Jeff Long
Tödliches Eis
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Der Gipfel des Mount Everest: Der Traum aller Bergsteiger,...
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Jeff Long
Tödliches Eis
scanned by unknown corrected by ab
Der Gipfel des Mount Everest: Der Traum aller Bergsteiger, doch in eisigen Höhen ist der Grat zum Alptraum schmal. Zehn Männer und zwei Frauen wagen den Aufstieg über die legendäre, eisüberkrustete Nordroute im verbotenen Tibet. Jeder ist bedingungslos auf den anderen angewiesen, aber von Anfang an spaltet eine alte Feindschaft das Team. Als ein tibetischer Mönch bei ihnen vor den chinesischen Besatzern Zuflucht sucht, wird aus der persönlichen Herausforderung eine Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod. ISBN: 3-442-35151-0 Original: The Ascent Aus dem Amerikanischen von Frank Sahlberger Verlag: Wilhelm Goldmann Verlag, München Erscheinungsjahr: 1999 Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: Tom Canty
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Die Bezwingung des Mount Everest ist für alle Bergsteiger der größte Traum, dessen Erfüllung zum Alptraum werden kann. Der legendäre Aufstieg über die Kore Wall Route auf der Nordseite des Berges führt durch das rauhe, heimtückische Himalaja-Gebiet im verbotenen Tibet. Genau diese Route mit ihrer bizarren, eisüberkrusteten, schroffen Schönheit, geprägt von überwältigender Einsamkeit, wollen zehn Männer und zwei Frauen meistern. Abe Burns springt in letzter Minute als Ersatzmann für den verunglückten Arzt der Gruppe ein. Der Leiter der Expedition, der erfahrene Bergsteiger Daniel Corder, hat ihn – widerwillig – angefordert. Denn die beiden Männer verbindet ein lang zurückliegendes, dramatisches Ereignis: der Tod der jungen Diana. Damals war sie die Kletterpartnerin des noch unerfahrenen Daniel, der sie nach ihrem Sturz in eine Eisspalte im Stich gelassen hat. Nur Abe stand ihr in ihrem qualvollen Sterben hilflos bei. Doch nicht nur diese Belastung drückt auf die Stimmung der Gruppe. Sie werden aus nächster Nähe Zeugen der brutalen Auseinandersetzungen zwischen einheimischen Tibetern und ihrer chinesischen Besatzungsmacht. Dann taucht unvermittelt ein junger, grausam gefolterter tibetischer Mönch auf, der in ihrem Lager um Zuflucht bittet. Der Zufall will es, daß dieser tiefgläubige Mann den Schlüssel zu ihrem jeweiligen persönlichen Schicksal in Händen hält …
Autor Jeff Long ist selbst ein qualifizierter Bergsteiger. Der Geschichte liegen seine eigenen Erfahrungen im Himalaja zugrunde. Er lebt in Boulder, USA. Weitere Romane von Jeff Long sind bei Blanvalet in Vorbereitung.
Für Barbara
VORBEMERKUNG DES AUTORS Die Kore-Wand ist ein imaginäres Monster, das ich aus Teilen der Nord- und Südflanke des Makalu zusammengesetzt und auf die Nordflanke des Everest projiziert habe. Himalaya-Kenner werden auch die Manipulation bestimmter geographischer Eigenheiten bemerken. So habe ich zum Beispiel die zweite Zufahrtsstraße zum Rongbuk-Tal »unterschlagen«, den Shekar Dzong mit dem Kloster Rongbuk verwoben und den Changri La etwa dreißig Kilometer nach Osten verlegt. Ich hoffe, daß diese Abwandlungen den realistischen Eindruck nicht zerstören. Im Gegensatz zur Handlung des Romans ist die Tragödie des tibetischen Volkes nicht fiktiv. Die illegale Besetzung Tibets durch China stellt eines der großen Verbrechen gegen die Menschenrechte in diesem Jahrhundert dar. Nachdem die Volksrepublik China bereits ein Sechstel der tibetischen Bevölkerung ausgerottet hat, plündert und zerstört sie weiterhin systematisch die Kultur, die Religion und den Lebensraum der Tibeter. Das einstige Shangri La, so unvollkommen es auch war, ist heute ein Friedhof und ein Straflager, von chinesischen Truppen bewacht und mit 7,5 Millionen chinesischen Siedlern bevölkert. Vor hundert Jahren wurden die amerikanischen Ureinwohner im Wilden Westen mit ähnlicher Brutalität unterworfen, ebenfalls begründet mit angeblicher rassischer Unterlegenheit. Allerdings gab es vor hundert Jahren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte noch nicht. Vielleicht wird Tibet im 21. Jahrhundert seine Souveränität endlich zurückerlangen.
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PROLOG
1974 Von Norden her wehte ein leichter Wind, und die Bäume knarzten leise. Die Männer von der Bergrettung warteten zwischen den Kiefern im eisig-weißen Scheinwerferlicht ihrer Autos; der viele Kaffee hatte sie nervös und fahrig gemacht. Abe hatte noch nie so gefroren. Er versuchte, sich aufzuwärmen, indem er an das mitternächtliche Frühstück in einer Raststätte dachte – an den künstlichen Ahornsirup, den Speck, die Witze der Männer über eine Kellnerin mit gelben Zähnen –, doch dann wurde der Wind stärker. Sie waren die ganze Nacht gefahren und nun in dieser Sackgasse angekommen, mitten in Wyoming. Irgendwann gegen ein Uhr war Jimi Hendrix im Radio von Honkytonk-Musik abgelöst worden, und kurz vor vier hatten sich die Cowboyballaden im dunklen Rauschen des Gebirges aufgelöst. Im Morgengrauen hatten sie das Ende der Straße erreicht, der Wald hatte sie verschluckt. Jetzt waren sie hier und jagten ein Phantom. Falls die Toten oder Verwundeten – die Vermißten – tatsächlich existierten, gab es zumindest keinen Hinweis auf sie, kein Auto und mit Sicherheit keine Spuren, nicht bei dieser frischen Schneedecke. Nicht einer der Männer war wirklich groß oder kräftig. Und doch wirkten sie – zumindest in Abes Augen – wie unrasierte Riesen, die in dicken Stiefeln durch den Schnee stapften und beim Atmen weißen Frost aus der Nase 8
schnaubten. Er hatte Angst vor ihnen, doch das lag hauptsächlich daran, daß es ihm mit fast achtzehn Jahren endlich gelungen war, Angst vor sich selbst zu haben. Seit er denken konnte, hatte Abe Bergsteiger werden wollen. Das Problem war, daß er nicht aus dem Bergland kam. Er war ein Kind der Ölfelder von Ost-Texas, ein Student im ersten Semester, der bisher nur in der Phantasie geklettert war, angeregt durch Abenteuerbücher und Magazine. Weißes Pulver wurde von den Ästen abgeschüttelt und rieselte durch die Luft. Der Schnee wehte Abe ins Gesicht und fiel dann zu Boden. Er stand inmitten einer Handvoll Männer und blickte in den Wald: ein wachsamer Junge mit langem, schmalem Gesicht, einer Goldrandbrille und eckigem Haarschnitt. Er trug saubere, schneeweiße Winter-Tarnkleidung, die er nach hastiger Überlegung gestern im Army-Shop von Boulder gekauft hatte. Die anderen Männer hatten richtige Bergkleidung an, hauptsächlich Wolle mit Daunen, schmutzig und zerschlissen vom häufigen Tragen. Abe wußte genau, daß sie mit ihren Witzen über ihn noch nicht fertig waren. Es war schwer zu sagen, was ihn mehr verletzte: die Tatsache, daß sie mit ihrem Spott recht hatten, oder der Spott selbst. Er nahm ihnen die Witze nicht übel. Er sah lächerlich aus. Er gehörte nicht hierher, soviel war sicher. Doch andererseits waren sie eigentlich alle Außenseiter. Vor einer Stunde war die strahlende, aber kalte Wintersonne aufgegangen. Und so ließen sie die Motoren laufen und die Scheinwerfer brennen und taten so, als würden ihnen die künstlichen Lichtstrahlen Helligkeit und Wärme spenden. In gewisser Weise machten sie sich alle etwas vor. Schließlich hatte ihr langes Warten ein Ende. »Sie haben ihn«, rief eine Stimme unter ihnen, und sie drängelten sich alle um das Kurzwellenfunkgerät. Ein Pilot der 9
Forstbehörde meldete sich. Er hatte seit dem Morgengrauen die Gipfel abgesucht und soeben eins der Unfallopfer gesichtet, wie er nun verkündete. Der Leiter der Rettungsmannschaft ergriff das Wort, ein schroffer, akribisch arbeitender Mann mit schmutzigem Schnurrbart und einem weißen Helm mit der Aufschrift ROCKY MOUNTAIN RESCUE. »Frag ihn, ob er das andere Opfer irgendwo sieht«, wies er den Funker an. »Sag ihm, es müssen zwei sein. Hier klettert niemand allein. Nicht in dieser einsamen Gegend. Nicht im Winter.« Doch der Rettungsleiter konnte nur mutmaßen. Sie hatten keine genauen Angaben. Keine Namen, keine Ortsangaben, keine Vermißtenanzeigen. Nur den Anruf eines betrunkenen Wilderers, der einen Bergsteigerunfall auf einem Berg in Wyoming gemeldet hatte. Der Pilot antwortete aus großer Entfernung. Er verneinte. Das Wetter hatte sich verschlechtert, und er konnte nicht mehr oben bleiben. Es gab nur das eine Opfer. Er hatte alles abgesucht. Er gab seine ungefähre Position an, damit sie sich auf der Karte orientieren konnten. »Frag ihn, wie’s dem Mann geht«, sagte der Rettungsleiter. »Oh, der ist da unten«, antwortete die leiser werdende Stimme. »Er ist schon noch am Leben. Zappelt auf dem Gletscher herum.« »Verdammt«, bellte der Rettungsleiter. »Hängt der Mann an einem Abhang? Läuft er herum? Ist er schwer verletzt? Wie ist sein Zustand?« »Das werdet ihr schon sehen«, sagte der Pilot. »In meinem ganzen Leben habe ich …« Der Empfang brach zusammen. 10
»Wiederholen, over!« Die Stimme kam wieder, dünn und leise, »… wie ein angeschossener Engel«, hörten sie. Das war alles – gerade genug, um die Stirn zu runzeln und sich achselzuckend abzuwenden. »Zum Teufel«, sagte jemand. »Tja, wer’s auch ist, wir müssen ihn jetzt retten«, sagte der Leiter, und sie gingen los, um ihre Ausrüstung zu holen. Unter all den vielen Gerätschaften, die sie von den Lastwagen und Jeeps abluden, befand sich kein einziger Gegenstand, von dem Abe wußte, wie man ihn benutzte oder auch nur richtig anfaßte. Abe dachte noch einmal über seine Dummheit nach. Er war kein Retter, sondern eine Belastung, und er hätte jetzt Farbe bekennen müssen. Doch er brachte es nicht fertig, seinen Schwindel zuzugeben. Er hatte sich als Freiwilliger gemeldet und darauf spekuliert, daß das Rettungsteam ihn nach und nach anlernen würde. Er hatte Angst gehabt, daß sie ihn für zu jung halten würden oder daß seine sauber geschnittenen Fingernägel und sein Akzent ihn als Flachländer verraten könnten, und so hatte er schüchtern das Büro der Bergrettung betreten, die Hände in den Hosentaschen. Auf die Frage, ob er Erfahrung habe, hatte er mit Ja geantwortet und darauf geachtet, nicht »Ja, Sir« zu sagen. Er hatte die Namen einiger Berge in Patagonien genannt, die ihm unbekannt genug erschienen. Nur zwei Tage später – gestern nachmittag – hatten sie ihn angerufen, weil sie dringend jemanden brauchten, der mit anpackte. Und nun konnte er niemandem sagen, daß dies der erste Schnee war, den er je gesehen, und der kälteste Tag, den er je erlebt hatte. Dies war sein erster Berg. 11
Sie brachen auf, gingen durch den Wald und nahmen eine Abkürzung über einen zugefrorenen Fluß. Unter der dicken Eisdecke tobte das Wasser. Abe hörte, wie es unter dem Eis rauschte. Er spürte die Bewegung durch seine Stiefel hindurch. Hier und da war das Eis durch die Kälte zerborsten, und die Wunden schillerten türkis und grün. Bald war Weihnachten, deshalb waren sie unterbesetzt, so daß jeder zu schwer beladen war. Einige trugen Hundert-Meter-Seilrollen und Bremsplatten, andere schleppten die Medikamente, die Schienen für Knochenbrüche und die einzige, kostbare Trage des Teams, ein primitives Ding aus verschweißten Flugzeugrohren und Drahtgeflecht. Abe orientierte sich an den anderen Männern – daran, wie sie atmeten, wie sie einen Fuß vor den anderen setzten, wie sie sich gegen die Rucksackriemen lehnten, wie sie sich ganz einfach auf den Beinen hielten. Mit jedem Schritt wurde er an seine Selbstüberschätzung erinnert, denn er hatte seinen Rucksack selbst gepackt, hastig und ohne Anweisung, und jetzt stach ihn etwas in die Nieren, und die Beutel mit Kochsalzlösung brachten ihn ständig aus dem Gleichgewicht. Jeder Schritt strafte ihn. Er gehörte hier nicht her. Er gehörte einfach nicht hierher. Gegen Mittag erstarb die Sonne am schwarzgrauen Himmel. Kurz darauf erreichten sie die Baumgrenze, doch dunkle Sturmwolken im Norden und Westen versperrten ihnen den freien Blick auf die kupferfarbenen Berge. Selbst Abe wußte, daß der heraufziehende Sturm vernichtend sein würde; die sagenhafte Art von Sturm, die weidende Rinder zu Eis gefriert und ganze Wälder dem Erdboden gleichmacht, indem sie Bäume explodieren läßt. Die Gruppe von Männern ging nach Norden und überquerte ein großes Plateau, von dem der Schnee 12
weggeweht war. Der schneidende Wind griff sie mit einer Heftigkeit an, die Abe beinahe persönlich nahm. Innerhalb weniger Minuten zerkratzte ihm der rasend schnell umherwirbelnde Sand die Brille. Nur die schwere Last auf seinem Rücken verhinderte, daß der Wind ihn den Berghang hinunterblies. In der Mitte des Plateaus scheuchten sie ein Rudel abgemagerter Rehe auf, das zwischen den Steinen graste. »Die dürften gar nicht hier sein«, bemerkte einer der Männer. »Eigenartig.« Die Rehe liefen mit dem Wind davon. Der kalte Tag zog sich dahin. Die Luft wurde dünner, und die Männer hörten auf zu sprechen. Sie krümmten sich unter dem düsteren Himmel zusammen wie Waisenkinder. Der Wind heulte zwischen den Felsen; ein unheimliches Geräusch. Wie sich herausstellte, war niemand aus dem Team bisher in dieser Gegend gewesen. Aus finanziellen Gründen lag Wyoming weit außerhalb ihres üblichen Einsatzgebiets. Abe war insgeheim dankbar, daß die Gruppe hier so fremd war, wie er sich fühlte. Als der Rettungsleiter die topographische Landkarte entfaltete, um deren Linien mit dem geologischen Chaos um sie herum zu vergleichen, riß der Wind die Karte erst auseinander und wehte ihm dann die beiden Hälften aus den Händen. Daraufhin rückte die Gruppe enger zusammen. Die Berge zeichneten sich vor dem häßlichen Himmel schärfer ab. Das Team näherte sich den Koordinaten, die der Pilot durchgegeben hatte, und erreichte einen natürlichen Pfad, der plötzlich in einem versteckten Kessel aus höheren Gipfeln endete. Trotz des giftigen Lichtes bot sich den Männern ein atemberaubender Anblick. Für Abe sah es aus wie ein riesiger Granitkelch mit Verzierungen aus Schnee und Eis. An den Seiten führten Gletscher hinauf zu 13
gewaltigen, steinernen Türmen und umgaben die Gipfel. Man hörte das ehrfurchtsvolle Gemurmel der Männer, und Abe dachte, so mußte es wohl sein, wenn man ein unbekanntes Land entdeckte. Und dann sahen sie den Bergsteiger. »Er lebt«, sagte jemand, der mit einem Feldstecher in die Ferne sah. »Da ist ein Überlebender.« Abe konnte nicht erkennen, worüber sie sprachen, bis jemand ihm eine Kamera mit Teleobjektiv gab und ihm die Richtung zeigte. Etwa achthundert Meter entfernt und dreihundert Meter höher kniete ein einzelner Mann auf dem Gletscher und bemerkte nicht, daß die Rettungsmannschaft gekommen war. Er trug keine Kopfbedeckung; der Wind zerzauste ihm das schwarze Haar. Er reckte einen Arm in den Sturm empor, und Abe sah ihn lautlos schreien. »Der arme Kerl«, sagte der Mann mit dem Feldstecher zur ganzen Gruppe, »er spricht mit dem Berg.« »Ach was.« »Ich schwör’s. Sieh doch selbst.« Abe atmete aus und hielt das Teleobjektiv ruhig. Der Berg ließ die kleine Person winzig erscheinen, und Abe versuchte, nicht zu zwinkern – aus Angst, er könnte die einsame Gestalt in dieser weiten, fremdartigen Landschaft aus den Augen verlieren. Der Bergsteiger wiederholte seine Bewegung: hoch ausgestreckter Arm, die Hand geöffnet. Abe wurde bewußt, daß er hier Verzweiflung oder Resignation sah, vielleicht sogar schieren Wahnsinn. Nach einer Minute beugte sich der Bergsteiger herunter, und Abe sah, daß er vor einem Loch kniete. Es war ein dunkler Kreis im Schnee, und der Bergsteiger sprach in 14
das Loch hinein, als würde er seine Geheimnisse einem offenen Grab anvertrauen. »Er betet«, murmelte Abe, allerdings so leise, daß niemand es hören konnte. Doch Abe wußte instinktiv: Dies war die Bedeutung dessen, was er sah. Abe war erschüttert und gab die Kamera mit Teleobjektiv schnell ihrem Besitzer zurück. »Also, wenn er noch ’nen Kumpel hat – ich seh ihn jedenfalls nicht«, verkündete der Mann mit dem Feldstecher. »Aber einer ist besser als keiner, Leute. Los, holen wir ihn, bevor das Unwetter uns erwischt.« Sie beeilten sich. Nach einem zwanzigminütigen anstrengenden Marsch über loses Geröll erreichten sie den Fuß des Gletschers. Abe stellte sich auf das Eis und spürte durch die Sohlen seiner Stiefel hindurch das Alter des Gletschers. Er hatte noch nie zuvor einen Gletscher gesehen, doch er wußte aus seiner Lektüre, daß dieses Gebilde aus Schnee und Eis seit der letzten Eiszeit hier im Schatten gelegen hatte. Die Retter nahmen die großen Seilrollen, setzten ihre zerkratzten, rot-weißen Helme auf und schnallten ihre blanken Steigeisen fest. Abe beobachtete sie verstohlen. Zwischen den Windstößen hörten sie ein entferntes Heulen. Es klang nicht nach einem Menschen, aber auch nicht nach einem Tier. Wie ein angeschossener Engel, erinnerte sich Abe. Mit einem Verlangen, das ihn selbst erschreckte, wollte Abe zum Ort des Geschehens. Es stand fest, daß ihn nichts von dem verunglückten Bergsteiger fernhalten würde. Etwas Tiefgründiges würde sie dort oben erwarten. Das merkte er daran, wie ernst und ängstlich diese hartgesottenen Männer jetzt geworden waren. Was es auch 15
war, Abe wollte es in reiner Form sehen, und nicht, wenn sie es eingepackt und auf einer Trage heruntergebracht hatten. Dies war ein altes, ein einfaches Verlangen. Abe wollte seine Unschuld verlieren. Sie gingen los und stiegen den Gletscher hinauf, drei Mann an einem Seil, und sie waren auf der Hut vor Gletscherspalten. Abe wurde sich der neuen Erfahrung bewußt. Sie überquerten einen sechzig Zentimeter breiten Riß, der von links nach rechts über den Gletscher verlief. Als Abe einen großen Schritt über die Gletscherspalte machte, holte er tief Luft und versuchte, den altertümlichen Atem des Bergs zu schmecken. Einer der Retter deutete auf Rutschspuren, die von oben kamen. Sie erinnerten Abe an die Blutspur eines Tieres. »Da ist er abgestürzt«, sagte der Mann. »Wie hat er das bloß überlebt?« Abe starrte die emporragenden, vereisten Felsen an, doch sie waren ihm fremd. Als er hier unten in diesem Kessel stand, wurde ihm klar, daß ein Aufstieg weniger die Flucht vor dem Abgrund war, sondern vielmehr die Erschaffung eines solchen. Er blickte in die Höhe. Ein Gürtel aus überhängendem Schnee umgab den oberen Rand, bald würde eine Lawine herabstürzen. Dieser Gedanke ließ seine Schritte schneller werden. Als sie sich dem Bergsteiger näherten, hörte Abe deutlicher, wie dieser laut mit sich selbst sprach und brüllte. Als sie noch näher kamen, hörte er sie und drehte sich mit seinem struppigen Kopf zu ihnen um. Abe war überrascht. Der Bergsteiger war ein Junge, nicht älter als er selbst. Doch selbst aus zwanzig Metern Entfernung schienen die Augen des jungen Bergsteigers zu hell zu sein, von seiner Kleidung waren nur Fetzen übrig, und wie er in 16
diesem unheimlich-grauen Licht so dakniete, dachte Abe, sah er eher aus wie der Lazarus in der zerlesenen Lederbibel seiner Großmutter, nicht wie ein einfacher Teenager in der Wildnis. Die Retter, die durch den seltsamen Anblick eingeschüchtert waren, verlangsamten ihre Schritte. Seine Jacke war weg, sein Pullover halb ausgezogen. Abe sah jetzt, daß der Junge die Kleidung selbst abgelegt hatte. Er hatte damit begonnen, sich vor der Wildnis zu entblößen. »Du bist gerettet«, sagte jemand zu ihm. Doch im Blick des Kletterers lag kein Zutrauen, keine Dankbarkeit und erst recht keine Erleichterung. Er sprach kein Wort. Abe sah, daß sein weißes T-Shirt mit Blut durchtränkt war und daß seine linke Schulter durch eine Verrenkung hervortrat. Mit der linken Hand umklammerte er einen kleinen Eispickel, der mit dem Blut auf dem silberfarbenen Stahl aussah wie eine mittelalterliche Waffe. Die Retter bildeten einen großen Kreis um den jungen Bergsteiger, als hätten sie ein gefährliches Tier gestellt. Seine schwarzen Haare waren durch den Schnee naß und strähnig, und er hatte die Augen eines Wolfs: blau und furchtsam. Und er hatte geweint. »Hey, du.« Eine kalte Stimme. »Wir haben dich jetzt.« »Willst du nicht den Eispickel weglegen?« fragte ein anderer Retter. Er sprach zu laut, und Abe fiel auf, daß sie vor dem Jungen Angst hatten. Der Bergsteiger sah durch sie hindurch, und Abe kam sich vor wie ein Geist. Der Junge legte seinen Eispickel nicht weg. Der Griff lag lose in seiner Hand; ein Riemen war ums Handgelenk geschnallt. Abe vermutete, daß der Eispickel für die lange, klaffende Wunde am anderen Arm verantwortlich war. 17
Während der Bergsteiger – inzwischen stumm und scheinbar auch taub – in der Mitte kniete, sprachen sie über ihn, diagnostizierten seine Verletzungen und versuchten zu verstehen, was ihn so leblos und bedrohlich machte. Doch in Abes Augen diagnostizierten sie nur ihre eigene Angst. »Was meinst du?« fragte einer der Retter einen anderen. »Unterkühlung?« »Vielleicht eine Gehirnerschütterung. Wahrscheinlich. Ich sehe keinen Helm.« »Wie auch immer, der ist ziemlich hinüber.« »Wir müssen seinen Kameraden finden«, fuhr der Rettungsleiter fort. »Wo ist dein Kamerad, Junge?« Als er keine Antwort bekam, drehte er sich um. »Joe«, sagte er, »schnapp dir ’n paar Männer und such die Gegend ab. Irgendwo muß ’ne Leiche sein. Vielleicht ist sie weiter oben an ’nem Felsen hängengeblieben, oder was weiß ich.« Der Angesprochene tippte drei Männern an den Helm, und sie gingen los. Die beiden Männer neben Abe fuhren mit ihrer Beurteilung fort. »Erfrierungen sehe ich keine. Aber eine Stichwunde am linken Oberschenkel. Und sieh dir die Handfläche an. Aufgerissen bis auf die Knochen.« Schließlich bemerkten sie das Seil, das an seinem Klettergurt befestigt war. Es war ein schönes, blaues Seil mit roten Kontrastfäden, und es führte direkt in das Loch. Abe sah die blaßroten Blutspuren im Schnee und erkannte, daß der Bergsteiger sich die Hand aufgerissen hatte, als er an dem Seil gezogen hatte. »Jetzt nehmen wir das mal da raus, mein Junge«, sagte ein Mann mit buschigen Koteletten. Er rückte näher und 18
griff vorsichtig nach dem blauen Seil. Der Junge schrie auf und schwang in hohem Bogen seinen Eispickel. Es fehlten nur wenige Zentimeter, und er hätte den Retter aufgespießt. Und dann hörten sie eine Stimme. Sie rief von weit her, wie im Traum. Sie hätte aus einem anderen Tal kommen können, oder von einem Berggipfel. Oder aus der Tiefe einer Gletscherspalte. »Daniel?« sagte sie. »O mein Gott«, flüsterte einer der Retter. Der Rettungsleiter pfiff laut und schrill, und weiter oben blieben Joe und die anderen stehen. »Hierher«, rief der Leiter. »Wir haben den anderen gefunden.« »Daniel?« fragte jemand. »Ist das dein Name? Daniel?« Der Junge sah sie mit einem Ausdruck des Entsetzens an. »Daniel«, drängte ihn der Retter. »Ist das da unten dein Kumpel?« Daniel kniff die Augen zu und legte den Kopf in den Nacken. Seine Lippen gaben die Zähne frei, und er öffnete den Mund. Was dann kam, war ein furchtbarer, markerschütternder Schrei wie aus einem Alptraum. Dann zuckte sein Brustkorb unter heiserem Schluchzen. Beim Anblick dieses Schmerzes riß Abe den Mund auf. Während der Kletterer weinte, stürzten sich zwei Retter von hinten auf ihn und nahmen ihm den Eispickel weg. Sie gingen vorsichtig mit ihm um, doch er war stark. Sie stießen gegen seine verrenkte Schulter, und er schrie. »Daniel«, rief die leise Stimme von unten aus der Gletscherspalte. Diesmal hörten sie die Stimme deutlicher, und sie zerriß Abe beinahe das Herz. Einer der Retter flüsterte: »Nein.« 19
Davon abgesehen herrschte eine Minute lang Stille. Selbst der trauernde Bergsteiger schwieg. »Ist alles in Ordnung?« fragte die Stimme. Die Person dort unten war eine Frau. »Was, zum Teufel …?« sagte jemand. Ihr Mitleid ließ nach. Abe sah, daß sie schroffer wurden. Sie waren fassungslos. Ihre Sanftheit war verschwunden. »Du hast ein Mädchen hier raufgebracht?« Der Bergsteiger wandte sein Gesicht von ihnen ab und starrte mit leerem Blick auf das Loch im Schnee. »Also gut, Jungs.« Der Rettungsleiter rüttelte sie schließlich auf. »Der Sturm wartet nicht auf uns. Gehen wir an die Arbeit.« Den Jungen zu entwaffnen war eine Sache, doch ihn von seinem blauen Seil zu trennen, das war eine ganz andere – das merkten sie bald. Er wollte diese Verbindung mit der Stimme von unten nicht aufgeben. Er hielt das Seil mit jener Hand fest, die weniger verletzt war: die mit der aufgerissenen Handfläche. Doch als die Retter das Seil an einer Eisschraube befestigt und den blauen Knoten durchgeschlagen hatten, gab Daniel auf, und seine Gedanken schienen abzuschweifen. Er kniete da, regungslos, als wären seine Beine an den Berg gefesselt. In gewisser Weise war es auch so. Das erkannten die Retter, als sie Daniel anhoben, ihn flach in den Schnee legten und mit den Händen seinen Körper abtasteten. Beide Knie waren zertrümmert, beide Oberschenkel gebrochen. Daniel war das anscheinend egal. Innerlich schien er schon tot zu sein. Abe stand abseits, als das Team einen Wettlauf gegen den Sturm begann. Dort, wo sie den Jungen hingelegt hatten, waren zwei Männer damit beschäftigt, die beiden 20
Hälften der Trage zusammenzusetzen, und einige bereiteten die Seile für den Transport vor. Zwei weitere Männer knieten bei Daniel, stützten seine Beine mit Schienen aus dem Vietnam-Krieg und fixierten seinen Arm auf der Brust. Sie waren nicht gerade grob, aber sanft gingen sie auch nicht mit ihm um. Sie versuchten nicht, die Schulter einzurenken, sondern spritzten ihm nur eine Dosis Morphium. Abe war erschüttert über das gräßliche Schauspiel, über das Blut und die zersplitterten Knochen und die dunklen Wolken und die Stimme aus der Tiefe. Mehrere Männer machten sich an dem blauen Seil zu schaffen. »Wir sind die Rettungsmannschaft, Miss«, rief einer in die Gletscherspalte hinab. Falls sie etwas antwortete, so war es nicht zu hören, nicht bei dem stärker werdenden Wind, dem hektischen Stimmengewirr und dem Geklapper der Ausrüstung. Ein Mann zog mehrere Meter des blauen Seils aus dem Loch, bis es straff gespannt war. Sie zerrten versuchsweise daran herum. »Wahrscheinlich ist sie in zwanzig, fünfundzwanzig Metern Tiefe«, vermutete der Mann mit dem blauen Seil in der Hand. »Verdammt, holt sie da raus«, rief der Rettungsleiter ihnen zu. »Und beeilt euch.« Abe kam ihnen zu Hilfe. Als er sich bückte, um das blaue Seil in die Hand zu nehmen, sah er, daß es mit dem beschmiert war, was einmal Daniels Fleisch und Blut gewesen war. In den nächsten fünf Minuten zerrten und zogen er und die anderen Männer an dem Seil, doch es saß fest. »Bewegt sich was, Miss?« rief der Mann mit den Koteletten in die Gletscherspalte hinein. Abe legte sich mit dem Gesicht direkt über das Loch. Ein bis zwei Meter 21
unter der Oberfläche schimmerte das Eis dunkelgrün. Darunter wurde es schwarz, und Abe wandte schnell den Blick ab, als wäre die Dunkelheit unanständig. »Nichts«, sagte die leise Stimme aus der Tiefe. Abe war überrascht, wie deutlich er die Stimme jetzt hörte, als er mit dem Kopf genau über ihr war. Sie glitt die gläsernen Wände hinauf, klar und ohne Echo, als Kontrapunkt zu dem heraufziehenden Sturm. Sie zogen wieder, und diesmal dachte Abe, das Seil würde sich bewegen, doch das lag nur an der natürlichen Dehnbarkeit. »Und jetzt?« rief der Koteletten-Mann. »Nein«, sagte die Stimme. Sie versuchten es wieder, dieses Mal mit einem komplizierten Seilwinden-Mechanismus und speziellem Gerät. Als das nichts nützte, probierten sie es mit einer anderen Konfiguration und zogen erneut. Wieder funktionierte es nicht. Die Frau war eingeklemmt. »Wie sieht’s aus, Ted?« fragte der Koteletten-Mann einen kleineren Kollegen. »Ich versuch’s«, antwortete Ted. Während ein dritter Mann den Schnee entfernte, der das Loch umgab, zog Ted seine Jacke, seinen Pullover und seine Hemden aus. Er band sich ein weiteres Seil um die Hüften und ließ sich in die Gletscherspalte abseilen. Doch so dünn er sich auch machte, der Spalt war einfach zu eng. Er gelangte nur anderthalb Meter in die Dunkelheit und ließ sich schließlich herausziehen. Er schüttelte den Kopf und zog sich wieder an. »Was, zum Teufel, hat der sich dabei gedacht?« fragte der Koteletten-Mann und blickte wütend zu Daniel hinüber. »So was kommt dabei raus.« »Er hätte es besser wissen müssen«, stimmte ihm 22
jemand zu. »Möchte wissen, wie alt sie war.« Er redete in der Vergangenheitsform. Abe warf ihm einen Blick zu, doch er ging bereits weg, und der Koteletten-Mann und die anderen folgten ihm. Abe lief ihnen wortlos nach, bis er merkte, daß sie den Versuch tatsächlich abbrechen wollten. Er blieb stehen. »Soll ich’s weiter versuchen?« fragte er. Die Männer gingen weiter. »Sie steckt fest«, erklärte einer. »Ich kann ja graben«, bot Abe hoffnungsvoll an. Niemand machte sich die Mühe, ihm zu antworten. Abe bemerkte, wie nutzlos er für die anderen war – ein Analphabet in der Welt der Gletscher, der Bergstürme und des grünen Eises. Selbst ihre Sprache – Ausdrücke wie Bremsplatten, Karabiner und Frontzacken – machte ihn zum Außenseiter. Er fühlte sich dumm und verletzlich, und er machte sich daran, alle möglichen Ausrüstungsgegenstände einzusammeln. »He, du«, hörte Abe. Der Teamleiter hatte ihn abseits der anderen entdeckt. »Komm mal her.« Abe ging zu ihm. Der Leiter gab ihm einen kleinen Notizblock und einen Bleistift. »Geh zu der Gletscherspalte und sprich mit dem Mädchen. Frag sie nach ihrem Namen, ihrem Heimatort, nach einer Telefonnummer, du weißt schon, nach den nächsten Angehörigen. Mach ihr keine Angst. Muntere sie auf, bis wir ’ne Lösung gefunden haben. Kriegst du das hin?« Abe nickte. Er ging zu dem schwarzen Loch und kniete sich dort hin, wo noch die Abdrücke von Daniels Knien zu sehen waren. Er spähte in die Dunkelheit, leckte sich die Lippen und wurde plötzlich schüchtern. 23
Er konnte die Frau nicht sehen, die unter der Oberfläche eingeklemmt war, und sie konnte ihn nicht sehen. Ihnen blieben nur Worte, und Abe fragte sich, ob Worte ausreichen würden. Er fühlte sich wie ein Kind, das mit einer Blinden sprach. Doch bevor er etwas sagen konnte, sagte die Frau etwas zu ihm. »Hey«, rief die Stimme aus der Dunkelheit. »Sind schon alle weg?« Sie fragte nicht, ob jemand da war. Es kam Abe so vor, als hätte sie keine Hoffnung. Absolut keine. Und dennoch klang sie ruhig und nicht vorwurfsvoll. »Nein.« Abe räusperte sich. »Ich bin hier.« »Wird Daniel wieder gesund?« Abe zuckte bei dieser Frage zusammen. Wer war das, der da sprach und das Wohlergehen einer anderen Person vor das eigene stellte? Doch gleichzeitig war Abe auch erleichtert. Er glaubte, daß die Frau, wer sie auch sein mochte, dort unten sicher und in guter Verfassung sein mußte, sonst hätte sie hysterisch geklungen. Eine solche Gelassenheit mußte ihren Grund haben. Vielleicht war sie da drinnen auf weichem Schnee gelandet oder einfach am Ende des Seils in der Luft hängengeblieben. Abe wurde zuversichtlicher. Es würde alles gut werden. »Ja. Es geht ihm gut«, antwortete Abe. »Wie heißt du?« »Diana.« Sie fragte ihn nicht, wie er hieß, doch Abe sagte es ihr trotzdem. Er wußte nicht, worüber er sonst noch reden sollte. Dann erinnerte er sich, was der Einsatzleiter ihm aufgetragen hatte. »Woher kommst du?« fragte er. »Aus Rock Springs«, sagte sie. Er fragte sie nach ihrer Telefonnummer. Sie nannte sie, doch sie klang mißtrauisch. Als er sich nach ihrer Adresse erkundigte, schien sie plötzlich das Interesse an seinen 24
Fragen zu verlieren. »Ist das der Wind, Abe?« Ihre Stimme klang matt, und doch schien sie wache Instinkte zu haben. Sie wußte, daß ein Sturm heraufzog. Abe hob den Kopf und spürte den kalten Wind im Gesicht. Es war jetzt ein Wettlauf gegen den Sturm und gegen die einbrechende Dunkelheit. Jeden Moment würden die anderen kommen und einen Weg finden, diese einsame Frau aus der Gletscherspalte herauszuziehen, und dann würden sie alle den Berg hinabsteigen und nach Hause gehen. »Wir holen dich raus«, sagte Abe. »Keine Sorge.« Seine Worte klangen winzig, als sie wie kleine Federn in das Loch hinabglitten. Die Frau machte sich nicht die Mühe, etwas auf seine tapfere Beteuerung zu erwidern, und Abe empfand dies als Tadel. »Bist du verletzt?« fragte er. »Ich weiß nicht.« Ihre Stimme wurde dünner. »Holt ihr mich hier raus?« »Natürlich. Deshalb sind wir doch hier.« »Bitte«, flüsterte sie. Abe versuchte zu verstehen, was das bedeuten sollte. »Brauchst du etwas? Vielleicht kann ich irgendwas hinunterlassen.« Abe dachte dabei an Nahrung oder Wasser. »Eine Lampe bitte.« Abe verdrehte die Augen. Diese Bitte war naheliegend. Er versuchte sich zu vergegenwärtigen, wie es wäre, dort unten eingeklemmt zu sein, doch es gelang ihm nicht. Er konnte sich nicht bildlich vorstellen, in den gläsernen Eingeweiden der Erde gefangen zu sein. »Ja«, sagte er. »Ich versuch’s.« 25
Abe stand auf und ging zu einem der anderen Retter, der das Loch im Schnee betrachtete, bevor er sich von seiner Stirnlampe trennte. Er schien widerwillig oder auch nur traurig zu sein, und diese Haltung irritierte Abe. Auf dem Rückweg zur Gletscherspalte borgte Abe sich eine Rolle Seil. »Ich habe eine Lampe«, brüllte Abe in die Gletscherspalte hinein. Er kam sich jetzt nützlicher vor. Für die Frau war er die einzige Verbindung zur Außenwelt. Nach ihrer Rettung würde sie Abe an der Stimme erkennen und ihn umarmen. Sie würde ihn an sich drücken und sich dankbar an seiner Schulter ausweinen. Abe legte sich auf den Bauch, schaltete die Lampe ein, steckte seinen Arm und den Kopf in das Loch und leuchtete hinunter. Er hatte damit gerechnet, die Bergsteigerin tief unten auf dem Grund eines Schachtes zu sehen. Statt dessen bestand der Spalt aus kristallenen Lippen, durch deren Öffnung gerade der Brustkorb eines Menschen paßte. Nach links und rechts setzte sich die Gletscherspalte als dunkler, bedrohlicher Riß fort. Bis auf das eine Loch war die Gletscherspalte mit Schnee bedeckt und von oben überhaupt nicht sichtbar. Dort, wo Abe lag, schlängelten sich die Eiswände über zehn Meter in die Tiefe. Das blaue Seil führte nach unten und verschwand aus dem Blickfeld. »Siehst du das Licht?« rief Abe. »Nein«, sagte sie. »Hier ist es dunkel.« Abe war froh, seinen Arm und den Kopf aus diesem fürchterlichen Loch ziehen zu können und wieder an der Oberfläche zu sein. Schon in diesen wenigen Sekunden hätte er beinahe die Selbstbeherrschung verloren. Während Abe redete und Fragen stellte, versuchte er, die Lampe mit dem Seil hinunterzulassen. Doch das Material 26
war neu und steif, und die Krümmung der Wände versperrte nach gut zehn Metern den Weg. Abe zog die Lampe wieder heraus. »Kannst du sie fangen?« »Ich versuche es.« »Ich lasse das Licht brennen, dann siehst du sie kommen.« Abe streckte den Arm so weit wie möglich aus, bevor er die Lampe fallen ließ. Ihr Lichtstrahl wurde von den Wänden reflektiert und erlosch dann. Abe dachte, sie wäre im Fallen kaputtgegangen. Dann hörte er die Stimme. »O Gott«, stöhnte sie. »Hast du sie?« Abe hatte Freude erwartet. Nun war sie von der Dunkelheit erlöst. Doch als das Schweigen andauerte, begriff er, daß nun buchstäblich die Wahrheit ans Licht gekommen war und daß die Frau ihre schlimme Lage jetzt einschätzen konnte. »Was siehst du?« Sie antwortete nicht. Abe steckte den Kopf in das Loch und wartete, doch er hörte nur den Wind von oben. Der Sturm war nahe. Abe blickte erst in den dunkler werdenden Himmel, dann hinüber zu den Rettern, die in hektischer Betriebsamkeit um die Trage herumstanden. Sie hatten Daniel in einen warmen Schlafsack gepackt und ihn auf der Trage festgeschnallt. Einige der Männer schulterten ihre Rucksäcke, und es schien so, als wollten sie bald gehen. Nun konnte das Team seine ganze Kraft darauf verwenden, Diana herauszuziehen. Der Teamleiter ging auf Abe zu und bedeutete ihm mit gekrümmtem Zeigefinger und ernstem Blick, er solle von dem Loch wegkommen. Abe kniete sich hin. »Also«, sagte der Einsatzleiter. »Wir steigen jetzt ab. Wir brauchen 27
jeden Mann. Komm, steh auf.« Abe war sicher, daß er sich verhört hatte. »Sie heißt Diana«, erklärte er. »Sie hat jetzt eine Lampe.« Der Leiter seufzte traurig. »Damit hast du ihr keinen Gefallen getan.« Abe wußte nicht, was er sagen sollte. »Sie kommt schon klar«, stieß er schließlich aus. »Ich bin froh, daß du so denkst. Jedenfalls sind wir wenig Leute. Wenn wir die Trage vor dem Sturm nach unten kriegen wollen … Verdammt, wir haben Glück, wenn wir die Trage überhaupt nach unten kriegen.« Abe ließ nicht locker. »Wir können sie ja ausgraben.« »Ausgraben?« Die Augen des Leiters wurden glasig. »Sie steckt zu tief drin. Viel zu tief. Der Junge hätte sie nicht herbringen dürfen.« »Aber wenn wir alle ziehen …« »Hör zu, Texaner …« Und plötzlich wußte Abe, daß sie ihn durchschaut hatten. Er hatte sie nicht täuschen können. »Ganz unten verengt sich die Gletscherspalte zu einem V. Wenn man tief genug fällt, mit großer Wucht, dann wird man da unten eingeklemmt. Nach einer Weile schmilzt die Körperwärme das Eis, und man rutscht tiefer und fester hinein. Mit jeder Minute, mit jedem Atemzug, den das Mädchen tut, sinkt sie tiefer.« »Aber wir können sie doch nicht da drinlassen.« »Wir kommen wieder.« »Wann?« Der Einsatzleiter zögerte. Die Falten an seinen Augen zogen sich zusammen. »Sobald wir können.« »Aber wir müssen sie retten.« Zum erstenmal bemerkte Abe, daß die anderen Mitglieder des Teams das Loch 28
mieden. »Das können wir nicht, jedenfalls nicht jetzt. Vielleicht später, wenn sie abgemagert ist und Gewicht verloren hat. Dann vielleicht. Aber ich bezweifle es.« Abe schüttelte den Kopf – über diese Anweisung, über den Gedanken an eine Frau, die in glasklarem Eis eingeschlossen war, gebrochen und frierend und blind, und doch bei vollem Bewußtsein, erfüllt von ihrer eigenen Vergangenheit und Zukunft. Wahrscheinlich hatte sie gestern genauso gefrühstückt, wie sie das getan hatten, sie war auf demselben zugefrorenen Fluß entlanggegangen, hatte dasselbe Rudel ausgehungerter Rehe aufgeschreckt und denselben Gletscher überquert. Und nun verurteilten sie sie zu ewiger Dunkelheit. »Hör zu«, sagte der Einsatzleiter. Die vereisten Enden seines grauen Schnurrbarts bewegten sich. »So läuft es eben manchmal. Man versucht es. Man wägt ab. Man rettet die, die man retten kann. Und man läßt die zurück, die man nicht retten kann. Wir haben einen langen Marsch vor uns. Wir gehen jetzt. Mach dich fertig. Ich sage dem Mädchen, was los ist.« »Nein«, entgegnete Abe. »Ich sag’s ihr.« Er hatte ein Recht auf das letzte Wort. Er hatte das blaue Seil berührt. Er hatte der Frau eine Lampe besorgt und ihr damit den Anblick beschert, der sich ihr jetzt bot, so furchtbar er auch sein mochte. Der Einsatzleiter stach seinen Eispickel einige Male nachdenklich in den Schnee, dann ging er fort, ohne noch etwas zu sagen. Die Retter an der Trage wandten Abe und dem Loch den Rücken zu. Abe blickte auf seine Armbanduhr und schüttelte sie. Nur fünfundzwanzig Minuten waren seit ihrer Ankunft vergangen. Ihm kam es vor, als wären es Stunden 29
gewesen. Er konnte nicht verstehen, was sich um ihn herum abspielte. Sie hoben die Trage an wie einen Sarg, drei Mann auf jeder Seite; einer blieb zurück und hielt ein Sicherungsseil für den Fall, daß sie ausrutschten. Der Wind zerrte an Abes Gesicht, peitschte ihm entgegen. Die ersten Schneeflocken schlugen gegen seine neue, weiße Windjacke. Der Sturm brach los. Die Männer konnten nichts tun, um den Himmel noch länger zu besänftigen. Die Rettungsaktion war vorbei, zumindest für die Frau im Inneren des Berges. Abe legte sich neben das Loch, um ihr dies zu sagen. »Hallo?« rief Abe hinab. Es kam keine Antwort. Abe spürte die Dunkelheit dort unten, die das schwache Licht umgab. »Wir müssen Daniel nach unten bringen«, rief er in das Loch hinein. »Wir sind zuwenig Leute, deshalb müssen wir alle mit runter. Aber wir kommen wieder.« Er fügte noch etwas hinzu: »Ich verspreche es.« Sofort wünschte sich Abe, die Worte nicht ausgesprochen zu haben. Sie hatten schon ein anderes Versprechen gegeben. Sie waren gekommen, um die Überlebenden zu retten oder die Toten abzutransportieren, und nun erfüllten sie die Aufgabe nur zur Hälfte. Weitere Versprechen bedeuteten nur einen erneuten Verrat an dieser eingeschlossenen Frau. Sie antwortete immer noch nicht, und Abe wandte sich von der Gletscherspalte ab. Dann redete Diana. »Ihr laßt mich doch nicht allein zurück?« Abe schüttelte den Kopf, doch er brachte das Wort »nein« nicht heraus. »Du hast es versprochen«, schrie sie. Dann, als wollte sie mit sich selbst schimpfen, sagte sie schnell »Nein«. Und noch einmal mit festerer Stimme: »Nein.« 30
»Sie haben zu wenig Leute …« wiederholte Abe. »Es war meine Schuld«, sagte sie. Ihre Worte, niedergeschlagen und unbeholfen, hatten den Tonfall eines Testaments. Aus Dianas Erschöpfung oder Delirium hörte Abe etwas heraus, das viel schlimmer war als die Ergebenheit: einen Tonfall der Resignation, den auch ihre Retter gebrauchten. »Sag Daniel das. Hörst du mich, Abe?« Abe steckte den Kopf noch tiefer in das Loch. »Ja.« Ihre Stimme wurde nun kräftiger. »Ich war es. Ich bin gefallen und habe uns runtergezogen. Ich war es. Sag ihm das. Es tut mir leid. Es tut mir leid, was ihm passiert ist. Es tut mir leid, was mit mir passiert ist. Ich kenne Daniel, er wird sich selbst die Schuld geben. Sag ihm, daß er das nicht soll.« Abe wollte widersprechen und sagen, daß der Sturz ein Unglück gewesen sei und sie keinen Grund zur Reue habe. Doch vielleicht hatte Diana beschlossen, die Sache auf diese Weise zu verarbeiten. »Okay«, rief Abe. »Ich werd’s ihm sagen.« »Jetzt beantworte mir mal eine Frage, Abe.« »Ja?« »Wie alt bist du?« »Achtzehn.« Aus irgendeinem Grund fühlte Abe sich genötigt, die ganze Wahrheit zu sagen. »Beinahe.« Sie schwieg eine ganze Weile. »Ich dachte mir schon so was«, sagte sie dann. Und jetzt erkannte Abe, wie die anderen ihn in bezug auf diese Frau benutzten. Sie hatten ihn für die schlimme Aufgabe benutzt, sie zu befragen. Und sie benutzten ihn für die Verkündung des Todesurteils. »Weißt du, Abe«, begann Diana und brach dann ab. 31
Nach einem Moment fuhr sie fort. »Dich trifft auch keine Schuld. Denk immer daran.« Dieser Satz schnürte Abe die Kehle zu. Sie wollte auch ihm verzeihen. Er rang nach Worten. Schließlich fragte er sie nach ihrem Alter. »Zwanzig«, sagte sie. »Beinahe.« »Ich kann ruhig noch hierbleiben«, bot Abe an. »Das macht mir nichts aus.« Dieser Gedanke kam ihm erst, als er ihn laut aussprach. Er würde eine Stunde bleiben können, um dann hinunterzusteigen. Er würde die anderen einholen, die wegen der sperrigen Trage nur langsam vorankommen konnten. Und wenn er eine Stunde bleiben konnte, warum nicht zwei? Diana ließ ihm keine Chance. »Kommt mit dem Wind auch ein Unwetter?« fragte sie. »Das Unwetter ist schon da«, sagte Abe. »Dann verschwinde von hier.« In ihrer Stimme lag Mut, aber auch Hysterie. Dann schrie sie seinen Namen. Sie flehte ihn an. »Abe«, kreischte sie. Sie brauchte seine Anwesenheit. Zumindest bis zu ihrer Rettung wollte diese Frau Abe mit ganzem Herzen bei sich haben. Das war mehr, als er je bei einer Frau erlebt hatte. »Ich bin hier«, antwortete er. »Ich gehe nicht weg.« Wenn er blieb, machte Abe sich zur Geisel seines eigenen Versprechens. Wenn er blieb, zwang er die Rettungsmannschaft dazu, wiederzukommen und den Menschen in dieser Eisgrube zur Kenntnis zu nehmen. Abe war begeistert von seinem Entschluß und rappelte sich auf. Er holte den Einsatzleiter ein, als die Männer mit der Trage schon abwärts stapften. »Ich bleibe bei ihr«, verkündete er. 32
Der Einsatzleiter sprach kein Wort. Sein breites Gesicht verfinsterte sich. Er ging einen Schritt auf Abe zu und stieß. ihn heftig gegen die Brust, so daß er in den Schnee fiel. »Du verdammter Cowboy«, sagte er. »Ich lasse mir nicht drohen.« Der Schlag hatte Abe nicht verletzt, sondern nur überrascht. »Das ist keine Drohung«, entgegnete er. Das stimmte natürlich nicht. Und jetzt begriff Abe, daß er den inneren Frieden der Männer bedrohte. Sie hatten die Preisgabe der Frau vor sich selbst schon gerechtfertigt. Die Retter waren gute und anständige Männer, daran gab es keinen Zweifel. Doch indem Abe hierblieb, entlarvte er sie als kleinmütig oder kompliziert. »Nimm deinen Rucksack. Oder laß ihn hier, ist mir egal. Aber schwing deinen Arsch ins Tal. Ich will nicht, daß du hier auf dem Berg bleibst. Ich will dich nicht in diesem Team haben«, brüllte der Einsatzleiter gegen den Wind an. »Du weißt überhaupt nichts.« Ohne diese letzte Beleidigung hätte Abe vielleicht gehorcht. Einer der Retter, ein älterer Mann mit kaputten Knien, kletterte herauf, um zu sehen, was die Ursache der ganzen Aufregung war. »Der Grünschnabel meint, er bleibt hier«, sagte der Einsatzleiter zu dem älteren Mann. »Er glaubt, daß er uns damit ’nen Gefallen tut.« Jetzt wurde Abe wütend. »Ihr habt ihr nichts zu essen und zu trinken dagelassen. Ihr habt nicht mal mit ihr geredet.« »Das liegt daran, daß sie schon tot ist.« »Das ist sie nicht.« Der ältere Mann sah eine Weile in Abes ernstes Gesicht. 33
Sein Blick war nicht freundlich, aber auch nicht feindselig. Er taxierte Abe wie einen Berghang, einen heraufziehenden Sturm oder ein anderes Hindernis. »Laß das arme Mädchen in Ruhe«, riet er Abe. »Wir können nichts für sie tun, als sie in Ruhe sterben zu lassen. Sei barmherzig.« Abe begriff die Logik, aber er hatte sich entschieden. »Nein, Sir«, sagte er. »Hör mir mal zu. Du quälst sie doch nur. Mit Proviant und Wasser kann es noch Tage dauern. Tu ihr das nicht an.« »Darum geht’s nicht«, erwiderte Abe. »Wenn ich da unten wäre …« »Wenn du da unten wärst, würdest du beten, daß ich eine Pistole hätte, um deinem Leben ein schnelles Ende zu machen.« Abe zuckte mit den Achseln. Er hatte Angst vor einer weiteren Diskussion, weil er wußte, daß sie wahrscheinlich recht hatten. Aber er blieb hier. »Ich bewundere deine Ritterlichkeit«, sagte der ältere Mann, und Abe wurde rot, denn der Mann meinte damit seine Naivität. »Trotzdem, du bringst alle noch einmal in Gefahr, nur um dich zu retten. Nicht sie. Sie ist verloren. Nun komm schon mit uns.« »Nein, Sir.« »Verdammt«, fluchte der Einsatzleiter. »Siehst du?« »Ich will sie ja auch nicht zurücklassen«, sagte der ältere Mann. »Wenn du mich fragst, sollte der da drüben« – er zeigte mit dem Daumen auf die Trage – »derjenige sein, der in dem Loch feststeckt. Wenn du mich fragst, hat er das Mädchen im Prinzip umgebracht. Trotzdem bleibt sie zurück, und er wird gerettet.« 34
»In den Bergen gibt es weder Gut noch Böse«, fügte der Einsatzleiter hinzu. »Man muß alles so nehmen, wie es kommt.« »Wie heißt du?« fragte der ältere Mann. »Abe Burns.« »Also, Abe, normalerweise würde ich dich jetzt fesseln lassen. Aber wir haben nicht genug Leute, um dich runterzutragen. Also geht das nicht. Wir müssen uns darauf verlassen, daß du das Richtige tust.« »Ja, Sir«, sagte Abe. »Das versuche ich.« »Hör auf mit deiner Wichserei«, rief der Einsatzleiter. »Wir haben eine Lawine über uns, einen Sturm und einen Verletzten. Und du kriegst ’nen Steifen wegen ’ner toten Frau. Dafür ist keine Zeit!« Abe zögerte keine Sekunde. Er schlug dem Einsatzleiter mit der Faust ins Gesicht, so daß der nach hinten auf seinen Rucksack fiel. Er hätte ihn auch getreten, wenn er nicht Steigeisen an den Stiefeln gehabt hätte, die den Mann hätten schwer verletzen können. »Mein Gott«, sagte der ältere Mann zum Einsatzleiter, »mein Gott.« Dann wandte er sich Abe zu. »Du weißt, daß du sie nicht retten kannst!« »Das ist mir egal«, gab Abe zu. »Warum tust du das dann?« Abe antwortete nicht. Er konnte nicht. Der ältere Mann blickte zu den Gipfeln hinauf. »Wie du willst«, sagte er. »Aber ich wünschte, du würdest dir das nicht antun.« »Das wird dein Begräbnis«, sagte der Einsatzleiter zu Abe, während er sich aufrappelte. Er zeigte auf das Loch. »Sie hat ihres schon gehabt.« 35
Zweihundert Meter weiter unten rief der ältere Mann den Leuten mit der Trage zu, sie sollten stehenbleiben, und Abe lief hinterher. Das Team setzte den Verwundeten ab, der durch das Morphium und die Wärme im Delirium war. Die Retter durchsuchten ihre Rucksäcke und spendeten Verpflegung, einen Schlafsack, ein Biwakzelt und einen kleinen Kerosin-Kocher zum Eisschmelzen. Sie taten es eilig, mit wenig Respekt gegenüber Abe, aber auch nicht unfreundlich. Sie hielten ihn für einen Dummkopf, das war offensichtlich, doch keiner sprach es laut aus. Sie überließen ihm einfach ihre überschüssige Ausrüstung. Sie waren ausnahmslos mürrisch, denn es paßte ihnen ganz und gar nicht, Daniel nach unten zu tragen und die Frau in der Gletscherspalte zurückzulassen. Doch die Entscheidung war gefallen. Einer wünschte Abe sogar Glück. Dann waren sie verschwunden. Abe stapfte mit dem Proviant wieder den Hang hinauf. Alles in allem wogen die milden Gaben etwa zehn Kilo, und das schien gegen die dunkle Masse aus Sturm und Abenddämmerung plötzlich sehr wenig zu sein. Abe legte die Ausrüstung neben die Gletscherspalte und baute das Biwak auf, so gut er konnte, bevor der Wind alles wegwehte oder der Schnee alles unter sich begrub oder er selbst zu sehr fror. Er stellte das Zelt so auf, daß der Eingang nur wenige Zentimeter von dem Loch entfernt war, was ihm das Hineinkriechen erschwerte. Doch es erleichterte die Kommunikation, und das war das wichtigste. Als er sich schließlich in dem kleinen Zelt in den Schlafsack eingehüllt hatte, kam er sich vor, als wäre er derjenige, der eingeschlossen war. Erst jetzt rief er in das Loch hinunter und teilte Diana mit, was er getan hatte. Die Frau antwortete nicht. Kein Laut drang aus der Gletscherspalte nach oben. »Diana?« rief Abe. Er hatte sich auf Widerstand 36
eingestellt und sich deshalb erst bemerkbar gemacht, als er sein Lager errichtet hatte. Ihr Schweigen irritierte ihn. »Also, ich bin hier«, sagte Abe. Stunden vergingen. Der Sturm verschlang sie bei lebendigem Leib. Die Helligkeit, die noch geblieben war, nahm der Wind mit fort. Abe schlief ein und träumte, er wäre in die Gletscherspalte gestürzt. Er konnte seine Arme und Beine nicht bewegen und nur in flachen Atemzügen Luft holen. Er erwachte aus dem Traum und sah, daß er von völliger Dunkelheit umgeben war. Das Zelt war unter einer dicken Schneedecke zusammengebrochen, und Abes Gliedmaßen waren in der engen Hülle des Schlafsacks gefangen. Er mußte seine ganze Kraft aufbringen, um sich aufzurichten und das Zelt und sich selbst von dem Schnee zu befreien. Er war außer sich vor Platzangst, und schließlich gelang es ihm, die Zelttür aufzureißen. So lag er nun da, streckte seinen bloßen Kopf hinaus in den Blizzard, atmete in tiefen Zügen Luft und Schneeflocken ein und war überglücklich, dem Traum, wenn auch nicht dem Berg entkommen zu sein. Erst jetzt hörte er den Gesang, der von weit her kam und schaurig klang – keinesfalls menschlich. Abe vermutete, daß der Wind zwischen den Gipfeln heulte oder daß sich ein Tier aus dem Wald hierher verirrt hatte. Oder daß es spukte. Abe hörte genauer hin. Zwischen dem Heulen des Windes und dem Prasseln des körnigen Schnees auf dem Zeltdach nahm er einen Rhythmus und eine sonnige Melodie wahr. Es war ein Song der Beach Boys. Während er zuhörte, spürte Abe, wie der Sturm ihn wieder mit Schnee zudeckte. Er rüttelte heftig aber doch vorsichtig am Zelt, denn nach all den Bewegungen konnte 37
er nicht mehr wissen, wo sich nun die Gletscherspalte befand. Abe wühlte in den Falten des Zeltes, fand eine Taschenlampe und leuchtete damit nach draußen. Er war entsetzt und zugleich fasziniert, wie der herabfallende Schnee das Licht verschluckte. Der Strahl reichte ein oder zwei Meter aus seiner kleinen, künstlichen Höhle heraus und verschwand dann. Abe brauchte mehrere Minuten, um die Gletscherspalte zu orten. Das Loch hatte sich zu einem kleinen Kreis verengt, als wolle es seine Beute der Welt für immer vorenthalten. Abe, der immer noch in Schlafsack und Zelt lag, robbte näher heran. Der Gesang wurde deutlicher, doch das machte ihn nur noch fremdartiger, denn Diana sang keine richtigen Worte, sondern summte nur. Jetzt fand Abe den Eispickel, den sie ihm dagelassen hatten. Beim Herumwälzen hatte er sich daraufgelegt. Der Eispickel hatte seinen Schlafsack aufgeschlitzt, und überall lagen Daunen herum. Auf der Metallspitze befand sich Blut, und einen schlimmen Moment lang dachte Abe, er hätte sich verletzt und würde wegen der Kälte die Wunde nicht spüren. Dann begriff er, daß dies Daniels Eispickel mit Daniels Blut war. Abe streckte seinen Arm nach draußen und stocherte an den Rändern des Lochs herum, um es zu vergrößern. Er fing an, systematisch den Schnee zu entfernen, auch wenn dabei ein Teil davon in die Gletscherspalte fiel und Dianas Elend verschlimmerte. »Es tut mir leid«, rief er ihr zu, »es tut mir leid.« Er tat dies für sich selbst, nicht für Diana. Er mußte diesen Eingang zur Unterwelt offenhalten. Er hatte Angst, den Kontakt zu verlieren, und er war sich ziemlich sicher, daß er dieses Martyrium ohne Dianas Gesellschaft nicht überstehen würde. Als Abe endlich das blaue Seil freigelegt und sich damit der Anwesenheit seiner Gefährtin vergewissert hatte, ruhte 38
er sich aus. Er schlief. Als er die Augen wieder öffnete, war es Tag, doch es hätte genausogut immer noch Nacht sein können. Der Sturm wütete noch heftiger als zuvor. Abe konnte außerhalb des Zelts nichts erkennen, und auch innerhalb des Zelts konnte er das ohne Taschenlampe nicht. Abe machte sich daran, sein Zelt wieder aufzubauen. Er richtete mit den zerbrochenen Stangen eine Wand nach der anderen auf und klopfte alle paar Minuten gegen den Stoff, um den Schnee abzuschütteln. Und während dieser ganzen Zeit lauschte er Dianas gedankenlosem Gesang. »Du wirst es schaffen«, rief Abe in die Gletscherspalte hinunter. Er fand etwas Käse, ein Stück feuchtes Brot und eine Plastikflasche mit Wasser, das zum großen Teil gefroren war. »Willst du etwas zu essen?« brüllte er. Diana antwortete nicht. Sie sang nur immer weiter. Während Abe aß und trank, hörte er ihr zu. Es war immer wieder dieselbe Melodie. Die Worte waren keine richtigen Worte. Es waren Geräusche, die einen Weg markierten. Diana steckte fest und drehte sich im Kreis. Bald würde der Strudel sie in die tiefste Tiefe hinabziehen. Abe wußte, daß er dem Klang des Todes lauschte. Schließlich stimmte Abe in den Gesang mit ein. Er hatte dieses Lied schon oft gehört, doch auch er konnte sich nicht an den Text erinnern. Mit derselben Hingabe wie Diana schleuderte Abe seine Stimme in die Leere, die sie beide umgab. Nach einer Weile schien Diana die zweite Stimme zu bemerken. Abes Gesang befreite sie von dem Lied und brachte sie zum Sprechen. Sie fing an, Bruchstücke einer Geschichte zu erzählen. Abe strengte sich an, um zu verstehen, was sie sagte. Es war eine lose 39
zusammenhängende Autobiographie, gewebt aus Erinnerungen, Fiktionen und dem Flehen um den Trost ihrer Mutter. Sie brachte Abe manchmal zum Weinen, andere Stellen fand er schlicht langweilig. Der stürmische Tag verging. Die Nacht brach wieder herein. Als die Dunkelheit sich ausbreitete und Abe immer wieder in einen fiebrigen, unruhigen Schlaf fiel, konnte er Realität und Phantasie nur noch schwer unterscheiden. Er fror immer mehr und wurde selbst ein bißchen verrückt, und er begriff kaum noch, was gesprochen wurde. Vieles von dem, was Abe hörte, bildete er sich vielleicht ein. Vielleicht war Diana eine College-Studentin mit einem miesen Job, einem zugigen Wohnmobil und einer engen Freundschaft mit irgendeiner durchgedrehten Frau. Vielleicht aber auch nicht. Sie hatte angeblich drei Brüder namens John, Wes und Blake, was Abe verdächtig fand, denn das waren die Namen seiner Onkel. Dianas Erzählung über die Berge war wohl real, denn sie beschrieb wilde Frühlingsblumen, von denen Abe noch nie gehört hatte. Sie wollte irgendwann den Mount Everest besteigen, doch das konnte auch Abes Phantasie entsprungen sein. Er gab den Versuch auf, die Frau – und sich selbst – mit Fragen und Gesprächen bei klarem Bewußtsein zu halten. Abe vermutete schließlich, daß sie den Namen ihres hartnäckigen Retters völlig vergessen hatte, denn sie sprach ihn überhaupt nicht mehr aus. Sie begriff nicht mehr, daß er dort oben lag oder daß sie im Inneren des Bergs eingeschlossen war, und Abe fand sich damit ab. Seine Anwesenheit hatte ihrem langen und qualvollen Sterben nicht die geringste Spur von Würde verliehen, und Abe ergab sich der Namenlosigkeit. Und in diesem Moment, während der Sturm für kurze Zeit abflaute, 40
schrie sie auf. »Ich liebe dich!« brüllte sie. Abe wußte, daß sie jemand anders meinte, doch die einzige Antwort, die ihm einfiel, war eine Wiederholung ihrer Worte. »Ich liebe dich«, rief er in die Gletscherspalte hinunter, und damit sie es nicht für ihr eigenes Echo hielt, fügte er »Diana« hinzu. Ihr Name sank in das Loch hinab wie ein Stein, der ins Meer geworfen wird. Doch dann geschah etwas. Ein einzelnes Wort kam aus dem Loch heraus. »Abe«, sagte sie. Der Sturm und das Warten dauerten noch lange Zeit an. Abe hatte im Eifer des Gefechts seine Uhr verloren, so daß er keine Ahnung hatte, wieviel Zeit vergangen war. Er wußte nur, daß ihm und seiner unsichtbaren Geliebten langsam die Sinne schwanden und daß ihre Erinnerungen verschwammen und sich zu einem Traum vermengten. Irgendwann sah Abe sich seine Handflächen an und bemerkte, daß er sie mit dem Seil bis auf die Knochen aufgescheuert hatte. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, doch um das blaue Seil herum im Schnee waren hellrote Blutspuren zu sehen, und sie waren frisch. Schließlich herrschte Schweigen. Die Sonne ging nicht auf, aber irgendwann wurde der Himmel in ein mattes Licht getaucht. Über Nacht war Abe von dem Wasser krank geworden, oder vielleicht auch von dem Sturm und der Kälte und den Geräuschen, und sein Zelt war wieder zusammengebrochen. Er fror stark, war durstig und erschöpft. Doch der Sturm war vorüber. Der Wind hatte sich gelegt. Abe klappte die Zelttür auf. Die Gletscherspalte hatte sich fast ganz geschlossen. Man konnte nichts mehr tun. »Hallo«, rief er hinab. Das Wort kam als blauer Reif aus seinem Mund. 41
Sie antwortete nicht. Kein Gesang mehr, kein Summen. Vielleicht lebte sie noch, war nur stumm und hatte weitaufgerissene Augen – ein Zombie, der bis ans Ende der Zeit in seiner Gruft gefangen war. Abe schüttelte den Schnee ab und kroch aus dem Zelt. Die Nacht und der Tag und die Nacht hatten ihn seiner Kräfte beraubt. Er mußte schon seine ganze Konzentration aufbringen, um aufzustehen. Sein Parka war durchnäßt und steifgefroren. Seine Füße waren tote Klötze. Er blickte auf die Gletscherspalte. Das Loch war nur noch etwa zehn Zentimeter breit. Das blaue Seil war wieder tief vergraben. Die Erde schloß sich. »Leb wohl«, krächzte Abe. Er richtete die Worte an die Erinnerung dort unten und zum Teil auch an sich selbst. Ohne weiter nachzudenken, ließ Abe das Zelt, den zerrissenen Schlafsack und seinen Rucksack zurück. Die Wasserflasche war gefroren und damit nutzlos. Der Gedanke an Essen drehte ihm den Magen um. Er trat einfach von dem Loch zurück, drehte sich talwärts und ließ sich von der Schwerkraft den Gletscher hinabtragen. Abe stolpere, trampelte und stapfte den Berg hinab und erreichte das Plateau, das jetzt mit Schneewehen überzogen war und aussah wie ein hartes, weißes Meer. Er ging hinunter in den Wald. Der Weg, den sie über den zugefrorenen Fluß genommen hatten, war unter meterhohem Schnee begraben, doch Abe war geduldig. Jedesmal wenn er sich verirrte, blieb er stehen und horchte auf das Wasser, das unter ihm in den tiefen Adern floß. Er folgte dem Geräusch und summte vor sich hin. Er brauchte den ganzen Tag. Abe setzte sich kein einziges Mal hin, denn dann hätte er sich zurückgelehnt und wäre in seinem Traum versunken. Bei Einbruch der 42
Dämmerung erreichte er die Straße und ging in die Dunkelheit hinein. Abe lief nur deshalb weiter, weil er noch laufen konnte. Einen anderen Grund gab es nicht. Einen Selbsterhaltungstrieb hatte er nicht. Die Nacht brach herein. Alles wurde schwarz. Der Wald zog Abe in sich hinein und ließ ihn nicht mehr los. Nach einer Weile wußte Abe nicht mehr, ob seine Beine sich noch bewegten. Er hatte das Gefühl, daß er bewegungslos in der Luft hing. Am nächsten Morgen erschien ein einzelnes Licht wie ein Loch in der Dunkelheit. Es war ein großer Lastwagen mit einem defekten Scheinwerfer, und darin saß die Rettungsmannschaft. Während der Motor im Leerlauf dröhnte, stand Abe wie versteinert im harten, weißen Scheinwerferlicht. Ein Retter nach dem anderen stieg aus und berührte ihn. Als sie ihn auf eine Trage legten, taten sie es zögernd, denn sie trauten ihren Augen kaum. Sie hatten Abe oder Abes Leiche gerade vom Gletscher bergen wollen. Sie verbanden die Wunden an seinen Händen, gaben ihm eine Infusion, wickelten ihn im Laderaum des Lastwagens in einen Schlaf sack und machten sich auf den langen Weg über die Pflasterstraße zurück nach Boulder. Zwei Retter saßen neben Abe, um seinen Zustand zu überwachen und ihm Brühe, Kaffee, Kräutertee und sonstige heiße Getränke einzuflößen, die das Team auftreiben konnte. Abes Stimme war durch den Wasserentzug, die beißende Kälte und das Singen stark in Mitleidenschaft gezogen, und so überbrückten sie sein Schweigen mit Antworten auf Fragen, die er vielleicht gestellt hätte. Daniel lag auf der Intensivstation, sagten sie. Er war im 43
Krankenhaus sehr erregt gewesen und hatte immer wieder den Namen der Frau genannt, bis eine Schwester ihm erklärte, daß jemand an der Gletscherspalte geblieben war. Danach war er in einen tiefen Schlaf gefallen. Er hatte mehrfache Knochenbrüche, aber die Ärzte sagten, er würde wieder gesund werden. »Das ist die gute Nachricht«, sagte der Mann, der die Manschette eines Blutdruckmeßgeräts an Abes Arm aufpumpte. »Die schlechte Nachricht betrifft das Mädchen. Sie hat ihr Studium in Laramie abgebrochen und ist wieder nach Rock Springs gezogen, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Alzheimer oder so. Jedenfalls hat sie den Typen kennengelernt, und er hat sie aufs Bergsteigen gebracht.« »Sie war schon ganz gut. Aber längst nicht gut genug für diese Wand«, ergänzte der zweite Retter. »Ich schätze, ihr Freund ist hier ’ne richtige Berühmtheit. Jede Menge Erstbesteigungen in der Gegend. Das hier sollte wohl auch eine werden. Eine neue Route. Eine neue Wand. Ein neuer Berg.« »Eine Art Hochzeitsgeschenk«, sagte der erste Retter. »Ja, das auch. Sie wollten heiraten. Im Frühjahr.« Abe merkte, daß die beiden ihre Erzählung für ergreifend und bewegend hielten. Doch er war verwirrt. Die beiden Retter sahen sich an. »Sie ist doch nicht immer noch am Leben?« fragte der eine leise. Abe sah die beiden mit leerem Blick an und fragte sich, ob er etwas falsch gemacht hatte. »Wer?« flüsterte er zaghaft.
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1. KAPITEL
Heiligabend 1991 Abe kam blutverschmiert und todmüde nach Hause; das Heulen der Sirenen klang ihm noch in den Ohren. Zwei Vierundzwanzig-Stunden-Dienste hintereinander hatten ihn so ausgezehrt, daß er eine ganze Minute brauchte, um das Wohnzimmer als sein eigenes wiederzuerkennen. Was er jetzt brauchte, war absolute Ruhe, ein Bett – oder auch nur einen Platz auf dem Boden, solange er still, abgeschieden, warm und trocken war. Doch Abe wußte, daß es damit nichts werden würde. Es war der Nachmittag des 24. Dezember. Jamie hatte ihm aufgetragen, für die Dinnerparty an diesem Abend seine berühmten Sauerrahm-Enchiladas zu machen, und es mußten noch Geschenke eingepackt und der Wasserhahn repariert werden. Abe nahm sich Orangensaft aus dem Kühlschrank und Aspirin aus der Schublade. Er fragte sich, warum. Warum reparieren? Er hatte es ihr schon lange versprochen, doch der Wasserhahn war noch das geringste Problem, das sie hatten. Außerdem war das langsame Tropfen des undichten Hahns zu einem Uhrwerk ihrer Unzufriedenheit geworden. Wie ein alter Mann hatte er sich daran gewöhnt, das Geräusch in den kalten Nächten zu hören. Abe holte seinen Werkzeugkasten unter der Treppe hervor und kramte nach einer Zange. Er schüttelte das kleine weiße Tütchen mit dem Dichtungsring für achtzehn Cent und ging dann hinauf ins Badezimmer. Wenn Jamie 45
von der Arbeit kam, würde der Wasserhahn nicht mehr tropfen. Wahrscheinlich würde sie es gar nicht merken. Der Funkrufempfänger piepste. Abe seufzte. Er legte die Zange weg. Die Hoffnung, daß die Straße ihn in Ruhe lassen würde, war illusorisch gewesen. Selbst ohne den Schnee, der in der Luft lag, ohne das Glatteis auf den Highways sorgten die Feiertage immer für besonderes Chaos. Mehr Autounfälle, mehr Herzstillstände, mehr Gewalt in den Familien und mehr Selbstmordversuche. Mehr Einsamkeit. Mehr Elend. Mehr Überstunden. Soviel zum Thema Heiligabend. Jamie würde stumm bleiben, wenn er es ihr erzählte. Sie würde sich einfach umdrehen und sich dem Salat, dem Eierflip oder etwas anderem zuwenden. So gingen sie inzwischen miteinander um. Abe reckte und streckte sich, und im Spiegel richtete sich im Lampenschein langsam der Kannibale auf. Vor langer Zeit (im nächsten Mai wurden es zwölf Jahre), als er Sanitäter geworden war, hatte er gesehen, wie der Kannibale seine Welt aus Sanitätsteams, Ärzten in der Notaufnahme, Polizisten und Feuerwehrleuten bevölkerte. Da der Begriff Burnout diese innere Leblosigkeit nur unzureichend beschrieb, hatten Witzbolde den »Kannibalen« erfunden, der gierig die Herzen auffraß. Abe hatte sich geschworen, den Sanitäterjob an den Nagel zu hängen, bevor der Kannibale ihn erwischte, doch jetzt war er fünfunddreißig und verarztete immer noch Schußwunden für die Unfallstation von Boulder und abgestürzte Bergsteiger für die Rocky-MountainBergwacht. Und der Kannibale hatte ihn fest im Griff. Er wußte das genau, denn in letzter Zeit war seine Arbeit zu einer Art billiger Pornographie geworden, nicht so sehr wegen des Voyeurismus, sondern wegen der Monotonie und der Vorhersehbarkeit seiner Reaktionen. Wenn der 46
Funkrufempfänger piepste, wenn die Sirenen heulten, wenn er das Blut roch, konnte Abe beinahe einen Schritt zurücktreten und sehen, wie sein Körper reagierte, wie er das Opfer zusammenflickte, ihm ein Bein schiente und eine Spritze verpaßte. Auch Jamie sah es ihm an, wenn auch auf anderer Ebene. »Du liebst mich nicht«, sagte sie bedauernd. »Du weißt nicht mehr, wie man liebt.« Abe schaltete den Piepser aus und rief im Krankenhaus an. »Kennst du einen Typen namens Peter Jorgens?« fragte der Disponent. Abe verneinte. »Er hat heute zweimal wegen dir angerufen. Ein ziemlich aufdringlicher Kerl. Er ist irgendwie in der Klemme und sagt, er hätte keine Zeit, auf schriftliche Referenzen zu warten. Ich mußte ihm die Leute ans Telefon holen, die gerade greifbar waren, und er hat sie über deinen Ruf, deine Erfahrung und so ausgefragt.« »Wahrscheinlich ’ne medizinische Hochschule«, sagte Abe. Dies war, wie der Wasserhahn, eine Sache, um die er sich endlich gekümmert hatte. Von den vier Hochschulen, bei denen er sich beworben hatte, schien er bei zweien noch Chancen zu haben. Er fragte sich, zu welcher Peter Jorgens wohl gehörte und was für Lügengeschichten die anderen Sanitäter dem Mann aufgetischt hatten. Aber Sorgen machte er sich darum nicht. Er hatte einen guten Ruf. Mehr als gut. Er hatte einige der Referenzen gesehen, die man ihm geschrieben hatte, und die waren ausgezeichnet. Sie bezeichneten ihn als ihren besten Mann, mit zwölf Jahren Erfahrung, sowohl in der Stadt als auch in den Bergen. Ob Fels, Schnee oder Eis, Tag oder Nacht – er war der Mann für alle Fälle. Irgend jemand hatte ST. BERNHARD auf Abes Spind im Umkleideraum 47
geschrieben. Darunter hatte jemand anders ein Stück von einem Filmplakat geklebt: Terminator. Viele Tote, aber auch viele Lebende, waren in den letzten zwölf Jahren durch Abes Hände gegangen. »Er hat gerade noch mal angerufen«, sagte der Disponent. »Er meint, du sollst dich bei ihm melden. Und nicht erst morgen. Heute. Jetzt sofort.« Abe konnte nur vermuten, daß eine der Hochschulen ihn aufnehmen und ihm noch Bescheid geben wollte, bevor die Büros über Weihnachten geschlossen wurden. Er fragte sich, was Jamie dazu sagen würde. Wahrscheinlich nicht viel; sie hatten sich gegenseitig zu sehr verletzt. Früher hatte er gedacht, sie würden einen solchen Moment feiern. Aber die Zeiten waren vorbei. Abe wählte die Nummer, deren Vorwahl er nicht kannte. Eine weibliche Stimme meldete sich. Sie klang wie in einer billigen Fernsehshow. »U.S.U.S.-Expeditions«, sagte sie in einer Art Singsang. »Frohe Weihnachten.« Abes Vorfreude war wie weggeblasen. U.S.U.S.Expeditions? Das war keine Universität. Die verscherbelten irgend etwas: amerikanische Flaggen oder Abenteuerreisen oder was auch immer. Und sie verdarben ihm seinen freien Abend, nachdem sie bei seinen Kollegen herumgeschnüffelt hatten. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte die Frau. Abe war müde und ungeduldig und hätte beinahe aufgelegt. Doch dann beschloß er, die Leute zur Rede zu stellen. »Ja.« Er sprach in glattem, offiziellem Tonfall. Ein Trick von Anwälten. Er wollte ihre volle Aufmerksamkeit. Er wollte, daß sie Angst vor einem Prozeß bekamen oder ihm zumindest versprachen, ihn künftig in Ruhe zu lassen. 48
»Sagen Sie Peter Jorgens, er soll …« »Oh, einen Moment«, unterbrach sie ihn. »Pete kommt gerade herein. Sie können selbst mit ihm sprechen. Darf ich fragen, wer Sie sind?« Abe nannte ihr seinen Namen. Er sah auf die Uhr. Dreißig Sekunden. Das mußte reichen. »Burns?« dröhnte eine joviale Stimme. »Abraham Burns? Mann, hab ich ein Angebot für Sie!« »Ja, ich wollte Ihrer Sekretärin schon erklären …« »Meiner Frau«, sagte Jorgens. »Das war meine Frau. Sie hat’s Ihnen noch nicht gesagt, oder? Das will ich selbst machen.« Vierzig Sekunden waren vergangen. Abe wollte noch mindestens ein Schimpfwort loswerden, bevor er auflegte. »Hören Sie«, setzte er an. »Halten Sie sich gut fest. Es geht um eine Sache, bei der starke Männer schwach werden.« Die Worte sprudelten aus Jorgens heraus. »Selbst ein Bulle wie Sie.« Abe sagte »Leck mich am Arsch« und legte auf. Er kam bis in den Flur, dann klingelte es wieder. Es war Jorgens. »Lassen Sie mich doch wenigstens ausreden«, sagte er. »Was Sie auch verkaufen wollen …« »Nein, nein.« Jorgens’ Verzweiflung war hörbar. »Es geht nicht um eine Kostenbeteiligung. Unsere Kriegskasse ist gut gefüllt. Wir sind absolut flüssig. Es geht los. Und wir wollen, daß Sie mitkommen. Wir brauchen Sie.« Abe war über diese Hartnäckigkeit mehr verwirrt als verärgert. Dies war wohl das schlechteste Verkaufsgespräch aller Zeiten. »Machen Sie schnell«, knurrte Abe. »Sie sind unser Mann«, sagte Jorgens. »Ihr Kumpel 49
Corder meint das jedenfalls.« Der Name Corder kam Abe bekannt vor, doch er wußte nicht, woher. Er beschloß, das Gespräch zu beenden. »Hören Sie, Mister«, sagte er zu Jorgens. »Es ist Heiligabend, und Sie reden wirres Zeug.« Das half manchmal bei den Pennern in der Notaufnahme, die eine Entgiftung brauchten. Ein Augenblick der Bestimmtheit brachte sie manchmal auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Schreienden hörten auf zu schreien, die Durchgedrehten beruhigten sich. Doch Jorgens schien diese Taktik noch zu beflügeln. »Sie haben bestimmt von uns gehört«, verkündete er. »Die U.S.-Ultimate-Summit-Expedition? Das Nordwand’92-Team? Das sind wir. Wir kommen in der neuen Rolex-Werbung vor.« »Rolex-Werbung?« »Die mit dem Eiskletterer. Im Hintergrund …« Abe hatte keine Lust mehr. »Die Zeit ist um«, sagte er. »Rufen Sie mich nicht wieder an.« »Warten Sie!« rief Jorgens. Er klang schockiert. »Everest. Ich spreche vom Mount Everest.« Dieses Wort tat seine Wirkung. »Everest?« flüsterte Abe. Jetzt begann das Gespräch noch einmal von vorn. »Mein Gott.« Jorgens war erleichtert. »Ich dachte schon, wir hätten Sie verloren, bevor wir Sie überhaupt gewonnen haben.« Abe erkannte, daß Jorgens zu der unangenehmen Spezies gehörte, die über die Leute herfiel, um ihre Reaktionen zu testen. Vielleicht würde er beim nächsten Mal daran denken, daß hier der Schuß nach hinten losgegangen war. »Ich fange am besten ganz vorn an«, sagte Jorgens. »Sie 50
haben wirklich noch nie von uns gehört?« Sie waren ein amerikanisches Team, das den Mount Everest von der tibetischen Seite aus besteigen wollte. Vor drei Tagen war ihr Arzt bei einer Trainings-Bergtour abgestürzt und hatte sich einen Knöchel gebrochen, der schon vorher lädiert gewesen war. Kurz vor der Abreise nach Asien hatte die U.S.-Ultimate-Summit-Expedition, alias Everest-Nordwand 1992, plötzlich keinen Mediziner mehr. Keine große Expedition konnte es sich leisten, ohne Arzt zu reisen, jedenfalls nicht in ein entlegenes Land wie Tibet. Doch die Zeit war knapp. Der Abreisetermin war Anfang Februar. Auch mit einer Flut von Telefonaten hatte man in ganz Nordamerika keinen Arzt auftreiben können, der bereit war, achttausend Meter hoch zu klettern, einhundert Tage von zu Hause weg zu sein und schon in fünf Wochen loszufliegen. »Ich habe in den letzten drei Tagen Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Tag und Nacht«, sagte Jorgens. »Ich habe Krankenhäuser im ganzen Land angerufen. Ich habe sogar per Computer nach Medizinstudenten, Assistenzärzten und Sanitätern suchen lassen. Und es läuft jetzt alles auf Sie hinaus.« »Sie brauchen einen Doktor«, bemerkte Abe. »Einen richtigen Arzt. Keinen Sanitäter.« Er wollte nicht nur bescheiden sein, sondern schätzte medizinische Aufgaben realistisch ein. Derjenige, den sie mitnahmen, mußte ein wandelndes Krankenhaus sein und mit allem fertig werden: von tropischen Parasiten bis zu komplizierten Knochenbrüchen. »Wir haben ja Sie«, sagte Jorgens. »Ich bin noch nie im Himalaja gewesen.« So sehr er auch schreien wollte: Ja, ich bin dabei – diese Dinge mußten ausgesprochen werden. Falls er ungeeignet war, 51
wollte er das jetzt wissen, nicht auf irgendeinem Berg. Auch nicht nächste Woche. Wenn sie ihm diesen Traum zunichte machen mußten, wollte er es sofort hinter sich bringen. »Und Sie haben wenig Erfahrung im Eis«, sagte Jorgens. »Keine Sorge, ich habe mich erkundigt. Aber in felsigem Terrain sind Sie gut. Nicht überragend, aber gut. Außerdem suche ich keinen Ninja-Kämpfer, Mr. Burns. Wir brauchen nur einen guten Quacksalber, der in achttausend Meter Höhe noch Hausbesuche macht. Und das sind Sie.« »Was ist mit dem Berg?« Jorgens erläuterte ihm die Details. In den letzten zehn Jahren hatten sich drei verschiedene Teams an der Route versucht, einem vertikalen Schreckgespenst aus Fels und Eis namens Kore-Wand. Unter Bergsteigern war sie als sehr schwere Route bekannt, die schnurstracks zum Gipfel hinaufführte, eine Direttissima in der Mitte der gewaltigen Nordwand, 2750 Meter lang. Den ersten Versuch hatte 1984 ein Team gewagt, das mit Ausnahme eines Amerikaners nur aus Briten bestand. Nachdem sie sich bis auf 8200 Meter vorgekämpft und die meisten geologischen Hindernisse überwunden hatten, waren sie zu erschöpft gewesen und hatten aufgegeben. 1989 war die Hälfte einer neuseeländischen Expedition kurz vor dem Gipfel in einem Sturm verschwunden. Und im letzten Frühjahr waren zwei Japaner und ein Sherpa durch eine Lawine ums Leben gekommen. »Also steht’s drei zu null für die Kore-Wand«, schloß Jorgens. »Sie hatte schon viele Verehrer, aber wir werden sie entjungfern.« Abe mißtraute dieser Übertreibung. »Wie sieht’s mit anderen Routen aus?« fragte Abe. Er versuchte bereits, sich Alternativen für den Rückweg 52
vorzustellen, um verletzte Bergsteiger abzutransportieren, denn das würde seine Aufgabe sein. Doch Jorgens dachte, er spräche von anderen Routen für den Aufstieg. »Kein Interesse«, entgegnete Jorgens. »Es gibt auf der Nordseite noch drei andere Routen, aber das sind alles alte Hüte, besonders der Nordsattel. Ehrlich gesagt, unser Team ist einfach zu gut, um anderen was nachzumachen. Entweder die Kore-Wand oder gar nichts.« Wie die meisten Bergsteiger hatte Abe lange vom Everest geträumt, so abgedroschen und übertrieben das auch war. Der Berg hatte sich von zu vielen Menschen bezwingen lassen, um noch begehrenswert zu sein, und doch konnte man die Erinnerung an seine glorreiche Jungfräulichkeit nicht auslöschen. Abe hatte den großen Berg schon so lange besteigen wollen, daß der Gedanke daran ihn bereits besiegt hatte. Aber die Kore-Wand? »Vier von unserem Team sind schon in Katmandu. Der Rest bricht in vierunddreißig Tagen auf. Das sind fünf Wochen minus ein Tag«, erklärte Jorgens. »Schaffen Sie das?« »Ich könnte es versuchen«, antwortete Abe. »Heißt das, Sie willigen ein? Sie werden verstehen, daß ich Klarheit brauche. Sind Sie dabei, mein Sohn?« Abe erkannte ehemalige Soldaten sofort am Tonfall. In seiner Branche wimmelte es davon: Polizisten, Mediziner, Feuerwehrleute. Er hatte nichts gegen Hierarchien und den damit verbundenen Jargon, doch das Leben war zu kurz, um drei oder vier Monate lang in großer Höhe mit einem Oberbefehlshaber gegen den Lagerkoller anzukämpfen. Jorgens servierte ihm den Everest auf einem Silbertablett, und Abe wollte ihn haben. Doch eine innere Stimme sagte Abe, daß er diesem Mann jetzt lieber eine ausweichende Antwort geben sollte. Und so sagte er »vielleicht«, obwohl 53
er »ja« meinte. »Ich werde Sie zurückrufen müssen«, sagte Abe. Um der Sache Nachdruck zu verleihen und den chauvinistischen Jorgens zu reizen, fügte er hinzu: »Meine Frau hat das letzte Wort.« Dann legte er auf. Jamie war zwar nicht seine Frau, doch Abe dachte sich, daß das Wort »Freundin« bei einem Mann wie Jorgens nicht genug Eindruck machen würde. Abe hatte Jamie einmal einen Heiratsantrag gemacht, doch die Institution der Ehe schien nicht das richtige für sie zu sein. Sie war bereits einmal verheiratet gewesen, zu früh und mit dem falschen Mann. Sie hatte einen Jungen zur Welt gebracht. Ihr Mann war mit dem Kind verschwunden, und Jamie war in ein tiefes Loch gefallen. Abe hatte sie ein paar Jahre nach dieser Tragödie kennengelernt. Das schien jetzt sehr lange her zu sein. Als sie ihm ihre Geschichte zum erstenmal erzählt hatte, hatte Abe beschlossen, nie wieder mit ihr zu reden. Er zweifelte schon genug an seinem Beruf, ohne daß er ein Opfer zu seiner Geliebten machte. Doch ihre Augen waren wie schwarze Magnete. Und Abe spürte, daß er sich verliebt hatte. Es war eine dieser Krankenhaus-Affären: der Cowboy vom Rettungsdienst und der barmherzige Engel. Sie war Krankenschwester auf der Entbindungsstation, schmal und still wie eine Blume. Angesichts ihrer beider Zurückhaltung war es ein Wunder, daß sie jemals mehr als »hallo« zueinander gesagt hatten. An dem Tag, an dem sie in sein Reihenhaus mit der Dachluke über dem Bett eingezogen war, hatten sie eine Regel aufgestellt: keine Gespräche über den Beruf. Sie würde nicht über Geburten reden. Er würde nicht über den Tod sprechen. Wie sich herausstellte, lagen all ihre Probleme dazwischen. 54
Im Laufe der Jahre hatte Abe bei anderen professionellen Samaritern beobachtet, daß sie mehr und mehr ihrer eigenen Nächstenliebe mißtrauten. Bei Jamie versuchte er, die Zuwendung des Retters aus der Zuwendung des Liebenden herauszuhalten, doch er mußte erkennen, daß Jamie sowieso nicht mehr zu retten war. Jede Nacht half er ihr aufs neue, das verlorene Kind zu beerdigen. Jeden Morgen half er ihr, die Hoffnung für den neuen Tag auszugraben. Sie hatte die Angewohnheit, zusammengerollt in einer Embryonalhaltung zu schlafen, und manchmal weinte sie im Schlaf. Das Leben mit ihr war kein Zuckerschlecken. Sie hatten sich auseinandergelebt. Abe machte ihre Verlusterfahrungen dafür verantwortlich. Sie machte ihn verantwortlich. »Du bringst mich nie zum Lachen«, warf sie ihm vor. Er fragte sich, ob das stimmte. Er wollte, daß sie glücklich war, und das hatte er auch gesagt. Doch damit war noch nicht klar, was er für sich selbst wollte. Ein Leben ohne Katastrophen und Sirenen, soviel stand fest. Ein Leben ohne Lärm und ohne Verlust. Ein Teil von ihm glaubte, daß Jamie ihn ausgelaugt hatte. Jamie kam um halb sechs aus dem Krankenhaus. Sie war gereizt wegen eines neuen Chefs und wegen Gerüchten über eine Lohnkürzung. Abe ließ ihr ein paar Minuten Zeit, um sich auf der Couch zu entspannen. Dann erzählte er ihr die Neuigkeit vom Ultimate-Summit-Angebot. Sie nahm es gelassen auf. »Ich wäre für hundert Tage weg, vielleicht länger«, sagte Abe. »Du willst es doch unbedingt, nicht wahr?« Sie war so anständig, ihre Erleichterung zu unterdrücken. Dies war vielleicht der Abschied, auf den sie beide gewartet hatten. Es gab keine Tränen, und sie sagte nicht »verschwinde«. 55
Sie sagte: »Geh ruhig. Du brauchst das.« Abe war dankbar für ihre Sachlichkeit. Aus einem spontanen Impuls heraus wollte er ihr deutlich machen, wie wichtig dieser Berg für ihn war. »Ich weiß noch, ich war sieben Jahre alt, als die ersten Amerikaner, die den Mount Everest bestiegen hatten, im Weißen Haus zu Gast waren. John F. Kennedy stand im Rosengarten und empfing sie, als wären sie Astronauten. Ich sah es in der Zeitung, und meine Mutter schnitt das Foto aus und klebte es an die Kühlschranktür.« Abe hielt inne und blickte Jamie an, um zu sehen, ob sie sich für seine Erzählung interessierte. Sie wackelte mit den Zehen und fuhr sich mit ihren langen Fingern durch das schwarze Haar. Ihr Interesse schien sich in Grenzen zu halten. »Dieses Foto hing die ganze Woche an der Kühlschranktür, in Augenhöhe, und eine Woche lang stellte ich mir vor, wie es wohl dort oben sein müßte. Und dann kam mein Vater nach Hause. Du weißt ja, von der Bohrinsel, eine Woche Dienst, eine Woche frei.« Jetzt ergriff Jamie das Wort – vielleicht um seine Geschichte abzukürzen. »Und dein Dad hat dich auf den Schoß genommen und gesagt: ›Eines Tages, Abe, eines Tages.‹« »Nein«, entgegnete Abe. Sein Vater hatte ihm die Sternbilder gezeigt. Sie hatten auf dem Rücken gelegen und zwischen den Glühwürmchen in den Himmel geschaut. Und sein Vater hatte ihm beigebracht, wie man schnitzt, Feuer macht und den Kompaß liest. Doch mit all dem war es vorbei gewesen, als seinem Vater bei einem Unfall die Hand verstümmelt wurde. Danach hatte er nicht mehr in die Sterne geblickt. »Nein. Er nahm das Foto von der Kühlschranktür ab.« 56
Als er fertig war, sagte sie: »Ich bin traurig, Abe.« Abe schluckte. »Ich habe noch nicht zugesagt«, antwortete er. »Nein«, sagte sie. »Das meine ich nicht. Es ist nur … Ich erinnere mich, daß du früher öfter so geredet hast. Du warst aufgeregt. Lebendig.« Abe glaubte, sie wollte noch mehr hören, und er fuhr fort. »Ich könnte dir ein Fossil mitbringen«, sagte er. Er erzählte ihr, daß die Bergsteiger sich die Taschen mit den Meeresfossilien vollstopften, die sich um den Gipfel herum auf den Felsen befanden. Man ließ sich die Fossilien von Juwelieren zu Ohrringen und anderen Geschenken umarbeiten. »Du mußt es tun«, sagte sie. »Ich sage es jetzt zum zweiten Mal. Du solltest gehen und deinen Berg besteigen. Was soll ich denn noch sagen?« »Ich habe Angst, dich zu verlieren«, entgegnete Abe. So offen hatte er es eigentlich nicht sagen wollen. Es gab so viele Gründe für eine Trennung, doch sie hatten nie den Haß oder die Wut aufgebracht, um sie zu vollziehen. Es war seltsam, daß ein kalter, weitentfernter Felsbrocken diese Trennung nun logisch erscheinen ließ. Abe war den Tränen nahe und fühlte sich doch befreit. Jamie antwortete nicht, daß auch sie Angst hatte, ihn zu verlieren. Statt dessen sagte sie: »Ich habe auch Angst, daß du mich verlierst, Abe. Aber wenn du bleibst, änderst du nichts daran. Und wenn du gehst … Ich weiß es nicht. Oder vielleicht doch.« Sie brach ab. »Müssen wir das heute bereden?« Deutlicher hatte sie ihm ihre Version der Wahrheit noch nie gesagt: In den drei Jahren, in denen sie zusammen waren, war sie es gewesen, die ihn beschützt hatte. Abe 57
verstand, was Jamie meinte, und es bestürzte ihn, denn er hatte sich noch nie als schutzbedürftig gesehen. »Ruf den Mann zurück«, drängte Jamie. Sie beugte sich vor und küßte ihn. »Und lächle. Ich freue mich für dich.« »Ich muß noch eine Zwiebel kaufen«, erinnerte sich Abe. »Eine rote Zwiebel.« Er suchte nach Ausflüchten. Er brauchte noch Zeit zum Nachdenken. »Ich mach das schon«, sagte Jamie. Sie schien genug nachgedacht zu haben. »Du kannst ruhig telefonieren.« Abe wartete noch eine halbe Stunde, bis er in Seattle anrief. Inzwischen hatte Jorgens seine schroffe Selbstsicherheit wiedergewonnen. Er klang verärgert darüber, daß der neue Sanitäter des Teams ihm nicht gleich um den Hals fiel, doch Abe betrachtete dies nicht als Gefallen. Es war ein Job, und wenn es auch eine Chance war, so hatte er sie sich erarbeitet. Jorgens sagte: »Willkommen an Bord.« »Sagen Sie mir, was ich tun soll«, erwiderte Abe. »Haben Sie ein Faxgerät?« Abe hatte keines. »Mieten Sie sich gleich übermorgen eines. Sie haben einiges nachzuholen.« Abe verschwendete keine Zeit damit, begeistert zu sein. Er markierte die nächsten fünf Wochen in seinem Kalender und machte sich an die Arbeit. Er mußte sich gegen acht verschiedene Krankheiten impfen lassen, sich einen Paß besorgen, siebenunddreißig Bücher über Bergmedizin lesen und auswendig lernen, ein kleines Vermögen für seine persönliche Ausrüstung ausgeben und für die schwierigste Route zum höchsten Gipfel der Erde trainieren. 58
Abe hatte sich eine gewisse Sorgfalt bei der Vorbereitung neuer Aufgaben angewöhnt. Das betraf auch die Namen der Dinge. Er hatte immer angenommen, daß Kore das japanische, chinesische oder tibetische Wort für Norden war. Es klang orientalisch, und die Japaner hatten 1990 beim Versuch der Besteigung mehrere Opfer zu beklagen gehabt. Außerdem wurden die meisten Bergrouten ganz prosaisch nach ihrer geographischen Lage benannt: die Nordflanke, der Westgrat und so weiter. Doch Abe hatte sich geirrt. In einem Artikel über die neuseeländische Expedition vor drei Jahren fand er ein kurzes etymologisches Glossar. Kore war ein anderer Name für Persephone. Diese Göttin war von Pluto geraubt und in die kalte Dunkelheit gebracht worden. Sie wurde die Königin der Unterwelt und durfte nur für sechs Monate im Jahr an die Erdoberfläche, ins Sonnenlicht. Dies war ein passender Name für die Nordwand, die das Tageslicht nur zu Beginn des Frühlings erblickte. Dem Artikel zufolge hatte ein Bergsteiger der ersten britischen Expedition die Route so getauft. Gegen Ende seiner vierunddreißigtägigen, stürmischen Vorbereitungszeit bekam Abe ein zwei Pfund schweres Paket. Es war vom ehemaligen Arzt der Expedition zusammengestellt worden und enthielt detaillierte Krankengeschichten aller Teilnehmer. Abe wollte gerade das Haus verlassen und schnell ein paar Kilometer auf dem Mount Sanitas laufen, doch als das Paket kam, ließ er das Training sausen, zog die Schuhe aus und machte sich eine Kanne Kaffee. Nun bekam er einen ersten Eindruck von den Leuten, für deren Leben und Gesundheit er verantwortlich sein würde. In dem Paket befanden sich zehn Schnellhefter, an deren Umschlägen jeweils innen mit einer Büroklammer ein Paßfoto befestigt war. Abe machte eine Ecke des 59
Küchentischs frei und stapelte die Akten so, daß sie nicht herunterfallen konnten. Dann nahm er sich diese Leute vor, einen nach dem anderen, brachte die Fotos mit den Namen in Einklang (und mit den Telefonstimmen, bei den wenigen, mit denen er gesprochen hatte) und versuchte, aus ihren Augen, ihren Grübchen und Frisuren herauszulesen, was für Seelen in diesen Körpern steckten. Er starrte ihre Fotos an und versuchte sich vorzustellen, wie sie lachen und weinen würden und ob sie das überhaupt tun würden. Dann ließ er die Äußerlichkeiten beiseite, blickte in ihre Körper und übersetzte die Krankengeschichten in provisorische Biographien. Dabei fand er hier und da Knochenbrüche, eine fehlende Schilddrüse, drei Abtreibungen, einmal Herzgeräusche, einen Fall von Diabetes und die versteckt erwähnten Geschlechtskrankheiten. Ihr seid meine Schäfchen, dachte Abe in seiner Küche. Ihre Verwundbarkeit war offensichtlich. Unter ihren Muskeln, ihren gebräunten Gesichtern, ihren ehrgeizig lächelnden Mündern und ihren hochfliegenden Träumen waren diese Adler auch nur Menschen, und sie würden ihn brauchen. In dem Stapel von Mappen verbarg sich nur eine Überraschung. Sie befand sich in der vorletzten Akte. Abe öffnete sie so gleichgültig, wie er die anderen geöffnet hatte, und blickte nicht einmal auf den Namen, sondern nur auf das Foto. Es war Daniel. Abe hatte Daniel seit diesem einen Mal vor siebzehn langen Jahren nicht mehr gesehen. Ungläubig sah er sich das Foto genauer an. Es waren dieselben schwarzen, irischen Augenbrauen, dieselben Lazarus-Augen, dieselben Wangenknochen und dieselben humorlosen Lachfalten. Aus dem Jungen war ein Mann geworden. 60
Seine Gesichtszüge waren jetzt ernster, doch die Wildheit war immer noch erkennbar. Natürlich waren die Haare nicht mehr blutverschmiert, und das Leben hatte seine Stirn gezeichnet. »Corder, D. W«, las Abe laut aus der Akte vor, um sich Gewißheit zu verschaffen. Er legte die aufgeschlagene Mappe auf den Stapel zurück. Ein paar Minuten lang saß Abe da und war überwältigt von diesem Zufall, dann verstand er: Es verband ihn etwas mit diesem Mann, also war es klar, daß sie sich früher oder später begegnen würden: im Supermarkt an der Kasse, irgendwo auf der Straße oder beim Bergsteigen. Es war lediglich überraschend, daß sie sich nicht schon früher getroffen hatten. Dann erinnerte er sich, was Jorgens bei ihrem ersten Telefonat gesagt hatte: Ihr Kumpel Corder meint das jedenfalls. Das also war Corder. Sie sind unser Mann. Eine Zeitlang hatte Abe glauben wollen, daß Daniel und er durch dasselbe Ereignis verwaist waren, daß sie durch einen gemeinsamen Verlust miteinander verbunden waren. Doch das war nur seine Art gewesen, das Ereignis nicht für sich selbst sprechen zu lassen. Diese Aufgabe hatte er bequemerweise Daniel überlassen, seinem Zwilling. Nach einer Weile hatte Abe sich dieser imaginären Seelenverwandtschaft entledigt. Zum einen war sie zu bizarr, und zum anderen hatte Abe die Hände von zu vielen Patienten gehalten, die in Angst und Schmerzen mit derselben Verwirrung wie er selbst über den herabstürzenden Felsbrocken, das Auto, die Pistolenkugel oder den Krebs phantasiert hatten. Er konnte sich nicht einreden, daß der Tod einen Sinn hatte. Daniel und er hatten mit einem Gespenst gesprochen, doch das mußte nicht heißen, daß sie für den Rest ihres 61
Lebens davon verfolgt wurden. Abe für seinen Teil hatte einen Schlußstrich unter die Angelegenheit gezogen. Nachdem er sich von seinem Martyrium erholt hatte, hatte er die schicksalhafte Bergkette in Wyoming gemieden und nicht einmal den Namen von Daniels Berg erfahren. Abe hatte mit der Sache abgeschlossen. Er hatte die Stimme in der Gletscherspalte unter dem Alltag von siebzehn Jahren begraben. Doch nun war Daniel wieder da. Abe fragte sich, warum Daniel sich nach so vielen Jahren an ihn erinnerte. War diese Expedition eine Art Wiedergutmachung? Oder spukte die Erinnerung in Daniels Kopf herum? Oder war er nur neugierig auf die Geschichte vom langsamen Ende des Mädchens? Abe nahm die Mappe vorsichtig in die Hand, als würde er in seine eigene Privatsphäre eindringen. Daniels Krankengeschichte las sich wie die Ode eines Masochisten an die Wildnis. Der ehemalige Teamarzt hatte Daniels Verletzungen in umgekehrter chronologischer Reihenfolge aufgelistet, wie einen Lebenslauf. Abe überflog die Liste und konnte sich so ein Bild von Daniels Geschichte machen. Vor acht Jahren hatte Daniel nacheinander an beiden Knien arthroskopische Operationen vornehmen lassen, da die Menisken durch jahrelanges Herumschleppen schwerer Lasten von hohen Bergen beschädigt waren. Und im Jahr zuvor hatte er drei Wochen im Krankenhaus verbracht, weil er sich in Neuguinea mit Malaria infiziert hatte. Etwa zur selben Zeit hatten die Chirurgen sein Rückgrat operiert, nachdem er gestürzt war und sich mehrere Wirbel gebrochen hatte. Eine Notiz besagte, daß Daniel ein TENS-Gerät mitbringen würde, einen tragbaren, 62
batteriebetriebenen Apparat, der mit Elektrizität chronische, lokal begrenzte Schmerzen unterdrückte. Um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, hatten die Chirurgen bei derselben Gelegenheit die Nerven in Daniels Zehen durchtrennt, um die Schmerzen seines Morton-Neuroms zu beseitigen. Viele Bergsteiger trugen so enge Schuhe, daß sie manchmal Hammerzehen entwickelten, ähnlich den Auswirkungen des chinesischen Fußbindens. Doch das war zu der Zeit, als Daniel noch Zehen hatte. Die Akte besagte, daß Daniel 1984 mehrere Monate im Krankenhaus verbracht hatte, da ihm aufgrund von Erfrierungen alle Zehen ganz oder teilweise amputiert werden mußten. Abe suchte in der Mappe und fand einen Bericht über die langwierigen, qualvollen Versuche zur Rettung der verletzten Zehen. Abe blätterte zur ersten Seite zurück und fand das, was er suchte: Daniel hatte sich die Erfrierungen auf dem Everest zugezogen, in Tibet, auf der Nordseite, im Jahre 1983. »Du also«, flüsterte Abe in die Akte hinein. Jetzt erinnerte er sich an die Geschichte der Expedition, bestehend aus fünf Briten und einem Amerikaner, die als erste die Kore-Wand in Angriff genommen hatten. Kurz vor Erreichen des Gipfelhangs waren sie von einem Wintersturm überrascht worden. Es hatte zwar keine Toten gegeben, doch der qualvolle Abstieg der Gruppe war als Marsch der Aussätzigen bekanntgeworden. Die amerikanischen Medien hatten ihn komplett ignoriert (sie nahmen bergsteigerische Erfolge kaum zur Kenntnisse, und Mißerfolge erst recht nicht), doch unter Alpinisten hatte die Geschichte die Runde gemacht. Auf dem beschwerlichen Rückweg in ein tibetisches Dorf im Tal hatten alle Teilnehmer der Expedition schwere Erfrierungen erlitten. Jeder hatte Zehen verloren, drei von 63
ihnen hatten Finger eingebüßt, und einem mußten die Unterschenkel teilweise amputiert werden. Danach, so erzählte man sich, hatten alle das Bergsteigen aufgegeben. Alle, außer einem. Nun wußte Abe: Dieser eine war Daniel. Ernüchtert – fast schon angewidert – wandte Abe seine Gedanken von dieser Geschichte ab und las Daniels lange Liste von Verletzungen und Krankheiten zu Ende. Mit dem Grad der gesundheitlichen Beeinträchtigungen ging es auf und ab, und Abe mußte sich ins Gedächtnis rufen, daß dies die Krankenakte eines einzigen Mannes war, nicht die eines ganzen Lazaretts. Im vorigen Jahr hatte man Daniel wegen eines weiteren Problems operieren müssen, das unter Extrembergsteigern verbreitet war: Sehnenentzündung in den Ellbogen. Die Ärzte hatten die Sehnen in beiden Armen zerteilt, das vernarbte Gewebe entfernt und den Ellen-Nerv von seiner ursprünglichen Position auf die andere Seite des Ellbogens verlegt. Abe konnte sich die halbmondförmigen Narben vorstellen, die Daniel in den Armbeugen haben mußte. Außerdem waren da eine beidseitige Lungenentzündung 1984, tropische Parasiten 1982 und 1979, die Wiederherstellung der linken Schulter 1983, Tollwutimpfungen wegen eines Hundebisses in Rawalpindi (Pakistan) 1980 sowie ein Spiralbruch des rechten Schienbeins 1977. Die Liste ging noch weiter. Es war grotesk. Bei einer normalen Sportart wäre Abe über Daniels endloses Leiden und die zwanghafte Hartnäckigkeit deprimiert gewesen. Doch dies faszinierte ihn. Hier sah er die Besessenheit, die er immer mit dem Bergsteigen im Himalaja assoziiert hatte, und er fand sie hier in Fleisch und Blut. Die anderen Teilnehmer mochten ebenso leidenschaftlich engagiert sein, doch nur hier sah Abe den Beweis für eine Seele, die 64
von Dämonen besessen war. Nun wußte er, welcher Teilnehmer der britischen Expedition die Route nach einer Frau benannt hatte, die in der Unterwelt gefangen war.
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2. KAPITEL
Der Aufbruch – 1992 Abe wachte im Morgengrauen an der tibetischen Grenze auf, unter der Achse eines Lastwagens flach auf dem Rücken liegend. Sie waren spät aus Katmandu aufgebrochen und hatten die Grenze zu spät erreicht, um sie noch passieren zu können, also hatten die Bergsteiger dort geschlafen, wo sie konnten: auf einem der großen indischen Tata-LKWs, oder auch darunter. Abe zog sich an einem der abgenutzten schwarzen Reifen unter dem Lastwagen hervor und schaute sich blinzelnd um, wie das Grenzgebiet bei Tageslicht aussah. Er war auf eine Landschaft der Gegensätze gefaßt gewesen; auf einen Ort, wo zwei Kontinentalplatten um die Vorherrschaft kämpften. Worauf er nicht gefaßt war, war dies: eine einzige Brücke, eingekeilt in eine smaragdgrüne, achthundert Meter tiefe Schlucht. Auf beiden Seiten schrien Affen in den Bäumen, und dreihundert Meter hohe Wasserfälle ergossen sich über die Wände, die mit Rhododendren und Kiefern bedeckt waren. Sie hatten sechs Tage in Katmandu verbracht. Der Jetlag hatte sie hektisch gemacht, und sie hatten sich beeilt, auf dem Basar Lebensmittelvorräte einzukaufen und die Expedition mit Secondhand-Gerätschaften aus Trekkingshops und von anderen Teams auszurüsten. Daniel war mit seiner Partnerin Gus schon nach Tibet aufgebrochen, um den Papierkrieg zu erledigen und einen Platz für das Basislager am Everest auszusuchen. Abe war froh darüber. 66
Für den Moment hatte er genug damit zu tun, sich an die fremden Teamkollegen und das fremde Land zu gewöhnen. Seit dem Augenblick der Landung war Abe hingerissen. Katmandu war ein heilloses Durcheinander verschiedener Jahrhunderte. Stromleitungen führten an dreizehnstöckigen Tempeln entlang. Honda-Motorräder bahnten sich ihren Weg vorbei an heiligen Kühen. Altertümliche Gottheiten aus Stein schauten aus Backsteinwänden hervor oder ragten aus Löchern im Asphalt heraus. Die Epochen überlagerten sich hier, und Abes Seele konnte sich dem nicht entziehen. Er spürte, daß Asien ihn mehr und mehr in sich hineinzog. Gestern waren sie in einen Kleinbus gestiegen; die TataLastwagen und die Stadt waren der offenen Landschaft und schließlich den Bergen gewichen. Die grünen und roten Hügel mit ihren schläfrigen Rindern und terrassenförmigen Feldern waren vorbeigezogen. Aus der Schnellstraße von Katmandu war ein einfacher Feldweg geworden, der sich an einem weißen Fluß entlangschlängelte. Hoch oben in der Ferne, in den morgendlichen Sonnenstrahlen, lag ein tibetisches Dorf, eingebettet in Felsen und Wolken. Hier unten war die Luft warm und stickig und erfüllt von näselnden, kindlichen Liedern aus dem Radio eines Ladenbesitzers. Jeder Atemzug schmeckte nach Diesel und dem Reis mit Linsen von gestern abend. Doch dort in der Höhe, hoch oben in Tibet, schien es kühl, fern und friedlich zu sein. Jemand stellte sich hinter Abe und zeigte auf das in der Ferne schwebende Dorf. Es war Jorgens; Abe erkannte ihn an der Hand: eckig und geädert wie die eines Bergarbeiters, mit grober, verwitterter Haut. Außerdem besaß nur Jorgens die Unbefangenheit, herumzulaufen und anderen auf den Rücken zu klopfen oder den Arm auf die Schulter zu legen. Die meisten aus dem Team schlichen 67
noch vorsichtig umeinander herum und versuchten, Aggressionen oder Herrschaftsansprüche zu wittern wie Wölfe in einem Rudel. In einem Anfall von Herzlichkeit auf dem Flughafen von Katmandu hatte Jorgens sogar »Kinder« zu ihnen gesagt und damit seinen Wunsch offenbart, daß sie alle eine große Familie bilden sollten. Abe drehte sich so weit um, daß er den für Ex-Marines typischen Bürstenschnitt und die klobige Hornbrille erkennen konnte. »Frühstück«, brummte Jorgens. Dann ging er weiter, um die anderen Bergsteiger aus ihren Ecken und Winkeln am Straßenrand zu holen. Abe beobachtete, wie sie sich vom Boden erhoben. Sie hatten Blätter im Haar und dunkle Schatten unter den Augen. Diejenigen, die unter den LKWs geschlafen hatten, hatten Ölflecke auf der Kleidung, und auch Abe bemerkte jetzt einen schmierigen Streifen auf seiner Jacke. Die Hälfte seiner Kameraden humpelte aufgrund von alten Sportverletzungen oder Sehnenentzündungen, die sie sich beim Training für diese Expedition zugezogen hatten. Sie sahen nicht gerade aus wie Weltklasse-Athleten, die darauf aus waren, den höchsten Berg der Erde zu bezwingen. Die chinesische Genehmigung wies sie als Mitglieder der U.S. Ultimate Summit Expedition zur Nordwand des Qomolangma (oder Everest) aus. Doch einer der Bergsteiger – wahrscheinlich Robby, mit seinem losen Mundwerk, oder Thomas, in einem Anfall hilfloser Selbstironie – hatte das Team als Yeti bezeichnet, und der Name blieb haften. Dieser Yeti hatte fünfzehn Hoden, vier Brüste und »neun Gehirne zuviel« und war damit bestens für die Berge gerüstet. Einschließlich Flugkosten, Ausrüstung, Gebühren und Bestechungsgeldern kostete es beinahe eine halbe Million Dollar, dieses Monster zusammenzuschustern. Seine Lebenserwartung betrug 68
hundert Tage, doch im Moment, nach einer einzigen Nacht im Freien, sah das Team schon ziemlich tot aus. Sie humpelten über die Brücke der Freundschaft, die die Grenze überspannte. Die gesamte Ausrüstung wurde hier abgeladen und dann wieder auf chinesische Lastwagen aufgeladen, die man zu astronomischen Preisen von der Regierung mieten mußte. Und weil die Straße zum Dorf teilweise in schlechtem Zustand war, fiel der gecharterte Bus aus, mit dem die Bergsteiger nach oben fahren wollten. Wenn sie frühstücken wollten, mußten sie also zu Fuß gehen. Auf der anderen Seite der Brücke wurde die Expedition von vier Soldaten der Volksbefreiungsarmee erwartet. Ihre erbsengrünen Uniformjacken hatten sie aufgeknöpft, und ihre Wangen hatten die Farbe von Radieschen. Sie beobachteten humorlos, wie mehrere Bergsteiger auf der Grenzlinie hin und her hüpften und sich dabei gegenseitig fotografierten. Nach einem einstündigen Marsch erreichten die hungrigen Bergsteiger das Dorf und gingen vorbei an Hütten aus leuchtendhellem Kiefernholz, das mit Tau getränkt war. Ein Wasserfall ergoß sich unterhalb der Straße und schoß hundert Meter weit in die Tiefe. Die Gruppe erreichte einen Betonbogen, an dem die Zollabfertigung begann, und über ihnen wehte eine feuerrote chinesische Flagge in der Bergluft. Abe atmete den Traum tief ein. Großgewachsene tibetische Mischlinge mit goldenen Zähnen und weißen Baumwollhandschuhen fuhren das Team von der Schlucht auf das Hochplateau, wo sie die »Neue Seidenstraße« erreichten: eine zweispurige, planierte Straße, die von China bis nach Pakistan führte. 69
Abe erwartete auf dieser alten Handelsstraße Reichtümer und vergessene Städte. Doch hinter jeder Kurve kamen nur noch mehr Berge und noch mehr Leere zum Vorschein. Carlos Crowell nannte sie »eine Kriegsstraße«. Er und Abe saßen nebeneinander auf der mit Segeltuch ausgeschlagenen Ladefläche eines Lastwagens. Carlos erklärte, daß die Volksrepublik über diese Straße ihre Besatzungstruppen bewegte und Tibet sowohl mit Reis als auch mit Atomwaffen versorgte. Und andere Dinge flossen über diese Straße zurück nach China: landwirtschaftliche Produkte, Bodenschätze und das, was von Tibets Wäldern noch übrig war. »Sie haben das Land geplündert«, sagte Carlos. Schon das Aufzählen der Fakten deprimierte ihn, denn er fühlte sich Tibet und der ganzen Dritten Welt besonders verbunden. Er war zum vierten Mal hier. Der spindeldürre Carlos war früher Helfer der UNFriedenstruppen gewesen, hatte vor zehn Jahren in Ruanda Dienst getan und war dann hinduistischer Teilzeit-Bettler und Ladenbesitzer geworden. Er sprach gerade so viele Brocken asiatischen Slang, daß sich jeder fragte, wie gut er sich damit wirklich auskannte. Ein Teil seiner Kostümierung bestand in den neuen roten Puja-Bändern an seinem Handgelenk. Sie stammten von einer Zeremonie, die er für sich in Katmandu arrangiert hatte. An seinem Hals baumelte ein türkisfarbener Zylinder aus seinem New-Age-Laden in Eugene, und sein dünner Pferdeschwanz gab den Blick auf zwei kleine goldene Ohrringe frei. Die meisten anderen Mitglieder des Teams betrachteten Carlos’ anschauliche Schilderungen des Völkermordes, den China in Tibet beging, eher als Horrorgeschichten, nicht als Tatsachen. Die Erzählungen waren unwirklich 70
und schauerlich, und niemand schenkte ihnen große Beachtung – außer Jorgens, der Carlos geraten hatte, den Mund zu halten, sobald sie die Grenze überquerten. Doch Carlos erfreute Abe mit weiteren Einzelheiten, während sie dahinfuhren: »Über eine Million Tibeter sind seit 1959 abgekratzt. Das heißt, jeder sechste Einwohner ist verhungert oder wurde erschossen, erstochen, verbrannt, gekreuzigt oder mit Eisenstangen zu Tode geprügelt. Das ist Besatzung auf die chinesische Art.« Seine Behauptungen waren furchtbar, doch das Land war zu öde und leer, um sich ein solches Blutvergießen vorzustellen. Zumindest türmten sich keine Leichen am Straßenrand. Abe sprach diesen Gedanken aus, um seinen Anteil zum Gespräch beizutragen. »O doch, es gibt Massengräber. Die sind mehrere Hektar groß. Ich hab sie noch nicht gefunden, aber ich suche weiter. Berge von Schädeln mit jeweils einem Einschußloch.« Sie schafften es, für eine Weile zu schweigen. Dann lehnte Carlos sich zu Abe herüber. »Ich hätte gar nicht wieder herkommen sollen«, sagte er. Abe hatte keine Ahnung, was er meinte, doch es klang so egozentrisch, daß es typisch war für Carlos. »Nach Tibet?« fragte Abe. »Zum Everest«, erwiderte Carlos. »Da sind wir wieder. Wir mieten den Berg von einem Regime, dem er gar nicht gehört. Wir lassen uns mit Menschenschlächtern ein.« »Aber wir wollen doch nur klettern«, sagte Abe. »Ja, ja. Die Platte kenn ich schon. Die ganze Welt ist ein Spielplatz für uns Bergsteiger. Das Problem ist: Jedesmal wenn einer von uns hier klettert, kriechen wir den Chinesen in den Arsch.« 71
»Also, davon weiß ich nichts.« »Ist schon gut. Du bist naiv«, sagte Carlos, doch es war nicht als Beleidigung gemeint. »Du weißt nicht, was hier abgeht. Ich schon.« »Naivität ist eine Gnade«, sagte Abe, um sich herauszuwinden. Carlos schüttelte verbittert den Kopf. »Mag sein. Aber eines steht fest: Mitwisserschaft ist auch Mittäterschaft.« Für den Rest des Tages verteilte der Konvoi aus drei Armeelastwagen riesige Staubwolken über dem Land. Das Plateau war verödet. Die Landschaft war flach wie ein Ölfeld in Wyoming – nur im Süden nicht. Auf der rechten Seite erstreckte sich der Himalaja über den ganzen Horizont, steil und gewaltig. Im Gegensatz zur nepalesischen Seite der Bergkette mit ihren Hügeln, Wäldern und Reisfeldern fehlten hier die Ausläufer des Gebirges. Abe konnte es nicht fassen. Es gab keinen Übergang zwischen den Extremen. Menschen – selbst Tiere und Pflanzen – waren fast schon eine Sensation. Einmal streckte Carlos den Arm aus. »Sieh dir das mal an«, sagte er. Drei streng und finster dreinblickende Reiter kamen ihnen entgegen. Zwei von ihnen trugen australisch aussehende Cowboyhüte, der dritte eine Pelzmütze. Einer hatte ein Gewehr mit einem Doppelbajonett aus langen Tierhörnern bei sich. »Das sind Khambas«, sagte Carlos. »Irgendwann hat die CIA mal ein paar von den Typen als Guerillas ausgebildet.« Abe zögerte. Selbst wenn Carlos im Ernst sprach, klang es noch so, als wollte er einen auf den Arm nehmen. »Nein, wirklich, Mann. Sie haben Typen wie diese in die 72
Rocky Mountains gebracht, in ein altes Army-Camp in Colorado. Sie haben sie ausgebildet, bewaffnet und sie von Nepal aus angreifen lassen. Die haben Straßen in die Luft gejagt und Konvois oder Vorposten attackiert. Aber du weißt ja, wie so was läuft. Nach einer Weile hat die CIA den Stecker rausgezogen. Die Geheimdienste bezeichnen solche Leute als ›Pappbecher‹. Einmal benutzen und wegschmeißen.« Die Reiter trugen lange Tressen mit roten Schnüren. Keiner von ihnen würdigte den LKW-Konvoi auch nur eines Blickes. Abe griff nach seinem Fotoapparat, doch da waren sie schon weg. Die Expedition erreichte um siebzehn Uhr ein kaltes, kleines Dorf namens Shekar und fuhr zu einer Unterkunft aus Beton, die vom Chinesischen Bergsteigerverband zur Verfügung gestellt wurde. Das Dorf lag 3350 Meter hoch. Der chinesische Verbindungsoffizier, der für die Dauer ihres Aufenthalts im Land ihr Aufseher war, empfing die Bergsteiger mit einem Lächeln. »Das ist einer von den Schlächtern«, murmelte Carlos. »Wir gehören jetzt zu ihm.« Der Verbindungsoffizier trug eine neue, gelbe Windjacke mit der Aufschrift ULTIMATE SUMMIT auf dem Rücken und auf dem Ärmel, daher war er leicht zu erkennen. »Willkommen in unserem Land«, begrüßte er sie. Sein Name war Li Deng. Er war groß und gebildet – ein Apparatschik aus Peking. Er sprach ausgezeichnetes Englisch mit britischem Akzent und bekleidete eine hohe Funktion im Chinesischen Bergsteigerverband, der direkt der Regierung unterstand. Mit seinen brandneuen, sauberen Basketballschuhen mit Luftpolster und der hundert Dollar teuren Revo-Sonnenbrille – alles von der Expedition zur Verfügung gestellt – sah er nicht sehr marxistisch oder völkermordend aus. 73
Es gab keine Heizung in den Zimmern, und die einzige Lichtquelle waren nackte Glühbirnen, die an nicht isolierten Drähten hingen. Auf Abes Bett lag eine grobe Decke. Es fehlten nur noch die Gitterstäbe, dann wären die Zimmer perfekte Gefängniszellen gewesen. Die Chinesen verlangten über hundert Dollar pro Person für die Unterkunft, doch es beklagte sich niemand, denn dies war der Preis, den man für das Bergsteigen in Tibet bezahlen mußte. Abe stand am Fenster. Auf dem Hof wurde es langsam dunkel, und Abe zitterte, denn er war nicht an die beißende Kälte des Gebirges gewöhnt. Sein Zimmergenosse für heute nacht war Robby, ein sehniger Tischler mit verwahrloster Frisur, die einmal ein Bürstenschnitt gewesen war. Er hatte sich auf seiner Decke ausgestreckt und palaverte darüber, daß er 1987 auf dem Weg zu einem anderen Berg, dem Shisha Pangma, schon einmal in dieser armseligen Unterkunft übernachtet hatte. Er stellte den Aufenthalt hier auf eine Stufe mit Blutspenden und Schwimmen im Meer – er hatte Angst vor Spritzen und Haien. Im Spiegelbild der Fensterscheibe sah Abe, wie Robby sich auf dem Bett aufrichtete. Die Glühbirne tauchte seine Augenhöhlen in einen dunklen Schatten, und es war keine Heiterkeit in seinem Gesicht. Sein Prärie-Dialekt verschluckte jeglichen Humor. Wieder eine schlechte Pointe. Er schien in seinem eigenen Monolog gefangen zu sein. Abe hatte Kopfschmerzen. Ihm war nicht nach Konversation zumute, doch er konnte Robby nicht schon am Anfang der Expedition sagen, er solle den Mund halten, also stand er einfach auf, schaltete auf Durchzug und blickte in den Hof hinunter. Ein schwarzer, narbiger Köter schlich dort herum, einen Steinwurf entfernt von 74
einer Horde zerlumpter Kinder. Dahinter wirbelte der berüchtigte tibetische Wind Staubwolken auf, die zwar den Blick auf die nähere Umgebung versperrten, nicht aber auf den Himalaja. Abe drückte die Fingerspitzen auf das staubige chinesische Glas und dachte über die gespenstische Szenerie nach. Dort draußen gab es Geheimnisse, und das war ihm recht. Geistesabwesend begann Abe, die Silhouette der Berge auf der kalten Scheibe nachzuzeichnen. Einen Augenblick später bemerkte er die sinnlose Linie und hörte sofort auf. Sie sah genauso aus wie die grafische Darstellung von Hirnströmen bei einem EEG. Abe nahm seinen Finger von der Scheibe, bevor die Linie am Horizont abflachte und ärgerte sich dann über seinen Aberglauben. Doch diese Primitivität war verzeihlich. Sie alle litten schon unter Sauerstoffmangel. Abe spürte es. Durch die medizinische Literatur, in die er sich vertieft hatte, meinte Abe, sich gut mit den Auswirkungen der Höhenluft auszukennen. Trotzdem war er überrascht, schon jetzt die bläuliche Färbung unter seinen Fingernägeln zu sehen. Von nun an würden die Bergsteiger sich ständig in einem Zustand der Hypoxie, des Sauerstoffmangels, befinden. Eigentlich war der Sauerstoffanteil der Luft hier und auf dem Gipfel des Everest genausogroß wie auf Meereshöhe. Unterschiedlich war nur der Luftdruck, der benötigt wurde, um den Sauerstoff von den Lungen in die Blutbahn zu befördern. Sie würden also mehr Luft einatmen müssen. Ihre Körper würden mehr rote Blutkörperchen produzieren, um den Sauerstoff zu transportieren. Ihr Blut würde dicker werden, beinahe sirupartig, und ihre Herzen würden mehr Arbeit verrichten müssen. Selbst bei den jüngsten und gesündesten Bergsteigern würde bald das Risiko des Herzversagens 75
steigen. Die übliche Definition von Gesundheit würde hinfällig werden. Und ab einer Höhe von etwa 6700 Metern würden ihre Körper langsam absterben. Abe hatte seinem Intensivkurs in Höhenmedizin eine poetische Seite abgewonnen. Es stellte sich heraus, daß sogar bei Menschen mit einer genetischen Widerstandsfähigkeit gegenüber der Höhenluft, zum Beispiel Sherpas oder peruanischen Grubenarbeitern, im Mutterleib Bedingungen wie auf Meereshöhe herrschten. Ein Neugeborenes mußte sich akklimatisieren wie ein Bergsteiger, und Bergsteiger mußten sich akklimatisieren wie Neugeborene. Trotz aller zerklüfteten Konturen bot die Welt in großer Höhe jedem die gleichen Bedingungen. Abe versuchte einige der fernen Gipfel auszumachen, doch ohne Erfolg. Im Laufe der Jahre hatte er sich die Umrisse von Mount Everest, Lhotse, Makalu, Cho Oyu und anderen Gipfeln eingeprägt, ohne darüber nachzudenken, daß alle Fotos die Berge von der nepalesischen Seite zeigten. Hier in Tibet waren die Umrisse nicht nur spiegelverkehrt, sondern auch noch verzerrt. Als Abe fragte, welcher Gipfel denn wo sei, antwortete Robby: »Vergiß es. Wir sind am anderen Ende der Welt. Unsere Etiketten zählen hier nicht.« Doch dann ging er zu Abe ans Fenster, deutete auf verschiedene Berge und nannte die Namen. Doch auch mit Robbys Hilfe wurde das Gebirge für Abe nicht vertrauter, und diese Tatsache ließ es noch fremder erscheinen. »Und das ist ›Big E‹«, sagte Robby und zeigte auf eine kleine, dreieckige Erhebung im Süden. »Wie bitte?« Abe hatte nicht zugehört. »Du weißt schon, Big E, der Weiße Riese«, fachsimpelte Robby. »Jomolungma, die Mutter der Erde. Der Berg.« 76
Abe nickte: Mount Everest. Von hier aus sah er sehr klein aus. »Ich wünschte, wir wären schon da«, sagte Robby. »Daniel ist schon seit einer Woche dort, dreht Däumchen und hängt mit Gus rum. Der hat vielleicht ein Glück.« »Daniel?« fragte Abe. »Ich finde eigentlich nicht, daß er Glück hat. Im Gegenteil.« Abe hatte sich fest vorgenommen, vor der Begegnung mit Daniel nicht am allgemeinen Tratsch teilzunehmen. Doch nun fing der Klatsch an, und er konnte ihm schlecht ausweichen. »Der soll kein Glück haben? Hör auf!« Abe blieb unverbindlich. »Versteh mich nicht falsch«, sagte er. »Ich kenne Daniel nicht. Aber der Mann hat keine Zehen mehr. Er hat Knochenbrüche und schwere Stürze hinter sich. Und er hat sich schon x-mal am Everest versucht und noch nie den Gipfel erreicht.« Und er mußte mit ansehen, wie seine junge Verlobte bei lebendigem Leib in einem Berg begraben wurde, hätte Abe beinahe hinzugefügt. Soviel er wußte, kannte niemand im Team den Alptraum, der ihn mit Daniel verband. »Ja«, stimmte Robby zu, »aber er lebt noch.« Seine Augenbrauen zuckten wie elektrisiert. »Das ist immerhin etwas«, räumte Abe ein. »Ich würde jederzeit mit ihm tauschen. Weißt du, was er beruflich macht?« Abe wußte es nicht. »Er ist Versuchskaninchen für Hersteller von Bergsteigerausrüstung. Technischer Berater. Er muß das neue Spielzeug ausprobieren. Der klettert rund um die Uhr. Und nicht etwa an schäbigen kleinen Felsen im Hinterhof. Daniel macht die anspruchsvollen Sachen. Sie schicken ihn auf der ganzen Welt herum, damit er die 77
schwierigsten Hänge auf den größten Bergen besteigt. Die bezahlen ihm alle Unkosten. Sauerstoff, Material, Verpflegung – alles gratis. Und überall, wo er hingeht, da geht auch Gus hin. Das ist ja wohl nicht schlecht. Also, Doc, alles in allem würde ich gerne ein paar Zehen hergeben, wenn ich mit Daniel tauschen könnte.« Das Abendessen – graue, gummiartige Klöße – wurde in einem höhlenförmigen Speisesaal eingenommen. Er war für einen westlichen Touristen-Ansturm ausgelegt, den es nicht gab, erst recht nicht angesichts des Kriegsrechts. Der Raum war ungeheizt und zugig. Jeder spürte die Höhenluft, deshalb war das Essen schnell vorbei. Jorgens erinnerte daran, daß chinesische Briefmarken gekauft werden mußten, um die fünfhundert Postkarten der Expedition zu frankieren, die noch von jedem Teilnehmer signiert werden sollten. Die Karten würde man dann vom Basislager an die Spender schicken, von denen jeder zehn Dollar beigesteuert hatte. Das war die übliche Art, Geld aufzutreiben. Stump, der breitschultrige stellvertretende Leiter, versprach, die Briefmarken am Morgen zu beschaffen. Dann rückten alle mit den Stühlen vom Tisch ab, um ins Bett zu gehen, doch Li hielt sie zurück, weil er einen Trinkspruch ausbringen wollte. Li erklärte, daß er bisher weder auf einen Berg gestiegen, noch in Tibet gewesen sei, doch er möge die Amerikaner und die frische Luft. »Die Natur ist wie ein unvollendetes Gedicht«, sagte er. »Es erfordert Sorgfalt und Arbeit, bis es vollkommen ist. Die Amerikaner kennen das aus ihren Pionierzeiten. Wissen Sie, Tibet ist unser Wilder Westen. Und so sage ich Ihnen von Pionier zu Pionier: Lassen Sie uns auf unserem Berg ein großes Gedicht der Freundschaft und des Abenteuers schreiben.« »Ich halt’s nicht aus!« knurrte Carlos am anderen Ende 78
des Tisches. Er wollte aufstehen und gehen, doch Stump erwischte ihn an der Jacke. »Sei still«, befahl Stump. Carlos zögerte, zwinkerte ein paarmal und setzte sich dann wieder. »Auf die Freundschaft. Auf den Berg!« Jorgens erwiderte Lis Trinkspruch, und alle außer Carlos tranken ein paar Tropfen Scotch aus ihren schmutzigen Teetassen. Bevor Abe sich in seinem Zimmer die Decke über die Schultern zog, spähte er noch einmal aus dem Fenster. Der Mond war aufgegangen, und der weiße Himalaja lag da wie ein riesiges Korallenriff. Abe verbrachte die letzten Stunden der Fahrt zum Everest auf dem Beifahrersitz des ersten LKWs im Konvoi. Er saß eingezwängt neben Jorgens, der nicht aufhören konnte, alte Bergsteigergeschichten zu erzählen, die alle lang und verworren waren und von ihm selbst handelten. Es waren harmlose Geschichten; sie dienten hauptsächlich dazu, Jorgens’ Alter von vierundfünfzig Jahren zu entschuldigen, und Abe störte sich nicht daran. Plötzlich bog der Lastwagen nach links ab, so daß Abe gegen die Tür geschleudert wurde. Dies war der Beginn eines langen, kriechenden Anstiegs auf den Pang La, einen 4900 Meter hohen Paß, der das tibetische Plateau mit der Bergkette verband. Sie waren nur noch sechzig Kilometer vom Everest entfernt, doch Jorgens zufolge würden es sechzig qualvolle Kilometer mit schlechten Straßen und wüster Landschaft werden. »Der Pang La ist unser Tor zum Everest. Beim Eintritt hier laßt alle Hoffnung fahren!« witzelte er. In den folgenden zwei Stunden schlängelte sich die Straße an schimmernden schwarzen Granitwänden entlang. Hier und da verschwand der Straßenbelag ganz 79
unter den Spuren eines frischen Erdrutsches, um wenige Meter weiter wieder aufzutauchen. In der kahlen, steinigen Landschaft zeigte sich nicht die geringste Spur von Vegetation. Hier herrschte noch Winter. Sie fuhren Stunde um Stunde und sahen keine Tiere, keine Menschen, keine Häuser. Keine Rechtfertigung für diese seltsame Verkehrsader. »Die höchste Sackgasse der Welt«, verkündete Jorgens, während der Motor in einem niedrigen Gang heulte. »Die Volksbefreiungsarmee hat sie 1960 in Handarbeit erbaut. Die Chinesen sind ziemlich stolz drauf. Sie wollten eine Dreihundert-Mann-Expedition zum Everest bringen. Also haben sie diese Straße aus dem Boden gestampft. Und sie haben den Berg bestiegen.« Es war schwer zu sagen, was Jorgens mehr bewunderte: die Straße oder die chinesische Everest-Besteigung. Abe fragte sich, ob Jorgens von Carlos Theorie wußte, daß die Chinesen 1960 den Everest nur bestiegen hatten, um die Besetzung Tibets abzusichern. Die Aktion blieb dubios, denn die Chinesen hatten den Gipfel angeblich bei Dunkelheit erreicht, als Fotografieren unmöglich war. Außerdem behauptete Carlos, daß die Straße mit Hilfe von Sklaven erbaut worden sei. Um das Gespräch zu beleben und weil Jorgens in so redseliger Stimmung war, forderte Abe ihn heraus. »Ich kenne eine andere Version der Geschichte«, sagte er. »Die Tibeter sollen die Straße gebaut haben, und zwar mit Pistolen im Genick.« Die tiefen Grübchen in Jorgens’ bärtigem Gesicht verschwanden. Er blickte den Fahrer an, der zwar gebrochenes Mandarin, gebrochenes Hindi und sogar gebrochenes Japanisch sprach, aber anscheinend überhaupt kein Englisch, wenn man seinem teilnahmslosen Gesichtsausdruck glauben durfte. Dann 80
drehte Jorgens sich mit finsterem Blick zu Abe um. »Du hast mit Carlos geplaudert, nehme ich an.« »Wir saßen nebeneinander«, sagte Abe. »Er weiß ziemlich viel.« »Das ist Halbwissen«, erwiderte Jorgens abschwächend. »Jedes Ding hat zwei Seiten.« Abe hätte beinahe die Hände gehoben und sich von seiner eigenen Bemerkung distanziert. Er hatte keinen Streit provozieren wollen. Andererseits wollte er sich auch nicht belehren lassen. Jorgens redete weiter. »Zum Beispiel die Sache mit der Straße. Es hat lange gedauert, bis sie fertig war«, sagte er. »Du wirst es nicht glauben, aber die tibetischen Arbeiter haben aus jeder Schaufel Sand die Regenwürmer rausgeholt. Kannst du dir das vorstellen? Nach jeder Schaufel haben sie die Arbeit unterbrochen, um einem Regenwurm das Leben zu retten. Das hat die Chinesen wahnsinnig gemacht.« Jorgens starrte in die kahle Landschaft. »Was für ein Land. Was für eine armselige Parodie eines Landes. Die Leute murmeln Tag und Nacht Gebete, verehren Steine und werfen sich zu Boden. Ehrlich gesagt: Ich glaube, die Chinesen haben den Tibetern einen Gefallen getan. Zumindest haben die jetzt eine entfernte Vorstellung vom zwanzigsten Jahrhundert.« Abe stellte fest, daß Jorgens die Sklavenarbeit nicht bestritten hatte. Er hatte ihr bestenfalls ein freundliches Gesicht gegeben. »Mir scheint aber, daß Tibet das zwanzigste Jahrhundert gar nicht braucht«, sagte Abe. »Tibet.« Jorgens spuckte das Wort aus. »Du mußt dir über dieses Land eines klarmachen, dann verstehst du, warum Carlos so darauf fixiert ist. Tibet wurde nicht ohne Grund als verbotenes Königreich bezeichnet. Leute wie 81
wir durften nicht rein. Aber selbst wenn wir drin sind, sind wir außen vor. Wir alle sind hier Fremde. Und deshalb fühlen sich Leute wie Carlos hier so wohl. Weil niemand Tibet kennt, kann es sich jeder vorstellen, wie er will.« Von nun an fuhren sie schweigend weiter. Als sie oben auf dem Pang La angekommen waren, stieß Jorgens einen langen Pfiff aus. »Mein Gott«, sagte er. »Sieh dir das mal an.« Es war tatsächlich eine Augenweide. Der Himalaja lag vor ihnen; ein riesiges Gebilde aus Sonnenlicht und spitzen Winkeln. Jorgens bedeutete dem Fahrer, er solle anhalten. Der Fahrer grollte und tippte auf seine Armbanduhr. Jorgens ließ ihn trotzdem anhalten. Ein zweiter Lastwagen fuhr heran, und Li stieg aus. Thomas, Robby und JayJay Packard kletterten in ihren kirschroten Ultimate-Summit-Parkas von den Kisten, die sich auf der Ladefläche stapelten. Die drei bewegten sich langsam; sie waren steif und durchgefroren, aber sie grinsten breit und waren begeistert, daß der Berg jetzt so nahe war. Der dritte Lastwagen hielt an, und es kamen noch mehr Leute hinzu. Fotoapparate klickten und surrten. Nicht eine Wolke unterbrach das Blau des Himmels. Es war windstill. Der Everest war noch mindestens dreißig Kilometer entfernt, doch da es aufgrund der geringen Luftfeuchtigkeit keinen Nebel gab, schien er zum Greifen nah zu sein. Obwohl Daniel und Gus fehlten, beschloß Jorgens, daß es Zeit für das Gruppenfoto war – die offizielle VorherAufnahme, die Monate später in den Diashows zusammen mit dem Nachher-Foto zeigen sollte, wie der Everest sie zugerichtet hatte. Jorgens rief einen der Sherpas herbei, der die Gruppe zusammentrommelte. Alle setzten ihr 82
schönstes Lächeln auf. Acht strahlende Bergsteiger in Shorts, Jeans oder Stretchhosen, mit flachen Bäuchen und weißen Zähnen. Doch während Abe seine klobige Pentax auf ein Stativ montierte, atmeten sie alle wieder aus. Wie immer war JayJay Packard die auffälligste Figur. Er hatte sein Sweatshirt ausgezogen und posierte wie ein brünstiger Pfau. Er galt als großartiger Gipfelstürmer, der eine Vierteltonne stemmen konnte, doch Abe zweifelte an ihm. Ganz abgesehen von seinem Exhibitionismus und seinen schmutzigen blonden Dreadlocks, würde JayJay aufgrund seiner massigen Gestalt wahrscheinlich Probleme mit dem Sauerstoff bekommen und ins Hintertreffen geraten. Abe war gespannt, wie er sich schlagen würde. Neben dem Riesen stand Robby Powell mit einer RevoSonnenbrille und zog eine Grimasse; sein Kumpel Thomas Case stellte sich mit einem unheilvollen Stirnrunzeln in Positur. Beide trugen die von Jorgens entworfenen TShirts der Expedition, die Robby unfreundlicherweise mit der Titelseite einer Boulevardzeitung verglichen hatte. Das Logo zeigte einen Eiskletterer, der in den grellorangefarbenen Kosmos blickte. Die Aufschrift ULTIMATE SUMMIT: EVEREST NORDWAND prangte auf der Brust. Darunter stand in knallroter Schrift: »Wir machen’s auf die harte Tour!« Kelly, die Schönheitskönigin des Teams, hielt einfach den Kopf schräg, und die Sonne ließ ihre Locken golden glänzen. Sie meinte zwar, ihre Brüste seien zu klein, und sie machte ständig Witze über ihren flachen Hintern, aber trotzdem war Kelly ein absolutes Lustobjekt. Im richtigen Leben war sie Lehrerin, doch sie hatte sich bereit erklärt, für die Expedition als Model herzuhalten. Allein für ihre kristallblauen Augen hatten Zeitschriften und Kosmetikfirmen hundertfünfzigtausend Dollar bezahlt. 83
Eine Strumpfhosenfirma hatte achtzigtausend Dollar für die Rechte an ihren Beinen hingelegt und dunkle Farbtöne zur Verfügung gestellt, um die Narben zu kaschieren. Für Kellys Haar hatte ein Shampoo-Hersteller dreißigtausend Dollar bezahlt, und ihre Haut war einem KosmetikProduzenten noch mehr wert. Den Rest des Budgets schöpfte die Expedition aus den üblichen Geldquellen: TShirt-Verkauf, ein Buchvertrag (null und nichtig, wenn sie den Gipfel nicht erreichten, außer bei einem Todesfall), Zehn-Dollar-Postkarten »vom Rand des Abgrunds«, ein Armbanduhren-Vertrag und eine undurchsichtige Transaktion in letzter Minute, bei der es um die Gewinne aus Jorgens chinesischer Genehmigung zur EverestBesteigung für das folgende Jahr ging. Abe verstand das alles nicht, und er machte sich auch nicht die Mühe, nachzufragen. Nima Tenzing, der Anführer der Sherpas am Berg, sah so ernst aus wie ein Häuptling des neunzehnten Jahrhunderts, der den Hauch der Geschichte spürte. Vor Jahrhunderten waren die Sherpas aus ihrer ursprünglichen Heimat Tibet in die Hochebenen von Nepal gezogen, südlich des Everest. In den dreißiger Jahren waren sie von westlichen Bergsteigern als billige Arbeitskräfte entdeckt worden. Man nannte sie die »Schneetiger«. Sie konnten enorme Lasten schleppen und servierten ihren sonnengebräunten Sahibs jeden Morgen gutgelaunt eine Tasse Tee. In Katmandu hatte Abe einen ausgezehrten alten Sherpa getroffen, dem an einer Hand mehrere Finger fehlten. Dieser Sherpa erinnerte Abe nicht an Heldengeschichten aus dem Himalaja, sondern an seinen eigenen Vater, der sich für eine Ölfirma die Hand verstümmelt hatte und bald darauf entlassen worden war. In Nepal war der Tourismus der größte Wirtschaftszweig, und die Sherpas mit ihrer Gutmütigkeit, ihrem charmanten Englisch und ihrer 84
Vorliebe für westliche Mode waren eigentlich keine Tiger, sondern eher Safari-Gepäckträger, die dem Berg meistens als erste zum Opfer fielen. Kurz vor der Erstbesteigung des Mount Everest im Jahre 1953 hatten Tenzing Norgay und die anderen Sherpas der Expedition in einem umgebauten Stall ohne Toilette gehaust, während Hillary und seine Kameraden die Annehmlichkeiten der britischen Botschaft genossen. Von diesem Moment an kannten die Sherpas ihren Stellenwert. Glen »Stump« Wilson, der stellvertretende Expeditionsleiter, stand in der Mitte. Er war Strafverteidiger und Schiedsmann von Beruf. Von den Hüften abwärts hatte Stump die Figur eines Profi-Footballspielers. Seine gewaltigen Oberschenkel standen im Gegensatz zu dem, was er den »kleinsten Mann« nannte: Er hatte einen wirklich winzigen Penis und nur einen Hoden, den Abe selbst gesehen hatte, als er in Katmandu Wilsons Leistenbruch untersuchte. Stump hatte den Everest schon zweimal bestiegen und beide Male die Teams wegen persönlicher Streitigkeiten auseinanderbrechen sehen. »Das wird diesmal nicht passieren«, hatte er warnend gesagt. Ganz links stand Peter Jorgens mit seinem graumelierten Bart und strahlte. Sein volles Haar und die sonnengegerbten Krähenfüße ließen ihn wie den typischen Hollywood-Bergsteiger aussehen. Eigentlich war er Buchhalter und hatte es irgendwie bis zum Präsidenten des American Alpine Club gebracht. Abe hatte gehört, daß Jorgens davon träumte, irgendwann einmal Innenminister zu werden, und daß diese Expedition ein Sprungbrett nach Washington werden sollte. Einige der anderen Teilnehmer fanden es komisch und auch traurig, daß Jorgens für den Jeep seiner Familie schon Nummernschilder mit der Zahl 8848 bestellt hatte – das ist die Höhe des Everest in 85
Metern. Während Abe die Beine seines Stativs festschraubte und die Kamera positionierte, standen die anderen flachsend herum und pfiffen dem Everest zu – wie Hunde, die den Mond anbellen. Sie waren bester Laune, und Abe hielt es für ein gutes Zeichen, daß sie dem Monster eine lange Nase machten. Das bedeutete, daß sie bereit waren. Zumindest glaubten sie es, und manchmal war das dasselbe. Er schwenkte mit dem Sucher über die Gruppe und lächelte. Jeder einzelne fühlte sich seinem Ruf verpflichtet, obwohl sie in Wirklichkeit alle nur anonyme Produkte ihrer eigenen Einbildungskraft waren. Sie waren nicht gekommen, um auf dem Berg zu sterben und dadurch berühmt zu werden; vielmehr waren sie gekommen, um jenen nachzueifern, die hier gestorben waren. Sie stellten sich in den Wind und spielten die eisernen Helden. Schließlich war Abe fertig und rief den anderen zu, daß sie ihre Plätze wieder einnehmen sollten. Kelly bewegte sich katzengleich, JayJay ließ noch ein paar Äderchen hervortreten, und die LKW-Fahrer rissen erstaunt die Münder auf. Abe stellte das Objektiv scharf und wollte gerade den Selbstauslöser drücken und zu seinem Platz eilen, als plötzlich, ohne Vorwarnung, ein Windhauch – nur eine ganz leichte Brise – die Gesichter streifte. Irgend jemand stöhnte. Es war ein besorgtes Stöhnen, und alle drehten sich um und blickten zum zerklüfteten Horizont. Eine kleine, weiße Wolke war am Himmel erschienen. Es war nicht mehr als eine Feder – Altozirrus in zehntausend Meter Höhe –, und sie glitt sanft dahin. Sie sah aus wie weiße Tinte auf kobaltblauer Leinwand, wie 86
der wunderbare Federstrich eines Zen-Meisters. Doch die kleine Wolke war ein Warnsignal, das alle hier verstanden. Alle außer Abe, der die Eigenheiten dieses Berges nicht kannte. »Verdammt«, flüsterte JayJay, als würde er gerade feststellen, daß er einen Fehler gemacht hatte. Es vergingen ein paar Sekunden. Dann erwachte der Berg zum Leben. Der steile linke Grat des Everest stieß eine gespenstische Wolke aus. »Schnee?« fragte Abe leise. Carlos schüttelte den Kopf. »Wasserdampf«, sagte er. »Die indischen Luftmassen sind warm. Und wenn sie auf den kalten Berg treffen, macht es zisch.« Er blickte auf die Uhr. Abe tat es ihm nach. Es war kurz vor zwei, Pekinger Zeit. »Das ist doch nicht der Monsun, oder?« fragte Abe. »Das?« entgegnete Carlos. »Das ist nur typisch Everest. Er macht sich nachmittags gerne mal bemerkbar. Keine Sorge, Doc. Der Monsun kommt erst in drei Monaten. Wenn er da ist, wirst du es schon merken. Dann packen wir unsere Sachen und sehen zu, daß wir verschwinden.« Vor ihren Augen verwandelte sich die Dampfwolke in eine lange, ausgefranste Fahne und zog nach Osten. »Der Wind weht da oben wahrscheinlich mit hundertachtzig Stundenkilometern«, sagte JayJay. »Das ist verdammt viel. Orkanstärke.« Die weiße Fahne hätte ebensogut schwarz sein können. Sie signalisierte, daß es kein Pardon gab, und machte die ausgelassene Stimmung der Bergsteiger zunichte. Abe erkannte, was los war, und sparte sich wie alle anderen sein Fotolächeln für später auf. Das Wetter war bei einer Everest-Besteigung das A und O. Doch Abe war 87
benachteiligt, denn er konnte nur am anderen Ende der Welt die Zeichen des Himmels richtig deuten. Aber er wollte schnellstens dazulernen. »Das war’s dann«, rief Stump mit dem Enthusiasmus eines Todeskandidaten auf dem Weg zur Exekution. »Laßt uns abhauen und zur Sache kommen.« Sie drehten dem Berg den Rücken zu und gingen zurück zu den Lastwagen. Der Konvoi fuhr den Paß hinunter ins Rongbuk-Tal, Richtung Süden, auf den Everest zu. Als sie sich auf dem steilen, kilometerlangen Paß entlangschlängelten, verschwand der Everest aus dem Blickfeld. Nach einer halben Stunde flachte der Pang La ab, und die Straße wurde links und rechts von Felswänden gesäumt. Bald verschwand der Paß hinter ihnen, und der Zugang zur Außenwelt war nur noch eine Erinnerung. Hier existierte eine ganz andere Welt. Wenn Shekar schon ärmlich war, dann waren die Dörfer im RongbukTal eine einzige Katastrophe. Die Armut war allgegenwärtig: unfruchtbare Erde, Hütten aus Lehmziegeln und Kinder, die trotz des kalten Windes nackt waren. Hier und dort tauchten Ansammlungen von Stein- und Lehmhütten auf wie Indianerdörfer im amerikanischen Südwesten. Einige Häuser waren getüncht, andere mit weißen und orangefarbenen Bändern versehen. Auf den flachen Dächern lag Brennholz, das von weit her stammen mußte, denn es war weit und breit kein Baum zu sehen. Die Menschen auf den steinigen Feldern lächelten den Bergsteigern auf den vorbeifahrenden Lastwagen nicht zu. Sie starrten sie nur an und arbeiteten dann weiter. Jorgens schien ihre düsteren Lebensumstände nicht zu registrieren. Er winkte fröhlich in die braune Landschaft hinein. 88
»Wenn wir im Juni abreisen«, sagte er, »werden die Felder grün sein. Die Schafe werden ihre Jungen zur Welt bringen. Dutzende von Bewässerungsgräben werden die Straße durchziehen. Wartet’s ab, das sieht aus wie gemalt.« Es folgten weitere Ruinen – alte Steinfestungen, Klöster und verlassene Dörfer. Der Konvoi überquerte ausgetrocknete Bewässerungsgräben und dann ein breites Flußbett. Im Sommer, versprach Jorgens, würde hier Schmelzwasser vom Rongbuk-Gletscher am Fuß des Everest fließen, »so dick und weiß wie Sperma«. Im Moment floß hier nur ein blaues Rinnsal. Weitere Stunden vergingen, und die Sonne hing immer noch im Süden über den Bergen. Nachdem der Konvoi in ein Tal hinabgefahren war, kroch er jetzt wieder bergauf. Die Straße wurde durch tiefe Furchen und herumliegendes Geröll immer gefährlicher. Abe rechnete damit, daß die Reifen platzen oder die Ölwanne aufreißen würde. An schattigen Stellen und in den Serpentinen war die Straße teilweise vereist. Der Lastwagen hob in einer Bodenwelle beinahe ab und kam an einer anderen Stelle ins Schleudern. Sie schlichen mit fünf Stundenkilometern dahin. Abe hatte sich nie vorstellen können, daß ein Dieselmotor auf über fünftausend Metern Höhe noch funktionierte. Doch es war so. Der Lastwagen umkurvte einen kleinen Hügel aus Gletschereis. Zwei Nebengipfel rahmten eine völlig ebene Moräne ein. Und dann tauchte aus dem Nichts der Mount Everest vor ihnen auf. Er schien ganz nahe zu sein, doch das lag an der Optik der Höhenluft. Er war noch einige Kilometer entfernt. Der Lastwagen kroch voran, und die Talsohle ging langsam in einen Berghang über. »Dort«, sagte Jorgens zum Fahrer und deutete auf einen kleinen Farbklecks, den auch Abe gleich entdeckte. Einen 89
Augenblick später entpuppte sich der Farbklecks als grünes Zelt, und Abe erblickte zwei winzige Gestalten. Die eine Person kam näher. Es war ein Mann. Obwohl er ein rotkariertes Tuch um den Kopf gebunden hatte und damit nicht wie ein Bergsteiger, sondern eher wie ein afghanischer Rebell aussah, und obwohl er eine Sonnenbrille trug, erkannte Abe den Mann. Es war Daniel. Er ging mit großen Schritten, doch Abe sah, daß er mit einem Bein hinkte – das mußte der Spiralbruch sein; und die übertriebene Beweglichkeit mußte von den amputierten Zehen und den operierten Knien herrühren. Zwei Wochen tibetische Sonne hatten Daniel kupferrot werden lassen, und selbst im schwachen Licht des Tals wirkte sein Grinsen wunderbar anarchisch. »Daniel«, sagte Abe laut und begrüßte seine eigene Vergangenheit. Jorgens beugte sich vor und blickte durch seine schwarze Hornbrille angestrengt auf die Gestalt. »Gute Augen«, bescheinigte er Abe. Daniel signalisierte dem vorderen LKW, daß er anhalten solle, und ging zu Abes offenem Fenster. »Hallo Jorgens«, sagte er und streckte die Hand durchs Fenster, an Abe vorbei. Es kam Abe in den Sinn, daß er Daniel noch nie hatte sprechen hören, nur schreien. Er hatte eine leicht krächzende Stimme – das Überbleibsel einer Bronchitis, oder die Kälte hatte seine Luftröhre angegriffen. »Ich dachte schon, wir müßten ohne euch da raufklettern.« Abe schaute erst auf das armselige Zelt in der Ferne und dessen zweiten Bewohner, dann auf den riesigen Berg, und schlußfolgerte, daß Daniel einen Scherz gemacht hatte. Doch Jorgens war nicht belustigt, Daniel grinste immer noch, und Abe war sich nicht mehr so sicher. Jorgens deutete auf Abe. »Ihr zwei kennt euch ja«, sagte 90
er zu Daniel. Daniel trat einen Schritt zurück, um Abe besser sehen zu können. Er studierte Abes Gesicht einen Moment lang sehr intensiv und streckte ihm dann die rechte Hand durchs Fenster entgegen. »Lang ist’s her«, sagte er, und Abe fiel ein, daß Daniel ihn noch nie richtig gesehen hatte. Abes Gesicht mußte damals eines von vielen in einem Alptraum gewesen sein. »Das ist wirklich lange her.« Abe war nicht beleidigt. »Abraham Burns«, sagte Daniel halblaut. »Diese Stelle hast du also für das Basislager ausgesucht?« unterbrach Jorgens. Daniel sah sich um. »Sieht ziemlich übel aus, was? Aber wenn wir da drüben kampieren, bläst der Wind uns weg. Und auf der anderen Seite kriegen wir keine Sonne. Gus und ich haben eine Woche lang alle Plätze ausprobiert. Was Besseres gibt’s leider nicht.« »Also dann los. Zeig uns die genaue Stelle. Wir müssen fertig sein, bevor es dunkel wird.« Daniel sprang vom Trittbrett herunter, lief vor dem Lastwagen her und beschrieb mit den Händen einen großen Halbkreis auf dem Boden. Der Konvoi folgte seiner Linie und hielt an. Der Fahrer von Abes und Jorgens’ LKW machte den Motor aus. Plötzlich war es still im Führerhaus. »Trautes Heim, Glück allein«, verkündete Jorgens. Abe mußte sich anstrengen, um ihn nicht dumm anzuglotzen. Der Platz sah zwar so aus, wie er aussehen mußte – auch Indien hatte seinen Vorstellungen entsprochen, als er aus dem Flugzeug gestiegen war –, aber irgendwie war doch alles anders. Vielleicht war Abe naiv gewesen, aber er hatte sich 91
vorgestellt, daß die Teilnehmer der Expedition am Everest ankommen würden wie Astronauten, die alles Lebensnotwendige mit sich führten. Verpflegung, Unterkunft, Lektüre, sogar Sauerstoff: alles selbst mitgebracht. Und wie Astronauten würden sie voller Träume und Hoffnungen hier ankommen; mit dem Traum von unerforschten Welten, von einem Neuanfang, von Pioniergeist. Doch das, was Abe durch die zerkratzte Windschutzscheibe sah, zerstörte all diese Gefühle, und er war geschockt. Auf den ersten Blick sah die Landschaft aus wie nach einer riesigen Silvesterparty, bei der überall Konfetti verstreut worden war. Doch dann begriff Abe, daß es Müll war. Der Müll von Jahrzehnten. Wie eine Meute Schakale war der Wind über die Abfallhaufen vergangener Expeditionen hergefallen und hatte den Müll auf der ganzen Moräne verteilt. Papierschnipsel und Plastikteile hingen hartnäckig in den Felsen; es waren Hunderte von blauen, gelben und pinkfarbenen Fetzen. Doch das war nicht einmal das Schlimmste. Abe öffnete die Tür, sprang flink auf den Boden und landete buchstäblich in der Scheiße: in den getrockneten Fäkalien der Bergsteiger aus den Vorjahren. Jetzt sah Abe, daß überall in kleinen Häufchen menschliche und tierische Exkremente herumlagen, die von der Sonne ausgedörrt worden waren. Scheißland, dachte Abe und prägte sich das Wortspiel gleich für seine Diashows ein. Doch der Dreck und die Trostlosigkeit schlugen ihm immer noch aufs Gemüt. Das alles kam zu unerwartet. Daniel lief an ihm vorbei. Er kümmerte sich darum, daß man schnell die LKWs entlud und das Lager aufbaute. »Willkommen im Paradies«, sagte er, ohne eine Spur 92
von Ironie. Keiner der anderen Bergsteiger schien irritiert zu sein. Der Müll verlieh dem Platz eine Volksfestatmosphäre, und das Team wurde offenbar von der Ödheit dieses Ortes angespornt. Abe sah sich um und versuchte, sich zurechtzufinden. Als er sich schließlich bewegte, geschah dies sehr langsam. Er war nicht der einzige. Im Gegensatz zu den Sherpas waren die meisten Bergsteiger von der Höhenluft wie gelähmt. Der Mount Everest war noch gut fünfzehn Kilometer entfernt, doch von hier aus mußten sie zu Fuß gehen. Obwohl das Tal so eben war wie ein Billardtisch, begann die Besteigung hier. Zwischen ihnen und dem Everest befand sich ein kleinerer Berg namens Changtse, der den Blick auf die ersten fünfzehnhundert Meter ihrer Route versperrte. Doch über dem dunklen, stumpfen Massiv des Changtse reflektierte der Everest strahlend weißes Licht. Dieser Anblick verstärkte den schmutzigen Eindruck vom Basislager noch, denn das Tal lag jetzt im Schatten. Dort oben würde es noch stundenlang hell sein, während die Bergsteiger unten im Tal sich schon mit Pullovern und Parkas auf die Kälte der Nacht vorbereiteten. Die LKW-Fahrer legten sich ins Zeug, denn sie wollten unbedingt losfahren, bevor es ganz dunkel wurde. Hastig banden sie Planen los, kletterten auf die Ausrüstung und warfen sie Stück für Stück herunter, so daß ein heilloses Durcheinander aus Kisten, Bündeln und Geräten entstand. Jorgens stand auf dem Führerhaus eines LKWs und rief: »Systematisch vorgehen, Leute«, denn er hatte per Computer extra einen Plan für dieses Chaos ausgearbeitet und zusätzliches Geld für farbig markierte Kisten ausgegeben. 93
Doch während die Sonne unterging und der Wind heftiger wurde, platzte Jorgens’ Traum von einem systematischen Vorgehen endgültig. Die Fahrer gingen grob und rücksichtslos mit der Ladung um. Sie traten, warfen und stießen das Material herum, und die Bergsteiger versuchten einfach, Schritt zu halten. Der Berg von Gerätschaften wurde immer größer. Alle arbeiteten mit atemloser Entschlossenheit. Niemand war scharf darauf, die erste Nacht am Everest im Freien zu verbringen. Während Abe arbeitete, war er auf seltsame Weise verzweifelt. Er hatte gedacht, daß sie vor der Insel namens Everest ankern und sie planvoll in Besitz nehmen würden. Statt dessen waren sie an der felsigen Küste gestrandet und mußten nun schnell ihre Habseligkeiten retten, bevor ihr Schiff ganz unterging. »Verdammt noch mal, systematisch, Leute!« brüllte Jorgens hilflos. Ein Sherpa lief ihm vor die Füße. »Norbu, sag den verdammten Fahrern, sie sollen systematisch arbeiten.« »Ja, Sir«, sagte Norbu und drehte sich um. Er hatte keine Ahnung, was Jorgens meinte. Und falls doch, hatte er nicht vor, die Anweisung weiterzugeben. Die Gipfel der Umgebung leuchteten im Alpenglühen orange und pink, doch unten im Tal war es dunkel. Je dunkler es wurde, um so hektischer versuchten die Bergsteiger, sich ein Obdach für die Nacht zu schaffen und dieses Refugium bewohnbar zu machen. Ein Lastwagen nach dem anderen spuckte seine Ladung aus, bis sie alle Richtung Pang La davonrasten. Abe beobachtete, wie die Rücklichter in der Dämmerung verrückte Muster bildeten. Schließlich waren die Lastwagen und ihre Lichter verschwunden, und die 94
Bergsteiger hatten den Everest ganz für sich. Sie waren allein. Zu Abes Überraschung wurde ihm das Herz schwer. Seit dem Tod seines Vaters vor einigen Jahren hatte er sich nicht mehr so verlassen gefühlt. Es war unlogisch, aber so war es. Das Team sicherte die Ausrüstung so gut wie möglich, doch bald war es zu dunkel, um noch etwas auszurichten. Die Bergsteiger und die Sherpas versammelten sich um Krishna Rais Proviantkiste, standen im Wind und teilten sich ein Zehn-Kilo-Stück Cheddar-Käse sowie drei Dosen Thunfisch mit zerstoßenem Eis. Niemand brachte es fertig, die indischen Campingkocher in Gang zu setzen, also gab es kein warmes Wasser für Tee oder zum Zähneputzen. Daniel und seine Kameraden teilten sich das wenige Wasser, das sie noch hatten, aber es war nicht viel mehr als ein Schluck pro Person. Sie waren alle wortkarg geworden, aber wenn einmal gesprochen wurde, hörte Abe die gedrückte Stimmung heraus. Dies war die erste Nacht am Zielort ihrer Reise, und das Team war zum ersten Mal komplett. Es hätte ein fröhlicher, kameradschaftlicher Abend voller Begeisterung werden sollen. Statt dessen waren sie drauf und dran, ins Bett zu kriechen – durstig, erschöpft und erschlagen von der dünnen Luft. Abe wußte, daß nicht nur er am Boden zerstört war. Das einzige Mittel dagegen würde wohl Schlaf sein. Doch dann passierte etwas, das seltsamerweise die Stimmung hob. Plötzlich war am Himmel über dem Everest ein Meteoritenschauer zu sehen. »Seht mal«, sagte jemand, und alle blickten auf dieses ungewöhnliche Schauspiel, diese Eruption von Lichtern. Die Meteoriten sahen aus wie wilde Papageien; ein bunter Schwarm, der die Dunkelheit durchbrach. Sie 95
schnellten lautlos durch die Nacht. »Ist das echt?« fragte jemand. Es waren erst Dutzende von Meteoriten, dann hundert, vielleicht noch mehr. Abe hatte schon vorher Kometen und Sternschnuppen gesehen, aber nicht in einer solchen Vielzahl und niemals so deutlich, so hell und greifbar nahe. Er glaubte, die Meteoriten müßten direkt in den Berg einschlagen. »Die Perseiden sind das nicht«, erklärte Carlos freundlicherweise. Abe hatte schon einen Einblick in seine Theorien über das Universum bekommen. »Die Perseiden kommen erst im August. Aber ich weiß nicht, was es sonst sein kann. So hell, so viele, und das zu dieser Jahreszeit. Ich weiß es nicht.« Der Meteoritenregen hörte nicht auf. Abe vergaß seinen Durst, seine Müdigkeit und den kalten Wind. Jeder vergaß das alles. Sie schauten sich einfach das außergewöhnliche Feuerwerk an. Sie riefen begeisterte Bemerkungen, als die grünen und roten und weißen Linien aus dem All erschienen und auf den Berg herabfielen. Es herrschte allgemeine Ehrfurcht. Stump war so überwältigt, daß er vergaß, Robby und Tom zu sagen, sie sollten den Sternenregen filmen. Nach einigen Minuten hörte Abe, daß die Sherpas leise in ihrer Muttersprache miteinander redeten. Er merkte, wie sie unruhig wurden, und er spürte, daß sie Angst hatten. »Wunderschön«, murmelte Kelly. Dann ergriff Nima das Wort. »Diese Sache sehr, sehr schlecht«, verkündete er vor der Gruppe. »Das glaube ich nicht, Nima«, wollte ihn jemand trösten. »Das sind nur Meteoriten.« »Das ist Wissenschaft«, erklärte der chinesische Verbindungsoffizier Li, und an seinem Tonfall erkannte 96
Abe, daß ihm die Angst des Sherpas auf die Nerven ging. Doch Nimas Schweigen zeigte Abe, daß die Wissenschaft in dieser Einöde keinen Platz hatte.
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3. KAPITEL Zehn Tage lang blickten die Bergsteiger nach Norden, auf den Pang La. Sie beteten darum, daß ihre Yak-Karawane endlich auftauchte, sie zählten die Tage in ihren Kalendern und warteten. Während dieser Zeit war der Himmel so klar, daß Abe meinte, er könne schon mittags die Sterne sehen. Morgens war es so still, daß er tatsächlich Eiszapfen schmelzen hörte, und die Tropfen klangen wie Glocken. Das Wetter war perfekt. Doch die Yaks kamen einfach nicht. »Unser Tal ist eine riesige Gefängniszelle«, schrieb Abe in seinem immer länger werdenden Brief an Jamie. »Trostlos. Eintönig. Leblos. Die Zeit ist stehengeblieben. Alles erscheint überdimensional – der blaue Himmel, die Berghänge, der Rongbuk-Gletscher. Ich habe noch nie etwas so Monumentales gesehen. Das macht mich demütig. Das einzige, was in diesem übergroßen Land den menschlichen Maßstäben nahekommt, sind die kleinen, fluoreszierenden, roten und blauen und grünen Flechten, mit denen die Felsen besprenkelt sind. Die Flechten und wir – wir teilen uns dieses tote Land. Ich höre fast meine Haare wachsen.« Das Basislager war inzwischen fertig. Die Zelte waren aufgeschlagen, die Wände straff gespannt, Latrinen ausgehoben. Das Material war sortiert. Die Bergsteiger waren einsatzbereit. Es gab zwei Methoden, einen Berg dieser Höhe und dieser Kategorie in Angriff zu nehmen. Die einfachste und gefährlichste war der sogenannte Alpinstil, bei dem zwei bis vier Bergsteiger in einem Wettlauf mit der Zeit geradewegs zum Gipfel stürmten. Wenn man diese 98
Strategie anwandte, kletterte man fortlaufend höher und führte das Camp und die Ausrüstung mit sich. Wenn jemand im Himalaja einen Aufstieg im Alpinstil zustande brachte, galt das als brillanter Coup, als hätte man einem Löwen seine Beute entrissen. Das Problem war das Risiko. Ein alpines Team, ganz allein auf dem Berg, mußte schnell sein und war angewiesen auf perfekte Bedingungen, perfektes Teamwork und perfekte Gesundheit. Ein einziger Fehler, ein stürmischer Tag, und alles war vorbei; man erfror und erstarrte sofort zu Eis. Alle waren sich einig, daß der Alpinstil bei einer so gewaltigen und komplizierten Route wie der Kore-Wand Selbstmord gewesen wäre. Die bewährtere und geeignetere Methode, die auch die Ultimate-Summit-Expedition anwandte, war die altmodische Belagerungstaktik. Sie bestand darin, daß man systematisch in immer größerer Höhe feste Camps errichtete und sie durch kilometerlange Fixseile miteinander verband. Im Gegensatz zur BlitzkriegStrategie des Alpinstils pendelten die Bergsteiger bei der Belagerungstaktik mehrmals hin und her, brachten Ausrüstung in die höhergelegenen Camps und akklimatisierten sich langsam. Die Faustregel hieß: »hoch klettern, niedrig schlafen«, wobei es darum ging, dieses Prinzip in immer größerer Höhe umzusetzen. Abe hatte in seiner Kindheit die klassische BergsteigerLiteratur gelesen: Bücher über die Erstbesteigungen von Annapurna und Nanga Parbat, über die frühen britischen Versuche an der Nordseite des Everest und die erste Besteigung von der Südseite. Daher kannte er das Konzept, das der Belagerung eines Berges zugrunde lag. Was ihm fehlte, war die richtige Einstellung. Robby impfte sie ihm eines Nachmittags ein. Mit jedem Wort machte der redselige Mann ihm klar, 99
daß sie einen Krieg führten. Er beschrieb die höhergelegenen Camps als Vorposten mit dem Charme einer provisorischen Verteidigungsstellung tief im Feindesland. Jedes Camp würde auf Rückendeckung und Verstärkung aus dem nächsttieferen Lager angewiesen sein. Keines war für eine längere Besetzung des Berges gedacht. Das höchste Camp würde für eintägige GuerillaAngriffe auf den Gipfel konzipiert sein. »Am Gipfeltag geht’s um die schnelle Eroberung«, predigte Robby. »Schnell rauf, schnell wieder runter.« Abe hörte gespannt zu. Im Himalaja war das Bergsteigen völlig anders als im Rest der Welt. Es hatte seine eigene Sprache, sein Risiko, seine besondere Geisteshaltung, und Robby – wie auch alle anderen – war ganz davon erfüllt. In der Bergsteigersprache wimmelte es von militärischen Ausdrücken: Belagerungstaktik, Attacke, Basislager, Nachschubverbindungen, Logistik, Camps errichten, Angriff, Rückzug, Sieg, Eroberung und das Aufpflanzen der Flagge. Abe bekam immer mehr das Gefühl, daß es am Everest um Schlachtpläne ging, um besetztes Land, um Gefahr, Blut und nasse Socken in kalten Nächten. Alles in allem war es eine Art HochgeschwindigkeitsImperialismus: Aufstieg und Fall einer Dynastie innerhalb weniger Monate. Es war nicht der Zweck der Besetzung, das Land einzunehmen, sondern in die Geschichte einzugehen. Doch ohne die Yaks konnten sie mit dem Klettern nicht anfangen. Mit dem Chinesischen Bergsteigerverband war vereinbart worden, daß eine Karawane von sechzig Yaks Material zum vorgezogenen Basislager transportieren sollte. Jedes Tier konnte über dreißig Kilo tragen, also würde die Expedition mit den Yaks innerhalb von zwei Tagen knapp zwei Tonnen Seile, Zelte, Nahrungsmittel, Sauerstoff und Filmausrüstung auf eine Höhe von 6600 100
Metern bringen. Ohne die Yaks würden die Bergsteiger mit dem Schleppen der Lasten nur ihre Kraft verschwenden. Schlimmer noch: Sie würden Zeit verschwenden. Mit einem Laptop rechnete Jorgens aus, daß das Team bei gutem Wetter dreiundsechzig Tage brauchen würde, um die Ausrüstung hinaufzuschaffen und mit dem Klettern anzufangen … Dann würde der Monsum vor der Tür stehen, und sie würden scheitern. Also warteten sie. Sie saßen da und bastelten an der Ausrüstung herum. Sie lasen Romane, knabberten Popcorn und ärgerten sich. »Man sitzt hier wie die Affen im Zoo«, klagte JayJay. »Jedesmal wenn ich raufgucke, starrt er uns an.« Es stimmte. Den ganzen Vormittag lang verhöhnte der Berg sie mit seinem Schweigen und seiner Helligkeit. Bei Sonnenuntergang hüllte er sie in Dunkelheit. Wann immer sie sich umdrehten – der Everest war da. Die Bergsteiger saßen auf heißen Kohlen, fünfzehn Kilometer von ihrem Ziel entfernt. Li Deng hörte auf, den Amerikanern seinen zerknitterten, abgestempelten Vertrag mit den Yakhirten zu zeigen. Er hörte auf, Versprechungen zu machen, Ausreden zu erfinden und auf die »nationale Minderheit«, wie er die Tibeter nannte, zu schimpfen. Er hörte sogar auf, mit den Bergsteigern Schach zu spielen, und das war sein einziges Vergnügen gewesen. Der April nahte heran. Jorgens wurde depressiv. Alles schien ihm auf die Nerven zu gehen. Von den Witzbolden, die von der »Yak-Pause« sprachen, bis hin zu der Art, wie die Zelte aufgestellt waren – nichts war ihm recht. Er hatte vorgehabt, das Camp in Form eines Kreuzes zu errichten, mit geraden Linien und rechten Winkeln, die an den Geist appellieren und ein Symbol der ordnenden Hand des Menschen in der Wildnis sein sollten. Doch die Zelte konnten nur dort aufgestellt werden, wo der weiche 101
Tundraboden inselförmig aus dem felsigen Grund herausragte. Diese Inselgruppe war über das ganze Gelände verstreut, und deshalb sah das Basislager nicht aus wie ein Kreuz, sondern eher wie ein verstümmelter Seestern, dessen Zacken in alle Richtungen zeigten. Jeden Morgen regte Jorgens sich aufs neue über das Chaos im Camp auf. Jeden Morgen grollte und fluchte er, und der kalte Atem seines Mißfallens hüllte seinen Kopf in eine Wolke. Um ihn aufzuziehen, um sich einzuschmeicheln oder einfach aus Neugier, fragten Robby, Carlos oder JayJay jeden Morgen: »Was ist los, Captain?« oder »Probleme, Boss?«, und Jorgens starrte sie an, drehte sich um und ging weg, um sein morgendliches Geschäft zu verrichten. Er hockte dann als winzige Figur in dem riesigen Tal und streckte seinen nackten Hintern schamlos der Sonne entgegen. In einem Zacken des Seesterns, auf einem gelblichen Stück Tundraboden, hatte Abe sein großes »Lazarett«-Zelt errichtet, ein pfirsichfarbenes, zweieinhalb Meter hohes Kuppelzelt. Er hatte es so weit entfernt vom Küchenzelt aufgestellt, daß er annehmen konnte, keine Nachbarn zu haben, was ihm nicht unrecht war. Er hatte aber dennoch Nachbarn bekommen, und auch das war ihm recht, denn neben ihm wohnten Daniel und die Frauen. Daniel und Gus hatten sich auf der einen Seite niedergelassen. Weiter abseits, auf der direkten Linie zwischen Abes Eingang und der Morgensonne, hatte Kelly ihr Zelt aufgeschlagen. Abe wußte, daß er Glück hatte. Doch den Neid der anderen bekam er erst an einem schläfrigen Nachmittag zu spüren, als Thomas ihn besuchte. Er betrat Abes Zelt wie alle anderen, ohne zu fragen oder sich anzukündigen. Das Lazarett – und damit auch Abes Dienste – wurden als Allgemeingut betrachtet, ebenso wie 102
das Küchenzelt und Krishnas Arbeit als Koch. Es war nichts Besonderes, wenn jemand zu ungewöhnlichen Zeiten in Abes Zelt kam, weil er Medikamente, Pflaster oder einfach nur Gesellschaft brauchte. Obwohl Abe eigentlich Wert auf seine Intimsphäre legte, freute er sich, daß sie hier gar nicht existierte. Er hatte gehört, daß manche Expeditionsärzte von fanatischen Bergsteigern monatelang ignoriert wurden, weil man ihre Diagnosen als böses Omen ansah. Sein Team dagegen hatte bis jetzt keine Probleme damit, sich an den Medizinmann zu gewöhnen, und Abe begriff die spontanen Besuche als Chance, herauszufinden, was Himalaja-Bergsteiger von normalen Menschen unterschied. Abe lag auf einer Isoliermatte und blätterte in den Grundlagen der Inneren Medizin, als Thomas eintrat. »Hallo Doc«, sagte er, »hast du was gegen Kopfschmerzen?« Noch bevor Abe antworten konnte, kniete Thomas sich vor eine Kiste, die schon andere durchwühlt hatten. Wie es aussah, kannten die Bergsteiger sich mit Abes Arzneivorräten besser aus als er selbst. Abe wandte sich wieder seinem Buch zu. »Das nenne ich eine Aussicht«, sagte Thomas. Er blickte durch die Tür auf Kellys Zelt. »Hier ist es viel angenehmer als bei mir.« »Fortuna war mir hold«, witzelte Abe. »Fortuna …« murmelte Thomas leise. »Weißt du«, sagte er dann laut, »sei lieber vorsichtig.« Es war eine Warnung. Abe hörte es am Tonfall, und er war nicht darauf gefaßt. »Was sagst du?« fragte er. Thomas kramte erfolglos in der Kiste herum. »Ich rede von ihr.« »Kelly?« »Sagen wir mal, ich habe Lehrgeld gezahlt«, erwiderte 103
Thomas. »Ich empfehle dir nur, wegen ihr nicht den Kopf zu verlieren.« Thomas tippte sich an die Schläfe. »Sie wird ihn dir verdrehen wollen. Ehe du dich’s versiehst, hat sie dich am Haken.« Abe wußte nicht, was er antworten sollte. Er hatte das Beziehungsgeflecht innerhalb der Gruppe noch nicht durchschaut. Einige der Teilnehmer waren bereits zusammen geklettert. Alle hatten offenbar voneinander gehört. Ihre Biographien waren stark miteinander verwoben. Nur Abe gehörte nicht dazu. »Ihr wart zusammen auf dem Südsattel, oder?« Abe erinnerte sich, daß vor einem Jahr ein Versuch gescheitert war, den Everest über die traditionelle Route auf der Sonnenseite zu besteigen. »Du bist mit Kelly geklettert?« »Es war eher so, daß ich sie getragen habe«, knurrte Thomas. Diese Reaktion ließ Abe plötzlich argwöhnisch werden. Hier wurde schmutzige Wäsche gewaschen, und er wußte nicht, ob er sich das anhören wollte. »Sie hat mich um den Gipfel betrogen«, fügte Thomas böse hinzu. Er hatte ein hageres Gesicht, und wenn er lächelte, bildeten sich Grübchen in den Wangen, doch er lächelte selten. Er sah Abe an. »Versteh mich nicht falsch, Doc. Ich bin ein erwachsener Mann. Ich bin selbst schuld. Aber sie hat so eine Art … wie eine Hexe.« Abe nahm die Bemerkung nicht ernst und lachte. »Eine Hexe?« Thomas sprach offensichtlich von Liebe, oder vielleicht nur von einer Affäre. Abe war sich bewußt, daß Kelly ihr Zelt nicht in Thomas’ Nähe aufgeschlagen hatte. Er wollte gar nicht wissen, was das zu bedeuten hatte. »Ja«, sagte Thomas. »Du wirst sehen, eine Frau wie sie kann eine Expedition zum Scheitern bringen. Sie braucht einen Mann. Sie lebt auf Kosten der Männer.« 104
»Bei mir wird sie kein Glück haben«, sagte Abe. »Ich habe schon ein gebrochenes Herz.« Das stimmte nicht ganz. Ihm fiel nur nichts anderes ein. Insgeheim ergriff er unwillkürlich Partei für seine einsame blonde Nachbarin. Sie war liebenswürdig und bildete damit einen willkommenen Kontrast zu dem übellaunigen Thomas. »Ich dachte, du bist in festen Händen«, sagte Abe. Thomas hatte allen die Fotos von der Frau gezeigt, die er nach seiner Rückkehr in die USA heiraten wollte. »Bin ich auch«, antwortete Thomas. »Wo liegt dann dein Problem?« »Dies hier ist nicht das richtige Leben, Doc. Wir sind bei einer Everest-Expedition. Ich will dir nur einen guten Rat geben.« Abe fand, daß es jetzt genug war. »Hast du deine Medizin gefunden?« fragte er. Ende der Debatte. »Scheiß drauf«, sagte Thomas. »Vergiß es.« Er stand auf und ging. Viele Bergsteiger hatten aus Prinzip eine starke Abneigung gegen Frauen auf hohen Bergen. Sie meinten, daß Frauen zu schwach waren, kein Gespür für die Berge hatten und den Zeitplan der Expedition durcheinanderbrachten. Abe hatte dieselben Argumente von Feuerwehrleuten und Bergarbeitern in Colorado gehört, und er hakte Thomas als einen ebensolchen Macho ab. Doch wenn der Mann auch unrecht hatte, so hatte er zum Teil doch recht, denn schon Kellys Anblick versetzte Abes Herz in Unruhe. Nachts, bevor sie schlafen ging, bebte Kellys geschmeidige Silhouette an der Zeltwand, und morgens erschien sie im hellen Sonnenlicht und entfaltete ihre Schönheit wie ein Engel. 105
Sie war fast genau einen Meter achtzig groß; die eine Hälfte davon entfiel auf blonde Haare, die andere Hälfte auf Hollywood-Beine, die mit kindlichen Schrammen und Narben übersät waren. Abe hatte gehört, daß Kelly mit ihrem makellosen Körper sorglos und leichtsinnig umging, und immer wenn er die Narben sah, erschien ihm das als eine Art Vandalismus. Doch das war Kellys Art, durchs Leben zu gehen: Sie quälte sich auf Berge, durch den Busch, über Lavagestein und Korallenriffs sowie durch unzählige Triathlon-Wettkämpfe. Abe hatte die Werbeaufnahmen von Kelly gesehen und die Geschichten darüber gehört, daß sie sich manchmal ihrem Aussehen entsprechend aufführte, geschlitzte Röcke trug und sich die Nägel mit glitzerndem Nagellack Marke »Fick mich« anmalte. Doch wie eine Schlange, die sich häutet, stürzte sie sich immer wieder in die Wildnis, wo sie Tannennadeln in die Haare bekam, sich die Fingernägel abbrach und die Arme und Beine aufschürfte. Die andere Frau im Team, Gabriella Gustafson – Gus, wie sie sich in ihrer einsilbigen Art nannte –, wohnte mit Daniel auf der anderen Seite des Lazarettzelts, und sie war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Abe assoziierte die Nacht mit ihr, zum einen wegen der Farbe ihrer kurzgeschnittenen Haare, doch hauptsächlich deswegen, weil Kelly für ihn die perfekte Verkörperung des Tages war. Gus war äußerst sachlich, Kelly dagegen sehr verspielt. Gus hatte die grünen Augen und die markanten Wangenknochen einer Highlander-Prinzessin, doch ihre Lippen waren streng, unscheinbar dünn. Sie war berüchtigt für ihre Bereitschaft, die Männer in allen Belangen ausstechen zu wollen. In ihrer Laufbahn als Extrembergsteigerin hatte sie einige der schwierigsten Routen Nordamerikas bewältigt. Mit Daniel hatte sie 106
einmal eine neue Route im pakistanischen KarakorumGebirge erschlossen, auf der später zwei verschiedene Expeditionen Todesopfer zu beklagen hatten. Abe hatte viel von Gus gehört, allerdings immer nur von ihrer roboterhaften Stärke und Ausdauer. Keiner sprach darüber, daß sie eine Frau war. Niemand bezeichnete sie als Giftspritze oder männermordenden Vamp. Sie war einfach eine Bergsteigerin, und sie gehörte zu Daniel, oder Daniel gehörte zu ihr. Abe wußte nicht genau, wie das Verhältnis war – bis zur ersten Vollmondnacht. Es war nach dem Abendessen. Der Wind des Nachmittags hatte sich früh gelegt, und das Team konnte sich von der Kälte erholen. Das Außenthermometer, das an einem Skistock neben dem Küchenzelt befestigt war, zeigte relativ milde zwölf Grad minus an. In der Ferne schwebte der Everest, dreieckig, alabasterweiß und unerreichbar wie das Gespenst einer ägyptischen Pyramide. Abe benötigte seine Stirnlampe nicht. Als er in sein Zelt ging, war es dort dunkel. Es dauerte einen Moment, bis er sah, daß schon jemand da war. Der Bergsteiger stand mit bloßem Oberkörper da, beugte sich vor und schrubbte sich mit einem sterilen Tuch das Gesicht ab. Abe hatte Hunderte dieser Tücher besorgt. Der Mond unterteilte das Innere des Zeltes in schwarze und silberne Fetzen, so daß es unmöglich war, die Person zu erkennen. Abe sah sich den glänzenden Rücken an, überlegte, wer es sein könnte, und tippte auf Robby. Er hatte einen typischen Bergsteigerkörper, perfekt gebaut und ohne überflüssiges Fett. Zuckende Rückenmuskeln vereinigten sich an der Wirbelsäule in engen Furchen. Eine häßliche Narbe, die aussah wie ein Blitz, erstreckte sich vom Rücken bis zum Brustkorb. Und eine Tätowierung lugte frech aus dem Taillenbund seiner Radlerhose hervor. Sein Körper sprach eine deutliche 107
Sprache. Er gehörte in die Wildnis. »Ist ein milder Abend heute«, begrüßte Abe seinen Kameraden. »Doc?« antwortete dieser. Er richtete sich auf und drehte sich um. Es war nicht Robby. Es war auch kein anderer Mann. Es war Gus. Abe wußte nicht, was ihn mehr erschreckte: ihre silbrig glänzenden Brustwarzen, die Runzeln auf ihrem Bauch oder ihre Gleichgültigkeit gegenüber seinem Schock. Sie schien ihn herausfordern zu wollen. Gus versuchte gar nicht, ihren Körper zu bedecken. Sie blieb einfach stehen und fixierte Abe mit ihren weißen Augen. Er war durch ihre Verwandlung vom Mann zur Frau wie gelähmt. Abe sah jetzt, daß ihre roten Haare unter einer Baseballmütze zusammengebunden waren. Und ihre Haut glänzte. »Ich wollte mich nur schnell waschen«, sagte sie. »Ich wußte nicht, daß du hier bist«, erwiderte Abe. »Ich gehe kurz raus.« »Warum? Es ist dein Zelt«, bemerkte sie trocken. In der Tat. Sie forderte ihn zum Bleiben auf. Abe ließ seinen Blick über ihren Körper gleiten. Er beeilte sich damit und tat so, als würde er nachdenken. Gus hatte das Brustbein eines Bodybuilders, und seitlich davon erblühten ihre beinahe unnatürlich runden Brüste. Sie sah ihm in die Augen. Sie ließ ihn schauen. Für einen Moment, für einen kurzen Augenblick dachte Abe, sie wolle ihn verführen. In gewisser Weise tat sie das auch. »Ich habe von dir gehört«, sagte sie und begann sich abzutrocknen. »Daniel hat mir alles erzählt.« Sie stand 108
immer noch vor ihm, und sie ließ sich Zeit mit dem Handtuch, doch die Erotik war dahin. Falls sie seine Aufmerksamkeit erregen oder ihn verwirren wollte, so hatte sie das erreicht. »Was hat Daniel erzählt?« »Keine Geheimnisse. Über seine tote Diana weiß ich Bescheid, seit ich ihn kenne. Und über dich wußte ich soviel wie Daniel, also praktisch gar nichts. Du hast bei seiner Freundin die Totenwache gehalten. Dein Name ist Abe. Das ist alles, was wir wußten.« Alles? Abe überlegte. Er wollte gar nicht, daß sie mehr wußten. Er wollte vergessen, was geschehen war. »Du hast sie also beerdigt«, sagte Gus. Sie griff nach einem Unterhemd und zog es sich über den Kopf. Trotz ihrer Ernsthaftigkeit schwelgte sie doch im Gefühl der Sauberkeit. Das Hemd glitt über ihre nackte Haut. »So könnte man es sagen.« »Ja«, erwiderte sie. »Übrigens, ich wollte dich um einen Gefallen bitten.« Abe kam sich auf seltsame Art entblößt vor. Diese fremde Frau hatte sich gerade vor seinen Augen gewaschen, als wäre seine Begierde völlig unerheblich. Ihr Verhalten hatte beinahe etwas verächtliches, und das irritierte Abe, denn er hatte nichts getan, was diese Haltung rechtfertigte. »Was denn für einen Gefallen?« fragte Abe. »Das bleibt unter uns, okay?« »Einverstanden.« War das der Grund, warum sie sich ihm nackt gezeigt hatte? Damit sie ein Geheimnis miteinander hatten? »Gut«, sagte sie. »Ich weiß, daß wir erst am Anfang der Expedition stehen. Aber ich möchte, daß du dich von 109
Daniel fernhältst. Und ich werde ihn von dir fernhalten.« Abe glotzte sie schweigend an wie ein Bauernjunge. Erst hatte Thomas ihn vor Kelly gewarnt, jetzt war Gus an der Reihe. Vielleicht wollten sie ihn ausbooten. »Das geht nicht gegen dich, Abe. Aber du hast kein Anrecht auf ihn, ebensowenig wie du ein Anrecht auf sie hattest. Okay? Ich bitte dich also, ihn zu meiden.« Abe war sprachlos. Er trat einen halben Schritt zurück. »Gus …« sagte er schließlich, doch mehr fiel ihm nicht ein. Sie war es, die kein Anrecht hatte, nicht er. Das konnte nicht ihr Ernst sein. »Ich kenne Daniel«, erklärte Gus. »Er ist anders als wir. Er kann sich keine Erinnerungen leisten. Jedenfalls nicht diese.« Abe hatte sich wieder soweit gefaßt, daß er erst gekränkt und dann verärgert war. »Aber das geht nur ihn und mich was an«, sagte er. Gus hatte mit dieser alten Geschichte nichts zu tun. Abe hatte all die Jahre mit der Stimme aus der Gletscherspalte gelebt, und es war die Stimme von Daniels Freundin gewesen. Gemeinsam hatten sie das tote Mädchen im Eis begraben. Dann kam Abe auf den Gedanken, daß Gus vielleicht eifersüchtig war. Er überlegte, ob sie auf seine Verbindung zu Daniel eifersüchtig war, oder auf das tote Mädchen. Doch er sprach die Gedanken nicht aus. Das schien ihm zu kindisch zu sein. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Du würdest ihn mit dieser ganzen Scheiße umbringen.« Gus’ weiße Augen flackerten in der Dunkelheit. »Im Ernst. Diese Route hat etwas an sich, was ihn nicht losläßt. Genau wie du. Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht. Aber eines weiß ich: Wenn er die Kore-Wand schafft, wird er zur Ruhe kommen.« 110
Abe merkte, daß sie ihre Schlüsse aus denselben Ereignissen zog, die auch ihm schon aufgefallen waren. Doch sein Urteil fiel anders aus. »Wenn man einmal an der Nadel hängt«, sagte er, »kommt man nie mehr zur Ruhe.« »Er will seinen Frieden haben, Abe. Ist das so schlimm?« »Ich will auch meinen Frieden. Du auch. Den wollen wir alle.« Plötzlich wurde Gus wieder sanfter. »Ich möchte alt werden«, sagte sie ganz schlicht. »Und ich möchte Daniel an meiner Seite haben.« »Gus«, setzte Abe an. Doch sie ging unvermittelt hinaus ins helle Licht des Vollmonds. Abe blieb allein in seinem großen Zelt zurück und nahm noch ihren Geruch wahr. Sie hatte sein Verlangen gesehen. Was blieb, war Abes innere Leere, und das überraschte ihn. Die Erinnerung an Gus’ silbern schimmernde Haut beschäftigt ihn noch stundenlang. Noch länger beschäftigte ihn ihre Forderung. Doch je länger er darüber nachdachte, um so mehr lehnte er sie ab. Sie waren hier, um einen Berg zu besteigen, nicht um die Vergangenheit wieder aufzurollen. Außerdem waren sie, wie Thomas es ausgedrückt hatte, erwachsene Menschen. Und die Yaks kamen immer noch nicht. Abe vertrieb sich die Zeit, tagaus, tagein. Er stellte seine medizinischen Bücher in einer Reihe an der Zeltwand auf. Er verstaute die Medikamente und Geräte in Kisten, die er fein säuberlich mit Filzstift beschriftete. Eines Morgens räumte er das Zelt komplett aus, baute es ab und verbrachte eine Stunde damit, den Boden zu glätten. Dann baute er das Zelt wieder auf und stellte alles an seinen alten Platz. Auf der Südseite stapelte er als Windschutz 111
Steine aufeinander. Am nächsten Tag nahm er den Stapel auseinander und baute ihn in anderer Reihenfolge wieder auf. Sein Kinn war glattrasiert. In drei Tagen wusch er dreimal seine weißen Socken. Er notierte diese Waschtage sogar in seinem Tagebuch. Am 25. März tötete irgend jemand Kellys Geranie. In der High-School, in der Kelly unterrichtete, waren ihre Schüler auf die Idee gekommen, daß eine Pflanze im Zelt der geliebten Lehrerin zusätzlichen Sauerstoff produzieren würde. Kelly selbst glaubte das zwar nicht, aber dennoch hatte sie die kräftigste Geranie gekauft, die in Katmandu zu bekommen war. Sie hatte sie an mißtrauischen chinesischen Grenzsoldaten vorbeigetragen, die diese Pflanze allein deshalb verdächtig fanden, weil sie einer westlichen Frau mit gelben Haaren gehörte. Sie hatte die Blume vor hungrigen Ziegen und neugierigen Tibetern beschützt, und letztendlich auch vor Jorgens, der eines Abends gemeckert hatte, die Pflanze sei kindisch; man sei zum Bergsteigen hier, nicht zum Blumenzüchten. Die welkende Pflanze war ein Gradmesser für die Auswirkungen der Umwelteinflüsse, wie ein Kanarienvogel im Bergwerk. Das Grün wurde von Tag zu Tag blasser, und sie verlor Blätter. Sie wäre sowieso eingegangen. Doch eines Morgens half jemand nach, indem er in Kellys Zelt griff und die Blume in die Sonne hinausstellte. Bis zum Mittag war sie völlig zusammengeschrumpelt. Gus ertappte Kelly dabei, daß sie über diese kleine Bösartigkeit weinte, und sie hielt ihr eine Standpauke, daß sie unter lauter Männern keine Schwäche zeigen dürfe. Stump bekam das mit und sagte zu Gus, sie solle sich beruhigen, und das führte zu weiteren, harten Worten. »Das kann nicht gutgehen«, sagte Robby später zu Abe. »Man kann keine Kampftruppen in so einem Lager versauern lassen. Die drehen durch. Ich sage dir, bald 112
fließt Blut.« Abe hakte diese Vorhersage als eine von Robbys üblichen Prophezeiungen ab. Am treffsichersten waren sie, wenn sie das Wetter oder das Abendessen betrafen. Meistens sonderte der Tischler nur heiße Luft ab. Die Yaks kamen immer noch nicht. Das Camp verwandelte sich in einen Druckkessel. Die Bergsteiger murrten und schimpften vor sich hin. Manchmal brüllten sie auch, aber immer nur in der Abgeschiedenheit ihrer Zelte oder auf kurzen Tagesmärschen um das Tal herum. Man bekam Angst vor der eigenen Frustration, und bei den Mahlzeiten herrschte – bis auf gelegentlichen Smalltalk – meistens Schweigen. Die Moral der Truppe wurde zusehends schlechter. Abe merkte das an seinen schwindenden Vorräten an Aspirin, Amphetaminen und Morphium. Das waren die Entspannungsdrogen, mit denen sich einige Mitglieder des Teams im Lazarettzelt eindeckten. Weil genug da war, hinderte Abe sie nicht daran, aber er nahm ihre Verzweiflung zur Kenntnis. Und dann fiel ihnen der Himmel auf den Kopf – jedenfalls beinahe. Es war der Nachmittag des 28. März, und Abe brachte schon die Wochentage durcheinander. Sie hatten sich an der sogenannten Grabkammer versammelt, einer niedrigen Steinhütte, die einige hundert Meter außerhalb des Camps auf einem kleinen Hügel lag. Als George Mallory 1924 in der Nähe des Gipfels verschwunden war, hatten seine Kameraden ihm auf diesem Hügel ein primitives Denkmal gesetzt. Im Laufe der Jahre hatten verschiedene Expeditionen die flachen Steine des Denkmals für Windfänge zweckentfremdet und daraus auch diese drei mal drei Meter große Hütte gebaut, deren Eingang dem Everest gegenüberlag. Inzwischen war 113
die Hütte das einzige, was noch von dem Denkmal übrig war, doch auch sie verfiel langsam. Die Wände stürzten ein, und das Dach fehlte. Jorgens hatte vorgehabt, die »Grabkammer« als Latrine zu benutzen. Er wollte, daß die Frauen sich in ein Gebäude mit Wänden zurückziehen konnten und nicht auf ein simples Loch im Boden angewiesen waren. Doch ausgerechnet Gus, eine Frau, lehnte das ab und wurde wütend. »Das wäre pietätlos«, sagte sie. Jorgens spottete und erwiderte, daß auf dem Everest entweder alles oder gar nichts pietätlos sei. Gus sagte daraufhin, daß die Entscheidung bei ihnen läge, was richtig sei und was nicht. In einer Hütte zu scheißen, die aus den Steinen eines Denkmals bestehe, sei definitiv nicht richtig. Dann könne man auch gleich in ein Grab scheißen. Die Bergsteiger kamen gerne hier zusammen und vertrieben sich die Zeit. Manche lasen schlechte Horrorund Kriegsromane oder Comics, andere streckten die Beine aus der Tür und dösten oder bastelten an ihrer Kletterausrüstung oder schlürften Tee. Hinter einem Felsbrocken saß Thomas und spielte kurzatmige Blues-Melodien auf seiner Mundharmonika. Jorgens und Robby versuchten ihre sieben koreanischen Walkie-Talkies in Ordnung zu bringen. Ohne die Funkgeräte würde auf dem Berg keine Kommunikation zwischen den Camps möglich sein. Vorausgesetzt, sie schafften es überhaupt bis auf den Berg. Stump pinselte sein neuestes Everest-Aquarell, doch die trockene Kälte machte ihm immer wieder einen Strich durch die Rechnung. Ständig fror ihm die Farbe ein, und wenn sie wieder taute, sah das Bild plötzlich ganz anders aus. Krishna Rai, der kleinwüchsige Koch, hatte den 114
gemeinschaftlichen Gettoblaster vor dem Küchenzelt aufgestellt, und so klangen die Songs der Cowboy Junkies durch das sonnige Tal. Heute war Abe mit dem Signieren der Ultimate-Summit-Grußkarten an der Reihe, und er hatte noch zwei- oder dreihundert Autogramme vor sich. Ungefähr zu dieser Zeit platzte JayJay der Kragen. »Hey«, rief er plötzlich, und Abe hörte auf zu schreiben. Die Mundharmonika im Hintergrund verstummte. Stump ließ seinen Pinsel sinken. Ein Dutzend Köpfe drehte sich um und wollte sehen, wer oder was JayJays Hormone diesmal in Wallung gebracht hatte. Es war Li. Der Verbindungsoffizier kam gerade mit einer neuen Tasse Schweizer Schoko-Kaffee aus dem Küchenzelt – ein Luxus, der bei ihm langsam zur Sucht wurde. Li hatte keine blasse Ahnung, daß JayJay es auf ihn abgesehen hatte. Er konzentrierte sich auf seine volle Tasse und das unebene Gelände und ging einfach weiter. »Hey, Sie!« rief JayJay wieder. Er stand da in Shorts und Sandalen, und die Mittagssonne unterteilte seinen Körper in schimmernde Linien und Streifen. »Wo bleiben die Yaks, Mann?« Li verlangsamte seine Schritte. Er blickte überrascht auf. »Mr. Packard?« Er blinzelte. »Wir haben feste Zusagen«, sagte JayJay etwas leiser. Jetzt war er selbst überrascht, denn er hatte nicht vorgehabt, komplizierte Erklärungen abzugeben. Er hatte nur ein bißchen herumschreien wollen, um seinem Ärger Luft zu machen. Aber nun hatte er schon angefangen. »Wir haben die Yaks bei der chinesischen Regierung bezahlt. In US-Dollar. Im voraus.« »JayJay«, knurrte Jorgens. Doch er ignorierte ihn. »Sie müssen uns die Yaks besorgen. Ich hab nicht 115
meinen Job gekündigt, mein Kind im Stich gelassen und zehntausend Kilometer hinter mich gebracht, um mich von der Volksrepublik bescheißen zu lassen.« »Bescheißen?« fragte Li, der nur langsam begriff, was der Wortschwall zu bedeuten hatte. »Ja, verdammt. Betrügen.« Der Verbindungsoffizier blickte in die vielen Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren. Einige Sherpas waren erschienen, und neugierige Bergsteiger kamen aus ihren Zelten. Abe beobachtete das Geschehen und war fasziniert von der sich abzeichnenden häßlichen Szene. Der Volkszorn kochte über. Auch Abe verspürte die Verlockung der Lynchjustiz. Lis Gesicht verfinsterte sich proportional zum steigenden Interesse des Publikums. »Die Yaks werden kommen«, sagte Li. »Das habe ich Ihnen gesagt.« »Es gibt gar keine Yaks«, entgegnete JayJay. »Das ist alles nur Gerede.« Li errötete. »Die Yaks werden kommen.« In diesem Moment tauchte Daniel aus dem Nichts auf und baute sich vor JayJay auf. Er trug weite Jeans und ein weites graues Hemd, und obwohl Daniel groß war und kräftige Unterarme hatte, wirkte er gegenüber JayJay schmächtig. »Es reicht«, sagte Daniel. »Halt dich da raus«, fauchte JayJay. »Du bist von der Rolle«, sagte Daniel. »Ich bitte dich höflich: Laß es sein.« JayJay schaute kurz in den Himmel hinauf. Man sah so etwas wie Angst oder Schmerz in seinem Gesicht, und Abe wußte, daß JayJay seinen Wutausbruch schon bereute – jetzt, wo Daniel sich eingeschaltet hatte. Doch die Situation hatte eine Eigendynamik entwickelt, und JayJay 116
mußte die Sache zu Ende bringen. »Ich bin von der Rolle?« fragte er und drehte sich zu den Zuschauern um. An seinem Hals und seinem Bizeps traten die Adern hervor. »Wir haben keine Yaks. Wir können das schöne Wetter nicht nutzen. Wir werden fett. Unser Verbindungsoffizier trinkt teuren Kaffee und erfindet Lügen. Und ich bin von der Rolle?« Innerlich nickte Abe zustimmend. Sie waren zum Bergsteigen hier, nicht zum Essen und Schlafen. JayJays Wut war auch seine Wut. Es war ihrer aller Wut, und sie war echt. Doch dann machte JayJay einen Fehler. Er wußte offensichtlich nicht mehr, was er sagen sollte. Eine ganze Minute lang stand er mit leerem Blick da. Dann schlug er sich auf die bloßen Oberschenkel, zuckte mit seinen breiten Schultern und improvisierte ein Finale. »Ach, was soll’s«, sagte er seufzend in die Runde, »was soll man schon erwarten … von einem Schlitzauge?« Später mutmaßte Abe, daß Li die Beleidigung gar nicht gehört hatte, denn Abe war sich nicht sicher, ob er selber sie gehört hatte, denn nur Sekundenbruchteile nach dem Wort landete Daniels Faust in JayJays Gesicht. JayJay stürzte unsanft zu Boden. Seine Beine knickten ein, wie die eines tödlich getroffenen Stiers. Er fiel so schnell, daß das Blut noch durch die Luft spritzte, als der Kopf auf der Erde aufschlug. Einen Augenblick später spürte Abe einen warmen Regentropfen im Gesicht, und als er ihn berührt hatte, war seine Fingerspitze rot. Der Kampf war sofort vorüber. Die Bergsteiger und die Sherpas kehrten dem scheußlichen Spektakel wortlos den Rücken und wandten sich wieder ihrem Zeitvertreib zu, außer Abe und Daniel, der seine Hand schüttelte, als hätte er damit gegen einen Baum geschlagen. Li ging mit seiner 117
Tasse Schoko-Kaffee davon und umkurvte vorsichtig den Riesen, der am Boden lag. Stump malte weiter an seinem Bild. JayJay lag im Dreck. Es dauerte eine Minute, bis JayJay überhaupt nur stöhnen konnte, und inzwischen beugte Abe sich schon über ihn, um den Schaden zu begrenzen. Blut klebte auf dem Felsboden, an JayJays Gesicht und an Abes neuen Nike-Schuhen. Abe machte sich vor allem Sorgen um JayJays Zähne, denn sein zahnmedizinisches Wissen beschränkte sich auf den Inhalt eines Buches. Zu seiner Erleichterung hatte Daniels Faust nur eine Platzwunde über dem rechten Auge hinterlassen, und die konnte man mit ein paar Nadelstichen und einer Tube Neosporin versorgen. Jorgens stand auf und kam dazu. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und pustete Luft in seinen spitzen Bart. »So fest wollte ich nicht zuschlagen«, sagte Daniel zu dem betäubt daliegenden JayJay. »Dann bin ich aber froh, daß du nicht noch fester zuschlagen wolltest«, sagte Jorgens anerkennend. Abe hatte Jorgens’ ängstlichen Blick gesehen, als JayJay den Verbindungsoffizier zusammengestaucht hatte. Der Blick hatte sich geändert. Jorgens war aufgeregt und gleichzeitig erleichtert; beeindruckt von Daniels Kraft und erleichert, daß die Meuterei vorüber war. Abe erkannte das an Jorgens’ Augen und dem Fatalismus in seiner Stimme. »Ich kann schließlich nicht zulassen, daß er die Expedition versaut«, erklärte Daniel. »Um Himmels willen, nein«, sagte Jorgens zustimmend. Abe blickte zu Boden. Er begriff die Gewalt nicht: das Geschrei, die Raserei, den Faustschlag. Und die Gleichgültigkeit, die er aus dem Augenwinkel sah. Rundherum Gleichgültigkeit. 118
Außerdem begriff Abe nicht, daß Daniel so schnell reagiert hatte. Nein, das stimmte nicht ganz. Nicht die Schnelligkeit von Daniels Tat überwältigte ihn, sondern die Vollkommenheit. Daniels Faust hatte die Sache mit solch einer Endgültigkeit beendet, daß ungeklärt blieb, ob das nun richtig oder falsch war. Der Faustschlag war einfach eine Tatsache, wie das Ausbleiben der Yaks oder der Sonnenuntergang. »Verdammt, ja, du hattest recht«, sagte Jorgens. »Das war knapp. Noch ein Wort, und wir hätten unsere Sachen packen können. Aber du hast das verhindert. Verdammt, du hattest recht. Und JayJay hatte unrecht.« »Nein«, sagte Daniel. »Er hatte auch recht. Li muß uns die verdammten Yaks besorgen.« Jorgens’ Kopf schnellte nach hinten; fast so, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. In Panik sah er sich nach Li um, doch der war schon weg, mitsamt dem Schweizer Schoko-Kaffee. JayJay kam wieder zur Besinnung. Er schüttelte sich, versprühte dabei Blutstropfen, zog die Augenbrauen hoch und verkündete: »Respekt, Mann. Respekt.« Daniel blickte auf JayJay herab und sagte: »Vergiß es.« Langsam, mit einem stechenden Schmerz, kniete Daniel sich hin und legte eine Hand auf JayJays Schulter. JayJay sah Daniel ins Gesicht. Sein Blick hellte sich auf. Er lächelte. »Daniel«, sagte er, »alles wieder okay?« Und plötzlich wußte Abe, daß dies eine Meuterei gewesen war und daß von nun an alles anders sein würde. Die Gruppe hatte einen neuen Anführer. Als hätten die Geister des Himalaja beschlossen, daß ihnen das Blutopfer genügte, stand der Berg dem Team 119
nun endlich offen. Noch am selben Nachmittag wurde die Expedition aus dem Tal befreit. Abe blickte nach Norden, und er war der erste, der die großen dunklen Vögel am Himmel sah. Sie schlugen mit den Flügeln wie Albatrosse, die hinter einer Galeonenflotte herflogen. Noch vor einer Minute waren im Norden nichts als Felsen und das flache Tal zu sehen gewesen, und jetzt waren da diese Vögel. Dann tauchte am anderen Ende des Tals eine große Zahl von dunklen, schwerfälligen Gestalten auf. »Seht mal«, sagte Abe. »Die Yaks«, rief jemand. »Sie kommen!« Alle kamen aus ihren Zelten, um die Ankunft der Yaks zu beobachten. Es dauerte fast zwei Stunden. Die Herde bewegte sich langsam, und aus der Ferne hörte Abe ein rauhes Blöken und ein heftiges Krachen. Das Blöken war leicht als verzerrte menschliche Stimme zu erkennen. Bei dem krachenden Geräusch tippte Abe auf Peitschenknallen. Doch als die Herde näher kam, sah er, daß das Geräusch von Steinen verursacht wurde. Die Hirten lenkten ihre Tiere, indem sie ihnen Steine auf das linke oder rechte Horn warfen. Überall im Camp jauchzten die Bergsteiger wie Cowboys am Samstagabend. Abe schnappte sich seine alte Pentax und ein Teleobjektiv und rannte durch das Camp, um sich einen günstigeren Blickwinkel zu verschaffen. Er sah Li am Eingang des Küchenzeltes stehen, hielt an und nickte ihm freundlich zu. Der chinesische Offizier sah ihn triumphierend an, und Abe gönnte ihm die Genugtuung. Er hoffte nur, daß Li es nicht zuweit treiben würde, denn damit würde er sich nur Feinde schaffen. Die lauten Rufe und das Geräusch der Steine, die an den Hörnern abprallten, kamen immer näher, und nun hörte 120
Abe auch die großen schwarzen Raben über der Herde schreien. »Jetzt werden Sie sehen«, sagte Li, »daß die Tibeter Barbaren sind.« Abe mußte ihm zustimmen. Durch das Teleobjektiv sahen die Hirten und ihre Tiere aus wie eine Horde Vandalen. Sie bewegten sich gleichmäßig wie eine Gewitterwolke. Die Gesichter des Yakhirten waren von der Sonne geschwärzt, und ihre dicke, mehrlagige Kleidung war so schmutzig, daß sie einen erdigen Farbton angenommen hatte. Einige der Männer hatten im Stil der Nomaden einen Arm entblößt und zeigten eine weiße Schulter. Manche trugen lange schwarze Haarbänder, andere hatten Mao-Mützen oder altmodische Schneebrillen auf. Sie kamen immer näher, und Abe hörte die primitiven Yak-Glocken, die in verschiedenen Tonhöhen klingelten, und er sah, daß die Hosen der Männer teils aus dickem Leder, teils aus chinesischem Stoff waren. Einige liefen barfuß, andere trugen ausgetretene Tennisschuhe oder Fellstiefel. »Da kommt das Ende der Welt«, verkündete Li. Abe sagte nichts. Es war verständlich, daß Li die Yakhirten als wild und unzivilisiert ansah, als Ausgeburt der Finsternis. Für Li war Peking wie das alte Rom, und er war ein kleiner Funktionär, der nun in den entlegenen Provinzen des Reiches Dienst tat. In seinem warmen Büro war Ordnung für ihn selbstverständlich gewesen. Doch hier draußen wurde die Ordnung von den bedrohlichen Bergen, dem weiten Himmel und den fremdartigen Eingeborenen zerstört. »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Li. »Wir müssen uns schützen vor …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… vor der Gefahr.« 121
Abe hatte noch nie zuvor einen Yak gesehen, und er war etwas enttäuscht, daß sie so klein waren. Die wenigen wilden Yaks, die es in Tibet noch gab, waren angeblich riesengroß. Doch diese zahme Version war ein Mittelding zwischen Bernhardiner und amerikanischer Milchkuh. Die Tiere sahen zwar so wild aus wie texanische Langhörner, aber längst nicht so bedrohlich. Sie waren scheu und schreckhaft, deshalb hörten die Bergsteiger mit ihrem Jubelgeschrei auf. Es waren fünfzig oder sechzig Yaks mit hellem, bräunlichem oder schwarzem Fell, das zottelig herabhing. Die Hirten betraten mit ihrer Herde das Basislager, und sofort war es auch ihr Lager geworden. Abe begriff jetzt, warum die menschlichen und tierischen Exkremente auf dem Boden sich so vermischt hatten. Die Tibeter schlugen ihre offenen Zelte zwischen den Zelten der Bergsteiger auf, und die Yaks liefen überall mit klingelnden Glöckchen herum und fraßen das trockene Gras. Mitten aus der Yakherde heraus rief jemand Abes Namen. Abe sah sich suchend in dem Gedränge um. Es dauerte eine Weile, bis er Daniel entdeckte. Dieser war zwar hellhäutiger und größer als die Tibeter, hinkte erkennbar und trug westliche Kleidung, doch irgendwie war er für Abe schwer von den Nomaden zu unterscheiden. »Halt die Augen offen«, rief Daniel über die herumlaufenden Yaks hinweg. »Paß auf die Wertsachen auf. Diese Yakhirten klauen wie die Raben.« Er grinste, und Abe nannte es das »Nordwand-Grinsen«. Die Aussicht darauf, daß sie mit Hilfe der Yaks endlich zum Everest aufbrechen konnten, hatte ein ansteckendes, breites, entschlossenes Grinsen ausgelöst. Alle im Team waren davon befallen. Auch Abe spürte, wie es sich in seinem Gesicht ausbreitete. 122
»Ich dachte schon, sie kommen nicht mehr«, sagte Abe. »Die? Die würden auch kommen, wenn sie nicht eingeladen wären. Für die sind wir Zirkus, Supermarkt und Bank in einem. Wir sorgen für Unterhaltung und Essen, und wir bezahlen sie auch noch.« Aus der Ferne sah Gus zu ihnen herüber. Als Abe ihr zunickte, wandte sie sich ab. »Du warst sicher, daß sie kommen würden?« »Daß sie kommen, stand fest. Die Frage war nur, wann. Das Problem ist, daß in Tibet dieselbe Zeitrechnung gilt wie in Mexiko. Ständig heißt es: ›mañana, mañana.‹« »Jetzt geht die Expedition also richtig los«, sagte Abe. »Abe«, entgegnete Daniel und wurde plötzlich ganz sachlich, »die Expedition hat schon vor langer Zeit angefangen. Aber das weißt du ja.« Abe sah ihn flüchtig an. Die Worte waren rätselhaft, das Lächeln nicht. Aber Daniel hatte keine Lust auf weitere Erklärungen. Er wandte den Blick ab und schwelgte breit grinsend in dem Chaos, das ihn umgab. Ein grelles Licht, eine tiefe Stimme, eine Hand – Abe wurde aus dem Schlaf gerissen. »Doktor, Sir.« Ein Sherpa mit einer Stirnlampe beugte sich über ihn. Seine Stimme klang ernst, und draußen heulte der Wind. »Nima«, sagte Abe. Irgend etwas stimmte nicht. Jemand mußte krank sein. Er kannte diese Art des Gewecktwerdens, das grelle Licht und die leisen, ernsten Stimmen. Er wurde gebraucht. »Ein Mann«, sagte der Sherpa, »sehr krank.« »Jetzt?« fragte Abe flehentlich. Er hatte sich so schön in seinen warmen Kokon aus Gänsedaunen eingekuschelt, 123
und draußen war es so kalt. Er nahm es Nima ein wenig übel, daß dieser ihn gerade von einem weißen Strand mit nackter Haut und grünem Tequila geholt hatte. Abe blinzelte und hielt eine Hand vor die Augen. Er hatte Kopfschmerzen und lechzte nach Gletscherwasser. »Dieser Mann sein sehr krank«, wiederholte Nima. »Bitte Sie jetzt mitkommen.« Es klang ruhig, aber nachdrücklich. Die Ruhe war typisch für Sherpas, der Nachdruck nicht. Nicht gegenüber einem weißen Arbeitgeber. Abe wurde hellhörig. »Gut, dann bringt ihn her.« »Nicht möglich, Sir.« »Ich sehe ihn mir an. Aber das will ich hier tun. Meine Instrumente sind hier.« Das war ein Teil der Wahrheit. Aber vor allem wollte Abe nicht hinaus in die Kälte. Nima gab nicht nach. »Nicht möglich.« »Was ist denn mit ihm?« »Sehr, sehr krank. Vielleicht bald sterben. Hier lang, Sir.« Er zeigte in eine Richtung, in der keine Zelte waren, nur Dunkelheit und nochmals Dunkelheit. Doch Nima war nicht der Typ, der blinden Alarm schlug. »Ja, ist gut.« Abe richtete sich auf. Wenn man auf dem Boden schlief, gab es einfach keine würdevolle Art des Aufstehens, und im Schein von Nimas Lampe kam Abe sich doppelt unbeholfen vor. Er zog sich schnell an und sah dann auf die Uhr. Es war halb vier. Abe durchwühlte die offenen Kisten, die an der Zeltwand standen, und suchte das Nötigste zusammen. Er stopfte sich ein Stethoskop, ein Blutdruckmeßgerät und eine Taschenlampe in die Parka-Tasche und breitete dann ein paar Dinge auf dem Schlafsack aus. Eine Flasche 124
Lidocain und eine 3-ccm-Spritze für die örtliche Betäubung sowie verschiedene Nadeln und Fäden. Ein Skalpell Nr. 15, eine Schere, eine Betadine-Bürste, Handschuhe, Verbände, Ciprofloxacin gegen allgemeine Infektionen, Benadryl gegen Entzündungen. Abe warf noch einmal einen Blick auf seine Notapotheke und steckte alles in seinen kleinen Rucksack. Dann folgte er Nima in die Kälte der Nacht. Abe leuchtete das geräuschlos daliegende Camp ab. Dann hielt er seine Lampe in Nimas Richtung. Um sie herum war es stockfinster. Abe wußte nicht, wohin Nima ihn führte, bis sie Mallorys »Grabkammer« fast erreicht hatten. Erst jetzt sah er, daß die Sherpas oder die Hirten eine alte Zeltplane als Dach über die schiefen Wände gespannt hatten. Gestern war die Hütte noch eine offene Ruine gewesen. Doch durch die notdürftige Instandsetzung sah sie jetzt noch unbewohnbarer und unscheinbarer aus. Im Schein von Abes Stirnlampe wirkte die Hütte so schaurig, daß sie ihrem Spitznamen gerecht wurde. Am Eingang der Hütte blieb Abe stehen, wünschte sich insgeheim eine Tasse heißen Tee und hoffte, daß es eine Verletzung sein würde, keine Krankheit. Mit Verletzungen kannte er sich aus. Bei Verletzungen war das Problem oft klar erkennbar und, was noch besser war, manuell zu beheben. Wunden heilten, und den Heilungsprozeß konnte man sehen. Bei Krankheiten dagegen verbarg der Körper seine Probleme. Man zweifelte häufig an seinen medizinischen Kenntnissen und litt mit den Kranken mit. Abe atmete tief durch und ging durch die zerfetzte Zeltplane, die als Tür diente. Er war nicht auf den primitiven Anblick vorbereitet, der sich ihm bot. Die Hütte wurde von zwei Stirnlampen erleuchtet, die an Haken an der Wand hingen. Dichter Weihrauchqualm lag in der 125
Luft, und es war nicht zu erkennen, wie viele Menschen sich in der Hütte befanden. Das Weiß ihrer Augen schimmerte im Halbdunkel. Der Patient lag in einem Expeditions-Schlafsack auf einem Stapel von drei oder vier brandneuen Isomatten – ein Luxus, den selbst Jorgens sich nicht erlaubt hätte. Die Sherpas hatten dem Mann offenbar ihre Sachen überlassen. Das war ungewöhnlich, denn Abe hatte beobachtet, daß die Sherpas und die Yakhirten sich nicht besonders mochten. Nima befahl den Hirten barsch, daß sie Platz machen sollen, und sie wichen zurück. Der Patient war ein junger Mann, wahrscheinlich noch keine zwanzig Jahre alt. Er hatte kurzgeschnittene Haare. Unter einer Schicht aus Schmutz und blauem Rauch verbarg sich ein hübsches Gesicht, rundlich und doch schmaler als die meisten tibetischen Gesichter, die Abe bisher gesehen hatte. Unter der schwarzbraunen Pigmentierung hatten die breiten mongolischen Wangen des Jungen eine rosige Farbe. Er war bewußtlos und atmete schwer, und doch sah er gesund aus, kräftig sogar. Abe hatte den Jungen vorher noch nicht gesehen und nahm an, daß er erst in der Nacht gekommen war, vielleicht mit verirrten Yaks. »Halt mal die Lampe«, sagte Abe zu Nima. Abe kniete sich auf den kalten Boden. Über ihm raschelte das Nylondach im Wind. Der graue Weihrauch lag in der Luft wie wäßriger Nebel. Alles in der Hütte hatte den Anschein eines verschwommenen Trugbilds. Abe schlug eine Ecke des Schlafsacks zur Seite. Dann bewegte Nima die Lampe, oder der Nebel lichtete sich, und plötzlich sprang Abe die linke Gesichtshälfte des Mannes ins Auge. Es sah völlig anders aus als noch vor einer Minute. Von den Lippen bis zum linken Ohr war die Wange gequetscht, rot und geschwollen wie das Gesicht 126
eines Boxers. Ganz offensichtlich war der Junge geschlagen worden. Abe hatte gehört, wie gewalttätig die Tibeter werden konnten, wenn sie betrunken waren, doch wenn dies das Ergebnis einer Schlägerei war, dann lag sie schon länger zurück: Die Verletzungen waren nicht frisch, sondern mindestens einige Tage alt. Abe nahm sich vor, den Jungen auf Gesichtsfrakturen und lose Zähne zu untersuchen. Aber zuerst die lebenswichtigen Organe, sagte er sich. Dann vom Kopf abwärts. Immer die Reihenfolge einhalten. Der Hals des Jungen war sehr heiß, als Abe den schnellen, schwachen Puls fühlte. Der Blutdruck war hoch, doch das war angesichts der Höhenluft nicht ungewöhnlich. Abe zog die Augenlider auseinander. Die Pupillen waren unterschiedlich; die eine groß, die andere winzig klein. Das deutete möglicherweise auf ein epidurales Hämatom hin: arterielle Blutungen an der Hirnhaut. So weit von einem Krankenhaus entfernt würde das den sicheren Tod bedeuten. Abe beugte sich tiefer über den Jungen und hoffte, seine Vermutung widerlegen zu können. Er tastete den Hinterkopf nach Blut oder Schwellungen ab. Abe spürte die stoppeligen Haare des Jungen in der Handfläche. Er faßte den Schädel vorsichtig an, beinahe ehrfürchtig. Obwohl er schon so oft die Köpfe von Verletzten in den Händen gehalten hatte, überraschte es ihn immer wieder, daß die Gedanken und Erinnerungen eines ganzen Lebens so leicht sein konnten, doch gleichzeitig wunderte er sich auch, daß zwei Handvoll Knochen und Wasser so schwer waren. Die meisten Patienten mit Hirnhautblutungen starben innerhalb von acht Stunden. Doch die Schwellung im Gesicht – die mit einer möglichen Schädelfraktur zusammenhängen konnte – sah aus, als wäre sie eine 127
Woche alt. Es war keine Beule zu sehen. Kein Blut oder Sekret in den Ohren. Was nun, fragte sich Abe im stillen. Schädelverletzung oder nicht? Dann bewegte Nima wieder die Lampe, und plötzlich glichen sich die Pupillen an. Sie schienen jetzt gleich groß zu sein. Abe war verwirrt, aber erleichtert. Er wandte sich den anderen Körperteilen zu. »Mal sehen, was er noch hat«, sagte Abe zu Nima. Zusammen öffneten sie den Reißverschluß des Schlafsacks und legten den Junge bloß. Er hatte Yakfelle und eine gesteppte Hose an. Es roch nach altem Erbrochenen, und auf dem Hemd des Jungen waren Blutflecke. Wer auch immer ihn hier hingelegt hatte – er war nicht dazu gekommen, ihm die chinesischen Turnschuhe von den große Füßen zu ziehen. Abe öffnete die Felljacke, zog das blutige Hemd hoch und erstarrte. Im ersten Moment glaubte Abe, es seien Masern. Die Brust des Jungen war von mindestens einem Dutzend kreisförmiger Wunden übersät. Aber seltsamerweise waren sie um die Brustwarzen herum angeordnet. Abe revidierte seine Vermutung. Die Pusteln konnten von den Bissen irgendeines großen Parasiten herrühren, die sich entzündet hatten. Dann glaubte Abe wieder an eine Krankheit und mutmaßte, daß es sich um eine asiatische Seuche handeln konnte. Aber vielleicht war es auch etwas ganz anderes. Verwirrt wandte sich Abe an Nima. »Was ist mit dem Jungen passiert?« fragte er. Nima zuckte hilflos mit den Achseln. »Er wurde geschlagen«, sagte Abe und ballte zur Veranschaulichung die Faust. »Ja, Sir.« »Wer hat das getan?« fragte Abe. Dann präzisierte er die 128
Frage. »Und wann?« »Dieser Junge ein sehr guter Junge«, sagte der Sherpa. Also gut, dachte Abe. Reden wir also von dem Jungen. »Wer ist er? Woher kommt er?« Nima streckte die offenen Handflächen in die Höhe, um seine Unwissenheit zu demonstrieren. »Ich weiß nicht, Sir. Irgendein Junge.« »Ist er ein Yakhirte?« fragte Abe. »Ja.« Nima wich seinem Blick aus. »Yakhirte.« Nima wußte mehr, als er sagte. Abe kannte den Grund dafür nicht, und er fragte auch nicht danach. Das war eine andere Geschichte. »Ist es auf dem Weg hierher passiert?« »Ja.« »Was ist passiert, Nima?« »Ich weiß nicht, Sir.« »Nima, bitte …« Nima dachte nach. »Nicht möglich.« »Du kannst es mir nicht sagen? Oder weißt du es nicht?« »Ja, Sir.« Abe seufzte. »Frag seine Freunde, Nima.« Nima stellte den Yakhirten mit barscher Stimme eine Frage und sprach dann wieder mit Abe. »Sie sagen, dieser Mann hingefallen, zittern, zittern. Ich weiß nicht.« Das war wieder ein Hinweis auf Malaria, aber Abe glaubte nicht daran. Er würde später in seinem dicken Ärztehandbuch nachschlagen müssen, aber dies hier sah einfach nicht nach Malaria aus. »Sonst noch etwas?« »Nein, Sir.« 129
Abe blickte auf und sah in die stechenden weißen Augen, die in der düsteren Hütte leuchteten. Der Rauch war so dicht, daß man die Wände nicht erkennen konnte, und die dunklen Gesichter waren unsichtbar. Doch die Augen stachen aus der Dunkelheit hervor, starr und rätselhaft. Die Neugier der Yakhirten ging über den Voyeurismus hinaus, der bei jedem Unfall zu beobachten ist. Die Tibeter hatten Angst. Das war daran zu erkennen, daß sie um diese Zeit in so großer Zahl hier waren und monoton vor sich hin murmelten. Abe wußte, daß sie beteten. Einige der Yakhirten beteten inbrünstig und ohne Unterbrechung. Aber warum? Abe blickte auf seinen Patienten herab und sah nur »irgendeinen Jungen«, einen Menschen wie sich selbst, bis auf die eigenartigen Wunden und das fiebrige Delirium. »Nima«, setzte er noch einmal an, gab dann aber auf. Abe ermahnte sich selbst. Es war nicht Nima, der eine Antwort finden mußte. Er selbst, Abraham, der Möchtegern-Arzt, mußte herausfinden, warum dieser Mann bewußtlos auf der Erde lag. Bisher hatte Abe immer die Gewißheit gehabt, daß seine Patienten in die Obhut von Frauen und Männern kommen würden, die mehr wußten als er und andere Geräte zur Verfügung hatten. Sobald er seine Patienten in der Notaufnahme abgeliefert hatte, waren sie verschwunden, und er mußte sich keine Gedanken mehr um sie machen. Doch diesen tibetischen Jungen konnte er nirgendwo abliefern. Abe mußte sich selbst um ihn kümmern. Zwar rührte es ihn, daß die Yakhirten – und alle anderen, die sich im Tal befanden – auf ihn angewiesen waren, doch Abe war darüber auch verärgert. Er konnte nicht ihr Allheilmittel gegen Krankheit und Schmerzen, Risiko und Tod sein. Er war auch nur einer von ihnen: ein Wanderer, 130
der nicht auf alle Fragen eine Antwort wußte. Sie nannten ihn »Doc«, weil es sie beruhigte, und weil sie dachten, daß es ihm schmeicheln würde, doch Abe war es peinlich, denn er wußte, daß richtige Ärzte Leute wie ihn für Dilettanten und Quacksalber hielten. Er war ein guter Sanitäter, aber ein Sanitäter war nun mal kein Arzt, sondern bestenfalls der Cowboy, der bei Autounfällen, Herzstillständen und abgestürzten Bergsteigern zuerst zur Stelle war und den Schmerz lindern konnte. Abe hatte vielen Menschen das Leben gerettet. Er tat das seit Jahren, und manchmal hatte er sogar jemanden aus dem klinischen Tod zurückgeholt. Doch er traute seinen eigenen Motiven nicht mehr, denn im Grunde beruhte seine Tätigkeit auf der völligen Hilflosigkeit der Menschen. Er wurde von den Menschen gebraucht, die keine andere Wahl hatten. Abe hatte diese Gedanken schon zu oft gehabt, um sich durch sie noch ablenken zu lassen. Sie waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen, und er ging so selbstverständlich mit ihnen um wie mit den schlaffen Armen des Jungen, die er auf Brüche untersuchte. Abe hatte ein Talent dafür, seine Zweifel als Hintergrundgeräusche wahrzunehmen und trotzdem seine Arbeit zu tun. Schnell tastete er den Jungen nach gebrochenen Rippen, Deformierungen der unteren Wirbelsäule und Beckenfrakturen ab. Die Lampe bewegte sich wieder, und diesmal offenbarte sie blaßgelbe Blutergüsse auf dem Bauch. Aber Abe fand keine Schwellungen, keine ungewöhnlichen Knoten. Eine Faustregel besagte, daß man bei bewußtlosen Patienten immer mit Verletzungen der Wirbelsäule rechnen sollte. Abe hoffte, daß die Geschichte über den Zusammenbruch des Jungen stimmte, denn für jemanden mit einer Rückenverletzung wäre der Tod angenehmer 131
gewesen als die Evakuierung über den Pang La und die unebenen tibetischen Straßen. Vorsichtig zog Abe dem Jungen die Schuhe aus – er trug keine Socken – und kratzte mit einem Stein an den nackten Fußsohlen. Zu Abes Erleichterung zuckten beide Füße. Hinter den Achillessehnen konnte Abe den Puls fühlen; das bedeutete, daß der Blutkreislauf in Ordnung war – noch ein gutes Zeichen. Abe fuhr mit den Fingern an beiden Beinen entlang, von den Hüften bis zu den Zehen: keine fühlbaren Brüche, keine Verrenkungen. Dann zog er dem Tibeter mit Nimas Hilfe die gesteppte Hose aus. Auf den ersten Blick sah Abe nichts Außergewöhnliches, doch dann offenbarte das Licht – oder der Schatten – weitere Verletzungen, und Abe war wieder einmal verwirrt. An beiden Unterschenkeln war das Fleisch gequetscht und aufgeplatzt. Teilweise sahen die Wunden aus wie ein Muster, teilweise überlagerten sie sich. Die Beine sahen aus wie eine schlecht bemalte Leinwand. Einige Wunden waren frisch und dunkelblau. Andere mußten einen Monat alt sein, denn sie waren grün oder gelb. Insgesamt war es ein Bild des Schreckens. Die Yakhirten an der Wand murmelten bei dem Anblick vor sich hin. Auch Nima reagierte. Abe spürte, wie sich der Sherpa immer mehr in sich selbst zurückzog. Nima kniete zwar immer noch neben ihm, doch seine Ausgeglichenheit hatte sich in Erschütterung oder Angst oder Haß verwandelt. In irgend etwas. Aus irgendeinem Grund hatte er die Beherrschung verloren. Seltsamerweise fühlte Abe sich durch Nimas Nervenschwäche gestärkt. Abe nahm die Lampe und beugte sich dicht über die mysteriösen Verletzungen an den Beinen des Jungen. Er brach einige der Wunden auf, um sie flüchtig zu 132
untersuchen. Er stach hinein und suchte nach Anhaltspunkten. Abe hatte schon einige Bergsteiger gerettet – oder geborgen, wenn sie nicht mehr zu retten waren –, die aus großer Höhe abgestürzt waren und dabei förmlich in Stücke gerissen wurden. Teilweise sahen die Fleischwunden des Jungen so aus, als würden sie von einem solchen Konflikt mit der Schwerkraft herrühren. Doch einige Wunden sahen anders aus. »Verdammt«, fluchte Abe schockiert und richtete sich auf. Diese Reaktion beunruhigte Nima. »Sir? Sir?« sagte er. »Das sind die Bisse eines Tieres.« »Nein, Sir.« Nima wies diesen Gedanken kategorisch zurück. »Nicht möglich.« Abe wußte nicht, um was für ein Tier es sich handelte, aber die Verletzungen waren eindeutig als Bißwunden zu erkennen. »Was ist hier los?« fragte Abe. Dies konnte kein gewöhnlicher Unfall sein. Er versuchte sich einen Reim auf die unterschiedlichen Verletzungen zu machen. War der Junge gestürzt, bewußtlos geworden und dann von Tieren angenagt worden? Oder hatten die Tiere ihn angegriffen und gehetzt, bis er einen Abhang hinabgestürzt war? Nichts war unmöglich. »Sehr schlimm«, murmelte Nima. »Sehr schlimm.« Er sah Abe nicht in die Augen. Abe kam sich hilflos und völlig verloren vor, wie ein Wanderer, der in einem dunklen Wald aufwacht. Er wollte eine Erklärung für die Verletzungen haben – vielleicht würde er sich dann in der Wildnis zurechtfinden. Aber das war eine faule Ausrede. Er selbst mußte durch seine 133
Diagnose die Erklärung finden. Und er mußte den Körper dieses armen Jungen Wunde für Wunde zusammenflicken. Abe seufzte. Er wollte gerade am Kopf noch einmal von vorn anfangen, als der Körper sich plötzlich entspannte. Die Muskeln zuckten und zitterten, und der Junge stieß einen unmenschlichen Schrei aus, als wollte er damit alle Fragen beantworten. Die Spannung wich aus dem nackten Körper, dann krampfte er sich wieder zusammen, und der Junge fing an zu zucken und zu stöhnen. Er wurde von den Schmerzen eines schlimmen Anfalls gepeinigt. Abe hatte schon öfter epileptische Anfälle gesehen und wußte, was hier passierte. Doch die Yakhirten waren entsetzt über den fürchterlichen Anblick eines Menschen, der sich hilflos auf dem kalten Boden krümmte. Sie wichen schreiend zurück, und diejenigen, die an der Tür standen, stürzten hinaus in den Wind. Abe zögerte keine Sekunde. Er schob die losen Steine beiseite und legte dem Jungen den zusammengerollten Schlafsack unter den Kopf, damit er sich nicht verletzte. Währenddessen schlugen die Fäuste und Ellbogen des Jungen auf Abe ein. Obwohl er bewußtlos war, schien er gegen einen furchtbaren Feind zu kämpfen. Abe duckte sich vor den Schlägen, doch ein unerwarteter Hieb traf ihn mitten ins Gesicht, und er schrie vor Schmerz und Erstaunen. Aus seiner Nase tropfte Blut. Dann wurde er von einem weiteren Schlag getroffen, der ihn zu Boden warf. Abe tat das, was ihm am sichersten schien: Er legte sich dicht neben den Epileptiker und hielt schützend die Hände vors Gesicht. Er biß die Zähne zusammen und spürte die gefrorene Erde unter seiner Wange. Schließlich packte jemand Abes Füße, zog ihn aus der 134
Gefahrenzone und legte ihn an die Wand. Es war Nima. Abe keuchte, drückte sich das Blut aus der Nase und wartete darauf, daß die Krämpfe nachließen. Der Junge zuckte noch immer und kämpfte in der kleinen halbdunklen Hütte gegen seine bösen Geister. Dann bewegte er sich plötzlich nicht mehr. Der Anfall hatte einfach aufgehört. Im Vergleich zu den wilden Minuten davor war die Regungslosigkeit des Jungen jetzt doppelt auffällig. Abe blieb an der Wand liegen, für den Fall, daß es noch weitere Krämpfe gab. Ein K.-o.-Schlag reichte ihm. Um ihn herum standen Nima und die Yakhirten, die den reglos daliegenden Körper anstarrten und Gebete murmelten. Sie waren schockiert. Im Gegensatz zu Abe. Abe war erleichtert. Er war sogar froh. Zumindest wußte er jetzt, was der Junge hatte. Er war Epileptiker. Irgendwo in dieser Wildnis namens Tibet hatte er einen Anfall gehabt, war gestürzt und von Tieren angefallen worden. Weiter nichts. Nun wußte Abe Bescheid. Er mußte die Wunden nähen und die Infektionen behandeln, sonst konnte er nicht viel tun. Der Junge mußte sein Schicksal selbst bewältigen, seinen eigenen Berg besteigen. So einfach war die Erklärung. Abe versorgte die Wunden des Jungen mit der ihm eigenen Geduld. Zuerst legte er eine Infusion, um den fiebrigen Körper des Jungen wieder mit Wasser zu versorgen. Er bat Nima, einen der Hirten heranzuziehen, um den Beutel mit Kochsalzlösung am Körper zu erwärmen, doch Nima machte das lieber selbst. Während der Beutel warm wurde, injizierte Abe durch die Infusionsnadel eine Ampulle D-50, reine Dextrose. Das war ein alter Sanitätertrick, um Bewußtlose wiederzubeleben. Bei Diabetikern funktionierte das sofort. Bei dem tibetischen Jungen funktionierte es überhaupt 135
nicht. Abe ließ sich nicht beirren und schloß den Infusionsbeutel an. Schließlich konnte Abe den zerschundenen und verbundenen Körper wieder in den warmen Schlafsack packen. Abe kniete vor dem Jungen und stemmte die Hände in die Hüften. Er war sich schon öfters so hilflos vorgekommen, aber noch nie war er gleichzeitig so optimistisch gewesen. Doch die Risiken in diesem rauhen Niemandsland waren groß. Das Schicksal konnte hier erbarumungsloser zuschlagen als anderswo. Als Abe aus der Hütte trat, kroch gerade die Morgendämmerung über die westlichen Hänge. Es waren Stunden vergangen, seit Abe in der düsteren, verräucherten Hütte verschwunden war, und jetzt würde die Sonne langsam den Boden auftauen. Der Himmel über dem Tal klärte sich auf, und ein kleiner Schwarm Wachteln gurrte und schnatterte. Die schläfrigen Yaks lagen wiederkäuend auf ihren angewinkelten Beinen. Am anderen Ende des Camps war der Verbindungsoffizier aufgestanden und machte wie üblich seine morgendlichen Tai-Chi-Übungen. Mit langsamen, fließenden Handbewegungen umschlich Li seine unsichtbaren Gegner und besiegte sie dann. Seine Bewegungen schienen Abe heute eleganter zu sein als sonst. Um am südlichen Ende des Tals lag der Everest. Sein zerklüfteter rechter Grat war in goldenes Licht getaucht, und es war völlig still auf dem Berg. Kein Windhauch wirbelte den Schnee auf.
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4. KAPITEL Die Zeit des Wartens war vorbei. Am Morgen des ersten April ließen sie das Basislager hinter sich. Abe wachte früh auf und lag lächelnd in seinem Schlafsack. Als er sah, wie die Wände seines Zeltes von orangefarbenem Licht durchtränkt wurden, war er voller Hoffnung. Die Yak-Karawane war gestern mit zwei Tonnen Material und einem Höllenlärm aufgebrochen. Nur der junge Hirte war zurückgeblieben, und obwohl er noch nicht wieder bei vollem Bewußtsein war, wich das Fieber, ebenso wie Abes Pessimismus. Mit Bettruhe, Flüssigkeitszufuhr und westlichen Vitaminen würde der Junge wahrscheinlich wieder gesund werden. Abe hatte Krishna, dem Koch, eine Stunde lang erklärt, wie er den Patienten zu pflegen hatte. Krishna hatte feierlich versprochen, es mit Hingabe zu tun. In der morgendlichen Stille war es nicht schwer, den Schock über Daniels Faustschlag, die Meuterei gegen Jorgens’ Anden Régime und den furchtbaren Anfall des tibetischen Jungen zu vergessen. Ein neuer Tag, ein neues Glück, dachte Abe. Das hatte er auch jeden Morgen zu Jamie gesagt, bevor sie aufstanden und sich anzogen. Sie hatte es gern gehört, und er hatte es gern gesagt. Abe setzte seine Brille auf, öffnete den Schlafsack und zog Stück für Stück die Kleidung an, die er nachts immer vorwärmte. Auf dem Weg zum Küchenzelt stattete er dem »Wasserschädel« einen Besuch ab. Der Schädel eines Schafes steckte in einer Felsspalte neben dem Gletschertümpel, der dem Team als Wasserreservoir diente. Es war noch eine ganze Menge Fleisch an dem Schädel, denn er verweste nur langsam. 137
Der schaurige Kopf war nur wenige Zentimeter vom Trinkwasser entfernt, und Li hatte sich – unter Berufung auf die chinesische Kampagne gegen Ratten, Fliegen und andere Krankheitsüberträger – schon mehrfach beschwert. Doch der Schädel diente als eine Art tibetische Mausefalle für böse Geister und sollte das Wasser auf spirituelle Weise reinigen. Und da Krishna Rai das gesamte Trinkwasser abkochte, waren Hepatitis, Cholera und andere Seuchen unwahrscheinlicher als Dämonen. Trotz Lis Pedanterie blieb der Schädel, wo er war. Abe stand inzwischen gern früh auf und wartete hier auf die Sonne. Dieser ruhige, ursprüngliche Ort entsprach seiner pantheistischen Einstellung. Doch an diesem Morgen hielt Abe sich nicht lange auf. Im Camp herrschte geschäftiges Treiben. Krishna verarbeitete die letzten Eier zu Abschiedsomeletts und sprach davon, wie sehr er die Bergsteiger vermissen würde, wenn sie auf dem Everest waren. Li drohte dem kleinen Koch mit dem Finger und sagte auf englisch: »Jetzt bist du mit mir allein, und ich werde dir Schach beibringen«, und Krishna lachte, obwohl er Li nicht mochte. Nach dem Frühstück sagte Stump: »Los, Leute, packen wir’s an«, und er sagte es so enthusiastisch, als hätte er gerade eine Erfindung gemacht. Vor dem Küchenzelt sangen Robby und Carlos die Titelmelodie von Tausend Meilen Staub: »Rollin’, rollin’, rollin’ …«, und sie wirbelten die kalte Erde mit Steinwürfen auf. Die Bergsteiger packten ihre Rucksäcke, prüften das Gewicht und nahmen wieder etwas heraus oder packten noch etwas hinein. Dann machten sie die Rucksäcke zu und schnallten sie um. In einer Woche würden ein paar Yakhirten in einer zweiten Fuhre das Material mitnehmen, das jetzt noch auf dem Lagerplatz zurückblieb. Laut Planung sollte das vorgeschobene Basislager, das 138
sogenannte Advance Base Camp (oder ABC-Lager), bis Mitte April autark sein. Die Bergsteiger nahmen für den Marsch nur leichtes Gepäck mit. Auch Abe machte es so: einen Schlafsack, etwas zu essen und seine Erste-HilfeTasche. Nach reiflicher Überlegung packte er schließlich noch einen fünf Kilo schweren Sauerstoffbehälter ein, für den Fall, daß jemand zusammenbrach. Es würde drei Tage dauern, bis sie das nächste Camp erreichten. Die Yaks würden vier Tage brauchen. Das Lager war nur gut fünfzehn Kilometer entfernt, doch der Höhenunterschied würde Zeit kosten. Wenn alles gutging, würden die Bergsteiger am selben Tag im Advance Base Camp ankommen wie ihre Ausrüstung. Einige von ihnen würden sofort zum Basislager zurückkehren, um sich von der Höhenluft zu erholen und dann die zweite YakKarawane nach oben zu begleiten. Andere würden das ABC-Lager aufbauen, und eine weitere Gruppe würde sofort zum nächsten Camp hinaufklettern. Die Belagerung hatte jetzt begonnen. In kleinen Grüppchen verließen die Bergsteiger das Camp und marschierten auf den Rongbuk-Gletscher zu, eine gewaltige Eismasse, die noch aus der letzten Eiszeit übriggeblieben war. Auf Landkarten ähnelte der Gletscher einem weißen Kraken, der seine Tentakel in alle Täler der Umgebung ausstreckte. Abe machte sich mit der letzten Gruppe auf den Weg. Li stand am Weg und wünschte ihnen Glück. Nach fünf Minuten drehte Abe sich um und wollte ein Foto von der gemütlichen kleinen Zeltstadt machen, doch sie war schon nicht mehr zu sehen. Als er sich wieder dem Everest zuwandte, war auch der verschwunden. Er wurde vom Changtse, seinem Nebengipfel, verdeckt. Die Bergsteiger, die einzeln hintereinander gingen, wurden von einem Labyrinth aus schlammigen Hängen, 139
losem Geröll und tiefen, eisigen Korridoren verschluckt. Wieder einmal hatte Abe keine Ahnung, wohin er ging oder was ihn erwartete. Li hatte recht: Sie waren wirklich am Ende der Welt. Es wäre jedoch schwierig gewesen, sich auf diesen verschlungenen Pfaden zu verirren, zumindest auf dem ersten Teilstück, denn Dutzende von Expeditionen waren schon hier gewesen und hatten ihre Spuren hinterlassen. Und dort, wo die Fußspuren sich auf langen, unwegsamen Geröllfeldern verloren, mußte man einfach nur dem alten, gefrorenen Yakdung folgen. Doch obwohl die Sonne schien und die Luft mild war, schien es Abe, als könnte ein unvorsichtiger Mensch ewig durch dieses Labyrinth wandern, und er war froh, Daniel als Führer zu haben. An einer auffälligen Gabelung im Gletscher sahen sie einen riesigen, zehn Meter langen Pfeil aus aufeinandergestapelten Steinen. Er zeigte nach links. »Mallory und seine Leute sind da langgegangen«, sagte Daniel. Man hatte die Leiche des Engländers nie gefunden, und unter Bergsteigern war es immer noch umstritten, ob er den Gipfel erreicht hatte. »Der Weg führt zum Nordsattel«, fuhr Daniel fort. Dieser Weg wurde allgemein als Standardroute bezeichnet. Es war die mit Abstand einfachste Route auf der Nordseite des Everest, und aus diesem Grund wurde sie auch am häufigsten benutzt. Angesichts des vielen Geldes und oftmals auch des nationalen Prestiges, das auf dem Spiel stand, entschieden sich die meisten Expeditionen für das sichere Erreichen des Gipfels, nicht für eine neue oder schwierige Route. Insgeheim wünschte Abe sich, daß sie den bekannten und relativ sicheren Weg zum Nordsattel nehmen würden. »In die Richtung geht man auch, wenn man zum Changri 140
La will«, fügte Daniel hinzu. Der Changri-Paß, aus dem James Hilton in Der verlorene Horizont den fiktiven Shangri-La gemacht hatte, verlief nach Süden und führte auf 5500 Metern Höhe nach Nepal. Über diesen Paß hatte Daniel sich mit dem »Marsch der Aussätzigen« aus der Katastrophe von 1984 gerettet. »Wir gehen hier entlang«, sagte Daniel und zeigte in die andere Richtung. Sie bogen nach rechts ab, in den Schatten, und sie gingen schweigend weiter, als wäre der steinerne Pfeil von Riesen zusammengesetzt worden, die noch in der Nähe lauerten. Es ging ständig bergauf und bergab, hauptsächlich jedoch bergauf. Ohne ersichtlichen Grund wurde Abe von einem Schwindelgefühl beschlichen. Von Minute zu Minute kam er sich hilfloser vor. Normalerweise passierte ihm das nur an steilen Felswänden, doch hier stand er eindeutig mit beiden Beinen fest auf der Erde. Abe versuchte, seiner Angst mit Vernunft zu begegnen. Aber schließlich akzeptierte er, daß er mit der Angst leben mußte. Sie stiegen immer höher. Der erste Tag verging, dann der zweite, dann der dritte. Dazwischen lagen zwei beengte Nächte mit vielen Menschen in zu wenig Zelten. Abe zog die Konsequenzen und verbrachte trotz der beißenden Kälte beide Nächte im Freien. Das Marschtempo wurde langsamer, und damit gerieten auch die Gedanken ins Stocken, zumindest bei Abe. Er versuchte, sich an Jamies Gesicht zu erinnern, doch es war nicht mehr präsent, was in ihm Besorgnis auslöste. Je mehr er sich anstrengte, desto schlechter konnte er sich erinnern. Abe beschloß, die Suche nach Jamies Gesicht aufzugeben, bevor es zu spät war und sie ganz aus seinem Gedächtnis verschwand. Statt dessen konzentrierte er sich auf die Füße von Carlos, der mechanisch und schleppend 141
vor ihm herlief. »Irgendwann haben wir uns akklimatisiert«, sagte Robby zu Abe. »Dann kommt uns das hier vor wie Meereshöhe.« Abe hörte zu und beobachtete Robbys Lippen. Sie waren leuchtend blau – ein Symptom des Sauerstoffmangels, unter dem das ganze Team litt. Wenn sich ihre Körper an die Höhe gewöhnten, würde sich das Blau zum Teil wieder in Rosa verwandeln, doch Abe bezweifelte, daß 6500 Meter ihm jemals wie Meereshöhe vorkommen würden. Am dritten Tag erreichten die Bergsteiger eine lange Reihe von Séracs: hohe Eiszacken, die durch die Sonneneinstrahlung so spitz wie Nadeln geworden waren. Einige hatten bizarre Formen angenommen, andere waren in sich zusammengefallen. Einer war herabgestürzt und hatte sich in die Erde gebohrt. Abe sah sich um; er war erschrocken über die unnatürliche Ruhe, die an diesem Ort herrschte. Er wußte, was Séracs waren, doch er hatte sie noch nie aus der Nähe gesehen. Er gaffte die Eistürme an, bis Gus ihn einholte und ihm mit einem Stupser zum Weitergehen aufforderte. Wenn die Natur jemals ein Symbol erschaffen hatte, um die Menschen abzuschrecken, dann waren es diese Séracs. Sie waren wie ein Hexenwald. Die zehn Meter langen Finger aus türkisfarbenem Eis sahen wunderschön und verführerisch aus, doch sie waren offensichtlich auch eine tödliche Gefahr. Hier und da thronten große Findlinge zwei bis drei Meter über dem Boden auf dünnen, von der Sonne geformten Eissäulen und sahen aus wie riesige versteinerte Pilze. »Ich komme mir vor wie Alice im Wunderland«, sagte Abe zu Gus. Gus sah ihn mit strengem Blick an und legte einen 142
Finger auf die Lippen. »Das ist eine Zeitbombe«, flüsterte sie und zeigte auf die wackeligen Steine auf den Séracs. »Wenn einer davon runterkommt, kann hier alles einstürzen.« Mit einem zwanzig Kilo schweren Rucksack konnte man nicht auf Zehenspitzen schleichen, aber Abe bemühte sich um eine sanftere Gangart. Wenig später sahen sie ein furchtbar entstelltes Tier, das an einer Eiswand baumelte. Die eine Hälfte hing heraus, die andere war noch in dem blauen Eis eingefroren. Vögel hatten ihm die Augen ausgehackt, und die Naturgewalten hatten mit dem Rest des Körpers ein übriges getan. »Ein Unfallopfer« flüsterte Gus und stocherte mit ihrem Skistock in dem Kadaver herum. Das Tier hatte langes, verfilztes Fell und kräftige Gelenke; durch Sonne, Wind und Eis war es stark entstellt. Es sah aus wie die tauenden Überreste eines Mastodons, doch Abe wußte, daß es ein Yak war. »Ist das einer von unseren?« fragte er leise. Gus schüttelte den Kopf. »Wurde er von einem Stein erschlagen?« »Nein«, flüsterte Gus. Sie klappte ihr Taschenmesser auf und ging näher an das Tier heran. »Wenn’s ein Stein gewesen wäre, hätten die Hirten das Tier geschlachtet und gegessen. Das arme Vieh ist wahrscheinlich bei einer früheren Expedition in eine Gletscherspalte gefallen. Und jetzt kotzt der Gletscher es wieder aus. Der Everest hat schon viele Tote wieder hergegeben.« Gus streckte den Arm aus, nahm ein Horn in die Hand und drehte den Kopf des Tieres um. Mit der anderen Hand führte sie das Messer an den Hals und sägte drauflos. Nach einer Weile fiel ein faustgroßer Metallkelch aus dem schmutzigen Fell und schlug klirrend auf dem Boden auf. Gus hob die Glocke auf. Sie ließ den Klöppel einmal 143
vorsichtig gegen den Klangkörper schlagen. Der Ton breitete sich bebend in dem gläsernen Wald aus. »Für meine Sammlung«, sagte Gus und stopfte einen Handschuh in die Glocke, damit sie nicht mehr klingelte. Abe war froh, als sie nach einer Stunde endlich die kristallenen Dornen und die steinernen Pilze hinter sich ließen. Der Rest des Teams erwartete sie bereits. Man lehnte sich gegen die Rucksäcke oder lockerte die müden Schultermuskeln. JayJay las einen von Robbys alten Silver-Surfer-Comics, und die Sherpas gaben Daniel etwas von ihren gerösteten Gerstenkörnern ab. Erst jetzt bemerkte Abe, daß das Team nacheinander in Zweier- und Dreiergrupppen an den Séracs vorbei JayJays marschiert war. Es hatte sie niemand dazu aufgefordert. Sie hatten von sich aus kleine Grüppchen gebildet, so daß im Falle eines Unglücks bei den Séracs die Zahl der Opfer möglichst klein und die Zahl der Retter möglichst groß gewesen wäre. Abes Vertrauen in das Team wuchs beträchtlich. Sie kletterten eine Reihe von Gletscherstufen hinauf und blieben dabei dicht an einer Wand aus blauweißem Eis. Weitere zwei Stunden vergingen, und die natürlichen Stufen wurden immer steiler. Hier und da mußten die Bergsteiger sich an Vorsprüngen festhalten, um voranzukommen. Sie wurden immer langsamer, keuchten und stützten die Hände auf die Knie. »Ich glaub, ich werde alt«, sagte Kelly. Abe wußte, daß sie erst dreißig war. Ihr Haar, das teilweise geflochten war, hing in langen goldenen Locken herab. »Sechstausendvierhundert Meter«, sagte Stump tröstend zu ihr. »Sechstausendsechshundert Meter«, korrigierte JayJay. Mit seiner großen Pelzmütze, die er bei den Nomaden in 144
Shekar gekauft hatte, sah er fröhlich und urwüchsig aus. Sein blaues Auge wurde von einer Schneebrille bedeckt. »Wir müssen da rauf.« »Keine Ausreden«, warf Robby ein, der genauso keuchte wie die anderen. »Du siehst wirklich alt aus. Besonders für eine Frau.« Kelly amüsierte sich darüber, daß man sie wegen ihrer Schönheit neckte, doch die anderen waren zu erschöpft zum Lachen. »Es ist nur noch ein kleines Stück«, sagte Daniel. Als Bestätigung erschien ein Teil der Yak-Karawane, die auf dem Rückweg ins Basislager war. Da sie jetzt von ihrer Last befreit waren und die Schwerkraft auf ihrer Seite hatten, liefen die Tiere mit ihren Hirten quasi im Galopp bergab. Durch dieses hohe Tempo kam Abe sich noch langsamer vor. Bald darauf setzte der nachmittägliche Wind ein. Die Böen schlugen den Bergsteigern direkt ins Gesicht. Ohne anzuhalten, zog Abe den Reißverschluß seiner Jacke bis zum Hals zu und fischte ein Paar dünne KunstfaserHandschuhe aus der Tasche. Das Team kämpfte gegen die Windstöße an. Plötzlich, als würden sie nach einem tiefen Tauchgang wieder an die Wasseroberfläche kommen, erreichten sie eine Hochebene, die vielleicht einen halben Hektar groß war. Und auf einmal stand die Erde still. Abe erstarrte. Ohne Vorwarnung ragte das gigantische, schimmernde Massiv des Everest vor ihnen auf. Sie hatten den Berg drei Tage lang aus den Augen verloren, und nun türmte er sich auf und bohrte sich über zweitausend Meter hoch in den Himmel. Zunächst lenkte der Berg alle Aufmerksamkeit vom ABC-Lager ab, das am anderen Ende des Plateaus im 145
Schatten lag. Die Hochebene schmiegte sich an eine steile Felswand, und von der Felswand waren große Mengen von Kalksteinen herabgestürzt. Einschließlich Daniels erstem Versuch vor sechs Jahren war dies die vierte Expedition, die auf diesem Geröll ihr Lager aufschlug. Das Camp sah schäbig aus und machte den hektischen Eindruck eines Hauptquartiers an der Front. Im Endeffekt übernahm das ABC-Camp die Funktion des Basislagers. Ab sofort würde die Expedition hauptsächlich von hier aus versorgt und koordiniert werden. Frühere Expeditionen hatten aus Steinen halbkreisförmige Wände als Windschutz errichtet, und die Sherpas, die schon früher hier gewesen waren, hatten zwischem dem Geröll die Zelte aufgestellt. Irgend jemand – wahrscheinlich Nima, der für Gemütlichkeit sorgen wollte – hatte eine der dreißig Zentimeter großen amerikanischen Flaggen, die für den Gipfel bestimmt waren, an einem Bambusstab befestigt und in den Boden gerammt. Leuchtendblaue und -gelbe Planen bedeckten die Ausrüstung und die Lebensmittelvorräte, und überall liefen Yaks und Hirten herum. Je näher Abe kam, um so häßlicher fand er das Camp. Es schien sich in den Schatten der hohen Wand aus schwarzen und weißen Steinen zu kauern. Über dem Lager war der Berg nicht nur steil, sondern er stieg senkrecht an. Aus der Nähe sah Abe nicht einmal das obere Ende der Felswand, und der Rest des Everest war komplett verdeckt. Er wußte, daß die Kore-Wand nur ein Teil des Puzzles war, doch von diesem Standpunkt aus schien sie bis in den Himmel zu reichen. Wenn er diesen Punkt als erster erreicht hätte, wenn er vor zehn Jahren an Daniels Stelle gewesen wäre, so hätte er die Route für unbezwingbar erklärt und wäre umgekehrt. Nima und Sonam mühten sich mit den Steinen ab, 146
errichteten neue Windschutzwände und schafften Platz für weitere Zelte. Sonam stupste seinen Chef an und zeigte auf Abe, und Nima kletterte mit der Behendigkeit einer Ziege von den Felsen herab und begrüßte Abe. »Oh, hallo, Sir.« Wenn Nima nicht seine leuchtende Gore-Tex-Kleidung angehabt hätte, dann hätte man ihn auch für einen Yakhirten halten können. Seine Wangenknochen standen hervor wie Fäuste, und seine ehemals kurzen, schwarzen Haare reichten ihm bis über die Ohren. »Jetzt sind Sie am Berg angekommen«, sagte Nima. Er lächelte. »Ja, ich bin angekommen«, bestätigte Abe. Ihm war übel. Er zog seinen Rucksack auf den Schultern zurecht, doch das war Effekthascherei. Er wollte sich hinsetzen. Nein, das stimmte nicht. Er wollte sich hinlegen. Nima wollte mit ihm reden. »Der Berg ist sehr stark.« »Ja, sehr beeindruckend.« Schließlich stellte Nima seine Frage. »Geht es dem Yakhirten im Basislager wieder ganz gut?« Abe hatte den tibetischen Jungen schon ganz vergessen. Für ein paar Tage hatte er sogar vergessen, daß er der gute Engel des Teams war, und sich als ganz normaler Bergsteiger gefühlt. Die anderen hatten angefangen, Wissenschaft durch Aberglauben zu ersetzen, und Abe war dankbar dafür, denn nun war er nicht in erster Linie Mediziner, sondern Bergsteiger. Manche seiner Kameraden lehnten Medikamente inzwischen ganz ab und verließen sich statt dessen auf Bergkristalle, Vitamine und Kräuter. Andere betätigten sich als Alchimisten und mixten Cocktails aus Halcion (als Schlafmittel), Diamox (für die Atmung), Kodein (gegen Husten) und Aspirin (zur Blutverdünnung). Und JayJay hatte natürlich seine 147
Steroide. Abe konnte niemandem etwas verbieten, also versuchte er es gar nicht erst. Er konnte aber auch seinen Pflichten nicht entgehen. »Sein Zustand ist unverändert, Nima. Ich habe nach ihm gesehen, bevor ich losmarschiert bin.« Er wollte keine falschen Hoffnungen wecken, indem er die leichte Besserung beschrieb. Außerdem kroch die Übelkeit immer höher. »Aber Medizin, Sir.« Abe mußte aufstoßen. Dann schluckte er. Er wollte ärgerlich werden, doch das hätte zuviel Kraft erfordert. Er hatte auf dem Berg seiner Träume eine Höhe von 6700 Metern erreicht, und der einzige Willkommensgruß sollte die nervende Frage nach einem epileptischen Yakhirten sein, der im Koma lag? »Ich habe getan, was ich konnte«, sagte Abe. »Ja, Sir«, sagte Nima. Neben einem der leeren Zelte lehnte Abe sich gegen einen Felsen und nahm mit einem schwerfälligen Stöhnen seinen Rucksack ab, sank nach vorn und atmete tief durch. Ein anderer Sherpa brachte ihm eine Tasse Tee, und schon der Dampf wirkte Wunder. Er trank und fühlte sich besser. Das Camp war ein trostloser Ort, und dadurch, daß es genau im Schatten des Berges lag, wurde es noch trostloser. Die Nacht brach herein, und das Alpenglühen hatte den Everest in einen riesigen blutroten Stachel verwandelt. Der aufgewirbelte rote Schnee stob der untergehenden Sonne entgegen. Abe bemerkte, daß alle anderen den Berg mit geschäftsmäßiger Nonchalance ignorierten. Er war der einzige, der dieses Schauspiel genoß. Der Everest überschattete das Camp nicht nur, er überragte es. Er beherrschte die Landschaft total. Zeit und 148
Raum waren eingefroren. Die Erde stand still. Wie in der Theorie des Ptolemäus schien die Sonne um diesen Punkt zu kreisen. Dies war das Zentrum. Von Anfang an hatte Abe geglaubt, daß diese Expedition eine große gemeinsame Erinnerung werden würde, die er und seine Kameraden sich bis ins hohe Alter bewahren würden. Sie würde ihnen an kalten Tagen Wärme spenden, ihnen Kraft verleihen, und sie würden ihren Enkeln eine große epische Geschichte erzählen können. In Boulder hatte Abe nachts neben Jamie wach gelegen, durch das Dachfenster gestarrt und sich ausgemalt, daß er eines Tages auf einen großen Berg klettern würde. Doch nun, da er kurz davor war, wirklich in dieses reine Licht hinaufzusteigen, war sein einziger Gedanke: Wie absurd. »Doc?« Kelly stand neben ihm und krümmte sich unter ihrem großen, blauen Rucksack. Zum erstenmal bemerkte Abe den Schmetterling, den sie auf die Seitentasche gestickt hatte; eine schillernde Kreatur, die hier innerhalb weniger Minuten eingegangen wäre. Er fragte sich, was die Yakhirten darüber dachten, wenn sie es überhaupt mit der Realität in Verbindung brachten. »Ist das dein Zelt, Doc?« Abe schaute sich um und sah, daß die anderen Bergsteiger ihre Zelte schon bezogen. »Ja, ich glaub schon«, sagte Abe. »Hast du schon einen Mitbewohner?« War dies der Anfang von dem, wovor Thomas ihn gewarnt hatte? Abe zögerte, weniger aus Loyalität Jamie gegenüber, sondern eher aus Enttäuschung. Kelly betrachtete ihn offensichtlich als ungefährlichen Zeltnachbarn, und er wußte nicht, ob er so ungefährlich erscheinen wollte. Selbst mit fettigen Haaren, blutunterlaufenen Augen, schweißnasser Haut und 149
aufgesprungenen Lippen sah Kelly atemberaubend aus. Er verdrängte das, was noch von der schwindenden Erinnerung an Jamie übrig war. Es fiel Abe schon schwer genug, sich an Jamies Gesicht zu erinnern, wenn er nicht neben dieser anderen Frau aufwachte, neben dieser fremden, abgekämpften Schönheit. Doch in Wirklichkeit wollte er neben ihr aufwachen. »Ich bin allein«, sagte er. »Was hältst du davon, wenn wir uns zusammentun?« fragte sie. »Ich glaube, wir sind die einzigen, die noch keinen Partner haben. Und das hier ist das letzte Zelt.« Sie schien zu glauben, daß er nein sagen könnte. »Es würde mich freuen«, antwortete Abe. Er zügelte seine Libido, seine Phantasien und die ungläubige Freude über sein Glück, denn schon die Aussicht auf einen Zeltnachbarn an sich munterte ihn auf. Bereits im Basislager hatte er das Alleinsein satt gehabt, trotz der Besucher, die bei ihm ein und aus gegangen waren. Abe spürte, daß Kelly eine gute Kameradin sein würde, und sie konnte ihm einiges über den Everest beibringen. Falls sie sich gut verstanden, würden sie sich auch beim Klettern zusammentun können. Abe hatte gemerkt, daß die meisten anderen sich schon Partner gesucht hatten, und es sah inzwischen so aus, als wären Kelly und er die Außenseiter. Thomas blickte von einem höher gelegenen Zelt zu ihnen herüber, aber als Abe zurückstarrte, bückte er sich. Kelly und Abe machten sich schnell daran, ihr Zelt einzurichten, denn es wurde kalt. Kelly kroch zuerst hinein. Abe blieb draußen und reichte ihr nacheinander die notwendigsten Gegenstände: die Isomatten, die Schlafsäcke und einen kleinen Propangaskocher, den Kelly mit Drähten am Zeltdach befestigte. In den anderen 150
Zelten vollzogen die anderen Bergsteiger das gleiche Ritual und bereiteten sich auf die Nacht vor. Nach und nach krochen sie in die Zelte und machten die Reißverschlüsse zu. Kelly war im Zelt beschäftigt, und Abe beobachtete inzwischen Sonam, einen Sherpa mit Zahnlücken und der Langsamkeit eines Sumoringers, der mit seinem Eispickel Stücke aus dem Gletscher heraushackte. Wie ein stämmiger Hausierer packte er die Brocken in einen Leinensack, ging von Zelt zu Zelt und legte überall einige Eisstücke hin. Als Sonam auf ihn zukam, hörte Abe, daß er leise Gebete vor sich hinmurmelte. Sonam ließ vor Abes und Kellys Zelt ein paar Eisbrocken fallen, blickte auf und sagte: »Doktor Sahib, Doktor Sahib.« »Danke«, sagte der Doktor Sahib. »Oh-ho«, brummte Sonam, wandte sich wieder seinen Gebeten zu und verteilte das restliche Eis. Abe trotzte als einziger noch dem Wind. Er warf einen letzten Blick auf den Berg und stürzte sich dann kopfüber in den Zelteingang. Er zog seine Schuhe aus, klopfte die Steinchen aus dem Profil und machte den Reißverschluß des Zeltes zu. Er war nun allein mit einer der schönsten Frauen der Welt, doch plötzlich spielte das keine Rolle mehr. Es gab wichtigere Dinge als die sinnliche Begierde. Wärme, Essen und die Gesellschaft eines Menschen ließen andere Gelüste schnell in den Hintergrund treten. Kelly hatte schon den kleinen Kocher angezündet und ließ Eis in einem Topf schmelzen, um heiße Schokolade zu machen. Bis das zweite Küchenzelt des Teams mit der nächsten Yak-Karawane eintraf, würden die einzigen gemeinsamen Mahlzeiten wohl an sonnigen Tagen im Freien stattfinden. Ansonsten kochte jede Zweiergruppe 151
für sich. In den folgenden zwei Stunden wechselten Abe und Kelly sich mit dem Schmelzen von Eis ab und bereiteten Nudelsuppe und heiße Getränke zu. Es war lebenswichtig, daß sie pro Tag mindestens sieben Liter tranken. Abe hatte schnell gelernt, die Farbe seines Urins richtig zu deuten, und das war im Hochgebirge auch dringend nötig. Je dunkler der Urin, desto schlimmer die Dehydrierung, und in dieser Höhe war Dehydrierung eine tödliche Gefahr. Man schwitzte und atmete das Wasser in gefährlichen Mengen aus, und es verdunstete in der dünnen Luft. Es wurde kalt und dunkel, doch Abe und Kelly ließen die Flamme nicht verlöschen und schmolzen Eis, einen Topf nach dem anderen. So hatten sie wenigstens etwas zu tun, während sie miteinander redeten. Abe erfuhr etwas über Kellys Leben in Spokane: daß sie Biologielehrerin an einer ländlichen High-School war, daß alle ihre Schwestern Kinder hatten, daß sie die jüngste Tochter war und daß ihre Mutter vor langer Zeit an Kellys Bergabenteuern verzweifelt war. »Ich war überrascht, daß du Lehrerin bist«, sagte Abe. »Man hat mir gesagt, du wärst Model.« Er dachte an die mehreren hunderttausend Dollar Sponsorengeld, die Kelly der Expedition eingebracht hatte. »Um Gottes willen!« Kelly lachte unsicher. »Es ist kein Problem, eine ramponierte Blondine in der Wildnis als Kleiderständer zu benutzen. Solange die Kamera weit genug weg ist, geht das. Aber um im Studio zu arbeiten, muß man makellos aussehen. Keine Falten. Keine Narben. Um Gottes willen. Ich doch nicht.« »Aber du bekommst doch sicher einen Anteil von den Werbegeldern«, sagte Abe. »Natürlich nicht«, entgegnete Kelly. »Ich bin 152
Bergsteigerin, kein Model.« Sie war nicht nur entrüstet, sondern böse. Abe spürte, daß er einen wunden Punkt getroffen hatte. »Ich wollte nicht neugierig sein«, sagte er und beschäftigte sich mit dem Gaskocher. Kelly runzelte die Stirn und dachte nach. »Schon gut«, sagte sie. »Ich kann nur nicht ständig gegen alle ankämpfen.« »Ich weiß nicht, was du damit meinst.« »Diese ganze Barbiepuppen-Scheiße. Die Leute behandeln mich, als wäre ich völlig unfähig, als wäre ich nur für die Fotos da, nicht zum Bergsteigen.« Abe widersprach ihr nicht. Es stimmte. Er hatte gehört, wie die anderen über sie redeten. Doch bis jetzt war er nicht auf die Idee gekommen, daß Kelly ihre Rolle vielleicht nicht akzeptierte. »Irgendwie kommt mir das bekannt vor«, sagte Abe. »Sie haben mich mitgenommen, damit ich sie zusammenflicke. Aber ich will auch klettern. Und ich weiß nicht, ob sie mich wirklich lassen.« Kelly wägte seine ehrlichen Worte ab und war zufrieden. »Genau das meine ich«, sagte sie. »Ich weiß, daß ich nicht die beste Bergsteigerin der Welt bin. Ich bin zum Beispiel nicht so gut wie Daniel. Aber das sind andere auch nicht. Wir haben alle unsere Schwächen.« Jetzt hielt Abe die Zeit für gekommen, um etwas über seine eigene Vergangenheit zu erzählen. Um der Ehrlichkeit willen erwähnte er Jamie, obwohl er nicht wußte, wem gegenüber er ehrlich sein wollte. »Ich wußte nicht, wie sie heißt«, sagte Kelly. »Aber ich wußte, daß du verheiratet bist. Jorgens hat es mir erzählt.« Abe beeilte sich, ihr zu widersprechen. Zwar hatte er Jorgens gegenüber von seiner Frau gesprochen, aber nur, 153
um sich einen Vorteil zu verschaffen, der ihm jetzt abhanden kam. »Aber ich bin nicht verheiratet«, sagte Abe zu Kelly. »Nicht richtig.« Kelly sah ihn an. »Ah ja«, sagte sie. Diesen Spruch kannte sie schon. Abe wollte es ihr erklären. Sie schnitt ihm das Wort ab. »Weißt du, ich war schon öfter hier. Am Fuß des Everest, zu Beginn einer dreimonatigen Expedition. Als Frau allein mit einem Mann im Zelt, den ich nicht kenne. Und jedes Mal dachte ich vorher, jetzt ist es soweit. Aber es war jedes Mal ein Reinfall.« Abe merkte, daß sie von Thomas sprach. Von Thomas oder einem anderen. Vielleicht meinte sie aber auch nur den Gipfel. Er beschloß, daß es besser war, wenn er über ihre Gipfelträume sprach, nicht über Thomas. »Wie weit bist du denn gekommen?« »Bis zum Südsattel«, antwortete sie. Der Südsattel gab nicht nur der einfachen Route auf der nepalesischen Seite des Everest ihren Namen; er war auch ein besonderes Merkmal, eine breite Senke zwischen dem Everest und einem seiner Nebengipfel, dem Lhotse. Der Sattel lag in über 7900 Meter Höhe und war für Bergsteiger ein idealer Lagerplatz vor der letzten Etappe zum Gipfel. »So dicht dran«, sagte Abe. »Gab es einen Sturm?« Das war Bergsteigerdiplomatie pur. Man formulierte Fragen über Fehlschläge sehr vorsichtig, und Stürme waren beliebte Ausreden. »Nein«, antwortete Kelly. »Ich weiß nicht, was man dir erzählt hat, aber einen Sturm gab es nicht.« Abe hakte nicht nach. 154
»Es hört sich vielleicht komisch an«, sagte sie, »aber ich dachte mal, daß es was mit Liebe zu tun hat.« Noch immer sprach sie Thomas’ Namen nicht aus. »Aber ich habe mich geirrt. Hier oben wird man durch die Liebe nur abgelenkt. Sie ist nur im Wege.« Sie warf Abe einen Blick zu, und er sah das Flehen in ihren Augen. »So darf die Liebe nicht sein«, schloß sie leise. Abe betrachtete die Schwielen in seinen Handflächen. Dem war nicht viel hinzuzufügen. Obwohl ihre Offenheit ihn beunruhigte, war er doch dankbar dafür. Jetzt war alles geklärt. Zumindest würden sie sich nun nicht mehr ablenken lassen und dabei ihre Herzen und ihre Würde aufs Spiel setzen. »Das hätte ich nicht sagen sollen«, entschuldigte sie sich. Doch das war nicht die Wahrheit. Sie wollte einen Partner zum Klettern, keinen Bettgenossen. Und dies war ein Test. Abe suchte nach der richtigen Antwort. Er traute Kellys Verwirrung mehr als Thomas’ Bitterkeit. Und er wollte mit Kelly klettern. »Du hast recht«, sagte er. »Es hört sich komisch an. Liebe. Ich hätte nicht gedacht, daß ich dieses Wort in knapp siebentausend Meter Höhe am Everest höre, bei dem, was noch alles vor uns liegt.« Dabei beließen sie es. Während sie schwiegen, hörte Abe Gesprächsfetzen von den anderen Bergsteigern, die sich miteinander bekannt machten. »Weißt du, ich habe mir das Foto hundertmal angesehen«, sagte Kelly. Themenwechsel. »Jetzt sind wir hier, und ich kann mir die Route immer noch nicht vorstellen.« Das hatte noch niemand zugegeben, doch Abe hatte schon den Verdacht gehabt, daß er nicht als einziger von der großen Unbekannten eingeschüchtert wurde. Es 155
war beruhigend, daß hinter all dem großspurigen Selbstbewußtsein wenigstens ein Mitglied des Teams gewisse Ängste hatte. »Ich dachte schon, es liegt an mir«, sagte Abe. »Ich dachte, ich werde blöd.« Das war eine Gegenleistung. Seine Ängste für ihre Ängste. »Dann werden wir alle zusammen blöd«, sagte Kelly. »Ich meine, du sagst …« Dann legte sie sich plötzlich auf den Bauch und wühlte in einer Tasche, holte einen Bleistiftstummel, einen Schreibblock und eine UltimateSummit-Postkarte mit einem Foto von der Nordwand heraus. »Sieh dir das an«, sagte sie und zeigte mit dem Bleistift auf das Foto. »Was ist das hier? Und wie kommt man da vorbei?« In den nächsten zwei Stunden lagen sie nebeneinander wie Frischvermählte, die über die Zukunft sprachen und Pläne schmiedeten. Jeder hatte sich sittsam in seinen Schlafsack gehüllt, doch sie drückten die Hüften und Schultern aneinander und nutzten die zusätzliche Wärme. Sie redeten und redeten. Abe hatte seine Stirnlampe eingeschaltet, und Kelly zeichnete Skizzen und Landkarten. Es half ein bißchen. Zwar kamen sie auch gemeinsam nicht dahinter, wie Daniel diese Route ausgetüftelt hatte. Aber zumindest konnten sie das Monster, das sich vor ihnen auftürmte, auf eine Karikatur reduzieren, und damit konnten sie beide innerlich besser umgehen. »Und wie stehen unsere Chancen?« fragte Abe. »Machst du Witze?« Kelly stupste ihn mit der Hüfte an, und ihre Zähne blitzten im Lampenschein auf. »Hast du dir das noch nicht ausgerechnet, Doc?« Abe knipste die Stirnlampe aus und schloß die Augen. Kellys gespielte Tapferkeit tröstete ihn mehr, als er zugeben wollte. Vielleicht war der Everest doch kein so 156
unzugänglicher Ort. Er war schon öfter bezwungen worden. Man würde ihn auch diesmal bezwingen können. Doch gegen Mitternacht brannte der Mond ein Loch in Abes Schlaf, und er riß die Augen weit auf. Er lag da und lauschte den Geräuschen der Nacht. Er hörte eine Frau leise neben sich atmen. Ihr Rücken schmiegte sich an seinen Rücken, und Abe war froh, daß Kelly diese Frau war. In einem benachbarten Zelt kämpfte jemand mit einem trockenen Reizhusten. Durch das Camp wehte ein steifer Wind, doch seltsamerweise hörte Abe sogar, wie seine Kameraden sich in zwanzig Meter Entfernung in ihren Schlafsäcken wälzten. Es erstaunte ihn immer noch, wie hellhörig Zelte eigentlich waren. In dieser Nacht war jedes Zelt eine Seifenblase voller Geräusche, die mit den anderen Seifenblasen verbunden war. Abe hatte gemerkt, daß er seine Nachbarn auch bei starkem Wind flüstern hörte. Bei einer Horde Neandertaler, die zusammengepfercht in einer Höhle lagen, wäre es nicht anders gewesen. Doch das Geräusch, auf das Abe sich am meisten konzentrierte, war nicht menschlichen Ursprungs. Jetzt hörte er es wieder: Unter seinem Kissen aus Pullovern und Hosen rumorte der Gletscher. Das Eis, Hunderte von Metern dick, war ständig in Bewegung. Abe hörte, wie es knallte, ächzte und krachte. Und plötzlich war das Schwindelgefühl wieder da, und der Boden schien unter ihm nachzugeben. Abe hatte einmal gelesen, daß die Bauern im finsteren Mittelalter geglaubt hatten, eine Nacht auf einem Gletscher würde den sicheren Tod bedeuten. Jetzt, wo er hörte, wie die bösen Geister im Berg grollten, war er kurz davor, ein Gebet zu wispern. Doch es fiel ihm beim besten Willen keines ein. 157
5. KAPITEL Lange bevor die ersten Sonnenstrahlen am Everest vorbei schienen und das Camp aus der Dunkelheit befreiten, ließ Abe das Zelt und Kellys Wärme hinter sich und hackte Eis für das Frühstück. Er war als erster aufgestanden; zumindest glaubte er das, bis er Daniel sah, der allein auf einem Felsen hockte. Er saß zusammengekauert da, hatte sich einen großen Ultimate-Summit-Schlafsack um die Schultern gelegt und betrachtete den Berg. Er sah aus, als wäre er festgefroren. Sein langes, schwarzes Haar, das auf dem kirschroten GoreTex des Schlafsacks lag, war fettverschmiert. Als Abe sich näherte, drehte Daniel sich um. Seine Augen funkelten in einer Maske aus sonnengegerbten Wangen, einem schwarzen Bart und der blassen Haut, die normalerweise unter der Gletscherbrille lag. Daniel sah wild aus, aber nicht wegen der verbrannten Haut, der ungewaschenen Haare oder der funkelnden Augen – diese Kennzeichen trugen sie mittlerweile alle mit sich herum –, sondern wegen seines Grinsens. Die weißen Zähne in dem dunklen Gesicht zeigten eine so grimmige Freude, daß Abe eine Gänsehaut bekam. »Da ist er«, sagte Daniel. Er wandte sich wieder dem Berg zu und schleuderte der Nordwand sein Grinsen entgegen. Abe stand neben ihm. Die Nordwand war erstaunlich. Dort, wo die Linien gestern nachmittag noch zwischen Licht und Schatten verschwommen waren, konnte Abe den Verlauf der Route jetzt klar und deutlich erkennen. Das Camp lag so nahe am Berg, daß die Perspektive verkürzt war und der Everest gestaucht wurde. Die Senken und Grate schienen verzerrt 158
zu sein. Der Gipfel war ein unscheinbarer Höcker und dadurch kaum erkennbar. Der Berg war aus Einzelteilen zusammengesetzt, und jetzt sah Abe eine gewisse Logik, so daß Daniels Route besser nachzuvollziehen war und beinahe als bezwingbar erschien. »Diese Schönheit …«, setzte Daniel gedankenverloren an, doch dann verstummte er. »Ich hätte nicht gedacht, daß er so elegant ist«, bemerkte Abe, und er meinte es ernst. Trotz aller rohen, massiven Gewaltigkeit hatte die Silhouette eine Feinheit und Geradlinigkeit, die jedem Bergsteiger gefiel – auch einem Neuling wie Abe. Jetzt, da die Route in ganzer Länge vor ihm lag, erkannte Abe, daß Daniels Direttissima direkter und raffinierter war als alles, was er bisher gesehen hatte. Abe stand schweigend neben dem Urheber des Ungeheuers und staunte über Daniels Vermessenheit. Es war fast so, als hätte Daniel ein riesiges Lineal auf all dieses geologische Durcheinander gelegt und einen Pfad von absoluter Schlichtheit eingezeichnet. Doch Schlichtheit war nicht gleichbedeutend mit Mühelosigkeit oder Sicherheit. Im Gegenteil, die Kore-Wand würde eine außerordentliche Risikobereitschaft erfordern. An der zweitausend Meter hohen Wand war man von oben bis unten dem Wetter und dem Steinschlag ausgesetzt, und bei Schwierigkeiten war kein Ausweichen auf eine leichtere Route möglich. »Dieses Scheißding …«, sagte Daniel, diesmal mit tieferer Stimme. Er raschelte mit seinem GoreTex-Umhang und drehte sich zu Abe um. Für einen Augenblick – nicht länger – sah Abe ein Gesicht aus der Vergangenheit, einen Blick der nackten Panik oder, noch schlimmer, einen Blick der bedingungslosen Kapitulation. Dann atmete Daniel tief 159
durch und zog sich selbst wieder aus dem Abgrund. Auch Abe atmete durch. »Ich kann gar nicht glauben, daß ich hier bin.« »Ich auch nicht«, sagte Abe und meinte sich selbst. Doch Daniel war in seinem Selbstgespräch versunken. Er schnaubte und schüttelte den Kopf. »Eines kann ich dir sagen«, verkündete er. »Aus Liebe zum Berg mach ich das bestimmt nicht. Kein Stück. Ich hasse dieses Scheißding.« Abe mußte diesen Satz erst verarbeiten. »Schlechte Einstellung«, witzelte er schließlich, weil ihm nichts anderes einfiel. Es war genau die richtige Antwort. Daniel war begeistert. Sein Grinsen wurde noch wilder. »Nicht wahr?« Sie frühstückten und versammelten sich dann an dem wirren Ausrüstungshaufen; alle waren ganz wild auf das Klettern. Man holte Eisschrauben, Schnee- und Kletterhaken in allen Variationen hervor; außerdem Aluminium-Anker, die sogenannten Deadmen. In einer zusammenhängenden, silbrigen Kette lagen die Karabinerhaken da: die Allzweck-Sicherheitsnadeln der Bergsteiger, die man benutzte, um Seile zu verbinden, Anker zu sichern, Gurte anzulegen, Gerätschaften zu befestigen und beim Abseilen zu bremsen. Außerdem halfen die Karabiner mit ihren fünfhundert Kilo Tragkraft aus, wenn man keine Hand mehr frei hatte. Abe kannte sich mit einem Großteil dieses Waffenarsenals aus, das gewetzt, mit Klebeband ummantelt, mit Initialen versehen war und im Geschäft gekauft oder selbst angefertigt worden war. Er konnte auch mit den beiden batteriebetriebenen Handbohrmaschinen umgehen, die jemand mitgebracht hatte, um Haken in den Berg schrauben zu können. Mit den Gerätschaften, die er nicht 160
kannte, fummelte Abe so lange herum, bis er sich mit ihnen vertraut gemacht hatte. JayJay, immer noch mit einem blauen Auge sowie einem breiten Grinsen im Gesicht, brachte die Truppe in Stimmung, indem er tief in den Haufen hineingriff, eine hundert Meter lange Rolle orangefarbenes Seil herauszog, sie hochhielt und »Feuer frei« brüllte. Drei Tage vergingen, bis Abe mit dem Klettern an der Reihe war. Das Team tastete sich in Zweiergruppen nach oben vor. Sie eroberten neues Terrain, zwangen dem Berg ihren Willen auf und errichteten ihre Camps auf dem Felsen, zwischen Schnee und Eis. Jedes Team versuchte, etwas höher zu klettern als das vorige, zog sich dann zur Erholung ins ABC-Camp zurück und machte Platz für neue Truppen. Die Ultimate-Summit-Expedition ging langsam und vorsichtig vor – entgegen der Taktik, die von Alpinisten normalerweise in den meisten Gebirgen der Welt angewandt wurde. Doch sie waren hier im Himalaja. Hätte sich der Everest in geringerer Höhe befunden, so hätten sie den Gipfel gemeinsam in einer einzigen Woche erreichen können. Sie waren in die sogenannte Todeszone vorgedrungen, wo die Höhenluft die empfindlichen Mechanismen des menschlichen Körpers zerstört. Hier oben gab es keine Lebewesen, außer Flechten und eine seltene Spinnenart, die Glycerin als Frostschutzmittel im Blut hatte. Auf und ab, auf und ab: Wer nicht gerade weiter hinaufkletterte, der schleppte Material in die Camps. An jedem Tag bevölkerten vier bis acht Bergsteiger verschiedene Abschnitte der Route. Da man hier keine Yaks mehr einsetzen konnte, mußten sie selbst als Lasttiere fungieren. Daniels Strategie erforderte fünf Camps oberhalb des ABC-Lagers, die alle mit Verpflegung und Brennstoff ausgestattet werden mußten. 161
Die Camps in über achttausend Meter Höhe sollten außerdem mit Sauerstoffflaschen bestückt werden. Die Bergsteiger mußten jedes Gramm, jede Faser, jeden Krümel auf dem Rücken nach oben schleppen. Endlich war es auch für Abe soweit. Da Kelly und er sich ein Zelt teilten und zusammen klettern wollten, bildeten sie eine Seilschaft. Das bedeutete, daß sie aufeinander aufpassen sollten und daß sie sich das Essen teilten, das in Zwei-Mann-Tagesrationen abgepackt war. Der Zeitplan sah vor, daß die beiden heute Camp eins erreichten, das gestern von einem Team mit Material bestückt worden war und von einem anderen Team als Nachtquartier auf dem Weg zum zukünftigen Camp zwei benutzt wurde. Morgen würden sie in Richtung Camp zwei vorsteigen. Vielleicht würden sie es erreichen, aber Abe hatte keine Ahnung, wo genau das Camp errichtet werden sollte und was er dabei zu tun hatte. Er mußte sich darauf verlassen, daß Kelly wußte, wie man ein HimalajaCamp aus dem Boden stampfte. Ein paar Meter hinter dem ABC-Lager wurde der felsige Boden vom Eis des Gletschers abgelöst. Das nördliche Becken zog sich hinauf zum Bergschrund – einer Spalte zwischen Berg und Gletscher – und stieg dann steil an. Abe und Kelly bliesen ihren Atem in kleinen Wölkchen in die frostige Luft und schnallten sich ihre Steigeisen um. Irgend jemand hatte zwanzig Paar Steigeisen der Marke »Foot Fangs« besorgt, und Abe hatte fabrikneue erwischt, die so scharf waren, daß man sich damit verletzen konnte. Er ließ die hintere Bindung zuschnappen, zurrte den Fesselriemen fest und stampfte einmal im Schnee auf. Er kletterte zum ersten Mal mit Steigeisen, und er kam sich vor wie in den Steigbügeln eines Pferdes. Sie marschierten über die Gletscherebene und überließen die Orientierung hauptsächlich ihrem Instinkt. Der Wind 162
hatte die Spuren von gestern mit Pulverschnee zugedeckt. Sie hatten ihr Ziel vor Augen – den zerklüfteten Schrund in anderthalb Kilometern Entfernung –, doch davor lag ein Hindernisparcours mit Gletscherspalten, Sackgassen und falschen Versprechungen. Ein Teil des Labyrinths war mit Bambusstäben aus Nepal markiert, an denen rote Fähnchen befestigt waren. Doch der größte Teil des Weges lag da wie ein unbeschriebenes Blatt. Kelly sagte: »Kein Problem«, und stapfte los. Sie gingen im Zickzack von einer Gletscherspalte zur nächsten, von Markierungsstab zu Markierungsstab. Zwischendurch suchten sie systematisch nach versteckten Gletscherspalten: Kelly mit ihrem Eispickel, Abe mit einem Skistock. Über Nacht waren einige Baumbusstäbe umgefallen oder einfach von den Gletscherspalten verschluckt worden. Es fiel Abe auf, daß der Bambus, der beim Abladen von den LKWs noch grün gewesen war, inzwischen grau und tot aussah. Der Berg hatte jedes Tröpfchen Wasser herausgesogen. Über die meisten Gletscherspalten konnte man leicht hinwegsteigen oder -springen. Manche waren dazu jedoch zu breit, daher hatte man Schneebrücken ausfindig gemacht, vorsichtig ihre Tragfähigkeit überprüft und sie dann markiert und zur Sicherheit mit Seilen versehen. Um diese Schneebrücken zu erreichen, mußte man lange Umwege in Kauf nehmen. Eine Gletscherspalte war so breit, daß sie unüberwindbar schien. Doch nachdem Kelly und Abe eine halbe Stunde lang an der unteren Seite entlanggegangen waren, kamen sie zu einer abgenutzten Aluminium-Ausziehleiter mit japanischen Schriftzeichen an der Seite. Daniel hatte sie im ABC-Camp von einer Müllhalde geholt, sie mit Gus und Nimas Hilfe vorsichtig flach über den sechs Meter breiten Spalt gelegt und dann befestigt. Abe hatte eine 163
spontane Abneigung gegenüber der Leiter. Er wäre am liebsten auf allen vieren darübergekrochen, doch mit einem Rucksack auf dem Rücken wäre das noch schwieriger gewesen. Außerdem war Kelly gerade mit roboterhafter Leichtigkeit und metallischen Geräuschen darübergelaufen. Bei jedem Schritt drohte Abe mit den Spikes seiner Steigeisen abzurutschen oder hängenzubleiben. Als er die Mitte der Leiter erreicht hatte, schien ihn die endlos tiefe Gletscherspalte anzubrüllen. Den Rest des Weges legte er so hastig zurück, als liefe er über glühende Kohlen. Wie sich herausstellte, hatte Kelly sich besser akklimatisiert, doch Abe konnte mit ihr mithalten. Sie legten ein gutes Tempo vor – ein Schritt, ein Atemzug. Abe wußte, daß die Relation sich weiter oben drastisch verändern würde: vier oder fünf Atemzüge pro Schritt. Die Spikes quietschten auf dem Eis. Nach zwei Stunden blieb Kelly stehen und zeigte nach oben. Durch seine Schneebrille sah Abe grüne und pinkfarbene Sonnenstrahlen, die plötzlich über dem nordöstlichen Vorbau des Everest flimmerten. Er verwandelte sich in einen wilden, gezackten Strahlenkranz, und Abe hörte, wie er sich ausdehnte. Der Berg ächzte unter seinen Stiefeln, und der Gletscher senkte sich. Im Schnee knisterte es. In der Ferne stürzte eine grüne Lawine zu Tal, tödlich und wunderschön. »Kein Problem«, sagte Kelly. »Wir sind der Wärme voraus.« Wenn die Sonne erst auf den oberen Teil des Berges traf, würde es dort tauen, wie jeden Tag. Steine, Eis und vielleicht noch Schlimmeres würden herunterprasseln. Auf diesen tödlichen Regen konnte Abe gut verzichten. Sie gingen wieder weiter. Eine Windbö fegte über den Gletscher hinweg. Der Schnee wurde aufgewirbelt und 164
bildete einen feinen Nebel. Für dreißig Sekunden gab es in Kniehöhe einen kleinen Schneesturm. Durch seine Krümmung brachte das nördliche Becken solche Derwische hervor. Hier und da tanzten schlanke Wirbelwinde aus Eis. Einer davon kroch ein Stück die Wand hoch, bis die Schwerkraft ihn wieder nach unten zog. Dann hörte der Wind auf. Die Derwische hauchten ihr Leben aus. Es wurde wieder still. Die Zeit verging. Die Wand aus Fels und Eis über ihnen wurde immer gewaltiger, doch sie blieb unerreichbar. Irgendwo am Fuß dieser Wand lag Camp eins. Da Abe keine Ahnung hatte, wo genau es lag, spielte die Zeit keine Rolle mehr. Wenn sie dort waren, waren sie dort. Endlich erreichten sie den Bergschrund. Hier begann das eigentliche Klettern, das durch das erste Seil angekündigt wurde. Es war ein dickes Tau aus Polypropylen, einstmals weiß, jetzt grau. Fixseile wie dieses erlaubten den sicheren Transport schwerer Lasten, denn sie dienten als Geländer und boten Halt. Auf steileren Abschnitten hängte man sich an die Seile. Doch die Seile erleichterten nicht nur den Aufstieg, sondern waren auch eine Rückversicherung. Falls – oder wenn – das Wetter schlechter wurde, konnte man sich einfach abseilen, zehnmal so schnell, wie man hinaufgeklettert war. Abe sah sofort, daß das graue Seil nicht aus dem Bestand der Expedition stammte. Er vermutete, daß das Team es irgendwo auf dem Berg gefunden hatte, vielleicht auf dem Haufen, den Nima im ABC-Camp entdeckt hatte. Abe benutzte sonst keine Seile, die er nicht kannte. Wind und UV-Strahlen konnten das Material innerhalb weniger Wochen altern lassen, und niemand wußte, wie viele Stürme und Sonnenaufgänge dieses Seil schon auf dem Dach der Welt erlebt hatte. Doch da Kelly sich ohne Zögern in das Seil einhängte, tat Abe es ihr nach. Vieles 165
hing hier oben von blindem Vertrauen ab. Sie benutzten Steigklemmen, um sich in das Seil einzuhängen: mechanische Haken, die nach oben nachgaben, aber nach unten abriegelten. Abe ließ seine Steigklemme am Seil hinaufgleiten, und als er den mehr als einen Meter breiten, klaffenden Bergschrund erreichte, blieb er neben Kelly stehen. Sie starrte in den tiefen Abgrund, der sich vor ihren Fußspitzen auftat. »Siehst du das da unten?« fragte sie. »Das muß von Daniels erstem Versuch stammen.« Der gewaltige Eisblock, auf dem sie standen, hatte sich leicht vom Hang gelöst, und tief in dem türkisfarbenen Spalt sah Abe das straffe grüne Seil, von dem Kelly sprach. Es war von einer Wand zur anderen gespannt und sah aus wie der letzte Faden, der zwei auseinanderstrebende Kräfte noch zusammenhielt. »Wie ist es denn so weit nach unten gekommen?« fragte Abe. Seit Daniels letzter Expedition waren sechs Jahre vergangen, doch das Seil schien Jahrhunderte entfernt zu sein. Kelly schaute achselzuckend nach oben. »Vielleicht war’s der Yeti«, sagte sie. Der abscheuliche Schneemensch. In den Bergen passierten Dinge, die man nicht erklären konnte, doch die Menschen wollten das nicht akzeptieren. Sie brauchten ihre Drachen oder Gremlins. Oder den Yeti. Nacheinander nahmen Abe und Kelly ihre Rucksäcke ab und sprangen auf die andere Seite des Bergschrunds. Abes »Foot Fangs« verbissen sich mit einem Ruck im Schnee. Erst jetzt waren sie wirklich auf dem Everest, hinter den feindlichen Linien. Das graue Seil endete hundert Meter höher mit einer Unmenge von Knoten, die in Schnee und Eis 166
verschwanden. Abe wußte, daß irgendwo unter der Oberfläche ein Aluminiumanker, ein sogenannter Deadman, das Seil im Fels festhielt. Doch man konnte meinen, daß das Seil von einem gierigen Maul verschlungen wurde. Der Berg lebte, da gab es keinen Zweifel. Sie klinkten sich aus dem grauen Seil aus und hängte sich in das nächste ein, das aus neun Millimeter dickem Perlon bestand. Auch dieses Seil war nicht aus dem Ultimate-Summit-Bestand, und Abe begriff, daß das Team seine neuen Seile für schwierigeres Gelände aufsparte. Die Kette aus alten Fixseilen setzte sich bis zum oberen Ende des Hangs immer weiter fort; die einzelnen Seile waren durch abgenutzte Nylonschnüre miteinander verbunden. Abe benutzte das Seil gelegentlich als Handlauf und ließ seine Steigklemme vor sich hergleiten. Der Hang wurde steiler. Abe mußte sich immer mehr am Seil hochziehen und die Füße in den Schnee stemmen, der durch Sonne und Wind hart geworden war. An einem kleinen 65-GradVorsprung mußte er die Frontzacken seiner Steigeisen einsetzen. Kelly nahm Rücksicht und richtete das Tempo des Aufstiegs danach, daß Abe zum ersten Mal in einer solchen Höhe kletterte. Sie machte keine Bemerkungen über sein Keuchen, sondern blieb einfach stehen, wenn er die Hände auf die Knie stützte, um auszuruhen. Abe fühlte sich krank und gleichzeitig erfrischt. Ein Teil von ihm schwelgte in dem Anblick, der sich ihm bot. Der andere Teil wollte sich einfach nur hinlegen und ein Nickerchen machen. So sehr er sich auch bemühte, der Zwiespalt – das Spannungsverhältnis zwischen Faszination und Erschöpfung – ließ sich einfach nicht überwinden. Zweimal sah Abe bunte Flecken im Schnee und erkannte, daß es sich um Erbrochenes von anderen Bergsteigern 167
handelte, die wohl auch ihre Probleme gehabt hatten. Camp eins lag auf einem messerscharfen Berggrat. Drei leuchtendgelbe Zelte standen in einer Reihe, dicht nebeneinander. Dies war der gefährlichste Lagerplatz, den Abe je gesehen hatte. An der breitesten Stelle maß der Grat anderthalb Meter – kaum breit genug, um ein Zelt aufzustellen. Auf beiden Seiten ging es dreihundert Meter in die Tiefe. Die Rückwand des hinteren Zeltes hing teilweise über dem Abgrund. »Gar nicht übel«, sagte Kelly, als sie auf die Uhr sah. Es war erst vierzehn Uhr – Ortszeit, nicht Pekinger Zeit; von der hatten sie sich im ABC-Camp verabschiedet –, und sie hatten ihr Tagwerk bereits vollbracht. Kelly saß im Eingang eines Zeltes und ließ einen Fuß über dem Abgrund baumeln. Tief unter ihnen hatte sich das nördliche Becken mit seinen Gletscherspalten und schneebedeckten Flächen in eine Tasse voller Linien und weißer Flecken verwandelt. Das ABC-Camp war winzig; man sah nur ein paar farbige Pünktchen. Falls sich zwischen den Zelten jemand bewegte, war er zu klein, um ihn erkennen zu können. Die Sonne kam am nordwestlichen Bergrücken zum Vorschein und zerschnitt das Becken in eine helle und eine dunkle Hälfte. Doch die Sonne gab bald einen Teil ihres Territoriums preis, und die Hälften waren nicht mehr gleich groß. Abe unterdrückte sein Schwindelgefühl und lächelte matt. Er hatte schon auf Felsbänken und in Hängematten auf den großen Felswänden im Yosemite-Nationalpark geschlafen, aber noch nie auf einem so schmalen Grat. Es schien verrückt zu sein, hier ein Camp aufzuschlagen, doch Abe wußte, daß eine Logik dahintersteckte. Hier auf dem Grat war das Camp vor Lawinen und Steinschlag sicher. Nach einiger Zeit schwächte sich Abes Grauen vor 168
der Höhe immer zu einer gesunden Angst ab. Es waren die ersten Minuten, die schlimm waren, und er versuchte, sich die Furcht auszureden. Die Erde war ihnen abhanden gekommen. Sie hatten sie unter sich zurückgelassen. Wie Mönche gaben sie ihren Platz in der menschlichen Gesellschaft auf und wurden namenlos. Doch im Gegensatz zu Mönchen schlossen sie einen Pakt mit ihren persönlichen Dämonen, legten eine radikale Arroganz an den Tag und stiegen nach eigenem Gutdünken empor. Abe zwang sich dazu, in den Abgrund hinabzublicken. Sieh hin, sagte er sich. Mach dich damit vertraut. Manchmal half es, wenn er die physikalische Leere tief in seiner Seele einschloß. Heute half es nicht. Die Übelkeit wurde nur noch schlimmer. Da das Hinabsehen sinnlos war, schaute Abe nach oben. Eine Reihe von Seilen führte zu einer dunklen Eisrinne, und die Eisrinne führte senkrecht ins Unbekannte. Morgen, morgen, morgen, dachte Abe. Je höher sie kletterten, desto tiefer wurde der Abgrund. Er hatte immer geglaubt, daß ein Augenblick wie dieser – ein Augenblick der kristallklaren Erkenntnis – wunderbar und meditativ sein würde. Er würde den Mund aufreißen, bis ans Ende der Welt blicken und denken: Darum geht es also. Statt dessen kniete er sich vorsichtig auf den Berggrat und umklammerte das Seil. In dieser Position nahm er sich die Freiheit, seinen Mageninhalt dreihundert Meter tief in den Abgrund zu ergießen. Eine weitere Woche verging. Jeden Morgen hüllten sich die Bergsteiger in einen Schutzpanzer aus GoreTex und Polypropylen. Sie setzten ihre Helme und Schutzbrillen auf, legten die glitzernden Steigeisen an, nahmen ihre 169
spitzen Eispickel in die Hand und wickelten sich Seile um den Körper, als wären es Munitionsgürtel. Sie warfen sich in ihre Kluft, schulterten die Rucksäcke mit der Entschlossenheit eines Stoßtrupps und besetzten den Berg in kleinen Gruppen, immer auf der Suche nach Schwachstellen. An manchen Tagen lag der Berg da wie das Stilleben aus der Hand eines Titanen. Nichts regte sich auf der heißen, blendenden Leinwand. Dann gab es wieder Tage der Raserei, an denen alles zerrissen war, wenn man den Berg überhaupt sehen konnte. Er verlagerte seine Truppen, lud die Waffen nach und bereitete sich auf den Angriff vor. Der Berg veränderte sich, doch Abe beobachtete, daß auch die Bergsteiger sich wandelten. Das Fett schmolz von ihren Körpern ab; es wurde von den Strapazen der Expedition aufgezehrt. Bald würden sie nur noch aus Haut und Knochen bestehen. Abe ahnte es schon, wenn seine Kameraden sich morgens an den warmen Tagen bis aufs T-Shirt auszogen. Die Muskeln waren dünner geworden, und an den Armen traten die Adern hervor. Ihre Hände waren zerschunden und voller Schwielen, als hätten sie auf einer Bohrinsel gearbeitet. Die Handballen waren aufgeplatzt, Risse breiteten sich aus, und einfache Kratzer vereiterten. Die Fingernägel hatten aufgehört zu wachsen, oder sie waren stumpf und brachen ab. Die Nagelhaut riß ein und blutete, als wollten die Finger ihre eigenen Nägel abstoßen. Abe versuchte vergeblich, sich daran zu erinnern, wie sie alle vorher ausgesehen hatten. Ihre Haut war blau geworden, wie bei den Gottheiten des Himalaja, und je höher sie kletterten, desto kräftiger wurde das Blau. Ihr Urin war rot wie Blut, denn das Schmelzwasser vom Gletscher enthielt sehr viel Eisen und Mineralien. Beim Abendessen fielen ihnen verbrannte Hautfetzen aus dem 170
Gesicht in ihre Näpfe. Die Augen waren hinter den Schneebrillen riesengroß geworden. Es schien, als hätte sich der Berg eine Horde verrückter Fanatiker herangezüchtet. Wir werden den Berg bezwingen, dachte Abe, solche Menschen können ihn bezwingen. Und er war einer davon. Langsam, Stück für Stück, machten sie gegenüber dem Untier Boden gut. Sie setzten ihren Aufstieg zentimeterweise fort und schlachteten die Überreste früherer Expeditionen für ihre Zwecke aus. Durch die »Yak-Pause« lagen sie hinter dem Zeitplan zurück, doch mit großer Risikobereitschaft holten sie den Rückstand allmählich auf. Nach zwei Wochen hervorragender Pionierarbeit, hauptsächlich von Daniel und Gus, war das Unternehmen beinahe wieder im Soll. Die Moral im Team wurde immer besser, doch seltsamerweise wuchs gleichzeitig auch die Angst. Alle waren stark angespannt, und niemand konnte sich das erklären, wo es doch so gut lief. »Der Rückschlag kommt ganz bestimmt«, sagte Robby. »Ihr werdet sehen. Irgendwann setzt der Motor aus. Dann ist es eine Frage des Schwungs, wie weit wir noch kommen, bevor wir stehenbleiben.« Der Motorschaden kam sehr bald. Carlos war schon mit einer chronischen Sehnenentzündung an beiden Knöcheln angereist, und er hatte die Füße so straff umwickelt wie ein Footballspieler vor dem Endspiel. Das stabilisierte zwar die Knöchel, verschlechterte aber die Blutzufuhr zu den Füßen, was leichte Erfrierungen an den Zehen nach sich zog. Abe verordnete ihm warme Socken und verbot ihm den TapeVerband. Zwei Tage später stolperte Carlos und verstauchte sich den linken Knöchel. Jorgens schickte ihn 171
zur Erholung ins Basislager. Am 14. April zogen sich Robby und JayJay in Camp zwei eine Lebensmittelvergiftung zu. Wegen einer Schlechtwetterfront hatten sie zwei Tage lang in ihren Zelten festgesessen, und keiner von beiden hatte ein besonders zartes Wesen. Während der Sturm ihnen um die Ohren pfiff, taten sie das, was jeder andere auf dem Berg auch tat. Sie warteten ab, schliefen, kochten und erzählten sich Unsinn. Das Wasser, das sie zum Kochen nahmen, war geschmolzener Schnee. Der Schnee lag vor dem Zelt. Robby und JayJay machten sich nicht die Mühe, ihre Arme sehr weit aus dem Zelt zu strecken, und so kam es, daß sie ihre eigenen Fäkalien zu sich nahmen. Als der Sturm sich legte, hatte der heftige Anfall von Brechreiz und Durchfall schon nachgelassen, doch beide Männer litten unter starker Austrocknung. Da die Kombination von Dehydrierung und Bergkrankheit tödlich sein konnte, schickte Abe die beiden zum Ausruhen ins Basislager. Abe hatte in Büchern etwas über monatelange AntarktisExpeditionen gelesen, die in ihrer Isolation krankheitsfrei geworden waren. Nachdem man sich im ersten Monat gegenseitig mit Grippe und Erkältungen angesteckt hatte, paßten sich die Immunsysteme an, und Virusinfektionen kamen praktisch nicht mehr vor. Dieses Gleichgewicht wurde nur durch Neuankömmlinge zerstört. Abe wußte, daß theoretisch auch die Ultimate-Summit-Expedition krankheitsfrei werden konnte. Doch in der Realität arbeitete die Zeit gegen sie, und eine wirklich isolierte Gruppe waren sie sowieso nicht. Durch die Yakhirten waren sie einer Vielzahl von asiatischen Viren ausgesetzt gewesen, die noch einen Monat später zuschlagen konnten. Eine Zeitlang litten sie alle unter Halsentzündungen und verstopften Nebenhöhlen. Einige bekamen den 172
berüchtigten Berghusten, einen hartnäckigen, zermürbenden Reizhusten. Stump war am schlimmsten betroffen. Ein paar Tage, nachdem er sich in Camp drei einen Schneidezahn an einer gefrorenen Tafel Schokolade abgebrochen hatte, kam er mit einer »Hustenfraktur« ins ABC-Lager. Es war bekannt, daß sich Bergsteiger im Himalaja bei Hustenanfällen schon die Rippen gebrochen hatten. Abe untersuchte Stumps breiten Brustkorb und diagnostizierte, daß die »Fraktur« wahrscheinlich kein richtiger Bruch war, daß aber auf jeden Fall mehrere Rippen verletzt waren. Stump bekam Ciprofloxacin, ein Breitband-Antibiotikum, und Abe schickte ihn zur Genesung ins Basislager. Etwa zu der Zeit, als Carlos mühsam humpelnd aus dem Basislager ins ABC-Camp zurückkehrte, kippte Thomas um. Er hatte hohes Fieber, Schüttelfrost und ein Rasseln in der Lunge. Abe war gerade unterwegs zu Camp zwei. Als Jorgens ihm nachmittags um vier die Nachricht überbrachte – sie hatten immer noch keinen Funkkontakt –, stieg Abe sofort zum ABC-Camp hinunter. Nach Jorgens Schilderung vermutete Abe, daß Thomas sich HAPE zugezogen hatte, ein Höhen-Lungenödem, das in dieser Höhe häufig zum Tode führte. Als indirekte Folge der Dehydrierung barg HAPE eine schlimme Ironie in sich: Es ertränkte seine Opfer in der eigenen Körperflüssigkeit. Abe erreichte das ABC-Camp gegen zwanzig Uhr. Daniel war bereits dort und saß bei dem Patienten. Angesichts der Umstände schien er viel zu ruhig zu sein. Thomas hatte glasige Augen und einen kalten Atem, und Abe hörte das blubbernde Geräusch des Wassers in der Lunge auch ohne Stethoskop. Thomas hustete und bespritzte dabei seinen Schlafsack mit farbigem Auswurf. »HAPE«, sagte Abe. »Wir schicken lieber einen Sherpa runter ins Basislager, damit er den Sack holt.« Der 173
Gamow-Sack war eine tragbare Druckkammer aus Plastik. Man legte den Patienten in die Kammer, pumpte Luft hinein und konnte so innerhalb weniger Minuten eine Höhe von dreieinhalbtausend Metern simulieren. Das hatte in den letzten Jahren schon vielen das Leben gerettet. »Du hast recht, aber nur teilweise«, sagte Daniel. »Den Sack sollten wir auf jeden Fall holen. Aber das ist nicht so eilig. Er hat kein HAPE.« »Doch, natürlich. Sieh ihn dir an. Er hat alle Symptome. Rasseln in der Lunge, Auswurf …« »Nicht ganz«, entgegnete Daniel. Er widersprach mit freundlichem Tonfall. »Ich würde das auch glauben, wenn ich es nicht schon gesehen hätte. Wenn man HAPE hat, kriegt man kein Fieber. Und sieh dir mal die Farbe von dem Zeug an.« Er riß eine Seite aus einer Zeitschrift und hob damit etwas von dem Auswurf auf. »Siehst du? Rostbraun. Nicht rosa. Bei HAPE wäre es rosa.« »Lungenentzündung«, sagte Abe, und er hatte recht. Die gute Nachricht bestand darin, daß die Entzündung anscheinend auf den linken unteren Lungenlappen begrenzt war, und diese Art der Lungenentzündung ließ sich gut mit Antibiotika behandeln. Thomas würde sich schnell erholen, vorausgesetzt, er wurde ins Basislager gebracht. »Langsam wird das hier ’ne Geisterstadt«, sagte Abe. »Und wir haben noch nicht mal die Hälfte geschafft.« »So schnell geben wir nicht auf.« Daniel lächelte. Am 17. April fiel Pemba Sange bei einem Transportmarsch oberhalb des ABC-Camps in eine Gletscherspalte. In zehn Meter Tiefe landete der Sherpa auf einem Zwischenboden aus Schnee. Zum Glück hielt der Boden, und Pemba konnte unverletzt geborgen werden, doch zwei Tage später kamen zwei andere Sherpas mit starken Kopf174
schmerzen ins ABC-Camp hinunter. Jorgens behauptete, das sei Einbildung und Arbeitsverweigerung. Er sagte, daß nach Unfällen oder Todesfällen manchmal die Hypochondrie bei Bergsteigern und Sherpas um sich griff. »Behandle sie wie normale Patienten«, riet Jorgens. »Gib ihnen Aspirin, Vitaminspritzen oder was auch immer. Bring sie nur wieder auf die Beine. Sie werden schon drüber hinwegkommen. Wenn nicht, schicken wir sie solange ins Basislager, ohne Bezahlung. Faulpelze können wir uns hier oben nicht leisten. Die machen die Moral kaputt und essen uns die Vorräte auf.« Er ordnete an, daß Abe einen Tag lang unten blieb und mit den beiden Doktor spielte. Doch die Sherpas waren tatsächlich krank. Abe fand sie mit Fieber, schwerem Durchfall und leicht verwirrt in ihren Zelten vor. Einer von ihnen war sogar mit fünfundzwanzig Kilo Ausrüstung auf dem Rücken losmarschiert, bevor die Krankheit ihn besiegt hatte. Also keine Faulpelze. Abe improvisierte wieder einmal, verordnete den beiden eine fünftägige CiprofloxacinTherapie und sagte ihnen, daß sie ins Basislager absteigen sollten, sobald sie sich stark genug fühlten. Die Unfälle und Krankheiten machten das ganze Team nervös und unruhig. Die Bergsteiger gingen bis an ihre Grenzen und darüber hinaus, und es verbreitete sich das Gefühl, daß sie Hilfe brauchten, daß sie einen Schutzengel benötigten. Sonst würde der Berg ein Todesopfer fordern. Die Hilfe kam von unerwarteter Seite. Es war die dritte Woche im April, und Abe überquerte auf dem Rückweg von einem weiteren anstrengenden Transportmarsch die letzte Gletscherspalte des nördlichen Beckens, als er am Himmel über dem ABC-Camp einen Drachen erspähte. Es war ein Kastendrachen, zitronengelb und granatapfelrot, 175
und jemand hatte ihn gut fünfzig Meter in die Höhe steigen lassen. Es war kein großes Geheimnis, wer dieser Jemand sein konnte. Robby hatte drei Drachen aus den USA mitgebracht, in der Hoffnung, er könne ein kalendertaugliches Foto der Drachen vor dem Hintergrund des Himalaja machen. Bis jetzt war er so sehr mit Klettern und Kranksein beschäftigt gewesen, daß er seine Drachen erst einmal steigen lassen konnte, und bei diesem einen Versuch war der Wind zu stark gewesen. Heute schien es jedoch zu klappen. Mit seinen tropischen Farben und seiner eigenartigen Schwerelosigkeit war der Drachen gar nicht zu übersehen, und aus seiner Höhe konnte man schließen, daß er schon eine ganze Weile in der Luft war. Doch erst jetzt hatte Abe ihn bemerkt. Auf dem letzten Stück seines Weges zum Camp erfreute Abe sich am Auf und Ab des Drachens, an dem heftigen Zittern, und er war von der übermütigen Zartheit ganz verzaubert. Es sah aus, als würde die vom Wind strapazierte Schnur jeden Moment reißen, und schon das Blau des Himmels schien auszureichen, um das Spielzeug zu zerdrücken. Am Rande des Camps setzte Abe sich auf einen Felsen, um seine Steigeisen abzunehmen, und Thomas kam zu ihm. Er beteuerte, daß er sich vollständig erholt habe, doch Abe sah ihm an, daß er noch schwach war. »Du hast Besuch«, sagte Thomas. »Erzähl keinen Unsinn«, erwiderte Abe. »Nein, wirklich«, sagte Thomas. »Heute morgen angekommen.« Einen verrückten Moment lang glaubte Abe, daß Jamie sich irgendwie zum Everest durchgeschlagen hatte und den langen Weg zum ABC-Camp hinauf marschiert war. Er verwarf den Gedanken schnell wieder. Selbst wenn 176
Jamie der Typ dafür gewesen wäre, hätte es zu viele Hindernisse für dieses Abenteuer gegeben, zu viele Grenzen. Abe kam zu dem Schluß, daß Li Deng der Besucher sein mußte, entweder als Patient, als Bürokrat oder einfach aus Einsamkeit. Auf jeden Fall war er nicht willkommen. Das letzte, was sie hier oben gebrauchen konnten, war ein Verbindungsoffizier, der ihnen mit Vorschriften und Fristen auf die Nerven ging und sie überwachte. Sie hatten für ihre Expedition hundert Tage Zeit, und wenn ihnen jeder einzelne Tag vorgezählt wurde, kamen sie dadurch keinen Meter weiter. »Hey«, sagte JayJay, der gerade vom Gletscher heruntergekommen war. Weitere Bergsteiger folgten ihm. »Ist das nicht dein Schwachsinniger?« Die Geschichte von Abe und seinem epileptischen Yakhirten hatte sich herumgesprochen. Es war tatsächlich der tibetische Junge. Er stand mitten im Camp und hielt mit beiden Händen die Rolle mit der Drachenschnur fest. Er trug ein sauberes UltimateSummit-T-Shirt, eine gesteppte Hose und eine schmutzige Felljacke. Drei Sherpas saßen in der Nähe auf den Felsen, machten Witze, gaben ihm Tips und schauten zu, wie er den Drachen lenkte. Pembas Sturz in die Gletscherspalte hatte die Sherpas ernüchtert, doch der Drachen, oder dessen Lenker, schien sie wieder aufzumuntern. Nima entdeckte Abe, stand sofort auf und sagte etwas zu dem Tibeter. »Na, wen haben wir denn da?« sagte Stump und befreite sich von seinen Steigeisen. »Das ist doch Abes kleiner Streuner. Ich dachte schon, der wäre verschwunden.« Der Junge drehte sich zu der immer größer werdenden Gruppe von Bergsteigern um, und auf seinem runden Gesicht breitete sich ein fröhliches Grinsen aus, so daß 177
seine vorstehenden Zähne sichtbar wurden. Er sah aus wie ein Kind, das alle Zeit der Welt hatte. Er bückte sich, legte die Drachenschnur unter ein paar Steine und ging langsam auf die Bergsteiger zu. Nima folgte ihm. Abes Müdigkeit war wie weggeblasen. Als er den Jungen zuletzt gesehen hatte, war dieser todkrank gewesen. Und nun hatte er sich so gut erholt, daß er fünfzehn Kilometer weit marschieren und im Schoße des Everest einen wunderschönen Drachen lenken konnte. Diese Tatsache war so simpel und wunderbar, daß Abe zurücklächelte. In zwölf Jahren beim Rettungsdienst hatte er einige sogenannte Wunder erlebt, aber nie waren sie auf so poetische Weise illustriert worden. Der Junge hinkte, seine linke Körperhälfte war teilweise gelähmt, und offensichtlich hatte er Nervenschäden davongetragen. Abe fragte sich wieder, ob eine Kopfverletzung die epileptischen Anfälle ausgelöst oder sogar verursacht hatten. Jetzt, wo der Patient sprechen konnte, wollte er ihm einige Fragen stellen und ihn sich noch einmal ansehen. Während der Junge über die grauweißen Steine hinkte, machten die Bergsteiger abfällige Bemerkungen über ihn. »Das ist ja ’n Krüppel«, sagte JayJay erstaunt. »Wie hat der’s überhaupt bis hierher geschafft?« Robby schlenderte herüber, in Moonboots und einer purpurroten Polypropylen-Hose. Mit seinem ausgefransten Backenbart und zwei Kameras um den Hals sah er aus wie ein Clown beim Rodeo. »Na, was sagt ihr jetzt?« Er strahlte. Dann drehte er sich um und zeigte auf den Drachen. »Ein Wunder ist geschehen«, witzelte Stump. »Du hast ihn tatsächlich hochgekriegt.« »Seht ihn euch an«, sagte Robby. »Aber wißt ihr was? 178
An diesem tibetischen Jungen ist ein Pilot verlorengegangen. Der ist zum Fliegen geboren, so wie er mit dem Wind umgehen kann. Ihr hättet sehen sollen, wie er meinen Drachen steigen ließ. Eine Handbewegung, und schon war er oben.« »Mann, diese Asiaten sind ganz vernarrt in ihre Drachen«, sagte Carlos. »In Katmandu sind sie so mit ihren Drachenschnüren beschäftigt, daß sie vergessen, wo sie sind, und von Hausdächern runterfallen, fünf Stockwerke tief.« »Vielleicht ist das dem Jungen da auch passiert«, mutmaßte JayJay. »Oder es war eine Yak-Stampede«, sagte Gus. Sie machten noch ein paar Witze, und der Junge schleppte sich weiter über das lose Geröll. Die späten Sonnenstrahlen des Nachmittags hoben ihn deutlich vom Hintergrund ab und ließen ihn so hell erscheinen, daß man kaum hinsehen konnte. »Du hast uns gar nicht erzählt, daß er ein Tulku ist«, sagte Daniel zu Abe. Er schirmte mit einer Hand die Augen ab und blinzelte zu dem Jungen hin. Abe hatte das Wort noch nie gehört, wollte sich aber nichts anmerken lassen. »Ja, ein Yakhirte.« »Ein Tulku?« fragte Carlos. Er nahm seine Schneebrille ab und sah genauer hin. »Klar, Daniel. Du hast recht.« Er war aufgeregt und zugleich beunruhigt. »Das ist kein Yakhirte. Seht euch das runde Gesicht an, und die spitzen Ohren, wie bei einem Kobold. Und die Augen. Und guckt mal, wie hingerissen die Sherpas sind. Die sehen aus wie die Apostel bei der Auferstehung. Mann, das ist echt ’n Heiliger. Doc, du hast einen Tulku gerettet.« 179
»Was, zum Teufel, ist ein Tullkuh?« fragte JayJay. Carlos seufzte und versuchte es noch einmal. JayJay mußte man immer alles zwei- oder dreimal erklären, und auch dann bekam er noch nicht alles mit. »Tulkus sind Heilige. Mönche und Propheten in einem. Und sie können wahrsagen.« »Ja«, spottete Daniel, »und Tulkus können auch fliegen. Und sie kämpfen gegen böse Geister.« Carlos wurde vorsichtig. »So heißt es jedenfalls.« »Ich weiß nur, daß ich ihn schon fast für tot gehalten habe«, sagte Abe. »Oh, das können sie auch sehr gut«, bemerkte Gus. Doch während Daniel nur einen harmlosen Spaß machen wollte, war es bei ihr eine beißende Stichelei. Gus hatte ihre guten Eigenschaften, doch das Erdulden von Leichtgläubigkeit gehörte nicht dazu. Sie war schon zu oft in Asien gewesen, um sich vom faulen Zauber der hiesigen Religionen blenden zu lassen. Ihr Interesse galt nur dem Gipfel. »Diese Tulkus können ihre Körpertemperatur beliebig erhöhen oder senken. Sie hören auf zu atmen und stellen sich tot«, dozierte sie scherzhaft. »Sie können sich sogar einen genauen Todeszeitpunkt aussuchen, dann kratzen sie einfach ab, beten einmal, und bei der nächsten Runde springen sie wieder aufs Karussell auf.« Der tibetische Junge kam humpelnd näher. Seine Behinderung wurde deutlich sichtbar, und sie sprachen nicht mehr über ihn. Wahrscheinlich verstand er sowieso kein Wort Englisch, doch er war ein zarter, zerbrechlicher Hänfling unter all den kräftigen Bergsteigern, und er war ihr Gast. Vor allem sein Lächeln war umwerfend. Er war offenbar überglücklich, sie alle gesund und munter am Fuß des Berges anzutreffen. Die Bergsteiger schienen ihn 180
unwillkürlich ins Herz zu schließen. Da man angenommen hatte, der Junge wolle Abe besuchen, überraschte es alle, daß er sofort auf Daniel zuging. Nima war peinlich berührt und überspielte die Situation mit einem Lachen. »Dieser Mann glaubt, Sie ihn gerettet.« »Ich?« Daniel erschrak. »Nein. Er.« Er klopfte Abe auf die Schulter. »Das ist dein Lebensretter. Nicht ich.« Nima sagte etwas auf tibetisch und korrigierte damit den Irrtum. Der Junge lächelte weiter, obwohl er etwas verwirrt zu sein schien. Offensichtlich glaubte er, daß Nima unrecht hatte. Er blickte Daniel weiterhin mit einer geheimnisvollen Vertrautheit in die Augen, und Daniel sah irgendwie verstört aus. Dann drehte sich der Junge zu Abe um. Sein Lächeln wurde noch strahlender, sofern das überhaupt möglich war, und Abe lächelte freudig zurück. »Frag ihn, wie es ihm geht«, sagte Abe zu Nima. Nima machte sich die Mühe nicht. »Viel besser, Sir. Sie sehen doch.« »Das finde ich nicht, Nima. Er sieht sehr schwach aus. Er gehört ins Basislager und sollte viel essen und schlafen. Die Höhenluft hier ist sehr schlecht für ihn. Sag ihm das.« Doch Nima war ein Sherpa. Die Höhenluft war etwas Selbstverständliches für ihn, und wenn der tibetische »Heilige« sie aushielt, konnte sie doch nicht schlecht sein. »Dieser Mann will Sie besuchen, Doktor. Kommt acht Tage.« Plötzlich kam Jorgens’ Stimme aus dem Nichts und mischte sich ein. »Der Junge glaubt, daß er eine Woche hierbleiben kann? Keine Chance.« Man konnte an Nimas Gesichtsausdruck ablesen, daß er das nicht verstand. Aber ihm schien klar zu sein, daß es 181
hier nicht um Gastfreundschaft ging. Abe begriff sofort, daß dies eine Machtfrage war. Jorgens hatte noch an der veränderten Hackordnung zu knabbern und wollte Punkte sammeln. Der Vorteil bei dieser Sache war, daß er die Logistik auf seiner Seite hatte. »Nima, sag ihm, daß er nicht bleiben kann«, befahl Jorgens. »Wir haben nicht genug Verpflegung für einen zusätzlichen Esser, und er hat keine Genehmigung, hier zu sein. Du kennst die Regeln. Die Yakhirten kommen rauf, und sie steigen wieder ab. Sie blieben eine Nacht hier, mehr nicht. Außerdem bräuchte er eine Genehmigung von den Chinesen. Verstanden?« Jemand sagte: »Mann, beruhige dich.« Jorgens errötete. Früher vor der Meuterei, hätte er den Übeltäter niedergeschlagen. Jetzt war er gezwungen, sich Verbündete zu suchen. »Wir können uns keinen Ärger mit dem Verbindungsoffizier leisten«, erklärte er und bemühte sich dabei um einen zivilen Tonfall. »Das ist mein letztes Wort.« »Aber das hat Nima doch gar nicht gemeint«, sagte Abe. Er wandte sich dem Sherpa zu. »Acht Tage. Wolltest du sagen, daß der Junge vom Basislager bis hierher acht Tage gebraucht hat?« »Ja, Sir. Vielleicht acht Tage, vielleicht mehr. Viele Tage, gehen, beten, sehr langsam.« Einer der Bergsteiger pfiff durch die Zähne. »Acht Tage vom Basislager. Der muß ja gekrochen sein.« »Der Kerl scheint dich wirklich zu mögen, Doc«, sagte JayJay. »Er stand in seiner Schuld«, konstatierte Daniel. Ihm erschien das völlig logisch. »Sag ihm, daß ich mich freue, ihn zu sehen«, sagte Abe 182
zu Nima. Nima benahm sich wie ein königlicher Minister und belästigte seinen Prinzen nicht mit belangloser Konversation. Er antwortete für den Jungen: »Er freut sich sehr, Sie zu sehen, Sir.« »Aber frag ihn mal, warum er den weiten Weg gemacht hat.« »Wegen Puja, Sir. Wir brauchen die Puja.« Nima sagte das sehr eindringlich. Er war offensichtlich überzeugt, daß sie die Puja brauchten. Dabei handelte es sich um ein Ritual, das Abe noch nie miterlebt hatte. »Er hat recht«, sagte Carlos. »Seit wir hier oben sind, gehen wir auf dem Zahnfleisch. Ohne Puja hätten wir das Basislager gar nicht verlassen sollen.« Jorgens ging sofort zum Angriff über. Seine Wut mischte sich mit der Erschöpfung eines Lehrers am Ende eines langen Schuljahres. »Leute, das ist eine ganz heikle Sache. Ich sage euch, in China müssen wir uns anpassen und …« »Wir sind hier in Tibet«, unterbrach ihn Carlos. »Und das hier ist der Everest. Und wir brauchen eine Puja. Wenn man hier ohne Puja auf die Berge steigt, beschwört man das Unglück geradezu herauf. Wir können froh sein, daß wir einen Mönch haben, der das machen kann.« »Einen Tulku«, fügte JayJay hinzu. Jorgens sah sich kurz um und blickte in die Gesichter der anderen. »Also gut, haltet euer Ritual ab«, sagte er. »Aber behaltet es für euch. Ich will nicht, daß Li was davon erfährt. Es reicht, wenn er glaubt, daß wir einen dummen verletzten Yakhirten beherbergen. Daß es ein Mönch ist, braucht er nicht zu wissen. Li hat seine Vorschriften. Verstanden? Kein Wort über den Mönch. Kein Wort über die Puja.« 183
Abe fand es rührend und kindlich, daß hartgesottene Bergsteiger wegen einer glückbringenden Zeremonie so aus dem Häuschen waren. Er glaubte, daß sie die Puja sicher nicht ganz so ernst nahmen. Doch als er sich umschaute, sah er Zufriedenheit in den Gesichtern – eine stille Erleichterung, die vorher gefehlt hatte. Selbst Gus schien sich jetzt wohler zu fühlen. Die Bergsteiger liefen auseinander, gingen zu ihren Zelten und ließen Abe mit Nima und dem Jungen allein. Das Alpenglühen ließ die Nordwand des Everest rosarot schimmern. »Noch etwas, Nima. Sag ihm, daß ich ihn untersuchen will, bevor er geht. Ich will nur sichergehen, daß alles in Ordnung ist.« In Wirklichkeit wollte Abe sich den Jungen ansehen, weil er sehr skeptisch war. Er konnte sich eine so vollständige Genesung nicht erklären, besonders in dieser Höhe. Vielleicht hatten Tulkus tatsächlich übersinnliche Kräfte. »Okay«, sagte Nima. »Wann denn, Sir? Jetzt?« Abe zögerte. Er war müde. »Ja, gut«, beschloß er, »jetzt.« Auf dem Weg zu einem nicht belegten Zelt begegneten sie Daniel, der seine Schneegamaschen abstreifte. Der Mönch verlangsamte seine ruckartigen Schritte und blieb stehen. Daniel blickte auf; er war erschrocken über den seltsam starren Blick des Jungen. »Bist du sicher, daß ihr euch nicht kennt?« fragte Abe. »Vielleicht von deiner letzten Expedition.« »Unwahrscheinlich. Da muß er zehn oder elf Jahre alt gewesen sein.« Wieder schien Daniel völlig verwirrt zu sein. »Vielleicht hat er euch auf dem Rückweg gesehen.« Abe 184
vermied den Ausdruck »Marsch der Aussätzigen«. Er hatte noch nie darüber gesprochen, da er nicht wußte, wie Daniel zu der Geschichte stand. Für die Dorfbewohner im Himalaja mußte es ein schlimmer Anblick gewesen sein: fünf schrecklich entstellte Menschen, die sich mit völlig erfrorenen Händen und Füßen den Berg hinunterquälten. Ein Anblick, den kein kleiner Junge so schnell vergessen konnte. »Unwahrscheinlich.« Jetzt spürte Abe, daß hinter Daniels Verwirrung die Unruhe eines gehetzten Tieres steckte. Daniel hatte Angst vor dem Jungen und dessen unheimlicher Erinnerung. Er hatte Angst vor der Vergangenheit. Abe wechselte das Thema. »Ich kann’s immer noch nicht fassen, daß er extra hergekommen ist, um sich zu bedanken.« Der Gedanke, daß ein Junge in dieser einsamen Gegend nichts anderes zu tun hatte als durch die Wildnis zu marschieren und Fremde zu segnen, machte Abe traurig. »Ich mag ihn«, sagte Daniel. Der Junge hatte Daniels Eispickel in die Hand genommen und prüfte mit dem Daumen, wie scharf die Spitze war. »Er hat wirklich Mumm. Wir sollten ihm das Bergsteigen beibringen.« Mit einer plötzlichen Handbewegung nahm Daniel seine schwarz-organgefarbene Baseballmütze ab und setzte sie dem Mönch auf. Sie war voller Schweißflecken und viel zu groß, doch für den Jungen war sie Gold wert. Er machte große Augen und brummte: »Wah.« »Wie heißt er denn?« Abe blinzelte erstaunt. Danach hatte er nie gefragt. Als der Junge bewußtlos gewesen war, hatte er keinen Namen gebraucht. »Er heißt Wangdu«, sagte Nima. Daniel probierte den Namen aus. »Wangdu.« Dann 185
fragte er. »Was habt ihr denn mit ihm vor?« »Eine letzte Untersuchung«, sagte Abe. »Ich will ihn mir noch mal ansehen. Du kannst mitkommen, wenn du willst.« Daniel stützte die Hände auf die Knie und stand auf. Es knisterte in seinen Gelenken, und Abe sah, daß er seinen elektrischen Schmerzstiller an der Hüfte trug. Was sind wir doch für ein Haufen, dachte Abe. Lahm und gebrechlich. Sterbliche mit unsterblichem Ehrgeiz. Sie zwängten sich zu viert in das leere Kuppelzelt. Der Geruch nach ungewaschenen Menschen war unvermeidlich, doch da war noch ein anderer Geruch, der sich deutlicher aufdrängte. Im Freien hatte Abe ihn nicht bemerkt. »Nima, bitte ihn, die Felljacke und das Hemd auszuziehen.« Als der Junge sich entblöst hatte, wurde das Zelt von dem furchtbaren Gestank nach verwesendem Fleisch erfüllt. Abe war sprachlos. Er lehnte sich zurück. »Er ist tot«, murmelte Daniel. »Der sieht aus wie tot.« Zum Teil hatte er recht. Unter der Felljacke und dem TShirt war der Mönch nur noch zur Hälfte am Leben. Der Zustand seiner verschiedenen Wunden war schlimmer geworden, viel schlimmer. Bei Tageslicht – was davon noch übrig war – hatten die Verletzungen die schmutziggelbe Farbe von verfaultem Obst. Aus den Bißwunden floß ein übelriechendes Sekret, und die seltsamen Stellen um die Brustwarzen herum waren vereitert. »So schlimm war es neulich nicht«, sagte Abe. Er drückte mit der bloßen Handfläche auf die eitrige Brust des Jungen und spürte, durch seine Schwielen hindurch, die heiße, pulsierende Infektion. Der Mönch wurde bei lebendigem Leib aufgezehrt. 186
Abe kämpfte gegen seinen Ekel an. Er suchte nach einer anderen Empfindung, fand seine Wut und brüllte Nima an. »Ich dachte, Krishna kümmert sich um ihn. Verdammt, ich habe ihm doch Anweisungen gegeben. Ich habe ihm gesagt …« Nima hörte gar nicht zu. Er war zu entsetzt über das, was sie alle sahen, und über den Geruch, den sie einatmeten. Abe verkniff sich weitere Schelte. Er war hier der Mediziner, nicht Krishna, und sie befanden sich auch nicht in der US-Provinz, wo die moderne Medizin eine Selbstverständlichkeit war. Sie waren in Tibet, wo die Zeit stehengeblieben war. Hier war die Welt rauh und urwüchsig. Die Menschen starben an Holzsplittern, Windpocken, Knochenbrüchen und Insektenstichen. »Nima, sag ihm, er soll sich hinlegen. Wartet hier. Ich hole nur ein paar Sachen. Tabletten, Salbe und Verbände. Ich muß ihn waschen. Ich muß noch mal ganz von vorn anfangen.« Er wollte hinausgehen, doch Daniel, der angeekelt und neugierig war, stellte sich ihm in den Weg. »Abe, ich verstehe das alles nicht.« »Ich auch nicht. Aber wenn wir die Infektion nicht in den Griff kriegen, hast du recht. Dann ist er tot.« Als Abe wiederkam, führte Daniel ein Gespräch mit Nima, das diesem sichtlich unangenehm war. Das Gesicht des Sherpas war rot und voller Empörung, und Daniel sah genauso aus. Nur der Mönch blieb gelassen und lag ruhig auf einem weichen Daunenschlafsack. Daniel sprach Abe an. »Du hast mir doch erzählt, er wäre unterwegs bei einem Unfall verletzt worden.« »Das habe ich vermutet«, sagte Abe. »Er war ohnmächtig, und keiner wußte es genau.« 187
»Und ob sie es wußten«, fauchte Daniel wütend, doch die Wut war nicht auf Nima gerichtet. »Sie haben bloß nichts gesagt.« »Aber warum nicht?« »Sie hatten Angst.« Abe war hartnäckig. »Ich verstehe nicht, warum.« »Siehst du die Löcher in seiner Brust?« »Parasiten? Vielleicht irgendeine Krankheit«, sagte Abe achselzuckend. Er merkte, daß Daniel ihn mürbe machen wollte, um ihn wegen seiner Naivität bloßzustellen, und das verbesserte seine Laune nicht gerade. Er hatte in der verräucherten Hütte, nachts um drei, sein möglichstes getan. »Erzähl ihm, woher die Löcher kommen«, sagte Daniel zu Nima. Nima sah Abe an und runzelte die Stirn. Das Mißtrauen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Schließlich gab Daniel selbst die Antwort. »Roter Pagodenberg«, sagte er. »Wie bitte?« »Eine chinesische Zigarettenmarke. Sie wird viel von Offizieren der Armee geraucht.« Abe riß den Mund auf und glotzte Daniel an. Was sagte er da? »Das war kein Unfall. Das sind Brandwunden von Zigaretten.« »Ach was.« Abe hielt das für ausgeschlossen. »Und die anderen Wunden? Und die Hundebisse?« Hunde, dachte Abe. Das war die Ursache der Bißwunden. Er wollte logisch bleiben und nicht zu weit denken. »Abe, hör zu. Das sind keine Unfallverletzungen. Denk 188
doch mal nach.« Er wußte, was Daniel jetzt sagen würde, und Daniel sagte es tatsächlich. »Das war Folter, Abe. Er hat sich die Verletzungen in einem chinesischen Gefängnis zugezogen.« »Unmöglich.« »Warum?« Abe starrte ihn wütend an. »Unmöglich.« »Man hört ja die Geschichten, was die Rotchinesen den Tibetern alles antun. Aber es klingt immer übertrieben. Du weißt schon, eine Million Tote. Und die Foltergeschichten, was sie mit den Leuten machen. Sie vergewaltigen Nonnen mit Stachelstöcken, prügeln Mönche mit Eisenstangen zu Tode …« Abe hatte keine Ahnung, was Daniel da redete. Er hatte keine Ahnung, was er denken oder glauben sollte. Er war hier, um auf einen Berg zu klettern. Das war alles, was er wußte. »Nima, sag uns, was du weißt«, verlangte Daniel. Der Sherpa fing an zu reden, stockend und widerwillig. »Dieser Mann, sie haben ihn ins Gefängnis gesteckt. Sie machen sehr schlimme Sachen mit ihm. Er von dort weggelaufen. Jetzt er will nach Nepal gehen.« »Er flieht?« fragte Abe. »Er versucht es«, sagte Daniel. »Aber die Gebirgspässe liegen sehr hoch. Er sitzt in der Falle. In seinem Zustand hat er keine Chance. Sieh ihn dir an. Kein Wunder, daß er auf allen vieren hier angekommen ist.« Durch seine Arbeit als Sanitäter hatte Abe furchtbare Verletzungen gesehen, noch furchtbarer als die des Jungen: zerfetzte Körper, von Windschutzscheiben zerschnitten, zerquetscht wie reife Trauben, zerrissen und 189
zerstückelt. Doch das Leiden hatte nie einen Grund, eine konkrete Ursache gehabt wie hier. Dieser Fall war so unglaublich, weil ein anderer Mensch dem Jungen das Leiden in den Körper gebrannt hatte, eine Wunde nach der anderen. Es war unvorstellbar. Abe biß krampfhaft die Zähne zusammen, und Tränen der Verzweiflung stiegen ihm in die Augen. Er war gekommen, um eine schöne, prächtige, utopische Landschaft zu sehen. Er unterdrückte die Tränen. »Die Yakhirten haben ihn bis zum Basislager mitgenommen«, fuhr Daniel fort, und Abe bemerkte, daß das nur eine Mutmaßung war. »Und die Sherpas wissen nicht, was sie für den armen Kerl tun sollen, außer den Mund zu halten. Wenn die Chinesen davon was mitkriegen …« »Was hat er ihnen denn getan?« fragte Abe. Er wollte den Beweis für die Existenz des Bösen nicht wahrhaben. Er brauchte Zeit. Oder eine Begründung. Nima fragte den Mönch, und der Mönch legte die Hände über Kreuz, ballte sie zu Fäusten, stieß sie nach unten und senkte den Kopf. Abe brauchte keinen Dolmetscher, um das zu verstehen. Rebellion, Widerstand. »Er machte das im Jokhang«, erläuterte Nima. »Das ist der große Tempel in Lhasa«, fügte Daniel zu Abes Information hinzu. »Und was nun?« fragte Abe. »Den Mund halten«, empfahl Daniel spontan. »Wir müssen die Sache vor dem Verbindungsoffizier verheimlichen. Er hält ihn für einen gewöhnlichen Yakhirten. Ich denke, unsere Kameraden sollten wir einweihen. Aber Li darf nichts erfahren.« »Alle?« 190
»Alle. Sie müssen wissen, was los ist. Wenn nicht, sagen sie vielleicht aus Versehen irgendwas. Außerdem hängen wir jetzt alle mit drin, und die anderen haben ein Recht darauf, Bescheid zu wissen.« »Auch Jorgens?« fragte Abe. »Der dreht durch, wenn er erfährt, daß wir was mit dem Untergrund zu tun haben.« »Es braucht ihm ja nicht zu gefallen«, erwiderte Daniel. »Aber er gehört zu uns. Wir sind ihm die Wahrheit schuldig.« »Also gut«, sagte Abe. »Dann sag’s ihnen.« »Und bring du den Jungen wieder auf die Beine. Er muß zu Kräften kommen, sonst schafft er’s nie über den Paß. Und wenn er das nicht schafft, sieht es übel aus. In dieser Gegend müssen die tibetischen Familien die Leichen von den Chinesen zurückkaufen. Der Preis beträgt fünf Yuan, soviel wie eine Patrone kostet. Und ich glaube nicht mal, daß der arme Kerl eine Familie hat, die ihn beerdigen kann.« »Ich tue, was ich kann.« Daniel legte Abe eine Hand auf die Schulter. »Gib dein Bestes, Abe. Rette diejenigen, die noch zu retten sind. Das habe ich von dir gelernt.« Noch bevor Abe etwas erwidern konnte, war Daniel durch den Eingang des Kuppelzeltes hinausgegangen, um die anderen zu informieren. Plötzlich ertappte sich Abe bei dem Wunsch, der Junge möge doch wieder bewußtlos sein. Als Bewußtloser war er stumm gewesen, und damit nicht mehr als eine Leinwand, die mit all diesen Quetschungen, Schnitt- und Brandwunden bemalt worden war. Doch jetzt war der Junge bei Bewußtsein, und seine Geschichte war keine Erfindung mehr. Abe machte sich daran, diejenigen 191
Verbände zu wechseln, die noch nicht abgefallen waren, und die Wunden des Mönchs zu reinigen. Am nächsten Morgen fand die Puja statt. Die Sherpas formten kleine Türmchen aus Mehlteig, legten Kekse und Bonbons auf eine Platte und packten ein paar kostbare Flaschen Star-Bier aus, das man in Katmandu gekauft hatte. Sie machten ein Feuer aus Zedernzweigen und Kiefernnadeln, die einen Weg von über hundert Kilometern hinter sich hatten. Der weiße, süßliche Rauch lag über dem Camp, während in der Mitte ein Pfahl aufgestellt wurde. Von diesem Pfahl aus wurden vier fünfzehn Meter lange Bänder mit Gebetsfahnen in vier verschiedene Richtungen gespannt. Die Fahnen bestanden aus dünner Baumwolle, hatten verschiedene Farben und waren mit Gebeten in tibetischer Schrift bedruckt. Auch Gus schien trotz ihrer gestrigen Respektlosigkeit gegenüber Tulkus froh darüber zu sein, daß die Gebetsfahnen entrollt wurden. Während Abe sich das Schauspiel ansah, stand Kelly neben ihm und erklärte alles. Sie hatte eines der Baumwollquadrate in der Hand und zeigte Abe ein stilisiertes Pferd, das zwischen die Schriftzeichen gedruckt war. »Das nennt man Lung ta. Ein Windpferd. Jedesmal wenn der Wind eine Fahne flattern läßt, trägt das Pferd ein Gebet in den Himmel«, erklärte sie Abe. »Die Gebete beschützen uns. Uns alle.« Der tibetische Junge saß auf einem kleinen Teppich neben dem Pfahl, und der weiße Rauch zog über ihm an den Gebetsfahnen vorbei. Ang Rita, einer der jüngeren Sherpas, war in seiner Heimat, im Solu Khumbu, ein initiierter Lama. Er hatte den Teppich und die Gebetsfahnen entweder für den eigenen Gebrauch eingeschmuggelt oder sie von einem Yakhirten gekauft. 192
Kelly wußte es nicht genau. Der Tulku sang und murmelte, während er in den Seiten eines alten Buches blätterte. Die Puja hatte die Feierlichkeit einer Messe, aber gleichzeitig auch die Atmosphäre eines Volksfestes. Während der ganzen zwei Stunden kamen und gingen die Bergsteiger und die Sherpas. Sie redeten laut, lachten und machten Fotos. Abe spürte, daß diese Zeremonie mehr war als eine Puja. Sie schweißte die Menschen zusammen. Als Daniel gestern abend die traurige Geschichte des Mönchs erzählt hatte, waren die Bergsteiger zunächst ebenso ungläubig gewesen wie Abe. Dann hatte jeder anders reagiert. Kelly war in Tränen ausgebrochen. Jorgens hatte es abgelehnt, »seine« Expedition durch die Beherbergung eines Flüchtlings zu gefährden. Carlos hatte sich über die chinesischen Besatzer ereifert. Aber schließlich hatten sie alle Daniel zugestimmt. Schweigen war die beste Lösung. Der kleine Tulku würde Zeit haben, sich zu erholen und seine Flucht fortzusetzen. Die Bergsteiger konnten klettern. Und Li würde es erspart bleiben, seine Pflicht auszuüben. Carlos hatte dem Team erklärt, daß die Puja sich an Tara richten würde, die Göttin des Erbarmens. Es stellte sich aber heraus, daß der Tulku sich für sein Ritual einen anderen Gott ausgesucht hatte: Mahakala. Carlos reichte ein kleines Buch über tibetische Kultur herum, und Abe sah ein Bild von Mahakala. Er war fasziniert von der Wahl, die der Mönch getroffen hatte. Der Gott war ein düsterer, grimmiger Dämon mit sechs Armen, der eine Kette aus menschlichen Schädeln um den Hals trug. Er hatte diverse Waffen in den Händen, und sein Kopf war von einem flammenden Heiligenschein umgeben. Er trank Hirnmasse aus einem Schädel. Abe versuchte dieses Bild mit seinem gebrechlichen Patienten 193
in Einklang zu bringen. Carlos meinte, der Zusammenhang sei absolut logisch. »Mahakala – oder Gompo, wie ihn die Laien in Tibet nennen – ist der schwarze Gott der Erleuchtung«, sagte Carlos. »Er ist ein Killer, aber auch ein Beschützer. Er bewahrt uns vor der Selbstsucht und vernichtet die Dämonen der Unwissenheit. In der tibetischen Hitparade der Götter rangiert der Typ unter den Top Drei. Er symbolisiert die Selbstaufopferung zum Zweck der Erleuchtung. Wiedergeburt aus der Zerstörung und so weiter. Wenn der Typ auf uns aufpaßt, kann uns gar nichts passieren, Mann. Eine gute Wahl. Ausgezeichnet.« Nima und Sonam verteilten Puja-Bänder: gesegnete rote Schnüre, die man sich lose um den Hals oder das Handgelenk band. »Man trägt sie so lange, bis sie auseinanderfallen«, erläuterte Kelly. »Was ist mit Li?« fragte Abe. »Was ist, wenn er die Bänder sieht?« »Wir sagen ihm einfach die Wahrheit. Das sind unsere Glücksbringer. Vielleicht gebe ich ihm auch eines.« Abe bekam erst ganz zum Schluß ein Puja-Band. Der Tulku klappte den langen hölzernen Einband eines alten Gebetbuches zu, stand mit wackeligen Beinen auf und legte Abe eigenhändig ein rotes Band um den Hals. Abe kannte das tibetische Wort für »danke« nicht, und so beschloß er, sich mit einem Geschenk zu bedanken. Alles, was ihm einfiel, war ein Stethoskop, das er noch in Reserve hatte. Doch als er mit dem Stethoskop wieder aus seinem Zelt kam, war der Mönch schon weg. Abe fragte Nima: »Wo ist er hingegangen?« »Ich weiß nicht, Sir.« 194
Sie suchten den Jungen, doch er war verschwunden. Die Gebetsfahnen blieben zurück und schickten Gebete in den blauen Himmel. Die Puja-Bänder färbten sich durch den Schweiß dunkelrot. Abe nahm an, daß er den Mönch nie wiedersehen würde. Er war in der Illusion namens Tibet untergetaucht. Abe wollte von dem Mönch mehr zurückbehalten als das Puja-Band und die Erinnerung an eine Stimme. Doch das war alles, was ihm blieb.
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6. KAPITEL Im Mai wurde die Schlinge der Belagerung enger. Die Camps eins und zwei waren leicht zu nehmen gewesen, als hätte der Berg gar kein Interesse an ihnen gehabt. Camp drei eroberten die Bergsteiger während eines Schnee-Sturms in einer langen Eisrinne, die voller Schlacke und loser Eisbrocken war; es war kein harter Kampf, aber er dauerte eine Weile. Camp vier war das nächste Ziel, doch vorher mußten sie einen gefährlichen, tückischen Engpaß überwinden, den sie »Schießstand« nannten. Am »Schießstand« wurde man ständig von Steinen und losen Eisbrocken bombardiert. Bis jetzt war noch niemand verletzt worden, doch die Bergsteiger wußten, daß selbst Puja-Bänder und Gebetsfahnen das Unheil nicht auf Dauer fernhalten konnten. Gegen Ende April – das genaue Datum wußte er nicht mehr – kletterte Abe hinauf, diesmal mit einer AchtzehnKilo-Ladung auf dem Rücken. Sein Gepäck bestand aus Seilen, Brennstoff, zwei Schlafsäcken und fünf »Hill Rats«: Zwei-Mann-Tagesrationen leichtverdaulicher Nahrung, die man schnell zubereiten konnte. Die Verpflegung, das Gas und die Schlafsäcke waren für Camp drei bestimmt, die Seile für den weiteren Aufstieg zu Camp vier. Die Camps lagen jeweils einen Tagesmarsch auseinander. Abe fühlte sich stark und hätte es auch an einem Tag von Eins bis Drei schaffen können, doch ein solches Tempo hätte schnell zu Entkräftung und Ödemen geführt. Abe hatte bemerkt, daß die anderen ihre physischen und psychischen Reserven für den Gipfel aufsparten, und er sah keinen Grund, sich bei einem 196
Routinetransport unnötig zu verausgaben. Auch er wollte seine Gipfelchance haben, doch je näher der Tag X rückte, desto unklarer wurde es, wann genau dieser Tag sein würde. Einige sagten, in einem Monat, doch die meisten schüttelten nur den Kopf und wechselten das Thema. Abe traf allein in Camp drei ein. Thomas und JayJay hatten hier bereits einen Tag und eine Nacht verbracht. Es war Nachmittag, vielleicht dreißig Grad heiß, und die beiden Männer machten sich gerade an zwei rechteckigen Zelten zu schaffen. Thomas’ Bürstenhaarschnitt war längst verwahrlost, doch die Haare waren noch nicht lang genug, um seinen kahl werdenden Kopf ganz zu bedecken. Er hatte einen frischen Sonnenbrand, der den Schorf eines älteren Sonnenbrandes überdeckte. Er sah aus wie ein Thermometer, das kurz vor der Explosion war. JayJay trug am Oberkörper nur ein Gold’s-Gym-Muskelshirt. Keiner der beiden begrüßte Abe. Sie hatten seinen qualvollen Aufstieg seit zwei Stunden beobachtet, und als er endlich oben war, kam es ihnen vor, als wäre er schon eine Ewigkeit bei ihnen. Abe war zum ersten Mal in Camp drei, und jetzt sah er die Probleme, von denen er gehört hatte, mit eigenen Augen. Der Lagerplatz war eine Katastrophe. Es gab kein Eis und keinen Schnee, auf dem man die Zeltböden ausbreiten konnte, das Felsgestein fiel in einem Winkel von sechzig Grad ab, und es gab keine ebenen Stellen. Es wäre unmöglich gewesen, hier Zelte aufzuschlagen, wenn es nicht die aufwendige japanische Expedition von 1987 gegeben hätte. Mit Akkubohrern, Verankerungshaken und Rohrgestänge hatten die Japaner hier ein metallenes Getto errichtet, oder zumindest das Grundgerüst dazu. Das Resultat waren vier künstliche Plattformen mit ebenem Boden, flachen Dächern und senkrechten Wänden. In seiner Blütezeit hatte das Camp bis zu zwölf Bergsteiger 197
beherbergt. Der Wind hatte die Nylonwände der Zelte aufgerissen, und der Steinschlag hatte einige Stangen abgebrochen und einen Teil der Infrastruktur zerstört, doch in drei Jahren war es dem Everest nicht gelungen, dieses Zeugnis einer früheren Besatzung zu beseitigen. Nun hatte das UltimateSummit-Team das Camp in Besitz genommen und die zerstörten Plattformen ausgeschlachtet, um die weniger beschädigten zu reparieren. Die Barackensiedlung bot auf dem erhabenen Berg einen jämmerlichen Anblick. »Was ist mit Kelly?« fragte JayJay. Das paarweise Klettern war ein ungeschriebenes Gesetz. Es war eigenartig, daß Abe allein auftauchte. »Unpäßlich«, antwortete Abe. Sie wurden immer einsilbiger, und die Sprache reduzierte sich auf ein Maß, das die Lungen noch bewältigen konnten. Manchmal klangen die Gespräche wie einzelne Gewehrsalven. »Wenigstens ist sie nicht schwanger«, sagte Thomas. »Immer raus mit dem Blut.« Er kniff seine dünnen Lippen wieder zusammen. Kein Feixen, nur diese trockene Bemerkung. JayJay schüttelte kurz den Kopf; er war mit dem ermüdenden Frauenhaß nicht so einverstanden, wie Thomas vielleicht glaubte. Im Bruchteil einer Sekunde sah Abe JayJays ganzes Leben voller kleiner, nüchterner Kompromisse an sich vorüberziehen, und er begriff, daß der muskulöse JayJay nicht dumm, sondern vernünftig war. Zum ersten Mal empfand Abe kein Mitleid, wenn er an JayJay dachte. Doch Thomas hatte recht, wenn er auch unhöflich gewesen war. Kelly hatte ihre Periode, deshalb hatte sie ihren Transportmarsch heute nicht gemacht. Inzwischen war Kellys Menstruationszyklus im ganzen Team bekannt, und ihre Krämpfe waren berüchtigt. Trotzdem ging es 198
Thomas nichts an, und Abe war drauf und dran, ihm das zu sagen. Andererseits wußte Abe mittlerweile, daß jedes Niesen und jeder eingerissene Fingernagel das ganze Team betraf. Ein ausgefallener Transportmarsch konnte die Expedition tagelang lahmlegen. Abe zügelte seine Verägerung. »Sie kommt schon nach«, sagte er. »Morgen.« Thomas erforschte das Innere seiner Wange mit der Zunge und wandte seinen Blick nach Norden ab. Seine Augen hinter der gewölbten Schneebrille schienen zu sagen: Wir werden sehen. »Ich hab Hunger«, bemerkte JayJay. Er war, wie üblich, ganz in sich versunken, und Abe war ihm dankbar dafür. JayJays naiver Frohsinn, der im normalen Leben sehr unangenehm sein konnte, war hier erstaunlicherweise zu einem echten Vorzug geworden. Man konnte hier oben keine Komplikationen gebrauchen, und mit JayJay gab es keine Komplikationen. »Wie läuft’s da oben?« fragte Abe und zeigte auf den Zugang zum »Schießstand«. »Es läuft«, brummte Thomas. »Daniel treibt die Sache voran«, erläuterte JayJay. Offenbar hatte er sich Daniel bereitwillig untergeordnet und war froh, daß er seine Kraft und seinen Mut in den Dienst der Expedition stellen konnte, insbesondere unter Daniels Anleitung. Bei Thomas war das Gegenteil der Fall. Er war Bauunternehmer, stammte aus Nordkalifornien, war älter als Daniel und legte mehr Wert auf eine festgeschriebene Rangordnung. Er betrachtete Daniels hervorragende Fähigkeiten in den Bergen als reines Glück, und Glück konnte auch leicht ins Gegenteil umschlagen. »Ich kenne solche Typen«, sagte Thomas. 199
»Hochgebirgs-Hasardeure. Man will mit ihnen mithalten, aber keiner schafft es. Leute wie Corder verschleißen ein ganzes Team, bis jemand sagt: ›Warte, nicht so schnell.‹ Und dann ist es zu spät.« Abe hat für Thomas’ Theorien und Schwarzmalerei nicht viel übrig, aber der Mann hatte schon ein Dutzend Expeditionen mitgemacht, und es wäre dumm gewesen, seine Meinung zu ignorieren. »Wir sind also zu schnell?« »Zu schnell?« zischte JayJay. »Mann, wir sind zu langsam. Ich rieche den Monsun schon. Wir müssen uns beeilen. Wenn wir nicht Gas geben, sind wir geliefert.« »Geliefert sind wir, wenn wir in Daniels Tempo weitermachen«, entgegnete Thomas. »Ihr werdet sehen. Noch eine Woche, dann ist der Akku leer. Kelly ist erst der Anfang. Er kriegt uns alle klein.« Abe wollte einwenden, daß Kelly nicht vom Klettern erschöpft war, sondern Unterleibskrämpfe hatte, doch das hätte nichts an Thomas’ These geändert. Dann wollte Abe sagen, es sei alles eine Frage des Standpunktes – die meisten Menschen würden sicher alle Bergsteiger für Hasardeure halten. Doch JayJay ergriff zuerst das Wort. »Wir sind hier, um zu klettern.« Er zuckte heftig mit den Schultern. »Also klettern wir. Ich will auf den Gipfel. Daniel will auch auf den Gipfel. Wir sind ein Team.« »Team?« Thomas machte sich mit einer Zange an den Spanndrähten zu schaffen. »Auf das Team nimmt Corder keine Rücksicht. Auf uns alle nicht. Der nimmt nicht mal Rücksicht auf sich selbst. Das ist ein Verrückter. Und er macht mir angst.« In diesem Moment schob sich eine kleine Wolke vor die Sonne, und sie wußten sofort wieder, wo sie sich befanden. Die Temperatur sank augenblicklich um 200
fünfunddreißig Grad. Dann zog die Wolke vorbei, und schon keuchten und schwitzten sie wieder. Sie hörten auf zu reden. Bald darauf hörten sie Stimmen von oben, und das schlaffe orangefarbene Seil, das zum »Schießstand« führte, kam plötzlich in Bewegung. Einige Mitglieder des Teams stiegen herab. Unter ihnen würde auch Daniel sein. »Wir müssen unseren eigenen Rhythmus finden«, sagte Thomas schließlich. »Mehr will ich ja gar nicht.« Dann stand er auf, und Abe merkte, daß Thomas vor Daniel mehr Angst hatte als vor dem Berg. Angesichts des Risikos, das der Berg darstellte, mußte das eine gewaltige Angst sein, und Abe fragte sich, wie viele andere Mitglieder des Teams an Daniel zweifelten, ihn fürchteten oder sogar haßten. Während die Bergsteiger herunterkletterten, zuckte das orangefarbene Seil und krümmte sich wie eine sterbende Schlange. Die Stimmen wurden lauter, und Abe hörte das Klirren von Ausrüstungsgegenständen. Es klang, als wären sie ganz nahe, weil der »Schießstand« die Geräusche nach unten leitete, doch der Abstieg dauerte noch eine Weile. Schließlich tauchte Gus auf. Sie ließ das Seil durch den Bremskarabiner vor ihrem Bauch gleiten. »Hallo Leute«, sagte sie und machte mit dem BazookaKaugummi aus ihrem privaten Bestand eine pinkfarbene Blase. Die Blase zerplatzte mit einem Knall. Thomas brummte zur Begrüßung und wandte sich dann wieder den Spanndrähten zu, von denen die japanischen Plattformen zusammengehalten wurden. JayJay begrüßte Gus, indem er den Kopf hob, doch dann behielt er den Kopf oben, und seine Gedanken schweiften ab. Durch die Höhenluft verkürzte sich die Konzentrationsspanne auf wenige Augenblicke. Die Bergsteiger waren dazu übergegangen, sich die 201
Haare mit Schweizer Taschenmessern zu schneiden. Zunächst hatten sie mit den kleinen Faltscheren herumgeschnippelt, dann waren sie ungeduldig geworden und hatten die große Klinge ausgeklappt und ganze Haarbüschel abgesäbelt. Gus’ rote Haaren, die unter dem zerkratzten weißen Helm hervorschauten, sahen zerfranst und stachelig aus, und irgendwie erinnerten sie Abe an die Narbe auf Gus’ Rücken. Diese wiederum erinnerte ihn an den schönen silbrigen Oberkörper und die runden Brüste. Es kam ihm so vor, als würde die Begegnung im Zelt schon sehr lange zurückliegen. Er versuchte, sich an die Zusammenhänge zu erinnern: ob es ein milder Abend gewesen war, wie ihre Bauchmuskeln ausgesehen hatten, und ob in ihrer Warnung nicht auch ein Hauch von Verführung gesteckt hatte. Doch all das zählte nicht, nicht in dieser gefährlichen Höhe. Die Erinnerung verflüchtigte sich. Das Bild der geheimnisvollen, nackten Schönheit im Mondlicht verschwand. Statt dessen starrte Abe diese wilde, primitive Frau an und sah, wie sie Kaugummi kaute, sich am Seil festhielt und an einem Knoten herumfummelte, der sich in ihrem Abseilachter verfangen hatte. Sie hätte seine Schwester sein können, seine Kollegin oder seine Mutter. In der Begegnung lag etwas Sinnliches. Gus gehörte zu seiner Sippe. Das war alles. Gus erreichte das Ende der Eisrinne, klinkte sich aus dem Seil aus, blickte nach oben und beobachtete etwas, was Abe nicht sehen konnte. Sie rief, daß das Seil frei sei, dann bahnte sie sich einen Weg zu dem unsicheren Lagerplatz. Aus der Nähe sah Gus erschöpft, ausgebrannt und verwahrlost aus. Abe spürte, daß ihre Energie und Unbekümmertheit nur eine Maske war. Hier oben alterte man schnell, und das war auch mit vorgetäuschtem 202
jugendlichem Elan nicht zu ändern. Gus gönnte sich keine Ruhepause. Sie steckte ihren Kopf durch die Tür des am höchsten gelegenen Zeltes. Als sie sah, daß es leer war, warf sie ihren Rucksack hinein und nahm es damit für sich und Daniel in Beschlag. Dann hängte sie ihren Kocher auf und zündete ihn an, um Eis zu schmelzen. »Jorgens hat schlappgemacht«, bemerkte sie beiläufig. Thomas sah Abe an, als wollte er sagen: »Siehst du?« Daniel ist zu weit gegangen, und forderte Gus auf, deutlicher zu werden. Gus drehte das Butangas weiter auf. Es würde eine Stunde dauern, bis das Eis geschmolzen war. Und selbst wenn das Wasser kochte, würde es nur lauwarm sein – eine Folge des verringerten Luftdrucks. »Nichts Schlimmes«, sagte Gus. »Jorgens braucht erst mal Flüssigkeit. Dann muß er runter, bis ins Basislager. Je eher, desto besser.« Thomas hakte nach: »Was ist passiert?« Gus machte es kurz. »Es war ein langer Tag. Und er ist ein alter Mann. Er wird nicht wieder raufklettern. Ist sehr anstrengend da oben.« Abe wußte mehr als die anderen. Vor zwei Wochen war Jorgens zu ihm gekommen und hatte über Probleme beim Wasserlassen geklagt. Das konnte zwar viele Ursachen haben, doch Abe tippte auf eine Prostatavergrößerung. Jorgens war angesichts dieser Möglichkeit völlig verzweifelt gewesen. »Dann kannst du mich ja gleich beerdigen«, hatte er zu Abe gesagt. Und Abe hatte ihm versprechen müssen, niemandem etwas zu sagen. Dabei mußte Abe doch schon genug Geheimnisse bewahren. »Was ist mit Carlos?« Auch Carlos war hinaufgestiegen. 203
Gus zeigte nach unten, weit nach unten, den Berg hinunter, weg von der Front, hinaus aus der Schußlinie. »Er hat aufgegeben. Aber ihr kennt ja Carlos. Der hatte so weit oben nichts zu suchen.« In ihrem schnellen Nachruf ignorierte sie den verstauchten Knöchel, der Carlos behinderte. Doch irgendwie waren sie ja alle gesundheitlich beeinträchtigt. Es lief darauf hinaus, daß Carlos sich seine eigene Sterblichkeit eingestanden hatte. Und das erschreckte Gus. »Das heißt also, daß wir an einem einzigen Tag zwei Leute verloren haben?« sagte Thomas. Jetzt verstand Gus, worauf er hinauswollte. Sie hob den Kopf. »Kein Problem, Tom. Wir haben ja noch dich, oder?« Dann warf sie wieder Eisstücke in ihren Topf. Es dauerte noch eine Stunde, bis Carlos und Jorgens auftauchten. Sie waren in einem jämmerlichen Zustand; trotz der Sonnenbräune und der bläulichen Haut sahen sie grau aus. Jorgens war benommen, Carlos versagte die Stimme, und beide gingen mit unsicheren, wackeligen Schritten vorwärts. Daniel paßte auf sie auf und achtete auf jedes Detail: wie sie sich in die Seile einklinkten, wie sie sich bewegten und wohin sie ihre Füße setzten. Das war gut so. Jorgens und Carlos setzten sich dort hin, wo Daniel sie hinführte. Gus brachte ihnen lauwarmes Wasser mit Limonadenpulver und extra Zucker. Abe tat seine Pflicht: Er fühlte den Puls, sah ihnen in die Augen und ließ die beiden Männer seine Finger zählen. Carlos’ Helm saß schief. Jorgens hatte sich den Bart vollgesabbert. Bei beiden war die Kleidung unordentlich; die Reißverschlüsse waren offen, die Hemden herausgerutscht. In den Bergen war es leicht zu erkennen, 204
wann jemand schlappmachte. Es fing mit Äußerlichkeiten an. »Seid ihr soweit?« fragte Daniel die beiden – freundlich, aber bestimmt. Es war klar, daß sie weiter hinuntersteigen würden. Carlos hielt den Daumen hoch. Jorgens nickte; der Zucker hatte ihn so weit wiederbelebt, daß er seine Lage einschätzen konnte: Er war erledigt und wirkte verbittert, doch die Verbitterung galt nicht Daniel. Jorgens mußte sich mit seinem Schicksal abfinden. »Soll ich mit runtergehen?« wollte Abe von Daniel wissen. Jorgens lehnte das sofort ab. »Soweit kommt’s noch, daß ich ’nen Babysitter brauche …« Er schüttelte sich und blickte zum »Schießstand«. »Wie dem auch sei«, sagte Thomas, »ich gehe auch runter. Wir können zusammen gehen.« Diese Aussage verblüffte alle. Gus sah von ihrem Topf auf. JayJay blickte finster drein. Selbst der erschöpfte Jorgens hob erstaunt den Kopf. Daß Thomas hinabstieg, war nicht geplant gewesen. »Bist du krank?« fragte Daniel. »Kann man wohl sagen.« Durch die Art, wie er es sagte, und den Blick, mit dem er Daniel anstarrte, wurde deutlich, was ihn krank machte. Daniel hatte gegen Jorgens rebelliert, jetzt rebellierte Thomas gegen Daniel. Der Stein kam ins Rollen. Abe dachte über die Auswirkungen nach. Thomas sollte morgen einen Transportmarsch durch den »Schießstand« machen. Wenn er auch nur für einen Tag ausfiel, würde weiter oben die Ausrüstung fehlen, und sie saßen unten fest. Damit hatte Thomas in Camp drei Proviant und 205
Brennstoff verbraucht und einen Schlafplatz beansprucht, nur um ein paar Zeltplattformen zu reparieren. Das war nicht gut. Daniel unternahm keinen Versuch, ihn aufzuhalten. »Gute Idee«, sagte er zu Thomas, über Jorgens’ und Carlos’ Köpfe hinweg. Es klang weder sarkastisch noch böse. Gus wollte protestieren: »Verdammt …« Daniel brachte sie zum Schweigen. »Wenn er krank ist, können wir ihn sowieso nicht gebrauchen.« Nach einer weiteren Tasse Limonade führte Thomas seine beiden Kameraden an den Seilen entlang zu Camp zwei hinunter. Selbst wenn sie langsam gingen, würden sie für den Abstieg nur ein paar Stunden brauchen. Das Wetter war ideal. Als sie aus dem Blickfeld verschwanden, sagte JayJay: »Schlimm für Jorgens. Der steigt auf keinen hohen Berg mehr.« »Das ist hart«, sagte Gus, doch ihre Stimme klang leer. Da Kelly nicht aufgetaucht war und Thomas sich verabschiedet hatte, blieben von sechs Leuten für den morgigen Transportmarsch nur vier übrig. Daniel sagte gar nichts. Er blickte eine Weile in die Tiefe hinab. Vielleicht schusterte er eine neue Strategie zusammen, vielleicht hatte er auch einfach abgeschaltet. Dann wurde er wieder aktiv. Sie arbeiteten noch eine Stunde lang im Camp, zogen Schrauben an, spannten Drähte und festigten so ihre Herrschaft über den Berg. Daniel legte die Kletterausrüstung bereit und fügte noch ein paar superleichte Eisschrauben aus Titan hinzu, die er bei einer Klettertour im Kaukasus gekauft hatte. Die Sonne war noch nicht untergegangen, als Daniel und Gus in das eine Zelt krabbelten und Abe und JayJay sich in das andere zurückzogen. Die Zelte waren geräumig, die 206
Böden eben und bequem. Doch als der Wind kam, knarrten und quietschten die Plattformen auf den Felsen. Als Abe einschlief, hatte er Angst. Er spürte den Abgrund unter sich. Es war noch dunkel und windig, als Abe den blökenden Ruf eines Yakhirten hörte. Ein Traum war es nicht – der Sauerstoff reichte nicht aus, um so tief in eine REM-Phase einzutauchen –, und doch war Abe für einen Moment verwirrt und glaubte, der kleine Mönch sei wieder zurückgekommen. Der Schrei ertönte noch einmal, und diesmal begriff Abe, daß es ein Weckruf von Daniel war. Im Schein der Stirnlampen machten sich Abe und JayJay fertig. Sie zogen sich an, während die Flamme des Gaskochers unter einem Topf mit Eis zischte. Es war drei Uhr morgens. Um diese Zeit würde der Berg erstarrt sein, die Temperatur war auf dem niedrigsten Stand der ganzen Nacht. Die Steinschlaggefahr war gering. Und Daniel wollte noch heute Camp vier erreichen. Sie mußten zweihundertfünfzig Meter weit an bereits vorhandenen Fixseilen durch den »Schießstand« hinaufsteigen, ehe sie die letzten hundert Meter in Angriff nehmen konnten. Laut JayJays Vorhersage würde es ein verdammt harter Tag werden. Deshalb war es wichtig, daß sie früh aufbrachen. Abe zog noch einmal an seinen Gurten und Schnallen. Die Schneegamaschen, der Helm, der Rucksack und die Seitentaschen, der Klettergurt – alles wurde festgezurrt. »Ich bin gleich soweit«, versprach JayJay, doch er war bestenfalls halb fertig. In der Nacht hatte er schlimme Magenkrämpfe gehabt, und er brauchte länger als die anderen, um sich startbereit zu machen. JayJay hatte seine Schmerzen als Nebenwirkung der Anabolika abgetan, die er einnahm. Abe glaubte eher, daß Aspirin die Ursache des 207
Problems war. In dieser Höhe vermehrten sich die roten Blutkörperchen – die Sauerstoffträger – so stark, daß das Blut so dick wurde wie Sirup. Diejenigen Bergsteiger, die Aspirin schluckten, um dem entgegenzuwirken, bekamen oft Magengeschwüre, schlechte Zähne und furchtbare Verstopfung. »Wir sehen uns dann«, sagte Abe, was auch immer er mit »dann« meinte. Er bereitete sich innerlich auf die kalte Luft vor und öffnete den Reißverschluß des Zeltes. Die Kälte schlug ihm ins Gesicht, und er zuckte zurück. Dann sah er sich um und sagte: »Mein Gott!« In der Dunkelheit leuchteten Millionen von Sternen. Ein Teppich aus kleinen Lichtpunkten überzog den Himmel. Abe sah nach oben. Dort, wo der Teppich an einer gezackten Linie aufhörte, begann das dunkle Reich des Berges. Abe machte sich auf den Weg. Er wollte mit den anderen mithalten und hatte sich mit fünfzehn Kilo eine Last aufgeladen, die vertretbar, aber immer noch respektabel war. Er hielt sich an dem Fixseil fest und bahnte sich auf ebenem Gelände einen Weg zum fünfzehn Meter entfernten »Schießstand«. Gus wartete schon auf ihn; sie war ähnlich bepackt wie er. »Daniel mußte kotzen«, sagte sie, um die Abwesenheit ihres Partners zu entschuldigen. »JayJay geht’s auch nicht gut«, erwiderte Abe. Gus klopfte Abe sanft auf die Schulter. »Dann sind nur wir beide übrig, Doc. Wir zeigen’s den Schwächlingen. Die können ja nachkommen.« Abe war dankbar für ihre Kameradschaftlichkeit. Gus hatte seine Besorgnis gespürt, denn seit Wochen hatte man über die Schrecken des »Schießstandes« gesprochen. Jetzt würde Abe diesen Gefahren zum erstenmal ausgesetzt sein. Gus leuchtete mit ihrer Stirnlampe die vier Seile ab, die 208
nebeneinander in den »Schießstand« hinaufführten. Jedes Seil repräsentierte eine der vier Expeditionen, die diesen Engpaß betreten hatten. Gus zupfte an dem orangefarbenen Seil, das aus dem Ultimate-Summit-Bestand stammte, doch sie ließ es wieder los und probierte ein anderes aus. Sie schien sich das beste aussuchen zu wollen, obwohl für Abe feststand, daß das neueste Seil das beste war. Dann sah er das Dilemma. Über Nacht hatte sich auf den Seilen eine transparente Eisschicht gebildet. Sie waren wie mit Glas überzogen. »Keine Sorge«, sagte Gus. Sie nahm wieder das neue, orangefarbene Seil in die Hand und zog es von der Felswand weg. Dann ließ sie es wie eine riesige schwarze Peitsche gegen den Felsen knallen. Das Eis zersprang, und zehn Kilo Kristallglas regneten auf Abes Helm und seine hochgezogenen Schultern herab. »Ein Kinderspiel«, sagte Gus und sicherte sich den ersten Platz am Seil. Sie ließ die Metallzähne ihrer beiden Steigklemmen aufspringen und hakte sie in das vom Eis befreite Seil ein. Sie schob die obere Steigklemme hoch und zog daran, um zu sehen, ob sie halten würde. Sie hielt. Wenn das Seil wieder vereiste, würden die Steigklemmen immer mal wieder abrutschen, doch das war nur lästig, nicht gefährlich. Es machte Abe nichts aus, als zweiter zu klettern, auch wenn das mehr Arbeit bedeutete. Dadurch, daß Abe hinter Gus blieb, wurde das Seil belastet, und das würde Gus das Klettern sehr erleichtern. Doch für sie war das Vorangehen ein zweifelhaftes Vergnügen, denn wenn ein Seil abgenutzt war, würde es zuerst bei ihr reißen. Abe hatte Gewissensbisse. Er schämte sich, denn in Wirklichkeit war er froh, daß Gus das Versuchskaninchen 209
spielte. Er hatte Angst, aber er wußte, daß seine Nerven sich beruhigen würden. Vielleicht würde er in ein oder zwei Stunden die Führung übernehmen und damit Gus das Risiko ersparen. Gus hatte die Steigklemmen geschlossen und begann hinaufzuklettern. Das Seil ächzte unter ihrem Gewicht. Abe gab ihr ein paar Meter Vorsprung und folgte ihr dann, einen Fuß vor den anderen setzend. Es ging langsam voran. Die Zähne der Steigklemmen waren immer wieder mit Rauhreif verschmiert. Sie fanden keinen Halt mehr und rutschten ab. Jedesmal wenn eine von Abes Steigklemmen versagte, mußte er sie aushängen, sie mit seinem Atem auftauen und wieder ins Seil einhängen. Am Ende der ersten Seillänge ruhten sie sich aus. Sie standen in ihren Steigeisen, da es keine Felsvorsprünge gab. Abe lehnte sich mit der Schulter an den kalten Fels. Die Rinne war auf dieser Höhe nur anderthalb Meter breit, und die geraden Wände ließen den Wind genau auf die beiden Bergsteiger wehen. »Ein Seil geschafft, sechs sind’s noch«, sagte Gus. Abe stand Schulter an Schulter neben ihr, und ihr Atem roch nach Kaffee. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb fünf. Bei einem Tempo von dreißig Minuten pro Seillänge konnten sie ihr Etappenziel bis acht oder neun Uhr erreichen. Abe blickte zwischen seinen Knien hindurch in die Tiefe. Weit unten, fast tausendfünfhundert Meter unter ihm, lag der phosphoresziernd schimmernde Gletscher. Weiter oben warf eine kleine Stirnlampe weiße Lichtkegel gegen die Wände des Korridors, und Abe spürte, wie das orangefarbene Seil durch die Bewegungen eines Bergsteigers vibrierte. Gus schlug das nächste Seil gegen 210
die Wand, um es vom Eis zu befreien. Sie kletterten weiter. Das glatte Felsgestein im »Schießstand« wich größeren Eisplatten, die im Schein der Stirnlampen grünlich schimmerten. Gus und Abe zurrten ihre Steigeisen wieder fest, traten gegen das Eis und stießen die Frontalzacken hinein. Das Eis quietschte. Dieses Geräusch war beruhigend, denn es bedeutete, daß das Eis an diesem Morgen geschmeidig war, nicht brüchig. Hier und da kam der nackte Fels zum Vorschein; die Spikes der Steigeisen trafen auf das Gestein und sprühten rote und blaue Funken. Am Ende der zweiten Seillänge merkte Abe, daß entweder seine Berechnungen nicht stimmten oder seine Uhr falsch ging. Es war schon fast sechs. Anderthalb Stunden waren vergangen. Bei diesem Tempo würden sie das Ende des Korridors erst am späten Vormittag erreichen. Und bis dahin würde die Sonne sich wieder mit dem Berg gegen sie verschworen haben. Abe versuchte, nicht darüber nachzudenken, was das bedeuten würde. Sie kletterten und kletterten. Es wurde hell. Gegen elf Uhr schien die Sonne heiß auf sie herab. Abe schwitzte unter seinem Rucksack und kam sich vor wie ein Tier. Selbst wenn er zu einem logischen Gedanken in der Lage gewesen wäre, hätte er es nicht gewagt, ihn zu denken. Der Aufstieg schmerzte in dieser Höhe zu sehr. Abe hatte noch nie so gegen seinen eigenen Körper ankämpfen müssen. Die Schmerzen waren schon schlimm genug, doch die Erschöpfung war noch schlimmer. Er wollte seinem Instinkt gehorchen. Er wollte nach unten. Aber das war undenkbar. Er konzentrierte sich nur auf die simple Bewegung und schaltete alle Gedanken aus. Abe verlor das Zeitgefühl. Er zählte die Seile nicht mehr 211
und vergaß seine Schmerzen. Der »Schießstand« verbreiterte sich auf zehn Meter, und das Eis war so weiß wie Schnee. Der Anstieg war nicht mehr ganz so steil. Durch die Sonneneinstrahlung lösten sich kleine Schneeklumpen, stürzten als Minilawinen nach unten und verdunsteten, noch ehe sie größer als ein Fingernagel werden konnten. »Sieh mal«, sagte Daniel. »Hm?« sagte Abe. Er hob den Kopf, um zu sehen, was es zu sehen gab, aber er stieß mit dem Helm gegen seinen Rucksack. Er schob den Rucksack etwas tiefer, hob den Kopf seitlich an, und Gus hatte sich tatsächlich in Daniel verwandelt. Irgendwie mußte er sich in den Stunden seit Sonnenaufgang ganz nach vorn vorgearbeitet haben. Abe war entsetzt über das Ausmaß seiner Apathie. Er hatte die Veränderung nicht bemerkt. Er konnte sich weder daran erinnern, Gus überholt zu haben, noch daran, daß Daniel ihn überholt hatte. Doch eins stand fest: Daniel sah nicht mehr krank aus. Sein Rucksack war prall gefüllt, und an der Art, wie er das Eis beherrschte, sah man, daß er vor Kraft strotzte. Abe blickte nach rechts, wo Daniel hindeutete. Er blinzelte. Er blinzelte erneut. Vor ihnen lag das Paradies. Sie waren so hoch geklettert, daß sie um den Berg herum bis nach Nepal sehen konnten. Dort in der Ferne lag eine Landschaft voller kaleidoskopischer Berge. Ihre Gipfel ragten aus einem weißen Wolkenschaum heraus wie eine felsige, zerklüftete Inselgruppe aus dem Meer. Abe beobachtete, wie der Wind die Wolken aus den fernen Tälern wegblies und eine Topographie aus hellen und dunklen Mulden hinterließ. Das Sonnenlicht kreierte seltsame Farbspiele. Eine spitz zulaufende, mindestens tausend Meter lange Schneezunge 212
sah aus, als bestünde sie aus Quecksilber – ein göttlicher Anblick. Abe senkte den Kopf, um sich von dem Zauber loszueißen. Er blickte auf den Gletscher unter seinen Füßen. Er schimmerte wie ein glitschiges Reptil, wie die riesigen gekrümmten Wirbel eines Drachen. Abe schaute wieder nach Süden und war hingerissen, magisch angezogen von der Verheißung. Monatelang hatte sein Blick, sein Glaube immer nur dem Everest gegolten. Doch nun, an diesem Vormittag, da ihm der halbe Himalaja zu Füßen lag, war Abe sprachlos. Er hatte geglaubt, Nepal erst vom Gipfel aus sehen zu können, und er hatte gar nicht ernsthaft damit gerechnet, den Gipfel zu erreichen. Dieser unverhoffte Anblick rief ihm all das ins Gedächtnis, was er mit dem Süden verband: flachere Berge; die Abkehr von allem, was steil und leblos war; die Abkehr vom Everest. Er wußte, daß dort in der Ferne die Berge in Hügel übergingen, und hinter den Hügeln von Nepal lag Indien. Sein Heimweg würde über Indien führen. Über Indien – mit all seinen Farben, seinen Gerüchen und seiner menschlichen Energie – war Abe hergekommen, und über Nepal und Indien würde er nach Hause zurückkehren. Als Abe schwitzend dastand, in seinem schwarzen Overall, mit glitzernden Steigeisen, mit Steigklemmen in beiden Fäusten und weitaufgerissenem Mund, den wenigen Sauerstoff in sich aufsaugend, konnte er beinahe seine Heimat sehen. Für einen Moment sah er sogar beinahe Jamie, und das genügte, um sich daran zu erinnern, daß er sie völlig vergessen hatte. Unter seinem Helm runzelte Abe bei dieser nahen Erinnerung die Stirn. Hinter der Schneebrille wurden seine Augen feucht, und er blinzelte. In diesem Augenblick, als Abe verwundbar war, griff 213
der Berg an. Abe mußte den ersten Treffer einstecken. Er hatte nicht aufgepaßt, deshalb war er nicht darauf vorbereitet. Er hatte nicht einmal Zeit, um zusammenzuzucken. Eben hatte er noch regungslos dagestanden, die Füße auf die seitlichen Spikes der Steigeisen gestützt, und hatte gegen seinen Gedächtnisverlust angekämpft. Im nächsten Moment hing er schlaff am Seil; der Klettergurt war straff gespannt, und Abe blickte direkt in die Sonne. Die Schneebrille hing ihm schief im Gesicht. Er hatte ein Klingeln in den Ohren. Die Gurte des Rucksacks knarrten, und er merkte, daß er beinahe kopfüber dahing und der Rucksack ihm die Luft abschnürte. Plötzlich spürte er, wie ihn zwei starke Hände hochzogen und ihn vor dem Ersticken retteten. Er registrierte, daß es Daniels Hände waren. Abe fühlte, wie er auf die Füße gestellt und mit dem Gesicht an die Wand gedrückt wurde. Er war verwirrt. Erst hatte ihn die Schwerkraft überwältigt, dann Daniel. Er war zwischen beiden hin und her gerissen und versuchte herauszufinden, was eigentlich los war. »Stein!« brüllte Daniel nach unten. Weit unten gab jemand die Nachricht weiter; eine leise Stimme piepste in die Tiefe hinab. »Stein. Stein.« »Ein Stein?« murmelte Abe. Er trat kraftlos gegen das Eis, bis die Steigeisen schließlich Halt fanden. Da er nun einen festen Stand hatte, bekam er wenigstens das Gefühl, sich einigermaßen in der Gewalt zu haben und nicht nur hilflos am Seil zu hängen. Er drückte die Finger links unter seinen Helm und hielt sie dann vor die Augen. Es war eine alte Sanitäterregel, sich nicht nur auf den Tastsinn zu verlassen. Er betrachtete die Feuchtigkeit an 214
den Fingerspitzen, doch die Sonne blendete ihn, und er konnte nicht sehen, ob es Schweiß oder Blut war. Er leckte einen Finger ab, um es herauszufinden, doch alles, was er schmeckte, war ein dreckiger Handschuh. »Steine, Eis …«, murmelte Daniel. Er fummelte an Abes Rucksack herum und setzte ihm die Brille wieder auf. »Bei der Fallgeschwindigkeit kommt das aufs gleiche raus.« Daniel stank so, wie sie alle stanken. Der Geruch erinnerte an gefettetes Leder. Abe atmete ihn erleichtert ein. Er lebte. Was auch immer passiert war, der Traum vom Everest war noch nicht ausgeträumt. Das Klingeln in den Ohren ließ nach. Abe konnte wieder klar sehen. Daniel kauerte neben ihm an der Wand und hielt ihn mit einer Hand am Rucksack fest. Er blickte nach oben und hielt Ausschau nach weiteren Steinen. Abe schüttelte seine Benommenheit ab, aber er wußte nicht, ob sie von dem Schlag herrührte, von der Höhenluft oder einfach nur von dem Adrenalinstoß. Er atmete ein paarmal durch, trat mit den Steigeisen ins Eis und verlagerte das Gewicht wieder auf die Füße. »Alles okay«, sagte er. Der Berg bombardierte sie ein zweites Mal. Jetzt hörte Abe das warnende Geräusch: eine Mischung aus Pfeifen und Brummen. Abe war entsetzt, daß er all dem schutzlos ausgeliefert war. Die Steine – oder das Eis, oder beides – schlugen mit Wucht auf einem Felsvorsprung über ihnen auf, und Abe hörte, wie die Brocken mit einem furchtbaren, hornissenartigen Summen in alle Richtungen abprallten. »Mein Gott«, sagte Abe mit zusammengebissenen Zähnen. Er schloß die Augen und vergrub sein Gesicht in der eisigen Wand. Sein Plastikhelm schlug gegen das Eis. »Mein Gott«, sagte er noch einmal. 215
Die Steine kamen von allen Seiten. Jeder einzelne Brocken war darauf aus, die Bergsteiger zu verwunden, zu erschlagen. Abe wußte, wie so etwas aussah. Er hatte schon Menschen gesehen, die von Steinen getroffen worden waren. Er hatte zerborstene Schädel gesehen. Bei der Bergwacht hatte er einmal einen Bergsteiger mit einem faustgroßen Quarzstein in der Bauchhöhle gefunden. Die Eingeweide fehlten, nur der transparente Stein befand sich noch zwischen den Beckenknochen. Irgend etwas explodierte neben Abe. Glassplitter flogen ihm um die Ohren. Das Glas wurde zu Eis und schmolz auf Abes brennendem Gesicht. So ist die Gefahr, dachte Abe. Es gab so viele Gebete, um ihr zu entfliehen, so viele Worte, um die Furcht vor ihr auszudrücken. Und nun stand er hier und forderte seine eigene Verstümmelung geradezu heraus. Ein Held, der die Hose voll hatte. Ja, dachte er. Der warme Matsch im Schritt war seine eigene Scheiße. Dann war alles vorüber, zumindest für den Moment. Abe atmete durch die Nase aus und ließ das Seil los. Doch er lehnte sich noch immer fest gegen die Wand. Er hatte Angst, sich zu bewegen; Angst, nach unten zu schauen, und noch mehr Angst, nach oben zu blicken. Auch das hatte er schon gesehen: einen Bergsteiger, dem die Splitter seiner Schneebrille im Auge steckten. Daniel jedoch bewegte sich, der Gefahr trotzend. Er lehnte sich nach hinten, um den oberen Teil des Berges zu beobachten und auch einen Blick auf die Kameraden unten im »Schießstand« zu werfen. Abe riskierte ein Auge: Dreißig Meter unter ihm kletterte Gus wieder weiter, und noch einmal dreißig Meter tiefer kniete JayJay. Daniel zeigte auf seine billige Armbanduhr. »Pünktlich«, sagte er grinsend. »Elf Uhr fünf. Dies ist Ihr Weckruf.« 216
Abe grinste zurück. Es war ein breites Grinsen. »Macht richtig Spaß«, sagte er, wischte sich das geschmolzene Eis von der Brille und klopfte sich auf den Helm. Doch trotz seiner vorgetäuschten Tapferkeit preßte er sich immer noch an die Wand. Sein wildes Grinsen konnte ihn nicht von seinem verkrampften Schließmuskel und der feuchten Hose ablenken. Er hatte Bauchschmerzen. Angst war ihm nicht unbekannt, auch Steinschlag hatte er schon erlebt. Doch diesmal war es anders. Das lag zum einen daran, wie plötzlich das alles passiert war, und zum anderen an Daniels Unbekümmertheit. Sie zeigte Abe, daß Steinschlag hier oben nichts Besonderes war, nicht ungewöhnlicher als die Hautschuppe im Tee oder Instantnahrung oder das Blut auf den aufgesprungenen Lippen oder die Fieberanfälle. »Du hast was abgekriegt«, sagte Daniel. Er wollte Abe den Rückzug ermöglichen. Für einen Verwundeten wäre es nicht unehrenhaft gewesen, das Feld zu räumen. Abe lehnte das Angebot ab. »Mir geht’s gut«, sagte er. So schlimm war es nicht gewesen. Ihm war nichts passiert, und sie brauchten ihn für den Materialtransport. Er würde weiterklettern. Das gefiel Daniel. Abe erkannte es an seinem Nicken und an seinem Gesichtsausdruck. Sie gehörten jetzt zusammen. Sie waren Brüder. »Wir sind fast da.« Daniel zeigte nach oben. »Unser Etappenziel.« Fünfzehn Meter höher sah Abe einen grauen Felsvorprung. Mehrere Seilrollen und andere Ausrüstungsgegenstände hingen an Haken, die in einen Riß im Felsen gehämmert worden waren. »Von hier aus sind’s nur noch ein paar Stunden«, schätzte Daniel. »Ich gehe voran. Wir sind bald in Camp vier. Es ist ’ne Höhle.« 217
»Gut«, sagte Abe. Daniel wollte offensichtlich die Moral heben. Die Angst war übermächtig, doch jetzt begrub Abe sie tief in sich. Sie kletterten weiter und ruhten sich unter dem Felsvorsprung aus. Es war nicht sehr bequem, aber immerhin waren sie hier vor Steinschlag geschützt. Abe schaute um die Ecke, auf das letzte Stück des »Schießstandes«, doch er sah nicht viel. Der Korridor machte eine Biegung, und von Camp vier war nichts zu sehen. Dort oben waren keine orangefarbenen Seile mehr. Ultimate Summit hatte oberhalb dieses Punktes keine Spuren hinterlassen. Während Abe eine neue Seilrolle öffnete und Daniel die Handschlaufe seines Eispickels festzog, stürzte eine weitere Ladung Steine und poröses Eis herab. »Stein!« brüllte Abe nach unten. Diesmal hatte er selbst nichts zu befürchten. Er kauerte sich unter den Felsvorsprung, und das Geröll flog summend und heulend an ihm vorbei. Mit neugieriger Distanziertheit beobachtete er, wie Gus und JayJay reagierten. Gus krümmte sich zusammen. JayJay drehte sich schwerfällig um, damit im Ernstfall nur der Rucksack getroffen wurde. Jeder hatte seine eigenen Theorien, wie man Steinschlag am besten überstand. Das Geröll fiel nach links und richtete keinen Schaden an. Hier und da bildeten sich Wölkchen aus Eisstaub, als die Steine auf die Wand trafen. Nach einer Minute kletterten Gus und JayJay wieder weiter. Abe war beeindruckt, wie klein und langsam sie ihm vorkamen, obwohl sie gar nicht so weit entfernt waren. Der Berg hatte sie schrumpfen lassen. Sie sahen unbedeutend und überflüssig aus. Daniel stieg weiter hinauf und fixierte das Seil. Die 218
russischen Eisschrauben, die an seinem Klettergurt hingen, klirrten dumpf. Daniel hatte kaum Sicherungsmittel bei sich. Er hatte sie nicht nötig, denn er war gut. Das Eis wurde von der Sonne immer mehr aufgeweicht, und Daniel konnte mit schnellen, kraftvollen Tritten seine Steigeisen hineingraben. Er schlug die Spitze seines Eispickels mit der Geschicklichkeit eines Messerstechers in den Berg; jede Bewegung war dezent und präzise. Abe hatte noch nie einen Eiskletterer so ökonomisch handeln sehen. Während die meisten Bergsteiger wild auf das Eis einhämmerten und dabei ihre Werkzeuge überbeanspruchten, schien Daniel das Eis nur zu streicheln, ohne tief einzudringen. Daniel arbeitete sich immer weiter vor, und Abe reichte ihm das Seil mit Hilfe eines Bremsmechanismus an. Wenn der Vorsteiger stürzte, sollte der zweite Mann ihn auffangen. Doch Daniel stürzte nicht so leicht, daher konnte Abe nach Nepal hinüberschauen und in den Abgrund starren. Er vergaß die Zeit. Das ABC-Camp war viel zu klein, um es von Abes Standpunkt aus sehen zu können, und die anderen Camps waren außerhalb des Blickfeldes. Er versuchte den Standort des Basislagers am Ausläufer des Gletschers zu erraten, doch die tibetische Hochebene ließ das einfach nicht zu. Abe hatte das Gefühl, die Erde verlassen zu haben. Nach einer weiteren halben Stunde erreichte Gus den Felsvorsprung. Sie schnappte nach Luft, als hätte sie die ganze Zeit giftige Chemikalien eingeatmet. Während sie sich keuchend und hustend vornüberbeugte, hängte Abe ihren Rucksack an eine Schlinge, die an der Seilverankerung angebracht war, und befreite Gus von den Gurten. Sie erholte sich ein wenig und konnte sich wieder aufrichten. Weiter unten kletterte JayJay mit erstaunlicher Trägheit vor sich hin. Seine Bewegungen waren so zäh 219
und schwerfällig wie die eines Tiefseetauchers. Er kämpfte sich ein paar Schritte voran und hing dann minutenlang am Seil, von der dünnen Luft betäubt. Dann bewegte er sich wieder. Es war ein schmerzhafter Aufstieg, doch Abe verspürte kein Mitleid. Er schaute nur zu. Es war, als würde er einen Käfer beim Krabbeln beobachten. Daniels Seil glitt beinahe ohne Pause durch den Bremsmechanismus. Abe riskierte einen Blick über den Felsvorsprung hinweg, doch Daniel war schon außer Sichtweite. Wieder wurden sie mit Geröll bombardiert. Gus drückte sich unter dem Felsvorsprung an Abe. JayJay war immer noch sechzig Meter weiter unten – schutzlos. Im Schneckentempo drehte er sich um. Er vollendete die Drehung gerade rechtzeitig, um einen Stein an seinem Rucksack abprallen zu lassen. Man hörte einen dumpfen Schlag, und JayJay verlor prompt das Gleichgewicht. Es riß ihn von der Wand weg, und er pendelte am Hang hin und her. JayJay schrie nicht, und er versuchte auch nicht, in Deckung zu gehen. Es gab keine Deckung. Er drehte sich nur mit dem Rücken zum Hang, bekam einen zweiten Stein ab und pendelte wieder hin und her. Dann war der Steinschlag vorüber. JayJay drehte sich um und setzte seinen schleichenden Aufstieg fort. »Kaugummi?« fragte Gus. Abe nickte. Er war kurz vor dem Verdursten. Die Sonne brannte erbarmungslos. Das wenige Wasser, das er noch in seiner Flasche hatte, mußte reichen, bis sie in Camp vier ankamen und wieder Eis schmelzen konnte, und das konnte noch viele Stunden dauern. Wasser, überall Wasser, dachte er und lehnte sich gegen das flimmernde Eis. Gus gab ihm eins ihrer rosafarbenen BazookaKaugummis, und sie tat es mit der übertriebenen Vorsicht, die Bergsteiger an den Tag legen, wenn sie etwas 220
weiterreichen. Ihre Körperwärme hatte das Kaugummi weich werden lassen. »Dafür schuldest du mir was«, sagte sie. Abe kaute vorsichtig, denn seine Zähne hatten sich gelockert. Er sog vor allem den Zucker in sich hinein, der ihn aus seiner Benommenheit herausriß und ihn dann doch wieder lethargisch werden ließ. Abe fragte sich, ob der Stein oder Eisbrocken eine Gehirnerschütterung verursacht hatte. Der Anblick von Gus’ Lebendigkeit machte ihn noch erschöpfter und kraftloser. Ein Nickerchen wäre jetzt das richtige gewesen. »Du bist dran«, sagte Gus. Von oben ertönte Daniels Stimme. Sie konnten zwar nicht verstehen, was er sagte, doch sie wußten beide, was er meinte. Mit der Ruhe war es vorbei. Abe behielt seine Angst für sich und schnallte seinen Rucksack fest. Am liebsten wäre er bis ans Ende seines Lebens unter diesem Felsvorsprung geblieben. Er liebte diesen Stillstand, diese bombensichere Zuflucht und das feuchte Kaugummi auf seiner sonnenverbrannten Zunge. »Soll ich zuerst?« stachelte Gus ihn an. Sie hatte auch keine Lust. »Photosynthese«, sagte Abe scherzhaft, um seine Trägheit zu erklären. Gus sperrte verständnislos den Mund auf. Abe hängte sich mit seinen Steigklemmen in Daniels Seil, verließ den Unterstand und kletterte, so schnell er eben konnte. Daniel konnte erst dann gefahrlos weiterklettern, wenn Abe bei ihm war, ihn sicherte und das Seil straff hielt. Jede Minute zählte, damit Daniel den Aufstieg zu Camp vier vorantreiben konnte. Und vor allem zählte jede Minute, weil Abe dem Steinschlag ausgesetzt war. Der Hang war nicht mehr ganz so steil. Abe ließ seine Oberschenkel einen Großteil der Arbeit 221
machen. Der »Schießstand« machte eine Biegung nach links. Daniel tauchte auf. Über ihm schien sich der Korridor bis in die Unendlichkeit auszudehnen. Abe verzweifelte daran. Er hatte gehofft, der »Schießstand« wäre bald zu Ende. Er erreichte eine kleine Felsnase, und Daniel nahm ihm den Rucksack ab. »Mann, Abe, du hast dir ja was aufgeladen.« Zum ersten Mal an diesem Tag war Abe froh, daß er den Rucksack so vollgepackt hatte. Es war eine beachtliche Ladung, und offensichtlich zollte Daniel ihm dafür Respekt. Trotz aller Gefahren und der harten Arbeit würde es ein guter Tag werden. Kein Bergsteiger weiß im voraus, wie gut er in großer Höhe funktionieren wird. Abe funktionierte. Er war höhentauglich. Abe hatte fragen wollen, wie weit es noch bis Camp vier war. Nach Daniels Lob ließ er es bleiben. Irgendwann würden sie schon ankommen. Doch Daniel antwortete, ohne daß er gefragt wurde. »Siehst du’s?« stöhnte er. Abe sah genau hin. Weniger als fünfundzwanzig Meter entfernt lag der Eingang zu einer Höhle. Sie sah aus wie eine Fata Morgana. Nur ein einziges Seil führte zu dieser Höhle hinauf. Es war sehr alt und zum größten Teil von der Eiswand zugedeckt. Daniel hielt schon ein neues Seil bereit, mit dem er hinaufklettern wollte, um es am Eingang der Höhle zu fixieren. Das eine Ende des Seils war an seinem Klettergurt befestigt. »Das gibt’s ja nicht«, staunte Abe. Er krächzte nur noch, denn er hatte keinen Speichel mehr. Er konnte sich nicht erinnern, das Kaugummi ausgespuckt zu haben. Dann merkte er, daß es innen an seiner ledrigen Wange klebte. Vielleicht konnte er jetzt sein letztes Wasser trinken. Sie waren ja fast da. 222
Das Seil, an dem Abe gerade heraufgeklettert war, begann zu zucken. Das mußte Gus sein. »Ich bring die Sache schnell zu Ende«, sagte Daniel. Er drehte eine seiner kostbaren russischen Eisschrauben in das Eis, um das Seil verankern zu können. Die Schrauben waren nur fünfzehn Zentimeter lang, und im Gewinde hatten sich Fäden verfangen. Unter Daniels Bart hatten sich um den Mund herum tiefe Falten der Müdigkeit eingegraben. »Noch zehn Minuten, dann sind wir da.« Er kletterte los. Zwischen Daniels ausgestreckten Beinen sah Abe den kobaltblauen Himmel. Daniel bewegte sich schnell, vor allem wenn man bedachte, daß er sich in einer Höhe von 8050 Metern befand. Unter Bergsteigern galten achttausend Meter als Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn. Zu Hause, in Boulder, hatte Abe kaum zu hoffen gewagt, sich in solche Regionen vorzukämpfen. Nun, da er diese Höhe erreicht hatte – mehr als die doppelte Höhe des Mount Olympus –, schien sie ihm armselig zu sein, kaum von olympischem Format. Der Berg hatte Idioten aus ihnen gemacht, mit Spucke im Gesicht und vollgeschissenen Hosen, kaum noch in der Lage, einen vollständigen Satz zu sprechen. Abe versuchte sich zu erinnern, was für ein Heiligtum er hier vermutet hatte. Er hatte geglaubt, daß der Everest ihm alle Sakramente auf einmal spenden würde, daß er ihn gleichzeitig taufen, firmen und ihm die Beichte abnehmen würde. Doch die einzige Reliquie, die er mit nach Hause nehmen würde, war ein rotes Halsband von einem Epileptiker in Yakfellen. Soviel zum Thema Ruhm, dachte Abe und rollte das Seil weiter ab. Daniel stürmte nach oben: fünfzehn Meter, zwanzig Meter. Er hielt sich nicht mit Sicherheitsvorkehrungen auf. Die Verwendung von Eisschrauben hätte Zeit gekostet, 223
und außerdem stieg die Wand jetzt nur noch in einem relativ angenehmen Winkel von siebzig Grad an. Für einen Bergsteiger mit Daniels Fähigkeiten war es beinahe unmöglich, hier zu stürzen. Doch Daniel stürzte trotzdem. Eigentlich wurde er gestoßen. Getroffen. Aus dem Hinterhalt vom Yeti überfallen. Es war ein länglicher Brocken – Fels oder Eis, das spielte keine Rolle. Abe hörte nichts davon. Er schaute zu, doch er sah nur, daß Daniel plötzlich einen Schritt rückwärts in die Luft machte. Der Schlag war so heftig, daß Daniel drei Meter weit fiel, ohne den Hang zu berühren, und als er ihn dann berührte, prallte er ab und fiel weitere zwei Meter. Abe hatte nach seinem Steinschlagerlebnis geglaubt, sein Adrenalin sei aufgebraucht, doch das war ein Irrtum. Ein gewaltiger chemischer Stromschlag durchzuckte ihn. Seine Augen traten aus ihren Höhlen, seine Gedanken überschlugen sich, und er umklammerte krampfhaft das Seil. Er mußte mit ansehen, wie ein Alpinist in den sicheren Tod stürzte. Daniel schlug noch zweimal auf das Eis auf und war inzwischen auf halbem Weg zu Abe. Es ging alles zu schnell, um reagieren zu können. Abe versuchte das schlaffe Seil zu straffen, doch es türmte sich in wilden Schlingen über seinen Armen und Schultern auf. Wenn man die fünf oder sieben Kilo abrechnete, die sie alle auf dieser Expedition abgenommen hatten, wog Daniel immer noch gut achtzig Kilo. Mit der blitzartigen Scharfsinnigkeit, die von Katastrophen ausgelöst wird, überlegte Abe, daß Daniel ihn mit der Wucht einer ganzen Tonne treffen würde. Seine einzige Hoffnung war, daß Daniel ihn verfehlen würde. Und er mußte das Seil 224
festhalten. Und beten, daß die Verankerung hielt und daß er diese Welt noch nicht verlassen mußte. Daniel kam näher. Abe hörte, wie der GoreTex-Overall über das Eis schlitterte. Dann hörte er das metallische Rattern von Daniels Eispickel, der gegen die Wand schlug, und ein außer Kontrolle geratener Eispickel war wie eine amoklaufende Kettensäge. Abes Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Jetzt war ihm klar, daß er nicht den Gipfel, sondern den Abgrund sehen würde. Es war nicht Daniels Tod, den er hier erlebte, sondern sein eigener. Und dann rauschte Daniel an ihm vorbei. Es fehlten nur Zentimeter. Ein Steigeisen zerfetzte Abes linken Ärmel. Er hörte, wie der Stoff zerriß. Als die Stelle anfing zu brennen, als Blut auf das Eis tropfte, merkte er, daß der Stoff seine Haut gewesen war. Doch die Wunde und die Schmerzen waren unerheblich. Die Verankerung würde nicht halten. Nicht bei dieser Wucht. Das Chaos war ausgebrochen. Die Welt zerfiel mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Mit tödlicher Geschwindigkeit. Abe fragte sich, ob dieses Tempo bis nach ganz unten so bleiben würde. Er fragte sich, wie lange er am Leben bleiben würde. Manche Menschen blieben bis zum Schluß bei Bewußtsein. Manchmal überlebten sie den Sturz für kurze Zeit, zum Beispiel in einer Gletscherspalte. Ihm fiel ein, daß Gus an einem Seil hing, das mit seinem verbunden war. Und JayJay hing an einem Seil, das mit ihrem verbunden war. Sie würden alle abstürzen und sich zu einer blutigen Masse vermengen. Der Gletscher würde sie verschlingen. In hundert Jahren würde jemand die Überreste finden. Abe bedauerte die anderen. Und er bedauerte sich selbst. 225
Die Seilschlingen auf seinen Armen verschwanden, eine nach der anderen. Er beobachtete Daniels Sturz nicht mehr. Er starrte nur auf die Verankerung. Er zählte vier Eisschrauben. Sie waren so nahe am Ziel gewesen. Er hatte nur einen Schluck trinken wollen. Das Seil wurde ihm aus den Armen gerissen. Für einen Augenblick wurde es still. Plötzlich zerriß ein Schrei die Stille. Der Schrei stammte von ihm selbst. Abe erfüllte die Leere mit einem Geräusch. Jetzt bekam er also seine ersehnten Sakramente. Es waren die Sterbesakramente. In dieser Millisekunde der Resignation straffte sich das Seil. Abe riß die Hände weg. Die Eiswand sprang ihm ins Gesicht und schlug ihm gegen den Helm. Eine, dann zwei, dann drei Eisschrauben flogen aus der Wand wie die Nieten eines U-Boots, das auf den Meeresgrund sinkt. Doch die letzte Schraube hielt. Was auch immer die Schraube in der Wand hielt – vielleicht Daniels Glaube-, sie hielt jedenfalls. Abe war gerettet. Er kam langsam wieder zu sich. Es dauerte eine Weile. Er traute seinen Augen nicht. Er glaubte nicht einmal an die Existenz der verbogenen Eisschraube, an der das Seil und die anderen Schrauben hingen, bis er sie mit den Fingern abgetastet hatte. Und selbst dann konnte er kaum glauben, daß er überlebt hatte. Eine Zeitlang sammelte Abe nur Sinneseindrücke und verarbeitete sie dann langsam. Seine Schneebrille war noch intakt, und das hindurchscheinende Licht hatte die Farbe von frischem Kopfsalat. Ein Lüftchen regte sich und brachte einen Hauch des Sonnenwindes aus dem Weltall mit. Im Eisstaub, den die Schrauben aus den Löchern gerissen haten, roch Abe die personifizierte Zeit, die 226
geologische Nachgeburt. Er spürte, wie der Wind sein Gesicht kühlte, und er hörte, wie der Wind durch Daniels letzte verbliebene Eisschraube hindurchpfiff. Abes rechter Unterarm schmerzte, doch es war ein ritueller, erträglicher Schmerz. Er hielt den Arm mit der linken Hand fest. Aus weiter Ferne beobachtete er, wie das Blut durch den Ärmel lief und an Fingern herabtropfte, die seine eigenen Finger waren. In diesem Zustand der Benommenheit setzte Abe sich auf seinen Felsvorsprung. Er lehnte sich mit dem Kopf gegen das Eis und starrte in die tibetische Leere. Vielleicht schlief er auch ein. Irgendwann erschien Daniel. Der schwarzhaarige Geist kletterte am Seil hinauf und schien fast unversehrt zu sein. Abe wußte, daß das nicht wahr sein konnte, nicht nach einem solchen Sturz. Auf den zweiten Blick sah er, daß die Gestalt sich langsamer bewegte als der alte Daniel. Aber das war von einem Toten auch zu erwarten. »Abe?« Abe antwortete nicht. Er wußte, daß der Berg ihm einen Streich spielte. Wenn das menschliche Gehirn unter Sauerstoffmangel litt, erfand es seine eigenen Geschichten und bevölkerte die Welt mit Engeln, Dämonen und anderen imaginären Wesen. Extrembergsteiger berichteten oft von einem dritten Mann, wenn sie nur zu zweit gewesen waren. Sie sprachen laut mit ihrem Gast. Sie machten ihm auch etwas zu essen. »Alles okay? Was ist mit deinem Arm?« Abe ignorierte die Halluzination. »Bist du auch getroffen worden?« »Nein«, sagte Abe. »Das warst du.« Die Erscheinung setzte sich neben Abe auf die kleine 227
Felsnase. »Mann, war das ein Sturz.« »Und nun?« fragte Abe laut. Der Besucher störte ihn nicht, aber er sprach nicht mit ihm. Er sprach mit sich selbst, das war Unterhaltung genug. »Versuchen wir’s noch mal?« fragte Daniel. »Wir waren so nahe dran. Und ich hab was gesehen. Oben in der Höhle. Scheint ganz gut zu sein.« »Warum nicht«, sagte Abe. »Oder wir steigen wieder ab.« »Nein«, entschied Abe. »Rauf. Scheint ganz gut zu sein.« »Kannst du mich sichern?« »Natürlich.« In den nächsten Minuten sicherte Abe den Geist. Er rollte das Seil mit seiner unverletzten Hand ab. Gus tauchte auf. Sie war jetzt ziemlich häßlich, aber auch schön. »Hi, Gus«, sagte Abe. »Was ist das für’n Scheiß?« keuchte Gus. Abe folgte ihrem Blick. Sie starrte entsetzt auf die Verankerung, die nur noch ein Trümmerhaufen war – eine einzige verbogene Schraube, der sie gerade ihr Leben anvertraut hatte. Abe versuchte, es aus ihrer Perspektive zu sehen. Er hätte die Verankerung reparieren können. Zumindest hätte er Gus warnen können. Er hatte deshalb Gewissensbisse. Andererseits wußte er nicht, ob sie realer war als Daniel. Eigenartig, dachte er. Selbst über den Tod hinaus blieb Daniel der Maßstab. Dann bemerkte Gus das Blut, das auf dem vereisten Felsvorsprung eine kleine Pfütze bildete und sich aufheizte. Sie kniete sich neben Abe und schaute unter seinen zerrissenen Ärmel. 228
»Wir müssen dich runterbringen.« »Nein. Rauf«, sagte Abe. »Was ist mit Daniel?« fragte sie. »Weiß er davon?« »Er ist abgestürzt.« »Nein«, sagte Gus entschieden. »Ihm geht’s gut. Er ist oben in der Höhle.« Abe hörte Daniels Stimme von oben herunterrufen. »Abe, du kannst jetzt kommen.« Mit der Ruhe war es wieder vorbei. »Was war hier los?« fragte Gus. »Nicht so wichtig«, antwortete Abe. Daniels Stimme ging dazwischen. »Gus, kann er raufklettern?« »Machst du Witze?« Abe spürte, daß sie böse und verwirrt war. Er stellte sich die müßige Frage, wie es wäre, ihre aufgeplatzten, mit Zinksalbe verschmierten Lippen zu küssen. Sie war sein Engel. »Er muß nach unten«, wiederholte Gus. »Bis dahin sind’s dreihundert Meter«, wandte Daniel ein. »Hierher ist es nur eine Seillänge.« »Aber er ist verletzt. Er steht unter Schock.« Nicht so schlimm, dachte Abe. Eigentlich war es ganz angenehm, hier neben Gus zu sitzen und sich die Erdkrümmung anzusehen. »Wir haben hier das Camp«, sagte Daniel. »Es wird bald dunkel. Hier sind wir am sichersten.« »Ich dachte, ich wäre stark genug«, bekannte Abe. »Es tut mir leid.« »Schon gut«, sagte Gus. »Kannst du aufstehen?« Abe stand auf. 229
»Laß mal sehen, ob deine Steigklemmen okay sind. Und dein Klettergurt. Und der Helm sitzt schief.« Gus übernahm die Verantwortung für ihn. Sie dachte an alles. »Daniel«, rief sie nach oben. »Abes Rucksack. Kannst du ihn an einem Seil raufziehen?« »Ich glaub nicht«, antwortete Daniel. »Kein Problem«, sagte Abe. Er griff nach seinem Rucksack, seinem wunderbar schweren Rucksack. Er hatte ihn schon so weit geschleppt, und jetzt waren es nur noch fünfundzwanzig Meter. »Laß das«, sagte Gus. »Ich bring ihn rauf. Kannst du klettern?« Abe stieg nach oben. Ohne den Ballast auf dem Rücken ging es viel, viel leichter. Jetzt konnte er die Flügel ausbreiten. Er konnte fliegen. Daniel erwartete ihn am Eingang der Höhle. Als Lagerplatz war die Höhle absolut perfekt. Der Boden war eben, die Decke über zwei Meter hoch, und die Breite reichte für zwei Zelte aus, die nebeneinander standen. Das eine hatte eine blasse Pfirsichfarbe, das andere war noch orangefarben. Die Höhle war nicht sehr tief, vielleicht fünf Meter, und ganz hinten hatte anscheinend jemand Material zurückgelassen. »Du solltest dich hinlegen«, sagte Daniel. »Mir geht’s gut.« Abe war hingerissen. Er war in eine andere Dimension vorgedrungen. Draußen hatte es keine Ruhepause gegeben. Doch jetzt war er im Inneren des Berges. Hier fand er nicht nur Zuflucht vor dem Steinschlag und der quälenden Sonne, sondern auch vor der gnadenlosen Steilheit. Er ging ein paar Schritte auf den fünf Zentimeter langen Spikes seiner Steigeisen. Der Boden war flach. Er konnte es nicht fassen. Er hatte schon vergessen, wie es sich anfühlte, auf einer waagerechten 230
Ebene zu stehen. »Wir haben Schwein gehabt«, sagte Daniel. »Sieh dir das ganze Zeug an. Die Kiwis haben’s einfach dagelassen.« Bei beiden Zelten waren die Reißverschlüsse zugezogen, beide Zelte waren intakt. Kein Loch, keine ausgerissene Naht. Im Vergleich zu den raffinierten Kuppelzelten der Ultimate-Summit-Expedition waren diese Zelte altmodisch: Dreieckskonstruktionen, Zeltstangen in der Mitte und Spannschnüre. Solche Zelte mußten täglich gewartet werden, sonst fielen sie zusammen. Doch es waren Jahre vergangen, und diese Zelte standen immer noch. Die Spannleinen waren straff; sie hatten keinen Zentimeter nachgegeben. Die Wände federten, als Abe sie berührte. Es war, als wären die Zelte gestern aufgestellt worden. Die gelben Urinflecken rechts und links von den Zelten sahen frisch aus. In den Ecken und Winkeln der Höhle lagen leere Konservendosen und Papiertüten; sie wurden nicht vom geringsten Windhauch gestört. Gebrauchsfertige Seile lagen lose aufgewickelt übereinander. In den Nischen hinter den Zelten lagen schwere Sauerstoffflaschen, aufgestapelt wie Feuerholz, und in roten Stoffsäcken befanden sich Hosen, Pullover und persönliche Dinge – eine Led-Zeppelin-Kassette, eine Dose Kondensmilch, das Foto einer Frau. In dieser Höhle war das Camp vor allen Gefahren geschützt, denen Everest-Bergsteiger normalerweise ausgesetzt waren. Hier gab es keinen Steinschlag, kein herunterstürzendes Eis, keine Lawinen, keinen Wind. Scheinbar verging nicht einmal die Zeit. Es war das perfekte Refugium. »Komm, wir setzen uns hin«, sagte Daniel. 231
Abe setzte sich in den offenen Eingang des ausgeblichenen Zeltes. Die Luftkissen waren noch prall gefüllt. Ihm stiegen Freudentränen in die Augen. Welch ein Luxus, an einem sicheren Ort auf einer weichen Unterlage zu sitzen. Sie hatten es überstanden. Es gab keine Gefahr mehr. »Ziemlich stürmisch da draußen«, sagte Daniel. Er wandte sich vom Eingang der Höhle ab und setzte sich vorsichtig neben Abe in das Zelt. Er verzog das Gesicht. Abe hatte gewußt, daß er das tun würde. Abes Muskeln und Gelenke versteiften sich. Die Wunde am Arm fing an zu brennen. Es war logisch, daß die Halluzination auf den Schmerz reagierte. Abe saß Seite an Seite neben dem Phantom. Sie sprachen kein Wort. Schließlich erschien Gus im Eingang der Höhle und schnappte nach Luft. Draußen war alles in ein dunkelgoldenes Licht getaucht. Die Sonne ging unter. Gus nahm ihre Schneebrille ab und blickte die beiden mit ihren klaren, grünen Augen an. Abe sah, daß sie seinen Rucksack auf ihrem eigenen befestigt und so die doppelte Last geschleppt hatte. Sie ließ die Sachen ohne große Umstände an der Wand fallen. »Daniel, was, zum Teufel, war los?« fragte sie. Sie war wütend. Sie haßte Unklarheit. »Der Berg hat mich getroffen«, sagte Daniel. »Und ich hab Abe getroffen.« Auf den Punkt gebracht, dachte Abe. Obwohl er selbst noch näher auf die furchtbaren Auswirkungen von Sonnenstrahlen auf festgefrorene Felsbrocken eingegangen wäre. Auf das tosende Verhängnis, das lautlos begann. »Dann kümmer dich um ihn«, sagte Gus. »Sitz nicht so rum.« 232
»Gus …« Daniel streckte in einer hilflosen Geste seine Arme aus. Jetzt bemerkte Abe zum ersten Mal die aufgerissenen Handflächen. Daniels Hände bluteten, man sah das nackte Fleisch. Sie brauchten beide Hilfe, Daniel und Abe. Gus zögerte keine Sekunde. »Also gut«, sagte sie leise. Es gab viel Arbeit, und sie war die einzige, die diese Arbeit erledigen konnte. Gus schob ihre eigene Müdigkeit beiseite. Abe sah die erschöpfte Entschlossenheit in ihren Augen. Gus zündete drei Kocher an, nahm ihren Eispickel und hackte Eis, um Trinkwasser zu gewinnen. Dann kümmerte sie sich um Abe. Sie zog ihm den zerrissenen Overall aus und schob den Ärmel seines Pullovers hoch, um die Wunde freizulegen. Sie war tief. Abe sah hinein, als Gus die Ränder auseinanderzog. »Du bist der Doc«, sagte sie mit einem fragenden Gesicht. Sie hatte seine Erste-Hilfe-Tasche mit allen Verbandmaterialien und Medikamenten auf dem Boden ausgebreitet. Abe war geneigt, ihr ein Kompliment über ihre strahlenden Augen zu machen. Das war alles, was ihm einfiel. Sie sah makellos aus. Gus runzelte angesichts seines starren Blicks die Stirn. »Scheiße, du bist ja ’ne große Hilfe.« Doch sie war nicht böse. Abe war froh darüber, denn er liebte sie; sie war seine Schwester, genauso wie Daniel sein Bruder war. Sie legte ihm einen primitiven, sperrigen Verband an. Die weiße Baumwolle färbte sich rot. Abe wußte, daß es Grund zur Sorge gab, aber er wußte nicht, warum. Mittlerweile zitterte er in heftigen Schüben. »Daniel?« sagte Gus flehentlich. 233
Daniel saß zusammengesunken und mit blutenden Händen daneben und schaute zu. Er wurde immer schwächer. »Wir haben Sauerstoff«, sagte er zu Gus. »Nein, Daniel, haben wir nicht. Wir haben keinen mitgebracht.« Sauerstoff wurde normalerweise bei späteren Transporten mitgenommen, wenn die wichtigsten Dinge wie Proviant, Brennstoff und Zelte schon oben waren. Und heute hatten sie bewußt wenig Material eingepackt, hauptsächlich Seile und das Nötigste für eine Nacht. Also keine Zahnbürsten und keinen Sauerstoff. »Von den Kiwis«, sagte Daniel. Seine Schmerzen wurden schlimmer, die Stimme wurde leiser. »Hinten, in der Ecke. Schließ ihn an.« Gus kletterte über Abe hinweg und öffnete den hinteren Reißverschluß des Zeltes. Vor ihr lag eine Fülle von Material, fein säuberlich aufgestapelt. Der Sauerstoff befand sich in zwei schimmernden, aufrecht stehenden Behältern. Gus stemmte eine der Flaschen und suchte einen Regler und eine Maske. Dann machte sie den Reißverschluß zu und kehrte zu Abe zurück. Als Gus ihm die Maske aufs Gesicht legte, schmeckte sie nach verdorbenem Essen. Gus drehte den Regler auf, und sofort hörte Abe den Sauerstoff in die Maske strömen. Wärme durchflutete seinen Körper, und langsam kam er wieder zu sich. Die Unwirklichkeit des Nachmittags verflog wie dünnes Gas. Er blutete, und die Wunde mußte genäht werden. Vielleicht hatte er eine Gehirnerschütterung und sollte lieber absteigen. Daniel war verletzt und mußte untersucht werden. Und nach dem langen Tag waren sie alle dem Zusammenbruch nahe. Abe mußte den anderen helfen. Aber er war so müde. Er nahm die Sauerstoffmaske ab. »Was ist mit JayJay?« 234
Vor lauter Halluzinationen über die Toten hatte er die Lebenden vergessen. »JayJay hat aufgegeben.« Gus nuschelte nur noch. »Hat seinen Rucksack dagelassen und ist abgehauen.« Also waren sie nur zu dritt. Abe drückte sich die Sauerstoffmaske fest aufs Gesicht. Er ließ den Kopf auf Gus’ Schoß sinken, wie auf ein Kissen. Draußen tobte der Wind. Doch hier, in der Höhle, regte sich kein Lüftchen. Sie waren in Sicherheit. »Wenn wir bloß die Funkgeräte hätten«, murmelte Gus und lehnte sich bei Abe und Daniel an. »Die müssen es erfahren. Wir brauchen sie.« Sie saßen da, alle drei aneinandergeschmiegt, und taten das Schlimmste, was sie tun konnten: Sie schliefen ein. Abe schreckte aus dem Schlaf auf und sah Daniel auf sich zustürzen. Er riß den Arm hoch, und da war er wieder: der schneidende Schmerz. Abe schrie auf, doch der Schrei wurde gedämpft. Er spürte die Sauerstoffmaske im Gesicht, die von seinem Atem feucht geworden war. Jemand hatte eine Stirnlampe eingeschaltet und sie dann zu Boden fallen lassen. Die Batterien froren ein, und das Licht wurde gelb. Abe hob den Kopf. In einer anderen Umgebung, bei anderem Licht hätte es freundschaftlich ausgesehen, beinahe erotisch, wie sie so liebevoll ineinander verschlungen waren. Doch in diesem gelblichen Schein wirkten sie wie drei Leichen, die man in ein Massengrab geworfen hatte. Daniel lag mit ausgestreckten Armen auf der Seite, um die Schmerzen an den Händen in Grenzen zu halten. Gus war auf ihn gesunken. In ihren ausgezehrten Gesichtern war Resignation zu sehen. »Nein«, stöhnte Abe. Er richtete sich mühsam auf. Fünf Minuten lang saß er apathisch da und sog den Sauerstoff 235
in sich hinein. Dann riß er sich die Maske vom Gesicht und beugte sich zu Daniel hinüber. »Hier.« Er drückte Daniel die Maske auf den Mund und bedeckte damit die gebleckten Zähne und den schwarzen Bart. Der Everest versteinerte die Bergsteiger langsam. Sie hatten die Farbe der Felsen angenommen. Doch nun, vor Abes Augen, röteten sich Daniels Wangen, und seine Nagelbetten färbten sich rosa. »Gus«, sagte Abe. Sie öffnete die Augen nur ein wenig, und Abe schreckte angesichts ihres stupiden Blicks zurück. Er schüttelte sie. »Gus, wach auf. Wir müssen aufwachen.« Ihre Augen wurden glasig und fielen wieder zu. Abes Armbanduhr zeigte 0:35 an. Nach Mitternacht. Er zuckte zusammen und konnte es nicht fassen. Der Berg war gefräßig, und sie saßen in seinem Bauch. Doch während Jona im Bauch des Wals abwarten konnte, durften sie das nicht tun. Wenn sie bis zum Morgengrauen weiterschliefen, würden sie vielleicht nie wieder aufwachen. Abe bewegte seine steifen Glieder und kroch in den hinteren Teil des Zeltes. Im Halbdunkel öffnete er den Reißverschluß und fand zwei weitere Sauerstoffmasken und Regler. Er schraubte mit seiner unverletzten Hand die Einzelteile zusammen, steckte die Masken auf und holte die Geräte ins Zelt. Er schnallte Gus eine Maske vors Gesicht, legte sich selbst die zweite an und drehte die Regler auf die maximale Leistung von sechs Litern pro Minute. Nach medizinischen Maßstäben war das nicht viel, doch mehr gaben die Regler nicht her. Mit seinem tragbaren Gamow-Sack hätte Abe innerhalb von zehn Minuten einen Luftdruck erzeugen können, der einer Höhe von viertausend Metern entsprach. Doch der Gamow-Sack 236
war unten. Aber auch der reine Sauerstoff machte schon ein- oder zweitausend Meter aus und war zumindest eine vorübergehende Erleichterung. Jetzt, da sie alle Sauerstoff einatmeten, kümmerte Abe sich um das Trinkwasser. Während sie geschlafen hatten, waren die Kocher ausgegangen, also nahm Abe drei neue Gasbehälter und zündete die Kocher wieder an. Er arbeitete mit der Bedächtigkeit eines Betrunkenen. Zwar machte der Sauerstoff ihn wieder nüchtern, doch die Schmerzen im Arm, die steifen Glieder, der Durchfall, die Bronchitis und all seine anderen Wehwehchen ergaben zusammen einen furchtbaren Höhenkater. Erst wachte Gus auf, dann Daniel. Schließlich saßen sie alle drei aufrecht da, eng beieinander, zwischen ihren Schlafsäcken, Parkas, Stiefeln und Hosen. Sie sahen aus wie die Idioten in einem Theaterstück von Beckett. Der Wind toste am Eingang der Höhle vorbei, doch drinnen bewegten sich nicht einmal die Zeltwände. Es war, als hätte der Berg gewollt, daß sie für immer weiterschliefen. »Wir müssen runter«, sagte Abe. Erst hatte Daniel die Führung übernommen, dann Gus. Nun war Abe an der Reihe. Gus hatte es ja gesagt: Er war der Doc. Er löste den Riemen der Sauerstoffmaske und nahm sie ab, damit man ihn besser verstehen konnte. »Wir müssen runter«, wiederholte er. Der Berg hatte sie alle bis aufs Blut ausgesaugt. Sie mußten hinuntersteigen und sich neu formieren. Diesmal hatten sie ihre Grenzen kennengelernt. »Wir sind so nahe dran.« Daniels Worte wurden durch die Sauerstoffmaske gedämpft, doch in seinen Augen funkelte das Gipfelfieber. Er war glücklich. Sie waren weit gekommen, und selbst wenn sie jetzt zunächst absteigen mußten, konnten sie wiederkommen und den gläsernen 237
Gipfel des Everest bezwingen. Das schwierigste Hindernis auf dieser Route, der »Schießstand«, war nun überwunden. Sie hatten ihn mit Seilen versehen. Nun war er passierbar. Von hier aus waren es noch knapp achthundert Höhenmeter bis zum Gipfel. Noch ein Camp, vielleicht zwei. Eine Woche, vierzehn Tage, mehr nicht. Und plötzlich schienen sie wirklich sehr nahe dran zu sein. »Nahe dran«, räumte Abe ein. »Aber wir müssen runter.« Der Abstieg war unumgänglich. Sie mußten ihre Wunden lecken. Da Jorgens und Carlos ausfielen und Thomas meuterte, mußte eine völlig neue Strategie erarbeitet werden. Auch wenn das Team noch einen Angriff auf den Gipfel zustande bringen konnte – im Moment war es nicht stark genug. Es war klar, daß sie ins Basislager hinuntersteigen mußten, und zwar alle. Nur dann hatten sie eine Chance auf den Gipfel. Wären sie in ihrem jetzigen Zustand weitergeklettert, so wären sie mit Sicherheit dem Berg zum Opfer gefallen. »Ja«, sagte Gus. »Runter.« »Wir kommen wieder«, sagte Abe. »Ja«, sagte Daniel. »Zeig mir mal deine Hände.« Daniel streckte ihm seine Handflächen entgegen. Abe stieß unter seiner Maske einen Zischlaut aus. An beiden Händen war die Haut in große Fetzen zerrissen. Er reinigte die Fetzen, glättete sie und wickelte weißes Heftpiaster um die Hände. Er tat es nach einem bestimmten Muster, das von Boxern und Freikletterern bevorzugt wurde: dick auf der Handfläche, dünn zwischen den Fingern. Daniel würde die Polsterung morgen für den langen Abstieg zum ABCCamp dringend brauchen. »Sonst noch was?« fragte Abe. Er wußte, daß da noch 238
etwas war. Daniel hatte es schon die ganze Zeit vermieden, seine rechte Seite zu berühren. Daniel zog seine Jacke aus und schob Pullover und TShirt hoch. Ein blauer Fleck von der Größe einer Wassermelone zog sich halb um den Brustkorb. Der Felsbrocken hatte Daniel zwischen den Armen getroffen und nur knapp die Bauchhöhle verfehlt. Wäre er mehr in der Mitte eingeschlagen, hätte der Felsbrocken einen Teil des Brustbeins zertrümmern können. Mit einem gebrochenen Brustbein wäre Daniel in dieser Höhe schon seit Stunden tot gewesen. Abe tastete den Brustkorb ab. »Tut es hier weh? Hier? Und hier?« Während er Daniel untersuchte und befragte, machte er eine Bestandsaufnahme. Eine schaurige Furche zog sich an Daniels Wirbelsäule entlang; er hatte purpurrote Operationsnarben an der Schulter und Halbmonde in den Armbeugen, die von der Sehnenoperation stammten. An den Armen und Händen hatte er weitere, ältere Narben. Im Vergleich zu diesen Furchen, Rillen und roten Nähten sahen Abes Kletternarben aus wie die Spuren eines vorgetäuschten Selbstmordversuchs. »Da könnten Haarrisse sein«, sagte er. »Das sind wahrscheinlich nur Prellungen«, entgegnete Daniel. »Du hast Glück gehabt«, sagte Abe. Er machte Daniels Jacke zu und wollte ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht legen, doch Daniel packte ihn am Handgelenk. »Ich habe über dich nachgedacht«, sagte er. Abe wurde unbehaglich zumute. Jetzt also war es soweit. Aber warum wollte Daniel die Vergangenheit ausgerechnet in diesem mitternächtlichen Sturm, hoch über der Erde, Wiederaufleben lassen? Das hätte doch Zeit 239
gehabt. Wenn es nach Abe ging, konnte man auch ganz darauf verzichten. Ein halbes Leben war vergangen, ohne daß er das Bedürfnis gehabt hatte, die Erinnerung auszugraben. Warum ist sie so wichtig, fragte er sich bitter. Weil sie vorhanden ist? Gus runzelte die Stirn. Sie schien besorgt zu sein, doch vielleicht sah es im Halbdunkel auch nur so aus. Sie fing an, den Kopf zu schütteln. »Ich habe mich gefragt, wer du wohl bist«, sagte Daniel. »Dann hast du dich also an mich erinnert«, erwiderte Abe. Als er die Worte aussprach, bildete sich vor seinem Mund eine frostige Wolke. Er nahm die Sauerstoffmaske und atmete einmal tief ein. »Nein. Aber sie haben’s mir später erzählt. Ein verstörter Junge blieb bis zum Schluß da.« »Das war ich.« Eine Minute lang sagten sie nichts, dann brach Daniel das Schweigen. »Muß ziemlich gespenstisch gewesen sein da oben, so ganz allein.« Abe hatte vorgehabt, irgendwann einen solchen Satz zu Daniel zu sagen. Doch Daniel war ihm zuvorgekommen, und jetzt mußte er darauf antworten. »Ich war ja nicht allein«, sagte er. »Man hat mir erzählt, du wärst verrückt geworden«, fuhr Daniel fort. »Du hast dein Studium abgebrochen und bist verschwunden.« Das Gespräch verlief nicht so, wie Abe es sich vorgestellt hatte. »So schlimm war es nicht«, sagte er. »Ich mußte nachdenken, das war alles.« »Ja«, sagte Daniel. Es gab keinen Dank. Keine Erklärungen. Abe fühlte sich betrogen. Er hatte Daniel fragen wollen, wie er mit der 240
quälenden Stimme des Mädchens klargekommen war, doch vielleicht war dies die Antwort: Vielleicht hatte es für Daniel keine Stimme gegeben, zumindest keine quälende – nur einen Tag und eine Nacht voller Gebete, zwei gebrochene Kniescheiben, das beruhigende Morphium und den Transport auf der Trage. Doch Abe glaubte nicht, daß es so einfach war. »Und ich habe von deinem Besuch gehört.« Abe wandte den Blick ab. »Du bist zu ihrer Mutter gegangen. Es hat eine Weile gedauert, bis wir das alles rausgefunden haben. Aber wir haben es geschafft. Ein Junge mit Brille und ländlichem Dialekt. Das warst du.« Daniel machte eine Atempause. »Mitten in der Nacht? Du hast sie zu Tode erschreckt.« »Ich weiß.« Abe konnte seine Worte selbst kaum hören. »Sie war sowieso schon völlig außer sich.« »Ja.« Unter der Maske biß Abe sich auf die aufgesprungene Lippe. Für diese Szene schämte er sich. Immer wieder dachte er an den heruntergekommenen Campingplatz am Rande von Rock Springs, an dessen Ende ein einzelner Wohnwagen stand, mit einer kaputten Glühbirne über der provisorischen Veranda. Es war eine kalte, sternenlose Nacht im späten Frühling gewesen, und durch die Aluminiumverkleidung hindurch hatte er ihre Schritte und das Bellen eines Hundes gehört. Abe verspürte das gleiche Schwindelgefühl wie damals, als die alte Frau durch die Tür hindurch gefragt hatte, wer da sei. Und dann hatte sich der Griff gedreht, und die Tür war aufgegangen. Abe spürte, wie sich alles drehte. Er verlor den Boden unter den Füßen. Er spürte, daß Gus ihn ansah. Sie kannte diese Geschichte noch nicht. Doch aus ihrer Verwirrung wurde Erstaunen. Auch sie hatte ihre 241
Maske abgenommen. Der Sauerstoff hatte ihr die Gesichtsfarbe zurückgegeben, wodurch die Erschöpfung noch betont wurde. »Warum das alles?« fragte Daniel. Er schien wirklich verblüfft zu sein. Wahrscheinlich war er einmal verärgert darüber gewesen, oder er war es immer noch. Doch im Moment hörte Abe aus der Frage die reine Neugier heraus. Ja, warum, dachte Abe. Es hatte nur noch mehr Tränen und noch mehr Leid gegeben. Was sonst hatte er denn erwartet? »Es hat mich einfach nicht losgelassen. Ich war siebzehn. Ich hatte ihre Stimme gehört, aber nie ihr Gesicht gesehen.« »Aber warum?« Abe zuckte hilflos mit den Achseln. »Wir hatten ihr verschwiegen, wie lange Diana noch gelebt hat«, sagte Daniel. »Und das hatte seinen Grund. Sie wußte es nicht, bis du kamst.« »Ich weiß.« Abe erinnerte sich, wie ihre Augen immer größer geworden waren. Doch da war es schon zu spät gewesen, und er hatte alles erzählt. Er hatte ihr die ganze Geschichte zugemutet. Sie hatte ihn nicht daran gehindert, und so mußte sie noch einmal den Tod ihrer Tochter sterben. »Es war so schon schlimm genug«, murmelte Daniel. »Ich weiß.« Die drei kauerten noch einige Minuten nebeneinander, während die blauen Flammen unter den Gaskochern rauschten und der Wind wie ein Wasserfall an der Höhle vorbeidonnerte. Ihre Worte legten sich als kalter Dampf auf ihre zerschundenen Hände. Schließlich ergriff Abe das Wort. »Es tut mir leid«, flüsterte er. War er deshalb mitgekommen? Das konnte 242
doch nicht der alleinige Grund sein. »Jetzt weiß ich es«, flüsterte Daniel zurück. Abe saß stocksteif in dem Zelt, das mit Gerätschaften und verletzten Menschen vollgestopft war, und er spürte, wie er im Chaos versank. Er war von einer Stimme aus der Vergangenheit besessen gewesen und hatte Leid verursacht, das aus dem Leid resultierte, das Daniel aus Leichtsinn verursacht hatte. Weder er noch Daniel hatten das mit Absicht getan. Und doch konnten beide offenbar nicht ohne das Leid existieren. Wie sonderbar, dachte Abe. Wie traurig. Dann ergriff Gus das Wort. »War das schon alles?« Sie schien entsetzt zu sein. »Das ist doch schlimm genug«, sagte Daniel. »Schlimm genug?« zischte sie. »Das ist doch gar nichts.« Daniel war auf ihren Gefühlsausbruch nicht vorbereitet. »Gus, was willst du denn?« »Ihr Männer«, schnaubte sie aufgebracht. »Die ganze Zeit kam’s mir vor, als hätte der eine das Mädchen umgebracht und der andere ihr Herz verspeist. Ich dachte: Die beiden müssen ja zusammen eine große Sünde begangen haben. Irgendwas Bedeutendes.« Abe merkte, daß sie es nicht verstand. Oder vielleicht doch. Sie hatte erwartet, daß es etwas Tiefgründiges war, was Daniel mit Abe und der dunklen Obsession verband. Doch die beiden hatten nur die Nachwirkungen geschildert. Für Gus mußte es sich anhören wie das abgedroschene Geschwätz zweier alter Männer. »Das war eine Sache zwischen Abe und mir«, versuchte Daniel zu erklären. »Mit dir hatte das nichts zu tun.« »Nein?« Jetzt wurde sie wütend. In dem kalten Zelt bedeutete schon das einen Kraftakt. »Seit Jahren kämpfe 243
ich mit ihrem Geist um dich.« Sie drehte sich zu Abe um. »Weißt du noch? Zu Anfang hatte ich Angst vor dir.« Abe erinnerte sich an die Nacht im Basislager, doch er hätte ihren Warnschuß nicht als Angst definiert. Noch bevor er antworten konnte, hatte sie sich schon wieder Daniel zugewandt. »Ich hab ihm gesagt, er soll sich von dir fernhalten. Ich dachte, er würde sie wieder ausgraben und zum Leben erwecken. Aber ich habe mich geirrt. Abe konnte sie gar nicht ausgraben. Weil du sie nie beerdigt hast.« Daniel schwieg. »Ich muß mit ihr leben. In unserem Haus. In unserem Bett. Ja, du sprichst im Schlaf mit ihr, Daniel.« Gus schnappte nach Luft. »Jetzt bin ich auf dem Everest, und sie ist wieder dabei. Ihr Name. Ihr Geist. Und das soll nichts mit mir zu tun haben?« Gus starrte die beiden Männer an. Dann wurden ihre Augen glasig, und ihr Gesicht nahm eine bläuliche Färbung an. Ihr Ärger verflüchtigte sich. »Hör zu, Gus«, murmelte Daniel, »es tut mir leid.« »Und mir erst.« Abe stellte verwundert fest, daß sich hinter ihrer Wut Mitleid und Liebe verbargen. Sie drückte sich die Sauerstoffmaske wieder aufs Gesicht. Der tosende Wind beherrschte die Szene. Abe drehte sich um. In einem der Töpfe kochte das Wasser. Sie tranken schweigend und ließen weiteres Eis über der Flamme schmelzen. Abe wußte, daß es bis zum Morgengrauen so weitergehen würde. Sie würden essen und trinken, bis sie gefahrlos hinuntersteigen konnten. Kein Schlaf mehr. Kein Gespräch. Nicht in dieser Nacht, an diesem gefährlichen Ort. 244
7. KAPITEL Im Morgengrauen stand Daniel am Eingang der Höhle im kalten Sonnenlicht und überlegte es sich anders. Abe schnallte sich seinen Klettergurt fest um die Lenden. Gus kniete neben ihm und bereitete sich auf den langen Abstieg zum ABC-Camp vor. Von dort aus würden sie zum Basislager weitermarschieren und sich ausruhen. »Ich versteh das nicht«, murmelte Gus. »So müde.« Das ist kein Wunder, dachte Abe. Selbst die größte Willenskraft war irgendwann erschöpft. Hinter Daniel begann die orangefarbene Linie und tauchte in die Tiefe hinab. Es gab kein Seil, das nach oben in die Sonne führte. Nicht einmal ein altes neuseeländisches oder japanisches Seil war unter dem grünen Eis verborgen, denn Camp vier war der höchste Punkt, der jemals an der Kore-Wand erreicht worden war. Darüber war die Route ein unbeschriebenes Blatt, so wie es die ganze Wand vor sieben Jahren gewesen war, als Daniel sie zum erstenmal in Angriff genommen hatte. Vielleicht war diese Anziehungskraft des unerforschten Terrains der Grund für Daniels Sinneswandel. »Ich gehe nicht mit runter«, verkündete er leise. »Jetzt noch nicht.« Nach einer kurzen Pause sagte Gus genauso leise: »Wie war das?« »Glaub mir«, erklärte er. »Ich war schon mal hier und bin umgekehrt. Das war unser Fehler. Noch ein Camp, dann haben wir die richtige Höhe. Dann ruhen wir uns aus. Und wenn wir wieder raufkommen, bezwingen wir das Monster. In einem Anlauf bis zum Gipfel.« 245
»Wir sind erschöpft«, sagte Abe. Für den Weg zu Camp fünf brauchten sie frische Kraft, um die Route zu erkunden und das Camp einzurichten. Eins wußte Abe ganz genau: Er war kaum in der Lage, abzusteigen, geschweige denn bis auf 8500 Meter hinaufzuklettern. »Um euch geht’s auch gar nicht«, sagte Daniel. »Das ist meine Sache.« »Abgelehnt«, sagte Gus. Sie wollte das Wort mit Nachdruck aussprechen, doch es klang dumpf und undeutlich. Sie konnte nicht einmal das orangefarbene Seil anheben, um sich für den Abstieg bereitzumachen, und sie fummelte ungeschickt an simplen Karabinern herum. Erst gestern hatte diese Frau noch zwei schwere Rucksäcke heraufgetragen. Jetzt wirkte sie kraftlos. Doch ihre Schwäche bestärkte Daniel nur noch in seiner Entschlossenheit. »Noch zwei Tage, vielleicht drei«, sagte er beharrlich. »Ich benutze das Zeug, das die Kiwis dagelassen haben.« Er erklärte, daß noch Seilrollen von insgesamt über fünfhundert Metern Länge in der Höhle waren. Er würde jeden Tag so weit klettern, wie er konnte, um weitere Fixseile anzubringen. Nachts würde er in die Höhle zurückkehren. Er konnte mit dem Sauerstoff der Neuseeländer schlafen, sich von ihrer Trockennahrung und den Nüssen ernähren und sogar ihre Musik hören. Sein Entschluß stand fest. Abe versuchte das Risiko abzuschätzen. Daniel hatte zwar nicht seine alte Stärke wiedergewonnen, aber er sah nicht mehr so bleich und abgeschlagen aus. Der Sauerstoff aus der Flasche hatte auf seinen beinahe transparenten Körper wie eine Frischzellenkur gewirkt. Seine Augen waren klar, seine Strategie durchdacht. »Hört sich ganz gut an«, sagte Abe, »ist es aber nicht. 246
Gus hat recht. Allein schaffst du’s nicht.« Plötzlich hörte Abe sich selbst. Vor vielen Jahren hatte er in einem Schneesturm in Wyoming ganz ähnliche Worte gehört. Die Worte hatten ihn damals nicht von seiner Mission abgebracht, und auch Daniel würde mit Worten nicht zu bekehren sein. Abe blinzelte. Er hörte auf zu diskutieren. Es gab nichts zu diskutieren. »Laß mich wenigstens deine Hände noch mal tapen«, sagte er. Gus verstand sofort, daß Abe aufgegeben hatte. »Leckt mich doch am Arsch, alle beide«, sagte sie. Sie klinkte sich aus dem Seil aus, setzte sich an die Wand und schloß die Augen. Sie nahm sich zusammen. Sie war Daniels Schutzengel, und Abe wußte, daß sie ihn niemals allein lassen würde. Wenn Daniel hinaufkletterte, würde sie nicht hinabsteigen. Auch darüber gab es keine Diskussion. Daniel hatte seine Verbände abgenommen, die häßlichen Hautfetzen näßten immer noch. An einer Stelle konnte Abe das rohe Fleisch sehen. »Ich muß das erst nähen«, sagte Abe. Er hatte gehofft, damit bis zum ABC-Camp oder bis zum Basislager warten zu können. Dort hätte er die Wunden fachgerecht reinigen können, er hätte ordentliches Besteck zur Verfügung gehabt und die Nadel nicht mit halberfrorenen Fingern führen müssen. Daniel hatte seine eigenen Ansichten. »Dafür ist jetzt keine Zeit«, sagte er. »Aber das kann doch nicht offenbleiben.« »Plastik, Abe, Plastik.« Daniel setzte sein schiefes Grinsen auf. Es war das erste Mal seit langer Zeit, daß Abe jemanden lächeln sah. Instinktiv grinste er zurück. Staunend beobachtete Abe, wie Daniel die obere Tasche 247
seines Rucksacks öffnete und eine Tube Klebstoff herausfischte. Er ahnte, was jetzt passieren würde. »Das Zeug ist giftig«, protestierte Abe. »Ah ja? Das ist der Berg auch.« Daniels Grinsen wurde breiter. Die Risse in seinen Lippen füllten sich mit Blut. Geschickt drückte Daniel große Mengen Klebstoff in die Wunden an beiden Händen und zog die Hautfetzen vorsichtig mit den Fingerspitzen zusammen. Er ließ den Klebstoff trocknen, indem er die Hände über die blaue Gasflamme hielt, als würde er eine Naht zuschweißen. Dann ballte er die Hände zu Fäusten, um die Haltbarkeit seines Flickwerks zu testen. Der Trick mit dem Klebstoff war unter Felskletterern verbreitet, doch Abe hatte bisher nur von zugeklebten Fingerkuppen gehört. Für einen Moment zog Abe in Erwägung, sich den blutigen Verband vom Arm zu reißen, Klebstoff in die Wunde zu schmieren und mit Daniel hinaufzuklettern. Doch schon der Gedanke daran ließ ihn erschaudern, und er begriff, daß Thomas vor genau dieser Situation geflohen war. Nicht Daniels natürliche Autorität am Berg hatte Thomas verjagt, auch nicht die Tatsache, daß dieser schwarzhaarige Kamikaze-Typ vom Gipfel besessen war. Nein, Thomas war von der plötzlichen Erkenntnis abgeschreckt worden, daß er bereit sein würde, hier oben zu sterben – nicht für den Berg und sein reines, diamantenes Licht, sondern für Daniel, für die Befreiung einer gefangenen Seele. Daniel hatte sie so weit nach oben geführt, daß sie kaum noch Luft bekamen, und er wollte immer noch weiter hinauf, und sie folgten ihm noch immer. Abe wäre gerne – nur zu gerne – bei Daniel geblieben und mit ihm weitergeklettert. Aber der Zeitpunkt der Flucht war gekommen. »Viel Glück«, sagte Abe. »Wir sehen uns im Basislager«, erwiderte Daniel. 248
»Mach’s gut«, sagte Abe zu Gus. Sie öffnete nicht einmal die Augen, um ihn wütend anzustarren. Kurz nachdem Abe mit dem Abstieg begonnen hatte, machte Daniel sich auf. Er zog einen Regenbogen aus drei bunten Neun-Millimeter-Seilen hinter sich her, und vier weitere hatte er zusammengerollt im Rucksack verstaut. Gus sicherte ihn von der Höhle aus und rollte das Seil ab. Daniel hatte fast dreihundert Meter Seil bei sich, ein Gewicht von über fünfunddreißig Kilo. Wäre noch jemand dagewesen, hätte es nach Angeberei ausgesehen. Doch da Daniel allein war, war dieses Gewicht nur das Ergebnis seiner Selbsteinschätzung. Kurz bevor er Daniel aus den Augen verlor, sah Abe, daß der »Schießstand« über der Höhle breiter und flacher wurde. Daniel benutzte nicht mehr die Frontalzacken seiner Steigeisen, sondern ging fast aufrecht den eisigen Hang hinauf. Bei diesem Tempo konnte Daniel vielleicht seine Ankündigung in die Tat umsetzen: Er konnte den ganzen Weg bis Camp fünf mit Fixseilen versehen und würde noch Zeit haben, um das Lager zu errichten. Dann konnte er hinabsteigen, bevor ihn die Kraft verließ. Wenn es um diesen Berg ging, behielt Daniel meistens recht, und so war es offenbar auch heute. Für die Expedition würde die Einrichtung von Camp fünf ein großer Vorteil sein. Damit würden sie ein Hochlager haben, von dem aus sie ihren Angriff auf den Gipfel starten konnten. Falls es im ABC-Camp und im Basislager noch genug gesunde und bereitwillige Kletterer gab, konnten sie den Berg innerhalb einer Woche wieder bis zur Höhe von 8550 Metern kolonisieren. Dann blieben nur noch dreihundert Meter. Sie hatten noch eine Chance. Daniel war gerade stehengeblieben und verankerte eins seiner Seile mit Eisschrauben in der Wand, als er aus Abes Blickfeld verschwand. 249
Abe hatte vier lange Tage gebraucht, um vom ABCLager bis Camp vier hinaufzuklettern. Jetzt stieg er in weniger als neun Stunden tausendfünfhundert Höhenmeter hinunter und erreichte das ABC-Camp rechtzeitig zum Abendessen. Unterwegs waren alle Camps wie ausgestorben – es war kein Bergsteiger zu sehen. Bis auf Daniel und Gus schienen alle den Berg preisgegeben zu haben. Auch das ABC-Camp war verlassen, bis auf Nima und Chuldum, die das Lager bewachen und sichern sollten. Abe verstand nicht, wovor man es sichern mußte – vielleicht vor dem Wind oder der sengenden Sonne –, aber so war Jorgens nun mal: Er spielte auch dann noch den Kapitän, wenn sich das Schiff im Trockendock befand. Gleich am nächsten Morgen marschierte Abe allein in seinen Laufschuhen los. Der fünfzehn Kilometer lange Weg kam ihm vor wie ein Kurzstreckenlauf. Doch das war Einbildung. Was sich wie ein müheloser Spaziergang ins Tal anfühlte, war in Wirklichkeit harte Arbeit. Beim Blick auf die Uhr merkte Abe, daß er immer langsamer wurde. Doch je weiter er hinunterging, um so höher wurde der Luftdruck, so daß es ihm nichts ausmachte. Nach den langen Wochen des steilen, kurzatmigen Aufstiegs erschien ihm dieser ebene Pfad wie eine Autobahn. Abe konnte kaum glauben, daß er den Pfad einmal für verschlungen und verwirrend gehalten hatte. Die Wegführung war hier so klar, so eindeutig. Sein Rucksack war leer, seine Stimmung war gut, und er wäre am liebsten gerannt. Es war frustrierend, sich so kräftig zu fühlen und doch so wackelig auf den Beinen zu sein. Er taumelte weiter. Die Welt um ihn herum setzte sich jetzt aus schärferen, strahlenderen Details zusammen. Ein Schwarm Schneehühner gackerte an der Grenze zwischen 250
Sonnenschein und Frost. Links und rechts des Weges hingen lange Zungen aus Gletscherschlamm, die aussahen wie Tempelsäulen. Die unscheinbaren Felsen unter Abes Nike-Schuhen bekamen eine beinahe sakrale Bedeutung. Abe wußte, daß seine Ehrfurcht zum Teil von Hunger, Erschöpfung und dem höheren Luftdruck verursacht wurde. Doch da war noch mehr. Er hatte einmal gehört, daß Mönche im Dunkeln aufstanden, um den Anbruch des Tages begrüßen zu können. Jetzt, da er aus dem dunklen, bedrohlichen Schatten der Kore-Wand trat, verstand er das. Die Felsen, die Vögel, der blaue Himmel: All das waren einfache Dinge, doch sie bedeuteten sehr viel. Das Basislager mit seinen bonbonfarbenen Zelten und dem geschäftigen Treiben sprang Abe gleich ins Auge. Überrascht – und ein wenig schwankend – blieb er stehen und nahm den Anblick in sich auf. Er hatte schon vergessen, wie viele Zelte hier standen, wie eben die Gletschermoräne war und wie sich das fließende Wasser in einem Bach anhörte. Gelächter klang zu ihm herüber. Es roch nach frischgebackenem Brot aus Carlos’ Solarofen, und selbst die Stille der Natur war wie eine herrliche Melodie. Robby und Stump sortierten die Überreste des Materials, und JayJay spielte für die Sherpas den Clown, indem er auf den Händen lief. Aus dem Gettoblaster neben dem Küchenzelt trugen Pink Floyd ihre elektrischen Gitarrenklänge zu dem bunten Gemisch aus Bildern, Geräuschen und Gerüchen bei. Abe, von der Musik angezogen, setzte sich in Bewegung. Er wollte bei diesen Menschen sein. Er sehnte sich nach ihren Stimmen, ihren Berührungen und ihrer Gesellschaft. Kelly kam aus einem Zelt und schüttelte ihre lange, schwere, goldene, frischgewaschene Mähne. Sie war die erste, die Abe erblickte. Ihr Gesicht hellte sich auf; sie 251
lächelte und ging auf ihn zu. »Abe«, sagte sie und schloß ihn in die Arme. »Ich bin so froh, dich zu sehen.« Sie roch nach Kokos-Shampoo und Ivory-Seife, genau wie in den Nächten, in denen sie nebeneinander im Zelt gelegen hatten. Sie waren nicht einmal eine Woche lang getrennt gewesen, doch Abe kam es so vor, als hätte er sie monatelang nicht gesehen. Sie hatte ihn vermißt. Er hatte sie vermißt. Er hatte das ganze Team vermißt. Er war froh, wieder unten zu sein. Er war so froh, daß ihm schwindelig wurde. »Kelly?« krächzte er. Ihre Umarmung war voller Wärme, Gefühl und Leidenschaft. Sie klopfte ihm nicht nur kurz auf den Rücken, sie drückte ihn für eine ganze, lange Minute an sich. Während dieser Umarmung schossen ihm so viele Gedanken durch den Kopf, daß er sie gar nicht alle verarbeiten konnte. Er hätte gleichzeitig weinen und vor Freude singen können. »Du siehst wirklich gut aus«, sagte Kelly. Abe wußte, daß das nicht stimmte. Er spürte, wie seine Lippen aufplatzten, als er lächelte. Er schmeckte das Blut, und er wußte, daß sein Gesicht mit Blasen bedeckt und mit alter Sonnencreme verschmiert war, daß die Haut sich abschälte, daß er unrasiert war. Doch schlimmer als die Häßlichkeit war der Gestank. In den Wochen im ABCLager und in den höheren Camps hatte er keine Gelegenheit zum Waschen gehabt, und er roch den Kot in seiner Unterhose. Er schämte sich und war doch auf seltsame Weise heiter. Er war ein Kind der Kore-Wand geworden, ein stinkender Yeti. Und dennoch hielt ihn diese goldene Frau in den Armen. Jetzt begriff er, daß er den Everest überlebt hatte, und 252
zwar nicht nur in dem Sinne, daß er den Geschossen des Berges ausgewichen war oder eine weitere Nacht überstanden hatte. Er hatte dem Everest den Rücken gekehrt, und auch wenn dies nur ein kurzer Waffenstillstand war – für den Augenblick trat der Berg in den Hintergrund. Abe lebte noch. Er wollte Kelly seine Gedanken mitteilen, doch als er den Mund aufmachte, kam nur ein bronchiales Krächzen heraus. »Kelly«, sagte er noch einmal. Kelly löste die Umarmung und sah ihm in die Augen. Sie schien zu ahnen, woher das wilde Funkeln kam. Vielleicht hatte sie schon unter derselben Ekstase gelitten. »Komm, Abe«, sagte sie und nahm seinen Arm. Sie gingen sofort in Kellys Zelt, nicht in Abes kaltes, leeres Lazarett. Sie schnallte ihm den Rucksack ab, und er setzte sich hin. Er fühlte sich wie betrunken und konnte nicht aufhören zu grinsen. Nach der mörderischen Gewalt des Berges kam ihm der Friede unwirklich vor. Er konnte hier sitzen, ohne auf das Krachen von Lawinen zu achten, ohne sich zu ducken, zu zittern oder nach Luft zu schnappen. Er konnte einfach nur dasitzen. Kelly verschwand, und als sie wiederkam, brachte sie eine dampfende Tasse Tee, Cracker und ein großes Stück Käse mit. Die Cracker waren keine feuchten, zusammengeklumpten Krümel, und der Käse war nicht steinhart gefroren. »Ich hab den anderen erzählt, daß du da bist«, sagte Kelly. »Jorgens will, daß du ihm gleich Bericht erstattest. Aber die anderen lassen dich erst mal in Ruhe.« Die Sonne schien; es war warm und windstill. Kelly half Abe dabei, seinen Pullover auszuziehen, der durch das getrocknete Blut ganz steif war. »Mein Gott«, sagte sie, als sie die Wunde an seinem Arm sah. »Gab’s da oben 253
vielleicht ein Massaker?« »Das war …« Abe stockte und versuchte sich an das Martyrium zu erinnern. »Ich habe Krishna gebeten, Wasser heiß zu machen«, sagte Kelly. »Ich wasche dich. Dann reinigen wir die Wunde. Und vor dem Abendessen kannst du noch schlafen. Ich möchte, daß du in meinem Zelt schläfst.« Abe fühlte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen. »Danke«, sagte er heiser. Kelly umklammerte seine Hand. »Du bist unten«, versicherte sie ihm, denn sie spürte seine Ungläubigkeit. »Ruh dich aus.« Beim Abendessen berichtete Abe vom Aufstieg zum Camp vier. Er beschrieb Daniels Sturz, die schlimme Nacht in der Höhle und die Bemühungen von Daniel und Gus, Camp fünf zu erreichen. Abe saß frisch gewaschen und rasiert am Tisch, hatte ein sauberes weißes T-Shirt mit Tequila-Reklame an und war von tiefster Zufriedenheit erfüllt. Sein Arm pochte unter einem Verband, der sich von seiner bronzefarbenen Haut abhob. Kelly hatte die Wunde gereinigt und genäht, und Abe merkte, wie das Percodan, das er gegen die Schmerzen genommen hatte, ihn schläfrig machte. Heute nacht würde er sich wunderbar erholen. Mit würdevoller Höflichkeit servierte Krishna den Bergsteigern Teller, auf denen sich dampfender Reis, Linsen und tibetische Klöße türmten. Krishna achtete darauf, daß jeder mit dem Nötigen ausgestattet war: einem Löffel, einer Flasche Ketchup und Tabascosauce. Dann eilte er wieder an seine Töpfe und bereitete das Essen für die Sherpas vor, die in einer Ecke neben Krishnas Gaskocher saßen, sich aufwärmten und geduldig warteten, bis die Mitglieder des Teams ihre Mahlzeit beendet hatten. 254
Das fröhliche Plappern der Sherpas vermischte sich mit dem Rauschen der Gasflammen und dem Heulen des Windes, der eine lose Schnur gegen das Zelt peitschte. Die Bergsteiger reagierten auf Abes Bericht so, als hätte Daniel gerade einen Drachen bezwungen und damit die Gefahr für das Tal gebannt. Sie waren aufgeregt und dankbar und freuten sich auf seine Rückkehr. Selbst Jorgens und Thomas waren erfreut. Der Gipfel war nun in greifbarer Nähe. Der lange Weg war plötzlich viel kürzer geworden. Sie konnten kaum noch scheitern. »Diesmal wird alles anders«, sagte Stump. »Ich hab den Fehler in den Funkgeräten gefunden. Diesmal können wir uns miteinander verständigen.« »Diesmal sind wir ausgeruht«, fügte Robby hinzu. »Dann sind wir uns also einig«, sagte Jorgens. »Wir packen’s. In drei Tagen steigen wir wieder rauf und bringen die Sache zu Ende.« Sie waren schon seit einigen Tagen unten, manche seit über einer Woche. Man sah ihnen die Ruhepause an. Ihre ausgemergelten Gesichter waren wieder runder geworden. Die starren, abwesenden Blicke, die knochigen Grimassen, selbst die ausgefransten Bärte waren verschwunden. Der bläuliche Hautton war einer gesünderen Farbe gewichen. »Drei Tage«, bekräftigte Thomas. »Und dann auf zum Gipfel«, verkündete jemand. »Inzwischen«, sagte eine andere Stimme, »habe ich für Sie eine Überraschung.« Die Stimme gehörte Li, der sich bis zum Hals in Ultimate-Summit-Kleidung eingepackt hatte. Er stand von seinem Stuhl am Ende des Holztisches auf, nahm die Kapuze des kirschroten Parkas ab und lächelte die Bergsteiger an. Doch das Licht der Kerosinlampen betonte die hohlen Wangen in seinem kantigen Gesicht, und es war schwer zu erkennen, ob er 255
fröhlich war oder Schmerzen hatte. Sein Parka und die GoreTex-Hose waren so sauber wie eine Ausgehuniform und waren anscheinend bisher kaum den Elementen ausgesetzt gewesen, für die sie eigentlich gedacht waren. »Guten Abend«, sagte er, förmlich wie ein Professor. Seine Augen schimmerten wie die eines Verhungernden, und sein vereinsamter Gesichtsausdruck war beinahe obszön. Abe hatte ihn schon völlig vergessen. »Morgen, meine Freunde und Gäste, für Sie ist die Besichtigung des Shangri-La«, sagte er. Abe war entsetzt, wie sehr sich Lis Akzent in den letzten neun Wochen verstärkt hatte. Der Satzbau war deutlich schlechter geworden. Abe wußte, daß das an der Höhe und dem unfreiwilligen Einsiedlerrum lag. Mittlerweile zeigte hier jeder Verfallserscheinungen. Li fuhr mit theatralischem Tonfall fort. »Das echte Shangri-La natürlich.« »Das Kloster Rongbuk«, platzte es aus Carlos heraus. »Ja, Mr. Crowell.« Li strahlte. »Vor sechzig Jahren schrieb Mr. James Hilton sein Buch. Er stützte sich auf Berichte der ersten britischen Expedition zum Qomolangma.« Qomolangma – die chinesische Verfälschung des tibetischen Wortes Chomolungma. Mount Everest. »Er schreibt über einen Paß: Shangri-La. Wir haben einen Paß: Changri La. Er beschreibt Utopie in einem sehr hochgelegenen chinesischen Kloster. Wir haben solchen Ort. Kloster Rongbuk. Aber jetzt, nicht Utopie.« Bei der Erwähnung des Klosters erinnerte Abe sich wieder an seinen epileptischen Mönch und fragte sich, wo der arme Junge abgeblieben war. Er nahm sich vor, Nima zu fragen. Er wußte den Namen des Jungen nicht mehr, und das erschreckte ihn. Aber an Jamies Gesicht konnte er sich ja auch nicht mehr erinnern, und damit war der 256
Gedächtnisverlust irgendwie ausgeglichen. »Können wir da wirklich hin?« fragte Carlos. Der Gedanke an den Besuch des Klosters löste ein wenig Unbehagen aus. »Es ist mir ein Vergnügen«, sagte Li. »Ich erlaube das für Sie.« »Dürfen wir fotografieren?« fragte Stump. »Natürlich«, erwiderte Li. »Fotografieren, filmen, alles. Sie werden alte tibetische Archäologie sehen. Und noch etwas anderes. Ich habe erfahren, daß die Tibeter morgen eine altertümliche Zeremonie durchführen. Ganz besondere Zeremonie. Sehr finster. Sehr lehrreich.« Ein Zirkusdirektor hätte es nicht besser machen können. Die Bergsteiger waren fasziniert. Am anderen Ende des Tisches flüsterte Carlos das Wort Puja. Er war überzeugt, daß es noch eine Segnung geben würde. Li lächelte angesichts der allgemeinen Begeisterung. Als Abe mit Kelly zu deren Zelt zurückkehrte, blickte er zum gespenstisch-weißen Everest-Massiv hinauf. Irgendwo da oben waren Daniel und Gus; wahrscheinlich hatten sie sich für die Nacht in die in achttausend Metern liegende Höhle verkrochen. Der Gedanke hatte etwas Mythisches – ein Mann und eine Frau im Berg, deren Licht sich mit dem Leuchten der Sterne vermischt. »Ich hoffe, den beiden da oben geht’s gut«, sagte Abe leise zu Kelly, bevor sie einschliefen. Er hatte seinen unverletzten Arm um ihre Schultern gelegt, und sie hatte sich eng an ihn geschmiegt; jeder lag in seinem eigenen Schlafsack. Mit Keuschheit hatte diese Trennung jedoch nicht viel zu tun. Abe würde bald große Schmerzen haben. Die örtliche Betäubung ließ nach, und sein Arm fing an zu pochen. »Ich wünschte, sie wären mit mir runtergekommen«, sagte Abe. 257
»Schlaf jetzt, Abe.« Kelly drehte ihm den Rücken zu. Sie schliefen ein. Früh am nächsten Morgen machten sich die Bergsteiger auf und gingen in Ausflugsstimmung die Straße entlang, die zum Pang La und dem Rest der Welt führte. Sie genossen die sauerstoffreiche Luft, kamen um zehn Uhr beim Kloster an und stiegen eine breite, steinerne Treppe hinauf, die sich um den Berghang schlängelte. Die Sonne stand groß und weiß am Himmel, und der Himmel war so tiefblau, daß er an den schwarzen Weltraum erinnerte. Abe schwitzte, doch der Schweiß verdunstete sofort, wenn er mit der trockenen Luft in Berührung kam. Sie hatten Steine bei sich, mit denen sie streunende Hunde verjagen wollten, denn in der Nähe waren tibetische Siedlungen. Als sie die Treppe hinaufstiegen, legte sich Staub auf ihre mit Sonnencreme beschmierten Gesichter. Einige hatten sich die Nase mit leuchtendgrüner und die Lippen mit blauer Sonnencreme angemalt, und auch das trug zur fröhlichen Stimmung bei. Abe blieb beim schlichten Weiß. Nach einer Stunde waren die Gesichter durch den Staub überwiegend braun. Die Treppe führte um einen Felsvorsprung herum, und plötzlich lag der Dzong vor ihnen: die Festung, die diese Region – oder was davon übrig war – einmal beschützt hatte. Die Überreste des Dzong waren terrassenförmig und weiträumig über den Hang verstreut. Eine Mauer schlängelte sich hinauf wie eine Miniaturausgabe der Chinesischen Mauer. Die Gebäude, die noch standen, waren Ruinen. Keines der Häuser hatte ein Dach. Der Wind pfiff durch die Ritzen und fegte über verfallene Mauern hinweg. 258
Die Bergsteiger zückten schnell ihre Fotoapparate. Schon einmal, bei einem Ausflug zu peruanischen InkaRuinen, hatte Abe beobachtet, wie unwiderstehlich solch schaurige Stätten für westliche Touristen waren. Verfall und Apokalypse waren hervorragende Motive für den heimischen Diaabend, und dieser Dzong hatte von beidem reichlich zu bieten. Mit kindlicher Neugier schwärmten die Bergsteiger aus. Sie kletterten in verlassene Räume und stellten sich die Menschen vor, die hier einmal gegessen, gebetet und geschlafen hatten. Ein enges Labyrinth führte zu einem Gang mit Zellen, deren Türen so schmal waren, daß kaum ein Brustkorb hindurchpaßte. Sie nahmen an, daß dies Meditationskammern gewesen waren, in denen die einsamen Mönche monate- oder jahrelang gelebt hatten. Einige der Wände, die zum Hang zeigten, waren mit verblaßten Bildern von Buddha oder von glotzäugigen Dämonen verziert. Auf den Wänden der Talseite sah man zum Teil Spuren von orangeroter und weißer Farbe, die deutlich von der dunklen Erde abstach. Hier und da fanden sie Höhlen im Berg. Dort lagen stapelweise Tontafeln mit eingeprägten buddhistischen Figuren. In manchen Höhlen befanden sich Tausende dieser kleinen Tafeln. Abe kniete sich vor einen der Stapel. Die Tafeln waren aus wertlosem Ton, doch im hellen Sonnenlicht funkelten sie wie spanische Dublonen. »Souvenirs«, sagte Li. »Ja, Doktor. Nur zu. Nehmen Sie. Das sind keine wertvollen Antiquitäten. Es ist gesetzlich erlaubt.« »Aber sie haben doch eine religiöse Bedeutung, oder?« Abe zögerte, obwohl in seinem kleinen Rucksack viel Platz war. Er wollte ein paar dieser Tafeln mit nach Hause nehmen. Wie sonst konnte er beweisen, daß etwas so 259
Simples so schön sein konnte? »Überbleibsel einer toten Religion«, sagte Li. »Außerdem würden sie hier zu Staub zerfallen.« Das Kloster und die Festung waren offenbar seit Jahrhunderten nicht mehr bewohnt. Abe dachte laut darüber nach, was für eine Katastrophe diese Zivilisation wohl heimgesucht hatte. »Ich frage mich, warum das alles untergegangen ist«, sagte er. »Dürre? Eine Hungersnot? Oder eine Seuche?« Sofort kam er sich vor wie ein Tourist an den überwucherten Pyramiden von Yucatan. Li antwortete nicht sofort. »Erdbeben«, sagte er schließlich mit einer Ernsthaftigkeit, die beinahe düster klang. »Hier?« Abe war überrascht. Die Landschaft sah so unbeweglich aus, so starr und massiv. »O ja«, erläuterte Li. »Himalaja ist ein sehr junges Gebirge. Der indische Subkontinent drückt ganze Zeit gegen chinesische Landmasse. Hier gibt es viele Erdbeben.« Abe wandte ein, daß das schon lange her sein mußte. Wieder warf Li ihm einen seltsamen Blick zu. »Sehr lange her«, sagte er. »So sieht es auch aus. Das muß Jahrhunderte her sein.« »Ja«, bestätigte Li. Der nachmittägliche Wind setzte pünktlich um zwölf Uhr ein, fünfzehn Uhr Pekinger Zeit. Die Bergsteiger, die vom Wind zerzaust wurden, versammelten sich eilig und stiegen weiter hinauf. Abe bildete mit Carlos das Ende der Grupe, die unterwegs auseinanderfiel. Carlos’ Knöchelverstauchung hatte sich verschlimmert, und er benutzte zwei Skistöcke 260
als Krücken. Die Wanderung war schmerzhaft für ihn, aber er war entschlossen, sie durchzustehen. Abe erzählte ihm, was er gerade über das Kloster erfahren hatte. »Erdbeben?« schnaubte Carlos. »Das hat der Verbindungsoffzier gesagt?« Er blieb stehen und drehte sich um. Abe sah sein eigenes Spiegelbild in Carlos’ Sonnenbrille. »Schau dich doch mal um«, sagte Carlos. Er zeigte auf ein Haus, dann auf einen Teil der Mauer und auf weitere Gebäude. »Siehst du die Löcher? Hast du schon mal gehört, daß ein Erdbeben runde Löcher in einem Haus hinterläßt?« Das hatte Abe noch nicht gehört. »Artillerie«, sagte Carlos. »Chinesische Artillerieübungen.« Dann ging er weiter. Sie erreichten die andere Seite des Berges, und eine ganze Reihe von versteckten Tälern tat sich vor ihnen in der Ferne auf. In den ebenen, weitläufigen Talsohlen sah man die Umrisse von Feldern. Abe konnte gerade noch die winzigen Menschen erkennen, die in einer Reihe standen und im rhythmischen Gleichklang arbeiteten. Der Wind wehte heftig. Die Arbeiter wogten hin und her wie eine langsame Meereswelle. Plötzlich roch es nach Kiefern. Der Duft war sehr kräftig, doch dann verschwand er wieder. Es war kein Baum zu sehen. Abe hatte auf der ganzen tibetischen Hochebene noch keinen einzigen Baum gesehen. Und doch war die Luft plötzlich, für einen kurzen Moment, vom süßen, intensiven Geruch nach Kiefernholz erfüllt gewesen. Es war, als würde man in einer Wüste einen Regenbogen entdecken. Kurz darauf kam der kräftige Geruch wieder und verflog dann. »Riechst du das auch?« Carlos atmete den Duft ein. 261
»Kiefer«, sagte Abe. »Das ist Kiefernholz.« Sie gingen den spiralförmigen Weg weiter hinauf. Nach einer Viertelstunde erreichten sie einen Grat, wo die anderen auf sie warteten, Wasser tranken und fotografierten. Sie standen neben einem Haufen ManiSteinen. Es waren mehrere hundert runde Steine mit eingemeißelten Gebeten in wunderschöner tibetischer Schrift. Oben auf dem Haufen lag ein Tierschädel, ebenfalls mit eingeritzten und aufgemalten Gebeten. Die Steine waren anscheinend wahllos aufeinandergestapelt worden, doch den Schädel hatte man sorgfältig plaziert. Dieses Werk zeugte von einem Volk, das eng mit seiner Heimat verbunden gewesen war. Robby suchte sich günstiges Licht und verschoß noch rasch einen Film. »Folklore«, sagte Li. »Das erinnert an primitive Höhlenmalerei.« Trotz seines Gequassels schien der chinesische Offizier nervös zu werden, als würden sie sich auf gefährlichem Terrain bewegen. »Riecht ihr auch diesen Kieferngeruch?« fragte Carlos. Stump zeigte auf den Gipfel des Hügels. Jetzt sah Abe die weißen Rauchfahnen, und er roch den Duft wieder. Der Rauch wehte von einem verfallenen Gebäude herüber, das ganz oben auf dem Gipfel stand. »Wir kommen zur rechten Zeit«, sagte Li. Der Weg führte zu einer Lücke in der Wand des Gebäudes. Direkt unterhalb dieser Lücke fiel der Hang steil ab. Aus der Spalte fielen lose Steine herab – Überbleibsel der alten Mauer. Die Bergsteiger hielten sich mit den Händen fest und kletterten vorsichtig durch den Spalt. Abe war völlig unvorbereitet auf das, was hinter dieser 262
Mauer lag. »O mein Gott«, flüsterte Jorgens. Eine verlorene Welt lag vor ihnen. Sie waren von einem Wald aus Gebetsfahnen umgeben. Ein dichtes, atemberaubendes Meer von roten, gelben, blauen und weißen Baumwollquadraten überflutete sie. Alle Fahnen waren mit tibetischen Gebeten bedruckt. Sie flatterten an dünnen Weidenzweigen, von denen jeder mit Dutzenden anderen verbunden war. Weitere solcher Bündel steckten in Mani-Steinhaufen. Manche waren neu, andere verwittert und von der Sonne ausgebleicht. Das Gipfelgebäude maß in der Länge kaum fünfundzwanzig Meter und in der Breite noch weniger. Doch keine Kathedrale der Welt hätte mit diesem heiligen Ort mithalten können, der als Ruine unter freiem Himmel lag. Die Bergsteiger blieben eine Weile regungslos stehen und lauschten dem unendlichen Rauschen der Gebetsfahnen. Kelly hatte den Mund weit aufgerissen. Robby nahm seine Baseballmütze ab, und auf seiner Stirn machte sich eine Unmenge von Falten breit. Die Ruine war lebendig geworden. Dann drehte der Wind, und der Kieferngeruch kam wieder. Diesmal wurden sie völlig von dem weißen Rauch eingehüllt. Doch Abe nahm noch einen anderen Geruch wahr; unangenehm und künstlich-süß. Es dauerte einen Moment, bis er ihn näher bestimmen konnte. Dann fiel es ihm ein. Es roch nach Tod. Mit dem Rauch schwebten auch gedämpfte Stimmen vom anderen Ende der Ruine herüber. »Hier entlang«, sagte Li mit angeknackstem 263
Selbstvertrauen. »Aber wir müssen zusammenbleiben. Es gibt Gefahren. Es gibt schlimme Geschichten.« Abe bahnte sich einen Weg durch den Rauch. Das Gebäude war nicht sehr groß, doch sie mußten sich durch so viele Gebetsfahnen kämpfen und an so vielen ManiSteinen vorbeigehen, daß die Ruine ein riesiges Labyrinth zu sein schien. Abe sah einen weiteren gehörnten Tierschädel, der mit aufgemalten und eingeschnitzten Schriftzeichen verziert war. Dann folgte noch ein Schädel. Die Stimmen wurden lauter. An der Rückseite des alten Gebäudes führte eine eingestürzte Türöffnung hinaus auf einen breiten, ebenen Felsvorsprung. Zu beiden Seiten des Vorsprungs fiel der Hügel steil ab, dreihundert Meter tief. In der Ferne stieß der Everest seine nachmittäglichen Wolken aus. Abe trat durch die Tür. Dann blieb er stehen und erstarrte, denn sie waren mitten in eine Trauerfeier hineingeraten. Zunächst war Abe sich dessen gar nicht sicher. Er hatte keine Ahnung, was hier vorging. Drei tibetische Männer hatten eine tote Frau entblößt. Einer der Männer hielt ein Messer in der Hand. Die Kleidung der Frau lag auf einem Haufen. Der Anblick schlug direkt in Abes Gehirn ein und wurde nicht durch Gedanken oder Worte gefiltert. Von hinten legte sich eine große Hand auf seine Schulter: Jemand versuchte durch die Türöffnung zu steigen, und Abe hörte das laute Keuchen dieser Person. An einem Ende des Felsvorsprungs rauchte ein Feuer aus Kiefernholz. Links neben Abe, an der Dzong-Wand, saßen die Menschen, die er für die Angehörigen der Frau hielt: ungefähr acht Personen unterschiedlichen Alters. Für einen Moment ließ Abe sich von dem dichten weißen Rauch täuschen, und er glaubte, sein Mönch würde hier 264
auf den Tierfellen sitzen und seine monotonen Gebete in den blauen Himmel hineinbrummen. Der Rauch löste sich auf. Abes Mönch verschwand. Im ersten Moment sahen die Angehörigen die Bergsteiger nicht und murmelten weiterhin ihre Gebete. Dann wurde es still. Sie erstarrten, als wären sie in einen Hinterhalt geraten. Auch die Bergsteiger waren wie gelähmt. Die Tibeter starrten sie eine Minute lang an. Offensichtlich waren sie nicht willkommen. Doch Abe und die anderen waren zu verblüfft, um auf die feindseligen Blicke zu reagieren. »Warum geht’s denn hier nicht weiter?« nörgelte Thomas und zwängte sich durch den Eingang. Als er die Leiche sah, verstummte auch er. »Wir stören die Totenruhe«, sagte Carlos bestimmt. »Wir haben hier nichts zu suchen.« Doch ehe sie sich zurückziehen konnten, drängelte Li sich nach vorn. »Totenruhe?« höhnte er, und die Angst war aus seiner Stimme verschwunden. Er schien zu triumphieren und sich über die erschrockene Reaktion der Bergsteiger auf diesen sonderbaren Anblick zu freuen. »Wir handeln gesetzmäßig«, sagte Li mit wachsendem Selbstvertrauen. »Dies ist keine Störung der Totenruhe. Sie dürfen fotografieren. Ja, es ist gesetzmäßig.« Die Tibeter redeten nicht miteinander. Sie musterten die Bergsteiger und besonderes deren chinesischen Fremdenführer. Dann, plötzlich, fingen die Tibeter wieder an zu beten – genauso plötzlich, wie sie aufgehört hatten. Sie summten Mantras ohne Unterlaß, beinahe ohne Atempause. Der Kiefernrauch wechselte die Richtung und zog ins Tal hinab. »Kommen Sie.« Li führte die Gruppe mit großer Bestimmtheit zur Wand. Es sah fast so aus, als wollte er 265
sie disziplinieren. »Bitte, setzen Sie sich«, sagte er und zeigte auf den Boden. Abe folgte gedankenlos der Aufforderung. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Kelly, als sie sich an die Wand hockte. Stump antwortete flüsternd: »Ich weiß nicht.« Abe empfand die gleiche Angst und Hilflosigkeit. Das Messer, die Leiche, der Wind und die Gebete: Auch er fragte sich, was die Tibeter vorhatten. »Ich habe mal davon gehört«, sagte Carlos mit leiser Stimme. »Daniel hat es mir erzählt. Er hat Fotos davon. Sie nennen es ›Himmelsbestattung‹.« Robby krümmte sich entsetzt. »Mann, schmeißen sie sie den Berg runter, oder was? Was ist denn hier los? Wo bin ich hier?« Bevor Carlos antworten konnte und bevor Robby weggehen konnte, beugte sich der Mann mit dem Messer vor und machte einen langen Schnitt. Er setzte die Klinge rechts vom leicht behaarten Schambein der Frau an und führte sie schnell und rigoros bis zur Innenseite des Kniegelenks. Kelly stöhnte laut auf. Abe blinzelte durch den Rauch. Er versuchte jedoch, nicht zurückzuzucken, und sagte sich, dies sei ein etwas derber Anatomiekurs, mehr nicht. Sie waren Touristen, und dies war Kultur. Er holte seine Kamera heraus. Irgendwie fiel es ihm leichter, das Schauspiel durch den Sucher zu beobachten. Jetzt, da die Tibeter einmal angefangen hatten, beeilten sie sich. Sie drehten die Leiche auf die Seite. Der Schlächter machte noch einmal einen Schnitt, vom Becken aus abwärts, und der Quadrizeps plumpste auf den kalten 266
Felsboden. Die Messer waren scharf, und die Männer hatten diese Prozedur offensichtlich schon sehr oft mit Menschen durchgeführt. Es dauerte nur wenige Minuten, bis von den Beinen der Frau nur noch nackte weiße Knochen übrig waren. Abe überwand seine Abscheu und staunte, wie schnell man das Fleisch von einem Körper entfernen konnte. »Sie werfen die Armen und die toten Kinder in die Flüsse«, sagte Li. Er sprach mit der lauten Stimme eines Fremdenführers. »Die Mönche werden verbrannt oder in großen hohlen Baumstämmen beerdigt. Aber die gewöhnlichen Tibeter machen es seit vielen, vielen Jahrhunderten so: Sie schneiden ihre Verwandten auf wie ein Hühnchen. Sie verfüttern sich gegenseitig an die Tiere.« Riesige blau-weiße Geier, die über dem Tal gekreist hatten, kamen näher und ließen sich nieder. Erst einer, dann zwei, dann weitere; sie landeten mit einem ungeschickten Sprung. Die Vögel versammelten sich wie eine groteske Horde Schulkinder im Halbkreis in einer Ecke des Felsvorsprungs. Während sie mit schauriger Gereiztheit warteten, hackten sie aufeinander ein und breiteten ihre fast zwei Meter langen Flügel aus. Im Gegensatz zu den tibetischen Schlächtern hatten die Vögel auf Abe eine beunruhigende Wirkung. Die Geier sahen aus wie eine Parodie des Expeditionsteams, das an der Mauer saß. Doch obwohl die Bergsteiger Schuldgefühle hatten, fotografierten sie munter weiter. Robby knipste mit einer kleinen schwarzen Samurai drauflos. Das motorgetriebene Teleobjektiv surrte rasend schnell vor und zurück. Abes 267
Kamera war alt und klobig, so daß er nur langsam fotografieren konnte. Es sah gekünstelt und beinahe widerwillig aus. »Gehen Sie ruhig näher ran«, ermunterte ihn Li. Doch Abe wollte nicht. Ein Tibeter streifte das Fleisch von den Armen der Frau ab. Die anderen beiden kümmerten sich um das bereits abgetrennte Fleisch. Sie schnitten es in Stücke und warfen es den Geiern hin. Als die Vögel miteinander um das Fleisch kämpften, raschelten ihre großen, trockenen Federn. Li triumphierte. »Nun sehen Sie«, sagte er, »daß wir am Ende der Welt sind. Und es sind Barbaren.«
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8. KAPITEL Es war schon beinahe Juni, und der Sommer erlöste die Landschaft aus ihrer Erstarrung. Die Gletschermoräne taute jeden Morgen ein Stück weiter auf, und die Grasinseln im Basislager wurden matschig. Abe spürte Schlamm unter seinen Schuhen. Das war ein Zeichen. Die Erde ging einen Kompromiß ein. Die einzelnen Elemente – der Berg, der Wind, die Kälte, das Eis, die Sonne – schlossen Frieden und vermischten sich miteinander. Es war eine Zeit der Veränderungen, und für die UltimateSummit-Expedition kamen die Veränderungen sehr schnell. Zunächst kam Gus ins Basislager und verbreitete die Nachricht. Sie traf das Team zur Mittagszeit im olivgrünen Küchenzelt an. Alle waren da; einige waren mit der Reparatur der widerspenstigen Walkie-Talkies beschäftigt, aber die meisten erzählten sich Lügengeschichten, knabberten Popcorn und ruhten sich aus. Aus dem Nichts stürmte Gus herein, mit ihrem Rucksack auf dem Rücken. Der Beckengurt war noch zugeschnallt. Sie hatten kaum Zeit, die zerzauste Erscheinung zu identifizieren, ehe sie ihre Nachricht mitteilte. »Er hat’s geschafft«, krächzte sie. Ihre Stimme, die von Bakterien und Bronchitis zerfressen war, ging allen durch Mark und Bein. Ihre Worte klangen eher tierisch als menschlich, und Abe war nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hatte. Ihr rotes Haar war mit einer Nylonschnur zusammengebunden, und darüber trug sie eine dreckige Mütze. Unter dem verschmierten Zinkoxid auf Wangen und Nase schimmerten alte Essensreste und noch ältere Schrammen durch. Doch nicht der Schmutz, sondern ihre 269
Wildheit ließ Gus so fremd aussehen. In ihren grünen Augen funkelte beinahe so etwas wie Irrsinn – Abe kannte das von sich selbst –, und sie sah so bedrohlich aus wie ein Berserker, der gerade vom Schlachtfeld kam. Robby war der erste, der sich von ihrem Auftritt erholte. »Setz dich, Gus«, sagte er. Kelly war die nächste. »Gus? Ist alles in Ordnung?« Gus blieb stehen. Sie schwankte hin und her, trunken von der sauerstoffreichen Luft, und starrte die anderen an. »Wo ist Daniel?« fragte Stump in beiläufigem Tonfall. Er hatte eine Schraube in der einen Hand, ein Schweißgerät in der anderen und Hobbyelektronik im Sinn. Da er den Defekt gefunden hatte, wollte er die Walkie-Talkies unbedingt bis morgen früh wieder flottmachen. Gus blickte sie alle stumm an. Plötzlich kam Abe auf den Gedanken, daß Daniel gestürzt sein könnte. War er also wirklich zu weit gegangen? Aber das war nur eine Vermutung, und die anderen schienen sich keine Sorgen zu machen. »Wie wär’s mit einem Kräutertee?« sagte Kelly zu Gus. »Der ist klasse. Ohne Zucker und trotzdem süß. Mit echtem Zimt.« Abe verdrehte angesichts dieser Banalität die Augen. Vor ihnen stand eine wilde Frau, die im ganzen Gesicht Rotzfäden hatte – wie ein Pferd, das man zu sehr gehetzt hatte. Dann begriff er, daß Kelly genau diese Banalität beabsichtigt hatte. Hier im Baislager lief alles in einem gemütlichen Rhythmus ab, und bevor die Stimmung zu hektisch wurde, mußten sie sowohl Gus’ als auch ihre eigene Erregung zügeln. Doch Gus hatte keinen Sinn für Ruhe. Sie stellte sich an den Tisch. »Daniel hat den Durchbruch geschafft.« 270
»Ich wußte es.« Alle drehten sich um. Es war die Stimme von Thomas, der ganz bleich geworden war. »Soll das heißen, Corder war allein auf dem Gipfel?« Gus hörte die Feindseligkeit in seinen Worten. Sie ließ ihn zappeln. »Das soll heißen, daß er einen Weg aus dem ›Schießstand‹ heraus gefunden hat. Er hat Camp fünf eingerichtet. Wir sind so gut wie oben.« »Gus, nimm dir bitte einen Stuhl«, sagte Robby. »Setz dich hin, bevor du umfällst, und rede Klartext.« Sie setzte sich hin. Sie redete. Während sie in der Höhle gewesen war, hatte Daniel im Alleingang den ›Schießstand‹ mit dem tödlichen Steinschlag überwunden. Er hatte ein breites, zugeschneites Plateau entdeckt, und zwar unterhalb des sogenannten Gelben Bandes, einer dicken Schicht aus schwefelfarbenem Kalkstein, die den Berg in einer Höhe von 8400 Metern umgab. Er hatte den Weg mit Neun-Millimeter-Seilen abgesteckt und noch einen Tag damit zugebracht, eine Ladung neuseeländisches Material auf das Plateau zu schleppen und das Camp einzurichten. Dann war er ins ABC-Lager abgestiegen. In Abes Kopf schwirrte ein Dutzend Fragen herum. Bevor er auch nur eine davon stellen konnte, hatten die anderen Gus bereits ins Kreuzverhör genommen. »Und?« fragte Thomas. »War er allein auf dem Gipfel?« Gus ignorierte ihn. »Camp fünf ist nicht perfekt«, sagte Gus durch den Dampf ihres Tees hindurch, »aber das muß es auch nicht sein. Es ist windig da oben, aber es gibt keinen Steinschlag. Daniel meinte, ich soll euch sagen: Von Camp fünf zum Gipfel ist es ein Spaziergang.« »Spaziergang?« schnaubte Thomas. JayJay sah ihn finster an. Thomas starrte zurück. Auf der Nordseite 271
bildete der harte gelbe Fels Platten, die sich in einem Winkel von dreißig Grad neigten und einander überlappten. Das Gelbe Band war nicht besonders schwierig oder gefährlich, doch ein Spaziergang würde es nicht werden. Wahrscheinlich hatte Thomas recht. Sie waren noch nicht am Ziel. Gus ignorierte Thomas’ Fatalismus einfach. Zum einen gab es keinen Grund dafür, und zum anderen mochte sie Thomas’ zynischen Ton nicht. »Daniel sagt, Camp fünf ist nahe dran. Man kann den Gipfel sehen.« »Ach ja? Wenn ich jetzt rausgehe, kann ich den Gipfel auch von hier aus sehen«, sagte Thomas. »Das heißt noch nicht, daß wir nahe dran sind.« Gus hatte die Pointe schon parat. »Ja, aber du kannst das Vermessungsstativ nicht sehen. Nicht von hier unten.« Es dauerte eine Weile, bis sie die Bedeutung dieses Satzes begriffen hatten. Dann hellte sich Robbys Blick auf. »Daniel hat das Stativ gesehen?« flüsterte er. »Phantastisch«, sagte Stump. Thomas stand da wie ein begossener Pudel. Er war sprachlos und zwinkerte heftig. Die Nachricht wirkte auf das Team so elektrisierend wie ein Stromschlag. 1972 war eine chinesische Expedition über die leichtere Nordsattel-Route aufgestiegen und hatte direkt auf dem Gipfel ein anderthalb Meter hohes Vermessungsstativ aufgestellt. Seitdem war dieses Stativ ein ganz selbstverständliches Merkmal des Gipfels. »Ich habe ihn noch nie so selbstsicher erlebt«, fügte Gus hinzu. Und Daniels Selbstvertrauen spornte das Team noch mehr an als die anderen Nachrichten – das Camp, das Gelbe Band und das Stativ. Sie waren tatsächlich nahe dran. »Und Corder? Kommt er bald?« fragte Jorgens. Sein 272
Bart war noch grauer geworden, seine Bewegungen langsamer. Er sah älter und verbraucht aus. Doch die guten Nachrichten machten ihn wieder munter. Es waren sehr gute Nachrichten, gleichbedeutend mit dem Sieg. »Ich hab ihn im ABC-Camp deponiert«, sagte Gus. »Für Ausflüge zum Basislager ist er gerade nicht in Form.« Das verstanden alle. Sie hatten gesehen, wie er im Tal durch die Gegend gehumpelt war, und sie hatten das Knacken seiner Knochen gehört. Für ihn war ein Marsch durch flaches Gelände anstrengender als der Aufstieg an einer steilen Wand. Beim Klettern konnte er wenigstens die Arme benutzen, um die zerstörten Kniescheiben und Menisken zu kompensieren. »Ach, noch etwas«, sagte Gus. Es wurde still. »Er hat versprochen, daß er auf uns wartet.« Sie sagte es, um alle daran zu erinnern, daß Daniel die letzten dreihundert Meter bis zum Gipfel genausogut allein hätte bewältigen können. Statt dessen hatte er sich abgeseilt, um die Kore-Wand in einem klassischen Endspurt gemeinsam mit seinen Kameraden zu bezwingen. Abe wußte, daß es für Daniel riskant war, eine beinahe sichere Solobesteigung abzubrechen. Aber offenbar erschien es ihm riskanter, den Rest seines Lebens als einsamer Wolf verbringen zu müssen. Auch jetzt, einige Tage danach, sah man Gus die Erleichterung über seine Entscheidung noch an. Sie glaubte wirklich, daß sie ihn retten konnte, dachte Abe. Bravo, Gus. Die enthusiastischen Bergsteiger strömten aus dem Küchenzelt hinaus in die Sonne und ließen Gus mit ihrer Teetasse in der Dunkelheit zurück. Abe blieb noch bei ihr. Es gab noch ein paar offene Fragen. »Wie geht’s ihm?« erkundigte sich Abe. Gus veränderte sich. Zumindest sah sie ihm jetzt in die Augen. 273
»Er ist fix und fertig«, sagte sie. »Er hat Schmerzen. Seine Hände sehen aus wie Hackfleisch. Mit den Rippen stimmt was nicht. Wahrscheinlich gebrochen. Und er ist zu lange oben geblieben. Du weißt schon, die starren Augen und so.« Ihr Blick wurde strenger. »Aber der Alptraum ist bald vorbei. Wir werden den verdammten Berg bezwingen, und dann ist Daniel frei.« Sie sprach es aus wie ein Glaubensbekenntnis. Sie nickte gedankenverloren, und Abe nickte auch. Wer den Berg beherrschte, der beherrschte auch die Obsessionen, die damit zusammenhingen. Niemand sehnte sich mehr nach dieser Fähigkeit als Daniel. »Paßt er auf seine Hände auf?« Mediziner mußten solche Fragen stellen. »Natürlich.« »Was ist mit dir, was macht die Lunge?« Sie hatte sich im pakistanischen Karakoram-Gebirge einmal eine beidseitige Lungenentzündung geholt, also stellte Abe wieder eine typische Ärztefrage. Doch das war nur ein Ausweichmanöver. Er wollte herausfinden, ob sich an ihrer Abneigung gegen ihn etwas ändern ließ. Sie sah ihn an und faßte einen Entschluß. »Ich soll dir etwas von Daniel ausrichten«, sagte sie. Abe machte sich auf das Schlimmste gefaßt. »Er will mit dir auf den Gipfel, Abe.« Abe war sprachlos. Dann kam ihm der Gedanke, daß Gus sich vielleicht verletzt hatte und deshalb nicht mehr klettern konnte. Es wäre tpyisch für sie, wenn sie eine Verletzung verschwiegen hätte. Das würde erklären, warum Daniel einen neuen Partner brauchte. »Bist du verletzt?« fragte Abe. 274
Gus reagierte sarkastisch. »Verletzt?« erwiderte sie. »Was glaubst du denn?« Jetzt begriff Abe das Mißverständnis. Sie war nicht körperlich verletzt, sondern seelisch. »Nein«, sagte er. »Ich meinte, ob du krank oder verwundet bist.« Gus winkte ab. »Was soll das Ganze dann?« Abe fühlte sich nicht verpflichtet, sie zu bedauern, aber Daniel hatte sie betrogen. Er hatte die erschöpfte Frau fünfzehn Kilometer allein marschieren lassen, um die Nachricht dem Mann zu überbringen, der sie ersetzen sollte. »Er will, daß du bei ihm bist, wenn er den Gipfel erreicht«, sagte sie. »Ihr beide zusammen – am gleichen Tag, am selben Seil.« Abe fühlte sich geschmeichelt. Das hatte er nicht erwartet: den Gipfel zu erreichen und die Vergangenheit ein für allemal zu begraben. Aber konnten sie das wirklich? Vergebung konnte man sich nicht erarbeiten, sie wurde einem gewährt. Man erlangte sie nicht dadurch, daß man einen Berg bestieg. Und so traf Abe seine Entscheidung. »Ich gebe ihm meine Antwort, wenn ich ihn sehe«, sagte Abe. »Gib mir deine Antwort«, verlangte Gus. Sie hatte ein Recht darauf. »Ich habe schon einen Partner.« Jetzt war Gus diejenige, die überrascht war. Sie starrte ihn an, als sei auch er zu lange zu hoch oben gewesen. »Kelly?« fragte sie. Doch ihre eigentliche Verachtung galt Abe. »Die willst du dir doch wohl nicht ans Bein binden. Daniel ist deine große Chance.« »Ich klettere mit Kelly«, erwiderte Abe achselzuckend. 275
Gus runzelte die Stirn und versuchte die unvorhergesehene Wende zu verarbeiten. Seltsam, dachte Abe. Bisher war ihm gar nicht aufgefallen, daß Gus’ rotes Haar jetzt beinahe goldfarben war. Der steinerne Koloß veränderte sie alle. Wenn man Gus von hinten sah, konnte man sie fast mit Kelly verwechseln. »Du machst einen Fehler«, sagte Gus. Aber sie versuchte gar nicht ernsthaft, ihn zu überzeugen. Abe stellte fest, daß sie trotz ihrer muskulösen Schroffheit wunderbar zart war. Der Hoffnungsschimmer in ihren Augen entging ihm ebensowenig wie das Mißtrauen, das darauf folgte. »Ich verstehe schon«, sagte sie zu sich selbst. »Gus?« Ihre grünen Augen funkelten im Sonnenlicht. Sie war böse, und zwar wieder einmal auf Abe. »Sieh mal«, sagte sie, »ich weiß nicht, was mit euch beiden los ist. Aber wenn er auf diese Weise den Bann brechen kann, okay. Ich verzichte gern auf den Gipfel, wenn er endlich über Diana hinwegkommt. Also spiel nicht den edlen Ritter.« »Das hat nichts mit Ritterlichkeit zu tun.« »Daniel braucht das. Geht rauf und begrabt euer Gespenst. Gemeinsam. Bringt es hinter euch.« »Gus, du verstehst mich nicht. Ich bin nicht hier, um Exorzismus zu praktizieren. Ich lasse Kelly nicht im Stich. Und ich sage dir, Daniel wird dich auch nicht im Stich lassen. Er hat überreagiert, das ist alles.« »Leck mich am Arsch«, sagte sie. »Wenn du bei Kelly den Beschützer spielen willst, bitte sehr. Aber nicht bei mir. Ich brauche deine Hilfe nicht. Verstanden?« Abe hatte es plötzlich satt, diese Frau zu beruhigen. Er hatte keine Lust, sich von ihr beschimpfen zu lassen, aber es fiel ihm auch schwer, ihr den Rücken zu kehren. Sie 276
war verzweifelt. Ihm fiel etwas ein, was Kelly gesagt hatte. »Es hat nichts mit Liebe zu tun, Gus.« Ein ganz einfacher Satz. Gus war sprachlos, wie er es erhofft hatte. Jetzt konnten sie beide so tun, als würde der Aufstieg zum Gipfel auf nüchternen Fakten basieren. Abe wollte hinausgehen. »Ach, übrigens …« Ihre Stimme hielt ihn auf. Abe registrierte den veränderten Tonfall. Sie hatte ein medizinisches Problem. »Ja, Gus?« Er atmete durch und verwandelte sich wieder in den Medizinmann. »Wo du gerade da bist … Hast du zufällig einen Schwangerschaftstest dabei?« Die Art, wie sie es sagte, das Timing und die Tatsache, daß sie es überhaupt sagte – alles zusammen war eine gezielte Provokation. Natürlich hatte er keinen Schwangerschaftstest in seiner Expeditionsapotheke. Abe rang nach einer Antwort. »Bist du überfällig?« fragte er schließlich. »Drei, vier Wochen.« Sie zuckte mit den Achseln. Hier oben gerieten sämtliche Zyklen durcheinander. »Was ist mit den anderen Symptomen?« »Du meinst Übelkeit, Appetitlosigkeit und Erschöpfung? Ich glaube, die Symptome hat so ziemlich jeder hier.« Auch damit hatte sie recht. Doch es war ja nicht unmöglich. Abe hakte nach. »Gus, wenn es stimmt, und wenn du das Baby willst …« Sie hob die Hand. »Erstens: Wenn es stimmt, weiß ich nicht, ob ich es will. Und zweitens: Wie dem auch sei, ich will keinen Vortrag hören. Du hast schon genug gesagt.« »Aber Gus …« Es war seine Pflicht, sie vor der 277
Sonneneinstrahlung, der schlechten Ernährung, dem erhöhten Blutdruck und all den Gefahren der Höhenluft zu warnen. Doch er ließ es bleiben. Sie hatte wochenlang Zeit gehabt, darüber nachzudenken. »Weiß Daniel Bescheid?« »Nein. Und von dir wird er’s nicht erfahren.« »Natürlich nicht.« Noch ein Geheimnis, das er bewahren mußte. »Aber meinst du nicht …« »Ich soll’s ihm sagen? Was denn? Daß ich vielleicht ein Kind von ihm erwarte? Weißt du, was er dann machen würde? Wegen diesem ›Vielleicht‹ würde er die Gipfelbesteigung abblasen. Und was ist dann, wenn es nicht stimmt?« »Aber was ist, wenn es stimmt?« Jetzt gab sie ihm seinen weisen Satz zurück. »Du sagst doch, es hat nichts mit Liebe zu tun.« »So hab’ ich das nicht gemeint.« Sie hörte mit dem Geplänkel auf. »So nahe werden wir uns nie wieder sein«, sagte sie. »Wir schaffen das schon.« Doch am Nachmittag vor dem letzten Angriff – am nächsten Morgen wollten sie zum ABC-Camp aufbrechen und den Berg wieder besetzen – traf ein Toyota Landcruiser im Basislager ein, um die Expedition platzen zu lassen. Er donnerte auf sie zu wie ein kleiner Dinosaurier und hinterließ weiße Staubwolken. Zunächst hatte Abe Schwierigkeiten, die Rückkehr des zwanzigsten Jahrhunderts geistig zu verarbeiten. Seit fast einhundert Tagen hatten sie gelebt wie die Ureinwohner dieser fremden, verlorenen Nation namens Tibet. Sie waren zu einer Horde von Kobolden degeneriert, zu häßlichen, entstellten, buckligen Kreaturen des Berges. Alle großen Werke der Musik und der 278
Literatur waren ihnen unverständlich. Statt Proust und Milton widmeten sie sich mittlerweile den Comicheften über Conan, den Barbaren, und die wichtigsten Sprechblasen lasen sie mehrmals. Es konnte einen ganzen Abend dauern, bis sie mit einem Heft fertig waren. Die Bergsteiger versammelten sich, als wäre der Landcruiser ein UFO, und sie beobachteten, wie drei Soldaten der Volksbefreiungsarmee ausstiegen. Die Soldaten waren unglaublich sauber, ihre Haare kurz, ihre Gesichter rasiert, und ihre erbsengrünen Uniformen waren nicht durch Wettereinflüsse oder Steinschlag beschädigt. Keiner von ihnen hinkte. Ihre Gesichter waren nicht von der Sonne gezeichnet. Ihre Gewehre glitzerten im Sonnenlicht. Der älteste von den dreien, ein Offizier, war ungefähr in Abes Alter. Die anderen beiden schienen noch unter zwanzig zu sein, und sie starrten die Bergsteiger unentwegt an. Abe wollte sich einreden, daß das Entsetzen der Soldaten eine gewisse Huldigung oder zumindest Respekt beinhaltete, doch in ihren Augen sah er nur neugierige Verachtung. Li kam in makelloser Kleidung aus seinem Zelt, als sei dieser Besuch keine Überraschung, sondern präzise terminiert. Das Heimweh war aus seinen Augen verschwunden. Er ging mit federnden Schritten. Doch er war nicht auf das vorbereitet, was der Offizier ihm auf Mandarin sagte, und er war noch weniger auf das gefaßt, was er anschließend in einem Bericht las, der ihm ausgehändigt wurde. Li war sichtlich erschüttert, und er las den Bericht noch ein zweites Mal, ehe er dem Offizier viele Fragen stellte. Die Bergsteiger blieben auf Distanz, selbst als Li sie ansprach. »Mister Jorgens«, rief er. 279
»Hey, Lee«, bellte JayJay. »Haben die Typen uns vielleicht Post mitgebracht?« »Wohl kaum«, murmelte Carlos. »Mister Jorgens«, wiederholte Li mit düsterer Stimme. Jorgens löste sich von den anderen und ging zu Li und den Soldaten hinüber. Das Gespräch war einseitig: Es redete nur Li. Die Bergsteiger konnten kein Wort hören, aber sie erkannten instinktiv, daß etwas nicht stimmte. Jorgens beugte sich vor, um die leise gesprochenen Worte zu verstehen. Li wiederholte sie noch einmal. Jorgens zuckte zurück. »Sieht nicht gut aus«, murmelte Stump. Li kehrte Jorgens den Rücken zu und marschierte, mit den Soldaten im Schlepptau, zum Küchenzelt. Jorgens rührte sich nicht. Die Bergsteiger umringten ihn neben dem Landcruiser. »Fünf Tage«, sagte Jorgens. Er sah krank und käsig aus. »Wir haben noch fünf Tage.« Die Bergsteiger sahen sich verwirrt an. Schließlich brachte Robby ein paar Worte heraus. »No comprende, Captain.« »Sie ziehen uns den Stecker raus. In fünf Tagen kommt ein LKW-Konvoi. Wir müssen abreisen.« »Fünf Tage?« jammerte JayJay. »In fünf Tagen schaffen wir’s nicht bis zum Gipfel. Bis dahin haben wir nicht mal die Hochlager erreicht.« Jorgens blinzelte. »Wir können nicht mehr rauf«, hauchte er. »Wir müssen zusammenpacken und uns reisefertig machen. Aus und vorbei.« Die Nachricht wirkte wie ein Keulenschlag. »Aber wir haben eine Genehmigung. Wir haben bezahlt. 280
Wir sind im Recht.« Carlos zog seinen Einwand in die Länge. »Sie haben den Stecker rausgezogen«, sagte Jorgens. »So was hab’ ich ja noch nie gehört …«, setzte Stump an, doch sie waren alle zu verblüfft, um wütend zu werden. Sie hatten Mühe, die Auswirkungen dieser Nachricht zu begreifen. »Fünf Tage?« fragte Thomas. »Selbst wenn wir Yaks hätten, könnten wir unser Material in der Zeit nicht runterholen. Wir verlieren alles, vom ABC-Lager bis Camp fünf.« Jorgens nickte bedächtig. »Ja.« »Aber das können die doch nicht machen.« »Wir haben fünf Tage«, sagte Jorgens. »Dann sollen wir die LKWs beladen und noch am selben Tag verschwinden. Die Soldaten bringen uns zur nepalesischen Grenze.« »Was, zum Teufel, ist denn passiert?« fragte Gus leise, aber zornig. Auch die anderen wurden jetzt langsam wütend. »Ich hab’s doch gesagt«, schimpfte JayJay. »Den Schlitzaugen kann man nicht trauen.« »In Lhasa hat’s Ärger gegeben«, sagte Jorgens. »Ein Aufstand der Tibeter. Sie haben eine chinesische Polizeistation angezündet. Mehrere chinesische Geschäfte wurden zerstört. Die Armee hat das Feuer eröffnet. Das bedeutet Blutvergießen. Sie haben das Kriegsrecht verhängt.« »O Mann, diese Scheiß-Tibeter«, rief JayJay. »Jetzt sind wir am Arsch.« »Angenommen, wir bleiben. Wir klettern rauf«, sagte Gus. »Wenn wir fertig sind, schlagen wir uns zur Grenze durch. Li kann sofort nach Hause gehen.« Die Idee war an 281
den Haaren herbeigezogen. »Das ganze Land steht unter Kriegsrecht«, entgegnete Jorgens. »Sie wollen alle Touristen raus haben.« »Aber wir sind Bergsteiger.« JayJay schlug sich auf die Brust. »Wir sind Bergsteiger.« Robby nahm ihm den Wind aus den Segeln. »Wir sind Touristen, JayJay. Nicht mehr und nicht weniger. Und schrei nicht so laut.« »Li will sich dafür einsetzen, daß wir für die nächste Saison wieder eine Genehmigung kriegen. Sobald das Kriegsrecht außer Kraft ist. Sobald der Berg wieder zugänglich ist«, sagte Jorgens. »Er meint, die Sache sei sehr bedauerlich.« »Also Zuckerbrot und Peitsche«, zischte Gus. Ihr Zorn hätte für das ganze Team ausgereicht. »Wenn wir schön brav sind, dürfen wir wiederkommen. Scheiße.« Doch Stump zog das Angebot in Erwägung. »Es könnte aber funktionieren. Angenommen, wir könnten wirklich schon nächstes Jahr wiederkommen: Sobald wir weg sind, plündern die Yakhirten das Basislager und das ABCCamp. Aber auf den Berg selbst werden sie nicht steigen. Und zumindest ein paar von unseren Camps werden den Monsun überstehen. Dann würde die Vorarbeit wegfallen. Das Material wäre schon vor Ort. Es könnte funktionieren.« »Ja«, sagte Robby. »Das wäre ein klarer Vorteil.« »Zwei, drei Monate«, dachte Carlos laut. »Gar nicht schlecht.« »Ultimate Summit, Teil zwei«, fügte Robby hinzu. »Gefällt mir.« Abe ließ die Seifenblase platzen. »Ohne mich«, sagte er. »Ich kann nächstes Jahr nicht. Im September fängt mein 282
Studium an.« Er wußte nicht genau, warum er ihnen dieses Detail erzählte. Er setzte damit voraus, daß sie ihn wieder mitnehmen wollten, und dabei war er doch schon dieses Mal nur zufällig ins Team gerutscht. Dennoch erinnerte er damit die anderen an die Realität. Sie hatten Freundinnen und Ehefrauen, Kinder und Berufe. Sie mußten Hypotheken abzahlen und anderen Verpflichtungen nachkommen. Aus vielen gemeinsamen Abendessen, Gesprächen, langen Tagen und Nächten wußten sie, daß Thomas im Oktober heiraten wollte und JayJays kleine Tochter eingeschult wurde. Gus plante eine reine Frauenexpedition in den Kaukasus, und Kelly wollte in Boise eine neue Stelle als Lehrerin antreten. Der Traum von einer Fortsetzung der Ultimate-SummitExpedition – mit dem gleichen Team, auf derselben Route, bei perfektem Wetter – war schnell ausgeträumt. Sobald sie den Everest hinter sich ließen, würden jeder sein eigenes Leben führen, das mit dem seiner Kameraden nichts zu tun hatte. Den gemeinsamen Traum konnte man nicht wiederbeleben. Sie suchten noch eine halbe Stunde lang nach anderen Auswegen aus dieser Zwickmühle, doch die Fakten ließen sich einfach nicht ändern. Der Berg hatte gewonnen. Dann sprach Kelly einen letzten, bittersüßen Gedanken aus. »Wenn Daniel doch nur weitergeklettert wäre.« Sie hatte recht. Wenn auch nur ein Bergsteiger den Gipfel erreichte, war das ein Erfolg für die ganze Expedition. Doch es hatte keiner von ihnen geschafft, und ihre Zeit war um. Letztendlich hatte Daniel ihnen mit seiner noblen Geste des Wartens einen Bärendienst erwiesen. »Wir waren so dicht dran«, stellte Thomas fest. »Und die Funkgeräte«, sagte Stump. »Ich hatte sie gerade repariert.« 283
Abe hatte mit dem Rücken zum Everest gestanden. Als er sich umdrehte, um die entgangene Trophäe zu betrachten, fiel der Berg mit grellem, weißem Licht über ihn her. Abe schnappte nach Luft, senkte den Kopf und zog seine Sonnenbrille aus der Tasche. Normalerweise hätte dieser Anblick Bewunderung in ihm hervorgerufen – aber nicht an diesem Tag. Selbst durch die Sonnenbrille hindurch leuchtete der Berg so hell, daß man nur für ein paar Sekunden hinsehen konnte. Das grelle Licht verschluckte alle Konturen. Es waren keine Linien oder Schatten zu erkennen, keine Felsen, kein Eis, keine Grate oder Pässe. Selbst der pyramidenförmige Gipfel war in all dem Glanz nicht auszumachen. Der Berg verschmolz einfach mit dem Sonnenlicht und verbarg sich in der Unendlichkeit. Er ließ den Ehrgeiz der Bergsteiger nichtig und sinnlos erscheinen. Gus bat Jorgens, noch einmal mit Li zu reden. Es fiel ihr schwer, denn sie mochte Jorgens nicht und sie vertraute ihm auch nicht. Doch der Berg war wichtiger als ihr Stolz, und so sprach sie die Bitte aus. »Versuch’s noch einmal, Jorgens. Bitte.« Jorgens zeigte sich kooperativ. »Es wird nichts nützen«, sagte er, »aber wenn du unbedingt willst, okay. Ich versuch’s.« Nach zehn Minuten kam er aus dem Küchenzelt zurück. »Nichts zu machen. Li sagt, daß seine Befehle direkt aus dem Amt für öffentliche Sicherheit in Lhasa kommen. Die Armee befindet sich im Alarmzustand. Er will unsere Sicherheit gewährleisten.« »Sicherer als in dieser verlassenen Gegend kann man gar nicht sein«, erklärte Carlos, doch das war natürlich nicht Lis Sichtweise. 284
»Noch etwas, Leute«, sagte Jorgens. »Ich möchte, daß ihr euch von unseren militärischen Gästen fernhaltet. Absolut kein Kontakt. Habt ihr das verstanden?« »Scheißdreck«, sagte JayJay. »JayJay, das ist keine Bitte, sondern eine Anordnung. Die Lage ist schon ohne harte Worte und zusätzliche Spannungen schwierig genug. Verstanden?« JayJay antwortete nicht. Jorgens brachte es auf den Punkt: »Sie haben Gewehre.« Das Team verbrachte den Rest des Tages damit, die Chinesen, Tibet und den Berg zu verfluchen. Dann, als das Alpenglühen den Everest in orangefarbenes Licht tauchte, verfielen sie in erschöpftes Schweigen. Wie überall auf der Welt verbreiteten sich schlechte Nachrichten auch im Rongbuk-Tal sehr schnell. Vor Einbruch der Dunkelheit tauchte eine kleine Gruppe Yakhirten mit sieben Yaks auf. Sie suchten Arbeit und wollten sich schon einmal die Beute ansehen, die zurückbleiben würde. Beim Essen machte Carlos die Bergsteiger an diesem Abend betrunken. Er hatte die Expedition mit einem Biervorrat ausgerüstet, der für ein großes Besäufnis ausreichte, und der Zeitpunkt dafür war gekommen. »Auf die Niederlage«, sagte er und hob sein Glas. »Den Sieg vor Augen und doch verloren.« Es war kein fröhliches, aber auch kein häßliches Besäufnis. Jemand wies darauf hin, daß sie wenigstens kein Todesopfer zu beklagen hatten. Sie hatten nicht mal einen Finger oder eine Zehe eingebüßt. Sie hatten den Everest heil überstanden, und das allein war schon ein Grund zur Dankbarkeit. Schließlich ergriff Jorgens das Wort. »Irgend jemand muß zu Daniel gehen und ihn herholen.« 285
»Ich mache das«, bot JayJay an. Er hatte Bilder seiner Tochter hervorgeholt und hatte Tränen in den Augen. »Ich bleibe bestimmt nicht hier unten«, sagte Stump. »Sonst niete ich noch einen von Lis Soldaten um.« »Ich hab noch Kameras und Filme da oben«, erinnerte sich Robby. »Und meine ganze Eis-Ausrüstung und Stiefel. Ich kann noch zwei, drei Transportmärsche machen, solange wir hier sind.« Auf diese Weise beschloß die ganze Gruppe, zum ABCCamp hinaufzugehen. Die Stimmung wurde etwas besser. Sie würden Daniel die schlechte Nachricht gemeinsam überbringen und den wertvollsten Teil ihrer Ausrüstung mitnehmen. Doch vor allem konnten sie dem Feind noch einmal ihre Aufwartung machen. Stump wollte ein Aquarell von der Nordwand vollenden. Thomas verkündete, er wolle unbedingt ein letztes Mal auf den Berg pissen. Carlos sagte, er würde gern noch eine Nacht mit der »Mutter der Erde« verbringen. Abe spürte, daß danach kaum einer von ihnen jemals zur Kore-Wand zurückkehren würde. Abe schlief schlecht in dieser Nacht. Im Morgengrauen ging er zum »Wasserschädel« und setzte sich hin, um seine Gedanken zu ordnen. Über ihm schwebte der Everest im weichen Dämmerlicht. Mit seinem mähnenartigen Gipfelmassiv und den ausgedehnten Kammlinien sah der Berg an diesem Morgen aus wie eine mit Regenbogen umgebene Sphinx. Sie waren nahe dran gewesen, das Rätsel dieser Sphinx zu lösen, besonders Daniel. Abe empfand dieses knappe Scheitern als große Last. Es kam ihm vor, als läge ihm die Lösung des Rätsels auf der Zunge, und er wußte, daß er sie nie würde aussprechen können. Für den Rest seines Lebens würde er dieses Schweigen mit sich herumtragen 286
müssen. Abe war gerade mit diesen Gedanken beschäftigt und badete in Selbstmitleid, als das Geräusch eines aufgewirbelten Steins ihn unterbrach. Eine Erscheinung – halb Mensch, halb Tier – nahm im Gletschertümpel Gestalt an. Abe sah genauer hin. Vor ihm stand der Mönch, auf alte Skistöcke gestützt, in abgewetzte Yakfelle gehüllt und mit Daniels orange-schwarzer Baseballmütze auf dem Kopf. Abe riß den Mund auf. Die beiden musterten einander, bis Abe sich fragte, ob dies wieder eine seiner Halluzinationen war. Dann schwankte der Mönch zwischen seinen Ski-Stöcken hin und her, als würde er auf Stelzen laufen, und er wirbelte noch mehr Steine auf. Abe brauchte keinen Dolmetscher, um zu verstehen, daß er gekommen war, um sich zu verabschieden. Für Abe würde es also ein zweifacher Abschied sein: adieu, Mount Everest, und adieu, tibetischer Mönch. Der Junge hätte eine stationäre Behandlung gebraucht. Doch in vier Tagen blieb ihm nicht einmal mehr Abes Quacksalberei als Notbehelf. Abe atmete langsam aus. Er mußte der Tatsache ins Auge blicken, daß der heilige Mann sterben würde. Der Junge war in einem so schlechten Zustand, daß Abe sich fragte, ob er sich die ganze Zeit in der Nähe des Basislagers versteckt hatte. Oder ein Yakhirte hatte ihn in der Nacht hergebracht. Eines stand jedoch fest: Selbst wenn Tulkus fliegen konnten – dieser hier war an den Boden gekettet, auf dem er gerade stand. Dann, als wollte er Abes Pessimismus bestätigen, ließ sich der Junge auf einen Stein sinken, um sich auszuruhen. Er war zu schwach, um die Hände aus den Schlaufen der Skistöcke zu ziehen, so daß die Stöcke mit ihm verbunden blieben und schief neben ihm lagen. 287
»Tashi-dili«, sagte Abe, als er auf den Jungen zuging. Nima hatte ihm die Begrüßung beigebracht. Der Mönch erwiderte sie nur mit einem verzerrten Lächeln. Er war bleich und hatte ein trübes Schimmern in den Augen. Aus der Nähe sah Abe, daß ihm Speichel aus dem Mund lief. Auch ohne die Kleidung des Jungen zu öffnen, wußte Abe, daß die Infektion wieder schlimmer geworden war. Er roch das gelbrote Sekret, mit dem das ehemals weiße Ultimate-Summit-T-Shirt durchtränkt war. Abe hockte sich hin und berührte die Stirn des Jungen. Er hatte Fieber. Es war allerdings nicht so hoch, daß es das Delirium und die Schwäche erklärte. Der Speichelfluß verstärkte Abes Verdacht, daß der Junge eine innere Schädelverletzung davongetragen hatte. Dazu kamen die äußerlichen Wunden und möglicherweise weitere innere Verletzungen – der Mönch schien ein hoffnungsloser Fall zu sein. »Was soll ich nur mit dir machen?« fragte Abe ihn auf Englisch. Der Junge machte große Augen und lächelte ihn an. »Ja, was willst du mit ihm machen?« fragte eine andere Stimme. Es war Gus, die neben dem »Wasserschädel« stand. Sie war ebenso leise aus dem Nichts aufgetaucht wie der Mönch. »Noch mal von vorn anfangen«, sagte Abe. »Ihn zusammenflicken. Ihm Medikamente geben. Beten.« Die Anwesenheit des Mönchs im Camp schien Gus angst zu machen. »Warum mußte er denn unbedingt wiederkommen?« fragte sie. »Ich weiß es nicht. Er ist nun mal hier. Jetzt müssen wir ihn irgendwie verstecken. Ich brauche ein paar Stunden, um ihn zu versorgen, und hier draußen kann er nicht bleiben.« 288
»Er hätte nicht wiederkommen sollen«, sagte Gus mürrisch. »Schon gut«, entgegnete Abe. »Die Chinesen werden ihn nicht zu Gesicht kriegen. Und in vier Tagen sind wir und die Chinesen weg, dann hat er das ganze Tal für sich allein.« Sie gingen wieder in die Hütte aus Gedenksteinen, in die »Grabkammer« mit ihrem Dach aus alten Zeltplanen. Der Junge verfiel immer mehr in Lethargie und schließlich in einen Dämmerzustand, der dem Koma ähnelte, in dem Abe ihn beim ersten Mal angetroffen hatte. Unter den Bergsteigern verbreitete sich die Nachricht, daß der Mönch wiedergekommen war, und sie kamen überein, seine Anwesenheit geheimzuhalten. Damit die Soldaten keinen Verdacht schöpften, hielten sich alle von der »Grabkammer« fern – außer Krishna, der Abe und seinem Patienten etwas zu essen und zu trinken brachte. Abe schlief in dieser Nacht in der Hütte auf dem kalten Boden. Der Mönch schlief auf Abes Isomatte. Dann passierte etwas Seltsames. Drei Tage vor der erzwungenen Abreise kam Li ins Küchenzelt, als die Bergsteiger beim Frühstück saßen, und gab eine Erklärung ab. »Was ist denn nun wieder?« brummte Robby. »Ich habe beschlossen«, sagte Li, »daß Sie noch zehn Tage Zeit bekommen, um auf den Berg zu steigen. Danach muß ich meinen Anordnungen Folge leisten.« Als niemand antwortete, erläuterte Li seine Entscheidung. »Es gibt Dinge im Leben, die zu Ende geführt werden müssen. Sie waren mutig und sind ein großes Risiko eingegangen. Jetzt ist es an mir, auch ein Risiko einzugehen.« Sie schwiegen immer noch, obwohl Abe die Unruhe in 289
ihren Gesichtern sah. Wenn Li erwartete, daß sie sich bei ihm bedankten, hatte er sich verrechnet. Nach Meinung des Teams hatte er nie das Recht gehabt, ihnen den Berg vorzuenthalten. Und sein eigenartiger Sinneswandel erinnerte sie an die allgegenwärtige Staatsmacht. Mit seiner Großzügigkeit machte Li sich noch unbeliebter, auch wenn das kaum möglich zu sein schien. »Aber warum?« fragte JayJay. »JayJay!« sagte Thomas warnend. Man hatte ihnen gerade einen Aufschub der Exekution gewährt, und wenn der ganze Vorgang auch widerwärtig war – er bescherte ihnen ein zweites Leben. »Auch in schwierigen Zeiten ist es falsch, die Unschuldigen zu bestrafen«, erklärte Li. Nachdem Li gegangen war, suchten die Bergsteiger nach einem Grund für seine plötzliche Selbstlosigkeit. Robby führte Jorgens’ letztes Gnadengesuch als Erklärung an, doch Jorgens winkte ab. »Damit hat es nichts zu tun. Li hat mich nicht ein einziges Mal angesehen, während ich sprach.« »Was war es dann?« überlegte Stump. »Spielt das eine Rolle?« fragte Thomas. »Jetzt liegt es ganz allein an uns. Eine bessere Voraussetzung kann es gar nicht geben.« Innerhalb einer Stunde brachen sie auf. Carlos, mit seinem verbundenen Knöchel und einem Beutel Gletschereis zur Kühlung, blieb im Basislager und bediente das Funkgerät. Im Notfall konnte er versuchen, Li zu einem weiteren Verlängerungstag zu überreden. Das restliche Team marschierte los, um der Kore-Wand den Gnadenstoß zu geben.
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9. KAPITEL Der Mount Everest war ein wetterwendischer Berg – so sagte man wenigstens. Doch in hundert Tagen hatte Abe keinen Wetterwechsel erlebt. Tagaus, tagein hatte ihn der Himmel mit seiner blauschwarzen Farbe betört. Die wenigen Wolken waren als verstreute weiße Federn im Hintergrund geblieben. Abe glaubte schon, in Tibet würde es niemals schneien. Doch an diesem Nachmittag, als die Bergsteiger das ABC-Camp erreichten, wurde der Himmel schmutziggrau. Daniel, der ausgezehrt und doch erhaben auf einem Felsen saß, empfing seine Kameraden mit offenen Armen und versprach ihnen den Sieg. Aber der Berg spannte innerhalb einer halben Stunde ein Netz aus finsteren Sturmwolken über den Himmel. Bei Sonnenuntergang erstreckte sich die Wolkendecke vom Osten über den Norden bis in den Westen. Die Bergsteiger aßen früh zu Abend und liefen eilig zu ihren Zelten, als gerade die ersten Graupelkörner herunterprasselten. Zwischen den Schneeflocken zuckten Blitze auf – so etwas hatte Abe noch nie erlebt. Kelly und er zogen den Reißverschluß ihres Zeltes zu und krochen in die Schlafsäcke. »Was hat das zu bedeuten?« fragte Abe. Kelly lag neben ihm im Halbdunkel und stützte sich mit dem Ellbogen ab. Es war zu hell, um die Stirnlampen einzuschalten, aber zu dunkel, um irgend etwas anderes zu tun, als zu reden. Der Wind strich durch das Camp, und die Zeltwände schlugen rhythmisch hin und her. »Das ist der Monsun«, sagte Kelly. »Kommt ziemlich spät.« Sie war so mürrisch, als würde sie von ihrer Periode 291
sprechen. In dem schwachen Licht sahen ihre Augenbrauen aus wie dunkle Federstriche und ihr goldblondes Haar wie schwarze Tinte. Ihre Nase war durch die mehrfachen Sonnenbrände krebsrot. »Dann ist also alles aus«, sagte Abe. »Nicht unbedingt. Der Monsun kommt schubweise. Meistens sind Pausen dazwischen, besonders auf der Nordseite. Wir sind hier in einer regengeschützten Gegend. Wahrscheinlich bekommen wir unsere Chance. Der Himmel wird sich aufklären.« Doch sehr überzeugend klang das nicht. Neben den Schneekügelchen, die auf das Zelt prasselten, waren auch entfernte Donnerschläge zu hören. Ohne die Blitze hätte Abe gedacht, daß es sich um Lawinen handelt. »Ich hoffe, ich kann heute nacht schlafen«, sagte Kelly. Abe pflichtete ihr bei: »Das Donnern ist ziemlich laut.« Aber Kelly schüttelte den Kopf. Das war es nicht. Sie war aufgeregt, und der Grund ihrer Sorge war komplizierter als ein Gewitter oder die gefährdete Gipfelbesteigung. »Ist irgendwas, Kelly?« Sie sah ihn mit ihren weißen Augen flüchtig an. Dann wandte sie den Blick ab und senkte den Kopf. Einen Augenblick später sah sie ihn wieder an und wägte das Für und Wider ab. »Ja«, begann sie, »aber ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.« »Du mußt es mir nicht sagen.« »Doch, aber du darfst nicht lachen.« Abe nickte. »Um ehrlich zu sein …« Sie zögerte. Dann fand sie die richtigen Worte. »Ich hatte neulich so einen Traum.« »Erzähl ihn mir«, sagte Abe. 292
»Das ist nicht meine Art«, warf Kelly schnell ein. »Ich glaube nicht an Träume. Ich spreche auch nicht darüber.« »Aber dieser Traum …« Abe baute ihr eine Brücke. Sie blickte ihm direkt in die Augen. »Da oben wird etwas passieren.« Abe ließ sie ausreden. Ihre Stimme wurde ängstlich. »Abe, ich glaube, ich werde sterben.« Eine Minute lang prasselte der Schnee gegen die straff gespannten Zeltwände, und die Stangen knarrten unter der Last des Windes. »Da war eine Frau im Schneesturm. Sie war auf dem Berg gefangen und hing kopfüber an einem Seil. Sie hatte langes Haar. Es wehte im Wind. Ihre Augen waren weit aufgerissen.« Sie flüsterte, als würde sie eine Gespenstergeschichte erzählen: »Das war ich, Abe.« Abe wußte nicht, was er tun sollte. Sollte er widersprechen, zustimmen, sie berühren? Sollte er ihr das Gefühl geben, daß Todesahnungen nicht ungewöhnlich waren, wenn man vor einer gefährlichen Situation stand? Er fühlte sich plötzlich sehr jung, und Kelly kam ihm sehr viel älter vor. »Ich weiß, wie das klingt.« Kelly lächelte traurig, und Abe glaubte, sie würde sich in einen Witz auf ihre eigenen Kosten flüchten. Doch das tat sie nicht. Sie hörte einfach auf zu reden. In einer anderen Situation hätte Abe vielleicht versucht, Kellys Ängstlichkeit mit einem Etikett zu versehen: zyanotische Hysterie oder Höhenkoller – etwas Poetisches oder zumindest etwas Mehrsilbiges. Doch in den letzten beiden Tagen wurden auch die anderen Bergsteiger von einer ungewöhnlichen Trübsinnigkeit geplagt, und Abe 293
begriff nun, daß es sich dabei um eine dunkle Vorahnung handelte. Außer Daniel, dem Lis Unentschlossenheit erspart geblieben war, hatten sie alle ihre Ohnmacht zu spüren bekommen und sich damit abgefunden, den Berg zu verlassen. Jetzt kehrten sie zum Everest zurück wie Kettensträflinge zu einem Steinbruch. »Ich will ein Kind.« Kelly sagte das mit bekümmerter Stimme. »Bis jetzt war ich mir nicht sicher, aber jetzt weiß ich es.« Abe versuchte sie zu beruhigen: »Es war doch nur ein Traum.« »Ich habe es deutlich gesehen.« Dann hatte Abe eine Idee. »Vielleicht solltest du lieber unten bleiben«, schlug er hoffnungsvoll vor. »Meinst du, ich hätte daran nicht schon gedacht?« Abe fand keine andere Lösung, also versuchte er es weiter mit dieser einen, auch wenn Kelly damit nicht zufrieden war. »Es ist in Ordnung, wenn du unten bleibst. Du hast es versucht. Niemand wird das bestreiten.« »Du weißt, daß das nicht stimmt.« »Egal. Niemand braucht den Grund zu erfahren. Bleib einfach unten.« »Ich kann nicht, und das weißt du.« Abe wußte es. Ein Mann hätte vielleicht unten bleiben können. Aber nicht Kelly. Sie war gesund, stark und stolz. Und blond. Schließlich würde es herauskommen, daß sie einen Alptraum hatte. Es würde sich herumsprechen. Die Männer würden von ihr geradezu erwarten, daß sie sich drückte. Gus würde ihr üble Vorwürfe machen. Kelly schluckte. »Ach, verdammt, Abe.« Abe spürte ihre Verzweiflung. Er überwand seine 294
Skrupel, legte einen Arm um sie und kroch näher an sie heran, um sie festzuhalten. Kelly ließ sich von ihm umarmen wie eine langjährige Geliebte. Sie schmiegte sich an ihn und legte ihre bloße Hand auf seine Brust. Dies war eine der seltenen Gelegenheiten auf dem Everest, wo zwei Menschen einander trösten konnten. Wenn Angst und Mutlosigkeit kamen, war man meistens allein in einer gefährlichen Situation und hing an einem Seil. Diese Umarmung war der reinste Luxus. »Mach deinen Schlafsack auf, Abe.« Durch einen Witz, den man eines Abends über sie gemacht hatte, hatten sie erfahren, daß man die Expeditionsschlafsäcke per Reißverschluß miteinander verbinden konnte. Jetzt schufen sie sich ein Doppelbett. Es war das erste Mal, daß sie beieinanderlagen, ohne die störenden Schlafsäcke zwischen sich zu haben. Sie schliefen nicht miteinander, denn darum ging es nicht. Außerdem wäre das in diesem Zelt, in dieser Höhe lächerlich gewesen – Abe wollte keinen schnellen Sex in der Kälte. Vielleicht würden sie einmal miteinander schlafen, dachte er. Vielleicht auch nicht. In dieser Nacht küßten sie sich nicht einmal, denn ihre Lippen waren aufgeplatzt. Doch das, was sie taten, war um so wertvoller. Sie lagen einfach da, und Abe hielt Kelly in seinen Armen. Im Halbschlaf überlegte er, was ihm diese praktisch fremde Frau bedeutete und was er ihr bedeuten konnte. Sie hätte auch jede andere Frau sein können – Jamie oder Gus oder sonst jemand –, ein weicher Körper an seinem harten Brustkorb, ein warmes Bein, das seinen Oberschenkel berührte. Doch sie war nicht irgendwer, sondern Kelly, und er hielt den Gedanken an sie fest, so wie er ihren langen Rücken und ihre breiten Schultern festhielt. Er versuchte sich vorzustellen, was er wohl in diesem 295
Moment für sie war, außer einem schlagenden Herzen und Barthaaren, die sie an der Stirn kratzten. Vielleicht dachte sie an einen anderen Menschen. Doch Abe hoffte, daß sie an ihn dachte, während sie einschlief. »Es gibt da etwas, was ich dir sagen will«, gestand er ihr. Doch sie unterbrach ihn. Sie wußte es schon. »Nicht jetzt«, sagte sie. »Ein anderes Mal. Bitte. Nicht jetzt.« Von dem Duft nach Kokosshampoo war nur noch ein Hauch übrig. Kellys Haar roch hauptsächlich nach Rauch, Schweiß und menschlichem Talg, und Abe inhalierte den Geruch. Sie roch wie ein Tier. Bisher hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht, wie sehr die Bergluft nach dem Berg roch, nach Schnee und Felsen. Er hatte auch noch nie so sehr die Gesellschaft eines Menschen gebraucht. Hier oben wurde man durch den Anblick von Blut, durch den animalischen Geruch oder durch eine simple Umarmung daran erinnert, was man geworden war: ein Tier auf einem Berg. Die Liebe reduzierte sich also auf diesen stillen Besitz, auf eine Berührung und gemeinsame Wärme. Bis zum Morgengrauen war das Gewitter vorbeigezogen und hatte fünfzehn Zentimeter Neuschnee hinterlassen. Der Himmel war voller grauer Wolken, doch es kam nichts mehr herunter, und das bedeutete Hoffnung. Natürlich war Daniel der erste, der sich die Steigeisen umschnallte. Nur er schien noch nicht gemerkt zu haben, daß die Situation sich geändert hatte. Fünfzehn Zentimeter Schnee waren noch nicht viel, doch nach ein oder zwei weiteren Stürmen konnte der Berg schon zum tödlichen Schlag ausholen. Angesichts der von Li gesetzten Frist und des heraufziehenden Monsuns wurde die Zeit sehr knapp. 296
Kelly streckte den Kopf aus dem Zelt und lächelte Abe an. Sie hatten sich während der ganzen Nacht nicht ein einziges Mal aus ihrer Umarmung gelöst. Kelly hatte ihren Alptraum nicht mehr erwähnt, und auch Abe hatte das Thema fallenlassen. Er kam auf die Idee, daß er sie mit seiner Umarmung vielleicht von ihrem bösen Geist befreit hatte, doch der Gedanke erschien ihm grotesk. Was wäre das für eine Entwicklung: erst Sanitäter, dann richtiger Arzt und nun Schamane und Exorzist. Wenn er so weitermachte, würde er seinen Lebensabend betend in einem tibetischen Kloster verbringen. Es wurde Zeit, daß er aufhörte, an seine übersinnlichen Kräfte zu glauben. Abe beobachtete Kelly, und er war überrascht. Sie streckte ihre langen Beine aus dem Zelt, richtete sich in voller Größe auf, und er sah, daß sie einen hautengen taubenblauen Skianzug hug. Er hatte breite weiße Streifen von den Beinen bis in die Achselhöhlen und vom Hals bis an die Handgelenke. Kelly sah darin aufsehenerregend aus, elegant und geschmeidig – aber das hatte Abe ja schon vorher gewußt. Was ihn wirklich beschäftigte, war die Frage, woher sie wohl diesen Anzug hatte. Doch dann sah er sich um und merkte, daß die meisten anderen Bergsteiger in den gleichen taubenblauen Skianzügen aus ihren Zelten krochen. Jetzt fiel es ihm ein. Es war Zeit für die Werbung. Im ganzen Camp kam frische, saubere Markenkleidung zum Vorschein, die man sich extra für die Kameras und den Aufstieg zum Gipfel aufgespart hatte. In dem Skianzug sahen einige sehr sportlich, andere dagegen albern aus. Storchenbeine und Hühnerbrüste stachen deutlich hervor, und Abe war froh, daß niemand daran gedacht hatte, ihm einen solchen Anzug zu geben. Doch diese Uniform hatte auch ihren Vorteil. Zum ersten Mal seit Li ihre Moral untergraben hatte, sahen die Bergsteiger wieder aus wie ein Team, das 297
darauf aus war, den höchsten Punkt der Erde zu erreichen. Sie klopften den Schnee von ihrer Ausrüstung ab und machten sich daran, den Berg aufs neue zu erobern. In den folgenden fünf Tagen bezogen sie Stellung in den höhergelegenen Camps und bereiteten sich auf die Erstürmung des Gipfels vor. Es war eine langsame, geordnete Erstürmung. Sie stiegen nacheinander in Zweierteams hinauf. Das Wetter wurde nicht besser, aber wenigstens wurde es auch nicht schlechter. Am Ende des fünften Tages fand Abe sich in der Höhle wieder, die als Camp vier bezeichnet wurde. Zu seiner Erleichterung war der Berg durch das stürmische Wetter anscheinend erstarrt. Den ganzen Tag über war er im »Schießstand« nicht von einem einzigen Stein bombardiert worden. Er nahm das als gutes Omen und betonte dies auch immer wieder, wenn er mit Kelly an den Fixseilen eine Ruhepause machte. Abe hatte sich jetzt voll akklimatisiert, so daß er sich tatsächlich noch stark fühlte, als sie gegen fünfzehn Uhr die Höhle erreichten. Als er mit Daniel und Gus hiergewesen war, hatte er gekeucht und war verletzt gewesen, doch während der Ruhephase im Basislager hatte er Kräfte gesammelt. Er war zwar kein Supermann – in 8050 Meter Höhe mußte man nach Luft schnappen, und er hatte überall Schmerzen –, doch sein Körper funktionierte dieses Mal relativ gut, und der Gedanke, noch höher zu klettern, ließ ihn nicht erschaudern. Zwei Seilschaften – Daniel und Gus sowie Stump und JayJay – hatten die letzte Nacht hier verbracht und waren dann zum Camp fünf hinaufgestiegen. Jemand hatte Kelly und Abe einen Zettel hinterlassen: »Alles oder nichts.« Der Kinderschrift nach zu urteilen stammte die Nachricht 298
von JayJay. Der Schlachtplan sah vor, daß Abe und Kelly die Nacht hier verbrachten und am Morgen zum Camp fünf hinaufkletterten. Sie würden dort bleiben, während Daniel und seine Leute ihren Gipfelversuch starteten und danach so weit wie möglich abstiegen. Wenn alles gutging, würden Kelly und Abe übermorgen den Gipfel erreichen. Nach ihnen kamen noch Robby und Thomas, die das letzte Team bildeten. Sie warteten im Camp drei auf ihre Gipfelchance. Doch die beiden Männer waren Realisten. Wenn das Wetter ihnen keinen Strich durch die Rechnung machte, würde es wahrscheinlich die Gesundheit tun. Thomas hatte sich nie richtig von seiner Lungenentzündung erholt, und Robby litt wieder einmal unter Durchfall. Thomas hatte Robby und sich selbst als »letztes Aufgebot« bezeichnet und damit alle überrascht: Niemand hatte geglaubt, daß Thomas Humor haben könnte. Jorgens blieb weit zurück in Camp eins. Er verzichtete aus gesundheitlichen Gründen auf den Gipfel. Theoretisch sollte er zu Hilfe kommen, wenn jemand in Schwierigkeiten geriet. Aber es war kein Geheimnis, daß Jorgens kaum in der Lage war, höher zu klettern, und seine Funktion erschöpfte sich darin, den anderen Mut zu machen. Ganz unten, mit Li als Schachpartner, saß Carlos und hütete das Basislager. Die Expedition war also über den ganzen Berg verstreut, doch diesmal konnten sie sich über Funk verständigen. Die Tatsache, daß sie die Stimmen der anderen hören konnten, gab den einzelnen Teams mehr Selbstvertrauen. Der Himmel blieb verhangen und bleigrau. Es war ständig bedeckt, so daß niemand den nächsten Sturm vorhersagen konnte. Sie hatten die Sonne seit fast einer Woche nicht mehr gesehen, und das hatte Vor- und 299
Nachteile. Sie mußten nicht mehr gegen die Mittagshitze ankämpfen, doch in den letzten fünf Tagen hatten alle über chronische Müdigkeit geklagt, die sie träge machte. Abe fragte sich, ob der veränderte Luftdruck dafür verantwortlich war. Andere suchten sich einen anderen Sündenbock. Sie meinten, es sei Lis Schuld. Der Verbindungsoffizier hatte sie in Ketten gelegt. Er hatte ihnen den Schwung genommen. Sie munkelten über ihn und hatten keinen Zweifel, daß er absichtlich ihre Moral untergraben hatte. Einige unterstellten ihm sogar, daß er sie in eine Falle gelockt habe, um sie zu demütigen, und daß er vermutet habe, sie würden ohne einen letzten Versuch das Handtuch werfen. Doch sie irrten sich. Li wollte, daß sie hier oben waren, und unmittelbar vor dem Angriff auf den Gipfel erfuhren sie den Grund dafür. Der Achtzehn-Uhr-Funkspruch begann routinemäßig. Abe saß zusammengekauert im Zelt und hatte das kalte Walkie-Talkie in der Hand. Kelly lag neben ihm in einem Schlafsack; eine Sauerstoffmaske bedeckte den größten Teil ihres Gesichts. Von nun an würden sie mit Flaschensauerstoff schlafen, und wer wollte, konnte ihn auch zum Klettern benutzen. Als Abe mit Daniel und Gus in der Höhle gewesen war, war er so schwach und angeschlagen gewesen, daß kein Sauerstoff der Welt ihn beflügelt hätte. Doch diesmal fühlte sich der Sauerstoff an wie ein Kuß. Um sich auf den Funkspruch vorzubereiten, hatte Abe seine Maske abgenommen und die Antenne durch einen Spalt im Eingang des Zeltes geschoben. Die Höhle lag so günstig, daß er relativ warm und bequem im Zelt sitzen und Funksprüche von allen Camps empfangen konnte. »Camp fünf an alle. Sie hören die Achtzehn-UhrNachrichten.« Abe erkannte Stumps Stimme. »Laßt uns 300
mal durchzählen. Over.« Alle Teams meldeten sich. Es ging allen gut. Sie klangen müde und aufgeregt, besonders Stump. »Das wird ’ne lange Nacht«, sagte er. »Hier ist es ziemlich eng. Vier Leute in einem Zelt. Over.« Aufgrund der extremen Höhe sprach er langsam und undeutlich. »Dann habt ihr’s wenigstens warm. Over.« Robby bediente das Funkgerät in Camp drei. Er sah immer einen Silberstreif am Horizont. »Camp fünf, was macht der Wind? Over.« Man mußte Jorgens zugute halten, daß er seinen verletzten Stolz hintanstellte. Er war wirklich daran interessiert, daß Daniel und alle anderen den Gipfel erreichten. Langsam empfand Abe Sympathie für Jorgens. »Der Wind ist ziemlich stark«, antwortete Stump. »Ich hoffe, hier weht nichts weg. Over.« Durch die geschützte Lage in der Höhle war Camp vier davon nicht betroffen. Doch Abe hörte, wie der Wind gegen den Hang peitschte. Es klang, als würden die Niagarafälle herunterrauschen. »Was ist mit dem Stativ?« fragte Robby. »Habt ihr es auf dem Gipfel gesehen? Over.« »Er steht noch da«, antwortete Stump. »Wir hängen ’ne Flagge dran. Morgen, so früh wie möglich. Over.« »Berg Heil. Over.« Abe wartete auf eine Sprechpause. »Gibt’s irgendwo medizinische Probleme?« Die Bergsteiger hüteten sich davor, über eingewachsene Nägel zu klagen. Keiner von ihnen war gesund, aber es war auch keiner todkrank. Jorgens meldete sich wieder. Er wollte den Schlachtplan noch einmal durchgehen und alle Fehlerquellen 301
ausschalten, bevor das Gipfelteam in Schwierigkeiten geraten konnte. »Ist bei euch alles klar? Over«, fragte er Stump. Stump hatte nichts dagegen, alles noch einmal zu wiederholen. Es war gut, von jemandem beaufsichtigt zu werden, besonders wenn dieser Jemand nicht so sehr der Höhenluft ausgesetzt war. »Alles klar«, sagte Stump. »Wir stehen um ein Uhr auf. Aber schlafen wird wohl sowieso keiner. Over.« »Und bis spätestens drei Uhr macht ihr euch auf den Weg. Over.« Jorgens wollte alles noch einmal Punkt für Punkt abhaken. »Roger. Over.« Der Funkverkehr war eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen die beiden Ex-Soldaten ihren Jargon benutzen konnten, ohne von den anderen aufgezogen zu werden. Abe hörte weiter zu. »Zwei Seile? Over.« »Zwei Seile. Zwei Flaschen pro Mann. Over.« Jeweils zwei Bergsteiger sollten durch ein fünfzig Meter langes Neun-Millimeter-Seil miteinander verbunden werden. Jeder bekam zwei Sauerstoffflaschen, Wenn die fünf Kilo schweren Behälter leer waren, würden sie sie wegwerfen. Im günstigsten Fall würden zwei Flaschen für den Aufstieg bis zum Gipfel und einen Teil des Rückwegs reichen. »Und wenn ihr bis sechzehn Uhr nicht oben seid, kehrt ihr um. Over.« In diesem Punkt gab es keine Diskussion. Sie hatten sich alle darauf geeinigt, daß das Gipfelteam gescheitert war, wenn es bis vier Uhr nachmittags sein Ziel nicht erreicht hatte. Bis dahin würden sie dreizehn Stunden geklettert sein. Wenn sie es noch länger versuchten, würden sie riskieren, ihr Zelt in Camp fünf nicht mehr zu erreichen. Und eine Nacht im Freien in über 302
8400 Meter Höhe bedeutete – besonders bei diesem Wind – den sicheren Tod. Der Windabkühlungsfaktor und der Sauerstoffmangel würden ihrem Ehrgeiz ein unwiderrufliches Ende setzen. »Sechzehn Uhr ist die Umkehrzeit«, bestätigte Stump. »Over.« Pünktlich wie die Maurer. Sie würden das extreme Chaos mit ihrer extremen Ordnung bezwingen. In diesem Moment mischte sich Carlos aus dem Basislager in das Gespräch ein. Er klang ängstlich, und das war sonderbar, denn er befand sich unten im Tal in Sicherheit. »Basislager an alle. Hört mich jemand? Over.« »Fünf an Basislager, wir verstehen dich, over.« »Hier stimmt was nicht. Hier läuft ’ne schlimme Sache.« Stump antwortete: »Etwas genauer bitte, Basislager. Over.« Er ärgerte sich, daß Carlos vergessen hatte, »over« zu sagen, und offensichtlich gefiel ihm auch der hektische Ton nicht. In wenigen Stunden würde das Gipfelteam in die Dunkelheit aufbrechen. Es brauchte moralische Unterstützung und wollte nichts von irgendwelchen Problemen wissen. »Es geht um den Mönch.« Abe verschlug es den Atem. »Sie haben ihn.« »Eins an Fünf. Was ist da oben los, Stump? Over.« Jorgens hatte im Camp eins keine Verbindung zum Basislager. Zwischen ihm und Carlos lag der Gipfel des Changtse, der einen Funkschatten warf. Die anderen Camps lagen oberhalb des Changtse-Gipfels, so daß sie sich problemlos mit dem Basislager verständigen konnten. Doch Jorgens konnte Carlos nicht hören. Er wußte nur, daß Stump mit jemandem im Basislager sprach. 303
Es dauerte eine Weile, bis Stump antwortete. »Moment, Camp eins. Basislager, was ist passiert? Over.« »Heute nachmittag kam Li zu mir. Er sagte, wir hätten einen Flüchtling versteckt. Jetzt hätten sie ihn gefunden und in Gewahrsam genommen. Es stimmt. Ich habe ihn gesehen.« »Verdammt, Carlos. Sag’ ›over‹. Over.« Stump war erregt, doch Abe wußte, daß die mangelnde Funkdisziplin nicht der Grund dafür war. »Sie haben ihn aus der Hütte geholt. Li und die Soldaten. Er ist gefesselt, an Händen und Füßen«, fügte Carlos hinzu. »Over.« »Was haben sie mit ihm vor? Over.« »Die Soldaten wollen ihn nach Lhasa bringen. Li sagt, daß der Mönch ein politischer Straftäter ist. Er sagt, es handelt sich um eine innere Angelegenheit der Volksrepublik China. Und unsere Einmischung verstößt angeblich gegen das Völkerrecht. Over.« Abe konnte sich nicht mehr beherrschen. »Innere Angelegenheit?« bellte er in das Funkgerät. Es ging um seinen Patienten, einen Jungen, einen Geistlichen. Als er zuletzt in der Gewalt der Chinesen war, hatten sie ihn beinahe zu Tode gefoltert. »Bist du das, Doc?« fragte Carlos. »Wann wollen sie ihn nach Lhasa bringen?« fragte Abe. Dann fiel ihm noch ein, »over« zu sagen. »Li sagt, vielleicht morgen, wahrscheinlich übermorgen. Er will zuerst seinen Bericht schreiben.« »Hier Camp eins«, unterbrach Jorgens. »Worüber quasselt ihr denn da? Das klingt nicht so, als würde es zur Sache gehören. Over.« 304
»Pech gehabt«, klärte Stump ihn auf. »Li hat den Jungen entdeckt. Im Basislager ist einiges los. Over.« Jorgens schien nicht überrascht zu sein. Seine Verärgerung wich sofort einem ruhigen, geschäftsmäßigen Ton. »Ich habe befürchtet, daß so etwas passiert«, sagte er leise. »Aber ich dachte, es würde erst passieren, wenn wir weg sind. Ich habe mich geirrt. Over.« Carlos war der einzige, der ihn nicht hören konnte, und er stellte jetzt genau die Frage, die Jorgens eben beantwortet hatte. »Das ist nicht einfach nur Pech«, sagte er zu Stump. »Li sagt, daß er uns deshalb grünes Licht gegeben hat, weil jemand mit ihm kooperiert hat. Der Gipfel ist unsere Belohnung dafür, daß einer den Jungen verraten hat.« Die häßliche Anschuldigung hing in der Luft wie Schwefelgeruch nach einem Blitzeinschlag. Robby meldete sich zu Wort. »Das glaube ich nicht.« »Das hätte keiner von uns getan«, erklärte Stump. »Li hat’s mir so erzählt«, sagte Carlos. »Aber er wollte nicht sagen, wer’s war.« Abe drehte sich um und sah Kellys große Augen im Licht seiner Stirnlampe. »Hört zu«, ermahnte Jorgens die Bergsteiger in ihren Quartieren. Er sprach mit seiner tiefen, weichen Baßstimme, mit der er auch seine Reden vor dem American Alpine Club hielt. »Die Chinesen werden sagen, daß uns das nichts angeht. Das sagen sie immer. Und sie haben recht. Es geht uns nichts an. Der Junge ist das Risiko eingegangen. Er hätte nicht ins Camp kommen dürfen, als die Soldaten schon da waren. Wichtig ist, daß 305
wir uns auf unser Ziel konzentrieren. Over.« Abe war angewidert. Jorgens redete wie ein texanischer Politiker, und er hatte gerade die ganze Expedition verraten. »Die werden den Jungen umbringen«, sagte Abe so emotionslos wie möglich. Diese Tatsache war so unumstößlich wie die Felswände der Höhle. »Ich habe gesehen, was die mit Menschen machen.« »Das können wir nicht verhindern«, entgegnete Jorgens. »Wir sind hier oben. Die sind da unten. Daß sie ihn finden, war klar. Es war nur eine Frage der Zeit. Außerdem sind wir Touristen. Das habt ihr selbst gesagt. Touristen und Bergsteiger. Keine Samariter. Over.« »Vielleicht keine Samariter«, wandte Robby ein. »Aber auch keine Verräter.« »Pete«, sagte Stump zu Jorgens. Seine Stimme klang äußerst grimmig. »Carlos sagt, daß Li ihn nicht einfach gefunden hat. Er wurde informiert. Jemand hat den Jungen gegen unsere Gipfelchance eingetauscht.« Er forderte kein Geständnis. Das war nicht nötig. Jorgens wußte, worauf Stump hinauswollte. Abe mußte genau hinhören, um Jorgens’ Antwort verstehen zu können, denn in seinem Kopf rauschte das Blut, und draußen tobte der Wind. »Stump, du Mistkerl«, murmelte Jorgens. Die beiden Männer hatten schon viele Berge zusammen bestiegen und noch nie solche Probleme gehabt. Jorgens schwieg verbittert. »Das ist ’ne ernste Sache, Pete. Und du warst der letzte, der mit Li gesprochen hat. Over.« Jorgens ließ die Anschuldigung im Raum stehen. Robby mischte sich wieder ein. Er war die 306
Stimmungskanone im Team und hätte mit einem Wort die gereizte Stimmung umkrempeln können. Doch er sagte nur: »Arschloch«, und es gab keinen Zweifel, wem das galt. Im Basislager reimte Carlos sich die Aussagen der anderen zusammen. »Ihr meint doch nicht, daß es der Captain war, oder?« Die Verurteilung von Jorgens konnte noch die ganze Nacht dauern, dachte Abe. Und das Opfer geriet in Vergessenheit. Die Sache mußte wieder in die richtigen Bahnen gelenkt werden, und zwar schnell. »Carlos, kannst du mit Li reden?« fragte Abe. »Heute noch. Bevor er den Jungen nach Lhasa schickt. Over.« »Keine Chance. Ich hab’s versucht«, sagte Carlos. Er klang erschöpfter als die anderen, dabei war er dreitausend Meter weiter unten. »Li ist völlig außer sich. Er benimmt sich total seltsam. Wir kriegen ziemliche Probleme. Er will zwar unsere Kooperation in seinem Bericht erwähnen, aber die Eskorte zur Grenze ist gestrichen. Wir werden abgeschoben, Leute.« »Aber das kann er doch nicht machen.« Robby war entsetzt. »Wir haben nichts getan.« »Wer kann was nicht machen?« fragte Jorgens. »Li hat uns zu unerwünschten Personen erklärt«, rekapitulierte Stump. »Die Chinesen schieben uns ab. Over.« »Um Himmels willen«, sagte Jorgens. »Was ist denn da im Basislager los? Nimm das mal in die Hand, Stump. Over.« Stump dachte nach. »Carlos, kannst du Li hinhalten?« fragte er. »Noch zwei oder drei Tage. Wir erledigen unseren Job hier oben, kommen dann runter und regeln 307
das mit Li. Over.« »Keine Chance.« Für eine Weile hörte man nur Rauschen, dann drang Carlos wieder durch den Äther. Er klang niedergeschlagen, als hätte das Team ihn im Stich gelassen. Offensichtlich hatten die anderen keinen Ausweg zu bieten, den er nicht selbst schon in Erwägung gezogen und wieder verworfen hatte. »Li kennt uns, Leute. Er meint, das Ganze sei sehr unglücklich. Er ist traurig, daß wir uns das falsche Maskottchen ausgesucht haben. Für ihn ist das jetzt so, als wenn man ein Haustier einschläfern läßt. Man wartet, bis die Kinder im Ferienlager sind, und wenn sie wiederkommen, ist Bello schon im Himmel. Li will keinen Ärger. Auf diese Weise kriegt jeder, was er will. Wir schnappen uns den Gipfel, die schnappen ihren Desperado. Um uns zu zeigen, was für ein netter Kerl er ist, hat Li mich gebeten, euch seine besten Wünsche für den Aufstieg zu übermitteln. Er sagt, wir hätten uns den Gipfel verdient.« Abe verspürte Übelkeit. Schließlich meldete Stump sich wieder zu Wort. »Tja, das wär’s dann, Leute. Der Junge ist geliefert.« Seine Stimme war schwächer geworden. Dies hatte ein kurzer Funkspruch werden sollen – ein paar Worte, die dem Gipfelteam helfen sollten. Statt dessen mußten sie jetzt mit einer schlimmen Nachricht fertig werden und hatten auch noch kostbaren Batteriestrom für eine Menschenrechtsdebatte verbraucht. Doch am schlimmsten war, daß sie erneut ihren Elan verloren hatten. »Ich habe mal auf einem hohen Berg einen Freund verloren«, fuhr Stump fort. »Als das passiert ist, haben wir die Expedition abgebrochen. Auf der Stelle, einfach abgebrochen. Es schien uns so am besten zu sein. Ich denke, wir könnten das jetzt auch machen. Over.« Es 308
dauerte einen Moment, bis Abe begriff, daß dies eine Frage an alle war. Stump wollte eine Abstimmung herbeiführen. Danach sagte lange Zeit niemand etwas. Alle hörten das Rauschen im Äther, und Abe dachte daran, daß sie aus dem All andauernd mit Strahlen bombardiert wurden. Angesichts des Windes und des allgemeinen Wetterumschwungs schien die Niederlage sowieso unabwendbar zu sein. Ein Teil von Abe akzeptierte das Ende der Expedition und den Tod des Mönchs. Der andere Teil rebellierte. Dann meldete sich Gus. Stump hatte ihr – wahrscheinlich nur zu gern – das Walkie-Talkie übergeben. »Ich habe auch Freunde in den Bergen verloren.« Unter anderen Umständen hätte sie durch ihre Halsentzündung und den gestörten Empfang gräßlich geklungen. Doch heute abend, angesichts des Schicksals, das den Mönch erwartete, wurde ihr heiseres Krächzen durch den Kummer gemildert. »Aber wir haben nicht aufgegeben. Uns schien es so am besten zu sein.« Plötzlich wünschte sich Abe, daß Daniel das Funkgerät nehmen und reden würde. Er wollte hören, was in Daniel vorging, wenn die anderen von Todesfällen berichteten. Doch Abe wußte nicht einmal, was in ihm selbst vorging. Er hatte wahrscheinlich mehr Tote in den Bergen gesehen als alle anderen im Team zusammen. Er war sozusagen der Leichenbestatter der Unglückseligen geworden. Die Chinesen würden ihm allerdings keine Leiche hinterlassen, die er beerdigen konnte. Diesmal war kein lebloser Körper abzutransportieren, kein Grab auszuheben. Gus gab den anderen Camps Gelegenheit, ihre Meinung zu äußern. Als niemand davon Gebrauch machte, brach sie 309
selbst das Schweigen. »Ich habe mein ganzes Leben in den Bergen verbracht. Das ist ziemlich hart. Aber ich habe nie aufgegeben, okay? Hier draußen – in Tibet, am Everest – gibt es nur uns und unsere Entscheidungen. Nichts dazwischen. Keine Ausreden. Der Mönch hat seine Entscheidung getroffen und wir unsere.« Im Hintergrund beschwerte sich Stump, daß sie nicht »over« sagte. Gus scherte sich nicht darum, denn niemand sonst wollte etwas sagen. Das Schweigen dauerte an, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab. Sie hatten sich entschieden. Jeder einzelne von ihnen. Auch Abe. Sie hatten lange Jahre darauf hingearbeitet, dem höchsten Gipfel der Erde so nahe zu kommen. »Es steht also fest«, sagte Stump schließlich. »Wir ziehen es durch. Gott schütze uns alle. Over and out.«
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10. KAPITEL Als Abe am frühen Morgen aufwachte, war er in Weihnachtsstimmung. »Kelly«, krächzte er. Sein Kehlkopf war von Bakterien zerfressen, und er fühlte sich sehr ausgelaugt. Der Sauerstoff war also doch kein Allheilmittel gewesen. Er dachte an Robbys Patentrezept für den Aufstieg zum Gipfel. Schnelle Eroberung. Schnell rauf, schnell wieder runter. Abe kratzte all seine Willenskraft zusammen. Heute würden sie den Widerstand des Everest brechen. Erst Daniel, dann alle anderen – sie waren eine Horde von Barbaren, und heute würden sie den Durchbruch schaffen. Abe nahm seine Sauerstoffmaske ab. »Kelly, bist du wach?« Sie hatte sich mit dem Rücken dicht an ihn geschmiegt, doch ihre Stimme kam von weit her. »Hast du geschlafen?« fragte sie. Abe erinnerte sich vage an ihren Todestraum, der schon lange zurückzuliegen schien. Eine sinnlose Erinnerung. So kurz vor dem Gipfel war für Träume keine Zeit. Abe setzte sich auf, noch immer in seinen Schlafsack gehüllt. Mit dem Kopf berührte er die Zeltwand, und Rauhreif regnete auf ihn herab. Er schaltete seine Stirnlampe ein. Überall an den Zeltwänden glitzerte der kristallisierte Atem. »Das Wetter ist besser geworden«, sagte Abe. »Es ist ruhig. Der Wind hat sich gelegt.« Er hörte zwar ein eigenartiges, summendes Geräusch, doch das konnte das Ohrensausen sein, das in der Höhe häufig vorkam. Abe mußte erfahren, daß es nicht nur optische, sondern auch akustische Sinnestäuschungen gab. 311
»Wie spät ist es?« krächzte Kelly. Der Dunkelheit nach zu urteilen mußte es noch sehr früh sein. Abe befreite seinen Arm aus dem Gewirr von Kleidung, Funkgerät, Gaspatronen und Lampenbatterien – all das lag im Schlafsack, damit es warm blieb – und sah auf die Uhr. »Halb sieben.« Demnach waren Daniel und Gus, Stump und JayJay schon seit über drei Stunden unterwegs. Inzwischen mußten sie das Gelbe Band passiert haben, und da es windstill war, konnte sie auf dem Weg zum Gipfel nichts mehr aufhalten. Die Ultimate-Summit-Expedition war drauf und dran, das Fegefeuer hinter sich zu lassen und in den Himmel aufzusteigen. Abe kochte in aller Eile ein Frühstück aus den Resten von gestern: Instantsuppe, aufgepeppt mit Salamischeiben, Rosinen und Tabascosoße. Während der gefrorene Essensklumpen über der Gasflamme auftaute, beteiligte Abe sich an der Sieben-Uhr-Funkkonferenz. Sie war sehr kurz. Man teilte sich gegenseitig mit, wie das Wetter war und wie man die Nacht verbracht hatte. Die tieferliegenden Camps berichteten von sehr starkem Wind, doch die Stimmung wurde wieder besser, als Abe erzählte, daß es bei ihm so windstill war wie im texanischen Sommer. Das Gipfelteam meldete sich nicht, und auch das war ein gutes Zeichen, denn es bedeutete, daß sie zu sehr mit Klettern beschäftigt waren. Niemand erwähnte den Mönch. Abe und Kelly zogen sich im Zelt an, und das war eine mühselige Prozedur: auf engem Raum, zwischen Sauerstoffflaschen, verkabelten Stirnlampen und einem von oben herabbaumelnden Gaskocher. Sie bewegten sich plump und unbeholfen. Sie hätten das Zelt öffnen können, um mehr Platz zu haben, doch das hätte ihnen den Mut 312
genommen. Auch wenn der Wind sich gelegt hatte, war es noch bitter kalt Die Zeltwände gaben ihnen für die letzten Minuten in Camp vier die Illusion von Wärme und Gemütlichkeit. Dann waren sie endlich bereit für den Aufstieg zum Hochlager. Und morgen, dachte Abe mit leiser Freude, morgen würden sie den Gipfel erklimmen. Kelly öffnete den Reißverschluß des Zeltes, und die Kalte strömte herein. Wie Tiefseetaucher richteten sie sich mühsam auf und standen aufrecht am Eingang der Höhle. Abe war beunruhigt über die Dunkelheit. Um diese Zeit hätte es heller sein müssen, selbst wenn die Sonne von Wolken verdeckt war Wenn sich die Lichtverhältnisse nicht besserten, würden Daniel und sein Team die Siegesfotos am Gipfel um zwölf Uhr mittags mit Blitzlicht machen müssen. »Es ist so friedlich«, staunte Kelly. »Der Sturm ist vorübergezogen«, sagte Abe. Doch er hätte es besser wissen müssen, als er das grünweiß geflochtene Seil berührte, das von der Höhle aus den Hang hinaufführte. Es vibrierte wie eine gerade gezupfte Gitarrensaite, und Abe begriff, daß dies die Ursache des eigenartigen Summtons war. Er kümmerte sich nicht weiter darum und widmete sich wieder seinen Vorbereitungen. Er hängte seine Steigklemmen ins Seil ein und setzte die Schneebrille auf. Selbst in der Dunkelheit konnte man schneeblind werden. Er trat aus der Höhle hinaus auf den Hang. Nichts war so, wie es schien. Abe begann zu fliegen. Er wurde in die Luft gesogen. Es ging blitzschnell. Ihm schoß der Gedanke durch den Kopf, daß er abstürzte, doch das stimmte nicht. Es war gar nicht möglich. 313
Der Wind hatte sich nicht gelegt, sondern war zu einem Orkan geworden, und Abe wurde gleich beim ersten Schritt von den Beinen geholt und drei oder vier Meter weit nach oben geschleudert. Ohne das Seil wäre er vom Hang weggesegelt wie ein Staubkorn. Abe klammerte sich an die Felswand. Er war zu verblüfft, um sich zu bewegen, und er wußte auch nicht, ob er sich bewegen konnte. Er war nicht verletzt, aber die Verwirrung bereitete ihm beinahe körperliche Schmerzen. Er mußte gegen den Schock ankämpfen, um auch nur bruchstückhaft zu begreifen, was passierte. Die Dunkelheit war in Wirklichkeit ein dichter, weißer Schneedunst, durch den man kaum etwas sah. Die Stille wurde von Donnerschlägen zerrissen. Oder die Stille bestand aus ständigem Donnern. Der Wind hatte Abe die Brille vom Gesicht gerissen. Wäre die Sauerstoffmaske nicht festgeschnallt gewesen, hätte es ihm buchstäblich den Atem verschlagen. Die losen Riemen seines Rucksacks schlugen ihm ins Gesicht. Abe atmete tief ein und drehte sich mit aller Kraft um. Stück für Stück zog er sich am Seil wieder nach unten, zurück zur Höhle. Kelly zerrte ihn hinein. »Mein Gott, Abe. Alles okay?« Entsetzt kniete sie sich im Eingang der Höhle neben ihn. »Gar nicht gut«, sagte Abe und hockte sich hin. »Und oben muß es noch schlimmer sein. Daniel und die anderen sitzen bestimmt fest.« »Das glaube ich nicht«, sagte Kelly. »Wenn sie in Camp fünf festsäßen, hätten sie uns das gesagt. Sie hätten sich heute morgen beim Funkspruch gemeldet. Die sind bestimmt unterwegs.« Natürlich gab es für die Funkstille von Camp fünf auch andere Erklärungen. Vielleicht waren die Batterien leer 314
oder über Nacht eingefroren. Vielleicht hatte jemand das Funkgerät fallen lassen, oder sie hatten verschlafen oder den Funkspruch vergessen. Die letzte, die schlimmste Möglichkeit war die, daß Daniel und die anderen wie geplant am frühen Morgen aufgebrochen waren und der Sturm sie ausgelöscht hatte. Abe behielt seine Mutmaßungen für sich. Er wurde nicht mit der übernatürlichen Kraft des Sturms fertig und starrte ängstlich auf den Hang hinaus. Es gab keine Bezugspunkte – keine Äste, Gräser, Flaggen oder Windsäcke –, die ihm halfen, die Sturmstärke einzuschätzen. Nichts wies darauf hin, daß der Wind überhaupt wehte. Der lose Schnee war längst weggefegt worden. Trotz ihrer friedlichen Erscheinung hatte sich die Nordflanke in einen gigantischen Mahlstrom verwandelt. »Bleiben wir hier, oder gehen wir rauf?« fragte Abe. Kelly zögerte keine Sekunde. »Wir müssen rauf«, erwiderte sie. »Die brauchen uns da oben.« Abe steckte eine weitere Sauerstoffflasche als Ballast in seinen Rucksack. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und trat wieder nach draußen. Diesmal hängte er eine seiner Steigklemmen verkehrt herum ins Seil ein und zog beide fest an. So behielt er das Gleichgewicht. Kelly machte es ihm nach, und nach den ersten Böen gewöhnten sie sich an den Wind. Abe blickte hinauf und sah fünfzehn Meter weiter oben ein rotblaues, kugelförmiges Elmsfeuer. Er hatte so etwas schon einmal auf dem Segelboot eines Freundes gesehen, aber noch nie in den Bergen. Die elektrische Gasentladung war von einer metallenen Seilverankerung angezogen worden und bewegte sich trotz des Windes überhaupt nicht. Weiter oben krönte ein riesiger hellgrauer Heiligenschein den Gipfel. Abe zwang sich dazu, tief 315
durchzuatmen. Er durfte sich von diesen wunderbaren Bildern nicht ablenken lassen, er mußte sich auf das Klettern konzentrieren. Er hatte große Angst. Der Wind war mörderisch kalt und zerrte an der Kleidung. Selbst wenn Kelly und Abe an den Standplätzen direkt nebeneinander standen, mußten sie schreien, um den Lärm zu übertönen. Doch der Sturm hatte auch einen Vorteil. Er verlieh ihnen Flügel. Abe hatte drei Flaschen Sauerstoff und seine Erste-Hilfe-Tasche eingepackt, und trotzdem fühlte sich sein Rucksack an, als wäre er leer. Der Berg schien ihn immer weiter nach oben zu ziehen. Er wurde das Gefühl nicht los, daß Kelly und er in einen Hinterhalt gelockt wurden. Abe näherte sich vorsichtig der ersten Verankerung. Der blaue Feuerball waberte um eine von Daniels TitanEisschrauben herum. Abe konnte sich nicht mehr erinnern, ob Elmsfeuer elektrisch geladen waren. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Hand in das sonderbar schimmernde Licht zu tauchen, damit er seine Steigklemme ins nächste Seil einhängen konnte. Die Hand kribbelte, mehr nicht. Abe roch Ozon, doch dann kam er zu dem Schluß, daß man bei diesem Wind und hinter einer Sauerstoffmaske nichts riechen konnte. Wieder eine Sinnestäuschung. Er kletterte weiter. Sie stiegen viel schneller auf, als es für einen Menschen in dieser Höhe eigentlich möglich war. Sie hatten gar keine andere Wahl. Kelly war am schlimmsten dran. Trotz hundert Tagen Gewichtsverlust wog Abe immer noch zwanzig Kilo mehr als sie, und das machte sich jetzt bemerkbar. Kelly verlor ein dutzendmal das Gleichgewicht. Sie richtete sich immer wieder auf, grub ihre Steigeisen in den Schnee und das Eis und kletterte weiter. Sie beklagte sich nicht. Abe blieb ein paar Schritte hinter ihr, um ihr 316
Windschatten zu geben. Er konnte es sich nicht leisten, Kelly zu verlieren. Die Situation wurde immer unheimlicher, und sein einziger Trost bestand darin, daß er Kelly beschützen konnte. Mit Liebe hatte das nichts zu tun. Die Selbstlosigkeit verkehrte sich ins Gegenteil. Abe mußte auf Kelly aufpassen, um sich selbst zu beweisen, daß er noch funktionierte. Kelly wurde langsamer. Sie ruhte sich öfter aus, kam aus dem Rhythmus, trat ins Leere und geriet manchmal ins Wanken. Zunächst zweifelte Abe nicht an Kellys Kondition, sondern schob dem Wind die Schuld zu. Doch schließlich begriff er, daß Kelly Probleme hatte. Er mußte mit ansehen, wie sie immer mehr Koordinationsschwierigkeiten bekam. Sie driftete ständig nach rechts ab und war offensichtlich desorientiert. Abe rief ihren Namen, doch sie kletterte weiter. Er rief noch einmal. Dann holte er sie ein und hielt sie am Arm fest. »Kelly«, rief er. »Alles okay?« »Kalt«, murmelte sie durch die Maske hindurch. Die einfachste Erklärung bestand darin, daß ihr der Sauerstoff ausgegangen war. Abe hoffte, daß dies der Grund war. Er kletterte an ihr vorbei und suchte in ihrem Rucksack nach dem Behälter. Der Zeiger stand auf dreiviertel voll. Abe überprüfte die Maske. Es war eine Standard-Fliegermaske von der Armee. Reiner Sauerstoff wurde durch ein Ventil geleitet und mit Luft von außen vermischt. Das war ein ganz einfaches Prinzip, doch das Auslaßventil konnte leicht vereisen. Abe hatte im Basislager zur Übung die Maske auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Er hoffte inständig, daß nicht das Einlaßventil vereist war. Zum Glück war es die Auslaßöffnung. Er drückte die Gummimaske in seinem 317
Handschuh zusammen und holte das Eis heraus. Dann zog er Kelly die Maske wieder über den Kopf und drehte den Regler auf zwei Liter pro Minute. »Versuch’s mal so«, brüllte er. Sie nickte müde. Nach einer Weile kletterte sie wieder schneller. Nach zwei weiteren Seillängen verbreiterte sich die enge Rinne des »Schießstandes«, und der Hang war nicht mehr so steil. Sie erreichten eine schräg liegende, verschneite Hochebene. Im Vergleich zu der fast senkrechten Felswand der letzten Tage kam ihnen dieses Plateau geradezu flach vor. Sie ließen den Abgrund hinter sich. Aus den Augen und beinahe aus dem Sinn. Das Seil endete hier. Daniel hatte offenbar entschieden, daß keine Absicherung nötig war. Sie kletterten noch etwa eine Stunde lang bei ohrenbetäubendem Sturmgeheul weiter, dann blieb Kelly stehen und deutete nach vorn. Nicht weit entfernt – vielleicht zweihundert Meter weiter – stand ein einzelnes orangefarbenes Zelt. Daniel hatte es aus dem Bestand genommen, den die Neuseeländer in der Höhle zurückgelassen hatten. Im Augenblick war es die am höchsten gelegene menschliche Behausung auf der ganzen Welt. Das Zelt stand im Schnee, an der Grenze zwischen dem Plateau und dem Gelben Band. Durch Abes Schneebrille schimmerten die Felsen giftgrün wie die Schuppen einer Eidechse. Kelly zeigte jedoch mit dem Finger über das Zelt hinweg, und Abe blickte nach oben. Er sah einen dicken breiten Schneeüberhang, der sich etwa hundert Meter über dem Camp gebildet hatte. Er bestand wahrscheinlich aus ungefähr tausend Tonnen Schnee – eine perfekt geformte Lawine, die jeden Moment abgehen konnte. Dann 318
entdeckte Abe überall an den abschüssigen Felsplatten ähnliche Gebilde. Dem gesamten Gebiet drohte eine Katastrophe. Bei diesem Anblick hätte Abe beinahe auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre so schnell wie möglich abgestiegen. Doch ein anderer Anblick hielt ihn zurück – ein eher armseliger Anblick. Vor ihm, fast zum Greifen nahe, befand sich der Gipfel. Abe war enttäuscht. Trotz all seiner Erhabenheit und Brutalität gipfelte der Everest nicht in einer aufsehenerregenden Kuppe oder einem spitzen Zacken. Statt dessen endete der Berg mit einem jämmerlichen kleinen Buckel, einem grauen Klumpen unter dem grauen Himmel. Der Gipfel war vielleicht noch achthundert Meter entfernt und lag dreihundert Meter höher, doch er schien viel näher und leicht erreichbar zu sein. Ein Nachmittagsspaziergang. Wie Daniel gesagt hatte, konnte man von hier aus das Stativ auf dem Gipfel als kleine, längliche Erhebung erkennen. Das Stativ erinnerte Abe an einen Altar für Ameisen: lächerlich und keineswegs prächtig. Kelly zog Abe am Arm und rief etwas. Sie hatte ihre Schneebrille abgenommen. Abe beugte sich zu ihr hin. Sie stießen mit den Helmen zusammen. »Niemand zu sehen«, brüllte sie gegen den Wind an, und Abe dachte, sie wäre schneeblind geworden. »Deine Brille«, schrie Abe zurück. Er bedeutete ihr, daß sie sie aufsetzen sollte. Entweder verstand sie ihn nicht, oder es war ihr egal. Jedenfalls ließ sie die Brille weiterhin an der Schnur um ihren Hals baumeln. Sie zeigte wieder zum Gipfel. Abe begriff, daß sie Daniel und die anderen auf dem Gipfelhang suchte. Jetzt sah auch er genauer hin. Der 319
Blickwinkel war ideal, um zu erkennen, ob sich dort oben etwas bewegte. Wenn man das Stativ sehen konnte, gab es keinen Grund, warum man einen Menschen, der in Signalfarben gekleidet war, nicht erkennen sollte. Abe versuchte vergeblich, die Route von dem orangefarbenen Zelt bis zum Gipfel hinauf zu rekonstruieren. Dann versuchte er es auf fünf oder sechs verschiedenen Pfaden von oben nach unten. Kelly holte ihren Fotoapparat heraus und schraubte das Teleobjektiv auf. Abwechselnd suchten sie beide den Gipfel ab. Es war niemand zu sehen. Die Bergsteiger waren verschwunden. Der Wind trieb Kelly die Tränen in die Augen. Sie brüllte irgend etwas, doch Abe schüttelte den Kopf – in diesem Orkan war nichts zu verstehen. Er versuchte, ihr die Brille wieder aufzusetzen, aber in der Kälte waren seine Finger steif geworden. Außerdem sah er Kellys Müdigkeit und Benommenheit. Er vermutete, daß ihre Maske wieder vereist war, und das bedeutete noch mehr Arbeit. »Das Zelt«, schrie er. Abe marschierte los; er pflügte mit den Beinen durch die Schneekruste. Er überließ es dem Wind, Kelly hinter ihm herzutreiben. Während sie zu dem orangefarbenen Zelt stapften, versuchte Abe seine Gedanken zu ordnen, um ein methodisches Vorgehen zu ermöglichen. Solche Dinge wie Such- und Rettungsaktionen oder auch ein Rückzug mußten schnell, präzise und emotionslos geplant werden. Doch mit jedem Schritt wurde Abe noch erschöpfter und verwirrter. Sie brauchten eine Stunde für die zweihundert Meter bis zum Camp. Als sie das orangefarbene Zelt erreichten, konnte Abe seine Finger nicht mehr bewegen, und Kelly kniete sich nur hin und starrte den geschlossenen 320
Zelteingang an. Schließlich hakte Abe mit seinem Eispickel hinter eine Lasche und zog den Reißverschluß vorsichtig auf. Er achtete darauf, daß er den Reißverschluß nicht beschädigte, denn wenn sie den Eingang nicht mehr schließen konnten, würde der Wind sie mit Sicherheit umbringen. Abe nahm Kelly und sich selbst die Rucksäcke ab und ließ sie in den Schnee fallen. Dann schob er Kelly ins Zelt und kroch nach ihr hinein. Es dauerte fünf Minuten, bis er den Reißverschluß mühselig wieder zugezogen hatte. »Keiner da«, brüllte Kelly gegen den Wind an. Auch sie hatte gehofft, daß Daniel und die anderen im Zelt sein würden. An der hinteren Wand lagen vier Schlafsäcke übereinander. Daniels Team hatte gegen die Regeln verstoßen und das Zelt mit den Steigeisen betreten. Abe erkannte das an dem aufgeschlitzten, durchlöcherten Boden. Dann sah er, daß auch er vergessen hatte, seine Steigeisen abzunehmen. Auch Kelly hatte ihre noch umgeschnallt. Er nahm sie ab. Die Zeltwände vibrierten so heftig, daß es brummte. Abe war dankbar, daß das Zelt überhaupt noch stand. Kelly saß mit offenem Mund, leuchtendblauen Lippen und ohne Sauerstoffmaske in der Ecke und starrte vor sich hin. Erschöpft sahen sie einander an. Abe fühlte sich, als würde er schlafen. Oder er war tot. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Sauerstoff«, sagte er zu Kelly. Doch ihr waren die Augen zugefallen. Abe setzte ihr die Maske auf den Mund. Er überprüfte den Regler an ihrer Sauerstoffflasche. Sie war noch zu einem Viertel gefüllt. Dann überprüfte er seine eigene Flasche. Sie war leer. Er atmete also in 8400 Metern Höhe nur die dünne Luft der Umgebung, und er wußte nicht, wie lange schon. 321
Abe nahm Kelly die Maske vom Gesicht und schnallte sie sich selbst um. Es war, als würde er einem Kind den Lutscher wegnehmen. Doch sie protestierte nicht. Sie merkte es nicht einmal. Er drehte den Regler hoch auf vier Liter pro Minute und atmete so tief ein, wie es in dieser Höhe ging. Nach fünf oder zehn Minuten wurde ihm wärmer, und er war nicht mehr so benommen. Er hatte wieder eine klare Vorstellung von den Grundbedürfnissen: Sie mußten atmen, essen und trinken. Abe machte den Reißverschluß auf. Der Wind schlug ihm ins Gesicht, und das Zelt blähte sich an der Rückseite auf. So schnell wie möglich öffnete er seinen Rucksack, zog weitere Sauerstoffflaschen ins Zelt und machte den Reißverschluß wieder zu. Es dauerte eine Weile, aber schließlich schaffte er es, die zweite Sauerstoffmaske an einen vollen Behälter anzuschließen. Er zog Kelly die Maske über den Kopf und drehte den Regler auf. Der Sauerstoff würde für vier bis sechs Stunden reichen. Kelly schlief. Abe kochte. Anstatt das Zelt immer wieder zu öffnen, wenn er mehr Schnee zum Schmelzen brauchte, schlitzte er einfach den Boden auf und nahm den Schnee, der unter dem Zelt lag. Da Kelly außer Gefecht war, redete Abe mit sich selbst. »Wir sind in Schwierigkeiten«, sagte er. Er fragte sich, ob die Anzeige des Sauerstoffgeräts defekt war. Wahrscheinlich war die Flasche schon wieder leer, doch es war ihm zu anstrengend, nachzusehen. Angst hatte er nicht. Im Gegenteil. Viele alte Freunde und flüchtige Bekannte tauchten aus dem Nichts auf und sprachen ihm Mut zu. Sie waren um ihn besorgt und murmelten freundliche, wenn auch unlogische Ratschläge. Das Zelt schien jetzt viel größer zu sein. Es war mit Dutzenden von Besuchern gefüllt. Abe kümmerte sich um das Schneeschmelzen. Er mußte ja so viele Leute mit Wasser 322
versorgen. Auf einmal bebte das Zelt mehr als zuvor. Zu den geisterhaften Gesprächen, die Abe hörte, kamen weitere laute Stimmen hinzu. Der Zelteingang öffnete sich. Weitere Gespenster erschienen auf der Party. Abe hielt unter den neuen Gesichtern Ausschau nach Jamie, doch sie war nirgends zu sehen. Abes Vater mit seinen Narben schwebte dahin; der tibetische Mönch, in Yakfelle gehüllt, lehnte sich lächelnd gegen eine Zeltwand und sah sehr jungenhaft aus. Daniel, Gus und alle anderen waren auch da. Das Stimmengewirr klang wie das Tosen des Windes, und das Tosen des Windes erinnerte Abe an ein langes, unendliches Gebet – eine Art Hochamt. Und Abe war der Priester. Er bot seiner Gemeinde Wasser an. Abe saß dicht neben Kelly, die sich wie ein Embryo zusammengekrümmt hatte. Er verteilte Becher mit Schmelzwasser, kochte weiter und schaufelte durch das Loch im Boden immer mehr Schnee in den Topf. Er hatte kaum Platz zum Arbeiten – das Zelt war viel zu voll –, und er mußte den herabhängenden Kocher vor Ellbogenstößen schützen. Schließlich löste ihn jemand ab. Es war Daniel. Abe mußte noch enger an Kelly heranrücken, und irgend jemand saß auf seinem Bein. Er schlief ein. Abe saß immer noch aufrecht, als er langsam wieder erwachte. Durch seine Maske atmete er Sauerstoff. Das Zelt war voller Menschen, doch jetzt sah alles anders aus. Die Menschen hatten sich verändert. Der Sturm hatte aufgehört. Schlichtheit und Freundlichkeit waren verschwunden. Das Zelt war wieder klein und schäbig; die Wände waren dunkel geworden. Daniel sah ihn an. Er trug keine Sauerstoffmaske. »Alles okay, Abe?« fragte er. 323
Abe nickte. »Du hast gesungen«, sagte Daniel. »Wir kamen rein, du hattest keinen Sauerstoff mehr, und du hast gesungen.« Außer sich selbst zählte Abe drei weitere Personen im Zelt: Kelly, Daniel und Gus. GUS und Kelly lagen, in Schlafsäcke gehüllt, dichtgedrängt in einer Ecke und dösten. Daniel kümmerte sich um den Kocher. Abe versuchte den langen, bizarren Nachmittag zu enträtseln. Die Sauerstoffflasche war wieder leer gewesen. Er hatte halluziniert, soviel stand fest. Vielleicht halluzinierte er immer noch. »Wir haben euch nirgends gesehen«, sagte Abe. Zum Sprechen hob er die Maske an. »Wir dachten, ihr wärt tot.« »Das dachte ich auch«, erwiderte Daniel. »Wir hatten Probleme am Gelben Band. Der Sturm hat uns behindert. Wir waren nahe dran. Aber die Zeit war zu knapp. Wir mußten umkehren.« »Wo ist Stump? Wo ist JayJay?« fragte Abe. Er fand sich bereits damit ab, daß Daniel sie verloren hatte. Daniel blinzelte Abe verdutzt an. »Die waren beide eine ganze Weile hier im Zelt. Du hast ihnen Tee gegeben und mit ihnen gesprochen. Dann haben sie sich abgeseilt. Sie sind bis Camp drei gekommen, dann wurde es dunkel. Ich hab über Funk mit ihnen gesprochen.« »Ich verstehe nicht.« »Abe, es ist neun Uhr abends.« Abe runzelte die Stirn. So viele Stunden waren also vergangen. Seine Kameraden und die Gegenstände im Zelt sahen immer noch geisterhaft aus, und er begriff, daß er dem Schattenreich noch nicht ganz entkommen war. »Und sonst?« fragte Abe. »Irgendwelche Neuigkeiten?« 324
»Robby und Thomas sind in Camp vier. Aber Thomas kotzt wie ein Reiher. Wenn das nicht besser wird, steigen sie morgen früh wieder runter.« »Und Jorgens? Ist er noch in Camp eins?« Es half ihm, die anderen zu orten. Er wurde gelassener. »Immer noch. Heute abend hat er seine Aussage gemacht: nicht schuldig.« »Nicht schuldig?« »Jorgens sagt, er habe den Jungen nicht verpfiffen.« Abe hatte den Mönch nicht vergessen. Doch er mußte nachdenken, ob Jorgens’ Verrat für ihn wichtig war. Er wußte es nicht. Für Daniel schien der Verrat dagegen sehr wichtig zu sein. »Dafür wird Jorgens büßen«, sagte Daniel. »Stump und ich sind uns einig. Das soll er mal seinem geliebten Bergsteigerverband erklären.« Daran hatte Abe nicht gedacht. Der American Alpine Club nahm sich selbst sehr wichtig, und bei der nächsten Versammlung würde Jorgens den Vorsitz keine fünf Minuten mehr behalten. Das würde ihn dort treffen, wo es ihn am meisten verletzte; es war schlimmer als jeder Fluch und jeder Faustschlag. Doch Abes Schadenfreude schwand, als er sich die stimmberechtigten Vorstandsmitglieder vorstellte. Die meisten waren Anwälte und Geschäftsleute, die sich mit den vielen Grautönen zwischen Schwarz und Weiß bestens auskannten. Außerdem war das Wort Ethik für die meisten Bergsteiger gleichbedeutend mit den Richtlinien, in denen festgelegt war, wieviel Kreide sie sich in die Hände schmierten oder wie viele Bohrhaken sie in den Fels hämmerten. Fünfzehntausend Kilometer entfernt und Monate oder Jahre später würden ihnen die Begriffe »Schuld« und »Verrat« absurd vorkommen. Sie würden 325
sagen, was auch Jorgens sagte: Ein Bergsteiger hat keine Pflichten außer dem Klettern. Und so verlor der Rachegedanke seine Bedeutung, besonders an diesem Abend, in einer Höhe von 8400 Metern, mit Gespenstern im Zelt. »Was ist mit dem Jungen?« fragte Abe. »Carlos sagt, sie transportieren ihn morgen ab. Er hat den Jungen seit neulich nicht mehr gesehen. Der liegt gefesselt in der Hütte.« Abe hätte geseufzt, wenn er die Luft dazu gehabt hätte. »Und Li will, daß wir runterkommen.« »Ich denke, wir haben zehn Tage?« »Nur noch zwei, Abe. Dann sind die zehn Tage um.« »Kann sein.« Menschen, Tage, selbst die Gründe, warum er hier war – man verlor so leicht den Überblick. »Carlos hat noch was gesagt. Die Yaks sind aus dem Basislager weggelaufen.« »Und?« Abe wußte, daß Yaks ständig wegliefen. »Carlos sagt, daß die Hirten total durchdrehen. Bis heute war mit den Yaks alles okay. Dann wurden sie unruhig und liefen rum. Und dann sind sie durchgebrannt. Nach Norden. Die Hirten sagen, das ist ein schlechtes Omen. Es wird was passieren. War ein merkwürdiger Nachmittag da unten.« Abe hatte im Moment keinen Sinn für dunkle Vorahnungen und abergläubisches Geschwätz. »Hier oben war es auch ein merkwürdiger Nachmittag.« »Willkommen unter den Lebenden.« Daniel lächelte. Es gefiel Abe, daß man über den Wahnsinn Witze machen konnte. Neben Abe wimmerte Kelly. Sie jaulte unter ihrer Maske wie ein Kätzchen. Ihre Augen waren geschlossen, und Abe 326
nahm an, daß sie wieder ihren Alptraum hatte. »Wie ist denn das mit ihren Augen passiert?« fragte Daniel. Abe leckte sich die Lippen und runzelte die Stirn. Er hatte Kopfschmerzen, und es fiel ihm schwer, Daniel zu folgen. »Sie ist schneeblind«, sagte Daniel. »Ich hab ihr gegen die Schmerzen ’ne halbe Valium gegeben.« »Valium? In dieser Höhe?« »Abe, ich habe dich gefragt. Es war deine Idee.« Abe blickte auf seine Hände. Er ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. Er fragte sich, was er an diesem Nachmittag noch alles gesagt und getan hatte. »Also, wie geht’s weiter?« fragte er. Daniels Team war vor dem Gipfel gescheitert. Kelly war blind. Sie waren am Ende. Es waren nicht mehr genug Leute übrig, um es noch zu schaffen. Der Mount Everest hatte wieder eine Expedition besiegt. Ihre einzige Aufgabe bestand jetzt darin, heil wieder nach unten zu kommen. Abe hoffte nur, daß Daniel den Abstieg nicht sofort beginnen wollte. Nicht in der Dunkelheit. »Ich kenne den Weg jetzt«, sagte Daniel. »Wir haben das Gelbe Band geknackt. Ich dachte, es wäre leicht. Ich habe mich geirrt. Aber jetzt kenne ich den Weg.« Abe empfand Mitleid für Daniel. Er war so weit gekommen, hatte so viel dazugelernt und mußte nun doch umkehren. Aber er zweifelte nicht daran, daß Daniel wiederkommen würde. Irgendwann würde er seine Mission auf diesem Berg zu Ende führen. Carlos hatte einmal von einem Berg im westlichen Tibet erzählt, den die Pilger immer wieder umkreisten. So war es auch bei Daniel, nur daß seine Kreise von unten nach oben 327
verliefen. »Was meinst du, Abe?« »Gleich morgen früh«, sagte Abe. »Wir können um sieben Uhr starten.« Damit hatten sie den ganzen Tag Zeit und konnten den größten Teil des Weges schaffen. Vielleicht erreichten sie sogar das ABC-Camp. »Ich dachte eher an sechs Uhr.« »Also gut, sechs.« Daniel grinste. »Keine Sorge, Abe. Diesmal kenne ich den Weg.« Abe verzog das Gesicht. Er war entsetzt. Sie sprachen über verschiedene Richtungen. Daniel wollte nach oben. »Ich dachte, du willst runter.« »Er will rauf«, mischte sich eine weitere Stimme ein. Es war Gus. Sie hatte zugehört. Sie sah völlig erledigt aus. Sonne, Wind und Erschöpfung hatten ihr Gesicht in einzelne Teile zerschnitten, und diese Teile fielen langsam auseinander. Alles fiel auseinander. Abe sah sich außerstande, noch weiter nach oben zu klettern. Jetzt, da der Nachmittag vorüber war, da er begriff, wie wenig handlungsfähig er in seinem Wahnsinn noch gewesen war, bekam er Angst. Er mußte diese Zone der Sinnestäuschungen verlassen, bevor sie ihn verschlang. Doch er wollte sein hart erkämpftes Bündnis mit Daniel nicht aufs Spiel setzen, indem er einfach nein sagte. Er deutete auf Kelly. Sie lag schlafend da – ein Bündel aus Daunen und goldenem Haar. »Aber Kelly ist blind«, sagte Abe. »Ich muß sie runterbringen.« Das stimmte zwar, aber es war auch ein guter Vorwand. Auf diese Weise konnte er absteigen, und Daniel würde ihn trotzdem respektieren. Doch sein Plan schlug fehl. 328
»Einspruch.« Gus hörte sich an, als wäre sie hundert Jahre alt. »Ich kümmere mich morgen um Kelly. Ihr geht rauf, ich geh runter.« »Aber Gus …« Daniel stockte. »Ich bin am Ende.« Sie sagte es mit Bestimmtheit und ohne Pathos. »Ich kann nicht mehr weiter. Das weiß ich genau.« »Gus«, protestierte Daniel. Doch er wußte, daß sie recht hatte. Wenn ein Kletterer sich einmal vom Berg abwendet, ist jede Diskussion zwecklos. Ohne Selbstvertrauen und Leidenschaft würde ein Bergsteiger die Katastrophe geradezu herausfordern. Abe beobachtete, wie Gus’ Blick immer ernster wurde. Es war, als würde er einen Menschen beim Sterben beobachten. Doch Abe fand, daß er sich diesen Voyeurismus verdient hatte, und Gus wich seinem Blick auch nicht aus. Das ständige Aufpassen auf Daniel hatte ihr die Kraft geraubt. »Das tut mir leid, Gus«, sagte Daniel. Abe registrierte, daß Daniel nicht anbot, selbst auf den Gipfel zu verzichten. Er schlug nicht vor, gemeinsam mit ihr abzusteigen. Sie würden also nicht Hand in Hand den Berg hinter sich lassen und in eine glückliche Zukunft gehen. Es gab kein Happy End. Und auch kein Mitleid. Daniel nahm emotionslos Gus’ Scheitern zur Kenntnis. Gus war nicht sonderlich betroffen. »Ich bringe ja kein Opfer«, sagte sie achselzuckend. »Ich mache nur einem anderen Platz.« Dann sah sie Abe an. »Ich hatte meine Chance. Jetzt bist du dran. Bring’s hinter dich.« Es war bemerkenswert, wie sie das zustande brachte: Sie zwang Abe ihre Rolle auf und klang dabei noch wohlwollend. Doch die Tatsachen sprachen für sich. Bei dem Versuch, ihrem Geliebten zu seinem Gipfel zu 329
verhelfen, hatte sie sich verausgabt, und jetzt sorgte sie für Ersatz. Gus brachte zweifellos Opfer, auch wenn sie es abstritt. Mit der kühlen Berechnung eines Königmachers opferte sie ihre zweite Chance; sie nahm Abes Angst in Kauf und riskierte vielleicht sein Leben, und möglicherweise setzte sie sogar Kellys Leben aufs Spiel, falls es von Abes medizinischen Kenntnissen abhing. Gus war bereit, für Daniels Erlösung alles und jeden zu opfern, sich selbst eingeschlossen. Und Abe nahm es ihr nicht einmal übel. »Laß ihn zufrieden«, sagte Daniel zu Gus. »Du hast deine Entscheidung getroffen. Er auch. Ich hab ihn einfach mißverstanden.« Sie ließ Abe nicht aus den Augen. »Er redet so, als wärt ihr Blutsbrüder«, sagte sie zu Abe. »Und du benimmst dich auch so.« »Hör auf«, fauchte Daniel. Sie blickte ihn an. »Wenn Abe runtergeht, gehst du dann mit?« »Darum geht’s nicht.« »Doch, genau darum geht es«, entgegnete Gus. »Allein schaffst du es nicht.« Sie wandte sich Abe zu. »Und du auch nicht.« Dann schwieg sie. Hätte sie nur ein falsches Wort gesagt, dann hätte Abe sie sitzenlassen. Doch die Dunkelheit in seinem Herzen dauerte schon zu lange an; exakt so lange, wie er Daniel kannte. Es war an der Zeit, zu fliehen. Für beide. Gemeinsam. Sie mußten noch dreihundert Meter klettern, dann würden sie die Sonne wieder sehen. »Du hast recht«, sagte Abe. »Verdammt, Gus.« Daniels Schultern sahen unter dem 330
Parka schmächtig aus. Er war wütend und zugleich niedergeschlagen. »Sei still«, sagte Abe zu Daniel. Sie waren beide überrascht. »Ich komme mit. Wir packen es.« »Hört mal«, sagte Gus. »Der Wind. Er hat aufgehört.« Sie hatte recht. Die Zeltwände vibrierten nicht mehr. Das Getöse war verstummt. Sie konnten sich in normaler Lautstärke unterhalten. »Laßt uns schlafen«, sagte Daniel. »Es ist so still«, bemerkte Abe. Das konnte nicht nur an dem fehlenden Wind liegen. Er berührte die bewegungslose Zeltwand und fühlte, daß sie so stabil und schwer war wie nasser, kalter Beton. Daniel zog den Reißverschluß ein Stück auf und leuchtete mit seiner Lampe nach draußen. »Es schneit«, verkündete er. »Und zwar heftig.« »Das hört wieder auf«, sagte Gus. »Wie der Wind. Der hat auch aufgehört. Und jetzt legt euch schlafen.«
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11. KAPITEL Vor langer Zeit, nach einem sonnigen Tag beim Freiklettern und nach einigen Schnäpsen, hatte Abe die Theorie aufgestellt, daß ein Berg nichts anderes sei als eine Pyramide aus Erinnerungen und Träumen. Er hatte darauf bestanden, daß erst die Wahrnehmung des Bergsteigers den Berg ausmache. Natürlich war auch die gegenteilige Auffassung denkbar, daß jeder Bergsteiger nur die Erfindung eines langen geologischen Schlummers war. So wie die Kletterer ihre Träume manipulieren, kann auch der Berg die Besteigung manipulieren. Und wenn der Berg erwacht, endet der Traum, und der Bergsteiger verschwindet. Doch daran hatte Abe damals im schwülen Halbdunkel eines mexikanischen Restaurants nicht gedacht, und jetzt war es zu spät, denn die Kore-Wand erwachte zum Leben. Sie überfiel Abe genau in dem Moment, als er – gestiefelt und gespornt – auf die Uhr sah. Sie hatten alle kein Auge mehr zugetan, nachdem die Wirkung von Kellys Valium nachgelassen hatte. Sie hatte um weitere Tabletten gebettelt. Abe hatte ihr keine mehr gegeben und gesagt, sie müsse für den Abstieg bei klarem Verstand sein. Sie hatte geweint und ihn verflucht, doch durch die Tränen schmerzten ihre brennenden Augen nur noch mehr. Um drei Uhr dreißig fingen Abe und Daniel im Licht der Stirnlampen an, sich auf ihren letzten Angriff auf den Gipfel vorzubereiten. Gus und Kelly blieben in ihren Schlafsäcken, um in dem engen Zelt nicht noch mehr Platz wegzunehmen. Sie würden ihre Vorbereitungen für den Abstieg treffen, wenn die Männer losgegangen waren. 332
Seit einhundert Tagen hatten sie die Zeit vergessen und wie Verbannte gelebt. Doch an diesem Morgen konnte Abe gar nicht oft genug auf die Uhr sehen. Wie ein zum Tode Verurteilter zählte er jede Minute. Sein Schicksal schien von Sekunden abzuhängen. Um fünf Uhr fünfzehn zwängte Abe sich in seine Stiefel und zog die Schneegamaschen über. Die Bindungen seiner Steigeisen ließ er um fünf Uhr vierzig zuschnappen; acht Minuten später setzte er seinen Helm auf, und fünf Minuten danach überprüfte er sowohl sein eigenes als auch Daniels Sauerstoffgerät. Bevor er sich die Handschlaufe des Eispickels umschnallte, sah er noch einmal auf die Uhr: 12. Juni, 05:57. In diesem Moment bebte die Erde. Sie bebte nur leicht. Kelly spürte das Zittern zuerst. »Was ist das?« fragte sie. Dann spürte Abe es auch. Und dann hörten sie den Schnee. Die erste Lawine zischte wie eine riesige Schlange, als sie abging. Abe und die anderen wußten sofort, was los war. Sie waren sich der Gefahr bewußt gewesen. Auf dem gelben Band türmte sich feuchter Schnee auf trockenem Schnee, und sie befanden sich mitten im kalten, weißen Schußfeld. Die erste Lawine ging daneben. Sie saßen mit weitaufgerissenen Augen da und hörten, wie die Lawine über den Kalkstein hinwegrollte und mit lautem Donnern auf dem Plateau aufschlug. Sekunden später wurde das Zelt vom Luftsog beinahe weggerissen. Ein Nebel aus feinen Schneekörnchen wurde durch den geschlossenen Reißverschluß hineingedrückt, und die Luft wurde weiß. Daniel brüllte irgend etwas, doch jetzt hatte der Berg das Sagen. 333
Die zweite Lawine ging nicht daneben. Der Zelteingang wurde weggeblasen. Ein gewaltiger Sog zerrte an Abes Lunge, Herz und Gedärmen und schien ihm sämtliche Eingeweide auf einmal zu entreißen. Einen Augenblick später kehrte sich das Vakuum um. Die Zeltwände fielen in sich zusammen. Das Nylon spannte sich hauteng um Abes Körper. Aus Weiß wurde Schwarz. Aus Lärm wurde Stille. Alle Sinneswahrnehmungen blieben aus. Zuerst dachte Abe, er sei tot. Damit kann ich leben, dachte er. Es war so friedlich und warm um ihn herum. Er spürte keine Schmerzen. Es war so ruhig wie im Paradies. Seit seiner Geburt hatte er diese Ruhe gesucht. Doch dann holte er Luft. Es war ein brennender, vernichtender Atemzug, und er tauchte in die Hölle ein. Abe wußte plötzlich, daß er sich sein halbes Leben lang vor dem Moment gefürchtet hatte, in dem ihn das Schicksal der unglückseligen Diana ereilen würde. Jetzt war dieser Moment gekommen. Die »Mutter der Erde« hatte ihn in sich begraben – wie eine Wespe, die ein lebendes Insekt fing, um ihre Jungen zu füttern. Der Berg würde sich bis in alle Ewigkeit von ihm ernähren. Abe versuchte seine Arme zu bewegen. Daß es nicht ging, überraschte ihn nicht. Dennoch durchzuckte ihn die Platzangst. Er versuchte mit aller Kraft, um sich zu schlagen und zu treten, um ein Loch in sein Gefängnis zu reißen. Er mußte sich bewegen, und wenn es nur zentimeterweise war. Er brüllte und schrie, doch das machte es nur noch schlimmer. Er klang wie ein Mensch, der im Inneren eines Berges gefangen ist. Schließlich wurde er ohnmächtig. Als Abe wieder zu sich kam, tat ihm der Hals weh. Er 334
hatte keine Ahnung, wie lange er bewußtlos gewesen war. Nicht lange genug. Er drehte wieder durch. Und wieder wurde er ohnmächtig. Als er zum zweiten Mal wieder zu sich kam, wollte er rational mit dem Grauen umgehen. Doch als er versuchte, sich seine Stellung auszumalen – aufrecht, kopfüber oder sitzend – und seine Position auf dem Berg zu bestimmen, verlor er erneut die Besinnung. Als Abe dann das Bewußtsein wiedererlangte, war er zu erschöpft und zu schwach, um noch zu kämpfen. Er spürte einen weit entfernten Schmerz. Er wußte, daß dieser Schmerz von der genähten Wunde an seinem rechten Arm herrühren mußte. Trotzdem konnte er das Gefühl nicht orten. Das also war vom Leben noch übrig: Ohne räumliche und zeitliche Orientierung, ohne die Sonne reduzierte es sich auf eine simple Empfindung. So wollte Abe nicht weiterleben. Dennoch fühlte er sich in seinem Sarg aus Schnee beflügelt. Wenn er auch keine Kontrolle über die Bewegungen seines Lebens hatte, so konnte er es zumindest beenden. Die einfache Tatsache, daß er eine Wahl hatte – wie endgültig sie auch sein mochte –, beruhigte ihn. Er haderte nicht mehr mit sich. So oder so würde er seine Freiheit zurückbekommen. Doch Selbstmord war leichter gesagt, als getan. Abe geriet in Panik, als er begriff, wie hilflos er eigentlich war. Er kam auf die Idee, daß er den Mund voll Schnee nehmen und sich ertränken konnte, wenn auch sehr langsam. Als er jedoch in den Schnee beißen wollte, merkte er, daß er die Sauerstoffmaske noch auf dem Gesicht hatte. Anscheinend konnte er nicht einmal ersticken. Es war hoffnungslos. Kurz bevor die Lawine ihn erwischt hatte, war der Sauerstoffbehälter noch voll gewesen, und Abe hatte den Regler noch nicht von einem halben Liter pro Minute zum 335
Schlafen auf zwei Liter zum Klettern hochgedreht. Er rechnete schnell nach und stellte fest, daß er noch für acht oder neun Stunden Sauerstoff hatte, und er konnte nicht einmal den Kopf bewegen, um die Maske abzuschütteln. Seine letzte Hoffnung bestand also darin, verrückt zu werden. Doch gerade als er der Platzangst erlauben wollte, ihn in den Wahnsinn zu treiben, verschwand sie völlig. Er war ruhig und zugleich schockiert. Ihm fiel ein, daß ihm jemand erzählt hatte, tibetische Tulkus könnten ihren Todeszeitpunkt selbst bestimmen. Durch Meditation konnten sie das irdische Jammertal verlassen. Abe erinnerte sich an die winzigen Zellen im Kloster, wo die Mönche sich für sechs oder zwölf Monate hatten einschließen lassen. Er starrte in die Finsternis. Vielleicht schlief er. Jedenfalls kam ihm ein weiterer Gedanke in den Sinn, der so süß war wie das Morgenrot. Es war eigentlich kein Gedanke, sondern ein Flüstern. Es lockte ihn. Es zerrte an ihm. Es zerrte ihn durch den Schnee und das Eis und den Fels und die Zeit hindurch und verband ihn wieder mit seiner Vergangenheit. Es war wie ein Traum. Bebende Empfindungen durchfluteten seine Phantasie. Ich bin der Berg geworden, dachte Abe. Das gefiel ihm: die endgültige Vereinigung des Bergsteigers mit seinem Berg. Er fühlte sich befreit. Und dann wurde er befreit. Das Unmögliche wurde wahr. Hände, Stimmen, Licht – er wurde aus seinem Grab gezogen und wieder an die Oberfläche befördert. Niemand fragte ihn, ob er das noch einmal erdulden wollte. Sie zerrten den schreienden und zappelnden Abe einfach in das grelle Licht und den kalten Wind. Es begann mit seinem Gesicht. Eine Hand wischte ihm den Schnee aus den Augen, von den Wangen und aus den 336
Haaren. Abe schaute aus der Tiefe seines Grabes hinauf und erblickte eine Frau, die so aussah, wie er sich einen Engel vorstellte. Sie war vom Wind zerzaust; ihr langes, blondes Haar wehte im Wind. Um sie herum tobte der Sturm. »Abe«, schrie Kelly gegen den Wind und den Schnee an. »Abe!« Wie sie überlebt hatte, wußte er nicht. Sie war blind und erschöpft, und sie taumelte. Abe steckte mit dem Kopf im Schnee fest. Dennoch konnte er den Gipfel sehen, oder zumindest die Stelle, wo er einmal gewesen war. Der Himmel war verschwunden. Es gab kein Blau mehr, nur noch Grau. Die Farbe war verblichen, die Grenze zwischen Himmel und Erde existierte nicht mehr. Der Gipfel war für immer verloren. Hinter Kelly tauchte eine dunkle Figur auf. Es war Daniel, in voller Montur, vom Helm bis zu den Steigeisen, einschließlich Eispickel. Als Abe im Schneetreiben zu ihm hinaufblinzelte, sah er einen schwarzen Abseilachter, der an Daniels Klettergurt baumelte. Und Abseilachter waren zum Abseilen da. Abe wußte sofort Bescheid. Sie waren drauf und dran gewesen, ihn lebendig begraben zurückzulassen. »Lebt er noch?« brüllte Daniel in den Wind. Er hatte seine Maske weggeworfen, ebenso wie Kelly. Es gab keinen Sauerstoff mehr im Camp. Kelly weinte, als wäre Abe spurlos verschwunden. Sie griff mit der Hand in die Grube. Sie tastete blind herum und zog ihm die Maske vom Gesicht. Der beißende Geruch von zerstoßenen Felsen kroch ihm in die Nase. »Lebst du noch?« schrie Kelly ihn an. Abe wollte antworten, doch sein Hals fühlte sich von innen völlig zerfetzt an. Er versuchte mit dem Kopf zu nicken, aber er konnte sich nicht rühren. Als Kelly mit 337
ihrem Handschuh seinen Mund berührte, gelang es ihm, den Unterkiefer zu bewegen. »Er lebt«, rief Kelly. Diese Antwort schien Daniel zu verwirren. Er sah beinahe schockiert aus. »Wir müssen uns beeilen«, brüllte Daniel. »Da kommt noch mehr.« Mein Gott, dachte Abe, noch mehr Lawinen. Seine Gelassenheit war dahin. Er wollte schreien, beten und betteln, aber seine Stimmbänder versagten. Wieder kämpfte er den aussichtslosen Kampf gegen den Schnee, der ihn gefangenhielt. Vom Himmel fielen Schneeflocken. Sie brannten ihm in den Augen. »Bitte«, hauchte Abe. Er konnte sich nur durch Flüstern verständlich machen. »Ganz ruhig, Abe. Wir holen dich raus.« Daniel sprach nicht wirklich mit ihm – er redete ihm nur gut zu, wie man es bei Schwerverletzten tut, damit sie nicht durchdrehen. Abe spürte keine Verletzungen. Aber Daniel ekelte sich anscheinend vor ihm, und Abe fragte sich, wie schlimm er wohl zugerichtet war. Daniel kniete sich neben Kelly und stieß sie dabei fast um. Wortlos riß er ihr den Eispickel aus der Hand und hackte verzweifelt im Schnee herum. »Wie lange war ich verschüttet?« flüsterte Abe. Daniel schob seinen Ärmel hoch. »Es ist Viertel nach neun«, sagte er und machte sich wieder an die Arbeit. Abe war über drei Stunden vom Schnee begraben gewesen. Lawinenopfer überlebten selten länger als dreißig Minuten. Nach einer Stunde hörte man auf zu graben. Seine Kameraden hatten nicht aufgehört. »Danke«, flüsterte Abe. 338
»Bedank dich nicht«, sagte Daniel und grub weiter. Er war wütend. »Tut mir leid«, wisperte Abe. Daniel unterbrach seine Arbeit und schnappte nach Luft. Jetzt sah er nicht mehr wütend, sondern eher schuldbewußt aus. Natürlich hatte er Schuldgefühle. Beinahe hätte er wieder einen Partner sterben lassen. Er setzte seine Rettungsarbeit mit rasender Geschwindigkeit fort. Kelly saß die meiste Zeit nur da, an einen Schneehaufen gelehnt. Hin und wieder nahm sie ihre ganze Kraft zusammen und kniete sich hin, um Schnee wegzuschaufeln, doch sie war zu schwach und kam außerdem Daniel in die Quere. »Geh weg«, befahl er, und Kelly gehorchte. Daniel legte zuerst Abes Kopf frei. Dadurch konnte Abe sich das Ausmaß der Katastrophe ansehen. Die Lawine hatte den ganzen Hang überrollt, und überall lagen dicke Schneeklumpen und Kalksteinbrocken herum. Es war ein Wunder, daß das Geröll sie nicht alle erschlagen hatte. Das Zelt war geplatzt wie ein Ballon und von der Lawine mitgerissen worden. Orangefarbene Fetzen ragten aus dem Schnee heraus. Das Band aus gelbem Kalkstein über dem Plateau war dick mit Schnee bedeckt. Selbst die Stellen, von denen die Lawinen abgegangen waren, wurden schnell wieder mit einer weißen Schicht überzogen. Eine große, bedrohliche Schneemasse hing direkt über den Bergsteigern. Daniel tat gut daran, so schnell zu arbeiten. Sie mußten bald verschwinden oder für immer bleiben. Daniel vergrößerte das Loch und legte Abes Körper Stück für Stück frei. Abes Eispickel kam zum Vorschein; dann fand Daniel das Funkgerät, aber es war zerstört. 339
Grimmig legte er die Relikte zur Seite und grub weiter. Abe begriff, daß sie alle in großer Gefahr waren, doch er begriff Daniels Ernst und Düsterkeit nicht. Daniel sagte kein Wort. Er lächelte nicht. An Daniels Stelle wäre Abe überglücklich gewesen, einen Freund lebend wiederzufinden. Abe kam sich vor wie ein ungebetener Gast. Dann fing das Geschrei an. Es war ein so hohes Kreischen, daß man es fast nicht hörte. Abe kam zu dem Schluß, daß es kein Geschrei sein konnte. Der Wind fegte wohl über einen spitzen Stein hinweg. Doch da war es wieder. Diesmal hörte es sich an wie ein Tier, und hier oben gab es nur eine Tierart: den Menschen. Das Kreischen kam von einer Frau. »Gus«, flüsterte Abe. Niemand antwortete. Wieder vermischten sich die Todesschreie mit dem Heulen des Windes. Kelly kniff wegen des grauen Lichtes die Augen zu und biß die Zähne zusammen. Sie drehte den Kopf zur Seite, als wollte sie vor dem Geräusch fliehen. Daniel war ebenso teilnahmslos. Er sagte nichts und hackte weiter auf den Schnee ein. Der Eispickel traf auf Kalksteinbrocken. Zwischen den Schneeflocken sprühten Funken auf. Daniel befreite Abes rechten Arm bis zur Schulter hinauf. »Heb ihn an«, sagte er zu Abe. »Beug ihn. Beweg ihn.« Dann machte er sich daran, ein Bein auszugraben. »Was ist mit Gus?« fragte Abe. »Hoffentlich hast du dir nicht auch noch was gebrochen«, erklärte Daniel. »Das können wir uns nicht leisten.« Jetzt sah Abe das Blut auf den kirschroten Parkas. Es vermischte sich mit dem weißen Schnee. Abe wurde unruhig. »Was ist passiert?« 340
Doch Daniel sagte nichts mehr. Kelly schien kurz vor einem hysterischen Anfall zu sein. Abe konnte sich die Frage selbst beantworten. Die Lawine hatte Gus übel zugerichtet. Wenn man das Blut und Daniels Bemerkung in Betracht zog, mußte sie mindestens einen komplizierten Knochenbruch erlitten haben. Sie hatten sie gefunden und transportfertig gemacht. Und Kelly hatte Abe entdeckt, als Daniel schon absteigen wollte. Daniel war gezwungen, Gus schreiend zurückzulassen und Abe auszugraben. Bedank dich nicht. Abe hielt Daniels Eispickel am Griff fest. Daniel wollte ihn wegziehen, doch Abe ließ nicht locker. »Geh runter«, flüsterte Abe aus seiner Grube heraus. »Ich schaff das allein.« »Ich hätte dich nicht im Stich gelassen«, schrie Daniel. Aber das stimmte nicht. Bis zu diesem Moment hatte Abe nicht gewußt, was für ein gebrochener Mann Daniel war. Gus hatte recht gehabt. Er konnte sich keine Erinnerungen leisten. »Daniel«, flüsterte Abe. Er zog den Eispickel näher an sich heran. Daniel hielt dagegen. Abe wußte nicht, was er sagen sollte, bis er es einfach aussprach. »Ich bin gerettet«, hauchte er. Daniel erstarrte. Abe war nicht sicher, ob Daniel ihn verstanden hatte. Deshalb fügte er noch etwas hinzu: »Ich brauche dich nicht mehr.« Daniel rührte sich noch immer nicht. Er sah aus, als würde er einem Geist zuhören. »Ich bringe Kelly mit runter«, erläuterte Abe. »Geht, soweit ihr könnt.« Daniel stöhnte und ließ den Eispickel los. Er richtete 341
sich auf, starrte zu Abe hinab und stand dann auf. »Sie hat nicht aufgegeben.« Daniel deutete auf Kelly. Er war sichtlich erschüttert über ihre Zuversicht und Intuition. Zum erstenmal dachte Abe daran, daß eine blinde Frau ihn gefunden hatte. »Kümmere dich um sie«, rief Daniel. »Mache ich«, versprach Abe. Daniel nahm das Walkie-Talkie und stopfte es in seine Parkatasche. Dann taumelte er durch den Sturm, halb gekrümmt durch die gebrochenen Rippen, den kaputten Rücken und andere alte Verletzungen. Eine Minute später hörte Abe furchtbare Schreie, und er wußte, daß Gus jetzt abtransportiert wurde. Es würde eine schlimme, brutale Evakuierung werden. Daran war nichts zu ändern. Sie hatten alle vier großes Glück, daß sie die Lawine überlebt hatten. Abe machte sich keine Illusionen: Das Glück würde nicht von Dauer sein. Kelly war im Schnee eingeschlafen. Als Abe das eisige Leichentuch zerhackte, das ihn umgab, wurde sie mit einer feinen Pulverschicht überzogen. Abe schob den Schnee langsam beiseite. Es dauerte noch eine Stunde, bis er aufrecht sitzen konnte. Er richtete sich auf wie eine Leiche in einem schlechten Film, die sich aus ihrem Grab befreit. Abe war erschöpft. Er wollte sich ausruhen, nur für ein oder zwei Minuten; nur um durchzuatmen, die Augen zu schließen und ein Nickerchen zu machen, mehr nicht. Es wäre nicht richtig gewesen, aber er hätte es trotzdem getan, wenn Kelly nicht gewesen wäre. Sie war nicht mehr zu sehen. Der Pulverschnee hatte sie zugedeckt. »Kelly«, krächzte Abe. Er saß da, selbst mit Schneeklumpen übersät, und rief ihren Namen noch einmal. Die Angst besiegte seine Müdigkeit. Jetzt, da sie den Everest fluchtartig verlassen mußten, 342
eroberte der Berg sein Territorium gnadenlos zurück. Hier wurden keine Gefangenen gemacht. Wer zurückblieb, mußte sterben. Wenn er Kelly nicht eben noch gesehen hätte, wäre Abe überzeugt gewesen, daß sie verschwunden war. Mit bloßem Auge war keine Spur mehr von ihr zu erkennen. Abe drückte seine Beine mit aller Kraft von unten gegen den Schnee. Endlich konnte er sich aus der Grube befreien. Er rollte sich keuchend nach oben und blieb dort liegen. Schneeflocken fielen mit erstaunlichem Gewicht auf ihn herab. Abe wußte, daß sie eine Gefahr darstellten, und doch wärmten und umschmeichelten sie ihn. Die Flocken schlugen ihm ins Gesicht, dann schmolzen sie und liefen ihm an den Ohren entlang. Abe zwang sich zum Aufstehen. »Kelly«, flüsterte er. Er glaubte nicht, daß er sie dadurch aufwecken würde, aber er brauchte eine Gedächtnisstütze. Jeder Muskel, jedes Gelenk schmerzte nach seinen Befreiungsversuchen. Er ließ den Schmerz für sich arbeiten. Auch der Schmerz war eine Gedächtnisstütze. Schwankend ging Abe auf die Düne zu, die Kelly unter sich begraben hatte. Er tauchte die Hände in den Pulverschnee, packte Kellys Arme und zog sie ans Licht. Er wischte ihr den Schnee aus dem Gesicht. Sie murmelte etwas und wandte die Augen vom Licht ab. In ihrem goldenen Haar hatte sich gefrorener Speichel verfangen. Abe konnte nicht fassen, daß diese Frau ihn trotz ihrer Blindheit gerettet hatte. Abe beugte sich zu ihr herab. Er küßte sie. Es war kein großartiger Kuß. Seine Lippen waren schmutzig, verkrustet und von Barthaaren überwuchert. Doch im Unterbewußtsein reagierte Kelly darauf. Sie legte einen Arm um seine Schulter und nannte ihn beim Namen. 343
»Hilf mir«, flüsterte Abe. »Ausruhen«, sagte Kelly. Ein verführerisches Wort. Abe schüttelte sie. Da sie sich nicht rührte, zog er sie einfach hinter sich her. Es gab nichts mehr, was er noch holen und mitnehmen mußte. Die Lawine hatte ihnen alles genommen. Abe beobachtete das Gelbe Band. Dort oben hatte sich eine Schneemasse angesammelt, die den ganzen Hang abrasieren konnte. Der größte Teil davon würde sich direkt in den »Schießstand« ergießen. Wer davon überrascht wurde, würde bis an den Fuß des Berges hinuntergerissen werden. Abe versuchte sich zu beeilen. Bevor sie sich abseilen konnten, mußte er das Seil erst einmal finden. Und wenn er das Seil finden wollte, mußten sie das ganze Plateau überqueren. Doch der Sturm war in vollem Gange, und der Schnee lag inzwischen hüfthoch. Daniel hatte zwar eine Schneise geschlagen, doch das war vor Stunden gewesen. Der Weg war längst wieder zugeschneit. Abe überlegte, ob Kelly und er nicht doch in der Falle saßen. Jeder Schritt kostete ihn fünf oder sechs Atemzüge. Der Schnee gab unter seinen Füßen nach wie Treibsand. Die Verwehungen beschränkten die Sicht zeitweise auf einige Zentimeter, und dann war das Licht wieder so grell, daß man überhaupt nichts mehr sah. Je näher sie an den Rand des Plateaus kamen, um so größer wurde die Gefahr, daß sie einfach in den Abgrund stürzten. Doch Abe gab nicht auf. Er zerrte Kelly hinter sich her und hielt Ausschau nach dem ersten Seil. Endlich erreichten sie den Rand des Plateaus. Von hier aus ging es zweitausend Meter steil nach unten. Abe konnte den Abgrund nicht sehen – alles um ihn herum war weiß –, aber er spürte, daß der Wind sich veränderte. 344
Dieser neue Wind schmeckte anders als der Monsun, der über dem Gipfel zirkulierte. Es war ein tibetischer Wind, der von Norden kam und an der gewaltigen Kore-Wand hinauffegte. Abe hatte also den Rand des Plateaus gefunden, doch ein Seil war nicht zu sehen. Eine Stunde lang lief er an der Felskante hin und her. Ohne das Seil waren sie verloren. Ohne das Seil konnten sie nichts anderes tun, als einander zu umarmen und einzuschlafen. Abe gewöhnte sich gerade an den Gedanken, als er das Seil entdeckte. Es war grün-weiß geflochten. Abe sah nur den grünen Strang: eine lange Kette von grünen Punkten. Er zog das Seil aus dem Schnee und holte Kelly. Sie wollte nicht aufwachen, aber er zwang sie dazu. Dann hatte er das Seil erneut aus den Augen verloren. Schließlich fand er die Kette aus grünen Punkten wieder, und sie konnten sich auf den Weg machen. Der qualvolle Abstieg erinnerte Abe an das Kinderrätsel mit den Kannibalen und den Missionaren, die einen Fluß überqueren wollten. Sie hatten ein Seil, eine blinde Bergsteigerin und einen Bergsteiger, der am Ende seiner Kräfte war. Er probierte alle Möglichkeiten aus: Er ging voraus, damit er die Verankerungen überprüfen konnte. Dann ließ er Kelly vorgehen, damit er sie im Auge hatte. Oder sie stiegen nebeneinander ab, und er beschrieb ihr, was sie nicht sehen konnte. Wenn es gutging, bewegte Kelly sich wie eine Schlafwandlerin, mit geschlossenen Augen und steifen Gliedern. Doch es ging immer nur fünf oder zehn Meter gut. Wieder und wieder erreichte Abe das Ende eines Seils und mußte feststellen, daß Kelly sich kaum rühren konnte. Durch ihre Blindheit und die fehlende motorische Koordination war sie nicht in der Lage, sich selbst ins Seil einzuklinken, und das erschwerte Abe die Arbeit. Nach 345
etwa hundert Metern nahm er ein zusätzliches Seil und seilte sie selbst ab. Sie schlug gegen die Wand wie ein Sack Kartoffeln und protestierte manchmal wimmernd, doch die meiste Zeit baumelte sie stumm am Seil. Sie bekam zwar eine blutige Nase und zerriß sich die Kleidung, doch wenn sie sich an der immer steiler werdenden Wand hätte vortasten müssen, wären beide sehr viel langsamer vorangekommen. Sie waren auf halbem Wege zu Camp vier, als der Berg wieder angriff. Abe hatte die Füße gegen die Wand gestemmt, und diesmal gab es keinen Zweifel wegen des Erdbebens. Die Vibrationen krochen in Abes Beine hinauf. Die Spikes unter seinen Füßen kratzten auf dem Gestein wie die wildgewordene Nadel eines Seismographen. Abe verspürte eine ungeheure Übelkeit. Er blickte in die enge Rinne des »Schießstandes« hinauf und wartete auf die Lawine, die kommen mußte. Sie kam. Abe kämpfte mit dem Seil und bekam einen Zipfel von Kellys Jacke zu fassen. Er schubste Kelly unter einen Felsvorsprung. Der größte Teil der Lawine rauschte donnernd mit Eisund Felsbrocken an ihnen vorbei und schlug zweihundert Meter weiter unten auf dem Hang auf. Abe und Kelly hielten sich aneinander fest. Sie blieben mit den Gesichtern an der Wand und atmeten in ihre Parkas hinein, um in der Wolke aus feinem Eisnebel nicht zu ersticken. Das Nachbeben schleuderte sie gegen den Berg, aber das Seil hielt. Kelly klammerte sich an Abe. Er klammerte sich an sie. Er spürte ein weiteres Beben. Dann merkte er, daß eine schluchzende Person die Ursache des Bebens war. Doch als er in Kellys Gesicht blickte, sah er, daß sie nicht 346
diejenige war, die weinte. Abe beeilte sich den ganzen Tag, um Daniel und Gus einzuholen. Gemeinsam mit Daniel konnte er den Abstieg beschleunigen und die Gefahren minimieren. Wenn er ein neues Seil erreichte, prüfte er jedesmal, ob es vibrierte. Er spähte in die Tiefe, doch es war keine Menschenseele zu sehen. Als sie an der Höhle ankamen, begann die Dämmerung den weißen Sturm zu verfärben. Abe hatte gehofft, vor Einbruch der Dunkelheit Camp zwei oder eins, vielleicht sogar das ABC-Lager zu erreichen. Aber er hatte sich daran gewöhnt, daß seine Hoffnungen immer wieder zunichte gemacht wurden. Um diese Zeit wäre es vermessen gewesen, noch das nächste Camp erreichen zu wollen. Abe öffnete die Reißverschlüsse von beiden Zelten in Camp vier. Sicherlich würden Daniel und Gus in einem davon sein. Doch die Zelte waren leer. Offenbar war Daniel gerade so lange hiergewesen, daß er ein wenig Eis schmelzen und eine Sauerstoffflasche suchen konnte. Abe fragte sich, ob Daniel und Gus die Lawine vom Nachmittag überlebt hatten. Abe führte Kelly ins Zelt und packte sie in einen Schlafsack. Wenn sie Ruhe und Pflege bekam, würde sie bald wieder sehen können. Doch für Ruhe und Pflege würden sie erst im ABC-Camp oder noch später Zeit haben. Er stellte einen Topf mit Schnee auf den Kocher und schloß die letzten beiden neuseeländischen Sauerstoffflaschen an zwei Masken an. Die eine Maske setzte er Kelly auf, die andere schnallte er sich selbst um. Das restliche Butangas reichte nur noch für einen Topf Wasser. Es war das erste und letzte Wasser, das sie 347
während des Abstiegs tranken. Am nächsten Morgen waren Kellys Augen nicht besser, aber wenigstens auch nicht schlimmer geworden. Abes Flüstern hatte sich zu einem Zischeln verstärkt. Draußen stürmte es weiter. Sie hatten in voller Montur geschlafen und nicht einmal die Stiefel ausgezogen, daher konnten sie sofort aufbrechen. Gegen Mittag erreichten sie Camp drei. Der Steinschlag hatte die Zeltwände durchlöchert. Eine der Plattformen hatte einen Volltreffer abbekommen, so daß die Beine eingeknickt waren. Das Camp sah trostlos aus. Daniel und Gus hatten die Nacht hier verbracht. Überall lagen schmutzige Verbände und gefrorenes Blut. Es gab kein Butan zum Schneeschmelzen, keinen Proviant, keinen Sauerstoff. Abe und Kelly hatten keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Camp zwei existierte nicht mehr. Die Lawinen hatten es hinweggefegt. Für kurze Zeit folgte Abe Daniels provisorischen Seilen, dann erreichten sie wieder die Route, die vier Expeditionen im Laufe der Jahre gesichert hatten. Kurz nachdem sie eine Schlucht überquert hatten, radierte eine weitere Lawine die Route hinter ihnen aus. Als die riesige Schneewolke sich gelegt hatte, sah Abe, daß die Seile zu Camp drei für immer verschwunden waren. Unterhalb von Camp zwei wurde das Gelände deutlich flacher. Ironischerweise erschwerte das den Abstieg. Im »Schießstand«, wo die Wand in einem Winkel von siebzig bis achtzig Grad abfiel, hatte die Schwerkraft ihnen die meiste Arbeit abgenommen. Doch jetzt, da sie sich Camp eins näherten, mußte Abe seine Partnerin schieben und ziehen und ihr gut zureden. Es war für beide sehr 348
anstrengend. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit erreichten sie die gelben Zelte von Camp eins. Ein Zelt war durch den Sturm in sich zusammengefallen, ein anderes war ganz verschwunden. Abe suchte nach brauchbaren Dingen. Im ganzen Camp war kein Proviant zu finden – bis auf ein paar steinharte Energieriegel, die sie mit ihren losen Zähnen nicht essen konnten. Es gab kein Gas zum Schneeschmelzen, keinen Sauerstoff für Kelly, keine Schlafsäcke, keine Medikamente, nicht einmal Aspirin. Abe fragte sich, was mit Jorgens, Thomas und Stump passiert war. Es war durchaus möglich, daß der Berg sie aus dem Hinterhalt überrascht harte. Abe überlegte, ob sie die Nacht hier verbringen sollten. Sie konnten das lädierte Zelt in das unbeschädigte hineinziehen und sich darin einwickeln. Wahrscheinlich würden sie die Nacht überleben. Andererseits war es noch einigermaßen hell. Während Abe überlegte, was er tun sollte, entdeckte er das dritte Zelt. Es schlängelte sich unterhalb des Camps den Hang hinab und sah beinahe lebendig aus. Zuerst dachte er, der Wind würde es hinunterwehen. Dann sah er eine kleine Gestalt: Daniel zog das Zelt mit einem Seil in die Tiefe. Er hatte Gus darin eingepackt und benutzte es als primitiven Schlitten. Abe hielt seinen Mund dicht an Kellys Ohr. »Ich sehe sie.« »Sie haben uns gefunden?« rief sie. »Nein. Ich meine Daniel und Gus.« Kelly versuchte, ein freudiges Gesicht zu machen, aber sie war niedergeschlagen. Abe mußte sie auf die Füße stellen und den Hang hinunterführen. Er verschwendete keine Zeit darauf, Daniel auf sich aufmerksam zu machen. 349
Die beiden Teams trafen sich dreihundert Meter weiter unten – am Bergschrund, der tiefen Kluft zwischen dem Berg und seinem Gletscher. Der Bergschrund war eine Art Grenze. Und sie mußten sie überqueren, um sich in Sicherheit zu bringen. Es war so dunkel, daß Abe und Daniel einander kaum sehen konnten. Auf der anderen Seite der über einen Meter breiten Kluft wartete der Rongbuk-Gletscher mit all seinen Gletscherspalten und anderen Hindernissen. Erst als sie den Bergschrund erreichten, begriff Abe, daß sie in der Falle saßen. Es wäre glatter Selbstmord gewesen, um diese Zeit den Gletscher überqueren zu wollen. Der Schneefall der letzten Tage hatte mit Sicherheit alle Wegmarkierungen zunichte gemacht, und das Erdbeben hatte neue Gletscherspalten aufgerissen. Sie hatten also keine Wahl. Sie mußten bis zum nächsten Morgen warten. »Ich dachte schon, ihr wärt verlorengegangen«, sagte Daniel zur Begrüßung. Er schien die Gefahr zu ignorieren. Es war Nacht. Der Wind war äußerst stark. Keiner von ihnen hatte in den letzten beiden Tagen und Nächten viel geschlafen, gegessen oder getrunken. »Daniel, wir müssen uns vor dem Wind schützen.« »Ich glaub nicht, daß wir’s schaffen«, erwiderte Daniel mit krächzender Stimme. Seine blauen Augen waren verquollen. Seinem hageren Gesicht sah man den Hunger an. »Wir schaffen es schon«, sagte Abe. »Aber wir brauchen einen Windschutz.« Eine Böe erfaßte ihn und warf ihn in den Schnee. Daniel nickte zustimmend, doch eine Lösung fiel ihm auch nicht ein. »Hier.« Abe stand am Rand des klaffenden Bergschrundes und zeigte nach unten. »Vielleicht können 350
wir da runtergehen.« Abe wußte, daß Bergsteiger manchmal in Gletscherspalten kampierten. Der Gedanke daran, in die eisige Unterwelt hinabzusteigen, war für lange Zeit sein schlimmster Alptraum gewesen. Doch es war die einzige Hoffnung. »Vielleicht«, brüllte Daniel ihm ins Ohr. Daniel hatte in einem der verlassenen Camps eine Stirnlampe organisiert und leuchtete damit in den schwarzen Spalt. Zu Abes Überraschung war er anscheinend nur fünfzehn oder zwanzig Meter tief. Die Lawinen hatten das Loch offenbar zum Teil ausgefüllt. Abe und Daniel schnitten sich ein Seil zurecht und ließen Gus in die Gletscherspalte hinunter. Sie wimmerte leise, wenn sie gegen die Wände stieß. Kelly war als nächste an der Reihe, dann kam Daniel. Abe blieb als letzter oben und überprüfte noch einmal, ob das Seil auch fest verankert war. Ihm graute davor, sich in den Bergschrund zu begeben. Die dunkle Nacht an der Oberfläche war ihm fast lieber als die Möglichkeit, daß ein weiteres Erdbeben die Gletscherspalte über ihm schloß. Doch Daniels kleine Lampe lockte ihn nach unten, und er bewegte sich auf das Licht zu. Unter der Oberfläche war die Gletscherspalte drei Meter breit, und die Wände fühlten sich an wie Glas. Als Abe sich dem Licht näherte, sah er, daß das Glas dunkelgrün und türkisfarben war. Es machte ihm angst. Abe erreichte den Grund. Er spürte sofort, daß der Boden, auf dem sie standen, ein doppelter Boden war. Der Schnee konnte jeden Moment nachgeben. Doch eine trügerische Sicherheit war besser als gar nichts, und so setzte er die Füße behutsam auf den Schnee. Nach einer Weile waren sie alle zur Ruhe gekommen, so 351
daß Abe sich um Gus kümmern konnte. Er knotete die Seile auf, mit denen die gelben Zeltbahnen zusammengebunden waren. Während Daniel die Lampe hielt, öffnete er Gus’ Kleidung, allerdings immer nur teilweise, damit sie nicht zuviel Körperwärme verlor. Gus hatte sich den linken Oberschenkel gebrochen und möglicherweise das Hüftgelenk verrenkt. Ohne Röntgenbild konnte Abe das nicht genau sagen. Das viele Blut stammte von einem offenen Schien- und Wadenbeinbruch. »Ihr Fuß war nach hinten verdreht«, erläuterte Daniel. »Ich hab ihn wieder umgedreht.« Dann fügte er hinzu: »Ich hoffe nur, daß es die richtige Drehung war.« Das war eine ehrenwerte Hoffnung. Wäre es die falsche Richtung gewesen, hätte das eine Verdrehung um 360 Grad bedeutet. Dann hätte man das Bein auch genausogut abschnüren können. Obwohl Daniel das gebrochene Bein provisorisch mit einem Eispickel und einer Zeltstange geschient hatte, sah es grotesk aus. Daniel hatte damit anscheinend die Blutung gestoppt, doch das reichte nicht. Die Brüche – und wahrscheinlich auch die Schienen – hatten die Blutzufuhr zum Fuß unterbrochen, der durch Erfrierungen schwarz und geschwollen war. Wenn Gus überlebte, würde sie zumindest den Fuß verlieren. Doch Abe glaubte nicht einmal, daß sie die Nacht überleben würde. Es war erstaunlich, daß Blutgerinnsel, Blutverlust, Schock und Kälte ihr nicht schon längst den Rest gegeben hatten. Abe konnte kaum etwas tun, was Daniel nicht schon getan hatte. Die Schienen und Verbände waren in Ordnung. Abe versuchte vergeblich, am Knöchel des zerschmetterten Beins den Puls zu fühlen. Seine Finger waren so kalt, daß er kaum etwas spürte, aber er wußte, 352
daß das eigentliche Problem ein anderes war. Das Bein starb ab. Abe war hilflos. Ohne seine Erste-Hilfe-Tasche und ohne Sauerstoff konnte er Gus nicht behandeln. »Hat sie noch andere Verletzungen?« fragte Abe. »Was?« murmelte Daniel. Er war nicht verwirrt, sondern eher besorgt. So hatte Abe ihn noch nie gesehen. Von dem Feuer in seinen Augen war nur noch Asche übrig. Daniel sah zum ersten Mal aus wie ein Sterblicher, der gegen Schmerz, Mißerfolg und Erschöpfung so wenig gefeit war wie jeder andere. »Halt die Lampe fest«, sagte Abe zu ihm. Gus verzog das Gesicht zu einer scheußlichen Grimasse und zeigte dabei ihre gelben Zähne. Kelly lag zusammengekrümmt im Schnee und schlief. Daniel sagte: »Es ist vorbei.« »Ich weiß«, erwiderte Abe. Es war so sehr »vorbei«, daß es gar keinen Sinn mehr hatte, darüber zu reden. In Abes Kopf existierte der Gipfel gar nicht mehr. »Gus hat gesprochen«, sagte Daniel. »Auf dem Weg nach unten hat sie gesprochen.« »Das ist gut«, sagte Abe. »Nein.« Daniel berührte ihre Stirn. »Das ist nicht gut.« Daniel war ausgeklinkt. Er phantasierte. Abe nahm ihm das übel. Wie alle anderen hatte er sich auf Daniel verlassen. Sie hatten auf seine Gelassenheit und seine Fähigkeiten vertraut, auf seine Vernunft, Cleverness und Dominanz. Abe fühlte sich durch Daniels plötzliche Schwäche verraten. Er hatte sich darauf verlassen, daß Daniel ihn und die anderen durch überlegte Planung, Besonnenheit und Kraft aus dieser schlimmen Lage befreien würde. Doch diese gescheiterte Kreatur, die neben ihm kniete, war nicht einmal mehr in der Lage, für 353
sich selbst zu sorgen, geschweige denn andere in Sicherheit zu bringen. »Morgen wird ein harter Tag«, sagte Abe. »Ruh dich lieber aus.« Sie hatten noch mehrere Kilometer vor sich und mußten den Gletscher überqueren. Der Schnee würde die Markierungsfähnchen an den Gletscherspalten zugedeckt haben, und das Erdbeben hatte vielleicht neue Spalten aufgerissen. Sie mußten sich einen behelfsmäßigen Schlitten bauen und Gus hinter sich herziehen, und Kelly mußte an die Hand genommen werden. »Gus sagt, das alles wäre wegen ihr passiert«, fuhr Daniel fort. »Ich weiß nicht. Was meinst du?« Abe gab nichts auf solch wirres Geschwätz. Hatten sie nicht beide schon einmal ein solches Geständnis gehört? Doch Abe antwortete trotzdem. Wenn es ihm gelang, Daniel zu einem klaren Gedanken zu bewegen, konnte er ihn vielleicht aus seinem Delirium herausreißen. Sonst würde Abe morgen auf drei Invalide aufpassen müssen, und das überstieg seine Kräfte. »Natürlich hat Gus keine Schuld«, sagte Abe. »Es gab ein Erdbeben.« »Das hab ich auch gesagt. Höhere Gewalt. Aber sie sagt, nein, es wäre ihre Schuld.« »Sie hat den Verstand verloren.« »Aber irgendwie hat sie auch recht.« »Das ist doch Unsinn. Willst du Gus für ein Erdbeben verantwortlich machen?« »Nein.« Daniel blickte Abe in dem gelben Licht in die Augen. »Dafür, daß wir hier sind.« »Und so was nimmst du ernst?« »Wir hätten gar nicht mehr weiterklettern sollen. 354
Erinnerst du dich?« sagte Daniel. »Wir haben uns entschieden«, stellte Abe fest. »Es war meine freie Entscheidung.« »Das war es nicht«, entgegnete Daniel. »Niemand hat mich dazu gezwungen.« »Nein. Aber es hat dir jemand erlaubt.« »Ich bin müde, Daniel. Was soll das bedeuten?« »Li hat gesagt, wir dürften nicht mehr weiterklettern. Und dann durften wir doch. Ich war nicht dabei. Aber du.« »Ach das.« Abe hatte die Geschichte schon verdrängt. »Es ist meine Schuld.« Daniel verlor wieder den Faden. Abe wartete ab. »Sie hat mir den Berg gegeben. Deshalb ist es mein Fehler.« Abe schüttelte den Kopf. Daniel war endgültig durchgedreht. »Daniel«, sagte er, »das ist doch verrückt. Niemand hat dir den Berg gegeben.« »Den Berg nicht«, räumte Daniel ein, »aber den Schlüssel dazu, verstehst du?« »Daniel, ich bin müde.« Daniel lehnte sich zu Abe hinüber, und die Lampe warf einen Schatten auf sein Gesicht. »Abe, sie hat es mir gesagt«, erklärte Daniel. »Es war nicht Jorgens.« Abe schloß die Augen. Das war wie ein Stich ins Herz. Wenn es nicht Jorgens war, dann … Er drehte den Kopf erst in eine Richtung, dann in die andere, doch er konnte sich den Worten nicht entziehen. »Es war Gus. Sie hat es mir gesagt. Sie hat den Jungen verraten.« »Nein«, erwiderte Abe. Doch er wußte, daß Daniel die Wahrheit sagte. Sie hatten Jorgens für den Schuldigen gehalten. Doch es war Gus gewesen. Sie hatte ein Kind für 355
diesen Berg geopfert. Nein, schlimmer: Sie hatte es für die Liebe getan. »Sie dachte, wir würden’s bis zum Gipfel schaffen und hätten dann immer noch Zeit, abzusteigen und ihn zu retten«, erklärte Daniel. Abe starrte die schwerverletzte Frau an. Er war entsetzt. Wie hatte sie so etwas tun können? »Sie hat sich geirrt«, sagte Daniel. Abe antwortete schnell. »Ja.« »Ich lebe jetzt seit zwei Tagen und zwei Nächten damit.« Daniel war voller Trauer. Was für eine schlimme Offenbarung, dachte Abe. Erst durch eine Katastrophe war die Wahrheit ans Licht gekommen. Nun lag Gus im Sterben, der Mönch war verloren, und das alles hatte keinen Sinn. Wenigstens hatten sie den Gipfel nicht erreicht, denn das wäre obszön gewesen. »Tu mir einen Gefallen«, sagte Daniel. »Es ist der einzige Gefallen, um den ich dich je bitten werde.« »Was denn?« »Du darfst sie nicht hassen.« Abe hatte noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Doch jetzt, da Daniel es erwähnte, wußte er, daß er sie hassen würde. Falls sie heil aus der Sache herauskamen, falls Gus nicht starb, falls sie die Gletscherspalten überstanden und die Chinesen sie jemals ausreisen ließen, dann würde er Gus sicherlich hassen. »Ich weiß es nicht, Daniel.« »Bitte«, sagte Daniel. »Sie hat es für mich getan. Jetzt muß ich damit fertig werden.« In dieser Nacht kauerten sie sich aneinander und blieben dicht bei Gus, um sie warm zu halten. Schneeflocken 356
fielen in den Bergschrund und landeten so sanft wie Staubkörner auf dem Meeresgrund. Der Gletscher knarrte wie eine ganze Armada unbeladener Schiffe. Gus überlebte die Nacht. Am Morgen zogen sie sie aus dem Bergschund und machten sich auf zum ABC-Lager. Abe rechnete die ganze Zeit damit, daß ihnen jemand aus dem Camp entgegenkommen würde, um sie über den gefährlichen Gletscher zu führen. Doch es kam niemand. Am Ende des Tages erfuhren sie, warum. Der Sturm legte sich gegen drei Uhr nachmittags. Sie erreichten das ABC-Camp um fünf. Es war menschenleer, bis auf einen überraschten Yakhirten. Es war ein alter Mann, der drei Yaks mitgebracht hatte, um das zu plündern, was noch übrig war. »Hilf uns«, sagte Abe auf Englisch zu dem Mann. Doch der Hirte rührte sich nicht vom Fleck. »Er denkt, wir sind Geister«, sagte Daniel. »Sie glauben, daß wir tot sind.« Bei Sonnenaufgang kam die letzte Lawine, die bisher gewaltigste. Ein rosaroter Blitzstrahl hatte sich gerade durch die Wolkendecke gebohrt, als sie ein Krachen auf dem Berg hörten. Die Lawine löste sich ganz oben am Gelben Band, und es dauerte volle drei Minuten, bis der weiße Tod die gesamte Nordwand verschlungen hatte. Das ABC-Camp war anderthalb Kilometer vom Fuß des Berges entfernt. Dennoch spürten die Bergsteiger das Nachbeben, und der weiße Nebel brannte Abe in den Augen. Als die Lawine am Fuß der Kore-Wand aufschlug, wurde das Geröll in alle Richtungen geschleudert. Die Welle aus Steinen und Eisbrocken rollte immer näher auf das Camp zu. Die Yaks schnaubten und rissen sich von dem entsetzten Hirten los, der dann hinter ihnen herlief. Doch Abe bewegte sich nicht. Er rührte sich keinen 357
Millimeter vom Fleck. Er war zu müde, aber er wußte auch, daß die Flucht sinnlos war. Zumindest das hatte er hier gelernt. Für den Rest seines Lebens wollte er nur dastehen und nach oben schauen, denn im weißen Nebel bildete sich plötzlich ein Regenbogen. Dessen Farben waren eigentlich gar keine Farben – auch sie waren fast weiß. Dann kam die Lawine zum Stillstand, der Regenbogen sank auf die Erde, und es wurde still.
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12. KAPITEL Es dauerte fünf Tage, bis Abe sich mit seinen Invaliden durch den Schnee vom ABC-Camp zum Basislager durchgekämpft hatte. In dem Chaos aus aufgetürmten Schneewehen, Sackgassen und plötzlichen Stürmen verendete irgendwann einer der Yaks. Sie boten einen jämmerlichen Anblick. Kelly, blind und seekrank, ritt auf einem Yak. Gus lag apathisch auf einer Bahre aus Zeltstangen, die mit den Händen getragen werden mußte. Selbst der alte Yakhirte brauchte Hilfe. Er hatte nicht nur einen Kropf und irgendeine Lungenkrankheit, sondern war auch noch senil. Er fand sich noch schlechter zurecht als die Bergsteiger. Daniel war nur noch ein Wrack. Er tat, was Abe ihm sagte. Im übrigen machte er einen unsicheren und verwirrten Eindruck. Er ließ Gus nie aus den Augen, und nachts wachte er über sie. Abe tat während des ganzen Trecks kein Auge zu. Ständig fing ohne Vorwarnung die Erde an zu beben, und selbst wenn sie nicht bebte, kam es Abe so vor. Nachts ließ Kelly sich von ihm festhalten, obwohl eigentlich er derjenige war, der festgehalten werden wollte. Während sie von Dämonen träumte, die tief im Inneren der Erde rumorten, starrte Abe hellwach zu den eiskalten Sternen hinauf. Er hatte sich verändert. Sie alle hatten sich verändert. Was sie erlitten hatten, war nicht nur eine Niederlage. Sie hatten an den Berg geglaubt wie an einen heidnischen Gott, und dann hatten die Erdbeben sie eines Besseren belehrt. Sie hatten ihren Glauben verloren. Abe fand seine eigene Verzweiflung auch in den Augen der anderen 359
wieder. Am fünften Morgen ging er voraus, um Hilfe zu holen. Der Schnee wurde tiefer, und sie waren ständig ins Stocken geraten. Abe fürchtete, daß die Gruppe nicht noch eine Nacht im Freien überleben würde. Er bahnte sich allein einen Weg durch die weiße Wüste. Nach vielen Stunden war das Basislager in der flachen Talsohle zu erkennen. Das Camp sah aus, als wäre es auch von einer Lawine überrollt worden, denn die Stürme hatten es mit einer anderthalb Meter hohen Schneeschicht überzogen. Die Hälfte der Zelte war zusammengebrochen. Die übrigen Zelte waren durch ein Netz aus tiefen Gräben miteinander verbunden. Abe traf die anderen Bergsteiger beim Abendessen im großen beigefarbenen Küchenzelt an. Draußen war es kalt und dunkel. An einer Bambusstange unter dem Zeltdach hing eine Kerosinlampe, die jedoch weniger Licht als schwarzen Rauch von sich gab. Abe brauchte eine Weile, um sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Der Essensgeruch betäubte ihn. Zuerst bemerkten sie ihn gar nicht. »Abe?« fragte jemand. »Bist du das?« Die Stimme bekam ein Gesicht. Stump hatte den Abstieg überlebt. Im Zelt sah es aus wie in einem Luftschutzkeller. An der Wand lag die übriggebliebene Ausrüstung und der restliche Proviant. Vor einiger Zeit hatte es in der Speisekammer der Expedition an nichts gefehlt. Jetzt mußten sie ihre letzten Reserven zusammenkratzen. Abe schaute sich nach den anderen um. Unter JayJays Parka war an der Brust ein weißer Verband zu sehen. Thomas war über dem Tisch zusammengesunken; die Haare hingen ihm ins Gesicht, die Augen waren 360
blutunterlaufen. Robby lag in einer Ecke und hatte große Frostbeulen an den Händen. Aus dem Schatten beugte sich ein alter Mann vor. Es war Jorgens, völlig ausgezehrt. Innerhalb einer Woche war er um fünfundzwanzig Jahre gealtert. »Unmöglich«, protestierte Jorgens. Er war so niedergeschlagen, wie Männer es immer sind, wenn sie merken, daß sie einen Kameraden im Stich gelassen haben. »Wir haben euch immer wieder über Funk gerufen«, stammelte er. »Aber es kam keine Antwort. Wir haben auf euch gewartet. Wir haben den Berg beobachtet. Aber ihr wart nicht da.« »Wir dachten, es wäre unmöglich, daß jemand diese Lawinen überlebt«, fügte Thomas hinzu. »Wir haben selbst was abgekriegt. Und der Schnee wurde immer tiefer. Wir mußten runter …« Keiner von ihnen rührte sich. Abe hörte kaum hin. Er fühlte sich wie ein Geist. Und seine Kameraden waren noch irrealer als Halluzinationen. »Bist du der einzige?« fragte Stump. Abe schüttelte den Kopf. Die Eiszapfen in seinem Bart klirrten wie Glasperlen. Thomas stellte eine völlig andere Frage. »Ihr habt es bis nach unten geschafft. Aber habt ihr es auch nach oben geschafft? Wart ihr auf dem Gipfel?« Stump runzelte die Stirn. Die Frage klang frevelhaft. Dennoch sagte Stump zu Thomas nicht, er solle den Mund halten. Wie alle anderen wartete er auf Abes Antwort. Abe blickte von einem Augenpaar zum nächsten. Seine Antwort war offensichtlich sehr wichtig für sie, doch er wußte plötzlich nicht mehr, wie die Antwort lautete. Aus 361
irgendeinem Grund hatte sich das Stativ vom Gipfel in sein Gehirn gebrannt. Es schien zum Greifen nahe zu sein; er hätte sein rotes Puja-Band daran festbinden können. Er faßte sich an den Hals, doch das Band war nicht mehr da. Er fragte sich, wo es wohl geblieben war. Abe rang nach Worten. Schließlich führte Krishna ihn zu einem Stuhl und stellte eine Tasse heißen Tee vor ihm auf den Tisch. »Abe, wo sind die anderen?« fragte Stump behutsam. Abe hörte das Mitleid heraus und sah den zweifelnden Blick. Stump glaubte nicht an weitere Überlebende. Selbst Abe mußte gegen den Gedanken ankämpfen, daß er sich den ganzen Flüchtlingstreck nur eingebildet hatte. »Sie sind da draußen«, krächzte er schließlich. »Aber wo denn, Abe?« »Im Schnee. Auf dem Pfad.« Genauer konnte er es nicht beschreiben. Er überlegte, was er noch für brauchbare Informationen liefern konnte. »Heißer Tee«, sagte er. »Sie könnten Tee gebrauchen.« Stump, Nima und drei Sherpas brachen auf, um die Überlebenden zu retten. Um Mitternacht sahen sie die Flüchtlinge im Lichtkegel ihrer Stirnlampen. Der Nachthimmel hatte sich bewölkt, und aus Angst vor einem erneuten Sturm machten sie sich sofort auf den Rückweg. Als sie das Camp erreichten, dämmerte es schon. Sie legten Gus auf den Holztisch im Küchenzelt, denn Abes Lazarett war unter dem Schnee zusammengebrochen. Auf seine Bitte hin hatten sie es über Nacht teilweise freigeschaufelt, so daß Abe Zugang zu Medikamenten, Sauerstoff und Instrumenten hatte. Er stärkte sich mit warmem Essen, putschte sich mit Koffein auf und kümmerte sich dann um Gus. Die Sonne ging gerade über dem Rongbuk-Tal auf und 362
erhellte die Zeltwand, als er Gus’ blutige Kleidung aufschnitt und ihre Verletzungen ans Tageslicht brachte. Die letzten Monate hatten Gus völlig ausgezehrt. Ihr schöner athletischer Körper war dahin; es waren nur noch Sehnen und Knochen übrig. Man sah jede Rippe, und die elegant geformten Muskeln waren verschwunden. Ihre kreisrunden Brüste waren verdorrt. »Was ist das für ein Gestank?« fragte Robby. Abe wußte es aus Erfahrung. Auch Daniel würde den Geruch kennen: Gasgangrän, Wundbrand. Abe graute vor dem, was jetzt kam. Doch eines nach dem anderen. Weil Daniel unbedingt dabeibleiben wollte, gab Abe ihm einen sterilen Lappen, damit er Gus den Oberkörper waschen konnte. Dadurch konnte Abe sich auf die Verletzungen unterhalb der Gürtellinie konzentrieren. Mit einer Küchenschere schnitt er die GoreTex-Hose und die darunterliegende Unterwäsche auf. Jeder Schnitt offenbarte weitere Verletzungen, weitere Erfrierungen, weitere Verluste. Zwischen Gus’ Beinen, in ihrem Schlüpfer, fand Abe ihren intimsten Verlust. Sie war tatsächlich von Daniel schwanger gewesen. Sie hatte die Überreste eine Woche lang in der Hose gehabt, also seit der Lawine. Der Berg hatte das Kind getötet. Damit Daniel nichts merkte, wickelte Abe den ausgetrockneten Fötus schnell in den Schlüpfer ein und legte ihn auf den Haufen mit zerfetzter Kleidung. Mit der Entsorgung würde er warten müssen. Abe wandte sich dem verletzten rechten Bein zu. Er entfernte Daniels provisorische Schienen und atmete tief durch. Das Bein war so stark beschädigt, daß die Knochenbrüche beinahe nebensächlich wurden. Erst jetzt wußte Abe mit Sicherheit, daß Daniel das Bein in die 363
richtige Richtung gedreht hatte. Daniel hatte unter den mörderischen Umständen sein Bestes getan, und trotzdem war Gus’ Kniegelenk völlig zerstört. »Daniel«, sagte Abe. Daniel, der vorsichtig die knochigen Arme gereinigt hatte, hielt inne. »Du mußt gehen, Daniel.« »Das kann ich nicht«, erwiderte er. »Also gut«, sagte Abe. »Aber sieh nicht hin.« Mit Jorgens’ Hilfe fing Abe an, das Bein zu richten. Die Knochen krachten und knirschten. Abe legte eine Hand auf das Knie und spürte, wie die Einzelteile auf und ab sprangen. Jorgens – der ehemalige Soldat – mußte das Zelt verlassen und sich übergeben. Als Daniel die furchtbaren Geräusche vernahm, hockte er sich neben Gus und flüsterte ihr etwas ins Ohr, doch sie hörte nichts. Das war erst der Anfang. Als nächstes versuchte Abe, das Ausmaß der Frakturen zu bestimmen. Der Unterschenkel war so stark geschwollen, daß er die Knochen kaum ertasten konnte. Er diagnostizierte mindestens drei größere Frakturen, möglicherweise vier, und er hätte am liebsten einen Streckverband angelegt. Doch jede Art von Schienen, selbst eine weiche Luftpolsterschiene, hätte die Blutzufuhr zum schwarzgefleckten Fuß zusätzlich beeinträchtigt, und das mußte verhindert werden. Die Erfrierungen hatten sich über den Knöchel hinaus ausgebreitet. Alle Zehen waren schwarz und brandig. Wären sie trocken gewesen, hätten sie wie mumifizierte Klauen ausgesehen. Doch sie näßten, und die noch geschlossenen Blasen waren mit Gas gefüllt. Der Tod kroch von den Zehen aus in Gus’ Körper hinauf. »Es tut mir leid«, sagte Daniel leise zu Gus. »Verzeih mir.« 364
Der Anblick ihrer Zehen schockierte ihn. »JayJay«, sagte Abe, »bring ihn hier raus.« »Es geht schon«, sagte Daniel. Robby sah die Zehen und wußte, was passieren würde. »Ich helfe JayJay«, bot er an, und gemeinsam führten sie Daniel nach draußen. »Mach nicht zuviel«, sagte Daniel flehentlich zu Abe. Abe öffnete den Behälter, von dem er gehofft hatte, daß er ihn nie würde benutzen müssen. Er betrachtete die einzelnen Instrumente nicht lange. Er wußte sowieso kaum, wie man damit umging. Er wünschte sich einen richtigen Arzt herbei, der ihm diese Arbeit abnahm. Stump schluckte seinen Ekel hinunter und desinfizierte die Zehen, indem er eine Flasche rote Betadine-Lösung darübergoß. Abe nahm ein Instrument zur Hand, das aussah wie eine stählerne Gartenschere, und Stump kippte auch darüber eine Ladung Betadine. Abe war erstaunt, wie scharf die Schere war. Ein Schnips, und die Knochen waren durchtrennt. Er schnitt von jedem Zeh so wenig wie möglich ab. Falls der Brand sich weiter ausbreitete, konnte er immer noch aggressiver vorgehen. Die meisten Glieder mußte er dennoch gleich entfernen. Stump schüttete noch mehr Betadine auf den verstümmelten Fuß, und Abe legte vorsichtig einen Verband an. Gemeinsam wuschen sie Gus’ ausgemergelten Körper und gaben ihr Sauerstoff. Schließlich legten sie sie in den zweieinhalb Meter langen Gamow-Sack und pumpten ihn mit einer Fußpumpe auf, bis er prall gefüllt war. Jedesmal wenn Abe durch das Sichtfenster blickte, sah Gus etwas besser aus. »Das war ’ne üble Aufgabe«, sagte Stump zu Abe. »Gut 365
hast du das gemacht.« »Jetzt hat sie eine Chance«, stellte Abe fest. »Ich denke schon«, erwiderte Stump. »Ich muß die Sachen hier noch zur Müllgrube bringen«, sagte Abe. »Das kann ich machen«, bot Stump an. »Nein, schon gut.« Der Graben, der zur Müllgrube führte, war immer noch glatt und vereist. Abe warf die zerfetzte Kleidung auf den anderen Abfall und ging dann zur »Grabkammer«. Seit den Schneestürmen war niemand mehr in der Steinhütte gewesen. Abe brauchte zehn Minuten, um den kleinen Hügel hinaufzustapfen. In der Hütte hingen die Zeltbahnen, die als Dach dienten, unter der Last des Schnees durch. Abe nahm einen Stein aus dem Boden und legte den winzigen Fötus darunter. Dann stampfte er den Stein wieder fest und ging hinaus. Niemand würde es je erfahren, weder Daniel noch Gus. Dieses Geheimnis war hier entstanden und würde auch hier bleiben. Es wurde heiß an diesem Tag. Die Sonne brannte und löste auf den Berghängen Lawinen aus. Im Camp schmolz fast die Hälfte des Schnees. Bis zum Mittag hatten sich die Gräben zwischen den Zelten in Wasserstraßen verwandelt. Im Süden glitzerte der Everest. Er war unerreichbar geworden. Abe spähte etwa einmal pro Stunde durch das Sichtfenster das Gamow-Sacks, um nach Gus zu sehen. Der große Plastikschlauch lag in einer Ecke des Küchenzelts – wie ein Möbelstück, über das niemand sprechen wollte. Die Bergsteiger nahmen dort ihre Mahlzeiten ein, aber niemand sagte ein Wort darüber. 366
Abe schlief in dieser Nacht neben dem Gamow-Sack. Er wollte im Notfall sofort zur Stelle sein, und was ein Notfall war, hatte er zu entscheiden. In regelmäßigen Abständen öffnete er die Kammer, um Gus’ Sauerstoffversorgung und Atmung zu überprüfen und den Puls zu fühlen. Dann schloß er den Sack und pumpte ihn wieder auf. Einmal, als er aufwachte, sah er Daniels funkelnde Augen im Lichtkegel seiner Stirnlampe. Daniel hockte auf der anderen Seite der Sauerstoffkammer. »Können wir sie mal da rausholen?« fragte er Abe. »Ich will sie in den Arm nehmen. Nur für einen Augenblick.« »Wenn du das tust, stirbt sie«, sagte Abe. »Aber das sieht aus wie ein Sarg«, wandte Daniel ein. »Noch ist es das nicht.« Daniel legte eine Hand auf den Plastiksack. »Bevor es zu spät ist«, flehte er. »Nur noch ein einziges Mal.« »Noch nicht«, sagte Abe. »Ich muß ihr etwas sagen.« Abe wußte, was Daniel ihr zu sagen hatte. Er hatte schon seit Tagen gehört, was Daniel der bewußtlosen Frau ins Ohr flüsterte. Er liebte sie. Er vergab ihr. Wenn sie ihn liebte, sollte sie ihm auch vergeben. Und sie sollte kämpfen und überleben, für die gemeinsame Zukunft. »Später vielleicht«, sagte Abe. »Später … Dann ist es vielleicht zu spät. Sie muß es wissen.« »Vielleicht hört sie dich.« »Aber wenn nicht …« Seine Verzweiflung war atemberaubend. Daniel trauerte. Niemand glaubte mehr daran, daß Gus überlebte. Wie schrecklich, dachte Abe. Ein schreckliches Schicksal. »Abe, ich habe Angst.« 367
»Die LKWs kommen bald«, sagte Abe. »Sie holen uns hier raus. Gus kommt ins Krankenhaus.« »Die LKWs werden nicht kommen. Ich weiß es.« Abe beendete das Gespräch. »Geh schlafen, Daniel. Wir müssen schlafen.« Alle dachten an die Evakuierung. Am Anfang hatten sie auf die Yaks gewartet, jetzt warteten sie auf die LKWs. Die Hilflosigkeit schien niemals aufzuhören. Alle dachten auch an die andere Möglichkeit. Daniel kannte den Weg. Sie waren ihm auf den Berg gefolgt. Falls es nötig war, konnten sie ihm auch über einen der Pässe nach Nepal folgen. Aber niemand war von dieser extremen Lösung begeistert. Sie wußten aus Daniels Erfahrung, was für einen hohen Preis sie wahrscheinlich bezahlen würden, wenn sie während des Monsuns die Berge überquerten. Niemand wollte sich einem »Marsch der Aussätzigen« anschließen, erst recht nicht nach dem Anblick von Gus’ erfrorenem Fuß. Die Erfrierungen breiteten sich aus. Als Abe mit den Fingerspitzen über den Knöchel und das Schienbein fuhr, knisterte es unter der Haut. Am nächsten Abend stand fest, daß der Unterschenkel bis zum Knie amputiert werden mußte, sonst würde Gus sterben. Abe informierte die anderen und fragte nach Freiwilligen. Da er eine solche Operation noch nie durchgeführt hatte, hatte er keine Ahnung, wie viele Leute man dafür brauchte. Dann las er in seinen medizinischen Büchern die Artikel über Amputationen durch. Zur verabredeten Zeit kamen sie ins Küchenzelt, selbst Kelly, die immer noch nicht wieder sehen konnte. Sie holten Gus aus der Sauerstoffkammer und legten sie auf den Holztisch, der einmal als Eßtisch gedient hatte; vor tausend Jahren, als sie noch Scherze gemacht, Pläne 368
geschmiedet und bis in die Nacht diskutiert hatten. Abe machte sich auf das gefaßt, was jetzt kommen würde. Er schaltete seine Gefühle aus. Unter Abes Anleitung übernahmen die anderen verschiedene Aufgaben. Jemand mußte die Sauerstoffversorgung überwachen. Jemand mußte in regelmäßigen Abständen den Puls fühlen. Jemand mußte die Blutdruck-Manschette im Auge behalten, die Abe zum Abschnüren um den Oberschenkel gelegt hatte. Jemand anders mußte die Skalpelle und Messer über einer Gasflamme sterilisieren. Die Sherpas sollten sich darum kümmern, daß die Kerosinlampen hell genug brannten. Und JayJay hatte die Aufgabe, Daniel zu suchen und ihn unter allen Umständen fernzuhalten. Stump und Abe banden ein Neun-Millimeter-Kletterseil um Gus’ schwarzen Knöchel, warfen es über die Bambusstange unter dem Dach und hievten das Bein senkrecht in die Höhe. Der größte Teil der Operation würde sich auf der Unterseite des Beins abspielen. Im Camp gab es keine Spalt- oder Bügelsäge, geschweige denn eine chirurgische Säge, und so mußte der Unterschenkel direkt am Kniegelenk abgetrennt werden. Die Vorderseite des Knies war kein Problem, da sie nur aus Knochen bestand. Die Schwierigkeit bestand in der Rückseite mit all den Sehnen, Venen und vor allem der großen Oberschenkelarterie. Abe setzte die ersten Schnitte einige Zentimeter tief in die Wade. Vorsichtig zog er am Kniegelenk das Fleisch von der Haut ab, damit er die Hautlappen später am Stumpf zusammennähen konnte. Der Knochen und die Muskeln lagen nun auf zwanzig Zentimetern Länge unter dem Knie frei. Abe wollte die Operation in höchstens fünfzehn Minuten hinter sich bringen. Wenn es länger dauerte, mußten sie die Manschette am Oberschenkel 369
lockern. Und wenn sie dazu gezwungen waren, konnte es größere Probleme geben. Er fand die große Arterie und zog sie so weit heraus, daß er sie abklemmen konnte. Unterhalb der Klemme nähte er die Arterie fest zu und durchtrennte sie dann. »Fünfzehn Minuten«, sagte Carlos. Diese Worte rüttelten Abe auf. Er hatte gar nicht gemerkt, wie still es im Zelt war. »Aber ich hab doch gerade erst angefangen«, protestierte er. Sie lockerten die Manschette, und es kam Blut, aber nicht soviel, wie Abe befürchtet hatte. »Wir machen weiter«, sagte er. »Zieht sie wieder fest zu.« Als nächstes trennte er die weißen Sehnen von dem Fleisch, das sie umgab. »Dreißig Minuten«, rief Carlos. Abe stöhnte. Er war zu langsam. »Du machst das gut, Doc«, sagte Stump. Die Zeltwände waren mit Rauhreif bedeckt, doch Stump hatte Schweiß auf der Stirn. Abe holte tief Luft und arbeitete weiter und weiter. Er durchtrennte Adern und Nerven, um sie dann mit heißen Messerklingen auszubrennen. Der Geruch war für einige Leute zuviel. Abe wußte nicht, wer sie waren. Er wußte nur, daß sie gingen. Jedesmal wenn jemand hereinkam oder hinausging, spürte er den kalten Luftzug. Und er hörte den Nachtwind, der gegen die Zeltwände peitschte. Ein kalter Windstoß wehte herein. »Gus?« Abe hob den Kopf. Im Licht der Kerosinlampen stand Daniel mit weitaufgerissenen Augen vor ihm. Sekunden später platzte JayJay herein, der gegen Daniel wieder einmal der Unterlegene war. »Ich hab versucht, ihn aufzuhalten«, sagte JayJay. »Um Gottes willen, schaff ihn raus«, rief Jorgens. 370
Daniel schrie. »Gus?!« Ihr Bein hing da wie ein Kadaver. Vom Gewebe war nicht mehr viel übrig. Die weißen Knochen lagen bloß. Der Anblick brachte JayJay aus der Fassung. Er blieb regungslos stehen. »Verdammt, schaff ihn hier raus!« brüllte Jorgens wieder. »Daniel«, sagte eine Frauenstimme. Es war Kelly, die blind in der Ecke stand. Daniel weinte. »Daniel«, sagte sie. »Komm mit. Nimm meine Hand.« Sie tastete sich vor. »Führ mich nach draußen.« Es funktionierte. Daniel nahm sie bei der Hand, und sie gingen zusammen hinaus. Abe wandte sich wieder dem Bein zu. Drei Stunden vergingen. Als er das letzte Band durchtrennte, klatschte Gus’ Oberschenkel auf den Tisch. Der Unterschenkel baumelte unter dem Zeltdach, während Abe die Operation hastig beendete. Um Mitternacht legten sie Gus wieder in den GamowSack und pumpten ihn auf. Danach saßen sie eine Stunde lang zu fünft zusammen, sprachlos, wie die Opfer eines Tornados. »Arme Gus«, sagte schließlich jemand. Es war Jorgens. »Sie hat zum letzten Mal einen Berg bestiegen.« Am nächsten Nachmittag, als die Sonne wieder erbarmungslos brannte, hörten sie das Geräusch eines Motors, der sich durch den Schnee kämpfte. »Die Lastwagen«, rief jemand, und alle liefen hinaus ins grelle Licht, um ihre Retter in Augenschein zu nehmen. Die beiden Yaks des alten Hirten standen in der Nähe und fraßen das letzte getrocknete Gras. 371
Weit entfernt, im Norden, war ein Fahrzeug zu erkennen, das direkt auf das Camp zukam. Man sah nur die funkelnde Windschutzscheibe zwischen zwei Fontänen aus Schneematsch. »Endlich! Wir fahren nach Hause!« Diese Worte hätte jeder aussprechen können, denn jeder dachte so. Die Bergsteiger versammelten sich, um die Ankunft des Fahrzeugs zu beobachten. Selbst Li kam aus seinem Zelt und stimmte mit in das aufgeregte Geplapper ein. Abe hatte ihn seit seiner Rückkehr vom Berg noch nicht wieder gesehen. »Moment mal«, sagte JayJay, der seine Augen mit einem Stück Pappe abschirmte. »Das ist kein Lastwagen. Das ist ’n Landcruiser.« »Durchaus sinnvoll«, urteilte Stump. »Die schicken einen Eisbrecher voraus. Der hat Allradantrieb und kommt überall durch. Der Rest fährt bestimmt hinterher.« »Komm zu Daddy«, rief Robby dem Landcruiser zu. »Abe«, sagte Jorgens. »Mach deine Patientin bitte transportfertig. Gus muß zuerst hier raus.« Für einen Moment strahlte er wieder seine alte Überlegenheit aus. »Ich hole die Genehmigung von Mr. Li ein.« Li war zu beschäftigt, um zu antworten. Er blickte mit einem Feldstecher in die Ferne. Jorgens plante gleich weiter. »Wenn der Gamow-Sack hinten drinliegt, haben noch zwei Leute Platz. Abe muß natürlich mit. Außerdem entweder Kelly mit ihren Augen oder Daniel oder …« Abe stand neben Thomas und hörte, was er murmelte: »Ach du Scheiße.« Abe warf ihm einen Blick zu, aber Thomas starrte gedankenverloren nach Norden. Langsam, als würde er seinen Augen nicht trauen, ließ Li 372
den Feldstecher sinken. Er lächelte nicht mehr. »Pete«, sagte Stump. Plötzlich sah man überall ernste Blicke. Abe fragte sich, was los war. »Ich bleibe bei Gus«, sagte Daniel mit Nachdruck. »Für Kelly haben wir bestimmt auch noch Platz. Aber ich fahre auf jeden Fall mit.« Daran gab es nichts zu rütteln. »Das glaube ich nicht«, sagte Stump. »Schon gut«, sagte Jorgens zu Stump. »Daniel kann mit ihr fahren.« »Nein«, sagte Stump. Jorgens erstarrte. »Wir fahren nirgendwohin.« Der Landcruiser näherte sich mit heulendem Motor. Er fuhr durch eine feuchte Schneewehe, ließ eine diamantene Fontäne aufspritzen und schlingerte einmal nach links und rechts. Der aufgewirbelte Schneematsch glitzerte in der Sonne. Die Yaks ergriffen die Flucht, doch sie waren zu ausgehungert und kamen nicht weit. Der Landcruiser durchpflügte eine weitere Schneewehe. Zehn Meter vor dem Eingang des Küchenzeltes bremste er. »Sagt den Typen, sie sollen den Motor laufenlassen«, rief Daniel. »Kommt, wir holen Gus.« Niemand rührte sich. Daniel zupfte Abe am Pullover. »Komm schon, Abe. Heute abend können wir schon in Shekar sein.« Der Motor ging aus. Abes Hoffnung schwand. »Sagt dem Fahrer, er soll den Motor wieder anlassen. Wir bringen Gus hier weg.« Daniel ging zwischen ihnen hindurch wie zwischen Statuen. Seine Kameraden blieben schweigend und regungslos stehen. 373
Er war der einzige, der den Landcruiser vorher noch nicht gesehen hatte. Er kannte auch die drei Soldaten nicht, die jetzt ausstiegen. »Worauf wartet ihr denn? Stump, komm und hilf mir.« Die Soldaten wirkten ausgehungert und müde; ihre grünen Uniformen waren schmutzig. Die beiden jüngeren waren anscheinend froh, wieder hier zu sein. Der Offizier nicht. Li ergriff die Initiative und ging auf sie zu. Er stakste durch den Schnee. Li und der Offizier standen neben dem Landcruiser, diskutierten mehrere Minuten lang und warfen den Bergsteigern nervöse Blicke zu. Jorgens wollte zu ihnen gehen, doch Li hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Li wechselte noch einige Worte mit dem Offizier und kam dann zu den Bergsteigern. »Nicht gut«, sagte er mit gespielter Tapferkeit. »Der Pang La ist gesperrt. Erdbeben, Schnee, nicht gut.« »Blödsinn«, knurrte Daniel. »Wenn die reingekommen sind, können wir doch auch raus.« Daniels Unwissenheit verwirrte Li. Er glotzte den Bergsteiger verständnislos an. Stump trat vor. »Daniel, sie sind nicht reingekommen«, erklärte er. »Blödsinn«, sagte Daniel noch einmal und zeigte auf den Landcruiser. Dann fiel der Groschen. Er ließ die Hand sinken. »Wo waren die Soldaten denn die ganze Woche?« fragte Jorgens. »Im Kloster Rongbuk«, sagte Li. Es war klar, was passiert war. Die Soldaten waren mit ihrem Gefangenen losgefahren. Dann hatte das Erdbeben ihnen vor dem Paß den Weg abgeschnitten. Sie hatten zum 374
Basislager zurückfahren wollen, doch der tiefe Schnee hatte auch das unmöglich gemacht. Deshalb hatten sie für die letzten sieben Tage in dem verfallenen Kloster Zuflucht gesucht, ohne Proviant und Schlafsäcke, wahrscheinlich sogar ohne Feuer. Und jetzt hatte sich der Kreis geschlossen. »Diese Männer benötigen Essen«, sagte Li. »Sie benötigen Unterkunft. Sie benötigen medizinische Versorgung. Sie benötigen …« Daniel schnitt ihm das Wort ab. »Wo ist der Junge?« fragte er eindringlich. »Was sagen Sie da?« Li war außer sich, doch Abe empfand die Empörung als theatralisch. Genau wie alle anderen war Li sicher enttäuscht darüber, daß sie festsaßen. Doch es gab einen wichtigen Unterschied: Er saß jetzt mit den Bergsteigern zusammen in der Falle, und sie waren für ihn der Feind. »Was haben sie mit dem Jungen gemacht?« »Ich verbiete Ihnen …« Daniel warf dem Verbindungsoffizier mit seinen schwarzen Augen einen vernichtenden Blick zu und drängelte sich wortlos an ihm vorbei zum Landcruiser. »He, Sie«, rief Li. »Bleiben Sie hier!« Daniel stakste nicht durch den Schnee, sondern schob ihn einfach mit den Schienbeinen vor sich her und bahnte sich so einen Weg. Der Offizier sah Daniel kommen und befahl den beiden jüngeren Soldaten, ihn aufzuhalten. Doch nach einer Woche ohne Nahrung und Wärme waren sie entkräftet. Daniel drängelte sich zwischen ihnen durch. Der Offizier brüllte mit schriller Stimme einen chinesischen Befehl. Als Daniel nicht stehenblieb, öffnete er die Klappe eines Lederhalfters, das er an der Hüfte trug. 375
Abe beobachtete die Bewegungen des Soldaten, und sie erschienen ihm völlig logisch. Natürlich würde er seine Waffe ziehen. Wenn Daniel nicht stehenblieb, war das unvermeidlich. Mit ritueller Entschlossenheit zog der Offizier seine Automatikpistole und gab Daniel zu verstehen, er solle weggehen. Natürlich nützte das nichts. Daniel war zu sehr in Fahrt. Doch als der Offizier seinen Arm ganz ausstreckte und mit der Pistole auf Daniels Kopf zielte, trat eine Pause ein. Daniel blieb stehen. Abe hätte ihm am liebsten zugerufen, daß er einen Fehler machte. Sie waren Bergsteiger, und ihre Expedition war vorbei. Sie hatten mit diesem Ort abgeschlossen, und der Berg hatte mit ihnen abgeschlossen. Sie hatten hier nichts mehr zu suchen. Daniel handelte unfair. Sie hatten versucht, ihn zu erlösen. Jetzt lag es an ihm, die anderen zu erlösen. Sie wollten nach Hause. Alles, was die Bergsteiger von Daniel sahen, war seine fettige schwarze Mähne, die bis auf die Schultern seines einstmals weißen Pullovers herabhing. Über die Schulter hinweg konnte man das Gesicht des Offiziers mit seinen kalten, finsteren Augen erkennen. Eine ganze Minute lang blieben die beiden Männer regungslos und nachdenklich stehen. Dieser Stillstand bereitete Abe geradezu körperliche Schmerzen. Die Hitze und die Helligkeit ließ alle erstarren. Die Stille war gewaltig, größer als der Berg. Und dann geschah etwas. Einer der Yaks war von dem Schauspiel gelangweilt und drehte den Kopf. Das Glöckchen, das er um den Hals hatte, klingelte. Ein einziger Ton vibrierte in der Luft. Das reichte aus. Das Schweigen war gebrochen. Daniel lief um den Offizier herum, der seine schwarze Pistole weiterhin 376
hochhielt, so daß er damit für kurze Zeit auf die anderen Bergsteiger zielte. Dann ließ er sie sinken. Abe erkannte an seinem Blick, daß er um ein Haar abgedrückt hätte. Daniel lief zur Hecktür des Landcruisers. Er drückte auf den Griff und zog die Tür zu. Alle sahen zu, wie der tibetische Junge langsam in den Schnee glitt. Selbst die Soldaten waren offenbar überrascht, was für eine Wirkung das Auftauchen ihres Gefangenen hatte. Der Junge war an Händen und Füßen gefesselt, und zwar mit Ultimate-Summit-Seilen. Er war bewußtlos und mit schmutzigen Yakfellen bekleidet – wie in der Nacht, als Abe ihn das erstemal gesehen hatte. Wie ein Häufchen Elend lag er mit schlaff herabhängendem Unterkiefer im schmelzenden Schnee. Daniel beugte sich über ihn. »Er lebt«, rief er den anderen zu. »O Gott«, murmelte Stump, und das war nicht als Halleluja gemeint. Abe empfand genauso, genau wie alle anderen. »Warum haben die Schweine ihm nicht den Gnadenschuß gegeben?« fragte jemand. Durch das erneute Auftauchen des Jungen war alles komplizierter geworden, und sie mußten sich wieder mit der Realität auseinandersetzen. Der Junge verfolgte sie – nicht als Toter, sondern schon zu Lebzeiten. Abe wußte, daß dies ein gemeiner Gedanke war, aber es war ein ehrlicher Gedanke. Niemand wollte sich mehr mit dieser Sache befassen, weder die Bergsteiger noch Li oder die erschöpften Soldaten. Doch der Mönch war zäh. Abe stapfte in Daniels Spuren durch den Schnee. Er war der Mediziner, und vor ihm lag ein leidender Mensch. Jeder hatte hier seine Rolle zu spielen, auch Abe. »Stop«, rief Li. »Dieser Angehörige der tibetischen 377
Minderheit ist ein Verbrecher. Das ist eine innere Angelegenheit Chinas. Sie haben kein Recht dazu.« Er klang routiniert, als hätte er die Regierungsvorschriften auswendig gelernt. Abe ging unbeirrt weiter. Li sprach auf chinesisch mit dem Offizier, der seine beiden Untergebenen anwies, sich Abe in den Weg zu stellen. »Mr. Jones und Mr. Corder«, rief Jorgens. »Unser Verbindungsoffizier hat seine Position deutlich gemacht. Und ich erinnere euch daran, daß wir in diesem Land Gäste sind.« »Das sind die auch«, sagte Carlos. »Die Chinesen haben hier genausowenig verloren wie wir.« Das waren kühne Worte, doch er rührte sich nicht, um Abe und Daniel zu Hilfe zu kommen. »Scheiß auf deine Politik«, entgegnete Thomas. Er hatte von diesem Land die Nase voll. »Ich bin hier, weil ich klettern wollte. Basta.« Sie spielten alle die Rollen, die ihnen zugedacht waren, nicht mehr und nicht weniger. Abe konnte gar nicht anders handeln: Wie Daniel ging auch er an den Soldaten vorbei. »Ich wiederhole«, verkündete Li, »bleiben Sie stehen. Sofort.« Abe kniete sich neben Daniel in den Schnee. Er beugte sich dicht über den Mund des Jungen. Die Atmung war schwach und schnell. Noch bevor Abe den Puls fühlte, wußte er, daß auch dieser schwach und schnell sein würde. Die bloßen Hände des Jungen waren mit Frostbeulen übersät. Seine Füße waren sicher schwarz. Sein Zustand war schon vorher hoffnungslos gewesen, und nun hatte er auch noch eine Woche lang gefesselt und ohne Nahrung in der Kälte gelegen. Auf diese Weise sparte der Henker eine Kugel. 378
»Wir binden die Fesseln los«, sagte Abe. Daniel löste die Knoten an den Füßen, Abe kümmerte sich um die Hände. »He!« rief Li. »Dieser Verbrecher ist Eigentum der Volksrepublik China.« Abe hielt ein Stück loses Seil hoch. »Das hier ist nicht Ihr Eigentum. Das gehört zu unseren Sachen.« Er sprach nicht nur von dem Seil. Auch die Gefangenschaft des Jungen war ihre Sache, nicht erst seit dem Verrat. Sie hatten so getan, als wäre Schweigen genug gewesen. »Komm, wir bringen ihn ins Küchenzelt«, sagte Abe. »Stehenbleiben!« rief Li. Dann sprach er ein paar Worte mit dem Offizier. Abe und Daniel ließen sich nicht beirren. Als sie den Jungen anhoben, wog er auf Abes Seite weniger als einige der Rucksackladungen, die er auf den Berg geschleppt hatte. Sie waren kaum zwei Schritte gegangen, als der Pistolenschuß ertönte. Der Körper zuckte in Abes Händen. Vielleicht zuckte auch er selbst. Er wußte es nicht genau. Ein Schmerzensschrei ertönte. Abe drehte sich erschrocken zu dem Offizier um. Aus dem Pistolenlauf quoll eine dünne Rauchfahne. Doch die Pistole zeigte nicht in Abes Richtung. Dennoch war es mehr gewesen als ein Warnschuß. Drei Meter entfernt lag der Yak, auf dem Kelly vom ABC-Camp hergeritten war, zusammengekrümmt im Schnee. Eine Blutfontäne spritzte in hohem Bogen aus dem Kopf. Der alte Hirte kämpfte sich durch den Schnee zu seinem Tier vor. Nun richtete der Offizier seine Waffe auf den Jungen, den Abe und Daniel in den Händen hielten. Jetzt waren sie 379
schachmatt, dachte Abe. Weiter durften sie nicht gehen. Es gab einen Punkt, an dem man sich vom Gipfel abwenden und die Niederlage eingestehen mußte. »Verdammt«, flüsterte Abe. »Noch ist es nicht vorbei«, sagte Daniel zu ihm, über den schlaffen Körper des Jungen hinweg. »Doch, Daniel. Sie werden ihn umbringen.« »Das tun sie sowieso.« »Daniel, es ist vorbei«, sagte Abe. »Glaub’s mir.« »Wir können ihn nicht so liegenlassen«, protestierte Daniel. »Das müssen wir«, widersprach Abe. Und damit war das finstere Kapitel für ihn abgeschlossen. »Bitte«, sagte Daniel. Doch bevor sie den Jungen auf den Boden legen oder ihn zum Landcruiser zurückbringen konnten, endete der allgemeine Stillstand. Aus den Reihen der Bergsteiger hörte man ein leises Klicken, ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Alle Augen wandten sich von dem Offizier und seiner schwarzen Pistole ab, die genau auf den Körper zwischen Abe und Daniel gerichtet war. Sie sahen Kelly, die einen Fotoapparat in der Hand hatte. Der Chinese wußte nicht, daß sie blind war. Abe wußte nicht, ob überhaupt ein Film in der Kamera war. Aber Kelly hielt den Apparat in die richtige Richtung. Sie drückte den Auslöser noch einmal. Mit einem einzigen Finger stoppte sie die Gewalt. Carlos war der nächste. Er tastete nach seiner Kamera, die er um den Hals hängen hatte, und machte erst ein Foto, dann drei, dann zwanzig. Auch Robby fotografierte. Das Gesicht des Offiziers verfinsterte sich. Li zuckte 380
zusammen. Selbst wenn sie alle Kameras beschlagnahmten und jeden Bergsteiger einzeln durchsuchten, gab es immer noch Zeugen. Abe nutzte die Gelegenheit und sprach Li direkt an. »Ich bin Arzt«, sagte er. »Ich muß ihn behandeln. Dafür bin ich hier. Es ist meine Pflicht.« Er ließ die Zukunft des Jungen unerwähnt. Es gab keine Zukunft. Abe spürte förmlich, wie die Seele sich aus dem geschundenen Körper befreien wollte. Li dachte über das Argument nach. »Ja«, verkündete er schließlich. »Sie müssen den Gefangenen behandeln. Das ist Ihre Pflicht. Sie sind unser Arzt.« Sie packten den Jungen in einen Schlafsack und legten ihn neben Gus’ rot-gelbe Sauerstoffkammer. Abe überlegte, ob er seine Patienten abwechselnd in den GamowSack stecken sollte. Doch Gus’ Zustand schien sich unter höherem Luftdruck zu stabilisieren, und der Mönch würde sich wahrscheinlich sowieso nicht wieder erholen. Die chinesischen Soldaten quartierten sich in der steinernen »Grabkammer« ein, etwa hundert Meter entfernt vom Rest der Zeltstadt. Li beauftragte einige Sherpas damit, sein Zelt neben die Hütte auf den Hügel zu stellen. In beiden Lagern richtete man sich auf einen längeren Aufenthalt ein. Plötzlich erschien es wahrscheinlich, daß sie festsitzen würden, bis der Monsun Ende August oder Anfang September vorüber war. Stump und Thomas zerlegten den toten Yak und hängten das Fleisch in ein Zelt. Die anderen Bergsteiger machten eine Bestandsaufnahme von den Vorräten. Die Verpflegung würde noch bis August reichen, das Kerosin für die Kocher nur bis Juli. Ein Tag verging, ohne daß sich viel änderte. Zwischen dem amerikanischen und dem chinesischen Lager bildete 381
sich eine unsichtbare Grenze. Sie wurde nur von Krishna überschritten, der den Soldaten und dem Verbindungsoffizier heißes Essen auf den Hügel brachte. In dieser Nacht lag Abe zusammengekauert und zitternd auf dem gefroreren Boden und atmete im Schlafsack seinen eigenen heißen, animalischen Atem ein. Er konnte nicht schlafen. Dazu hätte er Medikamente nehmen müssen, und das kam nicht in Frage. Schließlich lag er zwischen zwei bewußtlosen Patienten. Er hörte, daß jemand seinen Namen flüsterte. Abe knipste seine Stirnlampe an und sah Daniels ausgezehrtes Gesicht in dem Lichtkegel. Abe erschrak. Das Wort »gottverlassen« kam ihm in den Sinn. Seit dem Abstieg vom Berg wurde über Daniels Verfall geredet. Die Amputation hatte ihn anscheinend endgültig zerstört. Es hieß, daß er tagsüber zwischen den Felsen schlief. Nachts hörte man ihn ständig im Camp umherstapfen. »Daniel, frierst du nicht?« Er hatte Eiszapfen in seinem schmutzigen Bart, und er zitterte. Aber er sagte, ihm sei nicht kalt. »Wird sie wieder gesund?« fragte Daniel. »Ihr Puls ist stärker geworden. Die Wunden sind anscheinend sauber. Ich habe sie mit allen Antibiotika vollgestopft, die wir haben. Dem Wundbrand haben wir den Garaus gemacht. Es gibt keinen Grund, warum sie nicht gesund werden sollte.« Abe zögerte. »Da in der Ecke ist noch ein Schlafsack. Hol ihn doch her, wärm dich auf und schlaf. Du kannst neben ihr schlafen.« »Was ist mit ihm?« Daniel starrte den tibetischen Jungen an. »Ich weiß es nicht.« Daniel kniete sich neben den reglosen Körper und zog 382
das Kopfteil des Schlafsacks auf, so daß er das Gesicht des Jungen sehen konnte. »Das hat er nicht verdient«, sagte Daniel. »Er hat nicht verdient, daß wir ihn so behandeln.« Das hatte er sicherlich nicht verdient. In gewisser Weise hätten sie seine letzten Schutzengel auf der Flucht aus Tibet sein sollen, und sie hatten ihn im Stich gelassen. Abe gab nicht mehr Gus allein die Schuld, im Gegensatz zu den anderen. Daniel hatte Kelly erzählt, was Gus getan hatte. Auf seine Bitte hin hatte Kelly es den anderen berichtet. Er wollte, daß sie Gus’ Beweggründe kannten. Er wollte, daß sie ihm die Schuld gaben, nicht ihr. Doch die Schuldfrage spielte eigentlich gar keine Rolle. Der Junge war im Camp von Anfang an in Gefahr gewesen. Er war blutend und in Fetzen gehüllt zu ihnen gekommen, und sie hatten nichts weiter getan, als ihm ein sauberes Ultimate-Summit-T-Shirt und eine Baseballmütze zu geben und Pflaster auf seine Wunden zu kleben. Damit und mit ihrem Schweigen hatten sie dieses zarte, einsame Kind vor der rauhen chinesischen Wirklichkeit beschützen wollen. Wie naiv waren sie eigentlich gewesen? »Du hast recht«, sagte Abe. »Das hat er nicht verdient. Aber ich glaube, er hat keine Chance mehr.« »Ich habe nachgedacht«, sagte Daniel. »Du solltest dich ausruhen«, sagte Abe und versuchte, ihn von dem Mönch loszueisen. »Wir schulden ihm was«, erklärte Daniel. »Und für Gus kann ich im Moment nichts tun. Du wirst dich um sie kümmern, das weiß ich.« Abe hörte, wie die Zeltstangen im Wind knarrten. »Hier kann er nicht bleiben«, sagte Daniel. »Die bringen ihn um.« 383
»Vergiß es«, entgegnete Abe. »Drei Tage, vielleicht fünf«, fuhr Daniel fort. »Von hier aus ist man in einem Tag am Changri La. Ich kenne den Weg. Wir stoßen dann in Katmandu wieder zu euch.« »Nein«, sagte Abe. »Wir schaden niemandem. Und vielleicht geht doch noch alles gut aus.« »Ich werde hier gebraucht.« »Von dir war ja auch gar nicht die Rede.« Daniel lächelte. Seine weißen Zähne glänzten zwischen den schmutzigen Barthaaren. »Das ist meine Sache.« »Sie würden uns bestrafen«, sagte Abe. »Gus würde darunter leiden.« »Nein.« Daniel brauchte eigentlich gar nicht zu widersprechen. Abe glaubte selbst nicht, daß die Chinesen eine verletzte Amerikanerin bestrafen würden. Die einzige Strafe würde die sofortige Ausweisung sein, und in dieser Lage bedeutete das gar keine Strafe. »Mach, was du willst«, sagte Abe. »Aber mach es ohne ihn. Er hat nichts mehr damit zu tun.« Was Daniel wollte, war klar, doch es war nicht mehr möglich, die Würde zu wahren. Daniel legte eine Hand auf die Brust des tibetischen Jungen. Er spürte die Atmung und den furchtbaren Todeskampf. »Sie werden ihn umbringen«, wiederholte Daniel. »Das würdest du auch. Er hat in seinem Leben genug gelitten.« Genau wie du, dachte Abe, als er in Daniels Gesicht blickte. Dann tat Daniel etwas Bemerkenswertes. Er zwinkerte. Es war kein verschwörerisches oder herausforderndes Zwinkern. Es war einfach nur ein Zwinkern. Dann stand er 384
auf – langsam, vorsichtig und mit knirschenden Kniegelenken. »Versuch zu schlafen, Abe«, empfahl er. »Du siehst aus wie ausgekotzt.« Abe sagte: »Ich habe nicht gewollt, daß es so kommt.« »Gewollt?« fragte Daniel im Hinausgehen. Hinter ihm schloß sich der Zelteingang. Die Sonne war auch am nächsten Tag sengend heiß, und der Schnee im Camp schmolz auf gut zwanzig Zentimeter zusammen. Gus bekam Fieber. Das beunruhigte Abe. Durch sein lückenhaftes medizinisches Wissen war er praktisch hilflos. Fieber war für ihn wie eine Lawine. Er mußte abwarten, bis es vorüber war. Er wartete. Das Fieber sank. Beim Abendessen diskutierte das Team, ob eine kleine Gruppe zu Fuß über den Pang La geschickt werden sollte. Wenn sie einen fast neun Kilometer hohen Berg besteigen konnten, mußte es doch möglich sein, eine Paßstraße zu überwinden. Sie konnten dann versuchen, einen Hubschrauber zu organisieren, um Gus auszufliegen. Zumindest aber würden sie im Basislager weniger hungrige Mäuler haben. Stump, Carlos und JayJay verschwendeten keine Zeit. Sie brachen gleich am nächsten Morgen auf. Die anderen verabschiedeten sich von ihnen und wünschten ihnen viel Glück. Beim Frühstück herrschte gedrückte Stimmung. »Ich frag mich, ob wir sie je wiedersehen«, sagte Robby. Diese Frage wurde sehr bald beantwortet. Kurz vor Sonnenuntergang kam JayJay zurück, allein und außer Atem. »Die Lastwagen kommen«, grölte er freudig erregt. »Wir 385
haben sie durch die Ferngläser gesehen: fünf große LKWs. Morgen früh sind sie hier.« Für alle außer dem tibetischen Jungen war das eine gute Nachricht. Der Paß war offen. Es blieb ihnen erspart, den Sommer am Everest zu verbringen. Sie konnten wieder ihr Leben leben. Sie konnten anfangen zu vergessen. Gegen Mitternacht atmete der tibetische Junge immer schwerer. Trotz gleichmäßiger Sauerstoffversorgung und einer Glukose-Infusion starb er um zwei Uhr. Es war ein sanfter Tod. Abe war eingenickt und träumte von Pferden. Als er den Puls fühlen wollte, schwieg die Halsschlagader des Jungen. Abe legte ihm das Stethoskop auf die Brust, doch das Herz stand still. Durch das Licht und Abes Aktivitäten wachte Daniel auf, der sich doch noch entschlossen hatte, neben Gus’ Sauerstoffkammer zu schlafen. »Der Junge ist eingeschlafen«, teilte Abe ihm mit. »Er wollte doch nur über die Grenze«, sagte Daniel. »Wir haben getan, was wir konnten.« »Du weißt, daß das nicht stimmt«, sagte Daniel. »Es ist vorbei.« »Ich frage mich immer noch, was gewesen wäre, wenn wir ihn zur Grenze gebracht hätten.« »Daniel, es war zu spät.« »Ich meine, bevor es zu spät war. Statt weiterzuklettern, hätten wir diesem armen Kerl die Hölle ersparen können. Wir hatten es wirklich in der Hand.« Abe bedeckte das Gesicht des Jungen. »Er war nahe dran. So nahe wie wir.« Mit Daniels Hilfe brachte Abe den Jungen nach draußen. Die Sterne funkelten; es war wolkenlos. Die Mondsichel tauchte die Nordflanke des Everest in milchiges Licht. Sie 386
legten die Leiche in ein kleines ramponiertes Vorratszelt und blieben eine Weile andächtig stehen. »Wir begraben ihn morgen früh«, sagte Abe. »Es wird keine Beerdigung geben«, erwiderte Daniel. »Aber wir können ihn doch nicht so liegenlassen.« »Keine Sorge, der bleibt nicht liegen. Du weißt doch, er ist ein Verräter, ein Reaktionär. Die Chinesen haben noch Verwendung für ihn. Sie müssen ihre Akten füllen. Sie werden ihn fotografieren. Und dann verkaufen sie ihn an seine Familie, wenn er eine hat.« »Nein«, sagte Abe. »Wir begraben ihn.« Im Morgengrauen brach die Außenwelt wieder über das Camp herein. Abe öffnete die Augen, als er entfernte Motorengeräusche hörte. Es war sechs Uhr. Daniel war schon aufgestanden. Abe sah noch einmal nach Gus, bevor er hinausrannte, um sich von der Ankunft der Retter zu überzeugen. Von Norden her krochen fünf Militärlastwagen ins Tal herunter. Sie schlingerten langsam über das Eis und den gefrorenen Schlamm. Die Bergsteiger krochen aus ihren Zelten. Sie winkten und schrien hysterisch wie Schiffbrüchige auf einem sinkenden Floß. Lis Soldaten benahmen sich würdevoller. Sie traten aus der »Grabkammer« und knöpften ordnungsgemäß ihre Uniformen zu. »Laßt uns systematisch vorgehen, Leute«, rief Jorgens. »Ich garantiere euch: Die wollen, daß innerhalb einer Stunde alles aufgeladen ist. Also systematisch vorgehen!« Die Bergsteiger und die Sherpas liefen hektisch durch das Camp und packten die wenigen Sachen zusammen, die es wert waren, gerettet zu werden. Abe nutzte die Gelegenheit, unter den Zeltplanen seines eingestürzten 387
Lazaretts nach brauchbaren Dingen zu suchen. Li kam auf ihn zu. »Nun werde ich den Gefangenen in Gewahrsam nehmen.« Die Sonne hatte das Tal noch nicht erreicht, und Lis Worte wurden als blauer Dampf sichtbar. Abe ließ die zerfetzte Zeltwand los. Er hatte den Jungen irgendwie rächen wollen. Er hatte Li und die Foltermethoden seiner Regierung verdammen wollen, bevor er den Tod des Jungen bekanntgab. Doch er beließ es bei der einfachen Mitteilung. »Er ist gestorben«, sagte Abe. »Was? Was sagen Sie?« »Letzte Nacht.« »Unmöglich«, sagte Li. »Ich habe ihn Ihnen gegeben. Jetzt müssen Sie ihn mir geben.« »Er ist gestorben«, wiederholte Abe sehr leise. »Nein.« Lis Stimme wurde lauter. »Er lebte, als Sie ihn aus unserem Gewahrsam übernahmen. Er lebt.« Abe kam auf den Gedanken, daß Li einen Gefangenen brauchte, um sich rechtfertigen zu können. Er hatte den Befehl mißachtet, die Everest-Besteigung abzubrechen. Zum Zwecke der Festnahme eines Flüchtlings hatte er eigenmächtig die Fortsetzung der Expedition erlaubt. Er hatte seinen Gefangenen in die Hände von Amerikanern gegeben. Wenn er keinen lebenden Flüchtling vorzuweisen hatte, konnte seine Befehlsverweigerung unabsehbare persönliche Konsequenzen für ihn haben. Abe bedauerte ihn. »Wir sollten ihn hier begraben«, sagte Abe. »Unmöglich.« Daniel hatte recht gehabt. Es würde tatsächlich keine Beerdigung geben. Aus der Ferne bekam der Offizier Lis Erregung mit. »Zeigen Sie ihn mir. 388
Sofort.« Abe führte Li zu dem kleinen Vorratszelt hinter dem Küchenzelt. Sie gingen an Leuten vorbei, die eilig ihre Rucksäcke und Seesäcke vollstopften. Der erste Lastwagen hatte das Camp schon fast erreicht. Abe hörte, wie das Eis unter den großen Rädern knirschte. Carlos, Thomas und Stump standen johlend auf der Ladefläche und reckten die Fäuste in den Himmel. Abe öffnete den Reißverschluß des Vorratszeltes. Wenigstens war der Junge in der Nacht gestorben. So hatte er zumindest einige Stunden Totenruhe gehabt. Damit war es jetzt vorbei, denn im Camp herrschte Feierstimmung. Der Mönch war schon vergessen. Und dann sah Abe, daß die Leiche verschwunden war. Der kirschrote Schlafsack, in den er den Jungen gepackt hatte, war leer. »Da hat er gelegen«, sagte Abe. Li sah ihn zornig an. »Sie haben ihm zur Flucht verholfen«, sagte er und stürmte davon. Es dauerte eine Stunde, bis sie merkten, daß Daniel nicht mehr im Camp war. Der Chinese weigerte sich, Abe zu glauben, und das war durchaus nachvollziehbar. Auch die Bergsteiger kauften Abe die Geschichte nicht ab. Es kam ihnen unsinnig vor, daß Daniel eine Leiche befreien wollte. Es wurde zehn Uhr, und man hatte noch keinen Beschluß gefaßt. Abe machte sich Sorgen um Gus. Sie brauchte so schnell wie möglich medizinische Versorgung, doch die Chinesen schienen es mit der Abreise nicht eilig zu haben. Der halbe Vormittag war schon vorbei, und sie hätten bereits auf halbem Wege zum Pang La sein können und damit näher 389
an Katmandu. Und näher an der Heimat. Jorgens und Thomas waren über den Fluchtversuch fast so entrüstet wie die Chinesen. Sie hatten seit Monaten unter Daniels Verhalten gelitten, und sein letzter Coup würde sie teuer zu stehen kommen. Li drohte damit, sie alle nach Lhasa zu bringen, um sie zu verhören. Er hatte verkündet, daß Jorgens’ Genehmigung für eine weitere Expedition an der Kore-Wand im nächsten Jahr auf jeden Fall null und nichtig sei. »Corder, das Schwein«, knurrte Thomas. »Er hat uns reingerissen.« »Er ist desertiert«, pflichtete Jorgens ihm bei. »Und Deserteure rettet man nicht. Man verhaftet sie. Oder man erschießt sie.« »Wir müssen ihn finden«, wandte Abe ein. »Da draußen würde er sterben.« »Der hat schon vor langer Zeit sein eigenes Todesurteil unterschrieben«, sagte Thomas. »Und jetzt reißt er den Jungen mit in den Tod.« »Der Junge ist letzte Nacht gestorben«, entgegnete Abe. Er hatte es ihnen schon einmal gesagt. Doch nur Kelly hatte ihm geglaubt. »Er hat’s schon mal über die Pässe geschafft«, sagte Stump, doch damit wollte er die anderen nur beschwichtigen. Selbst diejenigen Bergsteiger, die Daniel darin unterstützt hatten, den Jungen zu befreien, waren jetzt verärgert. Wenn der Pang La einmal durch Erdbeben und Schneemassen unpassierbar geworden war, dann konnte das jederzeit wieder geschehen. Daniel hatte das Wohlergehen des ganzen Teams aufs Spiel gesetzt. Am Mittag zitierte Li Abe zu sich in die »Grabkammer«. 390
Um die Steinhütte herum standen Lastwagen. Li saß in der Hütte, zusammen mit dem Offizier und einigen anderen Männern, die mit dem Konvoi gekommen waren. Fünf oder sechs von ihnen trugen Armeeuniformen. Abe wußte, was sie von ihm wollten. »Mr. Corder ist mit dem Gefangenen auf dem Weg zu unserer Staatsgrenze.« Li war so wütend, daß er kaum sprechen konnte. »Wir haben Fußspuren gefunden. Sie müssen unsere Soldaten begleiten, damit sie ihn finden.« »Ich habe eine schwerkranke Patientin«, sagte Abe. »Sie muß dringend in ein Krankenhaus.« »Die chinesische Regierung handelt humanitär«, entgegnete Li. »Dann bringen Sie Gus hier raus.« »Dies ist eine ernste Sache«, sagte Li. »Eine innere Angelegenheit unseres Volkes, verstehen Sie?« »Helfen Sie Gus«, antwortete Abe. »Dann helfe ich Ihnen.« Li drehte den Spieß um. »Helfen Sie uns«, sagte er. »Dann helfen wir Ihnen.« Abe war einverstanden. »Also gut.« Um Gus zu retten, mußte er Daniel notfalls opfern. Anders schien es nicht zu gehen. Obwohl Thomas sich freiwillig angeboten hätte, Daniel bis in die Hölle zu verfolgen, wollten die Chinesen nur Abe in ihrem Suchtrupp haben. Sie vertrauten ihm, weil er sich als nicht vertrauenswürdig erwiesen hatte. Sie arbeiteten lieber mit einem Feind zusammen, den sie kannten. Abe ging den Soldaten voran. Einschließlich Li waren es sechs Chinesen. Zwei von ihnen hatten Gewehre. Die Fußspuren im Schneematsch, die durch die Sonne 391
schon verformt waren, führten nach Süden, zum Everest. An dem riesigen steinernen Pfeil, wo die Expedition nach rechts gegangen war, bog Abe nach links ab. Er hatte diesen Weg noch nie beschritten, aber er wußte, wohin die Spuren führen würden: zum Changri La, hinaus aus diesem utopischen Land. Die Höhenluft zehrte an Li und den Soldaten. Abe sah gleichgültig zu, wie sie keuchten und mit Übelkeit kämpften. Er überlegte, ob er eine Schnitzeljagd mit ihnen veranstalten sollte, indem er sie in ein abgelegenes Tal führte, doch das war gar nicht nötig. Wenn sie Daniel tatsächlich einholten, würden sie eben die Wahrheit herausfinden: Der Flüchtling war tot. Abe achtete auf Stellen, an denen Daniel die Leiche begraben haben konnte. Er war überzeugt, daß Daniel inzwischen allein unterwegs war. Wahrscheinlich hatte er die Leiche schon im Camp unter ein paar Felsen versteckt und war dann hier hinaufgestiegen, um die Soldaten in die Irre zu führen. Eines stand fest: Wenn man den Chinesen die Leiche präsentierte, würden sie die Jagd abblasen, und sie konnten alle nach Hause gehen. Doch Kilometer um Kilometer war keine Leiche zu sehen. Die Fußspuren führten immer weiter den Berg hinauf. »Wir sollten lieber zum Camp zurückgehen«, sagte Abe um fünfzehn Uhr. Die Sonne hatte die Luft erwärmt, und auf dem Hang kräuselten sich wunderschöne weiße Nebelschleier. Der Gletscher ächzte und krachte unter den Schritten des Suchtrupps. Tief unter ihnen zerfielen Felsbrocken zu Staub. Zu beiden Seiten des Weges rollten kleine Schneebälle den Hang hinunter. »Nein«, sagte Li. »Weitergehen. Aber langsam.« Kurz darauf wurden zwei der Soldaten von großer 392
Übelkeit befallen. Sie setzten sich auf die Felsen, hielten sich die Köpfe und hatten Erbrochenes auf den Hosen und Stiefeln. Der Offizier schrie sie an und schickte sie ins Camp zurück. Li und die anderen Soldaten bekamen ebenfalls immer größere Probleme. Als sie über einen Gletscherbach sprangen, fiel einer ins Wasser. Kurze Zeit später verrenkte sich ein anderer das Knie. Sie boten ein Bild des Jammers. Die Höhenkrankheit hatte ihre Gesichter zu Masken verzerrt. Abe fragte sich, ob Daniel die Chinesen auf diese Weise bestrafen wollte. Wahrscheinlich nicht, dachte er. Hier ging es nicht um Rache. Um sechzehn Uhr versuchte Abe es noch einmal: »Wir müssen zurück.« Li taumelte auf der Stelle. Alle anderen saßen. »Sie werden entkommen«, sagte er. Abe wollte keinen Streit anfangen. Sollten sie doch glauben, was sie wollten. Li beriet sich mit den anderen. Dann ging er auf Abe zu und deutete auf einen jungen kräftigen Soldaten. »Sie gehen weiter mit diesem Soldaten«, ordnete er an. »Wir gehen jetzt nach unten. Sie haben die Verantwortung.« Der chinesische Junge, der vielleicht achtzehn Jahre alt war, rappelte sich auf. Auf dem Rücken trug er ein Repetiergewehr. Er lächelte Abe solidarisch an, wie es Spitzensportler untereinander tun, und Abe nickte anerkennend. Er war mit solch enthusiastischen Grünschnäbeln schon auf Hunderte von Bergen geklettert. Irgendwann war er selbst einmal ein solcher Junge gewesen. Unter anderen Umständen wären sie vielleicht zusammen zum Gipfel aufgestiegen. Abe nahm den Soldaten ins Schlepptau. Er fühlte sich stark und geschmeidig und schnell, und er 393
empfand es als angenehm, daß ihm die Haare ins Gesicht hingen. Sie hatten eine Höhe von über sechstausend Metern erreicht, doch die Luft kam ihm weich und sauerstoffreich vor. Beinahe spielerisch sprang er von Stein zu Stein. Ich gehöre hierher, dachte Abe und war selbst überrascht. Vor nicht allzulanger Zeit war er überzeugt gewesen, daß diese Einöde für Menschen und Tiere gänzlich ungeeignet war. Der chinesische Junge rang schon bald nach Luft, doch Abe nahm keine Rücksicht auf ihn. Er wollte den Jungen zermürben. Er wollte ihn, wenn möglich, krank machen. Abe wußte, daß er um jeden Preis mit dem jungen Soldaten ins Camp zurückkehren mußte. Es war schon schlimm genug, daß man ihm Beihilfe zur Flucht unterstellte. Doch wenn er sich ohne den Soldaten wieder im Camp sehen ließ, würde alles noch schlimmer werden. Egal, ob der Junge abstürzte, in eine Gletscherspalte rutschte oder vielleicht nach Nepal desertierte – Li und der Offizier würden Abe dafür verantwortlich machen. Darunter würde die ganze Expedition zu leiden haben, Gus am allermeisten. Abe gab dem Soldaten Wasser, und der Soldat bedankte sich. Ironischerweise konnte Abe die Verfolgung von Daniel nur dadurch verlangsamen, daß er sie beschleunigte. Je schneller sie gingen, desto eher würde der Junge wahrscheinlich müde werden. Doch egal, wie schnell sie hinaufstiegen – dem Soldaten wurde nicht übel, und er gab nicht auf. Irgendwie hielt er mit. Nach einer weiteren halben Stunde tippte Abe auf seine Armbanduhr und deutete auf die untergehende Sonne. Er zeigte nach unten. Sie würden im Dunkeln zum Camp zurückmarschieren müssen und wahrscheinlich noch vom Rest des Suchtrupps aufgehalten werden. Abe hatte nur eine einzige Stirnlampe und keinen Biwaksack bei sich. 394
Der junge Soldat kaute auf seiner Unterlippe und überlegte. Das Tal lag im Zwielicht. Die Luft wurde kalt, der Himmel war kornblumenblau. Abe nahm die Gletscherbrille ab und setzte statt dessen seine normale Brille auf. Der feuchte Schnee wurde schon wieder hart. Weiter oben machte der Weg eine Biegung um einen grünen, vereisten Felsen. Abe konnte gerade noch die Séracs an der Biegung erkennen, deren eisige Spitzen zum Gipfel emporragten. Nach fünf Minuten hatten Abe und der Soldat die Kurve erreicht und kamen zu einem breiten Gletscherbecken. Die »magische Stunde« war angebrochen. Robby hatte die Zeit kurz vor Sonnenuntergang so genannt, weil die ganze Landschaft in ein farbiges Licht getaucht wurde. Das Becken lag da wie gewaltige schillernde Flügel, als wäre ein Engel zwischen den Bergen zu Eis erstarrt. Die Ränder des Beckens führten in langen geschwungenen Linien nach oben und endeten rechts an den steilen Hängen des Everest und links an einem dunklen, namenlosen Nebengipfel. Etwas oberhalb der Stelle, an der Abe und der Soldat standen, liefen die beiden Flügel zusammen, und in der Mitte befand sich ein Grat. Das war der Weg zur Grenze. Sie hatten den Changri La vor sich. Und hier, im rot und golden flammenden Alpenglühen, fanden sie Daniel. Er war nicht allein. Er hatte sich den Mönch mit einem Kletterseil auf den Rücken gebunden. Als Daniel sich umdrehte, weil der Soldat ihm auf chinesisch etwas zugerufen hatte, drehte sich der Kopf des Mönchs mit. Es sah lebendig aus, als würde er grinsen. Die Flüchtlinge waren nicht weit entfernt, vielleicht hundert Meter, doch es hätten auch hundert Kilometer sein können. Der Weg war in dieser offenen Ebene völlig 395
zugeschneit, und das Plateau bestand aus purem, glattem Eis. Daniel wandte sich wieder nach vorn. Er trug natürlich Steigeisen. Er war schon einmal hiergewesen und hatte gewußt, was ihn erwartete. Er kam nur langsam voran; die Last auf dem Rücken und die Gelenkschmerzen behinderten ihn. Er bewegte sich wie ein sehr alter Mann, setzte einen Fuß vor den anderen und wirbelte den Staub alter Träume auf. Der junge Soldat lief am Rand des vereisten Plateaus hin und her. Er rief Daniel chinesische Worte zu, doch es kam keine Reaktion. Dann rannte der Soldat los wie ein übereifriger Hund, der sich auf seine Beute stürzt. Er machte drei Schritte, rutschte prompt aus und stürzte auf das glasklare Eis. Obwohl das Plateau anscheinend eben war, hatte es ein leichtes Gefalle, und der Soldat kam ins Rutschen. Er wollte sich wieder aufrappeln, doch dabei ließ er sein Gewehr fallen. Er versuchte, es aufzuheben, und rutschte immer schneller. Schließlich, nach Hunderten von Metern, vielleicht einen Kilometer weiter unten, würde er so schnell sein, daß er sich an einem herausragenden Felsen selbst den Schädel einschlagen konnte. Abe hätte den verblüfften, hilflosen Soldaten auf dem Eis in den Tod rutschen lassen, wenn das alle Probleme gelöst hätte. Der Junge kratzte und scharrte immer verzweifelter auf dem Eis herum. Abe lief auf einem Wall aus Steinen und Sand nebenher. »Wirf dein Gewehr weg«, brüllte er. »Huk«, grunzte der Junge. Er hielt das Gewehr fest. Nach einer weiteren Minute sah Abe seine Chance. Ein Steinwall reichte auf das glitzernde Eis hinaus wie ein Hafenpier. Unterhalb dieser Stelle wurde der Gletscher breiter und steiler, und der Soldat würde im Abgrund 396
verschwinden. Abe rannte auf den Wall. Er warf sich mit dem Oberkörper auf das Eis, streckte sich und erwischte einen Zipfel vom Hosenbein des Jungen. Er zog den Soldaten zu sich und brachte ihn in Sicherheit. Der Soldat lief sofort wieder los, zurück zu der Stelle, wo er gestürzt war. Daniel war noch nicht viel weiter vorangekommen, doch dem Soldaten war klar, daß er keine Chance hatte, den Bergsteiger und den Mönch einzuholen. Er mußte sie zur Aufgabe zwingen. Oder die Flucht mit Gewalt beenden. Noch bevor der Soldat sein Gewehr von der Schulter genommen hatte, wußte Abe, daß er es auch benutzen würde. »Daniel!« brüllte Abe. Seine Stimme hallte über das Eis. »Zeig ihm die Leiche!« Daniel drehte sich um, und der Kopf des Mönchs wippte munter hin und her. »Wir schaffen das schon«, sagte Daniel. »Ich kenne ja den Weg.« Ein Windstoß blies einen Schleier aus rosafarbenem Licht zwischen Abe und Daniel. Dann hob sich der Schleier. Daniel schulterte seine Last. Der Mönch schien sich umzusehen. »Er ist bewaffnet«, rief Abe warnend. »Zeig ihm doch den Toten.« »Er soll ein ruhiges Plätzchen haben«, sagte Daniel. »Es ist nicht mehr weit. Ich bestatte ihn, dann hat er seinen Frieden. Ich habe ein Messer.« Abe begriff, daß Daniel eine Himmelsbestattung meinte. Er wollte die Leiche den Vögeln und dem Wind überlassen. »Daniel«, schrie Abe. Doch er wußte nicht mehr, was er 397
sagen sollte. Er konnte ihn nicht mehr warnen; er konnte keine Entschuldigung mehr aussprechen oder annehmen; er konnte keine Erinnerungen mehr wecken. Es war alles gesagt. »Sag Gus, wir treffen uns am …« Doch der Wind fegte Daniels Ziel hinweg. Nebelschwaden zogen auf. Sie sahen aus wie Weizenfelder. Sie lösten sich auf und bildeten sich wieder neu. Daniel kämpfte gegen den Dunst an und schleppte sich weiter. Er hatte den Rand des kristallenen Beckens fast erreicht. Auf dem Grat tanzten Derwische aus Schnee, die von tiefroten Sonnenstrahlen durchbohrt wurden. Daniel trat zwischen die Derwische, und der Mönch schien sie mit seinen herabhängenden Armen verscheuchen zu wollen. Abe sah, daß Daniel nur noch hundert Meter überwinden mußte, um auf Nepal hinabblicken zu können. Ein scharfes metallisches Klicken ertönte. Abe drehte sich um. Der Soldat hatte eine Patrone geladen. Er lag auf dem Bauch und stützte das Gewehr auf einem Felsen ab. Er zielte sorgfältig. Daniels Steigeisen blitzten auf. Er kletterte jetzt zum Rand des Beckens hinauf und war nur noch schwer auszumachen. Von Abes Standpunkt sah es so aus, als würde der Mönch auf die Nordflanke des Everest zeigen. Eigentlich waren der Mönch und der Bergsteiger schon zu einer Person verschmolzen. »Nein«, sagte Abe zu dem Soldaten. »Bitte nicht.« Er war zu weit entfernt, um sich auf den Jungen stürzen zu können. Außerdem war es viel zu spät, um noch den Helden zu spielen. Der Schuß krachte. Die Felljacke des Mönchs zuckte. Der Soldat hatte gut gezielt. Die Kugel hatte den Mönch zwischen den Schultern getroffen. Ein tödlicher Schuß. 398
Daniel kletterte weiter. Nebelschwaden fegten über das Eis. Der obere Teil des Berges war in ein Flammenmeer getaucht. Das Licht schien tief aus dem Inneren der steilen Wände zu kommen. Der Soldat lud eine zweite Patrone. Er drückte seine Wange an den Gewehrschaft. »Bitte«, sagte Abe. Der Junge blickte von seinem Gewehr auf und sah Abe an. Sie verstanden einander nicht. »Bitte«, wiederholte Abe. Er hätte den jungen Mann gerne gefragt, ob der Tod eines weiteren Menschen in dieser ungeheuren Weite etwas änderte. Doch sie verstanden einander nicht. Abe hob flehend die Hände. Er beobachtete, wie der Junge ihn beobachtete. Der Soldat überlegte es sich anders – aus welchem Grund auch immer. Er hob das Gewehr an und richtete es auf den Everest. Er drückte ab, um sich der Patrone zu entledigen. Der Schuß donnerte heftig und hallte im Becken wider. Abe ließ die Hände sinken. Der Junge stand auf. Dann ertönte der dritte und letzte Knall. Abe duckte sich, weil der Knall so laut war und das ganze Becken erzittern ließ. Sowohl Abe als auch der Soldat wirbelten herum und wollten sehen, wer ihnen gefolgt war und was für eine gewaltige Waffe er abgefeuert hatte. Doch der Hang war menschenleer. Der Soldat war genauso verwirrt wie Abe. Dann blickte Abe nach oben. Hoch oben, unterhalb des Gipfels, erblühte eine gewaltige weiße Rose. Sie schien kilometerbreit zu sein und war wunderschön. Der Soldat drückte sein Erstaunen aus. Er legte den Kopf in den Nacken, riß den Mund auf 399
und war von dem Phänomen absolut fasziniert. Ganz langsam verlor die große weiße Blume ihre Blütenblätter, und der Schnee stürzte herab. »Daniel!« brüllte Abe. Doch Daniel hatte die Lawine schon gesehen. Sie kam direkt auf ihn zu. Zuerst würde sie ihn treffen, und dann das ganze Becken überfluten. Jetzt hörten sie das Donnern. Abe zog den Soldaten am Arm und rüttelte ihn wach. Er schubste den Jungen auf den Pfad zu, hinaus aus dem Becken. Sie hatten keine Chance, vor dem Ungetüm davonzulaufen. Aber wenn sie Glück hatten, konnten sie die Kurve in der Kammlinie erreichen und weit genug talwärts kommen, um der größten Wucht der Lawine auszuweichen. Der Soldat verlor sein Gewehr. Er blieb instinktiv stehen, um es aufzuheben, doch Abe trieb ihn vor sich her. Sie hatten die Kammlinie fast erreicht. Abe blickte nach oben. Die Lawine hatte den Berg jetzt beinahe bis zu seinem Fuß verschlungen. Es war nur noch ein dichter Schneeschleier zu sehen, und dahinter ein tosender weißer Orkan. Der bebende, ohrenbetäubende Donner war überall. Abe warf einen letzten verzweifelten Blick zum Paß hinauf, und dort entdeckte er Daniel, der nach ihm Ausschau hielt. Daniel wußte, daß er nicht davonlaufen konnte. Er sah gefaßt nach oben und hatte nur einen Gedanken im Sinn: den Blick, den Abe ihm zugeworfen hatte. Das letzte, was Abe von Daniel sah, war das gleiche, was Daniel von ihm sah – zwei erhobene Arme mit ausgestreckten Händen.
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DANKSAGUNGEN Das Verfassen eines Romans ist wie die Solobesteigung eines Berges: Man ist allein und doch nicht allein. An der Entstehung des Buches Tödliches Eis sind viele Menschen beteiligt, darunter Cliff Watts, Charles Clark, Michael Wiedman und Kurt Papenfus, allesamt Ärzte und Bergsteiger. Im Laufe der Jahre habe ich mit David Breashears, Brian Blessed, Fritz Stammberger, Arnold Larcher, Matija Malezic und Geof Childs die Berge des Himalaja bestiegen. Mein besonderer Dank gilt John Paul Davidson und der gesamten BBC-Crew von Galahad of Everest sowie Jim Whittaker vom International Peace Climb 1990. Ich möchte mich auch bei Craig Blockwick, James Landis, Gwen Edelman, Verne und Marion Read, Rodney Korich, Jerry Cecil und, wie immer, bei meinen Eltern für ihre Unterstützung bedanken; außerdem bei Jeff Lowe, Mary Kay Brewster, Annie Whitehouse, Karen Fellerhoff und Brot Coburn für ihre außergewöhnlichen Erzählungen. Elizabeth Crook, Steve Harrigan, Doe Coover, Pam Novotny und Rex Hauck haben mir geholfen, mich aus meinem selbstgemachten Abgrund herauszuziehen. Ich werde Jeanne Bernkopf nie vergessen, die mir gezeigt hat, daß die Sprache eine Seele hat und daß die Seele das Seil ist, an dem wir Stück für Stück nach oben klettern. Aus der Menschenrechtsbewegung habe ich von folgenden Menschen und Organisationen Rat und Inspiration bekommen: Michelle Bohanna, John Ackerly, Tenzin Tethong, Lisa Keary, Marcia Calkowski, Rinchen Dharlo, Woody Leonhard, Spenser Havlick, Steve Pomerance, Matt Applebaum, Leslie Durgin, Buzz 401
Burrell, Chela Kunasz, International Campaign for Tibet, Office of Tibet, U.S.-Tibet Committee und Lawyers for Tibet. Mein besonderer Dank gilt Cindy Carlisle und Michael Weis für ihre visionäre Hartnäckigkeit. Schließlich danke ich meiner Lektorin Elisa Petrini, ohne deren magische Fähigkeiten dieses Buch nicht zustande gekommen wäre.
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