrauchen, und zwar für ...« Er wandte sich wieder zu Mark. »Je länger, desto besser. Es gibt eine Menge Be rechnungen, die ausgearbeitet werden müssen.« Manujian schnitt eine gequälte Grimasse. »Und zwar für die Dauer von einer Stunde pro Wache.« »Ich brauche ...« »Sie verplempern Ihre Stunde, Mark.« Mark unterdrückte einen Fluch, rannte von der Brücke den Niedergang hinunter, quetschte sich abermals an den gestapelten Kisten vorbei, stieß die Tür zur Funkstation auf und begrüßte den Funker. »Ruinieren Sie das Ding nicht, Haney. Wir brau chen es.« »Ich auch.« Der Funker grunzte. Er beobachtete Mark beim Einstellen der Frequenz, bis er gesehen hatte, daß Mark zu wissen schien, was er tat.
Nach und nach gelang es Mark, seine Verbindun gen wiederherzustellen. Es war ein Glücksfall, daß Englisch die internationale Sprache der Wissenschaft ler geworden war, denn nun mußten sie über die Ab kürzungen der Amateurfunker hinaus über Klima gürtel diskutieren, über die Verlagerungen von Mee resströmungen und Winden, über Oberflächenfor men, Niederschlagswerte, Vegetationsgürtel, Bodenarten und Konzentrationen von Mineralien und Energieträgern. Die Auskunft des Geographen war nicht ermuti gend. Schon vor der Klimaveränderung waren nur zehn Prozent der gesamten planetarischen Oberfläche zum Anbau geeignet gewesen. Die Landwirtschaft mußte nun auf die verbleibenden anbaufähigen Ge biete konzentriert werden, und dort durften nur die im Verhältnis zur aufgewendeten Energie ertrag reichsten Sorten angebaut werden. Mais, so stellte der Agronom fest, speicherte und wandelte mehr Energie um als jedes andere Haupt nahrungsmittel. Aus Mais ließ sich Alkohol gewinnen, und Verbrennungsmotoren konnten für den Betrieb mit Alkohol umgerüstet werden. »Die Zeit ist um, Mr. Haney.« Der Funker war da, und Mark mußte seine Sen dung abbrechen.
Drei Stunden später, während der nächsten Wache, stellte er die Verbindung wieder her. Die geeigneten Kombinationen von Klima und Bodenart für den Maisanbau waren bekannt, doch mußte berücksich tigt werden, daß die Klimaveränderungen neue Ver hältnisse von Sonnenscheindauer und Nieder schlagsmengen zur Folge haben würden. Die Berech nungen mußten überarbeitet werden, und allzubald war die Stunde um. Als er müde auf das Deck hinaustrat, sah Mark mit inzwischen geschärftem Blick, daß die Eisverhältnisse sich abermals verändert hatten. Sie fuhren jetzt durch Eisfelder aus mehrere Monate altem Eis, das einen grünlichen Schimmer hatte. Die meisten Eisinseln wa ren bloße Bruchstücke von fünf bis zehn Quadratme tern Oberfläche, aber es waren auch solche von vierzig bis fünfzig Quadratmetern darunter, und diese konnte das Schiff nicht mehr beiseite drücken. Mit seinem ab geflachten Bug schob es sich hinauf und brach das Eis durch sein Gewicht. Geschah dies, so schoß ein Ge misch von Wasser und Eisschollen zu beiden Seiten unter dem vorkragenden Bug hinaus, der nun wieder absank, bevor die Fortbewegung des Schiffs ihn wieder auf das Eis schob. So machte der Eisbrecher Bewegun gen, als arbeite er sich durch eine lange Dünung, und Mark mußte sich an den Griffstangen festhalten, als er in sein Quartier zurückkehrte.
Sein Schlaf war unruhig, und ihm träumte, er sitze auf einem wandernden Gletscher und falle in Spalten, die sich unter ihm öffneten und gleich darauf wieder schlossen, um ihn zu zermalmen. Die nächste Sitzung rückte heran, und man hatte die neuen Verbindungen von Klima und Bodenbe schaffenheit in großen Zügen ermittelt. Nun galt es, die politischen Voraussetzungen und Bedingungen zu untersuchen. In den betroffenen Ländern befan den sich Regierungen und Staatswesen im Stadium fortschreitenden Zerfalls. In der allgemeinen Anar chie begannen sich erst allmählich überregionale Wanderungsbewegungen abzuzeichnen, die später zu örtlichen Zusammenballungen mit Druck auf be nachbarte Grenzen und anschließenden Kriegshand lungen führen mochten. Die Zahl der Gebiete mit ei niger Aussicht auf eine vergleichsweise friedliche und ungestörte Entwicklung verringerte sich weiter. Im nördlichen Teil des Kontinents war die einzige Gegend mit solchen relativ günstigen Zukunftsaus sichten eine Provinz in Mexiko, Teil der in den Golf von Mexiko vorstoßenden Halbinsel Yucatan. Mark drehte und wendete den Namen in seinem Sinn. Campeche. Waldreich und dünn besiedelt mit einer Bevölkerung, die sich überwiegend entlang der Küste in Fischerdörfern niedergelassen hatte, sollte diese Provinz – und Teile der angrenzenden Provin
zen Quintana Roo und Chiapas – das Zentrum der neuen Überlebenstechnologie werden. Die Eiszeit mochte den Menschen zum Rückzug zwingen und seine gegenwärtige Zivilisation ver nichten, aber in Campeche würde er seine Verteidi gung aufbauen und überleben. Von dort ausgehend würde er die Natur in ihrem eigenen Spiel schlagen und das Eis zum Rückzug zwingen. Als erste ließ er Karen an seiner neuen Erkenntnis teilhaben. Sie wollte etwas über die Bewohner der Gegend und ihre Kultur wissen. Mark schaute sie verständnislos an. »Ich dachte mir, daß wir ihnen die unsrige beibringen.« »Vielleicht sollten wir von ihnen lernen.« Natürlich war ihm klar, daß er es mit Danny leich ter haben würde, und er entdeckte ihn im Karten haus, wo er mit bedrückter Miene vor dem kleinen Empfänger saß. Marks Neuigkeit munterte ihn auf, und er wurde ganz aufgeregt, als Mark Karten herbeiholte und ihm die genaue Gegend zeigte. »Und ich bin ziemlich sicher, daß sie dort auch Kü chen haben werden.« »Ja. Und vielleicht überläßt dein Freund, der Kapi tän, uns dieses Radio.« »Vielleicht. Oder es gibt dort unten jemanden, der schon eins hat. Oder vielleicht ...«
»Was?« »Nun, wenn seine Befehle nicht durchkommen, können wir alle dort bleiben. Du weißt, dieses Schiff ist ein unabhängiger Stützpunkt, ein technologisches Zentrum in sich selbst.« Dannys Augen lachten hinter den Brillengläsern, als er an die Hilfsmittel des Schiffs dachte. Dann zog eine Wolke über sein Gesicht. »Aber warum sollte der Kapitän seine Befehle nicht kriegen?« Mark sagte »Hmm«, und sie schwiegen. Der Empfänger wurde abermals lebendig, machte sie unter krachenden und knisternden Störgeräu schen mit neuen Hiobsbotschaften bekannt. Der all gemeine Wassermangel, dem durch Einsatz von Tankwagen für die Trinkwasserversorgung nur auf das Notdürftigste hatte abgeholfen werden können, hatte Unruhen unter der Bevölkerung von Los Ange les ausgelöst, die der Kontrolle der örtlichen Polizei entglitten waren. Man ersuchte um den Einsatz von Bundestruppen oder Nationalgarde. Der Ruf blieb unbeantwortet. »Das ganze System bricht zusammen, Danny«, sag te Mark. »Die Regierung, der Staat ... alles löst sich auf. Er wird keine Befehle kriegen.« Das Schiff erreichte inzwischen alarmierende Nei gungswinkel, wenn es seinen Bug auf das Eis schob. Je weiter sie in den zentralen Bereich des südwärts
vorstoßenden Labradorstromes gelangten, desto älter und dicker wurde das Eis. Mark war nicht überrascht, als er aus dem Bullauge blickte und zwischen dem Grün bläuliche Tönungen im Eis ausmachte. Die Schollen und Inseln des Packeises waren hier ein von der Strömung zusammengeschobenes Gemisch von Treibeis verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft. Hin und wieder, wenn der Bug auf beson ders dicke und widerstandsfähige Eisinseln stieß, ging eine Erschütterung durch das Schiff, als wäre es auf eine Mine gelaufen. Dann knackte es im Lautsprecher der IntercomAnlage, und Mark wurde in die Kapitänskajüte geru fen. »Ich habe Anweisungen bekommen«, waren Ma nujians erste Worte, als Mark eintrat. Er sagte er ohne erkennbare Gemütsbewegung, und Mark verstand nicht gleich. »Ihre Befehle?« fragte er. Manujian nickte. Mark spürte einen unangenehmen Druck im Ma gen. »Wie lauten sie?« »Guantanamo.« »Guantanamo? Was, zum Kuckuck, haben wir in Guantanamo verloren?« »Da gibt es einen verdammt großen Militärstütz punkt, falls Sie es noch nicht wissen sollten.«
»Aber ... aber der ist nicht lebensfähig. Er hängt von der Außenwelt ab, und für Guantanamo bedeu tet Außenwelt jetzt nur noch ein Land, das uns dort schon seit Jahrzehnten heraushaben will.« »Befehl ist Befehl.« »Sie wissen, was passieren wird, Larry, oder zumin dest können Sie es sich vorstellen. Es wird dort ein gro ßes Gedränge sein, die Leute werden einander auf den Zehen herumsteigen. Und ihr könnt nicht produzieren, nur Vorräte verbrauchen, also ist es eine parasitäre Ge sellschaft. Um langfristig zu überleben, werdet ihr nach Kuba hinein vorstoßen müssen, und die werden sich nicht herumschubsen lassen. In einer Woche wer det ihr im Krieg sein, und die Woche danach tot.« »Man kann nicht sagen, daß es Ihnen an Fantasie fehle, Mark«, brummte Manujian. »Ein eindrucksvol les Szenarium, was Sie aus einem Wort aufbauen.« Mark zögerte. »Larry, wir sprachen schon einmal darüber. Sie werden sich erinnern.« Manujian blickte ihn schweigend an. »Was ich damals prophezeite, ist eingetroffen. Die Befehlskette ist gerissen. Das Militär liegt in seinen Todeszuckungen, und mit ihm die ganze Regierung. Dieser Befehl beweist es.« »Also kommen Sie jetzt auf das Wort zurück, das ich damals nicht hören wollte«, sagte Manujian. »De sertion.«
»Hören Sie zu. Die Provinz Campeche in Mexiko. Wir haben alles ausgearbeitet und durchgerechnet. Es läßt sich eine funktionierende Kolonie daraus ma chen. Dieses Schiff hat die Hilfsmittel, die den Erfolg in der Anfangsphase sichern können, vor allem den Sender. Glauben Sie mir, Larry, und wenn Sie es nicht tun, verbinde ich Sie selbst mit den Experten. Ich bin nur ein Teil eines funktionierenden Kommunikati onsnetzes, und dieses Netz scheint das einzige zu sein, was noch funktioniert. Wir haben die eine Chance, lebendig durchzukommen und etwas zu ret ten.« »Es bleibt Desertion.« »Gut, ich gebe es zu. Aber wenn Sie die Anweisung befolgen, werden Sie derjenige sein, der desertiert. Dann werden Sie ein Deserteur der Zivilisation sein. Laufen Sie Guantanamo an, und Sie werden sich zu den Dinosauriern gesellen.« »Die Befehle sagen, daß wir auslaufen sollen. Sie sagen nicht, daß wir zurückkommen müssen.« »Warum dann die Befehle befolgen?« »Weil es sonst nichts gibt.« »Es muß noch etwas geben, sonst würden Sie heute einen höheren Rang bekleiden. Sie gingen der Beför derung und einem Schreibtischposten aus dem Wege, weil es etwas gab, was Ihnen sehr viel mehr bedeute te als Befehle oder Rang.«
Stille trat ein. »Ja ...«, sagte Manujian endlich, »aber jetzt gibt es nichts anderes mehr.« Die Worte trafen Mark unerwartet. »Ach, mein Gott, es tut mir leid. Ihre Familie.« Mark hatte ein Gefühl, als verließen ihn seine Kräfte. »Ich ... ich dachte an andere Dinge. Es tut mir leid, Larry. Was ist geschehen?« »Das Dumme ist, ich weiß es nicht.« Er holte tief Luft, und das war alles, was einer Gemütsbewegung nahe kam. »Das Fernsprechnetz war ausgefallen. Es gab keine Möglichkeit, durchzukommen.« Er blickte zum Bullauge hinaus in die Richtung, wo in der Fer ne die Stadt liegen mußte. »Niemand von der Mann schaft bekam Verbindung mit seinen Angehörigen.« Plötzlich ging ein schrilles, kratzendes Geräusch durch das Schiff, als Stahl mit dickem Eis kollidierte, und der Bug hob sich so steil, daß beide Männer rückwärts gegen die Wand geworfen wurden. »Allmächtiger ...« Im nächsten Augenblick summte die Sprechanlage. Manujian schaltete sich ein. »Ja, ich weiß. Bin gleich oben.« Er wandte sich zu Mark. »Könnte sein, daß sowieso alles blasse Theorie bleibt.« Als Mark ihm auf das Deck folgte, konnte er den Grund sehen. Das Schiff war aufgelaufen. Der Bug ragte in einem unglaublichen Winkel über das Eis
hinaus. Obwohl die Hälfte seines Gewichts darauf la stete, hielt das Eis stand. Die Eisentreppe zur Brücke war fast vertikal und Mark kam sich wie auf einer abschüssigen Leiter vor. Der Erste Offizier begrüßte sie mit Zittern und Za gen. »Wir hielten Kurs durch das weiße Eis. Ich weiß nicht, was geschehen ist.« »Dann will ich es Ihnen sagen, Mr. Redfield: Sie sind auf blaues Eis mit Schnee darauf gestoßen.« Der Erste Offizier machte ein Gesicht. »Mit einem Eisbrecher kann man sich nicht allzu viele Fehler lei sten.« »Man sollte sich gar keinen leisten. In Ordnung, geben Sie volle Kraft rückwärts.« Der Maschinentelegraf wurde umgestellt, die Die selmotoren brüllten von neuem los. Das Schiff glitt langsam rückwärts vom Eis. Kurz bevor die Bewegung zum Stillstand kam, gab Manujian volle Kraft voraus, und kurbelte das Ruder nach rechts und links. Das Heck beschrieb einen Bo gen, und der Bug veränderte ein wenig die Richtung. »Volle Kraft rückwärts.« Wieder glitt das Schiff ein Stück zurück, während das Ruder von einer Seite zur anderen drehte, als gel te es, ein feststeckendes Messer zu lockern. Wieder vorwärts, wieder zurück. Schließlich kam das Schiff frei, brach durch das Eis
in die See darunter und schleuderte Eisbrocken und Wasserfontänen hinaus. Die Mannschaft bejubelte ihren ersten Sieg, doch dann meldete der Ausguck weitere, von Norden he rabziehende Eisfelder. Das Eis schien sich zu stauen. Noch als sie auf der Brücke standen und Ausschau hielten, kollidierten Eisfelder mit lautem Splittern und Donnern. Entlang den Kollisionsrändern erup tierte das ebene Eis in Preßrücken und Geschieben. »Wie ich sagte, Mark, es mag sein, daß alles blasse Theorie bleibt.« Sie sahen schweigend zu, wie die Eisfelder sich um sie her zu schließen schienen. »Sir«, sagte der Erste Offizier, »sollten wir nicht ei nen Durchbruch versuchen, bevor wir festsitzen?« »In Ordnung, Mr. Redfield. Wollen Sie uns in Rich tung auf das dünnste Eis bringen?« »Nun, Sir, ich ... ich möchte den gleichen Fehler nicht zweimal machen.« »Sehen Sie, so geht es mir auch.« »Also, was tun wir?« »Warten.« Der Erste Offizier zwinkerte ein wenig irritiert, sag te aber nichts. Sie warteten, während Mark von einem Bein aufs andere trat und sich sorgte, und während Eisfelder zusammenstießen und neue Druckrücken aufbauten, bis das vor Stunden noch ebene Eis einer
Mondlandschaft ähnelte. Dann rief der Mann vom Ausguck: »Offenes Wasser, Sir, steuerbord voraus.« Es schien beinahe wie ein Wunder. Gott teilte die Wasser des Roten Meeres für Moses. Das Eis schien sich zurückzuziehen und gab einen offenen Fluß mit unregelmäßig gezackten Ufern frei, der sich direkt nach Süden erstreckte, allem Anschein nach offen bis hinab zu wärmeren Meeren, und breit genug, um das Schiff bequem durchzulassen. Der Mann am Ruder erwartete Manujians Befehle, doch der Kapitän zögerte. »Es ist wie in einem Labyrinth«, sagte er zu Mark. »Bloß verändert sich dieses hier ständig, während man durchgeht. Wir können durch diesen Kanal lau fen, und ...« Er studierte ihn eine Weile durch das Glas. »Sieht nicht schlecht aus ...« Er suchte ein letztes Mal den Horizont ab. »Da ist noch einer.« Er sah weniger vielversprechend aus, eine schma lere Spalte, die sich nach Nordwesten öffnete. »Peilung null sechs null.« »Sir, der Kanal ist ...« »Null sechs null, Seemann!« Langsam drehte das Schiff auf Nordwest, und während der nächsten Minuten gab Manujian dem Rudergänger die Peilungen, die ihn durch diesen sehr schmalen Kanal führten.
Dann sahen sie es geschehen: das Eis teilte sich, schien vor ihnen zurückzuweichen und sich nach Sü den hin zu öffnen, während der andere Kanal sich zusehends verengte und von den zusammenstoßen den Eisrändern geschlossen wurde. »Mein Gott ...« »Ja«, sagte Manujian. »Nun brauche ich nichts als weitere hundert gute Mutmaßungen hintereinander.« Der Rest des Tages war ein Alptraum aus Sackgas sen und Kanälen, die sich in freies Wasser öffneten und dann plötzlich schlossen. Immer wieder schob die Briarwood sich auf das Eis, als liefe sie auf Grund, und jedesmal durchlief die Er schütterung das ganze Schiff. Die Menschen an Bord verloren das Gleichgewicht, und alle ungesicherten Gegenstände polterten durcheinander. Meistens reichte das Gewicht des Vorschiffs aus, um das Eis aufzubrechen. Dann sank es zwischen aufschießendem Wasser und Eistrümmern schwerfäl lig zurück, und der Prozeß begann von vorn, falls der Schiffsführer es nicht vorzog zu warten, bis sich ein neuer Kanal auftat. Es kam vor, daß das Schiff völlig vom Eis einge schlossen und festgehalten wurde; dann schickte Ma nujian Leute mit langen Brechstangen hinaus, die das Eis an den zusammenstoßenden Rändern auseinan derdrücken mußten. Ließ sich das nicht machen, so
wurden mit einem von mehreren Männern bedienten Handbohrer, der einem riesigen Korkenzieher glich, Löcher ins Eis gebohrt und mit Sprengladungen ver sehen. Die Ladungen wurden gleichzeitig elektrisch ge zündet, worauf die Detonationen mit weithin hallen dem Krachen eine Reihe eindrucksvoller Fontänen aus Eis, Wasser und Dampf aufspringen ließen. Dann unternahm Manujian einen Versuch, ließ den Eisbre cher zurückstoßen und mit neuem Anlauf das aufge sprengte Eis spalten. Bald ging es nur noch meterweise voran. Der inne re Verbund des Schiffsrumpfes begann sich zu lok kern, Schweißnähte wurden undicht, und ständig bildeten sich neue Lecks. Unverbranntes Öl sammelte sich als teeriger Rückstand um den Schornstein und entzündete sich immer wieder. Inmitten von Eis und Wasser war Feuer die größte Bedrohung. Gerieten die Ölrückstände in Brand, mußten alle Operationen ein gestellt werden, während eine Brandbekämpfungs mannschaft ihren Schlauch auf den Schornstein rich tete und das Feuer löschte. Das ablaufende Lösch wasser aber gefror an den Aufbauten und auf dem Deck, bis alles mit dickem Eis überzogen war. Im Kartenhaus saß Danny unverdrossen vor dem Empfänger und lauschte in der Hoffnung, dann und wann eine Sendung aufzufangen, dem ewig gleich
bleibenden Rauschen und Knistern der atmosphäri schen Störungen. Auch studierte er oft stundenlang die Seekarten und alles an Handbüchern und Naviga tionsanleitungen, was er finden konnte. In der Offiziersmesse versuchte Karen die ängstli chen Kinder mit Spielen und Geschichten von ande ren Völkern, anderen Gesellschaften abzulenken. In der Mannschaftsmesse schleuderte ein beson ders heftiger Stoß das Essen vom Tisch und durch den Raum. »Verdammte Scheiße ...« Fink schabte sich mit dem Tischmesser die Mahlzeit von den Kleidern und war tete geduldig auf die Serie neuer Erschütterungen, Rückwärtsmanöver und erneuter Vorstöße. Doch diesmal saß das Schiff fest. »Ich glaube, die brauchen meine Hilfe«, sagte er schließlich und stand auf. Er verließ die Mann schaftsmesse und arbeitete sich durch das schräglie gende Schiff bergauf zum Niedergang, erklomm die Stufen und betrat die Brücke. Er starrte mit offenem Mund. »Mein Gott, ich bin hier heraufgekommen, um Zuspruch und Ermuti gung zu finden, und ich sehe den Kapitän in der Ge brauchsanweisung lesen.« »Ich habe Neuigkeiten für Sie, Mr. Fink. Ich bin nur Leutnant.« Fink blickte verdutzt zu Mark.
»Er macht Witze, wie?« Mark schüttelte den Kopf. »Es ist angeborene Be scheidenheit. Mr. Manujian ist Kapitänleutnant.« »Sag mal, Mark, was ist das für eine Reise, zu der du uns überredet hast?« »Die einzige, die ich für uns buchen konnte.« »Nun, können wir diesen Burschen gegen einen richtigen Kapitän eintauschen?« »Er ist ein richtiger Kapitän.« Fink grunzte. »Na gut, was sagt die Gebrauchsan weisung für solche Fälle?« »Sie sagt, wie man Wasser zwischen den Ballast tanks hin- und herpumpen muß, um das Schiff in schaukelnde Bewegung zu versetzen«, sagte ein be merkenswert ruhiger Manujian. »Und was hindert Sie daran?« »Das ist ein Handbuch für einen Eisbrecher, Mr. Fink. Wir haben keine Ballasttanks.« »... Oh.« »Ist das alles, Mr. Fink?« Ein entmutigter Fink nickte, und war im Begriff zu gehen, als er die Gelegenheit zu einer letzten Anzüg lichkeit sah. »Wir könnten alle von einer Seite zur an deren laufen.« »Danke.« »Kein Sinn für Humor«, sagte Fink kopfschüttelnd. Und er ging.
Manujians Blick fiel auf den Ladebaum. Er stellte sich vor, wie das Schiff von einer Seite zur anderen schaukelte und der Ladebaum wie ein Pendel hinund herschwang. Im Nu war er an der Sprechanlage. »Hier ist der Kapitän. Was haben wir unten im Laderaum?« »Eine Menge Lebensmittel, Treibstoffbehälter, Er satzteile ...« »Vielleicht auch eine Boje oder Tonne, die beim Entladen vergessen wurde?« Der Mann am anderen Ende zögerte. »Nun kommen Sie, reden Sie schon!« »Nun ja, eine ...« »Hängen Sie sie an.« Die Mannschaft fragte sich, ob Manujian verrückt geworden sei, aber sie befolgte den Befehl. Die Boje wurde wie ein riesiger roter Fisch aus dem Laderaum gehoben, groß wie ein Zimmer und schwer wie ein Lastwagen. Unter Manujians Anlei tung schwang der Ladebaum sie über die Steuerbord seite, als wollte er sie über Bord werfen. Unter Deck quietschten die Kinder, als sie fühlten, wie das Schiff sich auf die Seite neigte. Der Ladebaum schwang die Boje zurück und nach Backbord, und das Schiff folgte der Bewegung mit leisem Knirschen und Knarren. Hin und her schwang die Boje, ein mächtiges Pendel, bis das Schiff syn
chron mit ihr zu schaukeln begann, zehn Grad in je der Richtung. Auf einmal kam es in Bewegung und glitt mit lau tem Rumpeln und Knirschen rückwärts ins Wasser, wo es nach kurzem Stampfen und Schlingern zur Ruhe kam. Die Hochrufe der Mannschaft vermochten Manuji ans Stimmung nicht zu heben. Er spähte durch das Glas zum Horizont, das Kinn grimmig vorgeschoben. »Sie haben gewonnen«, sagte Mark. »Nichts dergleichen.« Er reichte Mark das Glas und zeigte zum Horizont. »Da, sehen Sie selbst, womit wir fertig werden müssen.« Mark nahm das Glas und blickte in die angezeigte Richtung. »Ach, du lieber Gott ...« Dort draußen zog die majestätische, langsame Pro zession der Eisberge südwärts, in Bewegung gehalten vom Wind und von der Meeresströmung. Ihr feierli cher Zug schien schneller voranzukommen als der ständig behinderte Tonnenleger. Sie trieben in dichtem Packeis dahin und kollidierten gelegentlich mit don nernden Geräuschen, die wie ein fernes Sommergewit ter über die Eisflächen klang. Wenn sie sich irgendwo stauten, bildeten sie ein unüberwindliches Hindernis. »Zwischen denen möchte ich nicht eingequetscht sein«, sagte Mark beim Zurückreichen des Feldste chers.
»Mag sein, daß alles blasse Theorie bleibt ...«, murmelte Manujian, während er das Eis nach einer neuen Durchfahrt absuchte. Er rief dem Rudergänger neue Peilungen zu, stieß den Maschinentelegraf auf langsame Fahrt voraus, und das Schiff drehte sich zu einer kleinen Öffnung, mehr einer Spalte als einem Kanal, zu schmal für das Schiff. Das Eis war vom tiefsten Blau, das Mark je gesehen hatte. Vielleicht hatte es schon die frühesten Eskimos auf ihrer Wanderung nach Grönland getragen. Langsam arbeitete das Schiff sich durch den schma len Einlaß, und das Packeis gab widerwillig nach. Dann geschah es, ausgelöst vielleicht durch eine Winddrehung oder die Verlagerung eines entfernten Eisfelds. Es war wie eine zuschnappende Falle. Das freie Wasser verschwand und die Eisinseln schlossen sich wie gigantische Kiefer zusammen. Im nächsten Augenblick ertönte ein schmetterndes Krachen von splitterndem Stahl, und das Schiff schüt telte sich, als wäre es in einen riesenhaften Ventilator geraten. Dann hörte das Geräusch plötzlich auf, und das Schiff schien frei – beinahe zu frei. Manujian war schon an der Sprechanlage und rief den Maschinenraum. »Was, zum Teufel, war das?« »Wir fühlten es durch die Welle. Die Schraube ist weg. Das Eis muß die Flügel abrasiert haben.«
Er rief den Bordingenieur, um nach Reparaturmög lichkeiten zu fragen. »Wir haben einen Kranz mit Ersatzflügeln, der auf genietet werden kann, sofern Welle und Kern in Ord nung sind«, antwortete der Ingenieur. »Aber um die Reparatur auszuführen, brauchten wir ein Trocken dock oder zumindest zwei isolierte Taucheranzüge.« Manujian stieß den angehaltenen Atem aus. »Wir werden ein Notsignal senden müssen.« »Sind Sie sicher, daß Sie Antwort bekommen wer den?« fragte Mark. »Wenn sie können, werden sie antworten. Jeder ist heutzutage in Schwierigkeiten.« »Wozu rät Ihr Handbuch in einem solchen Fall?« Manujian schlug nach und seufzte. »Da steht, man solle sich gedulden. Das Eis werde eines Tages schmelzen. Und recht haben sie; schließlich hat es das immer getan, wenn der Frühling kam.« »Ich hoffe, sie kommen, Larry, denn der Frühling wird es nicht tun.« Die Mannschaft kam auf das Deck heraus, um zu beobachten, wie das Eis sich um das Schiff zusam menschob. Man vernahm neue knirschende und kratzende Geräusche, und das Schiff begann sich auf die Seite zu neigen. Diesseits und jenseits des Atlan tik wurden andere Schiffe, in ähnlicher Weise vom Packeis eingeschlossen, wie Papierboote zerdrückt,
doch hier drängte das Eis gegen eine gebogene Ober fläche und drückte das Schiff aufwärts. So wurde es im ganzen aus dem Eis gehoben und kam mit Schlag seite nach Steuerbord zur Ruhe, während das Eis sich unter ihm unwiderruflich schloß. Nun konnte die Mannschaft unter der Leitung des Bordingenieurs an die Reparatur der Schraube gehen, aber sie verrichtete die Arbeit mehr in der Hoffnung auf spätere Zeiten als in begründeter Erwartung einer baldigen Besserung der Lage. Darauf traf man die Vorbereitungen für eine lange Eisdrift. Auf dem Lu kendeckel des Laderaums wurde das orangefarbene und schwarze Notzeichen aufgespannt, um patrouil lierende Hubschrauber aufmerksam zu machen. Frostempfindliche Flüssigkeiten wurden abgelassen, Maschinenanlagen eingemottet. Entlüftungshauben und Schornstein wurden abgedeckt, Deckgerät ver staut oder gesichert. Manujian folgte den Anweisun gen des Handbuchs für Eisdriften und Überwinte rungen in der Arktis – nur war dies ein Frühlingsmo nat vor der amerikanischen Ostküste. Die Kinder langweilten sich bald, und Karen ver brachte mehr und mehr Zeit mit ihnen in der Offi ziersmesse, wo sie ihnen von Grönland erzählte, von Eskimos, die ganz angenehm in einer solchen Umge bung lebten, und nicht einmal die Bequemlichkeiten des Schiffes hatten. Statt dessen machten sie ihre
Häuser aus Eis und Schnee. Sie brauchten darum nicht zu frieren. Im Gegenteil, manchmal spielten die Eskimokinder nackt im Schnee. »Oooh ...« Sie fanden ihre eigene Welt die schönste von allen und bemitleideten die anderen Menschen. Nachts hörte man das Donnern des Gletschers, wenn Spalten aufbrachen oder Eisberge kalbten. Das Nordlicht er füllte den Himmel mit farbigen, tanzenden Schleiern, so großartig und schön, daß man es mit nichts ver gleichen konnte, was es anderswo gab. »Oooh ...« Sie fuhren mit Hundeschlitten, schnell wie der Wind, in einer geisterhaften Stille, als flögen sie auf mächtigen Schwingen durch die Luft. »Wo kauften sie ein? Wie weit war es zum Super markt?« »Es gab keinen Supermarkt, nicht mal einen Laden. Alles, was sie aßen, mußten sie jagen und erlegen.« »Nein, das würde uns nicht gefallen.« »Was ist so aufregend daran, eine Dose zu öffnen? Könnt ihr euch nicht vorstellen, jeden Tag euren ei genen Abenteuerfilm zu leben, zu beobachten, zu warten, zu überlisten und dann anzugreifen? Habt ihr euch noch nie als Tiger gesehen, die auf der Jagd den Dschungel durchstreifen? Diesmal würdet ihr wirklich die Tiger sein.«
»Oooh ...« Die Mannschaft verrichtete ihre Arbeiten, sorgte für die Instandhaltung der Einrichtungen, leistete Wachdienst und legte genaue Listen der vorhande nen Vorräte an, die zur Grundlage einer strikten Le bensmittelrationierung gemacht wurden. Die Leute fanden sogar Gefallen an Übungen, die immer weniger relevant schienen, Brandschutzübun gen, Unfall- und Rettungsübungen, Navigations übungen. Jeden Morgen zogen sie die Flagge auf, und dann versammelten sich die verschiedenen Arbeitsgruppen unter ihren Aufsehern, um die Tagespflichten zu dis kutieren. Bei Sonnenuntergang wurde die Flagge ein geholt, und die Seeleute zelebrierten ihren Wach wechsel, der unverändert beibehalten wurde. Bei Tag wurde neben der Flagge das Seenotzeichen gesetzt, und bei Nacht brannten die Positionslampen, aber allen war klar, daß sie warten mußten, bis sie an die Reihe kämen, daß Handelsschiffe in Eis- und See not Vorrang hatten. Danny verbrachte noch immer die meiste Zeit im Kartenhaus, wo er in mechanisch abgestumpfter Ge wohnheit am Empfänger saß, um Signalen zu lau schen, die immer seltener und schwächer durchzu kommen schienen. »Mayday, Mayday, Mayday ... Hier spricht Motor
schiff Oleander. Hier Motorschiff Oleander. Position 36° 16' N, 41° 29' W. Sitzen im Packeis fest. Lebens mittelvorräte sind aufgebraucht ... Fünfzehn Besat zungsmitglieder tot ... Zweiundzwanzig andere sind krank und geschwächt und benötigen medizinische Hilfe ...« »Mayday, Mayday, Mayday ... Hier Frachtschiff Congo Star ... Position zweihundert Seemeilen süd westlich Faial ... Sind nach Kollision mit einem Eis berg am Sinken ...« »Mayday, Mayday, Mayday ... Hier spricht Tanker Huron ... Hier spricht Tanker Huron ... Position 42° 19' W ... Vorschiff eingedrückt ... Wassereinbruch ... be nötigen dringend ... Mayday ...« Zuletzt schloß er sich aus schierer Langeweile und Verzweiflung den anderen Kindern in der Offiziers messe an. Dort lauschte er mit skeptischer Miene den Geschichten über die Eskimos, aber er hörte zu. In der Mannschaftsmesse lehrte Hideo seine Frau Meditation. Er versuchte auch die anderen dafür zu interessieren, doch mit Ausnahme zweier Besat zungsmitglieder wollte niemand etwas davon wissen. Während Fink sich ausrechnete, daß die Situation ideal geeignet sei, um Helen ins Bett zu locken, zank ten sie nur. »Ach, Gott, es ist zu traurig, diese armen amerika nischen Flüchtlinge! Wenn ich mir vorstelle, wie sie
auf den Autobahnen südwärts wandern, die Farb fernseher auf dem Rücken ...« »Ich kann nichts Komisches daran finden. Zu Hau se sterben die Menschen.« »Oh. Nun, entschuldige, daß ich überlebt habe.« Mark wurde unterdessen mehr Zeit in der Funksta tion zugebilligt, und er machte dankbar davon Ge brauch. »... Sie hatten in einem Punkt recht, Pat. Zur Zeit sieht es hier in der Tat nach einer Fahrt auf einer Tramp-Titanic ohne Rückpassage aus. Wie geht es mit den schönen Paradiesvögeln von Miami? Kom men.« »Sie haben es vorausgesehen, Mark. Eine hoff nungslose Situation. Ein Nachtfrost genügte, um die kälteempfindlichen Früchte und Gemüsesorten in ganz Florida auf den Feldern zu vernichten. Nun, der Verlust ist schlimm genug, aber jetzt haben wir zwei hunderttausend Wanderarbeiter, die plötzlich arbeits los geworden sind und nicht wissen, wohin sie gehen sollen. Sie leiden Hunger und sitzen hier fest. Sie drängen in die Städte, genauso wie die anderen Flüchtlinge, die noch immer ankommen. Die Not wird immer größer, und früher oder später kommt es zur Explosion.« »Können Sie nicht weg?« »Wie Sie sagten, hier ist das Land zu Ende. Es ist
alles Einbahnverkehr, der sich staut. Ich habe von Leuten gehört, die mit allem losfahren, was schwimmt, lecken Ruderbooten, Schlauchbooten, Flößen. Sie denken, sie können hinüber nach Kuba, aber der Golfstrom zieht hier mit einer Geschwindig keit von fünf Knoten pro Stunde durch und treibt sie alle hinaus in den mittleren Atlantik. Eine hoffnungs lose Situation, Mark.« »So lange Sie am Leben sind, können Sie gewinnen. Halten Sie Verbindung.« »Wilco. WB2XQR. Ende.« »W2QRV, Ende und auf Empfang ...« Mark schaltete um und wartete auf einen weiteren Rufer. Er brauchte sich nicht lange zu gedulden. Die Stimme klang alt und müde. »Hallo, Haney. Tut mir leid, daß Sie in Schwierigkeiten sind.« Mark stutzte. »Hallo, hier ist W2QRV. Bitte identi fizieren Sie sich. Kommen.« »Ja, Haney, es tut mir wirklich sehr, sehr leid ... Ich hatte halb gehofft, Sie würden es schaffen und hier herkommen. Sie waren der am wenigsten Dumme vom ganzen Haufen.« Mark sperrte den Mund auf. »... Professor Guz man?« »Wissen Sie, Haney, man träumt über etwas, wie es sein wird, aber dann läuft es immer ganz anders ... Es kommt nie so, wie man es sich vorgestellt hat. Ich
dachte, ich könnte allem den Rücken kehren, aber ich vergaß, daß ich Henry Guzman mitnahm.« »Professor Guzman, wo sind Sie?« »Wissen Sie, andere Männer in meinem Alter ... sie haben es zu ein bißchen Geld gebracht, oder zu einer Scheidung, und dann flippen sie aus. Die alten Gicht nacken machen sich auf jung und sportlich zurecht, gehen zu den Mädchen und sagen: ›Hier sind fünf hundert Dollar, laß uns bumsen ...‹ Oder sie schenken irgendeinem Flittchen einen neuen Wagen, einen Pelzmantel oder was immer, nur damit sie rangelas sen werden und sich auf ihre alten Tage noch mit et was Jungem und Knusprigem sehen lassen können ...« Er hielt inne und seufzte. »Ich wünschte, ich könn te ausflippen, Haney. Wissen Sie, wenn man am Ver hungern ist, dann ist Essen mehr wert als ein Wagen. ›Hier sind ein paar Süßkartoffeln, laß uns bumsen.‹ Teufel noch mal, für eine einzige würden sie es tun.« Er machte eine Pause, und Mark nutzte die Gele genheit. »Professor Guzman, wo, zum Teufel, sind Sie?« Guzman gluckste. »Nun, was meinen Sie, Dr. Ha ney? Im Garten Eden, wo Sie sein wollten. Aber ma chen Sie sich nicht die Mühe, herunterzukommen. Ich habe den Garten eingezäunt.« »Campeche?« Guzman lachte. »Tut mir leid. Natürlich, Sie sitzen
ja fest. Sie können nicht weg, und werden nirgend wohin gehen. Geradeso gut. Ich traue niemandem mehr über den Weg, nicht mal Guzmans Armee ... Ich frage mich, ob ich ihnen hätte Waffen geben sollen, aber man weiß nie, was die Brüder dann mit den Schießeisen machen, nicht wahr?« »Wer ... wer ist bei Ihnen?« »Bei mir? ... Niemand ist bei mir ... alle sind gegen mich, das ist das Problem. Wenn Sie der einzige im Ort sind, dem es an nichts fehlt, der Lebensmittel, Treibstoff und Waffen hat ... Nein, damit macht man sich nicht beliebt, Mark.« »Professor Guzman, Sie können anderen Menschen nicht den Rücken kehren, Sie müssen teilen.« »Teilen? Was teilen? Den Reichtum? Die For schungsergebnisse? Den wissenschaftlichen Kredit? Ich scheiß drauf! Sie haben Ihre Arbeit und Ihre Be rechnungen mit anderen geteilt und nun stecken Sie in der Scheiße ... Ha, in gefrorener Scheiße ... Vielen Dank, nein, lieber behalte ich alles für mich, die Seño ritas mit eingeschlossen.« »Professor Guzman ...« »Tut mir leid, daß Sie in Schwierigkeiten sind, Mark, wirklich. Ende.« »Professor Guzman ...« Aber da war nur Rauschen und Zischen. Mark schaltete fassungslos aus und verließ die
Funkstation. Der Durchgang war jetzt leichter zu be gehen, da ein Teil der dort gestapelten Vorräte aufge zehrt war. Um ihn her gingen die Besatzungsmitglie der gemächlich ihren gewohnten Pflichten nach. Dann sah er den Funker und hielt inne. »Das Gerät ist frei, wenn Sie es wollen.« Der Funker nickte und ging wieder hinauf, um die Frequenz der Küstenwache abzuhören. Das Wetter war klar, und im Osten sah er die gro ßen Eisberge im Packeis stecken. Er gewann den Ein druck, daß sie zum Stillstand gekommen waren. Im Westen, wo die Küste lag, erstreckte sich eine unebe ne weiße Fläche bis zum Horizont, da und dort un terbrochen von höheren Preßeisrücken. »Keine Chance«, murmelte er. Er klopfte an die Tür zur Offiziersmesse. Karen un terhielt die Kinder mit einer weiteren Geschichte von glücklichen Eskimos. Er hörte eine Weile zu und un terbrach sie schließlich. »Ist das wirklich ein gutes Leben?« Sie nickte. »Laß uns draußen reden.« Die Kinder machten mißmutige Gesichter und quengelten, als sie sich entschuldigte und Mark folg te. »Ist das wirklich wahr, was du den Kindern da er zählst?« fragte er, als sie draußen standen.
»Eskimos lügen nicht.« »Hast du auch andere Dinge gelernt, wie zum Bei spiel das einfache Überleben?« »Na ja, ich habe sie beobachtet, habe mir ihre Be richte angehört ...« »Das ist nicht ganz dasselbe.« »Wäre es das, dann wäre ich Eskimo statt Anthro pologin. Warum fragst du?« »Weil es so aussieht, als hätten wir unsere Chance mit dem Garten Eden verloren. Sie werden dort unten genauso sterben wie in Florida und auf diesem Schiff.« Sie starrte ihn an. »Auf diesem Schiff? Manujian sagt, die Vorräte reichten für mindestens ein Jahr. Er rechnet damit, daß die Eisdrift uns früher oder später so weit nach Süden versetzen wird, daß das Schiff wieder freies Wasser findet.« Er schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Ich fürchte, dies ist Stauwasserbereich, außerhalb der Strömung. Und wenn ich recht habe, dann wird das Schiff noch in zehn Jahren hier auf dem Eis liegen.« »Was bleibt uns übrig?« Er deutete mit einem Kopfnicken nach Westen. Sie sah ihn überrascht an. »Du meinst, wir sollen zum Festland gehen? Womöglich zurück in die Stadt?« »Es gibt keinen anderen Ort.«
»Aber hier haben wir es gut. Es fehlt uns an nichts. Die Küstenwacht wird sich um uns kümmern, so lan ge wir im Eis festliegen. Das sagen alle.« »Die wissen nicht, was sie sonst sagen sollten. Niemand kümmert sich um uns, und kein Mensch wird sich je hier draußen blicken lassen.« Sie wurde zornig. »Du hast uns das eingebrockt. Wir hätten vor einem, zwei Monaten ein Flugzeug nehmen können ... Aber nein, du mußtest an deinem gottverdammten Sender sitzen und es der Welt er zählen. Also sind wir jetzt erledigt.« »Schon gut, Karen, es tut mir leid«, sagte er lahm. »Ich wollte nicht, daß die Menschheit zugrunde geht, und ich wußte keinen anderen Weg, sie zu retten. Jetzt schlage ich dir nur vor, daß wir tun, was wir beide wollen, um am Leben zu bleiben.« Sie starrte über das Eis hinaus. »Ich weiß nicht mal, ob das Eis sicher ist.« »Es ist immerhin so dick, daß es das Schiff trägt.« Sie nickte nachdenklich und blickte wieder über die endlose Eiswüste hinaus und sagte: »Die Preßrücken verlaufen parallel zur Küste. Das heißt, daß das Eis von außen hereindrückt. Es wird zu begehen sein.« »Fein. Wir werden dir folgen.« »Folgen ... Aber ich könnte mich irren.« Er legte die Arme um ihre Schultern und küßte sie sanft. »Aber du könntest recht haben.«
Sie begann zu zittern, und er drückte sie fester an sich. Gekicher unterbrach sie. Die Kashihara-Kinder hat ten die Tür zur Offiziersmesse geöffnet. Karen mach te sich verlegen los und wandte sich ihnen zu. »Kinder, wie würde es euch gefallen, als Eskimos zu leben?« »Oooh!« Sie machten große Augen. »Mark«, sagte Danny, »wovon redet meine Mut ter?« Mark nahm ihn beiseite und sagte es ihm. »Aber ... wir würden wie Primitive sein ... Ich mei ne, was sollen wir da draußen tun?« »Wir sind keine Primitiven, Danny. Wir sind Schiffbrüchige. Wir sind zivilisierte Leute, die ihren Verstand gebrauchen, um zu überleben.« »Aber ... was sollen wir tun? Jagen und rohes Fleisch essen?« Er schnitt eine angewiderte Grimasse. »Danny, sieh es als das ernsteste, geheimnisvollste und wichtigste wissenschaftliche Problem, das uns je gestellt wurde.« Danny dachte lange darüber nach. »Vielleicht ha ben sie meine Wetterstation doch nicht zerbrochen ...« »Oder vielleicht kannst du sie wieder herrichten.« Langsam und zögernd begann seine Miene sich auf zuhellen. »Wir können die Sachen wieder aufbauen ...«
Mark nickte. »Wir werden nicht wie die Primitiven leben, Mark, nicht?« »Überhaupt nicht.« »Wir werden trotz allem die Welt retten, du und ich.« Mark nickte wieder. Er glaubte ein Licht in Dannys Augen zu sehen. Etwas später trommelte er die anderen in der Mannschaftsmesse zusammen und sagte ihnen, wie er die Lage einschätzte. Fink war wie vor den Kopf geschlagen. »Mark, man hat wirklich den Eindruck, als ob du mit jeder neuen Idee, die dir durch den Kopf geht, verrückter würdest.« »Alles wird verrückter.« »Ja, ich erinnere mich, wie wir Guzman für ver rückt hielten. Wenn er also verrückt ist, weil er sich rechtzeitig mit Vorräten und allem unten in Mexiko verschanzt hat, dann müssen wir vernünftig sein, weil wir zurückgehen, um uns die Ärsche abzufrie ren.« Hideo lächelte. »Es scheint in mehr als einer Hin sicht eine Rückkehr zu sein.« Er blickte aus dem Bullauge. »Wir kehren zum Ausgangspunkt zurück, der Kreis schließt sich. Es ist ganz folgerichtig ... durchaus vollkommen.«
»Lieber Gott«, ächzte Fink. »Was soll dieses mysti sche Geschwafel? Willst du mich auf mein baldiges Ende vorbereiten?« Hideo betrachtete ihn nachsichtig. »Ihr Westler seid so ... durchsichtig. Ich will damit sagen, daß wir zu unseren Wurzeln zurückkehren werden, zu unse rer wahren Natur, indem wir das Beiwerk der Zivili sation abwerfen.« »Ja, gut, aber ich mag dieses Beiwerk. Wie haben wir es noch genannt? Drei anständige Mahlzeiten am Tag, ein warmes Bett und Sex?« »Das hatten die besser als wir, Fink. Ein Eskimo würde dir sein Bett, seine Mahlzeit und seine Frau für die Nacht geben.« Hideo fühlte den Blick seiner Frau auf sich ruhen und wandte sich ihr zu. »Na ja, wenn die Mahlzeit Tran war, dann kannst du dir vorstellen, wie die Frau gerochen haben mag.« Helen meldete sich zu Wort. »Wozu dann die Mü he, Mark? Wenn es so oder so zu Ende geht, warum alles das auf uns nehmen?« »Weil es nicht das Ende sein wird. Es gibt andere kleine Gärten Eden auf der Welt, die wir ermittelt ha ben, Gegenden in Indonesien, Neuseeland, Südafrika ... Andere Leute werden dort Zuflucht finden. Wir werden durchhalten, wir werden in Verbindung blei ben und wir werden überleben.« »Und was ist mit unserem Kapitän?«
»Ich bin überzeugt, daß er uns alles für die Rück kehr Nötige geben wird.« »Und das wäre?« fragte Fink. »Ein eisbrechendes Ruderboot?« »Proviant, Decken, Schlafsäcke, chemische Handwärmer ... was immer er uns zur Verfügung stellen kann.« »Aber er oder seine Leute würden nicht mit uns kommen?« »Nein«, sagte Fink. »Er wird hierbleiben, wo es be quem und warm ist, wo er Lebensmittel und Brenn stoff hat, ein warmes Bett und Radioverbindung und eine Chance, gerettet zu werden. Wer möchte schon einen solchen Idioten dabeihaben.« Trotz Finks Galgenhumor sahen sie die Hoffnungs losigkeit der Situation klarer als der Kapitän es tat. »Sie sind verrückt«, sagte Manujian, als Mark ihn von seiner Absicht unterrichtete. »Wir sind gut ver sorgt, das Operationsbüro der Eispatrouille hat unse re Position notiert ... Wissen Sie, dies ist nicht das er ste Mal, daß ein Schiff im Packeis eingefroren ist. Wir warten ab, wohin die Eistrift uns führt, und früher oder später kommen wir flott oder werden gerettet.« »Sie sind auf der Brücke gewesen, Larry, aber ich war am Radio. Niemand wird kommen. Und ich glaube nicht an eine Eistrift. Sie sitzen hier im Staueis fest und sind verloren.«
Manujian schlug in unvermutetem Jähzorn die Hand auf den Tisch. »Genug jetzt, Haney!« Beide verharrten in benommenem Schweigen. Mark sah Manujians Lippen zucken. »Ich glaube, eigentlich wollten Sie mich schlagen.« Manujian nickte widerwillig. »Man stellt nicht alle Grundsätze in Frage, nach denen ein Mensch gelebt hat. Wenn die Küstenwache uns retten kann, dann wird sie es tun. Wenn nicht, nun gut, dann nicht. Aber das wußte ich, als ich in den Dienst ging.« »Das ist schön und gut für Sie, aber für meine Gruppe kann es nicht gut sein.« »Wenn es darum geht, Sie und Ihre Leute zu retten, dann heißt das, daß ich Sie an selbstmörderischen Handlungen hindern kann.« »Sie werden uns nicht zurückhalten.« »Ich könnte es tun, zu Ihrem eigenen Besten.« Ma nujian zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete einen Stahlschrank. »Sie werden es nicht tun«, sagte Mark, zur Tür tre tend. »Ich hatte gehofft, Sie würden uns Proviant und die nötigste Ausrüstung überlassen, aber ob Sie das tun oder nicht, Sie werden uns nicht aufhalten.« Dann sah er die .45er in Manujians Hand. Eine lange Stille trat ein. Dann trat Manujian auf Mark zu und drückte ihm
die Waffe in die Hand. »Das werden Sie dort wahr scheinlich brauchen.« Mark nickte dankbar. »Nehmen Sie sich aus dem Vorratsraum, was Sie brauchen. Wenn Sie das Futter aus den Rettungswe sten reißen, geben sie brauchbare Rucksäcke ab.« »Danke, Larry.« Er zögerte. »Alles, was wir brau chen? War das Ihr Ernst?« »Klar.« »Ich ... äh ... habe den Vorratsraum gesehen. Was dort ist, würde gerade für den Rückmarsch reichen.« »Oh, machen Sie sich unseretwegen keine Sorgen. Im Laderaum lagern tonnenweise weitere Vorräte. Ich werde später etwas davon heraufbringen lassen. Aber schleppen Sie nicht zuviel. Eine zu schwere Last ermüdet nur.« Mark nickte, wandte sich zum Gehen, und machte dann noch einmal kehrt. »Larry, ich hoffe, es wird al les gut für Sie ausgehen.« »Das wird es.« Sie tauschten einen Händedruck aus. Die Sonne stieg über den Horizont und berührte die Spitzen der großen Eisberge mit blassem Gold, bis sie wie Leuchtfeuer auf den Bergen glühten. Die Kinder plapperten vor Aufregung, die Erwach senen aus Furcht vor dem Kommenden, als sie die
Leiter hinunterstiegen und die Füße auf das Eis setz ten. Jeder prüfte es auf seine Festigkeit, als weigere er sich, dem Indizienbeweis der vorausgegangenen Per son zu glauben, nicht zu reden von dem Schiff selbst, das es mit solcher Leichtigkeit trug. Die Sonne kam höher, und das Gold wurde heller und gleißender. Die Weißglut kroch wie geschmolze ne Lava die Flanken der Eisberge herab. Das Deck des auf seinem gefrorenen Trockendock liegenden Schiffes war hoch über ihnen. Sie legten den Kopf zu rück und sahen die Männer der Besatzung an der Re ling stehen und herabschauen. Die Kinder winkten, und die Männer winkten zu rück, eine Szene, die sehr an den Beginn einer Ozeanreise erinnerte, aber nun in einer seltsamen Umkeh rung ablief. »Also gut, Leute, hört zu ...« »Ich nehme an, ihr fragt euch, warum ich euch heu te hier zusammengerufen habe«, unterbrach Fink ihn in einem gelungenen Versuch, Marks Stimme zu imi tieren. »Fängst du schon wieder an?« »Wenn du es tust.« Mark seufzte. »Dies ist ein verdammt gefährliches Unternehmen, Fink. Wir spielen hier mit unseren Le ben. Hört zu, Leute ... Karen hat die Leitung. Sie hat unter den Eskimos gelebt. Sie hat eine Gruppe von
uns durch diesen schweren Winterblizzard geführt, und sie kann uns jetzt zurückführen. Aber wir folgen ihr absolut. Sie entscheidet über unser Leben.« Karen sah zu den Erwachsenen und Kindern der Gruppe, die alle auf ihre nächsten Worte warteten. Sie blickte auf zum Schiff, wo die Besatzung an der Reling stand und herabschaute. Sie fröstelte, zögerte, bis die Gruppe unruhig wurde. Mark drückte ihr die Schulter und wisperte. »Ich liebe dich.« Sie zeigte ein mattes Lächeln, gab sich einen Ruck und sprach. »Das Wichtigste vor allem anderen ist ei ne positive Einstellung, die Macht des Geistes über den Körper.« Fink murmelte: »Mein Gott, ich sehe mich schon Yogaübungen im Schnee machen.« »Der Eskimo überlebt, weil er nicht weiß, daß es al les andere als selbstverständlich ist. Die Kinder spie len nackt im Schnee, weil sie nicht wissen, daß man im Schnee erfrieren kann. Wenn der Eskimo von ei nem Schneesturm überrascht wird, dann kehrt er ihm einfach den Rücken, setzt sich nieder und wartet – wenn es sein muß tagelang –, bis er aufhört. Geeigne te Kleidung vorausgesetzt, kann das jeder, die Kinder noch besser als die Erwachsenen, wenn man nur glaubt, daß man es kann. Eine ganze Rasse hat in die sem Klima Jahrtausende überlebt, und wir werden es
auch schaffen. Als erstes müssen wir lernen, wie man in Schnee und Eis geht. Das wird so gemacht ...« Sie führte eine langsame, plattfüßig watschelnde Gangart vor, und ließ sie alle üben. Helen fragte: »Wie können wir wissen, wohin wir gehen?« »Die Sonne geht dort drüben im Osten auf, also ist das Westen ...« Sie streckte die Hand aus. »Man orien tiert sich an Landmarken. Der Rücken dort am Hori zont ist unser Tagesziel. Morgen werden wir diese Linie bis zu einer neuen Landmarke verlängern.« »Verdammt schlau, diese Eskimos.« »Sie hatten sechstausend Jahre Zeit, um zu lernen. Wir werden den Lernprozeß ein wenig beschleunigen müssen.« »Dann sollten wir uns beeilen.« »Nein, wir gehen langsam, schon wegen der Kin der. Und im Gänsemarsch. Wo das Eis am blauesten ist, da ist es am dicksten ... es gibt noch viel zu lernen, aber wir werden es lernen.« Sie schob ihren improvisierten Rucksack zurecht, und nach einem aufmunternden Blick in die Runde tat sie die ersten plattfüßigen Schritte der Wande rung. Mark blickte zurück, und sah Manujian auf der Brückennock stehen. Er hob die Hand zum Gruß, und Manujian winkte zurück. »He, Mark«, sagte Fink. »Mir ist gerade eingefallen,
was aus dem letzten Mann geworden ist, der auf dem Wasser ging.« Mark wandte sich zu Danny um. Der Junge ließ den Kopf hängen, als weinte er. »Alles in Ordnung, Danny?« »O ja. Ich habe mir das Eis angeschaut. Wo der Wind den Schnee weggeblasen hat, kann man sehen, daß es manchmal wolkig und manchmal klar mit wolkigen Linien ist. Warum ist das so?« – »Das ist Hideos Fach.« Hideo zeigte sich gefällig und erklärte dem Jungen die Unterschiede in der Beschaffenheit des Eises, den Prozeß, durch welchen das Salz vom Meereis nach und nach ausgeschieden wird. Je älter, desto süßer. »Die Sonne schmilzt kleine Wassertümpel auf der Eisoberfläche. Wenn du das Wasser vom blauen Eis verwendest, wirst du finden, daß es das süßeste, rein ste Wasser ist, das du je getrunken hast.« Danny fand das interessant und wollte mehr wis sen. Bald schien er die Kälte und den Wind zu ver gessen. Als sie ungefähr tausend Schritte gegangen waren, drang die Stimme aus den Bordlautsprechern dünn und durchdringend über das Eis, und die Wanderer hörten, wie die Mannschaft zum Setzen der Flagge an Deck beordert wurde. Sie blieben stehen und blickten zurück zur Briar
wood. Sie sah beinahe wie ein Modell aus, ein in Weiß erstarrter See gestrandetes schwarzes Spielzeug. Dann begannen kleine Gestalten auf dem Deck zu er scheinen. Das Modell erwachte zum Leben. »Lieber Gott, Mark, was tun wir hier draußen in der Kälte?« sagte Fink. »Die sind in einer gut beheizten und mit allem Notwendigen versehenen Festung, und wir ha ben nichts als das, was wir auf dem Rücken tragen.« »Das ist alles, was in der Vorratskammer war, Lew.« »Wieso alles?« »Ich habe die Regale leergeräumt, weil er mir sagte, er habe tonnenweise Vorräte im Laderaum.« »Und?« »Ich habe nachgesehen. Im Laderaum sind nicht mehr als drei oder vier Kisten mit Lebensmittelvorrä ten; der Rest enthält Werkzeuge, Ersatzteile und der gleichen.« Fink holte tief Luft. »Und dich ließ er die Vorrats kammer ausräumen? Ziemlich dumm von ihm.« »Ja, Lew, ziemlich dumm.« Am Mast auf dem Achterdeck wurde die Flagge gehißt und bauschte sich im Wind. Eine Trillerpfeife schrillte, und zwanzig Männer standen stramm und salutierten. Drei Pfiffe, und die Männer ließen die Hände sin ken und kehrten an ihre Arbeit zurück.
»Viel Glück, Larry«, murmelte Mark. Dann wandte er sich ab, um Karen zu folgen, und die anderen for mierten sich hinter ihm zu einer Reihe. Das Blau des Eises wurde heller und milchiger und ging dann in Grün über, als sie auf jüngeres Eis tra fen. Am Abend suchten sie im Windschatten eines ho hen Preßeisrückens zwischen den zusammengescho benen Schollen und Eistrümmern eine halbwegs ge schützte Höhle, in der sie sich eng aneinanderdräng ten, um sich gegenseitig von ihrer Körperwärme mit zuteilen. Die Kinder kicherten und die Paare erfreu ten sich der Nähe des jeweiligen Partners. Mit einer Ausnahme. »So halten sich die Schweine warm«, sagte Fink. »Du mußt es ja wissen«, sagte Helen. Fink verzog das Gesicht und wandte sich zu Mark. »He, hieß es nicht, daß diese Gesellschaft mich mit Sex versorgt?« »Sie bietet den Zugang, aber keine Erfolgsgaran tie.« Am nächsten Morgen erwachten sie steif und durchgefroren, aber sie erwachten, was sie freilich nicht zuletzt dem Umstand verdankten, daß alle sich frühzeitig mit Pelz- oder Schaffellkleidung und ent sprechendem Schuhwerk versehen hatten. Als die Sonne über den Horizont kam, und die Preßeisrücken
mit langen Schatten hervorhob, legte Karen das näch ste Tagesziel fest, und alles wiederholte sich. Die Kälte schien weniger mörderisch, entweder durch Gewöhnung oder durch einfache Betäubung. Die Traglasten schienen weniger drückend, entwe der, weil die beginnende Gewöhnung die Träger kräftigte, oder weil die Lasten um den verzehrten Proviant erleichtert waren. Auch kam ihnen der wat schelnde Gang bereits natürlicher vor als am ersten Tag. Sie legten größere Entfernungen mit weniger Ruhepausen zurück. Und ganz von selbst lernten sie die feinen Unter schiede in der Farbe, Klarheit und Form des Eises beobachten und einschätzen. »Die Eskimos kennen mehr als hundert verschie dene Wörter für Eis«, sagte Karen. »Ich glaube, ihr beginnt zu verstehen, wie das möglich ist.« »Hört sich trotzdem nach begrenzter Konversation an«, erwiderte Mark. Am dritten Tag schien ihnen die Kälte nicht länger lästig, sondern sogar erfrischend. Obwohl sie jeden Morgen frierend und steif erwachten und seit dem Verlassen des Schiffes keine warme Mahlzeit genos sen hatten, gab es keine Erkältungen. Karen klärte sie auf, daß die Arktis eine sterile Umgebung bereitstelle. »Das tut Helen auch«, murrte Fink. Die Wanderer hätten schwören mögen, daß ihre
Haut in diesen wenigen Tagen dicker geworden war. Und tatsächlich fanden in ihren Körpern langsame und subtile Anpassungsvorgänge statt. Jede einzelne Zelle, vielleicht in einer primitiven Art und Weise empfin dend, oder von höheren biochemischen Prozessen ge steuert, versuchte sich durch Umstellungen den neuen Bedingungen anzupassen. Die Zahl der Fettzellen ver vielfachte sich, eine Verengung der Gefäße steigerte die Durchblutung der Gliedmaßen, die Stoffwechsel funktionen erfuhren eine Umstellung. Mochten alle diese Veränderungen auch vorerst noch zu gering sein, um sich durch Messungen nachweisen zu lassen, so war doch ein Prozeß in Gang gekommen. Das relativ ruhige Wetter dauerte an, und am Ende des vierten Tages wurden die entfernten Türme der Stadt ihr neuer Orientierungspunkt. Gegen Mittag des folgenden Tages passierten sie Sandy Hook und kamen in die äußere Bucht. Vereinzelt sahen sie vom Eis halb begrabene Schiffe mit eingedrückten Rümp fen, deren Aufbauten und Masten kaum aus den Ge schieben ragten. Sie kamen nur noch mühsam voran, denn der Eis stau vor der Küste hatte den Abtransport der vom Hudson herangeführten Eismassen verhindert und bis zum Gefrieren des Flusses zum Aufbau mächtiger Geschiebe in der äußeren Bucht geführt, die nun überwunden werden mußten.
Als sie näherkamen, sahen sie die Wolkenkratzer ohne ihre vertrauten Sockelgeschosse aus den Schneeanwehungen ragen, Grabsteinen ohne Gräber gleich, Finger, deren Hände fehlten. Die Orientierung bereitete ihnen Schwierigkeiten. Die gesamte Geographie der Stadt schien verändert. Das untere Brooklyn war fast völlig verschwunden, und die wenigen höheren Gebäude, die aus dem Schnee ragten, waren in ihrem neuen Zusammen hang unkenntlich. Aber noch immer bezeichnete die Brücke über die Verrazzano-Enge den Eingang in die obere Bucht. Ih re Türme erhoben sich schlank und stolz wie ehedem zu beiden Seiten der Meerenge, womöglich noch ein drucksvoller durch die verfremdende Wirkung der dicken Vereisung, die ihnen das Aussehen monu mentaler Kristallformationen verlieh. Die Brücke selbst war unter der zusätzlichen Last jedoch an mehreren Stellen eingestürzt und hing aus achtzig Metern Höhe auf das Eis herab, grotesk ver dreht wie riesige Kreppgirlanden, während die stäh lernen Aufhängekabel über ihnen nutzlos herabhin gen, die Enden zerfranst wie fadenscheinige Quasten. Die das Eis bedeckenden flachen Dünen der Schneewehen zeigten jetzt steilere und gebogenere Formen mit Riffeln und Trichtern. Selbst aus dieser Entfernung, zwölf Kilometer von Manhattan entfernt,
erzeugten die Türme der Stadt noch Luftwirbel, wie Felsblöcke in einem Bachbett weit stromab Turbulen zen im fließenden Wasser hervorrufen. In größerer Nähe zur Stadt steilten die Schneewehen sich noch höher auf und büßten ihre vorherrschend nordsüdli che Ausrichtung ein, bis kein zusammenhängendes Muster mehr erkennbar war. Nun konnten sie die scheinbare Unberechenbarkeit studieren, mit welcher der Wind seine Schneefracht abgelagert hatte. Kleine Gebäude, die, legte man die durchschnittliche Schneehöhe zugrunde, vollständig begraben sein sollten, standen vergleichsweise frei. Wolkenkratzer hingegen waren mehrere Stockwerke hoch eingeschneit. Die meisten trugen mächtige Schneekappen wie Nachtmützen. Der Nordwind hatte den Hudson und die Hafen kais zu beiden Seiten weitgehend schneefrei gehalten, so daß die Gruppe ohne Mühe die Pier auf der Höhe der Morton Street wiederfinden konnte. Still und ge spannt näherten sie sich der Pier. Wiederholt mach ten sie halt und lauschten, als befürchteten sie, die Straßenräuber warteten noch immer hinter dem halb im Schnee versunkenen Lagerschuppen. Aber die Stille war vollkommen; furchtbar und nicht endend. Der Schnee hatte die Geräusche der Stadt so gründlich ausgelöscht wie ihre Straßen und ihre Bewohner.
Auf einmal wurde sie von einem entfernten Grol len unterbrochen, einem dumpfen Gerumpel und Geprassel. Es dauerte vielleicht zehn Sekunden, dann wurde es wieder still. »Was war das?« Etwa zwei Kilometer nordwestlich von ihnen erhob sich eine weiße Staubwolke über die Dächer und sank langsam wieder in sich zusammen. »Da muß jemand am Leben sein!« Mark schüttelte den Kopf. »Ein Haus ist einge stürzt.« »Warum gerade jetzt?« Er hob die Schultern. »Sie sind alle verschieden ge baut, unterschiedlichen Alters dazu, und auch die Schneelasten, die sie zu tragen haben, sind verschie den ...« »Wie du einmal sagtest«, unterbrach Hideo. »Grön land ist schön, wenn es oben in Grönland bleibt.« »Das hier ist noch nicht Grönland.« Schweigend stapften sie durch tiefen Schnee zur Straßenebene hinauf. Auf der windgeschützten Süd seite des Lagerschuppens lagen Bretter von aufgebro chenen Kisten, herausgerissene Seiten von Büchern, Instrumententeile und der arg verbeulte und rostige Motorschlitten. »Seht euch das an«, sagte Fink und zog das Gefährt mit einiger Mühe aus dem Schnee. »Wir könnten ihn
an jeder Tankstelle an der Ecke auftanken – wenn wir nur eine Ecke finden könnten.« »Da haben wir etwas Wichtigeres«, sagte Mark, der mit einem Brett Schnee zur Seite schaufelte und einen schwarzen Metallkasten zum Vorschein brachte. »Den Sender.« »Ach so. Ich dachte, es wäre etwas Nützlicheres, etwa eine Tiefkühltruhe.« »Du mußt deine Prioritäten in die richtige Ord nung bringen, Lew. Nahrung werden wir auftreiben. Wir werden am Leben bleiben, aber dies gibt uns den Grund zu leben.« »Ein lächerlicher Radiosender?« »Andere Menschen, Lew, verstehst du? Unsere Verbindung mit dem Kommunikationsnetz.« »Und was machen wir, um ihn in Betrieb zu neh men? Gefrorene Elektrizität schmelzen?« »Wenn der Sender da ist, dann ist auch der Genera tor da.« »Für den wir das Benzin an der gleichen Tankstelle holen.« »Wir haben was anderes, und jede Menge davon.« »Du meinst dieses komische weiße Zeug? Willst du Normal oder Super?« »Ich meine Wind.« »Ach so. Gut, davon haben wir tatsächlich eine Menge, und hauptsächlich aus deiner Richtung.«
»Schon gut, Fink, lassen wir das.« »Ganz und gar nicht! Du wolltest uns etwas über Prioritäten erzählen!« »Hör endlich auf!« Fink vergrub die Hände in den Taschen seines Lammfellmantels und sah den anderen zu, die lustlos im Schnee stocherten und nach den Resten ihrer Hab seligkeiten suchten. Nachdem er ihnen eine Weile zu gesehen hatte, stieß er mit dem Stiefel in den Schnee, daß es aufspritzte. »Wir sind tot, bloß wissen wir es noch nicht. Warum begraben wir uns nicht gleich und ersparen uns eine Menge Mühe und Verdruß?« »Wir sind am Leben«, sagte Karen. Er sah sie an und bemerkte, daß sie eine Eskimo schnitzerei in der Hand hielt und lächelte. »Wir sind am Leben, und wir werden überleben.« Sie sagte es in einem Ton, daß die anderen in ihren Beschäftigungen innehielten und herüberschauten. »Das hat dir wohl ein kleines Walroß aus Speck stein erzählt?« Sie nickte. »Noch eine Verrückte.« »Wir sind am Leben, Lew, weil eine ganze Rasse auf diese Weise lebte, und sie hinterließ uns dies.« Sie strich liebevoll über die kleine Steinplastik. »Wir werden leben, ich weiß es.« Fink schnaubte und zuckte die Achseln, aber die
anderen kamen näher und versammelten sich um sie, als wohnten der Figur magische Kräfte inne. Sie lie ßen das Walroß von Hand zu Hand gehen, bewun derten es und murmelten lahme Worte wie »Schön ...« und »Wunderbar ...« »Schön vielleicht, aber nicht eßbar«, murmelte Fink. Danny hatte sich von der Gruppe entfernt und war auf der Suche nach Überresten seiner Instrumente in den Eingang des Lagerschuppens gewandert. Beim Herumstochern entdeckte er etwas Glänzendes. Er wischte den Schnee fort und stieß einen Jubelruf aus. Es war ein Trichter. Er grub mit den Händen weiter, bis er alles freige legt hatte, ein Rad mit Trichtern an den Enden der Speichen. »Das Anemometer!« Nun spürte auch er, wie ihn etwas von der gleichen magischen Gewißheit durchströmte, daß er überleben und die Zivilisation retten werde. Während er aufgeregt weitergrub und andere In strumente und Bruchstücke aus dem angewehten Schnee zog, entgingen ihm die schattenhaften Bewe gungen im dunklen Inneren des Schuppens, die nä her und näher kamen und zusehends Gestalt annah men. Dann hörte er ein Geräusch, das nicht von ei nem Menschen sein konnte, ein tiefes leises Knurren. Er blickte auf und schrak zusammen. Da stand ein
Hund, der beinahe ein Wolf war, ein riesiges, nar benbedecktes Tier, mit zurückgezogenen geifernden Lefzen und entblößten Fängen. Wieder knurrte es und begann Danny zu umkreisen. »Mama ...!« Sein Entsetzen war so groß, daß er das Wort kaum hervorbringen konnte. Er sah sich nach einem Fluchtweg um und gewahrte statt dessen an dere Hunde, die von rechts und links herankamen. Alle narbig und zottig, groß und hungrig. Sie schlossen einen Kreis um den Jungen und traten un ruhig auf der Stelle, die Lichter unverwandt auf ihr Opfer gerichtet, die Zähne gebleckt, als warteten sie nur auf das Angriffssignal ihres Anführers. Danny zählte sie nicht, aber es mußten zehn oder zwölf von den Bestien sein. »Mama ...!« Endlich merkte Karen auf und sah sie. »Danny, bleib ganz ruhig stehen!« Das Rudel kümmerte sich nicht um die anderen Menschen, es hatte Danny von den anderen getrennt und eingeschlossen. Enger und enger zogen sie ihren Kreis, bis der Polarspitz einen Scheinangriff gegen den Jungen machte, und sich wieder zurückzog, be friedigt, daß er auf keinen Widerstand stieß. »Mama ... hilf mir doch!« Mark hatte die Pistole schon gezogen und brachte sie beidhändig zielend in Anschlag. »Nein!«
Karen schlug seine Arme zur Seite. »Was soll das heißen, zum Teufel?« »Du könntest sie nicht schnell genug töten. Die Ge fahr ist zu groß, daß sie über Danny herfallen. Au ßerdem brauchen wir sie.« »Brauchen? Bist du verrückt?« Sie hob eine zerbrochene Planke auf. »Los, gebt mir etwas Fleisch, aber schnell!« Der Polarhund machte einen zweiten Scheinangriff, der ihn noch näher an Danny heranführte, und die anderen Hunde knurrten und heulten in aufgeregter Erwartung, verließen ihren Kreis und rückten näher. Die Gruppe wühlte hastig in den Traglasten, brach te zum Vorschein, was an Resten übrig war, und reichte sie Karen. Keiner stellte eine Frage, obgleich alle zweifelten. Sie legte die Brocken Corned beef und Frühstücksfleisch in Reichweite in den Schnee, stieß mit dem Fuß einen Eisbrocken los und schleuderte ihn auf den Leithund. Er fuhr wütend herum, abge lenkt, und knurrte sie an. Während er zögerte, un schlüssig, welche Beute er angreifen sollte, hob sie ei nen zerbrochenen Ziegelstein auf und traf damit sei ne Schulter. Nun warf er sich herum und griff Karen an, und die anderen Hunde folgten. Mark behielt die Pistole in Anschlag und drehte sich mit der Bewegung. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.
»Nein, nicht!« Sie hielt die abgebrochene Planke so zwischen sich und den Angreifer, daß dieser die zersplitterten Spit zen vor sich hatte. Sie stieß zu, als der Hund näher kam, folgte seiner Bewegung, als er sie umkreiste. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, bückte sie sich, hob ein kleines Stück vom gefrorenen Corned beef auf und warf es dem Hund in den Weg. Er ließ es un beachtet und griff abermals an. Wieder bekam er die gesplitterten Spitzen der Planke in den Widerrist. Sie zog sich ein wenig zurück, ließ ihn näherkom men und stieß ihn in die Richtung des Fleisches. Er zögerte. Die anderen Hunde warteten irritiert im Hintergrund. Plötzlich sprang er los, ignorierte den Bissen im Schnee, und griff wieder an. Die Planke stieß ihn ein weiteres Mal zurück. Er brach den Angriff ab, be trachtete hungrig den Fleischbrocken, schnappte da nach und stürzte sich ein weiteres Mal auf Karen. Diesmal genügte der Anblick der zum Zustoßen bereiten Planke, um ihn eines Besseren zu belehren. Er wich knurrend zurück, wandte sich zur Seite und machte sich über das Fleisch her. Das Rudel knurrte und bellte herausfordernd. Er hob den Kopf, warf sich herum, und bellte zurück, die Fänge entblößt. Die andern wichen zurück. »Gebt ihm mehr!« schrie Karen.
»Es ist kaum noch was da.« »Gebt es ihm!« Sie schickten sich an, ihren restlichen Proviant dem Rudel vorzuwerfen. »Nein, ihm! Er ist der Leithund.« Sie gehorchten und warfen dem Polarhund zu, was sie hatten. Der fraß sich, von wiederholtem Knurren und Zähneblecken unterbrochen, satt, zog sich zurück und ließ die anderen Hunde an die Futterstelle. Sie balgten sich um die Reste, stießen und scharrten und schnappten, während er dabeistand und ruhig zusah. »Was geschieht, wenn sie damit fertig sind und noch Hunger haben?« fragte Mark. »Dann werden sie uns töten.« Ohne ihren Blick vom Leithund abzuwenden, entledigte sie sich ihrer Rettungsweste, zog ein Taschenmesser hervor und schnitt die Gurte ab. »Soweit lassen wir es nicht kommen«, entgegnete er. »Lieber schieße ich sie jetzt zusammen.« »Das ist ein Polarspitz, Mark, ein Eskimohund ... und er ist der Anführer des Rudels.« Sie war beinahe fröhlich. Die anderen sahen ungläubig zu, wie Karen die Gurte zu einem langen Seil knotete und auf den Hund zuging. Dabei redete sie in einem seltsamen Singsang auf ihn ein. Vielleicht lag es an diesen beru
higenden Tönen, vielleicht erinnerte er sich der satten Jahre bei seinem früheren Herrn, jedenfalls hielt er zur allgemeinen Verwunderung still und ließ sich den Gurt durch das Halsband ziehen und festknoten. Erst jetzt löste sich Karens innere Spannung. Eine plötzliche Schwäche machte ihre Knie wanken, und sie mußte einen Moment lang die Augen schließen, um die Schwäche zu überwinden. »Fehlt dir was?« fragte Mark. Sie schüttelte den Kopf. »Die andern werden ihm folgen ... Wir können sie anbinden.« »Anbinden? Wo anbinden, und wozu?« »An den Motorschlitten. Wir haben Schlittenhun de.« »An den ... Karen, bist du noch bei Verstand ...?« »Jetzt ist keine Zeit zum Diskutieren, Mark. Hideo ...« Sie hielt ihm den Gurt hin. »Halt fest, aber bleib außerhalb der Reichweite seiner Zähne ... und laß nicht los!« Sie wandte sich zu den andern. »Macht in zwischen den Schlitten klar. Reißt den Motor und al les Überflüssige heraus, soviel ihr könnt. Wir brau chen nur den Rahmen und die Gleitkufen. Vielleicht könnt ihr anstelle der Antriebsrollen die Kufen des Anhängers dort anmontieren.« Sie starrten Karen an. »Vorwärts! Wir haben hier den Tiger beim Schwanz. Wir dürfen nicht loslassen, und wir dürfen
nicht aufhören. Vor allem müssen wir die anderen Hunde anleinen.« Sie beeilten sich, das Nötige zu tun, nur Fink hielt sich abseits und schüttelte staunend den Kopf. »Lew, du nimmst dir den da vor.« »He, ich bin hier bloß ein Tourist«, sagte Fink und wich mit abwehrend erhobenen Händen zurück. »Es gibt hier keine Touristen mehr«, sagte Mark. »Wir brauchen dich.« »Warum überkommt mich keine Begeisterung, wenn du das sagst?« »Es geht nicht bloß um dich, Fink. Wir tragen die Zivilisation auf unsern Rücken.« Fink lachte. »Tut mir leid, Markus, ich habe einen Bandscheibenvorfall.« Mark packte Fink mit der Linken beim Kragen und hielt ihm mit der Rechten die Pistole vor das Gesicht. »Paß auf, Lew, es gibt keine Krüppel mehr, keine Touristen und keine Schnorrer. Wenn wir schon wie die Eskimos leben müssen, dann werden wir es ganz tun, ohne irgendwelche Ausnahmen, bis wir die Din ge wieder zum Funktionieren bringen.« Ein verdutzter Fink blickte in die Pistolenmün dung. »Das ist kein Spaß, nicht wahr, Mark?« Mark schüttelte den Kopf. »Und dies hier auch nicht, Lew. Das Magazin ist voll, und ich weiß, wie man damit umgeht.«
»Du ... du würdest einen Kollegen nicht töten.« »Selbst wenn er ordentlicher Professor wäre.« »Ich ... schon gut, Mark. Ich werde mithelfen.« Der Bullenbeißer knurrte und zeigte die Zähne, als Fink sich ihm näherte. Fink wich zurück. »Lieber las se ich mich erschießen.« »Wir brauchen die Hunde«, sagte Karen. »Zwing uns nicht, zwischen euch zu wählen.« Sie nahm den zweiten Gurt und ging auf den Hund zu. »Man muß sich zweierlei vergegenwärtigen: Erstens, daß sie im Grunde verwundbar und ängstlich sind, wie kleine Welpen.« Sie murmelte dem Bullenbeißer begütigend zu, berührte respektvoll seine Flanke. Er knurrte lei se. »Und zweitens?« »Darf man nie vergessen, daß sie Killer sind.« Ohne sich um das Knurren des Hundes zu kümmern, legte sie ihm den Gurt um den Hals. Der Hund schüttelte den Kopf, entblößte die Zähne und schnappte nach ihr. Mit einer verblüffend schnellen Bewegung schlug Karen dem Hund auf die Schnauze. Aufheulend ging er sie an, und Karen schlug ihm wieder auf die Schnauze, härter als zuvor. Der Hund winselte, und Karen streifte ihm mit einer schnellen Bewegung die Schlinge über den Kopf und zog sie um den Nacken fest.
»Gott der Gerechte«, stammelte Fink. »Sie sind Raubtiere. Darum haben sie bis jetzt über lebt.« »Aber du zeigst uns, wie wir sie zähmen können.« »Nein, ich glaube nicht, daß wir sie wirklich zäh men können. Unter Kontrolle bringen vielleicht, mit Mühe und Not ...« Der Bullenbeißer zerrte an seinem Gurt, warf den Kopf hoch und schnappte nach Karen, als wäre ihm plötzlich aufgegangen, daß er in Gefangenschaft ge raten war. Die anderen Hunde waren unruhig, und Karen beobachtete sie wachsam. »Lew ...« Sie hielt das Gurtende Fink hin, der es vorsichtig nahm. »Halte dir seine Zähne vom Leibe.« »Ich ... äh ... hoffe, er ist damit einverstanden.« Karen ging zu Hideo hinüber, nahm ihm den Gurt aus der Hand und führte den widerstrebenden Leit hund mit geschickten Wendungen, die sie außer Reichweite seiner Kiefer hielt, vor den Motorschlitten, und band ihn dort mit einem komplizierten Knoten an. Dann ließ sie Fink den Bullenbeißer bringen und schirrte ihn neben dem Polarhund an. Sofort gerieten die beiden in Streit, knurrten und schnappten nach einander. Karen hob die abgebrochene Planke auf, und schlug sie beiden über die Rücken, bis sie von einander abließen und winselnd den Schwanz einzo gen.
»Wir müssen uns beeilen. Allmählich merken sie, was los ist.« Als nächstes übernahm sie von Mark einen Schä ferhund, den sie am Gurt und am Fell festhalten mußte, um ihn unter Kontrolle zu halten. Auch dies mal gelang es ihr, den Hund mit alternierenden Beschwichtigungen und Schlägen zum Schlitten zu bringen, doch als sie ihn anschirren wollte, fielen alle drei übereinander her, und nun begannen die noch freien Hunde die Zähne zu fletschen und den Schnee zu scharren. »Nimm die Peitsche, Lew!« »Die ... was?« »Die Peitsche, verdammt noch mal!« Sie zeigte zu der Stelle, wo die Peitsche mit der zehn Meter langen Schnur im Schnee lag. Er hob sie auf. »Was soll ich damit tun?« »Zieh sie denen da über!« Und sie zeigte auf das Rudel. »Aber schnell, in Gottes Namen!« »Ich ... ich habe nie ...« Er schlug mit lächerlicher Fruchtlosigkeit nach den Hunden. »Ich meine, was glaubst du, wovon ich bisher gelebt habe?« »Ach du lieber Gott ...« Sie entriß ihm die Peitsche und gab ihm die Planke. »Damit geht es leichter.« Sie schwang die Peitsche, holte aus und ließ die lange Schnur auf die Hunde niedersausen, aber dem Schlag fehlte der Schwung, und die Peitschenschnur
wickelte sich um Flanken und Leiber. Karen mußte sie nach jedem Schlag zurückreißen, ehe sie sich zu fest verwickelte. Atemlos keuchend, verwünschte sie ihre Unfähigkeit. Endlich gelang es ihr mit Finks Hilfe, einen weite ren Hund unter ihre Gewalt zu bringen und anzu schirren. Nun kämpften vier Hunde gegeneinander und gegen ihre Fesseln, während Hideo, seine Frau, Helen und Danny fieberhaft am Umbau des Schlit tens arbeiteten. »Allmächtiger!« keuchte Fink. »Wie lang soll das noch so weitergehen?« »Wir dürfen nicht aufhören, sonst haben wir die anderen sechs am Hals!« Mark hob einen zusammengeknoteten Gurt auf und nickte Fink zu. »Komm mit!« sagte er. »Wir nehmen uns den fünften vor. Ich glaube, wir wissen jetzt, wie es gemacht wird.« »Das Dumme ist, sie wissen es auch«, jammerte Fink. Endlich, nach erschöpfenden Anstrengungen, war das gesamte Rudel von zehn Hunden angeschirrt und vergleichsweise ruhig. Mark schnaufte. »Karen, müssen wir das jedesmal von neuem durchmachen?« »Ich fürchte.« »Es ist so, als hätte man den Hinterhof voller Tiger.«
»Das ist der Sinn der Sache. Sie sind Jäger. Wir las sen sie ihrer Witterung nachlaufen und halten uns am Schlitten fest.« »Ich dachte, man braucht bloß zu sagen: ›Marsch!‹, und sie laufen, wohin man will«, sagte Helen. »Nicht ›Marsch‹, Helen«, sagte Fink. »Du mußt ›bitte‹ sagen ...« »Man darf ihnen nicht die Wahl lassen, Lew«, sagte Karen. »Die Hunde müssen vor uns mehr Angst ha ben als vor den Tieren, die wir jagen.« »Verstehe. Und was für Tiere wären das?« »Kaninchen ...« »Kaninchen? Wie sollten die bis heute überlebt ha ben?« Karen zuckte die Achseln. »Nun, dann Katzen.« »Katzen? Wir sollen Katzen essen?« »Und Ratten. Die Menschen auf dieser Erde haben alles gegessen, was schwimmt, läuft oder fliegt. Hun ger ist der beste Koch, heißt es. Es kommt nur darauf an, was du dir selbst sagst.« Fink schluckte mühsam. »Also Ratten und Katzen. Was noch?« »Wölfe, Füchse, Lemminge, Bären, Robben ...« »Augenblick! Bären, sagst du, Eisbären?« »Was uns über den Weg läuft, Lew.« »Eisbären, gerechter Gott, Eisbären ...« Er blickte hil fesuchend zur Stadt hinüber, zu Straßen und Häusern,
die im Schnee versunken waren, zu den Schneekappen auf berühmten Wolkenkratzern, zu Schuppen und Fa brikhallen, die vom Schnee zu Hügeln und Dünen um geformt waren. »Komm, Lew, faß mit an, daß wir den Schlitten bald fahrbereit haben«, sagte Karen. »Ich halte unter dessen die Hunde in Schach.« Sie nahm die Peitsche und setzte sich auf das Vorderende des Schlittens. Außer den breiten Gleitkufen und dem verbindenden Rahmen war nicht viel davon übriggeblieben. Hideo und seine Frau, Lew Fink und Helen mühten sich ab, die Gleitkufen vom Anhänger am Heckteil des Schlit tens anzubringen, der zuvor vom Antriebsteil getra gen worden war. Alles übrige lag als ein Haufen Schrottmetall im Schnee. Als die Arbeit getan war und die vier erschöpft aufstanden, um ihr Werk zu betrachten, wandte Ka ren sich ihnen zu. »Wir haben kaum Zeit. Der Provi ant ist so gut wie aufgebraucht, und wir müssen so fort auf die Jagd gehen.« »Ach nein, Karen, wir müssen ausruhen!« »Der Hunger wird uns nur schwächen, und dann sind wir erst recht erledigt.« »Wir könnten jederzeit einen oder zwei Hunde schlachten«, meinte Fink. »Diesen Bullenbeißer zum Beispiel; an dem ist was dran.« »Das wäre die letzte Notreserve«, erwiderte Karen.
»Die Kuh, die man melken will, schlachtet man nicht. Vor allem kommt es jetzt darauf an, die Schlitten hunde zu lenken. Mark, erinnerst du dich, wie die Eskimos mit der Peitsche ...« Jetzt erst bemerkte sie, daß Mark nicht bei den an deren war, und auch Danny nicht. Sie blickte umher und sah die beiden am Eingang des Lagerschuppens mit dem Sender beschäftigt. Sie runzelte die Stirn und gab Hideo die Peitsche. »Du hast gesehen, wie die Eskimos damit umgegan gen sind. Versuch den anderen zu zeigen, wie es ge macht wird.« »Ich habe es gesehen, ja, aber ...« »Nun, ich könnte es auch nicht besser.« Sie ließ ihn stehen und ging hinüber zu Mark. Hideo sah ihr nach, dann wandte er sich den anderen zu und versuchte den Umgang mit der Peitsche zu de monstrieren. Beim ersten Ausholen und Zuschlagen verfing die lange Peitschenschnur sich in seinem Rük ken, wickelte sich blitzschnell um seinen Hals und er würgte ihn beinahe. Fluchend befreite er sich. Seine Zuschauer schwankten zwischen Mitleid und Gelächter. Hideo versuchte es wieder. Diesmal gelang es ihm wenigstens, die Peitschenschnur in geradem Wurf nach vorn zu bringen, wo sie sich im Schnee schlän gelte.
»Die Eskimos haben eine Art, damit zu knallen ...« »Die du nicht hast.« »Die Karen auch nicht hat. Die Eskimos waren un glaublich geschickt darin. Einer stand hinten auf dem Schlitten und beherrschte damit alle Hunde. Die Peit schenschnur zischte und knallte nur so, haargenau auf den Störenfried, der darauf sofort friedlich wur de.« »Das ist schön und gut«, sagte Helen, »aber du weißt nicht, wie es gemacht wird, Karen weiß es nicht, und wir wissen es erst recht nicht. Was sollen wir also tun?« Hideo zuckte die Achseln. »Was wir können.« Karen kam zum Schuppeneingang und sah eine kleine Weile zu, wie Mark und Danny das geöffnete Gehäuse des Senders vorsichtig säuberten. »Mark«, sagte sie endlich, »wir haben die Hunde angeschirrt und den Schlitten fahrbereit.« »Gut«, sagte Mark und blickte lächelnd zu ihr auf. »Wir können nicht wissen, was wir finden werden, und du hast die Waffe.« »Ja.« Sein Lächeln verging. »Nun, entweder gibst du sie uns ...« »Ah ... nein, ich bin der einzige hier, der eine mili tärische Schießausbildung hat.« »... oder du kommst mit.« »Dies ist zu wichtig.«
»Der Sender? Wir sprechen vom Überleben.« »Ich auch, Karen. Von unserm einzigen Überle benszweck.« »Und wo willst du ihn anschließen?« Danny meldete sich zu Wort. »Mama, als ich es dir sagte, meintest du, es sei eine Fantasterei. Aber es ist keine Fantasterei. Wir haben einen Generator.« »Und womit wollt ihr ihn betreiben?« »Mit dem Wind, Mama. Mark will ein Windrad aufstellen.« Karen nickte skeptisch. »Alles zu seiner Zeit. Im Moment brauchen wir dich, mit der Waffe.« »Karen, ich habe sowieso nur ein Magazin. Was passiert, wenn uns die Munition ausgeht?« »Bis dahin werde ich hoffentlich meine anderen Eskimowaffen gefunden und gelernt haben, sie zu gebrauchen. Und nicht nur ich, wir alle. Einstweilen aber ...« Mark seufzte verdrießlich. Sein Blick ruhte auf dem Sender, und er dachte daran, was noch zu tun blieb, bis er ihn würde in Betrieb nehmen können. »Mark.« Sie zog mit überraschender Ungeduld an seinem Arm. »Du hast das Überleben in meine Hände gelegt. Es war mir nicht recht, ich wollte es nicht, aber ich trage die Verantwortung. Also bitte ich dich jetzt, mitzukommen – oder, wenn du so willst, befehle ich es dir.«
Danny blickte verblüfft zu seiner Mutter auf, dann hinüber zu Mark, gespannt, was dieser tun würde. Marks Erstaunen war nicht geringer. Zuerst ge dachte er die Sache ins Lächerliche zu ziehen und sich als unter die Fuchtel eines Hausdrachens gerate nen, bemitleidenswerten Pantoffelhelden hinzustel len, doch dann besann er sich eines Besseren. Er nick te ruhig und wandte sich zu Danny. »Nun, es ist wohl besser, ich helfe deiner Mutter. Willst du hierbleiben und auf uns warten?« »Warten?« Der Junge schaute bestürzt drein. »Viel leicht ist es was, worüber ich Bescheid wissen muß.« »Ich finde nicht, daß du mitkommen solltest, Dan ny«, sagte Karen. »Es könnte gefährlich werden.« »Katzen und Ratten, Mutter?« »Die Hunde, Danny.« Die Farbe schien aus seinem Gesicht zu weichen. Er schüttelte sich, nahm mehrere Anläufe und zwang ein Lächeln hervor. »Sie sind ja angebunden, nicht? Und Mark hat die Pistole.« Karen seufzte. »Einverstanden, Danny.« Als sie zum Schlitten gingen, nahm Mark sie beisei te. »Warum läßt du ihn entscheiden?« »Das ist die Art der Eskimos.« »Was soll das besagen? Wir sind doch keine.« »Wir können nur überleben, indem wir dem Bei spiel der Eskimos folgen, und das heißt, in jeder Wei
se, in allen Bereichen unseres Lebens. Und die Eski mos lassen ihre Kinder selbst entscheiden.« »Ich sehe nicht, wozu das gut sein sollte, wenn eine Situation offensichtlich gefährlich ist. Kinder haben nun einmal nicht den Überblick und das Verständnis ...« »Nein, Mark. Ihre Gesellschaft hat sich in sechstau send Jahren entwickelt. Alles darin hatte seinen Grund, und da nur beibehalten wurde, was sich be währte, war alles funktional.« »Aber was hat das Überleben mit Kindern zu tun, die ...?« »Ich weiß es nicht, Mark. Es gehörte nicht zu den Dingen, über die ich arbeitete. Aber wenn die Eski mos ihren Kindern keine Vorschriften machten, dann werden wir es auch nicht tun. Danny wird über sein Handeln selbst entscheiden müssen.« »Aber er kennt die Gefahren nicht.« »Wir auch nicht. Wer kann also sagen, wessen Ent scheidungen richtiger sind?« Mark holte Luft. »Karen, du weißt, was Danny mir bedeutet.« »Er bedeutet auch mir etwas. Er ist mein Sohn.« Die Hunde bellten, traten unruhig auf der Stelle und hoben immer wieder den Kopf, um Witterung aufzunehmen. Hideo bemühte sich, sie mit dilettan tisch geschwungener Peitsche zurückzuhalten.
»Sie müssen irgendwas Großes gewittert haben«, sagte er. »Was sollte es sein?« meinte Karen. Sie beugte sich besorgt über den angesichts der unruhigen Hunde zögernden Danny. »Möchtest du nicht lieber blei ben?« Danny schluckte angestrengt und setzte seine tap ferste Miene auf. »Mutter, hör auf, mich wie ein klei nes Kind zu behandeln!« Sie nickte und bedeutete ihm und Mark, auf den Schlitten zu steigen. Dann stieg sie zu ihnen und sag te Hideo, er solle nebenher laufen und die Peitsche auf jeden Hund knallen lassen, der sich widersetzlich oder streitsüchtig zeige. »Knallen?« sagte Hideo mit blassem Lächeln. »Ich bin schon zufrieden, wenn man überhaupt etwas hört.« Sie lächelte aufmunternd zurück, und dann zog sie vorsichtig die tief in den Schnee gesteckte Planke her aus, die zur Verankerung des Schlittens gedient hatte. Hideo schwang die Peitsche in der Luft über den Hunden und brachte einen halbherzigen Knall zu stande, Karen stieß einen anfeuernden Schrei aus, und nachdem der Leithund angesprungen war, zo gen auch die anderen zusammen und folgten ihm bellend und heulend. Der Schlitten setzte sich knar rend in Bewegung.
»Haltet sie zurück ... Bremst mit den Füßen ...!« Sie taten es, und Karen konnte erste Erfahrungen im Steuern und Ausbalancieren des Schlittens gewin nen. »Wow!« rief Danny in rasch entflammter Begeiste rung, als die Kufen schneller über den Schnee zisch ten, die Häuser vorbeizufliegen begannen, und der Fahrtwind ihm kalt ins Gesicht blies. Doch erfuhr sein Hochgefühl bald eine Trübung, als die Hunde gleichzeitig ihre Gedärme entleerten und der Schlit ten über die Exkremente fuhr. Hideo war zu den anderen auf den Schlitten ge sprungen, als die erste Steigungsstrecke überwunden war, und nun kauerte er hinter Karen, beobachtete die Hunde und versuchte diejenigen mit der Peitsche zu treffen, die nach anderen schnappten oder auszu brechen suchten. So ging es in nicht sehr eleganten Schlangenlinien dahin, und einmal bogen die Schlittenhunde so scharf in eine Seitenstraße, daß der Schlitten beinahe umge worfen wurde. Bald darauf stießen sie auf die Fährte. Die Hunde umdrängten sie schnüffelnd und wurden wild. Karen mußte sie vom Schlitten mit Eisbrocken bewerfen, während Hideo verzweifelt die Peitsche schwang, um sie wieder unter Kontrolle zu bringen. »Das ist keine Katze«, sagte Mark. »Was ist es?«
»Du würdest es nicht glauben.« »Nach allem, was geschehen ist?« Die Hunde zogen und zerrten, daß sie sich an ihren Gurten zu erdrosseln drohten, und Mark mußte die Planke als Bremse gebrauchen, um den Reibungswi derstand des Schlittens zu erhöhen. Dann sahen sie den Urheber der Fährte. »Mein Gott ... Du hast recht, ich kann es nicht glau ben!« Als er das atemlose Kläffen der erregten Meute hörte, warf der Eisbär sich auf der Hinterhand herum und stieß ein röchelndes Brüllen aus. In diesen ersten Augenblicken hatte Mark das Gefühl, einer Gestalt aus einem Traum gegenüberzustehen. Trotz seiner furchteinflößenden Größe, der ein Gewicht von einer halben Tonne entsprach, war der weiße Bär vor dem Schneehintergrund fast unsichtbar. Erst als er sich auf die Hinterbeine erhob und ihnen seine heisere Her ausforderung entgegenbrüllte, hob seine Gestalt sich unheimlich von der dunklen Hausfassade ab. »Woher kann der gekommen sein?« »Aus dem Zoo, denke ich mir. Wahrscheinlich wa ren die arktischen Tiere die einzigen, die überlebten.« Die Hunde warfen sich immer wieder in ihre Gur te, als könnten sie nicht erwarten, unter die Pranken des übermächtigen Gegners zu geraten, und Karen begann sich an den Knoten zu schaffen zu machen.
»Was machst du?« »Ich lasse sie frei!« Ehe Mark sie daran hindern konnte, hatte sie die Knoten aufgezogen. Augenblicklich stürzten sich die rasenden Hunde auf den Eisbären, umringten ihn, sprangen vor und schnappten, verbissen sich in sein zottiges Fell. Der Rudelführer eröffnete den Angriff, wie es ihm zukam, aber ein Prankenhieb schleuderte ihn seit wärts in den Schnee. Nun griffen die anderen Hunde an, zogen sich zurück und sprangen von neuem vor. Der Eisbär, durch seinen dicken Pelz geschützt, schien sie mehr als lästige Störenfriede denn als eine Gefahr zu betrachten, geriet jedoch zusehends in Er regung und erwehrte sich der Angriffe mit wütenden Prankenhieben, die sie wie nasse Lappen in den auf stiebenden Schnee schleuderten. Aber jedesmal ka men die Hunde wieder auf die Beine und griffen von neuem an, bis sie eine einzige brodelnde, heulende Masse zu sein schienen. Der Bär hatte inzwischen die im Hintergrund war tenden Menschen ausgemacht und begann gegen sie vorzurücken. Mit wiederholten Ausfällen und Pran kenhieben nach links und rechts, die den aufheulen den Hunden blutige Wunden rissen, griff er den Schlitten an. »Mark!«
Aus acht Metern Entfernung zielte Mark auf den Kopf des Bären und feuerte. Der Eisbär riß den Kopf hoch und geriet in Raserei, konnte sich aber nicht mehr auf den Beinen halten und fiel um sich schla gend in den Schnee. Mark feuerte wieder, und plötz lich wurde der Koloß still und streckte sich. Im näch sten Augenblick war die Meute über ihm. Karen und Hideo schlugen mit Peitsche und Plan ke auf die Hunde ein, bis sie winselnd von der Jagd beute abließen und zurückwichen. Dannys Augen leuchteten vor Erregung. »Wow!« war alles, was er sagen konnte. »Wow ...« Er hatte einen Ausdruck im Gesicht, der Mark nicht gefiel. Sobald sie die Hunde wieder angeschirrt hatten, wälzten sie in gemeinsamer Anstrengung den Eisbä ren auf den Schlitten und kehrten zur Pier zurück. Diesmal mußten sie neben dem Schlittenzug durch den Schnee stapfen, um die Hunde nicht zu überfor dern. Sie machten ein Feuer in der Lagerhalle, zogen dem Bären das Fell ab und weideten ihn aus. Das Fleisch wurde von den Knochen gelöst und in handli che Stücke zerteilt, bevor es gefrieren konnte. Sie sto cherten das Mark aus den größeren Knochen und ta ten es in einen Behälter; in einem zweiten sammelten
sie das herausgelöste Fett zu späterer Verwendung. Wendy, Hideos Frau, briet Fleischstücke an einem improvisierten Bratspieß über dem Feuer, während Karen und Mark die Innereien, Knochen und sonsti gen Abfälle den Hunden vorwarfen. Das Bärenfleisch war zäh und hatte einen starken Wildgeschmack, doch alle waren hungrig und nie mand zierte sich. Die Kinder fanden sogar Gefallen daran. Danach saßen sie satt und warm um das knak kende Feuer, und es fiel ihnen nicht schwer, diesem Leben einen gewissen Reiz abzugewinnen; manche unter ihnen fühlten sich sogar an Campingferien mit Zelt und Lagerfeuer in den Wäldern des Nordens er innert. »Das Dumme ist«, sagte Mark, als Hideo davon sprach, »daß solche Ferien nur schön sind, weil sie auch wieder ein Ende haben.« »Es gibt noch ein Problem«, sagte Karen. »Um uns und die Hunde zu ernähren, müßten wir für den Rest unseres Lebens alle drei, vier Tage einen Bären erle gen. Wie viele werden sie im Zoo gehalten haben?« »Du sagtest, wir würden uns hier von Katzen und Ratten ernähren.« Sie seufzte. »Ich weiß. Wir werden auch die nicht verschmähen, aber unser Bedarf ist groß. Vielleicht werden wir das Glück haben, dann und wann einen halbverhungerten Hirsch zu erlegen, ein paar Was
servögel – alles, was sich auf dem Weg nach Süden hierher verirrt, obwohl die meisten einheimischen Tiere inzwischen längst im Schnee umgekommen oder in südlichere Gegenden abgewandert sein wer den. Wir müssen uns klar machen, daß wir unsere heutige Jagdbeute einem glücklichen Zufall verdan ken.« Keiner sagte etwas. In trübem Schweigen saßen sie um das niederbrennende Feuer. Schließlich stand Mark auf und trug weitere Ki stenbretter herbei, um sie in die Glut zu legen. Karen hielt ihn zurück. »Wir werden sie brauchen, um mehr Schlitten zu bauen.« »Mehr Schlitten? Reicht dir der eine nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Jede Familie wird für sich selbst jagen müssen.« Alle starrten sie entgeistert an. »Und was ist mit den Hundegespannen? Oder sollen wir die Schlitten selbst ziehen?« »Unser Rudel wird andere streunende Hunde an ziehen, keine Sorge. Auf diese Weise werden wir zu weiteren Schlittenhunden kommen.« Fink grunzte. »Wenn du nichts dagegen hast, Ka ren, mache, ich mir trotzdem Sorgen.« Wieder trat Stille ein. Nach einer Weile nickte Mark dumpf und murmel te: »Marder und Lemminge ...«
»Was?« »Sie wanderten südwärts. Es war eines der ersten Anzeichen der Abkühlung im Norden. Wenn also Marder und Lemminge nach Süden gewandert sind, warum dann nicht auch Rentiere, Robben und Eisbä ren? Ich meine nicht die aus dem Zoo.« »Sicherlich wandern sie auch nach Süden«, meinte Hideo. »Vor allem die Rentiere, die wahrscheinlich schon durchgezogen sind. Aber warum sollten die ei gentlichen Polartiere bis in unsere Breiten wandern?« »Weil es etwas gibt, was sie südwärts treiben wird«, sagte Mark. »Und was sollte das sein?« fragte Helen. »Etwas viel Schlimmeres als die Kälte und der Schnee.« »Was, um Himmels willen?« »Das Eis. Im Norden baut sich ein Eisschild auf, genährt von ständigen Schneefällen und den Glet schern zwischen Grönland und dem Felsengebirge. Sobald sie eine bestimmte Stärke haben, verwandeln sich die unteren Schneeablagerungen durch den Druck der neu hinzukommenden Schichten zu Eis, das heißt, die Luft wird herausgepreßt. Bei weiter zu nehmender Stärke wird es sich dann unter dem eige nen Gewicht weiter ausdehnen und südwärts vor rücken. Ich vermute, daß dieser Eisschild heute be reits weite Teile Kanadas überdeckt.«
»Ja, gut, aber wie lange wird es dauern, bis ...« »Mach dir deswegen keine Sorgen, Helen«, unter brach Hideo lächelnd. »Ich soll mir keine Sorgen machen?« »Es ist so oder so irrelevant, also kümmere dich einfach nicht weiter darum.« »Irrelevant! Was, zum Teufel, soll das ...« »Wenn wir dann noch da sind, werden wir über unsere mißliche Lage gesiegt haben. Und wenn nicht, nun dann ist es sowieso irrelevant.« Er stand auf, stocherte in der Glut und brachte die verkohlten Stücke zu neuerlichem kurzlebigen Auf flammen. »Man darf das Leben nicht zu wichtig nehmen. Denkt darüber nach. Wenn die Gelehrten einer späteren Zeit – wer immer sie sein mögen – sorgfältig genug nachgraben, dann werden sie hier unsere Überreste finden ... ›Interessant, interessant‹, werden sie sagen. ›Vielleicht schaut dabei eine Veröf fentlichung heraus.‹« Am folgenden Tag sichteten sie keine weiteren Bären, aber in der achten Straße erwischten die Hunde zwei halbverhungerte Katzen und zerrissen sie auf der Stelle. Karen drang bis zu ihrer alten Wohnung vor und barg ein paar Töpfe und Pfannen sowie ihren Eskimospeer. Mark war am Kaischuppen zurückgeblieben, um
weitere Gegenstände aus dem Schnee zu graben und an seinem Windrad zu arbeiten. Danny half ihm da bei, aber er redete mehr über die Eisbärenjagd als über die Arbeit, die zu tun war. Am dritten Tag erreichten die Hunde die Zwölfte Straße, bevor sie in einer hohen Schneewehe stecken blieben, sich in ihre Gurte verstrickten und in eine wilde Beißerei gerieten. Eine Stunde verging, bis die Ordnung wiederhergestellt war. Einen Block weiter stießen sie auf einen verendeten Hirsch, von dem nur ein paar Geweihspitzen aus dem Schnee ragten. Sie gruben ihn aus und stellten fest, daß er unverletzt war. Anscheinend war er an Hunger und Schwäche eingegangen. Sie luden ihn auf den Schlitten. Unterdessen hatte Mark aus Blech Schaufeln für ein Windrad geschnitten und zurechtgebogen. Aus Tei len des Schlittenmotors verfertigte er eine Achse mit kugelgelagerte Nabe, Speichen und einen äußeren Radkranz, an dem er die Schaufeln befestigte. Bei der Erprobung drehte sich das Windrad leicht, doch ha perte es mit der Übersetzung, für die sich erst eine Lösung fand, als er die Getriebezahnräder ausbaute und einige von ihnen für seinen Zweck neu kombi nierte. Danny war interessiert, aber kaum begeistert. Statt dessen sah er der Gruppe zu, die mit dem Speer Zielwerfen übte, und half sogar bei der Auswahl von Zielen und dem Abmessen der Entfernungen.
Mark mußte ihn freundlich daran erinnern, was wichtig war. Unter Karens Anleitung baute die Gruppe aus Bret tern, Latten und Nägeln, aus Kisten und Verschlägen einen zweiten Schlitten. Er war roh und unbeholfen gezimmert, mit blechbeschlagenen Brettern als Kufen, und als die Kashihara-Zwillinge ihn ungenutzt ste hen sahen, ergriffen sie von ihm Besitz und machten ihn zum Spielzeug. Sie fuchtelten mit der Peitsche und spielten Jäger und Hund, und weil es aussah, als möchten sie einander verletzen, schalt Wendy sie, bis Hideo sie an die Eskimoregeln erinnerte, die sie be folgen müßten. Die Kinder sollten in Ruhe gelassen werden und ihren eigenen Weg finden. Die Zwillinge luden Danny ein, sich an ihrem Spiel zu beteiligen, doch er entgegnete, er sei kein Kind und der Schlitten kein Spielzeug. »Wozu ist er dann?« »Für richtige Hunde!« Sie lachten, aber im Ablauf der Tage kamen immer wieder streunende Hunde zur Pier, angelockt vom Lärm und der Witterung ihrer Artgenossen. Die na türliche Auslese hatte längst dafür gesorgt, daß nur die kräftigsten und wildesten überlebt hatten, und so waren es ausnahmslos große, verwilderte Tiere mit dichten Pelzen. Sie wurden eingefangen und mit Schlägen zur Unterwerfung gezwungen, bis sie ange
bunden waren, und bald hatten sie ein zweites Hun degespann. Doch nun gab es auch zweimal so viele halbwilde ›Tiger im Hinterhof‹, die unter Kontrolle gehalten und gefüttert werden mußten. Immer häufiger kam es zu Beißereien unter den Hunden, sie zeigten sich zunehmend widerspenstig und waren stets bereit, nach ihren menschlichen Herren zu schnappen. Die Schwierigkeiten der Nahrungsbeschaffung zwangen die Gruppe, sich auf die Rattenjagd zu ver legen. Die widerstandsfähigen und genügsamen Na ger kamen in den verlassenen, halb vom Schnee be grabenen Gebäuden massenhaft vor, und die meisten von ihnen waren fett und groß. Auf die Frage, warum die Ratten so wohlgenährt und zahlreich waren, wäh rend die meisten andern Tiere an Hunger und Kälte zugrundegingen, sprachen die Jäger in stillschwei gendem Einverständnis von verborgenen Lebensmit telvorräten in Wohnungen und Läden, von Holz und Papier, das den Ratten zur Nahrung diene; aber kei ner unter ihnen, der beim Durchstreifen der Häuser nicht mit Grauen die hartgefrorenen, mehr oder min der stark angefressenen Leichen der einstigen Be wohner hätte liegen sehen ... Das Abhäuten und Zubereiten der Tiere war ein ekelerregender Anblick, den anfangs nur Karen und Wendy ertrugen. Für Wendy war der Schritt von ih
rem gewohnten Rohfisch zum Zerlegen toter Säuge tiere nicht allzu groß. Als Danny beim Abhäuten und Ausweiden des Eisbären zugesehen hatte, war ihm speiübel geworden, seither aber hatte die Gewöh nung auch für ihn vieles verändert, und nun saß er oft dabei, wenn eine Jagdbeute zerlegt wurde, und erkundigte sich nach Einzelheiten der Anatomie und verglich sie mit der eigenen. Sein Interesse, Mark beim Bau der Generatorenan lage zu helfen, ließ deutlich nach. Dann änderte sich mit einem Schlag alles. Mark hatte die Übersetzungen und den Generator fertigge stellt und angeschlossen, und nun funkten und kni sterten die Schleifkohlen verheißungsvoll, zitterte die Anzeigenadel des improvisierten Voltmeters bei ih ren Ausschlägen bis in die Mitte des Feldes. Anfangs lief die Anlage unregelmäßig und lieferte abwech selnd zuviel und zuwenig Energie, aber Mark impro visierte ein Schwungrad und einen Regulator, um ei ne gleichmäßige Drehzahl zu erreichen, und nun war Danny wieder voller Begeisterung. Er durchstöberte die leeren Gebäude der Nachbarschaft, bis er eine Anzahl Glühbirnen, Fassungen und Kabel beisam men hatte, und dann half er beim Verlegen und An schließen. Jetzt wurden alle aufmerksam. Das Windrad schurrte im steifen Nordwind, die mit Tierfett ge
schmierten Getrieberäder und Übersetzungen klap perten, Funken sprühten, und dann leuchtete die Glühbirne auf, flackernd und aufblitzend, bis Mark die richtige Einstellung gefunden hatte. Endlich leuchtete sie gleichmäßig und strahlend, eine fremd gewordene Miniatursonne. Die Gruppe stand eine Weile beisammen und betrachtete sie in ehrfürchtigem Schweigen. »Fremder Gott. Weiße Teufelsmagie«, rief Fink in einem Singsang, während er unter der Glühbirne im Kreis tanzte und das Licht mit Schnee bestäubte. Dann wagte er sich vorsichtig unmittelbar unter die Lichtquelle und sprach sie an: »Wer bist du, fremde Sonne in der Nacht? Gib Antwort!« »Zivilisation«, sagte Helen in andächtigem Stau nen. »Ich dachte schon, sie sei Geschichte.« Hideo klopfte Mark auf den Rücken. »Nun, ich glau be wirklich, du solltest lieber hierbleiben und die Jagd uns überlassen. Du hast ein Wunder zu behüten.« Mark lächelte geschmeichelt und blickte zu Danny hinüber. »Ich will auch bleiben«, sagte Danny. »Wir werden den Sender anschließen. Das wird dann das wirkliche Wunder sein.« Mark wußte, welches die Ergebnisse sein würden, bevor er den Versuch machte, aber es mußte seine er ste Botschaft sein.
»Hallo, CGS Briarwood, hier spricht W2QRV, Wa shington Zwei Quebec Roma Valencia, bitte kom men.« Nur Rauschen war zu vernehmen. Er versuchte es immer wieder, er fragte manchmal nach dem kommandierenden Offizier Manujian, blieb jedoch ohne Antwort. Danny begann unruhig zu werden und wanderte zu seiner Wetterstation ab. Er nahm Ablesungen, maß den Wind mit seinem Anemometer und stellte fest, daß er von einer geradezu langweiligen Beständigkeit war, gerade recht für windbetriebene Generatoren. Es war die gleiche alte Vorhersage, bedeckt und kalt mit weiteren Schneefällen. Er starrte trübselig auf seine Instrumente und dann hörte er eine fremde Stimme aus Marks Empfänger. Sie war weit entfernt und ging in atmosphärischen Störungen beinahe unter. »Blendfeuer, hier Dunkle Botschaft. Da ist ein Ne gativ unterwegs. Wird Sie in etwa zwei Minuten mit neuen Koordinaten erreichen. Haben Sie verstanden? Bitte kommen.« Es kam eine zustimmende Antwort, und Blendfeu er meldete sich ab. »Was bedeutet das?« Mark seufzte. »Militärstützpunkt Guantanamo auf Kuba ... Vielleicht Manöver, vielleicht Ernstfall.« Er
blickte auf. »Wir brauchen eine bessere Antenne. Willst du helfen?« »Klar.« Dann blickte Danny zur Stadt hinüber. Er konnte das entfernte Bellen und Japsen der Schlitten hunde hören, die Schreie der Jäger. »Möchte wissen, was die gefunden haben.« Karen hatte vor Aufregung große Augen. »Sie sind gekommen!« »Gerechter Gott, was für Bestien sind das?« schrie Fink. Sie sahen wie große, schwerfällige Hirsche aus, mit dichtem graubraunem und weißlichem Fell, das lang und zottig war und vom Hals bis zu den Knien he rabhing. Das auffallendste Merkmal waren jedoch die großen Geweihstangen, die sich in ausladenden Halbkreisen vorwärts bogen. »Es ist erstaunlich. Sie sind gekommen«, sagte sie wieder. Es war eine kleine Herde, die verwirrt durch die Straßen zog, den Schnee mit den breiten Hufen nie dertrat und ständig von scheuenden Einzeltieren durcheinandergebracht wurde, die, verunsichert und erschreckt von den Gebäuden und ihren eigenen Spiegelbildern in den Fensterscheiben, zurückdräng ten und mit anderen Tieren zusammenprallten. Die Hunde gerieten außer Rand und Band, bellten
wie rasend, versuchten sich loszureißen, gerieten durcheinander und kämpften, verwickelten sich in die Gurte, sprangen wieder auseinander und wollten sich auf die Herde stürzen. Der Schlitten stürzte um, und Fink flog in den Schnee. Er wälzte sich geistesgegenwärtig weiter, als der umgeworfene Schlitten in den Schnee krachte, weitergerissen von den hysterischen Hunden. Karen rappelte sich auf der anderen Seite des Schlit tens aus dem Schnee, hob ihren Speer und zielte auf ei nes der Tiere, nur um von einem anderen Mitglied der in Panik geratenen Herde beinahe überrannt zu wer den. Das Chaos war vollkommen. Die Hunde bellten und japsten, schleiften ihren umgestürzten Schlitten nach, die verängstigten Tiere der Herde flohen in alle Richtungen, und die Menschen schrien durcheinander, abwechselnd bemüht, den Hunden und der Herde auszuweichen und sie einzufangen. Das versprengte Wild verlor sich in mehreren Stra ßen und Avenuen und hinterließ eine Menge Spuren, fest zusammengetretenen Schnee und ein gründliches Wirrwarr. Der umgeworfene Schlitten brachte die Hunde endlich zum Stehen, und ihr wildes Gebell wurde zu erschöpftem Winseln und Keuchen, als sie sich ver gebens ins Zeug legten, um das tote Gewicht weiter zu ziehen.
Die Jäger halfen einander auf, klopften sich den Schnee ab und machten sich an die schwierige und gefährliche Arbeit, die Gurte der Schlittenhunde zu entwirren. Karen zeigte noch immer den Ausdruck ungläubi gen Staunens, doch nach und nach mischte sich etwas wie benommene Glückseligkeit hinein. »Lew, sie sind gekommen!« »Ja?« sagte Fink. »Nun, mir scheint, sie sind wieder gegangen, und von mir aus brauchen sie nicht zu rückzukommen.« »Es sind Karibus, Lew.« »Und?« »Sie sind auf Wanderschaft.« »Fein. Ich werde sie nicht aufhalten.« Sie lächelte. »Doch, das werden wir, Lew. Genau wie die Eskimos es zu tun pflegten.« »Mein Gott, Mark Haney! Wo haben Sie monatelang gesteckt? Kommen.« Das Signal war schwach, die Stimme nur mit Mühe verständlich. Mark seufzte. »An Bord eines Eisbrechers. Wir wollten nach Süden, blieben aber schon außerhalb des Hafens im Packeis stecken. Nun sind wir wieder da, wo wir angefangen haben. Wie empfangen Sie mich? Kommen.«
»Der Empfang ist nur drei-zwei, Mark. Können Sie mehr geben?« »Im Moment negativ, Pat. Ich brauche eine bessere Antenne. Alles hier ist ziemlich provisorisch, ein schließlich unseres Lebens. Wie geht es in Miami?« Es gab eine Pause, ehe Pat Keegan antwortete. »Es geht den Bach runter, Mark. Zum Teufel, verstehen Sie? Ich habe das Haus verbarrikadiert, aber ... Na ja, Sie können selbst hören, was draußen los ist ...« Mark hörte ein Durcheinander von Geräuschen, hauptsächlich Schreie einer Menschenmenge, alles übertönt vom Rauschen der atmosphärischen Stö rungen. Aber er konnte sich die Situation vorstellen. »Tut mir leid, daß ich es nicht nach Campeche ge schafft habe, Mark. Es wäre schön gewesen, Sie und alle anderen im Netz dort zu treffen. Ich fürchte, Sie werden es ohne mich aufrechterhalten müssen.« Nun war Mark derjenige, der nach Worten suchte. »Pat, wir ... wir müssen in Verbindung bleiben, ganz gleich, was geschieht. Hören Sie, wir müssen die Meeresverdunstung herabsetzen, um diesen Zyklus zu unterbrechen. Irgendwelche Vorschläge?« »Die Meeresverdunstung herabsetzen ...?« Seine Stimme wurde durch Schwund unhörbar, und Mark mußte ihn von neuem rufen und die Feineinstel lung an Empfänger und Sender regulieren. »Also ... ein Ölfilm würde die Verdunstung unterbinden ...«
»Sehr gut. Wieviel, von welcher Art, und wo sind die optimalen Orte, wo man das Zeug aus Tankern ablassen kann, damit die Strömungen es verbreiten?« »Äh ... ich weiß nicht. Kommt mir ein wenig unrea listisch vor.« »Mein Gott, Keegan, es geht ums Überleben.« »Überleben ... Ach ja ... Ich versuchte Verbindung mit Los Angeles zu bekommen ... Nehme an, die Sandstürme stören den Empfang ... Hören Sie, Mark, ich bin nicht dafür, Meerwasser am Verdunsten zu hindern. Die Leute brauchen dort Regen.« »In Ordnung, Pat, wir müssen selektiv vorgehen. Besorgen Sie mir die Daten, und ich arbeite den Plan aus.« Pat Keegans Stimme wurde lebendig. »He, Mark, haben Sie dort einen Computer? Dann haben wir eine Chance.« Mark schluckte. »Ah ... ja ... Das ist es ja, was ich Ihnen klar zu machen versuche. Wir haben eine groß artige Chance.« »Nun, wir haben ganz sicher eine Chance«, sagte Ka ren, über einen primitiven Stadtplan gebeugt, den sie in den Schnee geritzt hatte. »Die Karibus ziehen nach Süden, die breiten Avenuen entlang. Nördlich von Greenwich Village verlaufen die Straßen parallel, aber bei der dreizehnten bildet eine andere Straße ei
nen Winkel ... Wie heißt sie noch gleich?« Sie blickte zu Mark. Er zuckte die Achseln. »Tut mir leid, der Name fällt mir nicht ein. Ich habe andere Dinge im Kopf.« Sie mußten alle innehalten und überlegen, bis Helen endlich darauf kam: »Greenwich Avenue.« »Ja«, sagte Fink. »Richtig. Das ist jetzt auch Ge schichte, deine Fachrichtung.« »Also gut«, sagte Karen. »Die Greenwich Avenue ist von haushohen Schneewehen gesperrt, eine Sack gasse. Da hinein treiben wir die Herde.« »Verstehe«, sagte Fink. »Jemand stellt sich da auf die Kreuzung und regelt den Verkehr. Dafür ist Hi deo hier der rechte Mann. Er kommt aus einem Land, das eine altehrwürdige und edle Selbstmordtradition pflegt.« »Nein«, sagte Karen. »Wir brauchen etwas, das sie erschreckt, etwas Ungewöhnliches, Bizarres, völlig außerhalb ihrer Erfahrung Liegendes.« »Nun, Helen hier liegt völlig außerhalb meiner Er fahrung ...« »Mit gutem Grund, Itzig«, sagte Helen. »Es geht um unser Leben!« sagte Karen in so schar fem und befehlendem Ton, daß die beiden er schrocken verstummten. Sie wies auf ihre Zeichnung und blickte zu Mark auf. »Dein Windrad, genau an dieser Kreuzung ...«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist keine Spielerei, Mark, es ist für unser Über leben.« »Dafür gebrauche ich es ja, Karen. Außerdem ist es fest montiert. Ich kann es nicht wie eine Stange he rausziehen und auf die Schulter nehmen. Die Kraft übertragung mit den Kegelrädern müßte auseinan dergenommen werden. Tut mir leid.« Eine Stille trat ein, bis Danny sich zu Wort meldete. »Mein Anemometer.« »Dein was?« »Wir könnten mein Anemometer nehmen. Es dreht sich wie ein Windrad. Natürlich ist es etwas kleiner ...« Mark starrte ihn an. »Ich hatte gehofft, du würdest mir beim Antennenbau helfen, Danny ...« Danny scharrte verlegen mit dem Fuß. »Ich glaube, die Jagd wird interessant.« Mark schüttelte den Kopf und seufzte. »Na, wie du willst. Ich hoffe nur, daß das nicht zu einem Unglück führt.« Mark hatte guten Grund, Dannys Abwesenheit zu bedauern. Er hatte ein hartes Stück Arbeit vor sich, das ohne Dannys Hilfe noch mühsamer und langwie riger wurde. Jedes Band seines Empfängers hatte besondere
Merkmale und Möglichkeiten, und jedes funktionier te am besten mit einer separaten Antenne, die so hoch wie möglich sein sollte. Er mußte auf das Dach eines hinreichend hohen Gebäudes steigen, Tonnen von Schnee wegräumen und Antennendrähte hinunter zum Empfänger spannen. All diese Drähte mußten den elektrischen Leitungen des Gebäudes entnom men werden. Mit einigem Glück und angestrengter Arbeit mochte es ihm gelingen, bis zum Abend ein Band betriebsbereit zu machen. Es war schweißtrei bend und ermüdend (und er durfte sich nicht zu sehr in Schweiß arbeiten, da dieser allzu leicht gefrieren konnte). Damit nicht genug, war das Herausreißen und Zusammenstückeln der Leitungsdrähte langwei lig, verdammt langweilig. »Da kommen sie!« Es war ein erregender Anblick, ein Wald in Bewegung, eine Parade von Geweihstangen, der Dampf von Atem und Körpern wie ein geheim nisvoller Nebel, der sie einhüllte und begleitete. »Wow!« murmelte Danny. Er hörte das Blut in sei nen Schläfen pochen und meinte vor Aufregung bei nahe sterben zu müssen. Besorgt blickte er zu seinem Anemometer auf, das sich mitten im Weg der Herde auf einem Pfosten drehte, und dann die Greenwich Avenue hinunter, wo die anderen in Abständen war teten, genauso gespannt und aufgeregt wie er.
Einen Augenblick stockte ihm das Herz, als es schien, daß die Herde sich vom Windrad nicht ab schrecken lassen und die Eighth Avenue hinunterga loppieren und für immer verloren sein würde. Dann geschah es. Das Leittier scheute, warf den Kopf zurück, und das prachtvolle Geweih schwang herum. Die Panik breitete sich aus, andere Geweihe mach ten in sukzessiven Wellen kehrt, und die Karibus drängten wild durcheinander, als die Leittiere sich durch die Herde kämpften, um wieder die Spitze ein zunehmen. Auf der anderen Seite der Kreuzung sprang Karen aus ihrem Versteck, schwenkte den Pelzmantel über dem Kopf, fuchtelte mit den Armen und heulte wie ein Wolf. Die Herde schwenkte in voller Flucht ab und jagte in einer Wolke aus Schnee und Atemdampf in die einzige Richtung, die einen Ausweg zu bieten schien: die Greenwich Avenue hinunter. Die anderen Jäger sprangen aus ihren Verstecken in den Einmündungen der Seitenstraßen und jagten die Herde mit Heulen, Schreien und geschwenkten Armen weiter. Und Danny rannte mit Karen hinter den Karibus her und schrie und heulte aus Leibes kräften. Es war berauschend. Auf einmal fühlte er sich stark und mächtig, ein wilder Jäger, der eine ganze Herde vor sich her trieb.
Zwei Blocks weiter endete die Avenue in mächti gen Schneeverwehungen, und die Karibus wurden aufgehalten. Die Jäger rannten ihnen heulend nach und schlossen den Kreis. Die Tiere liefen in Todesangst durcheinander. Eini ge fielen und wurden von den anderen in ihrem ver zweifelten Bemühen, einen Ausweg zu finden, getre ten und gestoßen. Die Jäger drangen mit Keulen und Lanzen im Halbkreis gegen die eingeschlossene Herde vor, er schlugen die verletzten Tiere und erlegten andere mit ihren Lanzen. Danny war überrascht von seiner Furchtlosigkeit, seiner trunkenen Begeisterung, die alle anderen Emp findungen hinwegfegte. Inmitten des Gemetzels spürte er, daß es richtig war, als sei es seine Bestim mung, hier zu sein und sich so zu verhalten. Er fragte sich, wie ihm zumute sein würde, wenn er tatsächlich mit eigenen Händen tötete. »Hallo, Mark Haney, wie geht es Ihnen?« Der Empfang war gut, die Stimme unverwechsel bar und ungeachtet seiner Empfindungen konnte Mark nicht umhin, den vollen Titel zu gebrauchen, als er antwortete. »Gut, Professor Guzman, und Ihnen?« »Ich esse gut, es fehlt mir an nichts. Ich kann ha
ben, was ich will ... wenn ich will.« Er hielt inne. »Lernte hier einen New Yorker kennen.« Er wartete auf eine hörbare Reaktion von Mark, aber Mark tat ihm den Gefallen nicht, und er fuhr fort: »Heißt Her bie, ein sehr patenter Typ. Es gibt nichts, was der nicht heranschaffen könnte. So einen hätten wir in unserem Fachbereich gebrauchen können. Lachte mich halbtot, als er mir erzählte, wie er im Blizzard Geld gemacht hat. Lehnte eine Leiter an einen auf der Brücke steckengebliebenen U-Bahn-Zug und verlang te zehn Dollar Benutzungsgebühr. Nun, inzwischen ist er rasch herangewachsen. Bot mir ein Mädchen für die Nacht an, für nur zwei Konservendosen, und ich wette, er wird ihr nur eine davon geben und die an dere irgendwo verschachern.« Er wieherte. »Der Bur sche weiß genau, wem was fehlt.« Guzman machte eine Pause, und als er weiter sprach, konnte Mark heraushören, daß er sich näher zum Mikrophon beugte, und seine Stimme plötzlich einen Tonfall verstohlener Vertraulichkeit annahm. »Hören Sie, Mark, was mache ich wegen der Waf fen? Ich stecke hier bis über den Kopf drin.« Mark fühlte sich von einer Gänsehaut überlaufen. »Warum sprechen Sie zu mir darüber, Professor Guzman?« »Weil Sie der einzige sind, mit dem ich reden kann.«
»Nun, tut mir leid, Professor, aber ich habe andere Leute zu ...« »Warten Sie, warten Sie!« sagte Guzman hastig. »Ich habe nachgedacht, habe mir meine Gedanken über das Eis gemacht ... was man tun könnte, um es zum Rückzug zu bewegen.« Mark saß bolzengerade. »Wenn Sie Ideen oder Lö sungen haben, dann lassen Sie andere daran teilha ben, um Gottes willen.« Guzman seufzte beinahe vor Erleichterung. »Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen, Mark. Mein Gott, sonst ist kein Mensch da, der auf einen hören will.« »Gut, ich höre. Was sollen wir tun?« »Nichts.« Mark war nahe daran, die Verbindung aus Über druß zu unterbrechen, eine Reaktion, die Guzman ge spürt haben mußte, denn er sprach etwas überstürzt weiter. »Das ist mein Ernst, Mark. Ich würde die Finger davon lassen. Es ist ein sich selbst korrigierender Prozeß. Verdunstungsrate und Wasserdampfgehalt der Atmosphäre gehen zurück, und gleichzeitig da mit die Neigung zur Ausbildung von Tiefdruckwir beln und Niederschlägen. Sobald der Zyklus unter brochen ist, wird er sich umkehren. Machen Sie es sich einfach bequem und halten Sie eine Weile aus.«
»Was verstehen Sie in diesem Zusammenhang un ter einer Weile?« »Nun ja, es wird nach meinem Tode sein, also habe ich mir nicht die Mühe gemacht, es auszurechnen. Es wird auch nach Ihrem Tode sein, also sollten auch Sie sich nicht sorgen. Mein Rat als Fachbereichsleiter ist der, daß Sie sich all diese Sorgen um die Rettung der Welt aus dem Kopf schlagen sollten. Die Natur wird das besser zustandebringen, als Sie es jemals könnten, also machen Sie es sich bequem, entspannen Sie sich und erfreuen Sie sich Ihres Lebens. Und seien Sie froh, daß Sie dort oben keine Fliegen haben.« »Leben Sie wohl, Professor.« Mark brach die Verbindung ab und drehte weiter zu einer neuen Frequenz. Aber noch ziemlich lange danach verspürte er Abscheu und Ekel. Das Blut rann in einem warmen, klebrigen Rinnsal in den Schnee, und dann ergossen sich die grünlichen Eingeweide in einer dampfenden Masse aus dem ge öffneten Leib. Vor kurzem noch hätten die Mitglieder der Gruppe den Anblick abstoßend gefunden, aber nun starrten sie fasziniert, benommen vom Reichtum der Beute, die ein gnädiges Schicksal ihnen zugedacht hatte. Die Hunde zerrten hysterisch an ihren bedenklich zerbissenen und ausgefransten Gurten.
Karen beobachtete sie besorgt und warf dem Leit hund endlich ein paar Stücke von den Eingeweiden zu. Die anderen Schlittenhunde machten ihm die Mahlzeit streitig, doch er zog die Lefzen zurück und schnappte nach ihnen, und sie wichen widerspenstig zurück. »Ich hoffe, das wird sie eine Weile beruhigen.« Sie wandte sich wieder ihrer Lektion zu, zog Fell und Fett zurück und zeigte den anderen die dichte Qualität der Wolle. »Diese Felle geben die wärmste und leichteste Kleidung ab, viel besser als das, was wir tragen. Die Geweihe sind eine ausgezeichnete Tarnung, um an eine Karibuherde heranzukommen ... Auch Zelte kann man aus der Haut machen.« Sie schnitt tiefer, bis der Knochen sichtbar wurde. »Aus diesen Knochen schnitzen die Eskimos Werk zeuge und Knebel für die Verschlüsse der Kleider. Vielleicht werden auch wir eine gewisse Fertigkeit darin erlangen.« Sie zeigte ihnen den Verlauf einer Sehne. »Wenn wir die trocknen, ist sie widerstandsfähiger als jedes Seil. Wir können Bogensehnen daraus machen, Zug riemen für die Schlittenhunde, Nähfaden für unsere Kleider. Als Nadeln verwenden wir Knochensplitter. Nichts wird vergeudet.« »So hilft uns ein Karibu, andere zu fangen«, sagte Danny.
Karen nickte. »Es war die engste Beziehung zu der Natur, die Menschen jemals hatten.« Danny kauerte neben ihr nieder. »Gib mir das Mes ser, Mama. Ich möchte sehen, wie ich damit schnei den kann.« »Hallo, Mark, es war ein großer Spaß, und wir haben eine Menge gelernt.« Zuerst vermochte Mark nur entsetzt zu starren. Dannys Eskimoanzug war verklebt mit geronnenem Blut und Fetzen von Fleisch und Fett. »Mein Gott, Danny, was ist mit dir geschehen?« »Geschehen?« Danny wischte sich die Nase mit dem Ärmel und ließ einen blutigen Schmierer im Ge sicht zurück. Mark war angeekelt. Er packte den Jungen bei den Schultern. »Danny, morgen bleibst du bei mir.« »Morgen? ... Aber morgen gehen wir auf die Jagd. Diesmal können wir Felle tragen und die Geweihe als Tarnung benützen ... Ich werde einen Speer mitneh men und ein Karibu töten ...« »Hör auf damit!« schrie er und schüttelte Danny. Der Junge riß erschrocken die Arme hoch, um sich zu schützen. »Nicht schlagen, Mark, bitte nicht schlagen!« rief er mit dünner Stimme. »Mein Gott, Danny ...« Mark beugte sich über ihn.
»Danny, du weißt, daß ich dich nie geschlagen habe ... Ich werde es nie tun, du brauchst dich nicht zu fürchten ...« Endlich beruhigte sich der Junge. »Sieh mal, Danny, ich habe hier wirklich etwas auf die Beine gebracht! Die meisten Antennen sind ge spannt, und ich bekomme Signale von überall. Dort draußen gibt es eine ganze Welt voller Menschen, Danny, und ich bin mit ihnen in Verbindung.« Danny schaute ihn mit großen Augen an. Anfangs schien er nicht zu wissen, wovon Mark redete. »Der Sender, Danny! Ich spreche mit Fachleuten in Indonesien, Südafrika und England ... Danny, wir werden die Welt retten, du und ich ...« »... Ach so ... ja ...« Es klang nicht sehr überzeugt. »Hallo, W2QRV, Ihr Empfang hier in Pretoria ist viervier. Wir glauben, daß wir zurechtkommen, aber während es in Namibia und in der Kalahari regnet wie noch nie, haben wir hier im Osten eine schlimme Trockenheit. Wir bepflanzen breite Streifen mit Alep pokiefern, um zu verhindern, daß der Wind unseren guten Boden mitnimmt, aber wenigstens am Anfang müssen wir die Bäume bewässern, und das Wasser wird immer weniger.« »TL8ZY, hier ist W2QRV. Ein Großteil des über den Ozeanen verdunstenden Wassers geht in Eiskappen
der Polarregionen. Haben Sie versucht, aus Tankern Öl abzulassen und die Verdunstung durch einen Öl film zu unterbrechen?« Der Südafrikaner lachte grimmig. »Öl? Welches Öl? Was davon übrig ist, hat das Militär. Es schützt die Grenzen gegen Millionen von Schwarzen, die wir rechtzeitig hinausgeworfen haben, ehe sie hier Unru he stiften konnten ... Nun, wir haben die Waffen und das Öl und die Lebensmittel. Sie haben die Verzweif lung. Was meinen Sie, wer gewinnen wird? ... Und bei alledem wollen Sie hingehen und der Regierung vorschlagen, sie solle Öl ins Meer ablassen?« »Verstanden, TL8. Sie haben die Grenzen geschlos sen, aber wie steht es mit unserer Gruppe von Wis senschaftlern? Gibt es für die eine Einreisegenehmi gung?« »Tut mir leid, W2QRV, ich bin nicht in der Regie rung, ich mache die Gesetze nicht. Ich weiß nur, daß wir uns in unsere Schale zurückgezogen und sie zu gemacht haben ... Im Moment sehe ich aus dem We sten Rauch herüberziehen. Jemand brennt etwas ab, vielleicht haben die verdammten Schwarzen die Fel der angezündet ...« Es dauerte eine Weile, ehe er sich wieder meldete, und diesmal nur, um mit müder Stimme zu sagen: »TL8ZY meldet sich ab. Ende.« »TL8, wann können wir QSO fortsetzen?«
Aber da war nur noch das Rauschen. Mark wandte den Kopf und sah Danny an. »Ich werde die Verbindung wiederherstellen. Es gibt noch immer eine ganze Anzahl von Gegenden, wohin man gehen kann, sogar zu meinem alten Chef Guzman. Wir ziehen alle an einem Strang.« Er rief wieder Pretoria, doch ohne Ergebnis. Danny verlor das Interesse, und ein erbitterter Mark schalte te auf ein anderes Band um. Er drehte den Skalen knopf und augenblicklich kamen Stimmen herein. »Blendfeuer, hier ist Dunkle Botschaft ... Feuerbe fehl auf Koordinaten Vier Zebra Drei. Erwarte Voll zugsbestätigung. Ende.« »Mayday ... Mayday ... Mayday ... OUA 23 Oslo Uppsala Amsterdam Zwei Drei 55° 9' N, 7° 13' O Kü stenmotorschiff Kopenhagen nach Kollision mit Eis berg im Sinken ... Erbitten Rettung durch Hubschrau ber ... Können nur ein Beiboot klarmachen ...« »Mayday ... Mayday ... Mayday ... Hier ist Beech craft Drei Zwei Zwei, unweit Flugplatz Sedalia, Mis souri. Bruchlandung nach mißglücktem Start ... Meh rere Rippenbrüche, fürchte ich ... Es schneit ununter brochen, werde lebendig begraben. Ich bitte um Hilfe. Mayday ... Mayday ...« Auf der benachbarten Frequenz waren Explosionen zu hören. »CLA Tres Quatro, Cuba ... Socorro! Los america
nos nos estan atacando! ... Socorro! CLA Tres Quatro, Cuba ...« Danny hielt sich die Ohren zu und verzog das Ge sicht. »Ich will nicht mehr davon hören ... Nicht mehr, Mark, nicht mehr ...« Mark zog ihm sanft die Hände herunter. »Hör zu, Danny, wir sind diejenigen, die beisammenhalten müssen, was von der Zivilisation übrig ist.« »Das können wir nicht, Mark«, sagte Danny ge quält. »Wir können es, Danny ...« »Das Eis ist überall, Mark ... es breitet sich überall hin aus. Wir können nicht die ganze Welt retten.« »Danny, hör mich an. Wir schwärzen das Eis ...« »Schwärzen?« »Wir nehmen Ruß. Wir breiten Ruß auf dem Eis aus, so daß es das Sonnenlicht absorbiert und schmilzt.« »Überall?« »Es ist eine Möglichkeit. Hier ist eine andere, die Be ringstraße. Der Wasserspiegel der Ozeane sinkt, nicht wahr? Die Beringstraße wird dadurch so schmal, daß sie sich durch einen Damm ziemlich einfach schließen läßt. Die Versorgung des kalten Ojaschio-Stromes mit arktischem Wasser wäre damit unterbrochen. Hier ist eine weitere: Wir könnten einen dünnen Ölfilm auf die Wüsten und Trockengebiete sprühen, um den Sand
und die Bodenkrume festzuhalten. Wir können dann sogar Bäume in der Wüste pflanzen, weil der Ölfilm das Wasser im Boden am Verdunsten hindert.« Danny schaute Mark verwundert an. »Es gibt noch mehr, Danny, noch viel mehr, aber wenn du alles das erst weißt, werden dir selber neue Lösungen und Antworten einfallen.« »Aber wie soll ich ... Ich meine, es ist der ganze Planet, Mark.« Mark nahm Dannys Hand und legte sie auf den Sender. »Damit, Danny. Ja, viele Menschen sterben, aber es gibt auch welche, die durchhalten, wie wir. Wir werden die Welt retten, wir, die übrig sind.« Danny nickte vernünftig. »Dann werde ich zuhören müssen.« »Nicht nur zuhören, sondern die Verbindungen aufrechterhalten. Erinnerst du dich, als ich uns mit Schiffbrüchigen verglich? Dies ist das Leuchtfeuer, unser Blinksignal. Wir lassen es bei Tag und Nacht brennen, damit die Welt uns finde, und wir sie. Schiffbrüchige opfern alles, um das Notsignal auf rechtzuerhalten, weil sie wissen, daß sie ohne es ster ben würden. Das Blinksignal, die Verbindung mit der Außenwelt zählt mehr als alles andere.« Danny nickte matt. Sie vernahmen fernes Hundegebell und die Rufe der Jäger.
Danny blickte hinaus. »Da muß irgendwas los sein«, meinte er, und in seinen Augen blitzte Aben teuerlust auf. Dann verlor sich der Ausdruck, und er wandte sich zurück zu Mark. »Ja, wir müssen wohl«, sagte er nüchtern. Mark mühte sich im Licht seiner elektrischen Lampe mit mathematischen Berechnungen, in der Linken ei nen Karibuknochen, an dem er geistesabwesend nag te, als Karen das Wort ergriff. »Wir sahen heute eine Robbe auf dem Eis, draußen auf dem Hudson. Wir konnten sie nicht rechtzeitig fangen. Sie tauchte hinunter in ihr Loch, ehe wir auf Schußweite herangekommen waren.« »Sind die eßbar?« »Sie sind alles. Ihr Tran brennt in der Lampe ruhig und gleichmäßig ...« »Meine Lampe ist besser.« »Die Birne wird nicht ewig halten.« »Ich kann in den Häusern hier jederzeit neue ho len.« »Wir werden es nicht schaffen, wenn wir bloß Pa rasiten sind, Mark.« »Nun, ich bin kein Parasit. Ich bin ...« Auf einmal wurde er sich des Knochens in seiner Hand bewußt. Er schaute sie an, und es entstand ein unbehagliches Schweigen. »Willst du damit sagen, ich sei eine Last?«
Karen antwortete nicht. Mark blickte zu Danny hinüber und sah, daß der Junge dem Gespräch aufmerksam folgte. »Ich dachte, wir wären uns einig, was die Bedeu tung meiner ...« »Versuch zu verstehen, Mark. Wir leben nahe an der untersten Grenze, und wenn nicht jeder von uns sein eigenes Gewicht zieht ...« »Mit anderen Worten, ich esse Fleisch, das mir nicht zusteht. In Ordnung, Karen, soll ich mit dir auf den Schlitten steigen?« »Das fehlte noch. Ein Fehler mit dem Schlitten, und wir haben verletzte Hunde. Nein, diese Robbe ist un sere große Chance. Mit der kannst du ganz allein fer tig werden.« Er lächelte. »Mein Fach.« Sie nickte. »Ja, gut, ich will nicht, daß jemand durch meine Schuld stirbt, Karen.« »Ich weiß.« Er blickte zu Danny. »Was immer notwendig sein sollte, um die Gruppe am Leben zu erhalten, ich ver spreche es.« Danny lächelte, offensichtlich stolz auf Mark. »Eine Robbe hat das gemacht?« Sie nickte.
Ein Eisbrecher hätte das Eis in seiner gegenwärti gen Stärke nicht durchdringen können, aber ein wundersames Loch durchbohrte es bis hinunter zum noch strömenden Fluß. »Muß sie eine Menge Arbeit gekostet haben, das zu bohren.« »Sie mußte. Es ist ihr Luftloch.« »Was soll ich tun, eine Angelleine hineinwerfen?« Sie lachte. »Alles Ungewöhnliche würde sie ab schrecken. Nein, du mußt warten und sie mit dem Speer erlegen, wenn sie zum Luftholen heraufkommt.« »Wann wird das sein?« »Früher oder später.« »Wann ist später?« »Der ganze Tag, vielleicht.« »Und was tue ich unterdessen?« »Nichts.« »Na ja, ich könnte an meinen Berechnungen arbei ten, oder etwas lesen ...« »Nichts bedeutet nichts, Mark. Robben sind klug und auch scheu. Sie haben ein hochempfindliches Gehör, sie können die geringsten Vibrationen durch das Wasser spüren. Sie wird dich als einen Schatten auf dem Eis sehen, und das wird sie von Anfang an nervös machen. Sie wird sich vergewissern wollen, daß du ein Steinblock bist, bevor sie hochkommt, also mußt du wie ein Steinblock sein.«
Mark schaute sie an, und dann das Loch. »Ich sitze einfach da ...« »Wie eine Statue. Die Eskimos taten es die ganze Zeit. Wie du einmal sagtest, sie sind in sechstausend Jahren keinen Zentimeter vorangekommen.« Er holte Luft. »Wenn es so wichtig ist ...« »Für uns alle, Mark.« Sie küßte ihn leicht auf die Wange. »Viel Glück.« Er sah sie in dem watschelnden Gang, der ihr längst zur Gewohnheit geworden war, zurück zum Ufer ge hen, und es schien ihm, als kenne er sie kaum mehr. Ohne andere Verwendung für seine Bücher, stapel te er sie aufeinander, setzte sich darauf und wartete. Ihm schien es, daß er stundenlang beinahe bewe gungslos vor dem Loch saß. Zuerst war er stolz auf seine Ausdauer, doch nach und nach begann er sich zu fragen, warum er stolz sein sollte. Während er hier saß, drehte sich der Erdball weiter, wurden die Luft strömungen aufgerührt, die seine Feinde waren. Sein Verstand versuchte mit den komplizierten Gleichungen handgemein zu werden. Er sah Zahlen, Zeichen und Symbole, versuchte eine Formel im Kopf zu behalten, während er an einer anderen arbeitete, kehrte zur ersten zurück, während er die zweite fest zuhalten suchte, arbeitete jede im Licht der anderen um, und formulierte schließlich beide im Licht einer dritten neu.
Er geriet durcheinander, verlor den Faden und er mahnte sich zum Stillhalten, während er sich abmüh te, die Berechnung wieder in den Griff zu bekommen. Er verspürte ein Jucken unter der pelzgefütterten Parka und versuchte es zu ignorieren. Halt still! sagte er sich, während die Welt stirbt, während die Zivilisation aus dem letzten Loch pfeift. Das Jucken ließ sich durch Mißachtung nicht besei tigen. Es verschlimmerte sich, wurde lästig. Halt still! sagte er sich abermals. Er dachte an den Sender, an Stimmen, die in ihrer Einsamkeit um Hilfe riefen, um seine Hilfe, während er vor dem Atemloch einer Robbe saß und stillzuhalten versuchte. Das Jucken war geeignet, einen rasend zu machen. Eine winzige, vorsichtige Bewegung konnte sicherlich nicht schaden, ein winziges Kratzen ... Langsam und mit großer Behutsamkeit ließ er den Arm sinken, griff unter die Parka ... Es geschah so schnell, daß seine Augen der Bewe gung kaum zu folgen vermochten: ein Platschen, das Auftauchen einer platten schwarzen Schnauze mit langen Schnurrbarthaaren, ein Schnaufen, gefolgt von einem weichen, beinahe menschlichen Stöhnen ... und dann war es wieder fort, und er sah den Schatten un ter dem windgefegten Eis davongleiten und ver schwinden.
»Es ist eine Sache der Meditation«, sagte Hideo. »Und wie machst du das?« »Im wesentlichen kommt es darauf an, an nichts zu denken.« Mark grunzte über den widersinnigen Humor des Ratschlags. »Irgendwie geht es mir gegen den Strich.« »Es dauert eine Weile«, meinte Karen. »Du wurdest auch nicht an einem Tag Professor.« »Aber er ist an mir hängengeblieben. Paß auf, Hi deo kann meditieren, laß es ihn machen. Ich bin der Mann am Funkgerät, der offizielle Zivilisationsbe wahrer. Als Jäger bin ich ein völliger Versager, das gebe ich zu. Ich muß mich auf dem einen Gebiet nützlich machen, auf dem ich nützlich sein kann.« Karen seufzte. »Wahrscheinlich hast du dein Bestes getan.« »Darin, ein Primitiver zu sein, ja. Mein altes Bestes war viel besser ... für alle.« Er warf Danny einen Blick zu. Der Junge zeigte ei nen abwesenden Ausdruck, den Mark nicht zu deu ten wußte. Seine nächste Bemerkung zielte auch auf den Jungen. »Es wird sich nicht schon morgen auszahlen, aber es wird sich auszahlen, und wenn nicht mit dir, dann mit Danny.« Karen faßte ihren Sohn ins Auge. »Danny, was möchtest du lieber?«
»Was?« Es dauerte eine kleine Weile, bevor er zur Erde zurückzukehren schien. Er schaute umher und bemerkte, daß alle ihn ansahen. Er zögerte verlegen, und als er antwortete, schien er Marks Blick auszu weichen. »Wir müssen die Welt retten, Mama. Mark und ich, wir müssen es versuchen.« Niemand sagte etwas. »Seht mal«, sagte Mark, »wir werden es schaffen, wirklich. Wir sind keine Dinosaurier. Wir sind die einfallsreichste und anpassungsfähigste Art, die die Erde je hervorgebracht hat. Wir haben jedes Unglück überlebt, das die Natur über uns gebracht hat, und wir werden auch dieses überleben. Schließlich sind es nicht die Götter, gegen die wir kämpfen. Es ist bloß Eis.« Er wartete auf eine Antwort. Es kam keine. »Bloß gottverdammtes, beschissenes, verfluchtes Eis, mehr nicht!« Genährt vom Staub und den Wassern der Welt, wuchsen die Gletscher, krochen von ihren gebirgigen Rückzugsgebieten herab, von den Rockies, dem Hi malaja, den Alpen, den Anden, den Pyrenäen, griffen blindlings und unerbittlich um sich. Ihre Eisfinger ta steten sich durch Gebirgspässe, und bald folgten sie ihnen mit ihrer Masse und drangen in die Täler vor,
eine langsame, erstarrte Flutwelle, vorangetrieben vom Gewicht der Schneestürme in den Bergen. Jeder hatte seine eigene Persönlichkeit. Einer schob sich beinahe unversehens durch ein schmales Seiten tal hinab, schlank und glänzend und überraschend für die Bewohner des Haupttales, die sich plötzlich von den hervordrängenden Eismassen abgeschnitten sahen. Ein anderer kündigte sein Kommen bereits von ferne mit splitternden Kanonaden an, vom felsigen Unter grund in ungezählte Spalten und Brüche zerteilt. Ein weiterer wirkte als ein gigantischer Meißel, ho belte den Felsboden und die Hänge an seinen Flan ken, bestreute sich mit Schutt und Blöcken, schob rie sige Schuttmoränen vor sich her, die ganze Dörfer und Städte schon vor dem Eis unter sich begruben. In anderen wiederum erzeugte die enorme Reibung Hitze, die den Kern des Gletschers zum Schmelzen brachte. Das Schmelzwasser suchte sich Wege durch das Eis, höhlte Stollen aus und trat schließlich in Form von mächtigen Gießbächen an der Gletscher zunge zutage. Im Laufe der Zeit füllten die Täler sich wie Tassen mit Schutt und Eis, und Trillionen Tonnen neuer Ge röllmassen gesellten sich zu den zermahlenen Über resten von Tacoma, Seattle, Vancouver, Zürich, An dorra, La Paz, München und Santiago.
Der Prozeß multiplizierte sich selbst durch einen weiteren neuen Faktor, da er Gebiete der Erde mit Eis bedeckte, die nun das Sonnenlicht in den Weltraum zurückstrahlten und so dazu beitrugen, daß der Pla net mitten im Sommer weiter abkühlte. Der kanadische Eisschild breitete sich mit zuneh mender Geschwindigkeit über die großen Ebenen aus, nahm die Zuflüsse von den Bergen des Westens in sich auf und schob sich hinter Hunderte von Me tern hohen Moränenwellen aus Lehm, Gestein und Schnee südwärts vor. In Hügelländern, die zunächst vom Eis umflossen wurden, hielt sich da und dort an isolierten Stellen noch etwas Leben, doch diese hilflosen Inseln in einer steigenden Flut wurden immer enger zusammenge drängt, bis das Eis schließlich auch sie erreichte und unter sich begrub. Die Feuchtigkeit heranführender Höhenströmun gen, deren Niederschläge als Schnee fielen und die Vergletscherung förderten, entnahmen den Ozeanen ständig Wasser, das dem Kreislauf entzogen wurde. So sank überall der Meeresspiegel. Küstengewässer und Häfen verschlammten, trockneten aus, und jegli cher Schiffsverkehr kam zum Erliegen. Zugleich sank der Grundwasserspiegel in den neuen Trockengebie ten. Seen und Flüsse versickerten, und wo vor kur zem noch Großstädte und dichtbesiedelte Industrie-
und Agrargebiete waren, beherrschten die Fabrik schornsteine und die Hochhäuser aus Stahl, Glas und Beton, den Pyramiden gleich, bald nur noch Wüste. Zur gleichen Zeit gingen über der Sahara, der Gobi, den Wüsten des Vorderen Orients und Australiens un gewöhnlich starke und regelmäßige Regengüsse nie der, die die Trockenbetten der Wadis zu reißenden braunen Strömen werden ließen, die die Lehmziegelbauten der Bewohner in Schlamm verwandelten und davonschwemmten und die ersten Vorboten einer neuen Vegetationsdecke aus dem seit Jahrtausenden ausgedörrten Wüstenboden lockten. Wo noch vor zwei Sommern die Bambaras mit ihrem Vieh verschmachtet waren, fiel jetzt der lang vergeblich herbeigesehnte Re gen. Nur wurde er nicht von den Ausläufern des Mon suns gebracht, sondern von Tiefdruckwirbeln, die auf neuer Bahn vom mittleren Atlantik ostwärts zogen. Für die notleidende Menschheit reiften die Früchte dieses Segens indes zu spät. Während die Sensen des Eises und des Sandes ihre Schneisen durch die Konti nente mähten, strömten die Menschen in den verblie benen fruchtbaren Zonen zusammen. Dort prallten sie aufeinander, plünderten, bekriegten sich und starben. Das Signal war schwach und unterstrich in seltsa mem Zusammenwirken die Schwäche in Guzmans
Stimme. Sein pfeifendes Schnaufen und die Pausen, die er einlegen mußte, um wieder zu Atem zu kom men, verbanden sich mit dem Schwund des Signals, so daß es schwierig wurde, das eine vom anderen zu trennen. »Das ... nie habe ich etwas dergleichen gesehen ... Kinder wie kleine alte Leute ... die Augen vorquellend, die Haut runzlig ... Und sie beklagen sich nicht einmal, Mark. Sie starren einen einfach an, und dann sind sie tot ... gleiten einfach so hinüber, ganz still ... Wir sind Zeugen des Aussterbens der menschlichen Rasse. Un sere vierbeinigen Vorfahren haben vielleicht einmal das ihrige getan, um die Dinosaurier auszurotten, in dem sie ihre Eier fraßen ... Nun sind wir im Begriff, uns zu den Dinosauriern zu gesellen, Mark.« »Wir leben noch, Professor, und wenn wir am Le ben sind, dann sind es auch andere.« »Es gibt keine anderen ... Das Radio ist tot ... die Kinder sind tot ... wir sind tot.« »Nein, sind wir nicht. Es gibt tausend mögliche Gründe, warum keine Sendungen durchkommen, aber es gibt Menschen dort draußen!« »Warum kämpfen Sie dagegen an, Mark? Sie haben das großartigste Geschenk bekommen, das ein Sterb licher haben kann ... Wenn Sie sterben, dann stirbt die Welt mit Ihnen.« Er lachte. »Ich habe meinen Spaß daran.« Dann schnaufte und röchelte er, als ginge es
um sein Leben. »Ach, Scheiße ...« hustete er, und dann war es still. »Professor Guzman!« Keine Antwort. »Professor Guzman, bitte kommen.« Mark warf Danny einen Seitenblick zu. Der Junge schaute von seinem Buch auf. Mark hoffte, daß er das Gespräch nicht mitgehört hatte. »Hast du behalten, was du gelesen hast?« Danny zuckte die Achseln. »Na, dann wollen wir mal sehen. Danny, was ist ein Fallwind?« »Fallwind ... ist eine Luftströmung, die entlang den Druckisobaren verläuft, wo der Luftdruck ... ich weiß nicht ... Es macht keinen Spaß, Mark.« Sehnsüchtig blickte er durch den Schuppen zum Ausgang. Mark folgte seiner Blickrichtung. Die kleinen Kashihara-Zwillinge spielten ihr Jagdspiel, wo einer der widerspenstige und bissige Hund und der andere der Jäger war, der die Peitsche schwang. Sie war aus Karibuknochen und Sehne im provisiert. Mark schauderte. »Sieh mal, vielleicht macht es keinen ›Spaß‹ mehr, aber ein Erwachsener, ein Mann zu sein, ist nicht immer lustig. Was wir hier lernen, wird eines Tages deine Verantwortung sein. Weißt du, was um uns ist?«
»Schnee.« »Und unter dem Schnee, überall um uns?« »Straßen.« »Zivilisation, Danny. Zehntausend Jahre Zivilisati on, alles, was wir seit der letzten Eiszeit aufgebaut haben. Und dies?« Er legte die Hand auf den Emp fänger. »Atmosphärische Störungen.« »Das sind die feinen, unsichtbaren Fäden, die die Überlebenden zusammenhalten. Wenn wir überle ben, überleben auch sie. Aber wir müssen in Verbin dung bleiben. Wir brauchen das Netz, das uns zu sammenhält.« »Es gibt niemanden da draußen, Mark. Er hat es auch gesagt.« »Guzman ist ein einsamer, verbitterter alter Mann. Ihm wäre es nur recht, wenn er alles mit ihm selbst sterben sähe, aber ich möchte, daß es lebt, und ich möchte, daß du lebst ... Komm, jetzt bist du an der Reihe!« Er gab Danny das Mikrophon, und der Junge nahm es und starrte einfältig darauf. »Komm schon, zuerst Professor Kaplan ... WB2QXR.« »Hier spricht ...« »Hier spricht W2QRV, W2...« »Washington Zwei Quebec ...« »Washington Zwei Quebec Roma Valencia. Bitte
kommen.« Er wandte sich zu Mark. »Da ist nie mand.« »Versuch's noch mal!« »Niemand.« »Jetzt wartest du eine Weile, und dann versuchst du es wieder.« »Mark, es ist so langweilig!« »Nur bis jemand antwortet.« »Er wird nicht antworten.« »Wahrscheinlich ist er in seinem Labor, oder er ar beitet am Generator.« »Er ist tot. Alle dort draußen sind tot.« »Wenn wir am Leben sind, dann sind die auch am Leben! Also gut, er ist im Moment beschäftigt. Ma chen wir weiter, Pat Keegan in Miami ... das Zwan zigmeterband.« Mark blickte über Dannys Kopf hinweg zu den Kashihara-Kindern, die noch immer bellten und ki cherten, zwei Marionetten in ihrem ewig gleichen schwachsinnigen Spiel. Im Inneren des Schuppens saßen Helen und Wendy beim Feuer, nähten, koch ten, kauten sogar Karibufell durch, um es weich zu machen. Es war ein bedrückender Anblick, besonders Helen, deren gutgeschulter Verstand in dem Maße zu degenerieren schien, wie sie sich in die EskimoHäuslichkeit einfügte. Die anderen, Karen, Hideo und Fink, waren in der
Stadt oder auf dem gefrorenen Fluß, um Ratten oder andere Tiere zu jagen. Sie waren nicht mehr zu retten. Damit blieb nur Danny als Bewahrer des großen Erbes, und selbst er schien allmählich dem Druck der Verhältnisse zu erliegen. »Pat Keegan ... Pat Leegan ... Pat Zeegan ... Pat Schmeegan ...« sagte Danny ins Mikrophon und ki cherte. »Danny!« »Ich weiß ... ich weiß ...« Danny richtete sich auf und leierte lustlos: »Hier spricht W2QRV ...« Andere Tiere verirrten sich auf der Wanderschaft nach Süden in die Stadt. Schneehasen, Lemminge, Po larfüchse, Hermeline und verschiedene Vogelarten. Die meisten von diesen rasteten nur kurze Zeit auf den höheren Gebäuden, bevor sie weiterzogen, doch gab es Arten, die den Boden bevorzugten, und sie waren leichter zu fangen. Karen lehrte Fink den Fang der arktischen Seemö we mit einem Netz aus Karibusehnen am Ende einer langen Holzstange. Sie legte ein paar Köderbrocken aus, versteckte sich hinter einer Schneewehe und wartete, bis die Vögel bei den Ködern gelandet wa ren. Dann sprang sie auf und schlug mit dem Netz zu. Es war wie die Jagd mit einer langstieligen Flie genklatsche auf eine sehr wachsame Stubenfliege,
und Fink verfehlte seine Beute immer wieder. Die Vögel flatterten auf, und es folgte eine weitere Peri ode geduldigen Wartens, bis die Köder wieder einen Vogel anlockten. Karen gab ihm Ratschläge und beobachtete, wie er sich nach und nach verbesserte. Er widmete sich der Aufgabe mit einer konzentrierten Intensität, die Mark, wie sie ihn kannte, nur bei seiner wissenschaft lichen Arbeit aufzubringen imstande war. Sie mußte an die anderen denken, an die Frauen mit ihren häuslichen Arbeiten, an die Männer, die tagsüber auf der Jagd waren, an die Kinder, die in ih ren Spielen die Alten imitierten. Mit dem Erlernen der Überlebenstechniken der Eskimos übernahmen sie automatisch ihre Rollen in der Eskimofamilie. Es war nicht ideal und vielleicht nicht einmal an genehm, ganz gewiß nicht für Helen, die sich über ih re Rolle entrüstete und die Vergeudung und Vergeb lichkeit ihrer Ausbildung beklagte. Diese Unzufrie denheit erfüllte ihr und Finks Leben mit ständigem Hader. Aber sie hatten überlebt. Wehmütig dachte Karen, welch eine Dissertation sich daraus machen ließe, wenn es jemals wieder eine Universität gäbe. »Hab' eine!« Fink sprang vor Freude auf und nie der und zeigte Karen stolz den im Netz gefangenen Vogel.
Sie griff hinein, legte die Hände um die flatternden Flügel, und langsam beruhigte sich das Tier. Dann preßte sie den Daumen gegen den Hinterkopf des Vogels und brach ihm das Genick, ohne die Spur ei ner Gemütsbewegung zu zeigen. Fink zuckte zusammen. »Daran kann ich mich noch immer nicht gewöhnen.« »Ich schon, Lew.« Er nickte, holte tief Atem und sagte: »Sehen wir zu, daß wir noch eine fangen.« Und wieder legte er sich in seinem Versteck auf die Lauer und wartete. Den ganzen Tag, wenn es not wendig sein sollte. Keine dieser Regeln war auf ihre eigene Familie anwendbar. Die Einheit brach auseinander, da Mark an der alten Lebensweise festhielt, Danny mit den Büchern und dem Sender beschäftigte und Vorberei tungen für etwas traf, was niemals eintreten würde. Sie machte sich Sorgen. Der Fleischvorrat, den sie nach der Jagd auf die Karibuherde hatte anlegen können, war bald wieder dahingeschmolzen, denn die meisten Jagdtage blieben ohne große Ausbeute, und wären die Ratten nicht gewesen, so hätten sie die Hunde nicht ernähren können. Die Rationen hatten gekürzt werden müssen, weil die Tiere auf ihrer Wanderung nach Süden nur durchzogen, und immer weitere Wege waren nötig, um Jagdbeute zu finden.
Die Welpen aus drei Würfen waren so rasch heran gewachsen, daß sie nun, nachdem sie einen weiteren Schlitten gebaut hatten, drei Jäger ausrüsten konnten, aber es bedeutete auch, daß mehr hungrige Hunde mägen gefüllt sein wollten. In der nächsten Zeit standen kritische Entschei dungen an. »He, sieh dir das an!« unterbrach Fink ihren Ge dankengang. Sie sah ihn zu einem der Wolkenkratzer zeigen und folgte dem ausgestreckten Arm mit ihrem Blick. Es sah wie eine kleine Rauchwolke aus, wie ein uner klärlicher Verdunstungs- und Kondensationsprozeß, der Wasserdampf erzeugte. Statt in die Höhe zu stei gen, kam die Wolke jedoch über die gestufte Fassade des Gebäudes herab, hüllte Gesimse und Vorsprünge ein. Dann hörte Karen das Geräusch, ein unheilver kündendes dumpfes Rumpeln, ein Geräusch, das sie nur zu gut erinnerte, als Verankerungen und Mörtel nachgegeben hatten, Eisenträger geflogen und Teer und Beton wie Papier gerissen waren. »Lauf!« schrie sie. »Lauf!« Fink stand erstarrt, unfähig zu begreifen, was ge schah. »Eine Lawine! Weg von hier!« Fink sprang auf den Schlitten, griff zur Peitsche
und hieb schreiend auf die Hunde ein. Die Peitsche klatschte und entrollte sich, erreichte aber nicht den Leithund. Die hinteren Schlittenhunde rannten in ih rer Aufregung los, prallten mit den vorderen zusam men, und im Nu entspann sich eine wütende Beiße rei, bei der die Zugleinen sich hoffnungslos ineinan der verstrickten. »Scheiße!« Karen rannte hinzu und schnitt die Leinen los. Die Hunde stoben heulend in verschiedene Richtungen auseinander, manche noch immer zusammengebun den. Der nahende Donner widerhallte zwischen den Gebäuden. »Laß sie! Lauf, so schnell du kannst!« Aber sie sanken bei jedem Schritt bis über die Knie in Schnee ein. Sie hatten kaum zwanzig Schritte zu rückgelegt, als der Luftdruck der auftreffenden Staublawine sie vornüber in den Schnee schleuderte. Sie rappelten sich spuckend auf, blickten gleichzeitig zurück und sahen die Masse der Lawine wie eine weiße Flutwelle vom Fuß des Wolkenkratzers aus wärts branden. An ein Entkommen war nicht mehr zu denken, sie war weniger als zehn Meter entfernt. Sie riß Fink herum, daß beide den heranbranden den Schneemassen gegenüberstanden. »Lew, halt dich an der Oberfläche! Schwimm!« »Was?«
»Schwimm! Es geht ums Leben!« Verwirrt und in Panik machte er ausholende Schwimmbewegungen und paddelte und strampelte, als der Schnee wie eine Welle sie umschloß und über spülte. Auch Karen hielt sich mit Schwimmbewegungen an der Oberfläche, solange es ging, und als der Schnee sie überflutete, machte sie sich mit Armen und Händen einen kleinen Luftraum zum Atmen frei. Dann war alles still. Sie arbeitete sich mit wenigen kräftigen Bewegun gen zur Oberfläche hinaus, orientierte sich mit einem Rundblick und sah zu der Stelle hin, wo Lew zuletzt gewesen war. Nichts regte sich unter der Oberfläche. »Lew!« Verzweifelt schleppte sie sich, immer wieder tief einsinkend, zu der Stelle, wo sie ihn vermutete. Mit beiden Händen wühlte sie Schnee und vereiste Klumpen zur Seite und brach endlich zu seiner Luft blase durch. Fink sog die frische Luft ein, schnaufte mehrere Male und nickte ihr dankbar zu. »Wow! ... Das war ein höllischer Vogelschiß!« Hunger ist der beste Koch, sagte sich Mark, als er die Möwe aß. Er hatte lange gebraucht, um sich an das
immer häufiger nur angebratene Fleisch zu gewöh nen. Karen hatte sogar gedrängt, daß sie das Fleisch absolut roh essen sollten. Anscheinend war das in ei nem Land, wo es weder Früchte noch Gemüse gab, lebenswichtig gewesen, und Karen hatte erzählt, daß Eskimos an ihrer fast ausschließlich aus tierischen Proteinen bestehenden Nahrung erkrankt waren, als die Zivilisation das Kochen eingeführt hatte. Nun, dachte Mark, je hungriger man war, desto weniger wählerisch. Gegen Rattenfleisch hatte er längst nichts mehr einzuwenden, und selbst das pe netrant tranige Fleisch dieser Möwe mundete ihm. Dann kehrte seine Aufmerksamkeit zu Karens Bericht vom Lawinenunfall zurück. »Mark, was ist los? Alles scheint schlechter zu werden. Es wird kälter, die Tiere verschwinden ...« Er nickte. »Der Gletscher kommt. Die Kaltluft strömt vom Eis ab und bildet hier eine bodennahe Schicht, die sich südwärts ausdehnt.« »Dann ist es also ein endgültiger Rückzug der Tie re«, sagte sie nach einer Pause. »Wir werden ihnen folgen müssen.« Er lächelte matt. »Ich wünschte nur, wir hätten ei nen Spediteur in der Nähe.« Sie lachte nicht, lächelte nicht einmal. »Na, komm schon, so schlimm ist es nicht. Wir ha ben drei Schlitten und genug Hunde ...«
»Einige haben wir unter der Lawine verloren.« »Es sind immer noch genug, nicht wahr?« Sie zuckte die Achseln und verstummte, sah Mark zu, wie er die restlichen Vogelknochen abnagte und sich die Finger ableckte. »Könnte noch was vertragen. Gibt es mehr?« Sie schüttelte den Kopf. »Hmm. Na gut, ich will nicht gierig sein.« »Bist du nicht, Mark. Ich habe auch Hunger.« Ein Moment der Stille war zwischen ihnen. »In Ordnung, Karen, wir werden es besser machen. Gleichgültig, wohin die Tiere gezogen sind, wir wer den ihnen nachgehen und sie einholen.« »Mark ... das klappt nicht.« »Wie meinst du das?« »Ich meine, wir sind keine Eskimos. Wir sollen die Karibuherden einholen, die jedes Jahr Tausende von Kilometern wandern? Sieh mal, wir brauchen nur ein paar Blocks weit zu fahren, und das Schlittengespann gerät in Unordnung. Zehn Sekunden später ist die schönste Beißerei im Gange. Und dann haben wir ei ne halbe Stunde wie die Kohlentrimmer zu schuften, um sie wieder zu trennen und das Gespann in Ord nung zu bringen ...« »Die gleiche Geschichte hörte ich schon, als wir hier anfingen, man sollte meinen, daß es nach all der Zeit ...«
»Ich hatte keine sechstausend Jahre. Mein Gott, Mark, keiner von uns kann richtig mit dieser Peitsche umgehen, und sie ist unser wichtigstes Überlebens werkzeug, weil sie die Hunde in der Reihe hält.« »Na, ich weiß nicht, es gibt wichtigere Dinge.« »Nein, gibt es nicht. Ich bin ... ich bin zu dumm oder zu alt, ich weiß nicht was. Ich bringe nichts zu wege.« »Zu alt, daß ich nicht lache. Mit dreißig haben diese Augenfältchen wirklich nichts ...« »Mark, eine Ballettänzerin fängt mit sieben an.« »Na gut, und welches ist das richtige Alter, um als Eskimo anzufangen?« »Wer weiß? Was es auch ist, ich bin darüber hin aus. Nun stehen wir an einem entscheidenden Wen depunkt. Wir müssen Nomaden werden.« »Nomaden. Es ist nichts weiter als Umzugstag. Es wird ein paar Stunden dauern, um Windrad und Ge nerator abzubauen, und noch ein paar Stunden, um die Antennen einzuholen ... Insgesamt sollte es nicht länger als einen Tag dauern, bis ich reisefertig bin.« »Mark, wir können das Zeug nicht mitnehmen.« »Natürlich können wir.« »Wir haben nicht genug Platz, wir würden niemals ...« »Wir werden, das ist alles. Ich gebe dir deine eige nen Worte zurück: Was wir uns vornehmen, werden
wir tun. Und wir können es. Die positive Einstel lung.« Er wollte sie bei den Schultern nehmen, doch sie entzog sich ihm. Sie saßen schweigend da. Dann hörten sie in der Nachtstille, weit entfernt, aber unverkennbar, ein Geräusch, das weit bedrohlicher und abschreckender war als jeder kalte Wind. Ein Ge räusch, das über die ungeheure Leere hinweghallte, ein anhaltendes Splittern und Bersten, aber so dumpf und tief, daß sie es bis in den Magen spürten. Darauf folgte ein dumpfes Rumpeln, wie ferner Donner. Eis! Mark räusperte sich und sagte: »Wir müssen, also werden wir.« Er zog das Eisbärenfell über sich, wälz te sich auf die Seite und war bald eingeschlafen. Karen lag wach. Sie zitterte. Das Wetter wechselte. Mark spürte den Eiswind, der vom heranrückenden Gletscher im Norden herabfeg te. Er überdachte die Veränderungen in den Luft strömungen und konnte nicht umhin, sich von neuem mit Möglichkeiten der Gegenwehr zu beschäftigen, mit dem Ausbreiten von Ruß auf der Schneedecke, mit Ölfilmen auf den Ozeanen, dem Zuschütten die ser Meerenge und der Öffnung jenes Kanals ... Als er aufblickte, sah er Danny wieder einmal vom
albernen Jagdspiel der Zwillinge abgelenkt. Für die Dauer einiger Augenblicke verspürte Mark Reue und Bedauern. Danny war nie ein Kind gewesen, und jetzt war einfach keine Zeit mehr dafür. »Danny ...« »Hm?« »Corioliskraft.« »Corioliskraft ... Das ist ... äh ... das hat mit den Winden zu tun.« »Lieber Gott, Danny, das ist elementares Zeug. Das hast du schon alles mal gewußt.« Danny schaute ihn verständnislos an. Mark ächzte. »Na schön, Danny, was möchtest du gern? Möchtest du wieder an den Sender?« »Ich möchte bloß spielen.« »Das ist Zeitvergeudung, Danny.« »Oder auf die Jagd gehen, das ist keine Zeitver geudung.« »Das tun die anderen. Was wir hier machen, ist wichtiger. Nun, unterhalten wir uns zur Abwechs lung über die Instandhaltung des Generators, einver standen?« »Meinetwegen.« »Anschließend werden wir uns an den Sender set zen und eine Weile CQs aussenden, wenn niemand antwortet. Und dann zurück zu den Büchern.« Danny seufzte.
Als Mark zum Windrad aufblickte, sah er die Gruppe einige hundert Meter entfernt bei den Schlit ten stehen, gestikulieren und in den Schnee zeichnen. Vielleicht versuchten sie Klarheit über die Zugwege der Tiere zu gewinnen, oder sie planten die nächste Jagd. Er hoffte, daß sie über Möglichkeiten und Me thoden des Transports der Sendeanlage berieten. Es war von alles entscheidender Bedeutung, daß sie die Anlage mitnahmen, aber er war überzeugt, daß die anderen das inzwischen begriffen hatten. Fink löschte seine Zeichnung mit dem Fuß aus. »Es wird nicht klappen, Karen. Es ist eine besten falls minimale Chance, und wir stehen auf der fal schen Seite der Grenzlinie.« Sie sagte nichts. »Sieh mal, du kennst die Tatsachen so gut wie wir, und du bist der Kapitän dieses Rettungsbootes.« »Wie würdest du es machen, Lew?« »Nicht mein Fachbereich.« »Danke.« Er zuckte die Achseln. Karen holte tief Luft, schritt mit gebeugtem Kopf auf und ab, die Arme nervös vor der Brust ver schränkend und wieder herunternehmend. »Wißt ihr, ich sollte nicht diejenige sein. Bei mir spielen Gefühle mit hinein, Emotionen ...«
»Darum mußt du diejenige sein«, sagte Hideo. »Es ist wirklich so, daß der Kreis sich schließt, Karen. Wir haben überlebt, indem wir dir folgten, und du folg test den Eskimos. Nun mußt du den nächsten Schritt tun. Es ist der schwerste, vielleicht der schwerste, zu dem wir je gezwungen sein werden, aber er ist un ausweichlich ... und wenn wir ihn nicht tun ...« »... überleben wir nicht.« Sie ließ ihren Blick über die Schlittenhunde gehen, unter denen auch junge waren, in ihren Merkmalen dem Polarhund bereits ein wenig angenähert. Sie blickte über den Fluß hinaus nach Norden und spürte den neuen, scharfen Eiswind. Der Gletscher verhielt sich ruhig – noch. Es war schon dunkel, als die Gruppe zum Schuppen zurückkehrte. Mark dachte bei sich, daß sie mit ihrer Jagd in Rückstand geraten sein mußten, da sie soviel Zeit mit Reden verbracht hatten. Und tatsächlich war die Tagesausbeute mager, ein paar Lemminge, einige Vögel, ein Schneehase, ein Dutzend Ratten. Er sah dem täglichen Ritual des Ausspannens der Schlittenhunde zu, die mit unabläs sigen Schlägen und Klapsen in Schach gehalten wer den mußten, bis sie gefüttert waren und sich zur Nachtruhe in den Schnee legten. Als sie endlich ihre Ratten bekommen hatten und
zur Ruhe gekommen waren, kam Karen zu ihm. Er war erstaunt, als er ihr Gesicht im hellen Schein sei ner Glühbirne sah. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie zuletzt so warm hatte lächeln sehen. Wie gut konnte die Neuigkeit sein, die sie für ihn hatte? Er verspürte ein vages Unbehagen. »Hallo«, sagte sie. »Hallo«, antwortete er automatisch. »Hast du ...?« Sie schnitt ihm mit einem langen, zärtlichen Kuß das Wort ab. »Wow!« »Mh-hm.« Erinnerungen wurden lebendig und durchfluteten ihn, Erinnerungen an jenes erste Mal, da sie sich ge liebt hatten, weil sie dankbar für alles gewesen war, was er getan hatte, weil er so nett zu ihr und so freundlich zu Danny gewesen war. Auch jetzt schien sie dankbar, aber wofür? Dann kehrten mit der Erinnerung alle Empfindun gen zurück, als er ihren Körper noch durch die dik ken, behindernden Pelze erbeben fühlte. Er bückte sich, faßte um ihre Beine und hob sie auf. Sie war leichter denn je, zerbrechlicher, verletzlicher. In seiner Verwunderung über den möglichen Grund dieser Zärtlichkeit wußte er, daß sie ihn liebte, ihm vertraute, sich ihm hingab, und daß sie trotz der zwi schen ihnen gewachsenen Entfremdung Liebende
waren. Ungeachtet der Kälte fieberten sie mit einer plötzlich so übermächtigen Erregung, daß er meinte, er müsse verrückt werden, wenn sie nicht in diesem Augenblick befriedigt würde. Als er sie zu ihrem Lager trug und unter die Pelze griff, fühlte er sie warm und in einem Verlangen zit tern, das dem seinen entsprach. Er mußte sich unbe holfen mit primitiven Knebeln und Schließen mühen und befürchtete einen Augenblick, die Erregung könne sich verflüchtigen. Doch dann war er zwischen ihren Beinen und drang behutsam in sie ein. Selbst in der Kälte war er in Schweiß gebadet, und die Sonne brannte heißer und immer heißer. Es war Mittsommer, und er stand auf dem Dach der natur wissenschaftlichen Fakultät und baute seine Antenne auf. Aufs neue erlebte er jeden Schritt, beobachtete ihn genau, weil er wußte, daß er die Prozedur würde umkehren müssen, wenn der Gletscher käme. Der schwarze Teerbelag brannte durch seine Schuhsohlen, und als er die Füße heben wollte, konn te er es nicht. Er blickte hinab und sah sie im schmel zenden Teer stecken. Er blickte zur Sonne auf, und sie hing riesig und weiß im Himmel. Heiß und immer heißer wurde sie, schien der Erde entgegenzustürzen und größer zu werden, bis sie den Himmel füllte. Er wollte laufen, aber seine Füße staken im Teer
fest. Ängstlich blickte er auf, um den Zusammenprall der Sonne mit der Erde zu sehen, die alles zerstören de Explosion. Er schrie – oder war es ihr Schrei? Er fühlte sich absterben, entleert, ausgelaugt, das Licht verblaßte, kühlte allmählich ab und sank durch alle Kältegrade zum absoluten Nullpunkt, zum abso luten Tod. Die Planeten waren abgestorben, vereiste Schalen. Die Weiße strahlte nicht länger Hitze aus, sondern verzehrte sie, entzog sie dem Universum. Sie war der große Gletscher, der die Stadt zermalmte, alle Zivili sation unter einem sich vorwärtsschiebenden Berg pulverisierte, schrecklich, großartig und unerbittlich. Um ihn her stürzten Gebäude in sich zusammen, bloße Zahnstochermodelle, die achtlos beiseite ge schoben wurden. Er blickte zum Angesicht des Gletschers auf und sah die schimmernden Spalten, die blendenden Spie gelungen, die sinnverwirrenden Farben, das Antlitz seines Todes. Wieder wollte er davonlaufen, doch seine Füße staken noch immer fest. Er strengte sich an, aber sein Körper war schwach. Er fühlte sich wie ein alter Mann, ein Hundertjähriger. Seine Knochen waren spröde, die Augen trüb, die Zähne faulig, und hätte er die Kraft gehabt, eine Hand zum Gesicht zu erhe ben, so hätte sie gefühlt, daß es so zerfurcht und faltig
war wie das Gesicht der alten Eskimofrau, die er in jenem Dorf gesehen hatte. Er rief, rief Karen, rief die eine Frau, die er liebte. Aber er bekam keine Antwort. Er rief abermals, und wieder, aber da war nur das Rauschen, die atmosphärischen Störungen eines toten Planeten. Sie war nicht mehr an seiner Seite und würde es nie mehr sein. Er sollte ihre Berührung nicht mehr spüren, ihren weichen, süßen Körper, ihre einfache Gegenwart sollten ihn nicht mehr erfreuen. An ihrer Statt erwartete ihn nur die obszöne To desumarmung des Eises. Er war so alt, so sehr alt. Das Leben war nur tiefer Schmerz, und vielleicht konnte er den Tod nun will kommen heißen. Vielleicht konnte er sich freudig sei nem Schicksal ausliefern, dem Eis als seiner letzten Geliebten. Dann wurde ihm klar, daß er selbst diese Eskimofrau war, die den Tod erwartete, und daß er sich glücklich schätzen sollte, weil er bald von diesem Schmerz erlöst sein würde. Er war allein, weil sie barmherzig gewesen waren. Sie hatten ihn zurückgelassen, um ihn zu Tode zu bringen und sich selbst zu retten. Das Eis umgab ihn, und als er das Gesicht zu ihm emporwandte, wußte er. In diesem Augenblick, ehe es sein Leben und seinen Geist auslöschte, wußte er.
Plötzlich war er wach. Er lag unter einem Eisbärenfell in einem Lagerschuppen am gefrorenen Fluß, und draußen brach ein kalter grauer Tag an. Das Licht drang trübe in den Schuppen. Aber er konnte Karen neben sich sehen. Er war beruhigt. Es war nur ein Traum gewesen, und sie liebte ihn. Dann sah er die Tränen noch auf ihrem Gesicht. Sie war weinend eingeschlafen. Sie liebte ihn wirklich, und sie hatte geweint, weil sie wußte, daß sie nie wieder beisammenliegen würden. Von draußen drangen Geräusche herein. Die Hun de wurden unruhig, und Menschen gingen hin und her. Er richtete sich auf und schaute durch eine Bret territze hinaus. Er sah die anderen gefrorenes Fleisch, Pelze und Waffen auf den Schlitten laden. Er schüttelte sie wach. »Karen!« »Mm-hm?« Sie war noch immer unter dem Zauber ihrer gemeinsamen Nacht und streckte verschlafen und liebevoll den Arm nach ihm aus. »Ihr laßt mich zurück!« Sie antwortete nicht, aber er konnte die Verände rung in ihren Gesichtszügen sehen, und Übelkeit zer riß ihm die Eingeweide, bis er den Mund öffnen und mehrere hastige Atemzüge tun mußte, um nicht zu würgen. »Es gab keine andere Wahl«, sagte sie endlich.
»Was soll das heißen, keine andere Wahl? Es gibt keine andere Wahl, als genauso weiter zu machen, wie wir es bisher getan haben.« »Das können wir nicht, Mark. Wir sind jetzt No maden. Wir müssen den Wanderzügen der Tiere fol gen, und wie die Verhältnisse sind, wird uns schon das nur mit knapper Not gelingen. Wenn wir dich mitnehmen wollten, müßten wir alle sterben.« »... Oh, mein Gott ...«, stöhnte er. »Also gut, ich werde jagen. Ich werde mich der Gruppe anschließen. Ich werde töten, ich werde schlachten ...« Sie schüttelte den Kopf. »Du könntest es nie schaf fen, du hast es selbst gesagt. Du bist zu ... zivilisiert.« »Ach, Herr im Himmel ...!« »Mark, du verkörperst das Beste von dem, was wir waren, was wir vielleicht wieder werden, aber ge genwärtig bist du eine Last, die uns alle hinabziehen würde.« »Ich könnte euch zwingen.« Seine Stimme war hart. »Du hast mich zur Anführerin gemacht, Mark.« »Zum Teufel, ich hatte nicht mit so was gerechnet.« »Niemand hatte damit gerechnet. Mark, hilf mir, die Anführerin zu sein.« »Bist du verrückt? Du verlangst von mir, daß ich Selbstmord begehe.« »Warum hast du dich hinter dem Radio verschanzt
und Danny an dich gekettet? Du wußtest, daß wir kaum genug Nahrung für uns alle herbeischaffen konnten.« »Dannys wegen! Das ist es ja, worum es bei alle dem geht! Danny.« »Du weißt, daß das nicht wahr ist.« »Ich weiß nichts dergleichen.« Er schrie: »Danny!« Er bekam keine Antwort. Er fuhr in seine Kleidung, zog die Parka über, und als er zum Ausgang lief, stolperte er. »Das Hygrometer ... Ohne seine Wetter station würde er nicht fortgehen.« Er blickte hinaus zum Schlitten. Danny half beim Aufladen der Jagdwaffen. »Mein Gott!« Mark machte kehrt und durchwühlte seinen Vorrat von elektronischen Bauteilen und Werkzeugen, bis er die darunter begrabene Pistole fand. »Mark!« In fliegender Hast zog sie sich an und folgte ihm ins Freie. »Schluß jetzt«, sagte er zu der Gruppe. »Alles wird wieder abgeladen!« »Es tut mir leid, Mark, das können wir nicht ma chen«, erwiderte Fink. Er richtete die Waffe auf Fink und sah, wie die an deren ihn umringten. »Im Magazin sind noch sechs oder sieben Kugeln. Ich könnte euch alle schnell genug erledigen.«
»Und was dann?« sagte Karen. »Auf dich selbst ge stellt, könntest du nicht überleben.« »Ich bin so oder so ein toter Mann. Willst du mir einreden, es gäbe einen Unterschied?« »Du weißt, daß es einen gibt.« »Nicht für mich. Wenn ich tot bin, was macht es aus?« »Du redest jetzt wie einer, den wir alle gut ken nen.« »Wie wer?« Dann fiel es ihm ein. »Guzman.« »Du weißt, es zählt allein das, was wir hinterlas sen.« Eine lange Pause folgte. Schließlich nickte er. »Was wir hinterlassen.« Er nickte zu Danny. »Ihr wart im Begriff, ihn zu zerstö ren, aber bei mir wird er gut aufgehoben sein.« »Nein.« »Ihr würdet ihn zum Primitiven machen, sein Wis sen auslöschen, aber bei mir wird ihm nichts fehlen.« Er streckte die freie Hand nach dem Jungen aus. Danny wich zurück. »Nein. Bitte, ich will nicht sterben, Mark.« »Danny, wie kannst du das sagen? Ich habe dich gern!« »Du wirst sterben, Mark. Bitte laß mich gehen, ich will nicht sterben!« Mark wandte sich benommen zu den anderen.
»Das habt ihr getan!« Er hielt sie mit der Pistole in Schach, griff mit der anderen Hand nach Danny und zog ihn vom Schlitten. »Er ist mein Kind, Mark!« »Nicht mehr.« Danny weinte und schrie jetzt, zappelte in Marks festem Griff. »Es tut mir leid, Danny. Jetzt gefällt es dir nicht, aber das wird anders. Es wird dir wieder Spaß ma chen, wenn sie fort sind.« Er machte eine auffordern de Handbewegung mit der Waffe. »Nun geht!« Karen schüttelte den Kopf. »Nicht ohne Danny.« »Tut mir leid. Dann müßt ihr eben bleiben.« »Mark, wenn du nicht überleben kannst, wie soll er?« Sie standen alle unbeweglich, wie angewurzelt, und dann hörten sie es aus der Ferne, das dumpfe Bersten und den nachhallenden Donner aus dem Norden. »Mein Gott ...« Er ließ Danny frei. Der Junge stand wie gelähmt von Schrecken und Verwirrung. »Geh zu deiner Mutter, Danny!« Der Junge rannte zurück und warf sich weinend in Karens Arme. Sie blickte zu Mark auf, und dann, ehe die Tränen kommen konnten, wandte sie sich zu den Hunden um, stieß einen animalischen Schrei aus und knallte mit der langen Peitsche, so gut sie es konnte.
Der Schlitten ruckte an und glitt davon. Die ande ren folgten ihrer Spur, als sie die Schneeböschung auf den gefrorenen Hudson hinunterfuhr. Sie blickte zurück. Mark stand auf dem Kai und sah ihnen nach. Ein Bild einsamen Trotzes: mit einem Sender, dem Windrad und der einzigen Glühbirne vor der gewaltigen Ausdehnung der halbbegrabenen Stadt. Die Hunde gerieten wieder aus dem Tritt, schnapp ten einander nach den Fersen, rannten seitwärts aus ihren Positionen und brachten die Zugleinen durch einander. Karen versuchte die Unruhestifter mit der Peitsche zu treffen, aber die Peitschenschnur verfehlte ihr Ziel, und schließlich mußte sie ein Seil unter die Kufen werfen und den Schlitten abbremsen, dann hinuntersteigen und zu den Hunden laufen, um sie mit Schlägen gefügig zu machen und die Leinen zu entwirren, ständig bedroht von unversehens zu schnappenden Fangen. Endlich war die Ordnung wiederhergestellt, und sie konnten weiterfahren. Mark sah sie flußaufwärts außer Sicht kommen, drei kleine Boote auf regellosem Kurs. Sie hatten genug Fleisch für einige Tage zurückge lassen. Was danach werden sollte, stand in den Ster nen. Er würde schon etwas auf die Beine bringen.
Aber das Wichtigste zuerst. »WB2QXR hier spricht W2QRV. Washington Zwei Quebec Roma Valencia, bitte kommen.« Er versuchte es wieder, dann ging er die ganze Reihe seiner Freunde und Korrespondenten durch, rief alle Mitglieder des Kommunikationsnetzes, die Leute, mit denen gemeinsam er die Zivilisation retten würde. »CQ, CQ, CQ«, sagte er zuletzt. »Hier ist W2QRV, schalte auf Empfang. In Bereitschaft für einen Ruf. Beantworte jeden Ruf auf dieser Frequenz. CQ, CQ, CQ ...« Er arbeitete sich durch jedes Band, jeden mög lichen Kanal. Der Wind blies kälter, und er fühlte den Frost durch die undichten Nähte der Parka dringen. Er zog zerbrochene Bretter und Latten aus dem Brennholz vorrat und legte sie in die Glut. Das Donnergrollen näherte sich. Bisher war Langsamkeit eine Sache von Trödlern, Bummlern und Faulenzern. Man brachte sie mit Zö gern, Schwäche, Erschöpfung und Dummheit in Ver bindung. In der Natur war Geschwindigkeit etwas für das Pferd, den Tiger, den Taifun. Langsamkeit war etwas für die Schnecke, die Schildkröte, den Wurm. Die langsam vorrückende Armee ist unfähig ge
führt, signalisiert ihre Unsicherheit, gibt dem Gegner Zeit zur Umgruppierung, zum Neuaufbau von Wi derstandslinien und zu Gegenangriffen. Aber gegen den Gletscher gab es keine mögliche Verteidigung, geschweige denn die Chance eines Ge genangriffs, nicht mit der vereinten Macht aller Waf fen und Armeen der Geschichte. Seine furchtbare Langsamkeit war sein größter Schrecken. Sein krie chendes Vorrücken war absolut voraussagbar und absolut unerbittlich. Die Eisströme des arktischen Schilds hatten bereits die Mittelgebirge im Norden überrollt, das Urgestein zu neuen Formen geschliffen, Täler und Flußbetten ausgehöhlt und andere mit ihren Schuttmassen ange füllt. Nun kamen sie zu einer Stadt. Mit dem Zuschütten der nördlich verlaufenden Wasserarme und Bodensenken hatte die Gletscher front ihre aufgeschobenen Schuttmoränen größten teils abgelagert und überfahren. So drang sie anfangs wie eine riesenhafte Amöbe in die Stadt ein, immer auf der Suche nach dem Weg des geringsten Wider stands. Aber der Druck nahm zu, die vorgeschickten Zun gen verdickten sich und schwollen an, der Druck auf die Gebäude wuchs von Kilogramm pro Quadratzen timeter zu Tonnen, die hypothetische unwiderstehli che Kraft gewann furchterregende Realität.
Verschiedene Materialien reagierten unterschied lich. Ziegelmauern hielten stand und wurden dann plötzlich auseinandergesprengt. Stahlträger bogen sich langsam, gaben anmutig nach, aber schließlich wurden auch sie zerschrotet und zerrieben. Glas zer sprang gleichzeitig entlang der gesamten Oberfläche, und seine Scherben wurden wieder zu Sand gemah len. Teile von höheren Gebäuden wurden unterwan dert, emporgehoben und fielen auf den vorrückenden Gletscher. Dieser glitt leicht auf dem bequemen Schneeuntergrund, dessen Flocken zu neuem Glet schereis zusammengepreßt wurden. Als er sich südwärts vorschob, verloren die Stadt teile nacheinander ihre Identitäten: Inwood, Fort George, Washington, Heights, Harlem – sie alle wur den zerkleinert, zerrieben, dem Erdboden gleichge macht. Endlich erreichte das Eis die Universität. Das Bibliotheksgebäude mit einem Bestand von mehr als einer Million Bänden lag am Nordende des Campus. Zahlreiche Bücher waren bereits vom Schnee ruiniert, der das Dach durchbrochen hatte. Der Gletscher stieß die Wand ein, überschüttete die Regale mit dem Mauerschutt und dann kam das Eis selbst über sie und verwandelte Papier zu Brei. Es schob sich weiter zu den übrigen Gebäuden, zur Verwaltung mit ihrem Computer, zu den Naturwis
senschaften, zu Musik, Kunst und Jura. Disziplinen, Fakultäten und Fachbereiche, die bis dahin sorgsam auf Eigenständigkeit bedacht gewesen waren, wur den schließlich alle fusioniert. Im Konferenzsaal gab es ein langes Wandgemälde, das die Entwicklungsgeschichte des Lebens auf der Erde porträtierte. Auf einer Seite waren die Dinosau rier zu sehen, steif aufgerichtet in feierlicher Prozes sion. Tatsächlich hatte ihre Herrschaft viel länger ge dauert als jede menschliche Dynastie, einige sechzig Millionen Jahre lang, doch nun zermalmte das Eis sie ein zweites Mal. Und weiter rückte es vor, Stunde um Stunde, ein unermüdlicher, alles verschlingender Moloch, der Sehenswürdigkeiten und Unbekanntes in gleicher Weise auslöschte, alte und moderne Gebäude, große Kunst und Schund, alles mit der gleichen Ignoranz. Es war wie anhaltender Donner, wie das dumpfe Brüllen stürmischer Brandung, gehört in einer Fels höhle der Steilküste, und Mark mußte seine Kopfhö rer fest andrücken, um die Radiosignale zu hören. Nur gab es nichts mehr zu hören. Er veränderte seinen Ruf zu Mayday, schilderte die Notsituation und bat um Antwort, aber von einem Ende des Spektrums zum anderen, auf allen Fre quenzen des Radiobands, des Amateurbands, des Funksprechverkehrs, auf allen Frequenzen von Poli
zei, Militär, Küstenwache und Raumfahrtbehörde war nur leeres Rauschen zu vernehmen. Sollte schließlich alles umsonst gewesen sein? Soll te er wenigstens jetzt alles aufgeben und versuchen, sich selbst zu retten? Wochen waren vergangen, seit Karen und die ande ren ihn verlassen hatten. Die Sonne wärmte nicht mehr, wenn sie einmal aus dem verhangenen Himmel brach, und die Nächte waren lang. Obwohl er oft gedacht hat te, er müsse, allein in der froststarren, abgestorbenen Stadt, bedroht von den näherrückenden polternden Kanonaden des Gletschers, den Verstand verlieren, hatten der Gedanke an seine Aufgabe und die Hoff nung auf Antwort aus dem Äther ihn immer wieder aufgerichtet. Als der magere Vorrat aufgebraucht war, den sie ihm dagelassen hatten, hatte er in den Häusern der Umgebung Jagd auf Ratten gemacht. Auf diesen Streifzügen in die Tiefen der eingeschneiten Häuser war er im Erdgeschoß hinter einem verwüsteten Laden auf einen unversehrten kleinen Lagerraum gestoßen. Neben Waschmitteln, Haushaltsartikeln und Droge riewaren, mit denen er nichts anfangen konnte, hatte er eine Menge Gläser und Dosen mit Fertignahrung für Säuglinge, Katzen und Hunde gefunden. Er hatte ei nen großen Plastiksack damit gefüllt, seine Beute zum Kaischuppen geschleift und seither davon gelebt. Nicht schlecht gelebt, wie er sich zu versichern pflegte.
Und dann hörte er es, undeutlich zuerst, aber rasch stärker werdend, bis es das statische Zischen und Rauschen völlig verdrängte: es war das Signal des Wettersatelliten, kräftig und klar wie immer, ein Komplex von Pfeif- und Zirptönen, wie elektronische Musik. Nach drei Minuten wurde es allmählich schwächer, und zuletzt blieb nur das Rauschen. Aber es war dagewesen, und Mark wußte, daß es wieder kommen würde, immer wieder, Tag für Tag, Tausende von Jahren hindurch, solange der Satellit in der Umlaufbahn blieb. Etwas vom Menschen war geblieben. Und wenn er, Mark, überlebt hatte, warum dann nicht auch andere? Sie konnten ihre Sender zur Zeit nicht betreiben, aber eines Tages würde es ihnen wieder möglich sein. Dann würden sie dieses Signal hören, und selbst wenn sie seinen Zweck vergessen hätten, würde das Rätsel sie beschäftigen, und unausweichlich würden sie auf die Signale anderer Sender stoßen. Faden um Faden würde das Kommunikationsnetz wieder er richtet werden, von einem isolierten Lager zum an dern, bis Gelehrsamkeit und Zivilisation wieder Ein zug hielten. Davon konnte er nicht fortlaufen. Er mußte den Sender mitnehmen, wie beschwerlich es ihm auch werden mochte. Er baute das Windrad samt Gestänge, Überset
zung, Regulator und Generator ab. Er holte die An tennendrähte ein und rollte sie sorgfältig zusammen, jeden mit seiner bestimmten Länge und seinem Zu behör für ein bestimmtes Band mit Isolatoren, Zulei tungsdrähten, Steckern, Erdungen. Dann den Sender und Empfänger, das Mikrophon, die Kopfhörer, die Morsetaste, das Logbuch und das Verzeichnis der Amateurfunker. Er schleppte einen Armvoll mehrere hundert Meter weit, dann kehrte er zurück, um die nächste Ladung zu holen, und so fort. Anschließend machte er sich an die nächste Etappe, wieder einen halben Kilometer weiter, kehrte zurück und holte in mehreren Gängen den Rest nach. Er wünschte sich einen Motorschlitten, einen Hundeschlitten, und wäre sogar mit irgendei nem flachbodigen Transportmittel, das er selbst zie hen könnte, zufrieden gewesen, aber der Plastiksack war in der Kälte steif und brüchig geworden, und so hatte er weniger als die Primitiven. Der Gletscher war langsam, aber er war langsamer. So weit das Auge reichte, brachen Gebäude auf breiter Front unter dem Eisdruck in sich zusammen und begruben die schneegefüllten Straßen unter prasselndem Trümmerregen. Dennoch konnte er ent kommen, wenn er alles fallen ließe und davonliefe, selbst wenn er ginge. Der Gletscher rückte nicht in gerader Linie vor. Auf
der Höhe der Eighth Avenue war er weiter vorge drungen als in der Ninth, wo Mark beinahe von ei nem einstürzenden Gebäude erfaßt und begraben worden wäre. Einige Augenblicke stand er gelähmt und starrte in Furcht und Schrecken, als der vielstök kige Koloß in einer Flutwelle von Stahl und Stein auf die umliegenden Straßen niederging. Er wich zurück, wankte keuchend und hustend durch die dichte Wol ke aus Schnee und Staub und setzte das Radio nieder, um zu verschnaufen. Er blickte zurück. Noch einen Armvoll. Er mußte alles beisammen haben. Jedes dieser Bestandteile war ohne die anderen wertlos. Er überlegte, schätzte die Entfernung. Es war zu schaffen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Er rannte los, erreichte die Stelle, wo er die Sachen deponiert hatte, hob sie auf und wandte sich um. Das Eis hatte ihn überlistet. Der Schutt eingeebne ter Häuserzeilen wälzte sich gleich einem riesigen kalten Lavastrom weiter voraus über die Straße, drang in die Seitenstraßen ein und sperrte ihm den Weg. Er war gefangen. Vor ihm die unerbittlich vor angeschobene Schuttmoräne, hinter ihm das Eis. Das Poltern und Bersten, das Prasseln und Knirschen vermischten sich zu einem ungeheuren Getöse. Er wandte sich dem Eis zu und sah einen Berg in Bewegung, gefurcht und zerklüftet wie das Gesicht
eines unglaublich alten Eskimos. Die rückwärtsge neigte Eisfront überragte alle acht- bis zehnstöckigen Gebäude der Gegend. Mark konnte den oberen Rand nicht ausmachen. Mit der Vorwärtsbewegung veränderte sich das Eis, ein Merkmal löste sich in ein anderes auf. Man che Teile waren mit aufgenommenem Schutt bedeckt, aber anderswo hatte es sich mit durch Reibung ge schmolzenen Wassern reingewaschen. An diesen Stellen verbreitete es einen verblüffenden Glanz, der alle Farben des Spektrums einschloß und einen Blick in endlose, gewundene Höhlen aus funkelndem Kri stall zu öffnen schien. Der Anblick bannte ihn an die Stelle, wo er stand. Er blickte in die Unendlichkeit, in Verflochtenheiten, die größer waren als jedes Wettersystem, in Mysteri en, die tiefer waren als jene seines eigenen Lebens und Todes. Er wußte, daß er, wenn er in diese Höhlen einginge, die Antworten erhalten würde. Dann wür de er den Kreislauf aller Existenz vollenden, Teil der Natur sein, eins mit dem Beginn und dem Ende des Lebens. Die Farben kreisten irisierend vor ihm, luden ihn ein, sich zu unterwerfen. Dann faßte er sich. Er hatte die Natur übertroffen und würde es wieder tun. Er würde kämpfen, bis zum letzten Augenblick. Aber womit?
Er hatte die Pistole. Er zog sie und verschoß die letzten Kugeln. Das Krachen der Schüsse ging im brüllenden Getöse unter, und das Eis schien die Ku geln spurlos zu verschlucken. Und dann hatte er nichts als sich selbst und seine Stimme, die bis zum letzten Augenblick den Trotz hi nausschrie. Der Gletscher drang weiter vor, legte die dichtge drängten Türme des Bankenviertels nieder und brei tete sich über die Battery aus, um schließlich auf die gefrorene Bucht überzugreifen. Zuletzt, wie ein Pendel am äußersten Punkt seines Ausschlags, begannen Gegenkräfte wirksam zu wer den. Die Höhenströmung, die sich von ihrer norma len Bahn verlagert hatte, erreichte die Grenze ihrer Abweichung. In dem Maße, wie mehr Wasser in Eisdecken ge bunden und dem Kreislauf entzogen wurde, blieb weniger für neue Schneestürme übrig. Die von Indu strie, Verkehr und Haushalten abgegebenen Gase und Verunreinigungen waren endlich aus der Atmo sphäre gewaschen. Die Schneefälle wurden spärli cher, und das immense Gewicht der akkumulierten Eismassen im arktischen Zentralbereich nahm nicht weiter zu. Die Prozesse, welche die Eiszeit eingeleitet hatten,
kamen allmählich zur Ruhe, die Vergletscherung zum Stillstand. Irgendwann würde das Pendel zurückzuschwin gen beginnen, und die Prozesse würden eine Umkeh rung erfahren. Das Eis würde sich langsam zurück ziehen und einen langen und massigen Moränenwall aus Schutt hinterlassen, der fortan die Linie seines weitesten Vordringens markieren würde. Neben weiter zurückliegenden Moränenwällen späterer Rückzugsetappen, glattgeschliffenem Fels untergrund, Seen und gewaltigen, vom Schmelzwas ser gespeisten Stromsystemen, würde das Eis weithin verstreute mächtige Felsblöcke zurücklassen, die man in einem früheren Zeitalter einmal ›HeuschoberBlöcke‹ genannt hatte und die damals von einem Farmer aus Ohio, der sich gefragt, wie sie dahin ge kommen sein mochten, wo sie waren, und sie mit Ehrfurcht betrachtet hatte. Vielleicht würde es in der fernen Zukunft andere geben, die diese Frage von neuem stellten. Vielleicht nicht. Einstweilen war nur eine große Stille. »Zuerst wird die Sonne das Eis an der Oberfläche zu Wasser schmelzen, und das Wasser wird sich seinen Weg in die Tiefe fressen, bis ins Herz des Gletschers. Dort wird es zusammenströmen und einen unterirdi schen Fluß bilden, der sich weiter frißt und wühlt, bis
er ein verzweigtes System von Gängen und Höhlen geschaffen haben wird. Der gewaltige Gletscher wird eines Tages nachgeben und einbrechen, das Wasser wird neue Höhlen auswaschen und in Sturzbächen hervorbrechen, die mit dem Schmelzen des Eises grö ßer und mächtiger werden. Das Wasser wird Felsen und Geröll rundschleifen und zerkleinern, und lange Zeit wird nichts geschehen. Aber dann, wenn du meinst, nichts werde jemals geschehen, und es werde niemals etwas anderes als Wasser, Geröll und Sand geben, dann wird plötzlich etwas Neues da sein.« »Ooh! Was?« »Eine kleine Blume, die Gletscher-Hahnenfuß ge nannt wird und zwischen den Steinen gedeihen kann. Und dann wird das Gras wachsen und Bäume und Büsche. Bald darauf werden alle die Tiere zurückkeh ren, die fortgegangen waren, und schließlich auch die Menschen.« »Andere Menschen? Gibt es andere Menschen?« Hideo zögerte und blickte hinüber zu Karen. »Möchtest du diese Frage beantworten?« Karen holte Luft. »Irgendwo auf der anderen Seite des Eises gibt es andere Menschen, die genau wie wir sind und sich durchschlagen, so gut sie können. Und einige von ihnen sind Jungen und Mädchen wie ihr.« »Warum gehen wir sie nicht besuchen?« fragte Danny.
»Wir wissen nicht, wo sie sind, und wir können nicht allzu weit reisen, nicht mit den Hunden, die dauernd in Streit geraten.« »Dann warten wir eben, bis das Eis schmilzt.« »Das wird lang dauern«, sagte Hideo. »Viele, viele Jahre.« »Wie viele?« »Ich fürchte, ihr werdet es nicht erleben.« »Ach.« Sie waren sichtlich enttäuscht. Endlich sagte eine von den Zwillingen: »Laßt uns hinausgehen und spielen.« Ihre Schwester nickte, und die beiden kro chen durch den kleinen Tunnel hinaus. Danny schaute ihnen einen Augenblick lang nach, dann wandte er sich um und sagte mit leuchtenden Augen, befeuert von seiner plötzlichen Eingebung: »Wir werden hingehen. Ich werde die Hunde den ganzen Weg treiben, und ich werde die Zwillinge mitnehmen, und meinen kleinen Bruder, wenn er ge boren ist. Wir werden hingehen und die anderen Menschen treffen. Dann werden sie uns ihre Ge schichten erzählen, und wir ihnen die unsrige.« »Ja«, sagte Karen. »So wirst du es machen.« Er lächelte. »Ich gehe spielen«, sagte er und kroch den anderen nach. Die Zurückbleibenden blieben eine Weile still. Sie bemerkten, daß es im Raum dunkler geworden war.
Die sinkende Sonne warf rötliche Glut durch die über einen Rahmen aus Knochen gespannte Membrane aus Karibublase, die als Fenster diente. Karen zünde te die Öllampe an. Sie flackerte und rauchte ein we nig, und der Rauch stieg auf und entwich durch das kleine Abzugsloch im Kuppeldach des Iglus. Bald kam die Flamme zur Ruhe, und ihr klarer heller Lichtschein füllte den Raum. Dann sagte Fink: »Warum hast du ihm nicht die Wahrheit gesagt?« »Nun, was ist Wahrheit? Die beste Wahrheit ist das, was er hören möchte, was ihn glücklich macht.« »Ist das wieder so ein Stück Eskimo-Philosophie?« »Es deckt sich sogar mit Marks Philosophie. Wenn wir am Leben sind, dann muß es irgendwo andere geben, die am Leben sind.« »Gut, und nun die Philosophie nach Fink: Wir sind tot, und darum sind auch alle anderen tot.« »Wieso sind wir tot?« »Mathematik, die höchste Wahrheit. Du magst dei ne Eskimos kennen, aber ich kenne meine Rechnung. Oder sagen wir, ich pflegte sie zu kennen.« Er blickte mit einem abwesenden Blick auf. »In letzter Zeit habe ich das Gefühl, als rosteten Teile meines Gehirns mehr und mehr ein ...« Er machte eine abwinkende Handbewegung. »Aber mit dem Dividieren und Mul tiplizieren klappt es vorläufig noch.«
»Na und?« »Was nach deinen Begriffen eine Eskimo-Einheit ist, Vater, Mutter, Kinder, Schlittenhunde – benötigt durchschnittlich zweihundert Karibus im Jahr. Auf uns umgerechnet müßten es ungefähr doppelt so vie le sein, genauer gesagt, ein Karibu am Tag, jeden Tag im Jahr, und dazu dreimal monatlich ein zusätzliches Tier. Das müßte für den Rest unseres Lebens so blei ben, es sei denn, wir kämen in Rückstand. Dann müß ten wir am nächsten Tag zwei erlegen.« »Im Durchschnitt haben wir es geschafft. Es war oft schwierig, aber es ist uns immer gelungen.« »Du mußt dich der mathematischen Logik stellen, Karen. Ich habe genau Buch geführt, seit wir unter wegs sind. Im Durchschnitt haben wir nicht ganz ein Karibu pro Tag gehabt, von den zusätzlichen nicht zu reden. Schon dieses Ergebnis nimmt alle unsere Energien in Anspruch; für mehr reicht unsere Kraft nicht. So sammeln wir einen Passivsaldo an, der all mählich wächst, und mit der Zeit wird uns diese Fehlmenge zugrunderichten.« »Du kannst nicht rechnen, daß wir zwei vollstän dige Einheiten sind, Lew. Wir haben nur drei Kinder zu ernähren. Und du und Helen zum Beispiel ...« »Ja, aber wer weiß? Eines Tages könnte es passie ren, daß wir uns die Hand geben, und sie könnte da von schwanger werden. Womit wir bei dir angelangt
wären. Du bist im siebten Monat. Wie lange kannst du noch auf die Jagd gehen?« »Ich werde nach der Geburt bald wieder auf den Beinen sein, das waren die Eskimofrauen immer.« »Ja, gut, nur wirst du all diese verlorenen Tage nachholen müssen, woran gar nicht zu denken sein wird, da wird es schon jetzt nicht schaffen. Hinzu kommt, daß du einen Mund mehr wirst füttern müs sen.« »Der eines Tages auch ein Jäger sein wird.« »Richtig, wenn wir es bis dahin schaffen. Aber es kommt noch ein Faktor in die Gleichung: in dem Ma ße, wie wir schwächer werden, wird die Jagd schwie riger, also werden wir weiter und weiter zurückfal len, bis wir nicht mehr können und verhungern.« Sie schwiegen. Karen befühlte ihren Bauch durch den Pelz. Seit den ersten Regungen des Ungeborenen war ihr, als lebe Mark in ihr weiter, und sie fühlte sich durch das Bewußtsein der Kontinuität des Le bens getröstet. Wendy musterte sie. »Als ich die Zwillinge bekam, bezahlte die Kasse alles, Krankenhaus, Ärzte, Schwe stern, Anästhesie ...« »Die Eskimos sind ohne alles das ausgekommen.« »Wie haben sie es nur gemacht?« »Ganz einfach. Die Frau geht allein in ihr Iglu. Niemand ist da, der ihr bei der Geburt hilft. Sie steht,
hält sich an etwas fest, und läßt den Säugling einfach in den Schnee fallen.« Wendy verzog das Gesicht. »Und das willst du tun? Ganz allein?« »Es bleibt mir kaum etwas anderes übrig, nicht? Sei unbesorgt, Wendy, das Verfahren ist erprobt.« Wendy lachte, dann schauderte sie. »Ich könnte es nicht tun.« »Doch, du kannst, und du wirst.« Wendy sah Karen an, zweifelnd zuerst, dann mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen, einem neuen Vertrauen in die Zukunft. »Ich kann es nicht glauben«, sagte Fink. »Zwei Di nosaurier, die sich über Dr. Spocks Säuglingspflege unterhalten.« Hideo war die ganze Zeit hindurch schweigsam geblieben, hatte mit geschlossenen Augen dabeige sessen, als sei er eingenickt. Die anderen fuhren er schrocken zusammen, als er sich unerwartet in das Gespräch einschaltete. »Wer wird deiner Meinung nach unseren Platz einnehmen, Fink?« »Was?« »Wer wird uns ablösen, wie wir die Dinosaurier einst ablösten?« »Das ist eine ziemlich grausige Vorstellung, nicht?« »Nicht mehr. Ich habe mich damit abgefunden,
und heute gefällt es mir sogar, Spekulationen anzu stellen. Alle die Rätsel unseres Lebens, und nun kommen wir zum letzten. Wer hätte in einem ande ren Zeitalter gedacht, daß von allen mächtigen und schönen Geschöpfen, die den Planeten bewohnten, ausgerechnet ein kaum eineinhalb Meter großer lau siger Steppenaffe dem Tyrannosaurus rex auf den Thron folgen würde? Wer ist der nächste Zwerg, der sich jetzt für die neue Runde aufwärmt?« »Nun, ich wärme mich jedenfalls nicht auf«, sagte Fink. »Wenn du mich fragst, hat der Eisbär den Vor teil. Er ist der König der Eiswelt.« »Aber nicht, wenn sie schmilzt, Lew, dann wird er wieder auf dem Rückweg zum Pol sein.« »Na gut, dann einer der Affen. Sie stehen dem Menschen am nächsten, wenn es ihnen nichts aus macht, das zuzugeben.« »Gut, vorausgesetzt, es sind welche übrig. Aber ich fürchte, der Mensch hat die Chancen für die ganze Affenfamilie verdorben. Wenn sie seine Vorzüge tei len, dann werden sie auch seine Belastungen teilen und darum ausscheiden.« »Zählen auch Meerestiere?« fragte Wendy. »Der Gedanke war mir noch nicht gekommen, aber das Spiel ist für alle offen, und wahrscheinlich gibt es da unten Leben. An wen denkst du?« »An die Delphine. Sie sollen sehr intelligent sein.«
»Richtig. Aber wo sind die Delphinbücher, die Del phinstädte, oder auch nur einfache Delphinwerkzeu ge? Du brauchst einen gegengestellten Daumen, um eine Keule zu halten, oder zu schreiben, oder irgend etwas zu bewerkstelligen, worauf sich eine Kultur auf bauen läßt. Sobald du den hast, wächst das Gehirn von allein, um den Anforderungen gerecht zu werden.« Fink nickte. »Also, der Delphin wird es nicht sein. Wer ist dein Kandidat, Karen?« Sie schwieg eine Weile. »Entschuldige, Lew, ich möchte das Spiel lieber nicht mitspielen.« »Komm schon, sei keine Spielverderberin!« »Ich mag einfach nicht darüber nachdenken.« Sie blickte auf ihren Bauch und sagte nichts mehr. Nach einer Weile nahm Hideo den Faden wieder auf. »Nun, ich hatte einen Vorsprung. Ich fand mich schon frühzeitig mit den Dingen ab.« Sie warteten auf ihn. »Ich glaube, es wird ein Tier sein, das unterirdische Baue bewohnt.« »Warum?« »Ein solcher Höhlenbewohner ist gegen die Ein wirkungen der Elemente geschützt. Unter dem Schnee ist es wärmer, unter der Wüste kühler, also kann er überleben. Später gräbt er dann tiefer hinun ter und was findet er? Die Kongreßbibliothek, das Smithsonian-Institut, das Nationalarchiv.«
»Und wozu soll ihm das nützen? Du fragst ihn nach Shakespeare und er wird sagen: ›Ach ja, Hamlet, schmeckte nicht übel.‹« »Mit der Zeit wird er lernen, was für einen Reim er sich darauf machen muß. Sein Gehirn wird sich unter dem Streß entwickeln, und er wird lernen, daß Shakespeare nicht nur anders schmeckt als Einstein, sondern auch anders aussieht. Später wird er beide entziffern, und dann wird sich der ganze Rest von selbst ergeben.« »Also hast du einen bestimmten Kandidaten im Sinn?« Hideo nickte. »Wir brauchen einen Tusch«, sagte Fink. »Würden Sie mir bitte den Umschlag geben? ... Und der glück liche Gewinner ist ...« Hideo machte eine Kunstpause und sagte dann: »Der behaartnasige Wombat.« Fink starrte ihn an. »Das hast du erfunden.« »Nein, habe ich nicht. Es ist ein Beutel-Murmeltier, trägt also seine Jungen in einem Beutel und ...« »Der behaartnasige Wombat?« »Ja. Ich sage dir, das ist kein Witz. Er hat ein Fell, aber nicht zu dicht, so daß er sich verschiedenen Kli mazonen anpassen kann. Seine Nahrungsansprüche sind gering, er nimmt mit den verschiedensten Pflan zen vorlieb, hat eine schützende Fettschicht, von der
er notfalls im Winter zehren kann, und außerdem hat er den Ansatz zu einem gegengestellten Daumen, der sich durchaus entwickeln ließe ...« »Der behaartnasige Wombat?« »Er ist nicht groß und nicht weiter imponierend, aber wer kann behaupten, daß unsere Australopithe cinen-Vorfahren es waren? Ich bin absolut überzeugt davon, daß diese Tiere unten in ihren Bauen überle ben und womöglich schon auf einige unserer verlas senen Häuser oder Werkzeuge oder was immer ge stoßen sind und darüber ins Grübeln geraten. Im Laufe der Zeit, ganz allmählich ...« »Großer Gott, Kashihara, das ist abscheulich!« Hideo blickte erstaunt und verletzt auf. »Nun, für dich vielleicht, aber für einen weiblichen Wombat ...« »Ist dir klar, was du getan hast, du perverser Sa dist? Die Pyramiden, die Sixtinische Kapelle, der Louvre, das Empire State Building, Beethoven, Rem brandt, Newton, die Gesetze der Thermodynamik, der Mensch auf dem Mond, zehntausend Jahre menschlicher Kultur ... und das alles übergibst du seelenruhig dem behaartnasigen Wombat!« »Hör zu, Lew, mir gefällt es so wenig wie dir, aber ich habe ...« Einen Augenblick sah es so aus, als wollte Fink sich auf Hideo stürzen, dann machte er ein Gesicht als sei er drauf und dran, in das längste, lauteste Gelächter
seines Lebens auszubrechen, aber erstaunlicherweise brach er weinend zusammen. »O Gott, o Gott, o Gott ...« Die anderen sahen in betretener Verlegenheit zu. Sie warteten auf einen Scherz, eine schlaue Redensart, ein Wortspiel, aber Lew Fink fuhr fort zu weinen. »O Gott«, schluchzte er, »o Gott ...« Endlich ließ es nach. Er beruhigte sich. Wendy brach das Schweigen. »Nein!« Sie wandten alle den Kopf, um sie anzusehen. Sie war immer so schüchtern und zurückhaltend gewesen, daß ihr energischer Ton die Gefährten überraschte. »Nein«, wiederholte sie sehr viel ruhiger, als verur sache ihr die plötzliche, ungeteilte Aufmerksamkeit Unbehagen. »Die Hunde werden es sein. Hört nur.« Durch die Schneewände drangen die unheilvollen Geräusche von mehr als dreißig Hunden: Knurren, Bellen, Jaulen und von Zeit zu Zeit ein Geheul wie von Wölfen. »Die wissen Bescheid. Sie wissen, daß wir schwä cher werden, und daß sie nur abzuwarten brauchen. Eines nicht zu fernen Tages werden wir sterben, und dann werden nur die Kinder übrig sein ... nur die Kinder, um den Hunden die Stirn zu bieten.« Ein langes, betäubtes Schweigen folgte ihren Wor ten.
Schließlich gab Fink sich einen Ruck, holte tief Atem und sagte: »Ich werde Helen vorschlagen, daß wir einen Wombat adoptieren. Vielleicht kann er uns im Alter unterstützen.« Er nickte und kroch über die Kälteschwelle in den Tunnel und hinaus ins Freie. Karen nahm das als ihr Signal zum Aufbruch, doch Wendy hielt sie zurück. »Entschuldige. Ich weiß nicht, warum ich das sagte.« »Es ist schon gut, Wendy. Du hast nur ausgespro chen, was wir alle dachten. Vielleicht könnte ich mich wie Hideo darein fügen ... aber du hast recht, es geht um die Kinder.« Wendy schluckte. »Was dein Baby betrifft ...« »Ich werde schon zurecht kommen.« Sie küßte Wendy auf die Wange, kroch hinaus und stand auf. Die Sonne berührte fast den vom Frosthauch dun stigen Horizont und übergoß den Schnee mit roten und goldenen Tönen. Jede Bodenwelle und Erhebung wurde von den überlangen Schatten scharf herausge arbeitet. Schon konnte sie den matten Schein der Öllampe in Finks Iglu sehen, und Schatten, die sich hin- und her bewegten. Sie sprachen mit erhobenen Stimmen, strit ten offenbar über dies oder das. Plötzlich brach eine Sektion des Iglus in einem Schauer von Schneebrok ken ein. Man vernahm laute Ausrufe, und Augen blicke später kamen die beiden zum Vorschein und
bemühten sich gemeinsam um die Wiederherstellung der Wand, ohne darum von ihrem Streit abzulassen. Karen schaute mit Gedanken der Sorge und des Mitgefühls hinüber, bis eine Unruhe unter den Hun den ihre Aufmerksamkeit ablenkte. Nur der Leit hund, der große grönländische Eskimohund, betrach tete sie ruhig, den Glanz der untergehenden Sonne in den Lichtern. Einen Augenblick schien es ihr, als sei ein Verstehen zwischen ihnen. Sie war wirklich dem Tode geweiht, und er brauchte nur abzuwarten. Das Ungeborene in ihr regte sich. Das Eskimos dachten überhaupt nicht an die Zu kunft, und vielleicht war das am besten. Was gesche hen wird, das wird geschehen. Die Kinder waren noch immer bei ihrem geräusch vollen Jagdspiel. Eine der Zwillinge versuchte Danny, der die Rolle des Schlittenhundes übernommen hatte, mit Peit schenknallen anzufeuern. »Los, vorwärts, Hund!« Die Peitschenschnur sauste in wilden Schlangenli nien hinaus und fiel schlaff in den Schnee. Karen war drauf und dran, sie zur Vorsicht zu er mahnen, besann sich aber eines anderen. Die Eskimos disziplinierten ihre Kinder nie, gaben ihnen nie ein hartes Wort und sagten ihnen nicht einmal, wann sie sich schlafen legen oder zum Essen kommen sollten.
Die Kinder bekamen viel Liebe und Zuneigung, aber im übrigen blieb es ihnen überlassen, sich zurechtzu finden. Bisher hatte die Gruppe überlebt, indem sie die Eskimo-Traditionen befolgt hatte, und nun mußte sie dabei bleiben, gleich wohin der Weg führte. Wenn sie überlebten, dann mußten auch andere überlebt haben, und irgendwann würden die Kinder wirklich auf die Reise gehen und diese anderen su chen. Wenn ... »Laß mich ...!« kreischte der andere Zwilling und griff nach der Peitsche. »Nein, ich will!« schrie Danny und versuchte die Peitsche an sich zu bringen. Karen sah, daß er endlich ein Kind geworden war, aber wozu? Ihr war zum Weinen zumute. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und kroch in ihr Iglu. »Ich, ich, ich!« schrie Danny und ergriff die Peit sche. »Nein.« »Du bist der Hund. Vorwärts, Hund!« Er hob die Peitsche, und sie schlängelte sich kraftlos durch den Schnee zu den Zwillingen hin. »Ha, ich habe es ja gesagt! Als Hund bist du bes ser.« »Nein, ich werde es noch mal versuchen.« »Dann los!«
Er ging ein paar Schritte zurück. »Aus dem Weg. Ich bin der große Jäger.« Wieder versuchte er. Die Peitschenschnur entrollte sich in der Luft, aber der Schwung reichte nicht aus, und sie fiel in den Schnee, wo sie eine Schlangenlinie zog. »Los, Danny, gib her!« Er wich weiter zurück und versuchte wieder. Diesmal machte die Peitschenschnur ein leichtes Ge räusch in der Luft, das sie zuvor nicht gemacht hatte. »Da, seht ihr? Es haut schon hin!« »Nichts haut hin; los jetzt, gib schon her.« »Bleibt, wo ihr seid, ich warne euch. Ich bin der große Jäger.« Und wieder holte er aus. Das Geräusch wurde lau ter, bis es ein scharfes, klares Knallen war. »He, das tut weh!« schrie eines der Mädchen. Immer wieder versuchte er es, und nun wichen die Mädchen ängstlich zurück. »Ich bin der Jäger!« schrie er. Die Peitschenschnur entrollte sich in der Luft und knallte wie ein Gewehr schuß. Begeistert rannte er zu den Hunden. »Danny, geh nicht hin! Sie werden dich zerreißen!« Die Hunde standen auf, als er näherkam, und ihr unheilvolles Knurren ging in heftiges Gebell über. Sie zogen an ihren Leinen, bleckten die Fänge. Danny zögerte, blieb stehen, als die alten Ängste von neuem über ihn kamen.
»Ich bin der Jäger!« sagte er laut, aber mit bebender Stimme. Er ließ die Peitsche über den Hunden knallen, wie der und immer wieder und mit jedem Schlag verbes serte sich seine Zielsicherheit. Nun richteten die Hunde ihre Wut auf die Peit schenschnur. Sie sprangen hoch und schnappten da nach, versuchten sie herunterzuholen. Aber bei jedem Schlag traf sie einen Hund und sprang wieder fort, schneller und geschickter als sie, mit scharfem und unfehlbarem Biß. Endlich hörten sie auf zu bellen. Sie winselten, setz ten sich auf die Keulen oder legten sich in stiller Un terwerfung nieder. Sie hatten ihren Meister gefunden. Der letzte der Wettersatelliten war der weitaus kom plizierteste – und erfolgreichste – einer Serie, die 1960 mit Tiros begann. Er umkreiste die Erde von Pol zu Pol im rechten Winkel zur Erdrotation, und seine Ge schwindigkeit war so bemessen, daß er täglich den ganzen, unter ihm vorbeiziehenden Planeten über wachte. Er registrierte die Luft- und Meeresströmungen und verfolgte ihre gewundenen Bahnen vom Äquator zu den Polregionen, aber er beobachtete mit Augen, die bei weitem schärfer, vielseitiger und subtiler auf
zeichneten, als menschliche Augen es vermocht hät ten. Bestimmte Sensoren waren auf unsichtbare Seg mente des Spektrums eingestellt, andere waren dem Weltraum zugekehrt und registrierten die Strahlun gen der Sonne und Sterne und des Weltraumes selbst. Alle bekannten Einflüsse auf Wettergeschehen und Klima wurden gemessen, aufgezeichnet und unver schlüsselt an Empfangsstationen überall auf der Erde gesendet. Da seine Sonnenbatterien unaufhörlich Energie lie ferten und seine Umlaufbahn vollkommen ausbalan ciert war, hatten die Techniker guten Grund, damit zu prahlen, daß er im schützenden Vakuum des Weltraumes Tausende von Jahren funktionieren würde, selbst wenn man ihn nicht mehr benötigte oder durch weiter vervollkommnete Typen ablöste, ein rastloser Roboter, der ununterbrochen seine Da tenvielfalt ausstrahlte, unbekümmert darum, ob er ein Publikum hatte oder nicht. Bei Nacht leuchtete er, von der Sonne angestrahlt, ein scheinbarer Stern, der sich jedoch durch seine Ge schwindigkeit und Bahn von den anderen unter schied. Irgendwann einmal mochte ein Angehöriger eines primitiven Stammes bei der Betrachtung des Nachthimmels von diesem seltsamen Licht Notiz nehmen und sich seine Gedanken darüber machen.