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Brian Ball
Eiskalt wie ein Todeskuß Originaltitel: THE VENEMOUS SERPENT Aus dem Englischen übertrage...
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Brian Ball
Eiskalt wie ein Todeskuß Originaltitel: THE VENEMOUS SERPENT Aus dem Englischen übertragen von Jürgen Saupe DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG. Copyright © 1974 by Brian Ball Titelbild: C.A.M. Thole Deutsche Erstveröffentlichung November 1975 2
1.
Der hohe, weiße Turm stand im fahlen Licht des Mondes. Dann peitschte dunkler Regen hernieder, und das massive Bauwerk war den Blicken entzo‐ gen. Die Männer beeilten sich, denn ein Donner‐ grollen zeigte ihnen an, daß das Unwetter näher‐ zog. Ihre weiten Mäntel waren bald gänzlich durchnäßt. Der Priester, der die kleine Prozession anführte, schwenkte seine Laterne, um ihnen Mut zu ma‐ chen, und rutschte dann im Schlamm aus. Ein Zus‐ chauer hätte den Anblick komisch finden können, da es sich um einen großen, dürren, linkischen Mann handelte, der sich wie ein Reiher schwan‐ kend vorwärtsbewegte. Er rappelte sich aus Schlamm und Schmutz auf und war bemüht, die Laterne gerade zu halten und die Oblate in seiner Linken nicht naß werden zu lassen. Wären sein Gesicht nicht so erschreckend bleich und seine Augen vor Entsetzen nicht so unnatürlich geweitet gewesen, ein Zuschauer hätte sich eines Lächelns nicht erwehren können. Aber er hatte Angst, wie die Männer, die ihm folg‐ ten. Er war vor Furcht sogar wie von Sinnen. Er 3
hatte sich auf etwas eingelassen, das über seinen Verstand ging. Heute nacht würden sich Mächte versammeln, die ihm ewig ein Geheimnis bleiben würden. Vor Entsetzen brach ihm der Schweiß aus. Hinter ihm stöhnte ein Mann vor Pein laut auf. Der Priester drehte sich um und rief mit gellender Stimme in den brausenden Wind: »Es gibt kein Umkehren mehr, Leute! Seht, wir sind in der Hut der Heiligen Kirche! Ich habe die segensreiche Hostie und auch das Weihwasser. Nichts kann uns etwas anhaben, wenn wir uns nur ein Herz fas‐ sen.« Und dennoch stolperte einer der Männer wie zu‐ vor der Priester. Die Bahre schwankte und die ver‐ hüllte, bewegungslose Gestalt darauf wäre fast he‐ rabgefallen. »So paß doch auf!« knurrte ein schwerer, unter‐ setzter Mann. »Unser Werk ist noch nicht getan. Und wenn das Mondlicht wieder auf das Untier fällt, so ist das böse Wesen wieder los!« Er hielt die schwere Holzbahre mit einem Schenkel im Gleichgewicht, bis der Träger wieder auf den Beinen war. Der Priester hob die Laterne. 4
»Es ist gut, Herr!« sagte der Untersetzte. »Geht weiter, damit wir die böse Sache hinter uns brin‐ gen.« Die Männer blickten in das Gesicht des Priesters und fanden keinen Trost darin. Sie sahen wahre Hingabe und religiöse Inbrunst, und doch hatte er Angst, so wie sie. Sie sahen seine zarten Hände und dachten an seine hohe Stimme. Die Männer der Gemeinde hatten die Sache in die Hand ge‐ nommen. Der Priester würde seines Amtes walten, wie es seine Pflicht war, aber sie würden dafür sorgen, daß die gräßliche und schauderhafte Tat, die zu tun war, ihren harten, kräftigen Händen überlassen blieb. Schlächterarbeit verlangte Kraft. Als sie die neue Vorhalle der Kirche erreichten, hatten sie ein wenig ihrer früheren Entschlossen‐ heit zurückgewonnen. Die Bahre, die sie schlepp‐ ten, war schwer, aber sie waren genug, um jedem von ihnen das Tragen leicht zu machen. Und was auf ihr lag, machte die Balken und die nassen Bret‐ ter nicht viel schwerer. Die Gattin des Herrn von Stymead war keine kräftige Frau gewesen. Und das Wesen, das sie ihren Schoßhund nannte, war kaum größer als das Junge eines Hundes. Beide waren in Leichentücher gewickelt. 5
Es war der Priester, der beinahe am Ende seiner Kräfte war. Das Entsetzen, das an seiner Seele zer‐ rte, hatte ihn entkräftet. »Fürchtet euch nicht mehr«, sagte er mit normaler Stimme. Er stieß die Flügel der Eichentür auf und winkte den Männern. »Es ist alles bereit.« Er zündete ein Dutzend Lampen an. Die Träger hatten die Bahre nicht abgesetzt. Sie standen vor dem Altarraum und starrten in die offene Grube hinunter. »Mir bleibt das Schlimmste zu tun«, sagte der schwere Mann. »Jeder muß das Seine tun. Bringen wir es also hinter uns.« Der Priester warf einen Blick auf die Männer aus der Gemeinde, wie sie sich an ihren verschiedenen Werkzeugen zu schaffen machten. Unter ihnen waren Maurer, ein Schmied, ein Zimmermann und ein Fleischer. Auf seinem Gesicht zeigte sich hefti‐ ger Widerwillen, als der kräftige Mann die Schnei‐ de eines schweren Hackmessers mit dem Finger prüfte. In der eigenen Kirche fühlte sich der Pries‐ ter jetzt wieder sicherer. Er konnte sich um die Vorbereitungen für die langwierigen Rituale kümmern, die in den geheiligten Schriften emp‐ fohlen wurden. Seine Gewänder waren tropfnaß, 6
aber er lief jetzt mit größter Zuversicht hin und her. Ein großer Teil des Entsetzens, das ihn ge‐ packt gehalten hatte, seit ihn die Dorfbewohner zu dem Geschöpf der Nacht und seinem entsetzlichen Vertrauten geführt hatten, war verflogen. »Gott wird heute nacht mit uns sein, und alle seine Engel, ihr Leute«, rief er, als alles soweit war. »Wir bedürfen seiner ganzen Gnade und Kraft, um vor dem Widersacher der Menschheit bewahrt zu werden.« Er zitterte, als die Männer vor dem Altar niederk‐ nieten. Ihm fiel wieder ein, wie entsetzt, wie ver‐ wirrt ihre Gesichter gewesen waren. Sie hatten die bösen Geschöpfe zufällig gefunden. Sie waren zu betäubt gewesen, um sich zu rühren. Man hatte die Geschöpfe der Finsternis leicht fangen und in Lei‐ chentücher wickeln können. Was würde gesche‐ hen, wenn sie wieder erwachten? Von neuer Furcht gepackt, sprudelte er los: »Der Allmächtige hat uns heute nacht die bösen Plage‐ geister in die Hände gegeben, die seit einem Jahr unser Dorf heimsuchen. Ihr habt die Höhle der Giftschlange aufgespürt, aber dennoch ist es nur recht und billig, daß die Lady von Stymead neben ihrem Gatten, dem tapferen Ritter Lord Humphrey 7
de Latours, liegt, wenn der böse Geist, der ihre Seele umfangen hält, gehörig exorziert worden ist.« Er wollte noch mehr sagen, aber der untersetzte Mann unterbrach ihn: »Priester, frisch drauf los exorziert! Ich möchte gern vor Anbruch der Däm‐ merung zu Hause sein.« Die übrigen murmelten beifällig. »So sei es«, sagte der Priester. Er warf wieder einen Blick auf das Messer in der Hand des kräftigen Mannes. Damit konnte der Schlächter einem Eber auf einen Streich den Kopf abschlagen. »Triff das üble Herz und schneid ihr dann wahr‐ lich den Kopf ab.« »Ich bin bereit, Priester.« In diesem Augenblick krachte der Donner los, ein schweres, dunkles Rollen, das die Deckenbalken des hohen Altarraums erschütterte. Helles, bläu‐ lich‐weißes Licht schoß durch die schmalen Fens‐ ter, als draußen Blitze über den ganzen Himmel zuckten und die Kirche und das Dorf dahinter mit schauerlichem Glanz überzogen. Gewaltige Don‐ nerschläge folgten, und die Versammlung der Männer war wie betäubt. Der Priester faßte sich ein Herz. 8
»Fürchtet nichts, Männer von Stymead!« rief er mit bebender Stimme. »Das ist eine List des Teufels. Das alles soll euch nur den Mut rauben, damit die Giftschlange frei ist. In diesem Haus seid ihr sicher – kommt herbei und hört die Worte der Heiligen Schrift. Hört die Worte, die das Böse in die Hölle zurücksenden, aus der es stammt.« Einige drehten sich um und knieten sich wieder vor den Altar. Aber den Schlächter hatte der Mut verlassen. Das schwere Messer entglitt seiner Hand und fiel mit lautem Klirren auf die Steinplat‐ ten. Als sich der Lärm legte, stimmte der Priester die Gebete an. Er brach die Hostie und sprengte Weihwasser aus. Er nahm den Nagel, der ganz gewiß vom Kreuz selbst stammte. Er sollte die Bronzeplatte an Ort und Stelle halten, damit die Geschöpfe der Fins‐ ternis nicht entfliehen konnten, wenn alles andere erfolglos bleiben sollte. Alles war soweit. »Nur Mut«, rief er und er war entschlossener als je zuvor in dieser Nacht, weil ihn die Worte des Ri‐ tuals gestärkt hatten. »Nehmt die Tücher fort, es ist Zeit.« Von den Männern rührte sich keiner. Alles war be‐ reit, und er versuchte es wieder. Man hatte Mörtel 9
gemischt. Ein Sarg stand offen da. Die Bleiausklei‐ dung glänzte im gelben Licht. Aber der Donner hatte den Männern der Gemeinde die Kraft ge‐ nommen. Sein schreckliches Dröhnen und die gleichzeitig niederzuckenden bläulich‐weißen Blit‐ ze hatten sie in ihrem Glauben bestärkt, daß der Teufel selbst durch die Nacht stürmte, um eines seiner Geschöpfe vor ihrem Zorn zu bewahren. Der Priester flehte vergebens. Er sprach von den nächtlichen Besuchen der Wesen, die in den Lei‐ chentüchern lagen, von den braven Menschen, die man verloren hatte, von den Kindern, die angefal‐ len worden waren, doch umsonst. Während er noch redete, glaubte er ein Anzeichen von Bewe‐ gung gesehen zu haben, wo eine weiße, eisige Hand verborgen lag. Der Priester zitterte. Er nahm seine ganze Willens‐ kraft zusammen und rief den verängstigten Män‐ nern gellend zu: »Da ihr Angst habt, ihr ins Antlitz zu schauen, seht, wie der Priester Gottes euch eure Arbeit abnimmt! Ewige Schande über euch, ihr Männer von Stymead!« Dann hob er das Messer mit der breiten Klinge auf und trennte die feuchten Grabtücher auf. Sie war‐ en so feucht, daß sie sich nicht leicht schneiden lie‐ 10
ßen. Die Tücher widersetzten sich seinem unge‐ schickten Tun. Aber er schnitt weiter, und die Hül‐ len klafften auseinander. Die Männer standen wie gebannt um ihn herum. »Priester, laß das!« bat jemand. »In Gottes Namen, laß die schreckliche Sache sein.« »In Gottes Namen werde ich den giftigen Wurm zertreten!« gellte er. Und dann lag die Gestalt hüllenlos da. Bis auf den Priester hatten alle sie schon gesehen. Er war diese Nacht gerufen worden, als man das Geschöpf und seinen entsetzlichen Begleiter in der Höhle aufgestöbert hatte, aber als er hinkam, war die Bahre fertig und der Leib eingewickelt. Jetzt sah er zum ersten Mal die elfenbeinglatte Haut, das tiefschwarze Haar, die roten Lippen, das schwache Lächeln, die Fangzähne, die krallenbe‐ wehrten Finger, die sinnlichen, unseligen Formen des gut gebauten Körpers, und das kleine, schla‐ fende Wesen zu Füßen dessen, was einst Lady Sy‐ bil de Latours gewesen war. Vielleicht war er von dem Anblick gefesselt, oder er stieß ihn ab, raubte ihm gar den Verstand, da es ebenfalls das erste Mal war, daß er den nackten Körper einer schönen Frau sah. 11
Eine weiße Hand mit Krallen bewegte sich. Der Priester stieß einen hohen, langgezogenen Schrei aus und ließ wie der Fleischer das Messer aus der Hand gleiten. Wieder klirrte es zu Boden. Und dann brach der Priester zusammen. Das Geräusch von Metall auf Stein befreite einige der Männer aus ihrer hilflosen, ohnmächtigen Furcht. Ein kleiner Mann kroch trotz der Bewe‐ gungen des Geschöpfes auf der Bahre nach vorn. Auch Fleischer Thomas kam wieder zu sich. Er knurrte mit wütender Stimme: »Was ist mit dem Priester?« »Der ist tot – mausetot!« Einige Männer brummten wütende Worte. »In Gottes eigenem Haus!« »Der Mann ist nicht wichtig, wenn er auch ein gu‐ ter Priester war!« rief Thomas. »Und gestorben ist er durch die Berührung des Untiers!« So war es, denn auf der Wange des Toten glühte dort ein Mal, wo die eisige Hand des nächtlichen Wesens geruht hatte. »Bleibt hier!« brüllte der Fleischer, als sich die an‐ deren in Bewegung setzten. Ein paar duckten sich in einiger Entfernung zu‐ sammen. 12
Thomas machte nicht viele Worte. »Der Priester sagte, wir müssen es auf eine bestimmte Art ma‐ chen, dann kann uns das Wesen nichts mehr anha‐ ben – wer hilft, wer von euch ist Manns genug, das Geschöpf zu vernichten?« »Machst du den Schlächter?« fragte der kleine Mann. Thomas bebte. »Ich kann es nicht«, sagte er schlicht. »Ich kann nicht in die Nähe der Fangzäh‐ ne und der Krallen.« Die, die zur Vorhalle gelaufen waren, kehrten zu‐ rück. Sie sahen, daß sich die totengleiche Gestalt der Frau nicht noch einmal bewegt hatte, aber sie erkannten auch, daß sich die Nasenlöcher im Gleichklang mit dem Heben und Senken der prächtigen Brüste weiteten. »Leute, was sollen wir tun?« fragte der kleine Mann. »Grabt sie tief ein!« sagte Thomas. »Und das kleine Untier auch!« »Und der Fluch ist gebrochen?« fragte jemand. »Das weiß ich nicht«, sagte Thomas schlicht. »Aber hier ist die heilige Hostie, vom Bischof geweiht – laßt uns das Blei dreimal siegeln und die geweihte Hostie auf die Siegel tun.« 13
»Und den Mörtel mit Weihwasser mischen!« rief ein Maurer. »Und den Nagel des Wahren Kreuzes dazu ver‐ wenden, die verzierte Bronzeplatte festzuhalten!« »Und dann verbergen wir alles unter dem Alabas‐ ter«, sagte Thomas. Er schüttelte sich. Er blickte wieder auf den toten Priester. »Wenn das gesche‐ hen ist, reden wir nie wieder über diese Nacht. Das sei beschworen.« Und jetzt kroch ein Strahl schwachen Mondlichts über den Altar und auf die eisige Gestalt auf der Bahre zu. Wie in einem Vorgefühl zuckten die blaugeäderten Lider der Nachtfrau. Einige Männer erkannten die Gefahr. Ein Mutiger warf die Grabtücher über die Leiche, und das war das Zeichen für rasende Geschäftigkeit im Altar‐ raum. Thomas nahm selbst einen Meißel und machte sich mit aller Kraft an der hellen Bronze‐ platte zu schaffen. Nach knapp einer Stunde erin‐ nerte nur noch die Gestalt des toten Priesters, die quer über den Altar hing, und das weiße Grabmal aus Alabaster über der Gruft an die seltsamen Ge‐ schehnisse der Nacht.
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2.
Sally stürzte mit einem Schrei in unsere Galerie, der anzeigen sollte, daß wir ihrer Meinung nach unser Glück gemacht haben. Ich habe ihn schon oft gehört, aber wir hatten noch immer Mühe, die Miete zusammenzubekommen. »Andy, wir sind reich! Laß diesen modischen Krimskrams sein und schau mal, was deine wun‐ derbare Allerliebste aufgestöbert hat!« Preise für Bescheidenheit kann Sally Fenton wirk‐ lich nicht gewinnen, aber sie sagt die Wahrheit. Ich weiß nicht, wo sie ihr Gesicht und die Figur her hat. Bei ihrer Mutter schnellt die Nadel der Waage auf hundertundsiebzig und ihr Vater ist ein kahl‐ köpfiger, dürrer Büroangestellter, der ein Gesicht hat wie der verstorbene Jimmy Durand (und wenn Sie den nicht aus alten Filmen kennen: der besteht nur aus Nase und einem Paar Ohren und sieht wie ein wetterzerfressener Wasserspieler aus). Sal ist groß und hat einen voll entwickelten, herrlichen Körper, einen Klassebusen und ein herzförmiges Gesicht. Sie besitzt das leicht glänzende, aschblon‐
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de Haar, das sich bei vielen deutschen Frauen fin‐ det, und dunkelblaue Augen. Ich hatte sie auf der Kunstakademie kennenge‐ lernt. Beide waren wir neunzehn. Nach ein paar Monaten dort zählten wir unser Geld, borgten uns soviel wir konnten und teilten unseren Lehrern mit, wir glaubten, ein Künstler könne sich auf ei‐ ner Akademie unmöglich weiterbilden. Unzucht, Politik und Drogen ‐ja, das gäbe es dort, aber keine Kunst. Drei waren unserer Meinung. Einer fragte, ob er sich uns anschließen könne, als er hörte, was wir vorhatten. Und zwei sagten, wir seien total übergeschnappt, ein paar Jahre ungebundenen Le‐ bens aufzugeben. Wir hatten schon einen Ort, wo wir versuchen wollten, unser Brot sauer zu verdienen. Es handel‐ te sich um eine gemauerte Scheune, die um 1710 gebaut worden war und die leer stand. Ich erkann‐ te, daß man sie leicht in einen kunsthandwerkli‐ chen Arbeitsraum und einen Laden umwandeln konnte und daß wir nur ein paar Wände hochzie‐ hen mußten, um zu einem Schlafzimmer und einer Art Küche zu kommen. Der Bauer, dem sie gehör‐ te, legte sich beim Verhandeln mächtig ins Zeug.
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Im Februar zogen wir ein, und im März war der Bau bewohnbar. Zu dieser Zeit schwingen sich die ersten Touristen, die in die Peak‐District‐Gegend wollen, in ihre Autos und rasen los, um in dem Bergstädtchen teuren Krimskrams zu kaufen. Im Mittelalter waren es die Raubritter, die vom Wan‐ derer, der den Rücken Englands überquerte, ihren Wegezoll forderten; heute sind es die Andenken‐ läden. Ich hatte keine Bedenken, bei dem Geschäft mitzumachen. Wenn die Leute Gipszwerge dop‐ pelt so teuer wie bei Woolworth kaufen wollen, warum dann nicht meine? Wir verkauften auch Kerzen, grelle Dinger in Rot und Gelb. Die gingen anfänglich gut. Dann sammelte ich noch interes‐ santen Trödel in den benachbarten Industriestäd‐ ten – ich hatte feste Absprachen mit ein paar Schrotthändlern. Wir malten auch beide ein wenig. Ich befaßte mich mit Landschaften, und Sal stellte ziemlich düstere Pferdebilder her. Sie war viel besser als ich und hatte mehr Einfälle, wie der Laden zu füllen sei. Wir machten auf diese Weise etwas Geld, und als der Bauer sah, wie gut es uns ging, erhöhte er die Miete.
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Für unsere »richtige« Malerei hatten wir nur wenig Zeit. Von früh bis spät waren wir eifrig dabei, Zwerge zu bemalen, Antiquitäten aus dem Trödel herzustellen, den wir ausgesucht hatten, und Aquarelle mit Titeln wie »Nebel über Mam Tor« für zwanzig Eier hinzuhauen. Verstehen Sie mich nicht falsch – ich beklage mich nicht über die viele Arbeit. In gewisser Weise war sie zufriedenstel‐ lend. Wir verlangten nicht zuviel von den Touris‐ ten, und wenn wir merkten, daß einem Kunden ein Bild gefiel und er nicht viel Geld hatte, setzten wir den Preis um die Hälfte herunter. Vor allem suchten wir nach einer Möglichkeit, rasch ein paar hundert Pfund zusammenzube‐ kommen, um einen richtigen Mietvertrag über die Scheune abzuschließen oder uns nach etwas ande‐ rem umzusehen, wo wir keine Wuchermiete zah‐ len mußten. Bis jetzt hatten wir uns nur auf ver‐ lustreiche Geschäfte eingelassen. Ich war mit gu‐ tem Geld in die Samtwelle eingestiegen, hatte sie aber nur noch in ihren letzten Zügen erwischt. Jetzt saß ich mit Unmengen von Samt da, den kei‐ ner mehr wollte. Eine von Sals Ideen. Dann kam die Töpferscheibe.
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Sal hatte sie bei einem Ausverkauf erstanden und dabei ganz vergessen, daß wir nicht töpferten. Sie stand in einer Ecke des Ladens – sah gut aus, muß ich schon sagen, aber Geld würde sie uns keins bringen. Und kaufen wollte sie auch niemand. Ge‐ nausowenig wie die vielen hundert Schmuckker‐ zen, die wir hatten. Ich verstehe die Touristen nicht. Eine Woche lang kaufen sie alles, was es nur gibt, dann plötzlich geben sie sich wählerisch. Während des Winters waren Kerzen der große Schlager – jeder wollte Kerzen, rote, grüne, violet‐ te, gelbe, rote und blaue – wir hatten alles. Stun‐ denlang hatte ich über den verschmierten Töpfen geschwitzt. Und jetzt krähte kein Hahn mehr nach Kerzen. Als Sally also hereingeschossen kam und sagte, wir seien reich, da konnte ich dem nur mit Arg‐ wohn begegnen. »Mach uns nur reich«, sagte ich zu ihr, »dann kau‐ fen wir den Bauernhof und schmeißen Judson raus.« So heißt unser Vermieter. »Verspotte, beschimpfe, schmähe mich – ich hab ein paar Fehler gemacht, Andy, aber das hier bringt’s jetzt wirklich. Fang!«
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Das Ding brachte sofort Unglück. Sie hatte es zu‐ sammengerollt in eine Pappröhre gesteckt. In dem dunklen Laden sah ich das verdammte Ding zu spät. Es traf mich an der Stirn und warf dann ein Brett mit Gipszwergen um. Sal schüttelte sich fünf Minuten lang vor Lachen aus. Als der heftige Schmerz nachließ, fing ich auch an, die Szene komisch zu finden. Uns war ge‐ rade ein Kunde entgangen, jemand, der seinen Kopf zur Tür hereingesteckt hatte und sich wieder zurückzog, als er Sal sah, wie sie sich über die Trümmer der Zwerge beugte. »Um Himmels willen«, brachte ich heraus, als ich mich erholt hatte, »was ist denn los, Sal?« »Dein Gesicht, die Zwerge – der komische Mann im Regenmantel...« »Alles zum Lachen, sehr witzig, aber was hast du denn gefunden?« »Mach es auf! Ach, dein Gesicht!« Kein schlechtes Gesicht. Ein bißchen mager, dafür aber nett. Manchmal glaube ich, ich habe ein ita‐ lienisches Gesicht, irgendwie florentinisch. Viel‐ leicht auch nicht. Auf jeden Fall ein unschuldiges Gesicht, damals im Frühling in Derbyshire. Ich zog das Papier aus der Röhre. 20
»Ein Metallabrieb?« fragte ich. Ich hatte nur eine Ecke gesehen. »Natürlich! Phantastisch. Wir machen das große Geschäft, Andy. Ein Glück, daß ich Papier und Farbkreide im Lieferwagen hatte. Verstehst du – bevor wir jeden Morgen den Laden aufmachen, können wir ein paar machen, und wenn wir pro Woche auch nur einen verkaufen, leben wir bald wie im Hilton!« Ihre Begeisterung war ansteckend. Ich rollte den Metallabrieb auf und sah ihn mir näher an. Wie ich schon sagte, ist es im Laden ziemlich dun‐ kel. Wir haben oben unter dem Dach der Scheune zwei Neonröhren. Die Fenster sitzen hoch und bringen nicht viel, und außerdem war der Tag schauderhaft. Als erstes sah ich das verunstaltete Gesicht der Frau. Ich dachte, Sal sei ein bißchen schlampig ge‐ wesen, sagte aber nichts. Zwei Hauptfiguren war‐ en zu sehen, ein Mann und eine Frau. Der ganze Metallabrieb war etwa einen Meter fünfzig mal ei‐ nen Meter zwanzig groß. Die Figuren bedeckten fast die ganze Fläche. Die reichgeschmückte Ein‐ fassung hatte wie gewöhnlich eine Inschrift. Ich sah sie mir nicht an, sondern betrachtete die Frau. 21
Ihr Gesicht – oder vielleicht die leere Stelle. Es fehl‐ te. Jemand hatte dort, wo ein Gesicht sein sollte, die Striche der Gravierung entfernt. Zu sehen waren nur noch die Spuren von Meißelhieben. Doch ob‐ wohl das Gesicht fast völlig getilgt worden war, ließen Hals und Schultern der seit langem toten Frau Schönheit ahnen. Der Künstler hatte ein Ge‐ fühl für Proportionen gehabt. Er hatte die anmuti‐ gen Umrisse ihres Körpers mit außerordentlicher Handfertigkeit wiedergegeben. »Das ist Sybil«, sagte Sally. »Der Mann heißt Humph. Für die Kunden Humphrey. Humphrey, Lord von Stymead. Sybil und Humph, die uns reich machen sollen.« Spürte ich die Macht der Toten? Durchaus mög‐ lich, doch eher war mein Ärger stärker als meine Vorahnung, als ich antwortete: »Liebling, das bringt uns nichts. Sybil ist nicht komplett. Mit ei‐ nem gesichtslosen Wunderwerk haben wir keinen Erfolg, nicht mal bei den Amis. Also der Humphrey ist ganz hübsch, mit ein paar Humphs könnten wir was anfangen.« Er war überhaupt nicht hübsch. Der Künstler hatte sich Mühe gegeben, aber bei Humphs korpulen‐ 22
tem, kleinen Körper war nichts zu machen. War Sybil groß und graziös, so war Humph einfach dick. »Sybil und Humph müssen zusammenbleiben«, sagte Sally fest. »Wir können sie nicht trennen. Außerdem kostet es mich nicht viel mehr Zeit, zwei Gestalten zu machen, wenn ich das Papier mal an Ort und Stelle habe.« »Sal, wir können sie so nicht verkaufen. Metallab‐ riebe müssen in Ordnung sein!« Anstelle einer Antwort zwinkerte Sally mir zu. Sie nahm einen weichen Bleistift und zeichnete rasch ein paar Striche auf einen Skizzenblock. Kein Zweifel, Sally war begabt – viel mehr als ich. Im Handumdrehen tauchte das Gesicht einer Frau auf, ruhig und friedlich, wie die Gesichter auf Me‐ tallabrieben gewöhnlich sind. Die Frau blickte mich gütig an. Ich stellte mir ihr Gesicht auf dem anmutigen Hals und den Schultern vor. »Nun?« fragte Sally. »Reinster Betrug, aber es ist phantastisch.« Wir grinsten uns zu. Alle Zweifel, die ich hatte, lösten sich auf. Wir wußten beide, daß wir uns da auf einen Betrug einließen, aber in der Welt der Kunst läuft der Hase nun mal so. 23
Sally nahm ein Messer und schnitt das Gesicht aus. Dann legte sie es auf den Abrieb. Ich nickte. »Es wird gehen, Sal. Wo kommt der eigentlich her?« Sally und ich, wir wußten Bescheid über Metallab‐ riebe. Für bargeldlose Kunststudenten geben sie eine ergiebige Einkommensquelle ab. Man muß nur eine gute Bronzeplatte finden und etwa ein Pfund für Papier und Wachskreide ausgeben, dann kann man von einem Händler fünf Pfund da‐ für bekommen. Ist die Bronze selten, kann sehr viel mehr herausspringen. Die Schwierigkeit war nur, daß zu viele Abreiber hinter den wenigen erstklassigen Platten her waren, die noch in Kir‐ chen verblieben waren. Mit Recht wehrten sich die Pfarrer im ganzen Land gegen die Art und Weise, wie die Bronzen ausgebeutet wurden. »Du wirst es mir nicht glauben, Andy, aber das Ding stammt aus einer verfallenen Kirche, die nur ein paar Meilen von hier entfernt ist. Und ich bin mir sicher, daß es eine Bronzeplatte ist, die noch nie er‐ faßt wurde.« Das war wirklich verblüffend. Gelehrte sind im‐ mer magisch von Kirchen angezogen worden, und die Britischen Inseln sind besonders reich an Geist‐ 24
lichen, die Verzeichnisse von allerlei Einzelheiten ihrer Bauwerke angelegt haben: Listen von Ge‐ wändern, Urkunden, kirchlichem Gerät, Grab‐ und Gedenkinschriften – von allem und jedem, was sich in Verzeichnisse aufnehmen und beschreiben läßt. Leute, die nicht dem geistlichen Stand ange‐ hören, haben das ihre dazu beigetragen. »Die werden doch so eine Grabplatte nicht überse‐ hen haben!« Sally warf die Wagenschlüssel auf den Ladentisch. »Was glaubst du eigentlich, wo ich den ganzen Tag gewesen bin?« »Ich hab mir schon Gedanken gemacht, Liebste.« »Ich habe drei der führenden Bücher über Bronze‐ platten durchgeblättert, mein lieber Andy. In kei‐ nem ist sie drin. Humphrey oder Sybil von Sty‐ mead werden nirgendwo erwähnt. Nirgendwo! Ich habe noch in vier anderen Büchern nachgese‐ hen, die aber kein Stichwortverzeichnis haben, weswegen ich einige Zeit brauchte. Nichts! Das hier ist unser Fund!« Er war sein Geld wert! Ich besitze ein gutes Maß natürlicher Habgier. Au‐ ßerdem wollte ich Sal das schönste Atelier einrich‐
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ten, das für Geld zu haben war. Der Abrieb war der einzige schnelle Weg, der uns offenstand. »Du bist schön, gescheit und hast Glück«, sagte ich zu ihr. »Du hältst nicht nur mein Herz in deinen Händen, sondern besitzt auch einen Verstand, der weiß, was gut für dich ist. Du hast deinen Fund zu mir gebracht. Wo hast du ihn übrigens gefunden?« »In Stymead.« »Das liegt südlich von hier?« »Im Osten. Richtung Chapel‐en‐le‐Frith. Es gibt da eine Nebenstraße, die schließlich nach Hathersage führt. Ich hatte mich verfahren und kam durch das Dorf.« »Ist es weit?« »Zehn, zwölf Meilen. Es geht steil hinauf. Der Ford ist zweimal stehengeblieben.« Nach wenigen Meilen werden alle Straßen im Peak District steil. Und kurvig sind sie auch. Unser Lie‐ ferwagen war uralt, aber wir kamen mit ihm he‐ rum. »Es war komisch, Andy, komisch! Du weißt, daß es heute früh geregnet hat?« »Klar.« »Schön, ich hatte eine Fuhre erstklassigen alten Trödel von Barlow aus Huddersfield – er will üb‐ 26
rigens noch ein Pfund, ich hatte nur zwei Scheine mit, aber das Zeug ist herrlich echt ‐, wo war ich eben?« »Auf dem Rückweg.« »... und es hat gegossen!« »Hast du schon gesagt.« Sie lächelte, und ich fühlte etwas viel Stärkeres als Habgier in mir aufsteigen. »Komm mit ins ...« »Du hast gesagt, nicht während der Geschäftszeit, Andy.« »Es werden schon keine Kunden kommen.« »Schön, aber laß mich ausreden !« »Nur zu.« »Wo war ich eben – ach ja, ich saß in Stymead fest. Die Straße ein einziger Fluß! Ich mußte anhalten, sonst wäre ich den Berg hinuntergespült worden. Ich hielt also an und wartete, bis der Regen aufhör‐ te.« »Er hat aber nicht aufgehört.« »Weiß ich. Er hat jedoch nachgelassen, und als ich gerade den Motor anlassen wollte, sah ich die Rui‐ ne.« »In Stymead?« »Stymead ist nicht gerade groß. Ein Gasthaus gibt’s und eine Post und ein paar Häuser. Aber das 27
Ding liegt außerhalb des Dorfs – auf einer Art Hü‐ gel, der ungefähr eine Meile von den Häusern ent‐ fernt ist. Er ist ganz mit Eichen und Birken zuge‐ wachsen.« »Und du konntest nicht anders, du mußtest einen Blick in die Ruine werfen.« »Du kennst mich doch, Andy, mein Süßer. Ich kann an einem Schloß oder einer Scheune nicht vorbeifahren, ohne einen Blick hineinzuwerfen.« Sie hatte recht. Schließlich hatte sie die Scheune, in der wir lebten und arbeiteten, auf einer ihrer Er‐ kundungsfahrten entdeckt. Ich konnte nicht kla‐ gen. »Ich bin auf jeden Fall über den Schafzaun geklettert und dann nichts wie hinein in das nasse Dickicht. Mich hat niemand über das Feld laufen sehen. Wenn ich jetzt nachdenke, habe ich über‐ haupt niemand in Stymead gesehen. Es sieht wie ein Unterwasserdorf aus, weißt du, als hätte man es in einem Tal gelassen, das zu einem Stausee gemacht worden ist.« »Welche Zeit?« »Die Kirche? Altarraum etwa Mitte dreizehntes Jahrhundert. Ich glaube, ein Teil des Turms ist ein Stück älter. Sie ist lange nicht benutzt worden – keine Reste von viktorianischen Kirchenbänken zu 28
entdecken. Nur Schutthaufen vom Dach und ge‐ borstenen Grabsteinen.« »Und die Bronzeplatte mit der Gravierung.« »Und die Bronzeplatte. Wirklich phantastisch, wie ich sie gefunden habe! Ich schlüpfte durch das Loch in der Wand hinein – ich habe dir nicht er‐ zählt, daß die Mauern nicht eingestürzt sind. Bis in eine Höhe von drei bis vier Metern sind sie noch in ziemlich guter Verfassung, aber vom Dach ist nicht mehr viel da. Die Vorhalle ist recht gut. Jünger als der Altarraum. Ein bißchen unheimlich war’s schon, aber nicht sehr.« Sie verstummte und zog die Augenbrauen zusammen. »Komisch.« »Was?« »Normalerweise halten sich in einem Dickicht Vö‐ gel auf. In einem Gebäude auch. Wenn es regnet, meine ich. Sie suchen Schutz.« »Und?« »Ich dachte mir dort nichts dabei, aber ich habe überhaupt kein Vogelzwitschern gehört.« In diesem Augenblick wachten unsere beiden Kat‐ zen auf. Sie liefen zu Sal, obwohl sie ganz naß war, und strichen ihr um die Knöchel. Sie warf mir ei‐ nen anklagenden Blick zu. »Ich habe sie gefüttert! Den Hund auch!« 29
Wir hatten einen großen mischrassigen Hund, der ein‐ und ausging, wie es ihm paßte. Zu einem rich‐ tigen Familienhaushalt fehlte uns nur noch die Heiratsurkunde. »Ach, ihr süßen Prinzessinnen!« sagte Sally zu den Kätzchen. Als Antwort schnurrten sie, wie es Kätzchen eben tun. »Du warst in der Kirche, Sal.« »Unheimlich und ein bißchen verwirrend war’s, Liebling. Kommt zur Mama, ihr hübschen Klei‐ nen«, lockte sie. Man gehorchte. »Weißt du, die Bronzeplatte ragte aus einem Haufen Dachbalken heraus, die herabgestürzt waren.« Ich konnte mir die Szene vorstellen. Der Regen, der immer noch herabprasselte, die schlanke Ge‐ stalt Sally Fentons, die sich über eine schwarzge‐ wordene Metalltafel beugte, und der Nebel, der um die hohen Berge wogte. »Mußtest du Schutt beiseiteräumen?« »War nicht schwer – aber weißt du, Andy, ich glaube, die Platte war vermauert. Da war ein Hau‐ fen Schutt, aber nicht von den Steinen, mit denen das Dach gedeckt war.« »Was für Schutt?« »Alabaster.« 30
Alabaster ist ein wunderschöner weißer Stein, sehr hart und dauerhaft. Er ist nicht leicht zu bearbeiten und ist deshalb ein teures Baumaterial. Er wird hauptsächlich für Grabmäler verwendet. Ich fragte mich, warum man eine Bronzeplatte mit einem Überbau aus Alabaster versehen hatte. »Und was war dann?« »Ich sah, daß ich den Schutt wegräumen konnte. Lang hat’s nicht gedauert. Ich hab gleich gewußt, daß die Platte erstklassig ist. Diese herrlichen Ein‐ zelheiten! Schau dir nur den Löwen zu Füßen Humphreys an.« Die Tiere hatte ich mir noch nicht angesehen. Man findet gewöhnlich zu Füßen des Ritters einen Lö‐ wen und zu Füßen der Dame einen Schoßhund. Humphreys Löwe fletschte ein wenig die Zähne, ließ die Zunge sehen und bedrohte mit seinen Pranken die gepanzerten dicken Waden Humphs. Ein rechtes Untier. Mit dem Schoßhund hatte es eine andere Bewandtnis. Unter den schlanken Fü‐ ßen von Sybil kauerte ein recht seltsames Ge‐ schöpf. Wenn ich sage »kauerte«, dann soll das nicht hei‐ ßen, daß es furchtsam wirkte. Es schien sich zu verstecken, als könne es das Licht nicht leiden. Es 31
war halb unter dem Gewand verborgen, und vom Gesicht konnte man nicht viel erkennen. Aus ei‐ nem eckigen Gesicht sah uns ein Auge an. Und die Schnauze war unverhältnismäßig groß. Ich hatte noch nie einen Hund gesehen, der so aussah. Ich dachte mir, daß man im mittelalterlichen England wohl ein paar merkwürdige Rassen gezüchtet hat‐ te. »Der Löwe ist prachtvoll, aber der Hund ist selt‐ sam.« »Hab ich mir auch gedacht. Paßt gar nicht zum Rest.« Ich dachte an den Preis, den wir verlangen konn‐ ten, und drängte jeden Gedanken über das unan‐ genehme Aussehen des Tieres beiseite. »Sally, ich glaube, diesmal hast du einen Treffer gelandet.« »Wirklich?« »Mit der Bronzeplatte von Stymead können wir ein Geschäft machen. Die Kirche ist eine Ruine, sagst du?« »Ich habe den Eindruck, daß sie seit ein paar hun‐ dert Jahren nicht mehr benutzt wird.« Es sah immer besser aus. Offenbar fällt keine Kir‐ che zusammen, ohne daß man es bemerken würde 32
– die kirchlichen Behörden achten sehr auf ihre Gebäude. Und aus irgendeinem Grund hatte man diesen Bau verfallen lassen. Wenn sich niemand dafür interessierte, konnten wir einen Stapel Ab‐ riebe anfertigen und ihn später im Sommer ver‐ kaufen, wenn die Amerikaner, Deutschen, Japaner und Kanadier kamen, denen fünfundzwanzig Pfund nicht zuviel für ein echt englisches Kunst‐ werk waren. Echt war es auf jeden Fall. Wir durften unsere Entdeckung nur nicht an die große Glocke hängen und die Abriebe nur anferti‐ gen, wenn sicher war, daß man uns nicht sehen würde. Kurz darauf machten wir den Laden zu und hör‐ ten von unserem undichten Wohn‐, Schlaf‐ und Eßzimmer aus Wind und Regen zu. Wie zur Feier von Sals Fund heftete ich den Metallabrieb an die Wand, die dem hochsitzenden Fenster gegenüber‐ liegt. Sally wollte das süße, stille Gesicht ankleben, das sie für das entstellte Abbild Sybils gezeichnet hat‐ te, kam aber irgendwie nicht dazu. Im grauen Licht des frühen Abends lagen wir eng beieinan‐ der und blickten gelegentlich selbstzufrieden auf die Quelle unseres Glücks. 33
Später gingen wir in das Dorfgasthaus. Sally erreg‐ te die Aufmerksamkeit einiger Bergsteiger. Ich merkte, daß ich die Kerle wütend anstarrte, aber sie ließen sich nicht einschüchtern. Anscheinend übersah Sal ihre schmeichelhaften Blicke. Wir sind keine Feinschmecker, und während wir Würste und Bohnen verspeisten, war sie recht still. »Müde, Sal?« fragte ich. Sie war früh aufgestanden und sah erschöpft aus. »Ja, ein bißchen. Aber seit ich zurück bin, läßt mich ein Gedanke nicht los.« »Welcher?« Sie war ein sehr empfängliches Mäd‐ chen und hatte eine Einbildungskraft, neben der ich mir wie ein Roboter vorkam. »Nichts...« »Die Kirche? Ist es das, Sal? Hat sie dir einen Schrecken eingejagt?« Sie schüttelte den Kopf. Einer der Bergsteiger schöpfte bereits Hoffnung. »Kaum. Nicht mehr als andere alte Bauwerke – eine Ruine hat immer et‐ was Trauriges an sich, aber das war es nicht.« Sie blickte mir gerade ins Gesicht. Ihre dunkel‐ blauen Augen waren fast schwarzviolett. »Du weißt doch, daß ich aus Derbyshire stamme, An‐
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dy? Nicht von hier, aber auch nicht weit weg von hier.« Natürlich wußte ich das. Ich bin nur ein Stadt‐ mensch, zwischen hohen Häusern und in dichtem Verkehr aufgewachsen. Sie war an der Grenze zwischen Sheffield und Derbyshire geboren. Wir hatten uns hier im Bergland niedergelassen, weil sie die Gegend mochte und ich überall hinging, wo sie hinwollte. Mir gefiel die Gegend auch. »Was macht dir denn Schwierigkeiten, Sal?« »Heute – in der Kirche – hatte ich ein ganz komi‐ sches Gefühl.« »Ist dir der Regen in den Kragen getropft?« Sie lächelte. »Mir lief’s schon ein bißchen kalt den Rücken hinunter, aber der Regen war’s nicht.« Sie beugte sich vor und faßte nach meinen Händen. »Andy, ich hatte das unheimliche Gefühl, daß ich die Kirche schon einmal gesehen habe.« Ich wußte, was sie meinte. Jeder Mensch hat manchmal merkwürdige Träume, in denen er durch unbekannte Orte streift, und Monate später oder Jahre später befindet er sich wirklich dort und reagiert verschreckt. Ich sagte ihr, was ich davon hielt.
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Sie lächelte nicht. »Wenn du möchtest, machen wir die Abriebe zusammen«, sagte ich zu ihr. »Ach, vor der Kirche habe ich keine Angst!« Ihre Heftigkeit verblüffte mich. »Ist gut.« Wir blickten einander unbehaglich an. Aber nur ein oder zwei Minuten lang. Sally weiß genau, wann es auf ein bißchen körperliche Berührung ankommt. Sie schlang ein Bein um meine Waden und verschränkte ihre Hände mit den meinen. Die Bergsteiger gaben sich geschlagen und wandten sich wieder ihrem Bier zu. An diesem Abend sprachen wir nicht mehr über den Abrieb.
3.
Was mich im Rückblick verblüfft, ist die Schnellig‐ keit, mit der sich die Sache entwickelte. Der Abrieb war nur ein paar Stunden in unserem Wohnschlaf‐ zimmer gewesen, da machte sich sein schrecklicher Einfluß schon bemerkbar. Zunächst hielt ich mich wohl für das Opfer eines schweren Traums – einer Art Gefühl, wie es Sally 36
bedrängt hatte, als sie wach gewesen war und wußte, was sie tat und sah. Mit dem Mondschein fing es an. Ich muß erwäh‐ nen, daß in der Scheune zwei Sofas, ein riesiger Ledersessel und ein wirklich gigantischer Wand‐ schrank mit Schreibfläche standen; der Schrank war mit herrlichen Blumen‐ und Vogelschnitzerei‐ en verziert, und dann gab es da noch Orientteppi‐ che, Eckschränke aus einem Material, das vor hundert Jahren als Ebenholz gelten sollte, und als Hauptstück in der Mitte des Raums ein Bett, das inmitten all des Trödels, den wir von unseren Schrottfreunden erhalten hatten, ziemlich aus dem Rahmen fiel. Es war das Geschenk einer verschro‐ benen Tante von Sally. Sie hatte es aus Frankreich kommen lassen und viele hundert Pfund dafür hingeblättert. Es war fast kreisrund, und der Kopf‐ teil war mit rosa Satin überzogen und mit Putten geschmückt. Das Bett stand in der Mitte, wie es einem Prunk‐ stück zukommt. Die Möbel waren an den Wänden verteilt. Eine früher leere Wand war mit dem Ab‐ rieb von Humphrey, Lord von Stymead, und sei‐ ner Gemahlin verziert worden. Hoch oben in der gegenüberliegenden Wand befand sich das ziem‐ 37
lich breite Fenster der alten Scheune. Wir hatten die Spinnweben entfernt und die Sprünge im Rahmen mit Kunststoffkleber abgedichtet. Die Scheiben konnten nicht mehr klirren. Es gab keine Vorhänge, da sie keiner von uns für nötig hielt. Die Läden waren ganz geöffnet. Wenn der Mond über den kahlen Berggipfeln von Derbyshire stand, schien er in unseren Wohnbe‐ reich. Auch jetzt schien er herein – auf dem Me‐ tallabrieb. Auf die untere rechte Ecke des Papiers. Ich hatte irgendwie schlecht geträumt, und als ich aufgewacht war, sah ich die tückische, verstohlene Bewegung am Rand des Papiers und brachte sie in Zusammenhang mit den unseligen Empfindungen des Traums. Ein weißer Mondstrahl schoß durch das Zimmer. Er fiel genau auf das Gesicht des Tiers mit den kräftigen Kinnbacken. Vor allem verwirrte mich jedoch, daß das Geschöpf eben an seinen anges‐ tammten Platz unter die Falten des gezeichneten Gewands zu schlüpfen schien. Ich hätte schwören können, daß ich gesehen hatte, wie sich der schwarz wiedergegebene Stoff über das Tier senk‐ te.
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Ich schüttelte den Kopf und sah zu Sally hinüber. Sie schlief jedoch fest. Ich wollte sie aufwecken, um mir von einem anderen Menschen den gräßli‐ chen Eindruck bestätigen zu lassen, den das Ge‐ schöpf auf mich gemacht hatte. Ich konnte gar nicht glauben, was ich gesehen hatte – wenn ich es überhaupt gesehen hatte. Als ich von Sallys ruhi‐ gem Gesicht fortblickte, hatte ich schon meine Zweifel an der sachten Bewegung des Geschöpfes. Ich schaute noch einmal hinüber. Das Mondlicht war schwächer geworden. Eine Wolke verdunkelte das weiße Licht. Die rechte Ecke des kräftigen Papiers war nur noch matt be‐ leuchtet. Ich sah nur ein verschwommenes Grau und den schwachen Umriß des langen Frauenge‐ wands. Das Tier konnte ich überhaupt nicht sehen. Angst hatte ich nicht. Ich fühlte mich unbehaglich, dachte jedoch, meine Verwirrung sei auf den Traum zurückzuführen. Ich war aber so durchei‐ nander, daß ich unter den Decken hervorkroch und über den kalten Boden zur Wand ging. Als ich mich dem Metallabrieb näherte, spürte ich Kälte. Ich war nackt, und das Wetter war frisch gewesen. Mir war aber so kalt, daß meine Zähne zu klap‐ pern anfingen. Ich spürte, wie ich am ganzen Kör‐ 39
per eine Gänsehaut bekam. Gleichzeitig ärgerte ich mich über mich selbst, da ich merkte, daß ich nicht näher an den rätselhaften Metallabrieb herantreten wollte. »Was ist mit mir los?« fragte ich. »Die Kälte soll mich nicht aufhalten, verdammt noch mal.« Ich machte noch einen Schritt. Die Kälte nahm zu. Mir war, als umfange mich ein giftiger Atem‐ hauch. Es begann eklig zu stinken, und da es au‐ ßerdem noch kalt war, wollte ich nur schnell zu‐ rück ins Bett zu der warmen, schlafenden Gestalt. Dann schien wieder der Mond, heller und kräftiger als zuvor. Er beschien den unteren Teil des Metall‐ abriebs, und die schwarzen Kreidebilder waren klar und deutlich zu erkennen. Ich sah das Ge‐ schöpf, das sich scheinbar bewegt hatte. An dieser Stelle war Sally eine ganz außergewöhn‐ lich gute Kopie des Originals gelungen. Die Haare, die kleinen Augen, das breite Maul, die spitzen Ohren – alles war bis in die kleinsten Einzelheiten zu sehen. Aber da war noch etwas. Ich streckte die Hand aus. »Sally ...«, sagte ich laut. Ich hielt inne und riß meine Hand zurück.
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»Mein Gott!« hörte ich mich murmeln. »Das kann nicht sein! Es ist nicht dort, wo es hin‐ gehört...« »Andy!« rief Sally laut. »Andy!« »Hier Sal!« Ich war so erleichtert, eine menschliche Stimme zu hören, daß ich mich umdrehte und zum Bett sprang. Der schreckliche Zauber des Geschöpfs war vorüber. Mein Kopf war frei von allen Alp‐ traumgedanken. Sally schlief noch halb – ich glaube, sie muß ge‐ spürt haben, daß ich das Bett verlassen hatte, und wollte den Grund wissen. Sie zitterte, als ich mei‐ nen kalten Körper an sie preßte, sagte aber kein Wort. Nach wenigen Minuten war sie wieder ein‐ geschlafen. Ich lag über eine Stunde wach. Meinen Kopf be‐ hielt ich schön unter der Decke. Nicht ein einziges Mal schaute ich zum Metallabrieb hinüber. Was geschehen war, hing mit dem Traum zusammen – dessen war ich mir sicher. Das Geschöpf hatte sich nicht bewegt. Tausendmal wiederholte ich mir, daß das Schoßhündchen nur ein mit Wachskreide gemaltes mittelalterliches Haustier war, vor sechs‐ hundert Jahren gestorben, daß die leichte Bewe‐ 41
gung, die ich mir eingebildet hatte, auf ein Zu‐ sammenspiel von Licht und Schatten zurückging. Ich versuchte mich selbst auszulachen. Andy Thomas, ein Riesenkerl mit Haaren auf der Brust, zwanzig Jahre alt, hat Angst vor ein bißchen Wachskreide! Gelacht habe ich nicht, aber ich schlief ein, weil ich jung und herzlich müde war. Ich fiel nicht in den Traum zurück, den ich vergessen hatte und der doch irgendwie grausam gewesen war und mich bedrängt hatte. Als ich aufwachte, stieß mich Sally an. »Steh auf und mach Tee, Andy.« »Ich war gestern dran.« »Ich liebe dich auch immer und ewig.« »Na schön.« Sally war überrascht, daß ich so rasch einlenkte. Gewöhnlich reden wir eine halbe Stunde darüber, wer den Tee machen soll. »Hast du nicht gut geschlafen?« fragte sie, als ich ihr die Tasse brachte. »Ach, ganz gut.« »Du bist aufgewacht, fällt mir ein.« »Ja.«
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Ich betrachtete den Metallabrieb. Natürlich nur unauffällig, da ich Sally nicht mit meinen nächtli‐ chen Wahnvorstellungen beunruhigen wollte. Es war alles beim alten. Der scheußliche kleine Köter hockte an seinem Platz hinter den Falten des Ge‐ wands, das Sybil trug. Er schaute richtig frech her‐ vor, gar nicht angriffslustig oder bedrohlich. Von seinen ungewöhnlich starken Kinnbacken abgese‐ hen sah er wie jeder Strolchi, Rex oder Struppi aus. Sally wollte sich nicht abweisen lassen. »Du hast schlecht geträumt.« »Ja – du hattest mich verlassen.« Als ich es ausgesprochen hatte, wußte ich, daß ich davon geträumt hatte. Ich spürte, wie dieser Traum am hellichten Morgen seine kalten Ranken nach mir ausstreckte. Sally stieß ihren Tee beiseite und zog mich zu sich hinab. »Das war nur ein Traum.« Er war aber schrecklich real gewesen, so wie grau‐ same Träume es sein können. Ich erinnerte mich jetzt deutlich an eine der kurzen Szenen, die mich in Schweiß ausbrechen und nach Luft ringend aufwachen ließen. Da war ein Erdhügel, ein Kreis zorniger Gesichter und ein gähnendes Grab. Im Grab eine starre, stumme Gestalt. 43
»Sally, ich habe mich gefürchtet.« »Das ist vorbei.« Bei der Erinnerung daran brach mir der Schweiß aus. Deshalb hatte ich so ohne weiteres geglaubt, das wächserne Abbild von Hund und Herrin hät‐ ten sich bewegt: Ich war im Schlaf einer starken Belastung ausgesetzt gewesen. Ich war erleichterter, als ich zugeben mochte. Schnell erzählte ich Sally alles und ließ es recht lus‐ tig erscheinen. »Da stand ich also barfuß und mit einer Gänsehaut und besah mir diesen Terrier. Um drei Uhr früh! Und ich dachte, er wolle mich anfallen – mich, Sal!« »Es lag also nicht nur an dem Traum.« »Ach Sal, ich habe noch halb geschlafen – du weißt, wie das geht. Wenn man so zwischen Schla‐ fen und Wachen ist, hält man Schatten für Riesen oder Hexen oder stieläugige Scheusale von der Venus. So war das.« »Du hast dich aber doch gefürchtet, Andy.« »Nur ein paar Augenblicke lang.« »Du dachtest, es hätte sich bewegt. Wie lange hat es sich bewegt?«
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Ich wollte das Thema fallenlassen, aber Sal interes‐ sierte sich dafür. Wenn sie ihren nüchternen Blick hat, ist sie beharrlich; da bleibt einem nichts ande‐ res übrig, als ihr zu gehorchen. Ich sagte ihr das wenige, an das ich mich erinnerte. »Ich hab nur einen kurzen Blick auf das Geschöpf geworfen. Aber es sah so aus, als wolle es einen Spaziergang machen. Wie Cornelius, wenn er an‐ fängt an der Tür zu kratzen.« »Ich weiß.« »Mit diesem Wesen war es genauso.« »Schaun wir mal«, sagte Sally. Sie warf sich einen Morgenmantel um die schlanken Schultern und ging durch das Zimmer. Ich war dagegen, daß sie den Metallabrieb anfaßte. Sie tat es trotzdem. Sie strich mit den Fingern über das Tier. »Du hast ge‐ dacht, es hat sich bewegt. Hat es sich wirklich be‐ wegt?« Ich sah es mir aus der Nähe an. »Nein. Mir hängt das verdammte Ding zum Hals heraus. Los, weg damit.« Ich streckte eine Hand aus, um das Papier abzu‐ reißen, aber Sally packte meinen Arm. »Andy, laß das sein. Wir können es ebensogut hängen lassen. Wenn wir nicht sicher sind, ob wir 45
weitere Abriebe machen sollen, dann lassen wir die ganze Sache fallen. Reden wir morgen noch mal darüber.« Sally lächelte mich an. »Wenn dir irgend etwas merkwürdig vorkommt, können wir uns immer noch die Bronzeplatte in der alten Kirche ansehen. Möchtest du sie nicht se‐ hen?« »Nein.« »Bestimmt?« »Nein, Sally, ich möchte nichts mit der Sache zu tun haben.« Ihr Interesse an der Angelegenheit ge‐ fiel mir nicht. »Ich sag dir, was wir machen, Andy«, fuhr Sally fort. »Wir gehen später zur verfallenen Kirche – am Abend, wenn wir den Laden zugemacht haben. Was hältst du davon?« Ich brummte etwas, und Sally machte mir ein rie‐ siges Frühstück. Eier, Speck, Würstchen, Tomaten, Bohnen, mit allem Drum und Dran. Danach ging ich daran, die Wagenladung Trödel, die Sally ge‐ stern geholt hatte, mit Preisen auszuzeichnen. Später kam Cornelius zurück. Er war naß und hungrig. Ich gab ihm zwei Büchsen Hundefutter, die er in einer Minute verschlungen hatte. Dann 46
hielt er den Kopf scheu bettelnd zur Seite geneigt, was bedeutet, daß er noch nicht einmal zur Hälfte gesättigt ist. Normale Hunde fressen pro Tag eine Büchse. Ich gab ihm noch zwei Dosen. Danach leg‐ te er sich schlafen. Der Tag verlief ruhig, und am späten Nachmittag platzten dann eine Menge Kunden herein. Ein paar kauften Bilder, und Sally freute sich. Ich ließ mich mit einem kleinen Asiaten auf einen Handel um zwei viktorianische Vasen ein. Er siegte ohne gro‐ ße Anstrengung. Ich hatte für die beiden einen Fünfer verlangt, und er bot ein Pfund pro Stück, und wir einigten uns auf drei für das Paar. Am Ende des Tages hatten wir ungefähr zwölf Pfund eingenommen; das deckte mehr als die Kosten. Wir aßen in einem bescheidenen Restaurant in der Nähe von Sheffield und tranken zwei Flaschen Rotwein. Gewöhnlich trinken wir nicht soviel, und als der Ford über die engen Straßen zurückschau‐ kelte, sangen wir Kneipenlieder und sprachen über Malerei. Der ungewöhnlich ertragreiche Tag ließ uns den Metallabrieb und die verfallene Kirche völlig vergessen. Wir schliefen beide gut. Ich wachte gegen sieben Uhr auf und sah die Sonne durch das hohe Fenster 47
strahlen. Es stand uns einer dieser prachtvollen Frühlingstage bevor, an denen das Bergland wie auf den Plakaten aussieht. Sally hatte die Augen noch nicht geöffnet. Sie überlegte wahrscheinlich, wie sie mich dazu brin‐ gen konnte, auch heute wieder Tee zu machen. Ich stand auf, und sie seufzte zufrieden und sanft wie alle Frauen, denen ein Mann die Wünsche erfüllt, die unausgesprochen blieben. Ich öffnete die Tür zum Laden, um die Kätzchen hereinzulassen. »Keinen Zucker, Liebling«, sagte Sally. »Oder viel‐ leicht einen Würfel. Sagen wir zwei, dann nehme ich eben keine Sahne mehr zum Kaffee. Zwei Wür‐ fel. Und ein Aspirin. Dieser Wein!« Ich hörte ihre Worte – und hörte doch nicht hin. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Sallys Stimme war nur ein Teil der allgemeinen Hintergrundsge‐ räusche aus Vogelgezwitscher und fernem Schaf‐ blöken. Sally wartete auf das Zischen des Wasserkessels und auf das Klappern unserer riesigen Frühstücks‐ tassen. Meinen lauten Entsetzens‐ und Schreckens‐ schrei erwartete sie nicht. »Andy!« 48
Sie setzte sich auf und folgte meinem Blick. Eins der Kätzchen sauste mit dünnem Protestgeschrei an mir vorbei. Ich warf einen Blick auf das andere Kätzchen. Es war tot. Ich wollte mich nicht auf den Gedankenstrom ein‐ lassen, der in meinem Kopf zu kreisen begann. Das Kätzchen wühlte sich in Sallys Arme. Sally wußte, ich hatte etwas Entsetzliches entdeckt. Sie rannte los. Ihr Aufschrei hallte durch die hohe, alte Scheune. »Dann hielt sie etwas mit dem Saum ihres leichten Umhangs fest. Ein blutgetränktes Fellbündel mit starren, blaugrünen Augen, etwas, das nur ein oder zwei Pfund wiegen mochte, weil ihm alles Blut fehlte. Und sie hielt es sich vors Gesicht. Sie schluchzte und jammerte, und das übriggeblie‐ bene Kätzchen winselte mit. Das Vogelgezwitscher von den Feldern erinnerte an die geschäftige Welt draußen, aber ich war ganz in unseren Schmerz versunken. Ein wildes Tier war in unser Heim ein‐ gedrungen und hatte dem Kätzchen die Kehle durchgebissen. Und wir hatten die ganze Zeit ge‐ schlafen. 49
Ein wilder, verzweifelter Zorn auf das stumme Wesen ergriff mich, das in unsere Sphäre einged‐ rungen war. Ich dachte sofort an Raubtiere, die nachts jagen – an einen Fuchs, der irgendwo durch ein offenes Fenster in den Laden gekommen war, an eine Eule mit weiten Schwingen und einem Schnabel, von dem das Blut des Kätzchens troff. Oder an ein Wiesel, das durch die Lücken zwi‐ schen den Brettern geschlüpft war. Ich überlegte einen Augenblick, ob vielleicht Cor‐ nelius wütend nach dem Kätzchen geschnappt hat‐ te. Aber nein, Cornelius war noch nicht von seinen Streifzügen heimgekehrt. So gut es ging, versuchte ich Sally zu trösten, und als ich wieder ins Wohnzimmer ging, dachte ich nur an den Tee, den ich ihr machen wollte. Als ich die Flecken auf dem schwarzweißen Ab‐ rieb sah, wußte ich sofort, daß etwas Häßliches in unser Leben getreten war. Ich habe sehr gute Au‐ gen. Im Sonnenlicht sah die Farbe schmutzigrot aus. Wo nur schwarze Wachskreide oder weißes Papier sein durfte, war nun ein verwischter roter Fleck. Ich streckte die Hand aus, um die rechte untere Ecke des Bildes anzufassen. Das Maul des Hundes 50
war verdeckt. Seine langen Reißzähne lagen unter einer eingetrockneten Masse. Als ich das Zeug an‐ faßte, das sie klebrig und verfilzt bedeckte, wußte ich sofort, worum es sich handelte. »Aber ... wie kann es nur ...«, sagte ich. Ich brauch‐ te unbedingt eine vernünftige Erklärung. Ich fuhr zusammen und wischte meine Hand am Rand des steifen Papiers ab. Ein langer roter Strei‐ fen gab neben dem Bild der gesichtslosen Frau ein finsteres Ausrufezeichen ab. Mir wäre fast schlecht geworden. Dann fuhr mir das Wort heraus, das ich am liebs‐ ten nicht ausgesprochen hätte. »Blut!« Hinter mir hörte ich Sally sprechen. »Andy! Was ist denn?« »Auf dem Hund – auf dem Abrieb – da!« Sie stand vor dem scheußlichen Fleck und streckte die Hand aus. »Faß ihn nicht an, Sally.« Sie berührte ihn. »Es ist Farbe.« »Nein.« »Nein?« »Blut!« Sie drehte sich um. »Blut? Wie kann das...?« 51
»Ich weiß nicht! Aber es ist welches.« Ein schwaches Miauen ließ Sally aufmerken. Sie beugte sich nieder. Ich schaute von dem wächsernen Hund und auf das Lebewesen in Sallys Armen. Das Kätzchen suchte Trost und rieb sein Schnäuzchen an Sallys Hals. »Sally«, sagte ich mit ruhiger Stimme, »das ist ech‐ tes Blut. Farbe gerinnt nicht so.« »Aber wie ist es dorthin gekommen?« , Ich sah mir noch einmal den Abrieb an und streckte ohne zu zögern die Hand aus, um das wi‐ derliche Ding von der Wand zu reißen, und wieder spürte ich Sallys Hand auf meinem Arm. Sie war verblüffend energisch. Eine solche Kraft hätte ich in ihrem schlanken Arm nie vermutet. Sie hielt mich tatsächlich zurück. »Laß das«, flüsterte sie. »Andy, ich möchte nicht, daß du es anfaßt.« Wir blickten beide zu der leeren Stelle hinauf, wo das Gesicht einer Frau fehlte. Sie schien uns wie das längst verhallte Echo einer vergangenen Zeit zu rufen. Ich spürte, wie Sally neben mir zitterte. Und dann begann das Blut des Kätzchens auf mei‐ nem Arm zu gerinnen. 52
Ich schluckte meinen Zorn hinunter. Und meine Furcht auch. Aber trotzdem schwelte in mir eine wilde Wut weiter. Ich war auf das wilde Tier böse, das das Kätzchen getötet hatte, war wütend auf meine unausgesprochenen und uneingestandenen Ängste. Nur Sally konnte ich nicht böse sein. Ich ließ meine Wut schließlich an Cornelius aus und trat ihn, als er von seinen nächtlichen Liebes‐ abenteuern auf der Harris‐Farm zurückkehrte. Als ich die sterblichen Überreste des Kätzchens begraben hatte, ging es Sally wieder besser. »Wie kann das Blut nur an den Abrieb gekommen sein?« fragte sie. »Glaubst du wirklich, mit dem Ding stimmt etwas nicht?« »Vielleicht habe ich mir alles nur eingebildet. Ich hatte so einen unangenehmen Traum. Nicht ge‐ stern nacht, sondern die Nacht davor.« »Als du geglaubt hast, du hättest gesehen, wie sich der Hund bewegte, und ich dir nicht glaubte.« Das war von ihr als Entschuldigung gedacht. »Daran hast du keine Schuld, Liebling. Ich kann dich doch nicht für meine Alpträume verantwort‐ lich machen.« »Ich mache mir aber Gedanken.« 53
»Weiß ich.« »Und du meinst, der Hund hat sich im Mond‐ schein bewegt?« Ich überlegte. »Ja.« »Ich habe ihn mir nicht genau angesehen seit – seit gestern nacht. Soll ich mal?« »Alles wieder in Ordnung mit dir?« Ich hatte fast das ganze Blut weggewischt. »Ja.« »Dann sehen wir mal nach.« Wir betraten das Zimmer. Die Sonne erhellte es jetzt mehr als vorhin. Alles sah so unschuldig aus, unser lächerliches französisches Bett mit seinen Putten, die Frühstückstassen und die ausrangier‐ ten Bilder. Der schwarzweiße Abrieb sah harmlos aus. Nur neben Lady Sybil war noch ein brauner Streifen zu sehen, und den hätte man für Stockflecken halten können. »Nun?« fragte ich Sally. »Waren es nur die Schat‐ ten?« »Ich habe den Abrieb gemacht. Ich müßte es ei‐ gentlich wissen. Aber ich kann nichts erkennen.«
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Ich sah mir die Reißzähne des Hundes an und fragte mich, ob meine Phantasie mich zum Narren hielt. »Sally ….« »Was, Andy?« »Ich könnte schwören, daß die Reißzähne gestern nicht so lang waren.« Sally faßte einen Entschluß. »Wir fahren hin.« »Nein. Wir können doch nicht einfach den Laden zumachen.« Wir taten es aber trotzdem.
4.
Sally war anscheinend nur aufgeregt, als unser al‐ ter Lieferwagen die Berge hinaufkeuchte und in die sich windenden Täler hinunterratterte. Sie hat‐ te sich offenbar von dem Schrecken über den Tod des Kätzchens erholt. Der Tag hielt, was er am frühen Morgen verspro‐ chen hatte. Im Frühling kann es nirgendwo auf der Welt schö‐ ner sein als in Derbyshire. Manchmal schimpfe ich auf die Ausflügler, die an Wochenenden in die 55
Berge drängen, aber ich kann verstehen, was sie hierherzieht. Sobald wir die Straße nach Manchester verlassen hatten, war kaum noch Verkehr. Nur ein Lastwa‐ gen, ein Lieferwagen der Post und zwei Mädchen auf Fahrrädern begegneten uns. Und in Stymead keine Spur von Leben. Sally hatte recht gehabt, es sah wie ein verlassenes Dorf aus. Nur aus einem der Häuschen kringelte sich eine dünne Rauchfah‐ ne in den Himmel und zeigte an, daß hier noch Menschen wohnten. Die Kneipe war natürlich ge‐ schlossen. Ich sah mir die andere Seite der Straße an. Dort gab es einen kleinen Laden, neben dessen Tür ein Briefkasten befestigt war. Das Fenster war bis in halbe Höhe hinauf mit grüner Farbe über‐ strichen. Im düsteren Raum dahinter konnte ich Zigarettenschachteln und Stapel von Süßigkeiten ausmachen. Ich dachte mir also, daß es sich um den Laden handeln müsse, der die Dörfler versorg‐ te. Aber er sah verstaubt und vernachlässigt aus. »Ein trauriger Ort«, sagte ich. »Warte, bis du die Kirche siehst.« »Ich frage mich, warum man sie nicht mehr be‐ nutzt.«
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»Schau mal«, sagte Sally und zeigte auf ein häßli‐ ches rotes Ziegelgebäude, das halb hinter einer Bergesche versteckt lag. »Ein Gotteshaus. Ich hatte die Wesleyaner ganz vergessen. Hier in der Ge‐ gend kann es ja nur die geben. Nachdem Wesley hier gewesen war, konnten die Leute mit einer Kir‐ che nichts mehr anfangen.« Wir fuhren ein kurzes Stück weiter, und ich sah den Hügel. Hinter den krummen Eichen und Bir‐ ken konnte ich die Ruine sehen, so wie sie Sally beschrieben hatte. Sie hatte recht gehabt. Es war bedrückend, daß sich kein Leben in ihrer Umge‐ bung regte. Es war beinahe unheimlich, keine Vö‐ gel im knospenden Gezweig zu sehen. Mir fiel der entsetzliche Fleck auf dem Metallabrieb ein, und ich fuhr zusammen. Ich hielt den Wagen am gras‐ bewachsenen Straßenrand an, schaltete den Motor aber nicht aus. »Sally«, sagte ich, »können wir die ganze Angele‐ genheit nicht einfach vergessen? Einfach fallenlas‐ sen?« Doch sie öffnete schon die Tür. »Komm schon, Andy! Ich möchte wissen, ob du recht hast.«
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Sie war überhaupt nicht furchtsam. Ich führte ihre Stimmung auf den Wunsch zurück, tiefer in das Geheimnis dieses Ortes einzudringen. Und mich bestimmte der immer noch andauernde Zorn über den Tod einer unserer Pelzprinzessinnen dazu, weiterzumachen. »Wenn uns Judson hinausschmeißt, können wir versuchen, uns hier einzumieten, Sal. Ist bestimmt billiger als die Scheune.« Sally drehte sich um und blickte mich zum ers‐ tenmal mißbilligend an. »Hier wohnen! Was für eine gräßliche Idee!« »Hab’s doch nicht ernst gemeint, Sal!« Doch sie kämpfte sich schon durch Brombeerge‐ strüpp und Buschwerk zu einer langen, wetterzer‐ fressenen Mauer hin. Wenn ich einen leichten Är‐ ger wegen ihrer Mißbilligung spürte, so vergaß ich ihn, als die Dornen meinen Hals und meine Arme streiften. Sally rief mir zu, ich solle ihr nachkom‐ men, und dann war sie scheinbar verschwunden. »Sal!« schrie ich gereizt. »Sal!« »Hier!« antwortete sie, und ihre Stimme klang schwach wie aus großer Entfernung zu mir. Ich lief weiter und stolperte über eine knorrige Wurzel. Als ich mein Gleichgewicht wiedergefun‐ 58
den hatte, sah ich ein Loch in der Mauer. Es war hinter ein paar Weißdornbüschen versteckt gewe‐ sen. Ich zwängte mich an ihnen vorbei und bekam weitere Kratzer ab. An meinem Pullover blieben mürbe Mörtelstückchen hängen. Auf dem herab‐ gestürzten Mauerwerk der Öffnung hatte sich ein rutschiger Belag gebildet, der in langen Jahren durch die verfaulenden Pflanzen entstanden war. Als ich Sally wiedersah, war sie ziemlich weit von mir entfernt. Die Turmmauern waren noch so hoch, daß sie einen tiefen Schatten auf sie werfen konnten. Sie trug einen dunklen Hosenanzug, Le‐ derstiefel und um den Kopf einen dunklen Schal. In der Finsternis der Ruine sah sie einen Augen‐ blick wie eine Gestalt bei einem Begräbnis aus. Sal‐ ly hätte gut ein Trauergast am Grab des längst ver‐ storbenen Paares sein können. Sie hörte mich und drehte sich um. »Ist das nicht toll, Andy? Spürst du nicht auch, daß hier fast alles passieren könnte?« Sie war erregt. Ich muß das wissen, da ich all ihre quecksilbrigen Launen kenne. Sally lebte mit Empfindungen, die sich bei den meisten Menschen einfach nie einstel‐ len. Bis in ihre Fingerspitzen hinein war sie von Leben erfüllt. Ihre Stimme war klangvoll, die Au‐ 59
gen sprühten, und ihre Lippen leuchteten rot. Wä‐ ren wir nicht an einem geheiligten Ort gewesen, hätte ich sie an mich gerissen. »Weißt du, es ist, als wäre ich ein Teil von allem, Andy! Ich kann mir nicht helfen, ich kenne diesen Ort so gut wie die Scheune – in vieler Hinsicht sogar noch besser!« Hätte ich nur eine Ahnung von dem gehabt, was uns bevorstand, hätte ich sie aus der Kirche gezo‐ gen und wäre mit ihr so weit wie möglich fortge‐ fahren. Immerhin spürte ich genau, daß ich sie nicht in dem Glauben unterstützen durfte, sie habe irgendwie mit der verfallenen Kirche zu tun, selbst wenn es sich dabei nur um einen halb vergessenen Traum handelte. Um sie abzulenken, sagte ich et‐ was, was ich für nüchtern und vernünftig hielt. »Das muß der Altarraum sein.« »Ja!« »Und das hier ist das Grab?« Ich ging zu ihr. Dabei mußte ich um ein paar Schutthaufen gehen, um die freie Stelle im dunk‐ len Schatten zu erreichen. Sally zeigte auf ein dunkles, metallisches Rechteck. Sally mußte viel Zeit damit verbracht haben, Staub und Schmutz der Jahrhunderte zu entfernen, da jede Vertiefung der Gravierung klar zu sehen war. 60
Die Haare des Hundes, die kleine Mähne, Ohren, Augen und Zähne waren beinahe noch so, wie sie der Stecher gemacht hatte. Kein Wunder, daß der Abrieb so sauber war. Einige Augenblicke lang sah ich mir die Gravierung mit berufsmäßiger Auf‐ merksamkeit an. Ich wollte noch nicht an die Frage denken, die mich hierher gebracht hatte. Sally sagte plötzlich: »Nun, Andy, hat er sich ...« »Von der Stelle bewegt?« Ich sah mir die Falten des Gewands genau an. Wir hätten den Metallabrieb mitbringen sollen, dachte ich. Dann hätten wir die Kopie mit dem Original vergleichen können. Wir waren jedoch so rasch aufgebrochen, daß mir eine so naheliegende Vor‐ kehrung nicht eingefallen war. Sally auch nicht. »Sieht aus wie der Abrieb«, sagte ich endlich. So war es auch. Ich hatte ein Bild des Abriebs vor meinem geistigen Auge und ich verließ mich auf mein Erinnerungsvermögen. Wer Maler sein will, muß sich eine Szene einprägen können, und ich hatte diese Fähigkeit. »Dann ist ja alles in Ordnung, Andy«, sagte Sally und blickte mich voller Mitgefühl und Verständnis an.
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»Das Bild ist so, wie der Abrieb jetzt aussieht«, sagte ich. »Jetzt?« »Ja, jetzt!« »Ich kann dir nicht folgen, Andy.« Ich wollte ihr sagen, daß Abrieb und Original übereinstimmten, daß ich aber meinte, so un‐ glaubwürdig das auch klang, beide wichen leicht von meiner Erinnerung an den Abrieb ab, wie er gewesen war, als sie ihn mir zum erstenmal zeigte. Aber ich sagte nichts. Durch die Verquickung der Umstände war ich so verbittert, daß ich keinem meiner Gefühle Ausdruck gab. »Vergiß die Sache«, sagte ich, und meine lauten Worte hallten von den halb eingestürzten Mauern des Turms wider. »Wenn du meinst, Andy.« »Und ich möchte keine Metallabriebe hier ma‐ chen.« »Dann mach sie nicht.« »Ich möchte auch nicht, daß du hierher zurück‐ kommst.« »Gut.« »Und wenn wir zurückkommen, verbrenne ich den verdammten Abrieb!« 62
»Na schön.« »Und mir hängen alle alten Kirchen und vergesse‐ nen Bronzeplatten zum Hals heraus.« Sie war einfach zu vernünftig. »Wie du meinst, Andy.« »Und hör auf, dauernd mit mir einer Meinung zu sein.« Da mußte sie lächeln, und ich spürte die bekannte herzerwärmende Erregung. Ihre Zähne glänzten weiß, ihre Lippen waren leuchtend rot und ihre Wangen strotzten vor Gesundheit. Unter dem Ein‐ fluß ihres körperlichen Zaubers löste sich der Bann der trostlosen alten Ruine. Meine düsteren Vorstel‐ lungen fielen von mir ab. Ich bin damals meinen Gedanken nicht nachgegangen, ich nehme jedoch an, daß ich die blutige Erscheinung auf dem Ab‐ rieb als etwas beiseite schob, was sich leicht erklä‐ ren ließ. Schließlich lebten wir am Rand eines der großen Sumpfgebiete Englands, wo es immer noch Raubtiere gibt, die sich Tag und Nacht ihr Fressen erjagen. Das Kätzchen war ein Opfer des Kampfes ums Überleben geworden. Konnte man also lange zornig bleiben, wenn Vögel und andere Tiere jagen müssen, um am Leben zu bleiben? Es war nichts Ungewöhnliches geschehen. Gar nichts. 63
»Ich glaube, ich kann mir die Bronzeplatte ruhig genau ansehen.« »Nur, wenn du das wirklich möchtest, Andy.« »Tut mir leid, daß ich eben so gebrüllt habe.« »Ich liebe dich immer noch.« »Natürlich«, sagte ich geistesabwesend. »Eingebildeter Affe.« »Sally«, sagte ich, während ich jetzt die Platte an‐ sah, »sie ist wirklich sehr gut.« »Kannst du die Inschrift entziffern?« »Nur die leichten Worte.« Sally kam näher, und wir knieten uns beide vor die schräge Platte. »Hier steht ,Dom’ – das heißt soviel wie Herr oder Gebieter über diese Gegend. Das bezieht sich auf Humph. Er wird,Armiger’ genannt. Bedeutet, Ritter’.« »Was steht da über Sybil?« »Ich kann die Worte nicht entziffern. Ich hab mein Latein im zweiten Jahr aufgegeben. Aber ich könn‐ te es rauskriegen.« »Wie?« Später sollte ich mein Fragen noch verwünschen. »Es gibt Bibliotheken. Und ich habe eine Freundin, die klassische Philologie gemacht hat. Sie könnte die Übersetzung von dem Abrieb machen.« 64
»Den ich verbrennen will.« »Nachdem ich ihn ihr gezeigt habe.« »Na schön.« Ich war gerade dabei, den Umriß des Löwen zu Humphreys Füßen zu verfolgen. Hervorragend gemacht, wie die ganze Gravierung. Ich dachte an den Schoßhund zu Sybils Füßen und streckte eine Hand aus, um die Linien nachzufahren. Ich konnte ihn nicht berühren. Nicht einmal kurz. »Ich frage mich, warum man die Bronzeplatte ver‐ steckt hat, Andy«, sagte Sally. »Versteckt hat?« Ich versuchte mich von meinem Abscheu vor dem Schoßhündchen zu befreien. »Man verbarg die Bronze. Irgend jemand.« »Jemand hat Sybils Gesicht ausgelöscht«, sagte ich. »Ich werde nicht klug daraus.« Sally war eine Minute lang still. »Man haßte sie«, sagte sie schließlich. »Du würdest mit dem Abbild einer Person nicht so umgehen, es sei denn, du haßt sie.« »Stimmt«, pflichtete ich ihr bei. »Aber das ist alles lange her. Ich glaube, wir werden das nie erfah‐ ren.«
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Sally machte ein Geräusch, das vielleicht Einver‐ ständnis ausdrückte, vielleicht auch nicht. Ich drehte mich um und sah gerade noch eine Be‐ wegung. Ich entdeckte eine kleines, weißliches Ge‐ sicht, das aufmerksam und starr zu uns herüberb‐ lickte. Jemand hatte uns durch ein niedriges Fens‐ ter des verfallenen Turms beobachtet. »Mein Gott .’»sagte ich. »Was? Was ist, Andy?« Ich war schon sechs große Schritte von ihr entfernt und sprang über Steinhaufen, Teile der Turmbeda‐ chung und über etwas, das vielleicht ein uraltes Steinkreuz gewesen war, jetzt zerborsten, dann durch ein Gewirr von Büschen, bis ich an das schmale Fenster kam, in dem ich das Gesicht gese‐ hen hatte. Vor mir lag undurchdringliches Di‐ ckicht. Es schwankte noch, und ein paar Äste war‐ en abgebrochen. Vom Rand des Dickichts her hörte ich es knacken. Dann stand Sally neben mir. »Was ist los? Hat uns jemand beobachtet? Wer?« »Keine Ahnung!« »Er ist in Richtung Stymead davon.«
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»Ja.« Die Spuren schwankenden Gebüschs und ab‐ gebrochener Zweige wiesen zum düsteren Dorf. »Vielleicht ein Kind«, sagte ich. »Kein Kind würde hierher kommen.« Ich zuckte die Achseln. »Komm, Sal. War wirklich ein Erlebnis. Lassen wir’s dabei bewenden.« Sie warf einen Blick auf die Bronzetafel. »Schade – sie hierzulassen. Im Herbst werden Blätter darauf fallen, dann machen sich die Brennesseln breit, und sie wird vergessen sein.« »Ja«, sagte ich entschlossen. »Jetzt essen und trin‐ ken wir etwas. Pastete und Bier. Aber nicht in der Kneipe von Stymead.« »Ja, Andy.« Auf dem Weg zu einem Dörfchen nicht weit von unserer Scheune fuhren wir durch das düstere Stymead. Wir kamen an der Kneipe vorbei, und ich meinte jemanden zu sehen, der uns beobachte‐ te, war mir aber nicht sicher. Ein auffälliges Haus, wie die meisten im Ort aus Stein, trug ein merk‐ würdiges Wirtshausschild. »Zum schwarzen Alf«, sagte Sally. »Komischer Name für eine Kneipe.« »Alf«, wiederholte sie. »Ich hab das Wort schon mal gehört.« 67
Wir redeten nicht mehr darüber, und als wir zu Mittag gegessen hatten, beschlossen wir, zur Scheune zurückzufahren und den Andenkenladen aufzumachen. Aber das lohnte sich eigentlich gar nicht, weil die Touristen nicht in Kauf Stimmung waren. Mit höflichen Floskeln konnten wir unseren Bauern Judson nicht bezahlen, und wir diskutie‐ ren, wie wir zu Geld kommen könnten. Im Au‐ genblick saßen wir eigentlich nicht in der Klemme ‐diese Woche hatten wir einen guten Tag gehabt ‐, aber ich glaube, wir wußten beide, daß Judson nicht zu trauen war, wenn wir mit der Miete in Verzug gerieten. Wir waren entschlossen, ihn nicht unnötig gegen uns aufzubringen. Im Notfall konn‐ te ich mir etwas Geld von meinen Eltern leihen. Ich war jedoch im ersten Rausch der Unabhängigkeit, und der Gedanke gefiel mir gar nicht. Und von Metallabrieben wollte ich auch nichts hö‐ ren. Sally schmollte deswegen bis neun Uhr, dann schlug ich vor, in die Kneipe zu gehen. Sie warf Töpfe in den Ausguß, zerschmetterte einen guten Teller und eine Tasse mit Sprung. »Du liebst mich nicht.« 68
Ich war verzweifelt. »Sal, das mit dem blöden Me‐ tallabrieb tut mir leid, und es tut mir leid, daß ich heute nachmittag gereizt war!« »Du brüllst schon wieder.« »Wollte ich aber gar nicht.« »Und du hast gesagt, du willst Humphrey und Sy‐ bil verbrennen.« »Werd ich nicht tun.« »Aber du hast es gesagt, und es hat Stunden ge‐ dauert, bis ich den Abrieb fertig hatte.« »Ich sagte, ich werde ihn nicht verbrennen.« »Dann wirst du ihn zerreißen.« »Ich laß ihn dort, wo er ist!« »Brüll doch nicht!« Ich sah mich hilflos um, bis ich merkte, daß ich Humphreys Gesicht anstarrte. Seine Augen waren natürlich geschlossen. Ich fragte mich, ob er auch solche Szenen durchstehen mußte. Oder waren die Männer im Mittelalter aus härterem Holz ge‐ schnitzt? Er sah nicht gerade sehr männlich aus, obwohl ihm der Künstler ein resolutes Kinn ver‐ paßt hatte. Aus ihm wurde ich nicht schlau. Auf Sybil hatte er sicher ein wachsames Auge haben müssen. Sie war einfach zu flink, als daß er sie lan‐ ge allein lassen durfte, wenn er sich einmal zur 69
Teilnahme an einem Kreuzzug entschlossen hatte. Ich betrachtete das zermeißelte Gesicht und fragte mich, was sie an Humphrey gefunden hatte. Dabei mußte ich lächeln, weil mir meine frühere Abnei‐ gung gegen den Metallabrieb einfiel. Wie dumm sie mir jetzt erschien! Sally wollte einen Waffenstillstand schließen. Sie sah ein klein wenig erschrocken aus, als ich sagte, wir hätten eben unseren ersten Streit gehabt. Zum Trost holte sie eine Flasche italienischen Wein, die sie aufgehoben hatte. Wir machten Dosen mit Spaghetti und grünem Paprika auf, speisten und schlenderten dann zur Kneipe. Sally war zärtlich aufgelegt, und ich war so unbescheiden, meinen Spaß an den neidischen Blicken der anderen Män‐ ner in der Bar zu haben. Sie warf mir so begehrli‐ che Blicke zu, daß es fast peinlich wurde. Es war das letztemal, daß ich unbeschwert glücklich war.
5.
Sally bestand darauf, daß die Katze, die überlebt hatte, bei uns schlief. Ich hatte nichts dagegen, aber dann versuchte Cornelius, ebenfalls unter die De‐ 70
cken zu kommen. Er probierte es dreimal, bis ich schließlich die massigen hundertdreißig Pfund packte und ihn in die Dunkelheit hinaussetzte. »Ich frage mich, was ein Alf ist«, sagte Sally, als ich mich wieder zu ihr legte. »Ich hab’ von Schwarzen Ochsen, Blauen Ebern, Roten Kühen und Grünen Drachen gehört, aber nie von einem Schwarzen Alf.« »Ach, laß das doch.« »Warum sollte man einer Kneipe einen Namen ge‐ ben, der nichts bedeutet? Die werden den doch nicht einfach erfunden haben. Irgendwas muß es bedeuten, Andy.« »Ich sag dir, was es bedeutet. Alf ist eine Frau, die nicht aufhört, Fragen zu stellen. Es gibt ein altes Sprichwort: Lieber mit einer Natter im Bett als mit einem Alf.« Das gefiel Sally. »Du lügst schon wieder«, sagte sie. »Aber nicht schlecht.« »Schlaf schon, du Alf.« Sally lächelte, und ich machte das Licht aus. Ich lag wach und hörte, wie ein paar Dachziegel im Wind klapperten. Die Nacht war kalt, und die Kälte kam von den Bergen herab, wo noch immer Schneereste 71
lagen, die langsam grau wurden. Im Nachdenken über die verfallene Kirche und das stumme Dorf schlief ich ein, schlummerte aber nicht lange. Et‐ was weckte mich, ein Anflug von Bewegung oder ein leichtes Geräusch, vielleicht die Dachziegel, die sich hoch oben bewegten. Als ich den Kopf hob, seufzte Sally im Schlaf. Ich betrachtete das Mondlicht auf dem Metallabrieb. Ich war nie zuvor in dem Zustand gewesen, den wir Entsetzen nennen. Er geht weit über die Angst hinaus, da er völlig vernunftlos ist. Ich glaube, man kann sagen, ein Kind ist entsetzt, wenn es so wie ich nachts aufwacht und etwas Ungewöhnli‐ ches sieht oder hört, für das es sich keine Erklä‐ rung denken kann. Aber für die meisten Kinder gibt es dann die Sicherheit ihres Bettzeugs und die Wärme eines weichen Spielzeugs, das neben ihnen liegt, und außer diesen sofort erreichbaren Sicher‐ heitsmitteln hat es noch die Gewißheit, daß zwei liebevolle Erwachsene in der Nähe sind, die man leicht rufen kann und die beide mit dem Gespenst fertig werden – sei es nun der Schatten einer Gar‐ dine oder das seltsam kratzende Geräusch einer unbeschnittenen Rosenranke am Fenster. Für man‐ che Kinder bedeutet so etwas einen rechten Ner‐ 72
venkitzel. Vielleicht war das für mich auch so, aber ich kann mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Ich hatte ganz sicher noch nie etwas Derartiges er‐ lebt – blindes, aberwitziges Entsetzen. Mein Geist erlag blitzschnell einem ungeheuren Ansturm. Vor Entsetzen war ich wie gelähmt. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht schreien. Ich konnte nur auf den Hund starren. Das Mondlicht drang in einem festen Strahl durch das Fenster. In blendender Helle traf es auf den Metallabrieb. Ich sah den Hund im Mondlicht. Er krümmte sich! Ich konnte es so deutlich sehen, wie ich das Weißgold der lächerlichen Puttenfigur am Fußende des Bettes ausmachte. Der Hund krümm‐ te sich, ein langhaariges Wesen mit Beinen wie Schlangen und einem Leib, der im weißen Mond‐ licht schwarz glänzte. Das Wesen bewegte sich über die Falten eines schwarzweißen Gewandes aus einem schweren, kostbaren Stoff wie Brokat. Ich sah nicht nur ein Ohr und das halbbedeckte Gesicht. Ich sah das ganze Tier, sah die Erschei‐ nung oder das Gespenst zur Gänze. Den schweren Kopf, den langen und biegsamen Leib und die kurzen, schlangengleichen Beine. Und die Reiß‐ zähne. Ich sah alles, das ganze Wesen. 73
Ein Teil meines Geistes, der nichts mit dem Ver‐ stand zu tun hatte, fand sich mit der Tatsache ab, daß etwas Unbewegliches in Bewegung geraten war, daß das schreckliche Schlängeln Wirklichkeit war. Mein künstlerischer Instinkt versuchte das unheimliche Geschehen vor mir mit einem Phä‐ nomen zu vergleichen, das mir vertraut war. Mir fiel nur die optische Täuschung ein, die man in Diskotheken mit Lichtzerhackern erzeugte, mit denen man die Bewegungen eines tanzenden Mädchens verstärkte. Sallys Abrieb von Lord und Lady von Stymead lebte! Der Schoßhund krabbelte zur Brust der ge‐ sichtslosen Frau. Und beim Krabbeln machte es scheußlich sabbernde Geräusche. Ich konnte mich nicht bewegen, keinen einzigen Muskel konnte ich rühren, aber ich brauchte Luft zum Atmen. Ich erstickte fast bei dem Bemühen, die Luft anzuhalten, damit das Untier nicht auf meine leichten Bewegungen aufmerksam wurde. Ich holte mit einem schluchzenden Laut Luft, der mir wie ein Windstoß die Scheune mit Lärm zu er‐ füllen schien. Dem schrecklichen Wesen war nicht anzusehen, ob es etwas gehört hatte. Vor Erleichte‐ rung wäre ich fast in Tränen ausgebrochen. Und 74
die durch das Entsetzen hervorgerufene Erstar‐ rung lockerte sich ein wenig, und ich konnte mich fragen, wie das möglich sei und warum. Und ich konnte mir sagen, daß die Erscheinung der letzten Nacht keine natürlichen Erklärungen fand, wie ich geglaubt hatte. Ich hatte gesehen, wie sich das Tier bewegte. Es befand sich an einer anderen Stelle als zuvor. Ich hatte die erste Bewegung von etwas ge‐ sehen, das jeder Vernunft spottete, und sah jetzt, wie es sich weiterentwickelte. Welche Bewandtnis es damit hatte – worum es sich bei dem Tier auf der Bronzeplatte handelte, konnte und wollte ich gar nicht erst in Betracht ziehen. Die Erinnerung an die geistige Erstarrung, die ich eben durchgemacht hatte, war noch zu frisch, als daß ich es gewagt hätte, eine Erklärung für die Anwe‐ senheit des winselnden, sabbernden, krabbelnden Scheusals zu suchen. Es genügte, daß es sich nicht für mich interessierte. Ich konnte jedoch halbwegs erklären, warum es sich seinen Weg nach oben bahnte. Das Mondlicht funkelte jetzt herrlich in einem weißen, kalten Glanz. Ich konnte Stäubchen in der Luft erkennen, so hell waren die Strahlen. Und ich sah den Stoff des Frauengewandes. Keine flache, 75
unbewegliche Wachskreide, sondern ein kostbares Gewebe, das geschickt gerafft war, um die feinen Formen des Körpers darunter zu betonen. Das Gewand bewegte sich leicht, und ich sah, wie die Staubkörnchen in der Luft tanzten, als habe sie ein Windhauch getroffen. Ich wußte, warum sich der Schoßhund so stetig hinauf bewegte, da ich kurz bevor er die verhüllte Brust der Frau erreichte eine Bewegung eines Är‐ mels sah und dann eine schlanke Hand zum Vor‐ schein kam. Sie war weiß, blau geädert und war so real wie meine Hände. Ich sah eine Hand, ein schlankes Gelenk und den Stoff, der den Arm be‐ deckte. Ich spürte, wie mir der Atem in den Lun‐ gen stockte, als sich die Hand langsam und mit sanfter Entschlossenheit dem übergroßen Kopf des nächtlichen Untiers näherte. Dann drückte die Hand das Scheusal an die Brust. Den Geräuschen, die das Wesen von sich gab, konnte ich entnehmen, daß es erreicht hatte, was es sich vorgenommen hatte. Bei dem unglaubli‐ chen und scheußlichen Anblick schloß ich die Au‐ gen, und das vernunftlose Entsetzen kehrte zu‐ rück. Ich hatte die Toten auferstehen sehen und war bis in den Grund meiner Seele verzweifelt. 76
Ich kann nicht sagen, wie lange ich der bitteren Kälte ausgesetzt blieb. Ich weiß nur, daß von der Wand, an der der Metallabrieb hing, raschelnde Geräusche kamen, die jedoch bald aufhörten. Ich mag zehn Minuten oder eine oder gar zwei Stun‐ den in diesem halb hypnotischen Zustand gewe‐ sen sein. Ich konnte mich einfach nicht bewegen. Sallys Anwesenheit, ja sogar ihr Dasein kamen mir nicht zu Bewußtsein. Wenn sie sich im Schlaf be‐ wegte, so bemerkte ich es nicht. Ein Geheul befreite mich aus meiner Trance. Ich erinnere mich, drei feierliche Schläge vom fer‐ nen Kirchturm gehört zu haben, und fast gleich danach das langgezogene, winselnde Heulen, das den Bann meines Entsetzens brach. Ein furchterregendes Geräusch. Ich wußte, es stammte nicht von einem Tier, das in England heimisch ist. Im Bergland waren solche Töne nicht mehr gehört worden, seit man den letzten Wolf zu Tode gehetzt hatte. Das Heulen hatte etwas Ge‐ walttätiges, in ihm schwang eine wilde Entschlos‐ senheit, die nichts mit den Wieseln und Mardern und nächtlichen Raubvögeln zu tun hatte, die es hier in der Gegend gab. Seltsamerweise wurde mein Entsetzen durch das Geräusch nicht ver‐ 77
stärkt. Vielleicht war ich in einem merkwürdigen Zustand, wo ich nur noch überschnappen oder in eine normale Verfassung zurückfinden konnte. Auf jeden Fall reagierte ich mit Zittern und Schmerzgestöhn darauf, und dann kehrte der Zorn zurück, der mich gepackt hatte, als das Kätzchen getötet worden war. Ich hatte Angst und bebte vor Zorn. Aber diesmal richtete sich mein Zorn nicht gegen mich selbst, sondern gegen das unbekannte, gefährliche We‐ sen, das einem Grab entstammte und in mein Haus eingedrungen war. Ich machte die Augen auf. Das ganze Zimmer sah verändert aus. Wo klare, deutliche Schatten gewesen waren, fand sich jetzt ein grauer Nebel undeutlicher, kreisender Formen. Das Mondlicht war schwächer geworden. Ich warf einen Blick auf den Metallabrieb und sei‐ ne grotesken Gestalten. Der unheimliche Dunst verdeckte das Bild zur Hälfte. Ich streckte meine verkrampften Glieder. Ich spür‐ te, wie sich das Bett leicht veränderte, als sich Sally im Schlaf bewegte. Sie seufzte leise auf. Mit den Augen suchte ich ihr Gesicht, aber das herrlich aschblonde Haar lag darauf. In dem seltsamen Licht sah sie wie eine Frau aus, die unter Schling‐ 78
gewächsen am Grund eines Flusses liegt. Ich zitter‐ te bei dem Gedanken und zwang mich, aufzuste‐ hen. Körperlose Erscheinungen sollten mich nicht mehr in ein solches Entsetzen treiben. Da war ich mir ganz sicher. Mein Zorn ließ mich einige Schritte tun. Am ganzen Körper spürte ich die Kälte. Klammer Dunst legte sich mir auf Arme und Brust. Ich schien eher zu schwimmen als zu gehen. In meinem Kopf jagten sich die Bilder. Das Mond‐ licht auf dem Untier. Die schlanke, tröstende Hand auf seinem Kopf. Die messerscharfen Reißzähne und das sabbernde Geräusch der schweren Kinn‐ laden. Und die leere Stelle, wo ein Gesicht hätte sein müssen. Es ist mir unbegreiflich, daß ich noch zwei Schritte weitergehen konnte. Ich machte dafür meinen phlegmatischen Charakter verantwortlich. Sally hält es mit der Phantasie. Ich bin ein Arbeitstier, bin stur und ausdauernd, die Sorte Mensch, die sich ein Ziel setzt und nicht davon abläßt. Der Dunst schloß sich um mich, und ich streckte blind die Hände aus. Ich spurte Widerstand. Ich fühlte deutlich die Kraft des Wesens. In dem atemlähmenden, perlgrauen Nebel lauerte eine Ge‐ 79
fahr: Ich spürte die Anwesenheit eines Willens, der meinem entgegenstand, und um was für ein Gra‐ beswesen es sich auch handeln mochte, es wußte von meiner Absicht und war entschlossen, mich aufzuhalten. Der ungesunde Dunst drang mir in den Hals, ein klebriger Nebel, der mich an den Rand der Übelkeit brachte. Ich mußte an Bahrtü‐ cher und verwesende Leichengewänder, an zerfal‐ lene Gemäuer und an die sabbernden Lefzen des Monstrums denken. Der Nebel fing an zu zerstieben, und das Mond‐ licht wurde zu einem dünnen, grauen Rauch. Ich mußte husten, als hätte ich Bronchitis, so schwer wurde ich den widerlichen Dunsthauch in mir los. Noch zwei, drei Schritte. Die Kälte drang in meine bloßen Füße. Ich stieß gegen den Stuhl, über den Sally immer ihre Sachen hängte. Er quietschte und wäre fast umgestürzt. Ich konnte das Rechteck des Abriebs erkennen, ohne jedoch Einzelheiten aus‐ zumachen. Das Grau verschluckte die Umrisse. Und dann war ich nur noch einen Meter entfernt. Und ich streckte die Hände aus, um das Papier he‐ rabzureißen. Ich wollte die Dämonen und ihre gro‐ tesken Schlangenbewegungen austreiben, das sab‐ bernde Wesen ganz und gar vernichten, die ekli‐ 80
gen Grabesgeschöpfe ausmerzen. Aber meine Hände zitterten und meine Arme waren wie gefes‐ selt. Ich konnte die angespannten Muskeln meiner Arme und die gekrümmten Finger dicht vor dem kräftigen Papier sehen. Ich strengte mich an, aber nichts geschah. Und dann fuhr mir der gräßliche Dunst wieder in den Hals und ich mußte nach Luft ringen! Etwas hatte mir die Energie genommen, mir den Atem stocken lassen, mir die Entschlußkraft ge‐ raubt – ich hörte einen leisen, grimmigen Laut und wußte, daß er aus meiner Kehle kam. Und dann antwortete ein fast unhörbares Geräusch, als habe man einen silberhellen Ton angeschlagen. Das leise Geräusch hallte in der schweren Luft nach und versetzte mich erneut in Angst und Schrecken. Dann spürte ich eine Hand an meinem kalten Hals. Ich spürte kleine, scharfe Krallen, und ich schrie vor Entsetzen auf, als wüßte ich, daß sich das Un‐ tier von hinten angeschlichen habe und auf meinen ungeschützten Rücken losspringen wolle. Im nächsten Augenblick zogen warme Hände an mir, und ein warmer, nackter Körper drängte sich an mich, und Sally war bei mir. »Sally!« 81
Ich sprach den Namen wieder und wieder aus, und sie antwortete mir, und ich wußte, daß sich der Dunst verzogen hatte, als sie mich berührte, und mit ihm die ganze schreckliche Erscheinung. Ich klammerte mich an sie und schluchzte und zit‐ terte wie ein Kind. Während ich mich erholte, sag‐ te sie nur wenig. »Komm ins Bett«, drängte Sally schließlich. »Komm mit, Andy. Du bist eiskalt.« »Ja«, stammelte ich schließlich. Dann fielen mir die scheußlichen Bilder ein, die ich gesehen hatte. »Nein! Mach das Licht an, Sally!« »Was ist passiert? Was ist los, Andy?« »Mach das Licht an!« »Gut, Liebling.« Ich wagte nicht sie loszulassen. Ich hatte mich teilweise erholt, aber bei weitem noch nicht so weit, daß ich ohne die beruhigende Berührung ei‐ nes anderen Menschen auskam. Ich wollte nicht allein sein. Ich wagte nicht, sie gehen zu lassen. »Warum bist du aus dem Bett, Andy? Glaubst du, daß du im Schlaf gewandelt bist? Ich habe dich schreien hören – es war schrecklich, Andy!« »Mach das Licht an!« Sally umarmte mich und schaltete das Licht an. 82
Ich blickte auf sie hinab und sah Erschrecken und Sorge in ihren schönen Augen. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und blickte mich ein paar Sekunden lang an. Mir schoß ein verrückter Ge‐ danke durch den Kopf. »Das Kätzchen! Alles in Ordnung mit ihm?« »Es ist in meiner Betthälfte.« Ich sah hinüber, ließ meine Augen über den Boden wandern, damit ich nicht zur Wand blicken mußte, an der der Metallabrieb hing. Das Kätzchen stieß ein fast stummes Miauen aus, das verwirrt und fragend klang, und ich sah, wie es sich streckte und das kleine rosa Schnäuzchen mit den winzi‐ gen weißen Zähnen zu einem komisch weiten Gähnen aufriß. »Andy?« fragte Sally. »Ja, ein Alptraum.« Wie konnte ich ihr sagen, was ich gesehen hatte? Wie konnte ich ihr eine so grau‐ same Geschichte aufbürden? »Über die Kirche und den Metallabrieb?« »So ungefähr.« »Und ich hab dich wachgerüttelt.« »Ja.« Von meinem Entsetzen konnte ich ihr nicht berich‐ ten. Ein Mann gibt nicht zu, daß er sich außerhalb 83
des weiten Bereichs der Vernunft befunden hat. Sie tätschelte mich ziemlich geistesabwesend, wie mir schien. »Deshalb bist du also nicht mehr im Bett gewe‐ sen!« »Ja.« »Soll ich etwas Suppe warm machen?« Ich hörte die Kirchturmglocke fünf Uhr schlagen. Bald würde es dämmern. »Ja, Liebling.« »War es schlimm?« »Ja.« »Möchtest du mir darüber erzählen?« »Ja.« Und ich merkte, daß ich ihr mein Entsetzen mitteilen konnte. Ich konnte es nicht für mich be‐ halten. »Ich habe den verdammten Hund gese‐ hen!« »Den von Humph?« »Den von Sybil.« »Den da?« »Ja. Was für einen Eindruck macht das Vieh auf dich?« »Der hat dich aber wirklich durcheinander ge‐ bracht, mein armer Schatz.«
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Ich sagte, jedes Wort betonend: »was – für – einen Eindruck – macht — er — auf — dich ?« »Ein Stückchen von dem Klebeband hat sich ge‐ löst. Soll ich es wieder festmachen?« In meinem Kopf drehte sich alles. Wieder eine ein‐ fache Erklärung für eine eindeutig übersinnliche Erscheinung? Ich konnte jedenfalls nicht hinschau‐ en. Ich konnte den Kopf nicht drehen, um den Ab‐ rieb zu prüfen. Ich hatte das nächtliche Tier deut‐ lich gesehen, ich hatte die weiße Hand gesehen, die es streichelte, als habe das Tier etwas beson‐ ders Kluges zuwege gebracht. »Reiß das Ding von der Wand!« »Würdest du dich dann besser fühlen, Liebling?« »Ja!« Ich war gelähmt gewesen. Meine Hände, die groß und kräftig sind, hatten mir nicht gehorcht, und meine Arme hatten sich nicht ausstrecken lassen, um ein so einfaches Werk auszuführen. Ich hörte Papier rascheln und Klebeband von der verputzten Wand abreißen. Und ich konnte noch immer nicht hinsehen. »Ich steck ihn in die Pappröhre«, sagte Sally. »Im Laden.«
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Sally fiel der merkwürdige Klang meiner Stimme auf, überging ihn jedoch mit Stillschweigen. »Ja, Andy.« Als sie zurückkam, fragte ich noch einmal: »Wie kam er dir vor?« Sally tätschelte meinen Arm. »Du hast die Suppe dringend nötig. Und mir ist auch kalt.« »Wie kam dir der Abrieb vor?« Während sie die Suppenbüchse öffnete, drehte sie sich zu mir um. Das Kätzchen wurde bei der Aus‐ sicht auf Essen munter. »Um die Wahrheit zu sagen, Andy, ich hab ihn mir gar nicht angesehen. Eine Ecke war eingeknickt. Aber genau hab ich ihn nicht angesehen. Ich habe ihn zusammengerollt und gleich in die Pappröhre gesteckt. Soll ich ihn wieder rausholen?« »Nein!« Nicht für Berge von Fünfpfundscheinen, die wir so nötig brauchten. Ich seufzte erleichtert auf, war wieder bei Sinnen und hatte Hunger. Im Zimmer zeigten sich die ersten Spuren von Tageslicht, und draußen ertönten die Geräusche eines intakten Dorfes – ein Hahn, der laut seine Rivalen ankrähte,
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ein Hund, der voller Ungeduld einem verspäteten Fuchs nachbellte. Es war alles vorbei. »Die Suppe ist soweit, Andy.« »Schön! Und später mache ich ein Riesenfeuer im Garten, Liebling.« »Nehmen wir die Suppe mit ins Bett?« »Ja.« Ich war vergnügt. Wenn die Sonne am Himmel stand, wollte ich den Metallabrieb verbrennen.
6.
Der Duft nach gebratenem Speck weckte mich. Sal‐ ly, dachte ich. Im Zimmer war es ziemlich düster. Ich stützte mich auf die Ellbogen, um Sally am Herd zuzusehen; die kalte Luft roch nach Regen. Sally summte eine hübsche kleine Melodie, deren Namen mir nicht einfallen wollte. Mein Blick streifte die Wand, die dem Bett gegenüberlag, und ich bekam einen Schreck, als ich sah, daß der Me‐ tallabrieb verschwunden war. Dann fiel mir ein, daß Sally ihn entfernt hatte. »Wie viele Eier?« rief sie, als sie sah, daß ich mich rührte. 87
»Zwei. Drei.« »Du Dreckskerl.« »Dann zwei. Sally?« »Ja?« »Wo hast du ihn hingetan?« »Was, Liebling?« Sie mußte wissen, was ich meinte. Ich glaubte, sie wollte es auf die leichte Schulter nehmen und da‐ mit für mich die Schrecken der Nacht verringern. »Den Metallabrieb.« »Humph und Syb?« »Wo hast du ihn hingetan?« »Auf das Brett über den übriggebliebenen Zwer‐ gen.« »Ich glaube, ich bin auf dem besten Weg, verrückt zu werden.« Sally drehte sich um und lächelte mich nachsichtig an. »Du siehst ein bißchen durcheinander aus, aber es wird schon wieder werden.« »Ich hab gesehen, wie sich der Hund bewegte!« Mein Appetit war ungebrochen, aber ich sah, daß meine Hände leicht zitterten, als ich mir Speck und Eier in den Mund schaufelte. Ich wollte nicht an die nächtlichen Bewegungen denken. Ich be‐ herrschte jedoch nicht den Trick, mir etwas aus 88
dem Kopf zu schlagen. Wenn ich verstört bin, lege ich mir vor allem anderen immer wieder meine Probleme vor. Sally kann düstere Gedanken ab‐ schütteln, ich nicht. Beim Frühstück redeten wir nicht viel, aber als Sal‐ ly das Geschirr wegräumte, sagte sie mir, daß sie am Vormittag wegfahren wolle. Das war nichts Ungewöhnliches, und ich war sogar ein bißchen froh, sie nicht im Weg zu haben. Ich nahm an, sie wolle sich Trödel ansehen oder Skizzen für den nächsten Schwung Bilder machen. »Bist du zum Mittagessen zurück?« fragte ich. »So etwa, Andy. Bist du sicher, daß du wieder auf dem Damm bist?« »Jaja.« Ich war in Sicherheit, sobald der Metallabrieb nicht mehr existierte. Über die Ereignisse der Nacht sprachen wir nicht. Ich glaubte, Sally wäre der Meinung, es sei besser so. Sie ging, schimpfte da‐ bei auf den Regen, und sah dabei mit ihren weißen Stiefeln und dem Plastikregenmantel wie ein Bild aus Vogue aus. Als ich den Lieferwagen die Straße hinauftuckern hörte, kam ich mir unaussprechlich einsam vor. Ich wollte nicht, daß meine Niederge‐ schlagenheit den großen Entschluß beeinträchtigte. 89
Die Pappröhre lag am angegebenen Ort. Ich holte sie herunter und riß dabei einen mondgesichtigen Zwerg mit. Ich sah mir den Metallabrieb in der Röhre nicht an, fühlte ich doch, daß ich mit etwas potentiell Gefährlichem umging. Ich zog meine Stiefel an und ging in den Nebel und Regen hinaus ‐zu dem Gartenabfall, den ich in den vergangenen Wochen zusammengetragen hatte. Ich rechnete nicht damit, daß ich das Feuer sofort in Gang brachte. In eine Büchse hatte ich ein wenig Benzin geschüttet, das ich über die nassen Äste und die Abfälle schüttete. Dann entdeckte ich eine Büchse mit einer öligen Flüssigkeit, bei der es sich vielleicht um Motoröl handelte. Ich achtete darauf, die Pappröhre gut mit der schwarzen Flüssigkeit zu bedecken. Schließlich trat ich zurück und warf ein brennendes Streichholz auf den Haufen. Das Benzin flammte mit einem befriedigenden Laut auf, und das schwere Öl entwickelte einen schwarzen Rauchpilz, aus dem kleine gelbe Flam‐ men schössen. Unkräuter und Äste wurden rasch trocken, und der Abfallhaufen fing Feuer. Ich spürte wohltuende Erleichterung. Die Windungen des Ungeheuers, die Verdichtung tanzender Stäubchen, die zarte weiße Hand – sie würden 90
bald halbvergessene, vielleicht sogar komische Erinnerungen sein. Ich sah zu, wie schwarzer Rauch von der Pappröhre aufstieg. Etwa zehn Mi‐ nuten lang behielt ich alles genau im Auge. Ich wurde bei meiner Wache durch unseren Ver‐ mieter gestört. »Wo ist Ihr Hund?« wollte er wissen. Ich war verblüfft, und beim Klang seiner kalten Stimme fühlte ich ein Zittern meinen Körper durchlaufen. Ich drehte mich um, und er stieß sei‐ nen häßlichen, angriffslustigen Kopf vor. Sein Ge‐ sicht, das gewöhnlich weiß ist, war fleckig, und die große Nasen‐ und Mundpartie ließ ihn fast so blöd aussehen wie eines seiner Schafe. Mein Zittern nahm er für ein Zeichen von Schwäche. »Mein Hund?« wiederholte ich und nahm meine Gedanken zusammen. »Aye, Ihr verdammter Hund! Der war gestern nacht im Moor draußen!« »Cornelius?« Er stieß ein ärgerliches Brummen aus. »Ist mir gleich, wie er heißt. Wo ist er?« Ich bin nur schwer in Wut zu bringen, aber man kann mich schon reizen. Seine herrische Fragerei paßte genau zu der Art, wie er uns früher behan‐ 91
delt hatte, aber so unangenehm war er noch nie gewesen. Und dazu hatte er mich noch in einem schlechten Moment erwischt. »Warum möchten Sie das wissen?« fragte ich in vernünftigem Ton. »Weil ich es wissen will!« »Es ist besser, wenn Sie mir sagen, warum, Mr. Judson.« Ich bin ziemlich groß und stämmig, doch einen Augenblick dachte ich, er würde mir einen Hieb versetzen. Es schien also das Beste, sich ihm ganz zuzuwenden, damit er merkte, ich rechne mit die‐ ser Möglichkeit. »Weil eins meiner Lämmer mit zerrissener Kehle daliegt!« brüllte er und sah mehr als je zuvor wie ein Schaf aus. Der Kopf mit dem länglichen Ge‐ sicht und den lockigen grauen Haaren war zornig vorgereckt. »Wo ist also Ihr verdammter Hund?« Das war eine ernste Sache. Ich konnte mich in sei‐ ne Lage versetzen. Die Leute aus der Stadt bringen ihre Lieblinge mit in die Moorlandschaft und zei‐ gen ihnen, daß Schafe und Lämmer harmlose, zu‐ trauliche Wesen sind – und dann fangen einige Hunde an, Schafe zu reißen. Man wußte, daß sich diese Tiere zu Rudeln zusammenrotteten und 92
nachts meilenweit von ihren Häusern weglaufen und dann zu etwas werden, was man ihnen am Tage nie ansehen würde. Mir fiel das schreckliche nächtliche Heulen ein, und mich überkam wieder ein Zittern. »Cornelius ist nicht hier, Mr. Judson«, sagte ich. »Haben Sie ihn gestern nacht draußen gesehen?« »Ich nicht – Harris!« »Das wird schon stimmen. Er ist hinter der Hün‐ din auf dem Hof dort her. Aber Cornelius reißt keine Schafe, Mr. Judson. Sie verdächtigen den fal‐ schen Hund. Da bin ich sicher.« Ich war mir meiner Sache natürlich nicht sicher. Ich ließ jedoch sofort den Gedanken fallen, daß Cornelius nachts das scheußliche Geheul ausges‐ toßen haben könnte. »Bei uns sind nie Lämmer umgekommen, bis Sie mit Ihrer aufgedonnerten Frau auftauchten!« knurrte Judson. »Aber Sie zahlen mir das – ich las‐ se die Polizei kommen, und dann zahlen Sie!« »Wenn es Cornelius war, zahle ich«, sagte ich. »Aber hören Sie gefälligst auf, über Sally zu re‐ den.« Ich war jetzt fast wütend. Er war viel älter als ich, und mir fiel ein, daß er sich wahrscheinlich nur 93
wenig mit Menschen auskannte, die außerhalb der althergebrachten Bahn lebten. Ich wollte mir aber trotzdem keine Beleidigungen anhören. Er machte einen Rückzieher. Ich wußte jetzt, daß er uns nicht ausstehen konnte, Sally, mich und jetzt auch unse‐ ren Hund. »Wir warten ab, was die Polizei dazu meint!« knurrte er. Ich erwiderte nichts. Ich wandte mich statt dessen wieder dem Feuer zu und sah, wie die gelben Flammen sich röteten und wie der schwarze Qualm einem dünneren, heißeren Rauch wich. Ich glaubte, unsere – meine – Probleme seien gelöst. Überraschenderweise ließ sich der Morgen im La‐ den gut an. Ich nahm fast zwanzig Pfund ein und schaffte es sogar, ein paar Bergbilder zu verkaufen, die ich in unserer flauen Zeit vor ein, zwei Wochen hingehauen hatte. Das Geschäft besserte sich. Ge‐ gen Mittag war ich vergleichsweise guter Laune, und alle paar Minuten sah ich erwartungsvoll zur Tür, weil ich hoffte, Sally würde mit frischer Be‐ geisterung hereinstürmen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Nicht daß es mir gerade kalt über den Rücken lief, aber ich wußte sofort, daß mich jemand beobachte‐ 94
te, der kein Interesse an unseren Waren hatte. Ich zeigte einem Paar aus Birmingham das Zeichen des Herstellers an einem viktorianischen Tongefäß, als mir der eindringliche Blick eines Mannes zu Bewußtsein kam. Ich sah ihn an, und er blickte fort. Eine merkwür‐ dig aussehende Gestalt. Ich schätzte ihn auf etwa dreißig, er konnte aber auch älter sein. Er war mit‐ telgroß und sehr dünn. Er hatte dunkles Haar, das feucht glänzte. Er litt unter schwerer Akne. Irgend etwas an ihm kam mir jedoch bekannt vor, und ich fragte mich, ob da wieder ein unzufriedener Kun‐ de auf mich zukam. Die tauchen manchmal wieder auf, zum Glück nicht oft, und beschweren sich über einen Sprung in einem Zwerg oder über eine Beschädigung an einem Tongefäß. Einmal brachte eine alte Dame einen unserer Gipszwerge mit der Beschwerde zurück, er zwinkere ihr zweideutig zu. Wir tauschten ihn ihr in ein Bild um. Ich been‐ dete mein Gespräch mit dem Paar aus Birming‐ ham, das sich nicht entschließen wollte oder konn‐ te und später noch einmal vorbeikommen wollte, und fragte den Mann, ob er etwas Bestimmtes su‐ che.
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Ich hatte recht gehabt, ihn nicht für einen gewöhn‐ lichen Kunden zu halten. »Wollte nur sagen, es ist Dorfgrund.« In Derbyshire hat man es oft mit solcher Einsilbig‐ keit zu tun. Die Leute versuchen sich hier förmlich in knapper Sprechweise zu übertreffen. Ich wußte nicht, wovon er sprach, und sagte es ihm. Ich hatte stark den Eindruck, ihn schon einmal gesehen zu haben. »Kirche ist auf Dorfgrund«, sagte er und sah mir offen in die Augen und betonte seine rätselhafte Bemerkung mit einem vorgestreckten Zeigefinger. »Was für eine Kirche?« »Die alte bei Stymead.« Natürlich. Die verfallene Kirche und der Beobach‐ ter. Ich hatte ihn flüchtig erspäht, als er zum Dorf zurückgehuscht war. »Wirklich?« sagte ich. »Kein Wegerecht dort!« Man ließ mir eine Warnung zukommen. Ich kann‐ te diesen Ton. In den Bergen gehört viel zum Na‐ tionalpark, der voller öffentlicher Wege ist. Aber wo kein anerkanntes Wegerecht besteht, verteidi‐ gen die Bauern wie die Wilden ihren Besitz. Ich wußte nicht, wie ich diesen Fremden behandeln 96
sollte. Er war so ganz anders als Judson. Der war mein Vermieter, und ich mußte darauf achten, ihn nicht unnötig gegen mich aufzubringen. »Ist das denn Ihr Land?« Er senkte den Finger, und ich wußte, es gehörte nicht ihm. »Gehört dem Dorf! Gehört uns. Und wir wollen dort niemand.« Ich ließ mir die Sache durch den Kopf gehen. In gewisser Weise war ich angegriffen worden. Ein völlig Fremder hatte mir gesagt, ich müsse ihm gehorchen. Er hatte sich die Mühe gemacht he‐ rauszufinden, wer wir waren, und jetzt war er hier, um uns mitzuteilen, daß wir etwas Unerlaub‐ tes getan hatten. Ich wollte keine Schwierigkeiten. »Wir gehen nicht wieder zu der Kirche«, sagte ich. »Wir waren nur neugierig, weiter nichts.« Er sah erleichtert aus. »Die Frau auch?« »Ich sag’s ihr.« Nun wirkte er förmlich von einem Zwang befreit. Ich konnte sehen, daß er Angst gehabt hatte, glaubte aber nicht, daß ich der Grund seiner Ner‐ vosität gewesen war.
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»Lieber in Ruhe lassen«, stieß er hervor. »Ist bes‐ ser.« »Uns hat die Bronzeplatte interessiert.« Da wurde er wieder unruhig. Er verabschiedete sich, wie hier üblich, mit einem Kopfnicken und ging zur Tür. Als er sie öffnete, stürzte naß und begeistert Sally herein, so wie ich es mir ge‐ wünscht hatte. »Liebling...« Sie stieß heftig mit dem dünnen Mann zusammen, daß er nach links taumelte, und der Inhalt ihrer Einkaufstaschen ergoß sich scheppernd auf den Boden. Er entschuldigte sich nicht, sondern blickte Sally ohne die übliche, offene Bewunderung an, die die meisten Männer zeigen, und trat dann in den Regen hinaus. »Wer war denn das?« »Er wollte uns sagen, daß wir nicht zur Kirche in Stymead gehen sollen. Die liegt auf Privatgrund.« »Aber wieso!« »Ich glaube, das Land gehört ihm.« »Er sieht nicht wie ein Bauer aus.« Da fiel mir Judson ein. »Sal, Judson ist hier gewesen. Er meint, Cornelius hat ein Lamm gerissen.« 98
»Cornelius? Nie!« »Er hat nicht gesagt, daß er ihn tatsächlich gesehen hat, wie er Lämmer jagte, aber er sagt, Cornelius ist es gewesen.« »Der muß völlig übergeschnappt sein.« Sie zog rasch ihren Mantel aus und sammelte die Konservendosen ein, die sie mitgebracht hatte. Ich half ihr, war aber wieder deprimiert. Vielleicht war es nur Müdigkeit – ich hatte sehr wenig geschlafen ‐, aber ich spürte wieder die dumpfe Niederge‐ schlagenheit der letzten Nacht. »Wo steckt Cornelius überhaupt?« Ich wußte es nicht. Ich hatte nicht einen Gedanken für unseren großen und manchmal nicht sehr lie‐ benswerten Hund übrig gehabt. Er war oft fort, und ich hatte mir wohl gedacht, er werde nach seiner Buhlzeit hungrig und brav zurückkommen. »Ich schau mal nach.« Ich blickte die Gasse entlang, die zum Hof von Harris führt. Keine Spur von Cornelius. Die Felder weiter draußen konnte ich im Dunst nicht über‐ schauen. Ich wollte in den Laden zurück, ging aber einer plötzlichen Regung folgend zur schwelenden Asche des Feuers. Die kleinen Regentropfen fielen zischend in die Asche. Ich versuchte den Umriß 99
der Pappröhre ausfindig zu machen. Ein unbes‐ timmter Argwohn machte mich unruhig. Warum machte sich der Mann mit den Pickeln im Gesicht die Mühe, uns vor der Kirche zu warnen? Judson hatte mir gesagt, er werde wegen Cornelius zur Polizei gehen, und unternahm damit die angemes‐ senen Schritte. Wenn die Bewohner von Stymead etwas gegen unsere Anwesenheit hatten, hätten sie die gleichen Schritte unternehmen können. Mir schien, ich sei einfach zu nachgiebig mit dem Bauern aus Stymead gewesen, wenn er überhaupt ein Bauer war. Ich spürte, daß ich nicht an die Kir‐ che von Stymead und die Schrecken der Nacht erinnert sein wollte. Den Metallabrieb hatte ich verbrannt. Es war alles vorbei. Warum nahm ich also an, ich sei noch in die Geschichte mit Stymead verwickelt? Doch mein erbärmlicher Verstand wollte nicht locker lassen. Hirngespinste: die Ruine, die knappe War‐ nung, daß man die Örtlichkeit lieber in Ruhe ließe. Sally war da auch keine Hilfe. Sie ließ sich breit über die Bösartigkeit Judsons aus, und dann interessierte sie sich sehr für den Besuch des Mannes aus Stymead.
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»Hat er nicht gesagt, wie er heißt?« wollte sie wis‐ sen. »Nein. Und ich hab auch nicht daran gedacht, ihn zu fragen.« »Und mit welchem Recht warnt er uns?« »Wir mußten über ein Feld, um zur Kirche zu kommen. War vielleicht sein Grund und Boden.« »Aber irgendwann muß es mal einen Weg vom Dorf zur Kirche gegeben haben – es muß da ein Wegerecht bestehen.« »Ist doch ganz gleich, Liebling. Wir werden nicht wieder hinfahren.« »Nein, nein, Andy. Beunruhigt dich die Sache im‐ mer noch?« »Jetzt nicht mehr, weil ich den Metallabrieb ver‐ brannt habe.« »Du hast es also doch getan!« »Heute früh.« Ich erkannte, daß sie ein wenig verärgert war. Ich machte ihr keine Vorwürfe, denn schließlich hatte sie einige Zeit für den Abrieb geopfert. Ich wollte sie aber auch nicht schmollen sehen. »Es macht dir doch wirklich nichts aus, Sally, oder?« »Nein!« 101
Sie sah aber sehr nachdenklich aus, als sie ein paar Sandwiches zum Mittagessen hereinbrachte. »Ich bin heute früh in der Bibliothek gewesen, An‐ dy.« »Ach?« »Ich war neugierig.« Ich spürte, wie die nächtliche Übelkeit zurückkehr‐ te. »Worauf?« »Ich habe herausbekommen, was ein Alf ist.« »Wieso?« Sally war durch meine Schroffheit verwirrt. »Wegen der Kneipe in Stymead! Mir ist das Schild unentwegt durch den Kopf gegangen.« Ich wollte nichts mehr von Stymead hören, aber ich konnte Sally nicht den Mund verbieten. »Und was bedeutet ,Alf’?« »Es ist ein altes Wort, das heute nicht mehr ver‐ wendet wird. Es bedeutet soviel wie Hausgeist.« »Und ist...« »Das Schoßtier einer Hexe. Ja.« Sally lächelte. »Ist es nicht merkwürdig, wie alles auf Sybil hinaus‐ läuft?«
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7.
Den Rest des Tages verbrachte Sally in gelassener Stimmung. Sie fand Hausarbeiten, wenn sie sich nicht um Kunden kümmern mußte, und wir spra‐ chen nicht viel miteinander. Ich merkte, daß sie noch immer ein bißchen ärgerlich auf mich war und daß ihr das Verschwinden von Cornelius Kummer machte. Ich war dagegen ziemlich froh, daß wir die Sache mit Stymead nicht zu bereden brauchten. Wenn wir weniger beschäftigt gewesen wären, hätte ich ihr von meinen früheren Befürch‐ tungen und jetzigen Ängsten erzählt, und wir hät‐ ten uns vielleicht gestritten, da ich wußte, daß sie sich sehr für die Geschichte der Kirche und des dort begrabenen Paares interessierte, während ich die ganze Örtlichkeit nur vergessen wollte. Wir gingen früh zu Bett. Ich erinnere mich, daß ich auf die Stelle blickte, wo der Abrieb gehangen hat‐ te, und sehr zufrieden über meine Entschlossenheit war. Ich sagte Sally, daß wir uns ja nicht die ganze Nacht von einem mittelalterlichen Paar beobachten lassen müßten, und sie lächelte mir zu, als habe ich 103
einen guten Witz gemacht. Wir waren beide sehr müde und schliefen gleich ein. Ich erinnere mich nicht, geträumt zu haben, aber als ich aufwachte, hörte ich eben die Kirchglocke metallisch die halbe Stunde schlagen. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Halb irgendwas. Eins, drei, fünf? Ich griff nicht nach meiner Armbanduhr – ich war noch schlaftrunken. Mir fällt noch ein, daß ich an Corne‐ lius dachte. Er war nun eine Nacht und einen Tag von zu Hause fort, und das war selbst für ihn eine lange Zeit. Dann öffnete ich die Augen und sah das Mondlicht. Zuerst war es nur Mondlicht. Der weiche Glanz zog mein Auge an, und ich versuchte mich an ein frühes niederländisches Bild zu erinnern, das ich vor einem Jahr in London gesehen hatte und auf dem die Kraft des Mondlichts eingefangen war, wie es jetzt vom hohen Fenster herabströmte. Im nächsten Augenblick spürte ich, wie mein Kopf leer wurde, das erste Anzeichen von Furcht, die schließlich in ein Entsetzen mündete, das alles ers‐ tarren ließ. Ich spürte, daß Sally schlief, da sich die Decke bei ihren Atemzügen kaum bewegte. Ich wußte, daß das Kätzchen auch in tiefem Schlaf lag,
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weil ich es auf meinen Beinen liegen spürte. Nur die Stäubchen in der Luft waren anders. Nicht von den gewöhnlichen, langsam aufsteigen‐ den, manchmal sinkenden Stäubchen, die sonst das Mondlicht trübten. Es war etwas Festes an den Teilchen, die in der Mitte des strahlend hellen Lichts erschienen. Sie bildeten eine schimmernde, aber irgendwie massive Säule weißer Schatten. Die Teilchen glänzten auf unheimliche Art, sammelten sich und fanden ihren Platz in dem hohen, engen, säulenförmigen Bereich. Ich hatte so eine Form schon einmal gesehen. Es war grotesk, wie vertraut sie mir war. Es war, als begrüße man einen Freund, der in einen Autounfall verwickelt war, als geschehe etwas Unmögliches, als erschiene ein Studienfreund, der in einem Massenzusammen‐ stoß auf der Autobahn zerrissen worden war, wie‐ der vor einem. Das nächtliche Entsetzen hielt mich wieder in seinen Klauen. Das Unmögliche ge‐ schah. Die Toten waren nicht tot. Und das Nicht‐Tote war hier. Die Form nahm mit einer Bedachtsamkeit, die in ihrer Sorgfalt etwas um so Bedrohlicheres hatte, Gestalt an. Luftstäubchen wurden zu Flecken wei‐ 105
ßen Fleisches. Weißes Fleisch wurde zu fein ge‐ formten Gliedmaßen. Eine Gestalt in einem langen, prächtigen Gewand kam so allmählich zum Vor‐ schein, daß ich spürte, wie mir der Mund aufging und dann trocken wurde, während das Entsetzen in alle Teile meines Körpers kroch. Und die Gestalt des nicht‐toten Wesens glich mehr und mehr der Erscheinung eines lebendigen Geschöpfs. Ich starrte auf die Frau aus dem Metallabrieb. Lady Sybil de Latours war aus ihrem fünfhundert Jahre alten Grab auferstanden. Ich blickte auf die reale Gestalt einer Frau, die nach unserer Zeitrech‐ nung fünf Jahrhunderte tot gewesen war. Kein Ge‐ spenst hielt sich in unserem Wohnraum auf. Ich glaubte sofort und ohne jeden Zweifel, daß ich die Frau so sah, wie sie der Künstler, der die Bronzeta‐ fel geschaffen hatte, gesehen hatte, wie sie die Männer, die ihren Leib in den Sarg legten, erblickt hatten. Der Unterschied war nur – sie lebte. Sie lebte? Eine Vorstellung von dem, was da geschah, drang langsam in meinen Verstand. Als die schweren Falten des Gewands, in dem sie beerdigt worden war, sanft den Bewegungen des schlanken und anmutigen Körpers folgten, wurde mir klar, daß 106
ich mit einer Erscheinung zusammen war, die eine schreckliche Gefahr für mich, für Sally und die ganze Menschheit darstellte. Ich erkannte das so‐ fort, obwohl ich keine Ahnung von dem habe, was man Spiritismus oder Schwarze Magie oder Zau‐ berei nennt. Ich weiß, das die drei nicht dasselbe sind; ihnen ist jedoch gemeinsam, daß sie sich auf Dinge einlassen, die dem Denken gefährlich sind, denen man nicht lange gefahrlos ausgesetzt sein kann. Hier handelte es sich nicht um ein liebes Ge‐ spenst, das einen Unterschlupf bei denen suchte, die es zu Lebzeiten gekannt hatte. Dieses Wesen war aus dem Grab zurückgekehrt. Es war ein Wie‐ dergänger. Die Erinnerung an ein Wort des Mannes aus Sty‐ mead drang in meinen Verstand. Lieber in Ruhe las‐ sen! Diese Erinnerung und das Aufflackern meiner Vernunft führten zu einer Reaktion. Mit dem Ver‐ stand hatte sie nichts zu tun. Mir wurde nicht be‐ wußt, was sich zutrug. Ich suchte nach einem Ge‐ sicht, sah nur einen unruhigen Schleier weißer Teilchen an der Stelle, wo sich ein Gesicht hätte zeigen müssen – und machte ein Kreuzzeichen. Eine instinktive Geste bei denen, die im Bereich des modernen Christentums aufgewachsen sind. 107
Mit einer starren Bewegung schlug ich vor mir das Kreuz. Und die Entwicklung kam zum Stillstand. Keine Bewegung des weichen Fleisches unter dem Brokat. Es war, als hätte ich nun meinerseits das Wesen vor mir gelähmt. Ich zitterte. Und Sally stieß leise einen unheimlichen Laut aus. Ich hatte nicht gemerkt, daß auch sie auf das We‐ sen aus der verfallenen Kirche starrte. Ich warf ei‐ nen Seitenblick auf sie. Ihr Gesicht hatte einen star‐ ren, erregten Ausdruck. Der gleiche Ausdruck, mit dem sie mir die Bedeutung des Kneipennamens erklärt hatte. In ihren Augen stand ein Leuchten, das mir zeigte, daß sie von ganz anderen Gefühlen als ich durchdrungen war. Sie sah überhaupt nicht erschrocken aus. Wieder wurde ich von Entsetzen gepackt. Sally war von dem gesichtslosen Wesen im Umhang wie hypnotisiert. Und ihr begeisterter Blick gab der Er‐ scheinung anscheinend neue Kraft. Die blaugeä‐ derte Hand hob sich und machte eine kleine einla‐ dende Bewegung. »Sally« Ich schrie ihren Namen mit aller Kraft heraus. Ich spürte, wie sie zusammenzuckte.
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Das Mondlicht war eine leuchtende, tödliche Flut, war heller als je zuvor. Ich starrte in Sallys Gesicht. Sie schien zu blinzeln und fast von dem angest‐ rengten, halb blinden Starren loszukommen, mit dem sie auf die schreckliche Gestalt schaute, aber dann überließ sie sich wieder völlig dem faszinie‐ renden Einfluß. Ich spürte, wie sich ihr schlanker Körper bewegte. Und ihre zarten Arme kamen un‐ ter der warmen Decke hervor und erwiderten die einladende Geste des seit langem toten Wesens aus dem Grab. Ich war zu entsetzt, um das Kreuzzeichen zu wie‐ derholen. Mein Mädchen, meine Frau, meine Sally antwortete der Einladung dieses Wesens. Ich wandte mich jetzt ihr zu und sah den verblüffend konzentrierten Ausdruck auf ihrem Gesicht. So hatte sie noch nie ausgesehen. Ich kannte sie in den ekstatischsten und intimsten Augenblicken, hatte sie auch da angesehen, aber das hier war etwas anderes. Und ich verlor meinen ganzen Mut, als ich sah, wie sehr das wilde Entzücken sie gepackt hielt. Zwischen dem nächtlichen Geschöpf und Sally be‐ stand eine Beziehung, die ich zugleich abstoßend und beängstigend fand. Ich spürte aber, daß ich 109
entfernt mit dieser Möglichkeit gerechnet hatte. Sally hatte eine lebhafte Phantasie, malte luftige Bilder von Geisterpferden, wollte manchmal plötz‐ lich allein in alten Burgen und längst vergessenen Ruinen herumstöbern. All das waren Anzeichen für die Besessenheit und Erregung, die sie jetzt zeigte. Ich wartete erschrocken und hilflos ab. Ich konnte mich nicht überwinden und ein zweites Mal schreien. Ich wußte, daß noch Schrecklicheres geschehen würde, und blieb steif und stumm wie in der Nacht zuvor. Ich war zu entsetzt, um ein‐ zugreifen, auch wenn es um Sally ging, die im Bann dieses Wesens stand, das aus einer stillen und verwunschenen Ruine stammte. Sally hatte die eher gezwungene Art eines Schlaf‐ wandlers. Es war, als spüre sie die ersten Anzei‐ chen von Krämpfen. Wenn sie sich bewegte, führ‐ ten ihre Muskeln kaum zusammengehörige Bewe‐ gungen aus; sie arbeiteten fast mit der ruckartigen Präzision einer Maschine. Sie stieß die Decken fort. Das Wesen im Mondlicht wartete. Im harten Mondlicht senkten sich sanft die weißen, zart geäderten Arme. In Kopfhöhe schwebte ein seltsamer Nebel. Kein Gesicht. Kalt und stumm
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wie eine Winternacht auf einem Friedhof. Und Sal‐ ly in der unbekannten Gewalt. Einige Sekunden lang konnte ich nicht erkennen, was sie tat. Als Sally aus dem Bett glitt und einen Schritt auf das trügerische Wesen zumachte, hatte sie mir den Rücken zugekehrt. Ich blickte auf die Falten des Nachthemds und bewunderte ihre herr‐ liche Figur. Sie beugte sich über das Bett, und ich spürte, wie ein Gewicht von meinen Beinen ge‐ nommen wurde. Ich sah, was sie getan hatte. Sie trug das zweite Kätzchen in den Händen. Die Schwester des armen Geschöpfs, dessen Kehle vor zwei Nächten vom nächtlichen Untier durchbissen worden war. Es war grotesk, wie jetzt die Ereignis‐ se unvermeidlich aufeinanderfolgten. Sally richtete den Blick auf die anmutige, mondbe‐ schienene Gestalt. Und das Kätzchen schlief noch immer. Ein paar Sekunden lang hielt sie es aus‐ gestreckt vor sich. Dann ging sie weiter, und das Kätzchen stieß ein Miauen aus, den erbärmlichsten Laut, den ich je gehört habe. Sally ging jedoch wei‐ ter und hob das kleine Pelzbündel an ihre Brust, tröstete es kurz und streckte dann die Arme aus.
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Das kleine Wesen blickte auf die schreckliche wei‐ ße Erscheinung. In meinem Gehirn jagten sich die Gedanken. Mir fiel die durchbissene Kehle des anderen Kätzchens ein, auch das rote Blut auf dem wächsernen Abbild des nächtlichen Untiers. Ich dachte an die grausa‐ men Reißzähne und an die übergroße Schnauze. Trotz meines Entsetzens lehnte ich mich auf. 71 Was ich für Sally nicht fertigbrachte, schaffte ich für das hilflose Geschöpf in ihren Händen. Ich bezwang mein Entsetzen und setzte meine steifen Glieder in Bewegung. Zum Kätzchen ging ich nicht – das überstieg meine schwache Entschlos‐ senheit. Auch Sally war nicht mein Ziel – dabei hätte ich mich dem schwebenden, realen, bösen Wesen nähern müssen. Nein. Mein Verstand arbei‐ tet langsam und ohne starke Einbildungskraft, aber ich habe eine praktische Ader. Ich wußte, was zu tun war, und ich wußte, wozu ich fähig war. Im Mondlicht lag die Gefahr. Das Mondlicht ließ das Scheusal aus seinen vermoderten Leintüchern auferstehen. Der helle Lichtstrom gab dem nicht‐ toten Wesen Körperlichkeit: so etwas wissen wir nicht nur aus Horrorfilmen. Nein. Es ist ein In‐ stinkt. Dem falschen Licht der Nacht mißtrauen 112
wir. Das Mondlicht ist gefährlich, tödlich, von Übel. Ich mußte verhindern, daß das Licht auf Sal‐ ly und das Kätzchen fiel. Und vor allem nicht mehr auf die scheußliche, gesichtslose Erschei‐ nung. Ich kehrte der unheimlichen Szene den Rücken und stolperte zur Wand. Wir hatten dort eine Lei‐ ter stehen, die für meine Zwecke hoch genug war. Ich spürte, wie meine Gliedmaßen zuckten, teils weil sie verkrampft waren, zum Teil wegen der Kälte. Meine Gedanken wirbelten durcheinander, aber der innerste, wohlausgewogene Kern prakti‐ scher Verhaltensweisen und Instinkte hielt mich aufrecht, sowohl im wörtlichen Sinn während ich die Leiter hinaufwankte, als auch im übertragenen, weil ich allen möglichen zusätzlichen Ängsten ausgesetzt war, da ich mich jetzt gegen das Scheu‐ sal gestellt hatte, das uns heimsuchte. Ich stellte mir die weißen Hände und das leere Gesicht vor, wie sie auf mich losgingen, und als sich mein Haar im Nacken sträubte, glaubte ich fast, mich hätten lange Reißzähne gestreift. Mir fiel das kriechende Nachttier ein, das sich so widerlich gewunden hat‐ te. Aber ich führte aus, was ich mir vorgenommen hatte. 113
Die alten Fensterläden waren jahrelang nicht mehr geschlossen worden. Und doch bewegten sie sich in den verrosteten Angeln, als ich an dem alten Ei‐ chenholz zerrte. Grimmige Freude überkam mich, weil ich mich gegen das Wesen gestellt hatte. Ich übertreibe ‐ich hatte nämlich kaum die scheinbare Sicherheit des Bettes zu verlassen gewagt, und als ich es tat, war ich sehr darauf bedacht, das Wesen nicht voll anzublicken. Aber schließlich hatte ich all meinen Mut oder meine Verzweiflung zusam‐ mengenommen und mich gegen das gestellt, was es da an schauerlichen Ritualen vorhaben mochte. Ich war in einem nervösen, überdrehten Zustand, der nicht nur auf diesen kleinen Triumph zurück‐ zuführen war. Die Läden waren zu, und der Mondschein war so plötzlich und vollständig ab‐ geschnitten, wie ein Blitz, der am Horizont ver‐ lischt. Das Kätzchen winselte. Mehr hörte ich nicht, da ich das Gleichgewicht verlor. Ich stürzte in die schwarze Tiefe des Raums. In meinem Fall hatte ich noch die Zeit, an das glänzende, todbringende Wesen zu denken. Viel konnte ich nicht denken, aber es reichte. Ich schlug mit den Armen um mich. Dann prallte ich auf und wurde bewußtlos. 114
8.
Ich muß beträchtliche Zeit bewußtlos gewesen sein, da mir bis in die Knochen kalt war, als mich mein Stöhnen schließlich weckte. Zuerst konnte ich mich nicht erinnern, was geschehen war, ich muß also eine schwache Gehirnerschütterung ge‐ habt haben. Als ich mich bewegte, zuckte ein unangenehmer Schmerz durch mein rechtes Bein. Ich streckte eine Hand aus und berührte die Holz‐ leiter. Licht, das durch Ritzen an der Tür und dem Fenster über mir drang, zeigte an, wo ich mich be‐ fand. In der Nähe des Betts. Ich sah mich um und blickte in die hellen Augen des Kätzchens, das mir erwartungsvoll entgegensah. Ich stieß einen Ruf der Erleichterung aus. Dabei fiel mir die ganze schreckliche Szene wieder ein. Tödlich weißer Mondschein, ein böses, zau‐ berhaftes Wesen frisch aus einem uralten Grab – und Sally, wie sie atmendes Tierleben zu ihm hint‐ rägt. Mein Schädel dröhnte vor Schmerz. Ein bitte‐ rer Geschmack im Mund. Fast hätte ich mich im Liegen übergeben. Das Kätzchen rutschte die Decke hinunter und kam auf mich zu. Seine Zutraulichkeit überwältig‐ 115
te mich. Ich hätte weinen mögen, als es mir mit seiner rosa Zunge eine Hand leckte. Und ich wuß‐ te, daß jetzt keine Gefahr bestand – jetzt am Tag nicht. Die Nicht‐Toten gehen nur nachts aus. Dann fiel mir Sally ein. Sally! Ich stand auf und versuchte es mit dem verletzten rechten Bein. Es trug mich, war also nicht gebro‐ chen, ja noch nicht einmal schlimm verstaucht. Ich knipste die Nachttischlampe an und fragte mich, was ich zu Gesicht bekommen würde. Sally schlief. Ich habe schon erwähnt, daß sie schön ist. Das ist sie wirklich. Große Augen, eine hübsch geformte Nase, ein festes Kinn, hohe Backenknochen, und über allem aschblondes, glänzendes Haar, das al‐ lein schon eine Pracht ist. Das leise Lächeln, das sich jetzt zeigte, hatte ich allerdings noch nie gese‐ hen. Die Mundwinkel hatten sich ganz leicht gekräu‐ selt, aber doch so, daß sie spöttisch, unaufrichtig und wissend aussah. Sie hatte sich jedoch ihre Schönheit bewahrt. Sie war immer noch Sally und so schön, daß mein Herz einen Sprung machte, als
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ich sah, wie sich ihre Brust unter der Decke hob. Die Schönheit war aber nicht mehr makellos. Sie hatte das Böse der Nacht gesehen. Es hatte ihr kein Entsetzen eingejagt. Sie war nicht mehr das, was sie gewesen war. Ihr Lächeln hatte an Un‐ schuld verloren. Ich zitterte beim Gedanken an ih‐ re Gefährdung, und sie erwachte. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. »Andy, Liebling! Hast du schon Tee gemacht?« Ich hatte Überraschung, Angst, sogar Entsetzen erwartet. Irgendeine Reaktion auf das, was sie er‐ blickt hatte. Ihr alltäglicher Wunsch warf mich um. »Tee?« »Bitte auf indische Art. Nur Milch und kein Zu‐ cker.« »S‐s‐s‐sally?« »Wie spät ist es, Andy? Es ist so dunkel hier drin.« Ich zeigte in die Höhe. Sie mußte es doch wissen? »Wer hat die verdammten Dinger zugemacht?« »Ich natürlich.« »Die machen das ganze Zimmer kaputt. Hab ich schon gesagt, als wir einzogen. Die halten das Licht ab.« »Ja.« Sie wußte es. Das war doch klar, oder? 117
»Meine Güte, steh nicht so rum. Du siehst verfro‐ ren aus.« »Ich bin ziemlich lang nicht im Bett gewesen.« »Dann mach Tee oder komm ins Bett. Am besten beides.« »Schön.« Ich konnte sie nicht berühren. Sie trieb irgendein entsetzliches Spiel mit mir. Das war doch klar? »Roll dich zusammen, Andy, du bist kalt wie der Nordpol. Das nenn’ ich mir Tiefkühlfleisch.« Ich ließ zu, daß sie sich mit ihrem weichen Körper an mich preßte. »Geht es dir nicht gut, Liebling? Konntest du nicht schlafen? Andy, du hast doch nicht schon wieder Alpträume gehabt?« »Doch, ein bißchen schon.« Ich zögerte. War es möglich, daß ich mir alles nur eingebildet hatte? Nein! Vielleicht doch? Und wenn nicht, dann muß‐ te sie sich doch an etwas erinnern? Mir fielen ihre steifen Bewegungen ein. War sie schlafgewandelt? »Hast du geträumt?« fragte ich. »Von was?« In meiner verzweifelten Wut sprudelte ich die Worte hervor.
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»Von einer Frau wie Sybil! Von einer Frau aus Mondlicht! Von einer Frau, die dich oder das Kätz‐ chen haben wollte – irgend etwas, das voller Leben und Blut ist, Sally! Mein Gott, Liebling, erinnerst du dich nicht, daß du auf sie zugegangen bist? Ich hab dich gesehen, Sally!« »Du hast mich gesehen?« »Ja!« »Tut mir leid, Andy, ich kann dir nicht folgen.« »Sally, ich bin nachts aufgewacht und sah dich aus dem Bett steigen, das Kätzchen hochheben und zu der Frau bringen.« Die Worte klangen absurd. Jetzt am Morgen erga‐ ben sie überhaupt keinen Sinn. Mir fiel ein, wie dumm ich mir nach der ersten Erscheinung vorge‐ kommen war – wie ich halb an sie glaubte, und wie die andere Hälfte in mir fast nur Verachtung empfand. Sally hielt meine Worte nicht für absurd. Sie war ganz ernst. »Du hast das wirklich gesehen, Andy?« »Ja.« »Und ich bin auf einen Geist zugegangen?« »Kein Geist. Die Frau war real. So real und körper‐ lich wie ich.« »Sybil?« 119
Sie sprach den Namen wie eine Anrufung aus. »Ja, sie. Sally, um Gottes willen, dieses Wesen hat es auf uns abgesehen.« Sie lächelte. In diesem Lächeln erkannte ich eine schwache Ähnlichkeit mit dem verschlagenen, wissenden Schwung ihrer vollen Lippen, wie ich ihn in der Nacht gesehen hatte. In diesem Augen‐ blick kam die Angst, nicht um Sally, sondern vor Sally. Das war jedoch nur der Anfang. Zunächst hatte ich nur den überwältigenden Wunsch, sie zu beschützen. Zuerst einmal mußte ich ihr die Ge‐ fahr klarmachen. Anscheinend machte das keinen Eindruck auf sie. »Syb schläft also nicht allzu gut«, sagte sie leicht‐ hin. »Ich glaube, sie war zu ihrer Zeit ein munteres Mädchen.« »Sally, Scherze sind hier nicht angebracht. Wenn du dich nicht an das erinnern kannst, was vorge‐ fallen ist, dann bist du im Schlaf gewandelt. Ent‐ weder das, oder sie hat dich hypnotisiert.« »Sie mich hypnotisieren! Andy, also wirklich!« »Du hast ihr das Kätzchen gebracht!« Sally hörte auf zu lächeln. »Du meinst doch nicht etwa, die Ereignisse von vorgestern nacht...« 120
»Nein! Ich weiß nicht, was vorgestern nacht pas‐ siert ist! Ich weiß nur, daß auf dem Abrieb an der Schnauze des Hundeviehs Blut war und daß ich das Wesen gestern verbrannt habe. Ich behaupte nicht, daß du etwas damit zu schaffen hattest und ihr in der Nacht die Pelzprinzessin gebracht hast – auf jeden Fall nicht absichtlich! Aber ich glaube, du stehst unter einem schlimmen Einfluß. Wir sollten die ganze Sache teuflisch ernst nehmen.« »Das tust du doch schon, Andy.« »Ja.« Sie legte einen Arm um mich. »Du hast zuviel gearbeitet. Und dann dieses Dorf in den Bergen. Leute, die die Gegend nicht ge‐ wöhnt sind, haben manchmal solche Erscheinun‐ gen. Man kann sich schnell etwas einbilden; mir geht’s zum Beispiel so.« »Das hat mit Einbildung nichts zu tun.« »Vielleicht Alpträume? Oder es ist die alte Scheu‐ ne? In ihr klingt die ganze Vergangenheit nach. Andy, der menschliche Geist ist eine seltsame Sa‐ che. Wenn du schläfst, nimmst du vielleicht die Schwingungen hier auf.« Ich konnte nicht glauben, daß sie mir etwas vor‐ machte. Sie sprach leise und ernst, eine gute 121
Freundin und Geliebte. Ich hatte sie falsch gese‐ hen. Das Lächeln bedeutete nichts. Und doch hatte ich die Frau aus dem Grab gese‐ hen. Mich konnte nichts davon abbringen – ich hatte die weiße Hand winken sehen. Ich sagte, was ich zu sagen hatte. »Sally, es ging los, als das Mondlicht auf... auf den Hund fiel. Das ist kein Hund! Da bin ich sicher. Er sieht aus wie ein Wolf.« »Hübsch ist er nicht. Warum hat Syb übrigens ge‐ stern ihren Schoßhund nicht bei sich gehabt? Hast du nur sie gesehen?« »Sie allein hat mir schon gereicht.« Ich hatte gar nicht an das Untier gedacht. Ich schüttelte den Kopf und mußte mich hinlegen, so wütete der Schmerz in ihm. »Tut der Kopf arg weh?« »Ich bin von der Leiter gefallen.« »Armer Kerl! Andy, das muß eine Nacht für dich gewesen sein!« Ich überließ mich wieder ihren trostreichen Ar‐ men. »Ich bin die Leiter hinuntergefallen, Sal. Ich hatte eben die Läden zugemacht.« »Wirklich?« 122
»Das Mondlicht war’s. Zuerst fiel es auf den Hund. Da ging alles los. Und vorgestern nacht fiel es auch auf die Frau.« »Und du hast das Mondlicht ausgesperrt?« »Es macht sie lebendig.« »Sie?« »Sal, das Kätzchen hatte keinen Tropfen Blut mehr im Körper!« Sie war nicht entsetzt. Meine Zweifel meldeten sich wieder. Gewöhnlich reagieren Frauen beson‐ ders heftig, wenn es um Verletzungen, Tod, Ver‐ stümmelungen und vor allem Blut geht. Sie be‐ trachtete das Kätzchen auf der Decke und stieß es mit einem Finger an. Es erwiderte ihren Blick, miaute und spie ihr mit voller Absicht ins Gesicht. Sie lachte, aber ich hatte Angst. »Sal, einem der Lämmer von Judson wurde die Kehle durchgebissen. Ich glaube nicht, daß es Cor‐ nelius war.« »Er ist jetzt schon seit zwei Nächten fort.« Mir fiel es nicht sofort auf, aber sie hatte den lie‐ bestollen Hund nicht in Schutz genommen. »Sal, ich glaube, das Mondlicht hat sie lebendig gemacht.« 123
»Sie?« wiederholte sie. »Die Frau. Ihr Tier.« »Mondschein auf einem Bild – auf ei‐ nem Metallabrieb!« Ich ließ den Gedanken fallen. Wie Sally das sagte, klang es, als habe ich einen verrückten Verdacht geäußert. Sally hat wirklich große Macht über mich. Sie hat die Fähigkeit, meine Gedanken in neue Bahnen zu lenken, damit ich ihren manchmal seltsamen Einfällen folgen kann. Und meinen düs‐ teren Vorstellungen begegnete sie mit Verachtung. »Ich weiß, daß das weit hergeholt klingt, Sal...« »Es klingt idiotisch. Ich mache Tee.« »Sal?« Sie füllte den Kessel. »Ja?« »Bist du wieder dort gewesen?« »Wo, Andy?« »In Stymead, bei der Ruine.« »Nein, warum auch?« »Aber du hast dir etwas darüber herausgesucht.« »Ja, allerdings. In einer Geschichte des Berglandes aus dem neunzehnten Jahrhundert steht ein biß‐ chen drin. Die Kirche von Stymead war eine Zeit‐ lang Klosterkirche, dann wurde sie umgebaut und 124
diente als Pfarrkirche. Ab Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wurde sie von niemandem mehr be‐ nutzt und verfiel.« »Über sie stand nichts darin?« »Über Sybil?« »Natürlich über Sybil.« »Nein. Warum auch?« War sie einfach ahnungslos? »Ich hätte gedacht, man würde wenigstens die Familie erwähnen.« »Hat man aber nicht, Liebling.« Das Kätzchen miaute von der Tür her, kam aber nicht näher. Sally bemerkte es anscheinend nicht. »Ich hätte gedacht, daß Sybil – und ihr Alf – er‐ wähnt wären.« »Trink deinen Tee. Du bist ja ganz besessen von der Sache, Andy. Warum machst du nicht einen langen Spaziergang? Geh nach Mam Tor hinauf. Da wirst du deine Hirngespinste los. Du siehst nicht gerade gut aus.« »Alles in Ordnung mit mir.« Ich zitterte leicht. Ich war immer mehr davon überzeugt, daß Sally ganz versessen auf das scheußliche Wesen war, das uns heimsuchte. Und ich wußte, was ich zu tun hatte. 125
Ich gab vor, einen Spaziergang machen zu wollen, war aber so vorsichtig hinzuzufügen, daß ich ein paar Leute aufsuchen wolle, um mich nach unse‐ rem streunenden Hund zu erkundigen. »Andy, mach dir nicht so viele Sorgen«, sagte Sal‐ ly. »Ich komm schon klar, Liebling.« Ich wollte ganz sichergehen. Ich hatte instinktiv gewußt, wie man die Erscheinung der Nacht ab‐ wehrte – mit der Kraft des Kreuzes. Aber um si‐ cherzustellen, daß es uns nicht weiter plagte, muß‐ te ein Sachverständiger gefragt werden. Ich wollte den hiesigen anglikanischen Pfarrer aufsuchen. Ich kannte ihn nicht persönlich. Wir gingen nicht in die Kirche, obwohl Sally ziemlich streng im ang‐ likanischen Glauben erzogen worden war. Seit sie auf die Kunstschule gegangen war, hatte sie sich von allem gelöst, und meine Eltern waren eher Nichtdenker als Freidenker. Ich vertraute jedoch darauf, daß uns der Priester helfen würde. Aus der Ferne sah er ernst und würdevoll aus. Aus der Nähe hatte ich ihn noch nicht kennengelernt. Er fuhr einen Mercedes, und ich hatte gehört, daß er über ein beträchtliches Privatvermögen verfügte. Ich klopfte an die Tür des Pfarrhauses. Während ich wartete, hatte ich Muße, das Gebäude zu be‐ 126
trachten. Es lag in einem hübschen parkähnlichen Garten, weitab von der befahrenen Straße nach Sheffield. Die Kirche sah nach dreizehntem, viel‐ leicht frühem vierzehnten Jahrhundert aus. Ihr eckiger Turm war typisch für Derbyshire. Kaum eine Verzierung, keine behauenen Stützpfeiler und über dem Eingang nur ein Relief von Blüten. Das Pfarrhaus war aufwendiger gebaut – oder viel‐ leicht nur auffälliger. Viktorianische Neugotik mit fialenbesetzten Türmchen, gußeisernem Zierat auf dem Dach, einer großen hölzernen Vorhalle, die vom Holzwurm befallen war, und Butzenscheiben. Auf einer Tafel sah ich den Namen des Pfarrherrn. I. C. J. – Cunningham, M. A. Ich klopfte wieder, da mir die lange Wartezeit mißfiel. Ich brauchte zehn Minuten, um den Pfarrer von St. James aufzuscheuchen. Als er auftauchte, wußte ich, daß ich einen englischen Exzentriker aufgestö‐ bert hatte. Wir züchten solche Typen, und sie ha‐ ben oft mit der Jurisprudenz, der Politik und der Armee zu tun. Und mit der Kirche. Ich hatte schon einige Männer dieses Schlages kennengelernt, aber der hier war wirklich ein erstklassiges Exemplar. »Wissen Sie nicht, daß es erst zehn Uhr ist!« Er war groß, dürr, alt und aufgebracht. 127
»Ja ja, Mr. Cunningham.« »Was wollen Sie also?« »Ich möchte Sie kurz sprechen.« »Ich bin noch nicht einmal angekleidet!« Er trug einen zerschlissenen Morgenmantel und einen feuerroten Schlafanzug. Seine großen gelbli‐ chen Füße waren nackt. »Ich kann warten, Sir. Es ist wichtig.« »Das sagen alle.« »Aber es stimmt, Mr. Cunningham.« »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht! Meine Haushälterin ist fortgegangen, ohne mich zu be‐ nachrichtigen.« Er hatte offenbar Probleme. Ich aber auch. »Es dauert nicht lange, Sir. Ich brauche Rat in einer religiösen Angelegenheit.« »Kaffee möchten Sie keinen? Das Geschirr ist nicht sauber, sie hat nicht einmal abgewaschen!« »Nur einen Rat.« »Hören Sie, ich habe Ihnen einen Kaffee angebo‐ ten. Ich mache keinen Abwasch, ich nicht.« Er beäugte mich, als erwarte er Widerspruch. »Ich möchte keinen Kaffee.« »Auch keinen Tee?« »Nein, Sir.« 128
»Keinen Sherry?« »Schon gar keinen Sherry.« Seine Hände zitterten, und seine Augen waren so wäßrig und rot, daß ich an durchzechte Nächte denken mußte. »Haben Sie nicht ein paar Minuten für mich Zeit, Sir? Ich kann warten, bis Sie sich angezogen haben. Ich glaube, wir brauchen einen Exorzismus.« »Einen was? Was für einen Exzeß?« Er kratzte sich geistesabwesend den kahlen Kopf. Ich hätte am liebsten aufgegeben, machte jedoch trotz seiner lächerlichen Erscheinung und meines schwindenden Selbstvertrauens weiter. Ich wie‐ derholte also, daß wir einen Exorzismus brauch‐ ten, und diesmal hörte er richtig. »Sie sagen Exorzismus! Das wollen Sie also! So et‐ was geht aber nicht. Nicht um zehn Uhr morgens.« »Es war gestern nacht. Ich habe gestern nacht dies – dieses Gespenst gesehen.« Er schloß kurz die Augen. Ich wußte, er war dabei, mich weit weg zu wünschen. Schließlich machte er die Augen wieder auf. Er sah enttäuscht aus, als er mich wieder ins Auge faßte. »Es fing mit dem Metallabrieb an«, begann ich, aber weiter kam ich nicht. 129
»Metallabrieb!« Der Pfarrer von St. James schrie dieses Wort wie ein Verrückter heraus. »Sie kommen daher und wollen in meiner Kirche mit Ihren Orgien anfangen! Nein! Im Namen, von Sankt Michael und allen Engeln, nein! Nicht, so‐ lange ich die Kirche noch verteidigen kann. Und ich kann das noch. Sehen Sie diesen Morgenman‐ tel? Sie Barbar! Den habe ich schon in den Schüt‐ zengräben getragen. Ich habe so viele Tote um mich herum gesehen, wie eine Hündin in Port Said Flöhe hat. Ich habe die Kriege mitgemacht, und in meinen Armen ist noch Kraft – in meiner Kirche werden Sie nicht wieder Speck und Eier braten!« Mir war übel vor Erschöpfung, und am liebsten hätte ich mich selbst ausgelacht. Ich hatte einen Ir‐ ren um Hilfe gebeten. »In meiner Kirche keine Metallabriebe mehr! Nicht einen von diesen Kerlen, diesen Schmutzfinken. Keinen! Und wenn ich sie selbst aus dem Tempel jagen muß!« Als ich genauer hinhörte, mußte ich meine Mei‐ nung ändern. Ich hatte gerüchteweise davon ge‐ hört. Studenten, die Metallabriebe machten und sich dabei schlimm aufführten, waren eine Plage. 130
Vielleicht hatte dieser scheinbar Wahnsinnige sei‐ nen Teil abbekommen. »Ich möchte gar keinen Metallabrieb machen!« brüllte ich. »Ich möchte nur wissen, wie man ein Gespenst los wird.« Er sah mich an und zog den Gürtel seines Mor‐ genmantels enger. »Sind Sie Journalist?« »Nein, Sir.« Ich beruhigte mich. »Ich bin Ladenbe‐ sitzer.« Das klang anständiger als Künstler. »Ich habe am Rand des Dorfs einen Andenkenladen. In der Scheune, die Judson gehört.« »Dann gehören Sie zu meiner Gemeinde. Ich den‐ ke, dann muß ich mir anhören, was Sie zu sagen haben. Was glauben Sie, wie kann ich Ihnen hel‐ fen?« »Ich habe in der Ruine von Stymead einen Metall‐ abrieb gemacht. Eigentlich war es Sally. Sie ist mein Mädchen.« »In Stymead?« Er war jetzt auch viel ruhiger. »Ja, Sir. Sally mag Ruinen. Sie entdeckte unter dem Schutt eine Bronzetafel und machte einen Abrieb davon.« »Natürlich ohne Erlaubnis!« 131
»Da war niemand, den man fragen konnte.« »Ach!« »Der Abrieb zeigte einen Ritter und seine Dame. Und einen Hund. Auf den schien der Mond, und da wurde er lebendig.« »Inder Kirche?« »In der Scheune von Judson.« Spöttisch gab er sich nicht, aber ich merkte, daß er mir keine Hilfe sein würde. »Sie glauben also, in der Scheune ist ein Ge‐ spenst?« »Kein wirkliches Gespenst. Sieht mehr wie ein richtiger Körper aus. Wenn der Mondschein he‐ reinfällt, nimmt es Gestalt an.« »Wann war das?« »Diese Woche zweimal.« »Was haben wir heute für einen Tag?« Er wußte wirklich nicht, was für ein Tag war. Ein Spinner. »Donnerstag.« »Der wievielte?« »Heute ist der dreißigste April.« Anscheinend hatte er mich nicht gehört. Ich warte‐ te. Ich dachte, er habe mit den Nachwirkungen ei‐
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nes Katers zu kämpfen und werde nichts mehr sa‐ gen. »Gehen Sie!« brachte er schließlich heraus. »Aber ich brauche doch Hilfe! Sie sollten helfen! Das ist Ihre Pflicht!« Und mir fielen meine Ängste und der widerliche Gifthauch und der seltsam eks‐ tatische Ausdruck auf Sallys Gesicht ein. »Gott zu dienen ist meine Pflicht.« »Dann helfen Sie mir.« Cunningham blickte mir zum erstenmal in die Au‐ gen. Er mochte exzentrisch sein – verrückt war er nicht. Er wußte, was er sagte und tat. »Warum glauben Sie, ich könnte Ihnen helfen?« »Aber das können Sie doch! Ein Priester kann ei‐ nen bösen Geist austreiben!« »Ich kann Gott dienen, aber Seine Feinde kann ich nicht vernichten, junger Mann. Die Kirche ist heute nur eine winzige Insel in einer Welt, die von Sünde und Übel regiert wird. Jetzt haben die Teufel das Ruder in der Hand.« »Die Kirche konnte doch immer gegen die Teufel kämpfen.« Er schüttelte den Kopf. »Es gibt jetzt zu viele. Zu viele, und nicht genug Glauben. Als die Kirche stark war, konnte sie ge‐ 133
gen alle kämpfen, gegen alle Feinde Christi! Aber was kann ein alter Mann gegen die Macht des Teu‐ fels ausrichten?« »Dann sagen Sie mir, wie ich mir selbst helfen kann.« Müde und mitleidig schüttelte er den Kopf. »Sie sind vielleicht wahnsinnig, junger Mann, oder Ihnen steht etwas Schreckliches bevor. Tun Sie auf jeden Fall, was ich Ihnen schon gesagt habe – gehen Sie fort! Denken Sie daran, die nächtlichen Wesen sind sehr schnell, aber weit können sie sich nicht bewegen. Verschwinden Sie also, verschwinden Sie noch vor heute abend.« Als ich am Lieferwagen stand, blickte ich zurück. Cunningham sah mir von der morschen Vorhalle aus nach, ein alter Mann, der zuviel trank und nicht mehr kämpfen konnte.
9.
Ich lachte dann doch ein wenig. Zum Teil wegen der Mätzchen des alten Priesters, zum Teil, weil ich mir vorstellte, wie er die Studenten, die ihre Metallabriebe machten, vor seinem Altar beim 134
Eierbraten erwischte. Und zum Teil wegen der schieren Vernunftwidrigkeit dessen, was mit mir und Sally geschah. So etwas wie das nächtliche Ungeheuer konnte es gar nicht geben. Wir lebten im zwanzigsten Jahr‐ hundert. Wir waren normale Leute, Sally und ich – nein, normal war sie eigentlich nicht, aber sie war keine närrische Mystikerin, die sich auf einen fau‐ len Zauber einließ. Wir hatten ein ungewöhnliches Leben geführt: Schule, College, dann der Versuch, ein Leben zu finden, das uns gefiel. Wir hatten Probleme mit der Welt, wie die meisten Leute. Wir brauchten ein bißchen mehr Geld, als das, was wir verdienen konnten, und als Folge davon war unser Dasein leicht beengt. Sonst gab es nur noch das Problem mit der Starrköpfigkeit Judsons, der uns keinen richtigen Mietvertrag geben wollte. Ge‐ spenstererscheinungen konnten doch so ange‐ nehm, normalen Aussteigern wie uns nicht passie‐ ren! So etwas gab es nur in Filmen (und wer hat schon mal einen guten gesehen, in dem man sich wirklich vor Entsetzen schüttelt?), und in den Horrormagazinen. Gespenster mit langen Zähnen und irren Augen und keinem Fetzen Hirn in den 135
langen Schädeln, sonst würde man sie nämlich nicht so leicht zur Strecke bringen. Sie alle waren dem neunzehnten Jahrhundert entsprungen: in der durchorganisierten Welt von heute war kein Platz für sie. Das Ganze war so absurd, daß ich lachen mußte. Mir fiel ein, daß der Priester nicht gelacht hatte. Es hatte mich natürlich ganz schön gekränkt, als er mich für einen Barbaren hielt, und dann hatte er mich noch auf den Arm genommen. Er hatte mich aber nicht mit ein paar gewählten Sprüchen von oben herab abgespeist und nicht über Aspekte des menschlichen Geistes geredet, von denen wir we‐ nig wissen, mein Junge. Und er hatte auch nicht zynisch gefragt, ob ich vielleicht LSD genommen hätte. Er hatte mir ein paar ziemlich konkrete Fra‐ gen gestellt und mir dann einen Rat gegeben. »Gehen Sie fort.« Er hatte das durchaus ernst gemeint. Er kannte das Teuflische und war bereit, meine Geschichte zu glauben. Als ich in dem alten Lieferwagen herum‐ fuhr, ohne genau zu wissen, wohin ich wollte, ließ ich mir seine Antworten durch den Kopf gehen. Nach etwa einer halben Stunde, in der man in den
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Bergen sowieso nicht sehr weit kommt, faßte ich in der Angelegenheit einen Entschluß. Ich glaubte, was ich gesehen und gespürt hatte. Ich wurde von einer schrecklichen Erscheinung heim‐ gesucht, und der Priester hatte sicher recht, wenn er sagte, wir sollten uns aus ihren Jagdgründen entfernen. Wir hatten das Wesen mit dem Metall‐ abrieb in unsere Scheune geholt. Zu verschwinden wäre nur vernünftig. Ich überlegte, ob ich noch weitere Priester in der Gegend von Sheffield aufsuchen sollte, einen Mann vor allem, der in einem Ort namens Hoggins einen Exorzismus durchgeführt hatte. Aber die Umstände waren so unsinnig gewesen, daß ich kaum noch einen Gedanken daran verschwendete. Die Geschichte war an den Haaren herbeigezogen und hatte durch den Bericht sicher nicht gewon‐ nen. Ich glaubte nicht, daß Mrs. Lucie Smith, die Friedensrichterin in jenem Ort, vom Teufel beses‐ sen war. Ich wollte mich nicht von einem rosigen irischen Priester, der nur verstohlen lächelnd zu‐ hören und mir den Rat geben würde, einen Psy‐ chiater aufzusuchen oder von meiner Sucht run‐ terzukommen, lächerlich machen lassen.
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Andererseits wollte ich nicht einfach nur nichts tun. Ich glaube nicht, daß ich bewußt den Ent‐ schluß faßte, den Mann mit dem narbigen Gesicht aufzusuchen, aber es war wie selbstverständlich, daß ich schließlich die gewundene Straße entlang‐ fuhr, die nach Stymead führte. Ich wollte keines‐ wegs jemanden aufsuchen, der sich nicht in der Angelegenheit auskannte. Ich wußte, daß der Mann trotz seiner Einsilbigkeit viel darüber wußte. Als ich zum »Schwarzen Alf« kam, war gerade Öffnungszeit. Im Fenster des Dorfladens sah ich ein Kindergesicht, das aber sofort verschwand. Sonst war niemand zu sehen. Heute rauchte nicht einmal der Kamin, der anzeigte, daß der Ort be‐ wohnt war. Die Kneipe blieb geschlossen, ganz gleich, wie heftig ich an dem schweren Eisenriegel zerrte. Ich blickte auf die Uhr. Zehn nach elf. Ich sah die Dorfstraße hinunter und entdeckte wieder ein Gesicht, diesmal das einer Frau. Sie sah mich an, als habe ich angekündigt, ich sei die Vorhut der Marsmenschen, die sich hier betrinken und dann alles vergewaltigen wollten. Ihr grobes Gesicht war besorgt. Ich blickte wieder auf die Uhr. Elf Minuten nach elf. Die Kneipe hätte um Punkt elf Uhr aufmachen 138
müssen. Unsere Gesetze erlauben das. Es regnete leicht, und das Dorf sah noch trübseliger aus als beim letztenmal. Ich sah zu den Bergen hinüber und erblickte die riesige Masse eines Gipfels, den ich nicht einordnen konnte. Dann schaute ich zu‐ fällig auf das Wirtshausschild der Kneipe. Die Tafel bemalten Holzes bewegte sich quiet‐ schend in einem Eisenrahmen. Das Bild kam mir schrecklich bekannt vor. Das nächtliche Tier war es nicht, aber da war doch eine entfernte, verzerrte Ähnlichkeit, dessen war ich mir sicher. Der Kopf paßte nicht zum Rest. Reißzähne waren angedeu‐ tet, und aus irgendeinem Grund hatte das Tier ei‐ nen Fasan im Maul. Alf. Ja, dachte ich, dich Alf kenne ich. Und Sal und ich, wir entfernen uns so weit wie möglich von dir. Und von deiner gesichtslosen Be‐ sitzerin und von diesem verlassenen Dorf. Und überhaupt von diesen verdammten Bergen. Ich wandte mich ab, und meine Neugier hatte sich gelegt. Meine Furcht war durch die Stille, die ge‐ spannte Atmosphäre und das Wirtshausschild mit dem Hund wieder gesteigert worden. Das Rasseln von Riegeln hinter mir ließ mich ste‐ henbleiben. Vielleicht sind die Horrorfilme doch 139
nicht so schlecht. Eins stimmt auf jeden Fall, der Klang von Eisenriegeln, die zurückgeschoben werden. Und das Quietschen schwerer Türen. »Hämmern Sie da an unsere Tür?« fragte eine dünne Stimme. »Ja«, sagte ich. »Ich.« »Wir machen erst um elf auf.« Ich sah mir den Wirt an. Er war klein und dünn, mochte aber in seiner Jugend breit wie ein Arbeiter in den Bleiminen von Derbyshire gewesen sein. Er hatte buschiges, rötlich‐graues Haar und eine fahle Gesichtsfarbe. Keine Zähne. Die Bartstoppeln eine Woche alt. Es gibt nicht mehr viele Männer, die Hemden ohne Kragen mögen, aber er war einer. Es bestand aus gestreiftem Flanell, war speckig und am Hals offen; man konnte die knochige, völlig haarlose Brust sehen. Mich überraschte nicht, daß eine viel zu große Hose von einem breiten Leder‐ gürtel gehalten wurde. Die Leute aus Stymead, die ich bis jetzt getroffen hatte, waren keine sehr an‐ ziehenden Menschen. Ich warf einen deutlichen Blick auf meine Uhr. »Blöde Stadtfräcke«, murmelte er und ließ die Tür offen. Ich ließ ihm ein paar Minuten Zeit, die Bar
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aufzumachen. Er starrte mich über den schmudd‐ ligen Mahagonitresen hinweg unfreundlich an. »Guten Morgen«, sagte ich. Er brummte etwas, das wahrscheinlich eine Wie‐ derholung der vorigen Verwünschung war. »Ich möchte ein Glas Shandy.« Das paßte ihm auch nicht. »Verdammtes Stadtgesöff!« Er starrte mir in die Augen. »Verdammt blödes Gebräu.« »Dann ein Glas Bitterbier.« Er zog am Marmorgriff des Zapfhahns. Das Bier mußte aus einer hiesigen Brauerei stammen. Ich hatte den Namen noch nie gesehen. Es war hervor‐ ragend. »Möchten Sie auch eins?« Er schenkte sich ein Glas mit dem gleichen Bier ein und sagte nicht einmal danke. Ich zählte sorgfältig mein Kleingeld. Ich wollte nicht, daß er mich für einen kompletten Idioten hielt. Ich hatte seine Be‐ leidigungen hingenommen, ihn durch Bestechung dazu gebracht, sie zu unterlassen, aber jetzt mußte ich ihm zeigen, daß ich mit meinem Geld sparsam umging. Hier wird ein Mensch vor allem danach eingeschätzt. Gespräche werden kaum geführt.
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»Ich hatte gehofft, etwas über das Dorf zu erfah‐ ren«, sagte ich zu ihm. »Ihre Kneipe hat ein merk‐ würdiges Schild. Wie ist sie dazu gekommen?« »Es war hier, als ich herkam«, sagte er. Mehr wür‐ de ich nicht zu hören bekommen. »Ich hab so einiges über die alte Ruine gehört«, versuchte ich es. »Daß da mal ein Kloster gewesen ist.« »Ich war damals nicht hier.« »Klar«, sagte ich. Dies war nicht die übliche Barschheit der Bergbewohner. Er wollte ganz ein‐ fach nicht. Ich dachte, ich könnte nur noch mit Volldampf einsteigen. »Dort gibt’s Gespenster, nicht wahr?« »Wer sagt das?« »Einer aus dem Dorf.« »Und wer ist das?« »Ich weiß nicht, wie er heißt. Kam mal in meinen Laden, um mir was drüber zu sagen.« »Wie heißt er?« »Hat er nicht gesagt. Ungefähr dreißig. Klein und ziemlich schlank. Keine gute Haut im Gesicht. Ak‐ ne.« Ich erwartete nun einen Namen zu hören, weil Wirte an so etwas gewöhnlich Spaß finden. Für sie 142
ist es ein Zeitvertreib, Leute auf Grund von Be‐ schreibungen zu erkennen. Mein Wirt schüttelte den Kopf. »Vielleicht kennt man ihn im Laden drüben?« »Ist Donnerstag geschlossen.« »Ich könnte in einem der Häuser nachfragen.« »Ja.« »Vielleicht finde ich ihn, wenn ich mich an die Po‐ lizei hier wende.« Er wurde nicht unruhig. »Ja.« Er trank sein Bier aus und ließ mich allein mit den Rennachrichten. Ich trank noch ein Glas Bier, das wieder hervorragend war, aber ich brachte den verdrossenen Mann nicht mehr dazu, den Mund aufzumachen. Er schüttelte den Kopf und brummte etwas, als ich sagte, es sehe nach Regen aus. Er ließ auch nicht mit sich über die Qualität seines Biers reden, eben‐ sowenig wie über das schlechte Geschäft im »Schwarzen Alf«. Mir wurde immer unbehaglicher zumute, während ich in der Hoffnung, einen der Ortsansässigen zu sprechen, weiter ausharrte. Am liebsten hätte ich den Mann mit dem narbigen Ge‐ sicht gesehen. 143
Niemand kam in die Kneipe. Ich war der einzige Gast. Um zwölf sagte ich schließlich wütend: »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen mitteilte, daß es in der alten Kirche spukt?« Da blickte er auf. »Ich würde sagen, Sie lassen die Ruine lieber in Ruhe.« »Mit Vergnügen«, sagte ich und faßte mich wieder. »Wenn sie und ihr Alf uns in Ruhe ließen.« Der Mann gab keine Antwort. Mir war etwas schwindlig, weil ich zwei Bier getrunken und nicht viel geschlafen hatte. Ich hätte am liebsten eine bis‐ sige Bemerkung gemacht, bin aber nicht schlagfer‐ tig. Mir fiel nur ein, was der Priester gesagt hatte. »Vor allem heute nacht«, sagte ich. »Es ist der letz‐ te Tag im April.« Er reagierte nicht mit der kleinsten Bewegung dar‐ auf, sondern las weiter die Rennachrichten. Als ich ging, sah er mir nach. Soll er doch in seiner Sturheit verkommen! dachte ich. Sal und ich, wir wollten uns so schnell wie möglich aus dem Staub machen. Mir hat die Stadt immer besser gefallen. Nur weil Sally an den kahlen Ber‐ gen ihre Freude hatte, waren sie mir erträglich. 144
Das hatte ich mir damals zumindest eingeredet. Ich verließ Stymead mit dem Gefühl, daß meine Abreise von ruckenden Gardinen und Seufzern der Erleichterung und Befriedigung begleitet war. Einem Stadtfrack ist es wieder einmal gezeigt worden. Es goß wie aus Kübeln, als ich das Tal hinter mir ließ. Die Gipfel waren in Nebel gehüllt. Große, graue Wolken trieben vorbei und brachten den eiskalten, stechenden Regen, der selbst um diese Jahreszeit noch rasch zu Schnee werden kann. Die Scheiben‐ wischer wurden kaum mit den Sturzbächen fertig, die auf den Lieferwagen niederprasselten. Ich spürte, wie Wasser mein Bein entlanglief. Das Fenster war durch das Rütteln wieder aufgegan‐ gen. Ich begann ziemlich fließend zu fluchen. Es half nichts. Ich war noch etwa fünf Meilen von der Scheune entfernt, als ich an eine Kreuzung mit einem win‐ zigen Laden und einer roten Telephonzelle kam. Mir fiel dabei ein, daß wir für heute nacht einen Unterschlupf brauchten. Normalerweise hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, Vorsorge zu treffen. Wenn man neunzehn oder zwanzig ist, tut man 145
das nicht. Es genügt zu wissen, irgendwo wird man willkommen sein, bei Freunden oder wenn es gar nicht anders geht, bei Verwandten. Mir fiel jedoch ein, daß viele Leute, bei denen ich früher gepennt hatte, nicht in der Lage waren, uns beide, mich und Sally, aufzunehmen. Vor allem wegen der Schwierigkeiten mit den Vermieterin‐ nen. Es ist komisch. Viele haben nichts gegen einen Mann mehr im Haus, aber einen Mann mit einer Frau wollen sie nicht. Und dann dachte ich mir, es wäre für Sal besser, bei jemandem zu sein, der sie gut kannte. Ich hielt also den Lieferwagen an und rief ihre Mutter an. Sallys Mutter kämpft mit Entschlossenheit für alles und jedes. Sie setzt sich ständig für die Rechte der anderen ein, schreibt unermüdlich Broschüren, richtet unausgesetzt das Wort an Versammlungen und ist dabei bezaubernd. Sie war zu Hause. »Wer?«wollte sie wissen. »Andy.« »Andy?« Sie tat, als habe sie mich vergessen. Zu mir konnte sie nicht bezaubernd sein. Sie litt sogar an einem schlimmen Fall von »die Tochter behüten müs‐ sen«. Ich machte keine Umschweife. 146
»Ich möchte Sally rüberbringen.« »Verläßt sie Sie?« Ich spürte, wie sie Hoffnung schöpfte. »Nein. Es gibt hier Schwierigkeiten ...« »Was für Schwierigkeiten?« »Ach, nichts. Ich habe nur schlecht geträumt.« »Wie?« Ich bestätigte ihr, was sie schon immer gedacht hatte. Ein Verrückter war ich. Ihre Tochter lebte mit einem dekadenten, reaktionären, groben, schlecht erzogenen Menschen wie ich. Und jetzt war ich auch noch geisteskrank. »Ich dachte, es ist besser, wenn ich sie zu Ihnen bringe. Sie können uns doch aufnehmen?« Sie überlegte eine Weile. Vor meinem inneren Au‐ ge sah ich ihr geschminktes Gesicht. Sie war von einer Gerissenheit, die sich nicht auf die Tochter übertragen hatte. Sie überlegte, ob mich Sally satt‐ bekommen würde, wenn sie meinem Toben in der Scheune ausgesetzt war. »Tut mir leid, Andy«, sagte sie nach einer Weile. »Sie verstehen, wir haben heute abend in Sallys Zimmer ein Treffen unserer Vereinigung für Ob‐ dachlose. Wir würden uns sonst jederzeit freuen, Sie hier zu haben. Sie beide.« 147
»Aber Sally geht es nicht...« Sie unterbrach mich mit aller Bestimmtheit. »Sie können Gift drauf nehmen«, sagte sie. »Wirk‐ lich. War nett, mit Ihnen zu reden. Bringen Sie Sal‐ ly dazu, mal zu schreiben – das tun Sie doch für mich, Andy?« »Aber...« »Ich muß mich beeilen. Wiedersehen!« Dann rief ich bei meinen alten Bekannten an. Ein Freund machte mir ein Angebot. Der ist aber sehr scharf auf Mädchen. Ich hatte ihn nur angerufen, um herauszufinden, ob er über Nacht weg sein würde. Ich nahm sein Angebot nicht an. Ein paar meinten, sie würden bei anderen etwas in die We‐ ge leiten, und ob sie zurückrufen könnten. Aber das nützte nichts, da wir kein Telephon hatten. Es ist verblüffend, wie Freundschaften sich auflösen. Mir wurde nicht ein einziges Mal wirklich Hilfe angeboten. Ich blickte zum Lieferwagen hinaus. Wir hatten schon in ihm geschlafen. Gemütlich war es nicht. Mit dem Kätzchen und Cornelius ging es schon gar nicht. Wir hatten natürlich Geld. Wir konnten irgendwo hier in der Gegend in ein kleines Hotel ziehen, oder auch weiter weg. Darauf kam es nicht an. 148
Aber mir war wichtig, daß Sally bei jemand war, den sie kannte. Ein Stückchen weiter stieß ich auf eine annehmbare Kneipe, blieb dort, bis zuge‐ macht wurde, aß Pastete und Erbsen und trank Bier, das bei weitem nicht so gut war wie das Ge‐ bräu im »Schwarzen Alf«. Als ich von der Kneipe fortfuhr, regnete es noch immer heftig, und düste‐ rer konnte der Tag nicht werden. Das richtige Ab‐ schiedswetter für uns. Ich hatte vor, zur Scheune zu fahren, ein paar Sa‐ chen zusammenzupacken und Sally dann nach Manchester oder Birmingham zu bringen, wo es laut war, wo es viele Leute gab, die sich länger als nur ein paar Minuten unterhalten konnten. Die Berge können mir gestohlen bleiben, dachte ich im Weiterfahren. Es lief aber nicht so. Ungefähr drei Meilen vor un‐ serer Scheune verstummte der Motor. Ein gelbes Licht leuchtete, das eigentlich nicht hätte brennen dürfen. Soviel wußte ich, daß ich in Schwierigkei‐ ten steckte. Beziehungsweise der Lieferwagen. Oder eigentlich wir beide. In unserem kleinen Dorf gab es eine Tankstelle, aber zu Fuß war das eine Stunde. Ich hatte keinen Regenmantel mit, trug nur wie gewöhnlich einen 149
dicken Pullover und Jeans. Meine trunkene Be‐ nommenheit hielt in dem böse peitschenden Regen nicht lange an. Ich versuchte einen Wagen anzu‐ halten, aber niemand war daran interessiert, auf einer entlegenen Landstraße an einem dämmrigen Tag einen großen bärtigen Kerl aufzulesen. Ein Fahrer verlangsamte die Fahrt, verhöhnte mich aber nur. »Hippie!« brüllte er. »Nasser Hippie!« brüllte ich in die dunkle Wolke von Auspuffgasen hinein. Ich dachte an ein flackerndes Feuer und an ein großes Steak, an eine Flasche Wein und ein war‐ mes Bett. Wir hatten ungefähr dreißig Pfund in unserem Safe, einer geborstenen Teekanne, die im Laden auf einem Regal stand. Das reichte, um sich ein paar schöne Abende zu machen. Danach wür‐ de uns schon etwas einfallen. Ich trottete weiter. Mir fiel ein, ich hatte Geschich‐ ten gehört, daß sich Wanderer in den Bergen ver‐ irrt hätten – vor allem junge Pfadfinder, die vor ein oder zwei Jahren in der Nähe einer Höhle ver‐ schwunden waren. Es hieß, sie seien in einer Spukhöhle vom Weg abgekommen, aber in den Bergen werden solche Geschichten oft ausge‐ 150
schmückt. Es wurde sogar von einer Art Geburts‐ tagsfeier für den Teufel gemunkelt. Ich lachte nicht, als mir die Gerüchte einfielen. Ich hatte in den vergangenen Nächten genug erlebt, um über‐ zeugt zu sein, daß an den Geschichten über diesen verlassenen Winkel Englands einiges dran war. Ich brauchte über eine Stunde bis ins Dorf. Es war fast schon dunkel, obwohl die Sonne erst in einer Stunde untergehen sollte. Als ich zur Tankstelle kam, war es schon nach fünf Uhr. Der Laden hatte dichtgemacht. Ich versuchte es in dem Haus daneben, aber es war niemand da. Wieder fluchte ich. Wenn wir Glück hatten, er‐ wischten wir einen Bus nach Sheffield, dann einen Zug in eine größere Stadt, wo es den Gespenstern aus der verfallenen Kirche zu laut und zu hell war. Ich machte mich auf den Weg zur Scheune. Der al‐ te Steinbrunnen war hübsch herausgeputzt. Ich dachte an die vielen Touristen, die von der netten Aufmachung begeistert sein würden. Ich überleg‐ te, wieviel Trödel und Zwerge wir hatten, und dann fiel mir ein, daß wir den Laden ja aufgeben wollten. Leid tat es mir nicht. Ein paar Monate lang hatten wir ein herrliches Leben geführt, aber dann war das Entsetzen eingezogen. Mit der An‐ 151
kunft des Metallabriebs war es um mein Glück ge‐ schehen gewesen. Aber, so sagte ich mir, ich bin jung und stark. Sally würde das Blendwerk des nicht‐toten Wesens, das sie gefangen hielt, abstrei‐ fen, wenn sie die düsteren, rätselhaften Berge ver‐ lassen hatte. Ich beschloß meinen Stolz zu verges‐ sen und Geld von meinen Eltern zu borgen. Denen ging es einigermaßen gut. Ein paar hundert Pfund würden genügen, um uns in Italien oder Spanien durch den Sommer zu bringen. Ich wollte auf einer Eheschließung bestehen. Ich war im Grunde zu altmodisch für unsere Art des Zusammenlebens. Sally hatte sich jedoch eingere‐ det, daß eine emanzipierte Frau auf keine langfris‐ tigen Verträge einging, es sei denn, es war nötig. Jetzt wollte ich mich durchsetzen. Zum Teufel mit der Befreiung der Frauen. In Zukunft würde Sally nur noch die eine Freiheit haben, Namen für unse‐ re Babys auszusuchen. Ich ging wie auf Wolken und brummte fast schon im Vorgeschmack meiner männlichen Überlegenheit, als ich die Scheune er‐ reichte. »Sally!« brüllte ich. Ich hatte eine Vorahnung. Im Laden brannte Licht. Der Wohnraum war warm und gemütlich. Als ich 152
patschnaß in den hinteren Raum schlurfte, hörte ich die kleine Pelzprinzessin vor Freude miauen. Sie wollte hochgehoben und gestreichelt werden. Ich wollte Sally wissen lassen, wer Herr im Hause war. »Sally!« brüllte ich noch einmal. Ich hörte nur den dumpfen Widerhall meiner Stimme und das ängstliche Miauen des verschüch‐ terten Kätzchens. Dann erblickte ich den Metallab‐ rieb. Ich wich zurück, machte ein paar Schritte rück‐ wärts, stolperte mit meinem verstauchten Bein, kam wieder in die Höhe und floh weiter. Das Kätzchen heulte jetzt erschrocken auf, da sich mei‐ ne Furcht auf das Tier übertrug. Der verbrannte Metallabrieb war wieder da. Er war sauber an seinen Platz geklebt worden. Mit seiner kalten Schwärze beherrschte er das ganze Zimmer. Die gesichtslose Frau hielt das nächtliche Tier in ihren schlanken Armen. Ich wurde von Zweifeln geschüttelt. Ich hatte gesehen, wie die Pappröhre verbrannt war. Schwarzer Qualm, gelbe Flämmchen und dann rotes Feuer, danach graue Asche. Nichts war von dem Spuk übrig, der uns verfolgt hatte. 153
Es kam noch schlimmer. Das Untier an der Brust der Frau zeigte in seinem geöffneten Maul die Reißzähne. Die Augen der Zeichnung starrten ins leere Gesicht hinauf. Und die gräßlichen Reißzähne waren mit geronnenem Blut bedeckt. Während ich hinsah, glaubte ich eine leichte Be‐ wegung des Frauenkörpers zu bemerken. »Um Himmels willen«, murmelte ich, bis in die tiefste Seele getroffen. »Sally, um Himmels willen, wo bist du?« Keine Antwort. Ich wußte, daß mein schlimmer Traum Wirklich‐ keit geworden war. Sally war fort. 10.
Ich suchte natürlich überall. Aber in das Zimmer konnte ich nicht mehr gehen. Gefolgt von dem miauenden Kätzchen rannte ich in die Nacht hi‐ naus, dann wieder zurück in den Laden. Ich zwang mich dazu, hinter einen Stapel Bilder zu schauen, in den Schränken und hinter dem be‐ helfsmäßigen Ladentisch nachzusehen. Ich be‐ fürchtete Sallys Leiche zu finden – meine erste wir‐ 154
ren Gedanken kreisten um Lustmörder ‐, aber mehr noch fürchtete ich meine widerlichen Vorah‐ nungen. In der Dunkelheit rief ich nach ihr. Ich fand eine starke Taschenlampe und leuchtete damit die Grä‐ ben und tropfenden Büsche ab. Nach einiger Zeit wußte ich, daß ich sie nicht finden würde. Ich holte mir einen Mantel und trockene Stiefel. Ich fütterte das Kätzchen und tröstete es. Ich konnte aber keine rechte Zuneigung spüren, da ich an das Schicksal seines Schwesterchens denken mußte, und das erinnerte mich wieder an Sally und das Ungeheuer und das Wesen, das einmal eine Frau gewesen war. Mehr als Mitleid mit dem zittern‐ den, hungrigen Geschöpf konnte ich nicht haben. Ich setzte es in sein Körbchen, wo es sich einrichte‐ te und sanft schnurrte. Ich zog ein paar Pfundnoten aus der gesprungenen Teekanne im Laden und ging wieder in den Regen hinaus.Sally! Fort? Fort? Ich wollte das an Dingen wie ihrem Regenmantel und ihren Stiefeln und ih‐ rer Tasche nachprüfen. Vielleicht lag ein Zettel da mit der Nachricht, daß ein Freund sie mit zum Abendessen genommen hatte. Aber ich konnte nicht in den Wohnraum zurückkehren. Nicht wie‐ 155
der in das Spukzimmer, wo sich das Wesen wand und seine Besitzerin ihm den blutbesudelten Kopf kraulte. Sie war in der Kneipe. Das war mir sofort klar. Sie war einkaufen gegangen ‐wir haben im Dorf zwei Geschäfte. Und als es fast sechs Uhr war, hatte sie beschlossen, sich zwei Gins zu genehmigen, um damit Kälte und Nässe zu vertreiben. Vor Erleich‐ terung wäre ich fast in Tränen ausgebrochen. Eine so einfache Erklärung. Ich rannte die ganze Strecke bis zur Dorfkneipe. Sie war nicht dort. Die Wirtin warf mir argwöhni‐ sche Blicke zu – ich muß recht wild ausgesehen haben und redete unzusammenhängendes Zeug. Aber sie mochte Sally und gab mir bereitwillig Auskunft. Nein, Sally war nicht da gewesen. Ob sie sie gesehen habe? Nein. Sie wollte wissen, ob etwas nicht in Ordnung sei. Ich sagte, daß da ein Mißverständnis über die Zeit ihrer Rückkehr be‐ stünde. »Keine Nacht, um weit zu gehen«, sagte die Wir‐ tin. »Da ist ein Unwetter im Anzug. Das ist immer so, wenn die Wolken so niedrig über die Berge kommen.«
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Ich dankte ihr für die Hilfe, obwohl sie mir gar nicht hatte helfen können. Als ich wieder draußen war, merkte ich, was sie mit dem bevorstehenden Unwetter gemeint hatte. An den Berggipfeln wälz‐ ten sich schwarz und schwer die Wolken vorbei, von Norden her leuchtete es gelblich auf, und hin‐ ter den Wolken konnte ich den Halbmond wie ein Raubtierauge blitzen sehen. In meinem Kopf jagten sich Phantasiebilder der schlimmsten Art, die ich kaum noch verdrängen konnte. Irgendwie erinner‐ te ich mich an die Jahreszeiten, Feste und Feier‐ lichkeiten auf dem Land, aber einen klaren Gedan‐ ken faßte ich nicht. Mein Hunger, der Bierdunst in meinem Schädel und das Verschwinden Sallys versetzten mich in einen erbärmlichen Zustand der Verwirrung. Wo war sie? Ich rief ihre Mutter an. »Sally?« antwortete sie laut. »Nein, sie ist nicht zu Hause gewesen. Warum auch? Ich sagte doch, wir brauchen ihr Zimmer.« »Für Ihre Obdachlosen«, gab ich bissig zurück. »Genau! Wir müssen noch vier Problemfamilien unterbringen. Aber was ist mit Sally? Wo ist sie? Sie sagen, sie ist ausgegangen? Andy? Andrew« 157
Ich legte einfach auf. Noch immer wollte ich mich nicht der schrecklichen Gewißheit stellen, die sich langsam und mit unaufhaltsamer Gewalt in mei‐ nem Gehirn breitmachte. Noch nicht. Ich war so töricht, unserem hiesigen Polizeibeam‐ ten einen Besuch abzustatten. Seine Frau führte mich in einen bunten Raum, in dem es überall vor Messing nur so blitzte. Dort stand auch ein Fern‐ sehgerät mit dem kleinsten Bildschirm, den ich je gesehen habe. Der Beamte saß in Hemdsärmeln vor einem hellen Kohlenfeuer. Seine nackten Füße waren vor Hitze gerötet. Er hieß Postlethwaite. »Hier ist jemand, der ein Mädchen vermißt melden will«, sagte Mrs. Postlethwaite. »An einem Abend wie heute! Sie sehen aus, als ob Sie eine Tasse Tee vertragen könnten, mein Junge. Möchten Sie ei‐ ne?« Postlethwaite griff sich seine Strümpfe und streifte sie über. Er sagte mir, ich solle mich setzen, und holte sich dann sein Notizbuch. Ich bereute schon meine Eingebung, vor allem auch, weil der Tee unglaublich stark war. »Nun, um wen handelt es sich bei der Person, die vermißt wird?« sagte Postlethwaite.
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Sein breites rotes Gesicht legte sich vor Mitgefühl in Falten. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie vermißt melden soll«, sagte ich. »Ich wollte nur vorbeischauen und fragen, ob sie jemand gesehen hat. Vielleicht be‐ sucht sie jemanden ...« »Sie heißen, Sir?« sagte Postlethwaite. Ich merkte, wie sich sein Verhalten änderte. Sein Mitgefühl mit mir legte sich schnell. Ich konnte auch die winzi‐ gen Gestalten auf seinem Miniaturbildschirm er‐ kennen: Bullen und Banditen mit einer Menge Pis‐ tolen. »Andrew Thomas. Ich betreibe den Andenkenla‐ den in der Scheune von Mr. Judson.« »Weiß ich, Mr. Thomas, weiß ich.« Dann fing er an, mit dem Bleistift zu klopfen, als warte er darauf, daß ich mich wie ein Narr auffüh‐ ren würde. Ich wußte es, aber mir war es gleich, ob er mich für einen Idioten hielt, weil ich vor mei‐ nem inneren Auge Sally sehen konnte, wie sie aus‐ gesehen hatte, als sie mir die Ursache unseres Elends zeigte – Sally in ihrem dunklen Hosenan‐ zug, eine schlanke Gestalt, die mit rätselhaftem Gesichtsausdruck auf das Grab des längst verstor‐ benen Kreuzfahrers und seiner Frau niederblickte, 159
auf die Frau, die jetzt zu einem Alptraum gewor‐ den war. Ich sah in ihren Augen ein seltsames Licht leuchten. Ihre Lippen waren rot wie frisches Blut, ihre ganze Persönlichkeit war plötzlich wie in ein unheimliches Licht getaucht. Ich war nahe dar‐ an, meine geheimsten Ängste herauszuschreien. Ich tat es nicht. Ich brachte die Worte nicht über die Lippen. Wie konnte ich dem Polizeibeamten Postlethwaite, diesem etwa vierzigjährigen und völlig gesunden Dorfbobby begreiflich machen, daß ich Angst hatte, Sally sei von einem Gespenst weggelockt worden? Er hatte lange genug gewar‐ tet. »Wie heißt die Person, die Sie vermissen, Sir?« fragte er. »Sally Fenton.« »Wie alt?« »Zwanzig.« Er seufzte auf. »Zwanzig, Sir?« »Genau.« »Aha.« Da schwang so einiges mit. Er wußte jetzt, wo er mich hintun mußte. Ich war der fragwürdige Kerl, der in der Scheune von Judson Ramsch verkaufte. 160
Er schüttelte den Kopf und warf einen sehnsüchti‐ gen Blick auf den kleinen Bildschirm. »Sie lebt mit mir zusammen!« fuhr ich fort und merkte, daß die Frau des Polizisten verlegen wur‐ de. »Sie hat nicht gesagt, daß sie weggehen würde, und niemand hat sie gesehen – Sie haben sie sicher auch nicht gesehen? Sie ist ungefähr eins siebzig, schlank, hat aber eine gute Figur...« »Ich habe die junge Dame schon gesehen«, sagte Postlethwaite. »Aber heute nicht, Sir.« Er klappte sein Notizbuch zu. »Mr. Judson sagte mir, er hat Schwierigkeiten mit Ihrem Hund gehabt, fällt mir gerade ein. Hat gemeldet, daß er Schafe reißt. Sagt, er hat ein Lamm gerissen.« »Cornelius würde so etwas nie tun«, sagte ich me‐ chanisch. Meine Gedanken waren weit weg, mei‐ lenweit weg und in einer vergangenen Zeit. Ich dachte an die uralte Gestalt im Brokat und an das Wesen, das ihr zu Füßen begraben lag. »Gestern nacht sind wieder zwei Lämmer getötet worden.« »Was?« fragte ich und versuchte den Kopf durch Schütteln klar zu bekommen. Er konnte mir nicht helfen. Ich mußte mich auf den Weg machen.
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»Ich sagte, daß Mr. Judson gestern nacht wieder Ärger mit seinen Lämmern hatte!« Er beobachtete mich, und ich glaubte in seinem Gesicht so etwas wie Sorge zu entdecken. »Behauptet er, Cornelius hat sie umgebracht?« »Nein.« »Ach?« »Er hat gestern früh Ihren Hund erschossen, Sir.« »Was?« »Ich fürchte, es stimmt, Sir. Kam her und sagte es mir persönlich, was auch richtig war.« Cornelius erschossen! Ich dachte an den großen Körper, die ärgerlichen Angewohnheiten, das gro‐ ße Zutrauen in den braunen Augen. Und Corne‐ lius war vom ungehobelten Judson getötet wor‐ den! Ich hob die Fäuste und starrte sie einen Au‐ genblick lang an. Postlethwaite schüttelte den Kopf. »Hätte er nicht machen sollen, Sir«, pflichtete er mir bei. »Er kam später her und sagte mir, daß er heute früh wieder Lämmer gefunden hat, die ge‐ rissen worden sind. Kann nicht Ihr Hund gewesen sein.« »Nein. Cornelius war schon tot.« »Muß noch einer unterwegs sein, der Schafe reißt.« 162
»Ja.« Gestern nacht zwei Lämmer, dachte ich. Die Nacht davor nur eines. In der ersten Nacht hatte das Blut eines Kätzchens genügt. »Sie ist vielleicht ausgegangen, um ihre Familie zu besuchen«, meinte Mrs. Postlethwaite. »Kommt bei einem jungen Mädchen vor.« »Ich hab angerufen. Sie ist nicht dort.« Ich lachte wie wild auf. »Die brauchen Ihr Zimmer für ein Treffen mit Obdachlosen. So ein Komitee für Wohnungsbeschaffung. Die wollten sie heute abend nicht zu Hause sehen.« »Aber sie ist doch volljährig«, stellte Postlethwaite fest. »Und sie ist nicht mit Ihnen verwandt, Sir.« Er wollte nicht klar aussprechen, daß wir in Sünde lebten, sein Verhalten legte es jedoch nahe. Mir war es gleich, was er von mir hielt. Die engli‐ sche Zurückhaltung hat ihre Grenzen. »Hören Sie«, sagte ich und sprach jetzt schnell, »heute früh war ich beim Ortspfarrer. Er glaubt, da ist etwas dran. Er sagte mir, ich solle fortziehen, und ihm war ernst damit – wir beide sollen fort‐ ziehen. Das paßt alles zusammen! Da ist die Sache mit dem Blut, und die wird jede Nacht ärger – ich meine, die Wesen können sich nicht mit einer klei‐ 163
nen Menge Blut zufrieden geben, wenn sie wieder zum Leben erwacht sind.« »Einen Augenblick, Sir!« »Und dann das Mondlicht. Drei Nächte lang – man kann den Mond jetzt nicht gut sehen, aber es wird reichen ! Ein paar schwache Strahlen genügen ...« »Sir!« » ... sie hat die Gefahr nicht erkannt. Wenn sie wach war, war alles interessant und faszinierend, aber nachts, wenn das Wesen Gestalt annahm, war sie wie gebannt...« »So hören Sie doch auf, Mr. Thomas!« Ich hörte auf. Ich stammelte nur noch. Postlethwai‐ te war aufgestanden, und seine Frau brachte ihm die Stiefel. Ich lachte auf, weil ich annahm, er habe mich endlich verstanden und eingesehen, wie dringend die Sache war. »Mein Lieferwagen hat eine Panne«, sagte ich. »Ich nehme an, sie können sich einen Polizeiwagen schicken lassen?« »Ist nicht nötig, Mr. Thomas. Ein kleiner Spazier‐ gang wird uns nicht schaden – wird Sie sogar be‐ ruhigen. Sie haben Ihren Hund verloren, und die junge Frau ist Ihnen auf und davon. Am besten bringen wir Sie nach Hause und stecken Sie ins 164
Bett. Ich muß sowieso einen Rundgang machen. Ist also schon in Ordnung.« »Spaziergang! Wohin? Es ist meilenweit!« »Mehr als zehn Minuten werden wir nicht brau‐ chen ...« »Aber von hier sind es zehn Meilen nach Sty‐ mead!« »Stymead, mein Junge? Wer hat was von Stymead gesagt?« Mir blieb der Mund vor Verblüffung offenstehen. Hatte er nicht ein Wort von dem mitbekommen, ob ich es wirklich erwähnt hatte, da meine Worte in einem Strom zusammenhangloser Sätze heraus‐ gesprudelt waren. »Wenn ich nicht davon gespro‐ chen habe, dann hatte ich es auf jeden Fall vor. Sie wird dort sein! In der ‐in der...« Postlethwaite war jetzt ganz Amtsperson. Er legte eine Hand schwer auf meine Schulter und schob mich zur Tür. Er zwängte sich in seine Uniformja‐ cke und legte dann einen altmodischen Umhang um. Er rückte seinen Helm zurecht und war drauf und dran, den Störenfried loszuwerden, der ihn davon abgehalten hatte, sich das echte Leben im Fernsehen anzugucken.
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»Sie gehen jetzt nach Hause, mein Junge!« sagte er. »Zurück zur Scheune. Dort werden Sie auf die junge Dame warten, genau das werden Sie tun. Al‐ so, kommen Sie mit!« »Sie glauben nicht, daß sie in Gefahr schwebt?« »Wirklich nicht! Mädchen sitzen nicht immer he‐ rum und warten, bis die Burschen es sich überlegt haben. Und jetzt kommen Sie!« Ich sah mich geschickt angefaßt und aus dem Gleichgewicht gebracht und war schon draußen auf der Straße. Mrs. Postlethwaite rief mir gute Nacht nach, als seien wir alte Freunde, und ich wurde in Richtung Scheune gezwungen. »Aber der Priester hat mir geglaubt! Mr. Cunning‐ ham – der Pfarrer von St. James – hat zugegeben, daß es Teufel gibt...« »Sie sollten Mr. Cunningham nicht stören, Sir. Er hat nicht alle Tassen im Schrank. Der möchte in Ruhe gelassen werden.« In meiner Verzweiflung fiel ich ihm ins Wort. Ich brauchte seine Hilfe, benötigte vor allem ein Fahr‐ zeug – am besten wäre ein schneller Polizeiwagen gewesen. Ich war mehr und mehr überzeugt, daß ich nicht mehr viel Zeit hatte. Wir kamen an dem ge‐ 166
schmückten Brunnen mit seinen Birkenzweigen und Bändern, seinen Osterglocken und Primeln und frischen Eibentrieben vorbei. Morgen war der erste Mai, aber heute nacht war es gefährlich fins‐ ter. Der Mond schien, und über die öden Gipfel wälzten sich schwarze Wolken, und ich wurde von einem uniformierten Klotz aufgehalten, der mich für verrückt hielt. »Hören Sie, ich bin nicht wahnsinnig! Etwas läuft frei herum und trinkt Blut – Mr. Cunningham hat mir geglaubt! Ich bin sicher, daß Sally Fenton in Gefahr ist. Sie müssen mich zu ihr lassen!« Fern am Horizont grollte ein Donnerschlag. Der Regen peitschte mir ins Gesicht. Ich befreite mich aus Postlethwaites Umklammerung und blieb ste‐ hen, um ihm ins Gesicht zu blicken. Ich konnte se‐ hen, daß er unentschlossen war. Er hatte mich zum Verrückten abgestempelt, aber es gab Grenzen. In meiner Tollheit verstieß ich gegen keine Gesetze, und ich klang vernünftig genug, um ihn zum Nachdenken zu bringen. »Aufhalten kann ich Sie nicht, Junge«, sagte er. »Aber ist es nicht besser für Sie, wenn Sie zu Hau‐ se abwarten? Dies ist keine Nacht zum Herumren‐ nen. Was soll übrigens das mit Stymead?« 167
»Dort ist sie!« Wilde Hoffnung erfüllte mich. Ich brauchte die Hilfe dieses begriffsstutzigen Polizisten. »Stymead? Sind Sie sicher, Sir?« »Ja! Sie ist zur verfallenen Kirche.« Postlethwaite schob den Helmriemen fest unter das Kinn. »Warum sollte sie so etwas machen, Sir?« »Weil sie nicht anders kann!« Es gefiel ihm nicht. Er widersetzte sich jetzt inner‐ lich. Er konnte mir nicht in die Augen sehen. »Nein, dort wird sie nicht sein, Sir – wer würde am Abend vor dem ersten Mai dorthin gehen? Nein, das schlagen Sie sich aus dem Kopf, Sir! Sie ist wahrscheinlich fort, um eine Freundin zu besu‐ chen – haben Sie vielleicht Streit gehabt? Etwas, worüber Sie vor meiner Frau nicht sprechen woll‐ ten? Das wird’s sein!« Innerlich wurde mir eiskalt. Ich dachte an unheim‐ liche Wesen, die sich wanden, an lange Reißzähne. Postlethwaite wußte etwas! »Was meinen Sie mit dem Abend vor dem ersten Mai?« fragte ich. »Sir, wie bitte?«
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»Sie sagten, daß man am Abend vor dem ersten Mai nicht zu der alten Kirche geht. Das haben Sie gesagt!« Ich blieb beharrlich, als er sich wieder hin‐ ter seinem Amt verschanzen wollte. »Sagen Sie es mir! Warum darf man heute nacht nicht zur Rui‐ ne?« Postlethwaites Blick erinnerte mich an den Mann mit der Akne. Was er sagte, oder wie er es sagte, war eine Warnung und zugleich eine Entschuldi‐ gung. »Die Leute von hier würden heute nacht nicht mal zu der alten Ruine gehen, wenn Sie ihnen einen Topf voll Gold anbieten, wirklich nicht!« »Wieso?« »Es gibt eine Sage hier, und viele Leute glauben daran.« »Nun?« »Halten Sie sich da raus, mein Junge! Es heißt, in der Walpurgisnacht schweifen Gespenster durch die Berge.« »Und in der Kirche, in der Ruine?« »In der Sage heißt es, die toten Wesen erwachen.« Irgendwie hatte ich es gewußt. Es hatte so viele Hinweise, so viele direkte Fingerzeige gegeben. Als ich das Monstrum sah, war ich mir sicher ge‐ 169
wesen, aber Sally hatte meine Ängste mit ihrem Lachen vertrieben, mit meiner Zustimmung natür‐ lich. Auch als ich in den beiden nächsten Nächten die immer schrecklicheren Erscheinungen sah, hat‐ te es in mir noch starke Widerstände gegeben, an die Wesen der Nacht zu glauben. Sallys leuchtende Augen hätten mir eine Warnung sein müssen. Au‐ ßerdem war ich von dem Mann mit dem narbigen Gesicht gewarnt worden, dann noch einmal von dem alten, vertrottelten Priester. Und ich hatte nicht darauf geachtet. Die Wesen der Nacht waren durch das klare Mondlicht geweckt worden und waren durch das Blut, das sie den kleinen, wehrlo‐ sen Tieren geraubt hatten, stärker geworden. Heu‐ te nacht würden sie noch stärker sein, da die un‐ ruhigen Berggeister in der Nähe waren. Es war Walpurgisnacht, und die höllischen Heer‐ scharen waren unterwegs. Ich zitterte vor Kälte und Angst, und der Mond trat hinter den schwe‐ ren, dunklen Wolken hervor. Er war nicht mehr gelb wie ein Raubtierauge, sondern hell und rot wie ein Granat. »Warten Sie einen Augenblick«, sagte Postlethwai‐ te. »Ich frage mal, ob sie jemand gesehen hat.«
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Er ging in die Kneipe. Er brauchte nicht lange. Er kam über die Straße und verkündete mir die Neuigkeit. »Also, keine Bange mehr, Sir! Miß Fenton hat vor drei Stunden den Bus nach Manchester genom‐ men. Sie ist gesund und munter in den Bus gestie‐ gen. Der Bursche von Mr. Harris, Tommy, hat sie gesehen – in ihren weißen Stiefeln und mit einem durchsichtigen Regenschirm‐schick wie nur was. Ich möchte wetten, daß sie jemand besucht – sie wird morgen sicher wieder hier sein, da braucht man sich keine Gedanken zu machen. Ich hatte recht, mein Junge, und ich bin froh darüber. Gehen Sie heim und schlagen Sie sich den Bauch voll, be‐ vor Sie sich hinlegen!« Der Bus nach Manchester kam zweimal am Tag durch unser Dorf, einmal morgens, einmal abends. Er war langsam, aber verläßlich. Ich hatte ihn ge‐ legentlich benutzt. »Sally nach Manchester?« wiederholte ich. Wieso? Ich konnte mir nicht denken, was sie in Manches‐ ter wollte. Völlig unsinnig. Ich wollte Postlethwai‐ te eben fragen, ob sie einen Koffer bei sich hatte, als mir die lange, langsame Fahrt durch die Seiten‐ täler herum einfiel. Mir war etwas eingefallen. 171
Der Bus nach Manchester kam an der verfallenen Kirche vorbei, in der die nicht‐toten Geschöpfe sechs lange Jahrhunderte geschlafen hatten. »Alles klar?« fragte Postlethwaite. »Er fährt zu der Kirche«, sagte ich. »Der Bus geht über Stymead.« »Ach, das ist bloßer Zufall!« sagte der Polizist rasch. »Kann nichts bedeuten. Kein Anlaß zu Be‐ fürchtungen! Ich kann mir nicht vorstellen, warum sich jemand da draußen herumtreiben soll – und die Polizei geht das überhaupt nichts an. Sie gehen nach Hause und wärmen sich auf, mein Junge. Los jetzt, bevor wir uns in der Kälte noch den Tod ho‐ len.« »Den Tod?« wiederholte ich stumpfsinnig. Ich sah, wie sich das Gesicht des Mannes verhärtete. Er hatte seinen Entschluß gefaßt, und für ihn hieß das Nichteinmischung. »Ich muß gehen«, sagte ich zu ihm. »Wenn ich es nicht tue, fallen die Ungeheuer über sie her.« Postlethwaite sah mir nach.
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11.
Mir wollte niemand helfen. Ich wußte jetzt, daß ich ganz auf mich allein gestellt war. Inzwischen war es acht Uhr, und ich mußte nach Stymead, das zehn Meilen entfernt war. Ich versuchte ein Taxi zu bekommen. Ich versuchte es bei sechs Firmen, aber nur zwei meldeten sich am Telefon. Als ich sagte, daß ich nach Stymead wollte, lachte der erste Mann und legte auf. Der andere sagte, er habe zuviel zu tun und warum ich es nicht bei dem Mann im Ort ver‐ suchte. Das war zufällig der Mann, dem die Tank‐ stelle gehörte, und auf dem Weg zur Telephonzelle war ich schon dort gewesen. Mir wollte auch nie‐ mand einen Leihwagen schicken. Das alles kostete viel Zeit. Das beste Angebot, das man mir machte, war, bei einer Firma in Sheffield einen Wagen zu holen. Zwanzig Meilen waren es bis dorthin. Die Münzen rutschten mir durch die Finger. Ich verfluchte meine Ungeschicklichkeit, fluchte, weil es so lange dauerte, bis die Taxi‐ und Leihwagen‐ unternehmen meine Anrufe beantworteten. Ich 173
konnte kaum glauben, daß ich am Ende meiner Möglichkeiten war. Eine weitere Stunde war vergangen. Die Nacht war noch unangenehmer geworden, ich fluchte vor Ungeduld, und Sally war seit Stunden fort. Be‐ inahe wäre ich zu Fuß losmarschiert. Aber mir fie‐ len die Berge ein, die kurvenreichen Straßen. Ich hätte die Ruine erst nach Mitternacht erreicht, und das war keine gute Zeit, um in der Nacht der bö‐ sen Geister noch unterwegs zu sein. Ich versuchte sogar, einen Wagen zu stehlen. Vor der Dorfkneipe stand eine Reihe Fahrzeuge. Bei keinem steckte der Zündschlüssel. Ich versuchte mich an das zu erinnern, was ich über Batterien und das Kurzschließen des Anlassers wußte, aber gerade als ich die Motorhaube eines ziemlich neu‐ en deutschen Wagens öffnete, kam ein Paar aus der Kneipe. Die beiden starrten mich an, und ich ließ die Haube verwirrt fallen. Es wäre eine Katast‐ rophe, wenn man mich wegen versuchten Auto‐ diebstahls verhaftete. Postlethwaite würde nicht zögern, mich die Nacht über einzusperren. Ich fragte mich, ob mir jemand ein Auto leihen würde. Wir hatten aber in der Gegend nicht viele freundschaftliche Beziehungen geknüpft. Mit ein 174
paar Dörflern tauschten wir Kopfnicken und Gu‐ ten‐Morgen‐Grüße aus, aber weiter war nichts ge‐ diehen. Dann fiel mir Harris ein. Sally hatte mit seiner Frau nicht nur die üblichen Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht. Die Frau war nett, war in mittlerem Alter und verkaufte uns Eier. Ich rannte los. Zum Glück waren sie zu Hause. Auf mein lautes Klopfen hin machte Harris auf. Er dachte zuerst, ich komme wegen dem armen Cornelius, daß ich den Schützen verwechselt hätte. Ich unterbrach seine Erklärung jedoch mit dem knappen Hinweis, daß ich seinen Wagen brauchte. Mrs. Harris hörte meine eiligen Erklärungen ‐es gelang mir, die Geschichte mehr oder weniger ver‐ ständlich zu machen ‐, und sie bestand darauf, daß ich in ihre große, mit Fliesen ausgelegte Küche kam. Ich sagte natürlich nichts von den unheimli‐ chen Wesen; ich hatte aus dem Hin und Her mit Postlethwaite gelernt. Einem Verrückten, der durchdrehte, würde niemand einen Wagen anvert‐ rauen. Ich sagte, daß ich mich mit Sally gestritten hätte – das klang glaubhafter, als die schreckliche Wahr‐ heit – und daß sie sich auf den Weg zum Haus ei‐ 175
nes Freundes in einem Nachbardorf gemacht hatte. Mrs. Harris schnalzte mit der Zunge und legte die Stirn in Falten, aber sie glaubte mir halbwegs. Har‐ ris war vorsichtiger. Er wollte nicht in Liebeshän‐ del hineingezogen werden und seinen Wagen je‐ mandem überlassen, den er nur als neuen und nicht ganz soliden Nachbarn kannte. Ich bot natürlich auch keinen eindrucksvollen Anblick. Vertrauenerweckend sah ich wirklich nicht aus. Ich war naß wie eine getaufte Maus, von Haaren und Bart floß das Wasser in Strömen, und mein Gesicht war vor unterdrückten Gefühlen und echter Erschöpfung bleich. Ich sah mich in einem Spiegel und wäre fast verzweifelt. Harris schüttelte den Kopf. Er lehnte ab. Ich überlegte, wie ich ihn ohne Nen‐ nung der wirklichen Gründe für meine verzweifel‐ te Furcht überzeugen konnte, aber mir fiel nichts ein. Ich war drauf und dran, ihm zu erzählen, was ich dem Priester und dem Polizisten gesagt hatte, als er sagte, daß er mir einen alten Motorroller ge‐ ben könne. »Es ist die Versicherung, mein Junge«, sagte er mir, während ich einen Seufzer der Erleichterung aus‐ stieß. »Ich kann Ihnen keins von den Fahrzeugen 176
auf dem Hof geben – alle Wagen und Traktoren sind als landwirtschaftliche Fahrzeuge versichert. Nur ich und mein Sohn und die Leute auf dem Hof dürfen sie fahren. Aber ich habe da einen alten Motorroller – wenn Sie wollen, können Sie den ha‐ ben, weil der eigentlich gar nicht hier dazugehört. Mein Sohn benutzt ihn manchmal. Ihm wird’s nichts ausmachen, Tommy nicht. Für Miß Fenton tut er es schon. Genügt Ihnen das, mein Junge?« Die Frau von Harris wollte, daß ich Tee trank und aß, was vom Abendessen übrig war, aber ich lehn‐ te hastig ab. Keine weitere Verzögerung! Ich ver‐ suchte meine wilde Ungeduld zu zügeln, und nur mit äußerster Anstrengung konnte ich mich davon abhalten, die beiden freundlichen Menschen anzu‐ schreien, als sie nach einem Helm und nach Hand‐ schuhen herumsuchten. Alles in allem dauerte es noch eine Viertelstunde, bis ich auf dem Roller saß und durch den niederstürzenden Regen auf die Straße fuhr, die zu der verfallenen Kirche führte. Als ich abfuhr, meinte Harris, ich solle aufpassen, und seine Frau rief hinter mir her, daß ich Sally zum Hof zurückbringen sollte. Zurück zum Hof! Nein! Nie wieder zurück in die öden Berge.
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Wie als Antwort auf meinen festen Entschluß, das Bergland zu verlassen, krachte ein gewaltiger Donnerschlag in die Talmulde hinab, in der das Dorf lag. Was nach einem Unwetter ausgesehen hatte, war Wirklichkeit geworden. Wild brausten die Windböen durch die Täler und wehten mich von einer Seite der engen Straße auf die andere. Ich kam nur langsam und im Zickzack vorwärts. Blitze züngelten in Gabeln durch die Schwärze der Wolken. Der Scheinwerfer des Motorrollers war im Vergleich mit den strahlenden elektrischen Entla‐ dungen ein mattes Glimmen. Das Geräusch des kleinen Motors ging in dem Donnergetöse unter, das jedem Blitzschlag folgte. Ich war wie betäubt von den ständigen Windstößen, vom Donner, von dem bläulich weißen Leuchten. Und als ich den Mond hellrot die Finsternis durchbrechen sah, war ich der Verzweiflung nahe, weil in dieser höchst unheilvollen Nacht die Elemente im Streit mitei‐ nander lagen. Ihr Wüten war Kulisse für die We‐ sen, die sich aus ihren längst vergessenen Grab‐ stätten befreiten. Ich wurde in einer Kurve fast über einen steilen Abgrund hinausgeweht und schrie auf, als ich in der Nässe ins Rutschen kam. Was für eine Chance hatte ich, wenn die Nacht er‐ 178
füllt war von der Bosheit der nächtlichen Untiere, von dem wüsten Toben des Unwetters! Doch ich fuhr weiter. Sture Entschlossenheit hielt mich auf dem Sitz, der alles andere als bequem war. Ich umklammerte die nasse, schlüpfrige Lenkstange fester, als die Gewalt des Sturms zu‐ nahm. Ich weigerte mich einfach, vom Weg abge‐ bracht zu werden. Zuviel war schon geschehen, zu viele Ängste hatten mein Innerstes verletzt, als daß ich jetzt an ein Versagen denken konnte. Ich würde Sally finden. Sie finden und sie aus den Bergen fortbringen. Ich forderte das Äußerste, was der schwache Mo‐ tor hergab. Ich glaube nicht, daß ich bergab schnel‐ ler als dreißig Meilen geworden bin. Zweimal wä‐ re ich fast in die Tiefe geweht worden, und einmal stieß mich eine Bö glatt gegen einen Felsvor‐ sprung. Aber ich kletterte wieder auf den Roller, der noch tuckerte, umklammerte wieder mit fes‐ tem Griff die Lenkstange. Und dann kam ich zur Kirche. Das merkwürdigste war, daß die Ruine in völliger Stille dalag. Nachdem ich etwa eine halbe Stunde gegen das Unwetter angekämpft hatte, rechnete ich damit, die niedergestürzten Steine und halb‐ 179
zerfallenen Mauern vom Regen gepeitscht und von gewaltigen Windstößen umtost zu sehen. Aber das war ein Irrtum. Ich ließ den Motorroller am Straßenrand stehen, drang an Brombeeren und Brennesseln vorbei durch eine Lücke in der trockenen Mauer und rannte und taumelte in das schreckliche Bauwerk, in dem die Wesen der Finsternis ihr Lager hatten. Als ich mich ihm näherte, spürte ich, daß mir der Wind nicht mehr ins Gesicht fuhr und daß mich der Regen nicht mehr mit eiskalten Stichen peinig‐ te. Ich sah eine Lücke in den dunklen Wolken, durch die der Mond schwächlich schien, ein gra‐ natrot gestreifter Mond, der die vertrauten, starken Strahlen eines hellen, tödlichen Lichts aussandte. Ich kam mir wie in einem verlassenen, zerstörten Rundtheater vor, in dem noch die Scheinwerfer leuchteten, wie in einem gespenstischen Opern‐ theater, das zu Bruch gegangen war und dennoch weiterlief. Meine raschen Schritte verlangsamten sich unwill‐ kürlich. Ich war der schlimmen Stelle sehr nahe gekommen; nur Sekunden trennten mich noch von der Frau, die ich über alles in der Welt liebte. Ich mußte nur noch den Weißdorn beiseiteschieben 180
und mich an den herabgestürzten Blöcken vorbei‐ tasten, dann war ich bei ihr. Bei der weißgekleide‐ ten Sally. Bei Sally mit ihren herrlichen Augen, ih‐ rem verträumten und empfindsamen Gesicht. Ich hatte mein Ziel, die verfallene Kirche, erreicht. Ich mußte nur noch ein paar Schritte tun. Ich blieb stehen, weil mir die Wesen der Nacht wieder einfielen. Mein Entsetzen kehrte zurück, und dabei wurde mir bewußt, wie eindringlich still es in dem Buschwerk war. Kein Geräusch er‐ klang: es war so still wie vor ein paar Tagen, als wir zusammen hier waren. Eine beunruhigende, furchteinflößende Stille. Und das Mondlicht drang durch die Wolken. Stille und Mondschein, und vorher Aufruhr und Finsternis. Ich zuckte vor Ei‐ seskälte und Entsetzen zusammen. Ich dachte an Sallys merkwürdiges Interesse für das Scheusal, das nachts erschienen war. Ist es nicht merkwürdig, wie alles auf Sybil hinausläuft?« hatte sie mich gefragt. Und als ich dann die Erscheinung mit dem Zeichen des Kreuzes abgewehrt hatte, hatte mir Sally gezeigt, wieviel ihr das Wesen be‐ deutete. Mir fiel der verwunderte, erregte Aus‐ druck ihrer Augen ein.
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Ich wußte, daß Sally dem finsteren Unhold verfal‐ len und in ihn vernarrt war. Und ich wußte, daß Sally aus eigenen Stücken diesen verlassenen und verwunschenen Ort aufgesucht hatte. Ich hatte Angst vor dem, was sich meinen Blicken bieten würde. Ich kann nicht sagen, wie lange ich in der Stille stehengeblieben war. Die Zeit war anscheinend zum Stillstand gekommen. Ich hätte ebensogut ei‐ ne Million Meilen weit von den lastenden, rätsel‐ haften Bergen entfernt sein können. Vielleicht war ich nur ein paar Sekunden stehengeblieben, viel‐ leicht aber auch eine halbe Stunde. Ein leises Ge‐ lächter löste den Bann. Ich hatte es schon einmal gehört, in einer der ent‐ setzlichen Nächte. Mit furchtbarer Gewißheit erinnerte ich mich dar‐ an. Es war die Nacht gewesen, in der das Wesen der Finsternis in sein lebloses untotes Dasein getre‐ ten war. Als das Scheusal an dem Gewand in die Höhe geklettert war und an der Brust der Frau ab‐ scheulichen Trost gefunden hatte. Alles drehte sich mir im Kopfe. War es erst vier Tage her, daß das schreckliche Wesen in unser Leben getreten war?
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In nur vier Tagen und vier angsterfüllten Nächten war mein angenehmes Leben ausgelöscht worden. Vier Nächte! Und in einer entsetzlichen Nacht hatte ich von den unwirklichen Lippen einen schwachen, silberhel‐ len Laut gehört. Von den Lippen einer Frau, die viele Jahre hindurch in der verfallenen Kirche be‐ graben gewesen war, deren eingestürzte Mauern mich nun umgaben. Das grausige Grabesgeschöpf hatte genauso ge‐ lacht, nur schwächer, leiser, und jetzt schwoll das Gelächter an, wurde hell und ungestüm, versprach dem, der es hörte, genießerisch den Tod! Ich wuß‐ te, ich hörte die Freudenlaute eines Vampirs. Ich ging weiter. Wie einfach das klingt. Ich ging weiter. Es war mir jetzt unverständlich, daß ich noch vernünftig han‐ deln konnte. Nein, ich war ziemlich außer mir, als ich den Ort der Nicht‐Toten betrat. Das Entsetzen hatte sich gelegt. Eine verbissene Ruhe erfüllte mich. Wenn ich dem Wesen gegenübertreten soll‐ te, so konnte ich eben nicht anders. Selbstverständ‐ lich? Die Selbstverständlichkeit des Schicksals. Ich trat auf die Unkräuter und den Moder der seit Jahren verfaulten Pflanzen – und dann befand ich 183
mich in dem unwirklich ausgeleuchteten Kirchen‐ schiff. Mir bot sich ein Anblick, der mich bis in die Seele erschütterte. Sally Fenton lag mit ausgestreckten Armen auf der Bronzeplatte. Ihre Augen starrten in die Höhe, und ihr Mund war weit geöffnet und keuchte in Erre‐ gung und Ekstase, in ekler Verhöhnung der Lie‐ beslust ‐und über ihr kniete das Scheusal aus der Gruft. Der Wiedergänger kehrte mir den Rücken zu. Als ich eben hinsah, erklang das silberhelle Lachen des Vampirs, und Sally stimmte mit in das Rasen ein. Ich hörte ein leises, schlürfendes Geräusch und sah das Tier der Finsternis. Im Mondlicht sah ich schwarz das Blut rinnen. Schoßhund und Dame, zwei schimmernde und doch körperhafte Gestalten beugten sich mit trie‐ fenden Mündern zum Hals Sally Fentons nieder. Ich war auf diese abstoßende Szene gefaßt gewe‐ sen. Die Scheusale aus dem Grab hatten mich in den letzten Tagen und Nächten über ihre Absicht nicht im unklaren gelassen. Ich hatte den betäubenden Gifthauch gespürt, als sich Lady Sybil und ihr Schoßhund aus dem Grab erhoben. Ich hatte ihre 184
Bewegung gesehen und so etwas wie weißes, le‐ bendes, pulsierendes Fleisch zu Gesicht bekom‐ men. Ich hatte ihr leises, hämisches Lachen gehört. Obwohl ich nichts über das rätselhafte Leben wuß‐ te, das sich in spiritistischen Sitzungen, bei schwarzmagischen Feiern und dergleichen regt, fiel mir doch instinktiv das Mittel ein, mit dem nicht‐tote Wesen abgewehrt werden können. Bei früherer Gelegenheit hatte ich ein Kreuz geschla‐ gen, und das neblige, schimmernde Wesen hatte innegehalten. Ich wußte, das Kreuz besaß Macht. Und hier gab es ein uraltes Granitkreuz, das vor langer Zeit vom Altar gestürzt war – ich hatte es bei meinem ersten Aufenthalt in der Ruine be‐ merkt. Ich wußte, was zu tun war. Ich schrie: »Sally!« Die Stille war so ungestört, daß ich dachte, die Zeit selbst hätte in der mondbeschienenen Ruine das Zeitliche gesegnet. Der Wiedergänger ‐der Vampir aus der Gruft – unterbrach sein ekliges Mahl, als ich meinen herausfordernden Ruf ausstieß. Es drehte sich nicht um. »Sally! Sally, um Gottes willen, antworte doch!« Sally hatte meinen Ruf ebenfalls gehört. Sie lag sehr still da. Und dann sah ich, wie sie den Kopf 185
ein wenig bewegte, um mich anblicken zu können. Ich sah im Mondlicht den Kopf von ihrem herrli‐ chen aschblonden Haar umhüllt. Und ich sah ihre leuchtenden Augen, die ganz winzig geworden waren, aber in einem seltsamen, erstaunten Licht erstrahlten. Ihre Wangen waren eingesunken, die Knochen traten spitz hervor. Und ihr glatter, run‐ der Hals wirkte gealtert. Ich wußte, daß der Vampir ihr fast den letzten Tropfen Herzblut geraubt hatte. Aber ich konnte nicht nur einfach zu ihr hingehen. Das ging nicht, ganz gleich, wie sehr ich sie liebte, wie groß die Gefahr war. Sie mußte zu mir kommen. Ich rannte los und stolperte auf die Überreste des Hochaltars zu. Und ich rief Sally mit all den zärtli‐ chen Namen, die wir uns gegeben hatten, rief die Sprüche, die ich als Kind gehört hatte, biblische Sprüche voller Herrlichkeit und unerklärlicher Kraft. Ich hörte mich Gott und all seine Engel an‐ rufen und erkannte kaum meine Stimme wieder. Ich hörte meine unnatürliche hohe Stimme Jesus anrufen, er möge meine Frau und auch mich erret‐ ten, um des Lieben Jesu willen möge ein himmli‐ scher Sendbote niedersteigen, um das Wesen aus‐ 186
zutreiben, das die Kirche und all das, was sie einst dargestellt hatte, verhöhnte. Ich glaube, meine Gebete wurden erhört. Bis auf den heutigen Tag bin ich überzeugt, daß in jener Nacht Gottes Hand eingriff. Was der Priester auch über die Macht der Dämonen gesagt hatte, ich glaube, die alte Kirche war noch so sehr ein Ort der Heiligkeit und langwährenden Frömmigkeit, daß noch ein Rest himmlischer Kraft vorhanden war. Denn als ich Sally rief und mich zu dem be‐ hauenen Stein hin bewegte, verfärbte sich das Blutrot des Mondes zu orangerot, wurde dann gelb und schließlich weiß. Und dunkle Wolken wanderten über die Mondscheibe, und das helle Weiß verging, und der Vampir und sein Schoß‐ hund wurden geschwächt. Nur ein paar Augenblicke, ein paar Sekunden lang. Und ich merkte, daß ich Sally Fenton noch retten konnte – und mit ihr meine geistige Gesundheit. Ich hörte sie rufen, und diesmal war es ihre eigene Stimme und nicht der silberhelle, böse Klang, den ihr der Wiedergänger eingegeben hatte. Sally, meine Frau, rief in der Not ihrer Angst nach mir.
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Ich versuchte über die Steinhaufen zu der schwar‐ zen Platte hinzusehen, aber im Kirchenschiff war Nebel aufgestiegen. Ein erstickender, dichter, weißgrauer Dunst, der sich unheimlich langsam bewegte und unangenehm nach Grab roch. Ich wußte, daß neue Gefahren drohten, aber in den Nebel konnte ich nicht eindringen. Sally Fenton mußte zu mir kommen. Ich wartete und tastete den nassen Stein ab. Meine Finger folgten einem Muster und mir fiel die Ver‐ zierung des Kreuzes ein. Es war uralt, stammte aus der Zeit vor den Normannen. Es zeigte ein Untier, das von einem Mann mit einem Speer ganz durch‐ bohrt wurde – das Böse, wie es von einem mutigen Mann vernichtet wurde. Ich jubelte auf, als ich den massiven Stein hob. Aber wo war Sally? Ich strengte meine Augen an, versuchte in dem brodelnden Dunst eine Gestalt auszumachen. Und dann gaben die Wolken den Mond wieder frei, und ich wußte, daß »die Zeit der Erleichterung bald vorüber sein würde. »Sally!« rief ich wieder. »Andy – hilf mir!« Ich ließ den Stein sinken. Und dann rief sie wieder, ich wußte jedoch, die Stimme klang falsch. 188
»Sally, komm her zu mir.« »Andy, du mußt herkommen ‐jetzt gleich!« Nicht Sally sprach da zu mir. Ich wußte es. »Komm her!« brüllte ich. Dann hörte ich das silberhelle Lachen, das wie ein elektrischer Schlag mein Gehirn durchzuckte. »Liebling, komm her zu mir! Komm zu mir, mein Schatz! Komm, mein Süßer, mein Herzensgelieb‐ ter, meine Kröte, meine süße Ratte, mein geliebter Alf – komm zu deiner Sally!« Und nun ertönten schmutzige Worte‐ die Sally nie benutzt hatte. Aufforderungen, die aus einer gänz‐ lich verderbten und verlorenen Seele kamen. Und ich wußte, es war der Vampir, der da rief. Was konnte ich nur tun? Ich wagte es nicht, in den giftigen Dunst einzud‐ ringen. Und doch wollte ich auch nicht länger zö‐ gern, da das Mondlicht wieder die Kirche erhellte und den Wesen der Finsternis Kraft und Unters‐ tützung brachte. Und Sally war vom Blutverlust betäubt, gab keine Antwort, und das Wesen hing über ihr! »Sally«, schrie ich, »wenn du mich je geliebt hast, dann versuche, von der Bronzeplatte wegzukom‐ men!« 189
Sie verstand mich. Ich hörte ein Stöhnen, und den Geräuschen konnte ich entnehmen, daß sie sich bewegte. Kunststoff und Stein – Sallys Regenman‐ tel strich über die nassen Steine. Das Mondlicht lag wie ein lebendes Wesen über uns. In dem Maße wie das strahlende Licht die Kirche füllte, zog sich der dichte, brodelnde Gifthauch zu‐ rück. Ich sah wieder das Untier, das halb im Schat‐ ten, halb im Mondlicht stand. Zu seinen Füßen das zähnefletschende Tier der Finsternis, das ihm Nah‐ rung gebracht hatte, bis es aus eigener Kraft seinen Durst stillen konnte. Doch Sally war ein Dutzend Schritte entfernt und kam auf Händen und Knien auf mich zugekro‐ chen. Mich packte der Zorn. Ich sah die Augen Sal‐ ly Fentons. Vor Entsetzen waren sie weit aufgeris‐ sen und leuchteten. Ich riß den riesigen Stein, der in der alten Kirche das Kreuz gewesen war, in die Höhe. Eine unge‐ heure Anstrengung, ihn hochzuheben – ich bin stark, aber mir drückte es fast den Rücken durch. Und doch hielt ich ihn in die Höhe und stolperte dann vorwärts, machte einen Bogen um Sally und kam dann beinahe ins Rennen, bevor ich die 190
Wurfwaffe schleuderte. Ich warf sie auf die weiße Gestalt zu. Der Stein flog in glattem Bogen aus meinen übel zugerichteten Händen, als flöge er aus eigener Kraft. Sally kreischte. Ihr Kreischen ging jedoch in dem entsetzlichen, verzweifelten Angstschrei des unheimlichen We‐ sens unter. Ich sah, wie sich das schimmernde Fleisch teilte und sich für Augenblicke zersetzte. Dann gab ihm das Mondlicht neue Kraft. Ich wartete nicht länger. Das Kreuz mußte über eine eigene mystische Kraft verfügen, da es die Tiere der Finsternis in Schre‐ cken versetzt hatte. Ich wartete nicht ab, bis ich die Folgen meines Angriffs studieren konnte. Ich sah die erste Wirkung, sah, wie Verwesung die un‐ wirkliche Gestalt des Wesens ergriff, dann packte ich Sally und rannte zur Lücke in der Mauer. Hinter mir kreischte es gespenstisch. Aus einer zweiten Kehle kam ein langgezogenes, bösartiges Heulen, und ich wußte, der Schoßhund mit der großen Schnauze hatte es ausgestoßen – ich hatte es gehört, als er die armen Lämmer auf den Hochweiden jagte. Lady Sybil und ihrem Schoß‐ hund war ein Strich durch die Rechnung gemacht 191
worden. Ich hatte Sally Fenton ihrer blutrünstigen Gier entrissen. Ich stolperte über Wurzeln, rannte gegen Steine, versank im Schlamm, kam wieder auf die Beine und torkelte weiter, und dann war ich auf der schmalen Straße. Das Herz schlug mir bis in den Hals, und ich rang nach Atem. Und ich hörte, wie Sally meinen Namen rief. So leise rief sie, daß es eher nach einem Tierlaut als nach der Stimme ei‐ ner erwachsenen Frau klang. Aber es war ihre Stimme. Sie sagte mir, es täte ihr leid. Mein Herz setzte vor Schreck aus. Ich vergaß ganz, daß ich einen Motorroller hatte. Ich stolperte durch den kalten Regen, zog den Kopf ein und hielt sie wie ein Kind an meine Brust gepreßt. Ich erreichte Stymead, als sich dort die Männer versammelten. Sie sahen mich und kamen auf mich zu. Jemand nahm mir Sally ab, und ich hörte einen raschen, erstickten Fluch. Wieder kam mir meine Stimme völlig fremd vor: »Wollen Sie mir endlich helfen!« Mich umgab ein Kreis fest entschlossener Gesich‐ ter. Niemand blickte weg. Man hielt meinen wü‐ tenden Blicken stand. 192
Ich sah den Mann mit der Akne. Er schien von großem Zorn erfüllt zu sein. Er wußte, was ge‐ schehen war. »Wir wissen, was zu tun ist«, sagte er. »Wir hätten es schon früher tun sollen.«
12.
Mir wurde schwindlig, und ich stürzte nach vorn. Ich durfte jetzt aber nicht die Besinnung verlieren. Ein paar Augenblicke hielt man mich aufrecht, dann schüttelte ich den Kopf und spürte, wie der Wind an mir zerrte, wie er mich mit eiskalten Fin‐ gern ins volle Bewußtsein zurückholte. Ich hörte einen kurzen Wortwechsel, dann sah ich, wie Sally behutsam in einen Wagen gelegt wurde. Ich befrei‐ te mich von den Armen, die mich hielten und ging zu ihr. Eben wurde der Motor angelassen. »Wenn Sie wollen, fahren Sie mit, mein Junge!« rief der picklige Mann. »Sie ist jetzt in Sicherheit – lassen wir ihn fahren!« befahl er. Ich kannte noch eine andere Gestalt, den ungepf‐ legten Wirt des »Schwarzen Alf«. Sein Mantel
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glänzte schwarz vor Nässe, und sein buschiges Haar klebte am Kopf. Er starrte mich in mitleidigem, verwirrtem Zorn an. »Sie kommt ins Krankenhaus – dauert nur eine Viertelstunde. Fahren Sie mit.« Er hielt die vordere Beifahrertür auf. »Steigen Sie ein. Na los.« Hinter mir hörte ich wütend die Männer murmeln, die zugleich ängstlich und entschlossen waren. Als ich einstieg, blickte ich mich noch einmal um. Ich sah Sally in tiefer Bewußtlosigkeit auf dem breiten Rücksitz des großen alten Rover liegen. Ich spürte, wie die Wut der Männer von Stymead auf mich überging. Sie sagten, sie wüßten, was zu tun sei. Ich spürte intuitiv, daß ich mitmachen mußte, ganz gleich, wie verzweifelt das Vorhaben war, das sie planten. Der Mann mit der Akne bemerkte meine Unent‐ schlossenheit. »Fahren Sie ins Krankenhaus!« rief er. »Bringen Sie sie in Sicherheit und kommen Sie wieder her – Ben wird Sie zurückfahren.« Ich sah den Fahrer an, einen untersetzten jungen Mann.
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»Tun Sie, was die sagen«, meinte der Fahrer. »Set‐ zen Sie sich richtig hin – Mann, die braucht sofort Hilfe!« Ich tat, was mir gesagt wurde, und warf noch ei‐ nen Blick auf die regennassen Männer auf der Dorfstraße. Eine wilde Fahrt; der Mann am Steuer wußte, wie ernst die Lage war. Er berichtete mir ein wenig von dem, was am Abend im Dorf vorgefallen war. Er fuhr mit Absicht wie ein Wilder, so daß mir die Luft wegblieb, wenn wir durch Kurven schleuder‐ ten, die vor Regen naß waren, und nur ganz knapp an Felsvorsprüngen vorbeikamen. Der Wirt hatte die Sache in die Hand genommen. Er hieß Arthur Meggitt und hatte Sally gesehen, als sie aus dem Manchester‐Bus stieg. Ben, der Fahrer, sagte mir, Meggitt habe Sally als die Frau wiedererkannt, die schon öfter die Kirche aufge‐ sucht hatte – und habe gewußt, warum sie hin‐ ging. Ben war kein sehr gesprächiger Mann; er gab während der Fahrt ins Krankenhaus nur unzu‐ sammenhängende Sätze von sich. In seinem Kopf spukten andere Dinge herum als die Geschichte der Familie de Latours, aber er sah ein, daß ich ein Recht hatte, die Wahrheit zu erfahren. 195
Es handelte sich nur um eine Sage. Die Männer von Stymead hatten die Urkunden des alten Klos‐ ters aufbewahrt. Die Mönche hatten die abstoßen‐ de und unglaubliche Geschichte der Lady Sybil und ihres Schoßhundes aufgeschrieben, und als dann zur Zeit Heinrichs VIII, das Kloster im Zuge der Kirchenverfolgung in Schutt und Asche gelegt wurde, waren die Urkunden gerettet worden. Denn bevor die Kirche ein Kloster geworden war, hatte sie zum damals bedeutenden Dorf Stymead gehört. Und die Familie de Latours war die Herr‐ schaft des Dorfes. Zur Zeit des siebenten Lords von Stymead war das Entsetzen eingezogen. Der Mann, dessen Anden‐ ken die Bronzeplatte wachhielt, war ein Kreuzfah‐ rer gewesen, der lieber herumreiste als kämpfte. Seine Züge hatten ihn in Länder geführt, die die heidnische Religion noch kannten und sich an sie hielten. Er war in der Steiermark und in Kroatien gewesen und hatte sich kurz bis nach Transsylva‐ nien vorgewagt. In den öden Gebirgen dort hatte er das Geschöpf gefunden. Er dachte, er bringe seiner Dame eine ungewöhnliche und anziehende Hunderasse mit: das Tier wurde jedoch ihr Lehrmeister in der 196
Schwarzen Kunst, da alles das, was in Lady Sybil an Bösem schlummerte, durch die nächtlichen Angriffe des Tiers mit der großen Schnauze zum Vorschein kam. Dame und Hund streiften durch die Nacht und lernten die unstillbaren und ab‐ scheulichen Freuden der Vampire kennen. Ich fragte, wie es kam, daß man soviel über die Vergangenheit wußte, und bekam meine Antwort. Ein Priester der damaligen Zeit, dessen Name un‐ bekannt war, hatte berichtet, daß Geschöpfe der Finsternis in der Gegend ihr Unwesen trieben. Er war ein gelehrter Mann und hatte seinen Büchern entnommen, daß es solche Wesen gab. Die gerisse‐ nen Tiere, die toten Kinder mit den offenen Augen, die Leichen von Männern und Frauen in der Um‐ gebung des damals blühenden Dorfs waren die Opfer eines Wiedergängers, eines blutsüchtigen todeslosen Wesens: eines Vampirs. Der Priester hatte die Männer des Dorfs dazu ge‐ bracht, etwas zu unternehmen. Sein Bericht erzähl‐ te, wie er die Männer in die rechte Art eingewiesen hatte, die Macht der nächtlichen Wesen zu bre‐ chen. Und dann berichtete der Priester, wie er he‐ rausgefunden hatte, um wen es sich bei den Scheusalen handelte. 197
Die Dörfler waren vor Unentschlossenheit wie ge‐ lähmt. Aber nachdem sie in einer Nacht drei Kinder ver‐ loren hatten, erhoben sie sich – denn das schreckli‐ che Wesen, von dem die sterblichen Überreste der Lady Sybil de Latours besessen waren, benahm sich kühn und blutdürstig. Man hatte die schla‐ fende Frau und das Scheusal gefunden, das Scheu‐ sal, daß sie verdorben hatte – und doch auch nicht verdorben hatte, da der Priester Anspielungen auf dunklen Machenschaften in ihrem Leben machte, bevor sie Lord Humphrey geheiratet hatte. »Der Priester und die Männer vom Dorf haben sie also gefunden?« fragte ich. Wir waren jetzt fast in der nächsten Kleinstadt. Ich erblickte Straßenlampen und naß schimmernde Häuser. Sally hatte während der ganzen Fahrt nicht einen Ton von sich gegeben. »Sie und den Alf haben sie gefunden«, sagte Ben. »Fanden sie und begruben sie unter der Bronze‐ platte, versteckten die dann unter weißem Stein. Aber man wußte, daß man sie nicht endgültig er‐ ledigt hatte. Der Priester war in dieser Nacht um‐ gekommen, und man hatte nicht alles nach seinen Anweisungen ausgeführt. Die Geschichte wurde 198
mündlich vom Vater zum Sohn weitergegeben, damit man auf den Tag vorbereitet war, an dem die Wesen wieder zum Vorschein kommen wür‐ den.« Er lenkte den Wagen in eine schmale Einfahrt. Ich hörte Kies knirschen und sah die Lichter des Kran‐ kenhauses. »Der Wirt wußte also, was wir gefunden hatten?« »Seit neunhundert Jahren gibt es Meggitts im Dorf. Er wußte Bescheid. Wir alle kannten die Wahrheit. Wir hielten sie für eine leere Überlieferung, aber wir wußten, daß die Giftschlange ihren Kopf erhe‐ ben würde. So steht’s in der Bibel, wenigstens in der alten Fassung.« Mir fiel jetzt ein Spruch aus Kindertagen ein, so wie mir in der verfallenen Kirche die Worte einge‐ fallen waren, die ich brauchte. »Beschütze uns vor dem Wurm, der da nicht stirbt«, sagte ich. »Bewahre uns vor der Macht der giftigen Schlan‐ ge«, fiel Ben ein, und wieder war meine Seele von tiefstem Entsetzen gepackt. Mir fiel das Mondlicht und das abscheuliche Lachen ein. Schwarzes Blut, das der stummen Gestalt hinter mir ausgesaugt worden war. 199
»Morgen machen wir sie fertig«, sagte Ben. Er hielt den Wagen an. Ich riß die Tür auf, und wir trugen Sally Fenton hinein. Wir hatten Glück. Es gab einen Nachtdienst – ei‐ nen verschlafenen jungen Arzt und eine farbige Krankenschwester, die sofort in Aktion traten. Ich wartete und bat Ben, bei mir zu bleiben. Während wir vor dem grünen Kunststoffvorhang blieben, sahen wir nur die Füße des Arztes und der Schwester. Wir hörten Flüssigkeiten gurgeln, Sauerstoff zischen und eine leise Unterredung. Lange dauerte es nicht. Ich erhaschte einen Blick auf Schläuche, Flaschen und auch auf Sally, konnte aber nicht sagen, ob sie bei Bewußtsein war. Dann kamen die Fragen. Ben wurde schweigsam. »Hat sie schon einmal an Blutarmut gelitten?« wollte der Arzt wissen. Er stellte noch andere Fra‐ gen, ob sie an übermäßigen Blutungen leide, ob ich mit Sally verwandt sei, was sie gemacht hatte und wo sie gewesen war. Ich machte es Ben nach und sagte wenig. »Ich kann nur eine Reihe kleiner Einstiche am Hals ausmachen«, sagte der Arzt verwirrt. »Sie wird
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doch nicht von irgend etwas angegriffen worden sein?« Vor Ärger schoß mir das Blut in den Kopf. Mir war schwindlig. Ich überlegte, ob ich dem verblüfften jungen Arzt erzählen sollte, was geschehen war, machte aber den Mund nicht auf. Es war vorbei, und ich nahm mir vor, dafür zu sorgen, daß der Vampir vernichtet wurde bevor sich die nächste Nacht niedersenkte. Ich wollte mich nicht den Fol‐ gen aussetzen, die entstehen würden, wenn sich die Sensationspresse des Falls annahm. Wenn es dazu käme, konnte die empfindsame Sally großen Schaden erleiden. Nein, dachte ich mir, soll der Arzt denken, was er will. Ich wollte Sally vor den Folgen ihrer Verführung durch die bösen Wesen bewahren. »Sie wird doch durchkommen?« fragte Ben. »Ja, Sie haben sie rechtzeitig hergebracht. Es geht nur um den Blutverlust. Ihre Blutgruppe ist nicht selten, wir haben also keine Schwierigkeiten. Aber ich würde gern wissen, wie sie in diesen Zustand gekommen ist.« Er sah Ben und mich fest an. »Was meinen Sie, Doktor?« fragte Ben. Er zuckte die Achseln. 201
»Ich habe so etwas noch nie gesehen. Was für Tiere gibt es denn hier im Land, die so einen Blutverlust verursachen können? Sobald es richtig hell ist, überprüfe ich ihre Krankheitsgeschichte. Geben Sie mir die Adresse ihres Arztes.« Ich sagte ihm, was er wissen wollte, und richtete mich auf eine lange Wartezeit ein. Ich hatte mir vorgenommen, mindestens einige Stunden im Krankenhaus zu bleiben. Ich wollte warten, bis sie mich wiedererkannte. Bis ich mir sicher war, daß sie sich von dem Wiedergänger befreit hatte. Ben konnte seine Ungeduld kaum verbergen. Es wurde zwei Uhr, und die Minuten verstrichen unendlich langsam. Wir tranken Tee, mit dem uns eine stumme Helferin versorgte, und Ben erzählte die Sage von der Kirche in Stymead und ihren wi‐ derlichen Vampiren zu Ende. Die armen Opfer dieser Welle von Vampirismus im vierzehnten Jahrhundert mußten aus ihren Gräbern genommen werden. Soweit folgte man den Anweisungen des Priesters, da jede einzelne Leiche, sei sie Mann, Frau oder Kind, wiederum zu einem Geschöpf der Finsternis werden konnte. Al‐ le wurden exhumiert und dem schrecklichen Ge‐
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metzel unterworfen, das zur Vernichtung eines Vampirs nötig war. Diese Angaben fanden sich in den alten Urkunden. Die Heimsuchung war abgewehrt worden, bevor sie das ganze Dorf vernichten konnte. Und doch war das Dorf geschrumpft und hatte seine ehema‐ lige Bedeutung eingebüßt. Bis heute waren die Auswirkungen des Spuks nicht ganz überwunden. Stymead wurde zu einem vergessenen, traurigen Ort, der kaum bewohnt war. Fremde fühlten sich dort nicht wohl. Wer sich dort ansiedeln wollte, blieb nicht lange. »Wir haben das Wesen wieder zum Leben er‐ weckt«, sagte ich. »Reiner Zufall«, sagte Ben. »Sie konnten das nicht wissen.« »Und doch sind wir es gewesen. Am Mondlicht lag es.« Ich erzählte ihm von den entsetzlichen Nächten. »Mondlicht auf dem Bild«, sagte Ben verwundert. »Im Dorf hatte man immer Angst vor dem Mond‐ licht – wir wußten, daß Lady Sybil erstarken wür‐ de, wenn sie vom Mondlicht getroffen würde, vor allem in einer Nacht wie heute. Walpurgisnacht. Aber Mondlicht auf einem Bild!« 203
»Als Sally sie sah, konnte sie sich nicht von ihr fernhalten.« »Die Sage berichtet das gleiche. Der Vampir stellt sich auf einen Menschen ein und läßt ihn nicht mehr los. Es heißt, das arme Opfer ist wie verliebt, bis ihm sein ganzes Leben ausgesaugt ist.« Ich zitterte jetzt. Die Nacht verstrich, und es mußte etwas geschehen. Ich stand auf und suchte die Nachtschwester. Sie meinte auch, daß Sally friedlich schlafe, und fragte den Arzt, ob ich einen Blick auf sie werfen dürfe. Auf den weißen Laken wirkte ihr Gesicht schmal und zerbrechlich. Aber ihre Haut war nicht mehr bleich und grau. Die leichenhafte Blässe war einer frischen Farbe gewichen. Obwohl ihre helle Haut fahler als sonst war, hatte die lebensrettende Transfusion ihre Wangen wieder mit einem Hauch von Leben überzogen. An ihrem Hals sah ich eine Ader, die gleichmäßig pulsierte. »Sally?« flüsterte ich. Die Schwester zog mich warnend zurück. »Sie muß schlafen. Sie war in einem Schockzus‐ tand, als sie herkam – sie schläft jetzt tief, sprechen Sie sie also nicht an.« 204
»Ich wollte nur ...« »Lassen Sie sie bei uns. Hier ist sie sicher.« Ich blickte die große, mütterliche Frau an und dachte an das Wesen, daß vor kurzem neben Sally gekniet hatte. Ich spürte, wie mein Vertrauen wuchs. Hier war sie in Sicherheit. Die Schwester hatte recht. Ich sah Sally im Schlaf lächeln, als hörte sie, was wir sagten. Meine Gefühle übermannten mich – am liebsten hätte ich sie aus dem Bett gehoben und ihr durch meine Umarmung Leben und Stärke ge‐ geben, ganz gleich, wie geschwächt ich war. Ich dachte, daß ich auch morgen früh noch mit ihr sprechen könnte. Wenn die Ungeheuer der Fins‐ ternis gänzlich vernichtet waren und Stymead endlich wieder frei atmen konnte. Von der Tür her sah ich noch einmal in das Zim‐ mer. Es war schwach erleuchtet. Ben wartete auf mich und konnte kaum verhehlen, daß er schleu‐ nigst losfahren wollte. Ich sah Sally lächeln. Das Lächeln verwirrte mich, da ich es schon früher gesehen hatte und mir nicht eingestehen wollte, daß ich es jetzt wieder sah. Wieder lag jener wis‐ sende Zug auf den Lippen, der mich auf unange‐ 205
nehme Gedanken brachte. Genau in dem Augen‐ blick drehte die Nachtschwester die Lampen dunkler, und ich machte die Schatten für Sallys Lächeln verantwortlich. Ich redete mir ein, sie habe sich im Schlaf fast un‐ merklich bewegt. Da war nur ein schwaches Lä‐ cheln der Zuneigung gewesen, als ich mich mit der Nachtschwester unterhielt. Sonst nichts. »Fertig?« fragte Ben. »Ich bin soweit.« »In zwei Stunden ist es Tag.« »Ich weiß, was getan werden muß.« »Aber können Sie es denn?« »Wer denn sonst?« 13.
Wir fuhren so schnell zurück, wie wir gekommen waren. Auf der Rückfahrt war die Nacht nicht mehr so wild. Ich spürte die Windböen nicht mehr so stark. Auf der Fahrt zum Krankenhaus war selbst der tonnenschwere alte Wagen auf den kur‐ venreichen Straßen hin und her geschleudert wor‐ den, aber das Wüten der Elemente hatte sich in‐ zwischen gelegt. Der Regen prasselte nicht mehr 206
so ungestüm gegen die Windschutzscheibe. Nur noch wenige Blitze erhellten das Bergland, aber es war nicht mehr das blendende Leuchten wie vor ein paar Stunden. Und die Finsternis lichtete sich. Als wir ins Dorf kamen, fuhr Ben weiter. Ich kann‐ te unser Ziel. Ich war wieder bei Kräften, weil in mir ein feuriger Haß loderte. Ein Haß, der jeden Gedanken an Sally Fenton auslöschte. Ich war nur noch für das blutige Geschäft zu haben, das ich zu Ende führen wollte. Wenn ich jetzt die Nacht der Dämonen im Rück‐ blick an mir vorbeiziehen lasse, erfüllt mich bitte‐ rer Zorn 131 auf mich selbst. Ich frage mich, wie ich so blind sein konnte. Aber im Innersten weiß ich, daß mich die primitiven und kaum begriffenen Teile meines Geistes, die gewöhnlich eingedämmt sind, so gedankenlos und unüberlegt vorantrieben. Ich war wie ein Wilder, der sich einem blutrünstigen und wilden Ritual verschrieben hatte. Ich vergaß die Macht des Feindes. Ich, der ich die Spukerscheinung im hellen Mondlicht gesehen hatte. Ich, der gesehen hatte, wie aus tanzenden Stäubchen in der Luft weißes Fleisch wurde. Ja, ich war derjenige, der alles vergaß, der sich verrechne‐ 207
te, der das größte Unglück heraufbeschwor – aber ich greife voraus. Mir blieb die Wahrheit noch eine Weile verborgen. Als wir die Kirche erreichten, dachte ich, wir hät‐ ten es beinahe geschafft. Ich wußte, die Aktion würde bestimmt gräßlich werden, aber was später geschah, war zum Glück im Nebel der Zukunft verborgen. Im Augenblick war ich fast glücklich. Ich reckte mich vor Kraft und war stolz auf meinen Erfolg. Ich hatte Sally Fenton dem Vampir entris‐ sen – und jetzt wollte ich ihn vernichten. Als wir die uralte Kirche betraten, stand die Däm‐ merung kurz bevor. Der Anblick, der sich mir bot, riß mich aus meinen Träumen. Ich sagte schon, daß ich in einem Traum einen furchtbaren Verlust und lebenslängliche Verzweif‐ lung erlebt hatte – in der Nacht, als Alf, der Schoß‐ hund Lady Sybils, sein schlimmes Werk begann – und jetzt wurde mir dieses Entsetzen wieder voll bewußt. Im Traum hatte ich einen Erdhügel, einen Kreis zorniger Gesichter und ‐ein offenes Grab gesehen. Ich merkte, wie mir der Atem stockte, weil die Männer aus dem Traum jetzt vor mir standen. Und 208
da war auch der Erdhügel. Und das offene Grab. In ihm sah ich verrostete Teile einer Rüstung und zerfallenes Gebein. Es fehlte nur noch die weißumhüllte Gestalt, die ich in meinem Traum erblickt hatte. In meinem Geist regte sich das kalte Entsetzen. Ich stand dicht vor einer Panik. Ich bemerkte, daß mich der Wirt des »Schwarze Alf« aus geröteten Augen anstarrte. Er hatte erd‐ verschmierte Hände. Die anderen Männer aus Stymead zeigten die gleichen Spuren harter näch‐ tlicher Arbeit. Sie warteten. Im Schein ihrer Lam‐ pen sah ich einen Haufen Werkzeuge. Als ich am Rand des offenen Grabes stand, schob ich meine Furcht beiseite. Ich gehörte zu dem stil‐ len Kreis. »Wird sie zurückkommen?« fragte ich. Meggitt, der Wirt, nickte. »In keiner anderen Erde findet sie Ruhe. Wenn das erste Licht über die Berge kommt, muß sie hierher zurück.« Mich packten Zweifel. »Und wenn sie nicht kommt?« »Sie wird kommen«, sagte der picklige Mann. »Sie muß sich vor dem Sonnenlicht verstecken und 209
kennt nur diesen Boden. Sie liegt hier seit Hunder‐ ten von Jahren. Sie wird sich nur hier verstecken können.« Ich sah die Bronzeplatte, die jetzt an der Mauer lehnte. Sie war in der Mitte abgeknickt. »Das Mondlicht war es...«, fing ich an. »Ja«, sagte Meggitt. »Aber dann haben Sie sich richtig verhalten. Sie trifft keine Schuld.« »Ich hab das alte Kreuz nach ihr geworfen.« »Haben wir uns gedacht«, sagte der Picklige. Er war anscheinend besorgt. Im schwachen Licht der ersten Dämmerung sah ich, daß er und die ande‐ ren bleich waren. Und das war nicht nur auf die nächtlichen Anstrengungen zurückzuführen. Sie wußten, der Wiedergänger war in der Nähe. »Ich muß die Bronzeplatte getroffen haben«, fuhr ich fort. »Ich wünsche bei Gott, ich hätte sie nie ge‐ sehen.« Uns allen kam zur gleichen Zeit die stechende Käl‐ te zu Bewußtsein. Ringsum war nur der Geruch nach feuchter Erde, das helle Licht der Lampen und die Nässe der frü‐ hen Morgenstunden. Und dann packte uns die Kälte. Ich kannte sie schon. 210
Mit der Kälte kam der weißlich‐graue Gifthauch. Die Männer wurden unruhig. Durch den bitteren, Übelkeit erregenden Dunst hindurch sah ich ihre Gesichter und wußte, daß sie vielleicht wegrennen und damit alle unsere Vorbereitungen zunichte machen würden. Neben mir stand Ben, den es schüttelte. Der schreckliche Grabesgeruch ließ Übelkeit in mir aufsteigen. Ich schluckte und ballte die Fäuste, bis mir fast die Muskeln gerissen wären. Mut allein genügte nicht. Meine Genossen hatten Angst. Ein Mann seufzte auf und glitt zu Boden. Der picklige Mann brachte sie dazu, daß sie sich wieder fingen. »Sie kann uns nichts tun. Wir haben den Knob‐ lauch und das alte Kreuz hier – bleibt an euren Plätzen und rührt euch nicht.« »Ja«, knurrte Meggitt. »Diesmal muß es richtig gemacht werden – wir müssen ihr den Tod geben.« »Schau!«flüsterte Ben. Das Gesicht des Wesens hatte ich noch nicht gese‐ hen. Der Gifthauch schien sich zu festigen. Mitten im weißlich‐grauen, kreisenden Dunst konnte ich eine Gestalt erkennen, die die unheimliche Anmut der 211
Erscheinung aus der Scheune hatte. Zu ihren Fü‐ ßen ein schnüffelndes Wesen mit langgestrecktem Leib. Beide Gestalten waren wie Schatten, beide hatten jedoch die Körperlichkeit von Lebewesen. »Mein Gott!« murmelte Meggitt. Ich sah, was ihm aufgefallen war. Während sich der Dunst über die Steinhaufen im Altarraum weiterbewegte, zog sich eine schwarz‐ rote Spur hinter ihm her. Von der Schnauze des Nachttiers tropfte Blut auf die feuchten Steine. Mich packte wieder eine Vorahnung. Die Wesen hatten mehr als nur ihren Hunger gestillt. Sie be‐ wegten sich langsam, als seien sie völlig gesättigt und dächten nur noch an langen Schlaf. Als eine Hand in Sicht kam, sah ich, wie fest das Fleisch des Vampirs war. Die Männer reagierten mit ungläu‐ bigem Gemurmel. Sie hatten die Geschichte ge‐ glaubt, die ihnen von ihren Vorfahren überliefert worden war. Sie hatten mir geglaubt, als ich er‐ zählte, der Vampir sei gekommen. Aber das hier war etwas anderes. Das Wesen in Fleisch und Blut vor sich zu sehen, war etwas anderes. Nach Jahrhunderten war Lady Sybil de Latours dabei, einen festen Körper zu bekommen, lebendig 212
zu werden. Die weißlich‐graue Dunstsäule entzog sie wieder unseren Blicken. Ich glaube, sie schützte sich so, weil jetzt der Mond nur noch wie ein wei‐ ßer Stein am Himmel hing und die Wolken sich in der Dämmerung verfärbten. Uns sah sie anscheinend nicht. Ich glaubte einen leisen, scharfen Laut von der kleinen Gestalt des Schoßhunds zu hören, aber ich kann mich auch getäuscht haben. Die Tiere der Finsternis waren satt und müde. Sie wollten feuch‐ te Erde um sich haben, in ihren Nasen den klam‐ men Geruch zerfallener Bahrtücher spüren. Nach den raschen Mahlzeiten der Nacht sehnten sie sich nur noch nach der Sicherheit des Grabes. Am Rand der offenen Grube blieben sie stehen. Ich fragte mich, ob Lady Sybil merkte, daß die Ge‐ beine ihres Herrn, des Kreuzfahrers Lord Humphrey gestört und seine rostige Rüstung durcheinandergebracht worden waren. Und wenn, so war sie davon nicht betroffen. Ich sah, wie sich der Giftdunst senkte, und als eben die ersten Sonnenstrahlen die Reste des Kirch‐ turms trafen, sah ich mir Lady Sybil genau an. Was für eine Frau sie gewesen war!
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Sie mochte ein untotes, blutrünstiges Wesen aus einem Grab sein, aber an ihrer Schönheit bestand kein Zweifel. Augen tief wie dunkle Teiche in dem totenbleichen Gesicht. Scharfe, regelmäßige Züge, hohe Backenknochen und eine aristokratisch feine Nase. Sie hatte eine Anziehungskraft, als wisse sie, daß wir ihre Schönheit bestaunten. Und die ganze Herrlichkeit war verunstaltet. Die glatte Haut war blutbespritzt, das gutgeformte Kinn teilweise mit rotschwarzem Blut bedeckt. Soviel Schönheit – mit dem Fluch des Vampirs beladen. Sie lächelte in die feuchte Grube hinab, die ihr La‐ ger war. Der Schoßhund leckte ihr die bloßen Fü‐ ße. Als sie die Lippen zu dem Lächeln öffnete, fiel mir in einer gräßlichen Vorahnung ein, daß auch Sally gelächelt hatte. Ich vergaß Sally, als ich die spitzen Zähne im blut‐ roten Mund sah. Glänzende weiße Zähne, die Reißzähne eines Vampirs. Und dann ließ sich das Wesen in das Grab hinab. Sie bemerkte uns nicht und löste sich in dem schwachen Tageslicht anscheinend in nichts auf. Eben noch hatte sie neben der offenen Grube ge‐ standen, dann war sie verschwunden. Ich glaubte
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ganz kurz den Umriß des Vampirs und seines Schoßhunds auszumachen. Ich seufzte auf, und die Männer um mich herum fielen in das erleichterte Seufzen ein. Arthur Meggitt blickte zu mir herüber. Sein falti‐ ges Gesicht war schweißbedeckt. Aber die Ent‐ schlossenheit, die ich in der Nacht an ihm bemerkt hatte, war nicht gewichen. Er zog eine Flasche Whisky aus der Tasche. »Sie brauchen das«, sagte er zu mir. »Und das hier auch«, sagte der Mann mit der Ak‐ ne. Ich trank, soviel ich konnte. Der Whisky bewirkte einen Hustenanfall, beendete jedoch meine Übel‐ keit. Dann nahm ich dem anderen das schwere Messer ab. Ich hatte die breite Klinge im Licht der Taschen‐ lampen blitzen sehen, hatte mir aber nicht vorges‐ tellt, daß es so schwer sein würde. Ich packte es am Griff und sah, wie dick der Stahl war. Ein Schlachtermesser. Die Männer warteten, daß ich etwas sagen würde; mir fiel aber nichts Passendes ein. Der picklige
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Mann glaubte anscheinend, ich brauche eine Er‐ klärung. »Wir wollten einen Priester bitten, herzukommen, ließen es aber sein«, sagte er. »Als ich in Ihren La‐ den kam, wollte ich Sie warnen, obwohl ich wußte, daß es vielleicht schon zu spät war. Schaffen Sie es?« »Ja.« »Schlagen Sie fest zu«, sagte Meggitt. »Noch mehr Whisky?« »Nein.« Die Flasche machte die Runde, und dann zogen die Männer ihre feuchten Mäntel aus. Mir war kaum aufgefallen, daß es zu regnen aufgehört hat‐ te. Die Sonne drang durch die niedrigen Wolken. In der Ruine herrschte eine beklemmende Stille. »Wir haben die Grube tief und breit genug ge‐ macht, um Platz zum Arbeiten zu haben«, sagte Meggitt. »Sie sind soweit?« »Schauen Sie ihr nicht in die Augen«, warnte der Picklige. »Nein.« »Zuerst sie, dann der Hund. Den Hals durchschla‐ gen, mit einem Schlag. Sie sind kräftig genug.«
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Das stimmte. Keinen der zornigen Männer in un‐ serer Runde konnte man gut gebaut nennen, schon gar nicht kräftig. Das heißt, abgesehen von Ben. Aber sein zuckendes Gesicht und die zitternden Hände ließen ihn nicht für die Aufgabe geeignet erscheinen, die man mir zugedacht hatte. Wir ließen uns in die große Grube hinab. Unter meinen Sohlen knirschten Knochen. Dann reichte mir jemand eine Schaufel hinab, und man ließ mich die dünne Schicht Erde entfernen, die den Leib der längst verstorbenen, aber auf unheimliche Weise herumgeisternden Lady Sybil de Latours bedeckte. Meggitt packte das brüchige Bahrtuch. Es löste sich mit einem schmatzenden Geräusch. Und dann sahen wir sie. Lady Sybil. Ihren Schoßhund. Beide lagen im Grab und atmeten. An ihren Lippen klebte Blut, ebenso wie an den Lefzen des Untiers zu ihren Füßen. Wenn sie die Augen aufgeschlagen hätte, hätten wir uns in irrer Flucht gegenseitig zu Boden getrampelt. Ich glau‐ be, ich hätte den Menschen, der sich mir in den Weg gestellt hätte, getötet. Meggitt beeilte sich. 217
Er wußte von der widerlichen Macht der Unge‐ heuer. Bei Tag war sie nur eine schlafende Gestalt, aber selbst am Tag konnte sie einem in die Augen blicken und solches Entsetzen hervorrufen, daß wir jeden Mut verloren hätten. Meggitt flüsterte mir etwas zu. Einer der Männer reichte einen Pflock hinab. Aus Esche. Beste, feste Esche, scharf zugespitzt wie ein Speer. Ich blickte auf die schlanke, anmutige Gestalt hi‐ nab. Sie trug das Gewand, das auf dem Metallab‐ rieb abgebildet war. Die Zeit hatte dem schweren Brokat nichts angehabt. Seine Falten glänzten grün und rot und golden. Meggitt hielt den Pflock über die Brust der Frau. Ich hob das Messer. »Nur ein Schlag!« warnte mich der picklige Mann. »Gott helfe uns!« keuchte ich. Das Untier zu ihren Füßen stieß ein tiefes Knurren aus, als träume es von der nahen Gefahr. Es be‐ wegte sich aber nicht. »Schlag zu!« Ich hörte die Stimme des Mannes neben mir und zielte nach dem weichen Hals.
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Als die Klinge ins Fleisch fuhr, öffnete sie die Au‐ gen. Ich sah wilde Wut, den Basiliskenblick eines bösen Geists und höllische Flammen in den dunk‐ len, tiefen Augen. Als ihr Kopf in den Schlamm flog, füllte ein wildes Kreischen die Grube und hallte dann in der uralten Kirche wider. Das Schmerz‐ und Wutgeschrei der sterbenden Lady Sybil. Kaum war das Messer niedergefahren, stieß Meg‐ gitt den Pflock in das böse Herz. Giftig schwarzes Blut spritzte in dem Grab auf. Ein paar Sekunden lang rann es weiter und versiegte dann. Als der rauschende Blutstrahl zusammensank, schlug ich dem Schoßhund den Schädel ab. Er riß das Maul auf, und ich sah die messerscharfen Vampirzähne. Dann nahm Meggitt einen zweiten Pflock und nagelte den zuckenden Körper am Bo‐ den fest. Ich hörte die Männer mit einem Knurren auf das Zähnefletschen des sterbenden Untiers reagieren. Ich blickte auf und sah ihre Gesichter. Sie waren vor Aufregung gerötet. Die Herrschaft des Scheu‐ sals war zu Ende. Als ich über der Leiche der Frau stand, ihr Blut an meinen Stiefeln, sah ich, wie das weiße Fleisch fal‐ 219
tig wurde. Die Arme verdorrten, wurden gelb und dann schwarz. Das Fleisch zersetzte sich, fiel in den Schlamm und ließ weiße Knochen zurück, die sich in Sekundenschnelle schwärzten. Der Schädel, den das Fleisch so anmutsvoll bedeckt hatte, grins‐ te kurz mit weißen Knochen, weißen Zähnen. Dann sah auch er uralt aus, zerfiel und glich dem morschen Gebein, das einst den Körper von Humphrey de Latours, den Herrn von Stymead getragen hatte. Die Vorstellung des Künstlers hatte sich verwirk‐ licht. Endlich ruhten die sterblichen Überreste von Lord und Lady von Stymead zusammen. Ich fragte mich, ob die Leute von Stymead die Bronzeplatte wieder über erbärmliche Reste legen würden. Wichtig war das jetzt nicht mehr. Mich überkam große Mattigkeit. Ich betrachtete meine Hände. Schwarzer Schlamm und das Blut des Geschöpfs ergaben einen grau‐ samen Anblick. Ich bemerkte, daß auch Meggitt seine Hände musterte und dabei ein bestürztes Gesicht machte. Der picklige Mann sprach aus, was wir dachten.
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»Es mußte getan werden«, sagte er ruhig. »Und jetzt ist es getan. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein. Wir schaufeln sie zu, und dann ist es vorbei.« 14.
Der Rest meiner Geschichte ist rasch erzählt. Ich kann nicht auf die Einzelheiten eingehen, und tat‐ sächlich ist mir vieles von dem, was geschah, nicht mehr klar. Es ging alles viel zu schnell. Die Ge‐ schöpfe, die durch die Nacht streifen, sind für ei‐ nen gewöhnlichen Menschen zu rasch. Während wir uns noch unsere Gedanken machen, schlagen sie schon zu und stürzen uns in Verwirrung. Die Untiere der Nacht sind von tödlicher Schnel‐ ligkeit. Ich fuhr zur Scheune zurück. Meggitt bot mir eine Fahrt mit dem Wagen an, aber ich bestand darauf, den Motorroller zu nehmen. Ich weiß nicht, war‐ um ich ablehnte. Vielleicht dachte ich, am besten gäbe ich Harris das ratternde Vehikel so rasch wie möglich zurück, weil er so nett zu mir gewesen war. 221
Das Kätzchen war gefüttert worden. Von Frau Harris, dachte ich. Ich streichelte es gedankenlos und dachte nur noch an Schlaf. Dann merkte ich, daß ich schrecklichen Hunger hatte. Ich zog also meinen nassen Mantel aus und ging in den Wohn‐ raum. Ich sah das lächerlich verzierte französische Bett und erinnerte mich kurz an unser Glück. Das Kätzchen hinter mir stieß einen Angstlaut aus. Ich hörte mein eigenes verwirrtes, ungläubiges, keuchendes Aufschreien. »Nein! Nein! Um Gottes willen, nein!« Ich stand minutenlang da und brüllte unzusam‐ menhängende Worte, und dann kam Harris zufäl‐ lig vorbei und hörte mich. Er sah mich und holte Postlethwaite. Ich schrie immer noch in voller Lautstärke, als mich die beiden Männer von der entsetzlichen Wand fortzogen. »Mann, was ist los?« wollte der Polizist wissen. »Reißen Sie sich zusammen – Thomas, kommen Sie!« Ich hörte, wie er zu Harris sagte, ich sei ein unaus‐ geglichener, abergläubischer junger Bursche, der gestern abend mit einer Geschichte über ein Mäd‐ 222
chen und eine verfallene Kirche zu ihm gekommen sei. Harris antwortete, und jetzt tönte auch noch meine Stimme dazwischen, da ich die Sprache wiederge‐ funden hatte. Ich zeigte auf den Metallabrieb. »Schauen Sie!« Sie sahen hin. Postlethwaite wurde bleich. »Mein Gott!« murmelte er. Auch Harris erkannte das Gesicht. »Sieht genau aus wie ...« Ich spürte, wie mich die Kräfte verließen. Man packte mich an den Schultern. »Gestern abend war da kein Gesicht«, sagte ich mit schwacher Stimme. Ich wußte, was ich hören wür‐ de. »Und jetzt ist dort Sally Fenton zu sehen.« Harris schüttelte den Kopf. »Also ich weiß nicht, was los ist, aber hier tut sich einiges, was nach einer Erklärung verlangt.« »Ja«, sagte ich, »ich weiß, wieso sie dort hängt.« »Kommen Sie mit zum Hof«, sagte Harris. »Ja«, meinte Postlethwaite, »kommen Sie mit.« »Nein, ich habe zu tun.« »Später, mein Junge«, sagte Harris. 223
»Jetzt! Ich danke Ihnen, aber ich muß zu Sally.« »Ins Krankenhaus?« sagte Postlethwaite. »Ist sie krank? Hat sie einen Unfall gehabt?« »Sie ist tot, und es war kein Unfall.« »Was?« brüllte Harris. Ich glaube, er hatte mich für einen Augenblick im Verdacht. Schließlich sah ich wie ein Mörder auf der Flucht aus. Ich war über‐ nächtigt, meine Kleidung war zerrissen und be‐ fleckt, und an meinen Stiefeln klebte das Blut des Untiers. Postlethwaite wurde ganz Beamter. »Wann ist das geschehen, Sir?« »Irgendwann heute früh. Kurz vor Anbruch der Dämmerung.« »Sie waren im Krankenhaus, Sir?« »Nein. In Stymead.« Postlethwaite fuhr sich über die Stirn. »Sie sind also hingefahren, Sir.« »Ja.« »Und?« Ich berichtete, daß ich Sally gefunden hatte und daß wir sie sofort ins Krankenhaus gebracht hat‐ ten. »Sie ließen sie dort. Was dann?«
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Ich wußte, ich konnte ihm den Rest nicht erzählen. Das war ich den Männern von Stymead schuldig. Sie hatten ihr Bestes gegeben, und das im Ange‐ sicht eines rasenden Ungeheuers. Daß es ihnen nicht gelungen war, Sally zu retten, war nicht ihre Schuld. Ich war jetzt ganz ruhig. Ich wußte, daß ich die Entscheidung, die vor mir lag, in Ruhe treffen konnte. Ich sah wieder zu Sal‐ lys Gesicht hinüber. Sie blickte mit zärtlicher Ruhe vom Metallabrieb, der ganz befleckt und zerknit‐ tert war. Sie wirkte friedlich. Lange würde das nicht so bleiben. Den Tag über würde sie schlafen. »Ich möchte ins Krankenhaus«, sagte ich. »Ich bringe Sie hin«, sagte Harris. »Ich glaube, ich komme mit«, sagte Postlethwaite. »In Anbetracht der Umstände.« »In Anbetracht der Umstände«, stimmte ich ihm zu. Es war gleich, was sie sagten. Ich war ganz ru‐ hig. Verzweiflung kann ein sehr friedlicher Zu‐ stand sein. Gegen das Unausweichliche kämpft man nicht.
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Sie waren sehr mitfühlend. Mir fehlten nur noch die Einzelheiten, und die erfuhr ich rasch genug. Sally war nachts von einer Dame aufgesucht wor‐ den. Sie hatte sich als Verwandte ausgegeben und sofort gesagt, sie sei Sallys Mutter. Es bestand Fa‐ milienähnlichkeit, soviel konnte ich jetzt begreifen. Mir fiel wieder ein, was ich über die Hartnäckig‐ keit eines Vampirs gehört hatte. Er gibt nicht auf, wenn er sich einmal von einem bestimmten Opfer angezogen fühlt. Seine Geschicklichkeit kennt kei‐ ne Grenzen. Und die Nicht‐Toten sind sehr, sehr schnell. Die Nachtschwester hatte den Schoßhund nicht mit in die Station gelassen. Und als die schlanke, anmutige Dame in dem altmodischen Gewand die schlafende Gestalt angeblickt hatte, war Sally so‐ fort erwacht. Die Schwester hatte keinen Verdacht geschöpft. Zwischen dem süß lächelnden Wiedergänger und Sally waren frohe Begrüßungsworte gewechselt worden. Wie man es eben bei einer älteren Frau und einem Mädchen von Sallys Alter erwartete. Niemand war dabei. Niemand sah den Vampir gehen. Er hinterläßt keine Spuren. 226
Und während wir am Grab des Scheusals warte‐ ten, hatte er Sally das Herzblut ausgesaugt. Das Ganze war von einer solchen Ironie, daß ich es fast komisch gefunden hätte. Ich hätte mich am liebsten dem Gelächter des Irrsinns überlassen, aber ich hatte noch eine letzte Pflicht zu erfüllen. Postlethwaite stellte Nachforschungen an. Mir war kein Verschulden anzuhängen, obwohl man natürlich eine Untersuchung durchführen mußte. Man sagte mir, ich solle in der Gegend bleiben und bei der Polizei vorsprechen, wenn sich meine Anschrift änderte. Harris lud mich ein, ein paar Tage auf dem Hof zu bleiben. Ich lehnte ab. Ich verließ das Krankenhaus und fuhr zurück zur Scheune. Beim Abschied gab mir Harris noch eine Warnung mit auf den Weg. Ich sollte nicht zu lange herum‐ sitzen und grübeln. Ich sei doch ein junger Mann mit viel Talent, der seinen Weg in der Welt ma‐ chen würde. Er sagte, er würde seine Frau mit et‐ was Eßbarem vorbeischicken, und ich dankte ihm. Ich schlief ein wenig. Ich lag im Wohnraum, als Sallys Mutter hereinges‐ türmt kam. Ich hatte keine Angst mehr vor dem süßen Gesicht auf dem Metallabrieb – die Angst 227
hatte sich ganz gelegt. Sallys Mutter beschimpfte mich mit einer Boshaftigkeit und schamlosen Ge‐ meinheit, die mich entsetzte. Ich ließ sie ausreden. Ihr Vater rang die Hände voller Nervosität. Ich sagte den beiden nur, daß Sally einen plötzlichen Anfall erlitten habe. Dabei ließ ich es bewenden. Mrs. Fenton war schließlich erschöpft, und ihr Mann führte sie hinaus. Ich schlief wieder ein und wurde nicht wieder ge‐ stört. Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich blickte zum hochgelegenen Fenster hinauf und sah dünne Wolken über den Gipfeln. Für Mondschein war es noch zu früh. Mrs. Harris hatte mir etwas zu essen gebracht. Ei‐ nen herrlichen Käseauflauf. Daneben stand eine Flasche Bier. Ich dankte ihr leise, daß sie mich nicht geweckt hatte. Als ich gegessen hatte, wusch ich mich und zog ein frisches Hemd an. Ich weiß nicht, warum. Oder vielleicht doch. Es ist für eine Frau kein Kompli‐ ment, wenn man ihr ungepflegt und schmutzig gegenübertritt. Ich sah mir Sallys Sachen an. Ich war gar nicht überrascht, als ich ihre Aufzeichnungen fand. Sie 228
hatte mir ja erzählt, daß sie Nachforschungen über die Ruine in Stymead angestellt hatte. Ich las ihre flüssige Künstlerhandschrift und hatte während des Lesens nicht das Gefühl, etwas verloren zu ha‐ ben. Als ich zu Ende gelesen hatte, nickte ich. Sie war dem Stammbaum ihrer Familie nachge‐ gangen. Ein entfernter Verwandter war ein de La‐ tours gewesen. Da mußte ich lächeln. Alles war in Ordnung. Sally ruhte sich aus – eine Weile zumindest. Ich lag auf dem Bett und betrachtete den Metallab‐ rieb, sah, wie er langsam zu leuchten begann. Zu‐ erst war das Mondlicht nur schwach. Dann wurde es stärker. Ich war fast glücklich. Natürlich voller Verzweif‐ lung, aber merkwürdig glücklich. Meine Jugend‐ zeit war zu Ende. Mein Leben vielleicht auch. Wäre sie mir willkommen, wenn sie käme? Ich zweifelte nicht daran, daß sie zu mir kommen würde. Wer in der Umarmung eines Vampirs stirbt, wird selbst zu einem Geschöpf der Nacht. Sally würde sich von ihrem kalten Bett in der Lei‐ chenhalle erheben. Der Mondschein überzog jetzt das Schwarzweiß ihres herrlichen Gesichts, ihre anmutige Gestalt. Er 229
würde ihr zu einem neuen, wunderbaren Dasein verhelfen. Was sollte ich machen? Mir fiel der Kreis der zornigen Gesichter ein. Ich dachte an die weite, offene Grube. Ich fuhr zu‐ sammen, als mir der Basiliskenblick einfiel, mit dem mich der Kopf angestarrt hatte, als er vom weißen Hals sprang. Wie konnte ich denn Sally Fenton den Männern von Stymead übergeben? Ich lächelte wieder, und wie als Antwort sah ich die Mundwinkel Sallys zucken. Plötzlich schoß ein heller Mondstrahl herein, und mich packte wilde Erregung. Ich wartete auf meinen lieben Schatz. ENDE
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