Egbert Osterwald
Eisvogel, flieg!
flieg!
Inhaltsangabe Auf seiner Fahrt zur Schule wird der Studienrat Heribert Meh...
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Egbert Osterwald
Eisvogel, flieg!
flieg!
Inhaltsangabe Auf seiner Fahrt zur Schule wird der Studienrat Heribert Mehrtens Zeuge eines schweren Autounfalls. Ein schwarzer Saab, der ihn zuvor rasant überholt hat, liegt im Straßengraben, der Fahrer klemmt bewußtlos hinter dem Steuer. Mehrtens leis tet Erste Hilfe – und entdeckt dabei im Kofferraum des Unfallwagens eine Tasche mit drei Millionen Mark. Fast mechanisch nimmt er das Geld an sich. Endlich kann er mit seiner Freundin ein neues Leben beginnen und sich seine Träume erfüllen! Doch was Mehrtens zuerst als Chance seines Lebens erscheint, wird bald zum tödlichen Risiko: Er hat die Beute eines Bankraubs gestohlen …
Genehmigte Ausgabe 1998 für H+L Verlag, Köln
Titelfoto und Titelgestaltung: Roberto Patelli, Köln
Printed in Germany
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder
chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
1. KAPITEL
D
as linke Hinterrad des schwarzen Saab drehte sich noch leicht. Heribert Mehrtens erinnerte sich verschwommen, daß ihn kurz zuvor ein dunkler Wagen mit hoher Geschwindigkeit überholt hat te. Viel zu schnell für die Strecke, die drüben bei dem Waldstück in eine langgezogene Linkskurve überging. Verrückt! hatte er gedacht, den Kopf geschüttelt und war mechanisch weitergefahren, wie er es jeden Morgen tat. Und jetzt lag der Saab da. An der von Tau und Ackerboden noch etwas rutschigen Stelle war er ins Schleudern geraten, hatte sich ge dreht, den Straßenbaum gerammt und lag nun halb überschlagen mit dem Kühler nach vorn schräg im Graben. Ein zerknülltes Stück Blech. Die Beifahrertür war wohl durch den Aufprall aufgerissen worden und stand offen. Heribert Mehrtens bremste und spürte, wie auch der leichte Druck aufs Bremspedal die Räder blockieren ließ, lockerte den Druck, bremste nochmals und hielt vorsichtig. Er spürte ein merkwürdig flaues Gefühl im Magen, als er den Fahrer zusammengesunken auf dem Sitz erblickte. Der Mann lag über dem Lenkrad und seine Hände umkrampften es, sein Kopf war von der eingedrückten Windschutzscheibe abgeglitten und lag blut überströmt auf dem Armaturenbrett. Aus einer tiefen Platzwunde neben der Schläfe sickerte unaufhörlich Blut. Blut, überall Blut. Heribert Mehrtens hatte es schon als Kind nicht sehen können 1
und sich vor Krankheit, Unfällen und Tod eine tiefe Abneigung be wahrt, und so wunderte er sich, wie dieser Anblick ihn auf einmal völlig ruhig machte. Er öffnete die Fahrertür und faßte den Fahrer erst zögernd, dann fester an. »Hallo, sind Sie wach? Wachen Sie auf!« Obwohl er nicht fest zugepackt hatte, verlor der Verletzte den Halt, seine Hände lockerten den Griff, und er glitt Mehrtens entge gen. Er war bewußtlos und bewegte sich nicht. Oder war er sogar tot? Schwach entsann sich Heribert Mehrtens an die Sofortmaßnah men am Unfallort, die er vor vielleicht zwanzig Jahren für seine Füh rerscheinprüfung einmal durchgenommen hatte. Schockgefahr, sta bile Seitenlage. Richtig, das war wohl zu tun. Der Fahrer war nicht angeschnallt und schien sich einfach aus dem Wagen heben zu lassen. Griff unter die Arme, Hände vor der Brust kreuzen, dann langsam herausziehen. Der etwa fünfundzwan zigjährige Mann war zwar kein Schwergewicht, aber er wog doch entschieden mehr, als Mehrtens erwartet hatte. Keuchend schleppte er ihn aus dem Wagen, winkelte das Bein des Mannes an, bog den Kopf des Verunglückten etwas nach hinten und betrachtete sein Werk. Mit etwas Stolz sah er auf sein blaues Leinenjackett: Das Blut des Verletzten hatte am Revers und den Ärmeln seine Spuren hin terlassen. Mehrtens sonnte sich einen Augenblick in dem wohltuen den Gefühl, ein selbstloser Helfer zu sein, und empfand die Blut spuren als Auszeichnung besonderer Nächstenliebe. Soforthilfe am Unfallort. Vielleicht ein Foto in der Zeitung: Heribert Mehrtens hilft Unbekanntem. Er blickte auf die Uhr: fünf nach halb neun. Wenn er pünktlich in der Schule sein wollte, dann mußte er jetzt fahren, aber die 10 R 3, die er in seiner Gesamtschule zu unterrichten hatte, lockte ihn nicht sehr, und mit einer gewissen Befriedigung stellte er fest, daß er heute wirklich einmal einen Grund hatte, zu spät zu kommen. 2
Was konnte er noch tun? Sein Blick fiel auf die immer noch blu tende Stirn des Verletzten. Ein Verband mußte her, dann die Poli zei rufen. Mechanisch klappte er den Kofferraum seines Wagens auf, um nach dem Verbandskasten zu sehe. Leer, ach so, seine Frau hatte gerade den neuen Golf angemeldet und zu diesem Zweck den Verbandskasten herausgenommen und umgeladen. Heribert Mehrtens ging erneut zum Saab und drückte auf den Verriegelungsknopf der Heckklappe. Der Mechanismus hatte sich etwas verklemmt, und obwohl er hörte, daß die Sperre sich gelöst hatte, brauchte Mehrtens etwas Kraft, um die Klappe nach oben zu drücken. Sie schwang auf und gab den Blick in den Kofferraum frei. Der Anblick war so überraschend für ihn, daß er einen Moment die Luft anhielt, sein Blick wühlte sich förmlich in den Kofferraum, und erst nach einer Weile löste er sich aus der Erstarrung. Er blick te auf die zwei schwarzen Aktenkoffer. Einer von ihnen hatte sich geöffnet und seinen Inhalt in den Kofferraum verteilt. Geldscheine. Eine Flut von Geldscheinen. Einige einzeln, einige noch zu Bün deln geordnet. Überall lagen sie. Unter dem Verbandskasten, neben dem Reservekanister, auf dem schwarzen Filz des Kofferraumbodens. Und alles Tausender. Ganz zaghaft faßte Heribert Mehrtens das erste Bündel an. Zwanzigtau send Mark. Er strich über die Scheine, und erst das helle Knistern des Papiers löste ihn aus seiner Erstarrung und gab ihm das Gefühl, nicht in einem Traum, sondern in der Wirklichkeit zu sein. Er hatte noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Hier mußten Millionen liegen. Viele. Und mit einemmal traf ihn die Er kenntnis wie ein Schlag: Du bist reich! Das hier gehört jetzt alles dir! Ab jetzt wird sich dein Leben ändern. Keine 10 R 3, keine un angenehme Arbeit. Endlich: Ferien, Ansehen, Luxus … Und mecha nisch, erst zögernd, dann hastiger packte er die Scheine zurück in den Aktenkoffer. 3
Ein roter Opel fuhr am Unfallort vorbei, verlangsamte seine Fahrt, der Fahrer schaute interessiert herüber, blickte fragend. Heribert Mehrtens durchfuhr es heiß. Instinktiv machte er entschlossene Geste des Telefonierens. Der Mann nickte, beschleunigte, fuhr wei ter. Mehrtens sah ihm nach und betrachtete das auswärtige Kenn zeichen. Mit einemmal wurde ihm überdeutlich bewußt, daß sein Traum gefährdet war. Die nächste Telefonzelle in Groß Hainsdorf war noch fünf Minuten entfernt. Spätestens in zehn Minuten wür de er hier mit Sicherheit einen ungebetenen Helfer haben. Spätes tens, denn jeden Augenblick konnten andere Autos kommen, hal ten, Hilfe anbieten. Rasch packte er alle Scheine zusammen, klappte zu, warf die Ak tentaschen in seinen Kofferraum. Mit einem heftigen Ruck schloß er ihn. Das metallische Klicken hörte sich laut und hart an und klang irgendwie endgültig. Was tun? Warten? Den Ahnungslosen mimen, bis die Polizei kam? Die Fra gen, später, wenn der Verletzte erwachte, die Fragen nach dem Geld verneinen. ›Ach, woher ich – was denken Sie – ich bin Beamter!‹ Würde er es durchhalten? Vielleicht gab es schon an Ort und Stelle eine Untersuchung seines Wagens? Oder sollte er fahren? In zehn Minuten würde er in der Schule sein. Verspätet. Nun ja. Der Weg. Schlechte Straßenverhältnisse. Glätte. Er blickte an seinem Jackett herunter. Die dunklen, schwarzen Flecke begannen zu trocknen. Damit konnte er sich nicht sehen lassen. Aber er trug ein Polo hemd, und viele seiner Kollegen kamen im Sommer nur so in die Schule. Vorsichtig zog er sein Jackett aus, legte es in den Koffer raum, setzte sich ans Steuer und fuhr los. Erst als er auf der Kreuzung vor Groß Hainsdorf abgebogen war und den roten Klinkerbau der Schule vor sich sah, kam ihm zu Be wußtsein, daß er bei allen Überlegungen einen Gedanken über haupt nicht erwogen hatte: das Geld zurückzugeben. 4
Heribert Mehrtens stellte den Wagen ab und überprüfte noch einmal, ob auch der Kofferraum verschlossen war. Ein kurzer Blick zurück. Nein, sein Auto fiel nicht auf. Ein roter Passat … Zum ers ten Male freute er sich, daß er keinen Kombi hatte wie viele seiner Kollegen – unter etlichen anderen Wagen ähnlicher Preisklasse. Nur der schwarze BMW 525i des stellvertretenden Schulleiters fiel etwas aus dem Rahmen. Er schreckte auf, denn durch die offenstehende Glastür des Sei teneingangs sah er schon Martin und Oliver aus der 10 R 3 dem Stundenplanzimmer zustreben. Hastig durchquerte er die Eingangs halle. »Oliver, Martin, wo wollt ihr denn hin?« Die beiden Schüler wandten sich um. »Guten Morgen, Herr Mehrtens. Zu Herrn Borchers, ins Stunden planzimmer. Wir wußten nicht mehr, ob Sie noch kommen.« »Geht man vor, ich bin gleich da.« Und während die beiden wieder zur Klasse trotteten, ging er schnellen Schrittes hinterher. Der Hausmeister blätterte interessiert in seiner Zeitung, als Mehr tens an seiner Loge vorbeikam. Der könnte auch mal mehr arbeiten, dachte Mehrtens noch, die Lampen hinten sind immer noch nicht repariert. Als er um die Ecke in den A-Trakt bog, fühlte er sich schon fast von der Routine des Alltags aufgenommen, und beinahe erleichtert und mit heimlicher Genugtuung bemerkte er, daß auch Herr Mül der offensichtlich jetzt erst seinen Mathematikunterricht in der 10 G 1 aufgenommen hatte, denn er sah den Kollegen gerade noch in der Tür des Klassenraums verschwinden. Lautes Stimmengewirr empfing ihn. Oliver und Martin hatten zwar seine Ankunft gemeldet, doch war dies keineswegs Anlaß für ein allgemeines Aufmerken. Petra, Susanne und Simone standen noch in einer Ecke und erzählten sich offensichtlich die letzten 5
Diskoerlebnisse. Vorn hatten mehrere Schüler ihre Tische zu einer Doppelkopfrunde zusammengeschoben. Wolfgang und Andreas be kritzelten die Tafel. Als erfahrener Lehrer wußte Heribert Mehrtens natürlich, daß ei ne solche Verspätung von einer Viertelstunde ohnehin kein idealer Start für eine gelungene Stunde sein konnte, und im allgemeinen bemühte er sich deswegen auch, pünktlich zu sein. Allerdings fiel ihm dies bei der 10 R 3 immer etwas schwerer als bei anderen Klas sen. Er legte die Tasche aufs Pult, stellte sich aufrecht hin und sagte etwas atemlos: »Guten Morgen!« Einige erwiderten matt den Gruß, Anke meinte leise, aber noch immer gut vernehmlich, sie als Schüler dürften sich nicht so verspä ten. Doch solche Bemerkungen zu überhören, waren die meisten Pädagogen recht gut geübt. Mit klarer, deutlicher Stimme, ohne übertriebene Schärfe und Unruhe wurden Petra und ihre Freundin nen aufgefordert, sich zu setzen, wurde die Doppelkopfrunde auf gelöst und die nach wie vor etwas unruhige, gelangweilt-apathische Stimmung hergestellt, die in dieser Klasse gemeinhin den Unter richtsbeginn begleitete. Das Kontrollieren der Hausaufgaben kann ich mir gleich sparen, dachte Mehrtens. Erstens würde doch wieder ein Viertel sie nicht haben, und durch das Zuspätkommen fehlte ihm auch etwas die moralische Autorität, sich darüber zu entrüsten. »Wir hatten eine Hausaufgabe, wer möchte vortragen?« fragte er. Sichtlich erleichtert stellte er fest, daß Hans-Peter sich meldete, den er auch gleich drannahm. Hans-Peter, dem der Übergang auf den Gymnasialzweig kürzlich nahegelegt worden war, las etwas mono ton die Ziele der deutschen Revolutionäre von 1918 von seinem Hausheft ab. Und während Mehrtens kurz noch die wichtigsten Ziele an der Tafel festhielt (der Tafeldienst hatte sie gerade mit aufreizender Langsamkeit fertig geputzt, so ordentlich, als ob die 6
Tafel für eine Ausstellung prämiert werden sollte), ging ihm durch den Kopf, daß sich die Mehrzahl wohl kaum für das Thema der Stunde Parlamentarische Demokratie oder Räterepublik interessie ren würde. Und als nun schon zum siebten oder achten Male in seiner Laufbahn die mit Leitfaden versehenen Reden von Cohen und Däumig verteilte, wurde ihm abermals deutlich, daß diese Schicksalsfrage der deutschen Geschichte wohl wieder nicht in ihrer Bedeutung erkannt werden würde. Damals während seines Studi ums, als er noch mit den Kommunistischen Bund Westdeutsch lands sympathisierte, hatte er diese Entscheidung mit seinen Kom militonen nächtens leidenschaftlich in den Kneipen diskutiert, so leidenschaftlich, als ob sie nicht 1918 gefallen wäre, sondern auch noch 1975 auf der Tagesordnung gestanden hätte. Jetzt stand sie hier jedoch nur noch auf dem Lehrplan. Und auch für ihn war außer dem Spruch ›Alle Macht den Räten!‹, womit er gelegentlich seinen Kollegen und früheren Studienfreund Kurt Jager begrüßte und damit augenzwinkernd Studienräte meinte, wenig geblieben, was ihn an diese Frage noch band. Doch bald hüllte ihn die Routine der Stunde ein wie Watte. Ein immer wieder eingeübtes und ihm schon in Fleisch und Blut über gegangenes Programm lief ab: Sorgfältige Textarbeit (Claudia, bitte, wo steht das? Kannst du das noch einmal in anderen Worten sagen, ich glaube, die Mehrheit hat das noch nicht verstanden), Ergebnis sicherung und Tafelbild, ganz zum Schluß noch die Karikatur aus dem Simplizissimus (Wie wird hier die Rätebewegung gesehen?). Und wieder spürte er überdeutlich das gähnende Desinteresse der Klasse an dieser Frage, vielleicht waren sie aber auch einfach über fordert. Warum hatte er sich denn auch zu Beginn des Schuljahres bereiterklärt, als Studienrat eine Realschulklasse zu unterrichten? Aber er wußte nur zu gut, daß die Stunde in dem Gymnasialzweig kaum anders verlaufen wäre. Das barmherzige Klingeln beendete die Stunde, und die Schnel 7
ligkeit, mit der die Schüler den Raum verließen – lediglich HansPeter hatte eine scheinbar interessierte Frage nach dem Unterschied von Däumig und Rosa Luxemburg –, schmerzte ihn doch, obwohl er auf diese Weise schneller zu seiner Pause kam. Er schloß die Klasse ab, ging durch Scharen von rennenden, schwatzenden, auch einfach nur herumstehenden Schülerinnen und Schülern ins Lehrerzimmer, ein kurzer mechanischer Blick ins Post fach, nichts, Tasche auf den Platz legen, dann hinaus in den klei nen Pausenhof, wo er jetzt Aufsicht hatte. Zum ersten Male an die sem Morgen hatte er Zeit für sich. Ein undeutliches Gefühl von Schwäche stieg aus seinem Magen auf, wurde fast zur Übelkeit. Er lehnte sich an die Wand, fand Halt, wußte aber gleichzeitig, daß er herumgehen mußte, um freundlich, aber bestimmt seiner Aufsicht nachzukommen. Und neben seinem Gefühl von Schwäche, Angst, Unsicherheit ein weiteres: Begeiste rung, Glück, Euphorie. Jetzt hatte er das, wovon alle alle träumten: Geld – viel Geld, so viel Geld, daß er unabhängig sein würde, un abhängig für den Rest seines Lebens – vorausgesetzt, er fing es nur geschickt genug an. »Du kannst alles haben«, flüsterte er fast andächtig vor sich hin, ohne zu bemerken, daß zwei Siebtkläßler stehenblieben, ihn mus terten und an zu kichern fingen. »Alles. Du hast alles das, wovon die anderen nur träumen.« Schemenhaft, dann wieder deutlicher zo gen die Bilder an ihm vorbei, die sein neues Leben ausmachen wür den. Keine langweilige 10 R 3 mehr; überhaupt: Schule konnte ihm gestohlen bleiben. Natürlich nicht sofort. Alles vorsichtig. Vielleicht erst einmal ein Jahr Pause. Ein Jahr, davon träumten alle, sogar Dr. Behrens, der Schulleiter, das hatte er ihm erst neulich gesagt. »Heribert, am besten einmal raus aus allem. Ein Jahr Pause. Das brauchen wir doch hier mal alle. Ich, ich auch. Aber quanta costa?« Und dabei machte er die Gebärde des Geldzählens. Quanta costa – diese Frage stellte sich für ihn nicht mehr. Ein Jahr, das würde 8
nicht auffallen. Ein neues Auto. Der 525i des Stellvertreters war ja wirklich nicht so schlecht. Und die Spritkosten waren dann ja wohl auch kein Thema mehr. Eine Segelyacht. Nicht mehr diese kleine Varianta auf dem Steinhuder Meer. Doch sie war ja ganz nett, fürs Steinhuder Meer genau das richtige mit ihren sechseinhalb Metern Länge. Aber das Meer. Die Ostsee. Eine richtige Hochseeyacht. Halberg Rassy 35? Oder gar eine Swan? Und versonnen führte er sich die Bilder von den Ausstellungsständen der beiden skandina vischen Nobelmarken vor Augen, die er im letzten Herbst auf der Bootsmesse Hanseboot in Hamburg besichtigt hatte. Alles echtes Teak, gediegen. Guter Stauraum. Einfach toll. Neu? Nein, aus dem Fenster rauswerfen brauchte man das Geld nun auch wieder nicht. Erst einmal gebraucht. Das war denn doch günstiger. Oder doch neu? Überführungstörn gleich von Schweden oder Finnland? Vielleicht sollte er doch eine Swan nehmen. Und dann neu. Du schweifst ab, rief er sich zur Ordnung. Alles der Reihe nach. Doch vor allen Dingen: Keine Elisabeth mehr! Elisabeth – schon der Name: furchtbar. Elisabeth, sein angetrautes Eheweib. Was ver band ihn noch mit ihr – außer den Schulden für ihr viel zu großes Haus, ihre zunehmend langweiliger werdenden Bildungsreisen nach China, in die Sowjetunion – oh, Verzeihung, Rußland hieß es ja jetzt – und weiß der Kuckuck wohin. Elisabeth, jetzt konnte er sich endlich von Elisabeth trennen. Und Claudia – mit Claudia ein neu es Leben. Claudia, die paßte zu ihm. Seglerin, schwarzhaarig, schlank, elegant, sportlich, jung … Das Klingeln riß ihn aus seinen Betrachtungen. HA war angesagt. Deutsch. Heinrich Mann, Professor Unrat. Wie passend. Ein Gym nasiallehrer der Kaiserzeit schmeißt den Bettel hin. Also, wenn das kein Omen war. Und frischen Schrittes betrat er die Klasse. Die meisten Schüler hatte er seit vier Jahren, und sie kannten sich gut. Waren arbeitsbereit. Ein Schüler hatte sich sogar dazu bereit er 9
klärt, ein Referat zu halten. Leben im Kaiserreich. Jetzt war Mehr tens in seinem Element. Leben im Kaiserreich. Spießbürgerlichkeit inmitten von Gründerzeitgeld. Ausbruchsversuche. Boheme. Mit fast leuchtenden Augen schilderte Mehrtens die Enge des Lebens. Professor Unrat, dieser verlachte Gymnasialprofessor – er setzte sich ab, riß der Gesellschaft die Maske vom Gesicht, lebte auf seine al ten Tage noch einmal genußvoll. Der Schüler, der eigentlich das Referat hatte halten wollen, emp fand sich zunehmend als bloßer Stichwortlieferant, als Mehrtens begeistert vor einem atemlosen Publikum eine literatursoziologische Vorlesung improvisierte. Die Stunde verging wie im Flug, und er hatte am Ende das berechtigte Gefühl, den Funken der Begeiste rung, der seiner Meinung nach zum Literaturunterricht gehörte, weitergegeben zu haben. Als Mehrtens ins Lehrerzimmer trat, fiel die Euphorie der vergan genen Stunde von ihm ab. Hatte er sich nicht zu viel vorgenom men? War die ganze Angelegenheit nicht doch eine Nummer zu groß für ihn? Und woher stammte das Geld überhaupt? Er brauch te endlich Zeit zum Nachdenken. Glücklicherweise war die nächste Stunde eine Freistunde, das heißt, Mehrtens hatte keinen Unterricht. Normalerweise war er da mit beschäftigt, Kopien für die nächsten Unterrichtsstunden zu er stellen, die notwendigen Verwaltungsarbeiten, Eintragung der Er gebnisse der Klassenarbeiten in die entsprechenden Listen vorzu nehmen, eine Aufgabe, der er sich meist wie viele seiner Kollegen gerne so lange entzog, bis er von der Schulleitung höflich, aber be stimmt dazu aufgefordert wurde. Hin und wieder bot sich auch ein kleiner Plausch mit einem Kollegen oder (bevorzugt) einer Kollegin an. Die Themen dieser Gespräche wiederholten sich im Laufe der Jahre ständig, aber man konnte so die leere Zeit ganz gut und gele gentlich amüsant überstehen. Nicht zuletzt aus diesem Grunde nahm er wie alle seine Kollegen derartige Stunden im großen und 10
ganzen doch ganz gern in Kauf, auch wenn er dagegen zu Beginn eines Schuljahres manchmal heftig protestierte. Dieses Mal hingegen wollte er Ruhe, Nachdenken. Seine Unter richtsvorbereitung war abgeschlossen, keine Arbeitsblätter waren zu erstellen, nichts zu kopieren. Gott sei Dank war Susanne nicht da, eine etwa gleichaltrige, ledige und hübsche Musikkollegin, mit der er normalerweise in dieser Stunde intensiv, aber unverbindlich flir tete. So verkroch er sich in eine hintere Ecke des Zimmers, kramte ein paar Arbeitsblätter hervor und versuchte möglichst beschäftigt zu wirken, um nicht gestört zu werden. Was machen? Mit Bargeld konnte er wohl seine Brötchen be zahlen, zur Not ein Auto kaufen, eine Reise zahlen, aber sonst? Mit einem Tausender morgens beim Bäcker seine drei Mark fünfzig be gleichen – das war der heiße Tip. Dann konnte er seinen ›Fund‹ gleich in die Zeitung setzen. Nein, Geld war erst auf dem Konto etwas wert. Geld gehört auf die Bank, fiel ihm ein, und für einen kurzen Augenblick mußte er lächeln. Bloß wie? Möglichst unauffällig, diskret am besten in Hannover, Hamburg, vielleicht sogar Frankfurt. Für einen Augenblick schoß ihm noch Zürich durch den Kopf. Aber die Kontrollen am Flug hafen. Er mit mehreren (wie vielen überhaupt?) Millionen in der Reisetasche. Die Fragen der Zöllner, was er sei. Studienrat, hm, na türlich, da schleppt man immer so viel Geld mit sich herum. Also, Zürich, das war erst mal nichts. Außerdem, das Schweizer Bankgeheimnis war auch nicht mehr so gut wie vor einigen Jahren. Also ein deutsches Konto. Aber ein paar Millionen einzahlen? Wie denn? Und waren die Nummern der Scheine bekannt? Er wür de sich unauffällig über die diversen Anlagemöglichkeiten erkundi gen müssen. Vielleicht gab es darüber Bücher. Bücher lesen konnte er ja. Doch wo versteckte er die Beute in der Zwischenzeit? Schließfach bei der Bank? Boden? Keller? Einsame Grube im Wald? Er lächelte 11
etwas bei dem Gedanken: Heribert Mehrtens gräbt nachts im Wald ein Versteck, und ein Wilderer schaut zu. Nein, das war wohl auch nichts. Aber das würde sich sicherlich noch finden. Und zuletzt: Woher kam das Geld? Verbrechen? Erpressung? Banküberfall? Am besten, er wartete erst einmal ab, was die Zeitun gen bringen würden. Falls es sich um eine neue Sache handeln soll te, dann würde es sicherlich bald in den Meldungen oder gar in den Schlagzeilen stehen.
2. KAPITEL
S
usanne Breugel warf einen prüfenden Blick in den Spiegel: Die Schatten unter den Augen, der Blick müde, Wimperntusche und Make-up leicht verlaufen. Und sollten die Striche dort etwa die ersten Anzeichen von Falten sein? Doch irgendwie, so schien es ihr, paßte ihr Gesicht zu ihrer Stimmung. Denn zum ersten Male in ihrer rasanten Karriere drohte etwas so gründlich schiefzugehen, daß sie vor den Folgen Angst bekam. Und jetzt noch ein frisches Aussehen – das wäre wohl etwas zuviel ver langt. Andererseits glaubte sie gerade jetzt gut aussehen zu müssen, und so griff sie in ihre Handtasche, holte die Wimperntusche her vor und verlieh ihren hellblauen Augen routiniert mehr Ausdruck. Dann nahm sie den roten Lippenstift, drehte ihn heraus, zögerte je doch etwas und entschied sich dann doch für den dunkleren. Sie legte etwas Rouge auf und zog, einer plötzlichen Eingebung fol gend, mit dem Augenbrauenstift ganz leicht die sich andeutende Falte neben ihrer Nase nach und begutachtete erst skeptisch, letzt 12
lich jedoch überzeugt ihr Spiegelbild. Eine gutaussehende Frau von Ende Zwanzig mit kurzen, hellbraunen Haaren, gepflegt, aber sicht bar übernächtigt und überarbeitet. Sie wischte den braunen Strich neben der Nase weg, straffte die Schultern, verließ den Waschraum und betrat über den Gang hinweg ihr Büro, das zusammen mit den Nebenräumen den Krisenstab beherbergte. Als sie eintrat, fiel ihr wieder einmal auf, wie ungemütlich es war. Schreibtische mit den ewig gleichen grünen Unterlagen, nur die Telefone darauf waren neu und paßten irgendwie nicht dazu, Stüh le, denen man die Jahre des Gebrauchs ansah, überquellende Aschenbecher, herumstehende mehr oder minder volle Kaffeetassen und Pizzareste vom Schnellimbiß gegenüber. Sie hatte sich immer vorgenommen, mal ein paar Blumen mitzubringen, es ein- oder zweimal auch geschafft, aber sie waren immer wieder eingegangen. Ihr Blick blieb an dem Bild an der Wand hängen, neben dem Ka lender und der Übersichtskarte das einzig Farbige in diesem Raum. Ihr Vorgänger hatte es aufgehängt, ›Frühstück im Grünen‹, ein Druck von Monet. Zwei angezogene Männer bei einem Picknick und eine nackte Frau. Sie mochte das Bild nicht, außerdem hing es schief, aber bisher hatten alle darauf bestanden, es dazulassen. Viel leicht auch nur, um sie etwas zu ärgern. Hier arbeitete also ihr Einsatzstab, ›ihre‹ Leute, wie sie manchmal mit Besitzerstolz formulierte. Und trotz der wenig freundlichen Umgebung und des gelegentlich anzüglichen Umgangstons waren es Männer, auf die sie sich verlassen konnte. Im Augenblick sahen die meisten allerdings auch etwas apathisch und übernächtigt aus, die Telefonanrufe waren spärlicher geworden, die Fahndung trat auf der Stelle. »Was Neues?« fragte sie. Einige blickten auf. Harry Krüger, ihr As sistent, setzte seine Kaffeetasse ab und schaute auf den Zettel, der eben hineingereicht worden war. »Von der Geisel und dem Fluchtauto nichts. Möglicherweise ha 13
ben wir jetzt aber den Namen der Geisel. Es könnte sich um Fa bian Hillgruber handeln. Eine Kassiererin meint, sich daran zu erin nern, daß er vor etwa einer Woche ein Konto eröffnet hat. Eine Vermißtenmeldung haben wir allerdings noch nicht.« Das Telefon auf ihrem Schreibtisch schnarrte laut, und Krüger nahm ab. »Hauptkommissar Krüger, Sonderkommando.« Er legte die Hand auf die Muschel. »Presse. Bist du zu sprechen?« Susanne Breugel schüttelte energisch den Kopf. »Hauptkommissarin Breugel ist leider nicht zu sprechen. Ob wir einen Hinweis haben? Doch, es sind eine Reihe von Hinweisen ein gegangen, allerdings müssen diese erst noch ausgewertet werden, zum jetzigen Zeitpunkt können wir nichts sagen. Nein, über die Geisel können wir auch noch nichts sagen. Der Name ist unbe kannt. Fluchtauto? Das ist mehrfach gewechselt worden, allerdings sind wir dabei, den Fluchtweg anhand von Zeugenaussagen zu re konstruieren. Pressekonferenz? Etwa heute um die Mittagszeit. Dan ke, auf Wiederhören.« Widerwillig registrierte sie, wie erfolgreich diese Presseleute es im mer wieder verstanden, Krüger, aber auch andere zum Reden zu bringen, auch wenn man gar nichts zu sagen hatte oder sagen woll te. Außer wenn Erfolgsmeldungen vorlagen, waren Pressekonferen zen bei Kriminalpolizisten nicht besonders beliebt. Entweder mußte man mit nichtssagenden Floskeln die Zeit über brücken, oder aber man wurde von spitzen, gezielten, oft fast un verschämten Fragen auf Versäumnisse und Fehler hingewiesen, so daß man schließlich als halber Depp dastand. Die Tür ging auf, und Susanne Breugel wurde aus ihren Betrachtungen gerissen. Ober müller war eingetreten. Leitender Polizeidirektor Obermüller, der seinen Urlaub wohl um einige Tage abgekürzt hatte, denn eigent lich hatte er erst Anfang nächster Woche wieder seinen Dienst auf nehmen sollen. Er wird wohl den größten Teil der Pressekonferenz allein bestreiten müssen, dachte Susanne erleichtert. 14
»Was Neues?« Merkwürdig, daß alle Eintreffenden immer mit der gleichen Frage kamen. »Nichts«, sagte sie. »Ich glaube, wir haben unseren Geisel nehmer unterschätzt.« Obermüller nickte. »Scheint so. Aber wenn man vom Rathaus kommt, ist man immer schlauer. Hilft jetzt aber auch nichts.« We nigstens folgte jetzt keine Predigt, kein Aufrechnen, kein Abschie ben von Verantwortung. Kein ›Ich hab's ja gleich gesagt‹, was Su sanne bei anderen Vorgesetzten häufig erlebt hatte. Obermüller schaute von seiner Höhe von einsfünfundachtzig väterlich auf sie herab. »Und um es klar zu sagen, Frau Breugel, meine Wertschätzung und Unterstützung haben Sie. Und dies gilt. Fehler können jedem passieren.« Ein dankbarer Blick streifte ihn. »Könnten wir noch einmal die Chronologie der Ereignisse durch gehen?« Susanne ordnete ein paar Notizzettel auf ihrem Tisch. »Gestern um fünfzehn Uhr fünfzig meldete die Volksbank in Hannover-Lin den einen Banküberfall. Zufällig waren ein paar Streifenwagen we gen einer Bombenentschärfung in der Nähe, so daß bereits zwei Minuten später die Volksbank umstellt war. Eine Flucht ist nicht mehr möglich, der Bankräuber nimmt die fünf Angestellten sowie sechzehn weitere Personen, die sich in der Bank befinden, als Gei seln und fordert drei Millionen als Lösegeld sowie einen Fluchtwa gen. Auf Anraten des Psychologen Dr. Schlichter versuchen wir ihn hinzuhalten. Nach Ablauf des Ultimatums um achtzehn Uhr wird eine siebzehnjährige Geisel vor die Tür der Bank gestellt und durch einen Schuß in den Oberschenkel verletzt. Gleichzeitig wird vor dem Eingang eine nicht scharf gemachte Handgranate – vermutlich aus NVA-Beständen – geworfen. Das Ultimatum wird auf neunzehn Uhr verlängert.« »Und in dieser Situation setzten Sie sich gegen den Rat von LKA 15
und BKA dafür ein, dem Geiselnehmer freien Abzug zu gewähren?« »Auch Dr. Schlichter war dieser Ansicht. Die Bank war denkbar schlecht zu stürmen, der Geiselnehmer anscheinend zu allem ent schlossen. Und da Handgranaten vorhanden waren, mußten wir mit allen Mitteln ein Blutbad wie neulich in Gelsenkirchen verhindern. Ich wollte dafür die Verantwortung nicht übernehmen.« In Breugels Stimme schwang ein Ton trotziger Entschlossenheit mit. »Ist ja gut, es klagt Sie ja auch keiner an. Das Fluchtauto wurde dann auch um neunzehn Uhr bereitgestellt?« »Ja, ein schwarzer BMW. Sowohl das Fahrzeug als auch die Geld taschen, die in die Bank gebracht wurden, waren selbstverständlich mit Sendern präpariert. Der Geiselnehmer läßt dann durch eine Geisel – Name bisher noch nicht ermittelt – das Geld in andere Ta schen, die in der Bank vorhanden sind, umpacken. Die eine Geisel setzt sich ans Steuer, der Bankräuber nimmt sich zwei Mädchen als Schutzschild, führt sie zum Auto, und um ca. Viertel nach sieben fährt er weg.« »Und von da ab verliert sich die Spur?« »Noch in Hannover wird ein anderer Wagen angehalten, der Fah rer gezwungen auszusteigen, der Geiselnehmer mit der männlichen Geisel besteigt das Fahrzeug und flieht.« »Das war's dann wohl mit den Sendern«, bemerkt Obermüller tro cken. Susanne entgegnete nichts und berichtete dann kurz, wie der Bankräuber auf der Bundesstraße und auf der Autobahn den Weg nach Hessen gesucht und im Laufe der Nacht viermal mit einem Trick den Wagen gewechselt hatte: Ein Wagen wurde angehalten, der Fahrer mit der Pistole zum Aussteigen gezwungen und mit Chloroform betäubt in den Kofferraum des alten Fluchtwagens ge legt. Um ein Uhr dreißig hatte sich die Spur des Verbrechers ir gendwo zwischen Göttingen und Kassel verloren. »Das letzte Fluchtauto?« 16
»Unseres Wissens ein roter Mercedes 190. Ein Geschäftsmann auf dem Weg nach Hause.« »Und der Fluchtwagen ist immer noch aktuell?« Die Hauptkommissarin zuckte mit den Schultern. »Die Masche läuft ja recht gut. Es ist also möglich, daß er sie nochmals ange wandt hat. Allerdings hat sie auch einen Nachteil: Wir lernen im mer seinen letzten Aufenthaltsort kennen.« »Und wo ist er jetzt wahrscheinlich?« Frau Breugel trat an die große Übersichtskarte. »Der letzte Wagen wurde etwa gegen vier Uhr in der Nähe von Paderborn entwendet. Wir erfuhren davon etwa um fünf Uhr. Jetzt ist es halb neun. Im Umkreis von mehreren hundert Kilometern könnte er überall sein.« »Mit anderen Worten: Sie haben ihn verloren?« »Ich glaube, davon muß man ausgehen.« Die Müdigkeit der letz ten Nacht lastete plötzlich schwer auf ihr. Sie blickte an Obermül ler vorbei auf das schiefe Bild. Meistens rückte Obermüller es ge rade, wenn er den Raum betrat. Heute hatte er es nicht gemacht. Merkwürdig, was einem so durch den Kopf geht, dachte sie. Harry Krüger fühlte sich bemüßigt, seiner Chefin beizustehen, in dem er darauf hinwies, daß er noch niemals erlebt habe, daß eine Flucht so gut vorbereitet und getarnt worden sei. Aber Obermeyer nickte nur noch kurz, murmelte etwas und verschwand. Susanne Breugel schaute ihm nach. Harry hatte ja recht. Eine so gut geplan te Flucht hatte sie noch nicht erlebt. Natürlich gab es noch immer eine Fülle von langwierigen, aber dennoch erfolgversprechenden Möglichkeiten: Spurenanalyse der Fluchtwagen, Verbleib der – na türlich notierten – Banknoten und vieles andere mehr. Das tägliche harte Brot der Fahndungsarbeit. Aber darum ging es im Moment nicht. Ein Mensch schwebte im mer noch in Lebensgefahr. Und das war zunächst das wichtigste. Die Geisel. Wie mochte es ihr gehen? Sie wandte sich an Krüger. »Fabian Hillgruber, meintest du, heißt 17
der junge Mann wahrscheinlich?« »Wahrscheinlich. Wir ermitteln jedenfalls gerade Anschrift und Telefonnummer. Ich schau' mal nach, wie weit die sind.« Harry Krüger wollte gerade gehen, als Susanne Breugel ihn zu rückhielt: »Warte einen Augenblick, Harry.« Nachdenklich nahm sie einen Bleistift in die Hand; schaute auf die Spitze und drückte sie sich leicht in die Fingerkuppe. »Harry, warum läßt er seine Gei sel nicht frei? Jeder Geiselnehmer muß seine Geisel doch irgend wann freilassen, wenn er sie nicht tötet. Wir haben seine Spur schon vor Stunden verloren, und ich bin ziemlich sicher, er weiß es. Wa rum läßt er sie nicht frei? Er muß doch völlig übermüdet sein. Wa rum geht er das Risiko ein, vielleicht neben ihr im Auto einzuschla fen? Warum?« Harry blickte ihr in die Augen. »Ich weiß es auch nicht, Susanne. Aber ich habe den Eindruck, daß dieser Mann ganz genau weiß, was er tut. Aber mich beschäftigt noch etwas anderes: Warum nimmt er einen Mann als Geisel? Von den zweiundzwanzig Geiseln waren nur sechs Männer. Und ausgerechnet einen Mann nimmt er mit sich, läßt die beiden jungen Frauen sofort frei. Und das, obwohl er stundenlang in der Nacht herumfahren und befürchten muß, über wältigt zu werden. Und da ist ein Mann sicherlich gefährlicher für ihn. Warum behält er nicht eine Frau?« Er schwieg eine Weile und setzte dann bedauernd hinzu: »Aber solange er die Geisel nicht frei läßt oder wir sie finden, können wir wenig tun.« »Wenigstens könnten wir zu diesem Zeitpunkt schon nach Fabian Hillgruber fahnden lassen. Vielleicht gewinnen wir damit Zeit, falls er nicht vernehmungsfähig sein sollte und seinen Namen nicht an geben kann.« Harry Krüger nickte und gab eine entsprechende Anweisung an einen Mitarbeiter. Ohne ein Foto, das wußte er allerdings auch, war ihr Plan zu diesem Zeitpunkt allerdings nur von zweifelhaften Er folgsaussichten begleitet. Und im Augenblick hatten sie nur den 18
Namen und eine vage Personenbeschreibung. Mehr nicht. Susanne starrte ins Leere. Es hieß abwarten. Warten auf die erlö sende Meldung, daß die Geisel, Fabian Hillgruber oder wer er auch immer war, auftauchte, daß dann die Fahndung ohne die bisher noch geübten Rücksichten auf Hochtouren laufen konnte. Und hoffentlich, dachte sie, hoffentlich, kommt diese Meldung bald. Nach dem kühlen Morgen schien es nun doch ein heißer Tag zu werden, denn im Auto begann es brütend warm zu werden. Susan ne Breugel behielt trotzdem ihren Blazer an, öffnete die Tür und trat auf die Gruppe von Verkehrspolizisten, Kollegen der Spuren sicherung und Sanitätern zu und grüßte kurz. Obwohl sie im allgemeinen keine hohe Meinung von den Kolle gen von der Verkehrspolizei hatte, mußte sie zugeben, daß diese diesmal schnell geschaltet hatte, denn sie war bereits um neun Uhr von dem Unfall benachrichtigt worden. »Guten Morgen, meine Herren. Wer von Ihnen ist Herr Schnei der?« Ein etwa zwanzigjähriger Polizist trat auf sie zu. »Wir erhielten gegen acht Uhr vierzig die Meldung von diesem Unfall.« Er deutete auf den schwarzen Saab, der halb überschlagen im Straßengraben lag. »Ein vorbeifahrender Kraftfahrer hatte uns benachrichtigt. Aufgrund seiner Angaben war auch von Verletzten auszugehen. Wir haben jedenfalls gleichzeitig den ASB benachrich tigt. Aber sehen Sie selbst.« Susanne Breugel trat auf den Unfallwagen zu. Türen und Koffer raum waren geöffnet, und vor dem Auto lag ein junger, blonder Mann von vielleicht Mitte Zwanzig mit blutverkrustetem Gesicht. »Woher haben Sie so schnell herausgefunden, daß es Fabian Hill gruber ist?« »Wir haben seine Papiere gefunden.« 19
»Sie sind sich ganz sicher, daß es Fabian Hillgruber ist?« Schneider nickte und reichte ihr ein Portemonnaie. »Sein Führer schein ist da drin. Ebenso alle Papiere. Es ist kein Zweifel möglich. Der Wagen ist übrigens auf einen Herrn Walter Sommer in Ahlem zugelassen.« Susanne trat an den Toten heran. Ein gleichmäßiges, hübsches Gesicht, und im Tod trotz der Verletzungen fast friedlich. Sie hatte sich vor dem Augenblick gefürchtet, in dem sie feststellte, daß sie indirekt für den Tod eines Menschen mitverantwortlich war. War dies nun ihr erstes Opfer? Folge ihrer Fehlentscheidung? Aber hätte sie sich anders entscheiden können? Ein Blutbad in der Bank? Für einen Augenblick vergaß sie all das, was sie bisher so beunruhigt hatte: Presse, Karriere. Sie fühlte sich einfach leer. Sie riß sich von dem Anblick los. »Ist er an seinen Verletzungen gestorben? War er bereits tot, als er herausgeholt wurde?« Der Notarzt trat hinzu. Er war jung, offensichtlich hatte er noch wenig Erfahrung, denn trotz seiner zur Schau gestellten Beiläufigkeit wirkte er aufgeregt. »Wir können das nicht mit letzter Bestimmtheit sagen. Genaueres dürfte erst eine Obduktion beim Gerichtsmedizinischen Institut er geben.« Er machte ein wichtiges Gesicht, als er das Gerichtsmedizinische Institut erwähnte. Schneider war herangetreten und räusperte sich. »Frau Breugel, ich bin zwar nur Verkehrspolizist«, er betonte das ›nur‹ ein bißchen zu sehr, »aber ich habe schon eine Reihe von Un fällen gesehen, und dieser sieht merkwürdig aus. Sehen Sie«, er knie te sich neben den Toten und deutete auf eine bräunliche Pfütze, »das Opfer ist aus dem Wagen herausgetragen und in eine stabile Seitenlage gebracht worden. Zu diesem Zeitpunkt muß er noch ge lebt haben, denn, wie Sie hier erkennen, hat er sich übergeben.« 20
Kleinmüller von der Spurensicherung nickte dazu. »Mit Sicher heit hat der Kollege recht. Der hat noch gelebt.« »Wo ist denn der Zeuge, der den Unfall gemeldet hat? Hat der etwas gesehen?« »Das ist ein Vertreter aus Hannover. Name und Anschrift haben wir. Er hat lediglich durchgegeben, daß ein anderer Kraftfahrer ei nen Verletzten geborgen habe und sich offensichtlich um ihn küm mere.« »Und der Mann ist nicht aufzufinden?« »Bisher hat er sich noch nicht gemeldet.« Susanne Breugel trat an den Kofferraum. Die Fußmatten darin hatten sich etwas verschoben und gaben den Blick frei auf ein Bün del mit Tausendern. Der spärliche Rest und trotzdem immer noch eine Menge Geld. Harry Krüger blickte nachdenklich in den Saab hinein, dann riß er sich von dem Anblick los. »Das Geld war jedenfalls hier drin«, bemerkte er. »Unser Bankräuber hat wohl noch schnell das Weite gesucht. Mit der Beute, versteht sich. Oder vielleicht war der barm herzige Samariter doch nicht so ganz uneigennützig.« »Gibt es Anzeichen, daß eine weitere Person im Wagen gesessen hat?« fragte Breugel Kleinmüller. Der zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen. Die Beifahrertür stand offen, möglich, daß das vom Unfall kommt, aber wahrschein lich ist es nicht. Das Gras da drüben ist etwas eingedrückt. Aber wir sind auch erst seit kurzem hier. Ich kann wirklich nichts dazu sa gen.« Eine Auskunft, wie man sie liebt, dachte Susanne. Nichts Genau es weiß man nicht. Und jeder macht sich seinen Reim. Ihr Blick schweifte über die Gruppe. Die Sanitäter, die herumstanden und rauchten, der Notarzt, der sich angeregt mit einer jungen Verkehrs polizistin unterhielt. Eine Gruppe von Leuten, die offensichtlich nichts mehr zu tun hatte. Stehkonvent, dachte sie plötzlich mit ei 21
nem Anflug von Zorn. Und hier liegt ein Toter. »Die Gegend ist abgesucht worden?« fragte sie schärfer als eigent lich beabsichtigt. Nein, abgesucht war sie nicht. Harry Krüger hastete sofort zum Wagen, um eine Sperrung der nächsten Straßen zu veranlassen. Das kann man sich jetzt genausogut schenken, dachte Susanne, sagte aber nichts. Außerdem war es eine Maßnahme, die sicherlich auf keinen Fall unterlassen werden durfte. »Wie lange brauchen Sie hier noch?« wandte sie sich schließlich an Kleinmüller. »In einer Viertelstunde sind wir hier fertig, und den Wagen unter suchen wir dann in Hannover sowieso genauer.« Breugel drehte sich um, wollte gehen, besann sich kurz und sprach doch noch einmal Schmidt an. »Sagen Sie mal, Kollege Schmidt, Sie kennen doch diese Gegend hier ganz gut. Wer fährt dann so morgens auf dieser Landstraße entlang?« »Na ja, es ist halt ein Schleichweg, den einige kennen, die die Bun desstraße vermeiden wollen. Ist hier fast genauso schnell. Und dann Berufstätige von Hainsdorf nach Neustadt. Aber das sind nicht viele. Ein paar LKWs, die Bauern, Trecker. Es ist schon ziemlich ruhig hier. Und natürlich der Schulbus. Es ist wirklich nicht viel los. Aber die Kurve hier, die hat's in sich. Da passiert ständig was. Aber meistens abends. Und am Wochenende.« »Den Halter des Wagens haben Sie schon ermitteln können?« »Wie ich schon sagte, ein Walter Sommer aus Ahlem. Buchenweg vierzehn.« Harry Krüger kam wieder zurück. Hier gab es nichts mehr zu tun. »Fahren wir«, sagte Susanne Breugel. Als sie im Auto saßen, schwiegen sie. Harry Krüger fuhr. Die Stra ße verlockte zum Schnellfahren, doch die Geschwindigkeitsanzeige pendelte um die achtzig. Nach mehr war ihnen nicht zumute. Wort los saßen sie nebeneinander. Schließlich schaute Harry Susanne an. 22
»Für seinen Tod kannst du nichts, Susanne. Wenn du dich nicht durchgesetzt hättest, wäre die Sparkasse gestürmt worden. Das hätte ein Blutbad gegeben. Glaub mir, du hast recht gehabt. Mach dir keine Vorwürfe.« Susanne starrte ins Leere. Das Gespräch verstummte, sie fuhren still, nur hin und wieder durchbrachen Funksprüche knackend und rauschend das Schwei gen. Die Straßensperren, hastig improvisiert und vermutlich sehr lückenhaft, hatten noch kein Ergebnis gebracht. Bei der Menge von Feldwegen in dieser Gegend war das aber auch kein Wunder. »Der Fluchtwagen ist ja wohl noch einmal gewechselt worden. Hat der Besitzer des Wagens sich schon gemeldet?« fragte Susanne Breugel nach einer Weile. Harry Krüger schüttelte den Kopf. »Vorhin, als ich angerufen habe, wußten sie noch nichts. Vielleicht ist er ja auch gestohlen.« »Ich habe den Zündschlüssel stecken sehen, gestohlen war er nicht«, meinte Susanne noch, dann starrte sie aus dem Fenster. Schließlich griff sie zum Hörer des Funkgerätes und ließ sich mit ihrem Einsatzstab verbinden. Weitere Neuigkeiten waren noch nicht eingegangen, der Saab war noch nicht als gestohlen gemeldet, nicht einmal der rote Mercedes, das bis dahin letzte bekannte Fluchtauto, war gefunden worden. Doch die Daten Fabian Hillgrubers wurden schnell durchgegeben. »Fabian Hillgruber, sechsundzwanzig Jahre alt, verheiratet, Auto mechaniker, wohnhaft in Hannover-Linden, Helmstraße einund zwanzig, keine Vorstrafen«, notierte sie. »Und jetzt kommt das Schlimmste«, setzte sie dann leise hinzu. »Fahren wir zu Hillgrubers. Ich glaube, das müssen wir selbst ma chen.« Harry Krüger nickte ernst. Menschen die Mitteilung vom Tod eines Angehörigen zu machen, war eine Arbeit, die man nicht an andere delegieren konnte. 23
Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Die Helmstraße war eine von jenen alten Straßen in Linden, die den Krieg noch relativ unbeschädigt überstanden hatten und von der Renovierungswut der sechziger Jahre verschont geblieben waren. Früher hatten hier Arbeiter gewohnt, heute war es ein gemischtes Wohngebiet, das mit Eckkneipen, türkischen Gemüsegeschäften, vielen Bäumen und schönen Gründerzeithäusern einen heimeligen Eindruck machte. Arbeiter, Studenten, Ausländer – alle wohnten sie hier mehr oder weniger kunterbunt zusammen. Immer wenn sie in solche Wohngegenden kam, die erst seit den siebziger Jahren richtig in Mode gekommen waren, dachte Susanne etwas neiderfüllt dran, daß sie seit Jahren in ihrer Dreizimmerneubauwohnung in einem Betonsilo weit draußen in Roderbruch wohnte, wo die Mieten auch nicht billiger, dafür aber die Umgebung entschieden steriler war. Das Haus Nummer einundzwanzig hatten sie schnell gefunden. Einige Fahrräder waren an das Schild ›Fahrrad abstellen verboten. Der Hauseigentümer‹ angelehnt. Die Räder waren schlecht ge sichert, allerdings auch in einem so miserablen Zustand, daß wohl jeder Diebstahl Zeitverschwendung gewesen wäre. Das hohe Tor gab den Weg in einen Innenhof frei, in dem ein alter Birnbaum stand und seine Äste barmherzig über einen Haufen älteren Gerüm pels ausbreitete. Die alten Schilder, die angaben, welche Mietpar teien hier wohnten, waren unvollständig, Krüger blickte daher auf die Klingelschilder bei der Eingangstür. Es war ein buntes Gemisch aus sorgfältig geschriebenen und kaum leserlichen, gedruckten pro visorisch angeklebten Schildern. Das Gesuchte war eins von den or dentlichen. »Bettina und Fabian Hillgruber, zweite Etage«, bemerk te Harry nur kurz und ging raschen Schrittes auf die Treppe zu, die rechts von der Einfahrt abging. Früher mochte es hier mal nach Bohnerwachs gerochen haben, 24
doch diese Zeiten lagen lange zurück. Auch schien der Hausdienst nicht sonderlich gut zu klappen, denn die Treppe war schlecht gefegt, und die Farbe blätterte von den Stufen ab. Auf der zweiten Etage blieben sie stehen. Bettina und Fabian Hillgruber stand in etwas krakeligen Buchstaben auf dem braunen getöpferten Schild. Susanne drückte den Klingelknopf. Schritte näherten sich, eine Kette wurde zurückgezogen, und eine kleine, zierliche, blonde Frau Mitte Zwanzig in bunten Leggins schaute sie fragend an. Susanne schluckte und trat vor. »Kriminalpolizei. Guten Tag, dürfen wir eintreten?« Sie merkte, daß ihre Stimme belegt klang. Die Gesichtszüge von Frau Hillgruber erschlafften. »Ist etwas mit Fabian?« fragte sie hastig. »Wir möchten gerne drinnen mit Ihnen sprechen«, sagte Susanne bestimmt. Warum wissen die Leute immer gleich Bescheid, dachte sie. Es scheint fast so, als ob sie eine Ahnung haben. Es war immer das gleiche. Mit großen, verstörten Augen trat Frau Hillgruber von der Tür zurück und machte den Weg frei. Sie traten in ein mit Ikea-Möbeln ausgestattetes Wohnzimmer. »Er ist tot? Sagen Sie doch!« flüsterte sie. Susanne nickte wortlos. Es war nicht ihr erster Besuch dieser Art, aber so etwas ging ihr immer noch nahe, und sie hoffte, daß ihr diese Dinge nie zur Routine werden würden. »Ein Unfall? Er wollte doch nach Braunschweig zu seiner Schwes ter fahren. Aber er ist dort nicht angekommen. Seine Schwester wußte nicht einmal, daß er kommen wollte. Ich habe schon ange rufen. Gestern. Heute morgen. Ich habe überall rumtelefoniert. Kei ner wußte etwas. Keiner.« Frau Hillgruber setzte sich und starrte ins Leere. 25
»Ihr Mann wurde als Geisel bei einem Bankraub genommen und befand sich seit gestern nachmittag in der Gewalt des Geiselneh mers. Heute morgen fanden wir ihn nach einem Unfall. Er war tot.« Frau Hillgruber saß regungslos da. Sie blickte immer noch aus druckslos vor sich hin. Susannes Blick schweifte durch die Woh nung, moderne Ikea-Möbel, einiges mit Liebe arrangiert, ein Blu menstrauß, eine alte Uhr an der Wand, anderes wirkte noch wie aus dem Katalog. Das Bild mit dem Baum an der Wand kannte sie. Ein Sonderangebot von Karstadt zu achtundneunzig Mark. Ein Baum in verschiedenen Jahreszeiten. Daneben das Plakat für ein Pop-Konzert. Die beiden schienen eine klare Linie für ihre Ein richtung noch nicht gefunden zu haben und würden sie jetzt auch nicht mehr finden. »Frau Hillgruber, wir werden den Täter finden, das verspreche ich Ihnen«, hörte sich Susanne sagen, aber gleichzeitig merkte sie, daß sie in Floskeln redete und daß die Ergreifung des Täters die Frau nicht interessierte. Nicht einmal richtigen Trost kannst du spenden, ging es ihr durch den Kopf. Frau Hillgruber schaute wieder benommen zu Boden und sprach leise mehr zu sich selbst als zu den anderen: »Aber unsere Sparkasse wurde doch gar nicht überfallen. Ich ver stehe das alles nicht. Das Radio meldete doch, daß es die Volks bank in Hannover war.« »Sie haben kein Konto bei der Volksbank?« Frau Hillgruber schüttelte den Kopf. »Wir sind bei der Sparkasse. Schon immer«, flüsterte sie. Dann stützte sie den Kopf in die Hän de und schluchzte still vor sich hin. Susanne legte ihren Arm um die Frau. »Frau Hillgruber, es tut mir leid. Und ich weiß, wie wenig Ihnen unsere Worte helfen können. Und daß Sie das alles erst begreifen müssen. Aber könnten Sie uns noch einige Fragen beantworten?« 26
Frau Hillgruber nickte wortlos. »Ihr Mann ist gestern nachmittag noch in die Lindener Volks bank gegangen. Sie sagten, er hätte nach Braunschweig zu seiner Schwester gewollt. Und Sie sagten, Sie haben dort kein Konto? Was wollte er dort? Wollte er sich Geld besorgen? Was hatte er dort in der Bank zu tun?« Frau Hillgruber zuckte nur hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Wo ist er denn gestorben?« »In der Nähe von Groß Hainsdorf bei Neustadt. Er saß am Steu er des Fluchtautos, ist offensichtlich von der Fahrbahn abgekom men. Den genauen Hergang des Unfalls kennen wir noch nicht. Aber Ihr Mann ist an den Folgen des Unfalls gestorben.« Eine Weile schwiegen sie. Susanne wollte etwas Tröstendes sagen, aber ihr fiel nichts ein. Vielleicht war Schweigen ohnehin besser. »Und Sie haben keine Ahnung, warum Ihr Mann in die Volks bank gegangen ist? Wußten Sie, daß er dort vor einer Woche ein Konto eröffnet hat?« fragte noch einmal Harry Krüger und versuch te so mitfühlend wie nur möglich zu blicken. Dennoch öffnete er sein Notizbuch und nahm einen Kugelschreiber in die Hand. Jetzt fehlt nur noch das Klicken der Mine, dachte Susanne. Warum kann er die Frau nicht in ihrem Schmerz in Ruhe lassen? Bettina Hillgruber blickte ihn an. Für einen winzigen Augenblick wirkte sie überrascht, dann schaute sie wieder ausdruckslos. »Ich weiß es doch nicht, ich konnte ihn auch nicht fragen, ich kam doch erst gegen fünfzehn Uhr nach Hause, da war er aber schon fort.« »Hatte Ihr Mann schon frei?« »Er hatte Urlaub. Schon seit zwei Tagen. Und am Wochenende wollten wir wegfahren. In die Heide. Ich verstehe das alles nicht. Es ist so sinnlos. Und was sollen diese Fragen? Was wollen Sie denn nur? Er ist doch tot.« Frau Hillgruber wandte sich ab und wischte sich mit der Hand über die Augen. 27
Susanne machte Harry ein Zeichen. Brich ab, lassen wir sie in Frieden. Was soll das Ganze? Doch Harry hörte nicht auf. »Frau Hillgruber, eine letzte Frage: Sie sagten, Ihr Mann wollte zu seiner Schwester, die aber wußte nichts davon. Gibt es irgend je manden, der uns weiterhelfen könnte? Wo arbeitet Ihr Mann, hatte er irgendwelche Freunde?« Harry gab seiner Stimme einen milden, einfühlsamen Klang. »Freunde, er hatte viele Freunde. Peter Becher, ein Arbeitskollege. Klaus Helmke vom Fußballverein. Und gearbeitet hat er bei Volvo Stuwe. Mein Gott, was soll das denn alles, lassen Sie mich doch in Ruhe. Er ist tot.« Und lautlos fing sie an zu weinen. Susanne legte die Hand auf ihre Schulter, doch Frau Hillgruber schüttelte sie ab. Die beiden Beamten standen auf, gingen langsam durch die Woh nung. In einem Zimmer, dessen Tür offenstand, sah Susanne noch einen Trainingsanzug achtlos hingeworfen. Dann standen sie an der Wohnungstür, öffneten sie und ließen sie leise in Schloß fallen. Langsam gingen sie die Treppen hinunter. »Von Einfühlungsvermögen kann bei dir aber auch nicht die Rede sein«, sagte Susanne, als sie das Haus verließen. »Wir klären einen Bankraub mit einer toten Geisel. Und da fallen mir Widersprüche auf. Zum Beispiel, daß Hillgruber eine Woche vor dem Überfall ein Konto eröffnet, von dem seine Frau nichts weiß. Und dann nach Braunschweig zu seiner Schwester fahren will, die davon auch nichts weiß. Da wird man wohl mal fragen dürfen. Und du brauchst dir nicht ewig einzureden, daß du an dem Tod von Hillgruber schuld bist.« Mißgelaunt stapften sie die Straße entlang.
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3. KAPITEL
D
ie fünfte Stunde hatte Heribert Mehrtens nun auch glücklich hinter sich. Zum wiederholten Male freute er sich, daß er sich seine Arbeitszeit frei einteilen konnte. ›Halbtagsjob‹ nannte man das wohl draußen. Zusammen mit einer Reihe anderer Kollegen, die heute ebenfalls frühzeitiger Schluß hatten, strebte er dem Lehrerparkplatz zu und erreichte nach wenigen Schritten seinen Passat. Einen Augenblick zögerte er, doch dann konnte er der Versu chung nicht widerstehen, einen kurzen Blick in den Kofferraum sei nes Wagens zu werfen. Da standen sie nun. Die unscheinbaren Ak tentaschen, noch unversehrt, nicht geöffnet, ganz wie er sie abge stellt hatte. Nein, sie zu öffnen, das verkniff er sich dann doch. Er stellte seine Schultasche daneben und klappte den Kofferraumde ckel rasch zu. »Heribert, kommst du auch heute nachmittag?« Paul Schöller war an ihn herangetreten, Personalratsmitglied und immer noch aktiv in der sonst längst eingeschlummerten GEW-Betriebsgruppe. Heribert blickte auf. Heute nachmittag? Ach so, irgendeine Arbeitsgruppe. Arbeitsbedingungen an der Schule verbessern oder so ähnlich. Vor einigen Wochen hatte er sich in einer Gesamtkonferenz leichtsinnigerweise dazu bereit er klärt, in dieser Gruppe mitzumachen. Aber das war ja vor einer hal ben Ewigkeit gewesen. Und im Augenblick hatte er drängendere Probleme. »Wahrscheinlich, doch, kommen wollte ich eigentlich schon«, sagte er leichthin und schloß die Fahrertür auf, als er sah, daß Paul Schöller sich auf die Motorhaube des Passats stützte, um ihn an 29
scheinend in ein etwas längeres Gespräch zu verwickeln. Er öffnete die Tür. »Also dann bis heute nachmittag«, setzt er noch hinzu, um nun endgültig deutlich zu machen, daß er das Gespräch für been det ansah. Vielleicht war es ja ein bißchen unhöflich, aber etwas kurz angebunden waren nun einmal manche nach einem anstren genden Schultag. Er nickte noch einmal freundlich, stieg ein, setzte den Wagen zurück, wendete und steuerte auf die Ausfahrt des Ge ländes zu. Bloß jetzt keinen Unfall bauen, dachte er und achtete sehr sorg fältig auf die unübersichtliche Einmündung in die Straße, die schon manchem Kollegen nach einem Schultag zum Verhängnis geworden war. Aber aufs Fahren konnte er sich nicht konzentrieren. Immer wie der mußte er an die dicken Geldbündel in seinem Kofferraum den ken. Wie viele mochten es sein? Eine Million? Zwei? Bestimmt. Aus vollem Halse stimmte er ›Money‹ von Pink Floyd an. Das Klingeln der Registrierkasse dachte er sich hinzu. Und als er fertig war und nicht mehr weiterwußte – so sehr zum Mitsingen eignete sich das Lied ja wirklich nicht –, pfiff er noch schnell ›money makes the world go round, the world go round‹ und trommelte im Takt aufs Lenkrad. Er rief sich zur Ordnung. Flipp jetzt bloß nicht aus. Aber sobald er ruhig war, verspürte er das dringende Bedürfnis, endlich genau nachzuzählen. Vielleicht waren es ja doch vier Millionen. Genüß lich breitete er die vielen Scheine im Geiste vor sich aus. Ein Bün del Tausender neben dem anderen. Einen Augenblick sonnte er sich in diesem Bild. Leider würde Elisabeth ihn heute schon zu Hause erwarten, hatte das Essen gekocht (heute war sie dran), er würde sich also noch gedulden müssen. Aber mit Sicherheit hatte sie heute wieder eine Konferenz, das stand schon lange fest, und dann konnte er in aller Ruhe zählen. Mit einemmal wurde ihm klar, daß er sich eigentlich für heute 30
etwas anderes vorgenommen hatte. Mittwochs, da hatte doch Clau dia immer früher frei. Und er hatte sich mit Claudia verabredet. Richtig, das war's. Claudia, sollte er ihr alles erzählen? Er schwankte einen Augen blick. Nein, das war wohl doch nicht sinnvoll. Mindestens im Mo ment nicht. Und außerdem, das Geld mußte gezählt werden, ver steckt werden, er mußte klar denken können und hatte ohnehin den Kopf voll davon. Claudia, das paßte heute nicht. Er bremste bei der Telefonzelle am Ortsausgang, ging hinein und wählte die ihm bekannte Nummer. »Praxis Dr. Berger.« »Hallo, Claudia.« Heribert schluckte und räusperte sich. Es hatte ihn immer schon aufgeregt, daß er sich ewig räuspern mußte, wenn er mit Claudia telefonierte. Aber abstellen konnte er es nicht. Je denfalls nicht bei Claudia. Also machte er Witze darüber. »Du, Claudia …« Heribert senkte die Stimme und versuchte ihr einen zärtlichen Klang zu geben, denn er konnte sich vorstellen, daß es jetzt gleich Theater geben würde. Claudia konnte förmlich ausras ten, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlte: Du hast mich ver setzt, du liebst mich nicht mehr und was dergleichen törichte Vor haltungen mehr waren. Claudias Stimme klang nur mäßig froh. »Heribert, toll, daß du anrufst. Du, ich kann im Augenblick nicht viel sprechen. Ich wollte dich auch anrufen. Heute klappt das leider nicht. Du, tut mir schrecklich leid. Aber wir telefonieren, ja? Du, ich muß Schluß machen. Bis dann. Und tschüs auch.« »Tschüs«, sagte er noch und hörte, wie sie den Hörer auflegte. Er spürte einen Anflug von Ärger, so hatte er sich die Absage der Ver abredung nun doch nicht vorgestellt. Und was hatte Claudia über haupt? Sie klang so seltsam. War kurz angebunden. Etwas mißmutig fuhr Heribert weiter. Kurz vor Woltershagen sah er noch, wie Polizisten die Reste einer 31
Straßensperre wegräumte. Hilpert Meyer war dabei, ein ehemaliger Schüler, der den Übergang in die Oberstufe nicht geschafft hatte. Als er Heribert erkannte, winkte er ihm zu. Heribert winkte zurück. Er freute sich, daß er immer noch einen guten Draht zu den Ehe maligen hatte. Dann gab er Gas und war drei Minuten später zu Hause. Draußen in der Einfahrt ihres Hauses stand schon der neue Golf. Ganz gegen ihre Gewohnheit kam Elisabeth ihm vor der Haustür entgegen. Ihre Augen leuchteten. »Ist er nicht toll? Und schau mal, was für eine Nummer ich be kommen habe: H-E 2751!« Beifallheischend blickte sie ihn an. »Ist ja prima«, meinte Heribert ohne Anzeichen von Begeiste rung. »Deine Paraphe E und dein Geburtsdatum. Zweiter Juli ein undfünfzig. Einfach toll. Darauf muß man erst mal kommen.« Er spürte, daß Elisabeth etwas sagen wollte, es sich dann aber doch überlegte. Sichtlich eingeschnappt ging sie ins Haus. »Ich habe das Essen schon fertig«, meinte sie nur noch kühl und ohne sich umzudrehen. »Hast du was?« fragte Heribert, aber bekam keine Antwort mehr. Das Essen verlief schweigend. Heribert ärgerte sich, daß er ganz ge gen seine Absicht unwillkürlich einen Streit provoziert hatte. Und obwohl er Elisabeth jetzt nun wirklich weggewünscht hätte, tat es ihm leid, und versöhnlich bemerkte er: »Das Essen ist gut. Entschuldigung für eben. Ich hatte viel zu tun und bin ein bißchen abgespannt.« Elisabeth nickte nur beiläufig. So schnell war sie nun nicht zu be sänftigen. Heribert kannte das. Das würde sich bis in den Abend ziehen. Und obwohl er an diesem Streit nun sicherlich nicht un schuldig war: Diese Reaktion kannte er zu gut. Er fühlte, wie der Ärger langsam in ihm hochstieg. Hatte er Lust auf einen richtig gu ten Streit? Er schwankte, malte sich die Reaktionen auf mögliche Worte und Erwiderungen aus, übte sich im Vorgriff auf ein lang 32
eingespieltes Ehestreitritual – und beschloß dann doch, ruhig zu bleiben. Was brachte es schon. Er löffelte seine Raviolisuppe, die ihm wirklich gut schmeckte, nahm auch noch eine Kelle extra und machte sich dann wortlos an den Abwasch, während Elisabeth, of fenkundig immer noch nicht besänftigt, sich in ihr Arbeitszimmer zurückzog, um ihre Unterrichtsvorbereitungen zu erledigen. Erneut ergriff ihn eine fiebrige Unruhe. Sicherlich würde Elisa beth noch längere Zeit in ihrem Arbeitszimmer verbringen, also konnte er doch die Taschen gleich in sein Arbeitszimmer tragen. Vielleicht auch schon zählen? Er wurde ganz aufgeregt bei dem Ge danken. Und überhaupt: Draußen im Auto waren sie doch wohl nicht besonders sicher, seine Geldtaschen. Unschlüssig pendelte er zwischen Wohnungstür und Haustür hin und her. Schließlich siegte die Vorsicht. Elisabeth war nun die Letzte, der er von seinem Fund erzählen würde. Und ein Risiko wollte er jetzt unter keinen Umständen eingehen. Den Unterricht vorzubereiten, dazu war er nun auch nicht in der Stimmung, und so legte er sich aufs Sofa und stellte das Radio an. Vielleicht brachten ja die Nachrichten etwas über die Herkunft des Geldes. Nach dem üblichen Trallala von Werbung und in Zweiminuten häppchen dargereichten Informationen, die dieser Sender nun mal für publikumswirksam hielt, kamen endlich die Nachrichten: Heute morgen wurde in der Nähe von Neustadt am Rübenberge die ges tern verschleppte Geisel tot aufgefunden. Sie starb an den Folgen eines Verkehrsunfalls, den der flüchtige Geiselnehmer, der gestern nachmittag die Filiale der Lindener Volksbank überfallen hatte, verursachte. Der Bankräuber war zuletzt mit einem schwarzen Saab unterwegs und ist mit den erpreßten drei Millionen weiterhin flüchtig. Nähere Hinweise über den Fluchtweg des Wagens sowie weitere sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. 33
Das war entgegen alle Erwartung sehr kurz und klar. Heribert schluckte trocken. Bankraub, Geiselnahme, eventuell Mord. Bei Mord stutzte er. Wieso Mord? Der Verletzte hatte doch noch ge lebt, als er ihn aus dem Auto geholt hatte. War er nachträglich sei nen Verletzungen erlegen? Gestorben wegen unterlassener Hilfe? Heribert fühlte ein unangenehmes Kribbeln im Magen. War er am Tod eines Menschen schuldig? Er? Aber so schlimm hatte der Ver letzte nun doch nicht ausgeschaut. Und: Der andere Autofahrer hatte doch sicherlich schnellstmöglich Hilfe geholt. Also mehr hät te man auch bei bestem Willen nicht tun können. Es hielt Heribert nicht mehr auf seinem Sofa. Bankraub, Geisel nahme, Tod eines Opfers würde nicht nur die Medien alarmieren, sondern auch eine Großfahndung einleiten. Die Polizeisperre! Sie dendheiß fiel ihm ein, wie knapp er, ohne es zu ahnen, einer Durchsuchung seines Wagens entronnen war. Er mußte vorsichtig sein. Das Geld war gefährlich. Mit einemmal kamen ihm Bedenken, ob er denn überhaupt rich tig gehandelt hatte, als er instinktiv diesen Koffer an sich nahm. Zehn Prozent Finderlohn wären doch wohl auch etwas gewesen. Aber bestimmt hätte man ihn geprellt. Vielleicht wären fünfzigtausend abgefallen, lobender Artikel in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung – und das wär's dann gewe sen. Das Geld wieder zurückbringen? Heribert seufzte. Nein, das gab jetzt auch keinen Sinn mehr. Mitgefangen, mitgehangen, jetzt muß te er die Sache durchziehen, aber vorsichtig, ganz vorsichtig. Er drehte noch etwas am Tuner seiner Stereoanlage, aber die aus führlichen Berichte schienen schon am späten Vormittag gesendet worden zu ein, und weitere Informationen waren dem Radio nicht zu entlocken. Und erleichtert hörte er, wie Elisabeth offensichtlich fertig war, ihre Schultasche packte und mit einem frostigen »Bis bald« ihrer Schule zustrebte. Endlich war er allein. 34
Er hörte noch, wie der Motor des Golfs angelassen wurde und Elisabeth zurücksetzte. Dann stellte er sich ans Küchenfenster und sah, wie der Wagen seiner Frau um die Kurve bog. Drei Stunden hatte er Zeit. Vielleicht auch mehr, wenn Elisabeth, was allerdings seltener vorkam, noch mit Kollegen ins ›Bacchus‹ essen gehen würde. Drei Stunden, die er nutzen mußte, um ein sicheres Versteck für seine Beute zu finden. Ein Blick nach draußen überzeugte ihn, daß in der Einfamilienhaussiedlung kein Mensch auf der Straße war. Halb so groß wie der Friedhof von Chicago, aber doppelt so tot, dachte er. Er setzte den Passat über die jetzt frei gewordene Einfahrt in die Garage und schloß das Tor durch Fernbedienung. In diesem Au genblick fand er es ganz praktisch, daß Elisabeth damals, als sie die ses für zwei Personen eigentlich viel zu große (und auch viel zu teure) Haus gebaut hatten, auf einer Garage bestanden hatte, die einen direkten Zugang zum Haus aufwies. Im Dämmerdunkel wuch tete er die Taschen aus dem Kofferraum heraus und schleppte sie in sein Arbeitszimmer. Er schloß die Tür und betrachtete seine Koffer. Schließlich öffnete er sie und legte fast andächtig einen Stapel Tau sender neben den anderen, bis der ganze Teppich des Arbeitszim mers davon bedeckt war. Die paar Hunderter, die quasi aus Verse hen mit hineingeraten waren, ordnete er dekorativ am Rande an. Anfangs zählte er noch jeden Stapel nach, doch als er beim ach ten oder neunten merkte, daß die Bank sich nicht verzählt hatte, gab er diese sinnlose Arbeit auf und beschränkte sich auf das Zäh len der Bündel. Drei Millionen achtundfünfzigtausendsiebenhun dert Mark lagen vor ihm. Und obwohl er eigentlich keinen Cognac mochte, ging er ins Wohnzimmer und holte die Flasche hoch, die sie beide in einem Anflug von Luxus anläßlich eines Besuchs in Cognac zu einem horrenden Preis gekauft hatten und die seitdem ein eher stiefmüt terliches Dasein im Wohnzimmerschrank gefristet hatte, denn auch 35
Elisabeth war kein Freund scharfer Alkoholika. Er genehmigte sich einen größeren Schluck und spürte die Wärme des milden Getränks in seinem Mund. Ein feierlicher Augenblick. Er war reich. Zum ersten Male seit dem Morgen fühlte er ein Gefühl von Zu friedenheit. Weggeblasen waren die trüben Gedanken von heute nachmittag. Ein flüchtiger Blick auf einige der Geldscheinbündel belehrte ihn, daß diese nicht durchnumeriert waren. Zwar machte sich Heribert Mehrtens keine Illusionen darüber, daß die Num mern mindestens einiger Scheine irgendwo in einem Computer ge speichert waren und natürlich eine ideale Fährte zum jetzigen Be sitzer darstellen konnten. Doch wenn man nicht so dämlich vor ging wie die meisten, die möglichst noch am selben Tag mit den registrieren Scheinen in zweifelhaften Etablissements nur so um sich warfen, dann durfte das Risiko wohl überschaubar bleiben. Wohin mit dem Geld? Diese nächstliegende Frage beschäftigte ihn aufs neue. Versteckte er es zu Hause, war das Risiko einer Ver haftung, falls das Geld zufällig gefunden werden sollte (vielleicht hatte ihn ja irgendein Bauer am Morgen gesehen und sich noch nicht bei der Polizei gemeldet?) sehr hoch. Andererseits: Sichere Verstecke außerhalb seines Hauses kannte er nicht, und so be schloß er, mindestens für einige Tage das Geld hier irgendwo zu verstecken. Aber wo? Keller? Elisabeth hatte manchmal so einen Anfall, klar Schiff zu machen und alte Sachen schlichtweg wegzu werfen. Und der Keller bot geradezu ein ideales Betätigungsfeld da für, wenngleich es nun auch wiederum eher eine Arbeit für den Herbst oder Winter war. Da das Arbeitszimmer ausschied und er auch dem Platz unter dem Bett nicht traute, blieb nur der Boden. Die Entscheidung war gefallen. Heribert trat auf den Flur und öffnete mit einem Haken die Fall tür, zog die Schiebeleiter herunter und kletterte hinauf. Es war ein großer Boden, der sich oberhalb der ersten Etage über die ganze Länge des Hauses erstreckte. Eine trockene, warme und doch sti 36
ckige Luft empfing ihn. Licht fiel durch eine kleine Dachluke hin ein, elektrische Lampen hatten sie hier noch nicht angebracht. Mein Gott, was war hier alles zusammengekommen, Reste eines Sessels, eine Holzarmlehne von einer Couch, die es schon nicht mehr gab, Umzugskartons, die nie ausgepackt worden waren. In einer der hin teren Ecken fand er schließlich einen Haufen aus Umzugskartons, alten Koffern und einer Reihe von Aktenordnern aus der Studien zeit. Ein bißchen wehmütig blätterte er seine Arbeiten zu Marx' Ka pital durch, die er in den Zeiten, als er noch weniger von Segel schiffen, dafür aber um so mehr von der Weltrevolution geträumt hatte, während eines Tutoriums angefertigt hatte. Diese Ecke war genau richtig. Alte Bücher, alte Akten, nie würde irgend jemand, schon gar nicht Elisabeth, nachschauen. Und für die ersten Tage mochte es gehen. Er schleppte die Taschen durch die enge Luke, verstaute sie, bedeckte sie mit einer alten zerknüllten Zeltplane und ging nach unten, um sich einen zweiten Cognac einzuschenken. Er hatte sich noch einen verdient, da war er sicher.
4. KAPITEL
D
ie Meldungen, die eingingen, waren nicht besonders alarmie rend und wiesen darauf hin, daß die Spur des Täters sich zu nächst im Dunkel verlor. Doch nach ein paar Minuten klingelte er neut das Telefon. Der letzte entwendete Fluchtwagen, der rote Mercedes, war in einem Parkhaus in Minden gefunden worden. Reiner Zufall, der meldende Polizist hatte den am Abend zuvor im Parkhaus abge 37
stellten Wagen seiner Frau nach Dienstschluß nach Hause fahren wollen, als ihm das Nummernschild des auswärtigen Wagens auf gefallen war. Er hatte noch den kurz vor seinem Dienstschluß er folgten Fahndungsaufruf nach einem roten Mercedes mit Bielefel der Kennzeichen erhalten, und das reichte ihm, noch einmal anzu fragen. Allerdings war der Fluchtwagen leer, und die ersten Befra gungen nach möglichen Fahrern blieben – wie meist in solchen Fäl len – erfolglos. Niemand hatte sie gesehen, auch die Mädchen an der Kasse konnten keine Hinweise geben. »Ich möchte wetten«, stellte Harry Krüger, der gerade an seine Pizza Salami, die er wie alle vom Pizzabäcker gegenüber hatte kom men lassen, herumsäbelte, »daß wir uns da die genauen Nachfragen schenken können.« »Vermutlich«, stimmte Susanne zu. »In diesen Parkhäusern schaut ja doch keiner hin, wo welches Auto steht – wenn es nicht gerade wochenlang dort steht. Seien wir froh, daß es überhaupt so schnell gefunden worden ist.« Sprach's und machte sich über ein halbes Hähnchen her, das vom Hähnchen-Eck, dem Konkurrenzunterneh men des Pizzabäckers, geliefert worden war. Alles schmeckt irgend wie gleich, dachte sie noch. Vegetarierin müßte man werden, über legte sie zum wiederholten Male – in dem sicheren Bewußtsein, daß sie auch diesmal ihren guten Vorsätzen untreu werden würde. Und während sie lustlos an einem Hähnchenbein nagte, machte sie sich in Gedanken Notizen für den nächsten Tag. »Der Saab ist immer noch nicht als gestohlen gemeldet? Hat man den Besitzer endlich ausfindig gemacht?« »Wolters sagte mir vorhin, da meldet sich keiner. Eine Nachbarin sagt, die seien heute morgen weggefahren zu einem Trauerfall. Der Halter ist übrigens Oberpostsekretär. Dafür fährt er einen ganz schön aufwendigen Wagen, findest du nicht?« »Haben die zwei Autos? Ich meine, weil du gesagt hast: gefahren.« Harry zuckte mit den Schultern. »Ich glaube ja, die sollen noch 38
einen Opel Kadett fahren. Merkwürdig ist das schon: Wie kommt der Bankräuber an einen Fluchtwagen, der nicht als gestohlen ge meldet worden ist? Und hat die Zündschlüssel. Denn der Halter ist offensichtlich heute noch gesehen worden. Also dieser Chloroform trick ist wohl nicht angewendet worden.« »Morgen früh untersuchen wir das«, entschied Susanne. »Der Vertreter, der die Polizei geholt hat«, erinnerte sie Harry Krüger noch. »Richtig, sollte der nicht morgen um neun Uhr seine Aussage ma chen?« Harry nickte nur kurz und spießte ein öliges Pizzastückchen auf. »Und der Fahrer des Wagens, der als erster am Unfallort war und der jetzt spurlos verschwunden ist. Den müßten wir auch suchen lassen.« Das Gespräch verstummte, und Susanne spürt die bleierne Mü digkeit in ihren Knochen. Dennoch fühlte sie sich besser als noch zu Beginn des Tages. Die Gewissensbisse hatten nachgelassen. Sie hätte sich immer wieder so entschieden. Und alle hatten sie darin bestärkt. Die quälenden Zweifel, ob sie ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte, waren weniger geworden. Es wurde langsam ein Fall wie andere in ihrer Laufbahn, aller dings größer, publikumswirksamer. Ein gut geplanter Banküberfall mit drei Millionen Mark Beute und einem zufälligen Verkehrsun fall, der einen fast perfekten Plan früh zum Scheitern gebracht hat te. Es gab Anhaltspunkte, sicherlich Spuren, es war Arbeit für Rou tiniers, und sie war sicher, daß sie die Sache aufklären würde. Es ging auf sechzehn Uhr zu, und ein großer Teil ihres Einsatz stabes war bereits gegangen, hatte die Gleitzeit genutzt, um etwas früher nach Hause zu kommen. Zu Frau und Kindern, wie Susanne manchmal in einem Anflug von Bitterkeit dachte, wenn sie sich ihrer Dreizimmerwohnung im Roderbruch erinnerte, in einer Tra bantenstadt draußen vor den Toren Hannovers, dort, wo die Woh 39
nungen teuer und anonym waren. Und wo es einsam war. Gab es noch etwas zu tun? Sie blickte Harry fragend an, bemerkte die Ringe unter seinen Augen. »Machen wir Schluß für heute«, sagte sie. »Es war anstrengend.« Harry nickte dankbar. Auf einmal klopfte es jedoch an die Tür, und ein etwa vierzig jähriger, gut gekleideter Mann trat ein. »Guten Tag, bin ich hier bei Frau Breugel richtig?« Susanne nickte und bat ihn, sich zu setzen. »Treten Sie doch näher, und nehmen Sie bitte Platz, Herr …« »Grzeskowiak. Teja Grzeskowiak. Ich sollte ursprünglich morgen früh bei Ihnen vorbeischauen, da ich aber meine Tour heute etwas schneller als geplant beendet und dafür morgen weniger Zeit habe, dachte ich mir, daß ich vielleicht kurz hier vorbeischauen könnte.« »Richtig, Sie sind der Fahrer, der die Polizei wegen des Unfalls benachrichtigt hat?« Herr Grzeskowiak nickte kurz. »Könnten Sie uns kurz beschreiben, was Sie gesehen haben?« »Eigentlich gibt es nicht viel zu beschreiben. Ich fuhr an der Un fallstelle vorbei und sah einen schwarzen Wagen, ich glaube, es war ein Saab 900, im Straßengraben liegen. Davor stand ein anderer Wagen, und der Fahrer leistete offenbar Erste Hilfe. Er hatte jeden falls das Unfallopfer schon aus dem Wagen geholt und neben den Saab an den Straßenrand auf den Rasen gelegt.« »Sie haben nicht angehalten?« »Ich wollte anhalten, aber der Helfer bedeutete mir durch Zei chen, daß ich schnell die Polizei benachrichtigen sollte. Und das habe ich dann auch gemacht. Ich konnte ja nicht ahnen, daß es sich dabei um ein Verbrechen handelte.« Susanne zog die Augenbrauen hoch. »Ein Verbrechen? Woher wissen Sie das denn?« Herr Grzeskowiak lächelte überlegen und lehnte sich in seinem 40
Sessel zurück. »Hören Sie mal. Ich bin doch nicht dumm. Ich melde einen Ver kehrsunfall, tragisch, gewiß, aber so etwas kommt jeden Tag vor. Werde erst telefonisch befragt, dann aufgefordert, mich morgen bei Ihnen, Sonderdezernat Schwere Kriminalität, zu melden. Das war doch kein normaler Verkehrsunfall, oder? Und die Nachrichten ha ben ja auch schon etwas gebracht. Das war doch der Fluchtwagen, nicht wahr?« Er verschränkte selbstsicher die Arme vor der Brust und wippte mit den Füßen. »Sie haben übrigens da oben ein sehr ungewöhn liches Bild hängen. Diesen Druck von Monet ›Picknick im Grünen‹ nicht war?« Arroganter Kerl, dachte Susanne und fühlte Ärger in sich aufstei gen. »Frühstück, es heißt Frühstück im Grünen.« Harry Krüger übernahm. »Kommen wir zum Thema zurück. Uns beschäftigen vor allem zwei Fragen. Erstens: Konnten Sie feststellen, ob der Verletzte noch gelebt hat? Und zweitens: Können Sie nähere Angaben zum Fahrer des anderen Wagens machen, zu seiner Klei dung, zu seinem Wagen, Größe, Aussehen, Alter?« »Ob der Verletzte noch gelebt hat, kann ich nicht beurteilen, er lag da, aber mehr kann ich nicht sagen. Der Fahrer? Vielleicht vier zig, dunkelblaues Jackett, mittelgroß, Haarfarbe dunkel, glaube ich. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Sein Auto? Roter Passat, neues Modell, ich glaube kein Kombi, aber das kann ich nicht be schwören.« »Ein roter Passat, sagten Sie? Das Kennzeichen haben Sie sich nicht gemerkt?« »Ich glaube, es war ein hannoversches. Möglicherweise eine Land kreisnummer. Das Rot war übrigens hellrot. Tornadorot«, fügte Grzeskowiak hinzu. »Sie haben sehr genau beobachtet«, bemerkte Susanne und mus terte ihren Zeugen freundlicher. 41
»Das bringt mein Beruf so mit sich. Ich muß verkaufen, und da schaue ich mir die Leute schon genau an. Und wenn ich das nicht kann, dann kann ich einpacken.« Er lehnte sich wieder selbstzufrie den zurück. »Den Mann beschreiben können Sie nicht?« »Genauer beschreiben kann ich ihn nicht. Ich habe ihn auch nur ganz kurz von vorne gesehen. Die meiste Zeit war er durch den Kofferraumdeckel des Saab verdeckt, und erst, als er mir Zeichen machte, daß ich die Polizei alarmieren sollte, habe ich ihn ganz kurz gesehen. Also genauer geht es nicht.« »Sie sagten, er habe den Kofferraum des Saab betrachtet?« Susanne und Harry wechselten einen raschen Blick. »Ja, ja. Vielleicht hat er einen Verbandskasten gesucht. Jedenfalls hat er in den Kofferraum geschaut. Aber das ist eigentlich alles, was ich weiß.« »Herr Grzeskowiak, wir möchten jetzt noch ein Protokoll dieser Aussage aufnehmen, und falls Ihnen noch etwas einfällt…« »… wende ich mich vertrauensvoll an Sie.« Herr Grzeskowiak nickte kurz. »Ich kenne das aus Krimis, aber daß ich selbst mal in einem mitspielen würde …, na ja.« Als das Protokoll aufgesetzt, unterschrieben und Herr Grzesko wiak gegangen war, schien der Fall ihnen ein bißchen klarer als zu vor. Susanne malte ein paar nicht genau identifizierbare Zeichnungen auf ein Blatt Papier. Schnecken, Kreise, Häuser, um dann endlich bei ihrer Lieblingszeichnung zu verweilen, dem Haus vom Niko laus, mit dessen Hilfe sie schon seit Schulzeiten versucht hatte, sich zu konzentrieren, wenn sie nachdenken wollte. Harry, der die Nachdenklichkeit seiner Chefin kannte, den es aber auch offensichtlich nach Hause zu seiner jungen Frau zog, räusperte sich und schaute demonstrativ auf die Uhr. Zehn nach sechs. Viel später, als er gedacht hatte. 42
»Ist schon gut, Harry«, meinte Susanne, »morgen machen wir weiter. Ich bleib' noch ein bißchen hier.« Harry stand auf, packte seine Aktentasche und drehte sich an der Tür noch einmal kurz um. »Mach Schluß, Susanne. Übertreib's nicht. Morgen ist auch noch ein Tag. Tschüs.« Dann schloß er die Tür. Sollte sie auch nach Hause gehen? Dorthin, wo sie keiner erwar tete? Noch weiter arbeiten, aber was? Susanne verfiel in eine etwas melancholisch-apathische Stimmung, die sie gelegentlich befiel, wenn sie allein war. Doch dann gab sie sich einen Ruck. »Morgen sieht die Welt anders aus!« meinte sie zu sich und stand auf. Es war nur natürlich, daß ausgerechnet in diesem Augenblick wie der das Telefon klingelte. Einen Augenblick erwog sie, nicht dran zugehen, aber vielleicht war es ja noch etwas Wichtiges. Sie hob ab. »Breugel.« »Susanne, bist du's?« Pfeiffer von der Gerichtsmedizin war es. »Es ist gut, daß ich dich noch erwische, wir sind gerade mit der Autop sie fertig. Von Fabian Hillgruber. Also den Bericht hast du morgen auf dem Schreibtisch. Das Wichtigste nur mündlich: Fabian Hill gruber hat nach dem Unfall noch gelebt. Er hatte einige Schnitt wunden im Gesicht, einen Bruch des linken Beines und überall schwere Prellungen und drei Rippenbrüche. Das war übel, aber ge storben ist er an etwas anderem.« Pfeiffer machte eine bedeutungsvolle Pause. Susanne hielt die Luft an. Komm zur Sache, dachte sie. Ich mag dieses Rätselraten nicht. »Und woran?« »Er wurde erwürgt. Jemand hat ihm die Luft abgedrückt, bis er tot war. Genaueres steht im Bericht. Aber ich wollte es dir schon jetzt mal sagen.« »Erwürgt?« fragte sie erstaunt. »Du meinst ermordet? Er starb nicht an den Folgen des Unfalls?« Ganz gegen ihre Absicht wurde 43
ihr Tonfall interessiert. Pfeiffer lachte. »Wenn ich es dir doch sage, meine Liebe. Aber ne benbei gesagt – hast du heute abend etwas vor?« Pfeiffer war nun der letze, mit dem sich Susanne treffen wollte. Obwohl gutaussehend, machte er sich an alle ledigen bzw. sonst greifbaren Frauen der Dienststelle heran. Susanne mochte ihn nicht besonders. »Ich bin heute abend noch eingeladen«, erklärte sie bestimmt. »Na, dann ein andermal«, meinte Pfeiffer locker und nicht sicht lich enttäuscht. »Viel Spaß.« Susanne legte den Hörer auf. Nun doch noch ein Mord. Warum? Motiv? Auf einmal hatte sie keine Lust, sich noch weiter mit der Sache zu beschäftigen. Sie verließ das Büro und ging in den beginnenden Abend hinein.
5. KAPITEL
H
eribert hatte schlecht geschlafen. Nachmittags hatte er noch geschwankt zwischen Hochstimmung und Unruhe, hatte halb noch auf einen Anruf von Claudia gewartet, der dann doch nicht kam. Auch Elisabeth war merkwürdig spät von der Gesamtkonferenz nach Hause gekommen, etwa gegen eins, als er schon halb am Ein schlafen gewesen war. Sie war ungewöhnlich guter Laune gewesen, was ihn zu anderer Zeit sicherlich tief beunruhigt hätte. Auch die Herkunft des Geldes war nicht dazu angetan, seine Sor 44
gen zu mindern. Die einfache Unterschlagung eines Angestellten (wenn es nicht gerade einer von der Mafia war) wäre sicherlich bes ser gewesen. Und so hatte er sich unruhig auf seinem Lager hin und her gewälzt, gelegentlich von Segelbooten, weiten Reisen, Ausstei gen einerseits und Entdeckung durch die Polizei andererseits ge träumt. Dazwischen die sich im Dunkel der Nacht geradezu panisch stei gernde Angst, sein Geld könne gefunden werden, sei es durch Elisa beths Aufräumaktionen, sei es durch einen Einbrecher oder eine Hausdurchsuchung der Polizei. Und so ersehnte er sichtlich ermat tet das Schnarren des Weckers, der ihn zum Aufstehen gemahnte. Sie beide hatten etwas Schwierigkeiten, morgens aus dem Bett zu kommen, und so wunderte es ihn, daß Elisabeth, der es normaler weise noch schwerer fiel, gleich aus den Federn sprang, eine Tasse Nescafé ans Bett brachte und ihm einen liebevollen Kuß auf die Stirn hauchte. In seinen sechzehn Jahren Ehe war das höchstens zwei- oder dreimal vorgekommen, und obwohl er einerseits dieses Verwöhntwerden durchaus genoß, schien es ihm so ungewöhnlich zu sein, daß er bei Elisabeth weniger Liebe als ein mögliches schlechtes Gewissen vermutete. Andererseits mochte es ja auch ein wirkliches Friedensangebot sein, und so freute er sich gebührend und erklärte sich sogar bereit, Brötchen beim nahe gelegenen Bä cker zu holen. Die Schlange war kurz, doch lang genug, daß sein Blick auf die Bildzeitung, die auf dem Tresen des Bäckers ausgelegt war, fallen konnte. Bankraub: eine Geisel tot – 3 Millionen weg. Den Schrei berlingen waren auch schon mal bessere Schlagzeilen eingefallen. Bevor er sich noch näher in den Artikel vertiefen konnte, war er be reits an der Reihe und steckte die Zeitung einfach ein. Er hatte sich schon ein »Ist für den Unterricht«, als Antwort auf einen fragenden oder erstaunten Blick der Bäckersfrau zurechtgelegt, doch die tippte nur etwas müde den Betrag in die Registrierkasse und wandte sich 45
dem nächsten Kunden zu. Dafür geriet er bei Elisabeth in Recht fertigungszwänge. »Die Bildzeitung?« begrüßte sie ihn erstaunt. »Ist für den Unterricht«, meinte er nur. »Das sagt man immer«, scherzte sie, »gib zu, dich hat nur der Bankraub interessiert.« Dann setzten sie sich an den gedeckten Tisch. Elisabeth hatte sogar Blumen aus dem Garten in eine Vase gestellt und begann freundlich Konversation zu machen. Eigentlich hätte Heribert viel lieber in den Zeitungen geblättert, doch das konnte er jetzt beim besten Willen nicht tun. So mimte er den Interessierten, unterhielt sich mit ihr über das Programm des vor ihnen liegenden Tages. Eli sabeth hatte überraschenderweise heute auch noch eine Konferenz und anschließend eine Arbeitsgruppe, von der er bisher noch nichts wußte. Die Gesamtkonferenz gestern war übrigens wieder von der üblichen Langeweile gekennzeichnet gewesen, so daß sie sich beim Griechen davon erholen mußten. Na ja, und dann sei es ja auch spät geworden. Aber lustig sei es gewesen. Schade, daß Heribert nicht dabei gewesen sei. »Wer war denn da?« fragte Heribert noch. Elisabeth stockte etwas und nannte dann rasch die Namen von einigen Kollegen, die Heri bert nur vom Hörensagen kannte. »Schmidts nicht?« Nein, Schmidt, ein befreundetes Ehepaar, waren gleich nach Hau se gefahren. Heribert biß in sein Marmeladenbrötchen und machte insgeheim ein Fragezeichen hinter diese Version. Sollte sich Elisa beth wirklich einen Liebhaber zugelegt haben? Er würde aufpassen müssen, denn ein solches Verhalten Elisa beths hätte er als tiefen Vertrauensbruch empfunden. Aber weiter nachfragen wollte er auch nicht und wurde so zunehmend einsil biger, was Elisabeth offensichtlich nicht zu stören schien. Schließ lich packte sie ihre Tasche und verließ nach einem freundlichen 46
Gruß das Haus. Sie mußte etwas eher fahren, da sie einen etwa zehn Minuten längeren Schulweg hatte als er. Eigentlich hätte er jetzt abräumen müssen, aber es hielt ihn nicht mehr länger, er er griff die Bild-Zeitung und begann den Artikel zu überfliegen. In der für dieses Blatt üblichen Weise wurde der Bankraub ge schildert, die Geiselnahme, der Fluchtweg, der Unfall. Ein Herr Grzeskowiak – furchtbarer Name – berichtete zum Schluß, wie er die Polizei geholt und den Bankräuber in einem roten Passat mit hannoverschem Kennzeichen gesehen hatte. Das war alles, aber es war schon schlimm genug. Die Hannoversche Allgemeine, die sie normalerweise lasen, brachte natürlich auch einen Artikel über den Vorfall, und auch hier fehlte der Hinweis auf einen verdächtigen ro ten Passat nicht. Heribert wurde es zunehmend ungemütlich, und eine kribbelige Unruhe ergriff ihn. Rote Passats gab es zwar viele, aber so viele nun auch wiederum nicht. Auch war nicht auszu schließen, daß der Kreis der Personen, die diese Straße jeden Mor gen regelmäßig fuhren, eingegrenzt werden konnte. Er blickte auf die Uhr – verdammt, es war schon ziemlich spät! Zu spät kommen sollte er heute sicherlich nicht noch einmal. Das würde lästige Er innerungen an den Vortag wecken und möglicherweise sogar be harrliche Nachfragen nach sich ziehen. So ging er ohne abzuräu men aus dem Haus und hoffte, noch vor Elisabeth wieder daheim zu sein, damit nicht schon der nächste Streit programmiert war. Die Morgennachrichten hörte er im Auto. Über den Tod der Geisel hatten schon die Zeitungen berichtet; was Heribert allerdings jetzt vernahm, ließ ihn vor Schreck erbeben: Wie die Polizei mitteilte, starb Fabian Hillgruber nicht an den Folgen des Unfalls, sondern wurde ermordet. In diesem Zusammenhang wird der Fahrer des roten VW-Passat, vermutlich mit hannoverschem Kenn zeichen, dringend gesucht. Er wird gebeten, sich mit der Polizei in Ver bindung zu setzen. Er dürfte der letzte gewesen sein, der Fabian Hillgru 47
ber vor seiner Ermordung noch gesehen hat. Sachdienliche Hinweise … Mord. Unwillkürlich verlangsamte er die Fahrt. Mord, damit hatte er nicht rechnen können. Wirklich nicht. Selbst wenn es noch nicht so gesagt wurde: Die Polizei suchte nach ihm, und er, zuallererst er war verdächtig, Fabian Hillgruber getötet zu haben. Motivlage: son nenklar. Ein lästiger Mitwisser sollte beseitigt werden. Ein Fall für die Zeitung: Studienrat tötet hilfloses Unfallopfer. Der Traum vom großen Geld machte ihn zum Mörder … Die Schlagzeile konnte er sich selbst ausdenken. Und die jetzt anlaufende Fahndung konnte er sich ebenfalls vorstellen. Hatte er überhaupt noch eine Chance? Vielleicht hatte man schon Straßensperren errichtet, vielleicht war teten sie schon in der Schule auf ihn. Du spinnst, sagte er sich. Dreh nicht durch. Du kannst jetzt so wieso nichts mehr unternehmen. Damals, als du den Verletzten hast liegen sehen, damals hättest du handeln können. Zehn Prozent der Beute als Finderlohn. Dreihunderttausend Mark wären auch nicht schlecht gewesen. Er atmete tief, um die wieder aufkommende Panik niederzukämp fen, und zwang sich zur Besonnenheit. Was war zu tun? Spontan fielen ihm nur zwei Dinge ein: Erstens: Das Geld mußte weg, am besten noch heute. Ohne das Geld konnte man ihm nichts bewei sen. Zweitens: Das Jackett. Das hatte er fast ganz vergessen. Es lag noch im Kofferraum. Das mußte auch weg. Auf der Stelle, sofort. Heribert stoppte den Wagen abrupt, eilte nach hinten und stopfte das blutverkrustete Jackett in die Jutetasche, die für einen eventuel len Einkauf dort im Kofferraum bereitlag. Er nahm einen Feldstein vom Wegesrand auf, legte ihn in die Tasche, ein hastiger Blick nach hinten und zur Seite – er war allein in einer fast menschenleer scheinenden Ebene, nicht mal ein Bauer war zu sehen –, und warf die Tüte in den mit Wasser gefüllten Straßengraben. Es würde eine Zeitlang dauern, bis man sie wiederfand. Plötzlich durchfuhr es ihn. 48
Waren noch Zettel dringeblieben? Heribert kniete sich nieder, an gelte die nur noch schwach sichtbare Tasche, durchwühlte die Jacke. Richtig, eine alte Einladung zu einer Fachkonferenz. Das wäre etwas gewesen. Noch nach Monaten hätten sie ihn damit über führen können. Er fluchte über seine Nachlässigkeit, sich die Jacke nicht bereits gestern vom Halse geschafft zu haben. Aber dann hät te er sie wahrscheinlich in die Reinigung gebracht. Dann war es bes ser so, wie es jetzt gekommen war. Er setzte sich wieder ans Steuer und raste los. Wieder würde er zu spät kommen. Als er mit quietschenden Reifen auf dem Schulparkplatz hielt, er tönte gerade der Vorgong. Er hatte es noch einmal rechtzeitig ge schafft. Erst auf dem Weg in die Klasse fiel ihm ein, was ihn auch sonst noch beunruhigt hatte: Wer hatte Fabian Hillgruber über haupt ermordet und warum? Der Autopsiebericht lag wie versprochen pünktlich auf dem Schreib tisch, als Susanne Breugel mäßig ausgeschlafen wieder in ihr Büro kam. Aus irgendeinem Grunde war sie nicht sonderlich gut gelaunt, und als sie das merkte, ärgerte sie sich über sich selbst und zwang sich zur Arbeit. Sie überflog kurz den Bericht, doch das Wichtigste hatte ihr Pfeiffer schon am Abend zuvor mitgeteilt: Fabian Hillgru ber war erwürgt worden, die sonstigen zahlreichen Verletzungen rührten von dem Autounfall her, ihre Schwere ließ vermuten, daß Hillgruber offenbar nicht angeschnallt gewesen war, als das Auto von der Fahrbahn abkam. Susanne klappte den Report zu. Das wei tere gerichtsmedizinische Fachchinesisch interessierte sie nicht. Als sie fertig war, trudelten auch ihre Mitarbeiter ein, so daß sie ent sprechend ihrer Gewohnheit eine kurze Lagebesprechung durchfüh ren konnte. Mit knappen Worten umriß sie den Kenntnisstand und verteilte Aufgaben: Befragung des Besitzers des Saab, Besuch bei der 49
Arbeitsstelle von Hillgruber, nochmalige Zeugenvernehmung der Bankangestellten. »Sollten wir uns nicht auch darum kümmern, ob wir den Fahrer des roten Passat ausfindig machen können?« fragte Harry Krüger noch zum Abschluß der Besprechung. »Du scheinst einen Vorschlag zu haben?« Susanne blickte ihn auf merksam an. »Ich weiß nicht, aber so viele Autos können doch am Morgen um diese Zeit diesen Weg gar nicht nehmen. Entweder es ist ein Fremder, dann sind die Chancen, ihn zu finden, ohnehin sehr ge ring – es sei denn, ein paar Kinder haben Autonummern aufge schrieben, ein altes Bäuerlein hat sich was gemerkt«, bei dem Aus druck ›Bäuerlein‹ fing Hans Wolters, ein junger Beamter, der ihnen erst kürzlich zugeteilt worden war, aufgekratzt an zu kichern. Harry räusperte sich und blickte Hans Wolters mißbilligend an. »Also, wenn wir mal davon ausgehen, daß es kein Fremder war, dann fährt der Fahrer diese Strecke jeden oder fast jeden Tag. Wir sollten uns einfach mal alle Autos notieren – alle roten Passats je denfalls – die zu dieser Zeit in der nächsten Woche diese Strecke benutzen. Einer der Fahrer könnte der Gesuchte sein.« »Möglich«, meinte Susanne. »Vielleicht nimmt er jetzt auch die Bundesstraße, aber probieren könnten wir's. Wer möchte in der nächsten Woche mal ein paar Autonummern aufschreiben?« Alle senkten den Blick oder schauten aus dem Fenster. Wie die römischen Freiwilligen bei Asterix, wenn es gegen die Gallier gehen soll, dachte Susanne und entschied dann einfach: »Hans Wolters und Gert Westings, ihr beide notiert euch die Nummern morgen und übermorgen, in der nächsten Woche sind andere dran.« »Morgen ist Samstag«, wandte Hans Wolters ein. »Da fährt doch sowieso keiner. Außerdem wollte ich heute abend ins Wochenende fahren.« »Du hast bloß keine Lust, samstags zu arbeiten«, meinte Susanne 50
spöttisch, »zier dich nicht so. Deine Freundin kann sich schon allein zurechtfinden. Es geht hier um einen Mord. Noch weitere Fragen?« Keiner hatte welche, und alle strebten mit ihren Aufträgen fort. Als Susanne und Harry Krüger sich wenig später auf den Weg zu Volvo Stuwe machten, meinte Harry nur zu ihr: »Schlecht geschlafen?« »Wieso?« »Na ja, den Wolters hast du ja eben ganz schön hochgenom men.« »Der soll sich man nicht so anstellen, der geht mir sowieso schon seit einiger Zeit auf den Geist«, meinte Susanne schnippisch. Harry zog es vor zu schweigen, obwohl er den Spott seiner Che fin gelegentlich etwas unpassend fand und Wolters insgeheim recht gab. Er konzentrierte sich jetzt auf den Straßenverkehr. Obwohl der Berufsverkehr noch die Straßen füllte, kamen sie zügig voran, nicht zuletzt deswegen, weil Krüger die geltenden Geschwindigkeitsbe grenzungen wie die anderen Autofahrer auch eher als unverbind liche Empfehlungen betrachtete. »Du hast vorhin gar nicht die Frage aufgeworfen, warum Fabian Hillgruber wohl ermordet wurde«, meinte er schließlich und wech selte gekonnt vor einem LKW die Fahrspur. »Ich glaube, das bringt zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel. Da bei geht mir die Frage natürlich auch im Kopf herum. Es kommen doch nur zwei Personen in Frage. Entweder der Bankräuber, der eine Identifizierung fürchtet, falls er denn noch im Wagen saß, oder aber der Fahrer des Passats, der möglicherweise das Geld an sich ge nommen hat, ebenfalls aus dem gleichen Grund. Aber bevor wir nicht einen von den beiden haben, können wir nichts sagen.« »Ich weiß nicht«, meinte Harry, und plötzlich fiel ihm auf, daß er häufig seine Vermutungen mit dieser Floskel einleitete, »es ist doch eher unwahrscheinlich, daß ein normaler Autofahrer einen Verletz 51
ten, den er gar nicht kennt, umbringt, um ihn zu berauben. Das Geld mitnehmen – okay. Aber Mord? Also, das glaube ich nicht.« Ihr Gespräch wurde durch einen Funkspruch unterbrochen. Mer ziger meldete sich, er hatte den Halter des Saab jetzt sprechen kön nen. Eigentlich war es ungewöhnlich, daß eine solche Meldung über Funk weitergegeben wurde. Aber vielleicht handelte es sich um et was ungewöhnlich Wichtiges. »Was gibt's denn?« fragte Susanne. Merzigers Antwort war knapp und klar. »Der Halter ist, wie wir schon ermittelt haben, ein Walter Schönwiese aus Ahlem. Der ist Oberpostsekretär. Der Wagen wird aber nicht von ihm gefahren, sondern er hat ihn nur für seinen Schwiegersohn zugelassen. Die Versicherung ist bei Beamten nämlich billiger, und da wollten die ein bißchen sparen. Den Namen des Schwiegersohns haben wir auch ermittelt.« »Ja, und?« »Es ist Fabian Hillgruber, Helmstraße einundzwanzig, Hannover. – Fabian Hillgruber ist in seinem eigenen Wagen verunglückt. Das ist eigentlich alles, was wir herausgefunden haben.« Dann setzte er in anderem Tonfall hinzu: »Verdaut das erst einmal schön.« Und legte auf. Harry und Susanne wechselten einen überraschten Blick. Für ei nen Augenblick waren sie sprachlos. Harry faßte sich als erster. »Eigentlich logisch«, murmelte er nach denklich, »deswegen kam uns die Sache schon gestern so merkwür dig vor. Der Privatwagen der Geisel wird der Fluchtwagen des Tä ters. Das ist doch nur dann möglich …« »… wenn beide gemeinsame Sache gemacht haben«, ergänzte Su sanne. »So scheint es jedenfalls zu sein.« »Du meinst auch, Fabian Hillgruber war vielleicht gar keine Gei sel? Alles von Anfang an so geplant? Bankräuber, Komplize und 52
Geisel in einer Person? Und dann bei einem zufälligen Unfall ver unglückt?« »So könnte es gewesen sein. Und so komisch kam uns der Fall ja schon vorhin vor. Vor allen Dingen: Die meisten Geiselnehmer nehmen Geiseln, weil sie nicht wegkommen, es ist eine Verzweif lungstat. Dieser hatte Chloroform, offensichtlich einen genauen Plan, es scheint fast, als ob er eine Geiselnahme förmlich provoziert hat. Er hatte jedenfalls gut vorgesorgt. Auch die Kontoeröffnung von Hillgruber völlig klar: Der brauchte einen Grund, um in der Bank zu sein. Und die Sache mit dem Saab hat dann natürlich ei nen Sinn: Nach dem Fluchtwagen wird gefahndet, Hillgrubers Saab ist jedoch völlig unbekannt. Ein Auto, das nicht gestohlen ist, nicht auf der Fahndungsliste steht, das keine gefälschten Nummernschil der hat. Und damit ist das Risiko einer Entdeckung gering. Alles gut durchdacht. Bis auf einen dummen Unfall. Jedenfalls haben wir ei nen Grund mehr, uns bei Fabian Hillgrubers Arbeitsstelle und bei seinen Bekannten mal genauer umzusehen.« Wie immer, wenn sie fühlte, daß sie einen Schritt weitergekom men war und die Spur heiß zu werden begann, wirkte sie äußerst konzentriert. »Der Komplize müßte dann jedenfalls im Bekannten kreis von Hillgruber zu finden sein«, stellt sie fest. Harry Krüger lenkte den Wagen über die Ausfallstraßen und er reichte schließlich die Abbiegung nach Altwarmbüchen, einem Ge werbegebiet, in dem Volvo Stuwe sich niedergelassen hatte. Nach einer kurzen Irrfahrt durch die verschiedenen Straßen standen sie vor einem modernen, großen Automobilsalon. Sie traten in die Empfangshalle. Stuwe-Automobile – Ihr Partner für Volvo und Saab stand in großen Buchstaben auf einem Spruch band, und die ausgelegten Hochglanzprospekte unterstrichen, daß die beiden schwedischen Automarken offensichtlich zum Glück und Wohlbefinden der Menschen in diesem Lande unentbehrlich waren. Sie wandten sich an den Schalter und wurden von einem ak 53
kurat gekleideten Verkäufer in Empfang genommen. Susanne Breu gel zeigte ihre Dienstmarke vor. »Kriminalpolizei. Könnten wir bitte Herrn Stuwe sprechen?« Sie durchquerten die spiegelnde Halle, atmeten den Geruch der neuen, teuren Wagen und wurden in ein mit viel Glas und Chrom kühl eingerichtetes Büro geführt. Herr Stuwe, ein schlanker, großer, sonnengebräunter Mann von Anfang Fünfzig stand hinter seinem Schreibtisch auf, begrüßte sie freundlich und orderte Kaffee für die Gäste. »Sie kommen bestimmt wegen Herrn Hillgruber. Furchtbare Sa che. Entsetzlich. Wir waren ganz geschockt, als wir das erfuhren.« Susanne Breugel nickte mitfühlend. »Das kann ich verstehen, Herr Stuwe. Wir hätten in diesem Zusammenhang mehrere Fragen. Was für ein Mensch war eigentlich Herr Hillgruber? Und wie lange war er bei Ihnen beschäftigt?« Herr Stuwe überlegte kurz. »Fünf, sechs Jahre bestimmt. Er hat hier die Lehre gemacht, wir haben ihn übernommen, ein sehr tüch tiger Mann, allseits beliebt. Sehr zuverlässig, auch als Arbeitgeber bin ich sehr getroffen. Es wird schwer sein, für ihn Ersatz zu fin den. Aber den genauen Eintritt in die Firma – da müßte ich nach schauen.« Er erhob sich, aber Susanne sagte schnell: »Das genaue Datum ist für uns nicht so wichtig. Lassen Sie mal. Sie sagten, er hätte viele Freunde gehabt?« »Vor allem wohl Peter Becher, mit dem zusammen hat er eine zu sätzliche Elektronikausbildung gemacht. Mit dem war er viel zu sammen. Vielleicht auch Kurt Hillerer, mit den anderen war er wohl nicht befreundet. Nur geschätzt haben ihn alle. Sehr nett, offen, einfach herzlich. Und tüchtig. Es ist sehr tragisch. Da fällt mir noch ein: Er hat gerne Fußball gespielt, und viele Freunde hatte er auch im Fußballverein.« »Und Peter Becher, was ist das für einer?« 54
»Sehr nett, tüchtig, zuverlässig. Die beiden paßten gut zusam men.« »Können wir ihn sprechen?« »Leider nein, Herr Becher hat seit einigen Tagen Urlaub. Ich glau be, er müßte«, Herr Stuwe blätterte in einer Liste, »er müßte in zwei Wochen wieder da sein. Er ist gerade vor einigen Tagen in Ur laub gefahren. Letzter Freitag war sein letzter Arbeitstag, wenn mich nicht alles täuscht.« »Und wohin er gefahren ist, wissen Sie nicht?« »Ich glaube Türkei oder Ibiza, da wollte er hin, aber Genaueres weiß ich nicht.« »Eine letzte Frage, Herr Stuwe«, Harry Krüger ergriff das Wort. »Fabian Hillgruber fuhr ja nun ein recht ungewöhnliches Auto. Ei nen Saab. Ist das nicht ein bißchen teuer? Ich meine, konnte er sich einen solchen Wagen leisten?« Herr Stuwe beugte sich vor und runzelte die Stirn. Er schien etwas erklären zu wollen, dann aber lehnte er sich zurück und meinte: »Der Wagen ist nicht so teuer. Es ist ein älteres Modell, und Herr Hillgruber hat ihn vor etwa einem Jahr sehr preisgünstig von einem Kunden gekauft. Wie teuer er war, weiß ich nicht mehr genau, aber auf jeden Fall ging der Unterhalt oder die Anschaffung des Wagens sicherlich nicht über seine Verhältnisse. Warum fragen Sie?« »Einfach nur so.« Herr Stuwe verkniff sich sichtlich eine Bemerkung. »Leisten konnte er sich den Wagen jedenfalls ohne Schwierigkei ten. Auch bei seinem Gehalt. Er verdiente ja hier nicht schlecht. Übrigens würden Sie sich wundern, wer alles Mercedes fährt, alles Leute, von denen Sie es nicht glauben würden. Manchmal auch So zialhilfeempfänger. Nein, vom Auto können Sie nicht auf den Be ruf schließen. Entscheidend ist für die Kunden, daß sie einen schö nen Wagen fahren, der ihnen gefällt. Alles andere findet sich dann 55
schon.« Er nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Offensicht lich war für ihn das Gespräch beendet. »Dürften wir uns noch mit Ihren Mitarbeitern unterhalten?« »Selbstverständlich, aber mich entschuldigen Sie jetzt? Es war mir ein Vergnügen …« Er unterbrach sich und meinte dann ernst: »Und es tut uns allen furchtbar leid, glauben Sie es. Er war ein ganz net ter Kerl. Und die arme Frau.« Sie verabschiedeten sich und befragten noch einige Angestellte, die aber im wesentlichen die Ansichten ihres Chefs bestätigten. Fa bian Hillgruber mußte wirklich ein netter, sympathischer Mensch gewesen sein. Lediglich der Meister meinte etwas beiläufig, daß er sich ein bißchen zu sehr mit dem Becher abgegeben habe. Er schien offensichtlich Peter Becher weniger zu schätzen. Aber ein anderer Kollege meinte nachher: »Also, der Peter ist in Ordnung, bloß der Meister, der hat ihn auf dem Kieker. Der Peter kann ihm nichts recht machen. Die kom men seit Jahren nicht miteinander aus. Aber so ist das halt. Man che mag man, manche weniger.« Ein anderer empfahl ihnen noch, wenn sie denn nun schon Nä heres wissen wollten, sich in der Stammkneipe des Fußballvereins in Hannover-Linden mal umzusehen. Sie heiße ›Zur gemütlichen Ecke‹. Peter Bechers Urlaubsort kannte keiner genau. Türkei wurde häufig genannt, aber ganz sicher waren sich die Kollegen nicht. Auch die von Stuwe genannte Freundschaft Fabian Hillgrubers mit Kurt Hillerer wurde von den Kollegen eher bezweifelt. »Doch, zusammen waren die beiden schon, aber seit ein paar Monaten ist ziemliche Funkstille. Die müssen sich wohl mal ganz gehörig in die Haare geraten sein, denn auf einmal war alles aus. Na ja, geredet haben die beiden natürlich schon noch miteinander, aber das war alles nicht mehr so wie früher. So ein bißchen förm licher, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Kurt Hillerer war übrigens auch im Urlaub, sollte aber übernächs 56
ten Montag wiederkommen. Sein Aufenthaltsort wurde übrigens von allen Kollegen bestätigt: Ibiza. Er hatte von dort sogar eine Karte an die Firma geschickt. Als sie nach etwa einer Stunde wieder der Stadt zustrebten, der Verkehr hatte sichtbar nachgelassen, schaute Susanne auf ihren No tizzettel. »Da scheinen ja viele in Urlaub zu sein. Mich wundert, daß da überhaupt noch welche arbeiten. Aber ein paar Namen ha ben wir wenigstens. Vielleicht sollten wir uns den Becher mal näher anschauen. Keiner weiß, wo er ist, eigentlich ungewöhnlich. Die Adresse haben wir?« Harry nickte. »Klar, ich hatte sie mir vorhin noch im Büro geben lasen. Eine Adresse irgendwo an der Podbi, ich glaube, die Num mer ist hundertvierundsechzig.« Die Podbielskistraße war eine der großen Ausfallstraßen Hanno vers, die sich über eine Strecke von mehreren Kilometern hinzogen, und lag ganz in der Nähe. Harry lenkte den Wagen rasch in eine Seitenstraße, um der droh enden langwierigen Parkplatzsuche zu entgehen. Den Wagen ein fach auf einen Behindertenparkplatz abzustellen, der noch frei war, traute er sich dann doch nicht, denn er sah von weitem eine Poli tesse, die beim morgendlichen Strafmandateverteilen war. Grund sätzlich konnten zwar Strafmandate wieder angefochten werden, meist sogar erfolgreich, wenn man ein dringendes dienstliches Be dürfnis nachweisen konnte – und das gelang im Einzelfall immer –, aber es gab doch eine Reihe ärgerlicher Rückfragen, und Harry hat te in letzter Zeit sehr viele ›dringende dienstliche Bedürfnisse‹ gel tend gemacht, so daß er sogar kürzlich von Obermüller daraufhin angesprochen und ernstlich ermahnt worden war. Das Haus Nummer hundertsechsundsechzig – Harry hatte sich um zwei Nummern vertan – war ein Bau aus den fünfziger Jahren, nicht gerade nobel, die Fensterfarbe blätterte bereits ab, und auf den Türschildern standen eine Reihe von fremdländisch klingenden 57
Namen. Die Haustür wurde gerade von innen geöffnet, und eine junge hübsche Frau mit einem etwa vierjährigen Kind an der Hand kam ihnen entgegen und versuchte einen Kinderwagen durch die Tür zu schieben. Susanne lächelte das kleine Mädchen freundlich an, das die Begrüßung freundlich erwiderte. Dann wandte sie sich der Mutter zu, während Harry die Tür wei ter aufhielt, damit der Kinderwagen hindurchpaßte. »Guten Tag, wir suchen Herrn Becher.« »Ich habe Herrn Becher heute noch nicht gesehen. Haben Sie denn noch nicht geklingelt? Er könnte um diese Zeit allerdings schon bei der Arbeit sein, irgendein Autohaus. Volvo, glaube ich.« »Wann haben Sie ihn denn das letztemal gesehen?« fragte Susanne. Die Frau ließ den Kinderwagen los und schaute sie nachdenk lich an. »Warum fragen Sie? Sind Sie von der Polizei?« Susanne nickte und zeigte ihre Dienstmarke. »Hat Herr Becher etwas angestellt, suchen Sie ihn?« »Wir wollen lediglich eine Auskunft von ihm, nichts weiter. Reine Routine.« Das Baby im Wagen begann sich zu rühren, und die Mutter kramte nach einem Schnuller, steckte ihn ihm in den Mund und begann den Kinderwagen, nachdem sie ihn glücklich durch die Tür herausgeschoben hatte, beruhigend hin und her zu schieben. »Montag abend habe ich ihn noch gesehen, richtig, Montag abend. Mein Mann und ich wollten gerade ins Kino gehen, da kam er uns entgegen. Ob er jetzt da ist, weiß ich aber nicht. Es ist zwar kein so großes Haus, aber man sieht sich hier doch nicht so viel.« »Könnten Sie uns etwas über Herrn Becher erzählen? Welchen Eindruck macht er auf Sie, Frau …?« »Meiering, Frau Meiering. Was für einen Eindruck? Ganz normal, ganz nett, aber so viel haben wir ja nicht miteinander zu tun. Als die Kleine noch nicht laufen konnte, da hat er manchmal für mich 58
eingekauft, ich glaube, mein Mann ist mit ihm auch ein paarmal ein Bier trinken gegangen. Wir hatten hier vor einiger Zeit ziem lichen Ärger mit dem Hauswirt, und da gab es dann einige Mieter versammlungen, und dabei lernten wir alle im Haus uns etwas bes ser kennen. Herr Becher ist jedenfalls recht nett«, schloß sie dann unvermittelt und warf den Kopf ein wenig nach hinten. »Und gesehen haben Sie ihn Montag abend zum letztenmal?« »Ja, aber wo er jetzt ist, weiß ich nicht. Vielleicht ist er ja auch in den Urlaub gefahren.« Das kleine Mädchen an ihrer Hand quengelte, und sie sprach be ruhigend auf es ein: »Wir gehen gleich, gleich gehen wir.« Sie blick te fragend auf. »Haben Sie noch weitere Fragen?« »Nein, Frau Meiering. Vielen Dank, falls wir noch etwas wissen möchten, sprechen wir noch einmal vor.« »Bei Befragungen warst du auch schon mal besser«, knurrte Harry mißbilligend, als Frau Meiering gegangen war. »Du kannst ja das nächstemal fragen«, gab Susanne etwas gereizt zurück. Sie gingen in den dritten Stock und stellten sich vor die Tür. Har ry drückte den Klingelknopf. Der unmelodische Klang einer alten Klingel ertönte. Sie warteten. Draußen hörten sie die Autos vor überfahren, eine Straßenbahn schrammte vorbei, aber in der Woh nung blieb es ruhig. Harry drückte erneut den Klingelknopf. In der Wohnung schien eine Diele zu knarren. Einbildung? Harry probierte es nun mit Sturmklingeln und klopfte dann ein paarmal heftig gegen die Tür. »Mensch, Peter, mach auf!« rief er halblaut in dringlichem Ton fall. Aber in der Wohnung blieb es ruhig, und die Tür blieb geschlos sen. Schließlich gingen sie nach unten. Als sie das Haus verließen, schaute Susanne noch einmal nach oben. Dort, wo sie die Woh 59
nung von Peter Becher vermutete, schien sich eine Gardine zu be wegen, aber vielleicht war das auch nur eine Täuschung. Eine Hand habe, in die Wohnung einzudringen hatten sie jedenfalls nicht. »Also jedenfalls ist er nicht gleich in Urlaub gefahren«, meinte Harry, als er den Wagen aufschloß. »Allerdings gibt es auch kein Gesetz, das es einem vorschreibt.« Susanne setzte sich. Sie kannten das alles. Wenig spektakuläre Ermittlungen, viel Kleinarbeit, ein Steinchen nach dem anderen. Mal sehen, was die anderen heute mittag zu berichten hatten.
6. KAPITEL
A
ls Heribert seinen Passat besteigen wollte – die mäßig vorberei teten Stunden waren schließlich auch vorübergegangen –, be merkte er, daß ein Zettel an seiner Windschutzscheibe klebte. Er schaute überrascht hin, es war ein einfacher Briefumschlag. Ein Strafmandat? Nein. Ein Scherz von Schülern? Eine Mitteilung von Claudia? Heribert nahm den Umschlag unter dem Wischerblatt hervor und riß ihn auf. Es war kein Liebesbrief von Claudia, auch kein Strafzettel oder ein Schülerscherz. Er enthielt ein einfaches Blatt Papier, auf dem in großen Druckbuchstaben nur ein Wort stand: Mörder. Alles Blut wich aus Heriberts Gesicht. Er starrte auf den Zettel in seiner Hand und fast geistesabwesend auf das Wort Mörder. Die Umrisse der Buchstaben verschwammen vor seine Augen 60
und gingen ineinander über. Wer konnte das geschrieben haben? Hatte ihn jemand gesehen? War ihm die Polizei schon auf den Fer sen? Er stützte sich auf die Kühlerhaube seines Wagens und versuchte die aufkommende Panik zu bekämpfen. Er schloß die Augen und flüsterte vor sich hin: »Du schaffst es, das schaffst du alles.« Mecha nisch wiederholte er die Worte, bis er das Gefühl hatte, sich wieder etwas gefaßt zu haben. Als er aufblickte, sah er, wie Bettina Wei chert, eine ältere Kollegin, ihn besorgt anschaute. »Geht es dir nicht gut, Heribert?« »Doch, doch es geht schon wieder.« Und auf den fragenden und zweifelnden Blick von Bettina setzte er hinzu: »Manchmal ist es alles ein bißchen viel.« »Soll ich dich nach Hause fahren?« bot Bettina Weichert noch an. »Nein, laß man, es geht schon. Wirklich.« Heribert zwang sich zu einem Lächeln. Er sah, daß die Kollegin ihn weiterhin nachdenklich anblickte, doch dann setzte sie sich in ihren Golf und fuhr los. Heribert blickte ihr nach. Sah man ihm etwa alles schon an? Er versuchte, den Passat zurückzusetzen. Ein Rumpeln am rech ten Hinterreifen machte ihn darauf aufmerksam, daß wohl irgend etwas nicht stimmte. Er stieg aus. Der eine Hinterreifen war platt. Auch das noch. Er quälte sich mit dem Wagenheber und dem lächerlich kleinen Schraubenschlüssel ab und wechselte den Reifen. Obwohl er bei der ungewohnten Arbeit auf die Sparsamkeit des VW-Werks fluchte – der BMW des Stellvertreters hatte sicherlich viel besseres Werk zeug –, tat ihm die körperliche Anstrengung gut. Zu Hause würde er wohl zu spät ankommen. Abgeräumt hast du ja auch nicht, schoß es ihm durch den Kopf, und fast lächelte er. Was alles einem so durch den Kopf ging! Da er nun sowieso schon zu spät war, war es gleich das beste, 61
noch bei der Shell-Tankstelle vorbeizufahren und sich einen neuen Schlauch in den Reifen einziehen zu lassen. Der Tankwart zog den Reifen ab und prüfte mit den Fingern, ob irgendwo ein Nagel steckte. Auf einmal blickte er auf. »Haben Sie jemanden geärgert, Herr Mehrtens?« Dieser schaute ihn nur fragend an. »Ich kann Ihnen keinen Schlauch einziehen, Ihr Reifen ist mit einem Messer zerstochen worden. Da brauchen Sie einen neuen.« »So eine Schweinerei«, schimpfte Heribert Mehrtens. »Bei einem Kollegen haben sie kürzlich die Radmuttern gelöst. Täter unbe kannt.« »Es ist eine Sauerei«, pflichtete der Tankwart ihm bei, während er einen neuen Reifen montierte, und machte dann noch ein paar wenig druckreife Bemerkungen über die heutigen Jugendlichen. Heribert rief noch schnell zu Hause an, damit Elisabeth Bescheid wußte. Er schilderte den Vorfall in grellen Farben und mit der noch frischen Empörung in der Stimme und fuhr anschließend nach Hause. Ein Schülerstreich? Rache für eine schlechte Zensur? Irgendwie kam ihm die Erklärung zu einfach vor. Der Brief, das Wort ›Mörder‹ – es wären ein bißchen zu viele Zufälle gewesen. Aber natürlich, möglich war es schon. Und Drohbriefe an Lehrer kamen schon vor. Reifen durchstechen war nun schon etwas mehr, aber immerhin denkbar. Jedenfalls gut, daß die Jacke weg war. Oder hatte ihn heute jemand beim Entsorgen der Jacke beobach tet? Heribert biß sich auf die Lippe. Hätte er dieses verdammte Ding doch gleich weggeschmissen! Das schrille Quietschen der Bremsen eines Autos riß ihn aus sei nen Überlegungen und Ängsten und wies ihn darauf hin, daß auch 62
im Straßenverkehr Gefahren lauerten und er eben einem Mercedes astrein die Vorfahrt genommen hatte. Er hob entschuldigend die Hände, doch der Fahrer des anderen Wagens schüttelte nur ärger lich den Kopf und gab Gas. In gedrückter Stimmung fuhr Heribert nach Hause. Normalerweise hätten sie sich beide lange über den durchstoche nen Reifen ärgern können und diesen Vorfall zum Anschluß für ei ne allgemeine Diskussion über ihr Lieblingsthema Schule genom men, doch heute blieb Heribert stumm, und nach einigen Anläufen erlahmte auch Elisabeths Interesse an einem Gespräch. Sie zog sich bald in ihr Arbeitszimmer zurück, um ihre Unterrichtsvorbereitun gen zu erledigen. Heribert räumte ab, dann setzte er sich auch an seinen Schreibtisch. Halbherzig las er in dem Lesebuch und ver suchte Fragen zur Geschichte für den Unterricht zu formulieren. Aber er merkte, daß er sich nicht konzentrieren konnte und seine Gedanken abschweiften. Wie durch ein Mühlrad kreisten seine Gedanken. Hatte ihn je mand gesehen? Wenn ja, was wollte er? Konnte man ihn überfüh ren? Womöglich eines Mordes, den er gar nicht begangen hatte? Und zum Schluß die bange Frage: War das Geld sicher versteckt? Wirklich sicher versteckt? Die Frage konnte er nur verneinen. Eine Hausdurchsuchung – eine Katastrophe. Ein ungebetener Besucher – ein hohes Risiko. Entdeckung durch Elisabeth – doch wohl eher gering. Er hörte, wie Elisabeth an seine Zimmertür klopfte, und wünsch te ihr noch einen guten Tag. Vielleicht könnte es wieder später wer den, sagte sie, aber zur Tagesschau wäre sie mit Sicherheit wieder da. Die Tür fiel ins Schloß, der Golf fuhr aus der Einfahrt. Er war wieder allein. Heribert stand auf und dachte nach. Der einzige Weg, ihn zu überführen, war und blieb das Geld. Alles andere reichte allerhöchs tens zu unterlassener Hilfeleistung. Schlimmstenfalls würde er sich 63
herausreden können. Er hatte rechtzeitig in die Schule kommen wollen, und Hilfe war ja ohnehin schon geholt worden. Irgend et was würde ihm sicherlich einfallen. Alles peinlich, gefährlich, rufschädigend, aber nichts ernsthaft Bedrohliches. Bis auf das Geld. Das konnte ihm das Genick brechen. Also, das Geld mußte weg. Vielleicht sogar ganz gut, daß er ein bißchen unter Zeitdruck gesetzt wurde, denn bei seiner Bequem lichkeit – er kannte sich da schon ganz gut – hätte er es wahr scheinlich doch etwas länger auf dem Dachboden gelagert. Und da lag es nun wirklich ganz ungünstig. Wohin? Geld gehört auf die Bank, fiel ihm ein. Ein Schließfach. Natürlich nicht hier in Groß Hainsdorf oder Neustadt. Hannover, das war schon ganz gut. Recht anonym. In Hannover gab es große Banken. Vielleicht sollte er mehrere Schließfächer mieten, denn ob es so große gab, daß die Koffer darin Platz hatten, wußte er nicht. Am besten er rief mal eine Bank an. Er holte die Gelben Seiten und blätterte in ihnen – zu dumm, daß sie nur die Nummern vom Landkreis enthielten. Aber nach ei nigem Suchen entdeckte er dann doch noch eine etwas ältere Aus gabe für Hannover Stadt. B wie Banken. Er notierte sich die Nummern. Landeszentralbank, Commerzbank, Sparkasse, Deutsche Bank. Eine von ihnen würde sicherlich ein entsprechendes Schließfach haben. Er hatte Glück. Die Deutsche Bank, die er gleich zu Beginn angerufen hatte, hatte noch ein Schließfach frei, allerdings auch nur noch bis sechzehn Uhr geöffnet. Richtig, es war ja Freitag heute, daran hatte er nicht gedacht. Er blickte auf die Uhr. Halb vier. Rush-hour, nein, heute konnte er es nicht schaffen. Morgen? Die Stimme am Telefon klang freundlich. »Unsere Hauptstelle hat morgen bis zwölf Uhr geöffnet. Morgen könnten Sie ein Schließfach bei uns eröffnen, wenn es wirklich 64
dringend ist. Wir sind am Sonnabend meist etwas knapp besetzt, von daher müßten Sie vielleicht etwas warten.« »Ich werde versuchen zu kommen, sonst komme ich am Mon tag.« Heribert legte den Hörer auf und lehnte sich in seinem Sessel zu rück. So, das war wenigstens in die Wege geleitet. War das Geld erst einmal auf der Bank in einem Schließfach, dann würde es sehr schwer sein, es noch aufzuspüren. Wie immer, wenn er etwas getan hatte, fühlte er sich besser. Die Lust, den Unterricht vorzubereiten, war ihm allerdings auch vergangen, und die Doppelstunde Deutsch, die er morgen zu geben hatte, konnte er zur Not auch so überste hen. Was mit dem Tag anfangen? Noch länger in der Bude herum sitzen, das konnte er nicht mehr aushalten. Claudia? Er griff erneut zum Hörer. »Praxis Dr. Berger.« »Hallo, Claudia.« Heribert registrierte, daß er sich eben gar nicht geräuspert hatte. War das nun ein gutes oder schlechtes Omen? »Heribert, schön, daß du anrufst.« Claudias Stimme klang eher ehrlich erfreut, und ihm rieselte ein leichter Schauer über den Rü cken. »Claudia, wir haben uns fast eine Woche nicht gesehen, ich möchte dich wiedersehen. Du mich auch?« Heriberts Stimme hatte einen einnehmenden, zärtlichen Klang. »Heribert, wir haben hier noch etwas zu tun, aber um sechzehn Uhr bin ich fertig. Wollen wir uns treffen?« Heribert lächelte erfreut. »Ja, in Mardorf, am Steg?« »Klar. Bis dann. Ich bin so um Viertel nach vier da. Mach's gut.« Ein leises Knacken, und der Hörer war aufgelegt. Heribert hielt den seinen noch etwas in der Hand und schloß die Augen. Claudia – was für eine Freude, Claudia zur Freundin zu haben. Spontan hätte er eine Fülle ihrer Vorzüge aufzählen können: gutes Aussehen, Le benslust, Sinnlichkeit – Claudia war einfach großartig. Und er freu 65
te sich. Mardorf, das hieß Segeln. Er ging in den Keller und holte seine Segelschuhe. Die Jeans, die er anhatte, behielt er am besten gleich an. Ein Pullover, falls es doch noch etwas kalt wurde, ein Griff ins Weinregal, ein Blanc de blanc als Wegzehrung. Und dann konnte es auch schon losgehen. Das Klingeln des Telefons riß ihn aus seinen Überlegungen. Hatte Claudia es sich anders überlegt? »Mehrtens.« Die Stimme, die er hörte, kannte er nicht. Sie klang tief und un angenehm. »Mörder. Du dreckiger, gemeiner Mörder.« Heribert schluckte. Seine Hand krampfte sich am Hörer fest. Er hielt den Atem an. »Wer sind Sie, was wollen Sie?« »Du dreckiger, gemeiner Mörder.« Die Worte wurden extra in die Länge gezogen und klangen da durch noch gemeiner. Heribert zwang sich zur Ruhe. »Was wollen Sie? Ich habe keine Lust, mich hier am Telefon von einem Unbekannten anpöbeln zu lassen.« Der Unbekannte schnitt ihm das Wort ab: »Spiel dich nicht auf. Bist du gut nach Hause gekommen?« »Haben Sie mir die Reifen durchstochen? Was wollen Sie über haupt?« »Denk mal scharf nach. Denk mal an den Saab. Ein feiner Beam ter bist du. Für Mörder gibt es keine schöne Pension.« Heribert wurde es schwarz vor Augen. Für einen Augenblick mußte er sich an die Wand lehnen. Das Schlimmste war eingetreten. Er war beobachtet worden. Es war alles aus. »Ich verstehe nicht, wovon Sie reden«, sagte er kalt, aber er spür te, daß seine Stimme matt klang. 66
»Du verstehst mich schon ganz gut.« Heribert schluckte. »Was wollen Sie?« »Denk mal scharf nach. Ich ruf wieder an.« Ein Knacken – der an dere hatte aufgelegt. Heribert stand wie erstarrt da. War das das Ende? Er fühlte sich betäubt. Teilnahmslos starrte er auf das Telefon, das rot und stumm vor ihm stand. Nur allmählich wurde ihm deut lich, daß seine Befürchtungen sich bewahrheitet hatten. Auch wenn sich der Anrufer noch nicht zu erkennen gegeben hatte, man hatte ihn wohl beobachtet. Was konnte derjenige gesehen haben? Die Autonummer? Das Geld? Eine unendliche Leere füllte Heribert aus, machte ihn fast apathisch. Und was wollte der Anrufer? Das Geld? Oder war es eine Erpres sung? Warum beschuldigte er ihn eines Mordes, den er nun wirk lich nicht begangen hatte? Klopfen auf den Busch? Ein zufälliger Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß es jetzt schon fünf nach vier war. Ach ja, Claudia. Absagen konnte er jetzt nicht mehr. Und vielleicht war es ja auch ganz gut, einen Tapetenwechsel vor zunehmen. Er griff nach seiner Tasche mit den Segelsachen, steckte mecha nisch noch die Flasche Blanc de blanc ein und ging. Er fuhr ohne nachzudenken. Die Straße war mäßig belebt, etwas mehr Verkehr als sonst, es war ja auch Feierabend, aber den Weg nach Mardorf kannte er im Schlaf und kam auch gut durch. Mar dorf war eine der Ortschaften am Steinhuder Meer. In der Nähe des alten Dorfes lag eine Reihe von Bootsstegen. Dahinter erstreck te sich ein Landschaftsschutzgebiet. Heribert lenkte seinen Wagen auf den Parkplatz, der jetzt ein we nig verlassen dalag. Nur drei oder vier Autos mit der obligato rischen Anhängerkupplung standen dort und natürlich der rote Ford Fiesta von Claudia. Claudia stand neben ihrem Auto und 67
hob leicht die Hand. Heribert parkte direkt neben dem Fiesta und stieg aus. Claudias Augen leuchteten freudig. »Hallo, Heribert.« Er schloß sie in die Arme und küßte sie leidenschaftlich und heftig. Als er ihren Mund auf seinem spürte, das weiche Haar, die samtene Haut berührte und ihr verlockendes Parfüm roch, vergaß er fast seine Sorgen und seine Angst, die ihm immer noch die Kehle zuschnürte, und spürte wieder jenes Verlangen, das ihn immer befiel, wenn er mit Claudia zusammen war. Fast war es ihm, als lege er all seine Ängste in diese Umarmungen und in seinen Kuß – als eine Be schwörung, daß nun alles gutgehen möge. Claudia löste sich von ihm. »Schön, daß wir uns endlich wieder sehen«, murmelte sie. Sie strich ihr Haar nach hinten und fragte auffordernd: »Wollen wir gehen?« Heribert nickte, er nahm seine Segeltasche, Claudia steckte noch ihre Turnschuhe hinein und hakte sich bei ihm unter. Dann gingen beide die etwa hundert Meter bis zum Wasser. »War's anstrengend heute?« fragte er. Claudia schüttelte den Kopf. »Halb so schlimm. Ein bißchen Zahnstein, zwei Extraktionen, das Übliche halt. Es war nicht so viel los. Die meisten Leute sind wohl in Urlaub. Und bei dir?« Heribert zuckte mit den Schultern. »Wie immer, einige Stunden laufen, einige nicht. Nichts Besonderes. Wirklich nicht.« Claudia sah ihn nachdenklich an. »Es gab wirklich keinen Ärger? Du weißt, daß du mir alles erzählen kannst.« Heribert schüttelte den Kopf. »Nein, wirklich nicht, wenn etwas wäre, dann würde ich's sagen. Ehrlich.« Dann lächelte er aufmunternd, legte den Arm um ihre schlanke Taille, hob den Kopf und meinte nur: »Es ist schöner Wind, sollten wir ihn bis zur Abendflaute ausnutzen?« Claudia lachte. »Aber erst noch ein bißchen segeln.« Sie hatten die Steganlage erreicht, und vor ihnen lag die strahlend 68
blaue Wasserfläche des Sees. Normalerweise war das Wasser eher schmutzig-braun, heute aber spiegelte sich ein fast wolkenloser, blauer Himmel darin, und die schon etwas tiefer stehende Sonne tauchte Meer und Ufer in ein warmes Licht. Einige wenige Boote waren draußen und glitten lautlos durch das kaum bewegte Wasser. Ein leichter Wind strich über das Meer und zerzauste Claudias Haare. Heribert drückte sie an sich. »Ein herrliches Wetter, es wird traumhaft heute.« Claudia nickte. »Los, machen wir das Boot fertig.« Sie schlossen die Tür zur Steganlage auf und ließen sie hinter sich wieder ins Schloß fallen. Sie hatten inzwischen Heriberts Boot er reicht. Heriberts Boot war eine Varianta und mit ihren sechseinhalb Metern Länge für das Steinhuder Meer weder besonders klein noch besonders groß. Es war ein Kajütschiff mit festem Kiel, leidlich schnell und durchaus bequem. Einige seiner Segelfreunde – denn eine Reihe von Bekannten fuhr dieses in Deutschland sehr beliebte Schiff – hatten damit auch schon Segeltörns auf der Ostsee unternommen, Heribert hatte so gar schon davon gelesen, daß irgendeiner eine Fahrt bis nach Spitz bergen damit gemacht hatte, aber das fand er dann doch etwas ge wagt. Eisvogel hatte es ein Vorbesitzer getauft, und Heribert hatte den Namen behalten. Einmal weil er ihn ganz schön fand, ander seits weil ihm kein besserer eingefallen war, denn das Taufen von Schiffen war so etwas wie das Namengeben von Kindern: Man konnte sich häufig nicht entscheiden. Wenngleich die Farbe, ein heute nicht mehr besonders modisches Orange, ihn nicht gerade von den Sitzen riß, das Gelcoat, die Außenhaut des Schiffes, auch schon etwas vergilbt war und hier und da schon einen Riß hatte, den Heribert dringend hätte beseitigen müssen, mochte Heribert sein Schiff sehr gerne. Es war schnell, sportlich zu segeln und bot doch den Komfort, daß man mal eine kleine Kaffeefahrt unternehmen konnte. 69
Er war sich etwas unschlüssig, ob es mit Claudia nun eine Kaffee fahrt oder ein sportliches Segeln werden würde, denn beides hatte seine Reize. Während er Claudia betrachtete, lächelte er versonnen über das Wort Reize und fand es ganz zutreffend. Beide betraten in der routinierten Sicherheit von Seglern das etwas schwankende Schiff, öffneten ohne große Absprachen die Backskisten, entnah men die Segel, schlugen sie an. Claudia eilte nach vorne, um die Leinen zu lösen. Sie machten sich noch kurz an einem Pfahl fest, setzten die Segel, und während der Wind in das Segel griff und Eis vogel rasch Fahrt aufnahm, genoß Heribert für einen Augenblick das stille Einverständnis gemeinsamer Arbeit. Er schaute Claudia lächelnd an, und sie lächelte zurück. Mit einemmal jedoch überfiel ihn wieder jenes lähmende Gefühl von Angst und Unsicherheit, kreisten seine Gedanken um jenes Telefonat am Nachmittag. Lenk dich ab, dachte Heribert, genieße den Tag, genieße Claudia. Und er zwang sich förmlich zu einem freundlichen Lachen. »Es ist herrlich«, sagte er gewollt fröhlich, »endlich segeln wir beide wieder zusammen.« Claudia zog an der Fockschot. »Find' ich auch«, meinte sie. Sie glitten durch das Wasser, die Steganlage blieb hinter ihnen. »Wohin fahren wir?« fragte Heribert. »Rund Wilhelmstein?« Der Wilhelmstein war eine kleine Insel auf dem Steinhuder Meer und bestand aus einer vollständig erhaltenen Festung aus dem acht zehnten Jahrhundert. Er war ein beliebtes Ziel für die Ausflugs boote, die Tag für Tag viele Besucher von Steinhude her brachten, sie für einige Stunden dort abluden, damit sie neben einem hohen Eintrittspreis für die Besichtigung auch noch die Bilanz der dorti gen Gastronomiebetriebe verbessern konnten. Große Spaziergänge waren nicht angesagt, denn Wilhelmstein war eher ein Inselchen als eine Insel, lediglich um die Festung konnte man herumgehen. Und natürlich war Wilhelmstein auch ein Ziel vieler Segler, die, damit sie überhaupt ein Ziel auf dem doch eher kleinen See hatten, 70
diese Festung entweder anliefen und dort festmachten oder aber einfach nur um Wilhelmstein herumsegelten. Das war dann ›rund Wilhelmstein‹. Claudia nickte. »Ist gut.« Die Schoten wurden belegt, beide korrigierten noch schnell die Segelstellung, um dem Boot maximale Geschwindigkeit zu verlei hen. Dann war alles fertig. Heribert hielt die Pinne und peilte Wil helmstein an. In etwa einer halben Stunde würden sie da sein. Frü her hatten sie beide viel geplaudert, gelacht, häufig geankert und sich ›miteinander die Zeit vertrieben‹, wie Heribert ihre Schäfer stündchen umschrieb. Aber Lachen stellte sich heute nicht ein. Heribert bemerkte es. Wie gewohnt versuchte er Claudia in den Arm zu nehmen, sie an sich zu drücken, doch Claudia beschäftigte sich auf einmal intensiv mit dem Trimm des Vorsegels und rückte etwas von ihm ab. Mit etwas Mühe überspielte er seine Sorgen und begann munter zu erzählen. Von der Schule, von den Klassenfahr ten, die er als nächstes plante. Aber irgendwie hatte er bald das Ge fühl, daß Claudia ihm gar nicht richtig zuhörte. Sie schien mit ih ren Gedanken ganz weit weg zu sein. Etwa bei Dr. Brüggemann, dem neuen Assistenzarzt in der Praxis? Claudia hatte anfangs viel von ihm berichtet, er mußte ja wohl ein ganz lustiger Kerl sein. Aber seit längerer Zeit war davon nicht mehr die Rede. Und so gab Heribert auch seine Versuche auf und blickt nur scheinbar ent spannt auf die weite Wasserfläche und den Wilhelmstein, der lang sam näherrückte. Das Gespräch erlahmte, und beide konzentrierten sich aufs Segeln. Welcher Teufel ihn geritten hatte, wußte er nachher selbst nicht mehr. »Ist Dr. Brüggemann noch bei euch in der Praxis, Claudia?« fragte er betont beiläufig. Claudia blickte auf und wurde leicht rot. »Ja, ist er«, gab sie spitz zurück. »Und er ist sehr nett. Wenigstens erzählt er nicht ewig über Schule.« 71
»Bingo. Die Kandidatin hat einhundert Punkte. Hast du noch etwas auf der Seele? Dann kannst du es jetzt gleich loswerden.« Claudia blickte ihn wütend an: »Eifersüchtig?« Heribert zuckte mit den Schultern. »Auf einen Zahnarzt?« fragte er abschätzig. »Immerhin hat er einen Doktortitel. Und gut aussehen tut er auch.« Claudia legte den Kopf herausfordernd in den Nacken und kniff die Augen zusammen. »Erlangen Hauptbahnhof sechzehn Uhr. Die medizinischen Dok toranden bitte aussteigen, der Zug für die Doctores geht um sech zehn Uhr zwanzig. Wenn dir ein Dr. med. dent. imponiert…« »Spiel dich nicht so auf, und gib nicht so an. Außerdem ist er jünger.« Heribert schluckte. Jetzt noch einen Streit mit Claudia, das wäre das letzte, was er wollte. Er lenkte ein. »Tut mir leid Claudia, hab's nicht so gemeint. Entschuldigung. Wir sehen uns so selten, da sollten wir uns nicht zanken. Ist doch Quatsch.« Und er rückte etwas näher zu ihr. Claudia sah ihn prüfend an, lächelte und sagte: »Ist okay, Heri bert. Paß mal lieber auf die Richtung auf.« Sie waren schon ein Stück abgekommen. Heribert korrigierte den Kurs. Obwohl Claudia lächelte, blieb sie abweisend. Auf diesen blöden Zahnarztfritzen würde er aufpassen müssen, wenn er Claudia behalten wollte. Aber andererseits … er hatte jetzt Geld, viel Geld. Was wollte da diese blöde Zahnarzthelferin? Nicht mal ein vernünftiges Abi hatte sie geschafft. Trotzdem holte er die Flasche Blanc de blanc aus dem Korb. »Nimm mal die Pinne«, bat er Claudia und öffnete die Flasche, schenkte ein. Der Wein war noch etwas kühl und schmeckte gut. Claudia schwieg. 72
»Wie findest du ihn?« »In Ordnung, ganz in Ordnung.« Na, dann eben nicht, dachte Heribert. Wilhelmstein war nahe, und sie begannen eine Wende vorzube reiten, um an ihm vorbeizukommen. Das oft geübte Manöver klappte, und die Perfektion der gemein samen Arbeit erfüllte ihn für einen Augenblick mit Befriedigung. Doch mit einemmal, so plötzlich, als ob er abgestellt worden wäre, schlief der Wind ein. »Mußt du eigentlich immer so eng am Wilhelmstein vorbeifah ren, daß wir in den Windschatten kommen?« Claudia klang gereizt. »Wir sind nicht im Windschatten. Der Wind ist weg. Schau doch, die anderen Boote liegen auch fest.« Heribert wies auf einige Schif fe, die ebenfalls nur noch mühselig Fahrt machten. Offenbar hatte die Abendflaute eingesetzt. Claudia schaute ihn an. »Also, ich hab' keine Lust, hier in der Flaute rumzuliegen. Wollen wir den Motor anwerfen?« Heribert zuckte mit den Schultern. »Vielleicht kommt der Wind ja wieder.« Wie zur Bestätigung kräuselte ein kleiner Lufthauch die ansonsten spiegelglatte See und trieb Eisvogel etwas vorwärts. Im Schneckentempo glitten sie an Wilhelmstein vorbei. Aber auch wei ter draußen änderte sich das Bild nicht wesentlich. Hin und wieder ein Windhauch, der Hoffnung auf eine Brise machte, dann wieder totale Flaute. »Wir können ja Anker werfen«, schlug er vor. Vielleicht ergab sich beim Blanc de blanc, dem Claudia meist etwas reichlicher zu sprach, noch ein kleines Schäferstündchen. »Ich möchte einfach nach Hause, Heribert. Laß man, vielleicht ein andermal.« Claudia wirkte sachlich und entschieden. Ein Boot nach dem anderen holte seinen Elektromotor heraus und warf ihn an. Claudia schaute genervt auf ihre Fingernägel und dann zu den anderen Booten. 73
Ist ja gut, dachte Heribert und schleppte den Motor aus der Ka jüte, befestigte die Kabel an der Batterie und gab Gas. Die Ge schwindigkeit war zwar nicht atemberaubend, aber langsam kamen sie voran. Hoffentlich macht jetzt die Batterie nicht schlapp, dachte er noch, er war sich nicht ganz sicher, ob sie noch leidlich voll war, und reduzierte das Tempo. Schweigend näherten sie sich den Boots stegen. Die Leinen wurden ausgebracht, das Boot wurde vertäut. »Möchtest du noch ein Glas?« fragte Heribert. »Nein, laß man, das nächstemal. War schön.« »Vielleicht nächsten Mittwoch?« fragte er noch. »Kann sein, ruf mal an.« Claudia sprang an Land und wartete auf ihn, bis er alle Schlösser abgeschlossen hatte. Dann gingen beide zu ihren Autos. »Mach's gut.« »Du auch.« Das war's also, dachte Heribert. »Kann sein«, hatte sie gesagt. Hieß das so gut wie nein? Er schaute dem wegfahrenden Fiesta nach und fuhr dann selbst nach Hause. Dort fiel ihm die Stille auf. Es gab keinen Straßen lärm, kein Uhrenticken, nur manchmal knackte es, sonst schwieg das Haus. Elisabeth war noch nicht da. Und obwohl er sich mit ihr in der letzten Zeit viel gestritten hatte, brauchte er jetzt einen Men schen um sich. Einfach reden, egal über was. Diese Stille, es war nicht zum Aushalten. Immer wieder dachte er an den Anrufer. Was wollte dieser Mann. Das Geld? Erpressung? Rache für irgendeine Verletzung? Er ging ruhelos durch das Haus und warf schnell einen Blick in alle Räume. Einbruchsspuren waren nicht zu sehen. Auch der Haken, mit der er die Bodentreppe immer herunterholte, war noch dort, wo er ihn versteckt hatte. Der Anrufer schien wenigstens nicht eingebrochen zu haben. Noch schien seine Beute sicher. Den noch – Heribert holte die Treppe herunter, stieg auf den Dachbo den und atmete erleichtert auf: Da stand er nun, sein Reichtum, der 74
Start für ein neues Leben. Die sinnliche Gewißheit des Geldes, das dort millionenfach vor ihm lag, beruhigte ihn. Auf einmal hatte er keine Zweifel mehr. Er würde es schaffen. Da war er ganz sicher. Morgen würde das Geld auf der Bank sein. Und dann konnte ihm nicht mehr viel passieren. Das Telefon ging, er zögerte, überlegte, ob er abnehmen sollte. Schließlich hörte er, wie der Anrufbeantworter ansprang, eine Zeit lang lief und sich schließlich abschaltete. Er blickte auf den Appa rat. Der Anruf war eingegangen und aufgezeichnet. Sollte er ihn ab hören? Er war unschlüssig. Ach was, irgendwann mußte er ihn doch abhören, und bevor Eli sabeth davon erfuhr … Heribert drückte auf die Abspieltaste. »Hallo Heribert«, ließ sich die Stimme von Elisabeth vernehmen. »Wir haben gerade unsere Konferenz beendet und wollen noch mit Schmidts beim Chinesen essen gehen. Anschließend fahre ich noch mit zu ihnen nach Hause. Wenn du Lust hast, kommst du einfach. Wir würden uns freuen. Tschüs.« Diese Spontaneinladungen waren wieder mal typisch für Elisa beth. Nett, daß sie angerufen hatte, aber wenn es heute irgend je manden gab, den er nicht treffen wollte, dann waren es Gabi und Hans Schmidt. Es würde bestimmt wieder ein sehr gesprächsintensiver Abend werden. Probleme der Europäischen Gemeinschaft, Osteuropa und Deutschland. Und Hans konnte manchmal so langatmig dozieren. Und seitdem er Studiendirektor geworden war, schien alles noch schlimmer. Nein, zu Gabi und Hans würde er bestimmt nicht ge hen. Aber allein bleiben? Die Stille wachsen hören? Auf das Telefon starren? Aber es war Freitag abend! Da brauchte man doch nicht zu Hause bleiben. Kino? Kneipe? Irgend etwas würde ihm schon ein fallen. Kurz entschlossen ging er ins Schlafzimmer, zog sich ein 75
neues Polohemd und eine neue Sommerhose an, verließ das Haus und war wenig später auf der Straße nach Hannover.
7. KAPITEL
D
ie Gespräche wurden zunehmend lauter, und das Bier floß reichlicher. Der Wirt stand hinter der altmodischen Theke, zapfte und beteiligte sich dann und wann an der Unterhaltung. Die ›Gemütliche Ecke‹ füllte sich langsam. Vor einer halben Stunde war eine Gruppe von Männern, sichtlich Angehörige eines Vereins, vom Training gekommen und stillte ihren ersten Durst mit einigen Sturztrünken. Sie standen im großen Halbkreis um den Tresen her um, aber trotz ihrer Lautstärke kam keine wirkliche Stimmung auf. Auch die zwei oder drei Freundinnen der Männer, die nach einer Viertelstunde in dem Lokal auftauchten und mit Hallo und etli chen Küssen von verschiedenen Vereinskameraden begrüßt wurden, blieben leiser als bei solchen Treffen sonst üblich. Harry und Susanne, die seit einer Stunde am Tresen Platz genom men hatten, bemühten sich, der Unterhaltung zu folgen. Neben dem Beginn der Fußballsaison für den Verein ging es um den Tod ihres Vereinskameraden Fabian Hillgruber. Er schien allgemein be liebt gewesen zu sein; jeder wußte etwas Positives über ihn zu be richten. Ein guter Mittelfeldspieler, Stammspieler der Mannschaft seit etlichen Jahren. Vor allem ein blonder, hochgewachsener Fußballspieler, offen sichtlich der Mannschaftskapitän, scharte die Zuhörer um sich. »Es ist einfach furchtbar. Da geht man in die Bank und wird von so 76
einem ganz einfach umgebracht. Als Geisel genommen und umge bracht. Furchtbar. Von so einem Schwein. Und die Polizei …« Die anderen nickten beifällig. »Durchgreifen müßte man. Und über haupt …« Der Kreis um ihn herum stimmte zu und bestellte noch eine Runde Bier. Nur einer meinte noch etwas anzüglich, der Ver ein habe wohl ein großes Schlitzohr verloren. Einige grinsten, dann wandte sich das Gespräch anderen Themen zu. Die Tür der Kneipe ging auf, und ein etwa fünfundzwanzigjäh riger Mann trat ein. Die Anwesenden blickten erwartungsvoll auf. Er schaute sehr nachdenklich drein und stellte sich zu den übri gen. Die Runde schwieg. »Ich war eben bei Bettina«, sagte er nur. »Wie geht es ihr, Klaus?« fragte der Blonde, und auf einmal klang seine Stimme wieder mitfühlend. Klaus zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, sie kann das alles noch gar nicht fassen. Ihre Mutter ist bei ihr. Für sie ist es ja be sonders schlimm.« Er schüttelte den Kopf, als der Wirt ihm ein Glas Bier anbot. »Nein, danke.« Eine kleine blonde, etwas dralle Frau ergriff das Wort. »Hat man schon herausgefunden, wie er gestorben ist? Erschossen?« fragte sie. Sie schien begierig auf Neuigkeiten zu sein. »Erschossen wohl nicht. Bettina meinte, ein Unfall. Genaues weiß sie selbst noch nicht. Es waren wohl zwei Polizisten bei ihr.« »Wußten die nichts Genaues?« fragte der Mannschaftskapitän und hob herausfordernd den Kopf. »Ich weiß es nicht, aber sie war natürlich völlig fertig und konnte wohl gar nicht richtig zuhören. Die brachten die Todesnachricht und wollten dann alles mögliche wissen. Ist alles so sinnlos. Und wie Bettina jetzt mit dem Geld klarkommen soll, weiß ich nicht.« »Hatten die denn viele Schulden?« »So genau weiß ich das auch nicht. Aber geht wohl so. Ratenzah lungen, so das Übliche, und schlecht verdient hat Fabian ja nicht.« Alle nickten nachdenklich, und die ersten begannen zu zahlen. 77
Der Mannschaftskapitän schaute noch einmal ernst in sein Bierglas und meinte: »Kümmere dich ein bißchen um Bettina, Klaus. Ich komme auch mal vorbei.« Stand auf und wandte sich zum Gehen. Harry Krüger wollte sich gerade auf gut Glück an einen der Gehenden wenden, doch Susanne faßte ihn nur kurz am Arm und bedeutete ihm zu schweigen. Alle gingen, nur Klaus, der zuletzt gekommen war, blieb noch am Tresen. Der Wirt schob ihm ein Glas herüber. »Trink man. Muß furcht bar für dich sein. War ja schließlich dein bester Freund.« Nachdem die Gruppe gegangen war, breitete sich Schweigen in der Kneipe aus. Und obwohl das Lokal jetzt fast leer war, wurde es heiß. Der altmodische Ventilator drehte sich leicht sirrend oben an der Decke, doch er brachte wenig Kühlung. Der Wirt ging zur Tür, drückte sie auf und blockierte sie mit einem Holzstück. Harry Krüger rückte einen Sitz weiter. »Fabian Hillgruber war ein guter Freund von Ihnen?« Der Angesprochene schaute verdutzt auf, auch der Wirt drehte sich interessiert um. »Sind Sie von der Polizei?« »Ja. Warum fragen Sie?« »Nur so. Lassen Sie man, ich glaube Ihnen schon«, setzte er noch schnell hinzu, als Krüger seinen Ausweis zücken wollte. »Können wir uns rübersetzen?« Harry deutete auf einen abseits gelegenen Tisch. Beide gingen, und Susanne folgte ihnen. »Sie sind Klaus Helmke?« »Ja. Sie scheinen ja schon Erkundigungen eingezogen zu haben.« »Wir ermitteln einfach nur. Zunächst, Herr Helmke, eine ganz simple Frage: Wo waren Sie gestern und vorgestern?« Klaus Helmke wirkte plötzlich verkrampft. »Warum wollen Sie das wissen?« 78
»Beantworten Sie bitte meine Frage.« »Falls es Sie interessiert. Ich hatte in der letzten Woche einen Lehrgang in Bad Zwischenahn. Tagungsort Hotel zur Krone. Ich bin erst vor etwa vier Stunden wiedergekommen. Es gibt jede Men ge Zeugen, die meine Teilnahme beeiden können. Reicht das als Alibi?« »Wie kommen Sie auf Alibi?« »Ich lese Krimis und schaue gelegentlich fern. Reicht das? Also: Was wollen Sie von mir?« Susanne hob leicht begütigend die Hände. »Nun man ruhig. Wir ermitteln in einer Geiselnahme und in einem Bankraub. Ihr Freund ist getötet worden. Also, Sie sollten uns wirklich helfen.« Helmke schien einen Augenblick zu zögern, dann schaute er die beiden Polizisten prüfend an und fragte vorsichtig: »Fabian war keine zufällige Geisel? Hatte er mit dem Überfall zu tun?« Harry und Susanne wechselten einen überraschten Blick. »Wie kommen Sie darauf?« fragte Susanne vorsichtig. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Erkundigungen über eine tote Geisel angestellt werden, wenn sie einfach nur zufällig gegriffen wor den ist. Und Sie stellen doch Nachforschungen an. Sie wollen von mir ein Alibi, ganz so, als ob ich mit Fabian einen Überfall geplant hätte. Also, halten Sie mich nicht für dumm.« »Wie lange kannten Sie Fabian?« »Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Also ziemlich lange, vierzehn Jahre, würde ich sagen.« »Können Sie uns kurz Fabians Wesen schildern?« »Nett, prima Kumpel, man konnte sich drauf verlassen, mein Gott, das haben Sie doch alles schon tausendmal gehört. Sie haben doch hier die ganze Zeit gesessen. Und keiner hat hier was anderes erzählt. Und von mir hören Sie auch nichts anderes. Kann ich jetzt gehen? Ich möchte nämlich nach Hause!« Er stand auf und griff nach seinem Deckel. 79
»Eine letzte Frage, Herr Helmke. Sie wissen, daß Fabian Hillgru ber erwürgt worden ist?« Für einen Augenblick stand Helmke starr da. Dann beugte er sich nach vorne, stützte die Arme auf den Tisch und starrte beide an. »Erwürgt?« fragte er ungläubig. »Es wird morgen in den Zeitungen stehen. Ja, Ihr Freund ist er mordet worden. Und wenn Sie auch nur einen leisen Verdacht ha ben, wer der Täter sein könnte oder wer irgendwie mit der Sache zu tun haben könnte, dann müssen Sie uns helfen.« Helmke setzte sich wieder und zögerte. »Wie kommen Sie eigentlich darauf, daß Fabian in die Sache ver wickelt war?« »Der Unfallwagen war sein Auto und kein gestohlener Fluchtwa gen.« Helmke runzelte die Stirn. »Kann das nicht auch ein Zufall sein? Kann sich dafür nicht auch eine andere Erklärung finden lassen?« »Möglich, aber das kann man jetzt noch nicht sagen.« Das Erstaunen war aus Helmkes Gesicht gewichen. »Also, ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen. Ganz ehrlich nicht. Und was die Schulden angeht, die ich vorhin Günter Bor chers gegenüber erwähnte, die sind für Bettina jetzt zwar schlimm, aber für beide zusammen war das bisher kein Problem. Also: finan zielle Schwierigkeiten hatte Fabian nicht mehr als wir alle. Weiter weiß ich wirklich nichts.« »Vorhin wurde gesagt, Fabian sei ein ausgesprochenes Schlitzohr gewesen.« »Na ja, er wußte schon seinen Vorteil zu wahren. Und wenn man mal ein Auto billig reparieren wollte, dann konnte man sich an Fa bian wenden. Auch in anderen Sachen. Das war aber eigentlich alles.« »Peter Becher kennen Sie nicht zufällig?« Helmke preßte die Handflächen aneinander und biß sich auf die 80
Unterlippe. »Natürlich kenne ich Peter, aber ich bin nicht mit ihm befreundet. Es war Fabians Freund. Wir kannten uns, aber mehr auch nicht. Er hatte ihn, glaube ich, auf seinem Arbeitsplatz ken nengelernt. Volvo Stuwe in Altwarmbüchen. Da müßten Sie sich mal erkundigen. Kann ich jetzt gehen?« Susanne nickte. »Können Sie. Aber wenn Ihnen noch etwas ein fällt – hier ist meine Karte. Und bedenken Sie – es geht um Mord. Mord an Ihrem Freund. Und wenn Sie ihn noch im Tode decken, weil Sie sein gutes Andenken möglicherweise nicht zerstören wol len, haben wir dafür Verständnis. Aber helfen können Sie damit kei nem.« Klaus Helmke schien froh, das Gespräch hinter sich zu haben. »Falls mir etwas einfällt, ich werde mich melden.« Er stand auf, ging langsam durch den Raum, zahlte an der Theke seine Zeche und ver schwand durch die offene Tür. Die beiden schauten ihm nach. »Der weiß mehr, als er sagt«, bemerkte Harry. »Möglich. Aber er muß sich erst darüber klarwerden, was er sagen kann. Heute hätten wir nichts aus ihm herausgekriegt.« Harry griff nach seinem Bier. »Wir sollten für heute Schluß ma chen. Endlich Wochenende.« »Sollten wir nicht doch noch den Fall durchsprechen?« fragte Su sanne. »Immerhin – wir hatten heute eine Reihe wichtiger Hinwei se.« Harry winkte ab. »Ich muß nach Hause. Irene reißt mir sonst den Kopf ab. Also, nächstes Mal gerne. Und Montag sehen wir uns ja sowieso wieder.« Susanne stand auf, trank ihr Bier im Stehen aus, zahlte und trat in den immer noch heißen Abend. »Soll ich dich noch kurz irgendwo mit hinnehmen?« fragte Harry etwas hastig. Es klang ein bißchen nach: bitte nicht. Susanne schüttelte den Kopf. »Nein, ich gehe noch ein bißchen herum. Schönen Abend noch. Und grüß Irene von mir.« 81
Harry hob noch die Hand zum Abschied, drehte sich um und schritt zu seinem Wagen. Susanne blickte ihm nach. Ein gutaussehender, drahtiger Mann mit federnden Schritten, die Lederjacke lässig über die eine Schulter geworfen. Und auf einmal fühlte sie sich ziemlich einsam. Es war nicht mehr früh, aber die Luft war noch warm. Eine Grup pe von Studenten kam Susanne entgegen und steuerte die ›Gemüt liche Ecke‹ an. Vier junge Männer und fünf junge Frauen. Sie schie nen vergnügt, lachten in einem fort. Etwas ziellos lenkte Susanne ihre Schritte in Richtung Stadt. Sollte sie die U-Bahn nach Hause nehmen? Drei Zimmer Roderbruch? In solchen Stunden fiel ihr auf, daß ihr Beruf nicht alles war. Manchmal redete sie sich ein, wie wichtig ihre Karriere war, wie be deutend es war, erfolgreich ihre Frau zu stehen in einer Welt, in der Männer immer noch den Ton angaben. Ich habe meinen Beruf und komme gut durchs Leben, dachte sie in solchen Augenblicken. Und auf Kerle wie Pfeiffer legte sie keinen Wert. Die konnte sie sich inzwischen mit ihrer manchmal recht spitzen Art gut vom Lei be halten. Andererseits aber fiel ihr an solchen Abenden wie die sem, wenn das Wochenende nahte oder schon da war, auf, daß nicht alle wie Pfeiffer waren. Harry zum Beispiel sah gut aus, war nett, und in den vielen Stunden, die sie dienstlich zusammen wa ren, hatten sie beide ihre Sympathie füreinander entdeckt. Verstan den sich gut. Konnten miteinander reden, auch über Privates. Aber leider war Harry schon vergeben. Irene war ein unscheinbares Mäuschen. Ein- oder zweimal waren sie zusammen essen gegangen, aber dann war auch dieser private Kontakt eingeschlafen. Sollte Irene eifersüchtig sein? Susanne lächelte vor sich hin. Vielleicht hat te Irene Grund dazu. Susanne sah auf ihr Spiegelbild in einem Schaufenster und blieb einen Augenblick stehen. Gut sah sie aus. Gut angezogen, dezent geschminkt, sportlich. Vielleicht ein wenig blaß, aber wofür gab es Kosmetika? An ihrem Aussehen konnte es 82
nicht liegen, und nett war sie doch eigentlich auch, oder etwa nicht? Plötzlich ergriff sie eine merkwürdige Unzufriedenheit. Schon En de Zwanzig und noch immer keinen festen Partner. Lockere Freund schaften hier und da, sicher, und das bohrende Gefühl, zusehen zu müssen, wie einer nach dem anderen aus ihrem Bekanntenkreis hei ratet. Wie erst kürzlich Marion. Die war jetzt aber auch schon auf dem besten Weg zum Hausmütterchen. Und mit Sabine war das auch nicht anders. Und Jürgen hätte sie nicht geschenkt haben wol len. Doch, eigentlich war sie ganz zufrieden mit sich: Frau kam gut alleine zurecht. Sie war sich immer noch nicht ganz klar, was sie eigentlich wollte. Nur nach Hause mit Sicherheit nicht. Es war Freitag abend! Kino? Das Programm hatte sie nicht im Kopf. Sie blickte auf die Uhr. Halb neun, die meisten Filme hatten wohl auch schon angefangen. Andererseits waren die Kneipen noch nicht richtig voll, vor zehn brauchte sie da nicht hineinzugehen. Vielleicht sollte sie doch mal im Cinemax vorbeischauen. Da begann eigentlich immer ein Film. Sie blieb an einer Eisdiele stehen, kaufte sich noch ein großes Eis mit Sahne, leckte es genüßlich und ging, ohne sich sonderlich zu beeilen, Richtung Innenstadt. Als sie vor dem Cinemax stand, einem großen modernen Kino palast mit eleganter Empfangshalle, spürte sie ihre Einsamkeit noch deutlicher. Wie immer standen Gruppen von Menschen auf dem Platz vor dem Kino, ganze Trauben scharten sich um die Kassen – und alle waren zu zweit oder in Gruppen. Ihr Blick schweifte auf die Straße, wo sich eine Reihe von Autos voranschob und einen Parkplatz suchte. Ein dunkelblaues BMW-Cabrio fuhr langsam an ihr vorbei. Ein einzelner Mann saß darin, offensichtlich nicht nur auf der Suche nach einem Parkplatz. Sie schauderte innerlich. Muß man denn wirklich seine Minderwertigkeitskomplexe so deutlich zeigen und mit einem Auto überspielen, fragte sie sich. 83
Welcher Film? ›Jurassic Park‹ hatte schon angefangen, schließlich entschied sie sich für ›Auf der Flucht‹. Paßte ja auch irgendwie. Die Kinositze waren wie immer ganz bequem, die Sicht war her vorragend, das Popcornknabbern der anderen störte nur wenig. Sie lehnte sich zurück und tauchte in die Handlung ein, litt mit, liebte mit und hatte zusammen mit Richard Kimble für die nächsten neunzig Minuten Freiheit, Erfolg, Liebe. Als das Licht anging, standen die ersten auf, obwohl der Abspann des Films noch lief. Susanne war nach Filmen immer etwas benom men und blieb noch sitzen, während die anderen den Ausgängen zustrebten. Das Kino war nicht allzu voll gewesen und leerte sich rasch. Noch etwas der Handlung des Films nachträumend, stand sie auf und reihte sich ein. Hinter ihr ein Mann, mittelgroß mit braun gelockten Haaren und auch noch etwas verträumt aussehend. Auch einer, der allein ist, dachte sie. Sah eigentlich ganz nett aus. Sie ver zögerte etwas ihren Schritt, vielleicht in der unbewußten Absicht, ihm die Gelegenheit zu geben, sie anzusprechen, doch er schaute träumend durch sie hindurch. Dann ging sie weiter und stand wieder vor dem Kino. Der Ver kehr war kaum weniger geworden, noch immer schoben sich die Autos durch die enge Straße. Sie blickte auf die Uhr. Kurz vor elf. Nach Hause? Nein, jetzt fing das Leben an. Sie erinnerte sich an eine kleine englische Bierstube in der Nähe. Sie lag etwas versteckt, so daß Susanne ein paar Anläufe brauchte, sie richtig zu finden. Sie stieß die Tür auf, die trotz der noch immer herrschenden Wärme geschlossen war, und trat ein in eine Atmosphäre von englischen Ledersesseln, Bänken, Ale und Guinness. Brechend voll war es hier. Obwohl am Tresen eigentlich kein Platz mehr frei war, stellte sie sich hinzu. Die musternden Blicke der Herumstehenden empfand sie eher als Herausforderung. Sie sah gut aus, und sie wußte es. Ein Stückchen von der Theke wurde frei, und sie lehnte sich dagegen. Auf den fragenden Blick des Barkeepers bestellte sie ein Guinness, 84
ein großes, wie sie noch rasch hinzufügte. Denn die Bedienung konnte manchmal etwas langsam sein sein. Das Bier kam schnell. Sie griff nach dem großen kühlen Glas und trank in hastigen Schlucken, denn sie spürte auf einmal ihren Durst. Der würzig-süßliche Geschmack des Bieres tat ihr gut, mach te sie leicht benommen. Sie lehnte sich an die Theke, setzte ihr Was-kostet-die-Welt-Gesicht auf und betrachtete interessiert die Leu te. Es war ein gemischtes Publikum, aber nur wenig Paare. Die Gruppe neben ihr schienen Studenten zu sein, sie lösten wohl ge rade alle Probleme der Welt, jedenfalls wurde heftig diskutiert. Die hörten erst heute nacht wieder auf, wenn sie nach Hause gingen. Das Pärchen am Seitentisch knabberte etwas lustlos an einem Ba guette herum und redete keinen Ton miteinander. Warum gehen die denn bloß in eine Kneipe, schweigen können die auch zu Hau se, dachte Susanne und richtete ihr Interesse auf die anderen Per sonen in ihrer Umgebung. Der Dicke unweit von ihr musterte sie unverschämt. Susanne blickte abfällig zurück, bis der andere den Kopf abwandte und die Unterhaltung mit seinem Nachbarn fort setzte. Der hinten in der Ecke schien noch interessant zu sein, je denfalls stand er allein und schaute gelegentlich zu ihr herüber. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie die beiden Männer neben ihr an der Theke zahlten und gingen. Sie warf einen kurzen Blick auf die Speisekarte. Knoblauchbrot? Sie aß es eigentlich ausgesprochen gern und hatte jetzt auch Hunger – aber das mußte es jetzt wirklich nicht sein! »Verzeihung, ist dieser Platz noch frei?« Susanne blickte auf. Ne ben ihr stand ein Mann, Ende Dreißig, braungelocktes Haar, recht gut aussehend, richtig, der Besucher aus dem Kino. »Natürlich.« Susanne nickte etwas entschiedener und freundlicher, als es sonst ihre Art war. Der andere lehnte sich an den freien Stuhl neben ihr. Beide schwiegen. Susanne betrachtete interessiert die anderen Gäs 85
te, der Mann blätterte in der Speisekarte. Die Bedienung ließ etwas auf sich warten, und so schwiegen sie beide noch länger und vertief ten sich in ihre jeweiligen Beschäftigungen. Die Speisekarte schien sehr interessant zu sein und die anderen Gäste offensichtlich auch. Allerdings bemerkte Susanne, daß ihr Nebenmann ihr dann und wann einen verstohlenen Blick zuwarf. Er schien auf einmal zu zö gern, räusperte sich und fragte dann: »Ich wollte auch ein Guinness nehmen, schmeckt es hier gut?« Der Gesprächsanfang ist nicht besonders originell, dachte Susan ne, nickte aber und stellte kurz fest: »Doch, schmeckt gut.« Wiede rum war Pause. Die Bedienung fragte kurz, und beide bestellten noch ein Guinness, prosteten sich freundlich zu und schwiegen weiter. Das kann ja noch ewig so weitergehen, dachte Susanne bei sich. »Sind Sie häufiger hier?« Wieder so eine originelle Frage. »Nein«, antwortete Susanne, »eigentlich seltener.« Gleich wird er mich noch fragen, ob ich es hier auch gemütlich finde. »Ich bin eigentlich auch selten hier, aber ich finde es ganz gemüt lich hier.« Mein Gott, dachte Susanne, Gesprächseröffnungen könntest du auch mal lernen. Das ist ja absolut amateurhaft. Laut sagte sie: »Doch, finde ich auch.« Sie nahm still einen weiteren Schluck Bier und betrachtete die anderen Gäste. Auch der Mann nahm einen Schluck und schaute in sein Glas. Was willst du eigentlich? schoß es ihr auf einmal durch den Kopf. Willst du ihn cool ablaufen las sen? Du findest ihn doch ganz nett! Mußt du zeigen, wie toll du bist? Und was hast du denn für das Gespräch bisher getan? Einsilbige, etwas schnippische Antworten gegeben. Auch sehr originell. Vielleicht doch lieber nach Hause. Drei Zimmer Roder bruch. Und noch ein bißchen Seelenschmerz für den Rest der Nacht. Mit einemmal bemerkte sie, wie der andere einen tieferen Schluck 86
nahm. Das Glas leerte sich rasch. Der wird gleich gehen, wußte sie instinktiv. Denn diese Situation kannte sie zur Genüge. »Hat Ihnen denn der Film gefallen?« fragte sie und lächelte ihn in besonders freundlicher Weise an. Ihr Gegenüber setzte das Glas ab, wollte etwas sagen, verschluckte sich aber und hustete. Dann lachten beide. »Woher wissen Sie denn, daß ich im Kino war?« fragte er zurück, und um seinen Mund spielte ein freundliches, breites Lächeln. »Ich stand vor Ihnen in der Schlange beim Ausgang. Sie haben doch auch ›Auf der Flucht‹ gesehen – oder nicht?« »Doch, sicher. Aber daß ich Sie nicht gesehen habe … Ich hoffe, Sie nehmen mir es nicht allzu übel.« »Ach wo, ich bin nach dem Kino auch immer etwas benommen. Man träumt so die Handlung nach, finden Sie nicht auch?« Sie legte den Kopf zur Seite und schaute ihn an. Der Mann zögerte kurz und meinte dann: »Das ist wahr. Es ist so, als ob man ein ganz anderes Leben gelebt hat, spannender, rei cher, erfüllter als das eigene. Und dann merkt man, daß man in die Wirklichkeit zurückkommt. Und dazwischen träume ich etwas nach. Geht Ihnen das auch so?« Sie lächelte ihn an, ließ kurz ihre schönen Zähne sehen, nickte zustimmend. »Hat Ihnen der Film gefallen?« »War schön. Etwas anders als die Serie früher im Fernsehen, aber schön. Kintopp halt. Ein bißchen weniger Brutalität wäre besser ge wesen. Aber es ist halt ein amerikanischer Film.« Die Unterhaltung kam in Gang, beide zeigten sich von ihrer bes ten Seite, stimmten zu, suchten Gemeinsamkeiten, lachten. Nur die Anrede wurde immer gekonnt umgangen. Vorgestellt hatten sie sich noch nicht. Erst nach einer Viertelstunde meinte Susanne: »Übri gens, ich heiße Susanne Breugel, aber nennen Sie mich einfach Su sanne.« »Heribert Mehrtens«, erwiderte der andere, »aber nenn mich 87
einfach Heribert.« »Die Kurzform von Heribert ist Harry?« fragte Susanne und schmunzelte etwas. »Weiß ich nicht. Den Namen haben mir meine Eltern gegeben, so furchtbar toll fand ich ihn nie. Aber man gewöhnt sich an alles«, entgegnete Heribert. Dann wurde ein bißchen über Urlaub geredet, England, ja, das mochten beide gerne, Susanne berichtete davon, daß sie dienstlich einige Monate in London gewesen sei. »Bist du bei einer internationalen Firma tätig?« fragte Heribert neugierig. Susanne lachte: »Nein, bei der Polizei. Und du?« »Ich bin Studienrat.« Angesprochen auf seinen Beruf, sprach er immer von ›Studienrat‹ oder manchmal ›Gymnasiallehrer‹, denn wie viele seiner Kollegen wollte Heribert ungern mit Hauptschullehrern verwechselt werden. Dann meinte er noch grinsend: »Also für eine Polizistin hätte ich dich wirklich nicht gehalten.« »Ich dich auch nicht für einen Lehrer, Heribert.« Er empfand es als Kompliment und sagte das. Beide lachten und bestellten noch ein Bier. Irgendwie kamen sie aufs Segeln. Es war das absolute Lieb lingsthema Heriberts, und er konnte amüsante Anekdoten und Ein zelheiten erzählen. Susanne hörte interessiert zu. Der Mann war nett und gar nicht unspannend. »Hast du Lust, mal mitzukommen?« fragte Heribert auf einmal. »Vielleicht«, entgegnete sie und sah ihn kokett an. Die Zeit verging. Eine Reihe von Gästen war bereits gegangen, das Lokal leerte sich. Unauffällig blickte Heribert auf seine Uhr. Es ging gegen halb eins. Allzu spät durfte er nun auch nicht nach Hause kommen, außerdem hatte er morgen noch Schule. Für einen Augenblick überlegte er, ob er dem Abend noch eine weitere Wen dung geben könnte, um vielleicht mit Susanne das Lager zu teilen. Aber er war unschlüssig. 88
Er ist sehr nett, dachte Susanne, eigentlich zu nett nur für eine Nacht. Obwohl, Lust hätte sie schon gehabt. Aber gleich am ersten Abend? Sie zögerte, und das Gespräch stockte. Heribert trank sein Bier aus. »Wollen wir noch irgendwo hingehen?« Susanne schüttelte den Kopf. »Nein, laß man, das nächstemal. Ich glaube, es ist schon ziemlich spät. Eigentlich möchte ich nach Hause.« »Soll ich dich nach Hause fahren? Mein Wagen steht ganz in der Nähe«, bot Heribert eilfertig an. Susanne schien einen Augenblick nachzudenken. Dann sah sie Heribert an. »Nein, ich fahr mit einer Taxe, wir ha ben beide auch ein bißchen viel getrunken. Aber«, sie zögerte et was, »sehen wir uns wieder?« Für einen Augenblick fühlte sie sich schrecklich unsicher. Auch Heribert wirkte etwas verwirrt. »Gerne«, meinte er dann. »Ich würde mich freuen. Wirklich.« Susanne nahm ihren Kugelschreiber, schrieb ein paar Zahlen auf den Bierdeckel. »Hier ist meine Nummer. Wenn du Lust hast, ruf an. Wär' schön.« Und für einen Augenblick legte sie ihre Hand auf die seine. Sie zahlten und gingen schweigend durch die immer noch warme Nacht zu Heriberts Wagen, den er hinter einem Taxistand in einer Seitenstraße geparkt hatte. »Ein ganz schöner Abend.« Heriberts Stimme klang belegt. »Fand ich auch.« Beide schwiegen, und Heribert berührte vorsich tig ihren Arm. »Jetzt fahr man«, murmelte sie, »und laß dich nicht von der Po lizei erwischen.« Heribert lächelte. »Ich hoffe nicht. Und wenn, dann hab' ich doch wohl eine Fürsprecherin, ja?« »Stimmt wohl.« »Ich ruf an. Verlaß dich drauf.« 89
Heribert hob zum Gruß die Hand, stieg ein, winkte noch einmal und fuhr los. Susanne blickte seinem Auto nach. VW Passat Variant, Kennzei chen H – C 2243. Ihr fotografisches Gedächtnis hielt diese Zahl fest. Susanne fühlte sich froh und wehmütig zugleich und hoffte, daß sie diese Nummer wiedersehen würde.
8. KAPITEL
A
ls Heribert am nächsten Morgen das Schulgebäude betrat, lag bereits ein unerfreulicher Tagesanfang hinter ihm. Mit Elisabeth hatte es wegen seines zu späten Nachhausekommens den erwarteten Streit gegeben. Kurz nach eins war es gewesen, und obwohl Elisa beth sich selbst manchmal ähnlich lange Ausflüge erlaubte, nahm sie es ausgesprochen übel, wenn Heribert seinerseits von so einem Recht Gebrauch machte. Allerdings war Elisabeths Streitlust durch ihren Alkoholpegel und einen mittleren Kater noch etwas gedämpft gewesen – dies ließ eine Fortsetzung zum Mittagessen erwarten, wo nun der Streit etwas überlegter und dafür erbitterter ausgetragen werden würde. Außerdem war Sonnabend: Während alle anderen Arbeitnehmer noch in den Federn lagen und, ihrer Kinder ledig, sich einen schönen Morgen machen konnten, mußten Lehrer – wie sie beide jeden Sonnabend aufs neue mit Erbitterung feststellten – zur Arbeit. Eine Arbeit, die allerdings zunehmend als sinnlos emp funden wurde. Und richtig, ganz wie vermutet, fehlten auch in der Klasse, in der Heribert jetzt eine Doppelstunde Deutsch geben wollte, etwa 90
ein Viertel der Schüler. Mit Sicherheit würden sie am Montag gute Entschuldigungen ihrer Eltern mitbringen; Grippe und Erkältungs krankheiten brachen besonders an schönen Sommerwochenenden mit großer Regelmäßigkeit aus und verschwanden dann offensicht lich während des Familienausflugs. Es waren immer andere Schüler, die fehlten, so daß nicht einmal bestimmte Eltern auf ihr Ver halten angesprochen werden konnten. Einmal hatte Heribert zu sammen mit einem Kollegen einen Versuch unternommen, einer hartnäckigen Schwänzerin deswegen einen Verweis zu erteilen. Aber der geballte Rechtsbeistand, Gutachten eines mit den Eltern be freundeten Arztes sowie eine Dienstaufsichtsbeschwerde, die dann nur mit Mühe niedergeschlagen werden konnte, hatten ihm gezeigt, daß man gegen diese Mißbräuche nicht mehr vorgehen konnte. Das System war ja auch so praktisch: Am Sonnabend waren die El tern nach Belieben entweder ihre Kinder los, ernsthafte Familien aktivitäten wurden allerdings jedoch nicht behindert. Die Leidtra genden waren, wie unisono von allen Kollegen festgestellt wurde, wieder einmal die Lehrer. Natürlich konnte bei einem Fehlen von einem Viertel im Stoff nicht fortgeschritten werden, so trat man mehr oder weniger auf der Stelle, und die von ihren Eltern diesmal in die Schule geschickten Kinder langweilten sich – und faßten den festen Vorsatz, das nächstemal mit Sicherheit zu Hause zu bleiben. Glücklicherweise hatte Heribert nur zwei Stunden und machte sich rasch auf den Weg nach Hause. Elisabeth mußte heute vier Stunden unterrichten und würde erst gegen Mittag wieder da sein. Und zu der Zeit hoffte er schon wieder zu Hause zu sein. Er fuhr schnell. Den unauffälligen Wagen, der in der Nähe der alten Unfall stelle auf einem Feldweg geparkt hatte, übersah er – und folglich auch die beiden Insassen, die sichtlich mißmutig seine Autonum mer notierten. Je näher er zum Hause kam, desto unruhiger wurde er, und als er in die Garage fuhr, schlug sein Herz bis zum Hals. Die Beute zur Bank bringen, das war ein weiterer notwendiger 91
Schritt. Zugleich aber wuchs mit jedem dieser Schritte sein Risiko. Er hatte noch nie ein Schließfach eröffnet. Wurde man kontrolliert, wenn Verdachtsmomente vorlagen? Waren die Koffer bekannt? Und vor allem: Was war, wenn er auf dem Weg dorthin angehalten wur de? Zufälliger Verkehrsunfall, Kontrolle oder gar die Beraubung durch den unbekannten Anrufer? Er kämpfte seine Sorgen nieder und stieg die Bodentreppe hinauf. Mit Unruhe betrachtete er seine beiden Taschen, wuchtete sie nach unten, legte sie in den Koffer raum. Bevor er losfuhr, spähte er noch einmal auf die Straße. Sie lag leer und ausgestorben vor ihm. Nicht einmal die alte Neumann von gegenüber schaute aus dem Fenster. Er gab sich einen Ruck, riß sich vom Fenster los und fuhr. Er nahm den Weg von gestern, und obwohl er voller Unruhe war, dachte er gelegentlich gern an seine neue Bekannte zurück. Vielleicht war es eine Alternative zu Claudia, die zunehmend zu rückhaltender wurde. Vielleicht, mal sehen. Anrufen würde er jeden falls mit Sicherheit. Er fuhr besonders aufmerksam, etwas schneller als erlaubt, damit er keine Aufmerksamkeit erregte. Hin und wieder blickte er zurück, um sich zu überzeugen, daß ihm kein Auto folg te. Aber weder auf den kleineren Landstraßen noch auf der Bundes straße bemerkte er etwas Auffälliges. Der Verkehr nahm zu, und er reihte sich in die Schlange von Autos ein, die zum Einkauf in die Stadt fuhren. Seine Befürchtung, die Parkplätze vor der Deutschen Bank im Zentrum Hannovers belegt vorzufinden, erwies sich als unbegrün det. Die Parkgebühren von zwei Mark für eine halbe Stunde waren abschreckend genug, und so fand er in der Nähe des Bankenvier tels ohne größeres Suchen einen Platz. Er warf vier Mark ein und ärgerte sich nicht einmal über die unverschämten Gebühren. Schnellen Schrittes ging er, bepackt mit seinen beiden Koffern, in die Schalterhalle und wandte sich an die Information. »Ich hätte gern ein Schließfach eingerichtet.« 92
Die dezent gekleidete junge Dame an der Rezeption schickte ihn an einen Schalter zu einer Kollegin. Heribert war auf vieles gefaßt gewesen, neugierige Blicke, even tuell Fragen nach dem Woher und Wohin, ja sogar das plötzliche Erscheinen der Polizei hätte ihn nicht verwundert. Die völlige rou tinemäßige Feststellung (»Ein sehr großes bitte«), Vereinbarung eines Stichwortes, Aushändigung der beiden Schlüssel, das alles vollzog sich mit einer geschäftsmäßigen Beiläufigkeit, die in star kem Kontrast zu seiner inneren Unruhe stand. »Wenn Sie mir bitte folgen würden.« Ein junger Mann führte ihn in den Tresorraum der Bank, öffnete ihm mit einem Vorschlüssel sein Fach. Er wies Heribert auf einen Nachbarraum hin, wo er den schubkastenförmigen Einsatz öffnen konnte, und schloß die Tür. Das leichte Summen der Neonröhre war das einzige Geräusch, das Heribert vernahm. Weder der Straßenlärm noch die Geschäftig keit der Schalterhalle drang bis hierher. Er war mit seiner Beute al lein. Die Tür des Raumes war von innen abschließbar, und Heri bert verriegelte sie sofort. Obwohl er ein großes Schließfach genommen hatte, war nicht daran zu denken, etwa die beiden Taschen dort unterzubringen. So legte er einen Stapel mit Scheinen neben den anderen in die Kasset te, die sich rasch füllte. Dann war er fertig. Ein letztesmal betrach tete er noch seine Beute. Sollte er doch etwas Geld herausnehmen? Einen Tausender? Natürlich war es verrückt, aber Heribert konnte nicht widerste hen. Er ergriff einen Schein und steckte ihn ein. Dann klappte er den Deckel des Einsatzes zu, trug ihn zum Tresor, verschloß sein Schließfach und verließ die Bank. Er blickte auf die Uhr. Nicht ein mal zwanzig Minuten hatte das Ganze gedauert. Seine Parkuhr war noch nicht abgelaufen, er hatte noch vierzig Minuten Zeit. Einer plötzlichen Eingebung folgend, eilte er schnell zu Karstadt, schlenderte kurz durch die Segelabteilung und kaufte 93
sich einen neuen Segelanzug, den er schon immer hatte haben wol len. Er bezahlte mit dem Tausender, und ohne zu zögern nahm ihm die Verkäuferin das Geld ab und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Es war alles sehr einfach. Was hatte er sich für Sorgen gemacht? Alles unbegründet. Und erfüllt mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit fuhr er nach Hause. Erst auf dem Wege kamen ihm Zweifel, ob die Sache mit dem Tausender denn wirklich eine gute Idee gewesen war. Wenige Minuten vor Elisabeth war er zu Hause. Noch bevor er sich an das Mittagessen machen konnte, klingelte das Telefon. Mit einem unguten Gefühl nahm er ab. »Na, wie fühlst du dich denn so – als Mörder?« Es war dieselbe Stimme wie am Vortag, breit, etwas in die Länge gezogen, so daß sie absichtlich ungebildet und bedrohlich klang. »Was wollen Sie?« »Ein feiner Beamter biste. Schade um die schöne Pension.« Das Geld war verstaut, und das Gefühl, nicht mehr unmittelbar bedroht zu sein, gab Heribert ein neues Gefühl der Sicherheit. »Sagen Sie, was Sie wollen, oder ich lege auf«, stellte er kühl fest. »Wie du ihn umgebracht hast…« »Danke, das reicht wohl.« Heribert legte auf. Ganz sicher war er sich nicht, ob es besonders klug war, sein Gegenüber so zu reizen, aber irgend etwas mußte er wohl tun als Antwort auf diesen Psy choterror. Und was konnte der Mann schon gesehen haben? Und ihm etwas beweisen – das würde nicht einfach sein. Als er auf dem Weg zur Küche war, klingelte erneut das Telefon. Er ließ es ein paarmal klingeln und nahm dann ab. »Mehrtens.« »Spiel dich bloß nicht so auf, du meinst wohl, du kannst mich verarschen?« Der breite Tonfall war verschwunden, und der Anru fer klang hell vor Wut. »Was wollen Sie?« 94
»Ein Wort von mir, und dich holt die Polizei. Du dachtest wohl, du wärst allein, ich habe aber alles gesehen. Alles: Wie du die bei den Koffer mit dem Geld genommen, und wie du ihn umge bracht hast.« In Heribert krampfte sich etwas zusammen, eine harte Faust griff nach seinem Magen und ließ ihn nicht mehr los. Er hatte auf ein mal einen trockenen Mund. Zwei Koffer. Nicht einmal die Zeitun gen hatten davon berichtet. Kein Zweifel, er war beobachtet wor den. »Dann gehen Sie doch zur Polizei«, sage er dennoch spöttisch, aber er konnte nicht verhindern, daß seine Stimme leicht zitterte. Was wollte der Mann bloß? »Ganz schön am Flattern?« Heribert konnte das Grinsen seines Gesprächspartners förmlich sehen. »Hör zu: Ob dich die Bullen schnappen, ist mir scheißegal. Viel leicht haste ja Glück. Aber ich will das Geld – alles. Dafür sage ich nichts. Und du bekommst noch deine Pension. Ich will das Geld! Und ich warte nicht ewig.« Ein Knacken. Der andere hatte die Verbindung unterbrochen. Heribert hielt den Hörer noch eine Weile in der Hand, bevor er langsam auflegte. Er überdachte seine Lage. Das Geld lag zunächst sicher, auch die Polizei würde es ohne konkreten Tatverdacht sicher lich schwer haben, es aufzustöbern. Was mochte der Unbekannte wollen? Das Geld – sicherlich, aber alles? Möglicherweise würde er verhandeln müssen. Vielleicht fifty-fifty? Und vor allem: Wer war der Unbekannte? Heribert, der heute mit Kochen dran war, ging in die Küche, nahm eine Zwiebel und fing an, sie zu schneiden. Nach kurzer Zeit tränten seine Augen, und er stellte sich ans Fenster, bis er wieder klar sehen konnte. Wie weit konnte man überhaupt sehen? Er blickte auf die Hauptstraße, wo hin und wieder ein Auto vorbei fuhr. Die Straße war etwa hundert Meter entfernt, er hatte Schwie 95
rigkeiten, die Insassen in den vorüberfahrenden Wagen überhaupt auszumachen. Wenn er beobachtet worden war – dann mit Sicher heit aus allernächster Entfernung. Vor seinem geistigen Auge tauch te noch einmal die Unfallstelle auf: die leichte Kurve, die ausge dehnten Weiden und Felder – fast auszuschließen, daß sich dort jemand verborgen gehalten hatte, der ihm nicht aufgefallen war. Blieb das Waldstück in der Nähe. Schon möglich, daß dort einer gesteckt hatte. Aber wenn er dort gewesen war – und der Unbe kannte mußte schon ziemlich nah gewesen sein, um ihn so genau zu beobachten –, warum hatte er dem Verletzten nicht geholfen? Es hatte doch keiner von dem Inhalt der Taschen wissen können, oder doch? Und wenn er so genau beobachtet worden war, warum denn diese Mordbeschuldigung, die nun wirklich überhaupt nicht stimm te. Einschüchterung? Wie man es auch drehte und wendete, Heri bert fühlte, daß er einen wichtigen Aspekt wohl noch nicht be dacht oder übersehen hatte. Eins aber war ihm klar: Der Bursche wollte das Geld, die Drohung mit der Polizei war leer, jedenfalls fürs erste, und je länger der Erpresser wartete, desto unglaubwürdi ger würde seine Beschuldigung sein, er, Heribert, hätte mit dem Verschwinden der Geldtaschen irgend etwas zu tun. Nein, dann hätte er sich eher bei der Polizei melden müssen, und dazu schien der Unbekannte offensichtlich nicht bereit. Am besten also: abwar ten und Tee trinken. Mit einemmal wurde er plötzlich fröhlich. Die Idee, die ihm jetzt gerade zugeflogen war, schien gut: Es war die Megaidee für dieses Wochenende. Er hörte, wie Elisabeths Golf in die Einfahrt fuhr, ging zur Tür und öffnete sie. »Hallo«, begrüßte er seine Frau fast überschwenglich. »Ich habe eine ganz tolle Idee: Wir fahren für ei nen Tag irgendwohin. Machen wir uns ein paar schöne Stunden. Übernachten. Gehen wir wunderschön essen. Vielleicht Hamburg oder die Heide? Was meinst du?« Er strahlte sie förmlich an und legte all seine Liebenswürdigkeit und Charme in sein Angebot. Eli 96
sabeths Miene hellte sich zunehmend auf. Sichtlich bereit, dieses Friedensangebot anzunehmen, stimmte sie erst zögernd, dann be geistert zu. Hamburg, mal eine Großstadt, das sei das richtige. Aber zuvor wollten sie noch in Neustadt richtig schön essen gehen. Heri bert nickte, die Reisetasche war schnell gepackt, und wenig später rollte der Passat aus der Garage einem Wochenende entgegen.
9. KAPITEL
H
eribert war sich nicht ganz klar, was eigentlich anders geworden war, aber irgend etwas hatte sich verändert. Während Elisabeth noch fröhlich ein letztesmal das vergangene Wochenende Revue passieren ließ, hörte er schon gar nicht mehr richtig zu, sondern runzelte nur erstaunt die Stirn. Das Tor der Ga rage schwang wie immer leicht sirrend auf, die Garage war mäßig aufgeräumt wie immer, allerdings mochten die beiden Kisten etwas anders gestanden haben. Oder hatte er sich getäuscht? Die Verbindungstür zum Haus stand offen. Sollten sie ihre Ab reise so überstürzt angetreten haben? Sichtlich unruhig, und mit einemmal war auch Elisabeth still, trat er in die Wohnung. Der Flur lag da wie sonst, doch als sie in das Wohnzimmer traten, flüsterte Elisabeth nur: »Mein Gott.« Das, was sie erblickten, sah aus wie ein Schlachtfeld. Die Schubladen aufgerissen, der Inhalt verstreut. Jedes Polster aufgeschnitten, die weißen Kugeln der Polyesterfüllung la gen in allen Ecken, teils einzeln, teils zu Häufchen zusammenge ballt. Elisabeth faßte zaghaft Heriberts Arm, und gemeinsam gingen sie von Zimmer zu Zimmer: Überall das gleiche Bild: Zerschnittene 97
Polster, aufgerissene Schubladen, geöffnete Schränke. Und wie um das Maß von sinnloser Zerstörung voll zu machen, waren sogar die Diakästen von Elisabeth geöffnet, und der Inhalt lag auf dem Tep pich verstreut. Ich wußte gar nicht, daß wir so viele Bilder gemacht haben, dach te Heribert bei sich, immer noch betäubt von dem Chaos, das sich vor ihm ausbreitete. Die Bodentreppe war aufgeklappt, sie stiegen hinauf, trotz der beginnenden Dämmerung konnten sie unschwer erkennen, daß auch dort ganze Arbeit geleistet worden war. Alle Kisten waren ausgeschüttet, sogar die losen Bodenbretter hochgeho ben, die Verschlage an den Seiten, die Heribert vor Jahren einmal zugenagelt und isoliert hatte, aufgebrochen. Elisabeth eilte noch in den Keller, aber Heribert wußte, daß sie dort ein ähnliches Bild vorfinden würde. Jeder Quadratzentimeter dieses Hauses war lückenlos durchsucht worden. Und im Badezim mer waren auf die teuren italienischen Kacheln noch rote SS-Ru nen gesprüht worden. In großen Druckbuchstaben prangte auf dem Spiegel: DIES IST EINE WARNUNG. »Wer macht so etwas?« flüsterte Elisabeth fast tonlos. »Wer kann so etwas machen?« Heribert schüttelte nur mechanisch den Kopf. »Ich weiß es nicht«, meinte er. »Keine Ahnung.« Und mit einem mal fühlte er das Gewicht des Schließfachschlüssels in seiner Ho sentasche wachsen. Elisabeth ging rasch zum Kleiderschrank und schaute nach ihrem Schmuck. Wider Erwarten fehlte kein einziges Stück. Das Bargeld hatten sie für ihre Reise mitgenommen, auf den ersten Blick schien nichts gestohlen worden zu sein. Dafür war der Videorecorder durch einen kräftigen Hammerschlag zerstört worden, auch die Ste reoanlage würde wohl nie wieder einen Ton von sich geben. Noch immer benommen, ging er ans Telefon, das merkwürdiger weise unbeschädigt geblieben war. Als er die 110 gewählt und die 98
Polizei benachrichtigt hatte, bemerkte er, daß drei Anrufe auf sei nen Anrufbeantworter eingegangen waren. Während Elisabeth noch nach vermißten Gegenständen fahndete – eine goldene Uhr hatte sie schon ausgemacht –, ließ er das Band ablaufen. Bei den ersten beiden Anrufen hatte der Anrufer offensichtlich sofort aufgelegt, denn außer dem Knacken des Anrufbeantworters war das Band nicht bespielt. Erst die letzte Position erhielt eine Mitteilung. »Willkommen daheim«, hörte er die bekannte Stimme. »Ich hoffe, es gefällt dir hier alles. Und wenn du aufräumst, dann kannste ja mal nachdenken. Ich melde mich wieder. Und denk an deine Pen sion.« Ein abermaliges Knacken – das Band stoppte. Er hörte Elisa beth hinter sich. Sollte er das Band schnell noch löschen? Doch offensichtlich war sie mit anderen Dingen beschäftigt. Immer noch stand ihr die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. In den Hän den hielt sie Polyesterkugeln der Sesselfüllung. »Was sollen wir damit machen?« fragte sie hilflos. Heribert zuckte resignierend mit den Schultern. »Ich glaube, das können wir alles wegschmeißen.« Es klingelte, zwei Beamte von der Kripo standen vor der Tür. Ein grauer, fast weißhaariger Beamter mit einer sehr jungen, fast noch mädchenhaft wirkenden Begleiterin. Sie inspizierten kurz das Haus, untersuchten es mit Ruhe und Routine. So fanden sie auch rasch heraus, wo der oder die Einbrecher eingestiegen waren: Die Gara gentür des Kellers war aufgehebelt worden. Merkwürdig, dachte Heribert noch, daß uns überhaupt nicht der Gedanke gekommen ist, nachzuschauen, wie er denn nur hineingekommen ist. Im Bade zimmer blieben sie länger stehen und schauten sich vielsagend an. Dann setzten sie sich im Wohnzimmer an den Eßtisch. »Herr Mehrtens, haben Sie schon einen Überblick, was gestohlen worden ist?« Elisabeth wollte gerade etwas dazu sagen, als Heribert schnell ant wortete: »Genaueres wissen wir noch nicht, aber allem Anschein 99
nach ist nicht viel gestohlen worden. Meine Frau vermißt einigen Schmuck, aber da müßten wir genauer nachschauen, eine goldene Uhr, vielleicht tausend Mark an Bargeld – das ist wohl alles.« Die Beamtin machte einen entsprechenden Vermerk, und der ältere Kollege wies noch kurz darauf hin, daß sie eine genaue Scha densaufstellung in den nächsten Tagen der Polizei vorlegen sollten. Dann fragte er auf einmal sehr klar: »Herr Mehrtens, Ihre Wohnung ist verwüstet worden, zum Teil sind die Beschädigungen reiner Vandalismus, andere lassen darauf schließen, daß die Einbrecher etwas gezielt gesucht haben. Haben Sie eine Ahnung, was die Einbrecher gesucht haben könnten?« Heribert fühlte, wie sich sein Unterleib zusammenkrampfte. Sein Blutdruck stieg, er räusperte sich, aber in diesem Augenblick mein te Elisabeth immer noch etwas fassungslos: »Vielleicht Geld? Schmuck?« »Aber das haben sie doch gefunden und entwendet – wo hatten Sie denn Ihren gestohlenen Schmuck verwahrt?« Elisabeth stockte und meinte dann mit rotem Kopf: »Im Kleider schrank.« »Und das Geld war im Küchenschrank«, setzte Heribert rasch hin zu. Der alte Beamte sah so aus, als ob er ihnen kein Wort glaubte. »Die Schrift auf dem Badezimmerspiegel läßt darauf schließen, daß der Täter Sie kennt. Es könnte möglicherweise ein Racheakt sein. Haben Sie einen Verdacht?« Heribert gab sich den Anschein, angestrengt nachzudenken. »Ich glaube nicht«, meinte er schließlich zögernd. »Was heißt, Sie glauben – könnten Sie sich einen möglichen Täter vorstellen?« »Nein«, Heribert sprach schneller und fester. »Nein, ich kann mir niemanden als Täter vorstellen. Natürlich ist man als Lehrer immer möglichen Erpressungen und Racheakten ausgesetzt und, wie ge 100
sagt, vorstellbar ist natürlich alles. Es könnte ja auch ein Rechtsradi kaler sein.« »Wegen der SS-Runen? Vielleicht.« Wieder klang der Alte so, als ob er diese Möglichkeit als völlig abwegig betrachtete. »Sind Sie in letzter Zeit schon einmal Zielscheibe von Angriffen geworden?« Heribert schüttelte den Kopf. »Nein«, meinte er. Und fühlte sich dann bemüßigt, noch hinzuzufügen: »Das ist einfach furchtbar. Man kommt nach Hause, hat ein schönes Wochenende hinter sich …« Er hatte das Gefühl, daß der Alte ihn einfach reden ließ, ohne ernsthaft zuzuhören, und brach dann ab. Elisabeth meldet sich zu Wort: »Vor ein paar Tagen, ich glaube, es war sogar gestern, hat jemand meinem Mann die Reifen zersto chen.« »Wirklich? Davon haben Sie nichts gesagt.« »Es war mir entfallen. Meinen Sie, daß das etwas damit zu tun hat?« Heribert schaute die beiden Beamten fast hilfesuchend an. Er mußte noch detailliert berichten, wie er den kaputten Reifen hatte wechseln lassen – die Sache mit dem Zettel verschwieg er allerdings. »Bekommen Sie Drohanrufe?« fragte der Beamte nach. »Nein, gar nicht.« Heribert wurde es zunehmend ungemütlich. Warum hatte er das Band nicht gleich gelöscht? Natürlich klin gelte in diesem Moment das Telefon. Bitte bloß nicht der schon wieder! Dachte Heribert inbrünstig. Die Runde schwieg und hörte auf das Läuten. Schließlich stand Heribert auf und nahm den Hörer ab. Nach einem Augenblick gab er den Hörer weiter: »Für Sie.« Der Alte nahm das Telefon. »Keßler, ach so, ihr seid das. Gut.« Er wandte sich kurz an Elisabeth und Heribert. »In einer Viertel stunde kommt die Spurensicherung vorbei. Vielleicht finden die 101
etwas.« Wie meistens war Susanne als erste im Büro. Einen Augenblick stellte sie sich ans Fenster und betrachtete den heraufziehenden schönen Morgen. Die Sonne flimmerte durch die Blätter des Bau mes vor dem Fenster und warf ihre harten Schatten. Noch war die Glut des Mittags nur zu ahnen, aber obwohl es erst acht Uhr war, versprach der Tag wiederum heiß zu werden. Irgendwie fühlte Su sanne sich freudig erregt. Das Wochenende war nett gewesen, der zweite Tag nicht ganz so schön wie der erste. Der Streifzug am Sonnabend durch die hannoversche Kneipenwelt war unergiebiger gewesen. Aber dieser Heribert von Freitag abend – vielleicht rief er wieder an. Obwohl sie davon nicht gesprochen hatten, ahnte sie, daß er verheiratet war. Nun ja, das mochte später Probleme mit sich bringen. Vielleicht. Und im wesentlichen waren es dann ja wohl auch seine Probleme. Die gutgemeinten Ratschläge ihrer ver heirateten Freundinnen, sich nicht mit verheirateten Männern ab zugeben, hatte sie schon längst in den Wind geschrieben. Verheira tet? Na wenn schon. Mit etwas Ungeduld registrierte sie, daß ihre Mannschaft erst sehr zögerlich eintraf. Immerhin war ein aktueller Fall zu lösen, der immer noch Fragezeichen in der regionalen Pres se produzierte. Susanne konnte auf den Parkplatz des Gebäudes sehen und bemerkte, wie langsam einer nach dem anderen eintru delte. Man sieht irgendwie am Gang, wie das Wochenende war, dachte sie. Harry, der ging meistens ganz federnd, schaute etwas versunken, aber recht glücklich. Vermutlich war es wieder schön ge wesen. Sie kämpfte das leichte Gefühl von Neid herunter und rich tete ihren Blick auf Wolters, der eben seinem Wagen entstieg. Gar nicht gut sieht der aus, vermutlich war's nicht so nett. Na ja, das Wochenende hatte für ihn ja auch gut angefangen mit einer wich tigen Beobachtungsaufgabe, wie sie etwas hämisch feststellte. Sie 102
bemerkte diese Häme, schwankte einen Augenblick, ob sie sie nun ablehnen oder zu ihr stehen sollte, entschied sich dann aber dafür, sie gut zu finden. Man hat halt auch ein paar schlechte Seiten, meinte sie begütigend zu sich. Viertel nach acht waren schließlich alle versammelt. Sie ersparte sich den Hinweis auf das akademische Viertel, nachdem ihr, vor ei nigen Wochen Harry einmal gesteckt hatte, diese Redewendung be ginne langsam ein geflügeltes Wort bei ihr zu werden, über das die anderen insgeheim schon Witze rissen. Alle berichteten kurz von ihren Recherchen am Freitag. Michels, der sich mit der Überprüfung von Becher beschäftigt hatte, wies da rauf hin, daß dieser nicht vorbestraft sei, allerdings auch erst seit Ende 1989 in der Bundesrepublik lebe. Er sei Dezember 1989 aus der damaligen DDR übergesiedelt und habe dann gleich eine Stelle als Kfz-Mechaniker gefunden. Sein jetziger Aufenthaltsort sei unbe kannt, keiner der großen Reiseveranstalter in Hannover hatte eine Reisebuchung für Peter Becher vorgenommen. Die Aussage, Peter Becher sei im Urlaub in Ibiza oder der Türkei, konnte so jedenfalls nicht bestätigt werden. Andererseits war er in seiner Wohnung of fensichtlich noch nicht aufgetaucht. Außerdem stand sein Wagen weder auf dem Flughafenparkplatz noch in der Nähe seiner Woh nung. Das machte ihn zwar nicht notwendigerweise zum Täter, ver stärkte aber doch die vorhandenen Verdachtsmomente. So ordnete Susanne eine weitere Überwachung der Wohnung an. Außerdem sollte Michels in Erfahrung bringen, ob es irgendwelche bisher un bekannten Freunde gebe, die Becher Unterschlupf gewähren konn ten. Michels bat um Verstärkung für dieses Programm und bekam sie. Harry Krüger berichtete noch kurz von ihren gemeinsamen Er kundigungen bei dem Fußballverein Hillgrubers, dann gab Susanne Wolters das Wort. Wolters setzte sich zurecht und holte umständ lich einen Zettel aus der Westentasche seines Jacketts. »Also, wie 103
ich schon am Freitag vermutete, die Strecke, die wir zu überwachen hatten, war kaum befahren. Insgesamt fuhren an diesem Tag nur fünf rote Passats die Strecke ab. Ein Fahrzeug fuhr die Strecke aller dings mehrfach, geradezu suchend ab. Insassen waren zwei Perso nen.« Susanne beugte sich vor. »Hast du den Fahrzeughalter feststellen können?« »Das war schwierig, dann aber schafften wir es doch.« Wolters lehnte sich selbstgefällig zurück. Susanne fragte sich, worin denn da wohl die Schwierigkeit liegen konnte, warf aber Wolters nur einen auffordernden Blick zu. »Und, wer ist es?« »Es war die Polizeidienststelle Neustadt. Zivilfahndung. Die ha ben eine Radarfalle installiert.« Einige lachten, Susanne ärgerte sich und meinte nur kühl: »Sehr witzig. Hast du noch weitere so originelle Beiträge?« Wolters grinste geradezu frech, wie Susanne fand, stellte aber sachlich fest: »Zwei von den Fahrzeugen waren Urlauber aus Leer, aus demselben Ort, scheint ein Familientreffen gewesen zu sein, dann noch ein Landwirt aus Mardorf und ein Lehrer aus Wolters hagen. Sonst nichts. Fehlanzeige. Vielleicht ergibt sich heute noch etwas anderes. Wir haben die Beobachtungen ja wieder aufgenom men.« Susanne nickte. Man mußte warten können. Dann bat sie noch kurz um die Autonummern und die Anschriften der Halter. »Auch die von der Zivilstreife?« fragte Wolters. Susanne bemerkte die abwiegelnde Handbewegung von Harry. Reg dich nicht auf, hieß das. Laß ihn. Ruhig meinte sie: »Die kannste behalten.« Die Jobs waren verteilt, sie erteilte noch zwei Leuten die Aufgabe, Recherchen im Wohnumfeld von Fabian Hillgruber durchzuführen, dann war die kurze Dienstbesprechung beendet. Wolters legte ihr 104
die Liste mit den Namen und Autonummern auf den Schreibtisch, dann ging auch er hinaus. Der Bericht der Spurensicherung war inzwischen eingetroffen und lag im Ablagekorb auf ihrem Schreibtisch. Sie überflog ihn kurz. Im wesentlichen enthielt er nichts Neues. Jede Menge Fingerab drücke waren festgestellt worden, aber ob und welche zu dem Bei fahrer gehörten, wenn es denn einen gegeben hatte, das war noch nicht auszumachen. Auch konnte kein Fingerabdruck anhand der Kartei identifiziert werden. Nun, das machte auch noch nichts. Viel leicht würde er trotzdem helfen, den Täter zu überführen, es wäre nicht das erstemal. Susanne legte den Bericht zur Seite, als plötzlich die Tür aufging und etwas zurückhaltend ein Mann eintrat, den sie unschwer als den Fußballkameraden Helmke von Freitag abend erkannte. Auch er erkannte sie wohl, denn er legte eine Art befangene Ver traulichkeit in seinen Gruß. Helmke trug einen Monteuranzug. Er war offensichtlich während seiner Arbeitszeit hier. Susanne erwiderte den Gruß, wies auf einen Stuhl und blickte den Mann forschend an. Helmke blieb jedoch an der Tür stehen und musterte sie unsicher. »Ich hätte gern den Kommissar gesprochen«, sagte er schließlich. »Da sind Sie hier richtig«, entgegnete Susanne. »Nein, ich meine den Chef, den, mit dem ich mich am Freitag abend unterhalten habe.« Susanne lächelte. »Da meinen Sie wahrscheinlich meinen Assis tenten Herrn Kommissar Krüger. Der ist leider im Augenblick ver hindert. Aber wenn Sie den Chef sprechen wollen, dann sind Sie bei mir richtig. Oder haben Sie etwas gegen Frauen?« »Nein, nein, natürlich nicht, war auch nur so eine Frage.« Helm ke nahm auf der äußersten Sitzkante Platz, senkte den Blick, hob ihn dann wieder unsicher und räusperte sich. Der Mann hat etwas auf dem Herzen, oder er hat Angst, fühlte 105
Susanne. »Sie sind sicher gekommen, weil Sie mir etwas Wichtiges mitteilen wollten«, kam sie ihm entgegen und lächelte ihn freund lich an. »Ja, wissen Sie, es ist nämlich so … Ich bitte Sie sehr, dies hier nicht mißzuverstehen. Ich möchte keinesfalls schlecht über Fabian reden, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber da er nun schon einmal tot ist … Die Mitteilungen, die ich mache, sind doch ver traulich?« Susanne beruhigte ihn. »Wir können Ihre Mitteilungen vertraulich behandeln. Sie wollen uns etwas über Ihren Freund Fabian Hillgruber mitteilen? Etwas, was uns möglicherweise in dem Mordfall weiterbringt? Sie waren mit ihm ja sehr eng befreundet, oder?« Helmke überlegte nur kurz, dann gab er sich sichtlich einen Ruck. »Also kurz und gut. Es ist schon einige Monate her, als mich Fabian und Becher ansprachen – es war nach einen Fußballspiel, und wir hatten alle etwas getrunken –, ob ich auch immer so knapp bei Kasse wäre. Na klar, habe ich gesagt, knapp bei Kasse sind wir doch alle mal. Und dann haben die beiden mir vorgeschlagen, ei nen Bankraub auszuführen. Todsicherer Plan und gute Fluchtmög lichkeit. Und daß die meisten Bankräuber nur geschnappt werden, weil sie dämlich sind. Jedenfalls haben wir dann den ganzen Abend gesessen und Pläne geschmiedet. Am nächsten Morgen hatte ich einen ziemlichen Kater und hab' an das Gespräch gar nicht mehr so richtig gedacht. Ich hielt das Ganze eher auch für einen Witz, so eine Bierlaune eben. Bis mich dann wenig später Fabian noch mal ansprach, sie hätten eine Bank ausgekundschaftet, die geradezu ideal wäre. Ich sollte mal mitkommen und sie anschauen. Moment mal, habe ich da gesagt, wollt ihr das denn wirklich machen? Und ich habe gesagt, ich wollte mir das noch mal überlegen. Dann habe ich schließlich nein gesagt. Es war mir einfach zu gefährlich. Fabian war ziemlich sauer, danach gingen wir auch immer weniger zusam 106
men aus. Und etwa vierzehn Tage später tauchte der Becher bei mir auf und sagte, wenn ich jemals etwas darüber reden würde, dann würde es mir leid tun. Das war's eigentlich, was ich sagen wollte.« »Sie meinen also, daß Fabian Hillgruber an dem Banküberfall selbst beteiligt war?« fragte Susanne und beugte sich etwas vor. Endlich schien hier ein Zeuge ihre Vermutungen zu bestätigen. Helmke zögerte. »Ich möchte nichts sagen, was sich gegen Fabian richtet. Ob er den Banküberfall ausgeführt hat, das weiß ich nicht. Gesprochen haben wir darüber.« Er setzte sich auf die ganze Sitz fläche seines Stuhles und wirkte erleichtert. Susanne blickte ihn fragend an. »Warum haben Sie uns das nicht schon am Freitag abend gesagt?« Helmke zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich wollte nichts Schlechtes über Fabian sagen. Und außerdem … Das war es wohl.« Etwas in seinem Tonfall ließ Susanne aufhor chen. »Herr Helmke, Ihre Informationen sind sehr wichtig für uns. Vor allen Dingen, weil es sich hier um einen Mord handelt. Ihr Freund ist ermordet worden. Das müssen Sie immer bedenken. Haben Sie einen Verdacht, wer ihn ermordet haben könnte?« Helmke schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen dazu nichts sagen. Wirklich nicht.« »Wie kam es denn, daß Sie es sich überlegt haben, uns doch von der mutmaßlichen Beteiligung von Fabian Hillgruber an dem Über fall zu informieren? Denn wenn Sie nichts über Hillgruber aussagen wollen, um ihn nachträglich nicht zu belasten, warum haben Sie es sich denn anders überlegt?« Helmke schwieg. Der Mann hat Angst, dachte Susanne. Er ist hergekommen, weil er Hilfe braucht, aber jetzt hat er Angst. »Herr Helmke, ist seit Freitag abend etwas passiert, das Sie mir bisher verschwiegen haben?« 107
Helmke schüttelte nur stumm den Kopf. »Nein, nichts«, sagte er dann wenig überzeugend. Susanne hakte nach: »Haben Sie vor irgend jemandem Angst, werden Sie bedroht?« Helmke senkte den Blick. »Vielleicht von Herrn Becher?« Helmke blickte auf, und seine Stimme klang auf einmal ganz fest: »Als ich am Freitag abend nach Hause ging, wartete Peter Becher auf mich an einer Straßenecke. Er wußte, daß ich freitags immer in der ›Gemütlichen Ecke‹ zu finden bin und hat mich abgepaßt. Er sah sehr angespannt aus und sagte mir, daß ich das Gespräch von damals unter allen Umständen vergessen sollte. Ich hätte doch eine sehr hübsche Frau und eine nette Tochter und wollte sicher nicht, daß ihnen etwas passiert. Ich fragte ihn dann noch, ob er zusam men mit Fabian den Überfall durchgeführt habe. Er erwiderte, na türlich nicht, aber er wolle auch nicht in falschen Verdacht kom men. Dann könne er unangenehm werden.« »Haben Sie den Eindruck, daß er die Wahrheit gesagt hat?« »Ob er mitgemacht hat? Natürlich hat er das. Warum sollte er mich denn sonst bedrohen? Und dem Becher ist alles zuzutrauen. Ich hab' ihn nie gemocht. Ich war mit Fabian befreundet, und als Fabian dann immer mehr mit Becher zusammen war, lernte auch ich ihn kennen. War so ganz umgänglich, aber irgendwie verschla gen. Wollte nach dem Mauerfall hier so ganz groß rauskommen, aber das klappte nie so ganz. Obwohl er schnell eine Stelle gekriegt hat. Bei Volvo Stuwe. Der alte Stuwe ist selbst in den sechziger Jah ren nach Westdeutschland geflohen und wollte ihm wohl helfen. Jedenfalls war der Becher immer unzufrieden. Ich glaube auch, er hat Fabian zu dem Überfall überredet. Und brutal war er auch. Nach einem Fußballspiel gab es mal so eine Schlägerei, da wollten uns welche anmachen. So ein paar Besoffene. Mann, hat der zuge hauen. Klaus und Herbert haben ihn schließlich wegdrängen müs 108
sen, weil er immer noch auf die anderen einschlug, als sie schon längst am Boden lagen. Der hatte ganz schön viele Tricks drauf, war ja auch Unteroffizier bei der NVA gewesen. Also zutrauen tue ich ihm viel. Auch daß er sich rächen könnte, wenn er den Ein druck hat, ich verpfeife ihn. Und Angst? Ja, ich habe vor ihm Angst. Deshalb bin ich ja von der Arbeit hierher gekommen und nicht in meiner Freizeit. Denn vormittags wird er mich sicherlich nicht überwachen.« »Wo er sich aufhält, können Sie sich nicht denken?« »Nein, ehrlich nicht. Vielleicht in seiner Wohnung. Aber Genaues weiß ich nicht.« »Irgendwelche Freunde, die wir nicht kennen? Überlegen Sie mal.« Helmke machte ein hilfloses Gesicht. »Keine Ahnung, so gut kenn' ich ihn ja nun auch nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Ehr lich.« »Trauen Sie Becher zu, daß er Fabian umgebracht hat?« Helmke überlegte kurz. »Gedacht habe ich da auch schon dran. Vielleicht, vielleicht nicht. Um sich zu retten, würde er wohl alles versuchen. Und brutal kann er sein. Möglich wäre es.« Einen Au genblick wirkte er nachdenklich, dann fragte er eindringlich: »Kön nen Sie eigentlich für mich etwas tun? Polizeischutz? Können Sie mich vor ihm schützen? Ich meine, ich habe Ihnen doch geholfen. Und wenn der das rauskriegt, dann … ich weiß dann nicht, was ich machen soll.« Helmke schaute sie hilfesuchend an. Susanne überlegte kurz. »Einen durchgehenden Polizeischutz können wir Ihnen nicht geben. Aber wenn Becher bei Ihnen auf taucht, Sie ihn sehen, melden Sie sich. Hier ist meine Nummer. Unter der bin ich zu erreichen. Auch wenn Sie mitten in der Nacht anrufen.« »Immer? Auch mitten in der Nacht?« fragte Helmke und versuch te ein spöttisches Lächeln. 109
Susanne lächelte überlegen zurück. »Sagen wir, meistens. Ich möchte Sie noch bitten, das Protokoll zu unterschreiben.« Helmke zögerte. »Ich bin hier während meiner Arbeitszeit, ich kriege Ärger, wenn es zu lange dauert. Und es soll ja auch keiner wissen, daß ich hier war.« Susanne schüttelte kurz den Kopf. »Normalerweise gern, aber Ihre Informationen sind zu wichtig, wir müssen sie sofort verwerten, und das geht nur, wenn Ihre Aus sage schriftlich vorliegt. Aber ich beeile mich.« Sie setzte sich an ihre Schreibmaschine und schrieb das Protokoll herunter – wie die meisten ihrer Kollegen mit zwei Fingern. Dann bat sie Helmke, der zunehmend ungeduldiger wirkte, um eine Un terschrift. Helmke unterschrieb schnell, bedankte sich und verließ sichtlich erleichtert den Raum. Susanne lehnte sich zurück. Der Fall nahm endlich Konturen an. Dies war der erste richtige Hinweis auf den möglichen Täter. Der erste greifbare Erfolg. Und das Bild fügte sich zusammen. NVA-Unteroffizier war Becher gewesen. Möglicherweise hatte er von früher noch Kontakte zu ehemaligen Kameraden und konnte an Handgranaten und Waffen herankommen. Jedenfalls war es die erste Aussage, die klar einen Weg wies. Susanne nahm gleich den Hörer ab und bat Polizeidirektor Ober müller um ein kurzes Gespräch. Fahndung und Haftbefehl mußten sich jetzt wohl erwirken lassen. Sie stand auf. Der Tag ließ sich gut an.
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10. KAPITEL
A
ls es klingelte, saßen Heribert und Elisabeth noch immer inmitten der Trümmer ihrer Habe. Notdürftig hatte Elisabeth die Schubladen wieder eingeräumt, die Füllungen in die Polster gesteckt. Trotz allem sah die Wohnung im mer noch aus wie ein Schlachtfeld. Müde blickte Elisabeth hoch. »Gehst du?« Heribert versuchte ein Nicken und schleppte sich zur Tür. Eine schlaflose Nacht lag hin ter ihm. Die Spurensicherung war etwas später als erwartet gekom men, hatte einige Fingerabdrücke genommen, sorgfältig waren die Handschrift auf dem Spiegel fotografiert und Farbproben genom men worden, und dann waren die Leute schließlich gegangen und hatten sie beide allein zurückgelassen. Sie waren in ihre Betten ge krochen, sogar zum Unterhalten waren sie zu müde gewesen. Dennoch, geschlafen hatten sie nicht. Wie ein Mühlrad drehten sich Heriberts Gedanken im Kreis. Zwischen Angst und Erleichte rung schwankend, war er schließlich eingedämmert in einen wirren, bleiernen Schlaf, aus dem er gelegentlich auftauchte. Zum Glück hatte am Morgen der Direktor Verständnis gezeigt, und ihn – ob wohl so etwas eigentlich nicht statthaft war – heute vom Dienst be urlaubt. Er öffnete die Tür. Vor ihm standen zwei Männer. Er begrüßte sie kurz und blickte sie fragend an. Der eine zog eine Dienstmarke. »Guten Tag, Herr Mehrtens, Kriminalpolizei. Dürften wir einen Augenblick hereinkommen?« Heribert trat zurück und forderte sie mit einer Handbewegung auf, einzutreten. »Haben Sie etwas herausgefunden oder etwas ver gessen? Ihre Kollegen waren doch schon in der Nacht da.« 111
Die beiden schauten sich erstaunt an. »Haben Sie denn etwas Neues herausgefunden?« »Verzeihen Sie, Herr Mehrtens, weswegen, sagten Sie, waren un sere Kollegen schon bei Ihnen? Wir wissen von nichts.« Heribert musterte sie eingehender. »Sind Sie denn nicht wegen des Einbruchs hier?« Harry Krüger verneinte. »Wir ermitteln in einem anderen Fall.« Heribert bat die Beamten ins Wohnzimmer und bot ihnen einen der unbeschädigten Eßzimmerstühle an. »Mein Gott, sieht das hier furchtbar aus«, stöhnte Wolters mit fühlend, als er das Chaos im Wohnzimmer erblickte. Elisabeth erhob sich und trat an den Tisch. »Sie haben etwas ver gessen, oder gibt es etwas Neues?« »Ich habe Ihrem Mann schon erklärt, wir haben mit dem Ein bruch hier nichts zu tun. Wir bearbeiten den Mord an der Geisel bei dem Bankeinbruch am Mittwoch in Hannover. Mein Name ist Krüger, und mein Kollege ist Herr Wolters.« Heribert war froh, daß die beiden im Moment mit Elisabeth be schäftigt waren. Ihm wurde ein wenig schwindelig, und er mußte sich an der Tischplatte festhalten. Waren sie ihm auf den Fersen? Wieder spürte er das Gewicht der Schließfachschlüssel in seiner Hosentasche. »Kann ich Ihnen Kaffee anbieten?« fragte er matt, um Zeit zu ge winnen, und ging dann ohne eine Antwort abzuwarten in die Kü che und stellte die Kaffeemaschine an. Was konnten die wissen? Und woher kannten sie bloß seinen Namen? Der Tausender – sie dendheiß durchfuhr es ihn. Er verfluchte sich, diesen bescheuerten Leichtsinn. Natürlich waren die Nummern notiert. Es war geradezu fahrlässig gewesen, ein lustvolles Spiel mit dem Risiko, für das ihm jetzt die Rechnung präsentiert wurde. Während der Kaffee blubbernd durchlief, stellte er die Tassen zu sammen und ging in das Wohnzimmer. Elisabeth berichtete gerade 112
von dem Einbruch und schilderte ihre Aufräumarbeiten. Heribert stellte das Geschirr auf den Tisch, meinte munter: »Kaf fee kommt gleich«, und ging wieder in die Küche. Das wichtigste war, daß er jetzt ruhig blieb. Beweisen konnte ihm keiner was. Nur gut, daß nichts Belastendes mehr im Haus war. Allerdings wäre das Geld nach dem Einbruch wohl ohnehin nicht mehr dagewesen. Als er daran dachte, fühlte er langsam seinen überlegenen Spott zurück kommen, den er jetzt wohl zutreffend als Galgenhumor bezeichnen mußte. Der Kaffee war endlich durchgelaufen, und Heribert schenkte ein. Wolters trank etwas geräuschvoll. Wie in der Werbung dachte Heribert, es fehlt nur noch das genußvolle »Ah«. Krüger wandte sich an Heribert. »Es geht um eine routinemäßige Befragung von möglichen Zeu gen, die uns eventuell einige Hinweise zur Aufklärung geben könn ten. Wir würden gerne von Ihnen wissen, wo Sie am Donnerstag von acht Uhr fünfzehn bis acht Uhr dreißig waren.« Heribert überlegte. »Ich war in der Schule.« »Wann begann Ihr Unterricht?« »Mein Unterricht begann zur zweiten Stunde, etwa acht Uhr vier zig. Ich glaube, ich war etwas früher da. Ich hatte zuerst die 10 R 3. ›Rätesystem in der Novemberrevolution‹ war das Stundenthema.« »Könnten Sie uns kurz schildern, wie Sie zur Schule fahren und welchen Wagen Sie am Donnerstag benutzt haben?« »Ich fahre einen roten Passat und benutze immer den direkten Weg. Das habe ich auch am Donnerstag gemacht.« Krüger schaute ihn forschend an. »Haben Sie auf dem Weg zur Arbeit irgend etwas Auffälliges bemerkt?« Heribert tat so, als ob er nachdachte. Bloß jetzt keine glatten Antworten, die wie einstudiert wirken konnten. Das schien wirklich nur eine Routinebefragung zu sein. »Nein, wirklich, ich kann mich an nichts erinnern. Alles war wie 113
sonst.« »Sie haben keinen schwarzen Saab 900 bemerkt oder einen Unfall gesehen?« »Nein«, stellte Heribert fest und schüttelte scheinbar nachdenk lich den Kopf. »Der Unfall – Sie wissen, es handelt sich vermutlich um den Fluchtwagen des Bankräubers – hat sich etwa gegen acht Uhr drei ßig ereignet. Vielleicht auch etwas früher, denn wir wurden um acht Uhr achtunddreißig von einem Fahrer benachrichtigt. Es wäre also genau die Zeit, in der Sie vorbeigekommen sein müßten.« »Ich habe ihn aber nicht gesehen, wirklich nicht.« Heribert fühlte, wie er leicht zu schwitzen begann. Harry Krüger lächelte etwas dünn. »Sie sind sicher, daß Sie Ihren Unterricht pünktlich begonnen haben? Immerhin, leichte Verspä tungen kommen doch vor.« »Nein«, stellte Heribert entschiedener fest, als es seine Absicht war, »ich war pünktlich.« »Das können Ihre Schüler auch bestätigen?« »Sicher, natürlich, wissen Sie, es kommt schon mal vor, daß man im Lehrerzimmer noch etwas länger mit einem Kollegen redet und nicht ganz hundertprozentig pünktlich ist. Also um ein, zwei Mi nuten könnte ich mich schon verspätet haben. Mehr aber nicht.« »Sie haben sich also mit einem Kollegen kurz vor Unterrichts beginn noch unterhalten. Wissen Sie noch, mit wem?« Harry Krüger schaute ihn freundlich an. Heribert griff nach seiner Tasse und nahm einen Schluck. Was wollte der von ihm? Dann lehnte er sich zurück und meinte leichthin: »Ich weiß nicht, ob ich mich unterhalten habe und mit wem. Mein Gott, man merkt sich doch nicht alles so genau. Mehr kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Und wissen Sie, im Augenblick«, er beugte sich vor und verlieh seiner Stimme etwas wie Heftigkeit, »sitze ich hier in meiner verwüsteten Wohnung. Hier ist eingebrochen wor 114
den, wir haben nicht geschlafen – also, ich bin ein bißchen fertig, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und an das, was ich am Don nerstag um acht Uhr vierzig oder einundvierzig getan habe, kann ich mich nicht besonders gut erinnern. Wirklich nicht. Ich kann Ihnen jedenfalls keine Hinweise geben, die Ihnen helfen. Ich habe den Unfall nicht gesehen, weder die Geisel noch den Bankräuber noch den Saab.« Fast wäre er aufgestanden, doch das hätte wie ein Rausschmiß ausgesehen, und verärgern durfte man die beiden auf keinen Fall. Krüger blickte weiterhin freundlich, aber sein Gesicht wirkte kon zentriert. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, hier ist meine Telefon nummer.« Dann erhob er sich. »Danke für den Kaffee.« Er ging mit Wolters zur Tür. Erleichtert folgte Heribert ihnen und wollte schon die Haustür öffnen. »Ach«, Krüger verhielt einen Augenblick, »Ihre Frau sprach da von, daß Sie bedroht werden. Ihre Reifen wurden durchstochen, Ihr Haus systematisch durchsucht. Sie haben keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?« »Das hat mich Ihr Kollege auch schon gefragt. Ich zermartere mir den ganzen Tag schon den Kopf. Aber ehrlich, ich weiß es nicht.« Krüger gab ihm die Hand. »Danke für den Kaffee, und wenn Sie etwas wissen oder sich erinnern …« »… wende ich mich an Sie«, brachte Heribert den angefangenen Satz zu Ende. Die beiden Beamten stiegen in ihren Wagen, und Heribert blickte ihnen nach. War es wirklich nur eine Routinebefragung gewesen? Elisabeth trat hinter ihn und legte die Hand auf seine Schulter. »Komm«, sagte sie warm, »machen wir weiter.« Er fühlte den leichten Druck ihres Armes, fühlte die Wärme und spürte ein unerklärliches und lange nicht mehr erlebtes Gefühl von Zuneigung aus seinem Herzen aufsteigen. Elisabeth, vielleicht war sie doch nicht so schlecht, vielleicht konnte man es ja noch einmal 115
probieren. Sollte er ihr alles erzählen? Er schwankte innerlich und folgte Elisabeth in die Küche, wo ihr Blick auf die noch angestellte Kaffeemaschine fiel. Sie drehte sich um. »Kannst du vielleicht einmal die Maschine abstellen, wenn du sie benutzt hast? Uns sind schon zwei durchgebrannt. Und wir finden unser Geld auch nicht auf der Straße. Halt dich doch endlich mal an Verabredungen!« Sie sprach nicht laut, aber mit nachdrücklicher Schärfe. Der Anlaß war lächerlich, dachte Heribert, aber wir sind beide erschöpft. Er schwieg und schaltete demonstrativ die Ma schine ab. Sein warmes Gefühl jedoch war verschwunden, und mit Erstau nen registrierte er, daß er es überhaupt hatte empfinden können. Elisabeth war wirklich die letzte, die er einweihen würde. »Ich kaufe etwas zu essen«, stellte Elisabeth fest. »Hast du ir gendwelche Ideen?« Heribert schüttelte nur den Kopf. »Na ja, dann kaufe ich einfach irgend etwas.« Sie ging aus dem Haus zu ihrem Golf. Das Klingeln des Telefons hörte sie schon nicht mehr. Heribert nahm jedoch gleich ab. Er hätte sich gewundert, wenn es nicht die Stimme gewesen wäre, die ihn seit Tagen verfolgte. »Na, schön am aufräumen?« »Warum haben Sie das gemacht?« »Na, mal schauen, was du so alles im Hause hast. Haste denn wenigstens bei der Versicherung ordentlich abgezockt? Oder machst du so etwas nicht? Wer stiehlt, der betrügt doch auch und bringt Menschen um.« »Halten Sie doch die Klappe, sagen Sie, was Sie wollen.« »Das weißt du doch schon: das Geld, alles. Und zwar bald.« Heriberts Stimme klang fest: »Sie spinnen. Und wenn Sie glauben, mich mit Ihren Anrufen einschüchtern zu können oder mit Ihren 116
Überfällen, dann täuschen Sie sich. Sagen Sie, wer Sie sind, was Sie wollen, und wir können vielleicht über manches reden. Ich kann Ihnen aber gleich sagen, wenn Sie mich weiter so belästigen, ver ständige ich die Polizei. Um es ganz klar zu machen: Wenn Sie etwas gesehen hätten, wenn, betone ich, dann hätten Sie wohl gleich zur Polizei gehen müssen. Man wird Sie fragen, warum Sie das nicht getan haben. Und vor Verrückten oder Verbrechern kann mich die Polizei sicherlich schützen.« Der andere stockte und schwieg einige Sekunden. »Du fühlst dich wohl sehr sicher, was?« Heribert verspürte ein Gefühl tiefer Befriedigung. Zum erstenmal zeigte der andere Nerven. »Auch wenn du mich umbringst«, seine Stimme klang klar durch den Apparat, »an das Geld kommst du so nicht. Und das ganze Geld erhältst du nie. Und wenn du auch meine Frau entführst und mein Auto zu Schrott fährst – auf diese Weise kriegst du von mir keine müde Mark. Keine Zechine. Null. Mach einen vernünftigen Vorschlag, vielleicht können wir reden. Überleg's dir mal. Bis dann.« Und mit spitzem Finger drückte er auf die Auflegetaste des Tele fons. Er blieb noch etwas stehen, erwartete halb und halb einen Anruf, aber dieser blieb aus. Vielleicht hatte er den Anrufer durch seine coole Art tatsächlich beeindruckt, vielleicht dachte dieser end lich nach. Ein siegreiches Lächeln spielte um Susannes Lippen, als sie erneut vor der Wohnung Bechers in der Podbielskistraße standen. Vor ei ner halben Stunde hatte sie das Büro von Obermüller mit dem stol zen Gefühl, endlich einen wichtigen Schritt weitergekommen zu sein, verlassen. Obermüller hatte gratuliert und ihr sogar zum Schluß pathetisch die Hand gereicht und ehrfurchtsvoll gesagt: »Frau Breugel, das Land Niedersachsen dankt Ihnen.« Doch hinter 117
dieser übertriebenen Hochachtung steckte, das wußte sie, echte Wertschätzung und Anerkennung. Der Haftrichter hatte einen Haftbefehl ausgestellt, und alle Polizeidienststellen erhielten in die sen Minuten einen Fahndungsauftrag. Der Durchsuchungsbefehl für Bechers Wohnung war unterzeichnet und sollte von ihr jetzt ausgeführt werden. Susanne drückte den Klingelknopf. Nichts bewegte sich. Eine Nachbarin kam mit einer Einkaufstasche die Treppe herunter und schaute neugierig zu. Susanne erkannte sie als Frau Meiering. »Waren Sie nicht schon einmal da? Herr Becher ist nicht zu Hau se, er ist im Urlaub«, erklärte die Frau. »Aber ich habe ihm noch von Ihrem Besuch erzählt. Er wollte sich bei Ihnen melden.« »Wann haben Sie ihn gesehen?« »Gestern nachmittag ist er gefahren. Aber er wollte noch bei Ihnen vorbeikommen. Was das so richtig?« Susanne nickte und bat die Frau dann freundlich, aber bestimmt, weiterzugehen. »Ist etwas?« Susanne schüttelte den Kopf. »Wir wollen nur Herrn Becher be suchen. Ist schon gut.« Frau Meiering nahm ihre Tasche wieder auf und ging weiter nach unten. Als sie hörten, daß die Eingangstür geöffnet und hinter ihr ins Schloß gefallen war, gab Susanne den Befehl zum Aufbrechen der Tür. Es war eine der leichten Türen aus den fünfziger Jahren, und sie gab sofort nach, als sich Wahlmeyer, ein bulliger Beamter, mit seiner ganzen Masse dagegenwarf. Mit gezogenen Pistolen drangen vier ihrer Leute ein, sicherten den Eingang ab. Vorsichtig, einander Deckung gebend untersuch ten sie einen Raum nach dem anderen. Doch das Ergebnis stand schnell fest: Peter Becher war nicht mehr da. Allerdings gab es Hin weise, daß er bis kurz zuvor noch die Wohnung benutzt haben mußte. Die Reste eines Mittagessens standen unabgewaschen im 118
Spülbecken, sie hatten noch keinen Schimmel angesetzt. Das Bett war nicht gemacht, ein Kleiderschrank stand offen, etliche Klei dungsstücke schienen zu fehlen. »Dann man los, Jungs«, ordnete Susanne an. Vielleicht fanden sich ja noch Spuren, die nähere Hinweise auf die Tatbeteiligung Bechers oder Hinweise auf seinen jetzigen Aufenthaltsort geben konnten. Mit Routine wurden die Schubladen und Schränke ent leert. Dennoch war das Ergebnis dürftig. Alte Fotos, Briefe von Freundinnen, ein Facharbeiterbrief, die Kopie eines Abgangszeug nisses der Polytechnischen Oberschule Halberstadt. Mehr nicht. Keine Geldscheine, geschweige denn die Millionen, keine Unterla gen, die auf die Planung eines Bankraubes hinwiesen. Es war eine ganz normale, mittelmäßig aufgeräumte Wohnung. Etwas ungemüt lich, bei der Kücheneinrichtung paßte kaum ein Teil zum anderen, und die Sitzgruppe im Wohnzimmer entstammte offensichtlich dem Standardsortiment eines preiswerten Möbelhauses. Dies allerdings war kein Verbrechen, was Susanne insgeheim bedauerte. Immerhin – endlich besaßen sie ein Foto. Es war wohl schon zwei oder drei Jahre alt, ließ sich aber zur Not zur Fahndung verwenden. Die Spurensicherung nahm noch eine Reihe von Fingerabdrücken, um sie später mit den gefundenen Fingerabdrücken in dem Saab ver gleichen zu können. Da Becher möglicherweise noch einmal in seine Wohnung zu rückkam, ordnete Susanne zwei Beamte ab, die hier auf ihn warten sollten. Dann fuhr sie zurück. Bereits nach einer halben Stunde er reichte sie die Nachricht von der Auswertung der Fingerabdrücke: Peter Bechers Fingerabdrücke waren auch im Saab gefunden wor den, und zwar sowohl auf der Fahrer- als auch auf der Beifahrersei te. Sogar am Lenkrad konnten sie nachgewiesen werden. All das war zwar noch kein schlüssiger Beweis, allerdings zogen sich die Ver dachtsmomente nun immer stärker wie ein Netz zusammen. Und war die Fahndung erst einmal angelaufen, war der Erfolg erfah 119
rungsgemäß nur eine Frage der Zeit. Obermüller übernahm es noch, die Polizeibehörden in SachsenAnhalt zu informieren, und bat Susanne dann, ihn in die nachmit tägliche Pressekonferenz zu begleiten. Diesmal folgte sie ihm gern. Auf die Fragen nach dem möglichen Mörder hatte sie klare Ant worten, wenngleich sie vorsichtig formulierte: »Wir vermuten, ich möchte betonen, wir vermuten, daß Fabian Hillgruber und Peter Becher gemeinsame Sache gemacht haben. Nach dem Unfall, ei nem, wie wir meinen, zufälligen Unfall, könnte Becher den hilflo sen Hillgruber als möglichen Mitwisser und potentielles Risiko ge tötet haben. Über den Verbleib des Geldes können wir noch nichts Genaueres mitteilen, wir müssen hier den Erfolg der Fahndung ab warten.« Danach hatte Obermüller ihr noch einmal für den raschen Erfolg der Ermittlungen gedankt. Es war schon toll, einen Vor gesetzten wie ihn zu haben, der bereitwillig ihre Leistungen heraus stellte und sie bei Mißerfolgen deckte. Andere machten es genau umgekehrt.
11. KAPITEL
D
er Nachmittag war herangebrochen, und Heribert und Elisa beth hatten das Schlimmste hinter sich. Alles sah notdürftig wiederhergestellt aus, zwar blieb die Stereoanlage stumm, die Sitz kissen der Polstermöbel zeigten mitleidheischend ihr Inneres, doch wenigstens war jetzt ihr Zuhause wieder bewohnbar. Auch die Ver sicherung hatte sich überraschend schnell gemeldet und eine un bürokratische Regulierung des Schadens zugesagt, so freundlich 120
und so zuvorkommend, daß Heribert im nachhinein auch noch ein etwas schlechtes Gewissen bekam, weil er den Schaden zu hoch an gegeben hatte. Es war schon gut, in einer speziellen Lehrerversiche rung zu sein, die zudem noch mit sehr geringen Beiträgen aufwar tet. Zu tun gab es eigentlich nichts mehr. Apathisch saßen die bei den im Wohnzimmer, etwas abwesend blätterte Elisabeth in einer Zeitung. »Hast du Lust zu segeln?« fragte Heribert. »Du mit deinem Segeln«, erwiderte Elisabeth und legte ihre Zei tung nieder. »Geh doch alleine, wenn du nicht ohne auskommen kannst.« »Ich hab' ja nur gefragt, hier rumsitzen ist doch auch blöd.« Elisabeth hob nur kurz den Kopf. »Ich hab' ja auch nur geant wortet.« Heribert verkniff sich eine Bemerkung. Was sollte es denn auch schon? Kaputt waren sie beide, vielleicht würde es sich in den nächsten Tagen geben. Manchmal konnte Elisabeth ja auch recht nett sein. Andererseits, gerade durch die Zurückweisung hatte er besonders Lust zum Se geln bekommen, und das abweisende Verhalten von Elisabeth konn te er auch nicht mehr ertragen. Er stand auf. Sollte er seinen Ab gang als Provokation gestalten? (»Dann eben nicht!« plus anschließ endes Türeknallen?) Einen Augenblick zögerte er, dann entschloß er sich zum verbindlichen Abgang, verabschiedete sich freundlich, stieg in seinen Passat und fuhr Richtung Mardorf. Allerdings machte Segeln allein wirklich keinen so fürchterlich großen Spaß. Sollte er die junge Frau vom Freitag anrufen? Einen Augenblick schwankte er. Nein, das war wohl doch zu kurzfristig, auch war er nicht in der rechten Stimmung, heute weiter mit ihr anzubändeln. Das wollte sorgfältig vorbereitet sein. Claudia? Sie hatte eigentlich Dienst. Trotzdem bremste er an ei ner Telefonzelle, stieg aus und wählte ihre Privatnummer. Irgendwie 121
war er nicht einmal verwundert, als sie sich meldete. Ihre Stimme klang überrascht, dann auf einmal froh. »Ich finde es toll, daß du anrufst. Du, es hat mir so leid getan, mein Verhalten letztens. Ich war einfach dumm. Entschuldige. Ja?« »Macht nichts. Ich glaube, ich habe mich auch nicht ganz richtig benommen«, Heribert lächelte vor sich hin. Seine Stimme klang warm. »Wie kommt es, daß du schon zu Hause bist?« »Ach, weißt du, Dr. Brüggemann, der neue Assistenzarzt, hatte am Wochenende mit seiner Verlobten einen schweren Autounfall – da hat Dr. Berger dann die Praxis geschlossen und ist zu ihm ins Krankenhaus gefahren. Na ja, und wir haben frei. Ich wollte dich auch schon anrufen.« Dr. Brüggemann ist jetzt wohl nicht mehr zur Hand, kam es Heribert in den Sinn, aber noch bevor er sich darüber ärgern konnte und wollte, fragte Claudia schon: »Sag mal, hast du Lust zu segeln? Ich würde dich unheimlich gerne sehen. Oder komm doch einfach zu mir in die Wohnung. Wir können uns aber auch in Mar dorf treffen. Ja?« Sie schwieg, und in ihrem Schweigen lag das Ver sprechen von Zärtlichkeit. Heribert fühlte, wie der Anflug von Ärger gleich verschwand. »Ach, Claudia«, er lächelte. »Ich bin schon bei dir. Ich komme.« Er hörte noch, wie Claudia einen Kuß durchs Telefon hauchte, dann legte er auf. Wenige Minuten später war er da. Das Summen des Türöffners hätte er unter Tausenden erkannt, aber diesmal kam Claudia sogar die Treppe herunter, um ihm selbst aufzumachen. Sie umarmte ihn mit Heftigkeit und biß ihn vorsichtig ins Ohrläppchen. »Ich hab' mich so auf dich gefreut«, flüsterte sie. »Komm hoch.« Dann ging sie voran in ihre Wohnung. Sie sieht wunderbar aus, dachte Heribert, als er ihr folgte. Sie ist einfach toll. Claudia trug enge Jeans und ein T-Shirt, unter dem sich ihre 122
Brüste wunderschön abzeichneten. Heribert setzte sich auf seinen Lieblingsplatz, einen alten Plüschsessel, und Claudia kuschelte sich an ihn. »Möchtest du ein Glas Sekt?« fragte sie. Ohne eine Antwort ab zuwarten, glitt sie von der Lehne des Sessels und kam mit zwei Glä sern und einer kühlen Flasche Mumm. »Aufmachen mußt du.« Sie reichte ihm die Flasche und kauerte sich zu seinen Füßen hin. He ribert stand auf und löste den Drahtverschluß. Der Sekt war kalt, und der Korken knallte nicht, sondern schob sich langsam aus der Flasche. Heribert schenkte ein und wartete, bis sich der Schaum ge setzt hatte. Dann goß er nach und rutschte neben Claudia auf den Teppich boden. »Auf einen schönen Tag«, sagte er leise und stieß mit ihr an. Claudia nahm einen Schluck und rückte näher an ihn heran. Der Sekt war angenehm kühl, doch sie nahm ihm sein Glas ab und stellte es vorsichtig auf den Boden. Überdeutlich spürte er ihre Nähe, und wortlos nahm er sie in die Arme und küßte sie. Sie lagen erschöpft nebeneinander. Claudia hatte ihren Kopf in seine Armbeuge gelegt und döste. Auch Heribert fühlte sich leicht benommen. Langsam spürte er, daß er wieder auf die Erde kam. Claudia, das war der Himmel. Ein wunderbarer Himmel, manchmal strahlend, fast weich, dann aber auch stürmisch und mit sich jagen den Wolken. Stürmisch und warm, in solchen Augenblicken wußte er, warum er Claudia liebte. Er wandte den Kopf nur etwas, um sie nicht zu stören, und erhaschte einen kurzen unscharfen Blick auf ihr schönes schwarzes Haar, die fein geschwungene Nase, die wei chen Augenlider. Claudia räkelte sich genießerisch. Dann öffnete sie die Augen und blickte ihn an. »Gib mir noch ein Glas. Bitte.« Heribert setzte sich auf und angelte die Sektflasche. 123
Noch immer war der Sekt angenehm kalt und perlte schön in dem Glas. Auf einmal richtete sich Claudia auf und zog die Beine an. »Heribert«, sie schaute ihn ernst an. »Wir kennen uns so lange, liebst du mich?« Heribert war auch ernst geworden. Das war keine Frage, die man mit »Ja, natürlich, Schatz« leichthin beantworten konnte. Claudia blickte ihn noch immer an. Und mit einemmal fühlte er die Freude der letzten halben Stunde Wiederaufleben, fühlte noch einmal ihren herrlichen Körper, fühlte das, was er so erträumt hatte. Und eine Welle von Liebe stieg in ihm auf. »Claudia, ich liebe dich«, flüsterte er. »Ganz einfach so.« Claudia schloß die Augen und lächelte selig. »Wir wollen zusam men leben, alle Sorgen teilen, für unsere Kinder sorgen, wollen wir das?« Und Heribert schluckte und sagte leise ja. »Ich verlange so viel von dir. Aber ich würde so gerne mit dir Zu sammensein. Immer. So wie jetzt. Aber ich möchte auch nicht, daß es dir schlechtgeht. Daß du bei einer Scheidung arm wirst. Ich will nicht, daß es dir schlechtgeht.« Und sie schaute zu Boden. Heribert faßte sie an den Schultern, und sie blickte ihn wieder an. »Wir bleiben zusammen, ich sag' Elisabeth, daß wir zusammen bleiben.« Wortlos drückte sich Claudia an ihn. »Du bist so gut. Ich liebe dich.« So kommt es, dachte Heribert. Du ärgerst dich über Elisa beth, willst segeln fahren, und ein Stunde später hast du ein neues Leben angefangen. Manche Leute gehen Zigaretten holen und kom men niemals wieder. »Wir sind reich«, sagte er plötzlich, »wir sind bis ans Ende unserer Tage reich.« Nur einen Augenblick später schoß es ihm durch den Kopf: War es geschickt gewesen, das zu sagen? Aber es war gesagt. Außerdem, zu zweit trug es sich leichter. Und sie wollten doch sowieso zusam 124
menbleiben. Claudia schaute ihn träumerisch an. »Weil wir uns haben, des wegen sind wir auch reich. Wir brauchen kein Geld.« »Doch, Claudia, wir haben viel Geld, ganz viel Geld. Wir werden niemals Mangel haben. Wir können segeln, wegfahren, wohin wir wollen. Wohin der Wind uns treibt.« Claudia schloß die Augen und lehnte sich sanft an ihn. »Erzäh le«, murmelte sie leise. Und Heribert berichtete. Erst zögernd, manchmal suchte er nach Worten, schließlich sprudelte es förmlich aus ihm heraus. Endlich, nach so vielen Tagen des Schweigens einfach nur reden. Reden, darüber, was sein Herz bewegte. So müssen sich Verbrecher beim Geständnis fühlen, dachte er. Erleichtert, endlich alles los zu sein. Claudia hörte aufmerksam zu. Hin und wieder unterbrach sie ihn mit einer Zwischenfrage, sonst aber blieb sie still. Als Heribert geendet hatte, schwieg sie noch eine Weile. »Wer ist der Mann, der dich gesehen hat und anruft?« fragte sie schließlich. »Ich weiß es nicht«, Heribert rieb etwas die Hände aneinander. »Ich weiß es wirklich nicht. Ein Bauer? Ein Spaziergänger?« Claudia schüttelte den Kopf. »Wie du sagst, es konnte dich nur einer sehen, der sich im Wäldchen versteckt gehalten hat. Keiner, der einen Unfall sieht, würde sich so verhalten. Jeder geht hin, ver sucht zu helfen, genauso wie du. Und keiner würde nur beobach ten, wie einer Hilfe leistet. Dazu sind die Leute auch zu neugierig. Egal, ob sie helfen wollen oder nicht, zumindest wollen sie alles aus nächster Nähe sehen. Und dann tun sie wenigstens so, als ob, und haben noch ein gutes Gewissen dabei. Nein, das muß noch etwas anderes sein.« Sie zog die Stirn kraus und schien zu überlegen. Dann, nach ei ner Weile, meinte sie zögernd: »Wie wäre es, wenn dein Unbekann 125
ter nicht zufällig im Wäldchen war?« »Du meinst, er hätte sich versteckt, auf den Unfall gewartet? Glaube ich nicht. Keiner wartet darauf, daß irgendein Idiot einen Unfall baut. Und dazu noch direkt vor seinen Augen.« Claudia schien nur halb zuzuhören. »Dieser Hillgruber, von dem die Zeitungen berichten, war doch eine Geisel. Er war doch noch nicht freigelassen. Er ist völlig übermüdet, baut einen Unfall, ist schwerverletzt. Der Geiselnehmer angeschnallt, er kommt mit dem Schrecken davon. Der Wagen Schrott. Der Gangster hat Angst. Erst mal weg. Jetzt kommt noch ein Auto. Am besten erst einmal ver stecken. Ja, und dann findest du das Geld. Der merkt sich deine Nummer, findet irgendwie heraus, wo du wohnst, wer du bist, und setzt dich unter Druck. Klar, daß der nicht zur Polizei geht. Aber das macht ihn immer noch gefährlich. Ich glaube, der hat auch den Hillgruber umgebracht. Das ist ein Mörder. Paß bloß auf. Sei vor sichtig.« »Wie kommst du darauf?« »Der Hillgruber hat ihn gesehen, er weiß, wie er aussieht, er ist der einzige, der ihn kennt. Wenn er den freiläßt, dann ist das ein hohes Risiko. Ich glaube, der war schon tot, als er in das Flucht auto stieg.« Heribert hatte bewundernd zugehört. Die logische Analyse von Claudia imponierte ihm. Es war doch gut, daß er jemanden zum Reden hatte. Und nicht nur zum Reden, wie er dachte. »Das könn te so gewesen sein«, stimmte er ihr zu. »Aber was machen wir?« »Das Geld wirst du ja wohl nicht zurückgeben wollen?« »Nein«, stellte Heribert entschieden fest, »das behalten wir.« Claudia nickte. »Für immer.« Sie schwiegen, und jeder hing seinen Gedanken nach. Unvermit telt meinte Claudia: »Stell dir vor, was wir mit dem Geld machen können: Urlaub, Segeln, ein schönes Haus, Kinder, ich brauche nicht mehr zu arbeiten, du kannst was anderes machen. Endlich 126
frei sein. Es wird wunderschön.« Heribert schaute versonnen vor sich hin. Sein Blick glitt aus dem Fenster, hinauf in den Himmel, der langsam in sein frühabend liches Rotgelb überging. Er dachte an das Wort Freiheit. Ein Wer bespruch fiel ihm ein: ›Lotto – die Chance zu gehen.‹ Das war ihre Chance, für sie beide. Er war froh, sich Claudia anvertraut zu haben, und atmete tief ein. »Was hast du?« fragte Claudia. Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich freue mich nur.« »Was machen wir mit diesem Anrufer?« Claudia hatte einen Sinn fürs Praktische. »Wenn er wirklich der Täter ist, wie wir vermuten, dann will er das Geld – und zwar alles. Und er schreckt auch vor einem Mord nicht zurück. Ich glaube, der ist imstande und bringt uns aus purer Rache um, wenn er nicht an das Geld kommt.« »Und wenn wir das Geld mit ihm teilen? Immerhin, eineinhalb Millionen sind auch schon viel. Vielleicht läßt er uns dann in Ruhe.« Claudia widersprach heftig: »Ich glaube nicht. Und soviel sind eineinhalb Millionen nun auch wieder nicht. Schau mal: Ein Schiff, so vier- bis fünfhunderttausend kostet das auch, und dann hast du nicht einmal was ganz Besonderes. Ein Haus. Wenn es was Ver nünftiges sein soll, dann bist du auch schon bei siebenhunderttau send. Dann ist das Geld auch fast schon weg. Groß leben kannst du dann nicht mehr davon. Und das weiß der andere auch. Der läßt uns nicht mehr in Ruhe. Bestimmt nicht.« »Trotzdem, man müßte sehen, was er will. Vielleicht findet sich ein Ausweg.« Claudia widersprach nicht, aber Heribert merkte ihr an, daß sie seine Ansicht nicht teilte. Die Schlagzeile der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung sprang 127
ihm bereits beim ersten Blick während des Frühstücks ins Gesicht: Bankraub vor der Aufklärung. Polizei leitet Fahndung nach Verdächtigem ein. Allerdings las Elisabeth den entsprechenden Teil, und so konn te er nur die Überschrift entziffern. Er bemerkte, wie sein Puls schneller wurde, zwang sich aber zur Ruhe. Elisabeth mußte heute zur ersten Stunde und würde gleich fortfahren. Er hingegen hatte etwas mehr Zeit. »Möchtest du noch ein Bröt chen?« fragte er, aber Elisabeth verneinte nur kurz und legte die Zeitung unordentlich auf den Küchentisch. Sie stand auf und schlang die Reste eines Toastbrotes hinunter, ein Schluck Kaffee folgte, dann murmelte sie undeutlich eine Verabschiedung und ver ließ eilig den Raum. Er hörte die Haustür ins Schloß fallen, setzte seine Tasse ab, griff nach der Zeitung und überflog hastig den Bericht. Von dem roten Passat stand nichts weiter in der Zeitung, doch um so mehr von dem möglichen Täter. Sogar der Name des Verdächtigen war ge nannt: Peter Becher. Den Namen würde er sich für das nächste Telefonat merken müssen. Falls es noch zu einem weiteren Telefo nat kommt und sie ihn nicht schon vorher schnappen, dachte er hämisch und bestrich sein Brötchen dick mit Marmelade. Kauend las er den Artikel noch einmal genauer. Auch die weiteren Informationen waren noch von Interesse. Ob wohl es ihn schon fast nicht mehr verwunderte, wie nahe ihre gest rige Vermutungen der Wirklichkeit gewesen waren, war er doch sehr überrascht, daß Becher allem Anschein nach mit Fabian Hillgruber gemeinsame Sache gemacht hatte. Das natürlich erklärte, warum Fa bian Hillgruber hatte sterben müssen. Er hatte sterben müssen, weil er der einzige war, der Becher identifizieren konnte. Er war hilflos, verletzt, konnte nicht fliehen, war unnützer Ballast geworden. Aber seinen Freund so kaltblütig zu erdrosseln, dazu gehört dann doch eine Brutalität, die nicht alltäglich war. Becher war gefährlich. 128
Die Marmelade schmeckte auf einmal weniger süß und das Bröt chen pappig. Plötzlich war er sich keineswegs mehr so sicher, ob er sich tatsächlich über den raschen Fahndungserfolg der Polizei freu en sollte. Was war, wenn sie Becher tatsächlich schnappten? Natürlich wür de er auspacken. Die Polizei würde nachforschen. Und die beiden Beamten vom Montag hatten auch schon so merkwürdig gefragt. Vielleicht fanden sich auch noch seine Fingerabdrücke auf dem Saab, weiß der Himmel, was er überall angefaßt hatte. Und wenn sie ihm auch nichts beweisen konnten – sorglos und ohne Beo bachtung konnte er sein Geld sicher nicht mehr ausgeben. Nein, wenn sie Becher nicht gerade auf der Flucht erschossen – was leider nur selten vorkam –, würde er sicherlich reden. Andererseits: Wenn sie ihn nicht sofort fanden, was dann? Becher hatte nichts mehr zu verlieren. Er brauchte Geld und mußte flie hen, am besten ins Ausland. Und er würde wahrscheinlich nicht lange fackeln. Wenn er gar nicht zahlte, dann konnte es für ihn ge fährlich werden. Dieser Becher war imstande, ihn aus bloßer Rache umzulegen. Vielleicht aber würde er einer Teilung der Beute eher zustimmen. Wie sollte er teilen? Fifty-fifty? Oder war Becher viel leicht auch mit einer Million zufrieden? Man würde sehen. Heribert schaute auf seine Armbanduhr. Viertel nach acht. So langsam mußte er sich fertig machen. Die Schule rief. Wie fast immer, wenn er mit seinen Gedanken woanders war, war sein Unterricht nur mittelmäßig. Die achte Klasse, die er gerade mit Wilhelm Teil langweilte, ja langweilte, das war das richtige Wort, wie er sich zornig eingestand, hatte wieder einmal Schwierigkeiten mit dem Schillerschen Blankvers. Abgesehen von Ines, die aber so wieso alles konnte, und zur Not noch Katarina, war bereits das Le sen der Apfelszene eine Qual. Und soviel Dummheit geht aufs 129
Gymnasium, dachte er bei sich, als Jens zum wiederholten Male stockte. Dennoch verzog Heribert keine Miene, und mit freund licher Stimme deklamierte er die entsprechende Passage und gab Jens erneut das Wort. Er nickte nachsichtig, als es etwas besser klang. Doch als auch Florian die Worte Geßlers stockend heraus brachte und die Schärfe und Eleganz der Schillerschen Verse voll ends unkenntlich waren, platzte ihm der Kragen: »Florian, hast du zu Hause geübt?« Ein verlegenes Schweigen war die Antwort. »Na, wird's bald?« Florian zuckte mit den Schultern, dann meinte er ohne Anzei chen von Schuldbewußtsein: »Wir hatten gestern in Mathe so viel auf. Außerdem war schönes Wetter.« Und im Chor fielen die anderen ein: »Herr Mehrtens, Sie geben immer so viel auf. Viel zuviel. Wir haben auch sonst noch was zu tun.« Das mit den vielen Hausaufgaben stimmte nun wirklich nicht, im Gegenteil, Heribert hatte in letzter Zeit ausgesprochen wenig aufge geben, dies allerdings auch nicht kontrolliert, was vermutlich ein Fehler gewesen war. Mit ihm sonst nicht eigener Schärfe stellte er dies auch klar. Flo rian schien innerlich zu grinsen, hatte man doch diese Rede bereits des öfteren vernommen. Und da die Klasse ohnehin nur siebzehn Schüler zählte (schwache zumal) und der Gymnasialzweig der Schule um die Existenz kämpfte – das benachbarte Gymnasium hatte ent schieden mehr Zulauf –, konnte er auch ziemlich sicher sein, daß seine Versetzung nicht gefährdet war, gleichgültig, wie gut oder wie schlecht er Tells Apfelschuß nun deklamieren konnte. Auf einmal bemerkte Heribert, daß sich die Kaumuskeln von Ro bin, Florians Nachbarn, rhythmisch bewegten. Sollte er etwa? »Robin, kaust du Kaugummi?« Robin nickte. 130
»Ausspucken!« Mit demonstrativer Lässigkeit erhob sich Robin und trottete zum Papierkorb. So langsam begann sich die Lernatmosphäre in der Klasse vollends aufzulösen. Sylvia kicherte schon und schrieb einen Zettel an Melanie. »Nun reicht's aber!« Heribert, sonst eher ein Freund leiser Töne, schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sylvia, faß mal bitte den Inhalt der Szene zusammen.« Sylvia stockte und blickte Melanie hilfesuchend an. Die kann dir jetzt auch nicht helfen, dachte Heribert hämisch. Die kommt auch gleich dran. »Sylvia, ich höre.« Sylvia setzte an, schwieg dann aber. »Hast du die Szene gelesen?« Sylvia schüttelte stumm den Kopf. »Danke, das reicht. Sechs. Melanie.« Melanie stotterte etwas Unverständliches. »Melanie, das war sechs. Ich gebe euch noch zehn Minuten Zeit, dann kann jeder eine Stelle von zwei Seiten fehlerlos lesen. Mit Be tonung«, fügte er noch hinzu. Dieser Bande mußte man es doch wohl beibringen können. Während sich alle über ihren Text beugten und ihn flüsternd me morierten, blickte er durch die Fensterfront auf die weite Ebene mit ihren kleinen Wäldchen und Gräben, die sich fern am Horizont in den dunstigen Höhenzügen des nahen Deisters verlor. Kurz kam ihm zu Bewußtsein, daß diese Schüler wohl an Teil eine ähnlich negative Erinnerung behalten würden wie viele Gene rationen von Schülern vor ihnen, aber sein Blick glitt immer wieder nach draußen. Schön war es, und der Tag würde wieder heiß wer den. Der Rest der Stunde verlief in frostiger Arbeitsatmosphäre, bis das Klingeln zur Pause Schüler und Lehrer erlöste. 131
Das Lehrerzimmer war in dieser ersten Pause gut besetzt, der größte Teil des Kollegiums befand sich in der Schule. Heribert ließ sich auf seinem Stammplatz nieder. Wie alle seine Kollegen hatte auch er einen Platz, der ihm gewissermaßen ›gehörte‹. Selten tauschten Kollegen ihre Plätze, die sie zum Teil schon seit den siebziger Jahren innehatten. Damals waren sie noch alle jung gewesen. Ein Plakat der GEW – der Lehrergewerkschaft – hing seit zwei Jahren an derselben Stelle. Einige mumienhafte Lehrerinnen scharten sich um einen älteren Kollegen. Unser Jüngster wird fünfzig, stand da. Obwohl sich alle kannten, zum Teil auch zu gut kann ten – damals waren sie ja noch jünger gewesen, wie Heribert sich gut erinnerte –, war die Stimmung nicht eigentlich schlecht. Locke re Gespräche, zum Teil über Schüler, den Unterricht und auch Pri vates. Pausen waren Gelegenheit, Dampf abzulassen oder sich Tröstung zu holen. Voller Empörung schilderte er seiner Tischnachbarin Mo nika, einer etwa gleichaltrigen Englischkollegin (Gymnasiallehrerin natürlich), die Unfähigkeit seiner Lerngruppe. Monika nickte zu stimmend. Sie unterrichtete auch in der Klasse und hatte ähnliche Erfahrungen. Dann kramte sie einen Brief aus der Schultasche. Herrn Dr. Hoffmann stand darauf. Heribert stöhnte: »Doch nicht der schon wieder.« Monika nickte spöttisch, aber hinter ihrem Spott blitzte die ganze Verärgerung und Erbitterung des Schuljahres durch. »Doch, genau der.« »Worum geht es jetzt?« »Umschreibung mit to do. Es ist Stoff der sechsten Klasse. Vor zwei Wochen haben wir eine Arbeit geschrieben, Tobias hat mal wieder nichts verstanden. Paßt ja auch nie auf. Neben vielen an deren Fehlern habe ich Tobias eine falsche Umschreibung mit to do als Fehler angestrichen, und damit erhielt er wieder eine Fünf. Jetzt hat Dr. Hoffmann Einspruch eingelegt. Erst hat er behauptet, 132
der Fehler sei gar keiner. Als ich ihm schließlich das Gegenteil nach wies, heißt es jetzt, ich hätte nicht genügend wiederholt. Ich müsse mich auf die Lernvoraussetzungen der unterschiedlichen Orientie rungsstufen einstellen. Die Schüler da abholen, wo sie sind, heißt das wohl. Rechtsanwalt ist angesagt. Mein Briefwechsel mit diesem Menschen füllt schon Bände.« Sie öffnete ihre Mappe und legte den Brief wieder hinein. Heribert pflichtete bei: »Weißt du, da kommen Kinder mit einer Hauptschulempfehlung an die Schule, gehen natürlich gleich aufs Gymnasium, kriegen Schwierigkeiten, und die Eltern machen Druck.« Es war das alte Thema, immer mehr wurden die Lehrer der Schule unter Druck gesetzt, nur wenige trauten sich noch, Zensuren zu ge ben, die den Erwartungen der Eltern strikt zuwiderliefen. Ein Groß teil hatte bereits Erfahrung mit Rechtsanwälten und einige sogar mit Prozessen. »Hast du dich abgesichert?« fragte Heribert noch. Monika nickte. »Klar, das passiert mir nicht noch einmal.« Vor einem Jahr hatte sie nämlich eine Zensur wegen unzureichender Dokumentation der Note verändern müssen, jetzt aber machte sie sich permanent No tizen über die einzelnen Leistungen. »Na ja«, meinte Heribert noch, »im nächsten Jahr haben wir das Problem mit Tobias nicht mehr.« Monika grinste anzüglich. »Glaub' ich auch. Bei dir kriegt er doch auch eine fünf.« Heribert nickte. Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als ein hoch gewachsener Mann Ende Vierzig mit offenem Hemd und ausge fransten Jeans zu ihnen trat. »Hallo«, sagte er kurz und blickte Heribert auffordernd an. Es war der stellvertretende Schulleiter Borchers. »Heribert, ich habe eine Bitte: Michels hatte ja kürzlich einen Autounfall, und er hat die Schach-AG betreut. Die steht jetzt vor einem Wettkampf mit den hannoverschen Gymnasien. Der einzige, 133
der sie noch trainieren könnte, bist du. Ist nicht viel Arbeit. Und du spielst doch hervorragend. Kannst du?« Heribert winkte ab. »Im Augenblick geht es ausgesprochen schlecht. Du, ich habe unheimlich viel zu tun. Ehrlich.« Borchers blieb ruhig und zuvorkommend. »Du, ich sehe das auch. Aber wir hängen sonst völlig in der Luft. Ist auch nicht für lange. Donnerstag, siebte und achte Stunde, außerdem das Turnier in vierzehn Tagen, und dann ist Michels ja auch bald wieder da. Bist unsere letzte Hoffnung.« Er lächelte aufmunternd. Es waren immer solche Zusatzforderungen, die Heribert aufbrach ten. Im vergangenen Jahr hatte er erst einen Segelkurs abgehalten, bis Elisabeth und Claudia sich gleichzeitig darüber beschwerten, wie wenig Zeit er habe. Jetzt diese Schach-AG, und morgen würde es die Aufsicht bei einer Schülerfete sein. »Nein, tut mir leid«, sagte er entschieden unfreundlicher, als er es eigentlich vorhatte. »Ich habe wirklich keine Zeit.« Borchers nickte kurz. »Ist o.k.«, meinte er dann und ging zu ei nem anderen Tisch. Seine Verärgerung verbarg er. Heribert lehnte sich zurück. An sich übernahm er solche Zusatzaufgaben so ungern nun auch wieder nicht, aber da es sowieso im mer dieselben waren, die sich bereit erklärten, etwas zu tun, sah er es langsam auch nicht mehr ein. Und die Verlängerung der Arbeits zeit, die kürzlich vom Ministerium verfügt worden war, förderte auch nicht gerade seine Bereitschaft. Das Gespräch mit Monika war verstummt, und er betrachtete interessiert die anderen Kolleginnen und Kollegen. In der Sitzgruppe mit den Flötotto-Sesseln hockten zum Beispiel immer die Sportler, selten war einer von den anderen da. Aber merkwürdig, die junge Bio-Kollegin saß seit einiger Zeit recht häufig neben Klaus Lehnert, einem gutaussehenden, wenn gleich immer etwas lauten Kollegen. Er würde es weiter beobachten, vielleicht… Das Telefon klingelte. Es stand auf einem etwas abseits gelegenen 134
Tisch, umgeben von lieblos hingelegten Arbeitsblättern, die irgend ein Kollege wohl vergessen hatte. Es klingelte laut und beharrlich, doch erst nach einigen Malen fühlte sich Borchers bemüßigt, hin zugehen und den Hörer abzunehmen. Er blickte kurz in die Run de, dann fixierte er Heribert. »Heribert, für dich.« Heribert ging zum Telefon, nahm den Hörer ab. »Mehrtens.« »Herr Mehrtens, ein Gespräch für Sie.« Die Sekretärin stellte durch. »Na, haste Pause. So um halb zehn eßt ihr doch immer euer Pau senbrot.« Da war die altbekannte Stimme wieder. Neben der Angst, die Heribert immer spürte, wenn der Anrufer ihn versuchte einzuschüchtern, fühlte er auf einmal Zorn. Konnte er dann nicht wenigstens während seiner Arbeit in Ruhe gelassen werden? Außerdem, er hatte sich vorgenommen, den Erpresser mit seinem Namen einzuschüchtern, und hier, wo alle mithören konn ten, war er doch etwas gehandikapt. »Ich muß in den Unterricht, was wollen Sie?« »Das weißt du ganz genau. Das Geld, und zwar alles. Und das bald. Und ich spaße nicht. Heute abend habe ich den Zaster. Alles, oder du bereust es.« Heribert schwieg und blickte sich um. Hörte jemand zu? Der Pausengong ertönte, und einige Kollegen begannen sich von ihren Sitzen zu erheben, während andere sich noch intensiv ihren Ge sprächspartnern widmeten. Aber alle waren weit genug weg. Dennoch. »Herr Becher«, Heribert gab sich Mühe, den Namen beiläufig auszusprechen. »Herr Becher, ich verstehe Ihre Situation, aber Sie haben im Augenblick schlechte Karten. Und mit Drohungen kön nen Sie mir zwar schaden, aber Sie verbessern sich nicht. Und Sie brauchen das Geld dringend. Ich kann im Augenblick aber nicht 135
mit Ihnen reden. Rufen Sie mich doch einfach gegen halb drei zu Hause an. Dann bin ich allein, und wir können über alles reden. Ich muß jetzt in den Unterricht.« Er sprach beiläufig und geschäftsmäßig und wunderte sich über seine innere Gelassenheit. Ob es klug war? Reizte er den Mann durch dieses Verhalten? Andererseits, durch Nachgeben konnte er nichts gewinnen, und Becher stand das Wasser sicher schon bis zum Hals. Heribert lehnte sich an den Tisch und betrachtete auf merksam die Kollegen, die jetzt merklich entschlossener dem Aus gang des Lehrerzimmers zustrebten. Immerhin, die Pause war schon seit fast drei Minuten zu Ende. Die Leitung blieb stumm. »Sind Sie noch dran?« fragte Heribert nach einer Weile kühl. »Ich rufe um halb drei wieder an.« Ein Knacken, Becher hatte aufgelegt. Keine Drohung, keine ver stellte Stimme. War sie sachlich geworden oder kalt vor unterdrück ter Wut? Heribert konnte es nicht sagen, aber er hatte auf einmal das Gefühl, einen Schritt weitergekommen zu sein.
12. KAPITEL
F
ahndungserfolge hatten sich noch nicht eingestellt. Allerdings, so schnell war das auch nicht zu erwarten. Vermutlich hatte Becher ein sicheres Versteck gefunden – wo, das war allerdings noch ungewiß. Es war ein bißchen wie die Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. Nicht einmal sicher war, ob Becher seinen Wagen, einen roten 136
Golf GTI, noch weiter benutzte, denn natürlich war das Kennzei chen nun jedem Streifenwagen bekannt. »Die Kollegen aus Halber stadt haben angerufen«, meinte Harry Krüger, als er nach kurzer Abwesenheit wieder das Büro betrat. »Dort ist er wohl nicht auf getaucht. Die Nachbarn haben ihn jedenfalls noch nicht gesehen. Und seine Mutter schwört Stein und Bein, daß er ihr seit einem Jahr nicht mehr unter die Augen gekommen ist.« »Was nicht viel heißen will«, setzte Susanne hinzu. Harry trat an die große Übersichtskarte des Großraums Hanno ver. »Vielleicht ist er noch hier irgendwo.« Susanne stellte sich neben ihn. »Vielleicht. Aber wo könnte er sonst hin? Ausland?« »Er spricht etwas Russisch, aber sonst keine Sprachen. Interpol ist eingeschaltet, aber über die Grenze könnte er natürlich schon sein. Andererseits, ohne Sprachkenntnisse und mit einem Haufen Geld …« »Hat er das Geld wirklich? Immerhin, unser Passatfahrer könnte es ja auch haben.« Susanne setzte sich wieder. »Falls er schon im Ausland ist, kön nen wir sowieso nichts machen. Irgendwann geht er dann doch den Kollegen ins Netz. Nach Rußland wird er kaum gehen, jedenfalls nicht, wenn er noch bei Trost ist. Österreich? Schweiz? Vielleicht. Wenn er sich aber noch hier aufhält, dann hat er sicherlich irgend einen Schlupfwinkel. Und wir wissen nicht, ob er noch das Geld hat. Und ohne Geld kann er nicht fliehen. Also, wir müssen uns noch einmal in Bechers Umfeld umschauen. Irgend jemand wird doch wohl einen Hinweis dieser Art geben können. Wo könnte der Kerl bloß stecken? Wer gibt ihm jetzt noch Unterschlupf?« »Und wenn er sich einfach ein Versteck gesucht hat? Eins, von dem er sicher sein kann, daß ihn dort keiner findet? Einen Cam pingwagen, ein Wochenendhaus oder einen Schrebergarten?« Susanne überlegte einen Moment. 137
»Könnte sein«, murmelte sie schließlich. »Das sollten wir mal un tersuchen …« Dann stand sie auf. Ihr war etwas eingefallen. Sie stellte sich vor die Karte und suchte mit einem Bleistift die Straße nach Groß Hainsdorf. »Was ist überhaupt bei der Untersuchung der roten Pas sat herausgekommen?« »Nicht viel. Es kommen nur drei Wagen als regelmäßige Benutzer in Frage: Ein Bauer aus dieser Gegend, bei dem ist es aber unwahr scheinlich, weil er wohl am Abend zuvor einen gebechert hat, ein Vertreter aus Hannover, der hat aber nachweislich damals eine an dere Route genommen, behauptet es jedenfalls, aber scheint zu stimmen. Und ein Lehrer aus Woltershagen, der in Groß Hainsdorf an der Schule unterrichtet. Behauptet allerdings, zu der Zeit nichts gesehen zu haben. Könnte stimmen, braucht aber nicht. Alle an deren Wagen sind mit Sicherheit nicht diese Strecke gefahren.« »Könnte es nicht auch der Zeuge sein, der angerufen hat? Der Grzeskowiak?« Für einen Augenblick schien Harry verdutzt. »Also ein Trick? Der Schuldige meldet sich selbst? Ich glaube nicht, er würde ein unge heures Risiko eingehen. Wozu? Es hat ihn doch keiner gesehen. Nein, den können wir streichen. Den Lehrer halte ich für verdäch tiger. Kürzlich ist bei ihm eingebrochen worden, das ganze Haus durchsucht, und zwar sehr gründlich. Außerdem wird er bedroht, sagt seine Frau jedenfalls. Braucht alles nichts zu sagen, aber an dere Hinweise haben wir mal nicht.« »Hast du den Namen?« fragte Susanne. Harry nickte. »Mehrtens, Heribert Mehrtens, verheiratet, dreiund vierzig Jahre alt, Studienrat, seit neunzehnhundertachtundsiebzig im Schuldienst.« Susanne stockte einen Augenblick der Atem. Sollte das ihre Be kanntschaft vom Freitag sein? Immerhin, der Name war ungewöhn lich, eine Verwechslung unwahrscheinlich. Sie fühlte ein leises Be 138
dauern in sich aufsteigen. Schade, er war ihr sympathisch gewesen. »Was für einen Eindruck hattest du von ihm?« fragte sie. »Auf den ersten Blick ganz sympathisch, aber darum geht es ja nicht. Wenn Verbrecher alle unsympathisch wären, dann wären wir ja bald arbeitslos.« Harry lachte. »Wie gesagt, es ist möglich, daß er es war. Andererseits, es könnte ja auch ganz jemand anderes sein. Falls unsere Vermutungen überhaupt stimmen.« »Sollten wir ihn noch einmal vernehmen?« Susanne blickte Harry Krüger forschend an. Der zuckte nur mit den Schultern. »Ohne konkrete Hinweise ist das sinnlos. Er hat alles gesagt, was er sagen konnte oder wollte. Man könnte natürlich eine Haus durchsuchung beantragen, aber dafür findest du keinen Richter. Und so blöde, daß er das Geld zu Hause liegen lassen würde, sieht er mir auch nicht aus. Wir sollten uns auf die Suche nach Becher konzentrieren.« »Hast du die Telefonnummer?« Harry zog sein Notizbuch aus der Tasche und schrieb ein paar Zahlen auf den Zettel. »Hier.« Susanne betrachtete sie nachdenklich. Die Autonummer konnte ich schon auswendig, jetzt habe ich auch noch seine Telefonnum mer, dachte sie. Vielleicht sollte sie ihre Recherche einmal anders durchführen. Als er gegen zwei Uhr nach Hause kam, galt sein erster Blick der Tiefkühltruhe. Er schob eine Pizza in den Backofen, denn heute kam Elisabeth erst sehr spät, sie hatte Nachmittagsunterricht, und jeder sorgte an solchen Tagen selbst für sein Essen. Dann griff er er neut zum Hörer. Schon in der Schule hatte er ständig versucht, Claudia zu erreichen. Aber die Praxis war aus betrieblichen Grün den immer noch geschlossen, nur der automatische Anrufbeantwor ter meldete sich und verwies für dringende Fälle an einen anderen Zahnarzt. Auch zu Hause war Claudia nicht, vermutlich war sie 139
einkaufen. Doch gerade jetzt brauchte er sie. Er fühlte überdeutlich, daß er mit ihr reden mußte. Es war so vieles zu besprechen, wie sollte er mit Becher verhandeln, was sollte er ihm sagen? Zu zweit war das alles leichter, und irgendwie lastete der Druck der Entschei dung plötzlich schwerer auf ihm, und er hoffte, die Last durch ein Gespräch mit Claudia mindern zu können. Aber Claudia war nicht da, und er hatte sich erst für vier Uhr mit ihr verabredet. Auch diesmal blieb sein Klingeln erfolglos. Er würde allein ent scheiden müssen. Pünktlich um halb drei schnarrte das Telefon. Heribert ließ den kleinen Rest der Pizza stehen, sie schmeckte oh nehin immer gleich, aber es war ein preiswertes Angebot von Aldi gewesen, und Elisabeth hatte nicht widerstehen können und gleich eine ganze Wagenladung eingekauft. Zögernd nahm er den Hörer ab. Seine Selbstsicherheit, die er so plötzlich im Lehrerzimmer ver spürt hatte, war verschwunden, und er blickte dem Gespräch mit Unbehagen entgegen. Vielleicht erging es dem anderen aber auch so. Becher kam ohne Umschweife zur Sache: »Hast du das Geld?« »Das liegt in einem sicheren Versteck.« »Hör zu, ich habe nicht viel Zeit. Du rückst das Geld raus, bis heute abend habe ich es. Sonst bereust du es.« Der Ton war bestimmt, der Mann wußte genau, was er wollte. »Ich kann an das Geld nicht ohne weiteres heran.« Heribert merk te instinktiv, daß er im Gespräch die Initiative verlor. Bloß nicht nachgeben, bloß nicht einschüchtern lassen. Er nahm einen neuen Anlauf: »Und – um es ganz klar zu sagen: Das ganze Geld werden Sie von mir auch nicht bekommen. Auch wenn Sie mich umbrin gen. Und ohne mich und ohne das Geld sind Sie in spätestens ei ner Woche geschnappt. Warum haben Sie eigentlich Ihren Komp lizen umgebracht, Herr Becher? (Gut, das war gut so. Gib es ihm!) War er Ihnen lästig, hatten Sie Angst, die gleiche Angst, die jetzt in Ihnen hochkriecht? Wie ist denn das so, wenn Sie Ihren Namen in 140
der Zeitung lesen, Ihr Bild sehen? Und eigentlich nur noch eine Chance haben: mit mir zu einem guten Ergebnis zu kommen, Be cher, ich bin Ihre letzte Chance.« »Hör mit dem Gelaber auf, du Pauker. Entweder kriege ich das Geld, oder du stirbst. Dann hast du von deinem Geld auch nichts. Heute abend, keine Minute länger.« Heriberts Blick glitt durch das Wohnzimmer. Richtig wohnlich sah es wieder aus. Ein geschmackvoll mit skandinavischen Holzmöbeln eingerichtetes Zimmer, Bücher, die Wohnung eines Intel lektuellen. Ich lebe eigentlich gerne, schoß es ihm durch den Kopf. Sollte er nachgeben? Die große Freiheit seines Segelbootes einen Traum bleiben lassen? Auf den Lottogewinn warten? Ihm fiel ein Foto auf dem Regal ins Auge. Elisabeth vor der Chi nesischen Mauer. Ein furchtbarer Urlaub. Noch mehr von dieser Art? Weiter mit Elisabeth, sich noch länger mit den Kindern ande rer Leute, mit uneinsichtigen Eltern herumschlagen? Nein, er hatte seinen Lottogewinn schon, und er wollte ihn behalten. Entschlos sen straffte er die Schultern. »Herr Becher, Ihre Drohung ist leer. Wenn wir uns jetzt nicht einigen, dann packe ich augenblicklich meine Koffer – und mein Arzt wird mich vierzehn Tage krankschreiben. Sie werden nicht wis sen, wo ich bin. Sie werden mich nicht finden. Meine Frau können Sie gerne erschießen, damit tun Sie mir sogar noch einen Gefallen. Und in vierzehn Tagen sind Sie ohne Geld hinter Schloß und Rie gel. Sie können vor der Polizei behaupten, was Sie wollen, ich wer de alles leugnen. Sicher kann ich das Geld nicht mehr so gut aus geben, ich muß vorsichtiger sein. Aber beweisen kann mir keiner etwas. Und Sie verschwinden auf immer hinter Gittern. Herr Be cher, ich habe vor Ihnen keine Angst. Sie können sich mit mir ei nigen, oder Sie können es lassen. Und nach diesem Telefonge spräch gibt es für uns kein weiteres mehr. Überlegen Sie es sich.« Sein Gegenüber schwieg. In einem Krimi könnte man jetzt die 141
alte Standuhr an der Wand laut ticken hören, dachte Heribert. Doch dies war kein Krimi, dies war Wirklichkeit, und in seiner Wohnung gab es keine alte Standuhr. »Na gut, wieviel wollen Sie? Machen Sie einen Vorschlag.« Be chers Stimme klang angespannt. »Eine Million für Sie«, stellte Heribert lakonisch fest. »Mehr ist nicht drin.« »Sie sind verrückt.« Unmerklich war auch Becher zum Sie über gegangen, Heribert registrierte es und buchte es als Erfolg. Ein Ge schäft war ein Geschäft, und scheinbar schlossen sich hier Höflich keit und Drohungen aus. »Und Sie haben wohl kaum eine andere Wahl. In wenigen Tagen sind Sie gestellt. Über die Grenze kommen Sie wahrscheinlich schon jetzt nicht mehr. Die Flughäfen sind gesperrt, Bahnhöfe werden überwacht, Ihre Autonummer ist bekannt. Seien Sie zufrieden.« Überspann den Bogen nicht, ermahnte er sich. Reiz ihn nicht noch durch Arroganz. »Die Hälfte«, sagte Becher, »die Hälfte, aber das noch heute.« Heribert schloß die Augen. Die Hälfte. Eineinhalb Millionen blie ben für ihn. Ohne Drohung, Becher würde für immer aus seinem Leben verschwinden, untertauchen irgendwo, und in wenigen Mo naten war alles vergessen. Das war mehr, als er noch vor Tagen er hofft hatte. Er öffnete die Augen wieder, und die Helligkeit des Wohnzimmers blendete ihn für einen Augenblick. »Einverstanden«, bekräftigte er den Handel. »Aber noch heute.« Heribert schüttelte den Kopf. »Ich komme heute nicht an das Geld heran. Unter keinen Umständen. Morgen, morgen ginge es.« Becher schien einen Augenblick nachzudenken. »Also morgen. Wo?« Eine gute Frage. Merkwürdig, daß er sich über das Wo noch kei ne Gedanken gemacht hatte. Es wollte aber gut überlegt sein, der 142
Treffpunkt mußte risikolos sein, doch wo gab es einen solchen Treffpunkt? »Ich könnte Ihnen den Nordhafen vorschlagen«, meinte Becher. »Morgen abend.« Dieser Gedanke gefiel Heribert wenig. Nordhafen bei Dunkelheit, das war das ideale Gebiet, um einen umzubringen. »Nein«, stellte er rasch klar. »Das ist mir zu gefährlich. Ich denke über einen Treffpunkt nach, und Sie denken über einen nach. Und er muß für mich risikolos sein. Ich habe keine Lust, als Leiche im Kanal zu schwimmen. Und Sie sind doch sicher bewaffnet.« Er hört ein kurzes Lachen am anderen Ende. »Worauf du dich verlassen kannst. Und ums dir noch einmal zu sagen: keine faulen Tricks. Wenn ich hochgehe, gehst du mit. Ich rufe morgen um die gleiche Zeit noch einmal an.« »Rufen Sie um zwölf Uhr an, ich bin dann da. Falls ich nicht da sein sollte, dann um eins.« »O.K.«, sagte der andere ernst. »Bis dann.« Das Telefon lag wieder still vor ihm, der Hörer war aufgelegt. Erst jetzt, als alles vorbei war, fühlte er die Anspannung von sich wei chen. Ein Blick auf die Uhr. Kurz vor drei. Erst kurz vor drei. Es schien ihm schon eine Ewigkeit her zu sein, seitdem er zu Hause angekommen war. In einer Stunde würde Elisabeth da sein, Gesprä che über Dinge führen wollen, die ihn im Augenblick nicht interes sierten. Er setzte sich in den Sessel und angelte sich noch einmal das Te lefon. Claudia. Er hörte den Freiton des Telefons. Los, geh doch ran, dachte er. Wo steckst du bloß? Mit einem Male hörte er Claudias Stimme. Weich, samtig fast. »Hallo, Heribert«, sagte sie. »Wie geht es dir?« »Jetzt gut«, Heribert lächelte in den Hörer. »Wo warst du nur? Ich hab' die ganze Zeit versucht, dich anzurufen.« »Erst einkaufen, dann kurz bei meinen Eltern zum Essen, und 143
jetzt unter der Dusche. Ich wollte doch schön sein für dich. – Kommst du jetzt gleich?« Heribert nickte. »Ich bin schon da.« Er schwang sich aus dem Sessel, kritzelte beschwingt eine Nach richt auf einen Zettel, in der er Elisabeth mitteilte, er müsse noch einmal dringend zur Schule, und fuhr los. Claudia hatte noch ihren Bademantel an, ihr Haar roch frisch ge waschen, und sie duftete nach der teuren Body-Lotion, die Heribert ihr vor einigen Wochen geschenkt hatte. Sie umarmte ihn nur kurz, dann sprudelte sie hervor: »Hast du es in der Zeitung schon gelesen? Wir hatten recht. Sogar den Namen haben sie schon genannt. Becher heißt er. Ich glaube, den haben sie bald. Du, und dann kann er uns nichts mehr antun. Und wir sind reich. Oh, Heribert, ich freue mich so.« Und sie drückte ihn fest an sich. »Er hat bereits angerufen.« Heribert löste sich aus der Umarmung und schaute etwas abwesend an ihr vorbei. »Er hat angerufen und gedroht, mich umzubringen. Ich glaube, er steht ziemlich unter Druck, er ist wohl zu allem entschlossen.« »Verschwinde doch einfach! Laß dich krankschreiben, fahr weg und werde dort krank. In wenigen Tagen haben sie ihn doch ge schnappt, dann sind wir ihn für immer los.« Heribert ging durch den Raum und stellte sich vor das Wohn zimmerfenster, blickte hinaus in die Weite der Landschaft. Fast meinte er, das Wasser des Sees zu sehen. »Und dann?« fragte er. »Er wird auspacken. Wir haben die Polizei auf dem Hals. Das Geld ist im Schließfach, aber vielleicht können sie per Computer abfragen, wo ich Schließfächer habe, können es öffnen lassen. Vielleicht habe ich am Saab doch Fingerabdrücke hinterlassen. Vielleicht … Kurz und gut, mir ist das zu unsicher. Ich habe ihm für morgen einein 144
halb Millionen Mark versprochen, dann haut er ab.« »Bleiben nur noch eineinhalb für uns«, meinte Claudia, und er merkte ihr an, daß ihr das ganz und gar nicht paßte. »Was sollen wir mit eineinhalb? So viel ist das nicht.« »Na, hör mal. Wenn ich vor einer Woche eineinhalb Millionen Mark gehabt hätte, vielleicht im Lotto gewonnen oder geerbt – da hätten wir doch vor Freude einen Luftsprung gemacht. Und jetzt mosern wir. Also, wir können ruhig ein bißchen zufriedener sein. Und besser eineinhalb sicher als alles weg. Oder tot … Nein, ich bin froh, wenn der Becher erst mal sicher über alle Berge ist«, setzte er noch hinzu. Claudia schwieg eine Weile. »Bist du sicher, daß er sich an die Verabredung hält, und nicht doch alles will? Oder dich umbringt? Auf einen Toten mehr kommt es ihm jetzt doch auch nicht mehr an. Bist du da sicher?« Heribert sah nach draußen, schüttelte langsam den Kopf und blickte Claudia dann ernst an. »Nein, sicher bin ich mir da nicht. Und wenn die Polizei ihn dennoch schnappt, sitzen wir genauso in der Tinte. Aber vielleicht haben wir ja Glück. Übrigens hat er den Nordhafen bei Dunkelheit als Treffpunkt vorgeschlagen.« »Da gehst du nicht hin.« Claudias Stimme klang entschieden. »Der legt dich aus reiner Rachsucht um. Wenn schon Übergabe, dann woanders. Aber ich finde, wir sollten es uns trotzdem noch einmal überlegen.« Ihre Stimme wurde plötzlich leiser. »Und wenn er tot wäre?« fragte sie. Heribert blickte sie an: »Du meinst…« Claudia nickte ernst. »Wenn er tot wäre, dann könnte er doch nichts mehr sagen. Außerdem … es wäre doch so etwas wie Not wehr.« »Und wie stellst du dir das vor? Soll ich mit einem Messer auf ihn losgehen, ihn erstechen? Soll ich eine Pistole kaufen? Außer 145
dem … das mach' ich nicht. Das kann ich gar nicht.« »Eine Pistole könnte ich besorgen. Mein Vater hat sich das Bein gebrochen, und seine Dienstpistole liegt nun im Schrank. Der merkt das nicht.« »Ich mach' das nicht!« Heribert stand auf und ging ein paar Schritte. »Kein Mord. Und das ist Mord. Außerdem kann ich gar nicht mit einer Pistole umgehen.« »Du warst doch beim Bund.« Heribert setzte sich und schüttelte entschieden den Kopf. »Clau dia, um es dir ganz klar zu sagen. Erstens: Ich kann nicht mit einer Pistole umgehen. Ich könnte vielleicht noch mit einem Gewehr umgehen oder mit einem MG, aber mit einer Pistole treffe ich nicht. Und aus naher Entfernung komme ich nicht zum Schuß, da wird Becher schon aufpassen. Und zweitens, und das ist für mich ganz wichtig: Ich begehe keinen Mord! Ich kann nicht für Geld einen Menschen töten. Versuch nicht weiter, mich zu überreden. Ich mach' das nicht. Schluß, aus.« Claudia strich ihm begütigend über die Wange. »Ist ja gut. Das würde ich von dir ja auch nicht verlangen. Ist ja gut. Nur: Wo gibst du ihm das Geld?« »Wenn ich das wüßte. Jedenfalls nicht in irgendeiner dunklen Ecke. Es müssen viele Leute da sein, und er muß wissen, daß er in der Falle sitzt, wenn er mich tötet.« Auf einmal lächelte Claudia. »Was gibst du mir, wenn ich dir ei nen ganz tollen Platz nenne? Einen ganz sicheren?« »Hast du einen?« Sie wiegte den Kopf, öffnete leicht den Mund, und ihre Augen leuchteten vor Vergnügen. »Kann schon sein.« »Einen Kuß.« »Nur einen? Und nur einen Kuß?« Heribert schloß die Augen und rückte nahe an sie heran. Vorsich tig löste er den Gürtel ihres Bademantels. 146
»Nicht nur einen Kuß«, flüsterte er.
13. KAPITEL
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rau Hillgruber, Sie helfen weder sich, noch können Sie Ihrem Mann irgendwie nützen. Jetzt geht es einzig und allein darum, seinen Mörder zu finden.« Susanne verlieh ihrer Stimme einen sanf ten Nachdruck. Zum zweiten Male saßen sie in der Wohnung Fabian Hillgrubers, und zum zweiten Male fanden sie eine verzweifelte Frau vor, die das alles noch nicht fassen konnte. Bettina Hillgruber mußte lange geweint haben, ihr Gesicht zeigte Spuren von durchwachten Näch ten. Bettina Hillgruber jedoch schüttelte nur den Kopf und sagte mehr zu sich selbst als zu Susanne: »Ich kann Ihnen wirklich nicht hel fen. Und Fabian hat es bestimmt nicht gemacht. Ich glaube das nicht. Ich glaube, das war nur der Peter. Ich habe ihn eigentlich nie gemocht. Er war so, ich weiß nicht, eigentlich war er auf den ersten Blick ganz nett, aber er hatte so eine Art … Ich glaube, der wußte sehr genau, was er wollte. Ich hatte ein ungutes Gefühl bei ihm, und vielleicht hat er Fabian verführt, beredet. Fabian konnte kei nem etwas tun. Er war unheimlich lieb. Alle haben ihn gemocht. Aber wo Peter Becher jetzt ist, weiß ich nicht. Wirklich nicht.« Susanne warf einen Blick in das Wohnzimmer. Es war peinlich aufgeräumt. Die Kissen der Ikea-Sitzecke mit Kick, Staub war sorg fältig gewischt worden. Hier hatte jemand die Zuflucht in Hausar beit gesucht. Ein Klacken verriet, daß die Wohnungstür geöffnet 147
worden war, und mit etwas schleppenden Schritten kam eine mit telalte, kleine Frau in das Zimmer, die sie fragend musterte. »Die Leute sind von der Polizei, Mama«, erklärte Frau Hillgruber ihrer Mutter. Die Frau warf ihnen einen abweisenden Blick zu und ging grußlos in die Küche. Es ist immer das gleiche. Die Leute benehmen sich so, als ob wir für die Verbrechen und den Tod ihrer Angehörigen verantwortlich seien, dachte Susanne. Dann wandte sie sich erneut an Bettina Hill gruber. »Haben Sie vielleicht Bekannte, die Zeltplätze, Wohnwagen, Schre bergärten, Wochenendhäuser besitzen? Dort könnte sich Becher vielleicht aufhalten.« Bettina Hillgruber wirkte hilflos. So als ob in ihrem Leben etwas dauerhaft zerbrochen war. Susanne betrachtete sie. Die Frau tat ihr leid. Aber es geht vorbei, dachte sie dann mitfühlend. In ein paar Monaten geht es ihr besser. Sie ist noch jung, das Leben geht weiter. »Frau Hillgruber, können sie uns denn wirklich keine Hinweise geben? Es geht um den Mörder Ihres Mannes.« Harry Krüger hatte sich eingeschaltet. Bettina Hillgruber blickte ihn matt an. »Ich weiß nichts, ich kann Ihnen nichts sagen.« »Wer von Ihren Bekannten hat denn einen Schrebergarten, einen Campingwagen oder etwas in der Art?« »Busches haben einen alten VW-Bus, Helmke hat einen Schreber garten, Kurt Hillerer auch, beide in der Kolonie bei den Ricklinger Teichen, Krügers haben ein Wochenendhaus in der Lüneburger Heide, aber da fahren sie jedes Wochenende selbst hin. Und ein paar andere wohl auch. Zelte haben die meisten wohl auch. Weiter weiß ich nichts.« Frau Hillgruber blickte geistesabwesend auf eine Schale mit Obst auf dem Tisch. Die Pfirsiche hatten schon dunkle Stellen. Morgen würde man sie nicht mehr essen können. 148
Susanne legte ihre Karte auf den Tisch. »Frau Hillgruber, wenn Ihnen noch etwas einfällt: Hier ist meine Nummer.« Sie erhob sich, Frau Hillgruber blickte nur kurz auf, dann gingen Susanne und Harry aus der Wohnung. In der Küche hörten sie noch die Mutter hantieren. »Hast du dir alles aufgeschrieben?« fragte Susanne beim Hinunter gehen. Harry nickte. »Wir gehen systematisch die Schrebergärten durch. Vielleicht haben wir ja Erfolg. Mehr können wir im Augen blick sowieso nicht tun. Außerdem könnten wir eine ähnliche Über prüfung für alle Arbeitskollegen und Sportkameraden durchführen. Die Liste haben wir ja.« Sie hatten den Wagen nicht direkt vor der Haustür abstellen kön nen, und so mußten sie durch die Helmstraße gehen. Ein Gewirr von Häusern, unendlich vielen Häusern, Straßen, Men schen, Autos. Und Schrebergärten, dachte Susanne. Es war immer noch erstaunlich, daß man in dieser Menschenmenge überhaupt je mand finden konnte. Und, wie sie aus Erfahrung wußte, mit gutem Erfolg. Über Funk gab sie die entsprechenden Anweisungen. Heribert blickte auf die blaue Sporttasche neben sich. Eineinhalb Millionen Mark. Der Stoff, aus dem die Träume sind. Dafür wur den Pläne gemacht, dafür wurde gemordet, darum kreiste das Den ken. War es das wert? Überraschend problemlos hatte er heute morgen das Geld wieder aus dem Schließfach in Hannover geholt. Keiner fragte, keiner woll te etwas wissen. Wenn er das Geld offen ausgepackt hätte, hätte ihn auch keiner angesprochen. Es war alles sehr diskret. Und da er heu te nur die zweite Stunde und danach frei hatte, hatte er sogar Zeit gehabt. Er wird pünktlich sein, dachte er sich. Er wird auf die Minute pünktlich sein. 149
Punkt zwölf klingelte es. Heribert ließ es zweimal klingeln, dann nahm er ab und meldete sich. »Hast du das Geld?« »Es ist da.« »Wann und wo?« Heribert lehnte sich zurück. Das Gespräch mit Claudia stand ihm vor Augen. »Kennen Sie Wilhelmstein?« »Nein, wo ist das?« »Wilhelmstein ist eine Insel im Steinhuder Meer. Es ist eigentlich eine Festung aus dem achtzehnten Jahrhundert und ein beliebtes Ausflugsziel.« Becher überlegte kurz. »Ich glaube, ich bin da schon mal gewe sen. Vor ein, zwei Jahren. Man fährt mit dem Boot rüber, nicht wahr?« Heribert nickte. »Wilhelmstein kann nur mit dem Boot erreicht werden. Die Boote fahren von einem Anleger in Steinhude los. Das ist ausgeschildert. Sie fahren rüber, und wir treffen uns auf der Insel. Ich werde das Geld dahaben. Ich gebe es Ihnen, und dann verschwinden Sie.« Der andere zögerte. »Mir paßt der Platz nicht. Ich bin dort in der Falle.« »Das ist richtig. Aber so soll es auch sein. Wenn Sie mich nieder schießen, kommen Sie nicht mehr von der Insel runter. Wenn Sie irgend etwa gegen mich unternehmen, fliegen Sie auf. Aber einen anderen Ort lehne ich ab. Das ist meine Lebensversicherung. Und bedenken Sie, ich habe kein Interesse, daß man Sie schnappt. Ich will mein Geld auch behalten. Das ist Ihre Lebensversicherung. Ich finde, das ist fair.« Becher zögerte. »Keine faulen Tricks. Ich rate dir gut, keine faulen Tricks. Du bereust es. – Wann?« »Drei?« Peter Becher schien einen Augenblick zu überlegen, dann meinte 150
er kurz: »Wie lange fährt man mit dem Boot?« »Vielleicht zwanzig Minuten. Abfahrt ist etwa alle Viertelstunde von Steinhude aus.« »Halb vier ist besser. Ich schaffe es nicht eher. Wo finde ich dich?« »Ich stehe neben dem Eingang zur Festung, das sehen Sie sofort. Wie erkenne ich Sie?« »Ich werde dich erkennen, das reicht. Das Foto in der Zeitung war jedenfalls schlecht. Ich sehe jetzt anders aus. Aber ich werde dich schon finden. Dann bis halb vier.« »Bis halb vier«, sagte Heribert ernst und drückte die Gabel herun ter. Vielleicht war dies ihr letztes Telefongespräch. Er hoffte es. Einen Augenblick später rief er Claudia an. »Ja?« Claudia klang angespannt. »Er hat zugestimmt. Halb vier.« »Ist gut«, Claudias Stimme war heiser vor Aufregung. »Beeilen wir uns.« Obermüller hatte sich dafür stark gemacht, daß für die nächsten drei Tage alle verfügbaren Beamten zu einer groß angelegten Fahn dung eingesetzt werden konnten. Systematisch wurden die Schre bergärten durchkämmt, abgestellte Wohnwagen unauffällig obser viert. Dennoch war es keine blinde Suche. Harry Krüger hatte eine Liste der Arbeitskollegen und Sportkameraden zusammengestellt, die über irgendeinen Unterschlupf verfügten. Und so konnten sie nach Plan vorgehen. Die erfolgversprechendsten Stellen, die alle in einer großen Anlage bei den Ricklinger Teichen lagen, hatten Harry Krüger und Susanne Breugel selbst übernommen. »Hier müßte es sein«, meinte Harry und blickte auf die Nummer dreiundsechzig. »Der nächste ist es.« Dann verglich er die Nummer am Zaun mit der auf seinem Notizblock. »Richtig, vierundsechzig. 151
Nicht einfach zu finden.« Schon mehrfach waren sie auf dem ver winkelten Gelände in die Irre gegangen, und auch die Numerie rung der Gärten hatte ihre Tücken. Achtundvierzig stand neben Nummer fünf, und manchmal fehlten Zahlen auch ganz. Der Garten, vor dem sie nun standen, war eine schöne Anlage. Eine dichte, hohe Hecke schirmte ihn von dem Weg ab, nur eine Gittertür gewährte einen Blick auf das dahinter liegende Terrain. Das Häuschen war alt, aber offensichtlich gut in Schuß, und eine auf fallend hohe, einzeln stehende mächtige Fichte beschattete es. Der Garten glich eher einem Park als einer der Nullachtfünfzehn-Anla gen in der Nachbarschaft. »Eigentlich merkwürdig, daß hier keiner die Baumsatzung beach tet hat, so hohe Bäume sind doch mit Sicherheit verboten«, mur melte Harry, der derartige Konflikte aus seiner Kolonie zur Genüge kannte und Susanne gelegentlich mit Geschichten über die Klein kariertheit der ›Gartenfreunde‹, abgekürzt GF, amüsierte. Der Garten machte einen unbewohnten Eindruck. Die Fensterlä den des Hauses waren geschlossen, das Gras war ein wenig höher, das Unkraut auf den Wegen etwas reichlicher als in der Nachbar schaft. Kurt Hillerer und seine Familie waren seit zehn Tagen auf Ibiza. Die beiden Beamten, die sie begleiteten, stiegen über die abge schlossene Gartenpforte und huschten gebückt zum Haus. Dann schlichen sie um das Gebäude herum auf die andere Seite, wo der Eingang war. Susanne und Harry beobachteten die Szenerie von der Gartenpforte aus. Nichts rührte sich. Fast eine Ewigkeit schienen die beiden Beamten hinter dem Haus zu bleiben. Dann kehrte einer zurück. »Was gibt's, Quaasmeyer?« Quaasmeyer legte die restlichen Meter schnell zurück. »Sie sollten sich das mal anschauen, Frau Breugel.« Beide kletterten über die Pforte und folgten. Die Fensterläden 152
des Hauses waren geschlossen, jedoch stand die Tür offen. »Schauen Sie mal«, sagte Quaasmeyer und wies auf ein paar Holz splitter in der Zarge. »Die Tür ist aufgebrochen worden. Mit einem Brecheisen.« Das Innere der Hütte war fein säuberlich aufgeräumt. Keine Bier flaschen, keine Essensreste wie häufig bei Lauben, die von Pennern und Stadtstreichern vorübergehend benutzt wurden, sondern nur ein geöffneter Koffer und ein Schlafsack auf einer Gartenliege ver rieten, daß diese Hütte bewohnt wurde. »Haben Sie das schon gesehen?« Michels, der andere Polizist, der ihnen zugeteilt worden war, hob einen länglichen Gegenstand hoch. »Eine Handgranate?« fragte Susanne. »Genau. Beste NVA-Qualität.« Susanne stellte sich vor den Koffer. Sie waren am Ziel. Das Schick sal hatte es gut mit ihnen gemeint. T-Shirts, ein paar Jeans, ein paar Pullover und sogar eine Kombination mit Sakko. Das war alles. Eine kleine Kollegmappe war noch darin. Susanne öffnete sie. Sie enthielt einige Papiere, Geburtsurkunde, ein Oberschulzeugnis, ein paar Fotos. Auf einigen Bildern war ein junges Mädchen mit FDJUniform zu sehen. Es lächelte in die Kamera. Auf der Rückseite stand in schöner, schwungvoller Mädchenhandschrift: Peter, ich liebe dich. 18.6.88. Weiter nichts. Susanne legte alles zusammen und blickte auf. Ihre Suche hatte ein Ende. »Quaasmeyer, Sie kommen mit mir zum Wagen, wir holen über Funk Verstärkung, dann warten wir hier auf ihn.« Harry Krüger und Michels blieben zurück, als Susanne mit Quaas meyer zur Gartenpforte schritt. Die Luft war drückend geworden, fast schwül, und die Hitze hatte zugenommen. Susanne spürte, wie sie unter ihrem Blazer schwitzte. Quaasmeyer sprang als erster über die Pforte und half Susanne nach. Susanne ging bei der Landung federnd in die Knie, erhob sich und klopfte sich den Staub von den Händen. Dann wandten sie sich dem Weg zum Parkplatz zu. 153
Susanne sah ihn als erste. Vierzig Meter vor ihnen stand ein jun ger, hochgewachsener Mann in blauen Jeans und Polohemd, der sie wie gebannt anstarrte. »Mensch, das ist er«, flüsterte Quaasmeyer und zog seine Pistole. »Halt, stehenbleiben, Polizei!« rief er und lief auf den Mann zu. Der löste sich aus seiner Erstarrung, wandte sich blitzschnell um und rannte in Richtung Parkplatz davon. Quaasmeyer gab einen Warnschuß ab. »Halt, stehenbleiben!« Doch der andere rannte geradewegs auf eine Wegkreuzung zu. Quaasmeyer legte an und zielte – dann bog der Flüchtige blitz schnell in den Seitenweg und war ihren Blicken entzogen. »Los, zum Wagen!« rief Susanne und spurtete hinterher. Doch als sie die Wegkreuzung erreichten, sahen sie schon, wie der Verfolgte in einem anderen Seitenweg Richtung Parkplatz verschwand. Der Abstand vergrößerte sich. Quaasmeyer ächzte und keuchte bereits, und auch Susanne war beim Laufen noch nie die Aller schnellste gewesen. Zu allem Überfluß verliefen sie sich noch ein mal, merkten dies zwar sofort und nahmen die Verfolgung wieder auf. Dennoch vergrößerte sich der Abstand unaufhaltsam. Schließ lich war Becher endgültig ihren Blicken entschwunden. Plötzlich knallten zwei Schüsse. Quaasmeyer blieb stehen und hielt sich die Seite. »Warum schießt der?« »Weiß ich nicht!« keuchte Susanne. »Weiter!« Schließlich erreichten sie den Parkplatz. Ihr Wagen war der einzige, der noch darauf stand, ein roter Golf bog soeben mit hoher Geschwindigkeit, eine mächtige Staubwolke hinter sich herziehend, von dem geschotterten Weg gerade auf die Straße ein. »Der ist weg«, schimpfte Quaasmeyer. Susanne verkniff sich eine Bemerkung und eilte zu ihrem Einsatzfahrzeug. Vor ihrem Auto blieb sie stehen. Die Scheibe war eingeschlagen, ein gezielter Schuß hatte das Funkgerät unbrauchbar gemacht. Susanne betätigte den 154
Anlasser. Überraschenderweise sprang der Wagen sofort an. Sie legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Rumpelnd setzte sich der Wagen in Bewegung – und blieb gleich darauf in einem Schlag loch hängen. »Der Reifen ist durchschossen!« Quaasmeyer machte sich flu chend auf den Weg zur nächsten Telefonzelle. Erst Minuten später lief die Großfahndung an. Der Berufsverkehr setzte langsam ein, die Straßen füllten sich mit Berufstätigen, die nach Hause strebten. Auf den Schnellstraßen reihten sich die Wagen zu kurzen, dann immer längeren Schlangen auf. Noch lief der Verkehr fast reibungslos, aber hier und da be gann er sich an den großen Kreuzungen der Ausfallstraßen zu stau en. Auch die Parkhäuser der Innenstadt leerten sich. Es dauerte län gere Zeit, bis die Polizeiwagen ihre Position an den Ausfallstraßen bezogen hatten; an eine wirksame Kontrolle der innerstädtischen Straßen und Nebenstraßen war ohnehin nicht zu denken. Es dauer te auch geraume Zeit, bis ein neuer Dienstwagen für Susanne Breu gel und Harry Krüger bereitgestellt werden konnte. Die Koordina tion aber hatten die beiden längst an die Zentrale abgegeben. Wonach war zu suchen? Die Wagennummer Bechers war längst allen Streifenwagen bekannt. »Wir waren so nahe dran.« Harry Krüger knurrte es förmlich. Et was ziellos fuhr er in der Gegend herum. »Reiner Zufall, daß er jetzt gerade kam.« Susannes Ärger war deut lich hörbar. »Aber offensichtlich fährt er noch seinen Wagen.« »So dämlich, seine alte Nummer weiterzubenutzen, wird er doch wohl nicht sein.« Harry bremste den Wagen ab und hielt vor einer Ampel, die wieder eine ganze Autoschlange zum Stehen brachte. »Was für eine Nummer könnte er dann benutzen?« Susanne dach te laut. »Was würdest du an seiner Stelle tun?« 155
Harry schob sich an der Ampel im Schrittempo vorbei. »Scheiß Verkehr«, murmelte er. »Viel zu viele Autos … Was hast du gesagt?« »Was du an seiner Stelle machen würdest.« Harry überlegte kurz. »Entweder ein Auto knacken oder mir ir gendeine Nummer klauen. Einfach abmontieren. Geklaute Autos sucht man. Nicht alle sind ja sofort in Polen. Abgeschraubte Num mern – ich weiß nicht, wahrscheinlich melden sich die Leute sofort. Die brauchen ja eine neue. Aber nach den Nummern wird nor malerweise nicht gefahndet.« Susanne schnippte mit dem Finger. »Vielleicht ist das die Idee.« Über Funk gab sie ihre Vermutung durch. Nach einigen Minuten kam das Ergebnis. »In Hannover fehlen im Augenblick einhundertdreiundzwanzig Autonummern. Sechs davon sind in den letzten vier Tagen abmon tiert worden. Wir geben diese Nummern an alle Streifenwagen im Großraum durch.« »Vielleicht klappt es ja«, meinte Susanne. Harry schwieg. Jetzt konnten sie nichts tun als warten. Ein McDonald's-Drive In-Restaurant tauchte an der Straßenseite auf. »Hast du Lust auf einen Hamburger?« Susanne nickte gleichgültig. »Meinetwegen.« Harry hielt und fuhr zum Schalter. »Drei Big Mäc.« »Und zwei Cola, große«, ergänzte Susanne. Sie stellten sich auf den Parkplatz und machten sich über die Verpackungen mit Inhalt her. Natürlich schmeckte das Zeug wieder pappig, aber Harry war ein begeisterter Anhänger von McDonald's und ließ kaum eine Gele genheit aus, hier zu schmausen. Dies war wieder eine solche gewe sen. Sie standen etwas verloren auf dem Parkplatz. Susanne achtete darauf, daß ihr der Ketchup nicht auf die Hose tropfte, und aß mit spitzen Fingern. Harry jedoch biß herzhaft zu. 156
Ein Funkspruch unterbrach ihr Mahl. Der Golf war gefunden worden. Auf einem Parkplatz in der Steinhuder Innenstadt. Er war leer. »Weiträumig absichern, nichts unternehmen. Wir sind in vierzig Minuten da.« Die Stimme Susannes klang befehlsgewohnt. Harry nahm noch schnell einen Bissen, dann fädelte er sich, den angebissenen Hamburger noch in der Hand, wieder in den Berufs verkehr ein. Susanne mußte die dritte Schachtel halten. Vielleicht schmeckte er Harry ja auch kalt, dachte sie schadenfroh. Der Tragegurt der blauen Sporttasche, die Heribert umgehängt hat te, schnitt tiefer in seine Schulter ein, als es eigentlich zu erwarten gewesen war. Eineinhalb Millionen wogen schwer. Er schwitzte. Die Luft war drückend schwül, der Himmel bleiern. Und von Westen her kam es schwarz herüber. Spätestens heute abend würde es Regen geben. Er ging unter den Bäumen auf und ab. Schatten gab es keinen mehr, das Licht war fahl und diffus, aber ein wenig kühler war es hier immer noch. Heribert warf einen Blick zurück. Eisvogel lag sicher vertäut, Claudia saß auf dem Deck und beo bachtete ihn. Heribert nickte ihr unmerklich zu, sie lächelte zurück. Ein Blick auf die Uhr. Kurz vor drei. Noch eine halbe Stunde. Etwas ziellos schlenderte er zu dem Eingang der Festung. Die Schlange der Besucher war kurz, auch das Restaurant davor war nur wenig besucht. Mittwoch war halt nicht der große Ausflugstag, am Wochenende war mehr los. Trotzdem war der See nicht leer. In der Flaute dümpelten eine Reihe von Segelbooten Richtung Wilhelm stein. Und trotz der Windstille hatten am Ufer eine Reihe von Booten abgelegt. Ein Ausflüglerboot näherte sich. Es hatte die Segel eingezogen, das Tuckern des Motors drang herüber, und die Bugwellen kräusel 157
ten die spiegelglatte Fläche des Wassers und verloren sich weit drau ßen auf dem See. Heribert lehnte sich an die Festungsmauer und betrachtete das näherkommende Schiff. Der Bootsführer leitete das Anlegemanöver ein. Vielleicht kam Becher ja schon früher. »Hast du das Geld?« Heribert schrak zusammen. Neben ihm stand ein Unbekannter. Jeans, rotes Polohemd, hoch gewachsen, schlank und offensichtlich gut trainiert. Sah so ein Bankräuber und Mörder aus? »Da staunste, Paukerchen«, sagte der andere leise. »Immer ein bißchen früher aufstehen. Ist es da drin?« Heribert nickte. »Gib her!« Becher griff zielsicher nach dem Tragegurt und nahm ihm die Tasche ab. Er zog den Reißverschluß ein wenig zurück, griff hinein und fühlte die Geldscheine. Dann zog er die Tasche wieder zu. Ein Grinsen umspielte seinen Mund. »Und jetzt denkste, was macht er jetzt? Nicht wahr, Paukerchen? Haste Schiß?« »Nehmen Sie das Geld und verschwinden Sie«, sagte Heribert. »Das möchtest du wohl? Jetzt haste Angst. Ob ich abhaue. Das interessiert dich.« »Spielen Sie sich nicht auf«, sagte Heribert leise. »Warum haben Sie mir eigentlich nicht das Geld schon damals abgenommen, als ich allein beim Unfallwagen war und die Koffer mitgenommen habe? Damals hatten sie wohl Angst?« Für einen Moment verlor Becher seine lässige Haltung. »Angst?« knurrte er. »Nein, Angst hatte ich nicht. Fabian, dieser Blödmann, der mußte ja immer so rasen, immer Vollgas, und dann diese bescheuerte Kurve. Total übermüdet, wie der war, falsche Reaktion, dann der Unfall. Und dann nichts wie raus, dachte ich mir. Nichts wie weg. In den Wald. Und dann kamst du. Und 158
weißte, Paukerchen, weißte, was dich gerettet hat?« Heribert schüttelte den Kopf. »Ich hatte meine Knarre verloren. Ein ganz blöder Zufall. Bin in den Wald getürmt, war ja angeschnallt und nicht verletzt, eine däm liche Wurzel, und dann im Wald erst mal ordentlich auf die Fresse gelegt. Und die Pistole flog wer weiß wohin. Und da saß ich nun und konnte sehen, wie du mir mein Geld klaust. Ich hätte dich ab geknallt, wenn ich gekonnt hätte, das kannste mir glauben. Aber keine Bange, meine Knarre habe ich wieder. Lag unter so einem blöden Busch.« »Und dann haben Sie Ihren Freund umgebracht. Einfach erwürgt. Ihren Freund.« »Na und?« fragte Becher zurück. »Meinste, mir hat das Spaß ge macht? Aber der hätte doch sofort gequasselt, und ins Gefängnis wären wir beide gekommen, zehn Jahre oder fünfzehn. Dann lieber gleich tot.« Becher sagte es hart und mehr zu sich selbst. Heribert schwieg und betrachtete interessiert das anlegende Boot. Der Bootsführer hatte die Fender ausgebracht und den Motor aus gestellt, das Boot glitt langsam an die Kaimauer heran. Zwei Hilfs kräfte nahmen die Festmacherleinen entgegen. Gleich würden die Besucher an Land gehen. Becher schwieg. »Das Boot fährt in fünf Minuten zurück. In meinem eigenen In teresse: Ich wünsche Ihnen Glück.« Becher grinste. »Ich mir auch. Fährste auch mit?« Heribert schüttelte den Kopf. »Ich bleibe noch hier.« »Immer schön vorsichtig. Na ja, bis dann.« Er schulterte die Ta sche. Die letzten Besucher verließen gerade das Schiff, als Heribert plötzlich erstaunt zusammenzuckte. Der Mann, der da eben an Land ging, war das nicht… »Ist Ihnen jemand gefolgt?« fragte er leise. 159
Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sein Gegenüber blaß wurde. »Wieso?« »Einer der Besucher dort, der mit den Jeans und der dünnen grü nen Jacke, ist ein Polizist. Die waren bei mir. Die sind mit dem Fall befaßt.« Bechers Hand fuhr in die Hosentasche. »Wenn du mich reinge legt hast, bringe ich dich um.« »Red keinen Blödsinn.« Heribert zog ihn in den Schatten der Fes tungsmauer. »Ich würde es dir doch sonst nicht sagen. Ist dir je mand gefolgt?« »Ich dachte, ich hätte sie abgeschüttelt. Scheiße, ich sitz in der Falle. Diese verdammte Insel.« Becher zischte seine Wut hinaus. Grimmige Entschlossenheit schwang in seiner Stimme mit. »Lebend kriegen die mich nicht. Und du gehst auch mit drauf.« Heribert hörte das leise Knacken des Sicherungshebels in der Hosentasche. »Komm«, sagte er hastig. »Ich weiß einen Weg. Ich bringe dich hier raus.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er an der Mauer entlang auf die andere Seite der Insel. Der Bootsanleger verschwand aus der Sicht. Becher folgte ihm. Vor der Eisvogel blieben sie stehen. »Los«, forderte Heribert ihn auf. »Geh rauf, aber halt dich fest.« Becher zögerte. Offensichtlich hatte er noch nie ein Segelboot be treten. Claudia blickte beide fragend an. »Polizei«, erklärte Heribert. »Wir müssen ihn fortschaffen.« Dann sprang er aufs Boot. Becher folgte, rutschte auf dem glatten Deck aus, hielt mit der einen Hand krampfhaft die Tasche fest, die andere umklammerte den Vorstag. Das Boot legte sich schwer auf die Seite. Mühsam gewann Becher die Balance zurück. »Los, unter Deck«, forderte Heribert ihn auf. Claudia führte ihn in die Kajüte, dann kam sie heraus. 160
»Was machen wir mit ihm?« flüsterte sie Heribert zu. »Wir bringen ihn zum Liegeplatz und setzen ihn irgendwo ab. In Mardorf oder sonstwo. Wenn sie ihn jetzt schnappen, sind wir jetzt auch mit dran.« Hastig löste er die Achterleine, Claudia warf die Vorderleine los. Leise sirrend sprang der Elektromotor an, Eisvogel glitt achteraus auf den See hinaus. Heribert wendete und nahm Kurs Richtung Mar dorf. Es wehte immer noch leichter Wind. Claudia setzte die Segel. Dennoch schlich das Boot nur vorwärts. Becher trat an die Tür, blieb aber im Sichtschatten der Kajüte und zog seine Pistole: »Los, beeilt euch. Mehr Speed.« Heribert blickte ihn fest an. »Die Batterie ist nicht besonders voll. Bei dieser Geschwindigkeit schaffen wir es vielleicht. Sonst dauert es länger. Wir haben kaum Wind.« »Laber keinen Scheiß. Mehr Speed. Los.« Ein abermaliges Kna cken des Sicherungshebels unterstrich das Kommando. Heribert beschleunigte. »Na also«, knurrte Becher zufrieden und steckte die Waffe ein. »Warum nicht gleich so.« »Siehst du ihn?« Susanne schob sich in den Sichtschatten der Im bißbude und sprach leise in ihr Sprechfunkgerät. Die Stimme Harry Krügers kam sehr gedämpft aus dem Gerät. »Ich bin jetzt hier, aber ich habe ihn noch nicht gesehen. Aber das Photo war ja wahr scheinlich auch nicht besonders aktuell. Ich geh' mal herum.« Susanne fühlte die Spannung in sich steigen. Der Vorhang hebt sich zum letzten Akt, dachte sie. Der Golf stand abgestellt auf dem Parkplatz, die gestohlenen Nummernschilder hatten einen Verkehrs polizisten aufmerksam gemacht. Überraschend schnell war der Hin weis gekommen, und überraschend gut hatten sie sich auf den we niger befahrenen Strecken trotz des Berufsverkehrs nach Steinhude 161
durchschlängeln können. Die örtliche Polizei hatte unauffällig den Parkplatz abgesperrt. Das Einsatzkommando aus Hannover war ringsum verteilt. Becher wür de einer Festnahme kaum entgehen können, sollte er noch einmal zu seinem Wagen zurückkommen. Alle Polizeidienststellen in Steinhude waren angewiesen worden, jeden Autodiebstahl sofort an das Einsatzkommando weiterzulei ten, allerdings war bisher noch kein Fahrzeug als gestohlen gemel det. Falls sich Becher noch in Steinhude aufhalten sollte, saß er in der Falle. Warum hatte er sich überhaupt nach Steinhude begeben? Zeit genug, den Großraum zu verlassen, hätte er sicher gehabt. Und als vorsichtig und gerissen hatten sie ihn bereits kennengelernt. Susanne spürte, daß es einen Grund für sein Verhalten geben muß te, den sie bisher noch nicht gefunden hatte. Der Platz vor dem Bootsanleger war trotz des Mittwochs übersät mit Fußgängern. Pärchen hielten Händchen und flanierten über den Platz, sogar die Mountainbikefahrer hatten ihn entdeckt und zwan gen die anderen zu teilweise waghalsigen Ausweichmanövern. Trotz der Schwüle schienen auch die Fisch- und Räucheraalbrötchen gu ten Absatz zu finden, denn über dem Platz hing ihr durchdringen der Geruch. Ein ganz normaler Mittwoch nachmittag. Die Ausflugsboote zum Wilhelmstein waren weniger gut gefüllt als am Wochenende, und trotz der Flaute – der Wind war kaum zu spüren – waren etliche Segelboote unterwegs. Schließlich war Som mer, und viele hatten immer noch Urlaub. Unauffällig hatten sie Würstchenverkäufer, Bootsführern und Fahrradverleihern das Fahndungsfoto Bechers gezeigt. Überall Fehl anzeige. Nur ein Fahrkartenverkäufer meinte sich zu erinnern, daß ein so aussehender Mann vor kurzem hier am Bootsanleger eine Karte zum Wilhelmstein gekauft habe, er sei auch gleich losgefah ren, aber beschwören wollte er es auch nicht. Becher war und blieb wie vom Erdboden verschluckt. Schließlich wollte Harry mit zwei 162
seiner Leute Wilhelmstein näher unter die Lupe nehmen. Mög licherweise war an dem Hinweis etwas dran. »Fehlanzeige«, meldete er sich wieder bei Susanne. »Auf der Insel ist er nicht. Aber weißt du, wen ich getroffen habe? Den Lehrer aus Woltershagen. Den mit dem Passat, bei dem eingebrochen worden ist. Aber den sehe ich jetzt auch nicht mehr. Na ja, vielleicht ist er in der Festung. Ich schau' mal nach.« Nach wenigen Minuten mel dete er sich wieder. »Also hier ist keiner. Becher schon gar nicht, aber auch der Pauker ist weg. Der hatte übrigens so eine große Sporttasche bei sich. Wer schleppt denn bei dieser Hitze so etwas mit sich herum? Ich gehe noch einmal rund, dann komme ich wie der.« Einer der Steinhuder Beamten kam auf sie zu. Ein älterer Mann mit Schiffermütze folgte ihm. »Frau Breugel, Herr Wiechert ist Bootsführer, er hat Becher ver mutlich gesehen.« Susanne grüßte freundlich und schaute den Mann auffordernd an. Dieser rückte seine Mütze zurecht. »Na ja, obwohl ich es nicht beschwören kann, aber ich glaube, den Burschen habe ich vor gut einer Stunde zum Wilhelmstein ge fahren. Aber ein bißchen anders hat er schon ausgesehen. Hatte einen Bart, eine Sonnenbrille, Haare waren auch länger. Aber er könnte es gewesen sein.« Susanne beugte sich vor. »Sie haben ihn auf der Insel abgesetzt? Ist er noch da?« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Möglich, vielleicht. Mit mir ist er nicht zurückgekommen. Aber er kann natürlich auch mit einem anderen Schiff zurückgefahren sein. Außerdem gibt es noch einen Anleger in Mardorf auf der anderen Seite des Sees. Da steigen zwar nur wenige aus, aber es wäre auch möglich.« Er blickte wieder zurück zum Anleger, wo sein Boot auf ihn wartete, dann sah er die Kommissarin an. »Kann ich jetzt gehen?« 163
Susanne nickte. »Danke, Sie haben uns vielleicht geholfen.« Gleich darauf wandte sie sich an ihren Kollegen: »Überprüfen Sie, ob ihn jemand gesehen, ob er das Boot nach Mardorf genommen hat. Fra gen Sie jeden Bootsführer, der neu ankommt.« Mardorf. Irgendwie drängten sich ihr die Bilder vom Freitag abend auf. Mehrtens, Heribert Mehrtens, das war doch noch sein Name gewesen. Sogar an sein Autokennzeichen konnte sie sich noch erin nern. Der hatte auch so viel von Mardorf erzählt. Wollte mit ihr mal segeln fahren, hatte geradezu davon geschwärmt, Steg siebzehn, Platz vierunddreißig lag sein Boot – na ja, was Männer so reden, wenn sie eine Frau rumkriegen wollen. Ob er noch einmal anrief? Vielleicht am Wochenende. Auf einmal spürte sie ein leichtes Krib beln im Bauch. Sie zwang sich zur Konzentration. Du bist im Dienst, sagte sie sich. Trotzdem ging er ihr nicht aus dem Sinn. Was machte der auf der Insel? Segeln natürlich. Lehrer hatten ja Zeit. Das Knacken des Funkgerätes riß sie aus ihren Betrachtungen. »Susanne? Der Gastwirt des Lokals hat angegeben, daß Becher vor vielleicht einer halben Stunde da war. Der Wirt war sich sehr sicher. Becher hat eine Cola getrunken und ein Würstchen gegessen. Aber hier ist er nicht mehr auffindbar. Einfach weg. Übrigens stellen die wegen Gewitters jetzt gleich den Verkehr ein. Wenn ich rüberkom men soll, dann muß ich jetzt los. Was soll ich machen?« Eine Weile überlegte sie. »Komm rüber«, meinte sie schließlich. »Aber laß deine Leute da. Hier haben wir ohnehin genug. Vielleicht taucht er ja noch einmal auf.« In der Tat, genug Leute hatten sie ja. Dennoch ging ihr die Frage nicht aus dem Sinn: Was wollte Becher auf Wilhelmstein? Seine Spur verwischen? Die hatten sie längst verloren gehabt, und mit Sicherheit wußte er es. Wozu das Risiko, in eine Falle zu gehen, aus der er nicht mehr weg konnte? Aus der es keinen Ausweg gab. Oder gab es doch einen Ausweg? Sie legte das Funkgerät neben sich und blickte auf den See hin 164
aus. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Die schwarze Wolkenwand kam näher. Die Segelboote draußen auf dem See lagen fest. Kein Lufthauch regte sich mehr. Eine blaue Tasche sollte Mehrtens ge tragen haben? Eine große, blaue Tasche. Auf einmal wußte sie, was sie tun mußte. Der Elektromotor sirrte nur noch ganz leise, und die Schraube be wegte sich bloß noch langsam. Das Boot stand. Die Segel hingen schlaff herunter, und jeder Tritt und jede Be wegung brachte die Vorstag zum Schaukeln. »Fahr doch endlich los! Wenn ihr mich reinlegt …« Becher stieß einen Fluch aus. Heribert wies auf den Schalter des Elektromotors, der auf ›Max‹ stand. »Die Batterie ist alle, und wir haben keinen Wind. Die liegen alle fest. Und wenn Sie nicht so dämlich gewesen wären, volle Kraft zu verlangen, dann wären wir auch in fünf Minuten an Land. Aber es konnte Ihnen ja nicht schnell genug gehen.« »Hör auf, du Klugscheißer, sonst stopf ich dir das Maul.« Becher machte einen Schritt aus der Kajüte und stellte sich drohend neben Heribert. »Wir werden gleich ein Gewitter mit viel Wind haben – nur zu, wollen Sie segeln?« Heribert blickte ihn unverwandt an. Bloß keine Angst zeigen. Nachgeben war sicherlich das falscheste, was er ma chen konnte. Becher knurrte etwas Unverständliches und setzte sich ins Cock pit neben Claudia. Plötzlich kam Wind auf, die großen, schlaffen Segel füllten sich, Eisvogel nahm Fahrt auf. Heriberts Blick heftete sich an den Ge schwindigkeitsmesser. Vier Knoten, nicht schlecht. »Wir wollen reffen«, meinte Claudia, »es gibt gleich Wind.« Heribert öffnete die Backskiste und nahm einen Segelsack heraus. 165
»Was machst du da?« wollte Becher wissen. Heribert richtete sich auf und setzte den Sack ab. »Ich schlage ein kleineres Vorsegel an. Wir haben ein zu großes Segel. Und das Großsegel verkleinern wir auch noch. Das nennt man reffen. Noch weitere Fragen?« Bechers Halsschlagader schwoll leicht an. »Du kommst dir wohl ziemlich schlau vor. Es geht dir wohl zu schnell? Das Segel bleibt dran.« Heribert machte keine Anstalten, dem Befehl zu gehorchen, son dern nahm den Sack wieder auf. Da packte Becher ihn mit einer Hand fest an der Schulter und drückte ihn mit Kraft zurück auf den Sitz. »Du tust, was ich sage.« Die eben noch spiegelglatte See kräuselte sich, kleine Wellenrip pen zeichneten sich ab, der Wind nahm zu. Eisvogel nahm zu sehends Fahrt auf. Der Geschwindigkeitsmesser pendelte sich bei sechs Knoten ein. Das Rauschen der Bugwelle und das gurgelnde Wasser am Heck zeugten davon, daß sie die Höchstgeschwindigkeit erreicht hatten. Der Wind griff in die Segel, das Boot legte sich leicht über. Das Ufer rückte näher. »In zwanzig Minuten sind wir da«, meinte Heribert und korrigier te die Segelstellung, »dann können Sie gehen, wohin Sie wollen.« Becher schwieg, aber offenbar überlegte er etwas. Dann grinste er und lehnte sich sichtlich zufrieden zurück. Er schien die Fahrt zu genießen. Die erste Bö traf sie völlig unvorbereitet. Mit eiserner Faust drückte sie Eisvogel auf die Seite, das Ende des Mastbaumes berühr te fast das Wasser, völlig außer Kontrolle schoß das Schiff nach vorn und drehte sich in den Wind. »Mensch, Heribert, fier die Großschot!« schrie Claudia. Unbehol fen, um Halt bemüht, angelte Heribert nach der Schot. Sie stand unter Spannung und saß bombenfest. Eisvogel schoß durch den Wind, der Baum knallte herüber, mit festgezurrten Segeln lag das 166
Boot jetzt fast auf der anderen Seite und wurde immer weiter aufs Wasser gedrückt. Becher konnte sich nicht mehr halten, rutsche auf Heribert, der seinerseits die Balance verlor und mit dem Knie auf eine Sitzkante schlug. Ein dumpfer Schmerz schoß durch sein Knie und machte ihn benommen. Nur Claudia hielt sich an den Wanten fest und be mühte sich verzweifelt, die Fockschot loszuwerfen. Becher lag der Länge nach auf dem Boden und versuchte aufzustehen. Sein Ge sicht war schmerzverzerrt. Ein lauter Knall, Claudia hatte die Fockschot gelöst, mit ohren betäubendem Knattern schlug das große Vorsegel im Wind, eine weiße Wand von Tuch. Eisvogel richtete sich auf, Heribert löste auch die Großschot, und das Boot lag ruhiger. Der Krach der Segel war ohrenbetäubend. »Wir müssen reffen!« schrie er Becher ins Ohr. Der nickte teil nahmslos und hielt sich die Hüfte. Die Gewalt des Windes ließ für einen Augenblick nach. Heribert griff nach dem immer noch bereitliegenden Segelsack und kämpfte sich durch das schlagende Segel nach vorn. Claudia eilte zur Pinne und übernahm. Während Claudia mühsam das Boot im Wind hielt, ließ Heribert das große Vorsegel herunter, holte das andere heraus und stopfte das alte in den Segelsack. Dann schlug er die neue Fock an und zog sie hoch. Er reichte Becher den Segelsack: »Los, nimm mal!« Becher stand auf und griff zu. Claudia sah die neue Bö als erste. Noch immer war die See wenig bewegt, erst allmählich begannen sich einzelne Wellen aufzubauen, aber über ihnen kräuselten sich leichte Wellenrippchen, ein untrügliches Anzeichen. »Heribert, paß auf!« schrie Claudia durch das Knattern der Segel hindurch. Einen Augenblick später packte sie der Wind aufs neue, 167
diesmal von achtern. Eisvogel machte einen Satz nach vorne, die Fock wehte aus, Heribert hielt sich krampfhaft am Vorstag fest, um nicht ins Wasser zu fallen. Becher stand aufgerichtet, nur leicht ge beugt vor dem Kajüteingang und versuchte sich dort festzuklam mern. Heribert blickte zurück. Sah, wie Claudia auch in dieser Lage die Pinne souverän führte und versuchte, vor dem Wind die Bö ab zulaufen. Claudia stand dort wie sonst, nur ihre Augen waren an ders. Sie waren groß, ernst, voll kalter Entschlossenheit und ohne jedes Erbarmen. »Nein«, flüsterte er, »um Gottes willen. Claudia, nein.« Fast unmerklich zog Claudia die Pinne zu sich heran, das Boot drehte sich ganz leicht durch den Wind, fast hätte man meinen können, die Bö sei schon vorüber, so schien der Wind, der jetzt von achtern kam, nachgelassen zu haben … Ein nochmaliges Zie hen an der Pinne, und um wenige Grad drehte sich Eisvogel weiter, der Wind griff von der anderen Seite unter das Großsegel… Das Krachen, mit dem der Großbaum mit ungeheurer Kraft ge gen die Wanten schlug, das den Mast erbeben und Heribert für ei nen Augenblick fürchten ließ, der Baum könnte brechen oder aus der Verankerung reißen, dieses Krachen hörte Becher nicht mehr. Mit unglaublicher Kraft schlug dem Bankräuber der Großbaum an den Kopf. Augenblicklich brach Becher zusammen. Die Bö ließ nach, Heribert glitt ins Cockpit. Fassungslos starrte er Claudia an. »Warum hast du das gemacht?« Starr und fast aus druckslos blickte Claudia an Heribert vorbei auf den zusammenge sackten Körper. Eine Weile sagte sie nichts, dann schaute sie Heri bert mit großen Augen an. »Er hätte uns beide umgebracht. Jetzt ist er tot. Heribert, wir sind wieder frei. Wir haben es geschafft. Es ist zu Ende.« »Du hast eine Patenthalse gemacht, du hast ihn umgebracht«, flüsterte Heribert immer noch fassungslos. Dann riß ihn eine erneu te Bö aus seiner Erstarrung. 168
»Los, wir müssen noch das Groß reffen.« Mechanisch führte er die Handgriffe aus. Sie banden zwei Reffs in das Großsegel und gingen auf Kurs. Eisvogel lag wieder sicher im Ruder. Heribert kniete bei Becher nieder. Lebte er noch? Er hob einen Arm, aber dieser fiel kraftlos zurück. Die Kopfhaltung wirkte irgend wie merkwürdig, aber nur wenig Blut war zu sehen. Bechers Augen waren geschlossen, als Heribert die Augenlider hochschob, fand er die Pupillen nicht. Weiße, seelenlose Augen starrten ihn an. Claudia arretierte die Pinne, öffnete eine Backskiste und nahm ei nen Anker mit Kette heraus. Er war eigentlich zu groß für das klei ne Schiff, und sie hatten ihn nie benutzt. Der Vorbesitzer hatte ihn irgendwann einmal angeschafft, für Notfälle. Claudia kniete sich neben Becher und begann ihn mit der Kette zu umwickeln. »Was machst du da?« Claudia blickte auf und unterbrach die Arbeit kurz. »Willst du mit einer Leiche in Mardorf ankommen? Wir schmeißen ihn über Bord, und mit dem Anker bleibt er auch unten. Keiner wird ihn je finden, keiner ihn je vermissen, und er wird nie wiederkommen.« »Du weißt doch gar nicht, ob er nicht doch noch lebt? Das kannst du doch nicht machen.« Heriberts Stimme überschlug sich fast. In Claudias Blick lag grimmige Entschlossenheit. »Und selbst wenn er noch lebt, dann hat ihn die Polizei sofort, er wird reden und geht für immer ins Gefängnis. Und wir gehen mit. Nein, Heri bert, das will ich nicht.« Sie schlang die Kette noch einige Male um Bechers Beine, dann versuchte sie einen Knoten. Die Kette verkan tete sich und saß fest. »Faß an, hilf mit, ihn über Bord zu werfen.« Heribert starrte sie mit großen Augen an. »Claudia …« »Alleine schaffe ich es nicht, das hättest du dir alles vorher über legen können, damals, als du das Geld genommen hast. Jetzt ist es 169
zu spät. Los!« Automatisch, wie ohne eigenen Willen gehorchte er. Beide wuch teten sie Becher auf die Cockpitbank, dann legte Claudia die Pinne so, daß das Schiff sich auf die Seite neigte. Das dumpfe Platschen übertönte fast den Wind, und die braunen Wellen liefen über die Stelle hinweg, an der der Körper verschwunden war. Heribert blick te zurück. Die See war wie sonst. Nichts erinnerte mehr an die Tat. Und unten in der Kajüte schimmerte das Blau der Tasche. Pras selnd fielen jetzt die ersten Regentropfen, dann folgte der Wolken bruch. Sie hatten ihr Ölzeug dabei, aber sie zogen es nicht an. Die Kälte kroch in ihnen hoch, aber sie rückten nicht zusammen. Schweigend segelten sie die Strecke bis zum Steg. Wortlos legten sie an. Claudia befestigte die Achterleine, Heribert ging nach vorne. Die Segel wurden geborgen und verstaut, die Kajüte verschlossen. Heribert schulterte die Tasche und sprang auf den Steg, Claudia folgte, und ihre Schritte klangen dumpf auf dem Holz. Eine Frau trat aus dem Sichtschatten eines Bootes und kam auf sie zu. Eine Frau mit einem durchweichten Jackett. Er kannte die Frau. »Guten Tag, Heribert«, sagte sie.
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